Das Dienstfräulein auf dem Bahnhof. Frauen im öffentlichen Raum im Blick der Berliner Bahnhofsmission 1894-1939 3515097767, 9783515097765

Am 1. Oktober 1894 nahmen die ersten evangelischen Bahnhofsmissionarinnen am Berliner Bahnhof Friedrichstraße ihre Arbei

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Das Dienstfräulein auf dem Bahnhof. Frauen im öffentlichen Raum im Blick der Berliner Bahnhofsmission 1894-1939
 3515097767, 9783515097765

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I. Einführung
1. Fragestellung
2. Methodisches Vorgehen
2.1 Das relationale Raumkonzept von Martina Löw
2.2 Das Merkmal „öffentlich“
3. Forschungsstand
4. Quellenlage
5. Aufbau der Arbeit
II. „Gefährdete“ Frauen und „wandernde“ Männer: Die weltanschauliche Konzeption der Bahnhofsmission
1. Die Gefährdete
2. Der Wanderer
3. Gefährdete versus Wandernde – Gegenüberstellung der Stigmatisierungen
4. Das Hilfekonzept der Bahnhofsmissionarinnen
5. Zusammenfassende Betrachtung
III. Der öffentliche Raum am Bahnhof: Praktische Arbeit und Kooperationen der Berliner Bahnhofsmissionarinnen
1. Der Arbeitsplatz der Bahnhofsmissionarinnen
1.1 Die Bahnhöfe in Berlin: ihre Lage und ihre Viertel
1.2 Bahnhofsleben: die Kollegen und die Reisenden
2. Die Akteure am Bahnhof
2.1 „Begabung zur Liebe“: Die Bahnhofsmissionarin
2.2 Menschen unterwegs: Die Klientel der Bahnhofsmission
2.3 Zusammenfassende Betrachtung
3. „Die auf dem Bahnhof nur lose geknüpften Fäden zu festen Banden schlingen“: Die Arbeitsgebiete und Kooperationen der Berliner Bahnhofsmission
3.1 Die Arbeit gegen den „Mädchenhandel“ am Anhalter Bahnhof
3.2 Geschlechtsspezifische Bahnhofsfürsorge am Schlesischen Bahnhof in der Weimarer Republik bis 1933
3.3 Die Zusammenarbeit mit der weiblichen Polizei am Stettiner Bahnhof in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus
3.4 Zusammenfassende Betrachtung
IV. Der öffentliche Raum der Berliner Bahnhofsmission im Gefüge von Vereinsleben und überregionaler Verbandspolitik
1. Die Wegbereiter bahnhofsmissionarischer Arbeit in Berlin
2. Der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend: Motor der lokalen und überregionalen Entwicklung der Bahnhofsmission
2.1 Struktur, Aufgaben und Entwicklung des Trägervereins der Berliner Bahnhofsmission
2.2 Integrationsprozesse für Zuwanderinnen
2.3 Zusammenfassende Betrachtung
3. Die Entwick lung von der Kommission zum Dachverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission
4. Frauen in der Fachzentrale des Verbandes am Beispiel zweier Protagonistinnen
4.1 Aufbau eines bahnhofsmissionarischen Gesamtverbandes: Gertrud Müller (1864–1912)
4.2 Die erste Geschäftsführerin: Theodora Reineck (1874–1963)
4.3 Schlussfolgerungen und Einordnung der Handlungsräume von Frauen in Leitungspositionen
5. Mediale Öffentlichkeit: Die Öffentlichkeitsarbeit und Werbetätigkeit der Berliner Bahnhofsmission und des Dachverbandes
5.1 Pressearbeit und Mediengestaltung der Bahnhofsmission
5.2 Veranstaltungsorganisation
5.3 Interne Kommunikation
5.4 Zusammenfassende Betrachtung
6. Finanzierung und Öffentlichkeitsarbeit von Verein und Dachverband im Kaiserreich und der Weimarer Republik
6.1 Finanzierung des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend
6.2 Finanzierung des Dachverbandes
6.3 Verzahnte Finanzierungsstrategien
6.4 Zusammenfassende Betrachtung
V. Die Berliner Bahnhofsmission und der Dachverband zwischen Zustimmung und politischem Kalkül: Der lange Weg bis zum Ende der Arbeit am Bahnhof 1933–1939
1. Nach der Machtübernahme: der Wunsch zur Kooperation
1.1 Der Umgang mit obdachlosen Personen, mittellosen Wanderern und Prostituierten
1.2 Landhelferinnen- und Landhelfervermittlung
1.3 Das Verhältnis zur Jüdischen Bahnhofshilfe
2. Beharrung und Repression: die sukzessive Auflösung des Dachverbandes und der Berliner Bahnhofsmission
2.1 Einschränkung finanzieller Handlungsspielräume
2.2 Aufbau der nationalsozialistischen Bahnhofsdienste
2.3 Schließung der Bahnhofsmissionen
3. Zusammenfassende Betrachtung: Differenzierung der Perspektive durch unterschiedliche Blicke auf den Raum
VI. Konstitution, Erhaltung und Beschränkung öffentlicher Räume
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Ungedruckte Quellen
2. Periodika
3. Gedruckte Quellen
4. Literatur
5. Internetseiten

Citation preview

Astrid Mignon Kirchhof Das Dienstfräulein auf dem Bahnhof 

Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung -------------------------------------------herausgegeben von Christoph Bernhardt (geschäftsführend) Harald Bodenschatz Christine Hannemann Tilman Harlander Wolfgang Kaschuba Ruth-E. Mohrmann Heinz Reif Adelheid von Saldern Dieter Schott Clemens Zimmermann Band 11

Astrid Mignon Kirchhof

Das Dienstfräulein auf dem Bahnhof Frauen im öffentlichen Raum im Blick der Berliner Bahnhofsmission 1894–1939

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2011

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Gerda-WeilerStiftung für feministische Frauenforschung, Mechernich, der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften, Ingelheim am Rhein und der Hans Böckler Stiftung, Düsseldorf Umschlagabbildung: Betreuung alleinreisender junger Mädchen durch die Bahnhofsmission, Berlin, Anfang des 20. Jahrhunderts, Privatsammlung Alfred Gottwaldt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09776-5 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2011 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem, alterungs­beständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany

Inhalt

Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

I

Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1 2 2.1 2.2 3 4 5

Fragestellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das relationale Raumkonzept von Martina Löw. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Merkmal „öffentlich“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellenlage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau der Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

II

„Gefährdete“ Frauen und „wandernde“ Männer: Die weltanschauliche Konzeption der Bahnhofsmission. . . . . . . . . . . 40

1 2 3 4 5

Die Gefährdete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Wanderer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gefährdete versus Wandernde – Gegenüberstellung der Stigmatisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Hilfekonzept der Bahnhofsmissionarinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassende Betrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

III

Der öffentliche Raum am Bahnhof: Praktische Arbeit und Kooperationen der Berliner Bahnhofsmissionarinnen . . . . . . . . 52

1 1.1 1.2 1.3 2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.2 2.3

Der Arbeitsplatz der Bahnhofsmissionarinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bahnhöfe in Berlin: ihre Lage und ihre Viertel . . . . . . . . . . . . . . . . . Bahnhofsleben: die Kollegen und die Reisenden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassende Betrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Akteure am Bahnhof. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Begabung zur Liebe“: Die Bahnhofsmissionarin . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fähigkeiten, Kenntnisse und Motive der Bahnhofsmissionarinnen. . . . . Anzahl, Versorgung, Alter und schichtbedingter Hintergrund des Personals. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menschen unterwegs: Die Klientel der Bahnhofsmission . . . . . . . . . . . . Zusammenfassende Betrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16 20 22 25 26 35 37

42 45 47 48 50

53 54 62 65 65 66 67 73 81 92

6

Inhalt

3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3 3.3.1 3.3.2 3.4

„Die auf dem Bahnhof nur lose geknüpften Fäden zu festen Banden schlingen“: Die Arbeitsgebiete und Kooperationen der Berliner Bahnhofsmission. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Die Arbeit gegen den „Mädchenhandel“ am Anhalter Bahnhof. . . . . . . . 95 Der Deutsche Zweig des Internationalen Komitees zur Bekämpfung des Mädchenhandels. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Der Anhalter Bahnhof als Dunkel- und Gefahrenzone. . . . . . . . . . . . . . . 98 Unvereinbare Positionen oder: Was ist „Mädchenhandel“?. . . . . . . . . . 104 Geschlechtsspezifische Bahnhofsfürsorge am Schlesischen Bahnhof in der Weimarer Republik bis 1933. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Die „stille Friedensinsel am Schlesischen Bahnhof“ . . . . . . . . . . . . . . . 113 Bahnhofsfürsorgerische Hilfen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Weiterführende Hilfen und die Kooperation mit städtischen Stellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Die Zusammenarbeit mit der weiblichen Polizei am Stettiner Bahnhof in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. . . . . . . . . . . . . 123 Im Dienst für die „Gefährdeten“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Die Situation im „Dritten Reich“ bis zur Auflösung der Bahnhofsmission. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Zusammenfassende Betrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

IV

Der öffentliche Raum der Berliner Bahnhofsmission im Gefüge von Vereinsleben und überregionaler Verbandspolitik. . . . . . . . . . . 137

1 2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 3 4 4.1 4.2 4.3

Die Wegbereiter bahnhofsmissionarischer Arbeit in Berlin. . . . . . . . . . Der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend: Motor der lokalen und überregionalen Entwicklung der Bahnhofsmission. . . . . . . . . . . . . Struktur, Aufgaben und Entwicklung des Trägervereins der Berliner Bahnhofsmission. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitglieder und Vorstand des Vereins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfsangebote in der Stadt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Integrationsprozesse für Zuwanderinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Besuchsarbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Aufbau einer Heimstruktur in Berlin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassende Betrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung von der Kommission zum Dachverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frauen in der Fachzentrale des Verbandes am Beispiel zweier Protagonistinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau eines bahnhofsmissionarischen Gesamtverbandes: Gertrud Müller (1864–1912). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die erste Geschäftsführerin: Theodora Reineck (1874–1963). . . . . . . . Schlussfolgerungen und Einordnung der Handlungsräume von Frauen in Leitungspositionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

138 146 147 148 152 153 154 157 163 164 167 169 173 178

Inhalt

7

5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.2 5.3 5.3.1 5.3.2 5.4 6 6.1 6.2 6.3 6.4

Mediale Öffentlichkeit: Die Öffentlichkeitsarbeit und Werbetätigkeit der Berliner Bahnhofsmission und des Dachverbandes. . . . . . . . . . . . . Pressearbeit und Mediengestaltung der Bahnhofsmission . . . . . . . . . . . Presseveröffentlichungen, Handzettel und illustrierte Druckerzeugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plakate. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leuchtreklamen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Film und Radio. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veranstaltungsorganisation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interne Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitarbeiterzeitschriften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schulung der Mitarbeiterinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassende Betrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Finanzierung und Öffentlichkeitsarbeit von Verein und Dachverband im Kaiserreich und der Weimarer Republik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Finanzierung des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend . . . . . . . . . Finanzierung des Dachverbandes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzahnte Finanzierungsstrategien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassende Betrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

Die Berliner Bahnhofsmission und der Dachverband zwischen Zustimmung und politischem Kalkül: Der lange Weg bis zum Ende der Arbeit am Bahnhof 1933–1939 . . . . . . . . . . . . . . . 214

1 1.1 1.2 1.3 2 2.1 2.2 2.3 3

Nach der Machtübernahme: der Wunsch zur Kooperation. . . . . . . . . . . Der Umgang mit obdachlosen Personen, mittellosen Wanderern und Prostituierten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Landhelferinnen und -helfervermittlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verhältnis zur Jüdischen Bahnhofshilfe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beharrung und Repression: die sukzessive Auflösung des Dachverbandes und der Berliner Bahnhofsmission. . . . . . . . . . . . . Einschränkung finanzieller Handlungsspielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau der nationalsozialistischen Bahnhofsdienste. . . . . . . . . . . . . . . Schließung der Bahnhofsmissionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassende Betrachtung: Differenzierung der Perspektive durch unterschiedliche Blicke auf den Raum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VI

Konstitution, Erhaltung und Beschränkung öffentlicher Räume. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238



Abkürzungsverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

181 183 183 186 190 191 194 194 195 198 202 203 204 206 208 211

216 218 223 226 228 229 232 234 236

Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

8

Inhalt



Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256

1 2 3 4 5

Ungedruckte Quellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Periodika. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedruckte Quellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetseiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

256 257 258 262 274

Vorwort Diese Arbeit wurde im WS 2007/2008 am Institut Geschichte und Kunstgeschichte der Fakultät I der Technischen Universität Berlin unter dem Titel „Das Dienstfräulein auf dem Bahnhof: Der Wirkungskreis von Frauen im öffentlichen Raum der Stadt. Das Beispiel der Evangelischen Berliner Bahnhofsmission 1894−1939“ als Dissertation angenommen. Im Verlauf der jahrelangen Arbeit an diesem Projekt haben mir viele Menschen geholfen „Räume zu schaffen“, die es mir ermöglichten sowohl an der Arbeit zu schreiben als auch mit Kollegen über den jeweiligen Stand zu diskutieren. An erster Stelle möchte ich Prof. Dr. Heinz Reif danken. Er hat die Arbeit viele Jahre lang mit wertvollen Hinweisen begleitet, mir dabei große Denkfreiheit gelassen und geduldig auf das Ende der Arbeit gewartet. Bedanken möchte ich mich auch bei Prof. Dr. Dorothee Wierling, die Teile der Arbeit während ihrer Entstehung gelesen und durch ihr Interesse sowie Ermutigungen half, die Arbeit zu Ende zu bringen. Mein Dank gebührt ebenso dem von Heinz Reif und Wolfgang Hofmann geleiteten Forschungskolloquium, dessen Teilnehmer/innen Teile der Dissertation seit ihren Anfängen mit mir diskutierten. Anregende Kritik erhielt ich auch in den Kolloquien von Christina von Braun, Gisela Bock und Laurenz Demps. Danken möchte ich darüber hinaus unserer „Frauengruppe“: Dania Dittgen, Katja Limbächer, Susanne Kreutzer und Monika Mattes. Ihre jahrelange genaue Lektüre, scharfsinnigen Bemerkungen und kollegiale Kritik haben mir geholfen eine historische Arbeit entstehen zu lassen. Ein herzlicher Dank geht auch an die folgenden drei Freundinnen: Nina Leonhard und Katrin Seidel haben bis zum Schluss das Skript mit großer Lesefreudigkeit, konstruktiven Einwänden und endlosen Ermutigungen begleitetet. Ursula Schröter hat den Entstehungsprozess dieser Arbeit kontinuierlich mit großer Sympathie verfolgt, mit vielen „bekochten“ Sonntagen dafür gesorgt, dass ich kulinarisch gestärkt in die kommende Woche gehen konnte, und auch die Drucklegung der Arbeit finanziell unterstützt. Viele verschiedene Archive habe ich im Verlauf der Arbeit an diesem Projekt besucht und bin dort stets auf freundliche und hilfsbereite Menschen gestoßen. Am längsten arbeitete ich im Archiv und der Bibliothek des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Mein Dank gebührt sowohl dem Archivleiter Michael Häusler, der mir in Gesprächen das Archiv zugänglich gemacht hat, als auch seinen Mitarbeitern, die mir wichtige Quellen erschlossen. Sehr herzlich danken möchte ich an dieser Stelle aber auch den Mitarbeitern aller anderen benutzten Archive. Gefördert wurde das Projekt durch das Evangelische Studienwerk Villigst (www.evstudienwerk.de), sowie durch ein Abschlussstipendium des Berliner Programms zur Förderung der Chancengleichheit für Frauen in Forschung und Lehre.

10

Vorwort

Villigst ist mir in den Jahren der Förderung auch ein geistiges Zuhause geworden. Ich habe hier Menschen getroffen, mit denen ich, vor allem durch das Villigster Forschungsforum zu Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus seit Jahren in gemeinsamem, wissenschaftlichem Interesse zusammenarbeite und denen ich viele anregende Gespräche verdanke. Die Drucklegung der Arbeit haben folgende Organisationen ermöglicht: Gerda Weiler Stiftung für feministische Frauenforschung (www.gerda-weiler-stiftung.de),. Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg (www.ekbo.de), Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein (www. boehringer-geisteswissenschaften.de), sowie Hans Böckler Stiftung (www.boeckler.de). Bei all jenen, die an der Bewilligung der Druckkostenzuschüsse beteiligt waren, möchte ich mich herzlich bedanken. Lektoriert wurde die Arbeit von Gabriele Merziger, der ich an dieser Stelle sehr herzlich danken möchte. Durch ihre in jeder Hinsicht professionelle Unterstützung und ihr inhaltliches Interesse an dem Thema hat die Arbeit sehr profitiert. Ohne die Hilfe und Unterstützung meiner Familie jedoch wäre diese Arbeit wohl nie begonnen oder beendet worden. Danken möchte ich zuerst meinen Eltern. Meine Mutter Daglind und mein bereits verstorbener Vater Heinz Kirchhof haben in mir den Keim gelegt, Freude am geistigen Austausch und dem geschriebenen Wort zu entwickeln. Besonders bin ich meiner Mutter zu Dank verpflichtet, die mein Projekt von Anfang an befürwortet und durch anstrengenden „Kinderdienst“ gezeigt hat, wie sehr sie die Realisation der Dissertation unterstützt. Ein großes Dankeschön geht auch an meine Tante Sigrid Schröferl, die durch eine finanzielle Unterstützung zur rechten Zeit geholfen hat, dass die Formatierung der Arbeit in professionelle Hände gelegt werden konnte. Meine beiden Söhne, Kilian und Bennet, die während des Entstehungsprozesses geboren wurden, zeigten mir immer wieder in erfrischender Weise, dass es ein Leben jenseits des Schreibtisches gibt. Ich widme diese Arbeit meinem Mann, Tom Shatwell. Er hat stets die Hälfte aller Haus- und Kinderarbeit getragen, eigene wissenschaftliche Interessen zeitweise zurückgestellt, durch Gespräche die Arbeit in jeder nur erdenklichen Weise gefördert und darüber nie die Liebe und Zuneigung im zuweilen turbulenten Alltag vergessen. Dafür danke ich ihm von Herzen.

Einführung Am 1. Oktober 1894 nahmen die ersten evangelischen Bahnhofsmissionarinnen am Berliner Bahnhof Friedrichstraße ihre Arbeit auf und leisteten Orientierungshilfe für die massenhaft Stellung suchenden Frauen, die in die deutsche Hauptstadt einwanderten.1 Anfänglich wurden Bahnhofshilfen nur an bestimmten Tagen eines jeden Jahres geleistet – immer dann, wenn vor allem Dienstmädchen ihre Arbeitsstellen wechselten. Parallel dazu erfüllten Helferinnen mehrmals die Woche die Aufgabe, angemeldete junge Frauen vom Bahnhof abzuholen.2 In die städtische Öffentlichkeit traten Frauen jedoch nicht nur durch ihr wohlfahrtspolitisches Wirken an den Berliner Fernbahnhöfen, sondern auch durch ihr Engagement im Trägerverein der Bahnhofsmission, dem Verein zur Fürsorge für die weibliche Jugend, als auch im Dachverband der sich langsam entwickelnden Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission. Die Gründung der ersten Bahnhofsmission in Berlin war eine Reaktion auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen. Im Gefolge der Erfindung und Inbetriebnahme der ersten Eisenbahn 1835 hatte in Deutschland etwa 20 Jahre später die industrielle Revolution eingesetzt und gesellschaftliche Umbrüche wie Binnenwanderung und Urbanisierung forciert. Ein leistungsfähiges Transportsystem, moderne Technik und industrielles Kapital waren schließlich die Grundlagen für den Ausbau Berlins zum Industriezentrum. Neben Maschinenbau, den verschiedenen Branchen der chemischen und der Elektroindustrie war vor allem die Metallverarbeitung – und hier besonders der Bau von Lokomotiven und Waggons – der führende Industriezweig Berlins.3 Das neue Verkehrsmittel vergrößerte jedoch nicht nur das Transportvolumen für Waren und Rohstoffe, sondern erleichterte auch die Zuwanderung Arbeitssuchender, die aus entfernteren Landesteilen in die Hauptstadt kamen und das Arbeitskräftepotenzial rasch verstärkten. Im 19. Jahrhundert hatte somit jeder Zweite an der innerdeutschen Wanderung teilgenommen.4 Im Jahr 1900 wanderten beispielsweise über 250 000 Personen nach Berlin, wovon 109 000 1 2 3

4

Theodora Reineck, Die evangelische Bahnhofsmissionarin, in: Die Innere Mission im evangelischen Deutschland, 23, 1928, S. 198–201, hier: S. 198. Spätestens seit 1910 standen Bahnhofsmissionarinnen ständig an den Berliner Bahnhöfen bereit, um den Ankommenden Hilfestellungen zu gewährleisten. Bruno W. Nikles, Soziale Hilfe am Bahnhof, Freiburg/Breisgau 1994, S. 61. Michael Erbe, Berlin im Kaiserreich (1871–1918), in: Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, Bd 2: Von der Märzrevolution bis zur Gegenwart, München 1988, S. 691–793, hier: S. 721ff. Auch im Industrialisierungszeitalter wies jedoch das Textilgewerbe die meisten Beschäftigten auf. Vgl. Reinhard Rürup, Berlin – Umrisse der Stadtgeschichte, in: Gottfried Korff / Reinhard Rürup, Berlin, Berlin. Die Ausstellung zur Geschichte der Stadt, Berlin 1987, S. 27–54, hier: S. 38. Werner Köllmann, Bevölkerung in der industriellen Revolution. Studien zur Bevölkerungsgeschichte Deutschlands, Göttingen 1974, S. 37 und Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesell-

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Einführung

Frauen waren.5 Die meisten von ihnen versuchten eine Stellung als Dienstmädchen zu finden, denn auch der Dienstleistungssektor war seit den 1870er Jahren im Ansteigen begriffen. Lebten auf dem Gebiet des späteren Groß-Berlin im Jahr 1871 noch etwa 932 000 Menschen, so stieg die Gesamteinwohnerschaft bis 1900 auf 2,7 Millionen an. Der Grund für das explosionsartige Bevölkerungswachstum ist deshalb weniger im Geburtenüberschuss als im gewaltigen Zuzugsgewinn zu sehen. Die Zuziehenden waren vornehmlich Nahwanderer aus der Provinz Brandenburg, gefolgt von Fernwanderern aus West- und Ostpreußen, Schlesien und Pommern. Durch die Industrialisierung und die hohe Zahl der Einwanderer kam es zu einer Veränderung des städtebaulichen Gesichts Berlins, da innerhalb weniger Jahrzehnte ausgedehnte Industrieareale und neue Arbeiterviertel mit einer beispiellosen sozialen Verdichtung entstanden waren, die Berlin den Titel der „größten Mietskaserne der Welt“ eintrugen.6 Der Wohnungsstandard war jedoch katastrophal, so dass die Enge der Wohnungen gesundheitliche und soziale Folgen für die Bewohner/innen hatte. Konservative Kulturkritiker wie Heinrich Riehl, Otto Ammon und Heinrich Sohnrey warnten deshalb davor, dass die gesellschaftlichen Umbrüche zu sozialen Risiken, Proletarisierung und einer schleichenden Erkrankung der Gesellschaft und des Staates führen würden.7 Speziell bildungsbürgerliche Kreise fürchteten um ihre traditionelle gesellschaftliche Orientierungskraft und ihr Prestige, die zunehmende Bedeutung von Technik und Naturwissenschaften und die sozioökonomischen Veränderungen wie Bevölkerungszuwachs und so genannte Landflucht. Sie befürchteten einen gesellschaftlichen Werteverfall, der sich in romantisierter Vergangenheitsidealisierung, Angstprojektionen und anti-urbaner Kritik ausdrückte.8 Gerade die Städte mit ihren Mietskasernen, der sichtbaren Armut und den dreckigen Industriebetrieben waren ein Hort der Kriminalität, des Niedergangs von

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schaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1849–1914, München 1995, S. 504. Vgl. Statistisches Jahrbuch Deutscher Städte, 10. Jg., Breslau 1902, S. 105 und Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 33. Jg. 1912–1914, S. 214. Rürup, S. 41. So sah der Kulturkritiker und Novellist Wilhelm Heinrich Riehl (* 1823, Biebrich, † 1897, München) die Familie als Keimzelle der Gesellschaft durch den Prozess der Verstädterung und den mit ihr einhergehenden Individualismus bedroht. Vgl. hierzu, Wilhelm Riehl, Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Socialpolitik, Augsburg 1854. Der völkische Anthropologe Otto Ammon (* 1842, Karlsruhe, † 1916, ebenda) entwarf eine biologische Verstädterungstheorie, mit der er nachzuweisen versuchte, dass das Stadtleben zu Unfruchtbarkeit führe, weshalb die Städte einen ständigen Zustrom biologisch gesunder Landmenschen benötigten, die folglich dem flachen Land nicht mehr zu Verfügung stünden. Es war Heinrich Sohnrey, der die großstadtfeindlichen Thesen von Riehl, Ammon und anderen zusammenführte, „sie um den Kern des ‚vaterländisch-konservativen’ Denkens ordnete“ und sie zu einer neuen, anti-urbanen Weltanschauung verdichtete. Mit der Zeitschrift „Das Land“ wurde schließlich ein Blatt von ihm herausgegeben, das in kurzer Zeit zu einem Meinungsforum für Großstadtfeinde, vor allem des ländlichen Bürgertums wurde, das seine Anschauungen hier veröffentlichte. Zit. nach: Klaus Bergmann, Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim/Glan 1970, S. 74. Jürgen Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt/Main 1985, S. 139f.

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Sitte und Moral, der Individualisierung und sie befürchteten dadurch die Auflösung der Großfamilie. So entzündete sich die Großstadtkritik auch häufig an dem angeblichen Sittenverfall und dem Prostitutionsrisiko für Frauen in den Großstädten. Diese Befürchtung hatte im zeitgenössischen Denken insofern ein reales Fundament, als die Pros­ titution in Berlin rapide angestiegen war und viele Frauen, gerade auch die Klien­tel der Bahnhofsmission, in Zeiten der Arbeitslosigkeit zumindest zeitweise als. Prostituierte arbeiteten: Zumeist handelte es sich um stellungslos gewordene Dienstmädchen, Kellnerinnen und Heim- und Saisonarbeiterinnen. Verschiedene Quellen beziffern die Zahl der Prostituierten in Berlin um die Jahrhundertwende auf jährlich 50 000.9 Die anti-urbane Sittlichkeitskritik drückte sich unter anderem in zeitgenössischen Romanen und Gedichten aus, die ihre Vorstellung der unschuldigen Frau vom Land, die zur städtischen Prostituierten wurde, auf Berlin übertrugen und umgekehrt. So wird das Bild der „Hure“ in Unheil verkündenden, als negativ empfundenen Stadt-Entwicklungen verwendet10 und die „Hure Großstadt“11 als Verderberin, als die „hässlichste aller großen Kokotten“12 bezeichnet. In dem kulturpessimistischen Roman „Sodom und Berlin“ wird die anti-urbane Kritik deutlich, indem der Großstadt Berlin die Wirkung eines Bazillus zugeschrieben wird. Der oder die von dem Bazillus Angesteckte wird selbst zur Gefahr, das Opfer zum Täter, was sich am konkretesten in dem Bild der ursprünglich unschuldigen, dann sündigen Frau und schließlich syphilitischen Hure ausdrückt, die zur gesellschaftlichen Gefahr wird. Der Zerstörungsprozess an ihrem Körper infiziert alle, die mit ihr in Berührung kommen. Berlin wird hierbei „als Ort der Verderbnis und als selbst verdorben gedacht“.13 Das waren zwei Seiten einer Medaille: Die Stadt barg für Frauen offensichtlich ein erhöhtes Prostitutionsrisiko und gleichzeitig wurden Frauen dadurch angeblich zum Risiko für die öffentlichen Räume der Stadt. Denn als Prostituierte transportierten sie Geschlechtskrankheiten, verführten Männer und bedrohten verheiratete Ehefrauen, in dem sie den sexuellen Wünschen der Ehemänner (also der Freier) nachkamen. 9

Vgl. Ursula Baumann, Protestantismus und Frauenemanzipation in Deutschland 1850–1920, Frankfurt/Main, 1992, S. 99f. Vgl. ebenso: Regina Schulte, Sperrbezirke: Tugendhaftigkeit und Prostitution in der bürgerlichen Welt, Frankfurt/Main 1984, S. 20. 10 Häufig werden im Zusammenhang von Krieg und Eroberung Länder, Kontinente und Städte als Frauen versinnbildlicht. In Reisebeschreibungen wird die Sehnsucht nach der fernen Stadt als Sehnsucht nach einer Frau ausgedrückt. Ebenso wird das Bild der Mutter oder das der Hure im Kontext mit Stadtbeschreibungen verwendet. Das Mütterliche in Verbindung mit Texten über die Stadt steht häufig für Wiederaufbau und Neugründung, auch fungiert das Bild der Stadt als Mutter als Zufluchtstätte. Vgl. Sigrid Weigel, „Die Städte sind weiblich und nur dem Sieger hold“ – Zur Funktion des Weiblichen in Gründungsmythen und Städtedarstellungen, in: Sigrun Anselm / Barbara Beck (Hrsg.), Triumph und Scheitern in der Metropole, Berlin 1987, S. 207–227. 11 Urte Heldurser, Das Geschlecht der Großstadt oder weibliche Raumgewinnung 1900–1930, in: Ariadne – Almanach des Archivs der deutschen Frauenbewegung 36 (1999), S. 4–11, hier: S. 4. 12 Bernhard Kellermann, Der neunte November (1920), Berlin 1958, S. 413f. Zit. nach: Heldurser, S. 4. 13 Weigel, Die Städte, S. 209.

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Auch der Klerus und die Innere Mission der evangelischen Kirche waren durch die sich umstrukturierende Gesellschaft und die Sorge vor dem Anwachsen der Sozialdemokratie einerseits,14 sowie unter dem Eindruck der sozialen und sittlichen Probleme als Folgen der Industrialisierung und Urbanisierung andererseits, verunsichert und sahen deshalb dringenden Handlungsbedarf. Sie standen der Binnenwanderung von Frauen, die in die Großstädte auf der Suche nach Arbeit mi­ grierten, aus der Befürchtung des sittlich-moralischen Risikos heraus ebenfalls kritisch gegenüber. Auch in dem Publikationsorgan der Inneren Mission wurde daher die oben erwähnte These, dass in Berlin unschuldige Frauen von Opfern zu Täterinnen würden, da von ihnen eine gesellschaftliche Ansteckungs- und Bedrohungsgefahr ausgehe, publiziert.15 Die Kirchen wollten speziell Frauen zur Bewältigung der sozialen Probleme mobilisieren und sie für die kirchliche Sozialarbeit, aber auch für medizinisch-pflegerische und erzieherische Berufe gewinnen.16 Das schien ein aussichtsreiches Unternehmen zu sein, da sich mehr Frauen am kirchlichen Leben beteiligten als Männer und zumindest (klein‑)bürgerliche Frauen die Zeit und die finanzielle Absicherung hatten, einer ehrenamtlichen Tätigkeit nachzugehen. Darüber hinaus erhoffte man sich, durch die Einbindung von Frauen in kirchliche Arbeitsbereiche, deren Identifikation mit der Kirche zu erhöhen. Den überwiegend ehrenamtlich arbeitenden Frauen dachte die Kirche deshalb die Aufgabe zu, dem kontinuierlichen Prozess der Entkirchlichung – besonders der Unterschicht – entgegenzuarbeiten und wieder mehr Personen an die Kirche zu binden, da sich mit der beginnenden Säkularisation im Kaiserreich immer mehr Menschen von der Kirche abwandten.17 Die Frauen übernahmen dadurch eine sozial-politisch wichtige Tätigkeit und traten zunehmend aus dem Privatbereich in die Öffentlichkeit der Großstädte. 1889 wurde der aus Westfalen stammende Pfarrer Johannes Burckhardt in die Elisabethgemeinde, die in der Rosenthaler Vorstadt18 (heute Berlin-Mitte) im Nor14 Auch die Bahnhofsmissionen äußerten große Bedenken gegenüber dem Anwachsen der SPD. Vgl. Wie bekommen wir mehr Helferinnen für die Bahnhofsmission?, in: Deutsche Mädchenzeitung, 3, 1908, S. 31. 15 „Die widerwärtigste, ekelhafteste, gemeinste Gestalt der Unsittlichkeit, der Unzucht ist die gewerbsmäßige – die Prostitution. Sie ist die Spezialität großer Städte, der großen Sammelpunkte der Industrie … (…) Der Ueberschuß an arbeitslosen, meist aber auch arbeitsscheuen jungen weiblichen Personen, (…) werfen nun (…) Scham und Ehrgefühl über Bord und verkaufen ihren Leib und auch ihre Seele. So werden sie beides, Verführte und Verführerinnen, Geopferte und Opfernde zugleich, was an ihnen verbrochen worden ist, rächen sie am ganzen Geschlecht in einer ungewollten und ungeahnten Weise. Die Wissenschaft hat festgestellt, daß die überwiegende Mehrzahl aller Rückenmarks-, Gehirn-, Nieren- und Augenleiden, die im späteren Leben der Männer so häufig eintreten, die Folgen früherer Ansteckung sind“. Zit. nach: A. Henning, Die öffentliche Sittenlosigkeit und die Arbeit der deutschen Sittlichkeitsvereine. Eine Denkschrift, in: Fliegende Blätter aus dem Rauhen Hause zu Horn bei Hamburg 54, 1897, S. 369–381 und S. 408–417 und S. 442–446, hier: S. 377f. 16 Baumann, S. 113. 17 Ebd., S. 36f. 18 Die Elisabethgemeinde liegt an der Grenze zwischen Rosenthaler und Oranienburger Vorstadt. Die Angaben, wo die Grenzen verlaufen bzw. wo sich die Kirchengemeinden, in denen Pfarrer Burckhardt tätig war, befinden, sind nicht immer eindeutig. So verortet sich die Elisabethge-

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den Berlins lag, berufen. Damit binnenwandernden Frauen bei ihrer Einwanderung nach Berlin Hilfestellung gewährt werden konnte, besonders aber um dem sittlichen Risiko in der Großstadt entgegenzuwirken, rekrutierte Pfarrer Burckhardt sich wohltätig engagierende Frauen und gründete ein Jahr später den Verein zur Fürsorge für die weibliche Jugend. Wie aus der Namensgebung des Vereins deutlich wird, sollten vor allem junge Frauen, deren Alter jenseits der Konfirmation und vor der Volljährigkeit, also zwischen 14 und 21 Jahren lag, fürsorgerisch betreut werden. Damit nahm der Verein jene Alters- und Bevölkerungsgruppe in den Blick, die auch Jugendfürsorger und andere Pädagogen seit Mitte der 1880er Jahre für sich entdeckt hatten. Laut Satzung wollte der Verein für die jungen Frauen Wohnheime in Berlin gründen, sich um deren christliche Freizeitgestaltung kümmern und „den in Berlin einwandernden Mädchen mit Rat und That zur Seite zu stehen“.19 Dass dieses Vorhaben am besten umgesetzt werden konnte, wenn Fürsorgerinnen direkt auf den Bahnhöfen bereitstanden, war zwar keine originäre Idee des Vereins, da dies Diakonissinnen und der Verein der Freundinnen junger Mädchen bereits Jahre vorher getan hatten. Jedoch einen strukturierten Bahnhofsdienst zu organisieren und umzusetzen, ging auf den Verein zur Fürsorge für die weibliche Jugend zurück, der vier Jahre nach seiner Gründung, 1894, die ersten Bahnhofsmissionarinnen zuerst sporadisch und schließlich durch einen ständigen Dienst an die zehn Berliner Fernbahnhöfe entsandte. Wie aus folgender Statistik ersichtlich wird, etablierte sich die Berliner Bahnhofsmission zwar kontinuierlich, wurde vor allem von der reisenden Bevölkerung angenommen und steigerte somit ihre Hilfeleistungen stetig. 1932 waren dies dennoch nur 15 Prozent der nach Berlin zuwandernden Personen.20 meinde – heute Sophiengemeinde – in der Rosenthaler Vorstadt (vgl. http://www.sophien.de/ pages/kirchen/st.-elisabeth-kirche.php Stand Februar 2010), während Wikipedia die Grenze zwischen den beiden Vorstädten an der Brunnenstraße zieht. Demzufolge wäre sowohl die historische Elisabethgemeinde als auch die Versöhnungsgemeinde, in die Pfarrer Burckhardt 1900 berufen wurde, Teil der Oranienburger Vorstadt (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Oranienburger_Vorstadt Stand Februar 2010). 19 Satzung des Vereins Fürsorge für die weibliche Jugend, in: Entwickelung des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend Ende 1902, o. O. [1902], S. 4–8, hier: S.4. 20 Die 15 Prozent setzen sich zusammen aus den Hilfeleistungen aus Tabelle 1, S. 16, und den Zahlen der Zuwanderer aus Tabelle 2, S. 83. Obwohl die Hilfeleistungen zwischen 1927 und 1932 in absoluten Zahlen sanken, konnte die Bahnhofsmission dennoch eine prozentuale Zunahme der Hilfen verzeichnen, weil die Zuwandererzahlen stark zurück gegangen waren. Bei den angegebenen Zahlen ist zu beachten, dass vor 1910 kein ständiger Dienst am Bahnhof geleistet wurde. Das heißt, dass die Hilfeleistungen der hier aufgeführten Jahre 1899 und 1905 an wenigen Tagen des Jahres geleistet wurden, während die Hilfeleistungen der aufgeführten Jahre 1925, 1927 und 1932 das ganze Jahr über geleistet wurden. Darüber hinaus bezogen sich die Hilfeleistungen der Anfangsjahre auf zuwandernde Mädchen, während bei den Jahren 1925, 1927 und 1932 von der Bahnhofsmission nicht deutlich gemacht wurde, ob die Zahlen geschlechtsspezifisch sind. Die Hilfeleistungen der Bahnhofsmission: 1899: Achter Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend, 1899, EZA, 7/13475, S. 9. 1905: Vierzehnter Jahresbericht des Vereins Fürsorge für die weibliche Jugend 1905, EZA, 7/13475, S. 33. 1925/1927: Annemarie Gibelius, Ein Tag aus der Arbeit der Bahnhofsmission, in: Jahresberichte des Vereins Wohl-

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Jahr

Hilfeleistungen . der Bahnhofsmission

1899

1 147

1905

2 366

1925

18 492

1927

32 837

1932

30 018

Tabelle 1: Hilfeleistungen der Bahnhofsmission

Durch das Engagement des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend und zwei weiterer Organisationen entwickelte sich sehr bald eine überregionale bahnhofsmissionarische Struktur und etablierte sich als Dachverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission, in dem die Lokalorganisationen Mitglieder waren. Die Frauen, die im Zentrum dieser Arbeit stehen, konstituierten durch ihre wohlfahrtspolitischen Aktivitäten für die Bahnhofsmission verschiedene öffentlichstädtische Räume: vor Ort an den Berliner Bahnhöfen, als Mitgliedsfrauen des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend und als Mitarbeiterinnen im Dachverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission. 1. Fragestellung Aufgrund der soziokulturellen Entwicklungsgeschichte von diversen öffentlichen Räumen soll der Blick auf die Wahrnehmung von Frauen, die in diesen Räumen agierten, gerichtet werden. Die vorliegende Studie analysiert, wie sich die Zunahme öffentlicher Präsenz von Frauen in verschiedenen sozialen Räumen im städtischen Kontext vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im Einzelnen gestaltete und unterschiedliche bahnhofsmissionarische Räume konstituiert wurden. Innerhalb dieser Räume gab es Rangordnungen und Netzwerkstrukturen, weshalb die Frage nach den Hierarchien in diesen Räumen brisant ist. Zu fragen ist deshalb, welche Hierarchien sich in diesen Räumen offenbarten und welche klassen- und geschlechtsspezifischen Merkmale die unterschiedlichen Räume durchzogen. Zur Beantwortung dieser Fragen nimmt die Studie zwei unterschiedliche städtische Räume in den Blick. Erstens wird die Alltagspraxis der Bahnhofsmissionarinnen an den Berliner Fernbahnhöfen und den sie umgebenden Stadtbezirken in fahrt der weiblichen Jugend zu Berlin 1925–1927, S. 17–20, hier: S. 17. 1932: Übersicht der Arbeitsgebiete des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1933, CA, Gf/St 92, Blatt 54, S. 3 (Selbstzählung).

1. Fragestellung

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den Mittelpunkt gestellt. Wie weit reichte das Netz sozialer Kontrolle und Fürsorge, das die Frauen über Berlin spannten, und welche Kooperationen gingen sie hierfür ein? Die Berliner Fernbahnhöfe lagen hierbei in Stadtbezirken mit unterschiedlichem Sozialmilieu. Wie wirkte sich das auf die Arbeit der Bahnhofsmissionarinnen aus? Der zweite zu betrachtende Raum bezieht sich auf die Aufgaben des Trägervereins der Berliner Bahnhofsmission, des Vereins zur Fürsorge der weiblichen Jugend und des sich entwickelnden Dachverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission, die beide in Berlin lokalisiert waren und ebenfalls ein Agitationsfeld für Frauen eröffneten. Waren auf der politisch-administrativen Ebene dieselben Frauen wie vor Ort, am Bahnhof, aktiv? Welche Bedeutung hatte es für die Handlungsräume von Frauen, dass sich sowohl in der lokalen wie in der überregionalen Vereins- und Verbandsorganisation Männer und Frauen gemeinsam engagierten? Welche Ämter konnten Frauen erringen? In welche Entscheidungen wurden sie mit einbezogen? Wie konnten sie in der medialen Öffentlichkeit der Organisationen partizipieren? Hinsichtlich der verschiedenen, sozialen Arbeitsfelder der engagierten Frauen wird auch nach dem Interesse städtischer Ämter an der Tätigkeit sowohl des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend, der Berliner Bahnhofsmission als auch deren Dachverband gefragt. Wie halfen die Frauen am Bahnhof Ruhe und Ordnung im Interesse der städtischen Herrschaftsträger durchzusetzen? Wurde deren soziales Betätigungsfeld von städtischen Ämtern und staatlichen Ministerien grundsätzlich befürwortet und drückte sich das durch finanzielle Unterstützung aus? Wo und warum gab es Probleme zwischen den verschiedenen öffentlichen Stellen und der konfessionellen Organisation? Zugespitzt lässt sich die Fragestellung, die diese Studie verfolgt, folgendermaßen verdeutlichen: Die Präsenz von Frauen in der städtischen Öffentlichkeit wurde von vielen Zeitgenossen grundsätzlich kritisch gesehen. Hierbei wurden Bahnhöfe als besonders gefährliche, öffentliche Orte eingeschätzt. Dabei fällt auf, dass das soziale Engagement der bahnhofsmissionarischen Helferinnen an genau diesem öffentlichen Ort auf Wohlwollen bei den Zeitgenossen stieß. Für jene Frauen jedoch, die über die Bahnhöfe nach Berlin einwanderten oder die sich aus anderen Gründen auf den Bahnhöfen aufhielten, und derer sich die Bahnhofsmissionarinnen fürsorgerisch annahmen, sah die zeitgenössische Einschätzung anders aus: Sie, so wurde befürchtet, standen durch den Aufenthalt in der Öffentlichkeit der Stadt unter einem sittlichen Risiko. Aus dieser Darlegung ergibt sich folgende erste These der vorliegenden Arbeit: Das öffentliche Auftreten der Bahnhofsmissionarinnen wurde durch die vorgebliche Geschlechtslosigkeit und sexuelle Nicht-Verfügbarkeit möglich, was durch eine in Ansätzen vorhandene christliche Uniformierung der Bahnhofsmissionarinnen umgesetzt wurde und durch den kirchlichen Rahmen abgesichert war. Margrit Brückner konstatiert, dass erst die körperliche Funktions- und Machtlosigkeit Frauen potenziell mit Männern in der Öffentlichkeit gleichsetzt, weil ihr öffentliches Auftreten daher weniger beunruhigend ist. Durch die Verschleierung der eigenen Geschlechtlichkeit würde jedoch die „Konstruktion des Geschlechterverhältnisses fortgeschrieben und Frauen als Frauen keine neuen Räume geöffnet,

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da bei diesem Arrangement die weibliche Besetzung von öffentlichen Räumen weiterhin an die Neutralisierung des eigenen Geschlechts gebunden bleibt“.21 Die Studie lotet aus, ob der kirchliche Rahmen und die damit einhergehende Stilisierung der Bahnhofsmissionarinnen zu keuschen und frommen Frauen der Erweiterung ihrer Handlungsspielräume im Sinne Margit Brückners letztendlich entgegenstand oder diese erst möglich gemacht hat. Welchen Preis hatten Frauen im Gegensatz dazu zu zahlen, um auf Vereins- und Verbandsebene aktiv zu werden? Mit dem spezifischen Auftreten der im bahnhofsmissionarischen Kontext engagierten Frauen waren zwei zeitgenössische Konzepte verbunden, die – so ist nachzuprüfen – möglicherweise entscheidend waren für die Räume, die Frauen an den Bahnhöfen und auf Vereinsebene konstituierten: Erstens das Bild der Frau als Sexualobjekt, das der oben beschriebenen stilisierten, frommen Weiblichkeit gegenübergestellt wurde, und zweitens das Konzept der geistigen Mütterlichkeit. Wie Irmtraud Götz von Olenhusen betont, wurde in der zeitgenössischen Wahrnehmung des 19. Jahrhunderts – im Unterschied zum Mittelalter und der frühen Neuzeit – zur ungeschlechtlichen, keuschen und frommen Frau das so genannte gefallene Mädchen, die Prostituierte, als Pendant konstruiert.22 Tatsächlich stand diese Klientel im fürsorgerischen Fokus sowohl der Bahnhofsmissionarinnen als auch der auf vereins- und dachverbandlichen Ebene aktiven Frauen (und Männer), die an den jungen Zuwanderinnen eine sozial-kontrollierende Orientierungs- und Integrationsleistung während des Zuwanderungsprozesses erbringen wollten. Weil die städtische Öffentlichkeit – die Zeitgenossen bezogen sich hierbei besonders auf den begehbaren Raum – angeblich ein erhöhtes Prostitutionsrisiko für Frauen bereithielt, wurden binnenwandernde Frauen deshalb als „Gefährdete“ klassifiziert. Welche Auswirkungen hatte der Dualismus – der als sittlich-rein und ungeschlechtlich konzipierten Frau auf der einen und der „gefährdeten“ Frau auf der anderen Seite – für diejenigen Frauen, denen das Fürsorgekonzept galt? Welche Rolle spielte es dabei, dass männliche Zuwanderer im Gegensatz zu den „gefährdeten“ Zuwanderinnen als „Wanderer“ definiert wurden? Änderte sich das Bild der Zuwanderinnen, als die in den 1920er Jahren nach Berlin migrierenden Frauen sehr viel seltener als Dienstmädchen in Stellung gingen, sondern in die neuen städtischen Berufe drangen? Ausgangspunkt für die Beantwortung ist die These Adelheid von Salderns, die besagt, dass „soziale Beziehungen, insbesondere Machtkonstellationen und Gesellschaftshierarchien sich verräumlichen [und] (…) dass die auf diese Weise vergesellschafteten Räume ihrerseits sym-

21 Margit Brückner, Geschlecht und Öffentlichkeit. Für und wider das Auftreten als Frau oder als Mensch, in: Dies. / Birgit Meyer (Hrsg.), Die sichtbare Frau. Die Aneignung der gesellschaftlichen Räume, Freiburg/Breisgau 1994, S. 19–54, hier: S. 34. 22 Diese Dichotomie war in früheren Epochen noch nicht vorhanden. Vielmehr galt die Frau im Mittelalter und der frühen Neuzeit als solche – abgesehen von Heiligen – als schwach, verführbar und sündig. Vgl. Irmtraud Götz von Olenhusen, Die Feminisierung von Religion und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Dies./u.a. (Hrsg.), Frauen unter dem Patriarchat der Kirchen: Katholikinnen und Protestantinnen im 19. und 29. Jahrhundert, Stuttgart etc. 1995, S. 9–21, hier: S. 11f.

1. Fragestellung

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bolische Kraft auf Wahrnehmungen, Deutungsschemata und Einstellungen der Menschen ausüben, folglich gesellschaftliche Verhältnisse reproduzieren“.23

Ausgehend von dieser Prämisse ist zu fragen, wie durch die Existenz der Bahnhofsmission, die sich sowohl an den Bahnhöfen als auch auf Vereins- und Verbandsebene institutionalisierte, die Vorstellung „gefährdeter“ Frauen reproduziert wurde und ob das wiederum zur Langlebigkeit des Gefährdeten-Konzeptes führte. Erweiterten die Frauen an den Bahnhöfen, im Trägerverein der Berliner Bahnhofsmission sowie ihrem Dachverband ihren Wirkungskreis durch die Reproduktion des Bildes der „gefährdeten“ Frau? Der antimoderne Entwurf und die damit verbundenen Bilder und Wahrnehmungen von Frauen in öffentlichen Räumen korreliert indes nicht mit einem durchaus zeitgemäßen Öffentlichkeits- und Medienkonzept der lokalen und überregionalen Organisation. Welchen Anteil hatte das Öffentlichkeitskonzept an der Produktion unterschiedlicher Weiblichkeitsbilder? Vorliegende Studie setzt sich dabei mit den konstruierten Bildern über binnenwandernde Menschen beiderlei Geschlechts vom Standpunkt der genannten Frauengruppen auseinander und fragt, was das im Einzelnen für die Lebenschancen von Frauen bedeutete. Dabei bleiben die Helferinnen am Bahnhof und die Vereins- sowie Verbandsfrauen der Kristallisationspunkt und Fokus der Arbeit. Der Alltag und die Erfahrungen der jungen binnenwandernden Frauen werden zuweilen thematisiert und zu den Handlungsräumen der sozial engagierten Frauen am Bahnhof oder im Verein beziehungsweise Verband in Bezug gesetzt, sie stehen aber nicht im Mittelpunkt der Studie. Ein weiteres Konzept, das der geistigen Mütterlichkeit, soll ebenso dafür herangezogen werden danach zu fragen, ob es den Weg der auf lokaler und überregionaler Ebene engagierten Frauen in die Öffentlichkeit ebnete. Über den Entwurf, nicht nur die Mutter, sondern die Frau schlechthin als mütterlich zu postulieren, die jenseits des engen Kreises der Familie ihre pflegenden, sozialen Kompetenzen gesamtgesellschaftlich nutzbar machen sollte, versuchten gerade bürgerliche Frauen in der (wohlfahrts-)politischen Öffentlichkeit Fuß zu fassen.24 Damit stellt sich die grundsätzliche Frage, ob mit der Betonung von Mütterlichkeit und Geschlechterdifferenz eine Strategie gefunden war, die den in der Bahnhofsmission aktiven Frauen Handlungsspielräume eröffnen konnte. Welche Bedeutung hatten die Ausbildungsvoraussetzungen der Frauen vor allem unter dem Aspekt, dass sich bahnhofsmissionarische Arbeit nie professionalisierte? Wie sahen die Handlungsrahmen fest angestellter Frauen im Vergleich zu den ehrenamtlich arbeitenden aus? Mit dem Konzept der geistigen Mütterlichkeit war auch eine ethische Verpflichtung formuliert worden, die der Mittelstand gegenüber den unteren Volksschichten erfüllen sollte. Deshalb ist von Interesse, welcher Schicht die auf verschiedenen Ebenen engagierten Frauen im Vergleich zu den ländlichen Zuwanderinnen angehör-

23 Adelheid von Saldern, Stadt und Öffentlichkeit in urbanisierten Gesellschaften. Neue Zugänge zu einem alten Thema, in: IMS 2, 2000, S. 3–15, hier: S. 3. 24 Bärbel Kuhn, Familienstand: Ledig. Ehelose Frauen und Männer im Bürgertum (1850–1914), Köln etc. 2000, S. 75ff.

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ten. Konnten die migrierenden Frauen durch die angebotenen Dienstleitungen erreicht werden? 2. Methodisches Vorgehen Die Studie folgt methodisch den Zugriffsweisen und Theorien der neueren Kulturgeschichte.25 Hierbei werden Probleme und Fragestellungen der geschlechter- und mikrogeschichtlichen, ethnologischen sowie soziologischen Forschung aufgeworfen. Um die Handlungsspielräume von Frauen und das Konstituieren verschiedener, öffentlicher Räume analysieren und beschreiben zu können, soll im Folgenden geklärt werden, was in dieser Studie unter dem Merkmal „öffentlich“ und unter der Kategorie „Raum“ verstanden wird. Eine Begriffsbestimmung von „Raum“, die den Handlungsmöglichkeiten von Frauen Rechnung trägt, ermöglicht die Theorie der Soziologin Martina Löw.26 Durch den Löwschen Raumbegriff ist es möglich mehrere Räume gleichzeitig als öffentlichen Raum zu denken, was bei den nicht immer offen zu tage liegenden Räumen der Bahnhofsmissionarinnen sowie Vereins- und Verbandsfrauen ein Analysewerkzeug an die Hand gibt, die verschiedenen Ebenen und Möglichkeiten der Raumkonstitution zu erklären. Damit steht auch die These zur Disposition, ob die gesellschaftliche Struktur beziehungsweise die Konstruktion einer öffentlichen und privaten Sphäre, der Männer und Frauen zugeordnet wurden,27 und die die Voraussetzung dafür war, Frauen auf die Privatsphäre zu verweisen, mithilfe der Löwschen Theorie relativiert werden kann. Grundlagen für ihre Raumtheorie findet Löw bereits bei Physikern und Philosophen wie Newton, Leibnitz, Kant und Einstein, die entweder absolutistische oder relationale Raumtheorien entwickelt haben, und die Löw am Anfang ihrer Studie diskutiert. Daraufhin widmet sie sich soziologischen Raumbegriffen, die meistens der absolutistischen Denktradition des Raumes als Synonym für „Erdboden, Terri-

25 Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt/ Main 2001. 26 Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt/Main 2001. Während sich die Soziologie – nach Jahrzehnte langer Tabuisierung – erst seit Mitte der 1990er Jahre wieder der Kategorie „Raum“ zuwendete, war dieser immer schon Gegenstand ethnologischer Forschung, wird hier aber in letzter Zeit unter veränderter Fragestellung diskutiert. Vgl. das neueste Themenheft des Fachbereiches Ethnologie der Universität Hamburg: Ethnoscripts 9, 2007, H. 1. Zu grundsätzlichen Überlegungen, wie die Ethnologie den „Raum“-Begriff nutzen kann, ist hierin der Artikel von Waltraud Kokot erhellend. Vgl. Waltraud Kokot, Culture and Space – Anthropological Approaches, in: Ethnoscripts 9, 2007, H. 1, S. 10–23. Die Hinwendung der Soziologie zu Raumfragen thematisiert u.a. Ursula Nissen, Kindheit, Geschlecht und Raum. Sozialisationstheoretische Zusammenhänge geschlechtsspezifischer Raumaneignung, Weinheim 1998, hier: S. 136. 27 Vgl. Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit, Stuttgart 1976, S. 363–393.

2. Methodisches Vorgehen

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torium oder Ort“28 verpflichtet sind. Sie diskutiert den ortsbezogenen Raumbegriff bei Anthony Giddens, den zu Territorien verdinglichten Raumbegriff der Stadt- und Regionalsoziologie u.a. bei Häußermann und Siebel sowie Georg Simmels soziologische Anwendung des Kantschen Raumbegriffs.29 Für ihre Vorstellung der Raumkonstitution übernimmt Martina Löw Komponenten der von Anthony Giddens entwickelten Strukturierungstheorie, beispielsweise den Strukturbegriff und das Konzept der Strukturprinzipien, für die Löw Geschlecht und Klasse einführt, die in Form des inkorporierten Habitus’ alle Bereiche des Lebens durchdringen. In Anlehnung an Georg Simmel wiederum entwickelt Löw die These, dass Räume zwar eine materielle Basis haben, aber diese erst in einer aktiven Leistung hergestellt beziehungsweise angeeignet werden müssen. Raum ist zwar materiell vorfindbar (Bahnhöfe, Züge, Bahnhofszimmer, Straßen), allerdings bedarf es für diese Materialisierung einer sowohl individuellen als auch kollektiven Verknüpfungsleistung.30 Weitere theoretische Konzepte, die aus unterschiedlichen Theorierichtungen kommen und von Löw für die Konstitution von Raum aufgegriffen werden, sind Macht, Handeln und Habitus, letzterer vor allem durch die Theorien von Pierre Bour­dieu.31 28 Löw, Raumsoziologie, S. 264. 29 Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt/Main etc. 1988; Ders., Die Theorie der Strukturierung. Ein Interview mit Anthony Giddens (geführt von Bernd Kießling), in: Zeitschrift für Soziologie 17 (1988) 4, S. 286–295; Hartmut Häußermann / Walter Siebel, Stadt und Raum. Soziologische Analysen, Pfaffenweiler 1991; Hartmut Häußermann / Walter Siebel, Thesen zur Soziologie der Stadt, in: Leviathan 4, 78, S. 484–500; Georg Simmel, Kant. Sechzehn Vorlesungen gehalten an der Berliner Universität 1905; Soziologie des Raumes, in: Ders., Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl, hg. und eingeleitet von H-J. Dahme / O. Rammstedt, Frankfurt/Main 1992. 30 Löw, Raumsoziologie, S. 62. Auf die Übernahme dieser These von Simmel weist Thomas Dörfler hin. Vgl. Thomas Döfler, Milieu- und sozialräumlicher Wandel in Berlin / Prenzlauer Berg, Dissertationsmanuskript S. 67. Die Dissertation erscheint unter folgendem Titel: Thomas Dörfler, Gentrification in Prenzlauer Berg? Milieuwandel eines Berliner Sozialraumes seit 1989, Bielefeld 2010. 31 Vgl. Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und „Klassen“, Frankfurt/Main 1991; Ders., Sozialer Sinn. Kritik der Vernunft, Frankfurt/Main 1987. Ders., Physischer, sozialer und angeeigneter Raum, in: Wentz (Hrsg.), Stadt-Räume. Die Zukunft des Städtischen, Frankfurt/Main etc., 1991, S. 25–34; Boike Rehbein / Gernot Saalmann / Hermann Schwengel (Hrsg.), Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen. Probleme und Perspektiven, Konstanz 2003. Löws Konzept wurde darin kritisiert, dass sich in ihrer Theorie der tatsächliche Ort verflüchtige und nur noch von Atmosphären bestimmte, auf kurze Dauer gestellte Räume übrig blieben. Heinz Arnold, Buchbesprechung zu Martina Löws Raumsoziologie, in: Geographische Revue, 3 (2001), 2, S. 103– 105. Dem ließe sich mit Thomas Doerfler entgegenhalten, dass das Materielle bei Löw mitnichten nur ein Diskurseffekt und sozial konstruiert sei. Vielmehr sei es sozial konstitutiv, „weil Subjekte die soziale Welt auch nach räumlichen Kriterien ordnen und somit Syntheseund Platzierungsleistungen vornehmen, die sich nach örtlichen Gegebenheiten richten.“ Vgl. Dörfler, Dissertationsmanuskript, S. 70. In Bezug auf die Giddenssche Strukturierungstheorie wurde kritisiert, dass Löw einerseits die langjährigen Diskussionen um diese Theorie nicht zur Kenntnis nehme und dass andererseits der Giddenssche Handlungsbegriff kommentarlos übernommen werde, obwohl Löw selbst immer wieder darauf hinweise, dass Akteure Handlungsrestriktionen unterliegen. Sie sei sich somit bewusst, dass Mechanismen sozialer Ungleichheit eine hohe Bedeutung für die Produktion von Räumen hätten und eine genaue Definition des Handlungsbegriffs folglich notwendig gewesen wäre. Siehe. Petra Deger, Buchbesprechung

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Einführung

Der Raum wird bei Löw in die soziale Struktur integriert, statt ihn als vom Handeln getrennte Realität zu denken. Sie geht deshalb von einer relationalen Vorstellung von Raum aus im Vergleich zur eher absolutistischen Raumtradition der Soziologie. Löw zeigt auf, dass die Soziologie „Raum“ häufig nur als Bezeichnung für eine räumliche Abgrenzung eines Forschungsfeldes verwendet. Das bedeutet, dass der Raum wie ein Behälter verstanden wird, in dem etwas stattfindet. Raum wird demnach dem Handeln gegenüber gestellt. Löw argumentiert, dass Raum aber nicht von Gesellschaft getrennt werden könne, da es nicht – wie in absolutistischen Konzepten –, einerseits den Raum und andererseits die Menschen gebe. Das Räumliche ist nach Martina Löw deshalb eine spezifische Form des Gesellschaftlichen.32 Demzufolge gibt es nicht „Raum“ an sich, sondern nur „nicht-essentielle Räume.“33 Diese Räume befinden sich in Relation zu den Subjekten dieser Konstitutionsleistung. Vor allem im fünften Kapitel ihres Buches formuliert Löw schließlich ihren prozessualen Raumbegriff, in dem sie von einem sozialen Raum ausgeht, der durch bestimmte symbolische und materielle Komponenten gekennzeichnet ist. Sie nimmt daher nicht länger zwei Realitäten als gegeben an – nämlich den Raum einerseits und die Menschen und sozialen Güter andererseits – und integriert somit den Raum in den Handlungsverlauf.34 Damit wird einem Raumkonzept eine Absage erteilt, bei dem der Raum als Territorium oder Ort als bereits bekannt vorausgesetzt wird, und die einzelnen Aspekte des komplexen sozialen Prozesses, in dessen Folge Räume entstehen oder reproduziert werden, unerkannt bleiben. Löws handlungsleitende Fragestellung lautet: Wie kann „Raum“ als Grundbegriff der Soziologie präzisiert werden, um aufbauend auf dieser Begriffsbildung eine Raumsoziologie zu formulieren.35 2.1 Das relationale Raumkonzept von Martina Löw Um eine Korrektur und weitere Perspektive auf die Quellen zu gewährleisten, bietet sich für meine Arbeit das relationale Raumkonzept von Martina Löw in verschiedener Hinsicht an. Es ist Löws dezidiertes Anliegen einen empirisch verwendbaren Raumbegriff zu entwickeln. Das soll in vorliegender Studie an den Möglichkeiten der Raumkonstitution verschiedener Frauengruppen erprobt und ebenfalls daraufhin gewiesen werden, welche Teile der Löwschen Theorie für die Analyse der (Handlungs-)Räume der Akteurinnen weniger tragfähig sind. Durch den Löwschen Raumbegriff wird es möglich, nicht nur den materiellen und sozialen Raum der Bahnhofsmissionarinnen am Bahnhof zusammen zu denken, sondern auch eine Sonderform des Raumes, nämlich den institutionalisierten „Raum“, wie den Ver-

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zu Martina Löws Raumsoziologie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 54 (2002), 3, S. 607–609. Ebd., S. 167. Doerfler, Dissertationsmanuskript, S 9. Löw, Raumsoziologie, S. 13 und 15. Löw, Raumsoziologie, S. 12.

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band der Deutschen Bahnhofsmission und den Verein zur Fürsorge für die weibliche Jugend, in das Raumkonzept einzubeziehen. Räume relational zu denken ist eine plausible Möglichkeit unterschiedliche Räume, Analyseebenen, Handlungsfelder sowie -orte (der flüchtige, soziale Handlungs-Raum am Bahnhof, der bebaute Stadtraum einschließlich der Bahnhöfe sowie der institutionalisierte Verbands- und Vereinsraum) einzubeziehen und dadurch Grenzverschiebungen zwischen öffentlicher und privater Sphäre zu untersuchen. Parallel dazu hat dieses Raumkonzept die Möglichkeit, auch den verschiedenen Frauengruppen mit unterschiedlichem Profil, Status, Herkunft und Handlungsmöglichkeiten, nämlich den Bahnhofsmissionarinnen und den Verbands- sowie Vereinsfrauen gerecht zu werden. In dieser Arbeit werde ich Löws Konzept deshalb selektiv benutzen, um zu verdeutlichen, wie sich die Räume der Bahnhofsmissionarinnen sowie Vereins- und Verbandsfrauen relational in Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Strukturprinzipien Klasse und Geschlecht sowie weiteren Raum-Konstitutionsdeterminanten, wie Reichtum, Wissen, Rang und Assoziation, konstituierten.36 Zum Löwschen Raumbegriff im Einzelnen: Konkret formuliert Löw die These, dass Raum „eine relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern“ ist. Raum wird konstituiert durch zwei analytisch zu unterscheidende Prozesse, das Spacing und die Syntheseleistung. Letzteres ermöglicht es, Ensembles von Gütern und Menschen zu einem Element zusammenzufassen.37 Der bahnhofsmissionarische Raum an den Berliner Fernbahnhöfen bestand demnach aus den für alle sichtbaren „materiellen Gütern“, wie die Züge, das Bahnhofsgebäude, die Bahnhofsschalter, die Einkaufsläden etc., und aus „symbolischen Gütern“, womit der symbolische Aspekt eben jener materiellen Güter gemeint ist, sowie aus den zu den sozialen Gütern in Bezug stehenden Lebewesen, wie die sich im Bahnhof und der umliegenden Umgebung aufhaltenden Akteure. Konstituiert wurde der relational angeordnete Raum der sozialen Güter und Lebewesen dadurch, dass die Bahnhofsmissionarinnen beispielsweise Zimmer am Bahnhof einrichteten und sich in einer bestimmten Weise an den Gleisen aufstellten oder Schilder aufhängten, die auf ihre Dienstleistungen verwiesen. Raumkonstitution bedarf weiterhin einer Syntheseleistung, bei der über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse Güter und Menschen zu Räumen zusammengefasst werden. Das heißt, die potenziellen Nutzer der Vereinsangebote und der Hilfestellungen der Berliner Bahnhofsmission waren eine unverzichtbare Voraussetzung dafür, dass die aktiven Frauen ihre öffentlichen Räume konstituieren konnten.38 Zwei Aspekte sind für die Raumkonstitution ebenfalls bedeutsam: erstens die Institutionalisierung von Räumen und zweitens die Entstehung räumlicher Strukturen. Adelheid von Saldern spricht bei städtischer Vereinskultur von einer institutionalisierten Öffentlichkeit.39 Das methodische Konzept von Löw konkretisiert den 36 Zur Erklärung, was Martina Löw unter den Determinanten, die Räume konstituieren, versteht, nämlich Reichtum, Wissen, Rang und Assoziation, siehe FN 251. 37 Ebd., S. 160. 38 Ebd., S. 158ff. 39 Saldern, Stadt und Öffentlichkeit, S. 10.

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Begriff der Institutionalisierung dahingehend, dass Räume über das individuelle Handeln hinaus wirksam bleiben und dadurch verallgemeinert werden können. In täglichen, immer wiederkehrenden sozialen Praktiken werden diese institutionalisierten Anordnungen im Handeln reproduziert, das heißt, Institutionen sind dauerhaft in Routinen reproduzierte Gebilde. Dadurch werden Räume in Routinen immer wieder auf die gleiche Weise hergestellt. Auch der soziale Raum des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend und des Dachverbandes der Deutschen Bahnhofsmission konstituierte sich auf diese Weise als Routine, denn auch hier gab es einen „materiellen“ Ort an dem sich die Vereins- beziehungsweise Verbandsmitglieder trafen und miteinander agierten. Das Vereins- beziehungsweise Verbandshaus lag in einer bestimmten Berliner Wohngegend, hatte symbolische Bedeutung und beeinflusste gleichzeitig die Aktivitäten der organisierten Männer und Frauen, indem es durch seine Örtlichkeit daran erinnerte, was der Motor des gemeinsamen Engagements war. Darüber hinaus breiteten sich der Verein durch den Aufbau von Heimathäusern und der Verband durch die Gründung einer Vielzahl von Bahnhofsmissionen auf lokaler und nationaler Ebene aus. Sowohl bei der Bahnhofsmission als auch bei Vereinen und Verbänden kann von Institutionalisierungen gesprochen werden, da diese überall ähnlich gestaltet und aufgebaut waren sowie kontinuierlich reproduziert wurden. Nimmt man nun die Konstitution von räumlichen Strukturen, die Löw als Teil gesellschaftlicher Strukturen versteht, in den Blick, so wird deutlich, dass die Anordnung von sozialen Gütern und Menschen zu Räumen dann zu räumlichen Strukturen werden, wenn sie in Regeln festgeschrieben oder durch Ressourcen abgesichert sind.40 Hierbei werden die räumlichen Strukturen aus den sie konstituierenden Regeln und Ressourcen stets neu produziert. Unter Ressourcen, auf die die Vereins- und Verbandsmitglieder oder auch die am Bahnhof agierenden Frauen zurückgreifen konnten, verstehe ich das Tragen der Armbinde, welches die Anbindung an die Kirche symbolisierte, eine Festanstellung im Gegensatz zu einer ehrenamtlichen Tätigkeit, die Möglichkeiten an Netzwerken41 zu partizipieren oder die Ausbildungsgrundlage, die die jeweilige Mitarbeiterin mitbrachte. Mit einbezogen werden müssen auch die Voraussetzungen sozialer Ungleichheit der Menschen, die in diesen Räumen aufeinandertrafen und die ausschlaggebend für die Möglichkeiten der Frauen waren öffentliche Räume zu konstituieren. Raum konstituierte sich dementsprechend abhängig von den Möglichkeiten, auf soziale Güter (ReichtumsDimension), auf Bildung (Wissens-Dimension), auf soziale Positionen (Rang-Dimension) und auf Zugehörigkeit (Assoziations-Dimension) zurückgreifen zu können. Neben den sozialen Ungleichheitskriterien sind es weiterhin die Geschlechterund Klassenstrukturen, die die Konstitution von Räumen prägen, weil sie erstens 40 Löw, Raumsoziologie, S. 166ff. 41 Unter Netzwerken verstehe ich öffentlich-private Kooperationen, die nicht dezentral organisiert sein müssen, aber können. Vgl. Jan Broch / Markus Rassiller / Daniel Scholl (Hrsg.), Netzwerke der Moderne. Erkundungen und Strategien, Würzburg 2007. Ebenso: Hartmut Böhme / Jürgen Barkhoff / Jeanne Riou (Hrsg.), Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne, Köln 2004. Der Sammelband zeigt, dass und wie der Netzwerkbegriff gewinnbringend für historische Prozesse angewandt werden kann.

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alle gesellschaftlichen Strukturen durchziehen und zweitens in die Körperlichkeit des Menschen eingehen.42 Um zu generellen Schlussfolgerungen zu kommen, ob und welche Frauen in den bahnhofsmissionarischen Räumen (Handlungs-)Räume hatten und wie diese zu bewerten sind, ist die vordringliche Frage also, wie die Frauen ihre Räume konstituierten und gegen wen sie diese verteidigten und abgrenzten. 2.2 Das Merkmal „öffentlich“ Bei der Frage nach dem Merkmal „öffentlich“ ist mit Adelheid von Saldern zu konstatieren, dass Untersuchungen den „diversen Öffentlichkeiten“ einer Stadt Rechnung tragen müssen.43 Von „diversen Öffentlichkeiten“ spricht Adelheid von Saldern in Abgrenzung zum Habermasschen Öffentlichkeitsbegriff, der unter Öffentlichkeit die politisch-literarische Kommunikation der bürgerlichen (männlichen) Gesellschaft versteht, wobei der begehbare Raum in seiner Studie eine vernachlässigte Kategorie sei und nur implizit mitgedacht würde.44 Die Abhandlung von Bruno Fritzsche konzentriert sich demgegenüber ausschließlich auf den materiellen Raum. Allerdings führt er den Begriff des „halböffentlichen“ Raumes ein, unter den er auch Bahnhöfe fasst.45 Es liegt die Vermutung nahe, dass der Autor auf das dem Öffentlichkeitskonzept inhärente Elemente „offen“ zurückgreift, das einerseits als „nicht verschlossen“ und andererseits als „unbedeckt“ verstanden werden kann, und somit den Bahnhof als überdachtes Gebäude ausschließt.46 Eine Definition, die es ermöglicht, verschiedene Öffentlichkeiten zu untersuchen, findet sich bei Wolfgang Settekorn. Dem entsprechend wird „öffentlich“ definiert als „für jeden zugänglich, erreichbar, zur Verfügung stehend, hörbar und sichtbar (…), die Allgemeinheit, die Gesellschaft betreffend, ‚öffentliche Meinung / öffentliches Interesse‘, die Verwaltung eines Gemeinwesens, einer Kommune betreffend (…), die öffentliche Hand: der Staat, die Kommunen, das Land […]“.47

Settekorn konzeptionalisiert Öffentlichkeit durch einen zweigeteilten Raumbegriff, wobei er einen Raum „Körper“ und den anderen „Sozial“ nennt. So beschreibt er Öffentlichkeit einerseits als „räumliche Zugänglichkeit“ durch das Merkmal „Körper“ und kennzeichnet Öffentlichkeit andererseits – bezogen auf „Gesellschaft“ und „Institution“ – durch das Merkmal „Sozial“. In dieser Arbeit sollen sowohl der 42 Löw, Raumsoziologie, S. 173ff. 43 Saldern, Stadt und Öffentlichkeit, S. 13. 44 Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 3. Aufl., Frankfurt/Main, 1993. 45 Bruno Fritzsche, Stadt – Raum – Geschlecht. Entwurf einer Fragestellung, in: Monika Imboden / Franziska Meister / Daniel Kurz (Hrsg.), Stadt – Raum – Geschlecht. Beiträge zur Erforschung urbaner Lebensräume im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 2000, S. 19–27, hier: S. 24. 46 Vgl. Wolfgang Settekorn, Überlegungen zur Konzeptualisierung von „Öffentlichkeit“, in: Werner Faulstich / Knut Hickethier (Hrsg.), Öffentlichkeit im Wandel: neue Beiträge zur Begriffserklärung, Bardowick 2000, S. 15–33, hier: S. 16. 47 Ebd., S. 21.

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Raum „Bahnhof“ als auch der Raum „Verein und Verband“ als öffentliche Räume betrachtet werden. Dabei ist von Bedeutung, dass der Raum Bahnhof zwar starken Kontrollen unterlag, dennoch aber „für jeden zugänglich und erreichbar“ war, was Settekorn als Voraussetzung für das Merkmal „öffentlich“ angibt. Das trifft allerdings auf den zweiten zu betrachtenden Raum nicht zu. Sowohl der Verein zur Wohlfahrt der weiblichen Jugend als auch der Dachverband der Deutschen Bahnhofsmission standen nur bestimmten Personen offen. Da jedoch das wohlfahrtspolitische Engagement beider Organisationen einem „öffentlichen Interesse“ entsprach und diese die öffentlichen Diskussionen um Frauen, speziell um junge Zuwanderinnen, in öffentlichen Räumen, bei Settekorn als „öffentliche Meinung“ bezeichnet, gestalteten und mitprägten und ihr Engagement sich sowohl kommunale als auch nationale Einflusssphären suchte, ist auch bei diesem Raum von einem „öffentlichen“ zu sprechen. 3. Forschungsstand Vorliegende Studie verbindet Themen der Stadt- und Urbanisierungsgeschichte einerseits sowie der Diakonie- und Wohlfahrtsgeschichte andererseits. Hierbei werden Probleme und Fragen der Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie der Bürgertums- und Kirchengeschichte aufgegriffen und medien- und kommunikationswissenschaftliche Aspekte thematisiert. Die Stadt- und Urbanisierungsgeschichte blickt inzwischen auf eine 30-jährige Forschungstradition zurück, die mit sich verändernden Themen und Fragestellungen vorwiegend die Großstädte im Blick hatte. Konzentrierte sich diese historische Subdisziplin anfänglich auf demografische bevölkerungs- und migrationshistorische Aspekte sowie auf Fragen nach der kommunalen Leistungsverwaltung und der Agglomerationsbildung, so konzentriert sie sich seit einiger Zeit stärker auf kulturwissenschaftliche und ethnografische Fragestellungen, indem beispielsweise „Stadtbilder“ und die „Lebenswelt“ der Städter, aber auch die verschiedenen Facetten städtischer Öffentlichkeiten verstärkt in den Blick kommen. In dem Zusammenhang wurden verschiedene, vor allem soziologische, Raumtheorien für die Stadt- und Urbanisierungsgeschichte nutzbar gemacht und nach der raumbezogenen Erfahrung der Akteure gefragt. Neben Gesichtspunkten migrationshistorischer Forschungsparadigmen48 und 48 Klaus J. Bade, Arbeitsmarkt, Bevölkerung und Wanderung in der Weimarer Republik, in: Michael Stürmer (Hrsg.), Die Weimarer Republik: Belagerte Civitas, Königstein/Ts. 1980, S. 160–187; Köllmann, Bevölkerungsgeschichte in der industriellen Revolution; Ders., Bevölkerungsgeschichte 1800–1970, in: Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte hrsg. von Hermann Aubin / Wolfgang Zorn, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 9–50; Wolfgang Krömer, Propagandisten der Großstadt. Die Bedeutung von Informationsströmen zwischen Stadt und Land bei der Auslösung neuzeitlicher Land-Stadt-Wanderungen, illustriert an Beispielen aus dem Hohenloher Land (Baden Württemberg) und den benachbarten Zentren Frankfurt/Main, Mannheim, Nürnberg und Stuttgart, Frankfurt/Main 1985; Peter Marschalck, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1984; Horst Matzerath, Wachstum und Mobilität der Berliner Bevölkerung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Kas-

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Themen der „wahrgenommenen“ Stadt,49 sind besonders Studien, die kommunikationsgeschichtliche Aspekte und Fragen zur (städtischen) Öffentlichkeit behandeln, für den Rahmen dieser Arbeit relevant. Trotz der Bedeutung der Massenmedien für die städtische Öffentlichkeit im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert, hat die Stadtund Urbanisierungsforschung hierzu bislang wenige Untersuchungen vorgelegt.50 Ausgehend von der Prämisse, dass das Habermassche Verständnis von Öffentlichkeit51 den unterschiedlichen städtischen Teilöffentlichkeiten nicht genügend gerecht wird,52 kommen seit Mitte der 1990er Jahre auch kommunikationsgeschichtliche Fragestellungen zur Entwicklung der Massenpresse, des Films und des Radios in den Blick. Der Fokus richtete sich hierbei bislang auf Medienproduzenten wie Presseverleger oder die Bedeutung der Lokalteile großstädtischer Presse einerseits sowie die Presse als Produzent großstädtischer Bilder und ihr Einfluss auf städtisches Leben andererseits.53 Die Studien zur Erforschung audiovisueller Medien wiederum konzentrieren sich auf deren Funktion als visuell vermittelte Stadterfahrung, hinsichtlich der Veränderungen der Gruppe der Rezipienten, in ihrer (geschlechter-)politischen Relevanz oder in Bezug auf die Unterschiede bei der Geschmacksbildung.54 Auch die Wirtschaftswerbung und die Bedeutung beleuch-

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par Elm / Hans-Dietrich Loock (Hrsg.), Seelsorge und Diakonie in Berlin. Beiträge zum Verhältnis von Kirche und Großstadt im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, Berlin 1990, S. 201–222; Klaus Tenfelde, Großstadtjugend in Deutschland 1914. Eine historisch-demografische Annäherung, in: VSWG 69, 1982, Heft 2, S. 182–218. Im Folgenden werden einige Forschungen, die sich mit Bildern über die Großstadt beschäftigen genannt: Für die Bilder von Frauen, Stadt und Land: Sigrun Anselm, Emanzipation und Tradition in den 20er Jahren, in: Dies./Beck, Triumph und Scheitern, S. 253–274, Weigel, Die Städte; Dies., Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur, Reinbeck bei Hamburg 1990; Gisela Ecker, „Heimat“: Das Elend der unterschlagenen Differenz, in: Dies. (Hrsg.), Kein Land in Sicht: Heimat – weiblich? München 1997, S. 9–31; zur Groß­ stadtwahrnehmung generell: Bergmann, Agrarromantik; Andrews Lees, Cities, Sin, and Social Reform in Imperial Germany, Michigan 2002; Ders., Cities perceived: urban society in European and American thought 1820–1940, New York 1985; Jürgen Reulecke / Clemens Zimmermann (Hrsg.), Die Stadt als Moloch? Das Land als Kraftquell? Wahrnehmungen und Wirkungen der Großstädte um 1900, Basel 1999; Joachim Schlör, Nachts in der großen Stadt: Paris, Berlin, London 1840–1930, München 1991. Karl Christian Führer / Knut Hickethier / Axel Schildt, Öffentlichkeit – Medien – Geschichte. Konzepte der modernen Öffentlichkeit und Zugänge zu ihrer Erforschung, in: AfS 41, 2001, S. 1–38; Axel Schildt, Das Jahrhundert der Massenmedien. Ansichten zu einer zukünftigen Geschichte der Öffentlichkeit, in: GG 27 (2001), S. 175–204; Ders., Massenmedien und Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert. Ein Periodisierungsvorschlag, in: Faulstich/Hickethier, Öffentlichkeit im Wandel, S. 156–177, hier: S. 37 und 39. Habermas, Strukturwandel; Vgl. auch Harold Mah, Phantasies of the Public Sphere: Rethinking the Habermas of Historians, in: The Journal of Modern History 72, 2000, S. 153–182. Clemens Zimmermann, Zur Einleitung: Stadt, Medien und Lokalität, in: IMS 1, 2002, S. 5–13. Ebenso: Saldern, Stadt und Öffentlichkeit, S. 3–15. Peter Fritzsche, Reading Berlin 1900, Cambridge 1996; Norbert Jonscher, Lokale Publizistik. Theorie und Praxis der örtlichen Berichterstattung, Opladen 1995; Jörg Requate, Zwischen Profit und Politik. Deutsche Zeitungsverleger im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Dieter Ziegler (Hrsg.), Großbürger und Unternehmer. Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 167–186. Brigitte Flickinger, Kino und Ins-Kino-Gehen als Stadterfahrung bis 1930, in: Die Alte Stadt

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teter Werbung,55 die seit der Elektrifizierung der Stadt56 durch Leuchtreklamen der Selbstrepräsentation der Organisationen diente und gleichsam das Leben städtischer Akteure prägte, stand im Forschungsinteresse. Meine Arbeit setzt bei der Frage der Selbstrepräsentation an, indem sie die Öffentlichkeitsarbeit57 sowohl des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend als auch des Dachverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission in den Blick nimmt und danach fragt, wie die Organisationen durch ihre Medienproduktion Teil an der Gestaltung moderner Urbanität hatten. Die Fragestellungen beziehen sich nicht nur darauf, wie die lokale und die überregionale Organisation zu städtischen Meinungsprofilen und Leitbildern besonders in Bezug auf junge Zuwanderinnen beitrugen, sondern auch ob und wie sie in der Provinz58 warben und trotz anti-modernen Weltbildes zeitgemäße Medien für die eigenen Zwecke nutzten. Die konkrete Frage nach Frauen und (städtischer) Öffentlichkeit wurde vornehmlich von Wissenschaftlerinnen unterschiedlicher Forschungsdisziplinen gestellt, die hierbei theoretische oder empirisch beschreibende Zugangsweisen zu dem Forschungsgegenstand wählten. Die räumliche Herangehensweise legt ein Raumkonzept zugrunde, das sich vor allem auf den begehbaren Raum konzentriert. Somit kamen auch Arbeiten zur Geschichte der Prostitution in den Blick, die allerdings nicht explizit unter stadtgeschichtlichen oder raumbezogenen Aspekten bearbeitet wurden. Gleiches gilt für die Geschichte anderer städtischer Räume, speziell der lokalen Vereine, die zwar unter der Fragestellung von Handlungsrahmen von

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28, 2001, S. 217–229; Karl Christian Führer, „Auf dem Weg zur Massenkultur“? Kino und Rundfunk in der Weimarer Republik, in: HZ 262, 1996, S. 739–781; Eve Rosenhaft, Lesewut, Kinosucht, Radiotismus: Zur (geschlechter-)politischen Relevanz neuer Massenmedien in den 1920er Jahren, in: Alf Lüdtke / Inge Marßolek / Adelheid von Saldern (Hrsg.), Amerikanisierung: Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Transatlantische Historische Studien, Bd. 6, Stuttgart 1996, S. 119–143; Janet Ward, Weimar Surfaces. Urban Visual Culture in 1920s Germany, Berkeley etc. 2001. Peter Borscheid, Am Anfang war das Wort. Die Wirtschaftswerbung beginnt mit der Zeitungsannonce, in: Ders / Clemens Wischermann. (Hrsg.), Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1995, S 20–43; Silke Brune-Berns, Im Lichte der Großstadt – Werbung als Signum einer urbanen Welt, in: Borscheid/Wischermann, S. 90–115; Dirk Reinhardt, Vom Intelligenzblatt zum Satellitenfernsehen: Stufen der Werbung als Stufen der Gesellschaft, in: Borscheid/Wischermann, S. 44–57. Richard Birkefeld / Martina Jung, Die Stadt, der Lärm und das Licht. Die Veränderung des öffentlichen Raumes durch Motorisierung und Elektrifizierung, Seelze 1994, S. 163–204. Vgl. hierzu Achim Bonte, Werbung für Weimar? Öffentlichkeitsarbeit von Großstadtverwaltungen in der Weimarer Republik, Mannheim 1997. Im Rahmen der für die Erforschung der Bahnhofsmission wichtigen Diakonieforschung konnten zwei Artikel gefunden werden, die die Öffentlichkeitsarbeit der jeweiligen Organisation/Bewegung thematisieren. Zur Sittlichkeitsbewegung: Isabell Lisberg-Haag, „Die Unzucht – das Grab der Völker“, in: Ursula Röper / Carola Jüllig (Hrsg.), Die Macht der Nächstenliebe. Einhundertfünfzig Jahre Innere Mission und Diakonie 1848–1998, Berlin 1998, S. 130–137; Zum Zentralausschuss der Inneren Mission: Matthias Pöhlmann, Publizistischer „Angriffskrieg“, in: Röper/Jüllig, S. 206–215. Pöhlmann untersucht verschiedene Möglichkeiten der Öffentlichkeitsarbeit des Zentralausschusses wie Ausstellungen, Filme, Publizistik etc. Clemens Zimmermann, Städtische Medien auf dem Land. Zeitung und Kino von 1900 bis zu den 1930er Jahren, in: Reulecke/Ders., S. 141–164.

3. Forschungsstand

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Frauen in der städtischen Öffentlichkeit thematisiert werden, nicht aber unter raumkonzeptionellen Fragestellungen innerhalb der Stadtgeschichte, sondern vielmehr in der Bürgertumsforschung verortet werden. Zur ersten Zugangsweise: Publikationen, die sich dem Thema „Öffentlichkeit“ theoretisch und unter einer geschlechtsspezifischen Fragestellung nähern, thematisieren die grundsätzliche Konstruiertheit der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Konzepte von „öffentlich“ und „privat“, indem sie die Funktion der Begrifflichkeiten als Legitimation für Machtpositionen entlarven. Termini wie „öffentlich“ und „privat“ könnten nicht unhinterfragt übernommen werden, stattdessen müssten die „reale[n] Grenzverschiebungen“59 zwischen den Geschlechtern in öffentlichen Räumen jeglicher Art herausgearbeitet werden. Ausgehend von dieser Analyse und basierend auf dem Löwschen Raumkonzept, fragt diese Studie danach, wie die Frauen in der Bahnhofsmission, ihrem Trägerverein und dem Dachverband soziale Räume konstituierten, wie es dadurch zu „Grenzverschiebungen“ kam und was das wiederum über die Handlungsräume dieser Frauen im Sinne gesellschaftlichen Einflusspotenzials aussagt. Die zweite Zugangsweise zum Thema Öffentlichkeit und Frauen nimmt unter der spezifischen Bezugnahme auf das Konzept „Raum“ den begehbaren, physischen Raum in den Blick, um so weibliche Präsenz durch Flaneurinnen und andere, sich auf den Straßen, Plätzen und Märkten aufhaltende Frauen, zu untersuchen und dadurch ihre gesellschaftliche Teilhabe oder Ausgrenzung auszuloten.60 Obwohl nicht von der Stadtforschung, sondern vielmehr durch die Frauen- und Geschlechterforschung thematisiert, gehört die Erforschung städtischer Prostitution und der zeitgenössischen Sittlichkeitsdebatten ebenfalls in den Kontext der Öffentlichkeit, weil Prostituierte doch lange die einzig wahrgenommenen Frauen in der Öffentlichkeit darstellten. Da Prostitution ein vorwiegend städtisches Phänomen war und in der Forschung hierüber häufig lokalgeschichtliche Zugänge gewählt wurden, sind somit von der Frauen- und Geschlechterforschung Fragen formuliert worden, die für die stadtgeschichtliche Forschung bedeutsam sind. Obwohl das Thema vorwiegend in England und Amerika Beachtung fand,61 sind auch einige auf den 59 Leonore Davidoff, „Alte Hüte“. Öffentlichkeit und Privatheit in der feministischen Geschichtsschreibung, in: L’Homme Z.F.G. 4, 1993, Heft 2, S. 7–36; Karin Hausen, Öffentlichkeit und Privatheit. Gesellschaftspolitische Konstruktionen und die Geschichte der Geschlechterbeziehungen, in: Dies. / Heide Wunder (Hrsg.), Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, Frankfurt/ Main etc. 1992, S. 81–88. Vgl. auch Michelle Rosaldo, „The Use and Abuse of Anthropology. Reflections on Feminism and Cross-Cultural Understanding“, in: Signs 5, 1980, S. 392–416. 60 Bruno Fritzsche, S. 19–27; Anke Gleber, The Art of taking a Walk. Flanerie, Literature, and Film in Weimar Culture, Princeton 1999; Dies., Female Flanerie and the Symphony of the City, in: Katharina von Ankum (Hrsg.), Women in the metropolis: gender and modernity in Weimar culture, Kalifornien 1997, S. 67–88; Franziska Roller, Flaneurinnen, Straßenmädchen, Bürgerinnen. Öffentlicher Raum und gesellschaftliche Teilhabe von Frauen, in: Margarete Hubrath (Hrsg.), Geschlechter-Räume: Konstruktionen von „gender“ in Geschichte, Literatur und Alltag, Köln etc. 2001, S. 251–265; Elisabeth Wilson, Begegnung mit der Sphinx. Stadtleben, Chaos und Frauen, Basel etc. 1993. 61 Erwähnt sei hier nur die wegweisende Studie von Judith R. Walkowitz, Prostitution and Victorian Society. Women, Class, and the State, Cambridge 1980.

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Einführung

deutschsprachigen Raum bezogene Studien erschienen, denen nahezu allen gemeinsam ist, dass sie die umrissenen Problemfelder auf die Urbanisierung in Deutschland zurückführen. Die für die Handlungsrahmen von Frauen der Bahnhofsmission interessanten Fragestellungen der Forschungen zum Thema Prostitution und Sittlichkeit beziehen sich vor allem auf die soziale Kontrolle,62 die von bürgerlichen Institutionen ebenso ausgeübt wurde, wie von kommunalen Behörden wie Wohlfahrts- und Gesundheitsämtern63 sowie der Sitten- und, ab den 1920er Jahren, von der weiblichen Polizei64 – allesamt Ämter, Behörden oder Organisationen, mit denen die Bahnhofsmissionarinnen in einem sozial-kontrollierenden Netz verbunden waren. Die Historikerin Sybille Kraft lotet in ihrer Arbeit zu den oben genannten Fragestellungen darüber hinausgehende Phänomene aus, die für die bahnhofsmissionarische Praxis konstituierend waren, nämlich den „Mädchenhandel“ und die „Kuppelei“ im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Debatten und tatsächlichen Straftatbeständen.65 Ein weiterer Schwerpunkt des Forschungsfeldes liegt auf der bürgerlichen Doppelmoral und den gesellschaftlichen Debatten über Sittlichkeit und deren Produzenten, wodurch die Prostituierte zur „Antithese“ der bürgerlichen Ordnung wurde,66 was an der Verfolgung und einseitigen Anklage gegen Prostituierte ebenso deutlich wurde, wie an der zeitgenössischen Einteilung in „gefallene“ Mädchen und so genannte ehrbare Frauen.67 Für das Forschungsinteresse dieser Arbeit ist auch die Studie von Ute Frevert bedeutsam, die sich der Analyse eines spezifischen bürgerlichen Identitätsbegriffs zu weiblicher und männlicher Ehre widmet.68 Aufbauend auf meine erste These, formuliere ich hiermit 62 Sabine Gless, Die Reglementierung von Prostitution in Deutschland, Berlin 1999. 63 Wolfgang Ayaß, „Asoziale“ im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995; Schulte 1984; Gaby Zürn, „A. ist Prostituiertentyp“ – Zur Ausgrenzung und Vernichtung von Prostituierten und moralisch nicht-angepaßten Frauen im nationalsozialistischen Hamburg, in: Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS-Regimes (Hrsg.), Verachtet – verfolgt – vernichtet – zu den „vergessenen“ Opfern des NS-Regimes, 2. durchg. Aufl., Hamburg 1988, S. 128–151. 64 Ursula Nienhaus, Nicht für eine Führungsposition geeignet. Josefine Erkens und die Anfänge weiblicher Polizei in Deutschland 1923–1933, Münster 1999; Dies., Himmlers willige Komplizinnen – weibliche Polizei im Nationalsozialismus (1937–1945), in: Katja Limbächer / Maike Merten / Bettina Pfefferle (Hrsg.), Das Mädchenkonzentrationslager Uckermark, Münster 2000, S. 77–94. 65 Sybille Krafft, Zucht und Unzucht. Prostitution und Sittenpolizei im München der Jahrhundertwende, München 1996. 66 Anita Ulrich, Ärzte und Sexualität – am Beispiel der Prostitution, in: Alfons Labisch / Reinhard Spree (Hrsg.), Medizinische Deutungsmacht im sozialen Wandel des 19. und 20. Jahrhunderts, Bonn 1989, S. 223–235; Dies., Bordelle, Straßendirnen und bürgerliche Sittlichkeit in der Belle Epoque. Eine sozialgeschichtliche Studie der Prostitution am Beispiel der Stadt Zürich, Zürich 1985; Susanne Karstedt, Emanzipation und Moral: die Frauenbewegung als „Moralunternehmen“?, in: Kriminologisches Journal, 5. Beiheft, 1995, S. 143–160; Karin Walser, Prostitutionsverdacht und Geschlechterforschung. Das Beispiel der Dienstmädchen um 1900, in: GG 11, 1985, Heft 1, S. 99–111. 67 Susanne Omran, „Woran erkennen wir die Prostituierte?“ Sittlichkeit, Großstadtdiskurs und Antisemitismus im Kontext der Frauenbewegung, in: Mechthild Bereswill / Leonie Wagner (Hrsg.), Bürgerliche Frauenbewegung und Antisemitismus, Tübingen 1998, S. 65–87. 68 Ute Frevert, Ehre – männlich/weiblich. Zu einem Identitätsbegriff des 19. Jahrhunderts, in: TAJB 21, 1992, S. 21–68.

3. Forschungsstand

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meine zweite, nämlich, dass für die weltanschauliche Konzeption und soziale Praxis der Berliner Bahnhofsmission und ihres Dachverbandes das Konzept männlicher und weiblicher Ehre konstituierend war und sich in der unterschiedlichen Sicht auf männliche und weibliche Zuwanderer niederschlug.69 Ein weiterer, in vorliegender Arbeit analysierter Raum, bezieht sich auf den Verein zur Fürsorge für die weibliche Jugend, den Trägerverein der Berliner Bahnhofsmission, sowie die verbandliche Organisation der Bahnhofsmission. Die wissenschaftliche Erforschung des Phänomens „Verein“ und das öffentliche Engagement vorwiegend bürgerlicher Kreise, hat in Deutschland bereits eine jahrzehntelange Tradition innerhalb der Bürgertumsforschung.70 Erst durch die Frauen- und Geschlechterforschung jedoch wurde auch der Anteil von Frauen an der Konstitution von Frauenvereinen stärker thematisiert.71 Gemischtgeschlechtliche Vereine sind unter einer geschlechtergeschichtlichen Fragestellung nur vereinzelt untersucht worden.72 In den Studien werden Vereine zwar als Teil städtischer Öffentlichkeit diskutiert, aber nicht als öffentliche Räume konzeptionalisiert. Den einzigen Versuch, materiellen und sozialen Raum zwar nicht zusammen zu denken, doch aber zusammen zu thematisieren, unternimmt Urte Helduser. Die von ihr beschriebenen Akteurinnen werden nicht nur als auf den Straßen, Cafés und in den Warenhäusern präsent beschrieben, sondern auch als Vereinsfrauen oder Politikerinnen in 69 Meine erste These lautete, dass das öffentliche Auftreten der Bahnhofsmissionarinnen vor allem durch ihre vorgebliche Geschlechtslosigkeit – ausgedrückt durch die in Ansätzen vorhandene Uniformierung – sichergestellt wurde. 70 Vgl. u.a. Lothar Gall (Hrsg.), Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert, München 1990; Thomas Nipperday, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung, in: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1974; Heinz Reif, Die verspätete Stadt. Industrialisierung, städtischer Raum und Politik in Oberhausen. 1846–1929, 2 Bde., Brauweiler 1993; Klaus Tenfelde, Die Entfaltung des Vereinswesens während der Industriellen Revolution in Deutschland (1859–1873), in: Otto Dann (Hrsg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, München 1984, S. 55–114. 71 Eine Auswahl: Ute Gerhard, Über die Anfänge der deutschen Frauenbewegung um 1848. Frauenpresse, Frauenpolitik, Frauenvereine, in: Karin Hausen (Hrsg.), Frauen suchen ihre Geschichte, 2. durchg. Aufl., München 1987, S. 200–224; Kirsten Heinsohn, Gleichheit und Differenz im Bürgertum: Frauenvereine in Hamburg, in: Rita Huber-Sperl (Hrsg.), Organisiert und engagiert. Vereinskultur bürgerlicher Frauen im 19. Jahrhundert in Westeuropa und den USA, Königstein/Taunus 2002, S. 233–252; Andrea Süchting-Hänger, „Gleichgroße mut’ge Helferinnen“ in der weiblichen Gegenwelt: Der Vaterländische Frauenverein und die Politisierung konservativer Frauen 1890–1914, in: Ute Planert (Hrsg.), Nation, Politik, Geschlecht, Frankfurt/Main 2000, S. 131–146. 72 Vgl. die Arbeiten von Iris Schröder und Beate Klemm: Iris Schröder, Arbeiten für eine bessere Welt. Frauenbewegung und Sozialreform 1890–1914, Frankfurt/Main 2001; Beate Klemm, Der Verein für Innere Mission Leipzig „für“, „wider“ und „mit“ den Frauen 1870–1914. Eine Untersuchung des Frauenheims Leipzig-Borsdorf, in: Susanne Schötz (Hrsg.), Frauenalltag in Leipzig: Weibliche Lebenszusammenhänge im 19. und 20. Jahrhundert, Weimar etc. 1997, S. 107–234; Beate Klemm, „Mit schwesterlichem Handbieten zu gemeinsamem Wirken“: Leipziger Frauen als Wegbereiterinnen eines überregionalen Netzwerkes der bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland (1865 bis 1894), in: Huber-Sperl, S. 187–210.

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der städtischen Öffentlichkeit verortet, was Helduser in seiner Gesamtheit als „Raumgewinn“ im Sinne eines Zugewinns öffentlicher Handlungsmöglichkeiten von Frauen versteht.73 Meine Studie verortet sich zwar innerhalb der hier benannten Forschungsansätze, nähert sich dem Thema Frauen in öffentlichen Räumen jedoch auf andere Weise, da die übliche Trennung von materiellem und sozialem Raum überwunden und nur von einem sozialen Raum ausgegangen wird, der sich an verschiedenen städtischen Orten materialisiert. Dadurch wird es möglich, die agierenden Personen zu den materiellen Gütern – sowohl am Bahnhof als auch innerhalb der Stadt – und der ihr inhärenten Symbolik auszuloten. Die Betrachtung von Frauen in der Bahnhofsmission fällt ebenso in den Bereich der Diakonie- und Wohlfahrtsgeschichte. An der Forschung zu dieser Organisation sowie angrenzender Themenbereiche sind verschiedene Disziplinen beteiligt. Unter den historisch angelegten Studien sind es vor allem kirchengeschichtliche Fragestellungen, aber auch Problemstellungen, die innerhalb der Bürgertumsforschung und der interdisziplinär angelegten Frauen- und Geschlechtergeschichte aufgeworfen wurden, die Einsichten in die Erforschung der Bahnhofsmission und des Kontextes in dem sie stand, liefern. Fragen nach den Handlungsrahmen für Frauen im kirchlichen Kontext wurden zwar vereinzelt in Bezug auf den Gesamtprotestantismus gestellt,74 kaum aber für eine spezifische, im lokalen Kontext agierende Organisation. Die Bahnhofsmission wurde als Forschungsfeld lange Zeit aus sozialwissenschaftlicher und theologischer Sicht erforscht und erst in jüngster Zeit auch von Historikerinnen (wieder) entdeckt, wobei bislang organisationsgeschichtliche Fragestellungen im Mittelpunkt standen. Der erste Artikel, der einen kurzen Überblick über die jugendfürsorgerische Tätigkeit der Bahnhofsmission vor dem Hintergrund nach Berlin wandernder Dienstmädchen gibt, erschien anlässlich der 750-Jahrfeier Berlins vor zwanzig Jahren.75 Auch die Forschungen der folgenden Jahre stellten überwiegend die Organisationsgeschichte in den Mittelpunkt, allerdings unter verschiedenen Gesichtspunkten, wobei zuweilen das Augenmerk verstärkt auf aktuellen, statt auf historischen Entwicklungen lag. Thematisiert wurden hierbei politische,76 lokal­ge­schicht­ liche,77 religionsgemeinschaftliche78 und diakoniegeschichtliche79 Fragestellungen 73 Heldurser, S. 4–11. 74 Baumann, Protestantismus; Götz von Olenhusen, Die Feminisierung; Doris Kaufmann, Frauen zwischen Aufbruch und Reaktion. Protestantische Frauenbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, München 1988; Annette Kuhn (Hrsg.), Frauen in der Kirche, Düsseldorf 1985. 75 Cornelia Carstens / Petra Heidebrecht, Der leichtsinnige Zuzug in die Großstadt. Dienstmädchen und Bahnhofsmission um 1900, in: Die Reise nach Berlin hrsg. v. Berliner Festspiele GmbH, Berlin 1987, S. 229–236. 76 Bruno W. Nikles, Machtergreifung am Bahnhof. Nationalsozialistische Volkswohlfahrt und kirchliche Bahnhofsmission 1933–1945, in: Neue Praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik, 19, 1989, S. 242–261. 77 Jürgen Blandow, Gleis 1 – Südseite. Die Geschichte der Bahnhofsmission in Bremen (1898– 1998), Bremen 1998. 78 Claudia Thoben, „… in schöner Harmonie und mit zäher Beharrlichkeit“. Die interkonfessionelle weibliche Bahnhofsmission in Nürnberg 1919–1933, in: Ariadne 45, 2004, S. 40–45. 79 Wolfgang Reusch, Bahnhofsmission in Deutschland 1897–1987: sozialwissenschaftliche Ana-

3. Forschungsstand

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sowie Aspekte bürgerschaftlichen Engagements.80 Das Verdienst, die erste umfangreiche Studie zur Organisationsgeschichte der Bahnhofsmission, die sowohl die Lokalorganisationen als auch die verbandliche Entwicklung behandelt und hierbei einen Bogen schlägt von den ersten Initiativen für zuwandernde Frauen nach Berlin, über den organisierten Dienst am Bahnhof um die Jahrhundertwende bis hin zu den Aktivitäten der Organisation in den 1960er Jahren, kommt Bruno Nikles zu.81 Die Akteure der Organisation, die vor dem Hintergrund ihrer Wertvorstellungen, Niederlagen und Arbeitserfolge beurteilt werden, hat die Dissertation von Bettina Hitzer im Blick. Ausgehend von soziologischen und ethnologischen ‚Fremdheits‘-Konzepten, wird die Bahnhofsmission im Spannungsfeld verschiedener Einrichtungen, die im Kontext der Innere Mission unterschiedliche Aktivitäten für Zuwanderer beiderlei Geschlechts entwickelten, analysiert.82 Organisationsgeschichtliche Aspekte, sowohl zum Trägerverein der Berliner Bahnhofsmission als auch zum überregionalen Gesamtverband und akteursspezifische Fragestellungen, werden zwar auch in vorliegender Studie thematisiert. Betrachtet wird die Bahnhofsmission jedoch weniger als Organisation. Vielmehr wird sie verstanden als eine Vielzahl auszuhandelnder Räume, damit der Wirkungskreis für Frauen in der städtischen Öffentlichkeit – für die die Bahnhofsmission als kirchliche Einrichtung beispielhaft steht – ausgelotet werden kann. Dass Frauen im 19. Jahrhundert Zugang zu öffentlichen Räumen innerhalb der Kirche erhalten haben, wird in der Forschung auch unter dem Topos der „Feminisierung“ der Religion geführt.83 Ausgehend von dieser Annahme bleibt aber der Umstand bestehen, dass sich Frauen zwar in der Mehrzahl als Ehrenamtliche in der Wohlfahrtspflege betätigt haben, Leitungsfunktionen jedoch in männlicher Hand blieben, was an der Konstitution sozialer Räume durch die engagierten Frauen des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend und des Dachverbandes der Deutschen Bahnhofsmission überprüft werden soll. Wie die Forschung jedoch ebenfalls hervorhebt, öffnete sich der Zentralausschuss der Inneren Mission gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Einsicht, dass die Wohlfahrtspflege nicht nur durch ehrenamtlich

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lyse einer diakonisch-caritativen Einrichtung im sozialen Wandel, Frankfurt/Main, 1988; Renate Zitt, Diakonisch-soziales Handeln im städtischen Kontext am Beispiel der Bahnhofsmission, in: Heinz Schmidt / Dies. (Hrsg.), Diakonie in der Stadt. Reflexionen-Modelle-Konkretionen, Stuttgart 2008, S. 70–88; Dies., Diakonie und Bildung, Beispiel Bahnhofsmission, in: Glauben und Lernen 18, 2003, H. 1, S. 69–85. Teresa Bock, Bahnhofsmission. Ökumenisches Engagement für Menschen, die unterwegs sind, in: Siegfried Müller / Thomas Rauschenbach (Hrsg.), Das soziale Ehrenamt: nützliche Arbeit zum Nulltarif, Weinheim etc. 1992, S. 153–160. Nikles, Soziale Hilfe. Bettina Hitzer, Im Netz der Liebe. Die protestantische Kirche und ihre Zuwanderer in der Metropole Berlin (1849–1914), Köln etc. 2006. Vgl. v.a. Götz von Olenhusen, S. 9–21; Hugh McLeod, Weibliche Frömmigkeit – männlicher Unglaube? Religion und Kirchen im bürgerlichen 19. Jahrhundert, in: Ute Frevert (Hrsg.), Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 134–156; Edith Sauer, „Frauen und Priester. Beichtgespräche im frühen 19. Jahrhundert“, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), Arbeit, Frömmigkeit und Eigensinn. Studien zur historischen Kulturforschung, München 1990, S. 141–170.

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arbeitende Frauen geleistet werden konnte, sondern zunehmend auch gut ausgebildete, fest angestellte Frauen rekrutiert werden müssten. Forschungen, die das Spannungsverhältnis zwischen ehrenamtlichen und fest angestellten Frauen innerhalb einer Organisation thematisieren, fehlen. Die vorhandenen Studien beziehen sich entweder auf die Entstehung von Ehrenamtlichkeit, ohne im Einzelnen zu beleuchten, was das für die engagierten Frauen bedeutete, oder konzentrieren sich sehr vereinzelt auf einzelne Aspekte weiblicher Berufstätigkeit im Bereich der sozialen (konfessionell-gebundenen) Wohltätigkeit.84 Susanne Schatz hat darauf hingewiesen, dass der Verband der Berufsarbeiterinnen auf eine Initiative von Johannes Burckhardt, dem Gründer des Trägervereins der Bahnhofsmission, und seiner Mitarbeiterin Gertrud Müller zurückgeht.85 Damit zeigt sich, dass im Umfeld der Bahnhofsmission moderne, auch durch die Frauenbewegung beeinflusste Forderungen, durchaus aufgegriffen und umgesetzt wurden. Vorliegende Studie beleuchtet, was die von Schatz thematisierte Verberuflichung für die fest angestellten und vor allem die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen bedeutete. In den weiteren Rahmen der Frage nach der (Berufs‑)Tätigkeit von Frauen gehört die Erforschung des Konzepts der „geistigen Mütterlichkeit“, das in der Forschung etwas mehr Aufmerksamkeit erfahren hat und deren Anfänge in der Mitte der 1980er Jahre liegen. Die Analysen zur Bewertung dieser Theorie gehen jedoch stark auseinander.86 In Bezug auf die Mitarbeiterinnen der Berliner Bahnhofsmission und ihres Dachverbandes unternimmt vorliegende Studie eine Positionsbestimmung innerhalb der Diskussion um das Konzept der geistigen Mütterlichkeit, die in ihren Extrempositionen die politische Strategie der Frauenbewegung entweder positiv beurteilen oder ihr attestieren, dass sie versagt habe.87 84 Zur historischen Entwicklung der Ehrenamtlichkeit: Christoph Sachße, Ehrenamtlichkeit, Selbsthilfe und Professionalität. Eine historische Skizze, in: Müller/Rauschenbach, S. 51–55. Zur aktuellen ehrenamtlichen Arbeit: Sieglinde Duscheleit, Was die Welt im Innersten zusammenhält – ehrenamtliche Arbeit von Frauen, 2. Aufl., Bonn 2001. Forschungen zum weiteren Rahmen der Fragestellung um weibliche Berufstätigkeit innerhalb der konfessionell gebundenen Wohltätigkeit: Heide Berndt, Die Frau als Trösterin. Christlicher Ursprung moderner weiblicher Sozialberufe, in: Anselm/Beck, 1987, S. 29–55; Kuhn, 2000; Marianne Schmidbaur, Zur Arbeit berufen. Arbeit und Beruf als Thema konfessioneller Frauenorganisationen im deutschen Kaiserreich, in: Ariadne 35, 1999, S. 50–55. 85 Susanne Schatz, „Selbstlose Hingabe oder materialistische Erwerbsarbeit?“ Zu Berufsbild und Selbstverständnis von Frauen in den Anfängen professioneller evangelischer Sozialarbeit, in: Traugott Jähnichen / Norbert Friedrich (Hrsg.), Protestantismus und soziale Frage: Profile der Zeit der Weimarer Republik, Münster 2000, S. 160–176. Vgl. auch die Dissertation von Susanne Schatz, Arbeitswelt Kirche. Mitbestimmung und Arbeitsbeziehungen kirchlicher Beschäftigten in der Weimarer Republik, Frankfurt/Main 1999. 86 Dietlinde Peters, Mütterlichkeit im Kaiserreich. Die bürgerliche Frauenbewegung und der soziale Beruf der Frau, Bielefeld 1984; Christoph Sachße / Florian Tennstedt, Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung. 1871–1929, Frankfurt/Main 1986; Therese Wobbe, Gleichheit und Differenz. Politische Strategien von Frauenrechtlerinnen um die Jahrhundertwende, Frankfurt/Main etc. 1989; Nach der Wirkmächtigkeit dieses Konzepts für die heutige soziale Arbeit fragt Heike Fleßner, Mütterlichkeit als Beruf. Historischer Befund oder aktuelles Strukturmerkmal sozialer Arbeit, Oldenburg 1995. 87 Vgl. Bärbel Clemens, Menschenrechte haben kein Geschlecht. Zum Politikverständnis der bür-

4. Quellenlage

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Sowohl die von den Bahnhofsmissionarinnen vor Ort geleistete, fürsorgerische Arbeit als auch die Tätigkeiten von Frauen auf vereins- oder verbandlicher Ebene konzentrierten sich auf die Bereiche der Jugend- und Gefährdetenfürsorge. Vorliegende Studie setzt sich mit den konstruierten Bildern über binnenwandernde Menschen beiderlei Geschlechts auseinander und fragt, was das im Einzelnen für die Lebenschancen von Frauen bedeutete. Forschungen, die die Konstruktionen männlicher und weiblicher Jugendlicher, speziell junger binnenwandernder Menschen zueinander in Bezug setzen, liegen bislang nicht vor.88 Weder haben die Forschungen zur staatlichen Jugendfürsorge Frauen im Blick, da unter Jugendlichen fast ausschließlich männliche Jugendliche verstanden wurden, noch stellen Arbeiten zur evangelischen Wandererfürsorge für männliche Wanderer Verbindungslinien ihres Forschungsgegenstandes zur Gefährdetenfürsorge, die sich um junge Zuwanderinnen kümmerte, her.89 4. Quellenlage Zur Rekonstruktion bahnhofsmissionarischen Wirkens sowohl lokal und überregional als auch durch die Themenstellungen, die die bahnhofsmissionarische Arbeit betrafen, sind in erster Linie die Überlieferungen des Archivs und der Bibliothek des Diakonischen Werkes der evangelischen Kirche in Berlin relevant. Durch den Bestand „Gefährdetenfürsorge/Straffälligenfürsorge“ des Archivs konnte der Schriftverkehr des Dachverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission mit dem Zentralausschuss der Inneren Mission eruiert werden, da regelmäßig Protokolle von Ausschuss- und Kommissionssitzungen sowie Jahres- und andere Berichte an die Innere Mission geschickt wurden. Das Archiv hält im Bestand aber auch Akten zum Schriftverkehr zwischen der Evangelischen Bahnhofsmission und gerlichen Frauenbewegung, Pfaffenweiler 1987. Im Gegensatz dazu: Irene Stoehr, „Organisierte Mütterlichkeit“. Zur Politik der deutschen Frauenbewegung um 1900, in: Hausen, Frauen suchen ihre Geschichte, S. 221–249. 88 Zwar stellt auch die Dienstmädchenliteratur keine Bezüge zu den Einteilungen in männliche „Wanderer“ und weibliche „Gefährdete“ her, sie hat jedoch die zeitgenössische Sichtweise auf junge migrierende Frauen im Blick. Vgl. Dorothee Wierling, Mädchen für alles. Arbeitsalltag und Lebensgeschichte städtischer Dienstmädchen um die Jahrhundertwende, Berlin etc. 1987. 89 Ewald Frie, Fürsorgepolitik zwischen Kirche und Staat. Wanderarmenhilfe in Preußen, in: Wilfried Loth / Jochen-Christoph Kaiser (Hrsg.), Soziale Reform im Kaiserreich: Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik, Stuttgart etc. 1997, S. 114–127; Alfons Kenkmann, Wilde Jugend. Lebenswelt großstädtischer Jugendlicher zwischen Weltwirtschaftskrise, Nationalsozialismus und Währungsreform, Essen 1996; Detlev Peukert, Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge von 1878 bis 1932, Köln 1986; Jürgen Scheffler, Die Wandererfürsorge zwischen konfessioneller, kommunaler und staatlicher Wohlfahrtspflege, in: Jochen-Christoph Kaiser / Martin Greschat (Hrsg.), Sozialer Protestantismus und Sozialstaat: Diakonie und Wohlfahrtspflege in Deutschland 1890 bis 1938, Stuttgart etc. 1996, S. 104–117; Ders., „Die wandernde Bevölkerung“, in: Röper/Jüllig, S. 174–181; Frank Zadach-Buchmeier, „Anstalten, Heime und Asyle: Wohnen im institutionellen Kontext“, in: Jürgen Reulecke (Hrsg.), Geschichte des Wohnens, Bd. 3: Das bürgerliche Zeitalter, Stuttgart 1997, S. 637–743.

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verschiedenen Ministerien, zu Protokollen des Deutschen Nationalkomitees zur Bekämpfung des Mädchenhandels oder zu Berichten verschiedener Einrichtungen der Gefährdentenfürsorge. Mit den in der Bibliothek des Diakonischen Werkes gehaltenen Zeitschriften lassen sich darüber hinaus wichtige bahnhofsmissionarische Themenfelder und Aktivitäten rekonstruieren. Die Praxis der bahnhofsmissionarischen Mitarbeiterinnen an den Berliner Bahnhöfen lässt sich durch die „Rundschreiben der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission“ herausarbeiten. Ebenfalls von Interesse sind die Fachzeitschriften „Die Rundschau“, „Der Wanderer“ und „Fliegende Blätter aus dem Rauhen Hause“ beziehungsweise deren Nachfolgezeitschrift „Die Innere Mission im Evangelischen Deutschland“. In diesen Periodika wurden Artikel veröffentlicht, die die Arbeit der Bahnhofsmissionen direkt betrafen oder aber thematisch mit dieser verknüpft waren, wie „Mädchenhandel“, „Sittlichkeit“ oder „Gefährdetenfürsorge“. Die Aktivitäten der Organisationen, die eine überregional organisierte Deutsche Bahnhofsmission mit auf den Weg brachten, nämlich den Verein „Die Freundinnen junger Mädchen“ sowie den „Evangelischen Verband der weiblichen Jugend“ konnten durch die in der Bibliothek befindlichen Organe „Mitteilungen des Freundinnenvereins“, die „Fachzeitschrift zur Fürsorge für die weibliche Jugend“ sowie die unter verschiedenen Namen erscheinende Nachfolgezeitschriften und einzelne Schriften rekonstruiert werden. An der Ausbildung lokaler und überregionaler verbandlicher Strukturen der Berliner und der Deutschen Bahnhofsmission war der Verein zur Fürsorge für die weibliche Jugend, später: Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend, maßgeblich beteiligt. Hierfür war der Bestand des Oberkirchenrats im Evangelischen Zentralarchiv relevant, weil der Lokalverein regelmäßig seine Jahresberichte an den Oberkirchenrat schickte. Dadurch lassen sich die Vereinsaktivitäten über den gesamten behandelten Zeitraum rekonstruieren. Die Aktivitäten und verschiedenen Angebote des Vereins zeichnen darüber hinaus einen Teil der wohlfahrtspolitischen „Stadt“‑Geschichte Berlins vom Kaiserreich bis in die 1930er Jahre nach. Weitere stadtgeschichtliche Fragen in Bezug auf die Arbeit der Berliner Bahnhofsmission ließen sich mit den Akten des Landesarchivs Berlin, besonders mit den Beständen der Stadtverordnetenversammlung, des Magistrats der Stadt Berlin und der Reichsbahndirektion beantworten. Archiviert werden Bitten, Briefe und Anliegen städtischer Ämter, die sich hinsichtlich der Bahnhofsmission an den Magistrat wandten, ebenso teilweise der Schriftverkehr der Berliner Bahnhofsmission mit dem Magistrat oder vom Magistrat herausgegebene Schriften, beispielsweise zu den Aufgaben der Berliner Polizei, wodurch die Kooperationen der Berliner Bahnhofsmission mit der Berliner weiblichen Polizei rekonstruiert werden konnte. Mit den Beständen der Reichsbahndirektion konnte ein Bild Berliner Bahnhofslebens nachgezeichnet werden. Von Interesse war der Schriftverkehr einzelner Firmen, Privatpersonen oder Betriebsämter mit der Eisenbahndirektion respektive Reichsbahndirektion über die Sicherheit und Kontrolle der Bahnhöfe und des Bahnhofslebens durch die angebotenen Waren und Dienstleistungen. Darüber hinaus wurde das „Eisenbahn-Nachrichtenblatt“ gesichtet, das bezüglich des Eisenbahnverkehrs regelmäßig erlassene Gesetze und Regelungen veröffentlichte und dadurch ein vollständigeres Bild der Situation auf den Berliner Bahnhöfen und in den Zügen

5. Aufbau der Arbeit

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gibt. Das Blatt wird im Eisenbahnarchiv des Deutschen Technikmuseums in Berlin gehalten. Sicherheit und Kontrolle der Berliner Bahnhöfe und Straßen konnten auch durch den Bestand des Ministeriums des Inneren im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz recherchiert werden. Die Akten geben Auskunft über die öffentliche Kontrolle und Sicherheit bezüglich Straßenprostitution und Kriminalitätsdelikten sowie der Sicherheitsstandards auf den Berliner Bahnhöfen. Erwähnt werden auch an das Innenministerium geschickte Berichte des Deutschen Nationalkomitees zur Bekämpfung des Mädchenhandels. Darüber hinaus wurden die Bestände des Ministeriums für Volkswohlfahrt eingesehen. Durch die vorhandenen Korrespondenzen des Staatskommissars der öffentlichen Wohlfahrtspflege und des Polizeipräsidenten mit dem Verein zur Fürsorge für die weibliche Jugend, konnten Aussagen über die finanzielle Situation auf regionaler und überregionaler Ebene getroffen sowie die Anstrengungen der jeweiligen Organisation zur Verbesserung ihrer ökonomischen Lage rekonstruiert werden. Schließlich waren die Bestände des Reichsverkehrsministeriums, Reichsarbeitsministeriums, Reichssicherheitshauptamtes, des Deutschen Nationalkomitees und des Pressearchivs im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde West von Interesse. Geklärt werden konnten Fragen zu bahnhofsmissionarischen Kooperationen, zum Mädchenhandel, zur Arbeitssituation wandernder Menschen oder zu staatlichen Auslandsverträgen für Frauen und zu Problemen der Sicherheit auf den Bahnhöfen. Hinzugezogen wurden Akten des Landesarchivs Hannover sowie des Deutschen Evangelischen Frauenbundes Hannover, wodurch einige Ausgaben der in Berlin verschollenen beziehungsweise verbrannten Rundschreiben der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission und besonders Schriften zum Leben und Wirken von Gertrud Müller eruiert werden konnten. 5. Aufbau der Arbeit Die Arbeit ist neben der Einleitung (Kapitel I) und dem Resümee (Kapitel VI) in vier weitere Kapitel gegliedert, die sich mit der weltanschaulichen Grundlage der Bahnhofsmission, der Konstitution sozialer Räume an verschiedenen Orten sowie der Einschränkung dieser Räume durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten beschäftigen. Nach einer allgemeinen Einführung (Kapitel I) wird in Kapitel II das Konzept der „gefährdeten“ Frau analysiert, das die Grundlage des wohlfahrtspolitischen Handelns der Mitarbeiterinnen der Berliner Bahnhofsmission, des Lokalvereins und des Dachverbandes darstellt. Die geschlechter-differenzierte Sicht auf Migranten, zog die sittliche Kontrolle binnenwandernder Frauen nach sich und begrenzte deren Lebenschancen erheblich. Aufgrund dieser weltanschaulichen Basis wurden Handlungsräume für Frauen, die sich im bahnhofsmissionarischen Umfeld engagierten, jedoch erst möglich. Das III. Kapitel analysiert die sozialen (Handlungs-)Räume vor Ort, am Bahnhof, aber auch an bestimmten Orten der Stadt, indem es zunächst die Akteure am

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Bahnhof in den Blick nimmt. Hierzu wird nach den Ressourcen der Mitarbeiterinnen gefragt und darauf verwiesen, dass das „entsexualisierte“ Auftreten von Bahnhofsmissionarinnen, die in Tätigkeitsfeldern arbeiteten, die so genannte „mütterliche“ Kompetenzen erforderten, deren Präsenz in der Öffentlichkeit legitimierte. Neben der Thematisierung anderer von der Bahnhofsmission betreuter Personengruppen, werden vor allem die ländlichen Zuwanderinnen beleuchtet. Hierbei wird herausgearbeitet an welchen Stellen die tatsächlichen Gegebenheiten für die jungen Migrantinnen von den durch die Bahnhofsmissionarinnen produzierten Bilder über sie abwichen und welche Funktion diese Bilder im Prozess der Konstitution von Räumen hatten. Im Anschluss daran steht der Arbeitsplatz und die Tätigkeit der Bahnhofsmissionarinnen vor dem Hintergrund der Fragestellung im Mittelpunkt, welchen praktischen Wirkungskreis sich die Bahnhofsmissionarinnen schufen, wie sie bahnhofsmissionarische Räume – beispielsweise durch Kooperationen – in der täglichen Praxis konstituierten und welche Bedeutung der Ort „Bahnhof“ für die Konstituierung dieser Räume hatte, das heißt, wie die Örtlichkeit die tägliche Arbeit prägte. Das IV. Kapitel widmet sich den sozialen Räumen im Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend und dem Verband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission. Zentral bleibt, neben der Analyse der Vereins- und Verbandspolitik auf städtischer und staatlicher Ebene und der Öffentlichkeitsarbeit dieser Organisationen, die weitergehende Fragestellung nach den Rahmenbedingungen und Mitwirkungsmöglichkeiten von Frauen auf der wohlfahrtspolitischen Ebene. Der Trägerverein der Berliner Bahnhofsmission wurde – zwar nicht zahlenmäßig – jedoch in der politischen Gewichtung von Männern dominiert. Deshalb wird das Augenmerk auch auf die Situation in den Vorständen und Ausschüssen sowohl des Vereins zur Fürsorge als auch des Reichsverbandes gelenkt. In diesem Zusammenhang werden zwei Frauen vorgestellt, welche die Entwicklung des Dachverbandes Deutsche Bahnhofsmission maßgeblich vorangebracht haben: Gertrud Müller und Theodora Reineck. In den folgenden Unterkapiteln werden Einflussmöglichkeiten von Frauen an Fragestellungen der politischen Entscheidungsebene und deren Auswirkungen bei der Berliner Bahnhofsmission respektive ihrer Fürsorgerinnen konkretisiert: zum einen bei der Öffentlichkeitsarbeit von Verein und Verband sowie zum anderen bei der Finanzierung der Organisationen. Im V. Kapitel wird die Einschränkung von Räumen durch den Prozess der Beendigung bahnhofsmissionarischer Arbeit an den Berliner Bahnhöfen beleuchtet. Der Blick wird sowohl auf die einzelnen Bahnhofsmissionarinnen als auch auf die Mitarbeiterinnen der Verbandsebene gelenkt und gefragt, ob und wie sich deren öffentliche Räume unter nationalsozialistischer Herrschaft veränderten. Aufgezeigt wird das Ringen sowohl des Vereins, der Berliner Lokalorganisation und des Verbandes als auch der jeweiligen Mitarbeiterinnen um einen Platz im neuen Staat, wobei das Augenmerk auf die sich kontinuierlich verkleinernden Handlungsräume gelenkt wird. Insgesamt gibt diese Studie – unter Bezug auf ein soziologisches Raumkonzept – eine Antwort auf das „Wie“ der Konstitution öffentlicher Räume und lotet dabei vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Konzeptes, das Frauen auf die

5. Aufbau der Arbeit

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Privatheit verwies, aus, wo es Grenzverschiebungen und (Handlungs-)Räume für Frauen in der Öffentlichkeit gegeben hat. Hierbei wird besonders der häufig geforderten sozialräumlichen Dimension sowie den kommunikationswissenschaftlichen Aspekten stadtgeschichtlicher Forschung zu Öffentlichkeit Rechnung getragen.

II. „Gefährdete“ Frauen . und „wandernde“ Männer: Die weltanschauliche Konzeption . der Bahnhofsmission 1894 gründete der Verein zur Fürsorge für die weibliche Jugend, der sich 1908 in Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend umbenannte und im Folgenden ebenso genannt wird, in Berlin die erste Bahnhofsmission. Ausgangspunkt der Gründung war der Grundgedanke, dass Frauen im öffentlichen Raum der Großstadt einer sittlichen Gefährdung, besonders einem erhöhten Prostitutionsrisikos während des Migrationsprozesses vom Land in die Stadt ausgesetzt seien und Hilfestellungen benötigten. Migrierende Frauen generell, speziell aber die jungen Frauen unter ihnen, wurden von der Bahnhofsmission wegen der Möglichkeit in Notlagen zu geraten deshalb als „Gefährdete“ klassifiziert. Für diese Frauen, aber auch für alle anderen, für die ein Prostitutionsrisiko oder eine andere sittlich zweifelhafte Ausgangslage bestand, betrieben die Bahnhofsmissionen und andere evangelische Organisationen innerhalb der Inneren Mission der evangelischen Kirche bereits im 19. Jahrhundert Gefährdetenfürsorge und entwickelten ein Fürsorgesystem, das dem Gefährdungskonzept Rechnung trug.1 1921 wurden die verschiedenen Aktivitäten in der Evangelischen Konferenz für Gefährdetenfürsorge zusammengeführt. In diesem Zusammenschluss war der Dachverband der Evangelischen Deutschen Bahn-

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Unter Gefährdetenfürsorge wurde die „Hilfs- und Rettungsarbeit jeder Art an den Mädchen und Frauen, die dem Gewerbslaster bereits verfallen sind, sowie an denen, die sich sonst sittlich vergangen haben oder in dieser Beziehung ‚gefährdet’ sind“ verstanden. Zit. nach: Agnes Neuhaus, Gefährdetenfürsorge, in: Julia Dünner (Hrsg.), Handwörterbuch der Wohlfahrtspflege, Berlin 1929, S. 271–275, hier: S. 271. Die Gefährdetenfürsorge entwickelte sich in Deutschland Anfang des 19. Jahrhunderts durch die Einführung der Gefängnisfürsorge für entlassene weibliche Strafgefangene, für die in der Folgezeit eine Reihe so genannter Zufluchtshäuser gegründet wurden. Unterschieden wurden die geschlossene und die offene Gefährdetenfürsorge. Während sich die geschlossene Fürsorge auf die in den Anstalten geleistete Arbeit bezog, wobei die hilfsbedürftigen oder gefährdeten Personen rund um die Uhr betreut wurden, verstand man unter offener Fürsorge die „nachgehenden“ Hilfeleistungen. Die betreffenden Personen wurden in ihrer Wohnstätte aufgesucht und es wurde ihnen Rat und Hilfe in Notlagen angeboten. Die Bahnhofsmissionen wurden hauptsächlich in der offenen Fürsorge aktiv, indem sie sich beispielsweise um die Unterbringung und Freizeitgestaltung junger Zuwanderinnen und anderer Frauen kümmerten. Vgl. ebd; ebenso: Julia Dünner, Wohlfahrtspflege, in: Dies., S. 774–778, besonders: S. 778.

II. „Gefährdete“ Frauen und „wandernde“ Männer

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hofsmission2 Mitglied und Theodora Reineck, die Generalsekretärin der Organisation, viele Jahre im Vorstand aktiv.3 Binnenwandernde Männer wurden durch die Wandererfürsorge, ein gesondertes Fürsorgeinstrumentarium, betreut.4 Innerhalb ihres Netzwerkes arbeitete die Wandererfürsorge mit dem 1897 durch den Verein zur Fürsorge der männlichen Jugend5 gegründeten Berliner Bahnhofsdienst zusammen,6 der Männern und männlichen Jugendlichen „Starthilfe“ und Beistand nach der Ankunft in der Großstadt, am Bahnhof anbot. Besonders die Gefahr, dass wandernde, arbeitslose Männer zu dauerhaften Obdachlosen und Landstreichern würden, sollte durch das Netzwerk der Wandererfürsorge abgewendet werden. Frauen wurden bei der Definition eines Wanderers nicht mitgedacht, weil der Begriff des Wanderns auf die Gesellenwanderung zurückging, die ein rein männliches Phänomen war, und bei der Männer auf der Suche nach Arbeit von Stadt zu Stadt wanderten. Seit im 19. Jahrhundert die Binnenwanderung von Frauen massiv angestiegen war, bewegten auch sie sich auf der Suche nach Arbeit zwischen Städ2

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Die Entwicklung der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission erfolgte über die 1897 gegründete Kommission der Deutschen Bahnhofsmission, die sich ab 1916 Verband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission nannte und 1931 ihren Namen in Reichsverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission änderte. Vgl. das Kapitel IV, 3. (Die Entwicklung von der Kommission zum Dachverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission) dieser Arbeit. Im Folgenden spreche ich für die Zeit bis 1916 von der Kommission der Deutschen Bahnhofsmission und für die darauf folgende Zeit vom Dachverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission. Einrichtungen der Gefährdetenfürsorge der Inneren Mission hrsg. v. der Evangelischen Konferenz für Gefährdetenfürsorge, Berlin 1937, ADW, CA, Gf/St 7, S. 4; vgl. auch Erste Satzung der Konferenz für Gefährdetenfürsorge, ADW, CA, Gf/ST 2, S. 1. Das Handwörterbuch der Wohlfahrtspflege definierte den Begriff „Wandererfürsorge“ folgendermaßen: „ Die Wandererfürsorge ist die Fürsorge für ‚wandernde Arbeitslose‘ und für arbeitsfähige ‚mittellose Wanderer‘, die im Lande arbeitsuchend umherziehen, ebenso für hilfsbedürftige Wanderer, für arbeitsschwache oder -unfähige Bettler und für arbeitsscheue Landstreicher. Sie umfasst daher alle Maßnahmen und Einrichtungen, alle gesetzlichen und polizeilichen Bestimmungen, die dazu dienen, die Hilfsbedürftigkeit der Wanderer zu verhüten oder zu beseitigen. Das Hauptziel der W., die Zurückführung zu geordneter Lebenshaltung, wird in erster Linie erstrebt durch sittlich einwandfreie Unterbringung, durch Arbeitsvermittlung, wenn das nicht möglich ist durch Arbeitsgewährung in den dazu geeigneten Einrichtungen oder bei arbeitsscheuen, von der Arbeit entwöhnten Männern durch geeignete Arbeitserziehung und Bewahrung“. Vgl. P. Braune, Wandererfürsorge, in: Dünner, S. 746–750, hier: S. 746. Vgl. P. Seyferth, Evangelischer Bahnhofsdienst für die männliche Jugend, in: Die Innere Mission im evangelischen Deutschland 21, 1926, S. 110–112. Bis 1924 war die offizielle Bezeichnung des Bahnhofsdienstes ebenso „Bahnhofsmission“. Erst in der Weimarer Republik gab er sich, auf Wunsch der Bahnhofsmissionen für Frauen, den Namen „Bahnhofsdienst“. Vgl. 40 Jahre Evangelischer Bahnhofsdienst in Deutschland, in: Heimatfremd. Mitteilungen des Evangelischen Bahnhofsdienstes in Deutschland, 68, 1937, S. 1–5, hier: S. 3. Im Gegensatz zur Bahnhofsmission, die sehr bald eine überregionale Struktur ausbildete, blieb der Bahnhofsdienst drei Jahrzehnte auf Berlin beschränkt und verbreitete sich erst in der Weimarer Republik, ab 1924, auch in anderen Städten, bildete aber nie einen Dachverband aus. Zur besseren Unterscheidung beider Organisationen bezeichne ich die Organisation für Männer durchgängig als „Bahnhofsdienst“.

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II. „Gefährdete“ Frauen und „wandernde“ Männer

ten oder zogen in ihre Heimatorte zurück, wenn sie ihre Arbeit verloren hatten. Binnenwandernde Frauen wurden dennoch von der Wandererfürsorge ausgeschlossen und der Gefährdetenfürsorge zugeordnet, weil sie, anders als ihre männlichen Kollegen, nicht „ohne festes Ziel und ohne die Absicht, an einem Ort zu bleiben, aus der Heimat abgewandert sind. (…) Sie haben durchweg ein festes Reiseziel, meist eine größere Stadt, und werden dort hilflos; ihr Schutz stellt ein Sonderproblem der Gefährdetenfürsorge dar“.7 Es offenbart sich, dass es nicht nur um verschiedene Wanderrouten ging, sondern auch um die gesellschaftlichen Annahmen und Befürchtungen in Bezug auf wandernde Männer und Frauen. Durch die dichotome Konstruktion des „Wanderers“ auf der einen und der „Gefährdeten“ auf der anderen Seite, wurden gesellschaftliche Bilder stets neu produziert. Dieses Kapitel fragt danach, warum mobile, auf Arbeitssuche befindliche Personen in „gefährdete“ Frauen und „wandernde“ Männer eingeteilt und von unterschiedlichen Organisationen an den Berliner Bahnhöfen betreut wurden. Es wird daraus die These aufgestellt, dass der bürgerliche Ehrenkodex – für Frauen und Männer unterschiedlich – eine zentrale Rolle bei der Praxis der geschlechtsspezifischen Bahnhofsfürsorge spielte. Hierzu werden der weltanschauliche Hintergrund und die notwendigen Kooperationen, die hinter dem Ausbau einer Bahnhofsmission für Frauen und eines Bahnhofsdienstes für Männer standen, vergleichend analysiert. Das weltanschauliche Konzept war hierbei eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Berliner Bahnhofsmissionarinnen, die Mitgliedsfrauen im Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend und die Frauen des Dachverbandes öffentliche Räume konstituieren konnten. Innerhalb dieser Räume entwickelte der Trägerverein der Berliner Bahnhofsmission, der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend, ein umfangreiches Hilfsangebot, das die Frauen vor, während und nach dem Prozess der Einwanderung nach Berlin erreichen sollte und das am Ende des Kapitels vorgestellt wird. 1. Die Gefährdete Die Gefährdetenfürsorge bestimmte die von ihr betreute Personengruppe folgendermaßen: „Man nennt Gefährdete teils die Mädchen und Frauen, die der Gewerbsunzucht verfallen sind und sich der Prostitution ergeben haben, teils solche, die durch ihren labilen Charakter oder durch ihre Umgebung in besonderem Maße sittlichen Gefahren ausgesetzt sind“.8

Gemäß dieser Definition teilte die Gefährdetenfürsorge ihre Klientel in zwei Kategorien: „Gefährdete“ waren Frauen dann, wenn sie erstens als Prostituierte arbeiteten oder zweitens, wenn sie aufgrund ihrer Veranlagung und/oder gesellschaftlicher 7 8

A. Schell, Wanderer, jugendliche, in: Dünner, S. 750. P. D. Ulrich, Bilder aus der Gefährdetenfürsorge. Die Gefährdetenfürsorge in Berlin, in: Ellen Scheuner (Hrsg.), Evangelische Gefährdetenfürsorge. Organisation und Gegenwartsaufgaben, Berlin 1928, S. 93–101, hier: S. 93. Der Artikel gibt einen Überblick über die Berliner Gefährdetenfürsorge seit 1826.

1. Die Gefährdete

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Bedingungen, wie prekäre familiäre oder ökonomische Gegebenheiten, Gefahr liefen, den Weg eines „anständigen“ Lebens zu verlassen. Fragt man konkret nach den binnenwandernden Frauen, so gehörten sie zu der Kategorie der „Gefährdeten“, weil sie – wie der Dachverband der Deutschen Bahnhofsmission ausführte – aufgrund folgender Gegebenheiten sittlichen Gefährdungen ausgesetzt waren: „Die Labilität des jugendlichen Alters und das feine Einfühlungsvermögen, das der Frau ihrer Natur nach eigen ist, erleichtern zwar auf der einen Seite diese notwendige Angleichung [gemeint ist die Anpassungsfähigkeit an eine neue Umgebung, A. M. K.]. Sie führen aber nicht selten auch dazu, dass die Anpassung über das gesunde Maß hinausgeht, daß sie zur Aufgabe bodenständiger Eigenart führt und nach und nach auch seelisch-sittliche Hemmungen schwinden lässt. Wenn nun auch noch die wirtschaftliche Grundlage für eine geordnete Lebensführung in der Fremde fehlt oder plötzlich einstürzt, gleitet nicht selten der letzte Rest innerer Haltung und Hemmung hinweg, und der Weg nach unten ist frei“.9

Sowohl in der Beurteilung der Gefährdetenfürsorge als auch der Bahnhofsmission werden als Gefährdungsvoraussetzungen die biologische Disposition von Frauen und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen genannt. Während in der Definition der Gefährdetenfürsorge nicht alle Frauen einer sittlichen Gefährdung ausgesetzt waren, sondern nur diejenigen mit „labilem“ Charakter, sind nach Meinung der Bahnhofsmission alle Frauen gefährdet, weil ihnen ein bestimmtes, weibliches „Einfühlungsvermögen der Natur nach eigen“ sei. Die Fähigkeit sich mitfühlend und anteilnehmend in andere Personen und Situationen hineinzuversetzen, war somit einerseits biologisch vorbestimmt und andererseits die Ursache dafür, dass Frauen schneller als Männer an Festigkeit und Halt verlören, was implizit Charakterschwachheit und fehlendes Rückgrat erkennen ließe. Waren dann noch widrige wirtschaftliche Rahmenbedingungen gegeben, war der von der Bahnhofsmission euphemistisch umschriebene „Weg nach unten“ vorgegeben, womit alle Erscheinungsformen sittlich-moralischen, gesellschaftlichen „Abrutschens“ gemeint waren, wie die Geburt eines unehelichen Kindes, die Arbeit als Prostituierte oder eine damit einhergehende Geschlechtskrankheit. Indem, neben anderen Bedingungen, die weibliche Biologie für das Vorhandensein von Prostitution verantwortlich gemacht wurde, ignorierte das Gefährdungskonzept beider Organisationen, dass Frauen gesellschaftlich nicht dieselben Arbeitsbedingungen wie Männer hatten und darüber hinaus über ihre Familienbeziehungen – beispielsweise als Ehefrau oder Schwester – definiert wurden. Somit waren viele Frauen, vor allem jene die allein für sich verantwortlich waren und keine Bindung an einen Ehemann hatten, gezwungen über kommerzialisierte Sexualität von Prostitution bis wilder Ehe ihren Lebensunterhalt zu sichern.10 Das (V)Erkennen des Entstehungszusammenhangs 9

Wandernot der weiblichen Jugend und Wanderhilfe in Heimat und Fremde hrsg. v. Verband Evangelische Deutsche Bahnhofsmission / Deutscher Nationalverband der katholischen Mädchenvereine, Freiburg/Breisgau 1931, S. 11. Selten wurden die einzelnen Faktoren, die zur Gefährdung von Frauen beitrugen, so deutlich ausgesprochen. Je nach Zusammenhang wurden auch nur einzelne Bestandteile hervorgehoben. 10 Davidoff, S. 24ff. Zum Verkennen realer Lebensgrundlagen von Frauen dieser Zeit auch innerhalb der Sittlichkeitsbewegung, vgl. Lisberg-Haag, Die Unzucht, in: Röper/Jüllig, S. 136.

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II. „Gefährdete“ Frauen und „wandernde“ Männer

des Phänomens „Prostitution“ war für Frauen folgenschwer, weil sie als „gefährdete“ Bevölkerungsgruppe stigmatisiert wurden und gesellschaftliche Prozesse unverändert blieben. Weder wurde die Rolle von Männern, die diese im Leben so genannter gefallener Mädchen spielten, noch die ökonomisch ungleichen Bedingungen für Frauen und Männer gesellschaftlich angemessen diskutiert. In die zeitgenössische Beurteilung wandernder Frauen mischten sich somit Urteile über die städtische Arbeitsmarktsituation, als auch unterstellte Annahmen über die biologische Disposition von Frauen sowie Moralvorstellungen über sittlich unangemessenes Verhalten. Es war diese Gemengelage, die Frauen zu „Gefährdeten“ machte. Migrierende Frauen schieden an diesem Punkt aus der Gesamtheit der wandernden Bevölkerung aus, der Blick auf sie veränderte sich, andere Fürsorgeorganisationen und -praktiken wurden nötig und damit eine Festschreibung des Bildes über Frauen als eine in der Öffentlichkeit besonders schützenswürdige Personengruppe. Dabei ging es in dem Gefährdetenkonzept durchaus nicht nur um Hilfsmaßnahmen für „gefährdete“ Frauen. Der kritische Punkt war vielmehr das angenommene Risiko für die gesamte Gesellschaft, das von diesen Frauen ausging. Diese Gefahr bestand zum einen darin, dass an dem sittlich einwandfreien Verhalten von Frauen der moralische Zustand kommender Generationen gemessen wurde, denn, wie die Verbände der konfessionellen Bahnhofsmissionen bemerkten, „unsere Jungmädchen von heute sind ja die Mütter von morgen“.11 Zum anderen gingen die Zeitgenossen davon aus, dass durch geschlechtskranke Prostituierte weite Teile der Gesellschaft infiziert würden, wodurch ein umfassend medizinisches Problem prognostiziert wurde. Unter Ärzten, Kriminalisten, Fürsorgerinnen, Politikern, städtischen Ämtern, in der Presse und unter anderen Meinungsführern kursierte der Glaube an eine diffuse Ansteckungsgefahr, für die einzig Prostituierte – nicht aber die Freier – verantwortlich gemacht wurden, und die deshalb kontinuierlichen ärztlichen Untersuchungen ausgesetzt waren.12 Um die für die Gesellschaft angenommene Gefährdung aufzuhalten, bevor sie sich in der Stadt ausbreiten konnte, kam das städtische Gesundheitsamt deshalb mit der Aufforderung auf die Berliner Bahnhofsmission zu, „an den Einfallstoren Berlins stehend, den Kampf gegen die volksverheerenden Geschlechtskrankheiten auf[zu]nehme[n] durch Verteilung entsprechender Flugblätter, und durch erste Beratung von Menschenkindern, die Rat und Hilfe in dieser Beziehung gebrauchen“.13

Die bahnhofsmissionarischen Fürsorgemaßnahmen zielten also auf die „sittliche“ Ehre von Frauen, damit eine „qualitative Bevölkerungspolitik“14 vorangebracht werden konnte. Den Bahnhofsmissionarinnen und ihrem Arbeitsplatz, dem Bahnhof, wurde dabei als Einlasspforte zur Stadt eine zentrale Funktion zugewiesen, indem davon ausgegangen wurde, dass den Zugewanderten erst nach Beratung 11 Verband Evangelische Deutsche Bahnhofsmission / Deutscher Nationalverband der katholischen Mädchenschutzvereine, S. 24. 12 Baumann, S. 101. 13 Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1928–1929, EZA, 7/13477, S. 17. 14 Erfurth, Die freie (konfessionelle) Gefährdetenfürsorge (der evangelischen Inneren Mission). Leitsätze. o. O o. J [1920er Jahre], DEF, V. 3 b, Gefährdetenfürsorge 1899–1926.

2. Der Wanderer

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Einlass in die Stadt zu gewähren sei, um eine angeblich gefährliche, um sich greifende Krankheit aussperren zu können. 2. Der Wanderer Die Arbeitsvermittlungsstellen definierten einen Wanderer folgendermaßen: „Ein Wanderer ist ein mittelloser, arbeitsfähiger Mann, der außerhalb seines Wohnorts Arbeit sucht, also in erster Linie ein Arbeitsloser, der durch die Ungunst der wirtschaftlichen Verhältnisse gezwungen wird, auf dem Wege des Wanderns von Ort zu Ort eine neue Arbeitsstelle zu suchen“.15

In dieser Definition wurden zwei Aussagen getroffen. Erstens bezog sich der Begriff des „Wanderers“ auf Männer, Frauen wurden nicht mit einbezogen. Zweitens stand bei den entscheidenden Kriterien migrierender Männer die ökonomische Dimension im Vordergrund. Pastor Bodelschwingh16 skizzierte das prototypische Ideal eines Wanderers, der durch die Wandererfürsorge aufgefangen werden konnte, indem er seine Begegnung mit einem gehbehinderten Obdachlosen beschrieb: „In der Schule hatte er trotz geistiger Regsamkeit nicht recht mitkommen können, weil die körperliche Hemmung immer wieder den Unterschied gegenüber den Kameraden deutlich werden ließ. Trotz aller Stöße, die er empfangen, trotz aller Enttäuschungen, die er erlebt hatte, war seine Seele zart und fein geblieben. (…) Er war ein Freund von Kräutern und heilsamen Wässern. Auf diesem Gebiet lag sein Zukunftstraum. [Er] könnte ein Stückchen Land erwerben. Auf dem wollte er eine kleine Hütte errichten nicht für sich allein, sondern so groß, daß er noch zwei oder drei andere, die noch ärmer waren als er, zu sich nehmen könnte“.17

Wie aus dem Beispiel deutlich wird, richtete sich die Wandererfürsorge an den gesellschaftlich integrationswilligen Wanderer auf der Suche nach Arbeit. Der beschriebene Obdachlose stand im Fokus der Wandererfürsorge, weil er sein Leben aktiv in die Hände nahm und es neu gestalten wollte. Er konnte zwar bisher nicht reüssieren, trotzte aber seinem Schicksal, blieb unverdorben und wollte in die Gesellschaft durch Ansiedelung integriert werden. Dass er seinen Bezug zur Gesellschaft nicht verloren hat, zeigte sich auch daran, dass er anderen Obdachlosen ebenfalls helfen wollte, gesellschaftlich wieder Fuß zu fassen. Die betreuten Personen wurden von der Wandererfürsorge gemäß dem Grundsatz unterschieden, dass nur jenen Wanderern Versorgung gewährt wurde, die ernsthaft eine dauerhafte Arbeit suchten, sich damit aus der Arbeits- und eventuellen Obdachlosigkeit befreien wollten und bestrebt waren, sich gesellschaftlich wieder 15 Verhandlungsbericht des Verbandes badischer Arbeitsnachweise bei der 19. Mitgliederversammlung am 21./22. April 1922, BArch, R 39.01, Film 33164, Akte 81, S. 4–11, hier: S. 4. 16 Es handelt sich hier um Friedrich von Bodelschwingh (1877–1946), den Sohn des gleichnamigen Vaters. 17 Friedrich von Bodelschwingh, Kraft und Ziel christlicher Wandererfürsorge, in: Heimatfremd, 1937, S. 7–15, hier: S. 7f. Die beschriebene Begegnung fand Jahre vor Verfassen des Berichtes statt.

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II. „Gefährdete“ Frauen und „wandernde“ Männer

zu integrieren.18 Das waren jene Wanderer, die während ihrer Arbeitssuche in den eingerichteten Herbergen zur Heimat19 und den Arbeiterkolonien, in denen sie vorübergehend übernachteten und Essen bekamen, auch körperliche Arbeit als Gegenleistung verrichteten – getreu der Devise „Arbeit statt Almosen“.20 Da weder dem Müßiggang wandernder Personen noch einem möglichen Vagantentum Vorschub geleistet werden sollte, wurden wandernde Arbeits- und Obdachlose, die diese Auflagen nicht erfüllten, von mildtätiger Unterstützung ausgeschlossen und den Vagabunden zugeordnet. Dieser Haltung lag die Ansicht zugrunde, dass vor allem über Arbeitswilligkeit der Weg aus der Arbeits- und Obdachlosigkeit führe.21 Auch der Berliner Bahnhofsdienst befürchtete, dass eine große Zahl nach Berlin ziehender Männer als Landstreicher enden könnte: „Ohne Stellung, mit wenig Geld kommen Tausende in die Großstadt, hoffen auf Arbeit aber finden keine. (…) Schließlich ist das Ende im besten Falle das Betteln am Tage, das Asyl für Obdachlose des Nachts“.22 Um diese Entwicklung verhindern zu helfen, standen die Fürsorger der Berliner Bahnhofsdienste, die aus den Berliner Jünglingsvereinen und dem Christlichen Verein junger Männer rekrutiert wurden, auf den Berliner Bahnhöfen bereit. Zunächst nahmen sie ihre Dienstleistungen eher sporadisch vor, nämlich an sehr fre18 Als in der Weimarer Republik die sozialpolitischen Interventionen zur Abnahme der mobilen Arbeitslosen führte, wandte sich die Wandererfürsorge zunehmend Personen zu, die für das Arbeitsleben nur noch eingeschränkt integrationsfähig waren, also vor allem den Landstreichern und Bettlern. Die Wandererfürsorge forderte eine Zwangsbewahrung, wonach gesellschaftlich nicht integrierfähige Wanderer in Arbeiterkolonien „bewahrt“ werden sollten. Vgl. Liane Alexandra Schenk, Auf dem Weg zum ewigen Wanderer? Wohnungslose und ihre Institutionen. Down and out without an end?, Berlin 2004, S. 58ff, http://www.diss.fu-berlin. de/2004/146/ Stand August 2005. Diese Idee wurde vom nationalsozialistischen Staat aufgegriffen und durch Zwangsmaßnahmen an männlichen und weiblichen Wanderern und Prostituierten konsequent, bis zu deren physischen Vernichtung, weitergeführt. 19 In den 1920er Jahren gab es in Berlin drei Herbergen zur Heimat und zwar in Neukölln, in Mitte und in Friedrichshain. Eine weitere Herberge in Kreuzberg hatte bereits 1920 schließen müssen. Vgl. ebd. 20 Diese Form der Armenhilfe geht zurück auf das von Pastor Friedrich von Bodelschwingh (1831–1910) entwickelte Programm, bei dem sich Wanderer ihr Essen und die Unterkunft in den Heimen, in denen sie aufgenommen werden wollten, erst „verdienen“ sollten. 21 Kirchliche Fürsorgeorganisationen standen mit dieser Haltung indes nicht allein. Bereits seit langem hatte der Staat der Landstreicherei den Krieg angesagt und seit dem 19. Jahrhundert die wandernden Arbeits- und Obdachlosen in unterstützungswürdige und -unwürdige Personen eingeteilt. Anspruch auf Unterstützung konnte laut dieser Definition geltend machen, wer arbeitswillig war und darüber hinaus mindestens zwei Jahre in Preußen wohnte. Das Wohnortprinzip als Grundlage für den Unterstützungsanspruch konnten viele Migranten jedoch für sich nicht in Anspruch nehmen, da sie bereits innerhalb des ersten Jahres nach Ankunft in Berlin rück- oder weiterwanderten. Die arbeits- und obdachlose Person kam deshalb in ernsthafte ökonomische Bedrängnis, wenn fehlende Solidaritäts- und Organisationsstrukturen innerhalb der Berufsgruppe sie nicht in einem sozialen Netz auffangen konnten oder wenn diese gänzlich fehlten. Vgl. Frank Caestecker, Der Migrant, in: Ute Frevert / Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Der Mensch des 19. Jahrhunderts, Essen 2004, S. 228–260. 22 Sechster Jahresbericht der Gesellschaft zur Fürsorge für die Zuziehende Männliche Jugend 1902–1903, S. 5f.

3. Gefährdete versus Wandernde – Gegenüberstellung der Stigmatisierungen

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quentierten Tagen. Erst ab etwa 1910 richteten sie zeitgleich mit der Berliner Bahnhofsmission einen ständigen Dienst am Bahnhof ein. 3. Gefährdete versus Wandernde – . Gegenüberstellung der Stigmatisierungen Werden nun die Gefährdeten- und Wandererfürsorge einander gegenübergestellt, so wird deutlich, dass das Konzept der Ehre bei beiden Fürsorgezweigen im Mittelpunkt stand, jedoch mit unterschiedlicher Konnotation behaftet war. Beide Ehrbegriffe orientierten sich an dem bürgerlichen Kodex: Die Gefährdetenfürsorge folgte dem bürgerlichen Ehrbegriff für bürgerliche Frauen. Dieser hatte im wilhelminischen Kaiserreich eine kompromisslose Verschärfung auf das „Moment absoluter sexueller Integrität“23 erfahren und galt auch noch in den Jahrzehnten danach. Das moderne bürgerliche Sittengesetz achtete diejenige Frau, die sich dem Mann und seiner angeblichen Triebhaftigkeit in der Ehe rein aus Liebe zur Verfügung stellte. Frauen, die aus ökonomischen oder lustbetonten Gründen sexuelle Kontakte eingingen, gaben demgegenüber ihre Ehre preis. Diese stand offenbar im großstädtischen Leben unter besonderer Gefahr, verletzt zu werden. Frauen, die sich im öffentlichen Raum frei bewegten, setzten sich nicht nur Risiken aus, von ihnen selbst ging auch eine potenzielle Bedrohung aus, besonders wenn sie bereits sittlich „abgerutscht“ waren.24 Obwohl explizit obdach- und arbeitslose Frauen zur Zielgruppe der Gefährdetenfürsorge gehörten,25 verfolgte diese deshalb nicht vorrangig das Ziel, die Frauen zurück in Arbeit zu vermitteln, wie das die Absicht der Wandererfürsorge für Männer war, sondern ihre sittliche Ehre, zur moralischen Hebung der Gesamtgesellschaft, wiederherzustellen. Im Unterschied zur Gefährdetenfürsorge nahm sich die Wandererfürsorge den bürgerlichen Ehrbegriff für bürgerliche Männer zum Vorbild, der eng mit der Reputation des Mannes verbunden und von verschiedenen Determinanten abhängig war – vor allem vom Beruf und der gesellschaftlichen Stellung. Pastor Bodelschwingh übertrug diese bürgerlichen Werte auf die Wandererfürsorge, als er die Aufgabe formulierte: „Kraft und Ziel [ist], daß wir die Leute nicht nur betreuen und versorgen (…). Das Wichtigste ist, daß wir ihre Ehre wiederherstellen“,26 mit anderen Worten, dass die integrationswilligen Wanderer wieder eine „anständige Arbeit“ fänden und damit soziale Ehre wiedergewännen. Das gesellschaftliche Gebot der „Ehren-Differenz“27 bildete demnach ein wichtiges Fundament der Kategorisie23 Frevert, Ehre, S. 54. 24 Vgl. Astrid Kirchhof, „Gefährdete“ Frauen und „wandernde“ Männer. Fürsorge am Bahnhof im Berlin der Kaiserzeit, in: IMS 1, 2004, S. 38–52. 25 Richtlinien für die Gefährdetenfürsorge hrsg. v. Der Evangelische Wohlfahrtsdienst für die Mark Brandenburg, Berlin 1926, ADW, CA, Gf/St 7. 26 Bodelschwingh, S. 13f. 27 Frevert, Ehre, S. 66. Zur geschlechtsspezifischen Sicht von sittlicher und unsittlicher Lebensführung durch die Sittlichkeitsbewegung vgl. Lisberg-Haag, Die Unzucht, in: Röper/Jüllig, S. 136f.

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II. „Gefährdete“ Frauen und „wandernde“ Männer

rung von Männern und Frauen in der Bahnhofsfürsorge. Die Historikerin Ute Frevert fasst das damalige Denkmuster zusammen, wonach „die Natur die Geschlechter unterschiedlich geformt [habe], so daß es seitens des Rechts und der öffentlichen Moral nur gelte, ‚den Unterschied, welche die Geschlechter trennt, auch fernerhin anzuerkennen‘“.28 Der unterschiedliche Blick auf die Geschlechter implizierte somit eine differierende Erwartungshaltung der Akteure im Hinblick auf die gesellschaftlichen Lebenschancen ihrer männlichen und weiblichen „Schützlinge“. 4. Das Hilfekonzept der Bahnhofsmissionarinnen Durch ihre Fürsorgetätigkeit für „Gefährdete“ gliederte sich die Berliner Bahnhofsmission und ihr Trägerverein, der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend, in die Aktivitäten von wohltätigen Vereinen, Einzelpersonen und teilweise auch von Staat und Kommunen ein, die erzieherisch für tatsächlich oder potenziell bedürftige, „verwahrloste“ oder „gefährdete“ Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechts tätig wurden. Durch entsprechende Konzepte, die sowohl erzieherische Mittel als auch Kontrolle beinhalteten, sollte die Anpassung dieser Personen an die geltenden Normen erreicht und einer „Verwahrlosung“ oder „sittlichem Abrutschen“ vorgebeugt werden.29 Die Berliner Bahnhofsmission und ihr Trägerverein konzentrierten sich innerhalb der Jugendfürsorge auf die wandernde weibliche Jugend, wobei es ihnen darum ging, das sittlich-moralische Risiko für junge Frauen in Berlin abzuwenden. Das bedeutete, dass ihre Arbeit darauf gerichtet war, sittliche Risikosituationen zu verhindern, oder, wenn eine junge Frau bereits „gefallen“ war, dieser zu helfen einen Weg aus ihrer derzeitigen Lebenssituation zu finden. Zur Umsetzung dieser Aufgabe entwickelte der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend ein umfassendes Hilfskonzept, der „vorausgehenden“, der „mitgehenden“ und der „nachgehenden“ Fürsorge. Auf der ersten Ebene versuchte der Verein die jungen Frauen bereits in ihren ländlichen Wohngegenden anzusprechen und vor der Einwanderung nach Berlin zu warnen. Es wurden Vorträge gehalten und Zeitungsanzeigen in Lokalblättern geschaltet. Auch die ländlichen Pfarrer unterstützten den Verein, indem sie ihre Gemeinde darauf hinwiesen, dass eine Entscheidung zur Abwanderung der jungen Töchter nicht leichtfertig getroffen werden sollte. Wer trotz Warnung nach Berlin reiste, fiel unter die mitgehende Fürsorge. Darunter verstand man die konkrete Arbeit am und im Bahnhof. Anfänglich wurden Hilfestellungen nur zu bestimmten Zeiten geleistet, nämlich jeweils fünf bis sechs Tage im Januar, April, Juli und Oktober eines jeden Jahres – immer dann, wenn vor 28 Frevert, Ehre, S. 36. 29 Der Begriff der „Jugendfürsorge“, der auf bedürftige und „verwahrloste“ proletarische Kinder und Jugendliche Bezug nahm, wurde 1911 durch den preußischen Jugendpflegeerlass mit dem Begriff „Jugendpflege“ ersetzt. Der neue Name sollte deutlich machen, dass bereits potenziell „gefährdete“ Kinder und Jugendliche durch die Jugendarbeit erfasst werden mussten. Johannes Schilling, Soziale Arbeit. Geschichte – Theorie – Profession, 2. durchg. Aufl., München 2005, S. 76ff.

4. Das Hilfekonzept der Bahnhofsmissionarinnen

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allem Dienstmädchen ihre Arbeitsstellen wechselten. Parallel dazu erfüllten Helferinnen mehrmals pro Woche die Aufgabe, angemeldete junge Frauen vom Bahnhof abzuholen. Hierzu trat die entsprechende Person vor ihrer Ankunft mit dem Büro der Berliner Bahnhofsmission, das im selben Haus wie die Zentrale des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend in der Tieckstraße 17, in der Oranienburger Vorstadt, lag,30 in Kontakt und kündigte das genaue Datum und die Zeit ihrer Ankunft an. Ab 1910 wurde schließlich ein regelmäßiger Dienst am Bahnhof eingerichtet.31 Unter der nachgehenden Fürsorge verstand man Hilfe bei der Arbeitssuche durch Stellenvermittlungen, die den Wohnheimen des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend angeschlossen waren, die Betreuung in den Heimen und die Freizeitgestaltung der zugewanderten Frauen. Die Angebote waren sowohl für die so genannten Heimchen gedacht, die in den Vereinswohnheimen lebten, als auch für jene Frauen, die nicht in den Heimen wohnten, und die dann von den Bahnhofsmissionarinnen aufgesucht und zu christlichen Freizeitveranstaltungen eingeladen wurden.32 Falls die infrage kommenden Heime überfüllt waren, gewährten die Bahnhofsmissionarinnen auch Unterkunft in den Bahnhofsmissionszimmern am Bahnhof. Arbeits- und obdachlose Erwachsene brachten sie in den Berliner Obdachlosenasylen unter. Gefährdetenfürsorge für Frauen, die die Berliner Bahnhofsmissionarinnen als sittlich gefährdet einstuften, betrieben diese besonders bei der „mitgehenden“ und der „nachgehenden“ Fürsorge. So stellte die Bahnhofsmission die durch den Verein Wohlfahrt existierenden Wohnheime, vor allem das Elisabeth- und das Charlottenheim, die im Norden und Westen der Stadt lagen, zur Verfügung und nahm betroffene Frauen hierin auf.33 Die Tatsache, dass sich eine junge Frau außerhalb des vermeintlich Schutz gebenden Familienverbandes in der Öffentlichkeit der Stadt befand, war ein hinreichender Grund, um sie als „gefährdet“ einzustufen. So wurde Gefährdetenfürsorge vor Ort, am Bahnhof, betrieben, indem die Berliner Bahnhofsmissionarinnen „bei Mädchen, die ohne ein festes Arbeitsverhältnis in eine Großstadt zuziehen, (…) ihre Rückkehr in die Heimat, vielleicht das Elternhaus in die Wege leiten“.34 Häufig wurde eine Kombination aus beiden Möglichkeiten angewandt, indem die junge Frau sowohl in ein Heim aufgenommen als auch deren Rückreise organisiert wurde, wie bei einer minderjährigen Schülerin, die angeblich heimlich ihre Familie verlassen hatte, um in einer anderen Stadt das Kochen zu lernen: „Die Mutter war gestorben, und sie musste nun an ihrer Stelle (…) den Haushalt führen. (…) Das geübte Auge der Bahnhofsmissionarin erkannte sofort in dem zaghaften Ankömmling eine

30 Heute ist der Bezirk geteilt in die Bezirke ‚Mitte‘ und ‚Wedding‘. 31 Nikles, Soziale Hilfe, S. 61. 32 Ebd., S. 38. 33 Einrichtungen der Gefährdetenfürsorge der Inneren Mission hrsg. v. der Evangelischen Konferenz für Gefährdetenfürsorge, Berlin 1937, ADW, CA, Gf/St 7. 34 Ellen Scheuner, Die Gegenwartsaufgaben der Bahnhofsmission in der Zusammenarbeit mit der allgemeinen Wohlfahrtspflege, o. O. 1928, ADW, CA, Gf/St 93, S. 1–11, hier: S. 3.

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II. „Gefährdete“ Frauen und „wandernde“ Männer Ortsfremde und nahm sich ihrer an. Die Helferin brachte die Jugendliche im Heim unter, verständigte den Vater und beförderte sie anderen Tages in ihr Heimatstädtchen zurück“.35

Wurde die betreffende Frau nicht zurück in ihre Herkunftsstadt geschickt, dann stellte die Bahnhofsmission wenigstens sicher, dass in Berlin lebende Verwandte „zur Vermeidung der Notlage und zur Aufnahme des Mädchens in eine geschützte Umgebung“36 kontaktiert wurden. Je nach Situation und Fall wurden verschiedene Ämter eingeschaltet und darüber informiert, dass – nach Einschätzung der Berliner Bahnhofsmission – bei einer zugewanderten Frau „eine erzieherische Betreuung der Gefährdetenfürsorge in Frage kommt“.37 Hier wird die Bedeutung der Berliner Bahnhofsmission für die Aufrechterhaltung des städtischen Wohlfahrtssystems und seiner Kontrollfunktion deutlich. So arbeitete die Berliner Bahnhofsmission neben der Gefährdetenfürsorge auch mit Polizeifürsorgebehörden, Pflegeämtern oder Betreuungsstellen, die in der Weimarer Republik Wohlfahrts-, Jugend- oder Gesundheitsämtern angeschlossen waren, zusammen. „In der Zusammenarbeit mit dem Jugendamt, (…), ist die vorbeugende Arbeit der Bahnhofsmission besonders wichtig. Durch rechtzeitige Hilfsmassnahmen kann in vielen Fällen eine Berührung der Jugendlichen mit Polizei und Strafrichter vermieden werden. (…) Es ist viel schwerer, die begonnenen erzieherischen Massnahmen fortzusetzen, wenn ein Mädchen sich schon einige Tage und Nächte in der Großstadt herumgetrieben hat, als wenn es sofort auf dem Bahnhof festgehalten wird“.38

5. Zusammenfassende Betrachtung

Durch die Verknüpfung von ökonomischen Bedingungen in den Großstädten, Annahmen über die biologische Disposition von Frauen und zeitgenössischen Moralvorstellungen wurden binnenwandernde Frauen als „gefährdet“ wahrgenommen und parallel dazu ein moralisches und gesundheitliches Risiko angenommen, das von ihnen, speziell den Prostituierten, für die gesamte Gesellschaft ausging. Daher richtete sich das fürsorgerische Augenmerk der Bahnhofsmissionarinnen und anderer Akteure, die im bahnhofsmissionarischen Umfeld aktiv waren, jahrzehntelang auf die jungen Zuwanderinnen. Durch die Konzentration auf die jungen Frauen, durch Veröffentlichungen in verschiedenen Medien, die Präsenz der Fürsorgerinnen39 am Bahnhof und die Kooperation mit anderen Fürsorgeorganisationen hatte die Berliner Bahnhofsmission an der Reproduktion und Zählebigkeit des Bildes der „Gefährdeten“ daher nicht unerheblichen Anteil. Trotz zunehmender Präsenz von 35 Jahresbericht des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission e.V. 1932, ADW, CA, Gf/St 93, S. 2f. 36 Scheuner, S. 3. 37 Ebd., S. 6. 38 Ebd. 39 Ich nenne die Bahnhofsmissionarinnen in dieser Arbeit zuweilen Fürsorgerinnen oder Bahnhofsfürsorgerinnen, obwohl viele Mitarbeiterinnen keine Fürsorgerinnenausbildung durchlaufen hatten, aber diese Rolle innehatten.

5. Zusammenfassende Betrachtung

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Frauen in öffentlichen Räumen, hatte der dauerhafte Bestand des Gefährdetenkonzepts darüber hinaus auch nicht unwesentlich damit zu tun, dass die Einteilung gesellschaftlicher Räume in öffentliche und private bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts richtungsweisend blieb.40 Durch die Hilfsmaßnahmen der Bahnhofsmissionarinnen an den Berliner Fernbahnhöfen war ein Raum aus Schutz und Kontrolle, Hilfeleistung und Überwachung entstanden. Zum einen waren das sinnvolle Hilfsmaßnahmen, die den Reisenden und neu nach Berlin ziehenden Personen, dem geordneten Abwickeln des Reiseverkehrs und dadurch sowohl der Gesamtordnung auf dem Bahnhof, als auch der einzelnen Person dienten. Zum anderen zog der Tätigkeitsbereich der Fürsorgerinnen Eingriffe in die Autonomie der jungen Frauen nach sich. Damit bestätigt sich die aufgestellte These, dass der bürgerliche Ehrenkodex eine zentrale Rolle bei der weltanschaulichen Konzeption der Bahnhofsmission, die zwischen Gefährdeten und Wandernden unterschied, spielte. Die Folge der geschlechtsspezifischen Ausrichtung der Fürsorgebetreuung war nämlich, dass Frauen nicht nur in der Öffentlichkeit in ihrer Freiheit beschnitten, sondern grundsätzlich in ihren gesellschaftlichen Lebenschancen begrenzt wurden.

40 Vgl. Daniel, S. 319.

III. Der öffentliche Raum am Bahnhof: Praktische Arbeit und Kooperationen der . Berliner Bahnhofsmissionarinnen Der soziale Raum wird in dieser Arbeit nicht unabhängig vom materiellen Raum gedacht, sondern beide werden als ein sozialer (öffentlicher) Raum gefasst. Somit sind physischer Raum und Handeln nicht voneinander losgelöst zu betrachten. Da die Entstehung von Räumen selbst soziale Prozesse darstellen und Raum sowie Körperwelt miteinander verwoben sind, wird Raum folglich nicht als Ort oder Territorium, als starre Folie vor der sich bewegtes Handeln abspielt, verstanden. Raum wird aus der Anordnung der Menschen und sozialen Güter heraus abgeleitet, somit in den Handlungsverlauf integriert und als dynamisch aufgefasst.1 Hierbei kommt der Frage nach dem „Wie“ dieses Prozesses besondere Bedeutung zu: Wie werden (öffentliche) Räume im Einzelnen konstituiert? Welche Rolle spielen Syntheseleistungen, Institutionalisierungen von Räumen, soziale Ungleichheiten sowie die Strukturprinzipien Klasse und Geschlecht bei der Raumkonstitution? Diese Erkenntnisse wiederum sind die Voraussetzung dafür ausloten zu können, ob und in welchem Umfang sich die Frauen der Bahnhofsmission (Handlungs-)Räume schaffen konnten beziehungsweise wie diese zu bewerten sind. In den folgenden Kapiteln wird die Konstitution des sozialen, öffentlichen Raumes der Bahnhofsmissionarinnen sowohl am Bahnhof, in dessen Umgebung als auch in der weiteren städtischen Öffentlichkeit nachgezeichnet. In einem ersten Schritt werden die Berliner Fernbahnhöfe und deren umliegende Bezirke vorgestellt. Es wird deutlich, dass der Raum der Bahnhofsmissionarinnen am Bahnhof kein geschlossener Mikrokosmos war, sondern sich in Wechselwirkung mit den öffentlichen Räumen der umliegenden Stadtbezirke herstellte. Zum einen, weil die in den Stadtvierteln lebenden und agierenden Menschen den Bahnhof als solchen in all seinen Funktionen nutzten, zum anderen, weil die Bahnhofsmissionarinnen den Bahnhof häufig selbst verließen. In einem zweiten Schritt wird nach den eigenen Ressourcen der Bahnhofsmissionarinnen gefragt: Durch die Analyse der Fähigkeiten, die die Bahnhofsmissionarinnen für eine erfolgreiche Bewältigung ihrer Arbeit mitbringen sollten, des Schicht bedingten Hintergrundes der Mitarbeiterinnen sowie deren Motive und finanzielle Versorgung, wird deutlich, mit welchen Möglichkeiten und Einschränkungen die Mitarbeiterinnen konfrontiert waren, um (Handlungs-)Räume zu gewinnen, zu erhalten oder auszubauen. Im Spiegel der Wertmaßstäbe der im diakonischen Umfeld agierenden Mitarbeiterinnen und Mit1

Löw, Raumsoziologie, S. 130ff. Martina Löw definiert Raum als eine (An)Ordnung von Menschen und sozialen Gütern an Orten. Soziale Güter versteht sie als materielle Güter wie Häuser, Straßen, Autos, Züge etc. und symbolische Güter wie Traditionen, Vorschriften, Regeln. Vgl. Löw, Raumsoziologie, S. 152ff.

1. Der Arbeitsplatz der Bahnhofsmissionarinnen

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arbeiter werden drittens die ländlichen Zuwanderinnen thematisiert und dieses Bild mit der „Wirklichkeit“ abgeglichen. In diesem Zusammenhang werden die Kooperationen der Berliner Bahnhofsmission mit der weiblichen Polizei, dem Bahnhofsdienst und dem Deutschen Nationalkomitee gegen den Mädchenhandel exemplarisch an drei verschiedenen Bahnhöfen in den Blick genommen. Dadurch werden die Interessengemeinschaften, die die Mitarbeiterinnen auf verschiedenen Ebenen eingingen, beleuchtet. Einerseits stellten sich auch dadurch Räume her, die durchaus über den Bahnhof hinaus- und in die Stadt hineinreichten. Zum anderen wurden diese Räume selbst wieder zur Ressource, auf die die Mitarbeiterinnen zurückgreifen konnten. Dass aber auch diese Räume kontinuierlichen Veränderungen unterworfen waren und auf Aushandlungsprozessen und Verteidigungsstrategien beruhten, macht die Darstellung der Kooperationen deutlich. 1. Der Arbeitsplatz der Bahnhofsmissionarinnen „O Bahnhof, der so viele Abschiede sah, so viele Abfahrten, soviel Wiederkommen, Bahnhof, o dessen Doppeltor in die zauberhafte Unendlichkeit der Erde offen steht“.2

Der Bahnhof wird in dem Gedicht von Valery Larbaud als „Doppeltor“ bezeichnet, wobei die zwei Funktionsweisen des Bahnhofs als Eingangs- und als Ausgangspforte angesprochen werden. Zum einen war der Bahnhof das Portal in andere Gegenden der Welt, in andere Länder und Städte, zum anderen war er auch das Eingangstor zur eigenen Stadt. Im Bahnhof und an den Bahngleisen begannen und endeten die Reisen von Menschen, hier trafen Alte und Junge, Reiche und Obdachlose, Männer und Frauen aufeinander: Menschen, die in weitgehender Anonymität den Bahnhof als Ankunfts- oder Abfahrtsort eines vorgegebenen Zieles nutzten und ihn schnell und zielbewusst wieder verließen, oder ziellos Umherirrende, die Unterschlupf in den Nischen des Bahnhofs suchten. Die ankommenden Menschen bündelte er in den Bahnhofshallen, bevor sie sich in der Stadt wieder separierten. Bahnhöfe waren jedoch mehr als städtische Einlasspforten, da sie Bestandteil der Stadt selbst waren und markante Positionen innerhalb des Stadtbildes einnahmen, die den Menschen als Orientierungshilfe dienten.3 Bahnhöfe prägten durch ihre Architektur auch das Gesicht der Stadt und deren Bauweisen riefen bei den Zeitgenossen euphorische oder ablehnende Reaktionen hervor, die die Bauwerke als „Kathedrale[n] der Moderne“ priesen oder als „Stätte[n] der Hässlichkeit“4 verdammten. Die häufig monumentale Architektur von Bahnhöfen, die „über Perspek-

2 3 4

Valery Larbaud, Der alte Bahnhof von Cahors, zit. in: Mario Leis (Hrsg.), Bahnhöfe. Geschichten von Ankunft und Abschied, Frankfurt/Main etc. 2003, S. 174f. Vortrag von Thomas Hengartner, Bahnhöfische Welten. Alltagskultur und städtische Kultur im Bahnhof. Tagung: Der Bahnhof. Basilika der Mobilität – Erlebniswelt der Moderne vom 16.– 18. Juli 2004 in Irsee. Leis, Klappentext.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof

tive und Vermögen des Einzelnen hinausgeht“5 verdeutlicht, dass diese Gebäude nicht privaten Interessen sondern der Allgemeinheit dienen und so zum öffentlichen Ort werden. Jederzeit kann man sie aufsuchen und mit jedem Kontakt aufnehmen. Das haben Bahnhöfe mit anderen öffentlichen Orten gemeinsam: den Parks, Plätzen und Straßen, wenngleich diese selten so klar konturiert sind wie die großen Bahnhöfe einer Stadt. Die Berliner Bahnhofsmissionarinnen arbeiteten an öffentlichen Orten in zweifacher Hinsicht: Zum einen hatten sie ihren Einsatzort am Bahnhof und zum anderen in der Stadt selbst, besonders in den Bezirken, die den Bahnhof umgaben. Im vorliegenden Kapitel werden die materiellen Gegebenheiten, also die bebauten Straßen, die Bahnhöfe sowie die Akteure und die an diesen Orten geltenden Symboliken und Regeln aufgezeigt, aus denen die Bahnhofsmissionarinnen ihre Räume konstituierten. Deshalb wird der Blick sowohl nach außen auf die die Berliner Fernbahnhöfe umgebenden Stadtviertel als auch nach innen auf das Leben und das soziale Gefüge der Bahnhöfe gerichtet. Neben der Frage, welche Personen im Bahnhof arbeiteten und wer die Kollegen der Bahnhofsmissionarinnen waren, ist ebenso von Interesse, welche Dienstleistungen und Güter zum Verkauf angeboten wurden. Denn auch Marktgeschehen, kaufen, konsumieren und über Warenangebote ins Gespräch kommen, machte den Bahnhof zum öffentlichen Ort. Ebenso wird in den Blick genommen, warum die Präsenz der Bahnhofsmissionarinnen – im Gegensatz zu den Zuwanderinnen – an diesem öffentlichen Ort nicht als Sicherheitsrisiko für sie selbst und die Gesellschaft wahrgenommen wurde. 1.1 Die Bahnhöfe in Berlin: ihre Lage und ihre Viertel In Berlin existierten 1894, als die Berliner Bahnhofsmission ihren Dienst begann, insgesamt zehn Fernbahnhöfe. Davon waren fünf so genannte Kopfbahnhöfe, nämlich der Anhalter-, Potsdamer-, Lehrter-, Stettiner- und Görlitzer Bahnhof. Fünf weitere Bahnhöfe, die die Fernbahnen, die östlich und westlich einliefen, miteinander verbanden, waren Bestandteil der Stadtbahn: die Bahnhöfe Charlottenburg, Zoologischer Garten, Friedrichstraße, Alexanderplatz und der Schlesische Bahnhof.6 Von den verschiedenen Bahnhöfen gingen Züge in wichtige europäische Länder: Norwegen, Schweden, England, Belgien, Frankreich, Russland, Ungarn, 5 6

Burkhard Brunn / Diedrich Praeckel, Der Hauptbahnhof wird Stadttor. Zum Ende des Automobilzeitalters, Giessen 1992, S. 27. Die Bahnhöfe wurden in folgender Reihenfolge eröffnet: Potsdamer – 1838, Anhalter – 1841, Stettiner und Schlesischer – 1842, Görlitzer – 1866. 1882 wurde die Berliner Stadtbahn (Schlesischer Bahnhof – Alexanderplatz – Friedrichstraße – Zoologischer Garten und Charlottenburg) für den Stadt-, Ring- und Vorortverkehr in Betrieb genommen. Der Vollständigkeit halber soll der Hamburger Bahnhof nicht unerwähnt bleiben, der jedoch bereits 1884 stillgelegt wurde. Der über diesen Bahnhof abgewickelte Eisenbahnverkehr verlagerte sich zum Lehrter Bahnhof. Vgl. Hans-Dieter Reichhardt, Daten zur Berliner Eisenbahngeschichte, in: Berliner Festspiele GmbH, S. 81–92 und Mihäly Kubinszky, Architektur am Schienenstrang, Stuttgart 1990, S. 29ff.

1. Der Arbeitsplatz der Bahnhofsmissionarinnen

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Abbildung 1: Berliner Fernbahnstreckennetz, 1882

Polen, Österreich, die Schweiz und Italien.7 Die Eisenbahn-Fernstrecken endeten strahlenförmig in Berlin, so dass durch die Verteilung der Bahnhöfe ein Netz entstanden war, das alle wichtigen Berliner Stadtgebiete abdeckte. Außer den Bahnhöfen Zoologischer Garten und Charlottenburg lagen alle anderen Fernverkehrsbahnhöfe im alten historischen Stadtkern, der sich im 19. Jahrhundert zur „City“ wandelte, sowie im erweiterten Einflussbereich des Zentrums. Die alte Stadtmitte mit den Bahnhöfen Friedrichstraße und Alexanderplatz und ebenso einige citynahe Bezirke, dienten kaum noch als Wohngegenden,8 stattdessen wurde das Zentrum zu einem Ort der Repräsentation und Kultur, des Einkaufens und der Büroarbeit. Hier konzentrierten sich große Verlagshäuser und Banken sowie Kauf- und Warenhäuser wie Hermann Tietz am Alexanderplatz, das ab 1933 in Hertie umbenannt wurde, und Wertheim am Leipziger Platz. Die an das Zentrum anschließenden Stadtbezirke zeichneten sich hingegen durch eine Kombination aus Wohn- und Geschäftsviertel aus. Diese Stadtviertel unterschieden sich in ihrem Sozialstatus, Milieu und ihrer Bewohnerschaft jedoch erheblich. Sowohl westlich des Lehrter Bahnhofs, wo vorwiegend Beamte und freiberuflich tätige Berliner wohn7 8

Alfred Gottwaldt, Das große Berliner Eisenbahn Album 1838 bis heute, Stuttgart 1987, S. 127. Seit der Jahrhundertmitte hatte sich das Tempo der Bevölkerungszunahme verlangsamt und 1912 war mit 2 095 000 Einwohnern die Grenze der Bevölkerungsentwicklung innerhalb der alten Stadtgrenzen erreicht. Seitdem kam es im Innenstadtbereich zu einem kontinuierlichen Bevölkerungsrückgang. Vgl. Rürup, S. 39.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof

ten, als auch in der Friedrichstadt9, auf deren Gebiet der Anhalter und Potsdamer Bahnhof lagen, zeichnete sich durch relativ wohlhabende Schichten aus. Die Stadtviertel nördlich des Stadtzentrums um den Stettiner Bahnhof und südlich sowie süd-östlich, wo die Fernverkehrszüge im Görlitzer und Schlesischen Bahnhof ankamen, waren von einer unteren bis mittleren sozialen Schicht geprägt.10 Im alten Zentrum Berlins, am Bahnhof Friedrichstraße, der in der Friedrichstadt gelegen war, hatten die ersten acht Bahnhofsmissionarinnen ihren Dienst begonnen und der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend hatte nördlich des Bahnhofs sein Hauptbüro in der Tieckstraße 17 in der Oranienburger Vorstadt eröffnet.11 Der Grund für die Entscheidung Bahnhofsmissionarinnen zuerst an diesen Bahnhof zu entsenden, hatte vermutlich zwei Gründe. Zum einen arbeitete der Gründer und Initiator der Berliner Bahnhofsmission und ihres Trägervereins, Pfarrer Johannes Burckhardt, in der Elisabethgemeinde, die sich nahe dem Vereinsbüro, in der Rosenthaler Vorstadt, befand. Zum anderen hatten sich um die Friedrichstraße, als auch nördlich und südlich davon, unterschiedlich geprägte Vergnügungsviertel herausgebildet. Da die sittliche Gefährdung junger Zuwanderinnen im Fokus des jugendfürsorgerischen Engagements der Berliner Bahnhofsmission lag, war es folgerichtig bei der Ankunft der Frauen und Mädchen an jenen Bahnhöfen präsent zu sein, in deren Nähe sich Prostituierte und Freier aufhielten. Insbesondere die Friedrichstraße wurde als der „Lasterboulevard“ par Excellanze beschrieben. Die Absteigequartiere in der Friedrichstadt galten als vornehm und waren dementsprechend teuer. Das lag auch an ihrer Nähe zu den großen Varietébühnen mit den hier veranstalteten Maskenbällen und dem Metropoltheater, dem Großen Schauspielhaus und dem Theater am Schiffbauerdamm,12 die im ausgehenden 19. Jahrhundert Treffpunkte der besseren Gesellschaftskreise waren, in deren Umkreis die Berliner ebenso gern zum Tanzen gingen. Die Prostituierten nahmen ihre Freier in Absteigequartiere mit, die von so genannten Kupplerinnen, die in Berlin „Ver­schicke­ frauen“13 hießen, betrieben wurden, und welche für die Bereitstellung eines Zimmers Geld erhielten.14 Nördlich der Friedrichstraße bis zum Stettiner Bahnhof schloss sich die Oranienburger Vorstadt an, eine zunehmend düstere Gegend mit schäbigen Bars. Ein Großstadtführer beschrieb das Stadtviertel folgendermaßen: „Hier hinter den ‚Linden‘ hat das elegante Milieu der Friedrichstadt bereits abgenommen, und die Atmosphäre des Nordens flutet herein. (…) Die großen Toiletten haben aufgehört. Aber der 9 Heute sind aus der Friedrichstadt die Berliner Bezirke Kreuzberg und Mitte geworden. 10 Vgl. Thomas Lindenberger, Straßenpolitik. Zur Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung in Berlin 1900 bis 1914, Bonn 1995, S. 38. Ausführlicher vgl. hierzu, Heinrich Johannes Schwippe, Sozialökologie der Stadt Berlin 1875–1910. Ein Beitrag zur räumlich-sozialen Segregation in Berlin, in: Hans Kleinn / Winfried Meschede / Peter Schnell u.a. (Hrsg.), Westfalen-Nordwestdeutschland-Nordseesektor. Wilhelm Müller-Wille zum 75. Geburtstag von seinen Schülern, Münster 1981, S. 315–351. 11 Reineck, Evangelische Bahnhofsmissionarin, S. 198. 12 Alfred Gottwaldt, Eisenbahn-Zentrum Berlin 1920–1939, Berlin 1997, S. 41. 13 Auf diesen Begriff macht Sybille Krafft aufmerksam. Vgl. Dies., S. 192. 14 Vgl. Hans Ostwald, Das Berliner Dirnentum. Bd. 10: Ausbeuter der Dirnen, Leipzig 1907, S. 6.

1. Der Arbeitsplatz der Bahnhofsmissionarinnen

57

Ton ist noch maßvoll. Das ändert sich, sobald wir über die Weidendammer Brücke richtig in den Norden hineinkommen. Dort sind die Nachtcafés nicht mehr einwandfrei“.15

Nordöstlich der Friedrichstraße Richtung Hackescher Markt lag das Scheunenviertel, das durch eingewanderte Polen, Juden und ebenfalls durch Prostitution geprägt war. In den 1920er Jahren beschäftigte sich das Polizeiamt Berlin-Mitte immer wieder mit den Beschwerden, die die hier lokalisierte Prostitution nach sich zog. Insbesondere die Anwohner der Steinstraße wandten sich mit der Bitte an die Polizei vor allem im Haus Nummer fünf die Kontrollen zu verstärken, was unter anderem dazu führte, dass verschiedene Mieter dieses Hauses der Kuppelei bezichtigt wurden.16 Trotz vermehrter Maßnahmen wollte die Polizei den „Straßenstrich“ aber tolerieren, denn: „Der sicher aussichtslose Versuch, die Prostituierten und das Zuhältertum aus dieser Gegend zu vertreiben, in welcher im Laufe der Jahrzehnte eine gewisse Gewöhnung der Bevölkerung daran eingetreten ist, würde nur den Erfolg haben, dass die Prostituierten und deren Anhang in andere benachbarte Stadtteile verdrängt würden, in denen sie ihren Sitz bisher nicht hatten und in denen deshalb das Aergernis mit vollem Recht ein größeres sein würde, als in dem Scheunenviertel“.17

Das Vorhaben, die Prostitution auf bestimmte Stadtbezirke zu beschränken, ließ sich nicht umsetzen. So war Anfang des 20. Jahrhunderts ein neues Vergnügungsviertel südwestlich der Friedrichstraße entstanden und zog sich in den 1920er Jahren immer weiter in den Berliner Westen.18 Dieses neue Amüsierviertel rund um den Askanischen Platz vor dem Anhalter Bahnhof mit seinen Hotels und Kneipen, wurde zum Mittelpunkt des Fremdenverkehrs sowie Vergnügungslebens und erstreckte sich bis zum Potsdamer Platz. „Am Potsdamer Platz treten sie [die Prostituierten, A. M. K.] auch am Tage auf. Besonders nachmittags, wenn der Vorgarten im Café Josty19 dicht besetzt ist und auf dem Platz und in der ihre Perspektive darbietenden Leipziger Straße das prächtige Treiben der großen Stadt herrscht, wenn Elektrische, Omnibusse, Autos, Droschken, Geschäftswagen, Männer, Frauen, junge geputzte Mädchen, Kinder den Platz füllen und durch ein fortwährendes Bewegen ein ewig neues Bild geben“.20

15 Berlin für Kenner. Ein Bärenführer bei Tag und Nacht durch die deutsche Reichshauptstadt, zit. in: Joachim Schlör, Wenn es Nacht wird. Streifzüge durch die Großstadt, Stuttgart 1994, S. 287–298, hier: S. 294. 16 Bericht des Polizeipräsidenten an den Minister des Innern, 28. August 1924, GStA PK, I HA, Rep. 77, Tit. 435, Nr. 6, Blatt 159. 17 Bericht des Polizeipräsidenten an den Minister des Innern, 24. Oktober 1921, GStA PK, I HA, Rep. 77, Tit. 435, Nr. 1, Bd. 1, Blatt 157. 18 Straßenprostitution fand sich später auch am Kurfürstendamm und am Tauentzien, am Bülowbogen sowie am Nollendorf- und Bayerischen Platz. Vgl. Erschreckende Zunahme der Prostitution!, in: National-Zeitung vom 7. April 1923, GStA PK, I HA, Rep 77, Tit. 435, Nr. 6, Blatt 172. 19 Als Reminiszenz an dieses berühmte Berliner Café befindet sich heute, am neu gestalteten Potsdamer Platz, wiederum ein Café selben Namens. 20 Zit. Nach: Hans Ostwald, Die Berlinerin. Kultur- und Sittengeschichte Berlins, Berlin 1921, S 389.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof

Abbildung 2: Blick vom Café Josty auf den Potsdamer Platz, 1914

Östlich und südöstlich des Stadtzentrums, aber immer noch in deren Einzugsbereich, lagen die Luisenstadt und das Stralauer Viertel, das spätere Kreuzberg SO 3621 und der Friedrichshain, mit dem dort lokalisierten Görlitzer und dem Schlesischen Bahnhof. Der Görlitzer Bahnhof war bei den Berlinern als Ferienbahnhof sehr beliebt, weil die Züge von hier aus in das Nahziel, den Spreewald, fuhren. Allerdings trat der Personenverkehr zu Gunsten des Güter- und Vorortverkehrs am Görlitzer Bahnhof stark zurück. Die Gegend um den Bahnhof, vor allem an der Wienerstraße, wo das Empfangsgebäude des Bahnhofs lag, entwickelte sich zum Wohngebiet, durch das auch eine Straßenbahnlinie führte. An der Ecke zum Görlitzer Ufer wurde das erste Mörtelwerk errichtet, das seinen Kalk aus dem Gogliner Gebiet bezog, der über den Görlitzer Bahnhof nach Berlin transportiert wurde. Kohlenhändler siedelten sich vermehrt an der Görlitzer Straße an, die hier ihre Lagerplätze und Schuppen hatten und mit ihrer Nähe zum Bahnhof dessen Verbindung zum Lausitzer Braunkohlegebiet nutzten.22 Die Gegend um den Schlesischen Bahnhof war wiederum stärker durch Zuwanderer geprägt, weil am Schlesischen Bahnhof, der jenseits der Schlesischen Brücke gelegen war, viele Saison- und Wanderarbeiter aus dem Osten, aber auch 21 Dieser Teil Kreuzbergs wurde nach dem Postzustellbezirk Südost 36 benannt. Nach Einführung der vierstelligen Postleitzahlen in der Bundesrepublik Deutschland 1961 hatte SO 36 die Adresse: 1000 Berlin 36. 22 Emil Galli, Görlitzer Bahnhof, Görlitzer Park, Berlin 1994, S. 62. Vgl. auch Gottwaldt, Eisenbahn-Zentrum, S. 141. Ebenso: Alfred Gottwaldt / Stefan Nowak, Berliner Bahnhöfe – einst und jetzt, Düsseldorf 1991, S. 20f.

1. Der Arbeitsplatz der Bahnhofsmissionarinnen

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Abbildung 3: Blick vom Wittenbergplatz auf das Kaufhaus des Westens und den Kurfürstendamm, 1935

aus Russland geflohene Juden wohnten, die über den Bahnhof nach Berlin eingewandert waren. Weder die Berliner noch die Reisenden hielten sich gerne hier auf.23 Sie nutzten den Bahnhof nur zum Umsteigen und wollten auch in der umliegenden Gegend nicht flanieren, weil sich „zahlloses ‚Gesindel‘ (…) in der Nähe des Schlesischen Bahnhofs herum[trieb], und der Geist der Bewohner (…) unruhig und meist radikal war“.24 Am westlichen Ende der Stadtbahn lagen die ebenfalls für den Fernverkehr genutzten Bahnhöfe Zoologischer Garten und Bahnhof Charlottenburg. Sie gehörten nicht mehr zur City und deren Einzugsgebiet, sondern lagen im „Neuen Westen“. Hier bildete sich seit den 1890er Jahren ein zweites Stadtzentrum heraus, dessen Wohngegend großbürgerlich geprägt war. Entlang des Kurfürstendamms, wo das Kaufhaus Des Westens am Wittenberg Platz eröffnet worden war, und um den Auguste-Viktoria-Platz (heute Breitscheidplatz) kamen wohlhabende Berliner wie Berlin-Besucher zum Einkaufen.25 Die Bahnhofsmission berichtete von der Betriebsamkeit und dem starken Verkehr rund um den Kurfürstendamm, so dass es

23 Gottwaldt, Eisenbahn-Zentrum, S. 57. Vgl. auch Laurenz Demps, Der Schlesische Bahnhof in Berlin, Berlin 1999. 24 Robert Scholz, Ein unruhiges Jahrzehnt: Lebensmittelunruhen, Massenstreiks und Arbeitslosenkrawalle in Berlin 1914–1923, in: Manfred Gailus (Hrsg.), Pöbelexzesse und Volkstumulte in Berlin. Zur Sozialgeschichte der Straße (1830–1980), Berlin 1984, S. 79–123, hier: S. 110. 25 Arnt Cobbers, Kleine Berlin-Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Berlin 2005, S. 115f.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof

sich zuweilen sehr schwierig gestaltete, Reisende, die die Helferinnen zu einem Ziel in Berlin begleiteten, „über den Damm zu bringen“.26 Der Arbeitsalltag der Bahnhofsmissionarinnen war stark geprägt von der Gegend, in der der Bahnhof lag, weil die Helferinnen den Bahnhof für Kontrollgänge oder um Reisende zu ihren Bestimmungsorten und junge Frauen zu ihren Wohnheimen in Berlin zu begleiten verließen, und sich dadurch in der näheren, zuweilen auch weiteren Umgebung, aufhielten. Außerdem spiegelte sich das Milieu der den Bahnhof umgebenden Stadtviertel auch in den Bahnhöfen selbst wider. Prostituierte, Wanderarbeiter oder wohlhabende Berliner wohnten und arbeiteten nicht nur in den Stadtbezirken um den jeweiligen Bahnhof, sondern sie betraten und nutzten den Bahnhof auch. So hatten die Fürsorgerinnen beispielsweise am Stettiner Bahnhof besonders häufig mit Prostituierten und den jeweilig einzuschaltenden Ämtern und polizeilichen Stellen zu tun, während am Schlesischen Bahnhof eine hohe Zahl binnenwandernder Menschen – bevorzugt aus den östlichen Reichsgebieten – ankam. Beides bestimmte den Arbeitsalltag der jeweiligen Mitarbeiterinnen in unterschiedlicher Weise.27 Das Handlungsfeld der Bahnhofsfürsorgerinnen war somit davon beeinflusst, ob der Bahnhof in einer Gegend mit Prostitution und den dazugehörigen Etablissements, mit Arbeitern und einer Vielzahl von Mietshäusern sowie Arbeitsnachweisen28 oder im verhältnismäßig reichen Westen Berlins mit teuren Läden gelegen war. Erst im Zusammenspiel aus der von der Bahnhofsmission betreuten Klientel, den Bahnhofsmissionarinnen und ihren Dienstleistungen sowie dem jeweiligen Bahnhof und der ihn umgebenden Sozialstruktur aber auch den Einrichtungen, Cafés und anderen Etablissements, stellte sich der soziale Raum der Berliner Bahnhofsmission her, veränderte und erweiterte sich.29 Auch das Leben innerhalb der Berliner Fernbahnhöfe stellte eine eigene Lebenswelt von ankommenden, abfahrenden, wartenden oder länger im Bahnhof Schutz suchenden Personen sowie einer Vielzahl von Geschäften und Beschäftigten und den in diesem Mikrokosmos geltenden Vorschriften und Regeln dar. Der Schriftsteller Kurt Guggenheim beschrieb eine Bahnhofs-Szenerie folgendermaßen: „Alle Bahnzüge [reihen] sich schön nebeneinander auf, und darauf folgt die große Halle mit den Stehbüffets, den Zeitungskiosken und all den an Nebenkapellen einer großen Kathedrale erinnernden Installationen, wie Billettausgabe, Gepäckaufbewahrungsorten, Geldwechselstu26 Eva Aleith, Mosaik aus der Bahnhofsmission, in: Beilage zum Sonntags-Blatt für Innere Mission, 90, 1939, Nr. 24, S. [2–3]. 27 Vgl. hierzu die Kapitel III. 3.2 (Geschlechtsspezifische Bahnhofsfürsorge am Schlesischen Bahnhof in der Weimarer Republik bis 1933) und III. 3.3 (Die Zusammenarbeit mit der weiblichen Polizei am Stettiner Bahnhof in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus) dieser Arbeit. 28 Arbeitsnachweise waren Arbeitsvermittlungsbüros. 29 Das Löwsche Raumkonzept betont die relationalen Strukturen von Räumen und unterscheidet sich daher von der Raum-Definition nach Pierre Bourdieu. Zwar ist Löw mit Bourdieu einer Meinung, dass die Position im „sozialen Raum“ die Konstitution von Räumen prägt. Allerdings kritisiert Löw, dass das Bourdieu’sche Konzept keine Möglichkeit lässt, Wechselwirkungen zwischen dem sozialen Raum und der strukturierenden Wirkung von Räumen zu untersuchen. Löw, Raumsoziologie, S. 183.

1. Der Arbeitsplatz der Bahnhofsmissionarinnen

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ben, Information, Gaststätten, Waschgelegenheiten, Blumengeschäften, Coiffeuren, Trinkwasserbrünnchen, Briefmarkenautomaten und dergleichen“.30

Neben Dienstleistungsbetrieben wie Friseurläden, Gaststätten, Frühstücks-Restaurants und Wechselstuben, gab es auf den Berliner Bahnhöfen Verkaufsstände mit einem unterschiedlichen Warenangebot für den Reisebedarf wie Obst und Südfrüchte, Konfitüren, Tabakwaren, Blumen, Bücher sowie Parfümerie- und Papierartikel.31 Mit spezieller Genehmigung konnten Verkäufer Waren wie Obst oder Kölnisch Wasser und Seife direkt an den Gleisen anbieten.32 Die Bahnhofsgeschäfte waren in der Nähe der Gleise, in der Bahnhofs-Haupthalle und im Vestibül zu finden. Wie viele Läden an dem jeweiligen Bahnhof vorhanden waren, konnte sehr unterschiedlich sein und hing vermutlich davon ab, wie groß der Bahnhof und wie stark er durch den Reiseverkehr beansprucht war. So waren auf dem Lehrter Bahnhof nur drei Geschäfte vorhanden, während es am Bahnhof Zoologischer Garten sieben Geschäfte gab.33 Die Läden befanden sich jedoch nicht alle im Bahnhofsgebäude, sondern ebenso auf Vorplätzen, wie am Stettiner Bahnhof, auf dem ein Blumenverkaufsstand und, in einer dort befindlichen Straßenbahnwartehalle, ein Tabakwarenladen vorhanden waren.34 Neben den Läden wurden sowohl in Bahnhofsnähe als auch im Bahnhof selbst eine Vielzahl von „Automatenrestaurants“ betrieben, von denen es 1893 deutschlandweit bereits 15  000 Stück gab,35 und Fernsprecher sowie andere Warenautomaten aufgestellt, so dass an manchen Bahnhöfen der Verkehrsfluss beeinträchtigt wurde. Der Vorstand des Eisenbahn-Betriebs­ amtes Berlin 1 der Deutschen Reichsbahngesellschaft beschrieb die Situation am Bahnhof Friedrichstraße folgendermaßen: „Gerade der Bf. Fri[edrichstraße] ist aber schon derartig mit Automaten besetzt, daß für einen weiteren Automaten kein geeigneter Platz mehr frei ist, ohne Verkehrsstörungen hervorzurufen“.36 Wo die Berliner Bahnhofsmissionarinnen ihre Zimmer auf den Fernbahnhöfen hatten, ließ sich im Einzelnen nicht rekonstruieren. In den 1930er Jahren konnten sie jedenfalls auf dem Stettiner, Anhalter und Charlottenburger Bahnhof über eigene Zimmer verfügen. Durch den Platzmangel an den Bahnhöfen mussten sie al30 Kurt Guggenheim, Man ist nicht allein, zit. in: Leis, S. 226–231, hier: S. 228. 31 Die Beschreibung bezieht sich auf die 1930er Jahre. Vgl. Verzeichnisse der in den verschiedenen Bezirken des Reichbahn-Betriebsamtes vorhandenen Verkaufsstände 1934, LAB, A Rep 080, Nr. 50173. 32 Allgemeine Bedingungen für die Vermietung von Verkaufsstellen auf Bahngebiet, LAB, A Rep. 080, Nr. 50484. Vgl. ebenso: Abschrift am 12.6.1936, Blatt 99, LAB, A Rep. 080, Nr. 50121. 33 Verzeichnis der im Bezirk des Reichsbahn-Betriebsamtes Berlin 1 und 3 vorhandenen Verkaufsstände und Läden 1934, LAB, A Rep 080, Nr. 50173. 34 Verzeichnis der im Bezirk des Reichsbahn-Betriebsamtes Berlin 6 vorhandenen Verkaufsstände und Läden 1934, LAB, A Rep 080, Nr. 50173. 35 Alfred Gottwaldt, Züge, Loks und Leute, Berlin 1990, S. 92. 36 Schreiben des Vorstandes der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft des Eisenbahn-Betriebsamtes Berlin 1 an den Vorstand der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft des Eisenbahn-Betriebsamtes Berlin 8 am 28. Februar 1927, LAB, A Rep. 080, Nr. 50195; Schreiben der ReichsbahnDirektion Berlin der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft an die Betriebsämter 1–10 am 6. Juni 1930, LAB, A Rep. 080, Nr. 50630.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof

lerdings auf dem Görlitzer, Lehrter, Schlesischen Bahnhof sowie Bahnhof Friedrichstraße und Alexanderplatz ihr Zimmer mit dem Bahnhofsdienst respektive der katholischen Bahnhofsmission, die seit der Jahrhundertwende in Berlin aktiv war, teilen.37 Im Grunde kam das Leben auf den Bahnhöfen nie zum Erliegen, was daran lag, dass die Verkaufszeiten innerhalb der Bahnsteigsperren variabel sein konnten, sich nach dem jeweiligen Verkehrsbedürfnis richteten und von der Reichsbahngesellschaft selbst festgesetzt wurden. So durften Friseure beispielsweise auch sonntags, an Feiertagen, wie Weihnachten und Sylvester, oder zu bestimmten Ereignissen, zu denen viel Reiseverkehr erwartet wurde, wie beispielsweise zur Olympiade in Berlin 1936, ihre Läden offen halten. Außerhalb der Sperren waren jedoch die örtlichen Ladenschlusszeiten einzuhalten.38 1.2 Bahnhofsleben: die Kollegen und die Reisenden Wer waren die Kollegen der Bahnhofsmissionarinnen, mit wem hatten die Frauen es außer den zu betreuenden Reisenden auf den Bahnhöfen zu tun? Neben den Besitzern der Bahnhofsgeschäfte und den dort beschäftigten Verkäuferinnen und Verkäufern, arbeiteten am Bahnhof Bahnangestellte, die mit der Zugabfertigung der unzähligen regulären, aber auch mit Sonder- und Vorortzügen beschäftigt waren, das Personal an der Gepäckausgabe, das das Gepäck der Reisenden annahm, sortierte, verlud oder ausgab, Billetverkäuferinnen und -verkäufer, die Bahnsteigaufsicht, die für den kontrollierten Zu- und Abgang der Reisenden verantwortlich war, die Bahnpolizei, die für die Sicherheit in den Berliner Bahnhöfen Sorge trug, sowie die in der Weimarer Republik eingesetzte so genannte weibliche Polizei. Darüber hinaus waren auch Wagenreiniger sowie Schaffner und Eisenbahner, die im und nach dem Ersten Weltkrieg durch den Mangel an männlichen Arbeitskräften teilweise durch Frauen ersetzt wurden, beschäftigt.39 Das Bahnhofsleben auf den Berliner Fernbahnhöfen war zu keiner Zeit regellos, vielmehr stellten die Bahnhöfe kontrollierte öffentliche Räume dar. Öffentliche 37 Über die Anfänge der katholischen Bahnhofsmission in Berlin vgl. Zehnter Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1901, EZA, 7/13475, S. 18. Die erste katholische Bahnhofsmission hatte jedoch bereits 1897 in München ihren Dienst aufgenommen. Vgl. Nikles, Soziale Hilfe, S. 69ff. Bahnhofsmission und Bahnhofsdienst verfügten am Potsdamer Bahnhof und am Bahnhof Zoologischer Garten über keine Zimmer. Vgl. Dienstanweisung für die Berliner Bahnhofs-Mission und den Berliner Bahnhofs-Dienst, Berlin o. J., [vermutlich 1933], ADW, CA, Gf/St 86, S. 1–25, hier: S. 2. 38 Allgemeine Bedingungen für die Vermietung von Verkaufsstellen auf Bahngebiet, LAB, A Rep. 080, Nr. 50484; Auszug aus der Zeitschrift Amtsblatt für den Landespolizeibezirk Berlin, Nr. 104 vom 9. Dezember 1933, LAB, A Rep. 080, Nr. 50121, Blatt 64; Interne Abschrift des Schreibens der Deutschen Reichsbahngesellschaft an den Syndikus des Reichsverbandes Deutscher Bahnhofspächter Herrn Rechtsanwalt und Notar Walter Schauer vom 24. Juni 1936, LAB, A Rep. 080, Nr. 50121, Blatt 101; Vermerk der Reichsbahndirektion Berlin der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft am 21. März 1935, LAB, A Rep. 080, Nr. 50121, Blatt 77. 39 Gottwaldt, Züge, S. 117.

1. Der Arbeitsplatz der Bahnhofsmissionarinnen

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und halböffentliche Räume durch Raumkontrollen zu beaufsichtigen wird und wurde häufig als notwendig erachtet, um die von den Raumproduzenten beabsichtigte Raumnutzung gegenüber der tatsächlichen Raumnutzung durchzusetzen und dadurch Ruhe und Ordnung (wieder) herzustellen.40 Dass sich soziale Räume über örtliche Gegebenheiten und den sich hierin befindlichen Personen, aber auch über geltende Regeln und Vorschriften herstellen und zu ihrem Erhalt reproduziert werden, wird an den Bahnhofskontrollen, an denen viele verschiedene Personen beteiligt und an ihrer Aufrechterhaltung interessiert waren, deutlich. Kontrollfunktionen übernahmen sowohl die am Bahnhof arbeitenden Personen als auch wachsame Reisende. Dazu offiziell berechtigt waren aber vor allem die Bahn- und die weibliche Polizei, die Bahnsteigaufsicht, die Reichsbahnschutzstelle und die Bahnhofsmissionarinnen. So waren die Helferinnen in ihrer Dienstanleitung angewiesen worden, regelmäßige Kontrollgänge auf und um den Bahnhof vorzunehmen: „Man geht am besten in der Bahnhofshalle auf und ab. Wird man angesprochen, so gibt man freundlich Auskunft. (…) Man geht ferner durch die Wartesäle. Hier trifft man oft sehr ermüdete Menschen aller Altersklassen, die eingeschlafen sind und in der Gefahr stehen, daß ihnen ihr gesamtes Gepäck und ihre Papiere gestohlen werden. (…) Aber auch die Umgebung des Bahnhofes müssen wir mit in unser Arbeitsgebiet einschließen. Auch dort machen wir, mit unserer Armbinde versehen, einen Kontrollgang und sehen nach dem Rechten. In vielen Fällen genügt schon unsere Anwesenheit, um dunkle Elemente zu verscheuchen“.41

Auch die männlichen Bahnhofshelfer arbeiteten mit der Polizei zusammen und unterstützten diese in ihrer Kontrollfunktion nach Kräften. So berichtete der Bahnhofsdienst von zwei Männern, die der Polizei übergeben werden konnten, nachdem ein aufmerksamer Fürsorger diese vorher kontrolliert hatte: „Beamte des Potsdamer Bahnhofs schickten 2 junge Leute zu unserem Fürsorger nach dem Anhalter Bahnhof, damit er sich um sie kümmerte und die Burschen ‚nicht der Verwahrlosung anheim fallen sollten‘. (…) Wir waren nicht wenig erstaunt, als bei dem einen ein Dolch, bei dem anderen ein geladener Revolver und bei beiden schwarze Masken gefunden wurden. Die Burschen wurden daraufhin verhaftet und dem Polizeipräsidium zugeführt“.42

Zur Erhöhung der Sicherheitsstandards und wegen der „unlauteren Elemente(n)“43 auf den im Landespolizeibezirk gelegenen großen Fernbahnhöfen, hielt der Berliner Polizeipräsident schon zur Jahrhundertwende eine Verstärkung der Bahnhofswachen durch Kriminalbeamte für notwendig. Diesem Wunsch wurde vorläufig vom Minister des Innern jedoch nicht entsprochen,44 Jahre später dann aber doch jeder „Bahnhofswache (…) in der Regel auch ein Kriminalbeamter zugeteilt“.45 Kontrollen am Bahnhof galten aber nicht nur „verdächtigen“, sondern grundsätz40 41 42 43

Bruno Fritzsche, S. 21. Dienstanweisung für die Berliner Bahnhofsmission, ADW, CA, Gf/St 86, S. 1–25, hier: S. 19. Zit. in: Nikles, Soziale Hilfe, S. 184. Schreiben des Polizei-Präsidenten an den Minister des Innern am 25. Mai 1907, GStA PK, I HA, Rep. 77, Tit. 258, Nr. 75. 44 Schreiben des Ministers der öffentlichen Arbeiten an den Minister des Innern am 24. Dezember 1908 sowie Schreiben des Polizei-Präsidenten an den Minister des Innern am 25. Mai 1907, GStA PK, I HA, Rep. 77, Tit. 258, Nr. 75. 45 Dienstanweisung für die Berliner Bahnhofsmission, ADW, CA, Gf/St 86, S. 1–25, hier: S. 8.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof

lich allen reisenden und sich im Bahnhof aufhaltenden Personen, weshalb Vorkehrungen für einen möglichst geordneten Zugang der Reisenden zu den Zügen getroffen wurden. So war die Bahnsteighalle anfänglich nur über die Warteräume zugänglich.46 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde eine direktere Verbindung zwischen Empfangshalle und Bahnsteighalle geschaffen, wodurch die Warteräume, obwohl immer noch existent, ihre Funktion als Durchgangsschleuse verloren. Ein tatsächlich freier, „unkontrollierter“ Zugang zu den Bahnsteigen wurde jedoch durch die noch in den 1950er Jahren üblichen Bahnsteigkarten, die vor Betreten der Bahnsteige zu entwerten waren und auch die Bahnsteigsperren, die nur Personen mit gültigem Zugticket Zugang zu den Bahnsteigen gewährten, verhindert. Kontrolliert wurden auch die angebotenen Dienstleistungen und Waren, indem die Eisenbahndirektionen darauf achteten, dass diese in ihren Preisen angemessen waren und nicht zur „Übervorteilung“ von Reisenden führten.47 In diesen Bereich fiel die Ahndung unsittlicher Dienstleistungen und Waren, wozu die Beanstandung der so genannten Schmutz- und Schundliteratur ebenso gehörte, wie die Kontrolle des Prostitutionswesens. So wurden im Kaiserreich die Auslagen der Bahnhofsbuchhandlungen unangemeldeten Prüfungen unterzogen, um das Risiko „unsittlicher Schriften“ zu minimieren.48 Hier wird der Einfluss der Sittlichkeitsvereine deutlich, die bereits 1895 einen nationalen Zusammenschluss gebildet und der so genannten Unsittlichkeit den Kampf angesagt hatten.49 Auch noch Jahrzehnte später, im „Dritten Reich“, wurde die Überwachung der Publikationen angeordnet. Deshalb wurden die Reichsbahndirektionen vom Minister des Innern angewiesen, unter zu Hilfenahme der örtlichen Polizeibehörden „den Auslagen der Bahnhofsbuchhandlungen verschärfte Aufmerksamkeit zuzuwenden“.50 Die Bahnhofskon­ trollen wurden ebenso auf die Prostitution ausgedehnt, die anfänglich durch die Sittenpolizei und ab den 1920er Jahren bis zur Machtübernahme der Nationalso­ zialisten durch die Beamtinnen der weiblichen Polizei durchgeführt wurden. Hierbei erhielten sie die Unterstützung der Berliner Bahnhofsmissionarinnen und nahmen sich gemeinsam mit diesen der Prostituierten oder „gefährdeten“ Frauen an.

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47 48 49 50

Kontrollgänge gehörten seit der Gründung der Organisation zu den Tätigkeiten der Bahnhofsmissionarinnen. Schivelbusch vertritt an dieser Stelle die These, dass den Reisenden nicht zugetraut wurde, die Konfrontation mit der industriellen Maschinerie ohne Regelungsinstrumente (Warteräume) kompensieren zu können. Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Indus­ trialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt/Main 2000, S. 156. Eisenbahn-Nachrichten-Blatt, 52, 1904, S. 236; Schreiben des Reichbahn Betriebsamtes Berlin 1 an die Reichsbahndirektion am 22. Juni 1932, LAB, A Rep. 080, Nr. 50121, Blatt 8. Eisenbahn-Nachrichten-Blatt, 46, 1902, S. 292. Isabel Lisberg-Haag, „Im Ringen um Reinheit und Reife“, in: Kaiser/Greschat, S. 191–198. Zit. nach: Die Rundschau. Mitteilungsblatt der Inneren Mission, 4, 1933, Nr. 5, S. 72.

2. Die Akteure am Bahnhof

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1.3 Zusammenfassende Betrachtung Sowohl die Monumentalität der Bahnhöfe, die kontinuierlich spürbare Anwesenheit zeitgenössischer moderner Technik, Regelungen, die außerhalb der Bahnhöfe nicht galten, wie bei den Ladenöffnungszeiten deutlich geworden ist, die vielen verschiedenen Personengruppen und das sich stark unterscheidende städtische Milieu, in denen die Bahnhöfe lagen, machten den Bahnhof zu einem öffentlichen Ort besonderer Art. Außergewöhnlich waren die Bahnhöfe jedoch nicht nur, weil sie aufgrund dieser Mischung für viele Menschen spannungsreiche Anziehungspunkte darstellten, sondern weil sie in der zeitgenössischen Wahrnehmung auch gefährliche Orte, speziell für Frauen, waren. Dass sich die Bahnhofsmissionarinnen an dieser Lokalität nicht nur tagsüber sondern auch nachts aufhielten, dieser Umstand gesellschaftlich jedoch kaum thematisiert wurde – im Gegenteil: die Bahnhofsfürsorgerinnen wurden zur Aufrechterhaltung von Ordnung und zur Kontrolle der Sicherheit besonders für so genannte Gefährdete herangezogen –, bedarf einiger Überlegungen. Ihre Arbeit am Bahnhof wurde möglich, weil die bahnhofsmissionarischen Mitarbeiterinnen durch ihre Armbinde und den kirchlichen Kontext, in dem sie agierten, als entsexualisierte Menschen wahrgenommen wurden. Unterstützt wurde diese Wahrnehmung durch ihre muttergleiche, fürsorgerische Tätigkeit, durch die sie offenbar legitimiert wurden, fürsorgerische Kontrollfunktionen an anderen Reisenden, speziell an Frauen, zu übernehmen, die wiederum, im Gegensatz dazu, sehr einseitig auf ihre Sexualität reduziert wurden, indem grundsätzlich von den sittlich „Gefährdeten“ die Rede war. Mit der Soziologin Margit Brückner ist zu fragen, ob die Konzeptionalisierung der Bahnhofsmissionarinnen als keusche, nicht sexuelle Menschen, dazu führte, dass sie als Frauen keine Handlungsräume konstituieren konnten, und als weibliche Geschlechtswesen in der Öffentlichkeit deshalb nicht sichtbar wurden51, oder ob ihre Entsexualisierung die Voraussetzung dafür war, dass sie in der städtischen Öffentlichkeit überhaupt agieren konnten? Diese Hypothesen ergeben sich aus den zuvor beschriebenen Beobachtungen, können aber an dieser Stelle noch nicht zufriedenstellend beantwortet werden. Im Folgenden sollen deshalb weitere Aktionsfelder und Kooperationen als auch die Bahnhofsmissionarinnen näher untersucht werden. 2. Die Akteure am Bahnhof Auf den Berliner Bahnhöfen trafen sowohl ehrenamtlich arbeitende als auch fest angestellte Bahnhofsmissionarinnen auf reisende Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts, die sich mit mannigfachen Anliegen an eben jene Helferinnen wendeten oder auf die die Bahnhofsmissionarinnen in Eigeninitiative zugingen und den Reisenden Unterstützung anboten. In diesem Kapitel, das die Eigenschaften der Bahnhofsmissionarinnen näher untersucht, werden die Voraussetzungen geklärt, die gegeben sein mussten, wenn eine Frau eine Tätigkeit in der Bahnhofsmis51 Brückner, S. 34.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof

sion aufnehmen wollte. Von Interesse sind ebenso die Motive, die Frauen haben konnten, um aus der Privatsphäre herauszutreten und sich in einer wohltätigen Organisation öffentlich zu engagieren, und es wird nach der Anzahl fest angestellter im Verhältnis zu ehrenamtlich arbeitender Frauen gefragt, nach deren Alter und sozialen Schicht sowie nach der finanziellen respektive versicherungstechnischen Versorgung der Frauen. Das darauf folgende Kapitel widmet sich der am Bahnhof betreuten Klientel. Es werden die ländlichen Zuwanderinnen, die im Fokus der Bahnhofsmissionen standen, aber auch andere betreute Personengruppen vorgestellt. Die Sicht der Bahnhofshelferinnen auf die jungen Zuwanderinnen bleibt Teil der Analyse, so dass ihre Strategien und Selbstinszenierungen, ihre Kooperationen und sozialpolitischen Aufgaben, die sie im städtischen und staatlichen Interesse übernahmen, thematisiert werden können. Gerade an der betreuten Klientel und den von den Bahnhofsmissionarinnen übernommenen Betreuungsaufgaben wird herausgearbeitet, wie letztere ihre Organisation öffentlich legitimierten und sich darüber hinaus eigene Handlungsräume kontinuierlich schufen. 2.1 „Begabung zur Liebe“52: Die Bahnhofsmissionarin „‚Wirklich nur die besten Frauen und Mädchen‘ [sind] zu dem Dienst einer Bahnhofshelferin geeignet“.53

Gegen die häufig geäußerte Auffassung, dass die Bahnhofsmissionen die Rolle des „Aschenputtel[s]“54 unter den Wohlfahrtsorganisationen hätten, für deren Dienst im Grunde jede Person geeignet schien, die christlicher Gesinnung war, sprachen sich einzelne bahnhofsmissionarische Fürsorgerinnen und Pfarrer immer wieder entschieden aus. Die eingangs getroffene Einschätzung, die von Gertrud Müller, der Schriftleiterin der Kommission der Deutschen Bahnhofsmission und ersten Sekretärin des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend, stammte, wurde deshalb von einer anderen Bahnhofsmissionarin noch konkretisiert: „Die Besten sind wertvoll und unentbehrlich, aber sie müssen auch zugleich die Tüchtigsten sein (…) [und] die Begabung zur Liebe“55 besitzen, um den unterschiedlichen Situationen und Personen, denen sie bei ihrer Arbeit am Bahnhof begegneten, gerecht zu werden. Die Bahnhofsmissionarin Frau Behrens sprach hiermit die wichtigste Voraussetzung für eine Tätigkeit bei der Bahnhofsmission an, nämlich die notwendige, feste Verankerung der Mitarbeiterinnen innerhalb der christlichen Religion und das Einhalten des Gebotes der Nächstenliebe. Hermine Bäcker, die Generalsekretärin der 52 (…) Behrens, Heranbildung der Bahnhofsmissionarinnen, in: Die sechste Konferenz des Verbandes der Berufsarbeiterinnen der Inneren Mission der evangelischen Kirche. Berlin 25.–28. März 1913, [Berlin 1913], S. 47–53, hier: S. 48. 53 Zitat von Gertrud Müller, zit. nach: Ebd. 54 Bodo Heyne, Gewinnung, Schulung und Versorgung der Berufsarbeiterinnen der Bahnhofsmission, in: Evangelische Deutsche Bahnhofsmission. Zum Schutz für reisende Frauen, Mädchen und Kinder. Führertagung Mai 1928, Berlin 1928, S. 11–16. 55 Behrens, S. 48.

2. Die Akteure am Bahnhof

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Evangelischen Konferenz für Gefährdetenfürsorge, drückte es so aus: „Bahnhofsmission ist Reichsgottesarbeit“56 – der Hilfe suchenden Person sollte also nicht nur in der Not geholfen werden, sie sollte auch etwas von der Liebe Gottes erfahren. Gefordert war deshalb von den Mitarbeiterinnen, dass sie die Arbeit nicht pflichtmäßig, sondern als „Liebesdienst“57 verrichteten. Bahnhofsfürsorgerinnen, Pfarrer und andere, den Bahnhofsmissionen nahestehende Personen, beklagten jedoch häufig, dass geeignete Frauen für die bahnhofsmissionarische Arbeit schwer zu finden waren. Zu Bedacht bei der Auswahl der Mitarbeiterinnen wurde deshalb immer wieder ermahnt: „Die rechte Bahnhofsfürsorgerin findet man nicht auf der Straße, sondern sie muß lange gesucht werden. Ich warne dringend, allzufrüh müde zu werden bei diesem Suchen. Um der Gestaltung und des Ansehens unserer Arbeit willen ist es heute eine sehr ernste Sache, ob wir wirklich die rechten Kräfte finden“.58

2.1.1 Fähigkeiten, Kenntnisse und Motive der Bahnhofsmissionarinnen Für die bei den Bahnhofsmissionen zur Festanstellung vorgesehenen Kandidatinnen war eine vorherige Ausbildung, idealerweise von einer konfessionellen Frauenfachschule erwünscht, zumindest aber sollten sie eine gute Schulbildung erhalten haben und Berufserfahrung59 besitzen. Aus einer Aufstellung der Berliner Bahnhofsmission über sechs Angestellte wird deutlich, dass Else Damcke, Dorothea Elsner, Sophie Günther, Margarete Schlüter, Elisabeth Weißbach und Emma Schütte vor ihrer Anstellung bei der Berliner Bahnhofsmission entweder als Büroangestellte bei einem konfessionellen Träger der Wohlfahrtspflege oder der freien Wirtschaft gearbeitet haben. Auch als Erzieherinnen sowie Hauswirtschafterin waren sie tätig gewesen. Hierfür hatten sie vermutlich entweder eine kaufmännische, pädagogische oder hauswirtschaftliche Ausbildung durchlaufen. Eine Mitarbeiterin hatte die Höhere Schule besucht.60 Für die Bewerberinnen galt, dass, je solider die Schul- und Berufsausbildung war, desto bessere Positionen konnten sie theoretisch in den Lokalorganisationen oder dem Gesamtverband erlangen. Theodora Reineck hatte als Generalsekretärin des Dachverbandes der Deutschen Bahnhofsmission wohl die höchste Stellung unter den fest angestellten Frauen erreicht. Sie hatte das Gymnasium besucht, sprach mehrere Sprachen und hatte vor ihrer Anstellung bei der Bahnhofsmission im sozial-pädagogischen Bereich als Leiterin eines Waisenhauses gearbeitet. Durch ihre Ausbildung und die Position, die sie damit erlangte, arbeitete sie aber bezeichnenderweise kaum am Bahnhof, da ihre sonstigen Tätig56 Hermine Bäcker, Die Geschichte der Bahnhofsmission, Schreibmaschinenmanuskript [1966], ADW, HGSt 1425. 57 Dienstanweisung für die Berliner Bahnhofsmission, ADW, CA, Gf/St 86, S. 1–25, hier: S. 1. 58 Heyne, S. 11–16. 59 Ebd. 60 Liste der Angestellten der Evangelischen Bahnhofsmission in Berlin 1939, BArch, R 58, Nr. 5693, Blatt 145.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof

keiten allein aus Zeitgründen dies nicht zuließen.61 Frauen, die zur Generalsekretärin oder in andere Leitungsposten aufstiegen – sei es in der Deutschen Bahnhofsmission oder in einer anderen Wohlfahrtsorganisation – waren zahlenmäßig sehr überschaubar. Das lag daran, dass Frauen zwar gute Ausbildungsgrundlagen mitbringen mussten, um sich überhaupt auf höhere Positionen bewerben zu können. Hier kamen sie aber nicht notwendigerweise zum Zug. Männliche Kandidaten wurden ihnen bei Bewerbungen auf Führungspositionen in der Regel vorgezogen. Die ehrenamtlich arbeitenden Bahnhofsmissionarinnen mussten keine festgeschriebenen Ausbildungsvoraussetzungen mitbringen, sie sollten aber, genau wie ihre fest angestellten Kolleginnen, über Fremdsprachen- sowie geografische und stadttopografische Kenntnisse verfügen. Ebenfalls nicht voraussetzend gefordert, aber erwünscht war ein Verständnis der Grundlinien sozialer Arbeit sowie kaufmännischer, juristischer, medizinischer, psychologischer und theologischer Sachverstand.62 Grundkenntnisse in verschiedenen Bereichen waren nötig, weil jede bahnhofsmissionarische Gruppe am jeweiligen Bahnhof Büroarbeiten zu erledigen hatte, weil verarmten Personen durch die Kenntnis der Rechtslage weitergeholfen werden sollte und deren Wohlfahrtsansprüche von den Mitarbeiterinnen verdeutlicht, oder weil verletzte Personen durch Erste Hilfe versorgt und „gefährdete“ Frauen einfühlsam und seelsorgerisch beraten werden sollten. Zur Erläuterung, warum die genannten Fähigkeiten notwendig waren, sollen im Folgenden die bahnhofsmissionarischen Aufgabenbereiche, bei welchen die Bahnhofsmissionen besondere Fremdsprachen- sowie geografische und stadttopografische Kenntnisse forderten, näher beleuchtet werden. Mit ausländischen Reisenden waren die Bahnhofsmissionarinnen täglich befasst. Damit sie diesen kompetent Auskunft erteilen konnten, sah es der jeweilige Arbeitgeber der örtlichen Bahnhofsmission gern,63 wenn die Frauen Kenntnisse in mindestens zwei Fremdsprachen zur Bewältigung der Anforderungen vorweisen konnten. Da häufig nicht genug Bahnhofsmissionarinnen mit Fremdsprachenkenntnissen vorhanden waren, stellten einige Bahnhofsmissionen ihren Mitarbeiterinnen ein Buch zur Verfügung, das die häufigsten Redewendungen in sechs bis acht Sprachen enthielt.64 Wie notwendig wenigstens rudimentäre Fremdsprachenkenntnisse waren, wurde bei internationalen Ereignissen, bei denen noch mehr Ausländer an den Bahnhöfen als zu anderen Zeiten ankamen, deutlich. Als 1910 eine große internationale Konferenz in Berlin stattfand, berichtete die Berliner Bahnhofsmission, dass

61 Vgl. hierzu das Kapitel IV. 2.1.4 (Frauen in der Fachzentrale des Verbandes am Beispiel zweier Protagonistinnen). 62 Behrens, S. 47–53. Vgl. auch Bericht über den ersten Lehrgang der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission am 14.–18. Mai 1926 an das Preussische Wohlfahrtsministerium am 27. September 1926, ADW, CA, Gf/St 89. Vgl. ebenso: Bericht über den zweiten Lehrgang der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission am 8.–11. Oktober 1926, ADW, CA, Gf/St 90. 63 Der Arbeitgeber der Berliner Bahnhofsmissionarinnen war der Verein Wohlfahrt für die weibliche Jugend. 64 Behrens, S. 49.

2. Die Akteure am Bahnhof

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„jeder seine englischen, französischen, italienischen Kenntnisse hervor [holte], für den Stettiner Bahnhof fanden sich auch einige dänisch und schwedisch sprechende Damen, (…) und so konnte vielen die sehr erwünschte und mit großem Dank entgegengenommene Hilfe zuteil werden“.65

Diese Anforderungen blieben nicht nur viele Jahre bestehen, sondern wurden noch forciert. So wurden die Berliner Bahnhofsmissionarinnen zur Vorbereitung auf die Olympischen Spiele 1936 angehalten ihre Fremdsprachenkenntnisse aufzufrischen, um fachkundige Dienstleistungen anbieten zu können. Parallel dazu beschäftigte die Reichsbahn professionelle Übersetzer, die am Bahnhof bereitstanden.66 Ein Grundwissen der in- und ausländischen Landesgeografie brauchten die Bahnhofsmissionarinnen, wenn sie so genannte Umsteigehilfen leisteten, was beispielsweise bei Fragen, die Anschlusszüge betreffend, der Fall war. Da in vielen Fällen nicht genug Zeit blieb, um die geografische Lage des gewünschten Zielbahnhofes des Reisenden zu eruieren, musste die Bahnhofsmissionarin deshalb wissen, oder mindestens eine Vorstellung davon haben, wo das Reiseziel der betreffenden Person lag und welche Züge zu welchen Zeiten dorthin abfuhren. In den Fällen, die über Hilfestellungen am Bahnhof hinausgingen und in den Bereich der nachgehenden Fürsorge fielen, waren darüber hinaus auch stadttopografische Kenntnisse notwendig.67 Die Bahnhofsmissionen hatten eine Brückenfunktion zwischen den vielen verschiedenen Personen, die von ihnen aufgesucht wurden und den Arbeitsnachweisen oder städtischen und konfessionellen Heimen und Obdachlosenasylen sowie den Jugend-, Pflege- und Wohlfahrtsämtern. Entweder wurden sie von obdachlosen oder binnenwandernden Personen um eine Auskunft über die Adressen zuständiger Heime oder Ämter gebeten oder sie ergriffen selbst die Initiative und überwiesen hilfebedürftige Personen an eine der oben genannten Einrichtungen. Der Berliner Oberbürgermeister Sahm68 machte Anfang der 1930er Jahre deutlich, dass die Bahnhofsmissionarinnen auf den Berliner Bahnhöfen hierzu von der Stadt offiziell befugt waren: „Die hilfsbedürftig in Berlin eintreffenden Personen können auf allen Bahnhöfen von den Beamten und den Bahnhofsmissionen, auf der Straße von jedem Polizeibeamten und außerdem von den Pförtnern der Rathäuser in allen Bezirken Auskunft bekommen, wohin sie sich zu wenden haben“.69 Nicht alle Ämter übten jedoch ihre Auskunftspflicht mit der nötigen Sorgfalt aus, so dass hilfsbedürftige Personen statt an städtische Stellen zuweilen an Ministerien verwiesen wurden. Der Berliner Oberbürgermeister Sahm machte deshalb unmissverständlich klar „daß es nicht angeht, Hilfesuchende an 65 Deutsche Bahnhofsmission, 7. Rundschreiben, 1910, DEF, R 2 e, S. 7. 66 Jahresbericht des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission e.V. vom 1. Januar bis 31. Dezember 1936, ADW, CA, Gf/St 93, S. 1; Else Brüggemann, Aus der Arbeit der Berliner Evangelischen Bahnhofsmission. Sommer 1936, in: Evangelische Bahnhofsmission, 49. Rundschreiben, 1937, S. 14–15, hier: S. 14. 67 Behrens, S. 47–53. 68 Der 1877 in Anklam geborene Politiker Heinrich Sahm war Mitglieder der Deutschnationalen Volkspartei und wurde 1931 zum Oberbürgermeister von Berlin gewählt. In dieser Funktion wirkte er am Ausbau der NS-Herrschaft auf kommunaler Ebene mit. Er starb 1939 in Oslo. 69 Schreiben des Oberbürgermeisters Sahm an den Staatsminister Hirtsiefer am 1. Oktober 1931, BArch, R 39.01, Nr. 9257, Blatt 25, S. 1.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof

eine unzuständige Stelle, insbesondere an ein Ministerium zu verweisen oder auch nur durch mißzudeutende Redewendungen zu einem solchen Gesuch zu veranlassen“.70 Auch die Bahnhofsmissionarinnen mussten deshalb über ein profundes Wissen darüber verfügen, welche Einrichtung in dem gegebenen Fall die richtige Anlaufstelle war. Falsche Hinweise über die Zuständigkeiten von Ämtern und anderen städtischen Stellen konnten andernfalls zu Ärgernissen führen, die nicht der entsprechenden Bahnhofsfürsorgerin, sondern möglicherweise der Berliner Bahnhofsmission als Gesamtorganisation zur Last gelegt worden wären. Wie in dem Rundschreiben der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission ausgeführt wurde, gab es zur Erfüllung der unterschiedlichen Bedürfnisse der Reisenden und durch die meist schnell und kurzfristig zu leistenden Hilfen „kein bestimmtes Rezept“.71 Neben den angesprochenen Kenntnissen, die vom Arbeitgeber gewissermaßen „abgefragt“ werden konnten, gab es auch bestimmte Fähigkeiten, die von den Bahnhofsmissionarinnen zwar nicht offiziell gefordert, aber gewünscht wurden und den Helferinnen bei der Bewältigung ihres täglichen Dienstes von Nutzen waren. So erleichterte es die Arbeit erheblich, wenn eine Bahnhofsmissionarin Tatkraft und Entschlossenheit, Flexibilität und besonders Kooperationsbereitschaft mitbrachte, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden. Die bahnhofsmissionarische Arbeit machte kontinuierliche Absprachen zwischen den evangelischen Bahnhofsmissionarinnen und den Mitarbeiterinnen der katholischen Bahnhofsmission sowie der jüdischen Bahnhofshilfe, der Gruppenleiterin des eigenen „Teams“ und den männlichen Mitarbeitern des Bahnhofsdienstes notwendig. So wurde beispielsweise vereinbart, welche Kolleginnen und Kollegen an welchen Zügen zu welchen Tages- und Nachtzeiten bereitstehen sollten, ob eine Bahnhofsfürsorgerin das Bahnhofsmissionszimmer vorübergehend für eine Einzelberatung benötigte, so dass die anderen Mitarbeiter in dieser Zeit den Raum verließen,72 und welche Helferinnen und Helfer welche Reisenden betreuten. Die Bahnhofsarbeit sei deshalb als „Kettendienst zu organisieren bei dem [… es] auf genauestes Hand-in-Hand-Arbeiten“ ankomme.73 Der oftmals hektische Arbeitsablauf profitierte außerordentlich von einer reibungslosen, auf Rücksichtnahme, Respekt und Einverständnis basierenden, Kooperation. Die praktische Zusammenarbeit war jedoch nicht immer so unbeschwert und unvoreingenommen, wie es erstrebenswert gewesen wäre. So gab es durchaus Beispiele, die zeigen, dass evangelische Bahnhofsmissionarinnen Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit mit der katholischen Schwesterorganisation hatten, weil die Protestantinnen bislang den Dienst am Bahnhof alleine bewältigten die katholische Bahnhofsmission als „Konkurrenzunternehmen“ empfanden, das sich „in die Arbeit hineinzudrängen“74 versuche. Selbst die Überlegung, katholischen Helferinnen nur stundenweise den Dienst zu überlassen, wurde abgelehnt, weil „die Gefahr [bestehe], daß die Katho70 71 72 73 74

Ebd., S. 2. Heyne, S. 12. Dienstanweisung für die Berliner Bahnhofsmission, ADW, CA, Gf/St 86, S. 1–25, hier: S. 3. Theodora Reineck, Bahnhofsmission, in: Dünner, S. 118–119, hier. S. 118. Schreiben des Landesvereins für Innere Mission in Hannover an den Central-Auschuss für Innere Mission in Berlin am 30. Oktober 1925, LAH, E 2, Nr. 267, S. 1.

2. Die Akteure am Bahnhof

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liken sofort diese Arbeit übernehmen“.75 Stattdessen äußerten die Protestantinnen nachdrücklich den Wunsch, die Arbeit durch eine Bahnhofsmissionarin, die fest angestellt wurde, ganz in evangelischer Hand zu lassen. Da speziell bei weiterführenden Maßnahmen die Hilfesuchenden nach Geschlecht und Konfession getrennt betreut wurden, war Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft eine unerlässliche Grundlage der bahnhofsmissionarischen Tätigkeit. Warum konnte es für die Bahnhofsmissionarinnen selbst interessant sein die Herausforderung einer Arbeit am Bahnhof anzunehmen? Ein erstes mögliches Motiv war der Altruismus, denn die Arbeit in einer evangelischen Wohlfahrtsorganisation lieferte ein breites Betätigungsfeld für die häufig geforderte Nächstenliebe. Im Zusammentreffen mit immer neuen Personen, die den Bahnhofsmissionarinnen in vielerlei Hinsicht fremd waren, wurde die Nächstenliebe auf die Probe gestellt und konnte gerade deshalb als Herausforderung verstanden werden. Die Bahnhofsmissionarin Frau Behrens drückte das so aus: „Wir B.M. haben immer wieder mit Fremden zu tun, mit neuen Schützlingen, an die wir etwas wenden, in welchem Sinne es auch sein mag; von denen wir oft weder Dank ernten noch irgendeine Frucht unserer Bemühungen sehen. Wie haben wir da die Begabung zur Liebe nötig. Auch manches andere zur Arbeit Wichtige wird sie uns lehren können“.76

Ein weiteres Motiv war gesellschaftspolitischer Natur. Die Verortung im christlichen Kontext ging nämlich häufig mit einem gegen die Sozialdemokratie gerichteten Bekenntnis einher und konnte der Entscheidung für eine konfessionelle Einrichtung zu arbeiten, ebenfalls zugrunde liegen: „In einer sozialdemokratischen Versammlung habe ich mich neulich geschämt, als davon berichtet wurde, was Frauen im Dienste des Umsturzes für Opfer an Geld, Zeit und Kraft zu bringen vermögen. Was jene für den Haß und die Verbreitung des Unglaubens im Stande sind zu leisten, das sollten wir doch mit einem liebewarmen Herzen im Dienst des Glaubens zu tun vermögen!“77

Das dritte Motiv lag in der Beschäftigung selbst, die für viele Frauen einen großen Reiz ausmachte, zumal sie außerhalb der eigenen häuslichen Wände lag. Darüber hinaus beinhaltete der bahnhofsmissionarische Aufgabenbereich eine abwechslungsreiche Tätigkeit, die viele unterschiedliche Fähigkeiten und Konfliktlösungsmodelle erforderte. Die Bahnhofsmissionarin Eva Aleith schildert die Herausforderungen ihres Arbeitsalltags am Bahnhof Zoologischer Garten folgendermaßen: „Wenn man gerade unter zwei Kleinen den Kampf um ein umstrittenes Bilderbuch schlichtet, für die Dame auf dem schnell aufgeschlagenen Ruhebett ein paar Stärkungstropfen aus dem Apothekerschränkchen sucht, während ein gewissenhafter Vater auf das Ausfüllen der weißrosa Erkennungskarte für sein Töchterchen wartet, dann gehört ein gut Teil Ruhe und Konzen-

75 Schreiben der Sekretärin des Central-Ausschußes für die Innere Mission in Berlin Nora Hartwich an Pastor Bode vom Landesverein für Innere Mission in Hannover am 27. November 1925, LAH, E 2, Nr. 267, S.1. 76 Behrens, S. 52f. 77 Wie bekommen wir mehr Helferinnen für die Bahnhofsmission?, in: Deutsche Mädchenzeitung, 40, 1908, S. 31.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof tration dazu, die günstigsten Fahrtverbindungen auf einen Anruf hin schnell zusammenzustellen und telefonisch anzusagen“.78

Wie aus den Aussagen der oben zitierten Bahnhofsmissionarinnen deutlich wurde, konnte die konkrete Arbeit am Bahnhof aus unterschiedlichen Gründen als herausfordernd und abwechslungsreich verstanden und dadurch als Schritt, der aus dem häuslichen Bereich in die städtische Öffentlichkeit führte, gewürdigt werden. Wie jedoch schätzten die Mitarbeiterinnen ihre Möglichkeiten ein, die eigenen Handlungsrahmen durch ihre soziale Tätigkeit bei der Berliner Bahnhofsmission darüber hinausgehend zu erweitern? Durch die bereits in dem vorausgegangenen Kapitel angesprochene Arbeitslokalität, die das bahnhofsmissionarische Tätigkeitsfeld prägte, empfanden manche Bahnhofsmissionarinnen deutliche Grenzen, die ihrem Aufgabenbereich gesetzt waren. Denn der vergängliche Charakter der Bahnhöfe, in denen man sich nur flüchtig begegnete und kurz aufhielt, kennzeichnete die soziale Arbeit: Die Mitarbeiterinnen hatten deshalb in der Regel nur sehr kurzfristig mit den Hilfsbedürftigen zu tun. Die oben erwähnte Bahnhofsmissionarin Frau Behrens sprach deshalb davon, dass die Bahnhofsmissionarinnen häufig keine „Frucht unserer Bemühungen“79 sehen würden. Wiewohl manche Frauen die kontinuierliche Konfrontation mit unbekannten Menschen, die sie nur vorübergehend betreuten, als Herausforderung an die christliche Nächstenliebe verstanden haben, führte genau dieser Aspekt der Arbeit bei anderen Mitarbeiterinnen zu Desillusionierungen. Es war für manche Fürsorgerin nicht immer leicht zu akzeptieren, dass ihre Arbeit durch eine Brückenfunktion gekennzeichnet war, zwischen hilfsbedürftigen Personen einerseits und verschiedenen Ämtern und Stellen der kommunalen, privaten oder konfessionellen Wohlfahrtspflege andererseits. Das bedeutete, dass sich die Bahnhofsmissionarinnen auf ihren Arbeitsbereich am Bahnhof begrenzen und die zu betreuenden Personen in dem Moment abgeben sollten, wenn deren Bedürfnisse die eigenen Kompetenzen überschritten. Vielen Bahnhofsmissionarinnen war dieser vorgegebene „Raum“ zu klein. Pastor Heyne ermahnte die Bahnhofsmissionarinnen deshalb: „Für die weitere Fürsorge sind das Jugendamt, das Pflegeamt, der Wohlfahrtsdienst, die Kirchengemeinde und andere da. Es ist Aufgabe der Bahnhofsmission, diese Stellen zu kennen, ihre Hilfsmöglichkeiten auszunutzen und ihnen ihren Schützling zu überlassen, um wieder frei zu sein für den Dienst auf dem Bahnhof. Was nützt es, dass die Bahnhofsmissionarin in der Stadt herumläuft, was andere Fürsorgestellen auch tun können, während der Bahnhof verwaist ist!“80

Obwohl kurzfristige Hilfen vor Ort also integraler Bestandteil des bahnhofsmissionarischen Alltags waren, versuchten Mitarbeiterinnen zuweilen ihre öffentlichen Räume zu erweitern, indem sie vor allem fürsorgerische Aufgaben übernahmen. Im Gegensatz zur deutschen Sozialpolitik, die gesamtgesellschaftlich wirken wollte, war die (Jugend-)Fürsorge auf den bedürftigen Einzelfall, häufig auch auf die erzie78 Aleith, S. [2–3]. 79 Behrens, S. 52f. 80 Heyne, S. 12.

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herische Besserung des Einzelnen konzentriert,81 was dem Aufgabenbereich der Bahnhofsmissionarinnen prinzipiell entsprach. Schon Gertrud Müller hatte in den Anfangsjahren der Berliner Bahnhofsmission die Mitarbeiterinnen daran erinnert, dass auch und gerade in dem bahnhofsmissionarischen Arbeitsfeld jugendfürsorgerische Aufgaben wahrzunehmen und auszubauen waren: „Dem jeweiligen Falle entsprechend kommt die Bahnhofshelferin in die Lage zu raten, zu begleiten, zu trösten, suchen zu helfen, zu beschützen oder sich auf bloßes ‚Kartenverteilen‘ zu beschränken. Je mehr es ihr den gegebenen Verhältnissen und der eigenen Befähigung nach gelingt Einzelpflege oder Fürsorge zu treiben, desto mehr Segen für das eigne wie für das Herz des Schützlings wird daraus folgen“.82

In der fürsorgerischen Betreuung von so genannten Gefährdeten, aber auch obdachlosen Frauen und Männern, lagen somit die Möglichkeiten Handlungsräume zu erweitern. Die Fürsorge sollte jedoch vorzugsweise am Bahnhof stattfinden, wodurch sich an dem kurzfristigen Hilfehandeln im Allgemeinen nichts änderte. Wollte eine Bahnhofshelferin erzieherische Erfolge sehen, so war es am besten, dass sie die Leitung eines Wohnheims des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend übernahm. Durch fehlende Ausbildungsgrundlagen und durch die Schichtzugehörigkeit vieler Bahnhofsmissionarinnen war das – vor allem im Kaiserreich – nicht immer möglich.83 2.1.2 Anzahl, Versorgung, Alter und schichtbedingter Hintergrund des Personals Die Zahl der ehrenamtlichen Berliner Bahnhofshelferinnen war im Kaiserreich um ein Vielfaches höher als die der fest angestellten Bahnhofsmissionarinnen und unterlag beträchtlichen Schwankungen. Bereits 1896, zwei Jahre nachdem die ersten Frauen ihren Dienst an den Berliner Bahnhöfen aufgenommen hatten, waren 81 Ehrenamtliche aktiv. Um die Jahrhundertwende sank die Zahl auf 50 Helferinnen ab. Da zu Beginn des Ersten Weltkrieges viele Frauen ihr soziales Engagement in den Dienst des „Vaterlandes“ stellten, hatte auch die Berliner Bahnhofsmission einen Zuwachs an freiwilligen Helferinnen, so dass 1914 wieder 90 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen an den Fernbahnhöfen ihre Hilfe anboten.84 Im Vergleich dazu 81 Peukert, S. 53. 82 Fliegende Blätter aus dem Rauhen Hause, 55, 1898, S. 265. 83 Die Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend weisen darauf hin, dass Bahnhofsmissionarinnen auch Heimleiterinnen wurden. Vgl. Achter Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1899, EZA, 7/13475, S. 8. 84 Vgl. Fünfter Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1896, EZA, 7/13475, S. 6; Zehnter Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1901, EZA, 7/13475, S. 17; Vgl. auch 24. Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend zu Berlin 1914, EZA, 7/13476, S. 12; Bettina Hitzer benennt den Tiefstand der ehrenamtlichen Bahnhofshelferinnen mit 70 Frauen im Jahr 1908. Vgl. Hitzer, S. 55. Wie aus dem Jahresbericht von 1901 hervorgeht, lag die Zahl der Ehrenamtlichen um die Jahrhundertwende jedoch noch unter dieser.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof

gab es sehr viel weniger fest angestellte Frauen. 1899, vier Jahre nachdem die ersten Bahnhofsmissionarinnen auf den Berliner Fernbahnhöfen ihren Dienst aufgenommen hatten, waren fünf85 bei der Bahnhofsmission arbeitende Frauen hauptberuflich angestellt, deren Zahl aber im Ersten Weltkrieg wieder bis auf zwei Angestellte abnahm.86 In der Weimarer Republik hatte es tief greifende Veränderungen durch den Ausbau der kommunalen Sozialpolitik wie der Jugend-, Wohnungs- und Gesundheitsfürsorge gegeben, die dazu geführt hatten, sukzessive ehrenamtliche weibliche Kräfte durch Berufsangestellte zu ersetzen.87 Sozialarbeit entwickelte sich zu einem qualifizierten Erwerbsberuf, in dessen Folge auch von den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege, mithin auch von der evangelischen Kirche mehr Frauen besoldet angestellt und fachlich geschult wurden. Die bahnhofsmissionarische Tätigkeit wurde zwar nie zu einem Ausbildungsberuf, der Ausbau sozialer Arbeit ist indes auch an dem sich verändernden Verhältnis von Ehrenamtlichen zu Festangestellten in der Berliner Bahnhofsmission sichtbar, für die 1925 bereits 18 fest angestellte Bahnhofsfürsorgerinnen gegenüber 35 freiwilligen Helferinnen arbeiteten.88 In den darauf folgenden Jahren veränderte sich das Verhältnis zum ersten Mal dahingehend, dass 1928/29 nur noch 15 Ehrenamtliche bei der Berliner Bahnhofsmission waren bei immer noch 18 Festangestellten.89 Damit hatten diese einen geringfügigen Überhang gegenüber den unbezahlt arbeitenden Frauen. Pfarrer Heyne kommentierte diesen Prozess in einem Vortrag 1928: „So ist auch heute für die Bahnhofsmission typisch das Zurücktreten der ehrenamtlichen Helferin vor der hauptamtlichen Berufsarbeiterin“.90 Wurde noch 1931 vom Verband der Deutschen Bahnhofsmission dieser Trend bestätigt und vermerkt, dass die Zahl der „Berufsarbeiterinnen“ in den letzten zwei Jahren zugenommen habe,91 verkleinerte sich nach der nationalsozialistischen Machtübernahme die Gruppe der fest angestellten Mitarbeiterinnen der Berliner Bahnhofsmission kontinuierlich. Diese Entwicklung wurde durch die Finanzpolitik der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt verursacht, die staatliche Bahnhofsfürsorgestellen aufbaute und parallel dazu die Schließung der konfessionellen Organisationen betrieb.92 Obwohl sich das Berliner Landes- und Jugendamt für den Er85 Achter Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1899, EZA, 7/13475, S. 9. Bruno Nikles nennt Helene Schreiber, die 1895 als erste „berufsmäßige Bahnhofshelferin“, eingestellt worden ist. Allerdings arbeitete sie in erster Linie in der Stellenvermittlung des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend. Vgl. Nikles, Soziale Hilfe, S. 39. 86 Der Berliner Verein „Wohlfahrt der weiblichen Jugend“ im Jahre 1915, in: Fürsorge für die weibliche Jugend, 25, 1916, S. 227–231, hier: S. 229. 87 Christoph Sachße, Von der Kriegsfürsorge zum republikanischen Wohlfahrtstaat, in: Röper/ Jüllig, S. 194–205, hier: S. 196ff. 88 Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1925–1927, BDW, C I 2927, S. 1 und S. 15. 89 Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1928–1929, EZA, 7/13477, S. 4. 90 Heyne, S. 11. 91 Theodora Reineck, Stichworte für Notizen über die Evangelische Bahnhofsmission, 15. Dezember 1931, ADW, CA, Gf/St 92, S. 1. 92 Vgl. hierzu das Kapitel Die Berliner Bahnhofsmission und der Dachverband zwischen Zustim-

2. Die Akteure am Bahnhof

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Abbildung 4: Bahnhofsmissionarinnen bei Truppenspeisungen, 1915

halt der evangelischen, lokalen Bahnhofsmission aussprach und staatliche Zuschüsse mit einigen Unterbrechungen gezahlt wurden, war die finanzielle Lage der Berliner Bahnhofsmission prekär, so dass die Mitarbeiterinnenzahl bis 1937 auf elf Festangestellte93 gesunken war. 1939 arbeiteten nur noch sechs Frauen für die Bahnhofsmission und auch diese mussten schließlich entlassen werden. Wie aus Unterlagen deutlich wird, waren die verbliebenen Mitarbeiterinnen zwischen 36 und 59 Jahren alt, unverheiratet und in der Mehrheit zwischen 12 und 19 Jahren bei der Berliner Bahnhofsmission beschäftigt gewesen.94 Wie sah die finanzielle und versicherungstechnische Versorgung der Mitarbeiterinnen der Berliner Bahnhofsmission aus? Die Absicherung der besoldeten Bahnhofsmissionarinnen war im gesamten Betrachtungszeitraum, 1890–1939, unzureichend. Wie Susanne Schatz in ihrer Studie über das Berufsbild und das Selbstverständnis von Frauen in den Anfängen professioneller evangelischer Sozialarbeit ausführt, stand das von Aufopferung, Uneigennützigkeit und Nächstenliebe geprägte Bild der „Berufsarbeiterin“ im Sozialberuf konsequenten Lohnforderungen entgegen.95 Völlig außerhalb jeglicher Besoldung stand die Schar ehrenamtlich arbeitender Frauen. Ihr Engagement und ihre Arbeit blieben unbezahlt und sie blieben dadurch in einem andauernden Abhängigkeitsverhältnis zum Ehemann oder einer anderen sie versorgenden Person. Die fehlende finanzielle Unabhängigkeit mung und politischem Kalkül: Der lange Weg bis zum Ende der Arbeit am Bahnhof 1933– 1939). 93 Schreiben des Vorsitzenden des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend von Bahrfeldt an die Finanzabteilung des Evangelischen Oberkirchenrates am 1. März 1937, EZA, 7/13477. 94 Liste der Angestellten der Evangelischen Bahnhofsmission in Berlin 1939, BArch, R 58, Nr. 5693, Blatt 145. 95 Schatz, S. 160–176.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof

wiederum – um mit Martina Löws raumsoziologischer Theorie zu argumentieren – schränkte ihre (Handlungs-)Räume ein. Obwohl dieser Argumentation prinzipiell Recht zu geben ist, funktioniert sie in diesem historischen Kontext nur bedingt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Unbezahltheit die Arbeit für die Frauen erst akzeptabel gemacht hat. Das bedeutet, dass gerade das Ehrenamt diesen Frauen den Weg ermöglichte überhaupt aktiv zu werden und dadurch öffentliche Räume zu schaffen. Über die Gehälter der wenigen im Kaiserreich fest angestellten Bahnhofsmissionarinnen liegen keine Erkenntnisse vor. Die besoldeten Bahnhofsmissionarinnen wurden jedoch in die pflichtmäßige und die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen in die freiwillige Invaliden- und Krankenversicherung mit einbezogen.96 Ab 1916 wurden die Fürsorgerinnen vom Dachverband der Bahnhofsmission auch unfallversichert. Diese Versicherung galt jedoch nur für Unfälle, die die Bahnhofsmissionarinnen bei Hilfeleistungen an 14- bis 21-jährigen jungen Frauen erlitten hatten. Damit auch darüber hinausgehende Unfälle versichert waren, versuchte der Verband eine Ergänzungsversicherung abzuschließen.97 Der Tätigkeitsbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend informiert darüber, dass er seinen Angestellten im Ersten Weltkrieg durch die entstandenen Teuerungen Kriegsteuerungszulagen zahlte. Hiervon dürften auch einige Bahnhofsmissionarinnen profitiert haben.98 Die finanzielle Absicherung der angestellten Bahnhofsmissionarinnen war jedoch noch in den 1920er Jahren ungenügend. Pastor Heyne wies darauf hin, dass eine befriedigende Bezahlung der Bahnhofsmissionarinnen dringend eingefordert werden müsse.99 Theodora Reineck bezeichnete die Gehälter als „auskömmlich“.100 Bekannt ist, dass eine Bahnhofsmissionarin monatlich 100 Mark (M) beziehungsweise Reichsmark (RM) erhielt.101 Noch 1930 wurde auf der Ausschusssitzung des Dachverbandes der Deutschen Bahnhofsmission diskutiert, ob Gehälter im Krankheitsfalle gekürzt werden dürften. Im Regelfall sollten diese zwar gezahlt werden, allerdings wurde auf die Möglichkeit der individuellen Absprachen mit der jeweiligen Bahnhofsfürsorgerin verwiesen.102 Besonders prekär war die Alterssicherung 96 Vgl. Pauline Gruß, Pflichten und Rechte der Bahnhofsmissionarin, in: Fürsorge für die weibliche Jugend, 7, 1912, S. 202–204, hier: S. 204. 97 Vgl. Protokoll der Kommissionssitzung der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission 1915, ADW, CA, Gf/St 85. Vgl. auch Theodora Reineck, Deutsche Bahnhofsmission, in: Fürsorge für die weibliche Jugend, 25, 1916, S. 90. 98 Tätigkeitsbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1917, EZA, 7/13476, S. 6. 99 Heyne, S. 15. 100 Theodora Reineck, Die Bahnhofsmissionarin, in: Wally Schick (Hrsg.), Frauenberufe in der evangelischen Kirche, Inneren Mission und Wohlfahrtspflege, Berlin 1928, S. 58–61, hier: S. 61. 101 Brief der Sekretärin des Zentralausschusses der Inneren Mission Nora Hartwich an den Landesverein für Innere Mission Hannover z. Hd. Herrn Pastor Bode am 27. November 1925, LAH, E 2, Nr. 267, S. 2. Die Reichsmark war ein Jahr vor Verfassen dieses Briefes, 1924, eingeführt worden. Davor lautete die Währung „Mark“. Die Angabe über die Höhe der gezahlten Gehälter bezieht sich nicht explizit auf Berlin, mag dort aber in etwa dieselbe gewesen sein. 102 Niederschrift der 31. Ausschußsitzung des Verbandes Evangelische Deutsche Bahnhofsmission am 31. Mai 1930, ADW, CA, Gf/St 91.

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der Festangestellten, vor allem derjenigen der ersten Generation, die in den 1920er Jahren in den Ruhestand traten. Für diese war nicht ausreichend vorgesorgt worden. Die Frauen, die zu dieser Zeit jedoch erst angestellt wurden, waren durch die Reichsangestelltenversicherung und die Versorgungskasse der Inneren Mission einigermaßen abgesichert. Der Trägerverein der Berliner Bahnhofsmission richtete zusätzlich noch eine Sparkasse für Angestellten ein, die vor allem für Mitarbeiterinnen im Ruhestand gedacht war.103 Diejenigen unter den Bahnhofsmissionarinnen, die als „Berufsarbeiterinnen“ in einem festen Arbeitsverhältnis standen, konnten im Evangelischen Verband der Wohlfahrtspflegerinnen Deutschlands eine Interessensvertretung und Beratung sowie Hilfestellung zu allen Fragen, die ihre berufliche Tätigkeit betraf, finden. Darüber hinaus strebte der Verband an, für seine Mitglieder wenigstens eine rudimentäre finanzielle Versorgung sicherzustellen.104 Die Voraussetzung für eine Mitgliedschaft war der Status als konfessionell gebundene Sozialbeamtin, die keine rein kirchliche Ausbildung durchlaufen hatte.105 Trotz verbandlicher Strukturen war aber auch die finanzielle Versorgung der Wohlfahrtspflegerinnen keineswegs zufriedenstellend. Die Lohnfrage hing sowohl von der ökonomischen Lage des Trägers der Arbeit als auch von individuellen Absprachen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmerin ab. Der Verband setzte sich zwar dafür ein, dass „die Anstellung 103 Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend Berlin 1925–1927, BDW, C I 2927, S. 8. 104 Der Verband der Berufsarbeiterinnen der Inneren Mission war bereits 1903 von Pfarrer Johannes Burckhardt und seiner Mitarbeiterin Gertrud Müller ins Leben gerufen worden. Obwohl der Verbandsname den Eindruck nahe legt, dass nur fest angestellte Frauen in die Organisation aufgenommen wurden, konnten indes auch ehrenamtlich arbeitende Frauen Mitglieder werden. Der Grund ist in dem Berufsethos der in der „evangelischen Liebesarbeit“ stehenden Frauen zu sehen, nach dem die soziale Tätigkeit eher eine Berufung denn einen Beruf darstellte, für die die bereits weiter oben angesprochene Begabung zur Liebe der Bahnhofsmissionarinnen wichtigste Arbeitsvoraussetzung war. In der Weimarer Republik änderte sich das Profil des Verbandes, so dass Ehrenamtliche ausgeschlossen wurden. Für die Ausführungen zum Verband der Berufsarbeiterinnen der Inneren Mission der Evangelischen Kirche Vgl. Schatz, S. 160–176. Schatz nennt als Gründungsjahr für den Verband 1903, andere Quellen datieren die Verbandsgründung ein Jahr früher, 1902, vgl., Maria Offenberg, Wohlfahrtspflegerinnen, in: Dünner, S. 778–781, hier: S. 780. 105 Eine Wohlfahrtspflegerin hatte beispielsweise folgende Ausbildung: Seit 1920 war die Ausbildung in Preußen einheitlich auf zwei Jahre festgelegt. Dieser schloss sich ein einjähriges praktisches Ausbildungsjahr an, nach dessen erfolgreicher Beendigung die Absolventin die staatlich anerkannte Berufsbezeichnung „Wohlfahrtspflegerin“ tragen durfte. Die Zulassungsvoraussetzungen für eine Ausbildung zur Wohlfahrtspflegerin waren relativ hoch gesteckt. So musste die betreffende Frau entweder ein Lyzeum oder eine Höhere Mädchenschule besucht haben. Volksschulabsolventinnen konnten eben­falls zugelassen werden, mussten dann jedoch eine vorherige „schulwissenschaftliche Vorprüfung“ ablegen. Darüber hinaus wurde als weitere Aufnahmevoraussetzung eine bereits absolvierte fachliche Ausbildung gefordert. Wählte eine Frau während ihrer Ausbildung zur Wohlfahrtspflegerin den Schwerpunkt „Jugendwohlfahrtspflege“, was sich mit Blick auf das bahnhofsmissionarische Aufgabenfeld angeboten hätte, so benötigte sie hierfür eine vorherige Ausbildung als Kranken- oder Säuglingspflegerin. Vgl. Ralph Christian Amthor, Die Geschichte der Berufsausbildung in der Sozialen Arbeit. Auf der Suche nach der Professionalisierung und Identität, Weinheim etc. 2003, S. 350f.

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aufgrund eines festen Arbeitsvertrages [erfolgte]“,106 gleichzeitig räumte er jedoch die Möglichkeit ein, dass die Mitarbeiterin je nach den Mitteln der Kirchengemeinde oder des Trägers auf einen Teil ihres Gehaltes verzichtete und das auch 70 bis 80 Prozent der Bezüge in den einzelnen Gehaltsgruppen akzeptiert werden müssten. Der Verband war sich der strukturellen Ungleichbehandlung angestellter Frauen bei der Inneren Mission durchaus bewusst, da er darauf hinwies, dass den männlichen Kräften kirchlicher Organisationen volle Sätze gezahlt wurden. Das lässt sich an folgendem Vergleich verdeutlichen: Als der Pfarrer Willibald Jaehn Vorsitzender des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend wurde, stellte der Verein ihm eine freie Dienstwohnung zur Verfügung. Trotz finanzieller Engpässe wurde die für 1919 erst vorgesehene Gehaltserhöhung auf 6 500 M Jahresgehalt bereits im Jahr seiner Einstellung, 1916, gezahlt.107 Demgegenüber verdiente die Geschäftsführerin des Dachverbandes Deutsche Bahnhofsmission deutlich weniger als die Hälfte des an Jaehn gezahlten Gehaltes, nämlich 2 400 M jährlich.108 Da der Verband Evangelischer Wohlfahrtspflegerinnen zu keiner Zeit die Angleichung der Lohn- und Arbeitsbedingungen erreichte und es ebenso wenig vermochte, eine übereinstimmende Regelung zur Entlohnung der Beschäftigten staatlicher Träger zu finden, konnte seine Lohnpolitik die unzureichende Bezahlung der Wohlfahrtspflegerinnen nicht verbessern. Der Pädagoge Ralph Christian Amthor schreibt über die Situation von Wohlfahrtspflegerinnen: „In der beruflichen Praxis war die ‚Wohlfahrtspflegerin‘ hingegen fern ab von jeglicher Etablierung, sondern vielmehr mit ungeregelten Beschäftigungsverhältnissen, fehlender Alterssicherung, körperlicher und psychischer Überlastung, schlechter Bezahlung oder Arbeitslosigkeit und damit mit völlig unzumutbaren Arbeitsbedingungen (…) belastet“.109

Damit scheinen sich die Bahnhofsmissionarinnen mit einer Ausbildung als Wohlfahrtspflegerin nicht wesentlich von den anderen angestellten Mitarbeiterinnen der Bahnhofsmission unterschieden zu haben. Eine Weiterqualifizierung zur Wohlfahrtspflegerin hat sich jedenfalls nicht unbedingt finanziell ausgezahlt, wie ein Blick in die Finanzunterlagen des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend für das Jahr 1937 offenbart. Der Verein informierte darüber, dass in jenem Jahr für elf Berufskräfte der Berliner Bahnhofsmission monatlich 1628 RM ausgegeben wurden. Davon erhielt die Mehrheit 150  RM monatlich, eine Mitarbeiterin 208  RM und eine weitere 70 RM. Die unterschiedlichen Sätze hingen vermutlich davon ab, ob die Frau Voll- oder Teilzeit beschäftigt war. Gesondert aufgeführt wurde auch das Gehalt der Wohlfahrtspflegerin Ilse Neidholdt, die als Bahnhofsmissionarin hauptsächlich in der „nachgehenden“ Fürsorge eingesetzt war und ebenfalls 150 RM, so viel wie die Mehrheit der Kolleginnen, monatlich erhielt.110 106 Gesuch der Berufsarbeiterinnen im Kirchlichen Gemeindedienst an alle Evangelischen Landeskirchen, Vgl. Schatz, S. 164. 107 Beglaubigte Abschrift der Berufungsurkunde von Willibald Jaehn am 30. September 1916, EZA, 7/13477. 108 Protokoll der Kommissionssitzung der Deutschen Bahnhofsmission am 10. November. 1915, ADW, CA, Gf/St 85. 109 Amthor, S. 354. 110 Hauhaltsvoranschlag 1937 der Bahnhofsmission, EZA, 7/13477, S. 1. In der Folgezeit sanken

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Die unzureichende Versorgung sowohl der fest angestellten und noch mehr der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen stand in einem auffallenden Gegensatz dazu, dass diesen Frauen durch die Betreuung von in die Städte wandernden Personen eine bedeutende gesellschaftliche Arbeit zugewiesen wurde, die aber nicht adäquat anerkannt und entlohnt wurde.111 Dass sowohl Ressourcen notwendig waren, um öffentliche Räume zu konstituieren, als auch geschlechtsspezifische Strukturprinzipien diese Räume erweiterten oder begrenzten, wird an der ungleichen Entlohnung männlicher Mitarbeiter im Vergleich zu den fest angestellten Frauen deutlich, wobei letztere wiederum zu den Ehrenamtlichen hinsichtlich ihrer finanziellen beziehungsweise versicherungstechnischen Absicherung einen erheblichen Vorteil hatten. Abschließend wird der Frage nachgegangen, Frauen welchen Alters und sozialer Herkunft sich bei der Bahnhofsmission engagierten. Die ersten Mitarbeiterinnen, die auf die Bahnhöfe gingen, waren Frauen aus den Jungfrauenvereinen in Berlin. Das waren nicht mehr ganz junge Frauen, mit Lebenserfahrung und Kenntnissen in der Menschenführung.112 Nachdem der Verein Wohlfahrt Heime in Berlin gegründet hatte, wurden auch Heimbewohnerinnen des Marienheimes I beschäftigt, die insgesamt deutlich jünger waren. Noch im Kaiserreich wurde jedoch ein Mindestalter von 20 Jahren gefordert.113 Überliefert ist für die Berliner Bahnhofsmission, dass von zehn Bahnhofsmissionarinnen, die in den 1920er Jahren eingestellt worden waren, acht Frauen zwischen 32 und 42 Jahren alt waren. Zwei Mitarbeiterinnen waren zum Zeitpunkt ihrer Anstellung 24 und 26 Jahre alt.114 Man hat also auch bei den jüngeren Bahnhofsmissionarinnen das Mindestalter von 20 Jahren eingehalten. Vermutlich bevorzugte man ältere Helferinnen zum einen, weil die Bahnhofsmissionarinnen für die vielen verschiedenen Personen, mit denen sie es am Bahnhof zu tun hatten, eine natürliche Autorität darstellen sollten und eine größere Lebenserfahrung dafür nützlich war. Zum anderen wollte man – speziell mit Blick auf die jungen, ländlichen Zuwanderinnen – auch schützende Funktion übernehmen. Es wäre ganz offensichtlich widersprüchlich gewesen, diese Aufgabe Frauen zu übertragen, die genauso jung waren wie die in Betracht kommende Klientel. Der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend rekrutierte in den ersten Jahren für den Bahnhofsdienst mehrheitlich ehrenamtliche Frauen aus seinen Marienheimen oder den Jungfrauenvereinen,115 bei denen die Frauen aus kleinbürgerlichen die Gehälter kontinuierlich, Vgl. das Kapitel V. in dieser Arbeit (Die Berliner Bahnhofsmission und der Dachverband zwischen Zustimmung und politischem Kalkül: Der lange Weg bis zum Ende der Arbeit am Bahnhof 1933–1939). 111 Schatz, S. 169ff. 112 Hermine Bäcker, Die Geschichte der Bahnhofsmission, Schreibmaschinenmanuskript [1966], ADW, HGSt 1425, Blatt 209. 113 Wie bekommen wir mehr Helferinnen für die Bahnhofsmission?, in: Deutsche Mädchenzeitung, 40, 1908, S. 31. 114 Schreiben des Vorsitzenden des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend von Bahrfeldt an den Oberkonsistorialrat Dr. Duske am 16. August 1937, EZA, 7/13477, Blatt 1. 115 Gertrud Müller, Bilder aus der Bahnhofsmission, in: Der Vorstände-Verband, 4, 1895, Nr. 1, S. 1–3 und S. 10–12, hier: S. 10. Vgl. auch Nikles, Soziale Hilfe, S. 39. Nähere Angaben zum

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Verhältnissen kamen. Wie aus dem oben ausgeführten Schul- und Berufsbildungsprofil der fest angestellten Bahnhofsmissionarinnen hervorgeht,116 hatten auch diese einen kleinbürgerlich geprägten Hintergrund. Vor ihrer Anstellung bei der Berliner Bahnhofsmission hatten sie entweder als Büroangestellte, als Erzieherinnen gearbeitet oder waren als Hauswirtschafterin tätig gewesen. Der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend hätte indes auch gern Töchter großbürgerlicher und adliger Kreise eingestellt. Man vermisste Töchter von Industriellen, höheren Militärs, Wissenschaftlern und Geistlichen. Die Frauen sollten zwar nicht nur an den Bahnhöfen arbeiten, man wollte sie auch für Verwaltungsund Organisationstätigkeiten sowie Leitungsfunktionen, beispielsweise in den Heimen und Erholungshäusern oder einem anderen Arbeitsbereich der Inneren Mission, einsetzen. Für den gesamten Wohlfahrtsbereich, der sich der Arbeit mit und an jungen Frauen widmete, stellte dieses Ansinnen ein großes Problem dar. In der Zeitung des Evangelischen Verbandes, die vor allem die Vereinsleitungen der Jungfrauenvereine und die Berufsarbeiterinnen der Inneren Mission ansprach, wurde deshalb geklagt: „Ach, es ist nicht nur eine seltsame, sondern vielmehr beklagenswerte Thatsache, daß unsere sogenannten gebildeten Töchter mit solchem Eifer vergänglichen Idealen und oft so zwecklosen Aufgaben nachtrachten. (…) Wahrlich, wohin wir uns wenden auf dem großen Gebiet christlicher Liebestätigkeit, überall hören wir denselben Ruf: ‚Ach! Daß die Töchter unserer gebildeten Stände sich so völlig fernhalten! Daß wir sie doch gewinnen, sie dauernd gewinnen könnten für das reiche, köstliche Erntefeld des Herren!‘“117

Der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend hatte deshalb eine „Kommission zur Gewinnung der Töchter gebildeter Stände für christliche weibliche Liebesthätigkeit“ ins Leben gerufen. Diese bot Ausbildungskurse für Frauen an, die in einem Berufsfeld der Inneren Mission arbeiten wollten. Auch hielten Kommissionsmitglieder in höheren Töchter- und Berliner Gemeindeschulen Vorträge über den Aufgabenbereich der Missionsarbeit.118 Häufig wurde die Annahme geäußert, dass sich die „Frauen und Mädchen der höheren Stände für die (…) Rettungsarbeit an den Gefallenen für zu ehrbar und zu schade dazu“ hielten.119 Die Bahnhofshelferin Pauline Gruß jedoch vermutete, dass das Fehlen von Töchtern großbürgerlicher und adliger Kreise an den geringen Entwicklungschancen für Frauen in kirchlichen Arbeitsbereichen lag. Daher regte sie die Möglichkeiten größerer Bildungsangebote und selbständigeren Arbeitens vor allem für junge Frauen an.120 Stimmen wie sozialen Hintergrund der Heimbewohnerinnen Vgl. das Kapitel III. 2.2 dieser Arbeit (Menschen unterwegs: Die Klientel der Bahnhofsmission). 116 Liste der Angestellten der Evangelischen Bahnhofsmission in Berlin 1939, BArch, R 58, Nr. 5693a, Blatt 145. 117 Gertrud Vogel, Wie gewinnen wir unserer gebildeten Töchter dauernd für christliche Liebesarbeit?, in: Fürsorge für die weibliche Jugend, 10, 1901, S. 107–112, hier: S. 108. 118 Vgl. beispielsweise Siebzehnter Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1908, EZA, 7/13476, S. 19f. 119 Henning, S. 369–381, hier: S. 375. 120 Pauline Gruß, Wie gewinnen wir die Töchter der höheren Stände?, in: Fürsorge für die weibliche Jugend, 4, 1912, S. 91–93.

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diese waren jedoch rar. Der Gedanke einer Selbstverwirklichung von Frauen blieb der Amtskirche bis weit ins 20. Jahrhundert fremd. Engagierte und aktive Frauen waren erwünscht, aber nur in dem eng gesteckten Rahmen, den die Kirche ihnen zubilligte.121 2.2 Menschen unterwegs: Die Klientel der Bahnhofsmission Auf welche reisenden Personen trafen die Bahnhofsmissionarinnen an den Bahnhöfen und wem boten sie ihre Dienstleistungen an? Bahnhofsmissionarische Dienstleistungen galten generell für alle reisenden Menschen. Besonders häufig in Anspruch genommen wurden diese von Passagieren, die eine Auskunft benötigten, alten Personen und Menschen mit Behinderungen, die eine Unterstützung suchten, Kindern, die ohne Eltern reisten und betreut werden mussten, Schülern, die nach der Schule auf ihren Zug warteten, oder Personen, die vorübergehend krank wurden, sowie Müttern mit Babys, die gestillt werden sollten und die sich im bahnhofsmissionarischen Zimmer ausruhen wollten. Das fürsorgerische Hauptaugenmerk der Bahnhofsmissionarinnen lag jedoch stets auf jungen ländlichen Zuwanderinnen, die nach Berlin kamen, weil sie eine Anstellung in der Hauptstadt suchten. Es werden in dem nun folgenden Abschnitt die Abwanderungszahlen binnenwandernder Personen, der soziale und geografische Hintergrund von zuwandernden Dienstmädchen, die vor allem im Kaiserreich aber auch darüber hinaus von den Bahnhofsmissionarinnen betreut wurden, sowie deren Abwanderungsmotive und die vorangegangene Vernetzung thematisiert, und diese Erkenntnisse an den Fremdprojektionen von Bahnhofsmissionarinnen und im bahnhofsmissionarischen Umfeld agierender Akteure gespiegelt. Darüber hinaus soll ein Einblick in andere Bevölkerungsgruppen gegeben werden wie blinde Reisende, allein reisende Kinder und, ab den 1920er Jahren, so genannte Fahrschüler. Es wird aufgezeigt, wie die Berliner Bahnhofsmission mit ihrem Dienst kommunale oder staatliche Aufgaben übernahm, was wiederum dem Erhalt der eigenen Organisation diente und Handlungsrahmen ermöglichte oder aufrechterhielt. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang der Anteil, den Einzelpersonen, Personengruppen oder staatliche respektive städtische Organisationen daran hatten, dass Bahnhofsmissionarinnen Räume konstituieren konnten. Darauf wird am Schluss des Kapitels ein Blick geworfen. Ländliche Zuwanderinnen Im Westfälischen Sonntags-Blatt122 erschien im Jahr 1907 folgende Einschätzung ländlicher Berlin-Wanderinnen nach Berlin und der Situation in der sie sich befanden: 121 Götz v. Olenhusen, S. 13f. 122 Das Westfälische Sonntagsblatt war eine der zahlreichen Betheler Publikationen. Die v. Bodel-

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof „Station ‚Friedrichstraße!‘ Dahin lautet ihre Fahrkarte. Nun heißt’s ‚aussteigen!‘ Lautes Menschengewühl ringsum. Und mitten darin steht sie allein. Arme Marie, wie bist Du dahin gekommen und was willst du da? – In einem kleinen Dorfe steht ihr Elternhaus. Darin ist sie in stiller, ernster Zucht aufgewachsen. Der Konfirmandenunterricht ist nicht ohne Segen vorüber gegangen. Sie hat sich auch einige Zeit treu zum Jungfrauenverein gehalten. Aber bald ist sie darin lässig geworden. Das Gebet hat gestockt und ganz aufgehört. Ihr Neues Testament ist immer weniger gebraucht. Dafür ist die Weltlust immer lebendiger geworden, das Fleisch mächtiger als der Geist. Warum nicht zum Tanzboden gehen? Andere ‚ordentliche‘ Mädchen gehen doch auch hin. – Nun kommen von ihrer Freundin die in Berlin eine ‚Stellung‘ hat, Briefe mit glänzenden Schilderungen, wie es dort in Berlin zugeht. Das sei ein Leben! Ganz anders, als in dem alten Neste daheim. Vergnügungen über Vergnügungen. Theater mit so lustigen Sachen, daß man aus dem Lachen nicht herauskäme u.s.w. Sonntags habe man frei, die Herrschaft bleibt bis nach Mitternacht aus, da kann man’s auch. ‚Ich sage dir, hier merkt man erst, was Leben ist. Willst du nicht auch herkommen, zumal es hier so hohen Lohn gibt!‘ Das packt die Marie. Immer größer wird die Lust. Sie muß auch nach Berlin. Die Eltern bitten, warnen, – umsonst. Die Freundin hat versprochen, ihr eine gute Stellung zu besorgen. Ohne der Eltern Segen geht’s aus dem Hause. ‚Weine nur nicht, Mutter, ich will mich schon wahren.‘ Bei völliger Dunkelheit kommt sie an. Wie das alles glänzt und strahlt und wogt und wallt in den hellerleuchteten Straßen! Eine stille Angst steigt doch in ihr auf. Wie sich in der großen Stadt zurecht finden? Aber die Freundin ist ja an der Bahn; sie wird ihr schon zurecht helfen; sie hat sich ja bei ihr mit diesem Zuge angemeldet. Vergebens sucht sie die Freundin. So wird sie von den Ankommenden mit auf die Straße geschoben. Da steht sie nun – allein. Wird sich keiner ihrer annehmen? Wo soll sie die Nacht bleiben? Da eine freundliche Stimme ihr zu Seite: ‚Na, Fräulein, Sie wissen wohl nicht Bescheid hier?‘ Eine ehrbar aussehende Frau steht neben ihr. ‚Ach nein, meine Freundin, die mich abholen wollte, ist nicht gekommen.‘ ‚Na, das tut nichts. Ich will Ihnen schon helfen. Kommen Sie nur mit, ich will sie schon diese Nacht beherbergen und für eine gute Stelle sorgen.‘ Froh, eine so gütige Frau gefunden zu haben, folgt Marie. Der Weg ist freilich weit. Und dazu drei Treppen hoch die Wohnung. Behaglich ist sie nicht. Sie weiß nicht, was ihr ist, aber die Leute gefallen ihr nicht und ihre Reden noch weniger; am folgenden Tage soll sie sich erst ausruhen. Aber abends geht’s in die Lokale. Das Gewissen warnt noch, aber die Lust betört und der Glanz blendet. Noch immer findet sich keine passende Stelle. Das mitgebrachte Geld geht auf die Neige. Die ‚gütigen‘ Wirtsleute strecken vor. Bald ist sie in ihrer Schuld und damit in ihren Händen. Die Schuld aber muß bezahlt werden. Jetzt drängen die Wirtsleute, dazu ist allerlei für städtischen Putz aufgewandt. Sie konnte doch nicht in ihrer ländlichen Tracht in die Hotels gehen. Auch da hatten die Leute vorgestreckt. Woher die Bezahlung nehmen? An wen sich wenden? Unsaubere Reden fallen. Woher haben die anderen Mädchen ihre schönen Kleider und Hüte! Unsittliche Anträge folgen. Sie ist in der Schlinge. Und das Ende? Sünde und Schande, ein geschlagenes Gewissen und ein kranker Leib. Das glänzende Bild der Großstadt in lauter Jammer und Elend zerronnen! Und die Rückkehr in’s Elternhaus? Marie graut vor dem Gedanken. Ist denn nirgends Rettung? Da fällt ihr ein Plakat ein, das sie am Bahnhofe gesehen. Warnung und Bitte an alleinstehende junge Mädchen. Sie sucht die rettende Herberge der Bahnhofsmission auf“.123

In diesem Zitat mischen sich sowohl historische Tatsachen über den Migrationsprozess von in der Großstadt arbeitsuchenden Frauen als auch allgemeine gesellschaftliche Imaginationen, Bilder, Metaphern und Assoziationen über diese Bevölschwinghschen Anstalten Bethel wurden 1867 auf Initiative des rheinisch-westfälischen Provinzialausschuss der Inneren Mission und mit Unterstützung von Bielefelder Kaufleuten in Bielefeld gegründet. 1872 übernahm Pastor Friedrich von Bodelschwingh die Leitung. 123 Station „Friedrichstraße!“, in: Westfälisches Sonntagsblatt für Stadt und Land, 11, 1910, S. 112–113.

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2. Die Akteure am Bahnhof Jahr 1894

1905

1913

1922 1925 1929 1932 1936 1937



1938

Zuwanderer . nach Berlin

Davon Frauen

Anteil Frauen

287.860

123.349

83.551

45,2 %

151.676

47,2 %

184.654

321.036

294.363

42,9 %

339.970 345.054 199.503 263.119

290.603

307.900

139.252

141.280

47,9 %

45,9 %

Tabelle 2: Zusammenstellung der Zuwanderungsdaten nach Berlin.*

[Graue Balkenanteile: Anzahl der Zuwanderinnen insofern Daten vorhanden waren] Abbildung 5: Zuwanderung nach Berlin. * Für die allgemeine Zuwanderung der Jahre 1894/1905/1913 vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 33. Jg., 1912–1915, S. 213. Für das Jahr 1922 vgl. Statistisches Taschenbuch der Stadt Berlin 1924, S. 9. Für das Jahr 1929 vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 7. Jg., 1931, S. 23. Für das Jahr 1932 vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 9. Jg., 1933, S. 19. Für das Jahr 1936 vgl. Statistisches Jahrbuch deutscher Gemeinden, 32. Jg., 1937, S. 412. Für das Jahr 1937 vgl. Statistisches Jahrbuch deutscher Gemeinden, 33. Jg., 1938, S. 412. Für das Jahr 1938 vgl. Statistisches Jahrbuch deutscher Gemeinden, 34. Jg., 1939, S. 331. Für die Zuwanderung von Frauen für das Jahr 1894 vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin 1894, S. 103. Für die Jahre 1905/1913 vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 33. Jg., 1912–1915, S. 214. Für das Jahr 1937 vgl. Statistisches Jahrbuch deutscher Gemeinden, 33. Jg., 1938, S. 412. Für das Jahr 1938 vgl. Statistisches Jahrbuch deutscher Gemeinden, 34. Jg., 1939, S. 331.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof

kerungsgruppe. Wie in der Darstellung erwähnt, kamen viele junge Zuwanderinnen um die Jahrhundertwende entweder aus ländlichen Gegenden, vor allem aus dem ländlich geprägten Umland Berlins, und zählten dadurch zu den so genannten Umlandwanderinnen. Häufig waren sie auch Nahwanderinnen, die zwar ebenfalls aus ländlichen Gebieten abgewandert, jedoch erst mit einem Zwischenaufenthalt in einem Regionalzentrum nach Berlin gekommen waren.124 Die Land-Stadt-Wanderung setzte sich über den Ersten Weltkrieg bis Ende der 1920er Jahre in verringertem Umfang fort, bis dann die Weltwirtschaftskrise die Zahl wandernder Erwerbsloser insgesamt noch einmal sprunghaft ansteigen ließ, diese dann wieder etwas zurück ging und sich ab 1934 die „Landflucht“ schließlich erneut verstärkte Der von der Migrationsforschung oben beschriebene Migrationsverlauf zeigt sich auch an den Zuwanderungszahlen der nach Berlin migrierenden Personen, die in der Tabelle und der Abbildung veranschaulicht werden. Nachdem die Migration nach Berlin im Kaiserreich im Anstieg begriffen war, fiel sie Anfang der 1920er Jahre in etwa auf den Stand von 1905. 1929, nach dem Zusammenbruch der New Yorker Börse, erreichte die Zuwanderung den bis dahin höchsten zahlenmäßigen Umfang, um bis 1932 wieder um knapp die Hälfte abzusinken. Die Zahlen aus dem „Dritten Reich“ belegen, dass die Migration nach Berlin wiederum stieg, wenngleich sie im Jahr 1938 unter der Zahl der Zuwanderung des Jahres 1913 blieb. Der Anteil der Frauen an der Gesamtzuwanderung blieb dabei im Kaiserreich und unter nationalsozialistischer Herrschaft in etwa konstant zwischen 42,9 Prozent und 47,9 Prozent. Es konnten nicht für alle angeführten Jahrgänge entsprechende Zahlen der Zuwanderung von Frauen gefunden werden. Die Abbildung zeigt jedoch, dass das Migrationsverhalten von Frauen in etwa dem Gesamtverlauf folgt. Etwas anders sah die Migrationsstatistik für fernwandernde Frauen aus, die aus den östlichen Reichsgebieten abgewandert waren. Durch die so genannte Ost-WestWanderung verließen viele junge Frauen Schlesien, Pommern, Posen, Ost- und Westpreußen, um in Berlin eine Anstellung zu finden. Die Gruppe der Fernwanderinnen war besonders zu der Zeit, als die ersten Bahnhofsmissionen im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gegründet wurden, sehr groß. Die Fernwanderung aus diesen Gebieten lebte zwar nach dem Ersten Weltkrieg noch einmal auf, kam dann aber Mitte der 1920er Jahre zum Erliegen.125 Wie die Mehrheit der im Kaiserreich abwandernden Frauen, möchte auch die beschriebene Marie als Dienstmädchen in Stellung gehen. Dienstmädchen stamm­ ten überwiegend aus Arbeiter-, Handwerker- und Bauernfamilien, deren Lebensführung sehr häufig von Armut und Unsicherheit gekennzeichnet war. Obwohl länd­ 124 Der hier beschriebene Migrationsprozess kann zwar als Richtschnur für viele ähnlich verlaufene Wanderungswege gelten. Wie Dorothee Wierling in ihren Interviews mit Dienstmädchen jedoch herausarbeitete, gibt es hinsichtlich der Wanderungsrouten dennoch keine Einheitlichkeit, weil es auch Dienstmädchen gab, deren Wanderungsprozess anders verlaufen ist. Vgl. Wierling, Mädchen für alles, S. 67ff. 125 Vgl. Bade, Arbeitsmarkt; Köllmann, Bevölkerungsgeschichte, S. 37; Ders., Bevölkerung, S. 39ff; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des 20. Jahrhundert 1914–1990, München 2003, S. 504; Wierling, Mädchen für alles, S. 25.

2. Die Akteure am Bahnhof

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liche Handwerks- und Bauernfamilien formalen Besitz hatten, konnten sie kein kleinbürgerlich bestimmtes Leben führen, sondern mussten zusätzlich ein Lohnarbeitsverhältnis eingehen, wie das für die proletarisch bestimmte Lebensführung typisch war.126 Aus den Berichten des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend wird deutlich, dass Dienstboten jedoch keineswegs die einzige Berufsgruppe waren, die von der Bahnhofsmission nachgehend betreut wurde. Bis in die 1930er Jahre überwies die Bahnhofsmission vorwiegend Frauen kleinbürgerlicher Herkunft, die als Lehrerinnen, Buchhalterinnen, Telefonistinnen und Kursistinnen127 arbeiteten, an die Heime ihres Trägervereins. Arbeiterinnen, vorwiegend aus dem Textilgewerbe, stellten ebenfalls eine kleine betreute Gruppe dar.128 Maries im Zitat angesprochene Abkehr vom religiösen Alltagsverhalten, wie Beten und Lesen des Neuen Testaments, ist ein Hinweis auf den „gesellschaftlichen Bedeutungsverlust religiöser Deutungssysteme und den Abbau der sozialen Funktion der organisierten Religion“.129 Das Phänomen der Entkirchlichung betraf den Protestantismus weit mehr als den Katholizismus und war in Gegenden mit einem hohen Maß an Industrialisierung und Urbanisierung – wie Berlin – besonders ausgeprägt. Die junge Frau in obigem Zitat hatte zwar noch die Konfirmation empfangen, allerdings zeigte sich in der Inanspruchnahme religiöser Dienstleistungen wie Taufen, Trauungen und kirchliche Begräbnisse – hierzu können auch die Konfirmationen gezählt werden – eher gesellschaftliche Konventionen denn kirchliche Bindungskraft. Der fehlende kirchliche Anschluss verdeutlichte sich auch an der mangelnden Einbindung der Zuwanderinnen in die christlichen Veranstaltungen, zu denen der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend die Zuwanderinnen einlud. In den Anfangsjahren des Vereins wurden neu zugezogene Frauen angeschrieben; als das allerdings nicht den erwünschten Erfolg brachte, begannen Bahnhofsmissionarinnen die jungen Frauen zu besuchen und sie zu christlichen Freizeitgeselligkeiten persönlich einzuladen. Die Erfolgsquote blieb aber auch in den folgenden Jahrzehnten gering. Wie im Zitat erwähnt, kamen viele Nah- sowie Fernwanderinnen durch Mundpropaganda oder durch persönliche Vernetzung, beispielsweise durch den Hinweis einer Verwandten oder durch Gespräche mit einer Freundin, in ihre Stellung nach Berlin. Aber auch die Ortsgeistlichen hatten ein Interesse daran, die Töchter des Dorfes „anständig“ untergebracht zu wissen. Sie nutzten ihre Kontakte in die Stadt, die sie durch ihre Ausbildung oder vorausgehende Berufstätigkeit in einer städtischen Kirchengemeinde gewonnen hatten, und konnten den Eltern daher Adressen

126 Vgl. hierzu, Wierling, Mädchen für alles, S. 25ff. Dass es sich in dem Beispiel um eine junge Frau handelt, die als Dienstmädchen in Stellung gehen möchte, wird deutlich aus der fiktiven Beschreibung des Arbeitsalltages, über den im Zitat von einer Freundin berichtet wird. Demnach könne die Protagonistin, ähnlich der Herrschaft, bis Mitternacht ihren Vergnügungen nachgehen. 127 Unter dem Begriff „Kursistinnen“ wurden in Ausbildung befindliche Frauen gefasst. 128 Vgl. hierzu das Kapitel IV. 2.1.2 dieser Arbeit (Hilfsangebote in der Stadt). 129 Baumann, S. 30.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof

nennen, denen diese Vertrauen schenkten.130 Eine weitere Möglichkeit bestand darin, eine Stellung über eine Vermittlungsagentur, wie sie der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend gegründet hatte, zu finden. In dem Zitat wird der Eindruck vermittelt, dass sich die jungen Mädchen häufig gegen den Willen der Eltern zur Abwanderung entschlossen. Das war jedoch nicht der Fall. Normalerweise verließ die Tochter nicht eigenmächtig ihre Familie, vielmehr wurde in der Regel von der Mutter entschieden, ob die Tochter das eigene Haus verlassen und einen Beruf im Dorf oder in einer nah gelegenen Stadt finden sollte.131 Die Gründe für den Abwanderungsentschluss waren für gewöhnlich sehr viel umfangreicher, als die von Großstadtkritikern häufig beschworenen attraktiven Vergnügungsaussichten, die Berlin zweifellos zu bieten hatte. Dennoch wurden negative wie positive Faktoren vor der Entscheidung sorgfältig abgewogen. So war vor allem die finanzielle Situation der Familie, aber auch der Informationsfluss zwischen bereits abgewanderten Bekannten oder Familienangehörigen und den „Daheimgebliebenen“ für die Entscheidungsfindung von großer Bedeutung.132 Das städtische Leben versprach vielseitigere Arbeitsmöglichkeiten verbunden mit höherem Sozialprestige und, im Verhältnis zur ländlichen Tätigkeit, leichtere Arbeit. Es schreckte aber auch wegen der beängstigenden Anonymität und der möglichen Arbeitslosigkeit ab. Für ein Verbleiben im ländlichen Kontext sprach beispielsweise die Sicherheit des ländlichen Familienverbandes. Die begrenzten Möglichkeiten der Familiengründung auf dem Land erschienen vielen Frauen wiederum kaum viel versprechend. Insgesamt waren das alles Motive, die die Überlegungen von Eltern und Töchtern beeinflussten. Marie betritt Berlin bei Nacht und ist berauscht vom Berliner Straßenleben. Trotz oder gerade wegen des überwältigenden Eindrucks des auch nachts pulsierenden Lebens in Berlin, überfallen sie ein Angstgefühl und Zweifel, ob sie den Herausforderungen der neuen Stadt gewachsen sein oder scheitern wird. Diese Stelle des Zitats fängt die tatsächlichen Sorgen und Gedanken junger Zuwanderinnen sicherlich realistisch ein. Sie gibt jedoch ebenso einen Einblick in die Skepsis zeitgenössischer Kritiker der Großstädte, wie es auch die Bahnhofsmissionen waren. Das Berliner Straßenleben wird als glänzend, strahlend, wogend und wallend beschrieben, weil gerade die Straße das Symbol der modernen Stadt war. In dem Beispiel kommt die junge Frau bei „völliger Dunkelheit“ in Berlin am Bahnhof Friedrichstraße an. Damit war jedoch nicht eine tatsächliche Finsternis gemeint, da die Straßen, laut Zitat, ebenso „hellerleuchtet“ waren. Mit der Metapher der nächtlichen Straße, wurde vor allem ausgedrückt, wie diese mit Verheißungen von Unabhängigkeit, von Selbstbestimmung und etwaigen Grenzübertretungen faszinierte, um so mehr, als die Friedrichstraße im Zentrum eines der Berliner Prostitutionsviertels lag. Waren öffentliche Orte, wie Straßen, Plätze und Parks, Frauen – vor allem wenn sie sich an diesen allein aufhielten – lange Zeit vorenthalten, galt das umso mehr bei Nacht. Deshalb spricht das Zitat die Tatsache, dass die Zugänge in 130 Vgl. Wierling, Mädchen für alles, S. 75ff. Ebenso: Gunilla-Friederike Budde, Das Dienstmädchen, in: Frevert/Haupt, S. 148–175. 131 Wierling, Mädchen für alles, S. 60f. 132 Ausführlich hierzu Krömer, S. 100ff.

2. Die Akteure am Bahnhof

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die Öffentlichkeit für Männer und Frauen unterschiedliches Gefahrenpotenzial bereithalten, berechtigterweise an. Gleichzeitig verdeutlicht die Metapher der Nacht auch den zeitgenössisch geführten weltanschaulichen Disput gegen den Sittenverfall in den Städten, bei dem es den Sittenhütern um die Absicherung ihres gesellschaftlichen Einflusses ging.133 Das Zitat spricht die Beurteilungen der Zuwanderinnen nicht deutlich aus, bringt sie aber latent zum Ausdruck: Danach waren diese leichtsinnig, vertrauensselig und gutgläubig, abenteuerlustig und gefallsüchtig, gottlos, ungehorsam, verführbar, kokett, unerfahren und naiv. Wie die Forschung für die Berufsgruppe der Dienstmädchen aufzeigt, kamen viele junge Frauen tatsächlich mit falschen Vorstellungen und Erwartungen nach Berlin und machten nach Antritt der Stelle einen „Prozess der Desillusionierung“134 durch. Die Hoffnungen hatten jedoch nicht nur mit Arglosigkeit und Unreife zu tun, sondern auch damit, dass Informationen von Freunden und Bekannten über das Leben und Arbeiten in der Stadt die eigene Erfahrung nicht ersetzen konnten. Viele Beschreibungen, mit denen die Bahnhofsmissionarinnen und andere Sittenhüterinnen die jungen Frauen beurteilten, sagten darüber hinaus etwas über deren eigene Wertvorstellungen und Ängste aus. Etwa die Furcht davor, dass die jungen Zuwanderinnen ein Maß an Freiheit und Selbstbestimmung leben könnten, das sie sich selbst nicht zugestanden und das eigene Überzeugungen in Frage stellte. Auch waren die jungen Zuwanderinnen ein Beispiel für das Wagnis, einen neuen Lebensabschnitt beherzt in die eigene Hand zu nehmen und sich dabei die Hoffnung zu bewahren, dass sich eigene Wünsche, beispielsweise hinsichtlich eines späteren Ehemannes, realisieren könnten. Nichtsdestotrotz waren die hier benannten Einschätzungen und Warnungen nicht nur reine Phantasiegebilde, sondern hatten auch eine faktische Basis. In dem Zitat wird Marie, nachdem sie allein gelassen auf dem Bahnhof steht, von einer fremden Frau angesprochen, die ihr Unterkunft und schließlich finanzielle Mittel gewährt. Dadurch bringt sie sich in Abhängigkeit von der Frau und deren ­Ehemann, die sie offensichtlich dem Prostitutionsgewerbe zuführen wollen. Mit diesem Beispiel wird auf ein Kuppeleidelikt hingewiesen. In der Realität war zu unterscheiden zwischen erstens privaten Kupplerinnen und Kupplern, die häufig aufgrund einer finanziellen Zwangslage einzelne Zimmer ihrer Wohnung an Prostituierte vermieteten, und zweitens hauptgewerblichen Vermittlerinnen und Vermittlern, die Frauen in organisierter Form an nationale und internationale Bordelle leiteten. Wie die Historikerin Sylvia Krafft in ihrer Arbeit über Prostitution und Sittenpolizei in München um die Jahrhundertwende aufzeigte, kamen vor allem Frauen, die bereits im Prostitutionsgewerbe arbeiteten, mit Kupplern in Berührung.135 Die Bahnhofsmissionen und die im bahnhofsmissionarischen Umfeld agierenden Organisationen argumentierten jedoch stets mit dem Bild des sittlich-moralisch „unschuldigen“ und „unerfahrenen“ Mädchens, das in die Fänge von Kupplern und Mädchenhändlern geriet. Tatsächlich wurden junge Zuwanderinnen häufig von dubiosen Stellen133 Vgl. Schlör, Nachts. 134 Budde, S. 156. 135 Vgl. Krafft, S. 179ff.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof

vermittlern, schon im Zug oder am Bahnhof angesprochen, was jedoch nicht unbedingt mit Kuppelei gleichzusetzen ist. Mit der Übergeneralisierung136 des Verkupplungsrisikos für diese Frauen, verfestigten sie damit das Bild über Frauen in öffentlichen Räumen.137 Ob alle Bahnhofsmissionarinnen von der Verbindung zwischen Kupplern und „arglosen“ Mädchen tatsächlich überzeugt waren, muss dahingestellt bleiben. Strategisch ließ sich mit dem „unschuldigen“ Mädchen jedoch durchaus argumentieren, da zum Erhalt und Ausbau der Bahnhofsmissionen die Unterstützung von Privatpersonen und Institutionen, die um die Situation junger, alleinstehender Frauen in den Großstädten besorgt waren, enorm wichtig war. Hierbei ließ sich die Tatkraft von Frauen und Männern, die sich in philanthropischen und karitativen Organisationen engagierten, am ehesten aktivieren, wenn es sich um sittlich „reine“ junge Mädchen handelte. In Zeitschriften aus dem Umfeld der Inneren Mission wurden Artikel wie der oben zitierte publiziert, in dem die Beschreibung Angst und Mutlosigkeit vor dem Unvorhersehbaren in der Stadt und vor möglicher Arbeits- und Obdachlosigkeit auslöste und sich langsam zum Sittenverfall und der folgenden Ehrlosigkeit zuspitzte, so dass die Berliner Bahnhofsmission schließlich als Rettungsanker vor der scheinbar unvermeidlichen Katastrophe inszeniert werden konnte. Für die Verankerung des gesellschaftlichen Raumes „Bahnhofsmission“ waren mediale Inszenierungen unabdingbar,138 wobei die Lokalorganisationen als unentbehrliche, städtische Wohlfahrtsorganisationen, die auf einem für die Gesamtgesellschaft wichtigen Bereich tätig waren, präsentiert wurden. Andere betreute Bevölkerungsgruppen Eine Erweiterung der eigenen Gestaltungsräume erfuhren die Mitarbeiterinnen der Berliner Bahnhofsmission durch andere Gruppen, die sie betreuten, besonders deshalb, weil mit zunehmender gesellschaftlicher Verankerung der Bahnhofsmissionen immer mehr Menschen Kenntnis von ihren Dienstleistungen erhielten und besonders die kurzfristigen Hilfen am Bahnhof gern in Anspruch genommen wurden. Alte, kranke, aber vor allem blinde Reisende waren seit der Gründung der Berliner Bahnhofsmission eine intensiv betreute Personengruppe, so dass im Verlauf der Jahrzehnte „die Hilfeleistungen für Blinde einen großen Prozentsatz aller Hilfen der Bahnhofsmission“139 betrugen. Häufig meldete sich die blinde Person vor ih136 Unter „Übergeneralisierung“ versteht die Psychologie voreilige Schlussfolgerungen aufgrund von wenigen früheren Erfahrungen. Das funktioniert nach folgendem Muster: Aufgrund eines Vorfalls wird eine allgemeine Regel aufgestellt, die unterschiedslos auf ähnliche und unähnliche Situationen angewendet wird. 137 Vgl. hierzu das Kapitel III. 3.1 dieser Arbeit (Die Arbeit gegen den „Mädchenhandel“ am Anhalter Bahnhof). 138 Zur Bedeutung von Inszenierungsarbeit und Atmosphären für die Konstitution von Räumen, Löw, Raumsoziologie, S. 204ff. 139 Verband Evangelische Deutsche Bahnhofsmission / Deutscher Nationalverband der katholischen Mädchenschutzvereine, S. 41.

2. Die Akteure am Bahnhof

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rem Eintreffen in Berlin bei der Bahnhofsmission an und wurde dann von einer Mitarbeiterin erwartet. Laut der Dienstanweisung von Berliner Bahnhofsmission und ‑dienst sollten die Mitarbeiterinnen die infrage kommende Person nach ihrer Ankunft nicht nur zu der gewünschten Adresse innerhalb Berlins begleiten, sondern den Weg dorthin als kleine Stadtführung kurzweilig gestalten. Grundsätzlich sollten die Helferinnen besonders sensibel mit blinden Personen umgehen und durften sie niemals auf ihre „Andersartigkeit“ ansprechen, sondern waren angehalten mit ihnen wie mit anderen betreuten Personen zu kommunizieren. Besuchte ein blinder Reisender Berlin häufiger und hatte deshalb mehrfach mit der Bahnhofsmission zu tun, dann wurde darauf geachtet, dass er oder sie immer von derselben Mitarbeiterin betreut wurde. Dieser Umstand führte zu folgendem, unbeabsichtigtem Wortspiel, von dem der Jahresbericht des Dachverbandes der Bahnhofsmission im Jahr 1932 berichtete. Die beidseitige Freude, wenn ein blinder Reisender von einer ihm bekannten Fürsorgerin am Bahnhof betreut wurde, beschrieb eine Bahnhofsmissionarin folgendermaßen: „Das gibt dann immer ein fröhliches Wieder­ sehen“.140 Eine weitere, zunehmend bedeutende Gruppe, derer sich die Bahnhofsmissionarinnen annahmen, waren alleinreisende Kinder, die bereits ab vier Jahren allein auf Reisen geschickt wurden. Wenn Kinder alleine reisten, informierten die Eltern jedoch nicht unbedingt die Berliner Bahnhofsmission über die Ankunft der Schützlinge an einem bestimmten Bahnhof. Stattdessen hängten sie den Kindern ein „Plakat um den Hals, das gewöhnlich Namen und Bestimmungsort angibt, [so] stehen sie [die Kinder, A. M. K.] auf dem Bahnsteig und hoffen jemand wird ihnen weiter helfen. Dieser Jemand ist dann gewöhnlich die Bahnhofsmissionarin, die sich mütterlich solcher Kleinen annimmt, sie nach einem anderen Bahnhof bringt, alles besorgt und dem Schaffner solch kleines Persönchen zur Weiterreise an’s Herz legt“.141

In allen Bereichen bahnhofsmissionarischer Tätigkeit wurden Ausnahmesituationen, wie politische und wirtschaftliche Veränderungen oder Ferienzeiten, sofort spürbar und beeinflussten so auch deren Arbeit mit halbwüchsigen Reisenden. Bereits kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges berichtete die Berliner Bahnhofsmission davon, dass Kinder, die sich in anderen Landesteilen aufgehalten hatten, wahrscheinlich überstürzt nach Berlin zurückgeschickt worden waren. Die Rückkehr der Kinder wurde zwar telegrafisch angekündigt, allerdings waren die Telegramme aufgrund der kriegsbedingten Krisensituation nicht befördert worden, so dass die „Kinderchen des Nachts in dem großen Menschengewühl am Bahnhof, verängstigt und weinend“142 standen. Auch die ökonomisch schwierige Situation nach der Weltwirtschaftskrise beeinflusste den Arbeitsalltag der Bahnhofsmissionarinnen. So betreuten die Helferinnen 1932 insgesamt über 73 000 Kinder, die allein in die Ferien geschickt wurden, da es vielen Familien aus finanziellen Gründen 140 Jahresbericht des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission e.V. 1932, ADW, CA, Gf/St 93, S. 3; Dienstanweisung für die Berliner Bahnhofsmission, ADW, CA, Gf/ St 86, S. 1–25, hier: S. 12f. 141 Evangelische Deutsche Bahnhofsmission, 27. Rundschreiben, 1921, S. 21. 142 Deutsche Bahnhofsmission, 15. Rundschreiben, 1914, S. 4.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof

Abbildung 6: Betreuung alleinreisender Kinder, Ende 1920er Jahre

unmöglich geworden war, einen gemeinsamen Urlaub zu bezahlen. Der Anstieg alleinreisender Kinder führte dazu, dass die Berliner Bahnhofsmission die Hilfe für diese Bevölkerungsgruppe organisierter betrieb, indem sie auf ihren so genannten Kettendienst zurückgriff. Hierbei wurden die Kinder von den Bahnhofsmissionarinnen verköstigt und bis zum Ziel- oder Umsteigebahnhof begleitet, wo eine weitere Kollegin auf die Kinder wartete. Die Schulen und die Presse unterstützten die Bahnhofsmissionen in ihrer Absicht sich der Kinder anzunehmen, indem sie Eltern und andere Interessierte darüber informierten, dass diese Dienstleistung in Anspruch genommen werden konnte.143 Die Bahnhofsmissionen kümmerten sich indes nicht nur um einzelne Kinder, die allein reisten, sondern auch um so genannte Kindertransporte. Das waren Kindergruppen, die in den Ferien aufs Land geschickt und unter der Aufsicht einer Bahnhofsmissionarin im Zug zurück nach Berlin begleitet wurden, wo sie die Eltern am Bahnhof in Empfang nahmen.144 Aus einer Statistik aus dem Jahr 1933 geht hervor, dass im Verlauf des Jahres über 32 000 Kinder, die in Gruppen aufs Land geschickt wurden, durch die Bahnhofsmissionarinnen auf allen Berliner Bahnhöfen betreut wurden, wobei die häufigsten Kindertransporte über den Anhalter und den Stettiner Bahnhof abgewickelt wurden.145 In den 1930er Jahren war sowohl die Einzel- als auch die Gruppenbetreuung von Kindern am Bahnhof so weit gewachsen, dass die Nationalsozialistische Volksfürsorge besonders zu Ferienzeiten auf die Dienste der Bahnhofsmission angewiesen war und mit ihr Hand in Hand arbeitete. Die Bahnhofsmission berichtete im Jahr 1935, dass sich die Kinderbetreuung allein in einem Jahr verdoppelt habe, wodurch die „Helferinnen (…) 143 Jahresbericht des Reichverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission e.V. 1932, ADW, CA, Gf/St 93, S.1. 144 Evangelische Deutsche Bahnhofsmission, 25. Rundschreiben, 1919, S. 26. 145 Dienstanweisung für die Berliner Bahnhofsmission [1933], ADW, CA, Gf/St 86, S. 1–25, Statistikanhang.

2. Die Akteure am Bahnhof

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in den Ferienwochen bis zur Grenze ihrer Leistungsfähigkeit beansprucht wurden“.146 Schließlich mussten zur Bewältigung dieser Aufgabe in vielen Städten zur Ferienzeit zusätzliche Hilfskräfte rekrutiert werden. Eine seit der Weimarer Republik147 ebenfalls kontinuierlich anwachsende und von der Bahnhofsmission zu betreuende Gruppe, waren Schülerinnen und Schüler, die ihren Schulweg mit der Bahn zurücklegten und an den Bahnhöfen längere Wartezeiten von ein bis drei Stunden zu überbrücken hatten. Das bahnhofsmissionarische Angebot zur Betreuung von Schülern nach dem Unterricht wurde offenbar speziell von Eltern als „Erziehungshilfe“148 dankbar begrüßt und deshalb in großem Maße in Anspruch genommen. Manche Bahnverwaltungen stellten zur Betreuung Zimmer zur Verfügung, in denen in den 1930er Jahren bis zu 60 Schüler pro Bahnhofsmission und Tag149 betreut wurden. Den Jugendlichen wurde dadurch die Möglichkeit gegeben „in Gegenwart einer Bahnhofsmissionarin ihre Freizeit nach Schulschluß bis zur Abfahrt des Zuges mit Spiel, Lektüre oder Schularbeiten [zu] verbringen. Hier finden die Jugendlichen Schutz vor den Gefahren, die in einer längeren Wartezeit am Bahnhof oder auf der Straße liegen. – Eine Zunahme der am Bahnhof aufgefundenen Ausreißer und Schulschwänzer lässt erkennen, wie notwendig der im erhöhten Maße ausgeführte Kontrolldienst der Bahnhofshelferinnen ist“.150

Die Unverzichtbarkeit des jugendfürsorgerischen Betreuungsangebots der Bahnhofsmissionen schien sich besonders dann zu bestätigen, wenn die lückenlose Beaufsichtigung schulpflichtiger weiblicher Jugendlicher nicht gewährleistet war. Mit folgendem Beispiel wollten die Bahnhofsmissionen verdeutlichen, dass fehlende Kontrolle zu Herumtreiben und das wiederum zu sittlichen Gefährdungsmomenten führen könne. Dadurch, dass die Bahnhofsmissionen auch im städtischen Interesse handelten und zuweilen polizeiliche Aufgabenbereiche abdeckten, hatten die Bahnhofsmissionarinnen relativ weitgesteckte Befugnisse, auch wenn diese Handlungsrahmen – wie bereits beschrieben – individuellen Fürsorgerinnen nicht weitreichend genug waren. So beschränkten sich die Pflichten der Bahnhofsmissionarinnen nicht nur auf die Betreuung ihrer Klientel am Bahnhof. Bei herumtreibenden weiblichen Jugendlichen wurden auch die Eltern kontaktiert und deren Rückführung ins Elternhaus veranlasst: „Nach Beendigung des Bahnhofsmissions-Dienstes schrillt nachts um 2 Uhr das Telephon in der Wohnung der Leiterin. Eine männliche Stimme meldet, zwei junge Mädchen seien im Ho146 Evangelische Bahnhofsmission, 47. Rundschreiben, 1935, S. 31. 147 Für das Kaiserreich konnten keine Hinweise auf bahnhofsmissionarische Hilfen an so genannten Bahn- oder Fahrschülern eruiert werden. Es ist deshalb davon auszugehen, dass diese Dienstleistung erst in der Weimarer Republik angeboten wurde. 148 Jahresbericht des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission e.V. 1936, ADW, CA, Gf/St 93, S. 1. 149 Bericht der Geschäftsführerin Theodora Reineck über die „Arbeit der Bahnhofsmission und ihre derzeitige Gefährdung durch finanzielle Schwierigkeiten“, 1934, ADW, CA, Gf/St 93, S. 1. 150 Jahresbericht des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission e.V. 1932, ADW, CA, Gf/St 93, S. 2.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof tel X.; die Herren hätten ihren Spaß mit ihnen gehabt, es sei alles bezahlt, und nun wünschten die Herren, daß sie wieder nach ihrem Heimatort R. zu den Eltern zurückkehrten. (…) Alle Bemühungen [der Bahnhofsmission A. M. K.], sie [die Mädchen, A. M. K.] zu erreichen, führten zu keinem Erfolg. Nach zwei Tagen bemerkte die Bahnhofsmissionarin die beiden Rotbemützten – 15 oder 16 Jahre waren sie alt – in der Bahnhofshalle. (…) Nach dem Abend mit den Herren im Hotel X. hatten sie neue Herrenbekanntschaft geschlossen, Lokale besucht und nachts bei den Herren logiert. (…) Es ist selbstverständlich, daß man vonseiten der Bahnhofsmission telegraphisch sofort die Verbindung mit den unglücklichen Eltern aufnahm und ihnen die Kinder zuführte“.151

Das elterliche Bedürfnis nach pädagogischer Betreuung, bei der die Kinder nicht nur gut beschäftigt, sondern auch beaufsichtigt wurden, ist verständlich. Gerade bei weiblichen „Schützlingen“ ging es hierbei besonders darum von der moralischen Norm abweichendes Verhalten zu unterbinden und sittliche Gefährdungsmomente abzuwenden. Es fällt jedoch auf, wie unterschiedlich Eltern sowie Bahnhofsmissionarinnen die Betreuung jugendlicher Schüler beiderlei Geschlechts gegenüber den oben thematisierten alleinreisenden Kindern generell beurteilten. Einerseits reisten bereits kleine Kinder viele Stunden alleine, ohne dass die Eltern die Notwendigkeit sahen, die infrage kommende Bahnhofsmission über die Ankunft ihrer Kinder zu informieren. Andererseits sollten schulpflichtige Jugendliche in der im Verhältnis dazu kurzen Wartezeit bis zum Antritt der Heimreise lückenlos am Bahnhof beaufsichtigt werden, damit die Möglichkeit des Herumtreibens gebannt war und tagelangem Schulschwänzen vorgebeugt wurde. Diese Furcht hatte damit zu tun, dass das Schulschwänzen, seit der „zügellose Jugendliche“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Sozialpädagogik interessant wurde, als ein Phänomen der Jugendverwahrlosung galt. Aufgabe der Jugendfürsorge im Allgemeinen war es deshalb, Kontrolllücken in erzieherischer Absicht zu besetzen. Organisationen, die speziell Jugendpflege betrieben, wurden nun beauftragt, Jugendlichen ein angemessenes Freizeitangebot zu unterbreiten.152 Auch die Bahnhofsmissionen sahen sich als Organisationen mit jugendfürsorgerischen Auftrag und fühlten sich auf den Plan gerufen Jugendliche auf den Bahnhöfen zu beobachten, zu beschäftigen und dadurch häufig in ihrem Freiraum zu begrenzen. 2.3 Zusammenfassende Betrachtung Durch das Engagement für die Berliner Bahnhofsmission traten Frauen aus der Privatsphäre in die städtische Öffentlichkeit und konstituierten individuell neue (Handlungs-)Räume. Wie am Profil der Bahnhofsmissionarinnen sichtbar geworden ist, waren auf den ersten Blick keine zu hohen Hürden zu überspringen, wollte eine Frau als Bahnhofsmissionarin tätig sein. Obwohl eine Anzahl von Fähigkeiten und Kenntnissen vorteilhaft war, um die bahnhofsmissionarische Arbeit zu bewäl151 Verband Evangelische Deutsche Bahnhofsmission / Deutscher Nationalverband der katholischen Mädchenschutzvereine, S. 20. 152 Peukert, S. 55.

2. Die Akteure am Bahnhof

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tigen, gab es keine vorgeschriebene Ausbildung, um für die Organisation aktiv zu werden. Bei näherem Hinsehen jedoch zeigt sich, dass die mitgebrachte Ausbildung durchaus über eine Festanstellung entscheiden konnte, wobei die Art und der Umfang der Ausbildung wiederum für die zu erringende Position innerhalb der Organisation ausschlaggebend sein konnte, wie am Beispiel der Generalsekretärin oder der Leiterinnen von Heimstätten angesprochen wurde.153 Es verdeutlicht sich, dass soziale Ungleichheiten die Konstitution von Räumen ermöglichen oder verhindern. Martina Löw verweist darauf, dass bei der Konstitution von Räumen vier Dimensionen sozialer Ungleichheit unterschieden werden müssen, die sich auf die hier analysierten Kriterien von Ein- und Ausschluss von gesellschaftsspezifischen Räumen bestimmter Personen in der Bahnhofsmission gegenüber anderen beziehen lassen. Danach hängt die Konstitution von Räumen entscheidend von Reichtum, Wissen, Rang und Assoziation ab.154 Eine Ausbildung und damit Festanstellung war somit notwendig, wollte eine Frau durch ihr Engagement und ihre Arbeit auch einen gewissen Grad an finanzieller Unabhängigkeit erringen, was wiederum die Voraussetzung dafür war, neue Räume konstituieren zu können. Wie am Beispiel der Wohlfahrtspflegerinnen thematisiert, brachte eine Assoziation im Evangelischen Verband der Wohlfahrtspflegerinnen nicht unbedingt finanzielle Vorteile, allerdings fand die individuelle Frau hier netzwerkartige Strukturen der Interessensvertretung, was für die Durchsetzung von (Handlungs-)Räumen ebenfalls eine wichtige Voraussetzung war. Zu diesen ungleichen Bedingungen kamen jedoch auch noch die geschlechtsspezifischen, gesellschaftlichen Strukturprinzipien, wodurch die fest angestellten Frauen prinzipiell gegenüber fest angestellten Männern benachteiligt waren. Abschließend soll in diesem Kapitel ein Blick auf die Bedeutung der thematisierten Personen oder Personengruppen für die Konstitution der öffentlichen Räume der Bahnhofsmissionarinnen geworfen werden.155 Zur bevorzugten Betreuungsgruppe der Bahnhofsmissionarinnen gehörten junge Berlinwanderinnen, die vom Land in die Stadt migrierten. Mit zunehmender Institutionalisierung der Berliner Bahnhofsmission, nahmen mehr Menschen die Dienstleistungen der Mitarbeiterinnen in Anspruch, so dass neue Betreuungsgruppen hinzu kamen. Die Fürsorgerinnen betreuten am Bahnhof deshalb nicht nur junge Mädchen, sondern halfen besonders auch Menschen mit Behinderungen, alleinreisenden Kindern und Schüle153 Näheres zu den Generalsekretärinnen und Leiterinnen von Heimen Vgl. die Kapitel IV, 4 (Frauen in der Fachzentrale des Verbandes am Beispiel zweier Protagonistinnen) und IV, 2.1.2 (Hilfsangebote in der Stadt) dieser Arbeit, hier FN 499. 154 Die vier Ebenen beziehen sich 1. auf die Reichtums-Dimension, da die Chancen, Raum zu konstituieren von den Verfügungsmöglichkeiten über soziale Güter abhängt; 2. auf die Wissens-Dimension, da die Raumkonstitution aufgrund von geringerem oder breiterem Wissen eingeschränkt oder begünstigt werden kann; 3. auf die Rang-Dimension, da die soziale Position ebenfalls über die Möglichkeiten entscheidet, Räume konstituieren zu können und 4. auf die Assoziations-Dimension, da Menschen durch Zugehörigkeiten bzw. durch Nicht-Zugehörigkeiten begünstigt oder benachteiligt werden. Vgl. Löw, Raumsoziologie, S. 210ff. 155 In diesem Kapitel wurde die Inszenierung der Berliner Bahnhofsmission in entsprechenden Medien, wie durch das Zitat veranschaulicht, deutlich. Die Analyse der Selbstinszenierung der Medienarbeit, ist jedoch Bestandteil des zweiten Teils dieser Arbeit.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof

rinnen sowie Schülern. Damit ist ein weiteres, wichtiges Kriterium zur Möglichkeit der Konstitution von Räumen durch die Bahnhofsmissionarinnen angesprochen. Deren Raum stellte sich nämlich nicht nur her, weil die Fürsorgerinnen in persona und durch Plakate oder ein bahnhofsmissionarisches Zimmer an den Berliner Fernbahnhöfen präsent waren, sondern auch, weil Menschen über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse den so konstituierten Raum nutzten und sowohl die fiktive Marie als auch Eltern oder staatliche Stellen, beispielsweise in Form der Nationalsozialistischen Volksfürsorge, die Dienste der Berliner Bahnhofsmission in Anspruch nahmen. Die Synthetisierung156 und Nutzung gesellschaftlicher Räume durch die thematisierten Akteure war somit unverzichtbare Voraussetzung dafür, dass die Berliner Bahnhofsmissionarinnen ihre öffentlichen Räume erhalten und ausbauen konnten. 3. „Die auf dem Bahnhof nur lose geknüpften Fäden . zu festen Banden schlingen“157: Die Arbeitsgebiete und Kooperationen der Berliner Bahnhofsmission Wie in dieser Zitatzeile, die aus der Feder von Pfarrer Willibald Jaehn, dem dritten Direktor des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend stammt, deutlich wird, sollten die Berliner Bahnhofsmissionarinnen ihre zu den Zuwanderinnen „lose geknüpften Fäden“ zu „festen Banden schlingen“. Damit sprach Jaehn an, dass die Aufgaben der Bahnhofsmissionarinnen zuweilen weit über Reisedienstleistungen am Bahnhof hinausgingen und sich auf den Bereich der Jugendfürsorge, vor allem für junge Zuwanderinnen, ausdehnten. Der Bahnhof diente hierbei der ersten Kontaktaufnahme zu den zuwandernden Frauen, die man anschließend innerhalb Berlins weiterhin betreuen wollte. Um „feste Bande schlingen“ zu können und hierbei einen umfassenden Schutz für die jungen Frauen zu gewährleisten, ging die Berliner Bahnhofsmission mit unterschiedlichsten Institutionen Kooperationen ein. Die Bahnhofsmissionen sollten sich dadurch zweckmäßig in den Rahmen der wohlfahrtspflegerischen Gesamtarbeit einfügen, wie auf Tagungen oder in wohlfahrtspflegerischen Zeitschriften immer wieder hervorgehoben wurde. Einerseits wird dadurch der Anspruch der Bahnhofsmissionen, eine Wohlfahrtsorganisation mit jugendfürsorgerischen Aufgaben zu sein, sehr deutlich; andererseits werden auch die Handlungsräume der Bahnhofsmissionarinnen im öffentlichen Raum Berlins aufgezeigt, weil sich die vielen unterschiedlichen Tätigkeiten und Aufgabenfelder der Bahnhofsmissionarinnen – aber auch deren Grenzen – verdeutlichen. In den folgenden drei Unterkapiteln werden durch die Zusammenarbeit der Berliner Bahnhofsmission und ihrer Mitarbeiterinnen mit verschiedenen Organisationen an unterschiedlichen Bahnhöfen die Faktoren, die zur Raumkonstitution am Bahnhof und in der Stadt beitrugen, sowie die Aushandlungsprozesse um um156 Damit meint Martina Löw die Verknüpfung der umgebenden sozialen Güter und Menschen zu Räumen. Vgl. Löw, Raumsoziologie, S. 158ff. 157 Willibald Jaehn, Gegenwart und Zukunft der deutschen Bahnhofsmission, in: Die Innere Mission im evangelischen Deutschland, 14, 1919, 7. Heft, S. 193–204, hier: S. 200.

3. Die Arbeitsgebiete und Kooperationen der Berliner Bahnhofsmission

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kämpfte Räume herausgearbeitet und dadurch Rückschlüsse auf den Wirkungskreis der Berliner Bahnhofsmissionarinnen ermöglicht. Die Zusammenarbeit mit drei sehr unterschiedlichen Organisationen werden hierbei an drei ausgewählten Bahnhöfen vorgestellt. Obwohl Kooperationen auch an anderen Bahnhöfen stattfanden, waren die Bahnhofsmissionarinnen je nach Bahnhof mit unterschiedlicher Klientel und dadurch Schwerpunktsetzung befasst, wodurch die analysierte Zusammenarbeit an bestimmten Bahnhöfen effektiver veranschaulicht werden kann als an anderen. Ferner werden durch die Präsentation dreier im Stadtgebiet verteilter Bahnhöfe sowohl unterschiedliche Stadtmilieus als auch ein genauerer Einblick in das Berliner Bahnhofsleben lebendig veranschaulicht. Gestützt werden die Ausführungen jedes Kapitels durch eine bahnhofsmissionarische Statistik aus dem Jahr 1933, die in umfassender Weise die verschiedenen betreuten Personengruppen und Dienstleistungen der Berliner Bahnhofsmission an den Berliner Fernbahnhöfen vergleichend erfasst. 3.1 Die Arbeit gegen den „Mädchenhandel“ am Anhalter Bahnhof Sich des Problems des „Mädchenhandels“ anzunehmen, war ein zentrales Gründungsanliegen der Berliner Bahnhofsmission. Johannes Burckhardt, der Vorsitzende des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend, hatte bereits frühzeitig darauf hingewiesen, dass es notwendig sei Missionen an Häfen und Bahnhöfen einzurichten, da diese Orte die größten Umschlagplätze für Frauen- und Kinderhandel seien.158 Als sich zum Zweck der Eindämmung des Frauenhandels das Internationale Komitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels 1899 in London bildete, war auch die Berliner Bahnhofsmission durch Gertrud Müller vertreten, die dort die Arbeit 158 Die Aufgaben der Nationalkomitees. Referat von Pfarrer Burckhardt auf dem zweiten Internationalen Kongress zur Bekämpfung des Mädchenhandels in Frankfurt/Main am 8. und 9. Oktober 1902, GStA PK, I HA, Rep. 77, Tit. 423, Nr. 31, ADH 3, Bd. 1, S. 4. Die Bedeutung der Kontrollfunktion der lokalen Bahnhofsorganisationen wurden auch in zwei der vier zwischen 1904 und 1933 vom Völkerbund geschlossenen Abkommen gegen Mädchen- bzw. Frauenhandel hervorgehoben: Mit dem 1904 geschlossenen „Abkommen über Verwaltungsmaßregeln zur Gewährung des wirksamen Schutzes gegen Mädchenhandel“ wurden die unterzeichnenden Staaten verpflichtet eine Behörde einzurichten, deren Aufgabe es sei, „Auskünfte über die Anwerbung von Frauen zum Zwecke der Verkupplung“ zu sammeln. Deutschland richtete hierfür die Zentralpolizeistelle zur Bekämpfung des Mädchenhandels in Berlin ein, die kurze Zeit später deutschlandweit etabliert wurde. Die Bahnhofsmissionen wurden in der Übereinkunft angewiesen, nicht näher spezifizierte Überwachungsdienste an den Bahnhöfen einzurichten. Vgl. Viadrina International Law Project. Ein Projekt des Lehrstuhls für Öffentliches Recht insbesondere Völkerrecht, Europarecht sowie ausländisches Verfassungsrecht. Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder 2002. http://www.vilp.de/framed11.htm Stand Dezember 2006. In der 1921 geschlossenen „Internationale[n] Übereinkunft zur Unterdrückung des Frauenund Kinderhandels“ wurde Menschenhandel mit Kindern beiderlei Geschlechts unter Strafe gestellt. Darüber hinaus wurde die Relevanz der Bahnhofsmissionen erneut hervorgehoben, indem die Bedeutung von Kontroll-, Schutz- und Informationsmaßnahmen am Bahnhof betont wurde. Vgl. Internationale Übereinkunft zur Unterdrückung des Frauen- und Kinderhandels, Schlussakte VIII., Viadrina International Law Project, Dezember 2006.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof

der Bahnhofsmissionen und anderer Fürsorgeeinrichtungen für weibliche Jugendliche vorstellte.159 Fortan arbeitete die Berliner Bahnhofsmission mit dem Deutschen Nationalkomitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels, das sich unter dem Dach des Internationalen Bundes gegründet hatte, eng zusammen. Dieses Kapitel nimmt die Zusammenarbeit zwischen der Berliner Bahnhofsmission und dem Deutschen Nationalkomitee sowie den über Netzwerke geschaffenen, öffentlichen Raum in den Blick. Erstens wird das Deutsche Nationalkomitee vorgestellt und die Zusammenarbeit mit der Berliner Bahnhofsmission verdeutlicht. Zweitens wird die praktische Arbeit der Bahnhofsmissionarinnen gegen Stellen vermittelnde Personen am Anhalter Bahnhof geschildert. Die Positionen hier­ über, was unter „Mädchenhandel“ im Einzelnen zu verstehen war und ob Stellenvermittler dazu gerechnet werden konnten, gingen unter den an den Debatten beteiligten Personen, Organisationen und städtischen wie staatlichen Stellen stark auseinander. Drittens werden deshalb die Aushandlungsprozesse zwischen diesen Akteursgruppen und deren unterschiedliche Standpunkte analysiert. Durch das Gesetz über die Arbeitslosenvermittlung und Arbeitslosenversicherung wurden private Vermittlungstätigkeiten in Preußen schließlich verboten. In einem vierten Schritt wird danach gefragt, wie die Tätigkeit der Bahnhofsmissionarinnen am Anhalter Bahnhof nach dem Gesetz gegen Stellenvermittler aussah. Hielten das Deutsche Nationalkomitee, die Berliner Bahnhofsmission und der Dachverband die Arbeit gegen den Mädchenhandel noch für nötig? 3.1.1 Der Deutsche Zweig des Internationalen Komitees zur Bekämpfung des Mädchenhandels Das Deutsche Nationalkomitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels hatte seinen Sitz in Berlin160 und operierte lokal, national und international, um einem vermuteten oder tatsächlich existierenden Frauenhandel entgegenzuarbeiten. Besonders die Existenz der privaten beziehungsweise gewerbsmäßigen Stellenvermittler an den Bahnhöfen machten der Berliner Bahnhofsmission und dem Nationalkomitee Sorgen, weil man davon ausging, dass diese ahnungslosen Frauen dubiose Stellen im In- und Ausland vermittelten und dadurch dem „Mädchenhandel“ Vorschub leisteten. Da es bis zum Ersten Weltkrieg keine einheitliche arbeitsmarktpolitische Strategie in Deutschland gab, existierten im Kaiserreich sowohl gewerbsmäßige Arbeitsvermittlungen als auch karitative Arbeitsnachweise und öffentliche Stellenvermittlungen nebeneinander. Gewerbsmäßige Stellenvermittler wurden zwar bereits

159 Gertrud Müller, Internationale Bekämpfung des Mädchenhandels, in: Fürsorge für die weibliche Jugend, 8, 1899, S. 153–155, hier: S. 154. 160 Die meiste Zeit befand sich das Büro in den heutigen Berliner Bezirken „Mitte“ und „Wedding“, in den ersten Jahren beispielsweise in der Bernauer Straße 4 in der Oranienburger Vorstadt. Damit war es geografisch in unmittelbarer Nähe der Zentralstelle des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend und dem Büro der Berliner Bahnhofsmission.

3. Die Arbeitsgebiete und Kooperationen der Berliner Bahnhofsmission

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1910 unter schärfere Aufsicht gestellt,161 es dauerte jedoch Jahrzehnte bis diese schließlich verboten wurden. Das Deutsche Nationalkomitee kontrollierte deshalb besonders die Stellenvermittlungsbüros, holte aber auch Informationen über Berufsmöglichkeiten für junge Frauen im Ausland ein, beriet Eltern, die ihre Töchter vermissten, und verfasste Kongressberichte oder organisierte Konferenzen sowie Vortragsreisen. Darüber hinaus unterhielt das Nationalkomitee ein Nachrichtenbüro in Berlin, das die Zeitungsartikel der in- und ausländischen Presse hinsichtlich der Informationen zum Frauenhandel prüfte und auswertete. Weiterhin wurde die Presse mit Nachrichten des Nationalkomitees gespeist, um die Leser von ihrer Arbeit zu informieren, aber auch, um auf diesem Weg die Mitarbeit der Bevölkerung zu gewinnen. Für diese Aufgabe ging die Organisation Kooperationen mit deutschen und ausländischen, staatlichen und privat organisierten Einrichtungen ein. So war das deutsche Nationalkomitee durch die regelmäßige Teilnahme an und durch die Veranstaltung von Konferenzen in regem Austausch mit anderen Nationalkomitees, die dem Internationalen Bündnis angehörten. Weiterhin arbeitete die Organisation mit der deutschen Regierung, dem Preußischen Innenministerium, der Berliner Zentralpolizeistelle zur Bekämpfung des Mädchenhandels, den städtischen Pflegeämtern und einer Vielzahl von Vereinen der freien und konfessionellen Wohlfahrtspflege, die dem Nationalkomitee angeschlossen waren, zusammen. Dadurch entstand ein deutschlandweites Netzwerk von Organisationen, welche dem „Mädchenhandel“ entgegen arbeiten wollten.162 Zur Zusammenarbeit mit der Berliner Bahnhofsmission kam es auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Auf der administrativen Ebene war die Bahnhofsmission für das Deutsche Nationalkomitee bedeutsam, weil sie die Organisation personell und organisatorisch betreute und unterstützte.163 So waren Vorsitzende und (General‑) Sekretärinnen sowohl des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend als auch des Dachverbandes der Deutschen Bahnhofsmission im Deutschen Nationalkomitee aktiv.164 Auf der praktischen Ebene arbeiteten die Berliner Bahnhofsmissionarin161 Anselm Faust, Arbeitsmarktpolitik in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert: die Arbeitsvermittlung im Wechsel arbeitsmarktpolitischer Strategien, in: Klaus J. Bade (Hrsg.), Auswanderer, Wanderarbeiter, Gastarbeiter, Ostfildern 1984, S. 215–230. 162 Teil dessen war unter anderem der Caritasverband für das katholische Deutschland, das Jüdische Zweigkomitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels, die Konferenz der Leiter von Asylen, Frauenheimen und Zufluchtsstätten und die Internationale Abolitionistische Förderation. Vgl. Anne Dietrich, Das Deutsche Nationalkomitee zur Bekämpfung des internationalen Mädchenhandels, in: Tübinger Projektgruppe Frauenhandel (Hrsg.), Frauenhandel in Deutschland, Bonn 1989, S. 60–86, hier: S. 66. Weiterhin gehörten dazu die evangelischen Einrichtungen: der Zentralausschuss für Innere Mission, der Verband der evangelischen Jungfrauenvereine und der Reichsverband der Deutschen Evangelischen Bahnhofsmission. Vgl. Enzyklopädisches Handbuch des Kinderschutzes und der Jugendfürsorge, Begriff „Mädchenschutz“, Leipzig 1930, S. 460–462. Vgl. auch Deutsches Nationalkomitee (Hrsg.), Bericht über die siebte Deutsche Nationalkonferenz zu Internationaler Bekämpfung des Mädchenhandels zu Leipzig am 15. und 16. November 1909, Berlin 1909, S. 6–14. 163 Nikles, Soziale Hilfe, S. 53. 164 So war Johannes Burckhardt, der erste Vorsitzende des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend und auch der stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Nationalkomitees. In dieser

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof

nen dem Deutschen Nationalkomitee zu und sorgten dafür, dass die Direktiven des Nationalkomitees auf den Bahnhöfen umgesetzt wurden.165 3.1.2 Der Anhalter Bahnhof als Dunkel- und Gefahrenzone Der Anhalter Bahnhof lag südlich des Askanischen Platzes zwischen Möckern- und Schöneberger Straße und war ein repräsentativer Prachtbau. Der im romanischen Stil erbaute, hellgelb leuchtende Ziegelrohbau ähnelte im Aufbau einer Basilika und wies einen von 18 Säulen gestützten Arkadeneingang auf. Der Fußboden bestand aus farbig bemalten Fliesen und an der Decke der Vorhalle hingen schwere Kandelaber aus Goldbronze an dicken Ketten. Vor der Eingangshalle befand sich die Droschkenunterfahrt, die Reisenden aber auch Obdachlosen vor Wind und Wetter Schutz bot.166 Funktion wurde er von Gertrud Müller, der Sekretärin des Vereins Wohlfahrt und Schriftleiterin des im Entstehen begriffenen Dachverbandes der Deutschen Bahnhofsmission, unterstützt. Gertrud Müller übernahm für einige Zeit das Amt der zweiten Schriftführerin im Vorstand des Deutschen Nationalkomitees. Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung des Deutschen Nationalkomitees am 2.11.1901, ADW, CA, Gf/St 158 und Protokoll der Vorstandssitzung des Deutschen Nationalkomitees am 18.1.1902, ADW, CA, Gf/St 158. Außerdem nahm sie auf verschiedenen Treffen und Tagungen zum Frauenhandel für das Nationalkomitee teil. Vgl. das auf der siebten Deutschen Nationalkonferenz gehaltene Referat: Gertrud Müller, Die Bahnhofsmission, ein wichtiger Faktor gegen den Mädchenhandel, in: Deutsches Nationalkomitee, S. 49–60. Ihre Nachfolgerin, Theodora Reineck, die 27 Jahre lang die Geschäftsführerin des Dachverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission war, rückte in den engeren Vorstand des Deutschen Nationalkomitees auf. Sie wurde zuerst zur stellvertretenden und ab 1939 zur ersten Schriftführerin gewählt. In dieser Funktion nahm sie an vielen Kongressen über Frauenhandel teil. Vgl. Deutsches Nationalkomitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels. Geschäftsbericht für das Jahr 1926, GStA PK, I HA, Rep. 77, Tit. 423, Nr. 31, ADH. 3, Bd. 4, S. 2. Im „Dritten Reich“ war auch Pastor Thöldtau zeitweise im Vorstand des Deutschen Nationalkomitees. Vgl. Verhandlungsniederschrift über die Vorstandssitzung des Deutschen Nationalkomitees zur Bekämpfung des Mädchenhandels am Mittwoch, 27. Juni 1934, BArch, R 8075, Nr. 1, Blatt 191– 210, S. 1–6. Für die Bahnhofsmission war Thöldtau auf lokaler Ebene als Geschäftsführer des Trägervereins der Berliner Bahnhofsmission aktiv und im überregionalen Zusammenhang – in der vormaligen Position Theodora Reinecks – als kommissarischer Leiter der Reichsgeschäftsstelle der Evangelischen Bahnhofsmission. Vgl. Schreiben des Vorstandsvorsitzenden der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission, Otto von Kameke, an die Ausschußmitglieder, die Unterverbände des Reichsverbandes und an sämtliche Bahnhofsmissionen, 31. Dezember 1936, ADW, CA, Gf/St 92, Blatt 89. 165 Neben der weiter unten aufgeführten Tätigkeit gegen Stellenvermittler an den Berliner Bahnhöfen, wandten die Bahnhofsmissionarinnen zuweilen auch unkonventionelle Methoden an. Um dubiose Stellenvermittler der Schleppertätigkeit zu überführen, stellten sich Bahnhofsmissionarinnen als „Lockvögel“ zur Verfügung, indem das Foto einer der „jüngsten und hübschesten Damen der Bahnhofsmission“ an den Stellenausschreibenden gesandt wurde. Die Fürsorgerin fand sich zu einem fingierten Einstellungsgespräch ein und der mutmaßliche Schlepper wurde danach gegebenenfalls von der Polizei verhaftet. Zit. in: Dietrich, Das deutsche Nationalkomitee, hier: S. 65. 166 Peter Kliem / Klaus Noack, Berlin Anhalter Bahnhof, Frankfurt/Main etc. 1984, S. 19.

3. Die Arbeitsgebiete und Kooperationen der Berliner Bahnhofsmission

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Abbildung 7: Der Anhalter Bahnhof um 1910

Am Anhalter Bahnhof kamen Reisende sowohl aus süd-südwestlich von Berlin gelegenen Reichsgebieten als auch aus südlichen Ländern an. Viele Nahwanderinnen, die zur Zielgruppe der Bahnhofsmission gehörten, reisten aus Thüringen und Sachsen an und ausländische Touristen kamen aus Ländern wie Italien und Griechenland. Bei ihrer Ankunft am Anhalter Bahnhof fanden sie sich in einer großen Metallhalle wieder, welche die sechs Bahnsteig- und zwei Zwischengleise des Kopfbahnhofes überspannte. Wie aus dem Grundriss des Anhalter Bahnhofs ersichtlich ist, waren die Wartesäle, die Toiletten, das Telegrafenamt und die Räume für den Stationsdienst alle auf einer Seite der Hallenwand untergebracht.167 Obwohl seit dem Kaiserreich auf dem Bahnhof tätig, ist unklar, seit wann und wo die Bahnhofsmission Räumlichkeiten am Anhalter Bahnhof hatte.168 Ein zu den Bahnsteigen nahe gelegenes Zimmer wäre sinnvoll gewesen, da die Bahnhofsmissionarinnen bestrebt waren ihre Klientel direkt am Bahnsteig abzuholen, anzusprechen oder Flugblätter auszuteilen.169 Dadurch, dass sie die Reisenden, vor allem die jungen Frauen, direkt am Zug in Empfang nahmen, verloren sie diese im Gedränge nicht aus den Augen. Sie hofften, dass es somit zu weniger heiklen Situationen, bei denen die anreisenden Frauen von Stellenvermittlern oder Schlep167 Ebd., S. 26. 168 Für die Zeit der Weimarer Republik ist nachgewiesen, dass die Bahnhofsmission auf dem Bahnhof ein Büro hatte. Vgl. Dienstanweisung für die Berliner Bahnhofsmission [1933], ADW, CA, Gf/St 86, S. 1–25, hier: S. 2. 169 Dass es für die Bahnhofsmission wichtig war über Räume zu verfügen, die gut zu erreichen und wenig abgelegen waren, verdeutlicht ein Brief der Berliner Konferenz für kirchliche Bahnhofsmission an die Bahnmeisterei am Anhalter Bahnhof, 17. September 1947, LAB, A Rep. 080, Nr. 50197.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof

Abbildung 8: Grundriss des Anhalter Bahnhofs um die Jahrhundertwende

pern angesprochen wurden, kommen konnte. Gerade am Anhalter Bahnhof gab es weitläufige Gänge in unterirdischen Hallen, die von der Polizei weniger gut zu kontrollieren waren. Darüber hinaus existierte seit den 1920er Jahren der Excelsior Tunnel, der die Fahrgäste, ohne dass sie den Bahnhof verlassen mussten, zum gegenüberliegenden Excelsior Hotel führte. In dem bahnhofsarchitektonisch weltweit einmaligen Bauwerk war eine unterirdische Ladenstraße integriert, wo Reisende rund um die Uhr Lebensmittel, Textilien, Blumen, Schreibwaren, Bücher und andere Dinge kaufen konnten.170 Diese Exklusivität konnte unter sicherheitstechnischen Aspekten jedoch den Nachteil haben, dass sie zu weiterer Unübersichtlichkeit führte, da man in der Menschenmenge, die sich in dem unterirdischen Gang aufhielt, leicht untertauchen konnte. Ferner machte die unzureichende Beleuchtung, die viele Jahrzehnte auf den Berliner Bahnhöfen und in den Personenwagen der Züge existierte, den öffentlichen Ort „Bahnhof“ für Reisende nicht unbedingt sicherer.171 Die Zeitgenossen befürchteten, dass „unter dem Schutze der Dunkel­ heit“172 Betrügereien Vorschub geleistet werden würde. Sie gingen davon aus, dass der Bahnhof für Reisende, und speziell für Frauen, zur Gefahrenzone werden würde. Am Anhalter Bahnhof waren immer wieder Lampen defekt, so dass Gas unverbraucht verloren ging und daher die Leuchtkraft der Lampen vermindert und der Bahnhof nicht ausreichend beleuchtet war.173 Die säumige Wartung führte am 170 Kliem/Noack, S. 38. 171 Vgl. Brief des Gemeindesekretärs aus Berlin-Niederschöneweide an die Königliche Eisenbahndirektion, 14. April 1914, LAB, A Rep. 080, Nr. 14848, Bd. 3. Vgl. auch Zeitungsartikel aus dem Jahr 1905, LAB, A Rep 080, Nr. 14848, Bd. 1. Vgl. Ebenso: Eisenbahn-NachrichtenBlatt, 27, 1896, S. 144. 172 Brief der Molkerei-Genossenschaft Schwiebus an die Königliche Eisenbahndirektion, 18. November 1909, LAB, A Rep. 080, Nr. 14848, Bd. 2. 173 Brief der Stadtabteilung der Auerlichtgesellschaft an die 80. Bahnmeisterei am Anhalter Bahn-

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Anhalter Bahnhof schließlich dazu, dass, als die Stromzufuhr in den 1920er Jahren ausblieb, der Bahnhof zeitweilig gänzlich ohne Licht war. Selbst die zur Notbeleuchtung zur Verfügung stehenden Leuchten waren teilweise schadhaft. Nicht nur der Bahnhof, auch die Bahnhofsumgebung stellte eine potenzielle Dunkelzone dar. Zwar gab es um den Askanischen Platz Restaurants und Bars in den Hotels, die die Straßen bis in die Morgenstunden belebten. Wenn jedoch, wie es 1921 der Fall war, am Anhalter Bahnhof Laternen aus der direkten Bahnhofsumgebung entfernt wurden, lagen Straßenzüge und Fußgängerbrücke komplett im Dunkeln.174 Um gefährlichen Situationen, speziell für junge Frauen, vorzubeugen, waren die Fürsorgerinnen der Bahnhofsmission angehalten ihre Kontrollgänge sowohl im Bahnhof durchzuführen, als auch auf die umliegende Gegend auszudehnen. Hierbei sollten sie unter anderem nach Stellenvermittlern, Kneipiers, die Frauen als Kellnerinnen175 anwerben wollten, Bordellwirten und -wirtinnen, Zuhältern und so genannten Kupplern und Kuplerinnen, die Kontakt zu jungen Frauen suchten, Ausschau halten und dadurch mögliche Netzwerke des „Mädchenhandels“ eruieren. Wenn die Bahnhofsmissionarinnen Situationen beobachteten, bei denen Frauen mit diesen Personen im Gespräch waren, griffen sie sofort ein, konfiszierten etwaige Druckschriften und leiteten diese an das Nationalkomitee weiter. Die Berliner Bahnhofsmission berichtete, dass „ein empörender Einladezettel (…) mit Beschlag belegt, und dem Nationalkomitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels überwiesen [wurde]“.176 Darüber hinaus versuchten die Bahnhofsfürsorgerinnen die junge Frau davon zu überzeugen, von dem Stellenangebot Abstand zu nehmen, wobei nicht selten „unschuldige“ Personen verdächtigt und von den Bahnhofsmissionarinnen in problematische Situationen gebracht wurden. Kritik daran kam sogar aus den eigenen Reihen. Einen Frauenhändler, so Gertrud Müller in einem Referat,. das sie auf der siebten Deutschen Nationalkonferenz zur Internationalen Bekämpfung des Mädchenhandels hielt, stellten sich die Bahnhofsmissionarinnen als „schwarzen Peter“177 vor und wären versucht, jeden Mann, der eine Frau begleitete, als verdächtig festnehmen zu lassen. Darüber hinaus konzentrierten sich die Helferinnen auf den Bahnsteigen und bei Kontrollgängen in den Zügen besonders auf die ärmeren Fahrgäste der dritten und vierten Wagenklasse und zögen wohlhabende Fahrgäste selten in Betracht. So berichteten Bahnhofsmissionarinnen zwar hof am 2. Mai 1923, LAB, A Rep. 080, Nr. 14848, Bd. 6. Während der Inflation und der damit einhergehenden Erhöhung der Preise, lag die nachlässige Instandhaltung der Lichtquellen an finanziellen Engpässen der Eisenbahn- und späteren Reichsbahndirektion. Vgl. Brief der Firma Ehrich und Graetz an die Reichsbahndirektion Dezernat 26 am 8. Juni 1923, LAB, A Rep. 080, Nr. 14848, Bd. 6. 174 Brief des Verbandes der Berliner Kohlen-Großhändler an die Eisenbahndirektion am 13. Dezember 1921, LAB, A Rep. 080, Nr. 14848, Bd. 5. 175 Anstellungen im Restaurantgewerbe galten als möglicher Einstieg in die Prostitution, weshalb sich verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen wie der Verein der Freundinnen junger Mädchen in der so genannten Kellnerinnenmission engagierten. Vgl. Anna Blanck, 50 Jahre Freundinnenarbeit 1877–1927. Festschrift zum Jubiläum, Heidelberg 1927, S. 28. 176 Die Bahnhofsmission und der Mädchenhandel, in: Sonntags-Blatt für Innere Mission 63, 1912, Nr. 34, S. 107–108 und 125–126, hier: S. 125. 177 Müller, Die Bahnhofsmission, hier: S. 57.

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davon, dass es angeblich vielfach Frauen waren, die Besitzerinnen von Bordellen waren oder Kupplertätigkeiten ausführten und dadurch ein Interesse gehabt hätten junge Frauen in den Bahnhöfen anzusprechen. Dennoch verdächtigten die Helferinnen vor allem männliche Reisende. Martina Löw weist darauf hin, dass nicht nur räumliche Strukturen von klassen- und geschlechterspezifischen Strukturprinzipien durchzogen sind, sondern ebenso das Auftreten und die Wahrnehmung von Menschen.178 Das könnte eine Erklärung dafür sein, warum die Bahnhofsfürsorgerinnen die fraglichen Personen bereits auf den ersten Blick klassen- und geschlechtsspezifisch zuordneten. Personen unterprivilegierter Schichten wurden, wie die Einschätzungen der Bahnhofsmissionarinnen deutlich machen, sehr viel häufiger verdächtigt, in kriminelle Geschäfte verwickelt zu sein als wohlhabender aussehende Personen, und hierbei wiederum Männer häufiger als Frauen. Die teilweise falschen Beurteilungen lagen außerdem daran, dass die bahnhofsmissionarischen Fürsorgerinnen in einem umfangreichen Aufgabenfeld wie Menschenhandel, einzig auf ihre Intuition und Menschenkenntnis, die aus Klischees erwuchs, angewiesen waren. Weder wurden sie darin geschult zu erkennen, ob und wann ein Fall von Menschenhandel oder zumindest zweifelhafter Stellenvermittlung vorlag, ob die fragliche Frau eine bestimmte Anstellung aus freien Stücken oder gezwungenermaßen annahm, noch woran ein „Mädchenhändler“ oder eine Schlepperorganisation zu erkennen waren, oder wie man eine heikle Situation schnell und diplomatisch bewältigen konnte.179 Wenn möglich, sollten es die Bahnhofsmissionarinnen daher erst gar nicht zum Kontakt zweifelhafter Personen mit den Zuwanderinnen kommen lassen. Die Mitarbeiterinnen sprachen deshalb die jungen Frauen, nachdem ein Zug in den Anhalter Bahnhof eingefahren war, bereits „vorbeugend“ am Bahnsteig an, verteilten Flugblätter und informierten über Adressen und Anlaufstellen, über Wohngelegenheiten und Stellenbüros in Berlin. Der Kontakt zu Reisenden direkt an den Bahnsteigen war nicht ohne Weiteres möglich, da 1893 Bahnsteigsperren eingeführt worden waren, die verhindern sollten, dass Nichtreisende Zugang zu den Zügen hatten und Fahrgäste ohne gültige Fahrkarte reisen konnten.180 Die Fürsorgerinnen hatten jedoch mit so genannten Erlaubniskarten Zugang zu den Gleisen erhalten,181 178 Vgl. Löw, Raumsoziologie, S. 179. 179 Gertrud Müller regte deshalb das Verfassen weiterer Flugblätter an, um Bahnhofsmissionarinnen über den „Mädchenhandel“ und seine Erscheinungsformen aufzuklären. Ebenso erschien ihr die Fortführung von Vorträgen über das „Wesen des Mädchenhandels“, die vom Nationalkomitee veranstaltet wurden, Erfolg versprechend und sie empfahl eine „schwarze Liste“ mit allen fragwürdigen Stellenvermittlern zu erstellen, die den Fürsorgerinnen vor Ort Orientierung geben würde. Die Kommission der Berliner Bahnhofsmission publizierte schließlich eine Aufstellung aller als Frauenhändler bestraften oder verdächtigten Personen. Durch diese Hilfestellungen sollten die bahnhofsmissionarischen Mitarbeiterinnen „schärfer sehen lernen“, also vor Fehleinschätzungen besser geschützt sein. Vgl. Müller, Die Bahnhofsmission, hier: S. 55 und 57. Ebenso: Die Bahnhofsmission und der Mädchenhandel, in: Sonntags-Blatt, 1912, S. 107–108 und 125–126, hier: S. 126. 180 Reichsbahnoberrat Kiessling, Denkschrift über die Wirtschaftlichkeit der Bahnsteigsperre, 1930, BArch, R 5, Nr. 3148, S. 7 und Anlage 1, S. 1. 181 Brief der Reichsbahndirektion Berlin an die Hauptverwaltung der Deutschen Reichsbahn am

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und konnten binnenwandernden Frauen sowie anderen Reisenden bereits am Zug Hilfestellung anbieten. Die Vorstellung der Bahnhofsmissionen, dass durch ihre vorbeugenden Dienstleistungen am Bahnhof und häufig bereits an den Gleisen sowohl eine lückenlose Erfassung als auch ein umfassender Schutz der jungen Zuwanderinnen möglich sei, weil diese dadurch mit den „Gefahren“ der Großstadt nicht sofort in Kontakt kämen, wurde von Stellen vermittelnden Personen ad absurdum geführt. Häufig sprachen nämlich Angestellte von Animierkneipen, Kupplerinnen oder (fragwürdige) Stellenvermittler die reisenden Frauen bereits im Zug an oder überreichten ihnen kleine Handzettel und vermittelten ihnen Anstellungen sowohl im In- als auch im Ausland. Die Berliner Bahnhofsmissionarinnen verlegten deshalb ihre Schutzmaßnahmen immer weiter in die Vorstädte, fuhren streckenweise selbst im Zug mit und boten jungen Frauen ihre Hilfe an, oder hingen Plakate in den Eisenbahnabteilen auf. Unterstützung erhielten die Bahnhofsmissionen durch das Ministerium für öffentliche Arbeiten, das die Königliche Eisenbahndirektion beauftragte ihr Zugpersonal anzuweisen, Mädchen und Frauen nur in den für sie vorgesehenen Frauenabteilen unterzubringen.182 Auch diese Anweisung zielte ausschließlich auf Männer, obwohl Frauen ebenso als Stellenvermittlerinnen auftraten. Die Direktive war jedoch ebenso als präventive Schutzmaßnahme vor sexueller Belästigung durch männliche Reisende gedacht, denn, so berichtete eine Frau: „Das Schlimmste aber waren die Belästigungen der Männer. Sie machten mir auf geradezu widerwärtige Art den Hof und einen konnte ich nur mit Aufwand meiner ganzen Muskelkraft und Stimme hindern, mich zu küssen und an sich zu pressen“.183 Die Frauenabteile hatten jedoch nicht unbedingt den gewünschten Erfolg, da diese bei Platzmangel in den Zügen dennoch mit Männern besetzt wurden.184 Ein effektiveres Vorgehen gegen Stellenvermittler oder Gewerbetreibende, die den Frauen in Zügen als dubios eingestufte Stellen vermitteln wollten, wurde in der Weimarer Republik unternommen. 1927 verbot die Reichsbahngesellschaft in manchen Gebieten Deutschlands das Verteilen von Flugblättern, Broschüren und anderen Druckschriften in Zügen als „ungehörige Belästigung der Reisenden“.185 Dadurch durften vermutlich auch die Bahnhofsmissionarinnen keine Handzettel mehr ausgeben, aber auch Stellenvermittlern und anderen von den Bahnhofsmissionen und dem Deutschen Nationalkomitee kritisch beobachteten Personen war es somit verboten, auf diese Art Werbung für ihr Gewerbe zu machen.

10. September 1927, BArch, R 5, Nr. 3148. 182 Eisenbahn-Nachrichten-Blatt 39, 1901, S. 376. 183 Privatbrief einer Ehefrau geschrieben am 27. Oktober 1917 an ihren an der Front befindlichen Mann Jo, GStA PK, I HA, Rep. 77, Tit. 258, Nr. 75. 184 Eisenbahn-Nachrichten-Blatt 14, 1907, S. 66. 185 Eisenbahn-Nachrichten-Blatt 62, 1927, S. 196. Diese Verordnung wurde in Bayern erlassen; ob sie auch in Preußen Anwendung fand, konnte nicht geklärt werden.

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3.1.3 Unvereinbare Positionen oder: Was ist „Mädchenhandel“? Der Begriff des „Mädchenhandels“ wurde von dem Reichstagsabgeordneten und Vorsitzenden der deutschen Sittlichkeitsvereine Henning, der auf einer Sitzung des Deutschen Nationalkomitees ein Referat über den „juristischen Begriff des Mädchenhandels“ hielt, folgendermaßen definiert: „Der Mädchenhandel charakterisiert sich als ein organisierter Handel mit menschlicher Ware, zur Förderung des Großbetriebes der Bordelle und der Prostitution“.186 Menschenhandel wurde also auf weibliche Menschen beschränkt und mit der Verbringung dieser in die Prostitution gleichgesetzt.187 An der Diskussion um das Thema „Mädchenhandel“ waren sowohl staatliche, kirchliche als auch private, wohlfahrtspolitische Institutionen beteiligt. Die privaten und kirchlichen Wohlfahrtsorganisationen wurden hierbei häufig durch das Deutsche Nationalkomitee vertreten. Dieses wiederum kommunizierte meist durch Arbeitsberichte mit dem Innenministerium oder arbeitete mit der Berliner Zentralpolizeistelle zusammen, die allein zum Zweck der Bekämpfung des „Mädchenhandels“ gegründet worden war.188 Wiewohl – gemäß der obigen Definition – Einigkeit darüber herrschte, dass ein „Mädchenhandel“ als solcher existierte, gab es doch fortdauernde, sich zuspitzende Auseinandersetzungen darüber, was im Einzelnen unter Mädchenhandel zu verstehen war. Dabei ging es darum zu klären, welche Stellenvermittlungen in die Prostitution führten, ob derlei Angebote auch in Deutschland gemacht wurden, welche Personen und Organisationen zum Mädchenhandels-Netzwerk zu rechnen seien und vor allem welche Frauen als Zielgruppe dienten. Letztendlich war es ein kulturpolitischer Streit, bei dem die beteiligten Akteure um die Durchsetzung der Meinungshoheit zum Thema gesellschaftliches Sittlichkeitsverständnis rangen. Folgendes Beispiel, bei dem das Deutsche Nationalkomitee einen Arbeitsbericht an das Preußische Innenministerium schickte, illustriert die unterschiedlichen Positionen. Berichtet wurde von einer jungen Berlinerin, die nach Hamburg verschleppt worden sei. „Die Eltern des Mädchens erbaten die Rückschaffung ihrer Tochter. Durch Vermittlung der Hamburger Polizei und des Hamburger Zweigkomitees gelang es, das Paar zu ermitteln“. Der mutmaßliche Schlepper wurde verhaftet und die Tochter wieder nach

186 Der juristische Begriff des Mädchenhandels. Referat des Reichstagsabgeordneten Henning auf der Sitzung des Deutschen Nationalkomitees am 19. Oktober 1906, GStA PK, I HA, Rep. 77, Tit. 423, Nr. 31, ADH 3, Bd. 2. 187 Bis zum Jahr 2000 verstand man unter „Menschenhandel“ den Handel mit Kindern und Erwachsenen zum Zweck ihrer kommerziellen sexuellen Ausbeutung durch Prostitution. Erst mit dem ‚Protocol to Prevent, Suppress and Punish Trafficking in Persons esp. women and children‘, definierten die Vereinten Nationen den Begriff neu und legten fest, dass Menschenhandel aus vielen Gründen stattfinden kann, die jedoch alle ‚ausbeuterisch‘ sind. Für das Protokoll vgl. Advanced copy of the authentic text. United Nations 2000: www.uncjin.org/Documents/Convention/dcatoc/final_documents_2/convention_%20traff_ eng.pdf Stand Juni 2004. 188 Vgl. Fußnote 275.

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Berlin gebracht. Im Innenministerium wurde der Bericht durch den Vermerk „was hat das mit Mädchenhandel zu tun?“ kommentiert.189 Das Innenministerium und die Berliner Zentralpolizeistelle bezogen Mädchenhandel auf das Verbringen von Frauen ins Ausland, wobei davon ausgegangen wurde, dass zwielichtige Jobangebote überhaupt nur von Frauen angenommen würden, die bereits als Prostituierte arbeiteten, und dies meist freiwillig täten. Ein Binnenhandel – auch mit Prostituierten – existierte dementsprechend nicht. Kriminalrat Dr. Heinrich Kopp wiederholte in einem Brief an den Staatssekretär des Preußischen Innenministeriums seine Position zu dem Thema, die er auch auf einer Konferenz gegenüber dem Deutschen Nationalkomitee vertreten und die zu schwer­ wiegenden Auseinandersetzungen zwischen ihm und dem Komitee geführt hatte, so dass Kopp die Versammlung verließ: „Der Kern meiner Darlegung war der, dass es einen Mädchenhandel in dem Sinne, wie es in den letzten 2 Jahrzehnten tausendmal zu lesen war, dass nämlich anständige Mädchen durch Täuschung oder Gewalt in öffentliche Häuser geschleppt würden, nicht gebe“.190 Dass ein deutscher Handel, sowohl für den Binnen- als auch den internationalen Markt existierte, ist indes unbestritten. Allerdings ist zum einen unklar welche Frauen im Detail mit Frauenhändlern in Kontakt kamen und zum anderen ist das Ausmaß dieses Handels schwer zu beurteilen. Zwischen 1897 und 1919 wurden im Deutschen Reich lediglich 33 Personen verurteilt, die versucht hatten Frauen ins Ausland zu verschleppen.191 Sicherlich lag die Dunkelziffer höher, da aufgrund der schwierigen Rechtslage Frauenhändler nicht leicht zu verurteilen waren.192 Bei 189 Protokoll des Deutschen Nationalkomitees am 11. November 1913, GStA PK, I HA, Rep. 77, Tit. 423, Nr. 31, ADH 3, Bd. 3, S. 3f. 190 Bericht des Regierungs- und Kriminalrat Kopp an den Staatssekretär am 6. August 1923, GStA PK, I HA, Rep. 77, Tit. 423, Nr. 31, ADH 3, Bd. 4. S. 1–6 (eigene Zählung), hier: S. 2. 191 Krafft, S. 193. Die angegebenen 33 Personen wurden nach § 48 des Gesetzes über das Auswanderungswesen von 1897 verurteilt. Dieser Paragraf blieb jedoch meist unwirksam, da für den Tatbestand des Frauenhandels wichtige Merkmale wie „Verleitung zur Auswanderung“ oder „arglistige Verschleppung“ häufig nicht nachgewiesen werden konnten. Vgl. Der juristische Begriff des Mädchenhandels. Referat des Reichstagsabgeordneten Henning auf der Sitzung des Deutschen Nationalkomitees am 19. Oktober 1906, GStA PK, I HA, Rep. 77, Tit. 423, Nr. 31, ADH 3, Bd. 2. Die Angaben zum Ausmaß des Frauenhandels unterscheiden sich erheblich. Für das Jahr 1911 gab eine von der Kommission der Berliner Bahnhofsmission publizierte Liste 90 Personen an, die mit Zuchthaus bestraft worden waren und 1400 der in Deutschland des Frauenhandels verdächtigten Personen. Bei den Angaben bleibt unklar, auf welchen Handel sie sich bezogen. Zu vermuten ist allerdings, dass damit Personen erfasst waren, die den Binnenhandel versorgten. Vgl. Die Bahnhofsmission und der Mädchenhandel, 1912, S. 107– 108 und 125–126, hier: S. 126. 192 Es gab im deutschen Strafgesetzbuch keinen Paragrafen, der Frauenhandel unter Strafe stellte. Verfolgt wurden so genannte Mädchenhändler vor allem nach Paragraf 180 RStGB „einfache Kuppelei“ und Paragraf 181 RStGB „schwere Kuppelei“. Diese Paragrafen waren allerdings dann unzulänglich, wenn entweder eine mögliche Verschleppung ins Ausland stattgefunden hatte, diese aber nicht nachgewiesen werden konnte, oder es sich um „freiwillige“ Anwerbung handelte. Vgl. Henning, Der juristische Begriff des Mädchenhandels. Referat des Reichstagsabgeordneten Henning auf der Sitzung des Deutschen Nationalkomitees am 19. Oktober 1906, GStA PK, I HA, Rep. 77, Tit. 423, Nr. 31, ADH 3, Bd. 2. Darüber hinaus war die strafrechtliche Verfolgung von Bordellbesitzern – jedenfalls nach 1918 – schwierig. Im Kaiserreich waren

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diesen Zahlen blieb der Binnenhandel im angegebenen Zeitraum gänzlich ausgeblendet. Bei der polizeilichen Argumentation handele es sich deshalb um eine Defensivstrategie, die „mit Skepsis zu betrachten“193 sei, wie die Historikerin Sybille Krafft anmerkt. In erster Linie resultierte der Rechtfertigungsdruck für die Polizei jedoch nicht nur daraus, dass ein Mädchen- und Frauenhandel existierte, sondern auch weil viele Wohlfahrtsorganisationen und Zeitgenossen194 Frauen generell in dem Moment in Gefahr wähnten, wenn sie den öffentlichen Raum betraten, da das angeblich stets ein Prostitutionsrisiko für Frauen bedeutete. Das wiederum war der Grund dafür, dass im Fokus des Deutschen Nationalkomitees und der Bahnhofsmission junge „unbescholtene“ Frauen und Mädchen auf der Suche nach Arbeit standen. Man nahm an, dass sie häufig durch Lockangebote, sei es durch dubiose Stellenvermittler, Kupplerinnen, Gaststättenbesitzer oder Bordellwirtinnen ge­ täuscht wurden und dadurch ungewollt in das in- oder ausländische Prostitutionsgewerbe rutschten. Daher war es sicherlich richtig, dass die Kriminalpolizei darauf hinwies, dass die so genannten anständigen Frauen seltener Opfer von Menschenhändlern wurden als es öffentlich diskutiert wurde. Da Frauen jedoch stets als potenziell „Gefährdete“ wahrgenommen wurden, schlossen das Deutsche Natio­ nalkomitee als auch die Berliner Bahnhofsmission und der Dachverband der Deutschen Bahnhofsmission darüber hinaus auch eine gewisse Autonomie und Entscheidungsfähigkeit der innerhalb Deutschlands oder nach Übersee wandernden und Arbeit suchenden Frauen weitestgehend aus. Dass Frauen nicht als interessengeleitete Subjekte wahrgenommen wurden, verdeutlicht auch folgendes Beispiel. Als die Berliner Bahnhofsmission bei ihrer Arbeit auf zwei junge Frauen aus Ostpreußen traf, die in Amsterdam ein Engagement in einem Varietee annehmen wollten, versuchten die Helferinnen diese davon zu überzeugen, die Wei­ terreise nicht anzutreten. Obwohl die Berliner Fürsorgerinnen in ihren Bemühungen, die Kontrolle und den Schutz über die beiden Frauen zu gewährleisten, erfolglos waren, akzeptierten sie die Entscheidung der beiden Ostpreußinnen, das EnBordelle durch den § 180 faktisch verboten. Strafbar wurde, „wer gewöhnheitsmäßig oder aus Eigennutz durch seine Vermittlung oder durch Gewährung oder Verschaffung von Gelegenheit der Unzucht Vorschub leistet“. In der Weimarer Republik wurde das Bordellverbot in § 180, Abs. 2, wörtlich niedergeschrieben. Allerdings wurde die Erlaubnis erteilt, dass Prostituierte, die das 18. Lebensjahr vollendet hatten, ihr Gewerbe in einer ihr zur Verfügung gestellten Wohnung ausführen konnten. Damit waren Bordelle strafrechtlich zwar verboten, wurden aber geduldet. Auch im „Dritten Reich“ wurde die Legalisierung der Wohnungsgewährung aufrechterhalten und Bordelle darüber hinaus von staatlichen Organen aktiv eingerichtet. Vgl. Gless, S. 64, 78, 93. 193 Krafft, S. 194. 194 Der Beobachter und Kommentator Berliner Lebens, Hans Ostwald, berichtete in seinem 1907 erschienenen Buch „Ausbeuter der Dirnen“ den Fall des 18-jährigen Dienstmädchens Elsbeth Rothe. Der Autor nahm an, dass das Dienstmädchen von einem Mädchenhändler entführt worden sei, nachdem es am Anhalter Bahnhof von ihrer zukünftigen Chefin abgeholt werden sollte, dann aber dabei gesehen wurde, wie es den Bahnhof in Begleitung eines Mannes verlassen hatte. In den darauf folgenden Tagen sei die Frau noch zweimal in männlicher Begleitung im Wedding und am Schönhauser Tor erblickt worden. Diese vagen Angaben genügten dem Autor, um anzunehmen, dass die junge Frau durch den Aufenthalt im öffentlichen Raum der Stadt in „ruchlose Hände“ gefallen sei. Vgl. Ostwald, Bd. 10, S. 99.

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gagement anzunehmen nicht, sondern „[empfohlen sie] telegraphisch dem Schutze des Konsulats und der Sorge des dortigen deutschen Geistlichen“.195 Da Frauen Stellen in Bars, Varietees und anderen Etablissements annahmen, macht obiges Beispiel darüber hinaus deutlich, warum, neben Kupplerinnen und Bordellbesitzerinnen, auch gewerbliche Stellenvermittler, Gasthausbesitzer und Kneipiers im Fokus des Nationalkomitees und der Berliner Bahnhofsmission standen. Dass die Positionen zwischen gesetzgebender und ausführender Gewalt auf der einen Seite und Wohlfahrtsorganisationen auf der anderen Seite nicht gänzlich unvereinbar waren, sondern auch in diesen Auseinandersetzungen eine Annäherung und neuerliche Zusammenarbeit möglich waren, kristallisierte sich durch die sozialpolitischen Reformen der staatlichen Arbeitslosenvermittlung heraus. Infolge dieser kam es zu dem Versuch einer effektiveren Eindämmung der privaten Stellenvermittler, was grundsätzlich auf Zustimmung bei dem Deutschen National­ komitee und der Berliner Bahnhofsmission stieß. Der Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns erließ im Oktober 1927 das Gesetz über die Arbeitslosenvermittlung und Arbeitslosenversicherung, wonach künftig eine Reichsanstalt sowie regionale und lokale Arbeitsämter die Arbeitsvermittlung übernahmen. Ab dem 1. Januar 1931 wurden private Vermittlungstätigkeiten in Preußen und 1932 auch Auslandsverträge mit Frauen ohne spezielle Erlaubnis der Polizeibehörde verboten.196 Dennoch ging beispielsweise der preußische Polizeipräsident von einer weiteren, strafbaren Tätigkeit wilder Vermittler aus. Weil diese schwer zu fassen waren, da of­ fenbar das nötige Beweismaterial nicht beigebracht werden konnte, benötigte er auch weiterhin die Unterstützung karitativer Einrichtungen und konstatierte: „Als Präventivmassnahmen kommt für Preussen das Wirken der fürsorgerischen Or­ ganisationen, wie Bahnhofsmissionen usw., in Frage“.197 Wie gestaltete sich die Tätigkeit der Berliner Bahnhofsmission gegen Stellenvermittler und mutmaßliche Schlepper am Anhalter Bahnhof nach den Gesetzen, die 1931 und 1932 erlassen wurden? Blickt man auf die Zielgruppe „minderjährige Mädchen bis 21 Jahren“ der Berliner Bahnhofsmission, so verzeichnet die Statistik, die die Berliner Bahnhofsmission und der Berliner Bahnhofsdienst für neun Berliner Bahnhöfe ein Jahr später, 1933, anlegten, dass 1 670 junge Frauen in diesem Jahr auf dem Anhalter Bahnhof mit der Berliner Bahnhofsmission in Kontakt kamen. Auf keinem anderen Bahnhof wurden mehr junge Frauen gezählt. Erfasst wurden jedoch auch minderjährige Männer, Kinder unter 14 Jahren und erwachsene Männer und Frauen. Gezählt wurden ebenso als „Mädchen“ bezeichnete junge Frauen über 21 Jahren. Damit waren vermutlich Frauen gemeint, die gerade die Volljährigkeit erreicht hatten, von den bahnhofsmissionarischen Helferinnen aber dennoch nicht zu den erwachsenen Frauen gerechnet wurden. Insgesamt wurden 19 345 Personen am Anhalter Bahnhof statistisch erfasst. In der Statistik wurden 195 Müller, Internationale Bekämpfung, hier: S. 176. 196 Vertrauliches Schreiben des preußischen Innenministeriums über die “Maßnahmen zum Schutz von Frauen und Kindern, die in einem anderen Lande Arbeit suchen“, o. J. [1932], BArch, R 8075, Nr. 1., Blatt 62–65. 197 Auszug aus dem Bericht des Polizeipräsidenten vom 29. August 1931, GStA PK, I HA, Rep. 77, Tit. 423, Nr. 31, Vol. XVI.

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ferner die von der Berliner Bahnhofsmission erbrachten Dienstleistungen wie „Reisehilfen“, „Unterbringung mit Übernachtung“ und „Zusammenarbeit mit Behörden“ und anderen Stellen aufgeführt. Ein Hinweis auf Tätigkeiten mit Stellenvermittlern oder mutmaßlichen Schleppern respektive ein Indiz, das auf Vorkommnisse vermuteten „Mädchenhandels“ hindeutet, fehlt indes. Zwar wird die Rubrik „Abwehr besonderer Gefährdung“ mit 447 Fällen verzeichnet, wobei der Anhalter Bahnhof im Vergleich zu den anderen Bahnhöfen ebenfalls überdurchschnittlich abschneidet, allerdings bleibt unklar, ob hierunter Männer und Frauen gezählt wurden und was die Berliner Bahnhofsmission unter „besonderer Gefährdung“ verstand. Es ist jedoch davon auszugehen, dass als sittlich zweifelhaft eingestufte Situationen für junge Zuwanderinnen ebenso darunter gefasst wurden, wie kriminelle Delikte, unter deren Gefährdungsrelevanz eher Männer und männliche Jugendliche gerechnet wurden. Darüber hinaus weisen auch die Spalten „Beratung“ mit 12 167 und „Begleitung“ mit 2 667 Fällen eine überdurchschnittliche Tätigkeit der Bahnhofsmission am Anhalter Bahnhof gegenüber den Bahnhofsmissionen an anderen Bahnhöfen auf. Die erste Kategorie bezog sich auf Beratungen jeder Art und für alle Reisenden oder Hilfsbedürftigen, wie Beratungen zu fragwürdigen und soliden Stellenvermittlern aber auch mögliche Überzeugungsarbeit, damit sich die Frauen nicht von fremden Personen ansprechen ließen. In der zweiten Rubrik wurde das Begleiten der Personen zu einem bestimmten Ziel innerhalb der Stadt statistisch erfasst. Darunter fiel das Begleiten aus Schutzgründen, wobei Frauen zu ihren Dienststellen oder einem Heim des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend gebracht wurden. Dadurch, dass es keine detaillierte Aufschlüsselung der erbrachten Dienstleistungen gibt und eine Rubrik, die auf Aktivitäten von Mädchenhändlern oder Schleppern deuten könnte, fehlt, können weder Aussagen über die Existenz versuchten Mädchenhandels gemacht werden, noch lässt sich der tatsächliche Umfang der möglichen Aktionen gegen Stellenvermittler oder Schlepper rekonstruieren.198 Die oben erwähnten Befürchtungen des preußischen Polizeipräsidenten, der von einer weiteren Existenz wilder Vermittler ausging, und dafür auf die Hilfe der Bahnhofsmissionen rechnete, lassen jedoch den Schluss zu, dass die Berliner Bahnhofsmission mit den Aktivitäten gewerblicher Stellenvermittler zumindest zeitweise befasst war. Das Deutsche Nationalkomitee, der Dachverband der Deutschen Bahnhofsmission und die Berliner Bahnhofsmission gingen nach diesen Gesetzen auch weiterhin von der grundsätzlichen Existenz eines Kinder- und Frauenhandels aus. Deshalb stellten sie nach dem Verbot gewerbsmäßiger Stellennachweise Anfang der 1930er Jahre ihre Zusammenarbeit weder ein noch erklärten sie diese für überholt. Allerdings wurde ihnen die Kooperation auf administrativer Ebene nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten und speziell durch die Politik der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), die den Organisationen allmählich die finanzielle Basis entzog, äußerst erschwert. Deutlich wird jedoch, dass selbst die eingeschränkte Fortführung inhaltlicher Arbeit des Deutschen Nationalkomitees 198 Vgl. Dienstanweisung für die Berliner Bahnhofsmission [1933], ADW, Cf, Gf/St 86, S. 1–25, hier: Anhang/Statistik.

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Abbildung 9: Dienstraum der Bahnhofsmission am Anhalter Bahnhof, Mitte der 1920er Jahre

nur durch die Unterstützung und den persönlichen Einsatz von Mitarbeiterinnen sowohl des Dachverbandes als auch der Berliner Bahnhofsmission möglich wurde. In der Anfangszeit waren vereinzelte Aktionen durch gemeinsame Kraftanstrengungen noch durchführbar. So wurde vom Deutschen Nationalkomitee mit Unterstützung des Dachverbandes der Bahnhofsmission in Berlin 1933 ein letztes Treffen des Internationalen Komitees zur Bekämpfung des Mädchenhandels ausgerichtet. Durch die Verbundenheit engagierter Vorstandsfrauen des Nationalkomitees mit ihrer Organisation konnte es trotz finanzieller Engpässe noch an Konferenzen teilnehmen, die zum Themenkomplex Prostitution und Frauenhandel stattfanden. Einige Frauen, unter ihnen auch Theodora Reineck, die Generalsekretärin des Dachverbandes der Deutschen Bahnhofsmission, reisten nämlich aus eigenen Mitteln als Abgesandte zu den Konferenzen.199 Durch die finanziellen Restriktionen 199 Verhandlungsniederschrift über die Vorstandssitzung des Deutschen Nationalkomitees zur Bekämpfung des Mädchenhandels am Mittwoch, 27. Juni 1934, BArch, R 8075, Nr. 1, Blatt 191– 210, S. 1–6, hier: S. 5

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konnte das Deutsche Nationalkomitee seine inhaltliche Arbeit schließlich nicht mehr in gewohntem Umfang weiterführen, so dass es lediglich Bitten und Anfragen über verschwundene Kinder oder andere Personen erledigte und versuchte, über Entwicklungen des Frauenhandels informiert zu bleiben.200 Aber auch diese eingeschränkte Tätigkeit war nur durch das Engagement von Theodora Reineck möglich, die als Schriftführerin des Deutschen Nationalkomitees dessen offizielle Aufgaben weiterhin wahrnahm. Die Bedeutung, die das Deutsche Nationalkomitee der praktischen Arbeit am Bahnhof, die von den Berliner Bahnhofsmissionarinnen geleistet wurde, auch jetzt noch zumaß, geht aus einem Schreiben des Komitees an die Leitung der NSV hervor: „Wir sind geradezu auf deren Mitarbeit [die der Bahnhofsmission, A. M. K.] zur Erfüllung unserer Aufgaben angewiesen. (…) Ohne die praktische Arbeit der Bahnhofsmissionen kann das Deutsche Nationalkomitee weder die ihm obliegende Fürsorge bei der Abnahme der gefährdeten oder verschleppten Mädchen zur Bewahrung vor weiterer sittlicher Verwahrlosung ausüben, noch für deren Fortkommen durch Wiedereingliederung in das bürgerliche Leben sorgen. Wir haben daher ein sehr grosses Interesse daran, dass der kirchlich organisierte Bahnhofsdienst allgemein und damit auch die Evangelische Bahnhofsmission in Berlin am Leben erhalten wird (…)“.201

Ende 1939, ein gutes Jahr nach diesem Brief, war die Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Nationalkomitee und der Berliner Bahnhofsmission sowie ihrem überregionalen Dachverband beendet, weil die Aufgaben der konfessionellen Bahnhofsmissionen von staatlichen Bahnhofsdiensten übernommen wurden. Das Deutsche Nationalkomitee wurde zwar nicht geschlossen, jedoch durch finanzielle Restriktionen handlungsunfähig gemacht. Erkenntnisse über eine weitergeführte Kooperation zwischen NS-Bahnhofsdiensten und dem Deutschen Nationalkomitee liegen nicht vor. 3.2 Geschlechtsspezifische Bahnhofsfürsorge am Schlesischen Bahnhof . in der Weimarer Republik bis 1933 Ausgelöst durch die Weltwirtschaftkrise 1929 stieg in den darauf folgenden Jahren die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland stark an. Rechnet man die gemeldeten und unsichtbaren Arbeitslosen zusammen und addiert auch noch die Quasi-Erwerbslosen, nämlich Notstandsarbeiter, Landhelfer, Fürsorgearbeiter oder Arbeitsdienstleistenden, hinzu, so waren 1932 und Anfang 1933 über sieben Millionen Menschen in Deutschland erwerbslos.202 Von den etwa vier Millionen Menschen, 200 Brief des Deutschen Nationalkomitees zur Bekämpfung des Mädchenhandels an die Vorstandsmitglieder des Deutschen Nationalkomitees am 20. Februar 1942, ADW, CA, Gf/St 159. 201 Anlage eines Schreibens der evangelischen Bahnhofsmission Berlin am 17. Mai 1938, CA, Gf/ St 92, Blatt 91. 202 Reinhard Spree, About the Relative Efficiency of the Nazi Work Creation Programs. Discussion Paper, München 2004, S. 1–27, hier: S. 5–7 http://epub.ub.uni-muenchen.de/archive/00000382/ Stand August 2005.

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die zu dieser Zeit in Berlin lebten, waren etwa 600 000 Personen ohne Arbeit.203 Die Zahl binnenwandernder Personen war Anfang der 1920er Jahre rückläufig gewesen, stieg jedoch durch die schwierige Arbeitsmarktsituation ebenfalls sprunghaft an. Obwohl deren Umfang bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten wieder zurückging, wanderten mobile Personengruppen, die von Arbeits- und dadurch auch Obdachlosigkeit bedroht waren, weiterhin in großem Umfang nach Berlin und kamen häufig auf dem Schlesischen Bahnhof an. So verzeichnete die Statistik der Bahnhofsmission und des Bahnhofsdienstes aus dem Jahr 1933, dass von der Gruppe der Landarbeiterinnen und -arbeiter sowie der Ein‑, Aus- und Rückwanderer der überwiegende Teil, nämlich über die Hälfte, allein auf den Schlesischen Bahnhof entfiel.204 Das lag daran, dass die Züge aus den östlichen Gebieten, aus welchen besonders viele Menschen abwanderten, alle auf dem Schlesischen Bahnhof ankamen. Das waren deutsche und polnische Saison- und Wanderarbeiter und aus Russland stammende Juden sowie binnenwandernde Männer und Frauen aus Ost- und Westpreußen sowie Oberschlesien.205 Obwohl der Bahnhofsdienst und die Bahnhofsmission in Berlin bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und deutschlandweit seit 1924 gemeinsam aktiv waren, hatte jede Organisation stets nach Geschlechtern klar getrennte Aufgabenbereiche. Durch die gestiegene Zuwanderungsrate binnenwandernder Personen Ende der 1920er Jahre, begannen die Bahnhofsmissionarinnen nun auch männliche Wanderer verstärkt mitzubetreuen. Um die bahnhofsmissionarischen Mitarbeiterinnen besser auf den erweiterten Arbeitsbereich vorzubereiten, stellte der Dachverband der Deutschen Bahnhofsmission allgemeine Informationen und Weiterbildungsangebote über das Thema Wandererfürsorge bereit. So berichtete der Dachverband in seinen regelmäßig erscheinenden Rundschreiben über gesetzliche Bestimmungen der Wandererfürsorge und bot Ausbildungskurse für bahnhofsmissionarische Helferinnen an, in dem das Thema Wandererfürsorge Teil des Lehrplanes war.206 Auch der Trägerverein der Berliner Bahnhofsmission, der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend, machte sich mit der veränderten Situation vertraut, indem Vertreter des Vereins an speziellen Seminaren wie der Arbeitstagung „Hilfsdienst an jugendlichen Erwerbslosen“,207 teilnahmen. Vorliegendes Kapitel thematisiert die Zusammenarbeit von Berliner Bahnhofsdienst und Bahnhofsmission und gibt einen Einblick in deren konkrete Praxis im Umgang mit binnenwandernden Personen am Schlesischen Bahnhof. Sowohl bei 203 Ingo Materna / Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichte in Daten. Berlin etc. 1997, S. 187. 204 10 478 Personen dieser beiden Kategorien wanderten über einen der in der Statistik vermerkten neun Bahnhöfe 1933 nach Berlin. Allein 6 319 Personen kamen über den Schlesischen Bahnhof. Vgl. Dienstanweisung für die Berliner Bahnhofsmission [1933], ADW, Cf, Gf/St 86, S. 1–25, hier: Anhang/Statistik. Die erwähnten statistisch erfassten Personen wurden von Bahnhofsmission und -dienst unter die Kategorie „besondere Gruppen“ gefasst, jedoch nicht näher erläutert. 205 Demps, S. 211. 206 D. Ulrich, Die gesetzlichen Bestimmungen über Wandererfürsorge, in: Evangelische Deutsche Bahnhofsmission, 39. Rundschreiben, 1931, S. 27–29, hier: S. 27. 207 Anwesenheitsliste zur Arbeitstagung am 11. März 1931 über den Hilfsdienst an jugendlichen Erwerbslosen, ADW, CA, Gf/St 327, S. 2, Blatt 46b.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof

Abbildung 10: Westlicher Bahnhofskopf des Schlesischen Bahnhofs an der Madaistraße (heute Erich-Steinfurth-Straße), 1905

Abbildung 11: Das zum Varietee „Plaza“ umgestaltete Empfangsgebäude des ehemaligen Bahnhofs am Küstriner Platz um 1930

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der kurzzeitigen Betreuung am Bahnhof, als auch bei den sich in den Stadtraum ausdehnenden, weiterführenden Hilfen, zeigten sich die nach Geschlechtern differenzierten Wertmaßstäbe deutlich. Besonders die weiterführenden Dienstleistungen können in diesem Fall geschlechtsspezifisch zugeordnet werden und verweisen auf den Handlungsrahmen der Bahnhofsfürsorgerinnen und -fürsorger, den diese wiederum in unterschiedlichem Maße gestalteten. Kennzeichnend für alle Hilfsmaßnahmen war jedoch, dass die gesellschaftliche Kontrolle, die von den Bahnhofsorganisationen ausgeübt wurde, auf Frauen ungleich rigider als auf Männer durchgesetzt wurde. 3.2.1 Die „stille Friedensinsel am Schlesischen Bahnhof“208 Der in seiner zweiten Fassung im Stil der Neurenaissance erbaute Schlesische Bahnhof, war ursprünglich ein Kopfbahnhof, der in den 1880er Jahren zum Durchgangsbahnhof umgestaltet und an die Stadtbahn angeschlossen wurde. Er lag im Osten Berlins, im Stralauer Viertel, dem späteren Bezirk Friedrichshain, das nach 1900 Teil der Innenstadt geworden war und dessen Milieu aufgrund der Bewohnerschaft als berüchtigt galt. Während die großbürgerlichen Wohngegenden im Westen Berlins entstanden und viele Wohlhabende über den Stadtrand hinaus ins Grüne zogen, befanden sich im Osten der Stadt, um den Schlesischen Bahnhof, überbevölkerte Mietskasernen in dunklen Hinterhöfen, in denen Zuwanderer und Landarbeiter wohnten. Bereits im Kaiserreich waren die Straßen um den Bahnhof stets belebt, denn der Wagenund Fußgängerverkehr war „durch die in der Nähe des Schlesischen Bahnhofes gelegenen zahlreichen Stellennachweise und durch die Arbeiterzentrale, welche von aus den östlichen Provinzen, Österreich und Rußland zureisenden Personen stark in Anspruch genommen werden“,209 ein ungewöhnlich reger. Folgte man der heutigen Straße der Pariser Kommune Richtung Nord-Osten, lag keine fünf Minuten entfernt der Küstriner und heutige Franz-Mehring-Platz, in dessen Nähe sich 1928 ein Varietee namens Plaza in die Hallen des vormaligen Küstriner Bahnhofs eingemietet hatte210 und ein bunt wechselndes Programm artistischer, tänzerischer und gesanglicher Darbietungen zeigte.211 208 So wurde die Bahnhofsmission am Schlesischen Bahnhof von der Schwester eines Kinderheims genannt, die in den Räumen der Bahnhofsmission für eine Nacht untergebracht war. Vgl. Else Brüggemann, Aus der Arbeit der Berliner Evangelischen Bahnhofsmission, in: Evangelische Bahnhofsmission, 49. Rundschreiben, 1937, S. 14–15, hier: S. 15. 209 Schreiben des Polizeipräsidenten an den Magistrat der Königlichen Haupt- und Residenzstadt Berlin am 25. August 1914, LAB, A Rep. 001–02, Nr. 2310, Blatt 7. 210 An dieser Stelle steht seit 1972 das Gebäude der Zeitung „Neues Deutschland“. Von 1946 bis 1989 war die Zeitung das Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Ab 1989 bis 2007 befand sich die Zeitung im Besitz der Nachfolgepartei Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS). Heute gehört sie zu 50 Prozent der Partei Die Linke. Siehe http:// de.wikipedia.org/wiki/Neues_Deutschland Stand Mai 2010. 211 Demps, S. 214f.

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Einmalig in Berlin, gab es auf dem Schlesischen Bahnhof eine so genannte Hilfsstelle, um Reisenden eine Übernachtungsmöglichkeit anbieten zu können. Das war ein Gemeinschaftsprojekt der Berliner Bahnhofsmission und des Bahnhofsdienstes sowie anderer Organisationen am Bahnhof, das von diesen und dem Berliner Magistrat finanziell getragen wurde. Seine Beihilfen begründete die Stadtverwaltung damit, dass die Berliner Bahnhofsmission „die Stadt in einem so großen Umfang [unterstütze, dass sie] imstande sein [muss] ihre Aufgaben voll und ganz zu erfüllen“.212 Eine weitere Einnahmequelle erhielten die Organisatoren der Hilfsstelle, in dem sie 50 Pfennige für die Übernachtung in einem der ursprünglich 16 und später 28 Betten,213 die auf drei Schlafräume aufgeteilt waren, erhoben. Der Berliner Bahnhofsdienst und die Bahnhofsmission kooperierten auf dem „Bahnhof der Namenlosen“ wie er ebenfalls genannt wurde, eng miteinander, versuchten aber dennoch über Jahrzehnte ihre Eigenständigkeit zu wahren, weshalb der Bahnhofsdienst bestrebt war, ein eigenes Bahnhofszimmer zu erhalten.214 Dieser Wunsch war jedoch durch die Platzverhältnisse auf den Bahnhöfen nur schwer zu realisieren, so dass sich beide Bahnhofsorganisationen am Schlesischen Bahnhof eine Unterkunft teilten. Wie diese von außen aussah, beschrieb ein Artikel in der Märkischen Volkszeitung: „Ein Wellblechhäuschen mit rundem Fensterchen an der Tür und einem größeren an der Seite. Vorn ein großes Schild auf dem schlicht und einfach das Wort: ‚Bahnhofsmission‘ steht“.215 Eine Nutzerin charakterisierte die Bahnhofsmission am Schlesischen Bahnhof als „stille Friedensinsel“ und drückte damit aus, dass jeder Reisende hier Hilfe und Schutz finden konnte. Besonders das Innere des bahnhofsmissionarischen Zimmers sollten die Fürsorgerinnen deshalb ansprechend gestalten. Dadurch „inszenierten“ sie dieses und gaben ihm ein Aussehen, das die gewünschte Ausstrahlung erhielt. Das bahnhofsmissionarische Zimmer sollte auf jeden Besucher einen freundlichen Eindruck machen und mit Blumen, Bildern und christlichen Sinnsprüchen versehen werden. Es war immer besetzt zu halten, so dass Gäste begrüßt und Anrufe entgegengenommen werden konnten. Neben Wasch- und Kochgelegenheiten befanden sich in den Räumlichkeiten auch Ruhebetten oder Feldbettgestelle für Kranke, alte Menschen oder stillende Mütter.216 Wenn die Reisenden das Zimmer 212 Randnotiz im Schreiben des Landeswohlfahrts- und Jugendamtes Berlin an den Magistrat G. B. I 8 in Berlin vom 18. April 1928, LAB, A Rep. 001–02, Nr. 816. 213 Nikles, Soziale Hilfe, S. 196; vgl. auch Schreiben der Hilfsstelle der vereinigten Bahnhofsmissionen und Bahnhofsdienste an den Magistrat der Stadt Berlin vom 4. April 1928, LAB, A Rep. 001–02, Nr. 816. Die Aufstockung von 16 auf 28 Betten wurde 1927 durchgeführt. 214 P. Seyferth, Evangelischer Bahnhofsdienst für die männliche Jugend, in: Die Innere Mission im evangelischen Deutschland 21, 1926, S. 110–112, hier: S. 112. 215 Zit. nach: Der Kampf um die Mädchenseele, in: Märkische Volkszeitung vom 3. Oktober 1928, ADW, CA, Gf/St, 100, Blatt 140. In dem Artikel, aus dem dieses Zitat stammt, wird zwar die Tätigkeit der Katholischen Bahnhofsmission am Schlesischen Bahnhof beschrieben. Es ist aber davon auszugehen, dass sich die katholischen und die evangelischen Fürsorgerinnen ein gemeinsames Bahnhofszimmer teilten und somit die oben zitierte Beschreibung auch auf die Evangelische Bahnhofsmission zutraf. 216 Vgl. Dienstanweisung für die Berliner Bahnhofsmission [1933], ADW, Cf, Gf/St 86, S. 1–25, hier: S. 2f.

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betraten, sahen sie somit die platzierten Gegenstände, nicht aber den Raum als Ganzes, wiewohl dieser dennoch stofflich wahrnehmbar war. Räume entwickeln somit eine atmosphärische Potenzialität, die Gefühle beeinflussen. Mit Blick auf die reisende und zu betreuende Klientel konstituierten die Personen, die die bahnhofsmissionarischen Hilfen in Anspruch nahmen den Raum „Bahnhofsmission“, wie weiter oben angesprochen, durch Erinnerungsprozesse nicht nur mit, vielmehr wurden die Räume zur Wiedererkennung bewusst vorbereitet.217 3.2.2 Bahnhofsfürsorgerische Hilfen Kontrollgänge auf dem Bahnhof, in den Wartesälen und in der unmittelbaren Bahnhofsumgebung sowie der Empfang der Reisenden wurden von den Fürsorgerinnen und Fürsorgern gemäß ihrer individuellen Vereinbarung abwechselnd vorgenommen. Bei der Ankunft der Züge hatten sie sich hierbei so an den Gleisen aufzustellen, „daß der Strom des Reiseverkehrs an ihnen vorüberflutet[e]“.218 Wichtig war, dass sie selbst gesehen wurden, aber ebenso Ratsuchende und Hilfsbedürftige identifizieren und ansprechen konnten. Bei den Dienstleistungen, die den Hilfesuchenden gewährt wurden, unterschieden die bahnhofsmissionarischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zwei Kategorien. Erstens erbrachten sie Hilfen, die durch sie selbst geleistet werden konnten, und zweitens ermöglichten sie weitergehende Unterstützung, bei der städtische Stellen eingeschaltet werden mussten. In die erste Kategorie, die von den Bahnhofshelferinnen und -helfern selbst erfüllt wurden, gehörten Bitten allgemeinerer Art, wie beispielsweise eine finanzielle Unterstützung oder eine Fahrkarte, in beiden Fällen um Personen, die auf der Suche nach Arbeit nach Berlin gekommen waren, die Weiterreise zu ermöglichen. Der Mann oder die Frau wurden dann einer eingehenden Prüfung unterzogen, bei der festgestellt werden sollte, ob die betreffende Person ein tatsächliches Reiseziel, also eine Arbeitsstelle oder ein Obdach, in Aussicht hatte. Mit dieser Überprüfung sollte dem so genannten ungeordneten Wandern vorgebeugt werden, von dem man annahm, dass es in die Bettelei führen würde. Hierzu mussten die Binnenwanderer ihren Ausweis mit persönlichem Foto, ihre Angestellten- oder Invalidenversichertenkarte und ihren Wanderschein vorzeigen. Zum weiteren Beweis der Richtigkeit dieser Angaben waren Bahnhofshelferinnen und -helfer befugt, eventuelle Privat217 Von dem auf diese Weise inszenierten Raum war das hier beschriebene Zimmer jedoch nur ein Bestandteil. Ebenso gehörten die in bestimmter Weise gekleideten Mitarbeiterinnen und die in den Zügen aufgehängten Plakate oder auch Berichte und Artikel über die Bahnhofsmission, die beispielsweise von ihr als der „Friedensinsel“ berichteten, dazu. Der bahnhofsmissionarische Raum bestand also nicht nur aus sichtbaren Substanzen, sondern auch aus Atmosphären, Geräuschen und Gerüchen, die ebenfalls raumkonstituierend waren. Für die Organisation wie für die Mitarbeiterinnen bedeutete das, ihre öffentlichen Räume nicht nur zu konstituieren, sondern, indem sie sicherstellten, dass diese Räume wieder erkannt und wieder genutzt wurden, diese auch zu erhalten. Vgl. Löw, Raumsoziologie, S. 204ff. 218 Dienstanweisung für die Berliner Bahnhofsmission [1933], ADW, Cf, Gf/St 86, S. 1–25, hier: S. 4.

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briefe des Bittstellers zu lesen. Bei der Überprüfung handelte es sich jedoch nicht um von den staatlichen Behörden offiziell eingeräumte Kompetenzen, sondern vielmehr um Richtlinien, welche die Interkonfessionelle Konferenz für Bahnhofsmission219 für ihre Unterorganisationen verbindlich aufstellte. Konnten Frauen oder Jugendliche beiderlei Geschlechts auf Nachfrage der bahnhofsmissionarischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kein festes Reiseziel oder keine Arbeitsstelle angeben und sich dementsprechend nicht ausweisen, wurde sofort darauf hingewirkt, dass die betreffende Person ihre Reise beendete. Es oblag nun der jeweiligen Betreuerin oder dem Betreuer, welcher Schritt als nächstes zu erfolgen hatte. Entweder wurde die Frau, das Mädchen oder der Junge zurück in ihren beziehungsweise seinen Heimatort geschickt oder es wurde eine staatliche Stelle eingeschaltet. Denkbar war auch, dass die Person in einem bahnhofsfürsorgerischen oder anderen evangelischen Heim untergebracht und von dort nach Möglichkeit in Arbeit vermittelt wurde.220 Die binnenwandernden Frauen und Jugendlichen konnten ab diesem Punkt nicht mehr selbst entscheiden, ob sie in Berlin bleiben oder in eine andere Stadt respektive in die Heimat weiter- oder rückwandern wollten, und waren somit der Willkür der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausgesetzt. Die Geschlechtsspezifik der bahnhofsfürsorgerischen Hilfeleistungen, die massiv in die Autonomie von erwachsenen Frauen und Jugendlichen – nicht aber von erwachsenen Männern – eingriff, wird hier deutlich. Zwar hatte sich die Wahrnehmung binnenwandernder, obdachloser Frauen im Verlauf der 1920er Jahre in so weit geändert, dass in der Zeitschrift der Deutschen Bahnhofsmission nun von einer „Frauenwanderung“221 gesprochen und Frauen implizit als Wandernde benannt wurden. Die oben thematisierten weitgehenden Eingriffe in den Wanderungsprozess von Frauen zeigen jedoch, dass sich an der grundsätzlichen Struktur, nämlich Frauen als „Gefährdete“ einzustufen, nichts geändert hatte. Wurden nach der eingehenden Überprüfung schließlich Hilfeleistungen für die binnenwandernden Männer, Frauen und Jugendlichen gewährt, galt für die Fürsorgerinnen und Fürsorger als Richtlinie, dass niemals Bargeld gezahlt und Fahrkarten nur in Ausnahmefällen ausgegeben werden durften. Die Ausgabe von Fahrkarten an mittellose zuvor geprüfte und begutachtete Reisende, hatten die städtischen Behörden ab Mitte der 1920er Jahre an die Berliner Bahnhofsmission übertragen. Dadurch zeigt sich einerseits die Unterstützung, die die Berliner Bahnhofsmission in der Bewältigung binnenwandernder Menschen für die wohlfahrtspolitischen Aufgaben Berlins leistete, und andererseits auch das Vertrauen, das sich die Berliner Bahnhofsmission im städtischen Kontext im Verlauf der Jahrzehnte erarbeitet hat219 Die Interkonfessionelle Konferenz war die Dachorganisation der Bahnhofsmissionen und -dienste katholischer und evangelischer Konfession. Der Vorsitz der Arbeitsgemeinschaft wechselte jährlich sowohl zwischen Bahnhofsmission und Bahnhofsdienst als auch zwischen den Konfessionen. Die Jüdische Bahnhofshilfe war nicht Teil dieses Bündnisses, wurde aber zu manchen Fragen, die alle Konfessionen betrafen, beratend hinzugezogen. Vgl. Nikles, Soziale Hilfe, S. 53, 92–94. 220 Richtlinien für die Wanderhilfe der Bahnhofsmissionen und Bahnhofsdienste, Freiburg/Breisgau o. J. [vmtl. Ende der 1920er Jahre], ADW, CA, Gf/St 93, S. 1–4, hier: S. 2f. 221 D. Ulrich, S. 27.

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te.222 Statt finanzieller Hilfen sollten sie Verpflegung bereitstellen oder für eine Übernachtungsmöglichkeit sorgen. Diese Maßgabe musste deshalb strikt befolgt werden, weil davon ausgegangen wurde, dass vor allem durch Ausgabe von Bargeld „erfahrungsgemäß ein Bettlertum auf den Bahnhöfen groß gezogen [wird], das unsere Arbeit mißbraucht, uns die Freude raubt und nur Unheil anrichtet“.223 Der Bahnhofsdienst, von dem dieses Zitat stammt, nahm also an, dass finanzielle Unterstützung am Bahnhof die Arbeitsmigranten dazu verleiten würde, statt weiterhin auf Arbeitsuche zu gehen, das Betteln vorzuziehen. Damit wurde unterstellt, dass die Wanderer nicht wirklich bezahlte Arbeit suchten und sich auch nicht selbstverantwortlich um eine Unterkunft oder ein Reisebillet kümmern würden. Letztendlich ging es um die Kontrolle über die Migranten, die eher durch Naturalleistungen als durch finanzielle Unterstützung gegeben war, da die Empfänger einen Geldbetrag nach ihren Vorstellungen hätten verwenden können. Folgende absolute Zahlen aus einer Dienstanweisung für die Berliner Bahnhofsmission, in denen keine Geschlechtertrennung vorgenommen wurde, verdeutlichen, dass die Vorschriften am Schlesischen Bahnhof weitgehend eingehalten worden sind. Es fehlt eine Rubrik für Bargeldunterstützungen in dieser Statistik, vermutlich, weil Bargeld nicht ausgezahlt wurde. Während auch Fahrkarten nur in kleinen Mengen verteilt wurden, konnte ein deutlich größerer Teil der Hilfe suchenden Menschen verpflegt beziehungsweise in Heimen untergebracht werden. Von den 17 307 Personen,224 die im Verlauf des Jahres 1933 eine der beiden Organisationen am Schlesischen Bahnhof kontaktierten, erhielten 104 eine Fahrkarte, 849 wurden verpflegt und für 1 495225 wurde eine Unterkunftsmöglichkeit besorgt. Somit betreuten die Helferinnen und Helfer durchschnittlich eine von sieben gezählten Personen (etwa 15 Prozent).226 Wenn diese regulären, Hilfe suchenden Wanderer nach einer Unterkunft ausschauten, dann waren die Bahnhofsorganisationen bestrebt, vor allem die Jugendlichen in eines der Heime, die der Bahnhofsmission oder dem Bahnhofsdienst angeschlossen waren, zu vermitteln. Bei der begrenzten Platzkapazität der Heime war das jedoch nicht immer möglich, so dass die überwiegende Zahl der um Unterkunft nachsuchenden Personen in Obdachlosenasylen untergebracht wurde. Der Umstand, dass mittellose Migranten auch in den 1930er Jahren noch besonders häufig am Schlesischen Bahnhof ankamen, zeigt sich darin, dass Vermittlungen in städtische Asyle am Schlesischen Bahnhof häufiger als an anderen Berliner Bahnhöfen 222 Vgl. Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend zu Berlin 1925–1927, BDW, C I 2927, S. 11. 223 Grundsätze und Winke für den Evangelischen Bahnhofsdienst o. O. o. J. [1920er Jahre], S. 1–9, hier: S. 7. 224 Die Zahl ergibt sich aus der Addition aller unter der Rubrik „Personen“ aufgeführten Männer und Frauen. Vgl. Dienstanweisung für die Berliner Bahnhofsmission [1933], ADW, Cf, Gf/St 86, S. 1–25, hier: Anhang/Statistik. 225 Die Zahl ergibt sich aus der Addition aller Unterkunftsmöglichkeiten unter der Rubrik „Unterbringung mit Übernachtung“. Vgl. Ebd. 226 Die Prozentzahl stimmt ebenso mit den von der Berliner Bahnhofsmission angegebenen Hilfeleistungen als Anteil der Zuwanderer laut offiziellen Angaben für das Jahr 1932 überein. Vgl. hierzu FN 20.

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stattfanden.227 Während der Weimarer Republik hatten sich die Obdach suchenden Männer und Frauen entweder an das städtische Asyl im Prenzlauer Berg, die „Palme“, oder an das privat organisierte, liberale, im Wedding gelegene Asyl „Wiesenburg“, wenden können. Zur Zeit der hier angeführten statistischen Erhebung im Jahr 1933, stand den obdachlosen Männern und Frauen jedoch nur noch die „Palme“ zur Verfügung, da die „Wiesenburg“ bereits seit zwei Jahren geschlossen war.228 Die Asyle waren wegen des Grundsatzes des fehlenden Arbeitszwanges immer wieder Angriffen ausgesetzt. In der „Wiesenburg“ hatte es darüber hinaus auch keine Trennung der aufzunehmenden Personen in selbst- und unverschuldete gegeben. Besonders Pastor Bodelschwingh, der Vater des Postulats „Arbeit statt Almosen“, hatte als Abgeordneter im Preußischen Landtag wegen dieser fehlenden Unterscheidung speziell gegen das Obdachlosenasyl polemisiert und forderte darüber hinaus Unterstützung für mittellose Wanderer erst nach vorab geleisteter Arbeit. Obdachlosen sollte zwar grundsätzlich geholfen werden, vor allem aber wollte man sie zum Zweck eines sehr einseitig verstandenen gesellschaftlichen Nutzens, erziehen, indem Hilfen an Arbeitsleistungen gebunden bleiben sollten und man davon ausging, dass Obdachlose nicht unbedingt unverschuldet in ihre Situation geraten seien. Kritiker einer zu liberalen Obdachlosenpolitik, wie Bodelschwingh, waren langfristig erfolgreich. Beide Obdachlosenasyle, die „Wiesenburg“ wie auch die „Palme“, entwickelten ab der Mitte der 1920er Jahre eine striktere Obdachlosenpolitik. In der „Wiesenburg“ war der Polizei kontrollierender Zugang gewährt worden und in der „Palme“ mussten die Obdach suchenden Personen Arbeitsleistungen nachweisen. So wurde gegenüber der „Palme“ 1925 eine Arbeitsstätte errichtet, wodurch sich Männer und Frauen die Unterkunft und Verpflegung in diesem Asyl erarbeiten konnten.229 Die Bahnhofsfürsorgerinnen und -fürsorger hatten ebenso große Vorbehalte, die von ihnen betreuten jugendlichen Obdachlosen an die großen Obdachlosenasyle der Stadt zu überweisen, weil dort eben auch Landstreicher und Vaganten, also langfristig arbeits- und obdachlose Personen nächtigten. So schrieb der Evangelische Bahnhofsdienst rückblickend über die Gründe für den Aufbau eines eigenen Berliner Heimes für junge Wanderer: „Das große Asyl für Obdachlose in Berlin war mit seiner zweifelhaften Belegung eine Gefahr für unsere Jugendlichen an Leib und Seele“.230 Auch Bahnhofsmissionarinnen bemühten sich bei Überfüllung der bahnhofsmissionarischen Heime lieber darum, für die betreffende Person die Erlaubnis für eine Nacht im Wartesaal bei der Bahnhofswache oder bei der am Schlesischen Bahnhof vorhandenen Hilfsstelle zu erwirken und bemerkten uni-

227 Dienstanweisung für die Berliner Bahnhofsmission [1933], ADW, Cf, Gf/St 86, S. 1–25, hier: Anhang/Statistik. 228 Schenk, S. 41–45. http://www.diss.fu-berlin.de/2004/146/; Vgl. auch Peter Kiefer, Impressionen von der Ankunft im Industriezeitalter, in: Berliner Festspiele GmbH, S. 217–228, hier: S. 221. 229 Schenk, S. 45. http://www.diss.fu-berlin.de/2004/146/. 230 Tätigkeitsbericht des Evangelischen Bahnhofsdienstes in Deutschland e.V., Berlin 1937, hier: S. 6.

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sono: „Das ist immer noch besser als im Asyl“.231 Der Grundsatz, der an Arbeitswilligkeit gebundenen Hilfeleistungen, wurde auch von einigen Bahnhofsdiensten und Bahnhofsmissionen umgesetzt, indem manche Bahnhofsorganisationen die hilfsbedürftigen Männer Holz hacken und dadurch Brennholz zum Verkauf herstellen ließen. Die Frauen wurden dazu herangezogen, Treppen auf den Bahnhöfen zu putzen oder Reklamezettel für die Bahnhofsmission zu verteilen.232 3.2.3 Weiterführende Hilfen und die Kooperation mit städtischen Stellen Zur zweiten Kategorie – um die es im Folgenden geht – gehörten die weiterführenden Maßnahmen und die Zusammenarbeit mit kommunalen Ämtern. Verschiedene städtische Stellen wurden von den bahnhofsmissionarischen Fürsorgern vor allem bei so genannten Gefährdeten beiderlei Geschlechts kontaktiert. Hierzu legten die Bahnhofsmissionarinnen und -missionare eine Frauen- und eine Männerkartei an und führten die am Bahnhof auffällig gewordenen Personen dann einer nach Geschlechtern getrennten Betreuung zu. Während sich die Fürsorger des Bahnhofsdienstes um Männer und Jungen kümmerten, wurden die Frauen, Mädchen und Familien an die Fürsorgerinnen der Bahnhofsmission weitergeleitet. Worin bestand die „Gefährdung“ der betreffenden Personen? Prinzipiell gingen die Bahnhofsmissionen und -dienste davon aus, dass binnenwandernde Menschen unter einem größeren Risiko standen gesellschaftlich abzurutschen, weil sie arbeitslos und häufig auch obdachlos waren. So konnten die hier thematisierten Personen durch Abwanderung aus ihren heimatlichen Gebieten in eine Situation geraten sein, die von den Bahnhofsfürsorgerinnen und -fürsorgern als „gefährdet“ eingestuft wurde. Es war aber ebenso möglich, dass es sich um Personen handelte, die schon länger in Berlin ansässig waren, und sich aus anderen Gründen am Bahnhof aufhielten und so den bahnhofsmissionarischen Helfern aufgefallen waren. Da sich gerade auf Bahnhöfen Prostituierte, Kleinkriminelle, und Obdachlose sammelten, kam es durchaus vor, dass die entsprechende Person nicht von alleine Kontakt zu einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter der beiden Bahnhofsorganisationen gesucht hatte, sondern von diesen „aufgegriffen“ wurde. Auch wandernde Männer konnten also in Situationen geraten, die sie aus der Sicht der bahnhofsmissionarischen Fürsorgerinnen und Fürsorger „gefährdeten“. Dabei wurden sie niemals zu „Gefährdeten“ stilisiert, sondern blieben Wanderer in meist schwierigen, ökonomischen Situationen.233 Dem zeitgenössischen Bild des wandernden, obdachlosen 231 Drang nach der Großstadt. Die hilfsbereite Bahnhofsmission. Presseartikel, [1920er Jahre], ADW, CA, Gf/St 99. 232 H Tiedtke, Aus der Geschichte des Evangelischen Bahnhofsdienstes Königsberg, in: Evangelischer Bahnhofsdienst in Königsberg, 26, 1934, S. 7–18, hier: S. 14. Zweiter Lehrgang der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission am 8.–11. Oktober 1926 [Berlin 1926], ADW, CA, Gf/St 90, S. 2f. 233 Zuweilen konnten Männer ebenfalls sittlichen Gefährdungen ausgesetzt sein. Während es bei Frauen ein „double-binding“-Phänomen gab, nämlich, dass sie – vor allem im städtischen Umfeld – „gefährdet“ waren und gleichzeitig von ihnen eine vermeintliche sittliche Gefährdung

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Mannes, der in der Großstadt Gefahr lief in kriminelle Aktivitäten verwickelt zu werden und gesellschaftlich abzurutschen, stand das der wandernden, möglicherweise obdachlosen Frau gegenüber, die sittlichen Risiken in der Stadt ausgesetzt war. Verdiente eine Frau ihren Lebensunterhalt schließlich als Prostituierte, so galt das als die weibliche „Entsprechung zum Landstreicher, Bettler und Vagabunden“.234 Bevorzugt überwiesen wurden zum einen Frauen und Mädchen, die arbeitsund obdachlos oder schwanger waren, verwahrlost erschienen oder bei denen die Fürsorgerin eine Geschlechtskrankheit vermutete, weil die betreffende Person beispielsweise als Prostituierte arbeitete.235 Zum anderen kamen männliche Jugendliche ins Visier, bei denen der Bahnhofsfürsorger auf fehlende Papiere, wie Ausweis, Wanderschein oder andere Identifikationsbelege, aufmerksam wurde. Die sich häufiger am Bahnhof oder in seiner Umgebung aufhaltenden Personen beiderlei Geschlechts, wurden ebenso weitergeleitet. Frauen wurden dann besonders beobachtet, wenn sie der Bahnhofsmissionarin in männlicher Begleitung aufgefallen waren und deshalb in den Verdacht gerieten wechselnde Geschlechtspartner zu haben. Bei männlichen Jugendlichen vermutete man, dass ihnen möglicherweise finanzielle Mittel fehlten an anderen Orten zu nächtigen oder weiterzuwandern. Bei diesen Personen ging der Bahnhofsdienst davon aus, dass es sich bei ihnen um so genannte Ausreißer handelte, die aufgrund einer am Heimatort begangenen Straftat flüchtig und so nach Berlin gekommen waren.236 Obwohl laut der Statistik von Bahnhofsmission und -dienst an den Berliner Bahnhöfen Überweisungen an viele verschiedene Ämter, Heime und andere konfessionelle wie kommunale Stellen vermerkt wurden, werden hier nur die Überweisungen an das Berliner Pflegeamt und die Einweisungen in das Jugendheim im Polizeipräsidium analysiert. Der Grund liegt darin, dass die Dienstanweisung für die Berliner Bahnhofsmission und den Bahnhofsdienst vermerkt, dass „gefährdete“ männliche Jugendliche in das Jugendheim sowie „gefährdete“ Mädchen und Frauen in das Pflegeheim zu überweisen seien. Ich gehe deshalb – entsprechend dieser Dienstanweisung – davon aus, dass sich die genannten Zahlen für das Jugendheim auf männliche Personen und für das Pflegeamt auf weibliche Personen beziehen, obwohl in der Statistik selbst keine Geschlechtertrennung vorgenommen wird. Laut Angaben von Bahnhofsmission und -dienst am Schlesischen Bahnhof wurden ausging, lag der Fall bei Männern anders. Sittlich gefährdet waren Männer nie durch sich selbst, sondern immer durch Frauen. So warnte der Trägerverein des Berliner Bahnhofsdienstes junge Männer vor dem Zuzug nach Berlin folgendermaßen: „(…) Da verführt der Blick und die unaufdringliche Anrede einer vorüberwandelnden ‚Dame‘. Hier Trunk, dort Spiel, hier Tanz, dort Unsittlichkeit – und das Ende?“, Sechster Jahresbericht der Gesellschaft zur Fürsorge für die zuziehende männliche Jugend 1902–1903, Berlin 1903, S. 5f. Dass von „gefährdeten“ Frauen, vor allem Prostituierten, und nicht von Männern ein, wie bereits weiter oben ausgeführt wurde, gesamtgesellschaftliches Problem ausging und sie dafür verantwortlich gemacht wurden, drückte sich darin aus, dass sich die Prostituierten und nicht die Freier auf Geschlechtskrankheiten regelmäßig untersuchen lassen mussten. 234 Krafft, S. 94. 235 Dienstanweisung für die Berliner Bahnhofsmission [1933], ADW, Cf, Gf/St 86, S. 1–25, hier: S. 11. 236 Ebd. und S. 14.

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1933 insgesamt 299 Fälle vermerkt, bei denen eine nicht näher erläuterte ­„besondere Gefährdung ab[ge]wehr[t]“237 werden konnte. 89, in der Mehrzahl vermutlich männ­ liche Personen, wurden als „Ausreißer“ in der Statistik verzeichnet, aber nur drei Personen als an das Jugendheim des Polizeipräsidiums weitergeleitet vermerkt. Aus der Statistik geht nicht hervor, ob die an das Heim weitergeleiteten Jungen kongruent mit den vermerkten Personen der Kategorie „Ausreißer“ waren. Bei der geringen Zahl an Überstellungen an das Jugendheim im Polizeipräsidium ist davon auszugehen, dass die Bahnhofsfürsorger, wenn sie es mit auffälligen männlichen Personen zu tun hatten, die Fälle durch Ermahnungen, Zurechtweisungen und Appelle an die Jugendlichen eher selbst lösten und kommunale Stellen außen vor ließen. Im Vergleich zu den männlichen Kollegen machten die Bahnhofsmissionarinnen laut Statistik schneller von der Möglichkeit normsetzender Maßregelungen Gebrauch. Insgesamt wurden 43 Frauen oder Mädchen an das Pflegeamt überwiesen ohne Angabe von Gründen beziehungsweise Motiven, die die Bahnhofsmissionarinnen bewogen, die Behörde einzuschalten. Hier wird die Willkür der Kriterien, welche Personen überstellt wurden und welche nicht, besonders deutlich. Die Statistik führt keinerlei Vergleichszahlen auf wie viele Frauen grundsätzlich als so genannt gefährdet eingestuft worden waren, sieht man von den Fällen ab, die unter die Rubrik „besondere Gefährdung“ fielen und bei denen unklar bleibt, wie das Verhältnis Männer zu Frauen in dieser Zählung ist. Die Statistik klärt auch nicht darüber auf, ob einige Personen erneut aufgegriffen wurden, oder ob es sich immer um andere Personen handelte. Die Zahl der Überweisungen an das Pflegeamt erscheint jedoch sehr hoch, wenn man bedenkt, dass somit durchschnittlich mehr als drei weibliche Personen monatlich an diese Behörde als sittlich Gefährdete überstellt wurden. Das waren so viele Frauen und Mädchen wie männliche Jugendliche in einem Jahr an das Jugendheim überwiesen wurden. Darüber hinaus war die Vermittlung an das Pflegeamt ein für die betroffene Frau weitreichender Schritt und hatte andere Konsequenzen als die Einweisung in das Jugendheim im Polizeipräsidium. Während die Überweisung an das Pflegeamt sehr wahrscheinlich den staatlichen Zugriff auf die Frau durch kontinuierliche soziale Kontrolle nach sich zog, bedeutete eine Überstellung an das Heim im Polizeipräsidium lediglich die Übernachtung in einem Jugendheim. Das Heim war zwar im Polizeipräsidium untergebracht, unterstand administrativ aber dem Jugendamt. Die Polizei sollte überhaupt nur dann von dem Fürsorger des Bahnhofsdienstes eingeschaltet werden, wenn der Jugendliche flüchten wollte. Zu beachten ist auch, dass in das Pflegeamt weibliche Jugendliche und erwachsene Frauen eingewiesen werden konnten, wohingegen die Überstellungen an das Jugendheim nur für männliche Jugendliche vorgesehen war. Die oben bereits thematisierten Eingriffe in die Autonomie von Frauen, werden hier bestätigt. Fast immer galten für Frauen und Jugendliche beiderlei Geschlechts dieselben Regeln, während erwachsene Männer durch die bahnhofsmissionarischen Mitarbeiter sehr viel seltener erfasst wurden. Durch die Überstellungs- und Kooperationspraxis mit kommunalen Stellen verdeutlicht sich, dass die Einflussmöglichkeiten der Helferinnen und Helfer von 237 Ebd., Anhang/Statistik.

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Bahnhofsmission und Bahnhofsdienst im Entscheidungsprozess, wer als gefährdet galt und überstellt wurde, relativ groß waren. Dies zeigte sich auch an dem umgekehrten Fall, wenn die Hilfe suchende Person eine kommunale Stelle wie das Wohlfahrts- oder Pflegeamt selbst kontaktieren wollte. Auch hier oblag es dem jeweiligen bahnhofsmissionarischen Helfer respektive der Helferin, das Bittgesuch aus „erzieherischen“ Gesichtspunkten ablehnend oder befürwortend zu begutachten. Sollte etwa ein befürwortetes Gesuch von Seiten des Wohlfahrtsamtes abgelehnt werden, konnten Bahnhofsdienste und -missionen andererseits aber auch erneut die Dringlichkeit des jeweiligen Falles verdeutlichen.238 So berichtete die Bahnhofsmission von einem 16-jährigen Landhelfer, der krankheitsbedingt seine Stelle in Ostpreußen verloren hatte und sich auf dem Weg nach Hause oder auf der Suche nach neuer Arbeit teilweise zu Fuß fortbewegt und teilweise die Bahn benutzt hatte, bis er von der Bahnhofsmission in einem Bahnhofswartesaal aufgegriffen wurde. Das Wohlfahrtsamt bezahlte zwar einen dreitägigen Krankenhausaufenthalt zur „Schonung“ des Jungen, verwies diesen dann aber an das Arbeitsamt, das wiederum die Verantwortlichkeit dem Wohlfahrtsamt zuwies. „Da griff die Bahnhofsmission ein. Sie beschaffte ein ärztliches Attest, das die Ungeeignetheit des Jugendlichen für Landarbeit bescheinigte, telefonierte mit dem Arbeitsamt des Heimatorts, das sich zur Kostenerstattung bereit erklärte. Nunmehr verauslagte das Arb.A. St. die Fahrkarte [zur Heimreise]“.239

Die Hilfeleistungen und Maßnahmen der Bahnhofsmission und des Bahnhofsdienstes bestanden aus zwei Kategorien, nämlich erstens aus den Hilfen am Bahnhof und zweitens aus der Kooperation mit kommunalen Stellen. Die bahnhofsmissionarischen Unterstützungsleistungen vor Ort bezogen sich vor allem darauf, den binnenwandernden Personen mit einer Fahrkarte oder einer Übernachtungsmöglichkeit in einem bahnhofsmissionarischen Heim zu helfen. Finanzielle Unterstützungen wurden strikt abgelehnt, weil man zum einen davon ausging, dass Geld zur Bettelei statt zur Arbeitssuche führen würde, und zum anderen befürchtet wurde, dass die Kontrolle über die wandernden Personen verloren ginge. Aus den Ausführungen wurde deutlich, dass der Handlungsrahmen der Bahnhofsmissionarinnen und –missionare insofern weit gesteckt war, weil sie eine klare Entscheidung trafen, welche Personen am Bahnhof unbehelligt blieben und bei welchen Personen so genannte weiterführende Maßnahmen in die Wege geleitet wurden. In den Fokus kamen vor allem so genannte Gefährdete beiderlei Geschlechts, worunter sehr willkürlich jede Person fallen konnte, die den Fürsorgerinnen und Fürsorgern am Bahnhof auffällig erschien. Es verdeutlichte sich, dass Mädchen und Frauen nicht nur sehr viel häufiger an städtische Ämter überwiesen wurden als männliche Jugendliche, sondern dass die Überstellungen einen größeren Eingriff in die Persönlichkeitsrechte bedeuteten. Frauen, die an das Pflegeamt überwiesen wurden, waren 238 Richtlinien für die Wanderhilfe, [Ende der 1920er Jahre], ADW, CA, Gf/St 93, S. 1–4, hier: S. 2f. 239 Schreiben des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission an die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 1. Februar 1934, ADW, CA, Gf/St 328, S. 3.

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sehr wahrscheinlich dauerhaft registriert und die staatliche Kontrolle über die Person damit gewährleistet. Für männliche Jugendliche bedeutete die Weiterleitung an das Jugendheim vorläufig nur eine Übernachtung in diesem. Die striktere Beobachtung von Frauen ergab sich folgerichtig aus der Unterteilung in „Wanderer“ und „Gefährdete“. Man nahm an, dass Männer und männliche Jugendliche in erster Linie in einer ökonomisch schwierigen Situation waren. Waren sie gefährdet, dann deshalb, weil die Großstadt viele Versuchungen bereithielt. Frauen hingegen stigmatisierte man nicht nur als selbst gefährdet, sondern unterstellte, dass von ihnen genau jene Verlockungen ausgingen, die Männer gefährdeten. 3.3 Die Zusammenarbeit mit der weiblichen Polizei am Stettiner Bahnhof . in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus Im Jahr 1926 wurden Frauen zum ersten Mal in Berlin kriminalpolizeilich ausgebildet.240 Ein Jahr später nahmen die ersten Beamtinnen unter der Führung der kurz zuvor berufenen Kriminalrätin Friederike Wieking ihre Arbeit in Berlin auf.241 Die Berliner „weibliche Polizei“ hatte ihre Vorläufer in Köln und dann in Hamburg gehabt. Speziell das Hamburger Projekt unter der Leitung von Josefine Erkens stellte ein Alternativmodell bis zur dahin üblichen „staatliche[n] Reglementierung der Prostitution durch die männliche ‚Sittenpolizei‘“242 dar. Durch die Sittenpolizei hatte sich der Staat ein wirkungsvolles Instrument gesetzlich geschützter Doppelmoral geschaffen: Prostituierte wurden – trotz des prinzipiell legalen Status der 240 Die ersten Schritte zur Organisation einer weiblichen Polizei hatte es bereits 1903 gegeben, als der preußische Staat zum ersten Mal Geldmittel zur Verfügung stellte, um die Mitarbeit von Frauen bei der Polizei zu ermöglichen. Diese Frauen sollten überall da fürsorgerisch tätig werden, wo sich bei der Polizei hilfsbedürftige Menschen einfanden, um damit polizeiliche Maßnahmen entweder zu ergänzen oder zu ersetzen. So entsandte die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge im Jahr 1909 die Regierungsrätin Margarete Dittmer als Fürsorgerin in das Berliner Polizeipräsidium. In der von ihr geleiteten Wohlfahrtsstelle wurden obdachlos und kriminell gewordene Jugendliche beiderlei Geschlechts mit sozial-fürsorgerischen Hilfen, jedoch ohne polizeiliche Kompetenzen betreut. Nachdem auch von den zukünftigen Polizeibeamtinnen selbst problematisiert worden war, dass ihnen die polizeilichen Ausbildungsgrundlagen fehlten, reifte schließlich der Entschluss, eine weibliche Polizei zu schaffen. Da es Befürworterinnen und Befürworter des englischen Vorbildes gab, nämlich bewaffnete Streifenbeamtinnen in Uniform einzusetzen, wurde dieses Modell in Köln, in der die erste weibliche Polizei 1923 entstanden war, getestet. Schließlich hat sich aber der Vorschlag durchgesetzt, der durch die preußische Fachgruppe der Gefährdetenfürsorgerinnen angeregt worden war. Dieser empfahl die preußische weibliche Polizei – weder uniformiert noch bewaffnet – für Einsätze heranzuziehen. Vgl. Magistrat der Stadt Berlin (Hrsg.), Denkschrift der Kriminal-Inspektion weiblicher Polizei in Berlin zum 10-jährigen Bestehen am 26. April 1937, LAB, A Rep. 001–02, Nr. 2349/1, S. 1–44, hier: S. 4. 241 Ebd., S. 5. 242 Prostitution war zwar im Kaiserreich nicht verboten; durch das gültige Reichsstrafgesetz, das bestimmte, dass sich die Prostituierten regelmäßigen Gesundheitskontrollen und den Anordnungen der Sittenpolizei zu unterwerfen hatten, war jedoch ein weitgehender Zugriff auf die Frauen und deren Unterordnung gesichert. Vgl. Nienhaus, Nicht für eine Führungsposition, S. 10f.

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Prostitution – schuldig gesprochen und durch behördliche Anordnungen bedrängt; die männlichen Freier und Zuhälter ließ man jedoch unbehelligt. Im Gegensatz dazu wollte das Reformprojekt „weibliche Polizei“ unter Josefine Erkens, explizit keinen Zwang und Abschreckung gegen Prostituierte und auffällig gewordene Personen anwenden und Vernehmungen nicht nur nach rein strafrechtlichen Gesichtspunkten durchführen. Stattdessen achteten die Polizistinnen darauf, die Rechte der Frauen zu betonen und ihnen mit Respekt zu begegnen. Dementsprechend waren viele Beamtinnen der Auffassung, dass Strafmaßnahmen kontraproduktiv waren, wohingegen die pädagogische Betreuung der „Schützlinge“ in Erziehungsanstalten und in Kooperation mit anderen fürsorgerischen Einrichtungen, wie den Bahnhofsmissionen aber auch den Jugend-, Wohlfahrts- und Gesundheitsämtern, Erfolg versprechender erschien. In erster Linie sollte die weibliche Polizei deshalb „vorbeugende, schützende und heilende Maßnahmen“243 ergreifen. Die Berliner weibliche Polizei unter Friederike Wieking war sehr viel restriktiver und konservativer ausgerichtet als das Hamburger Pendant unter Josefine Erkens. Friederike Wieking zeichnete sich vielmehr durch „vorsichtiges Wohlverhalten gegenüber der Obrigkeit und ‚stilles Wirken‘ aus.“244 Diese Einschätzung der Historikerin Ursula Nienhaus wird besonders durch Wiekings Verhalten sowie die Organisation der weiblichen Polizei im „Dritten Reich“ unterstrichen.245 Die gesellschaftspolitische Intention der Hamburger weiblichen Polizei unter Erkens dürfte für die preußische weibliche Polizei deshalb nur sehr eingeschränkt Geltung gehabt haben.246 Die drei Dezernate der Berliner Kriminalinspektion, die mit insgesamt 36 Beamtinnen arbeiteten, beschäftigten sich erstens mit Kindesmisshandlungen, zweitens mit Sittlichkeitsverbrechen247 und drittens mit Gefährdetenfürsorge. Zur Zusammenarbeit mit der Bahnhofsmission vor Ort kam es vor allem durch Beamtinnen der Dienststelle „Gefährdetenfürsorge“, die auch „weibliche Gefährdeten Polizei“ genannt wurde. Das waren jene Kriminalpolizistinnen, die speziell im Außendienst, also im Berliner Stadtgebiet, eingesetzt wurden und daher auf die Zusam243 Nienhaus, Nicht für eine Führungsposition, S. 24. 244 Ebd., S. 92. 245 Nähere Ausführungen siehe in dem Unterkapitel 3.3.2 (Die Situation im „Dritten Reich“ bis zur Auflösung der Bahnhofsmission) dieser Arbeit. 246 Nienhaus, Nicht für eine Führungsposition, S. 24–26 und 37. Die Studie von U. Nienhaus bezieht sich hauptsächlich auf das Reformprojekt „weibliche Polizei“ von Josefine Erkens, die in Köln und Hamburg tätig war. In Bezug auf die Ausrichtung der preußischen im Gegensatz zur Hamburger Polizei ist interessant, was Ursula Nienhaus über den Umgang der weiblichen Polizei mit Prostituierten oder „Gefährdeten“ ausführt, der im Einzelfall im Ermessen der ausführenden Beamtin gelegen hätte. Nienhaus konkretisiert diese Entscheidungsfreiheit der Kripobeamtinnen folgendermaßen: “[sie] praktizierten ‚Polizeifürsorge‘ entsprechend je nach individuellem Verständnis der weiteren feministischen Zielsetzung daher teils mehr als ein umfassend gesellschaftliches Gegenkonzept, teils aber lediglich als Modernisierung reglementierender, kontrollierender und strafender Eingriffe ‚von oben‘“. Vgl. Nienhaus, Nicht für eine Führungsposition, S. 17. 247 Die Spezialdezernate „Kindesmisshandlungen“ und „Sittlichkeitsverbrechen“ arbeiteten an Delikten wie Kindsmord, Abtreibung, Unzucht mit Personen unter 14 Jahren, Verführung minderjähriger Mädchen, Vergewaltigung und Körperverletzung.

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menarbeit mit anderen Organisationen, die dasselbe Einsatzgebiet hatten, angewiesen waren.248 Für die Abteilung weibliche Gefährdeten Polizei, die ihre Arbeit erst im Sommer 1928 aufgenommen hatte, arbeiteten acht Beamtinnen, die für das Gebiet Groß-Berlin zuständig waren. Die Aufgabe des Dezernates wurde in der Denkschrift der Berliner Kriminalinspektion folgendermaßen definiert: „Die weibliche Gefährdeten-Polizei als Organ des Staates hat das dienstliche Gebot, überall dort Schutz zu gewähren, wo das Elternhaus oder sonstige zur Erziehung Berechtigte den Minderjährigen im Augenblick der Gefährdung nicht erreichen können“.249 Die praktische Arbeit war in vier Abschnitte gegliedert und umfasste die Bereiche Fahndung, Erfassung, Mitwirkung und Zusammenarbeit. Gefahndet wurde nach Kindern und weiblichen Jugendlichen, die von Angehörigen oder Fürsorgestellen gemeldet wurden. Neben „gefährdeten“ Kindern und Jugendlichen wurden auch erwachsene Frauen erfasst, wenn sie obdachlos und krank waren oder sich in einer anderen hilfsbedürftigen Situation befanden. Wie der Bereich Mitwirkung und vor allem Zusammenarbeit gestaltet sein konnte, wird im folgenden Abschnitt am Beispiel der Kooperation und Arbeitsteilung der Berliner Bahnhofsmission mit der weiblichen Polizei am Stettiner Bahnhof näher erläutert. Zur Zusammenarbeit kam es, weil beide Organisationen an den Berliner Bahnhöfen aufeinander trafen und sich mit den Problemen, Risiken und der möglichen Gefährdung von Frauen beschäftigten. Was waren ihre gemeinsamen und unterschiedlichen Befugnisse? Welche Schwierigkeiten waren dabei zu bewältigen? Es wird die These aufgeworfen, dass die Berliner Bahnhofsmission den Aufbau der weiblichen Polizei anfänglich weder als ein neues Wirkungsfeld von Frauen in der Öffentlichkeit, noch als Unterstützung bei der Bewältigung der Gefährdetenarbeit begrüßte. Vielmehr empfanden die Bahnhofsmissionarinnen eine Konkurrenzsituation zu den Kriminalbeamtinnen, weil diese in ihren Raum eingriffen, und kooperierten somit nur zögerlich mit den Polizistinnen. An der Zusammenarbeit der beiden Organisationen verdeutlicht sich zum einen das Tätigkeitsfeld der Bahnhofs248 Natürlich konnten auch Kriminalpolizistinnen der anderen Dezernate von den Bahnhofsmissionen kontaktiert werden. Diese Situation war beispielsweise bei Vorfällen, die im Privaten stattfanden, gegeben. So nahmen sich die Polizistinnen des Sittlichkeitsdezernates inzestuösen Fällen an. Auch die Bahnhofsmission hatte den Anspruch vorzugsweise Dienstmädchen bei Problemen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, also in dem Haushalt in dem sie arbeiteten, zu unterstützen. Hierbei ergab sich die Problematik, dass sowohl die Gesellschaft, als auch die Bahnhofsmission selbst eine Teilung in eine vermeintlich klar geschiedene öffentliche und private Sphäre vornahm. Dieses Konzept, das eine Trennungslinie zog zwischen zwei Bereichen, deren Grenzen fließend sind, nämlich dem Privaten und dem Öffentlichen, stellt eine durch Regeln und Ressourcen abgesicherte gesellschaftliche strukturelle Konstruktion dar, die einen vermeintlich friedlichen Privatbereich vorgab, der bis zu einem gewissen Grad vor dem Zugriff der Gesellschaft geschützt sein sollte. Vgl. Hausen, Öffentlichkeit, in: Hausen/Wunder, S. 81– 88. In ihrer praktischen Arbeit waren die Bahnhofsmissionarinnen dann jedoch mit sexuellen Übergriffen an Dienstmädchen auch hinter verschlossenen Türen konfrontiert, konnten hier aber nicht wirklich eingreifen. Gerade bei sexuellen Übergriffen, die innerhalb der (Herrschafts‑)Familie stattfanden, konnte dieses Konstrukt zum Verhängnis des Opfers werden. In diesen Fällen konnte es vorteilhaft sein, wenn die Bahnhofsmissionarinnen die Kriminalpolizistinnen einschalteten. 249 Magistrat der Stadt Berlin, Denkschrift, LAB, A Rep. 001–02, Nr. 2349/1, S. 1–44, hier: S. 29.

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missionen und deren Netzwerkstrukturen in der Arbeit an und für „Gefährdete“. Zum anderen wird auf den bahnhofsmissionarischen Handlungsspielraum verwiesen, dessen Sicherung die Helferinnen im Blick hatten und dadurch auf die weibliche Polizei misstrauisch reagierten. Der Stettiner Bahnhof und das Prostitutionsviertel in Berlin „Mitte“ Der im Norden Berlins an der Invalidenstraße gelegene Stettiner Bahnhof galt als sehr modern, weil er nach seinem Umbau im Jahr 1870 heller und kompakter gestaltet worden war und eine verglaste Stirnwand sowie lediglich vier Gleise und einen Zungenbahnsteig erhalten hatte. Nach Berlin Reisende kamen vor allem aus Pommern und Brandenburg und Städten wie Eberswalde, Stettin, Angermünde und Oranienburg auf dem Stettiner Bahnhof an. Bei den Berlinern selbst, die von diesem Bahnhof vornehmlich an die „Badewanne“ Berlins, die Ostsee, reisten, war er als Ferienbahnhof sehr beliebt, galt aber als in einer düsteren, ärmlichen Gegend gelegen. Die Szenerie vor dem Bahnhof wirkte wie ein typisches Bahnhofsviertel. Vor anderen Bahnhöfen, wie dem Anhalter und Potsdamer Bahnhof, gab es parkähnliche Anlagen, die eine Bollwerkfunktion gegenüber dem urbanen Leben übernahmen. Am Stettiner Bahnhof hingegen waren die Reisenden beim Heraustreten aus dem Bahnhof sofort mit dem Großstadtleben konfrontiert. Es gab keinen Vorplatz mit reichhaltigem Baumbestand, sondern eine Straßenbahnwartehalle und eine öffentliche Toilette, Autos und Droschken, das Lokal „Aschinger“ und die beiden Hotels „Baltic“ und „Am Stettiner Bahnhof“.250 Auch die weitere Bahnhofsumgebung wirkte wenig einladend. So wies das um die Friedrichstraße gelegene Amüsier- und Prostitutionsviertel, das sich Richtung Norden zum Stettiner Bahnhof fortsetzte, hier kaum noch Eleganz auf. Die Prostitution, die sich traditionell um die Friedrichstraße etabliert hatte und vor allem auch Unter den Linden und südlich davon in der Behrens- bis zur Leipziger Straße und östlich bis zum Alexanderplatz zu finden war, zog sich ebenfalls in den Norden über das Oranienburger Tor zur Novalisstraße, die direkt zum Stettiner Bahnhof führte. Straßenprostitution fand sich auch in der Elsässerstraße, die sich südöstlich an die Novalisstraße anschloss. Der zeitgenössische Beobachter Hans Ostwald beschrieb 1921 das Prostitutionsviertel nahe dem Stettiner Bahnhof folgendermaßen: „Und selbst in der dunklen Novalisstraße lockt es zärtlich. Hier sind andere Farben lebendig. Vor verhängten Kneipenfenstern baumeln rote und blaue Kugeln, gegenüber einer schwarzgrünen, hohen kahlen Fabrikmauer. Hier und da ist von ihr der Putz abgefallen. Wie wenn er die Schande der Gegend symbolisieren wollte. Widerwärtig sieht diese graue, kahle Hinterwand aus, wie wenn sie den Aussatz hätte – und voll ekelhafter Narben dastände das Symbol des Viertels, durch dessen sämtliche Straßen es flüstert: ‚Na – Schatz?‘“251

250 Gottwald/Nowak, S. 28f. 251 Zit. nach: Hans Ostwald, Die Berlinerin. Kultur- und Sittengeschichte Berlins, Berlin 1921, S. 387f.

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Abbildung 12: Der Stettiner Bahnhof um 1925. Die Borsigstraße, in der das erste Marienheim des Trägervereins der Berliner Bahnhofsmission stand, mündete in den Bahnhofsvorplatz

Die Patrouillen der weiblichen Gefährdeten-Polizei erstreckten sich auf die Straßen, Parks und (Grün‑)Anlagen, Gaststätten und Amüsierlokale rund um die Berliner Bahnhöfe und die Bahnhöfe selbst, mithin also auch um und im Stettiner Bahnhof. Die Bahnhofsmissionarinnen konnten nun auf polizeilich ausgebildete Ansprechpartnerinnen zurückgreifen, die vor Ort Streife liefen, Präsenz vor Ort zeigten und im Einzelfall herangezogen werden konnten. 3.3.1 Im Dienst für die „Gefährdeten“ Die weibliche Polizei bestimmte eine „gefährdete“ Frau einvernehmlich mit der Definition der evangelischen Gefährdetenfürsorge und der Bahnhofsmission. Danach war eine potenzielle Gefährdung gegeben, wenn eine biologische Disposition und/oder sozial-psychologische Umstände erkennbar waren. Gefährdungsfaktoren waren demnach eine angenommene genetische Veranlagung oder, wenn familiäre und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, wie ökonomische Bedürftigkeit, gegeben waren. Laut kriminalpolizeilicher Einschätzung äußerte sich die „Veranlagung“, die in die Gefährdung respektive Prostitution führte in „Umhertreiben, periodische[m] Wandertrieb, Verlogenheit, Putz- und Vergnügungssucht, Neigung zu häufig wechselndem Geschlechtsverkehr“.252

252 Magistrat der Stadt Berlin, Denkschrift, LAB, A Rep. 001–02, Nr. 2349/1, S. 1–44, hier: S. 33.

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Die Frauen der weiblichen Polizei und der Berliner Bahnhofsmission versuchten einem möglichen Prostitutionsrisiko ihrer Klientel vorzubeugen, beziehungsweise Wege aus einer vermeintlichen oder tatsächlichen schwierigen Lebenslage zu finden und die Frauen wieder in die Gesellschaft zu integrieren, griffen damit aber auch unweigerlich in die Sexualität und die Lebensentwürfe ihrer Klientel regelnd ein. Die Ambivalenz der Hilfsmaßnahmen beider Einrichtungen lag darin, dass die Interessensvertretung häufig von Dünkel gegenüber der eigenen Klientel und einem „Bewußtsein überlegener Moralität“253 geprägt war. Hierbei betrieben die Polizistinnen – laut der Historikerin Ursula Nienhaus – eine bestimmte „Moralpolitik“, also „politische und soziale Maßnahmen zur Regulierung von Sexuali­ tät“.254 Das ist eine Feststellung, die ebenso auf die Bahnhofsmissionarinnen zutrifft, da auch sie die gesellschaftlichen Debatten um Moral und Sexualität im Sinne eigener Überzeugungen instrumentalisierten, aber auch gleichzeitig mit produzierten. In ihrer Tätigkeit und Zusammenarbeit hatten beide Organisationen unterschiedliche Kompetenzen. Die weibliche Polizei „arbeitete (…) nach sozialen Gesichtspunkten, aber mit polizeilichen Mitteln“.255 Die Kriminalpolizistinnen nahmen einerseits kriminalpolizeiliche Aufgaben wahr, indem sie zu Strafsachen hinzugezogen wurden, bei denen sie durch die Verbindung von sozialpflegerischen Kenntnissen und „weiblichem Einfühlungsvermögen“ von Nutzen und daher eine „Bereicherung des kriminalpolizeilichen Apparates darzustellen [vermochten]“.256 Andererseits führten sie zum Schutz „gefährdeter“ und hilfsbedürftiger Frauen, Jugendlicher sowie Kindern schutzpolizeiliche Maßnahmen durch, um die Begehung strafbarer Handlungen zu verhüten. Die Berliner Bahnhofsmissionarinnen ihrerseits arbeiteten mit fürsorgerischen Mitteln ohne polizeiliche Befugnisse, gewährten den Polizistinnen bei ihren Aufgaben jedoch ihre Mithilfe. In der Kooperation mit der weiblichen Polizei kam ihnen vor allem ein „bedeutsames Wächteramt“257 zu. Die Aufgabe der Bahnhofsmissionarinnen war es, herauszufinden, welche Hilfe die jugendlichen „Bedürftigen“, auf die sie am Bahnhof trafen, benötigten, um die jungen Frauen dann an die entsprechenden Stellen weiterzuleiten. Häufig brachte man die fragliche Person in einem Heim des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend unter und leitete schließlich den nächsten Schritt ein. Aus dieser Vorgehensweise ergibt sich, dass die Bahnhofsmissionarinnen durchaus weitreichende Entscheidungen eigenständig trafen. In einem ersten Schritt entschieden sie, wer als „gefährdet“ galt, und in einem zweiten, ob die Kriminalbeamtinnen überhaupt eingeschaltet werden mussten. In dem Fall, dass diese informiert wurden, stellten die Bahnhofsmissionarinnen dann eine Schnittstelle dar, indem sie Vermittlungstätigkeiten übernahmen, darüber hinaus jedoch waren sie mit keinen weiteren Kompetenzen betraut. 253 Vgl. Nienhaus, Nicht für eine Führungsposition, S. 17. 254 Ebd.. 255 Josefine Erkens, Weibliche Polizei, in: Dünner, S. 751–752, hier: S. 752. 256 Magistrat der Stadt Berlin, Denkschrift, LAB, A Rep. 001–02, Nr. 2349/1, S. 1–44, hier: S. 5. 257 Zusammenarbeit der Bahnhofsmission und Gefährdetenfürsorge der Inneren Mission, o. J. [Mitte der 30er Jahre], ADW, CA, Gf/St 89, Blatt 155–159, S. 1–5, hier: S. 3.

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Abbildung 13: Bahnhofsmissionarin am Stettiner Bahnhof im Gespräch mit zwei reisenden Frauen, 1925

Die vorhandenen (Handlungs-)Räume wurden von den bahnhofsmissionarischen Helferinnen jedoch häufig als zu einschränkend empfunden, weshalb die bloße Existenz der Kriminalbeamtinnen bei ihnen Irritationen auslöste, was in Vorträgen wie „Weibliche Polizei, ein neues Problem für die Bahnhofsmission“258 zum Ausdruck kam. Einerseits ist diese Reaktion nachvollziehbar, weil die Kriminalbeamtinnen de facto mit einer größeren Fülle von Verantwortlichkeiten ausgestattet waren. Andererseits verwundert es, da die Polizistinnen auf die Kooperationswilligkeit der Berliner Bahnhofsmissionarinnen angewiesen waren. Trafen die Fürsorgerinnen am Stettiner Bahnhof, also in ihrem eigenen Arbeitsumfeld, auf die Polizeibeamtinnen, dann waren sie noch aus einem anderen Grund im Vorteil. Die Mitarbeiterinnen der Bahnhofsmission waren nämlich in ihrem Erscheinungsbild gesellschaftlich akzeptiert, weil ihre Armbinde explizit ihre Zugehörigkeit zur Institution Kirche erkennen ließ: Durch die Symbolik verkörperten sie die soziale Mütterlichkeit – die lange Zeit als einzig akzeptierte Form weiblichen Auftretens in der Öffentlichkeit galt.259 Die Kriminalbeamtinnen hingegen trugen keine Uniformen. Nachdem die ersten in Köln eingesetzten Polizistinnen durch ihre Uniformen zur Zielscheibe des Spottes bei der Bevölkerung260 wurden, hatte man in Berlin auf Uniformen für die Polizistinnen verzichtet. Dadurch entgingen sie zwar etwaigem 258 Einladungsschreiben zum sechsten Lehrgang der Evangelischen Bahnhofsmission in Berlin, 1. Oktober 1930, ADW, CA, Gf/St 91, S. 1–2, hier: S. 1. 259 Vgl. Kirchhof‚ „Gefährdete“ Frauen und „wandernde“ Männer, S. 38–52. 260 Nienhaus, Nicht für eine Führungsposition, S. 27.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof

Sarkasmus der Berliner, gleichzeitig konnten sie aber die für ihren Beruf notwendige Autorität durch eine Uniform nicht unterstützend zum Ausdruck bringen. Wenn für die Bahnhofsmissionarinnen am Stettiner Bahnhof ein Fall vorlag, der die Zusammenarbeit mit der weiblichen Polizei erforderte, wandten sie sich an eine Kriminalbeamtin, insofern diese vor Ort war, oder riefen diese bei Bedarf telefonisch zum Bahnhof. Der Berliner Bahnhofsmission standen auf fast allen Bahnhöfen Fernsprecher bereits seit der Jahrhundertwende zur Verfügung.261 Später waren diese Nebenanschlüsse der Polizeiwachen, so dass in dringenden Fällen Polizeibeamte schnell zur Stelle sein konnten. In allen anderen Fällen wurde den jeweiligen Dezernaten die Angelegenheit auf dem Aktenweg überstellt. In der Dienstanweisung für die Berliner Bahnhofsmission und den Berliner Bahnhofsdienst wurde jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sowohl die Schutz- und Kriminalpolizei, als auch die weibliche Polizei nur in unumgänglichen Fällen zu Rate gezogen werden sollten. Als Richtlinie galt, dass die Berliner Bahnhofsmissionarinnen primär auf ihre eigenen Problemlösungsstrategien zurückgreifen sollten und die Aufgaben mit den vorhandenen haupt- und ehrenamtlichen Kräften lösen mussten. Dafür gab es zwei Gründe: Erstens sollte die Polizei tatsächlich nur zu bedeutsamen Ereignissen herangezogen werden, da die geringe Anzahl der Polizistinnen, die für das gesamte Stadtgebiet zuständig war, mit einer ihre Kapazitäten übersteigenden Arbeitssituation konfrontiert war.262 Zweitens wurde mit der Direktive die häufig geäußerte Kompetenzunsicherheit der Bahnhofsmission aufgegriffen und die Verantwortlichkeiten der Mitarbeiterinnen definiert. Somit wurde dem Bedürfnis der Bahnhofsmissionarinnen nach Abgrenzung und Aufgabendefinition entsprochen. Um der tatsächlichen Zusammenarbeit zwischen den bahnhofsmissionarischen Helferinnen und der Polizei nachzugehen, soll ein Blick auf die Statistik der Bahnhofsmission im Jahr 1933 geworfen werden. In der Rubrik „Zusammenarbeit mit Behörden“ wird die weibliche Polizei nicht gesondert aufgeführt. Stattdessen gibt es das Stichwort „Polizei“ unter dem vermutlich sowohl weibliche wie männliche Mitarbeiter verstanden wurden. Laut den Angaben wurden die Polizistinnen und Polizisten in diesem Jahr am Stettiner Bahnhof 45 Mal zu Rate gezogen, wodurch der Bahnhof im Vergleich zu den anderen acht aufgeführten Berliner Bahnhöfen erst an sechster Stelle steht. Die Statistik informiert über zwei weitere Rubriken, bei denen auch die weibliche Polizei kontaktiert hätte werden können. Erstens die Spalte „Ausreißer“, wobei es sich bei diesen häufig um Männer und männliche Jugendliche handelte, und zweitens die Spalte „Abwehr besonderer Gefährdung“. Darunter verstanden die Bahnhofsfürsorgerinnen Gefährdungsmomente für Personen beiderlei Geschlechts, somit beispielsweise Kleinkriminalität und Prostitution. Die Bahnhofsmission am Stettiner Bahnhof stand gemäß der beiden Kategorien, nämlich sowohl „Ausreißer“ als auch „Abwehr besonderer Gefährdung“, nach den Bahnhofsmissionen am Anhalter und dem Schlesischen Bahnhof an dritter Stelle. Während am Anhalter und Schlesischen Bahnhof jeweils 89 Ausreißer gezählt wurden, waren es am Stettiner Bahnhof 26. In der Rubrik „Abwehr besonderer Gefähr261 Eisenbahn-Nachrichten-Blatt 31, 1896, S. 223. 262 Dienstanweisung für die Berliner Bahnhofsmission, ADW, CA, Gf/St 86, S. 1–25, hier: S. 8.

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dung“ lagen die absoluten Zahlen der Bahnhöfe gemäß der gezählten Fälle in folgender Höhe: Anhalter Bahnhof: 447; Schlesischer Bahnhof: 299 und Stettiner Bahnhof: 258. Dass der Stettiner Bahnhof in diesen Rubriken unter den ersten drei Bahnöfen erscheint, wird verständlich, wenn man das weiter oben beschriebene städtische Umfeld des Stettiner Bahnhofs berücksichtigt. Da die Personen und Personengruppen, die in dem den Bahnhof umgebenden Stadtbezirk lebten und arbeiteten, den Bahnhof betraten und nutzten, hatten die bahnhofsmissionarischen Helferinnen relativ häufig auch mit Personen, die keine Reisenden und Binnenwandernde waren, zu tun beziehungsweise bezogen diese Menschen in ihren fürsorgerischen Raum mit ein. In der Zusammenarbeit mit der Polizei rangierte der Stettiner Bahnhof in der statistischen Zählung auf Platz sechs. Damit wird zwar eine Diskrepanz zur Häufigkeit der möglichen Fälle, bei denen die Polizei gerufen hätte werden können, deutlich, allerdings ist die seltene Inanspruchnahme der Polizei durchaus nicht auf diesen Bahnhof beschränkt. Setzt man fünf in der oben genannten Statistik aufgeführte Behörden und städtische Stellen, mit denen die bahnhofsmissionarischen Helfer zusammengearbeitet haben, nämlich das Wohlfahrts-, Jugend-, Arbeits- und Pflegeamt sowie die Polizei, zueinander in Bezug und vergleicht alle neun Bahnhöfe miteinander, so zeigt sich, dass polizeiliche Hilfen – jedenfalls in diesem Jahr – auf allen Bahnhöfen nur mäßig in Anspruch genommen wurden.263 Welche Gründe hatten die bahnhofsmissionarischen Helferinnen für die zurückhaltende Zusammenarbeit mit der Polizei? Zu vermuten ist, dass sich die Bahnhofsmissionarinnen an den Vorgaben ihrer Dienstanweisung, nämlich eigene Problemlösungen zu finden, orientiert haben. Darüber hinaus könnte die zögerliche Inanspruchnahme der Polizei aber auch ein Hinweis auf die oben thematisierten Vorbehalte der Bahnhofsmissionarinnen gegenüber den Kriminalpolizistinnen sein. 3.3.2 Die Situation im „Dritten Reich“ bis zur Auflösung . der Bahnhofsmission Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gab es bei beiden Organisationen parallele Entwicklungen, die sowohl deren befürwortende Haltung zu den Straßensäuberungen der nationalsozialistischen Machthaber, als auch strukturelle Veränderungen in beiden Institutionen betrafen. Die anerkennende Einstellung resultierte aus den staatlichen Maßnahmen, die gegen unangepasst lebende Personen unternommen wurden. Diese zeigten bereits nach kurzer Zeit Wirkung und wurden sowohl von den Bahnhofsmissionarinnen als auch den Beamtinnen der weiblichen Polizei begrüßt. 1934 schrieb die Wohlfahrtspflegerin und Bahnhofsmissionarin Ilse Neidhold über die Zeit seit dem Machtantritt der Nationalsozialisten wohlwollend:

263 Dienstanweisung für die Berliner Bahnhofsmission, ADW, CA, Gf/St 86, S. 1–25, hier: Anhang/Statistik.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof „Wenn auch die Bahnhofsmission nach wie vor auf dem Gebiet der Gefährdetenfürsorge arbeitet (Überwachen der Warteräume, der Bahnhofshalle und des Bahnhofsvorplatzes, besonders am frühen Morgen oder in den Nachtstunden), so hat sich in den beiden letzten Jahren eine erfreuliche Wandlung auf diesem Gebiet bemerkbar gemacht. Durch den von der nationalsozialistischen Regierung mit Erfolg geführten energischen Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und das Bettelunwesen, die verstärkte Kontrolle der Polizei, sind viele unlautere Elemente mehr und mehr vom Bahnhof vertrieben [worden]“.264

Auch der kriminalpolizeiliche Bericht von 1937 informierte rückblickend, dass bereits kurz nach der Machtübernahme die politischen Schritte angeblich positiv im Bereich der Gefährdetenfürsorge gewirkt hätten. So habe es eine Abnahme der im Außendienst Erfassten und der in Verwahrung Genommenen gegeben, was wiederum eine Säuberung des Stadtbildes nach sich gezogen habe.265 Die Veränderungen durch das neue politische System, die anfänglich zustimmend begrüßt worden waren, wurden drei Jahre später, 1936, relativiert. So wurde auf einem Lehrgang für Gefährdetenfürsorge, der in diesem Jahr in Berlin stattfand, berichtet, dass sich die offene Gefährdetenfürsorge um 50 Prozent vergrößert habe, da die Zahl der unehelichen Mütter erheblich gestiegen sei.266 Der Jahresbericht der Berliner Inneren Mission vermerkte, dass auch unter den Hausangestellten die Bezirke Wedding, Kreuzberg, Prenzlauer Berg und Mitte eine Zunahme an jungen weiblichen „Gefährdeten“ zu verzeichnen hatten. Die mit den Aufgaben der Gefährdetenfürsorge betrauten Personen wären „durch die noch immer unerfreulichen Zustände in der Nähe des Stettiner Bahnhofs und die große Arbeit, die durch das Aufsuchen der gefährdeten Frauen und Mädchen, die Berichte an das Pflegeamt und durch die Unterbringung und Überweisung an Heime entsteht,“267 sehr beschäftigt gewesen. Diese Aussagen bedürfen einiger Überlegungen. Die „Gefährdung“ lediger Mütter wurde generell darin gesehen, dass die Frauen zwar ein Kind, jedoch keinen Ehemann hatten, das heißt, dass sie als sittlich abgerutscht galten und zugleich keine finanzielle Absicherung durch einen Versorger vorweisen konnten. Da die Zahl der unverheirateten, arbeitenden Mütter im „Dritten Reich“ jedoch stark anstieg,268 kann in der Frage der finanziellen Absicherung lediger Mütter kein Gefährdungsmoment gesehen worden sein, da diese Frauen sich selbst versorgen konnten. Somit war für die Gefährdetenfürsorge der Inneren Mission also die sittliche „Gefährdung“ das Problem, das heißt, dass diese Frauen unverheiratet Kinder 264 Ilse Neidholdt, Aus Arbeit und Kampf der Inneren Mission. Evangelische Liebesarbeit am Bahnhof, in: Die Rundschau. Mitteilungsblatt der Inneren Mission, 5, 1934, Nr. 9, S. 129–131, hier: S. 129. 265 Magistrat der Stadt Berlin, Denkschrift, LAB, A Rep. 001–02, Nr. 2349/1, S. 1–44, hier: S. 36f. 266 Bericht über den Lehrgang für Gefährdetenfürsorge vom 22.–24. Januar 1936, ADW, CA, Gf/ St 11. 267 Jahresbericht 1936, in: Nachrichtendienst des Gesamtverbandes der Berliner Inneren Mission 14, 1937, Nr. 4/6, S. 1–9, hier: S. 6. 268 Vgl. Gisela Bock, Nationalsozialistische Geschlechterpolitik und die Geschichte der Frauen, in: Georges Duby / Michelle Perrot (Hrsg.), Geschichte der Frauen, Bd. 5: Das 20. Jahrhundert, hg. v. Francoise Thébaud, Frankfurt/Main 1995, S. 173–204, hier: 184.

3. Die Arbeitsgebiete und Kooperationen der Berliner Bahnhofsmission

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bekamen war unter sittlich-moralischen Gesichtspunkten prekär und nicht, weil man sich sorgte, dass diese Frauen sich und ihre Kinder nicht versorgen konnten und in Armut lebten. In Bezug auf die „gefährdeten“ Hausangestellten lässt sich konstatieren, dass diese Frauen normalerweise dann als gefährdet definiert wurden, wenn sie sich prostituierten, was häufiger bei Arbeitslosigkeit der Fall war. In dem Bericht der Berliner Inneren Mission werden die „unerfreulichen Zustände in der Nähe des Stettiner Bahnhofs“ angesprochen, wobei auf das dort befindliche, traditionelle Prostitutionsgewerbe Bezug genommen wurde. Nach Aussagen der Historiker Gisela Bock und Klaus Tenfelde ist die Zahl der Hausangestellten seit dem Kaiserreich zwar insgesamt gesunken, allerdings hat es im „Dritten Reich“ wieder einen Anstieg von beschäftigten Hausangestellten gegeben.269 Dies könnte daran gelegen haben, dass als arbeitsmarktpolitische Maßnahme zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit das Einstellen einer Haushaltsgehilfin nun staatlicherseits durch das Absenken sozialer Abgaben für diese Berufsgruppe gefördert wurde.270 Wie können nun abschließend die oben genannten Schilderungen der Inneren Mission, dass es ein Ansteigen „gefährdeter“ Frauen gegeben habe, vor dem Hintergrund interpretiert werden, dass sowohl die Bahnhofsmission als auch die weibliche Polizei die Säuberungen nach der Machtübernahme positiv beschrieben hatten? Zu vermuten ist, dass die kommentierten Straßensäuberungen kurz nach der Machtübernahme und die polizeilichen Kontrollen gegen Frauen nur kurzzeitige Wirkung hatten, weil zunächst Männer im Vordergrund standen. Zwar wurde bereits nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gegen Prostituierte vorgegangen, beispielsweise ebenfalls durch Razzien, ihre volle Härte entfaltete die Verfolgung jedoch erst später.271 Frauen wurden erst ab 1937, ein Jahr nach diesem Bericht, vermehrt in den Blick des Kampfes gegen „Asoziale“ genommen, indem der „Grunderlaß Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“272 angeordnet wurde, durch den, neben männlichen Landstreichern, nun auch sexuell unangepasste Frauen und solche, die sich prostituierten, verfolgt wurden.273 269 Bock legt das Jahr 1939 für im häuslichen Dienst beschäftigte Frauen zugrunde. Leider wird nicht genau deutlich woher die Zahl stammt. Vgl. ebd., S. 184, FN 24. Das von Gisela Bock zugrunde gelegte Jahr 1939 deckt sich mit den Überlegungen von Klaus Tenfelde, der konstatiert, dass die Beschäftigung im häuslichen Dienst Ende der 1930er Jahre noch einmal einen Anstieg erlebt habe. Vgl. Klaus Tenfelde, Dienstmädchengeschichte. Strukturelle Aspekte im 19. und 20. Jahrhundert, in: Hans Pohl (Hrsg.), Die Frau in der deutschen Wirtschaft, Stuttgart 1985, S. 105–126, hier: S. 112. 270 Andreas Kranig, Arbeitnehmer, Arbeitsbeziehungen und Sozialpolitik unter dem Nationalsozialismus, in: Karl Dietrich Bracher / Manfred Funke / Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.), Deutschland 1933–1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 1993, S. 135–152, hier: S. 146f. 271 Ayaß, „Asoziale“, S. 184ff. 272 Ebd., S. 191. 273 „Asoziale“ im Sinne dieses Erlasses waren auch Prostituierte, die auf dieser Grundlage von der Kriminalpolizei zu mehreren Tausend ins Konzentrationslager eingewiesen wurden. Vgl. Wolfgang Ayaß, Vom „Pik As“ ins „Kola Fu“, in: Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NSRegimes, S. 152–171, hier: S. 169.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof

Die auch im Nationalsozialismus fortgeführte Zusammenarbeit zwischen Berliner Bahnhofsmission und weiblicher Polizei und die übereinstimmenden Erfahrungen mit deren Klientel führten in Ansätzen zu einer verbesserten Situation zwischen beiden Organisationen, so dass man versuchte, auch weiterhin miteinander in Kontakt und im Gespräch zu bleiben. Deshalb hielt Kriminalrätin Wieking bei der Ausschusssitzung des Dachverbandes der Deutschen Bahnhofsmission einen Vortrag über die Aufgaben der weiblichen Polizei. Bei der anschließenden Diskussion, in der konstatiert wurde, dass das ursprüngliche Misstrauen der Bahnhofsmissionarinnen gegenüber der Polizei nicht immer berechtigt gewesen sei, wurde sie zu ihrer Einschätzung hinsichtlich der Zuständigkeiten zwischen Bahnhofsmission und weiblicher Polizei befragt. Frau Wieking antwortete ausweichend, indem sie zum einen die Zuständigkeitsthematik nicht berührt sehen wollte, zum anderen aber der Bahnhofsmission dieselbe Verantwortlichkeit wie ihren eigenen Dezernaten zugestand: „Man soll nicht nach der Kompetenz fragen; jeder soll arbeiten, und man soll sich verständigen. Das ist, worauf es ankommt. Keiner der beiden arbeitenden Stellen ist immer zur Hand: wer da ist, ist zuständig. Aber die BM soll die Weibliche Polizei aufmerksam machen, wenn ihr etwas verdächtig erscheint“.274

Eine auf dieser veränderten Haltung beruhende, bejahende Zusammenarbeit zwischen Bahnhofsmission und weiblicher Polizei konnte in Berlin nicht erprobt werden, weil es bei beiden Organisationen zu grundlegenden strukturellen Veränderungen kam, indem sowohl die Berliner Bahnhofsmission als auch die weibliche Polizei in Preußen 1937 unter männliche Führung gestellt wurden. Die Frauen beider Institutionen verloren daraufhin ihre bis dahin konstituierten Räume und Einflussbereiche in unterschiedlichem Ausmaß. Während die Frauen der Berliner Evangelischen Bahnhofsmission die Ägide des männlichen Bahnhofsdienstes lediglich duldeten,275 organisierte die weibliche Polizei aktiv ihre Unterstellung unter die männliche Sittenpolizei. Auf Anregung der 1934 in die NS-Frauenschaft eingetretenen Kriminalrätin Wieking empfahl die „Reichsfrauenführung“ die Einrichtung einer besonderen Stelle für die weibliche Kriminalpolizei im preußischen Landeskriminalamt, das zwei Jahre zuvor in das Reichskriminalamt transformiert worden war. Dieses Vorgehen führte zum Erlass des „Reichführers SS und Chefs der deutschen Polizei“ über die „Neuordnung der Weiblichen Kriminalpolizei“.276 Diese Neuordnung bedeutete, dass „Sittlichkeitsverbrechen“ nun wieder im Aufgabenbereich der männlichen Kriminalpolizei lagen. Wieking behauptete Jahre später rückblickend, dass trotz dieser Neugestaltung die weibliche Polizei ihre ursprünglichen Aufgaben, nämlich die Wahrnehmung der Interessen von Prostituierten gegenüber der staatli274 Aussprache zum Vortrag von Friederike Wieking bei der Ausschusssitzung des Reichsverbandes Deutsche Bahnhofsmission 1936, ADW, CA, Gf/St 11, S. 1–3, hier: S. 2. 275 Vgl. hierzu das Kapitel Die Berliner Bahnhofsmission und der Dachverband zwischen Zustimmung und politischem Kalkül: Der lange Weg bis zum Ende der Arbeit am Bahnhof 1933– 1939) dieser Arbeit. 276 Nienhaus, Nicht für eine Führungsposition, S. 93.

3. Die Arbeitsgebiete und Kooperationen der Berliner Bahnhofsmission

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chen Doppelmoral, weiterhin verfolgte. Tatsächlich aber hatte die weibliche Kriminalpolizei im Nationalsozialismus eine rassenpolitische Zielsetzung und die vorbeugende Tätigkeit der weiblichen Kriminalpolizei sollte sich nun in erster Linie gegen Frauen richten und bezog sich auf „asoziale Frauen“ und „Berufsverbrecherinnen“. Durch die Umstrukturierung des Sittlichkeitsdezernats und die Verschiebung des eigentlichen Schwerpunktes kam es deshalb zu einer direkten Aushebelung der Grundpfeiler der weiblichen Polizei. Der Anspruch der weiblichen Polizei, der Doppelmoral hinsichtlich der Behandlung von Prostituierten, Freiern und Zuhältern entgegenzuarbeiten, wurde somit obsolet, da ihre Tätigkeit mit einem Reformexperiment weiblicher „Wohlfahrtspolizei“ wenig zu tun hatte.277 Das endgültige Verbot der Bahnhofsmissionen wurde im Februar 1939 von Rudolf Hess, dem Stellvertreter Hitlers, ausgesprochen. Da es zu diesem Zeitpunkt bereits eine Reihe nationalsozialistischer Bahnhofsdienste gab und weitere hinzukamen, führte die weibliche Polizei ihre Zusammenarbeit nach Auflösung der konfessionellen Bahnhofsmissionen mit den staatlichen Bahnhofsdiensten fort. 3.4 Zusammenfassende Betrachtung Im Mittelpunkt des vorangegangenen Kapitels „Der öffentliche Raum am Bahnhof“ stand die Frage, wie die Frauen der Berliner Bahnhofsmission öffentliche Räume vor allem durch ihre praktische Arbeit am Bahnhof konstituierten. Die in der Einführung gezeigte Tabelle 1 „Hilfeleistungen der Bahnhofsmission“ macht deutlich, dass nach knapp 40-jähriger Existenz der Berliner Bahnhofsmission nur 15 Prozent der nach Berlin zuwandernden Personen die bahnhofsmissionarischen Hilfeleistungen in Anspruch nahmen. Die Erfolge der Bahnhofsmission müssen deshalb im Ganzen als begrenzt angesehen werden. Für die Raumkonstitution von Frauen innerhalb der Bahnhofsmission bedeutet das, dass sie zwar Handlungsräume durch soziales Engagement im öffentlichen Raum der Stadt gewinnen konnten, diese konstituierten Räume jedoch relativ klein blieben. Der von der Berliner Bahnhofsmission und ihren Mitarbeiterinnen konstituierte Raum stellte sich dadurch her, dass die Bahnhofsmissionarinnen seit 1894 auf den Berliner Bahnhöfen bereitstanden, um Reisenden allgemein und den jungen Zuwanderinnen im speziellen, ihre Dienste anzubieten. Dieser Raum institutionalisierte sich hierbei, weil er auf allen Berliner Bahnhöfen sehr ähnlich gestaltet und alltäglich reproduziert wurde. Die Frauen waren mit einer Armbinde versehen, im Laufe der Zeit wurden Zimmer am Bahnhof zur Verfügung gestellt, um die Reisenden und Hilfe suchenden Menschen in diesen zu betreuen, und es wurden Warnungsplakate aufgehängt oder Handzettel verteilt. Dadurch verdeutlicht sich die Bedeutung „symbolischer Güter“ für die Raumkonstitution, das heißt, dass die von den Bahnhofsmissionarinnen angeordneten Güter eine Symbolik entfalteten, durch die bestimmte Wertvorstellungen transportiert wurden. Das Raumarrangement wurde somit bewusst inszeniert, strahlte eine gewisse Atmosphäre aus und wurde 277 Ebd., S. 93f.

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III. Der öffentliche Raum am Bahnhof

dadurch von unterschiedlichen Akteursgruppen wiedererkannt, angenommen oder abgelehnt. Gleichzeitig war die Syntheseleistung der potenziellen oder tatsächlichen Klientel wichtig, damit sich der konstituierte Raum und dadurch auch der Wirkungskreis der Berliner Bahnhofsmissionarinnen erhalten konnte. Der öffentliche Raum der Bahnhofsmission war jedoch nicht auf den Bahnhof beschränkt. Durch Kontrollgänge in der Bahnhofsumgebung oder wenn Fürsorgerinnen Frauen in Wohnheime und andere Hilfsbedürftige zu Ämtern begleiteten oder in Zügen bis in die Vorstädte mitfuhren, verschmolz der Bahnhof und die Stadt beziehungsweise die Vorstädte zu einem bahnhofsmissionarischen Raum. Indem die Bahnhofsfürsorgerinnen den Bahnhof verließen und sich dem ländlichen Zuhause der jungen Frauen annäherten, machten sie darüber hinaus deutlich, dass sie mit dem von ihnen geschaffenen Raum einen lückenlosen Schutz anstrebten, bei dem die binnenwandernden Frauen zwischen ihrem Zuhause und der Großstadt idealerweise kontinuierlich beaufsichtigt waren. Weil Räume im Handeln geschaffen werden, konstituierte sich der Raum der Bahnhofsmission und ihrer Mitarbeiterinnen auch durch die umfassende Netzwerkbildung, wodurch mit vielen verschiedenen Organisationen Kooperationen angestrebt und durchgeführt wurden. Der somit geschaffene Raum erhielt zwar objektivierte soziale Geltung, gleichzeitig war er aber auch umkämpft, wie an den Aushandlungsprozessen zwischen Bahnhofsmission und Deutschem Nationalkomitee einerseits sowie dem Innenministerium und der Polizei andererseits deutlich wurde. Tatsächlich eingeschränkt wurde der öffentliche Raum jedoch erst, als er durch den Entzug finanzieller Mittel durch die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt zunehmend weniger reproduziert werden konnte. In den vorangegangenen Betrachtungen ist deutlich geworden, dass die Berliner Bahnhofsmissionarinnen (Handlungs-)Räume konstituieren konnten, dass diese jedoch aufgrund sozialer Ungleichheitskriterien und struktureller Ein- und Ausschlüsse über Geschlechts- und Klassenzugehörigkeit unterschiedlich begrenzt waren. Das variierende Gestaltungspotenzial von Frauen in öffentlichen Räumen soll im Folgenden an weiteren bahnhofsmissionarischen Räumen in der städtischen Öffentlichkeit untersucht werden. In den Blick kommen nun der Trägerverein der Berliner Bahnhofsmission und der Dachverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission. Von Interesse ist, welche Räume die Frauen, die in diesen Organisationen ehrenamtlich oder fest angestellt aktiv waren, konstituieren konnten und ob es sich um dieselben Akteure handelte wie jene, die an den Berliner Fernbahnhöfen ihren Dienst taten. In diesem Zusammenhang steht auch die Öffentlichkeitsarbeit und die mediale Präsenz von Verein und Dachverband im Fokus und die Frage, welche Frauen auf welche Weise Möglichkeiten der Mitgestaltung hatten.

IV. Der öffentliche Raum der Berliner . Bahnhofsmission im Gefüge von Vereinsleben . und überregionaler Verbandspolitik Als die Berliner Bahnhofsmission 1894 mit einer systematischen Arbeit an den Berliner Bahnhöfen begann, ging das auf die Aktivitäten ihres Trägervereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend, sowie die beiden Wegbereiter dieser organisierten Arbeit, den Verein der Freundinnen junger Mädchen und den Evangelischen Verband für die weibliche Jugend, zurück. Durch das Engagement dieser Organisationen wurde ebenso die Entwicklung des Dachverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission initiiert und eine überregionale Struktur ausgebildet. Sozialkaritative Vereine waren Teil der bürgerlichen Selbstverwaltung, die sich im 19. Jahrhundert vornehmlich im städtischen Raum entwickelt hatte. Zum öffentlichen Ort wurden Vereine deshalb, weil durch die Begegnung und Auseinandersetzung mit „unbekannten Menschen und Dingen“1 politische, ökonomische und soziale Ambitionen artikuliert werden konnten. Bürgerlichen Frauen – obwohl von politischen Ämtern bis ins 20. Jahrhundert ausgeschlossen – gelang es durch das Handlungsmodell „Verein“ aus dem ihnen zugewiesenen Privatbereich herauszutreten, den Verein als Kontaktforum und zur Vernetzung untereinander zu nutzen und ein politisches Bewusstsein zu entwickeln. Über den im Verein hergestellten öffentlichen Raum konnten sie ihre Interessen vertreten, auf Fragen der Moral, Kultur und (Sozial-)Politik Einfluss nehmen, dadurch als Akteurinnen sichtbar werden und selbst Räume konstituieren. Die Frauen des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend waren in einem Verein aktiv, der von einem Mann initiiert worden war und in dem ihnen Vorstandsposten über einen langen Zeitraum vorenthalten wurden. Dennoch brachten sie gemeinsam mit ihren männlichen Kollegen Einrichtungen auf den Weg, die in der Form der sowohl lokal operierenden Bahnhofsmissionen als auch des Dachverbandes der Evangelischen Bahnhofsmission damals wie heute wohlfahrtspolitische Bedeutung für das soziale System der Kommunen und des Staates haben. Neben den bereits im ersten Teil der Arbeit thematisierten Berliner Bahnhofsmissionarinnen, kommen in folgendem Kapitel noch zwei weitere Frauengruppen in den Blick: zum einen die Frauen des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend und zum anderen die im Dachverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission aktiven Frauen. Hierbei handelt es sich in ihrer Sozialstruktur und ihren Aufgabenfeldern um drei unterschiedliche Akteursgruppen, die in ihrem Engagement für die Hilfen und den Integrationsprozess junger Frauen vor, während und nach ihrer Zuwanderung nach Berlin analysiert werden. Während im Verein Wohlfahrt vornehmlich verheiratete Frauen großbürgerlichen oder adligen Hintergrundes eh1

Zit. nach Saldern, Stadt und Öffentlichkeit, hier: S. 10.

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IV. Der öffentliche Raum der Berliner Bahnhofsmission

renamtlich aktiv waren, arbeiteten im Dachverband der Evangelischen Bahnhofsmission zumeist unverheiratete, fest angestellte, bürgerliche Frauen und in der Berliner Bahnhofsmission waren Frauen vor Ort eingesetzt, die mehrheitlich aus einer kleinbürgerlichen Schicht kamen und entweder fest angestellt oder ehrenamtlich tätig wurden. Neben der Vereins- und Verbandsentwicklung, vor allem hinsichtlich des Medienkonzepts dieser Organisationen, ist von Interesse, wie die Akteurinnen öffentliche Räume auf der administrativen und politischen Ebene konstituierten: Welchen unterschiedlichen Aufgaben gingen sie in ihrem jeweiligen Tätigkeitsfeld nach? In welchen Gremien und Ausschüssen saßen sie? Welche Ämter wurden in Personalunion geführt? Konnten sie die Medien und die bestimmenden Diskussionen mitgestalten? Hatten die Berliner Bahnhofsmissionarinnen jenseits ihrer Tätigkeit am Bahnhof auch auf dieser Ebene Gestaltungsmöglichkeiten? 1. Die Wegbereiter bahnhofsmissionarischer . Arbeit in Berlin Bahnhofsmissionarische Arbeit entwickelte sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Aktivitäten Berliner Diakonissinnen und durch die lokal sowie überregional, jedoch getrennt agierenden Verbände, dem „Verein der Freundinnen junger Mädchen“ und dem „Evangelischen Verband für die weibliche Jugend“. Neben der organisierten Bahnhofsfürsorge entwickelten die beiden Organisationen ein darüber hinausgehendes Angebot, das Wohnmöglichkeiten, Freizeitangebote, Stellenvermittlung und berufliche Orientierungskurse beinhaltete. Nachdem kurz in die Aktivitäten der Diakonissinnen eingeführt wurde, wird in diesem Kapitel ein Profil der beiden Organisationen, die den Weg zu einer organisierten Bahnhofsmission ebneten, gezeichnet, wobei sowohl die Voraussetzungen und die Motive für deren Gründungen, als auch deren Verbreitungspotenzial deutlich werden. Die einzelnen Hürden bis zur organisierten Arbeit an den Berliner Bahnhöfen, die schließlich in der Gründung der Kommission der Deutschen Bahnhofsmission mündeten, waren von den beteiligten Personen und ihren Institutionen nicht immer leicht zu nehmen. Das lag daran, dass in den Organisationen, die sich im bahnhofsmissionarischen Bereich betätigten, Männer und Frauen unterschiedliche Möglichkeiten hatten Räume zu konstituieren oder zu erhalten. Wohlfahrtspolitische Überlegungen traten deshalb zugunsten der Sicherung eigener (Handlungs-) Räume zuweilen zurück. Im Jahr 1854 wurde in der Schwedter Straße 37–40 im Berliner Nord-Osten das erste Heim im deutschsprachigen Raum für nach Berlin wandernde junge Frauen gegründet und von Diakonissinnen geleitet. Im „Marthashof“2 wurden ortsfremde Frauen, meist Dienstmädchen, aufgenommen, weil man verhindern wollte, dass diese sich bei Obdach- und Arbeitslosigkeit prostituierten. Deshalb bot man 2

„Marthashof“ wurde das Heim genannt, weil damit auf die neutestamentarische Geschichte des Besuches Jesus bei den Schwestern Maria und Martha Bezug genommen wurde. In der Geschichte erkennt Martha im Vergleich zu Maria die Botschaft Jesu nicht, dass es im Leben darauf ankomme Gottes Wort zu hören und zu verstehen.

1. Die Wegbereiter bahnhofsmissionarischer Arbeit in Berlin

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ihnen eine Wohnmöglichkeit und hauswirtschaftliche Kurse an, vermittelte sie in Berliner Haushalte und kümmerte sich um ihre Freizeitgestaltung. Der Vorstand des Marthashofs wies bereits auf Plakaten, die er auf Bahnhöfen in und um Berlin aufhängte, junge Zuwanderinnen auf die Existenz seines Heimes hin. Um die Betreuung der Frauen noch effektiver zu gestalten, entschlossen sich die Diakonissinnen an den Quartalstagen, an denen Dienstboten bevorzugt ihre Stelle wechselten, auf den Bahnhöfen, die in der Nähe des Heimes gelegen waren, dem Stettiner Bahnhof und dem Bahnhof Alexanderplatz, präsent zu sein.3 Über zwei Jahrzehnte später entwickelte der Internationale Verein der Freundinnen junger Mädchen ein verbandlich organisiertes Angebot für junge Zuwanderinnen. Der Verband hatte sich 1877 auf einem durch die Aboltionistische Föderation4 einberufenen Kongress in Genf zur Bekämpfung der Prostitution und des Mädchenhandels gegründet. Der Freundinnenverein wollte Frauen, die in fremden Haushalten in Stellung waren und die sich dadurch möglicherweise sittlich zweifelhaften Situationen aussetzten, eine präventive Fürsorge anbieten. Gedacht wurde an junge Frauen bürgerlicher Schichten, die als Bonnen5 oder Kinderwärterinnen in einer anderen als der Heimatstadt oder im Ausland ein Auskommen suchten und denen man bereits vor dem Arbeitsantritt Rat, Hilfestellung sowie einen gewissen Schutz gewähren wollte. Hierfür legte die von Neuchâtel in der Schweiz aus operierende Organisation ihre Arbeit auf drei Ebenen an: Sie arbeitete international, national und kommunal und baute vor allem ein länderübergreifendes Korrespondenznetz auf, das Informationen über Anlaufstellen im In- und Ausland bot. Zu ihren Angeboten gehörte ein formloses Stellenvermittlungssystem, die Abholung zureisender Frauen vom Bahnhof und die Unterhaltung von Heimen.6 Die „Freundinnen“ hatten hierbei einen erzieherisch-disziplinierenden Ansatz, bei der die individuelle Sittlichkeit von Frauen mit Blick auf die gesamtgesellschaftliche Moral geschützt werden sollte. Auf dem Genfer Kongress hatte auch der evangelische Pfarrer Wilhelm Baur7 im Auftrag des Zentralausschusses für Innere Mission teilgenommen und sich für 3 4

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Nikles, Soziale Hilfe, S. 17ff. Initiatorin der 1875 in Genf gegründeten Föderation war die Engländerin Josephine Butler, (* 13.4.1828, Northumberland, † 30.12. 1906, Northumberland). Sie kämpfte gegen die in England 1864 per Gesetz eingeführte Reglementierung, die Prostituierte einer sozialen und gesundheitspolitischen Kontrolle durch regelmäßige ärztliche Untersuchungen auf Geschlechts­ krankheiten unterzog. Damit wandte sich Butler auch gegen die herrschende Doppelmoral, die nur die Prostituierten zur Verantwortung zog, nicht aber die Freier oder Zuhälter. Vgl. Jean Baubérot, Die protestantische Frau, in: Georges Duby / Michelle Perrot (Hrsg.), Geschichte der Frauen, Bd. 4: Das 19. Jahrhundert, hg. v. Genevieve Fraisse / Michelle Perrot, Frankfurt/ Main 1994, S. 221–236, hier: S.  232; vgl. auch Brigitte Digel, Die Abolitionistische Bewegung, in: Tübinger Projektgruppe Frauenhandel, S. 41–59; ebenfalls: Baumann, S. 98ff. Veralteter Begriff für aus adligen und bürgerlichen Familien stammende Frauen, die als Dienstmädchen/Erzieherinnen in Privathaushalten in Stellung gingen. Aus dem Französischen „bonne“ – Dienstmädchen. Theodor von Ditfurth, Die Gründung des Internationalen Vereins der Freundinnen junger Mädchen, Berlin 1913, S. 58. Wilhelm Baur, Theologe und Volksschriftsteller, (* 16.3.1826, Lindenfels, Odenwald,

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IV. Der öffentliche Raum der Berliner Bahnhofsmission

die so genannte Magdalenensache,8 also die Rehabilitierung Prostituierter, eingesetzt. Er begeisterte sich für die Idee, den Arbeit suchenden Frauen eine „Freundin“ an die Seite zu stellen. Für die Gründung eines mit präventiver „Liebesarbeit“ befassten Vereins setzte sich Baur vor allem deshalb ein, weil er hierin ein angemessenes wohltätiges Aufgabengebiet bürgerlicher Frauen sah. Diesen, so seine Meinung, „gebührt die Rettung der weiblichen Jugend in mannigfaltiger Thätigkeit fürsorgender Liebe, den Männern das mannhafte Zeugnis und der harte Kampf gegen den Schaden“.9 Der hier angesprochene „Schaden“ manifestierte sich nach Baur und dem Zentralausschuss für Innere Mission vor allem in der Prostitution beziehungsweise vielmehr in der Existenz der Prostituierten. Die Politik der ebenfalls auf der Konferenz agierenden Abolitionistinnen bereitete ihm hingegen Unbehagen, weil das Thema Prostitution kein Agitationsfeld für Frauen sein sollte und die Abolitionistinnen überdies die Reglementierung der Prostitution und die herrschende Doppelmoral anklagten.10 Der Zentralausschuss kritisierte die Reglementierung zwar ebenso, aber vor allem, weil er sie als staatlich sanktionierte Prostitution einstufte. Statt ihrer Aufhebung, forderte der Zentralausschuss deshalb die generelle strafrechtliche Verfolgung von Prostitution unter Beibehaltung der Reglementierung.11 Damit gingen sowohl Baur als auch der Zentralausschuss von grundsätzlich anderen politischen Prämissen als die Abolitionistinnen aus. Nach der Genfer Konferenz trat Baurs Ehefrau Meta Baur dem internationalen Freundinnenverband bei und initiierte 1878 gemeinsam mit Johanna Piper12 die Gründung des ersten deutschen Lokalvereins der Freundinnen junger Mädchen in Berlin,13 der jedoch nur langsam wuchs und dessen Anzahl der Mitgliedsfrauen sich während der Zeit des Kaiserreichs zwischen 70 und etwa 100 bewegte.14 Vier Jahre später, 1882, gründete Meta Baur zusammen mit Agnes Vollmar15 und Ger† 18.4.1897, Koblenz). Vgl., Friedrich Wilhelm Bautz, Wilhelm Baur, in: BBKL, Bd. I, Hamm 1990, Spalten 428–429. 8 „Magdalenensache“ meint die Resozialisierung von Prostituierten, wofür die Magdalenenheime geschaffen wurden. Der Name geht zurück auf Maria aus Magdala, die aufgrund der Verschmelzung verschiedener Marien- und Salbungsgeschichten in die Tradition des Neuen Testaments als Prostituierte eingegangen ist. 9 Zit. nach: Baumann, S. 103. 10 In Deutschland war die Praxis zur Kontrolle von Prostitution je nach Stadt unterschiedlich. In manchen Städten kam die Kasernierung zur Anwendung, welche die Prostituierten in bestimmten städtischen Bezirken konzentrierte. In anderen Städten, wie in Berlin, wurde die Reglementierung durchgeführt. Vgl. hierzu die Ausführungen von Baumann, S. 100ff. 11 Baumann, S. 104. 12 Blanck, S. 7. 13 Es ist nicht abschließend zu eruieren, ob Meta Baur tatsächlich bei der Gründungssitzung des Berliner Lokalvereins mitgewirkt hat und wann sich der Lokalverein endgültig gründete. Allerdings hat sie den Verein ab 1878 mit auf den Weg gebracht. Vgl. Blanck, S. 7. 14 Vgl. Jahresbericht der Freundinnen junger Mädchen 1929, in: Der Freundinnen-Verein. Mitteilungen des Deutschen Nationalvereins der Freundinnen junger Mädchen, 1930, Nr. 176, S. 220. 15 Agnes Vollmar war bis zu ihrem Tod im Jahr 1910 die zweite Vorsitzende des Nationalvereins und teilte sich das Amt der Nationalschriftführerin mit ihrer Schwester Helene Vollmar. Als Nationalschriftführerinnen folgten ihnen bis 1920 Fräulein Semm und daran anschließend, für

1. Die Wegbereiter bahnhofsmissionarischer Arbeit in Berlin

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trud Schellbach16 den deutschen Nationalvorstand, wodurch der Freundinnenverein eine überregionale Struktur in Deutschland erhielt. Im Jahr 1909 gab es 7 356 Frauen, die dem Nationalverein beigetreten waren. Damit hatten die deutschen „Freundinnen“ im weltweiten Vergleich den höchsten Mitgliederstand erreicht.17 Die Mitgliederzahl sank in der Weimarer Republik auf etwa 4  800 organisierte Frauen,18 um bis 1934 wieder auf 11 206 Mitglieder anzusteigen.19 Vergleicht man das Organisationspotenzial anderer deutscher Frauenvereine, die ein Vielfaches an Mitgliedsfrauen rekrutieren konnten, dann nimmt sich der Freundinnenverein eher bescheiden aus.20 Der Verein, der zwar prinzipiell allen Rat suchenden jungen Frauen offen stehen wollte, war tatsächlich jedoch festgelegt auf Töchter bürgerlicher Schichten.21 Mit dem Bezug auf eine großbürgerliche Klientel wollten sich die „Freundinnen“ weitgehend um Frauen bemühen, die ihrer eigenen Schichtzugehörigkeit entsprachen, deren Spektrum vom gehobenen Mittelstand bis zum Adel reichte. Die Eingrenzung auf eine großbürgerliche Klientel entsprach auch der ursprünglichen Intention der Verbandsgründerinnen in der Schweiz, obwohl zunehmend, vor allem nach dem Ersten Weltkrieg, auch Frauen proletarischer Schichten in den Blick genommen wurden. Wie für bürgerliche Frauenvereine im 19. Jahrhundert typisch, wurde die Vereinsleitung häufig adligen Frauen übertragen.22 Schirmherrin des qua Satzung auf

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zwei Jahrzehnte, Frau Dr. Anna Blanck. Vgl. Blanck, S. 17f, 37, 57. Nachdem Blanck geheiratet hatte und ausschied, übernahmen zwei Halbtagskräfte die Aufgabe. Vgl. Jahresbericht der Freundinnen junger Mädchen 1929, in: Der Freundinnen-Verein, 1930, Nr. 176, S. 221. Gertrud Schellbach war die Vertreterin von Sophie Lösche, die Begründerin des ersten Berliner Jungfrauenvereins. Sie lernte 1882 auf einer Informationsveranstaltung über den Verein der Freundinnen junger Mädchen in Berlin Johanna Piper und dann Meta Baur kennen. Vgl. Constantin Frick, Eigenart und Notwendigkeit der Arbeit des „Vereins der Freundinnen junger Mädchen“. Vortrag gehalten am 1. Juni 1910 auf der Vorständekonferenz in Weimar, in: Der Freundinnen-Verein. Mitteilungen des Deutschen Nationalvereins der Freundinnen junger Mädchen, 1910, Nr. 103, S. 656–663, hier: S. 657. Das ist eine ungefähre Zahl und benennt die zahlenden Mitglieder im Jahr 1924. Vgl. Jahresbericht der Freundinnen junger Mädchen 1923/1924, in: Der Freundinnen-Verein. Mitteilungen des Deutschen Nationalvereins der Freundinnen junger Mädchen, 1925, Nr. 155, S. 3. Vgl. Übersicht über die Freundinnenarbeit 1933, in: Freundinnen-Verein. Mitteilungen des Deutschen Verbandes der Freundinnen junger Mädchen, 1934, Nr. 192, S. 390. Zum Vergleich werden zwei Vereine genannt, die, genau wie der Freundinnenverein, unter der Schirmherrschaft der Kaiserin standen und im Kaiserreich folgende Mitgliederzahlen verzeichnen konnten: die Evangelische Frauenhilfe: 13 634 Mitglieder (bis zum Ende der Weimarer Republik über eine Million Mitglieder). Vgl. Regina Mentner, Die soziale Arbeit der evangelischen Frauenhilfen, in: Jähnichen/Friedrich, S. 177–189, hier: S. 180. Der überkonfessionelle Vaterländische Frauenverein: knapp 600 000 Mitglieder. Vgl. Süchting-Hänger, „Gleichgroße mut’ge Helferinnen“, in: Planert, Nation, hier: S. 134. Vgl. Blanck, S. 16. Vgl. Huber-Sperl, Einleitung, in: Dies., S. 11–37, hier: S. 15. 1899 gab Meta Baur ihren Verbandsvorsitz an Anna Freifrau von der Tann-Rathsamhausen († 1906) ab, die für zwei Jahre dem Verein vorstand und dann den Vorsitz an Elisa Gräfin von Blumenthal († 1907) übergab. Ihr folgte Fürstin Marie zu Erbach-Schönberg geb. von Battenberg (* 15.7.1852, Genf, † 20.6.1923, Schönberg), die 18 Jahre die Vereinsvorsitzende war. 1924 übernahm Großherzo-

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IV. Der öffentliche Raum der Berliner Bahnhofsmission

christlich-protestantischen Boden23 stehenden Vereins war ab 1905 Kaiserin Auguste Viktoria.24 Damit rekrutierte sich der Landesvorsitz aus der staatlichen Elite und war darüber hinaus durch das Protektorat der Kaiserin fest im bestehenden Herrschaftssystem verankert. Nach der Gründung des deutschen Nationalvorstandes wurde die Arbeit am Bahnhof durch die Berliner Mitgliedsfrauen in Angriff genommen und ein „Damenkomitee“25 gebildet. Um den wirksamen Schutz anreisender junger Frauen auf den Bahnhöfen zu gewährleisten, konnten sich die zuwandernden Frauen per Postkarte bei den „Freundinnen“ anmelden und wurden dann zur vereinbarten Zeit von Mitgliedsfrauen des Lokalvereins am Bahnhof in Empfang genommen.26 Für die nächsten Jahre war die Abholung nach Anmeldung die einzige Hilfe für junge Zuwanderinnen am Bahnhof. Das änderte sich erst durch die Initiative des Berliner Pfarrers Johannes Burckhardt,27 durch dessen Engagement eine organisierte, kontinuierlich am Bahnhof vertretene Bahnhofsmission auf den Weg gebracht wurde. 1890 hatte Johannes Burckhardt eine Versammlung einberufen, um darüber zu beraten, wie man junge Frauen und Mädchen ab 14 Jahren lokal und überregional organisieren könnte, um einem angeblich im Ansteigen begriffenen gesellschaftlichen Werteverfall Einhalt zu gebieten. Durch konsequente Bibelarbeit sollten junge Frauen den Kirchen als Klientel zugeführt, von politischen Vereinen ferngehalten und es sollte ihnen stattdessen in ihrer Freizeit ein christliches Angebot unterbreitet werden. Hierzu wollte man die Struktur der seit Jahrzehnten existierenden Jungfrauenvereine weiter ausbauen und die dort organisierten Mädchen und jungen Frauen für die „evangelische Liebesthätigkeit“28 sensibilisieren. Als so genannte Hilfstruppe des Pfarrers sollten sie die Gemeindearbeit mitgestalten, indem sie sowohl Gemeindefeste organisierten als auch den Pfarrer entlasteten sowie Hilfsbedürftige oder Kinder betreuten.29 Im Gegensatz zur Praxis des Vereins der Freun-

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gin Eleonore von Hessen die Leitung und wurde außerdem als zweite Vorsitzende in den Verband Evangelische Deutsche Bahnhofsmission gewählt. Vgl. Niederschrift der Ausschusssitzung des Verbandes Evangelische Deutsche Bahnhofsmission am 14. November 1924, ADW, CA, Gf/St 90, S. 2. Nach ihrem Unfalltod 1937 wurde die Verbandsleitung an Margarete Fürstin Löwenstein übergeben. Die Reihenfolge des Nationalvorstandes findet sich in Blanck, S. 27, 28, 30, 63. Nikles, Soziale Hilfe, S. 32. Der deutsche Nationalverein war darüber hinaus der Vereinigung der evangelischen Frauenverbände und dem Zentralausschuss für Innere Mission angeschlossen, vgl. Blanck, S. 67. Dass die Kaiserin das Protektorat für den Verein übernahm, ging auf die Initiative der damaligen Nationalvorsitzenden Fürstin Marie zu Erbach-Schönberg zurück. Vgl. Blanck, S. 30f. Kaiserin Auguste Viktoria, (* 22.10.1858, Dolzig, Niederlausitz, † 11.4.1921, Doorn, Niederlande), legte ihr Protektorat für den Verein 1919 nieder. Vgl. Der Freundinnen-Verein. Mitteilungen des deutschen Nationalvereins der Freundinnen junger Mädchen, 1919, Nr. 137, S. 1174. Nikles, Soziale Hilfe, S. 15. Ebd., S. 25. Johannes Burckhardt (* 20.10.1853, Altena, Westfalen, † 27.1.1914, Berlin). Vgl. Mustersatzungen für die evangelischen Jungfrauenvereine Deutschlands, in: Der Vorstände-Verband, 6, 1897, Nr. 2, S. 29f. Vgl. Josepha Fischer, Die Mädchen in den deutschen Jugendverbänden. Stand, Ziele und Auf-

1. Die Wegbereiter bahnhofsmissionarischer Arbeit in Berlin

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dinnen junger Mädchen regte Johannes Burckhardt auf der Versammlung an, sich nicht ausschließlich auf Frauen mit bürgerlichem Hintergrund zu konzentrieren, sondern ein Vereinsangebot zu entwickeln, das alle Frauen ansprach, gleichgültig aus welcher Schicht sie kamen: Dienstmädchen, Fabrikarbeiterinnen, Ladnerinnen und Bauers- ebenso wie Bürgertöchter.30 Besonders den ortsfremden, binnenwandernden Frauen sollte Aufmerksamkeit geschenkt und sie durch spezielle Beratung und Kursangebote sowie die Bereitstellung von Wohnmöglichkeiten in Heimen und eine organisierte Fürsorge am Bahnhof unterstützt werden. Durch das Vorhaben, sich sowohl auf lokale als auch überregionale Strukturen zu orientieren, gingen aus der von Burckhardt veranlassten Versammlung zwei Organisationen hervor: Erstens der Verein Wohlfahrt für die weibliche Jugend, der lokal, auf Berlin bezogen, arbeitete, die erste organisierte Bahnhofsmission initiierte und damit der Trägerverein der Berliner Bahnhofsmission wurde. Zweitens der Evangelische Verband für die weibliche Jugend,31 der sich überregional ausbreitete und sich zu einer großen Jugendorganisation für junge Frauen entwickelte. Bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten rekrutierte die Organisation 213  300 Mitglieder.32 Im Kreisverband Groß-Berlin waren davon Anfang der 1930er Jahre knapp 5  000 Frauen organisiert, womit sich der Kreisverband hinsichtlich seiner Mitgliederzahlen im unteren Mittelfeld bewegte. Das lag an der Größe des Rekrutierungsgebietes. Verbände, die auf Städte oder Herzogtümer beschränkt blieben, rekrutierten meistens weniger Mitglieder, als solche, die umfangreichere Reichsgebiete abdeckten.33 Der Evangelische Verband für die weibliche Jugend fühlte sich ebenso wie der Gesamtprotestantismus besonders den Werten gaben, Leipzig 1933, S. 5. 30 Johannes Burckhardt, Der Jungfrauenvereine Aufgabe und Bedeutung, sowie die Mittel zu ihrer Förderung, in: Monatsschrift für Innere Mission, 14, 1894, S. 35–48, hier: S. 46. Vgl. auch P. S[eiffert?]., Wie gewinnen wir gebildete Mädchen zur Mitarbeit in den Sonntags und Jungfrauenvereinen?, in: Der Vorstände-Verband, 5, 1896, Nr. 1 und Nr. 2, S. 6–11 und S. 17–20, hier: S. 8f. 31 Dieser hieß ursprünglich Berliner Vorstände-Verband und änderte seinen Namen in den nächsten Jahrzehnten fünf Mal. Zuerst erweiterte er seinen Namen in Vorständeverband evangelischer Jungfrauenvereine Deutschlands. Als man nicht mehr die Vorstände, sondern die Vereine in den Mittelpunkt rücken wollte, änderte er seinen Namen in Verband evangelischer Jungfrauenvereine Deutschlands. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges nannte er sich Evangelischer Verband zur Pflege der weiblichen Jugend Deutschlands. Fünf Jahre später erschien dem Vorstand dieser Name unpassend, weil man nicht den Eindruck der Pflege junger Frauen erwecken wollte, und nannte sich fortan Evangelischer Verband für die weibliche Jugend. Als man schließlich zum Ausdruck bringen wollte, dass es sich um eine gesamtdeutsche Organisation handelte, änderte sich der Name wiederum in Evangelischer Reichsverband weiblicher Jugend. Vgl. Wilhelm Thiele, Aus der Geschichte unseres Verbandes, in: Evangelischer Reichsverband weiblicher Jugend (Hrsg.), Unser Jugendwerk., o. O. o. J. [Düsseldorf nach 1929], S. 7–13, hier: S. 8. 32 Vgl. Fischer, S. 5. Der evangelische Verband für die Pflege der weiblichen Jugend Deutschlands war einer von insgesamt 85 Reichsorganisationen, in denen 1933 2,5 Millionen junge Frauen organisiert waren, ebd., S. 4. 33 Der Kreisverband Groß-Berlin verzeichnete 1931 4 580 Mitglieder. Vgl. 38. Jahresbericht des Evangelischen Reichsverbandes weiblicher Jugend, 1. Mai 1930 bis 30. April 1931, BDW CI 3256, S. 19.

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IV. Der öffentliche Raum der Berliner Bahnhofsmission

des Kaiserreiches und – zumal in Preußen – der Verbindung von Thron und Altar verbunden. Zur Weimarer Republik hatte er stets ein ambivalentes Verhältnis, weshalb er anfänglich die nationalsozialistische Bewegung freudig begrüßte, versprachen sich seine Mitglieder von den neuen Machthabern doch eine Rehabilitation konservativ-christlicher Überzeugungen. Als der Evangelische Verband gewahr wurde, dass sich weder die Hoffnung auf eine Rückkehr zu dem Wertesystem des Kaiserreiches, noch eine unangefochtene Stellung des Protestantismus im Nationalsozialismus erfüllte und er stattdessen in seiner Autonomie bedroht wurde, distanzierten sich Teile der Mitgliedschaft vom nationalsozialistischen Staat. Die Zusammenarbeit zwischen dem Verein Wohlfahrt und dem Evangelischen Verband war durch denselben Initiator sowie Gründungsort und -zeit naturgemäß sehr eng. Kooperationen ergaben sich beispielsweise bei der Öffentlichkeitsarbeit, der Finanzierung, der Administration und gemeinsamen Aktivitäten. Ab 1903 befand sich das Büro des Evangelischen Verbandes in der Tieckstraße 17, wo auch der Verein Wohlfahrt in drei Räumen seine zentrale Geschäftsstelle hatte. Nachdem der Evangelische Verband stark expandiert war, bezog er im Jahr 1914 ein eigenes Haus in der Friedbergstraße 25–27 in Berlin-Dahlem.34 Dieselben Gründungsvoraussetzungen wirkten sich auch auf die Vorstandsposten aus, die für beide Organisationen knapp 25 Jahre in Personalunion geführt wurden. Bis 1914 war Johannes Burckhardt der Vorsitzende beziehungsweise Geschäftsführer des Evangelischen Verbandes und des Trägervereins der Berliner Bahnhofsmission. Nach Burckhardts Tod übernahm Pfarrer Wilhelm Thiele35 die Vorstandsposten und hielt die Personalunion noch zwei Jahre aufrecht. Ab 1916 waren beide Organisationen derart gewachsen, dass der Vorsitz getrennt wurde. Auch die Verbandssekretärin übte ihr Amt in Personalunion aus. Sowohl für den Evangelischen Verband als auch den Trägerverein der Berliner Bahnhofsmission übernahm Gertrud Müller dieses Amt. Die Professionalität des Evangelischen Verbandes, die sich in seinem finanziellen und administrativen Potenzial sowie den unterhaltenen Netzwerken und weit verzweigten Kontakten widerspiegelte, brachte die Entwicklung der Deutschen Bahnhofsmission voran und stellte ihr einen starken Partner zur Seite. Einen regelmäßigen Berliner Bahnhofsdienst organisierten der Verein Wohlfahrt für die weibliche Jugend und der Evangelische Verband seit 1894. Da auch die Mitgliedsfrauen des Berliner Freundinnenvereins nach wie vor nach Anmeldung junge Frauen am Bahnhof abholten, musste eine Zusammenführung der auf bahnhofsmissionarischem Gebiet arbeitenden Kräfte ins Auge gefasst werden. Daraufhin arbeitete Johanna Piper, die Leiterin des Berliner Lokalvereins der Freundinnen junger Mädchen,36 einen Entwurf aus, der auf lokaler und nationaler Ebene 34 Der Verband Evangelische Deutsche Bahnhofsmission, der sich aus den bescheidenen Anfängen inzwischen entwickelt hatte und überregional sowie zentral die Leitung der einzelnen Bahnhofsmissionen lenkte, erhielt in Dahlem ebenfalls zwei Geschäftsräume. 35 Wilhelm Thiele († 16.4.1930). 36 Blanck, S. 33. Nach dem Tod Pipers übernahm Frau Superintendent Marie Fischer-Quistorp für über 15 Jahre, bis 1927, die Leitung des Berliner Freundinnenvereins. Vgl. Der FreundinnenVerein. Mitteilungen des Deutschen Nationalvereins der Freundinnen junger Mädchen, 1927, Nr. 164, S. 97. Sie wurde dann von Frau von Oertzen abgelöst.

1. Die Wegbereiter bahnhofsmissionarischer Arbeit in Berlin

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– in Berlin und deutschlandweit – eine Verständigung der drei Organisationen erreichen sollte. Die Nationalversammlung des Freundinnenvereins lehnte Pipers Vorschläge jedoch ab, stellte es aber den Lokalvereinen frei auf kommunaler Ebene Bündnisse einzugehen. Der Grund für die Ablehnung lag darin, dass der Freundinnenverein die Vorstöße des Evangelischen Verbandes „als einen unerwünschten Einbruch in ein von ihm bis dahin ausschließlich gepflegtes Arbeitsgebiet empfand“.37 Ein Zusammenschluss der deutschlandweit operierenden Verbände – Freundinnenverein und Evangelischer Verband – war zwar sehr sinnvoll, da die Ziele der genannten Institutionen, nämlich Arbeitsmigrantinnen eine Dienstleistung zu erbringen, mit der Absicht, die jungen Frauen davon abzuhalten zweifelhafte Arbeitsstellen anzunehmen, kongruent waren. Zudem hatten die „Freundinnen“ immer betont, dass sie mit den Gemeinden, in denen sie wirkten und mit den jeweiligen Pfarrern, die sich auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege engagierten, zusammenarbeiten wollten.38 Dennoch war es für den Dachverband des Freundinnenvereins problematisch, einem Zusammenschluss zuzustimmen. Das hatte folgenden Grund: Im Evangelischen Verband und besonders im Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend waren zwar Männer und Frauen zusammen engagiert, Frauen hatten aber in den ersten Jahrzehnten kaum leitende Funktionen inne und der Initiator und Vorsitzende des Vereins, Pfarrer Johannes Burckhardt, dominierte diesen qua Amt und Persönlichkeit stark. Im Vergleich dazu wurde der Freundinnenverein von Frauen praktisch eigenständig geleitet als auch getragen.39 Da die „Freundinnen“ vermuteten, dass durch einen Zusammenschluss ihre eigenen öffentlichkeitswirksamen Räume begrenzt würden, entschied sich die Organisation vorläufig, weiterhin unabhängig zu bleiben. Als sich der Evangelische Verband beim Preußischen Minister für öffentliche Arbeiten um die Erlaubnis bemühte, so genannte Warnungsplakate nicht nur an den Berliner Bahnhöfen, sondern auch in den Eisenbahnwaggons aufhängen zu dürfen, stimmte der Minister dem grundsätzlich zu, empfahl aber eine Verständigung mit dem Verein der Freundinnen, der Plakate in Eisenbahnen schon einige Zeit anbrachte. In Ermangelung finanzieller Mittel und ausreichender Hilfskräfte des Berliner Freundinnenvereins willigte der Nationalvorstand der Freundinnen junger Mädchen schließlich in die Fusion mit dem Evangelischen Verband ein und rief 1897 die Kommission der Deutschen Bahnhofsmission mit Johannes Burckhardt als Vorsitzendem ins Leben. Diese Kommission brachte die Entstehung des Dachverbands der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission auf den Weg. Die überregionalen Geschäfte der Kommission lagen für die 37 Ditfurth, S. 37. 38 Deutscher Nationalverein der Freundinnen junger Mädchen (Hrsg.), Verein der Freundinnen junger Mädchen. Ein Wort zur Beherzigung, o. O. [Gräfenhainichen] 1890, S. 12f. 39 Zentrale Vorstandsposten, wie der des zweiten Schriftleiters, wurden auch bei Frauenvereinen an Männer vergeben. Dies war insofern im Sinne der Vereinsfrauen, da zumindest verheiratete Frauen nicht selbständig mit Behörden verhandeln konnten und Männern darüber hinaus eine Kontrollmöglichkeit gegeben war. Dieses Argument vertritt Andrea Süchting-Hänger für den Vaterländischen Frauenverein und kann generalisiert werden. Süchting-Hänger, „Gleichgroße mut’ge Helferinnen“, in: Planert, Nation, hier: S. 133. Im Evangelischen Verband stellte sich die Situation etwas anders als im Verein Wohlfahrt dar. Hier waren Frauen im engeren Vorstand bereits im Kaiserreich vertreten.

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IV. Der öffentliche Raum der Berliner Bahnhofsmission

kommenden Jahre beim Evangelischen Verband und dessen Geschäftsführerin Gertrud Müller. Neben dem Berliner Freundinnenverein und dem Evangelischen Verband gehörten der Kommission auch Mitglieder des Ausschusses zur Fürsorge für die einwandernde weibliche Jugend des Berliner Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend an.40 Dieser Ausschuss hatte unter dem Namen „Bahnhofskommission“ bereits vor der Fusion der verschiedenen Institutionen zur Kommission der Deutschen Bahnhofsmission existiert und erweiterte sich nun um Mitglieder des Evangelischen Verbandes und des Freundinnenvereins.41 In der sich entwickelnden Verbandsstruktur der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission wollte der Nationalverband der Freundinnen junger Mädchen nicht vollständig aufgehen, sondern Eigenständigkeit bewahren. Der öffentliche Raum „Bahnhofsmission“, der von verschiedenen Organisationen konstituiert worden war, wurde trotz gemeinsamer Netzwerkstrukturen lange Zeit zum Raum sozialer Auseinandersetzungen, bei dem die deutsche Dachorganisation des Freundinnenvereins stets um die Erhaltung ihres Wirkungskreises bemüht war. 2. Der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend: . Motor der lokalen und überregionalen Entwicklung der Bahnhofsmission In den Paragrafen eins und zwei der Satzung des 1890 von Pfarrer Johannes Burckhardt gegründeten Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend wurde festgeschrieben, dass man sich folgenden sieben Schwerpunkten widmen wollte: § 1: „1. eigene größere Heimathäuser für junge Mädchen zu errichten; 2. die bestehenden Jungfrauen-Vereine zu pflegen und in nähere Berührung. mit einander zu bringen, auch nach Bedürfnis die Gründung neuer derarti-. ger Vereine anzuregen; 3. den in Berlin einwandernden Mädchen mit Rat und That zur Seite zu ste-. hen; 4. die Sammlung und weitere Pflege der konfirmierten Mädchen zu fördern; 5. wo es erforderlich ist, besondere Veranstaltungen für einzelne Berufsarten. von Mädchen zu treffen. § 2: Zur Förderung dieser Zwecke will der Verein 1. sich der Presse bedienen, sei es durch Benutzug der vorhandenen Zeit-. schriften, sei es durch Herausgabe eigener Flugblätter oder eines eigenen. Vereinsorgans; 2. durch öffentliche Versammlungen das Interesse für seine Aufgaben wecken. und warm halten, um insbesondere die christliche Frauenwelt zur Mitarbeit. auf diesem Gebiet aufzurufen“.42 40 Vgl. Ditfurth, S. 39. 41 Mitglieder der erweiterten Kommission führt beispielsweise der 13. Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge der weiblichen Jugend 1904 auf, EZA, 7/13475, S. 16. 42 Satzung des Vereins Fürsorge für die weibliche Jugend, in: Entwickelung des Vereins zur Für-

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Der Verein stellte grundsätzlich die Gesamtheit der weiblichen Jugend in das Zentrum seiner Aktivitäten und viele der hier angesprochenen Angebote waren sowohl für zuwandernde als auch für ortsansässige Frauen gemeinsam gedacht. Dass sich die Vereinsmitglieder den binnenwandernden Frauen jedoch besonders widmen wollten, wird im dritten Satzungspunkt des ersten Paragrafen angesprochen, der besagt, dass der Verein den „einwandernden Mädchen mit Rat und That zur Seite stehen“ wollte. Die aus dem Verein hervorgegangene „Bahnhofskommission“, die später in erweiterter Zusammensetzung unter dem Namen Kommission der deutschen Bahnhofsmission – bestehend aus Vereinsmitgliedern, Mitgliedsfrauen des Freundinnenvereins und Mitgliedern des Evangelischen Verbandes – arbeitete, entwickelte ein dreigliedriges Konzept der „vorausgehenden“, „mitgehenden“ und „nachgehenden“ Fürsorge. Die „mitgehende“ Arbeit, die Betreuung der jungen Frauen am Bahnhof, wird im dritten Satzungspunkt implizit angesprochen. Auf die „vorausgehende“ Fürsorge, die mit medialen Mitteln Frauen vor ihrer Abwanderung in den ländlichen Gegenden erreichen und vor dem Zuzug nach Berlin warnen wollte, bezieht sich der erste Punkt des zweiten Paragrafen. Die „nachgehende“ Arbeit, die sich auf Hilfestellungen für die jungen Frauen in ihrem neuen Lebensabschnitt in Berlin konzentrierte, wird in den anderen Satzungspunkten ausgeführt.43 Im Folgenden soll nun ein genauerer Blick auf den Berliner Lokalverein geworfen werden. 2.1 Struktur, Aufgaben und Entwicklung des Trägervereins . der Berliner Bahnhofsmission In diesem Kapitel werden die Vorstandsstruktur und die Tätigkeitsfelder des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend sowie die von ihm mit angeschobene Entstehung und Verwirklichung eines funktionsfähigen Dachverbandes thematisiert. Dabei wird den Gestaltungsmöglichkeiten von Frauen durch öffentlich wohltätiges Engagement auf lokaler und überregionaler Ebene Rechnung getragen: Erstens wird durch die Analyse der Mitglieder- und Vorstandszusammensetzung im Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend sowie die Entfaltung der Vereinsaktivitäten in Berlin, bei denen Bahnhofsmissionarinnen stark involviert waren, aufgezeigt, welche Erfolge der Verein bei seinen Versuchen neu zugezogene Frauen durch kirchliche Aktivitäten zu integrieren oder ihnen Unterkünfte zur Verfügung zu stellen, verzeichnen konnte und welche Rückschläge er verbuchen musste. Zweitens ist das Engagement von Frauen in der Vorstands- und Kommissionsstruktur des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission besonders mit Blick auf die Kolleginnen im Verein Wohlfahrt von Interesse. Am Beispiel der Aktivitäten zweier führender Protagonistinnen des Dachverbandes wird die These, dass Frauen auf der verbandlichen Ebene größere Gestaltungsräume hatten, weil sie dort angesorge für die weibliche Jugend bis Ende 1902, o. O. o. J. [Berlin 1902], S. 4–8, hier: S. 4. 43 Eine detaillierte Ausführung zu dem dreigliedrigen Konzept der Bahnhofsmission findet sich im Kapitel II („Gefährdete“ Frauen und „wandernde“ Männer: die weltanschauliche Konzeption der Bahnhofsmission) dieser Arbeit.

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stellt und nicht ehrenamtlich tätig waren, noch einmal aufgenommen, mit Martina Löws Raumsoziologie abgeglichen und im historischen Kontext interpretiert. 2.1.1 Mitglieder und Vorstand des Vereins Der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend rekrutierte Mitglieder beiderlei Geschlechts, die einer großbürgerlichen oder adligen Oberschicht entstammten. Durch seine Mitglieder bediente sich der Verein der Expertise oder des gesellschaftlichen Ansehens von Männern, die als Unterstaatssekretäre, Regierungsräte und Bürgermeister, Senatspräsidenten und Justizräte, sowie als Reichsbankdirektoren und Kommerzienräte, Pfarrer, Konsistorialräte, Sanitätsräte und Generalleutnants tätig waren und vorwiegend aus den Berufssparten Politik, Justiz, Wirtschaft, Theologie, Medizin und dem Militär kamen. Vom wirtschaftlichen Vermögen und der beruflichen Stellung seiner Mitglieder profitierte der Verein enorm, was allein in der Heimstättenstruktur deutlich wird, weil dem Verein Hausgrundstücke für Heime geschenkt, Häuser kostenlos zur Nutzung überlassen oder Bauten kostengünstig durchgeführt wurden.44 Die Zahlenstärke des Vorstands war auf mindestens 12 aber höchstens 20 Personen festgelegt.45 Funktionen, wie der Vorsitz, der stellvertretende Vorsitz, das Vereinsdirektorium beziehungsweise die Geschäftsführung und die Schatzmeisterei, die Schriftleitung sowie deren Vertretungen, wurden durchgängig mit Männern besetzt. In der Weimarer Republik schuf der Verein das Amt des zweiten stellvertretenden Vorsitzenden, das dann regelmäßig an eine Frau vergeben wurde.46 Die erste Frau, die in dieses Amt gewählt wurde, war Frau Geheimrat March, die bereits im Kaiserreich Vorstandsfrau gewesen war.47 Der Posten des Vereinsvorsitzenden wurde bevorzugt mit Personen aus den Bereichen Politik und Wirtschaft besetzt. Vier der sechs Männer, die in folgender Reihenfolge dieses Amt bekleideten, waren adliger Herkunft: Kammerherr und Geheimer Oberregierungsrat Graf Andreas von Bernstorff, Kabinettsrat Dr. von Behr-Pinnow, Unterstaatssekretär Exzellenz von Chappuis, Generalsuperintendent und Vizepräsident beim Evangelischen Oberkirchenrat D. Burghart, Vizepräsident der Reichsbank Kauffmann und Geheimer Finanzrat Dr. von Bahrfeldt. Parallel dazu gab es den Posten des Vereinsdirektors, der später Vereinsleiter und ab 1933 Geschäftsführer hieß und fast durchgängig von Geistlichen bekleidet wurde. Der erste Direktor war der Begründer des Vereins, Pfarrer Johannes Burckhardt, der genau wie sein Nachfolger, Pfarrer Wil44 So errichtete der Architekt und Bauingenieur March, der gemeinsam mit seiner Frau dem Verein angehörte, für diesen eines seiner Heimathäuser nebst einem Hospiz. Vgl. Fünfzig Jahre Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1890–1940, Berlin o. J. [vmtl. 1940], EZA, 7/13477, S. 5. 45 Satzung des Vereins, in: Entwickelung, hier: S. 5. 46 Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1928–1929, EZA, 7/13477, S. 5. Vgl. auch Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1938, EZA, 7/13477, S. 3. 47 Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1925–1927, BDW C I 2927, S. 2.

2. Der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend

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helm Thiele, gleichzeitig auch dem Evangelischen Verband für die weibliche Jugend vorstand. Danach übernahm Pfarrer Willibald Jaehn den Posten des Vereinsdirektors. Ihm folgten Pfarrer Walter Thöldtau und schließlich Oberbürgermeister Arlart. Neben Johannes Burckhardt war es vor allem Willibald Jaehn, der dem Verein als Leiter am längsten angehörte.48 Die Vorstandsspitze zu teilen, war eine vorausschauende Entscheidung. Indem der Posten des Vereinsvorsitzenden an Männer in beruflich einflussreichen Positionen vergeben wurde, konnte der Verein einerseits nach außen repräsentieren und die gesellschaftlichen Kontakte dieser Personen nutzen. Durch den Vereinsleiter wurde andererseits die inhaltliche Arbeit „mit einem (…) moralisch-politischen Missionsauftrag verknüpft“49 und ein christlicher Schwerpunkt gesetzt. Im Kaiserreich und in der Weimarer Republik war der Vorstand meistens knapp zur Hälfte mit Frauen besetzt, in manchen Jahren stellten sie auch die Mehrheit.50 Für den Verein lassen sich Erkenntnisse anderer Studien dahingehend bestätigen, dass Frauen, die sich im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in Vereinen des konservativen Milieus engagierten, fast durchgängig verheiratet oder verwitwet waren.51 Es waren Frauen, wie Frau Minister Freifrau von Hammerstein, Frau Polizeipräsident von Borries, Frau Staatsminister Freifrau von der Recke, Frau von Bethmann-Hollweg, Frau Geheimrat von Grimm und Frau Bankier Loesche, die vor allem im Kaiserreich und teilweise noch in der Weimarer Republik eine adlige und großbürgerliche Oberschicht repräsentierten und mit Bezug auf den Beruf ihres Ehemannes dessen gesellschaftliches Ansehen für die Anliegen des Vereins nutzbar machten.52 Unverheiratete Vorstandsfrauen stellten hingegen die Ausnahme dar. Im Kaiserreich und teilweise noch in der Weimarer Republik waren Frauen wie beispielsweise Fräulein von Bistram, Fräulein von Griesheim und Fräulein von Quitzow für den Verein aktiv. Gemäß der Vereinsmaxime Frauen großbürgerlicher und adliger Schichten in Leitungsfunktionen einzusetzen, wurden diese Mitgliedsfrauen vom Verein bald nach seiner Gründung angestellt. So waren Fräulein von Bistram und Fräulein von Quitzow Heimleiterinnen des Marienheimes I sowie des Hospizes, das dem Heim angeschlossen war, und Fräulein von Griesheim war die Vorsteherin der Vereinsarbeiterschule.53

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Fünfzig Jahre Verein Wohlfahrt, [vmtl. 1940], EZA, 7/13477, S. 3f. Huber-Sperl, S. 51. Vgl. 17. Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend, EZA, 7/13476, S. 23. Frank Bösch, Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik, Göttingen 2002, S. 87f. 52 Fünfter Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1896, EZA, 7/13475, S. 7; 13. Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1904, EZA, 7/13475, S. 14; 17. Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1908, EZA, 7/13476, S. 23; Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1928–1929, EZA, 7/13477, S. 5. 53 Vgl. Fünfter Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1896, EZA, 7/13475, S. 5; ebenso: 17. Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1908, EZA 7/13476, S. 3 und 17.

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Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme sank der Anteil von Frauen auf unter ein Viertel der Vorstandsmitglieder.54 Wie die Namen der Mitgliedsfrauen Frau Ministerialrätin Albrecht und Frau Senatspräsidentin Stiller deutlich machen, waren es nun bürgerliche und nicht mehr adlige Frauen, die sich für den Verein einsetzten. Sowohl die gesunkene Anzahl von Frauen im Vorstand als auch die veränderte Schichtzugehörigkeit deuten darauf hin, dass das Modell der verheirateten adligen oder großbürgerlichen Frau, die sich philanthropisch engagierte, nicht mehr existierte. Auch die typische Verbindung von Thron und Altar, die sich an der Vorstandsstruktur im Kaiserreich und teilweise auch in den 1920er Jahren gezeigt hatte, war im „Dritten Reich“ endgültig aufgelöst. Daher waren auch adlige, unverheiratete Frauen, nicht mehr im Verein aktiv. Die Vereins-Jahresberichte listen Frauen wie Frau Oberin Noack, Schwester Mohrmann sowie die Studienrätin und Leiterin der Sozialen Frauenschule der Inneren Mission, Frau Nitzsche, auf, die vermutlich alle unverheiratet waren und einen eigenen Beruf hatten.55 Gemeinsam mit ihren männlichen Mitstreitern waren die Frauen des Vorstandes in alle Diskussionen und Entscheidungen, die das Arbeitsfeld der Berliner Bahnhofsmission, die Entwicklung des überregionalen Verbandes und die Probleme der jungen Zuwanderinnen berührten, involviert. Sie entschieden mit bei der Einrichtung der Heimathäuser und verschiedener Aktivitäten des Vereins wie den Koch- und Haushaltungsschulen oder den Stellenvermittlungen, sie trafen Finanzentscheidungen und betrieben Personalpolitik, indem sie frei werdende Stellen im Vereinssekretariat, der Bahnhofsmission oder den Heimathäusern neu besetzten. Weiterhin berieten sie darüber, wie viele und welche Bezirke für die nachgehende Fürsorge in Betracht kamen und wie der Verein zur Frage der gewerkschaftlichen Anbindung von Dienstmädchen stand. Dadurch hatten sie Gelegenheit, sich in der Arena der Vereinsöffentlichkeit wohlfahrtspolitisch zu engagieren und schulten bedeutende Fähigkeiten öffentlichen Engagements wie Verhandlungsgeschick und Diplomatie bei der Durchsetzung eigener Ziele, zwar weniger mit anderen gesellschaftlichen Institutionen – denn das übernahmen die Männer im Verein – aber doch in der Diskussion mit politischen Wegbegleitern oder Kontrahenten der eigenen Organisation. Als Bahnhofsmissionarinnen arbeiteten die Vorstandsfrauen nicht. Diejenigen unter ihnen, die sich praktisch engagierten, waren bevorzugt in der Heimarbeit ­aktiv. Es gab allerdings eine Reihe von Vereinsfrauen, die in der Bahnhofskommission engagiert waren. Einige von ihnen, wie A. Licht, Else Brüggemann, Anna Gaedicke, Julie Lippert und Fräulein von Knoblauch, waren sowohl in dem zahlenmäßig sehr umfangreichen Ausschuss als auch als Bahnhofsmissionarinnen tätig.56 54 Vgl. Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1938, EZA, 7/13477, S. 3. Ebenso: Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1939, EZA, 7/13477, S. 2f. und Fünfzig Jahre Verein Wohlfahrt, [vmtl. 1940], EZA, 7/13477, S. 12. 55 Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1938, EZA, 7/13477, S. 3; Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1939, EZA, 7/13477, S. 2f. 56 Vgl. Fünfter Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1896, EZA, 7/13475, S. 8; 13. Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1904, EZA,

2. Der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend

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Abbildung 14: Sophie Loesche (1826–1898): Vorstandsfrau des Vereins Fürsorge für die weibliche Jugend, Gründerin des im Besitz des Vereins befindlichen Waisenhauses „Zoar“, Begründerin der Berliner Jungfrauenvereine und langjährige Schriftführerin der Deutschen Mädchenzeitun 57

Die Mehrheit der Frauen jedoch, die sich ehrenamtlich oder fest angestellt in der bahnhofsmissionarischen Arbeit engagierten, waren weder im Vorstand des Vereins, noch notwendigerweise Mitglieder desselben. Daher war eine große Anzahl Bahnhofsmissionarinnen ebenfalls nicht mit dem Verein und seinem Vorstand assoziiert.57 7/13475, S.  16; 17.  Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1908, EZA, 7/13476, S. 25. 57 Im Jahr 1890 übergab Sophie Loesche die Verantwortung für die Deutsche Mädchenzeitung dem Gründer des Vorstände-Verbandes, Johannes Burckhardt. Dessen Frau Henny, gab von da an für über zwei Jahrzehnte die Zeitung, die sich fortan zu einem der auflagenstärksten Blätter des Evangelischen Verbandes für die weibliche Jugend entwickelte, verantwortlich heraus. Vgl. Maria Stehmann, Frau Sophie Loesche, die Mutter der „Deutschen Mädchenzeitung“, in: Deutsche Mädchenzeitung, 60, 1928, S. 154–157.

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2.1.2 Hilfsangebote in der Stadt Der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend entwickelte ein breites Angebot für neu nach Berlin ziehende Frauen, um ihnen die Integration in der Hauptstadt zu erleichtern und sie vor Arbeitslosigkeit oder möglicher, sozialer Isolation zu schützen. Deshalb wurden die Zuwanderinnen in ihren Unterkünften besucht, für sie Wohnmöglichkeiten durch Heimgründungen geschaffen, ihnen bei der Arbeitssuche geholfen sowie berufliche Weiterbildung angeboten und ihnen Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung unterbreitet. Durch die Analyse des Aufgabenfeldes eines im kirchlichen Rahmen agierenden Vereins wird dabei im Folgenden der Frage nachgegangen, wie die Integration der Zuwanderer in Berlin erfolgte.58 Wie erfolgreich waren die Bahnhofsmissionarinnen und andere für den Verein aktive Frauen bei der Bewältigung der Aufgabe, sozialen Frieden mit den unteren Schichten herzustellen? Für Frauen wohlhabender Schichten wurden im Jahr 1905 Klubs für junge Mädchen gegründet, die bald in allen Stadtteilen Berlins existierten. Frauen proletarischer Schichten sprach man mit Werbung von Haushaltungs- und Arbeitsschulen an, in denen sie sich zur Hausangestellten ausbilden oder nähen und schneidern lernen konnten. Diese Kurse wurden notwendig, da der Verein 1893 eine Stellenvermittlung geschaffen hatte, um die zuziehenden Frauen in Stellungen zu vermitteln. Nach Aussagen des Vereins hatten diese jedoch „gewöhnlich wenig Ahnung vom Haushalt, sodaß es bald auf beiden Seiten [Arbeitnehmerinnen und Arbeitgeber, A. M. K.] große Enttäuschungen gab“.59 Insgesamt konnte der Verein 20 Arbeitsschulen gründen, die bis 1919 bestanden. Daneben wurden Kochkurse angeboten und ein Arbeiterinnenverein sowie der Verein für Hausangestellte gegründet. Besonders widmete sich der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend der Unterbringung junger Zuwanderinnen und Berlinreisender. Innerhalb der Stadt wurden Heime60 für kurz- und längerfristigen Aufenthalt sowie ein Schlafstellennachweis ins Leben gerufen61 und Hospize62 eröffnet. Parallel dazu richtete er außer58 Auf dieses Forschungsdesiderat weist Horst Matzerath hin. Vgl. Matzerath, S. 201–222, hier: S. 220. 59 Fünfzig Jahre Verein Wohlfahrt, [vmtl. 1940], EZA, 7/13477, S. 7. Die Stellenvermittlungen des Vereins wurden ab 1935 eingeschränkt. Vgl. das V. Kapitel (Die Berliner Bahnhofsmission und der Dachverband zwischen Zustimmung und politischem Kalkül: Der lange Weg bis zum Ende der Arbeit am Bahnhof 1933–1939) dieser Arbeit. 60 Der Verein eröffnete im Kaiserreich drei Passantenheime, die den Heimen für Dauergäste angeschlossen waren. Das erste lag in der Borsigstraße 5 (Oranienburger Vorstadt), wurde dann in die Tieckstraße verlegt und existierte bis 1919. Die beiden anderen lagen in der Marburgerstraße 4 in Charlottenburg (eingemeindet 1920) sowie in der Versöhnungs-/Ecke Strelitzerstraße (Oranienburger Vorstadt) und existierten noch im nationalsozialistischen Deutschland. Vgl. folgende Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend: 1917, EZA, 7/13476, S. 3; 1925–1927, BDW C I 2927, S. 1; 1939, EZA, 7/13477, S. 4f., sowie Fünfzig Jahre Verein Wohlfahrt, [vmtl. 1940], EZA, 7/13477, S. 4f. 61 Fünfzig Jahre Verein Wohlfahrt,[vmtl. 1940], EZA, 7/13477, S. 7. 62 Der Verein unterhielt insgesamt zwei Hospize, die das finanzielle Standbein des Vereins darstellten und in denen sich überwiegend ein fester Kreis immer wieder kehrender Gäste aufhielt. Das erste lag im Norden Berlins gemeinsam mit den anderen existierenden Heimen auf dem

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halb Berlins Erholungshäuser63 ein. Die breite Angebotspalette wurde nach dem Ersten Weltkrieg eingeschränkt und der Verein konzentrierte sich vornehmlich auf die Unterhaltung der Heimat- und Erholungshäuser, die nachgehende Fürsorge, bei der Berlin-Neulinge durch Besuche oder Anschreiben in Berlin willkommen geheißen wurden und auf die Arbeit an den Berliner Bahnhöfen, wobei dieses Aufgabenfeld nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zunehmend beschnitten wurde. 2.2 Integrationsprozesse für Zuwanderinnen Im Folgenden werden zwei der oben genannten Tätigkeitsbereiche des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend näher beleuchtet und gezeigt, wie der Integrationsprozess junger Zuwanderinnen praktisch umgesetzt wurde. Erstens wurden junge Frauen – meist Dienstmädchen – angeschrieben und, besonders im Kaiserreich, im Haushalt in dem sie angestellt waren, besucht. Diese aufwendige „Besuchsarbeit“ unternahm der Verein, weil er die Frauen in Berlin willkommen heißen, ihnen ein an christlichen Werten orientiertes Freizeitangebot unterbreiten und Zugang zu geselliger Unterhaltung bieten wollte. Die Aufgabe wurde sehr häufig von fest angestellten Fürsorgerinnen der Bahnhofsmission ausgeführt, die, zu der täglichen Arbeit am Bahnhof, auch dieses Tätigkeitsfeld übernahmen. Zweitens gründete der Verein so genannte Marienheime, in denen Frauen eine dauerhafte Wohnmöglichkeit geboten wurde. Die Heimleitung und andere berufliche Posten der Heime lagen fast vollständig in Frauenhand und zeigen einen weiteren Bereich wohlfahrtspolitischer Arbeit in dem sowohl öffentlichkeitswirksames Engagement als auch die Bedeutung für das soziale Sicherungssystem der Kommune deutlich werden. Wie setzte der Verein seine Vorstellungen praktisch um? Erreichte er damit die von ihm anvisierte Klientel oder musste er seine Konzepte modifizieren? Wie gestalteten die Fürsorgerinnen und Heimleiterinnen ihre Tätigkeitsbereiche und konstituierten dadurch soziale Räume in der Berliner Öffentlichkeit?

Gelände in der Borsigstraße 5 und wurde 1919 geschlossen. Parallel dazu existierte ein zweites Hospiz im Berliner Westen noch in den 1930er Jahren. Es war dem Marienheim III in der Marburgerstraße 4 angeschlossen. Vgl. Fünfter Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1896, EZA, 13475, S. 3f. 63 In den außerhalb Berlins gelegenen Häusern konnten sich die jungen Frauen in Mecklenburg, im Harz oder in Brandenburg erholen. Vgl. Fünfzig Jahre Verein Wohlfahrt, [vmtl. 1940], EZA, 7/13477, S. 6. Nach dem Ersten Weltkrieg musste der Verein allerdings viele dieser Häuser zurückgeben, weil die Eigentümer sie zurückforderten. Da der Verein eine Nutzung von Gebäuden auf begrenzte Zeit als zu unsicher empfand, erwarb er eigene Häuser. 1919 kaufte er ein Haus in Bad Sachsa in Niedersachsen und zwei Jahre später ein weiteres im Seebad Heringsdorf auf der Insel Usedom in Mecklenburg-Vorpommern. Davon war ein Haus noch in den 1950er Jahren im Besitz des Vereins. Vgl. Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1948/1949, EZA, 7/13477, S. 3 und Jahresbericht des Vereins „Weibliche Wohlfahrt“ 1953–1955.

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2.2.1 Die Besuchsarbeit Neu zugezogene Frauen wurden vom Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend anfänglich angeschrieben und zu den Vereinsabenden der Jungfrauen- und Arbeiterinnenvereine eingeladen. Als das nicht den gewünschten Erfolg zeigte, weil die jungen Zuwanderinnen das Angebot nicht im ausreichenden Maß annahmen, begannen Fürsorgerinnen der Berliner Bahnhofsmission und freiwillige Helferinnen der Jungfrauenvereine damit, die Frauen zu besuchen.64 In den Anfangsjahren erhielt der Verein Wohlfahrt die Adressen der zugezogenen Frauen vom Berliner Hauptverein für Innere Mission oder erfragte sie direkt von den jungen Frauen nach ihrer Ankunft am Bahnhof und leitete sie dann an die Fürsorgerinnen weiter, die die Besuche vornahmen. Später erhielt der Verein die Adressen vom Statistischen Amt, dem die Polizei die Listen zur Verfügung gestellt hatte. Dass öffentliche Einrichtungen die Adressen bereitwillig weitergaben, lag daran, dass die Aktivitäten des Vereins einen nicht unerheblichen Stellenwert im städtischen Kontext hatten, und die Fürsorgerinnen der Bahnhofsmission mit ihrem Engagement die Kommune wohlfahrtspolitisch unterstützten. So berichtet der Verein, dass „die Fürsorgerinnen (…) von städtischen, staatlichen und kirchlichen Wohlfahrtsämtern in erheblichem Maße (…) zu Recherchen über Fürsorgebedürftige, zu Schutzaufsichten und zur Jugendgerichtshilfe [herangezogen werden]“.65 Die Besuche übten sicherlich Kontrolle über die zugezogenen Frauen und den Haushalt, in dem sie arbeiteten, dadurch aus, dass die Fürsorgerinnen das Arbeitsverhältnis einer Prüfung unterzogen, es beurteilten und gegebenenfalls städtische Stellen von ihren Kenntnissen unterrichteten. Gleichzeitig konnte damit aber auch eine Schutzfunktion für die im Haushalt lebenden Dienstmädchen verbunden sein und häufig, wie folgender Fall zeigt, verschwammen die Ebenen miteinander. In dem Jahresbericht des Vereins aus den 1920er Jahren wurde von einem Haushalt berichtet, welcher der Fürsorgerin des Vereins Wohlfahrt verweigerte, das Dienstmädchen zu sprechen. Davon alarmiert, verständigte die Vereinsfrau das städtische Jugendamt, das mit Hilfe des städtischen Arbeitsamtes die junge Frau aus ihrem Arbeitsverhältnis löste, nachdem es zu dem Resultat gekommen war, dass das Mädchen in dem Haushalt nicht in guten Händen sei.66 Zu ihren Besuchen nahmen die Fürsorgerinnen folgende Unterlagen mit: eine Postkarte der Berliner Bahnhofsmission mit den notwendigsten Angaben über das zu besuchende Mädchen, eine Einladungskarte mit Adressenangaben aller Berliner Jungfrauen- und Arbeiterinnenvereine, die Wochenzeitschrift „Komm mit“67 und 64 Hedwig Storck, Unsere nachgehende Fürsorge, in: Jahresberichte 1925–1927 des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend zu Berlin, BDW C I 2927, S. 21–23, hier: S. 22. 65 Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1925–1927, BDW C I 2927, S. 15. 66 Ebd., S. 22. 67 Die Wochenschrift „Komm mit“ war als Massenblatt konzipiert und richtete sich an alle interessierten jungen Frauen. Das 1898 gegründete auflagenstärkste Organ des Evangelischen Verbandes erschien bis in die 1930er Jahre fast immer wöchentlich, außer nach dem Ersten Weltkrieg, als aufgrund gesunkener Kaufkraft ihrer Klientel bzw. deren Eltern, die Herausgabe auf zwei Mal monatlich gesenkt wurde. Schon kurz nach der Gründung der Zeitschrift hatte

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eine Informationsbroschüre für die jeweilige Hausfrau, die das Dienstmädchen angestellt hatte. In späteren Jahren reduzierte sich das mitgebrachte Material auf ein Flugblatt, welches vor allem über die Vereinsstunden der Jungmädchenvereine informierte.68 Da mit der „Besuchsarbeit“ umfangreiche Stadtgebiete abgedeckt wurden und die Arbeit von den Fürsorgerinnen der Bahnhofsmission und ihren Kolleginnen aus den Jungfrauenvereinen allein nicht zu bewältigen war, kooperierten sie mit den jeweiligen Berliner Kirchengemeinden und deren freiwilligen Helferinnen. Der Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt aus dem Jahr 1905 listete insgesamt 21 Berliner Kirchengemeinden auf, die aufgesucht worden waren. Mit der Besuchsarbeit wurde der zentrale Berliner Norden, Süden, Westen und Osten abgedeckt.69 In den 1920er Jahren wurden Besuche nur noch im Zentrum und Norden Berlins abgestattet. Die westlichen Bezirke, in welchen mehr Bedarf an Dienstpersonal bestand, hatten deshalb zwar eine unvergleichlich höhere Zuzugsrate zu verzeichnen, konnten aber aufgrund der zeitraubenden Besuchsarbeit nicht aufgesucht werden. In den 1930er Jahren stellte der Verein die Besuche ganz ein. Er schrieb die zugezogenen Frauen auch nicht mehr selbst an, wie noch in der Anfangszeit des Vereins, sondern schickte die Adressen der Frauen an die Berliner Kirchengemeinden und andere Stellen, die die Frauen dann schriftlich in Berlin willkommen hießen und zu kirchlichen Veranstaltungen einluden.70 Einerseits lag das daran, dass die Besuchsarbeit aufwendig und zeitraubend war, und andererseits hatte sie zu keiner Zeit den gewünschten Erfolg, so dass Engagement und Nutzen in keinem ausgewogenen Verhältnis standen. Statistische Zahlen aus den Jahren 1901, 1926 und 1939 belegen, dass innerhalb von knapp 40 Jahren eine mehr oder weniger gleich bleibende, durchschnittliche Zahl von 8 000–10 000 Frauen besucht beziehungsweise angeschrieben wurde. Aussagen darüber, wie viele Frauen den Aufforderungen, die Vereine zu besuchen, nachgekommen sind, lassen sich insofern machen, da in den relevanten Publikationen, die über die Arbeit des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend und der Bahnhofsmission berichteten, häufig darüber geklagt wurde, dass die Angebote nicht ausreichend angenommen wurden. Selbst nach mehrfachen Besuchen waren viele junge Frauen nicht für die evangelischen Jungmädchenvereine oder andere kirchliche Aktivitäten zu begeistern. Viele Zuwanderinnen, die auf die Anschreiben diese 19 000 Abonnentinnen und erreichte ihren Höchststand 1918 mit 143 000 Leserinnen. Danach sank die Zahl der Exemplare zwar kontinuierlich, aber noch 1931 konnten 93 400 Exemplare wöchentlich abgesetzt werden. Vgl. 7. Jahresbericht des Vorstände-Verbandes der evangelischen Jungfrauenvereine Deutschlands erstattet am 20. Juni 1900, BDW CI 3256, S. 2; ebenso: Wilhelm Thiele, 25 Jahre weibliche Jugendpflege. Der Evangelische Verband zur Pflege der weiblichen Jugend Deutschlands zur Gedenkfeier am 16.–18. Juni 1918, Berlin 1918, S. 8 und 38. Jahresbericht des Evangelischen Reichsverband weiblicher Jugend 1930/1931, BDW CI 3256, S. 17. 68 Vgl. Achter Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1899, EZA, 7/13475, S.  10f. Vgl. ebenso: Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1925–1927, BDW C I 2927, S. 21. 69 14. Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1905, EZA, 13475, S. 84. 70 Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1939, EZA, 7/13477, S. 6.

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reagierten, taten dies häufig mit dem Versprechen, an den Aktivitäten teilnehmen zu wollen, lösten dieses dann aber nicht ein. Andere bekundeten jedoch auch offen ihr geringes Interesse: „Erst will ich Berlin kennen lernen, dann werde ich in den Jungfrauenverein kommen“.71 Der Prozentsatz von Frauen, die auf die Einladungen positiv reagierten, lag bei den oben angegebenen Jahrgängen im Kaiserreich und im Nationalsozialismus übereinstimmend bei unter zwei Prozent. Die Prozentzahl für die 1920er Jahre weicht jedoch davon ab, so dass eine vergleichsweise beträchtlich höhere Zahl von 17 Prozent angegeben wurde.72 Um die Motive für das geringe Interesse an kirchlichen Angeboten von neu nach Berlin ziehenden Frauen zu ergründen, soll ein Blick auf die berufliche Situation von Dienstmädchen im Kaiserreich geworfen werden, eine betreute Berufsgruppe, die von den Bahnhofsmissionarinnen jedoch auch noch in der Weimarer Republik aufgesucht wurde.73 Hausangestellte arbeiteten im Kaiserreich bis zu 16 Stunden täglich, wobei ihr Ausgang nicht gesetzlich geregelt war. Die Hälfte der Berliner Dienstmädchen erhielt um die Jahrhundertwende für ihre Arbeit weniger als 16 M im Monat. Amüsements auf den von der Bahnhofsmission gefürchteten Tanzböden oder Jahrmärkten waren daher aus finanziellen und zeitlichen Gründen eher die Ausnahme als die Regel. Wenn auch das reichhaltige Angebot Berlins für viele Zuwanderinnen sicherlich attraktiver war als kirchliche Veranstaltungen, zumal der Kirchgang ohnehin zu den fest geregelten Freizeitaktivitäten der Dienstmädchen zählte, so waren viele Dienstmädchen unsittlichen Annäherungen eher in den Haushalten, in denen sie arbeiteten, durch den Hausherrn oder dessen Söhne ausgesetzt. Die Historikerin Gunilla-Friederike Budde bemerkt dazu: „Da der euphemistisch als Seitensprung bezeichnete Ehebruch der Bürgermänner gemeinhin als Kavaliersdelikt galt, dürfte die Dunkelziffer der Dienstmädchen, die deren Opfer wurden, sehr hoch liegen“.74 Kam ein sexueller Kontakt zwischen dem Dienstmädchen und dem Hausherrn oder dessen Sohn ans Licht oder zog eine Schwangerschaft nach sich, bedeutete das fast immer die Auflösung des Beschäftigungsverhältnisses. Die von der Bahnhofsmission häufig diskutierte und gefürchtete Arbeits- und Obdachlosigkeit der Dienstmädchen, die schließlich in die Prostitution 71 Gertrud Müller, Deutsche Bahnhofsmission, in: Fliegende Blätter aus dem Rauhen Hause, 55, 1898, S. 262–267, hier: S. 266. 72 Von 8 168 persönlich aufgesuchten jungen Frauen folgten 124 Frauen (1,5 Prozent) den Einladungen. Vgl. Zehnter Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1901, EZA, 7/13475, S. 20. Im Jahr 1898 gibt die Bahnhofsmission zwar an, dass etwa sieben Prozent aller kontaktierten Frauen Mitglieder des Jungfrauenvereins geworden sind, nennt aber keine absoluten Zahlen. Die Zahl wurde deshalb in den Überblick nicht mit aufgenommen. Vgl. Müller, Deutsche Bahnhofsmission, S. 266. Für das Jahr 1926 werden 8 000 Frauen als „bearbeitete Fälle“ angegeben, die sowohl persönlich besucht als auch angeschrieben wurden. Die Erfolgsquote wurde jedoch beispielhaft von 121 Frauen berechnet, wovon 20 Frauen (17 Prozent) der Einladung folgten. Vgl. Storck, in: Jahresberichte 1925–1927, BDW C I 2927, hier: S. 22. Für das Jahr 1939 wurden 9 964 zugezogene Frauen angeschrieben woraufhin 175 junge Frauen (1,8 Prozent) zu den kirchlichen Veranstaltungen kamen. Vgl. Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1939, EZA, 7/13477, S. 6. 73 Vgl. Storck, hier: S. 21. 74 Budde, in: Frevert/Haupt, hier: S. 168.

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führen würde, konnte damit Wirklichkeit werden. Dass dies jedoch die Auswirkung einer politischen und rechtlichen Schutzlosigkeit von Dienstmädchen und nicht ihrer Veranlagung oder Lasterhaftigkeit, wie häufig behauptet, geschuldet war, wurde von Vereinsmitgliedern und den Bahnhofsmissionarinnen kaum thematisiert, wodurch sich die jungen Frauen in ihrer tatsächlichen Lebens- und Arbeitssituation wohl häufig auch nicht verstanden fühlten. Die an Frauen gerichteten wiederholten Warnungen der Bahnhofsmissionarinnen oder ihres Trägervereins vor den Risiken öffentlich-großstädtischen Lebens gingen daher häufig an den realen Arbeits- und Lebensverhältnissen der Zuwanderinnen vorbei. 2.2.2 Der Aufbau einer Heimstruktur in Berlin Für junge alleinstehende Frauen, die als Dienstmädchen nach Berlin kamen, aber noch keine Arbeit in einem Haushalt gefunden hatten, oder solche, die nicht bei ihren Arbeitgebern wohnten, weil sie in anderen Berufen unterkommen wollten, gab es in der Reichshauptstadt wenig Wohnmöglichkeiten. Um sowohl dieser Situation als auch dem Schlafstellenwesen75 vorzubeugen, von dem die Vereinsmitglieder annahmen, dass es durch die Enge der Wohnverhältnisse zu unmoralischen Situationen führen würde, gründete der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend Heimathäuser, auch Marienheime genannt, in denen junge Frauen dauerhaft wohnen konnten. Speziell Arbeiterinnen hoffte man, mit dem Angebot zu erreichen. Der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend war mit seinen Wohnangeboten für nach Berlin ziehende Frauen weder der erste noch einzige Verein, der auf diesem Gebiet aktiv war, da beispielsweise auch die Freundinnen junger Mädchen Wohnheime für Frauen errichteten. Das Projekt in diesem Umfang zu betreiben und dabei auch Arbeiterinnen in den Blick zu nehmen, war jedoch eine Neuerung. Mit seinen Häusern wollte der Verein jedoch nicht nur eine Unterkunft bereitstellen, sondern auch Geborgenheit und Schutz in der Großstadt gewähren und durch das Heimleben christliche Werte vermitteln: „Das Ziel aller unsrer Arbeit bleibt: mitzuhelfen, daß unser Haus nicht nur eine Hütte sei, wo Menschen auf ihrer Wanderung durchs Leben Hülfe und Schutz vor Sturm und Wetter finden, sondern daß es auch eine Schule werde, da sie sich zu selbständigen christlichen Persönlichkeiten entwickeln“.76

Das Vereinskonzept sah somit vor, dass die Heimleitung und das von ihr vorgeschriebene Heimleben erzieherische Funktionen an den Heiminsassinnen übernahmen. Vor allem bei proletarischen Frauen sollten bürgerlich-christliche Normen Anwendung finden. Der Grund für das Anliegen, Frauen aller Schichten und damit einen großen Kreis von Frauen in die Heime aufzunehmen lag darin, dass der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend die Aufgabe von Frauen in der Gesellschaft 75 Zur Existenzsicherung untervermieteten viele Familien Schlafstellen an in Berlin arbeitende Männer und Frauen, vgl. Josef Ehmer, Wohnen ohne eigene Wohnung, in: Lutz Niethammer (Hrsg.), Wohnen im Wandel, Wuppertal 1979, S. 132–150. 76 17. Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1908, EZA, 7/13476, S. 5.

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darin sah, als Mütter kommender Generationen Hüterinnen moralischer Sittlichkeit und christlicher Glaubensüberzeugung zu sein. Der Verein formulierte diesen Anspruch folgendermaßen: „Gilt es doch, der weiblichen Jugend, den zukünftigen Müttern, auf deren Charakterstärke, sittlichem Selbstbewußtsein, Tiefe der Frömmigkeit und Kraft der persönlichen Glaubensüberzeugung das Wohl und Wehe der zukünftigen Generationen unseres Vaterlandes beruht, zu vermitteln die Kräfte aus der Höhe, sie zu halten und zu stellen unter die Geistesmacht unseres Heilandes, damit ihr Leben je mehr und mehr wird zum Heil und Segen unseres Vaterlandes und zum Bau des Reiches Gottes in unserem Volke“.77

Bereits Heinrich Wichern, der Begründer der Inneren Mission, hatte ein jugendfürsorgerisches Konzept entwickelt, wonach traditionelle Autoritäten in einer sich industrialisierenden Gesellschaft an Einfluss verlören und es zu „Sittenlosigkeit“, Normverletzungen und dem Verlust religiöser Bindungen käme. Jugendfürsorge sollte deshalb präventiv und durch die Vorbildfunktion des Erziehers wirken.78 Wichern hatte diese Gedanken zwar bereits Mitte des 19. Jahrhunderts niedergeschrieben und dabei Waisen und delinquente Jugendliche im Blick; dennoch waren die beschriebenen Entwicklungen Phänomene, die auch auf die „Heimchen“ angewendet werden konnten. In den Heimen wurde das Konzept dergestalt umgesetzt, dass die abwesende oder nicht existente Familie durch die Heiminsassinnen und die Hausmutter nachgebildet und durch religiöse Freizeitangebote christliche Werte vermittelt wurden. Die Heimleiterin übernahm hierbei sittliche und moralische Vorbildfunktion. Damit wurde den Hausmüttern die Aufgabe zugewiesen, die sozialen Gegensätze zu überwinden und an der Harmonie zwischen Personen und Personengruppen unterschiedlicher sozialer Herkunft mitzuwirken.79 Entsprechend der christlichen Wertevermittlung, gab es in den Heimen tägliche Morgenandachten und wöchentliche Bibelstunden, aber auch Unterhaltungsabende, bei denen die „Heimchen“ sich für Gesellschaftsspiele oder zum Musizieren treffen konnten. Sonntags wurden häufig Ausflüge unternommen, und wiederkehrende Festivitäten, wie beispielsweise das Weihnachtsfest, wurden regelmäßig gemeinsam gefeiert.80 1892 wurde das erste Heimathaus des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend, das so genannte Marienheim I, in der Borsigstraße 5, nahe dem Stettiner- und Lehrter Bahnhof, eröffnet. In der ersten Zeit war das Haus das hauptsächliche Betätigungsfeld des Vereins und auch Berliner Bahnhofsmissionarinnen brachten wohnungsuchende Frauen hier häufig unter.81 Das dazu gehörige Grundstück hatte das Ehepaar Adolph und Sophie Loesche dem Verein geschenkt, weil es die Ziel77 Vgl. Tätigkeitsbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1917, EZA, 7/13476, S. 7f. 78 Vgl. Peukert, S. 46ff. 79 Vgl. hierzu, Baumann, S. 55. 80 Vgl. Achter Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1899, EZA, 7/13475, S.  2. Vgl. auch Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1938, EZA, 7/13477, S.  6. Ebenso: Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1925–1927, BDW C I 2927, S. 8. 81 Fünfter Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1896, EZA, 7/13475, S. 6.

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setzung des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend und damit seinen Gründer, Johannes Burckhardt unterstützen wollte. Das Grundstück war jedoch nur bis 1919 im Besitz des Vereins Wohlfahrt und wurde dann an den Deutschen Studentendienst abgegeben. Als Ersatz eröffnete der Verein in der Werftstraße 9, westlich des ersten Heims in Moabit, ein kleineres Obdach, das wiederum Marienheim I genannt wurde.82 Das erste Marienheim war sehr erfolgreich und gut besucht, so dass der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend bereits in seinem zweiten Jahresbericht zuversichtlich vermerkte: „Wenn im vorigen Sommer manche leeren Zimmer und die noch nicht erfüllten weiteren Pläne sich uns schwer aufs Herz legen wollten (…) findet die Hausmutter jetzt beim Durchwandern des großen Hauses kein leeres Zimmer mehr“.83 Bereits 1896 konnte der Verein zwei weitere Heime eröffnen. Das Marienheim II öffnete seine Pforten in der Wassertorstraße 35 und lag in der Luisenstadt, zwischen dem Anhalter und Görlitzer Bahnhof.84 Anfänglich wurde es für kurzzeitig, bald jedoch nur noch für länger dort wohnende Frauen genutzt. Ein weiteres Heim wurde vom Verein Charlottenheim in der Lützowstraße 44 übernommen. Weil dieses bald zu klein war, kaufte der Verein das Grundstück in der Marburgerstraße 4. in Charlottenburg, das vom Bahnhof Zoologischer Garten gut erreicht werden konnte, und errichtete darauf das Marienheim III, das auch Charlottenheim genannt wurde.85 Die Jahresberichte beschreiben die Situation in den Heimen dergestalt, dass das Konzept, den Bewohnerinnen durch das Heimleben „die Heimat und das Elternhaus“86 zu ersetzen und die „Häuser nach der alten christlichen Hausord­ nung“87 zu führen, von den jungen Frauen im Allgemeinen dankbar angenommen worden sei, so dass sich ein gut funktionierender Heimalltag eingestellt hätte.88 Sich das Wohlwollen der Heimbewohnerinnen zu erhalten und ein harmonisches Gleichgewicht in den Heimen zu schaffen, wurde von der Heimleitung auf verschiedene Weise forciert. So wurde das Vorgehen der Anfangsjahre, nämliche Frauen, die die Heimregeln nicht akzeptieren wollten aus den Heimen auszuweisen, schließlich aufgegeben.89 Vielmehr gingen die Heimleitungen dazu über, den veränderten beruflichen Gegebenheiten und Freizeitbedürfnissen der Bewohnerinnen zu entsprechen und beispielsweise die Schließzeiten der Heime zu lockern.90 Berichtet wird darüber, dass die Bewohnerinnen den Heimalltag durchaus selbstbestimmt gestaltet hätten. So kam es häufiger vor, dass sie den angebotenen 82 Fünfzig Jahre Verein Wohlfahrt, [vmtl. 1940], EZA, 7/13477, S. 4. 83 Zweiter Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend abgestattet am 12. März 1894, BDW C I 3256, S. 3. 84 Fünfzig Jahre Verein Wohlfahrt, [vmtl. 1940], EZA, 7/13477, S. 4. 85 Das Marienheim III wurde nach der Vorsitzenden des Vereins Charlottenheim Erbprinzessin Charlotte von Sachsen-Meiningen benannt. Vgl. ebd., S. 5. 86 Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1928–1929, EZA, 7/13477, S. 7. 87 Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1925–1927, BDW C I 2927, S. 13 88 Zweiter Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend, abgestattet am 12. März 1894, BDW C I 3256, S. 5. 89 Ebd. 90 Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1928–1929, EZA, 7/13477, S. 8.

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Abbildung 15: Heimbewohnerinnen im Wohnzimmer des Marienheimes I, 1928/29

Aktivitäten fernblieben, wenn sie es vorzogen mit befreundeten Heiminsassinnen die Zeit zu verbringen.91 Die in den Jahresberichten des Vereins immer wieder anklingende Toleranz der Hausmütter gegenüber der zuweilen selbständigen Freizeitgestaltung der Heimbewohnerinnen könnte ein Indiz dafür sein, dass als Heimleiterinnen umsichtige Persönlichkeiten gewählt wurden, die fähig waren, den Auftrag der Heime zu erfüllen und gleichzeitig auf die Bedürfnisse der Bewohnerinnen einzugehen.92 Eine großzügigere Haltung gegenüber den Heimbewohnerinnen scheint in den 1920er Jahren insofern auch strategisch angezeigt gewesen zu sein, weil „die in Berlin Wohnung suchenden und berufstätigen jungen Mädchen sich oft nicht gern in ein Heim begeben möchten, wo doch ein gewisser leiser sittlicher und moralischer Zwang und Aufsicht ausgeübt wird“.93 Da einige Heime auch immer wieder finanzielle Notzeiten zu überstehen hatten, war es jedoch erforderlich die Bedingungen in den Heimen so zu gestalten, dass das Heimangebot angenommen wurde. Obwohl sich die Marienheime durchaus erfreulich entwickelten, konnte der Verein sein Anliegen, vor allem Fabrikarbeiterinnen Wohnmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen, vorläufig nicht umsetzen. Statt der anvisierten Klientel suchten 91 Fünfter Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1896, EZA, 7/13475, S. 5. Ebenso: 17. Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1908, EZA, 7/13476, S. 4. 92 Als Heimleiterinnen wurden häufig adlige Vereinsfrauen, ehemalige Diakonissinnen und Bahn­hofsfürsorgerinnen eingestellt und später auch Frauen, die eine Ausbildung als Wohlfahrtsfürsorgerin absolviert hatten. Vgl. Fünfter Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1896, EZA, 7/13475, S. 4; Achter Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1899, EZA, 7/13475, S. 8; Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1938, EZA, 7/13477, S. 6. 93 Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1925–1927, BDW. C I 2927, S. 10.

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Frauen in den Heimen nach Unterkunft, die als Buchhalterinnen, Telefonistinnen oder Stenografinnen arbeiteten und als Schülerinnen, besonders von Berliner Kunstschulen, in die Stadt gekommen waren.94 Der Verein wollte die Arbeiterinnen als Zielgruppe allerdings nicht aufgeben und hatte deshalb bereits 1899 einen weiteren Versuch mit einem Heim in der Kastanienallee 11, in der Rosenthaler Vorstadt, gestartet.95 Ein Jahr später zog das Haus in die Tieckstraße 17 um, der Verein gab ihm den Namen Marienheim IV96 und machte durch die Namensgebung deutlich, dass er an dem Vorhaben, Arbeiterinnen in den Marienheimen dauerhaft unterzubringen, festhalten wollte. Fabrikarbeiterinnen konnten aber auch für dieses Heim nicht gewonnen werden. Vielmehr kamen Arbeiterinnen, die im Textilgewerbe als Schneiderinnen, Näherinnen und Pläterinnen tätig waren, in dem Heim unter.97 Die Situation blieb die kommenden Jahre unverändert, so dass der Verein berichten musste: „Die Mission unter den Fabrikarbeiterinnen hat (…) leider keine Fortschritte gemacht“.98 Das Heim wurde zwar 1919 geschlossen, der Verein hatte jedoch seit 1908 ein weiteres Heim in der Versöhnungsstraße 7, nördlich der Vereinszentrale und ebenfalls nahe dem Stettiner Bahnhof, eröffnet und war damit erfolgreicher. Dieses Heim wurde von den Arbeiterinnen gut angenommen und erwies sich schließlich sogar als zu klein. 1914 wurde deshalb eine größere Bleibe gesucht. Man mietete das Hospiz des Vaterländischen Bauvereins in der Versöhnungsstraße 1 als Heim an und gab ihm den Namen „Elisabethheim“.99 Die anfänglichen Schwierigkeiten, Fabrikarbeiterinnen als zu betreuende Klientel zu erreichen, lagen darin, dass sich die jungen Frauen weder der Hausordnung der Heime unterordnen wollten, noch für christliche Wertevermittlung zugänglich waren. Aber auch den Fürsorgerinnen blieben die Arbeiterinnen in ihren kulturellen Ausdrucksformen und Bedürfnissen fremd, so dass diese mit ihren Versuchen, die Frauen an bürgerlich-christliche Verhaltensnormen zu gewöhnen, unweigerlich scheitern mussten. Der Vereinsgeistliche Pater de la Roi schätzte die Arbeiterinnen folgendermaßen ein: „Charakteristisch ist auch für unsere Arbeiterinnen das bekannte Sichgehenlassen, ein Mangel an Beständigkeit, Zuverlässigkeit und innerer Zucht. (…) Sieht doch die Berliner Arbeiterin so gern in Allem, was man ihr bietet, ein Amüsement oder wenigstens eine Unterhaltung für etliche Stunden. Es ist wirklich schwer, sie einmal zu ernsterem Nachsinnen über sich selbst zu bringen“.100

94 Vgl. Zehnter Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1901, EZA, 7/13475, S. 32f. und Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1938, EZA, 7/13477, S. 5ff. 95 Achter Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1899, EZA, 7/13475, S. 2f. 96 Fünfzig Jahre Verein Wohlfahrt, [vmtl. 1940], EZA 7/13477, S. 5. 97 Zehnter Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1901, EZA, 7/13475, S. 32f. 98 14. Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1905, EZA, 7/13475, S. 5. 99 24. Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1914, EZA, 7/13476, S. 13. 100 Achter Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1899, EZA, 7/13475, S. 14.

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IV. Der öffentliche Raum der Berliner Bahnhofsmission

Es ist nachvollziehbar, dass sich die Arbeiterinnen von dieser Haltung ihnen gegenüber nicht angesprochen fühlten. Dennoch war der Verein mit dem Elisabethheim in der Versöhnungsstraße erfolgreicher als mit den vorausgegangenen Heimstätten für Arbeiterinnen, so dass sich auch hier, laut Vereinsberichten, eine gute Hausgemeinschaft entwickelte. Das führte der Verein einerseits auf die „jahrelange innere Beeinflussung der Arbeiterinnen“ zurück und andererseits darauf, dass „gewiss nicht die schlechtesten Mädchen“101 den Weg in das Heim fanden. Vielleicht lag es aber auch schlicht daran, dass die Preise in dem Heim erschwinglich waren und weit unter jenen der Marienheime lagen. So kosteten die Übernachtungen im Elisabethheim im Jahr 1917 monatlich zwischen zehn und fünfzehn Mark.102 Seit Ausbruch des Ersten Weltkrieges, als das Heim eröffnet worden war, herrschte in Berlin hohe Arbeitslosigkeit verbunden mit verschärften Arbeitsbedingungen, so dass die Löhne um fünf bis zehn Prozent gesunken waren. Demgegenüber waren die Lebensmittel knapp und stiegen im Preis.103 Unter diesen Voraussetzungen war es angemessen, die Unterkunft im Elisabethheim sehr viel kostengünstiger anzubieten als in den Marienheimen mit ihren mittelständisch geprägten Heimbewohnerinnen, die für ein Mehrbettzimmer monatlich 54 M und für ein Einzelzimmer noch einmal knapp 40 M mehr bezahlten.104 Die Geschichte des Elisabethheims nahm einen wechselhaften Verlauf, so dass es sich zu Beginn der Weimarer Republik wenig zufriedenstellend weiterentwickelte. Ende der 1920er Jahre konnte der Geschäftsbericht dann jedoch positiv vermerken: „Ganz besonders günstig hat sich das Elisabethheim, das Jahre hindurch in mancher Beziehung ein Schmerzenskind des Vereins gewesen ist, in den beiden Jahren entwickelt. Es ist immer bis auf den letzten Platz besetzt gewesen“.105 Wenngleich der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend die Auslastung des Heims begrüßte, waren es wohl keine Arbeiterinnen, die das Haus besuchten. Die Preispolitik des Vereins für seine Heime legt die Vermutung nahe, dass Arbeiterinnen zu dieser Zeit nicht mehr im Elisabethheim, sondern im angeschlossenen Passantinnenheim für Frauen, die nur kurzzeitig dort wohnten, unterkamen. Ob das auf die gestiegenen Preise zurückzuführen ist, oder, andersherum, die Unterkunftskosten stiegen, weil vorwiegend Frauen mit besserem Einkommen in den Häusern wohnten, muss offen bleiben. In der Weimarer Republik wurden jedenfalls die Preise in den Heimen vereinheitlicht. Ein Mehrbettzimmer kostete nun in allen Heimen monatlich 55 RM. Die Einzelzimmerpreise wurden zwar um 20 RM auf 75 RM gesenkt.106 Dafür wurden Unterkünfte für höchstens 15 RM im Monat, wie ursprüng101 24. Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1914, EZA, 7/13476, S. 13f. 102 Vgl. Tätigkeitsbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1917, EZA, 7/13476, S. 3f. 103 Für ein Pfund Butter zahlten die Berliner 1915 3,30 M im Vergleich zu 1,40 M vor dem Krieg. Vgl. Scholz, Ein unruhiges Jahrzehnt, in: Gailus, Pöbelexzesse, S. 79–123, hier: S. 86. 104 Vgl. Tätigkeitsbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1917, EZA, 7/13476, S. 3f. 105 Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1928–1929, EZA, 7/13477, S. 8. 106 Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1925–1927, BDW C I 2927, S. 1f.

2. Der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend

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lich im Elisabethheim, gar nicht mehr angeboten. In Anbetracht der wirtschaftlichen Situation in Deutschland Ende der 1920er Jahre, ist davon auszugehen, dass Arbeiterinnen diesen Betrag kaum aufbringen konnten. Seit dem New Yorker Börsencrash 1929, mit dem die Weltwirtschaftskrise einsetzte, von der auch Deutschland besonders stark betroffen war, waren Massenentlassungen und Arbeitslosigkeit die Folge. Bis 1932 erreicht die Arbeitslosenzahl in Deutschland mit 17 Prozent ihren höchsten Stand.107 Zu dieser Zeit waren in Berlin 600  000 Menschen ohne Arbeit und eine Arbeiterfamilie hatte ein monatliches Einkommen von unter 100 RM.108 Der Verein hat Arbeiterinnen aber offensichtlich weiterhin untergebracht, und zwar in seinem Passantenheim, das dem Elisabethheim angeschlossen war. Die Jahresberichte der 1930er Jahre informieren darüber, dass Arbeiterinnen nur noch für kurze Zeit in dem Passantenheim unterkamen.109 Viele Jahre kostete die Übernachtung in diesem Heim 60 Pfennig,110 was selbst bei längeren Aufenthalten für die Arbeiterinnen kostengünstiger gewesen wäre als in den Heimen für Dauergäste unterzukommen. Die Bewohnerschaft änderte sich im Lauf der Zeit teilweise auch in den anderen Heimen, die im Besitz des Vereins Wohlfahrt waren. So wohnten junge Frauen, die zu Ausbildungszwecken nach Berlin gekommen waren, zwar wie ehedem im Marienheim III, in der Marburger Straße.111 Das Marienheim I jedoch wurde ausschließlich als Altersheim genutzt und das Marienheim II war bereits 1933 geschlossen worden.112 2.3 Zusammenfassende Betrachtung Eine der wichtigsten Zielstellungen des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend war es, proletarische Zuwanderinnen in Berlin zu integrieren und diese an bürgerlich-christliche Normen heranzuführen. Die bereits von Heinrich Wichern entwickelte Forderung, dass den Frauen eine Schlüsselrolle bei der Harmonisierung unterschiedlicher Schichten zukam,113 wurde von den Bahnhofsmissionarinnen und 107 Spree, hier: S. 5, http://epub.ub.uni-muenchen.de/archive/00000382/. 108 Matthias Schartl, Ein Kampf ums nackte Überleben. Volkstumulte und Pöbelexzesse als Ausdruck des Aufbegehrens in der Spätphase der Weimarer Republik, in: Gailus, Pöbelexzesse, S. 125–167, hier: S. 136f. 109 Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1938, EZA, 7/13477, S. 7f. 110 Tätigkeitsbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1917, EZA, 7/13476, S. 3f. und Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1925–1927, BDW C I 2927, S. 1. 111 Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1938, EZA, 7/13477, S. 6. 112 Fünfzig Jahre Verein Wohlfahrt, [vmtl. 1940], EZA, 7/13477, S. 5. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Marienheim I in der Werftstraße zerstört und das dort befindliche Altersheim in das nur teilweise zerstörte Marienheim III verlegt. Berufstätige Frauen wurden zu dieser Zeit nicht mehr betreut. Vgl. Jahresbericht des Vereins „Weibliche Wohlfahrt“ 1953–1955, BDW CI 2927. 113 Diese Forderung wurde aber auch in anderen Kreisen erhoben, dann aber mit konkreten Emanzipationsvorstellungen verbunden. So hat Alice Salomon eine Verbindung zwischen dem Konzept der geistigen Mütterlichkeit, woraus sich eine spezifische „Kulturaufgabe der Frau“ er-

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IV. Der öffentliche Raum der Berliner Bahnhofsmission

anderen für den Verein Wohlfahrt aktiven Frauen sowohl in den Heimen als auch in der nachgehenden Fürsorge, der Besuchsarbeit, umgesetzt. Gerade unter den Frauen, die der Verein besonders erreichen wollte, die Dienstmädchen und Fabrikarbeiterinnen, war er jedoch nur bedingt erfolgreich. Bei der Besuchsarbeit hatte das zur Folge, dass spätestens in den 1930er Jahren Zuwanderinnen nicht mehr besucht und selbst schriftliche Willkommensgrüße nicht mehr durch den Verein verschickt, sondern die Adressen neu zugezogener Frauen lediglich an Kirchengemeinden und andere Stellen weiter geleitet wurden. Mit dem Heimkonzept wiederum versuchte man zwar Arbeiterinnen als Zielgruppe anzusprechen, aber es waren doch vorwiegend kleinbürgerliche Frauen, die sich von diesem angesprochen fühlten. Obwohl gerade in den Heimen Regeln gelockert und die Bedürfnisse der so genannten Heimchen tolerant gehandhabt wurden, kam es nicht zu einer grundsätzlichen Modifikation der einmal gesetzten Werte und Zielsetzung, die möglicherweise mehr Frauen der anvisierten Zielgruppen angesprochen hätte. Durch die Räume, die der Verein Wohlfahrt sowie die Heimleiterinnen und Bahnhofsmissionarinnen konstituiert hatten, wurde zwar eine beträchtliche Zahl junger Zuwanderinnen erreicht, andere jedoch wurden dauerhaft aus diesen Räumen ausgeschlossen. 3. Die Entwicklung von der Kommission . zum Dachverband der Evangelischen Deutschen . Bahnhofsmission Dreizehn Jahre nachdem sich 1897 die Kommission der Deutschen Bahnhofsmission aus dem Verein Wohlfahrt, dem Evangelischen Verband und dem Freundinnenverein gebildet hatte, verselbständigte sich diese, indem eine eigene Geschäftsstelle eröffnet und eine Generalsekretärin, nämlich Theodora Reineck, eingestellt und die Verbandsentwicklung der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission dadurch forciert wurde. Nach einem Überblick über die Verbandsentwicklung bis in die 1930er Jahre liegt der Fokus der folgenden beiden Unterkapitel auf den in Vorstand und Kommission des Dachverbandes aktiv gewordenen Frauen. Das Gestaltungspotenzial der Frauen in diesem Verband wird dabei mit dem Engagement der Frauen des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend in Bezug gesetzt und anschließend anhand der Lebens- und Berufssituation zweier Protagonistinnen des Dachverbandes diskutiert. Für die Kommission der Deutschen Bahnhofsmission begann nach der Einstellung Theodora Reinecks eine langwierige Satzungsdiskussion, die 1916 abgeschlossen war und dazu führte, dass der Verband als Verein gerichtlich eingetragen wurde und die Organisation den Namen von Deutsche Bahnhofsmission in Vergebe und der „Vorstellung von Sozialreform als ethischer Verpflichtung des Mittelstandes gegenüber den „unteren Volksschichten“ hergestellt. Vgl. Christoph Sachße / Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 2: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871– 1929, Stuttgart 1988, S. 42ff.

3. Die Entwicklung von der Kommission zum Dachverband

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band der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission änderte. Diese Umbenennung ging vor allem auf den Wunsch der Katholischen Bahnhofsmission zurück, die darauf bestand, dass im Titel des Dachverbandes dessen Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche deutlich wurde. Mitglieder des Verbandes waren laut Satzung die einzelnen Bahnhofsmissionen, andere Verbände oder Vereine sowie natürliche Personen. Zwei der drei Vorstandsmitglieder rekrutierten sich aus den beiden tragenden Verbänden, dem Evangelischen Verband und dem Freundinnenverein. Der dritte Vorstandsposten wurde aus der Gruppe der übrigen Mitglieder gewählt. Zwischen dem mit beträchtlichen Rechten ausgestatteten Vorstand und der Mitgliederversammlung stand ein Ausschuss, der den Vorstand wählte und über Anträge des Vorstandes diskutierte sowie entschied.114 Noch im Ersten Weltkrieg entstanden regionale Verbände und Arbeitskonferenzen, die in den 1920er Jahren in Regionalverbänden und regionalen Arbeitsgemeinschaften zusammengefasst wurden. Durch diese Entwicklung wurde die erste Satzung obsolet und eine 1930 beschlossene Umgliederung des Verbandes ein Jahr später umgesetzt. Die bislang auf die beiden tragenden Verbände ausgerichtete Orientierung des Verbandes wurde nun zugunsten regionaler, lokaler und zentraler Strukturen aufgegeben. Darüber hinaus wurde der Verbandsname erneut geändert. Der Name Evangelische Deutsche Bahnhofsmission wurde aufgegeben und stattdessen die Bezeichnung Reichsverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission e.V. angenommen. Die schwindende Konzentration auf den Evangelischen Verband und den Verein der Freundinnen junger Mädchen schlug sich auch in einer örtlichen Trennung nieder, die bereits einige Jahre zuvor eingeleitet worden war, als der Verband der Bahnhofsmission die gemeinsam mit dem Evangelischen Verband unterhaltenen Büroräume in der Friedbergstraße 25–27 in Berlin-Dahlem verlassen und 1928 in ein eigenes Haus in der Kaiserswerther Strasse 15 im selben Stadtbezirk umgezogen war. Die Zahl der Vorstandsmitglieder des Dachverbandes der Deutschen Bahnhofsmission stieg im „Dritten Reich“ gegenüber der Weimarer Republik von drei auf neun Personen an, während im Ausschuss eine unterschiedlich große Anzahl zwischen knapp 30 bis über 40 Personen saß.115 Vergleicht man die Schichtzugehörigkeit der aktiven Männer und Frauen zwischen dem Verband der Deutschen Bahnhofsmission und derjenigen des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend, der ja an der Herausbildung der verbandlichen Struktur der Bahnhofsmission ursprünglich maßgeblich beteiligt war, so finden sich in den Gremien des Dachverbandes wenige Personen adligen oder großbürgerlichen Hintergrundes, das heißt „die Zahl der großbürgerlichen Honoratioren(innen) nahm ab“.116 Unter den Männern war 114 Nikles, Soziale Hilfe, S. 136. 115 Vgl. Niederschrift der 31. Ausschußsitzung des Verbandes Evangelische Deutsche Bahnhofsmission am 31. Mai 1930, ADW, CA, Gf/St 91, S. 1; Niederschrift der 37. Ausschußsitzung des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission am 10. Mai 1932, ADW, CA, Gf/St 91, S. 1; Niederschrift der 41. Ausschußsitzung des Reichsverbandes Evangelische Deutsche Bahnhofsmission am 21. Juni 1934, ADW, CA, Gf/St 91, S. 1; Niederschrift der 43. Ausschußsitzung des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission am 12. Oktober 1935, ADW, CA, Gf7St 89, S. 1. 116 Nikles, Soziale Hilfe, S. 138.

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IV. Der öffentliche Raum der Berliner Bahnhofsmission

dadurch eine geringere Bandbreite gesellschaftlich-beruflicher Bereiche vertreten als im Verein Wohlfahrt, stattdessen hatten mehr als die Hälfte der männlichen Kommissionsmitglieder beruflich einen theologischen Hintergrund. In den 1920er und 1930er Jahren engagierten sich Männer wie D. Füllkrug aus dem Zentralausschuss der Inneren Mission, Pfarrer Thöldtau, der zwischenzeitliche Generalsekretär des Dachverbandes der Deutschen Bahnhofsmission geworden war, Willibald Jaehn, der Direktor des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend, und Generalsekretär Schröder vom männlichen Bahnhofsdienst als Ausschussmitglieder des Dachverbandes.117 Der Vorstandsvorsitz des Verbandes der Deutschen Bahnhofsmission wurde zwar stets an einen Mann vergeben, Frauen hielten jedoch sowohl in den 1920er als auch 1930er Jahren eine deutliche Mehrheit in diesen Gremien. Damit zeichnete sich eine umgekehrte Entwicklung zum Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend ab, bei dem Frauen in den 1930er Jahren im Vorstand unterrepräsentiert waren. Gegensätzlich war auch das Verhältnis von unverheirateten zu verheirateten Frauen in Vorstand und Ausschuss des Dachverbandes: Hier stellten in der Weimarer Republik und im nationalsozialistischen Staat die unverheirateten Frauen – anders als im Vorstand des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend – stets mehr als die Hälfte aller weiblichen Gremienmitglieder.118 Das lag an der Ausrichtung und dem Entstehungsprozess des Dachverbandes. Während der Berliner Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend ein wohltätiger Verein war, der auch über das Kaiserreich hinaus weltanschaulich dem 19. Jahrhundert verhaftet blieb und in dem sich bis in die Weimarer Republik verheiratete und verwitwete Frauen gemäß dem bürgerlichen Geschlechtermodell ehrenamtlich engagierten, waren im Vorstand und Ausschuss des Dachverbandes der Deutschen Bahnhofsmission Frauen aktiv, die im bahnhofsmissionarischen Umfeld und in kooperierenden Institutionen von Anfang an beruflich tätig waren. Eingebunden wurden in die Gremienarbeit vor allem die Leiterinnen verschiedener Wohlfahrtsorganisationen, das heißt, dass sich weder angestellte Frauen ohne Leitungsfunktionen noch die Ehrenamtlichen hier fanden. In Vorstand und Ausschuss engagierten sich (unverheiratete) Frauen, wie die Leiterinnen der Berliner, Chemnitzer und Eisenacher Bahnhofsmissionen, Else Brügge117 Vgl. Niederschrift der 28. Ausschußsitzung des Verbandes Evangelische Deutsche Bahnhofsmission am 21. März 1929, ADW, CA, Gf/St 90, S. 1. Vgl. auch Niederschrift der 40. Ausschußsitzung des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission am 24. November 1933, ADW, CA, Gf/St 91, S. 1. Ebenso: Niederschrift der 41. Ausschußsitzung des Reichsverbandes Evangelische Deutsche Bahnhofsmission am 21. Juni 1934, ADW, CA, Gf/St 91, S. 1. 118 Vgl. Niederschrift der 28. Ausschußsitzung des Verbandes Evangelische Deutsche Bahnhofsmission am 21. März 1929, ADW, CA, Gf/St 90, S. 1. Niederschrift der 31. Ausschußsitzung des Verbandes Evangelische Deutsche Bahnhofsmission am 31. Mai 1930, ADW, CA, Gf/St 91, S. 1; Niederschrift der 37. Ausschußsitzung des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission am 10. Mai 1932, ADW, CA, Gf/St 91, S. 1; Niederschrift der 41. Ausschußsitzung des Reichsverbandes Evangelische Deutsche Bahnhofsmission am 21. Juni 1934, ADW, CA, Gf/St 91, S. 1; Niederschrift der 43. Ausschußsitzung des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission am 12. Oktober 1935, ADW, CA, Gf7St 89, S. 1.

4. Frauen in der Fachzentrale des Verbandes am Beispiel zweier Protagonistinnen

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mann, Fräulein von Jagow und Fräulein Weber, die Generalsekretärinnen des Dachverbandes Deutsche Bahnhofsmission, Theodora Reineck, des Evangelischen Verbandes für die weibliche Jugend Hulda Zarnack und der Evangelischen Konferenz für Gefährdetenfürsorge Hermine Bäcker, die Vorsitzende des Berliner Vereins Freundinnen junger Mädchen Marie Fischer-Quistorp, die Sekretärin des Zentralausschusses der Inneren Mission Nora Hartwich und die Regierungsrätin und Polizeifürsorgerin Margarete Dittmar.119 Im Vergleich zu den Frauen, die am Bahnhof ehrenamtlich oder fest angestellt arbeiteten oder die im Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend aktiv waren, hatten die Frauen, die sich in Vorstand und Ausschuss des Dachverbandes engagierten, durch sowohl die Festanstellung und damit die finanzielle Unabhängigkeit als auch durch die berufliche Stellung in der jeweiligen Organisation die umfangreichsten Handlungsräume schaffen können. Die verschiedenen Akteursgruppen bildeten von ihrer Schichtzugehörigkeit und ihrem Arbeitsfeld kaum Schnittmengen und waren somit sehr unterschiedlich. Ausnahmen stellten die Leiterinnen der jeweiligen Bahnhofsmissionen wie Else Brüggemann dar, die sowohl an den Bahnhöfen aktiv, als auch im Vorstand und Ausschuss des Dachverbandes tätig waren oder diejenigen Bahnhofsmissionarinnen wie Julie Lippert und Anna Gaedicke, die durch ihr Engagement in der Bahnhofskommission des Vereins Wohlfahrt auch in ein Vereinsnetzwerk eingebunden waren. Mit Einschränkung galt das auch für die beiden Frauen, die dem Dachverband beziehungsweise ihrem Vorläufer, der Kommission der Deutschen Bahnhofsmission, als Geschäftsführerin respektive als Schriftleiterin eng verbunden waren. Sie kannten bahnhofsmissionarische Arbeit ebenfalls aus der eigenen Tätigkeit; durch ihr zunehmend umfangreicheres Aufgabenfeld waren sie an den Berliner Bahnhöfen jedoch kaum noch aktiv. Im folgenden Unterkapitel werden diese beiden Frauen vorgestellt, die durch ihre Berufstätigkeit für den Dachverband zu herausragenden Akteurinnen ihres Tätigkeitsfeldes werden konnten, in der Gesamtzahl der im bahnhofsmissionarischen Umfeld aktiven Frauen jedoch nicht repräsentativ sind. 4. Frauen in der Fachzentrale des Verbandes . am Beispiel zweier Protagonistinnen In dem Zeitraum 1890 bis 1939 setzten sich vier Geschäftsführerin und ein Geschäftsführer, nämlich Gertrud Müller, Theodora Reineck, Walter Thöldtau, Armgard von Alvensleben und Leonie von Schierstaedt für den Aufbau und Bestand einer organisierten deutschlandweiten Bahnhofsmission ein. Im Folgenden sollen vor allem Gertrud Müller und Theodora Reineck120 herausgestellt werden, weil sie nicht nur für die Gesamtorganisation am längsten aktiv waren, sondern die Ver119 Vgl. Niederschrift der 21. Ausschussberatung des Verbandes Evangelische Deutsche Bahnhofsmission am 12. November 1925, ADW, CA, Gf/St 90, S. 1; Vgl. auch Niederschrift der 37. Ausschußsitzung des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission am 10. Mai 1932, ADW, CA, Gf/St 91, S. 1. 120 Die Amtsbezeichnung „Geschäftsführerin“ gab es erst als Theodora Reineck eingestellt wurde.

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IV. Der öffentliche Raum der Berliner Bahnhofsmission

bandsentwicklung durch ihr Engagement erheblich prägten und forcierten. Gertrud Müller war 14 Jahre im Evangelischen Verband und dem Verein Wohlfahrt für die weibliche Jugend aktiv und setzte sich mit diesem Engagement richtungweisend für den Aufbau eines Dachverbandes der Deutschen Bahnhofsmission ein. Diese Aufbautätigkeit war 1910 soweit vorangebracht, dass die Reichszentrale der Evangelischen Bahnhofsmission eine Geschäftsführerin einstellen konnte. Sie wurde mit Theodora Reineck besetzt, die dem Reichsverband 27 Jahre verbunden blieb. Wie die kurz im Folgenden beschriebenen Lebensbilder von Gertrud Müller und Theodora Reineck deutlich machen, fiel die Gründung der Institutionen, für die beide Protagonistinnen aktiv waren, in eine Hochphase von Vereinsgründungen, die mit Verbandsbildung und Vernetzung einherging und in deren Folge auch Berufsmöglichkeiten für Frauen geschaffen wurden. Müller und Reineck waren zuweilen vor Ort am Bahnhof, besonders aber auf administrativer Ebene tätig. Hierbei gab es für beide Frauen sich überschneidende Interessensfelder, denen sie besondere Aufmerksamkeit schenkten, wie den Organisationsaufbau, die Öffentlichkeitsarbeit und die Problematik des Mädchenhandels. Sie verfolgten aber auch unterschiedliche Tätigkeitsbereiche. So setzte sich Gertrud Müller vor allem für ein ökumenisches Verständnis der Bahnhofsmissionen und folglich eine einheitliche Außendarstellung aller Lokalorganisationen ein, während Theodora Reineck besonders im Blick hatte, dass Zimmer für die Bahnhofsmissionen an den Bahnhöfen geschaffen und organisierte Schulungen der Mitarbeiterinnen vorangebracht wurden.121 In folgendem Kapitel soll verdeutlicht werden, wie sich die beiden Frauen sowohl für den Aufbau eines bahnhofsmissionarischen Gesamtverbandes als auch – in Gertrud Müllers Fall – für den Lokalverein der Berliner Bahnhofsmission einsetzten. Dabei ist von Interesse, welche (Handlungs-)Räume Frauen auf der höheren administrativen Ebene konstituieren konnten. Genau wie andere Frauen, die im Dachverband, in dem Berliner Lokalverein Wohlfahrt der weiblichen Jugend und der Berliner Bahnhofsmission selbst aktiv waren, mussten Frauen, die einflussreichere Positionen als andere Frauen erlangen wollten, entweder bei einer der Organisationen fest angestellt und/oder Mitglied in der Bahnhofskommission des Lokalvereins oder im Vorstand beziehungsweise Ausschuss des Dachverbandes sein. Für die Frauen, die sich im Dachverband engagierten, galt darüber hinaus in der Regel, dass sie unverheiratet waren. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, wie Müller und Reineck ihr Arbeitsfeld gestalteten, für welche Aspekte ihrer Arbeit sie sich einsetzten und was die Ehelosigkeit sowie das Konzept der geistigen Mütterlichkeit für die beiden Protagonistinnen sowie ihre Kolleginnen bedeutete.

Davor war es die Schriftleiterin, nämlich Gertrud Müller, die die Aufgaben der Kommission der Deutschen Bahnhofsmission, aus der sich der Dachverband entwickelte, versah. 121 Hermine Bäcker, Die Geschichte der Bahnhofsmission, Schreibmaschinenmanuskript [1966], ADW, HGSt 1425, Blatt 25 und 45.

4. Frauen in der Fachzentrale des Verbandes am Beispiel zweier Protagonistinnen

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4.1 Aufbau eines bahnhofsmissionarischen Gesamtverbandes: . Gertrud Müller (1864–1912) „Eine Speerjungfrau, die für ihren himmlischen Herrn in das Feld zog, um Ihm das Feld der weiblichen Jugend erobern zu helfen“.122

Geboren am 6. April 1864 in Berlin, war Gertrud das erste Kind des Ehepaares Müller und erhielt vor allem durch die Mutter eine fromme Erziehung. Der Bezug zur christlichen Religion war indes auch durch andere Familienangehörige gegeben. Während der Großvater das Amt des Propstes im brandenburgischen Mittenwalde innehatte, war der Bruder der Mutter ein Vereinsgeistlicher in Neumünster in Schleswig-Holstein. Nach dem Besuch der Berliner Viktoriaschule, verbrachte Gertrud Müller das damals übliche Pensionsjahr in Görlitz bei Bekannten der Familie. Nach diesem Aufenthalt kehrte sie nicht nach Berlin zurück, sondern ging nach Sachsen, da ihre Familie dort hin in ein kleines Dorf umgezogen war. Gertrud Müller war etwa 26 Jahre alt, als sie Ernst, einen jungen Mann kennen gelernt hatte, dieser jedoch unerwartet noch vor der Hochzeit starb. Um ihr diese schwere Zeit zu erleichtern, holte sie eine befreundete Familie ihres verstorbenen Verlobten zurück nach Berlin. Gertrud Müllers Lebenssituation hatte sich durch den Tod ihres zukünftigen Mannes grundlegend geändert. Da sie voraussichtlich nicht mehr heiraten würde, war es notwendig, dass sie einen Beruf erlernte. Sie zog deshalb zu ihrem Onkel nach Neumünster, der sie zu seiner Amtshilfe ausbildete. Danach arbeitete sie anderthalb Jahre als Erzieherin in München, bevor sie auf Wunsch der Mutter nach Berlin zurückkehrte, wohin die Familie inzwischen wieder zurückgezogen war. Zum 1. Juni 1894, mit 30 Jahren, wurde Gertrud Müller bei der Inneren Mission als erste Sekretärin des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend, der kurze Zeit später die Berliner Bahnhofsmission initiierte, in Berlin angestellt und zog in das Marienheim I in der Borsigstraße. Sie unterstützte Pastor Johannes Burckhardt bei seiner Gemeindearbeit, begleitete ihn zu Konferenzreisen, gestaltete Unterhaltungsabende für die jungen Frauen, die im Marienheim wohnten, und schrieb kleine Stücke, die dann im Heim aufgeführt wurden. Als am 1. Oktober 1894 die ersten acht Berliner Bahnhofsmissionarinnen am Bahnhof Friedrichstraße ihre Arbeit aufnahmen und Orientierungshilfe für die massenhaft in die Hauptstadt wandernden Frauen leisteten, war Gertrud Müller unter ihnen.123 Da der lokal arbeitende Verein Wohlfahrt und der überregional angelegte Evangelische Verband für die weibliche Jugend bis in den Ersten Weltkrieg eng zusammenarbeiteten, wurde Gertrud Müller auch das Amt der Geschäftsführerin des überregional fungierenden Verbandes übertragen. Gertrud Müllers Arbeitsgebiet vergrößerte sich stetig. So wurde ihr die Leitung eines Jungfrauenvereins in der Bartholomäusgemeinde, die am Königstor im Be122 „Speerjungfrau“ bezieht sich auf den Namen „Gertrud“ (Ger = Wurfspeer; drud = Zauberin, Walküre) und wurde von Hulda Zarnack symbolisch auf Müllers Lebensaufgabe hin interpretiert. Vgl. Hulda Zarnack, Gertrud Müller. Ein Lebensbild, Berlin 1912, S. 5. 123 Zarnack, S. 5ff. Vgl. auch Deutsche Bahnhofsmission, 10. Rundschreiben, 1912, DEF, R 2 e, S. 1.

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IV. Der öffentliche Raum der Berliner Bahnhofsmission

zirk Königsstadt124 (Berlin-Friedrichshain) lag, übertragen125 und als sich 1897 die Kommission der Deutschen Bahnhofsmission gründete, wurde sie ebenfalls deren Schriftleiterin und erledigte alle anfallende Korrespondenzen sowie Büroarbeiten.126 Nachdem Pastor Burckhardt um die Jahrhundertwende in die Kirche der Versöhnungsgemeinde als Geistlicher berufen worden war, zog Gertrud Müller aus dem Heim in der Borsigstraße aus und siedelte in die nahgelegene Bernauerstraße 4 um. Mit der Gründung des Nationalkomitees gegen den Mädchenhandel im Jahr 1899 übernahm sie auch die Geschäftsführung dieses Verbandes und initiierte 1902 darüber hinaus – zusammen mit Johannes Burckhardt – den Verband der Berufsarbeiterinnen der Inneren Mission. Durch ihre Aufgaben für das Nationalkomitee erweiterte sich ihr Aufgabengebiet derart, dass die einzelnen Tätigkeitsbereiche für sie nicht mehr zufriedenstellend zu bewältigen waren. Als sich das Nationalkomitee 1903 verselbständigte, gab sie ihre Tätigkeit deshalb dort auf. Etwa zur selben Zeit stellte der Verein Wohlfahrt eine eigene Sekretärin ein, die Gertrud Müller bei der Vereinsarbeit entlastete. Müller blieb aber weiterhin für den Evangelischen Verband und die Kommission der Deutschen Bahnhofsmission aktiv.127 So nahm Gertrud Müller noch vor der Jahrhundertwende ihre Tätigkeit als Reisesekretärin für den Evangelischen Verband auf. In dieser Funktion besuchte sie Jungfrauenvereine in Deutschland, veranlasste deren Beitritt zum Evangelischen Verband und setzte sich dafür ein, dass auch zukünftig so genannte Vereinspflegerinnen die Vereine besuchten und dadurch ein funktionierendes Netzwerk unter den Vereinen und dem Evangelischen Verband entstand. Neben ihrer Reisetätigkeit hielt sie Vorträge zu verschiedenen Themen und Anlässen, wie auf dem Internationalen Kongress zur Bekämpfung des Mädchenhandels128 sowie bei den Bibel- und so genannten Instruktionskursen, die für Frauen der konfessionellen Sozialarbeit angeboten wurden.129 Die bahnhofsmissionarische Arbeit brachte sie voran, indem sie deutschlandweit Bahnhofsmissionen bereiste und die Gründung neuer Bahnhofsmissionen unterstützte.130 Da ihr bewusst war, dass der Aufbau einer deutschlandweiten Ausbreitung der Bahnhofsmissionen nur durch den vereinten Einsatz aller Kräfte voranzubringen war, setzte sie sich für die Zusammenarbeit mit den katholischen Bahnhofsfürsorgerinnen ein. Diesem Ziel dienten auch ihre Anstrengungen für eine übereinstimmende Außendarstellung, weshalb sie ein einheitliches Abzeichen aller evangelischen Bahnhofsmissionarinnen anregte.131 Müllers Bemühungen werden verständlich, wenn man bedenkt, dass um die Jahrhundertwende allein für die protestantischen Bahnhofsmissionarinnen 27 verschiedene Abzeichen, das heißt Ro124 Die Königsstadt wurde auch Königsvorstadt/Georgenvorstadt genannt. 125 Zarnack, BDW G 392, S. 9. 126 Deutsche Bahnhofsmission, 10. Rundschreiben, 1912, DEF, R 2 e, S. 1. 127 Zarnack, BDW G 392, S. 11. 128 […] Fries-Lebusa, Die geschichtliche Entwicklung des Evangelischen Verbandes zur Pflege der weiblichen Jugend Deutschlands, Zeittafel, o. O. o. J. [1918], S. 4. 129 Ebd., S. 10 und 12. 130 Ebd., S. 7. 131 Deutsche Bahnhofsmission, 10. Rundschreiben, 1912, DEF, R 2 e, S. 1.

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Abbildung 16: Gertrud Müller, die Geschäftsführerin des Evangelischen Verbandes und erste Sekretärin des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend

setten, Schleifen, Anstecknadeln und Broschen, deutschlandweit gebräuchlich waren und sich bis zur Schließung der Bahnhofsmissionen im „Dritten Reich“ auch keine einheitliche Tracht durchsetzen ließ.132 Durch Gertrud Müllers Anregungen zur Vereinheitlichung einer gemeinsamen Außendarstellung wird deutlich, wie bewusst sie sich war, dass der von der Bahnhofsmission geschaffene öffentliche Raum 132 Die Berliner Fürsorgerinnen des Vereins Wohlfahrt für die weibliche Jugend trugen seit Arbeitsbeginn an den Berliner Bahnhöfen eine weiße Armbinde, die den gestickten Vereinsnamen aufwies. 1897, nach Gründung der Kommission der Deutschen Bahnhofsmission, und dem Beginn der organisierten überregionalen Arbeit, wurde zuerst ein rosafarbenes Kreuz auf der Binde ergänzt und schließlich der Vereinsname durch die Umschrift „Deutsche Bahnhofmission“ bzw. „Evangelische Deutsche Bahnhofsmission“ ersetzt. Das ist das bis heute gültige Symbol. Anstrengungen wurden auch hinsichtlich einer einheitlichen Tracht unternommen. So waren Bahnhofsmissionarinnen im Ersten Weltkrieg an einer weißen Tracht ähnlich der der Rot-Kreuz-Schwestern, erkennbar und manche Bahnhofsmissionen führten für ihre Helferinnen später blaue Kittel ein. Im „Dritten Reich“ gab es noch einmal den Versuch eine einheitliche Tracht einzuführen, dieser Versuch scheiterte jedoch, so dass es eine gemeinsame Tracht für alle Bahnhofsmissionarinnen im Betrachtungszeitraum nicht gegeben hat. Vgl. Nikles, Soziale Hilfe, S 155ff.

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arrangiert werden konnte, um in der gewünschten Weise wahrgenommen und wiedererkannt zu werden. Wie die Soziologin Martina Löw ausführt, können neben Gegenständen oder Räumlichkeiten auch Personen durch eine öffentlich wirksame Strategie inszeniert werden, um dadurch eine gewünschte Wirkung zu erzielen.133 Für Gertrud Müller war klar, dass gemeinsame Abzeichen oder eine einheitliche Tracht die Wiedererkennbarkeit und dadurch auch die Nutzung der Bahnhofsmission steigern würden und deshalb setzte sie sich für eine gemeinsame bahnhofsmissionarisch typische Darstellung und Wirkungsweise ein. Gertrud Müller wurde nur 48 Jahre alt. Nachdem sie auf einer dreiwöchigen Vortragsreise, die sie durch Ostpreußen unternommen hatte, schwer an einem Herzleiden erkrankt war und über Monate nicht mehr richtig gesund wurde, war sie von Berlin nach Königsberg/Neumünster in Schleswig Holstein gebracht worden, um in der Nähe ihrer jüngsten Schwester zu sein. Hier starb sie am 15. Februar 1912 in einem Krankenhaus. Da ihr die Versorgung älterer Bahnhofsfürsorgerinnen stets ein Anliegen gewesen war, wurde ihrem Wunsch entsprechend das Geld, das für einen Kranz vorgesehen war, für Ziegelsteine, die in einem zu schaffenden Altersheim Verwendung finden sollten, ausgegeben.134 Anlässlich ihres Todes fand eine Trauerfeier in Berlin im Marienheim I, in dem sie selbst lange gewirkt hatte, statt. Beerdigt wurde sie allerdings in Königsberg. Ihre Nachfolgerin beim Evangelischen Verband, Hulda Zarnack, bemerkte dazu, dass Müller zwar auf einem kleinen stillen Friedhof begraben liege, aber „ein Leben lang in der Unruhe der Großstadt gelebt und gewirkt hat“.135 Durch das Wenige, dass über Gertrud Müller veröffentlicht wurde, ist es nicht leicht ihre Persönlichkeit einzuschätzen. Überliefert ist im Grunde nur ein Nachruf auf sie im 10. Rundschreiben der Deutschen Bahnhofsmission und eine kurze biografische Abhandlung, die Hulda Zarnack zur Erinnerung an ihre Kollegin schrieb. Zarnack beschrieb sie hier als „lebhaft“ und „impulsiv“.136 Einerseits nicht mit viel Geduld ausgestattet, hatte sie andererseits die Gabe, Kolleginnen und Kollegen mit ihrer Begeisterung für die zu leistende Arbeit und mit Optimismus anzustecken. Eine andere Kollegin, mit der Müller in der Versöhnungsgemeinde zusammen gearbeitet hatte, schrieb über sie: „Es war ein Vorzug, der uns wurde, daß wir in enger Gemeinschaft mit Gertrud Müller leben durften, dass wir teilhaben durften an ihrem Feuergeist, an ihrem reichen weiten Herzen, das so viel liebte. Immer war sie voll Interesse, immer hatte sie etwas zu geben und brachte nach ihren Reisen reiche Anregung von draußen mit herein.“137

Von sich und ihren Mitarbeiterinnen forderte Gertrud Müller beruflich uneingeschränkte Disziplin, weshalb sie innerhalb von 18 Jahren selbst nur zweimal krank war und im Grunde nie Urlaub nahm. Private Wünsche aufzugeben fiel ihr offensichtlich nicht schwer, ganz im Gegensatz zu allen Tätigkeiten, die ihren Beruf be133 Löw, Raumsoziologie, S. 204ff. 134 Deutsche Bahnhofsmission, 10. Rundschreiben, 1912, DEF, R 2 e, S. 2. 135 Zarnack, S. 16. 136 Ebd., S. 9. 137 Ebd., S. 10.

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trafen. Wie das einleitende Zitat von Hulda Zarnack deutlich macht, sah sie Müller als Kämpferin, die sich ganz für ihren Beruf einsetzte, so dass es nicht einfach für sie war von ihrem geschäftlichen Tätigkeitsbereich zurückzutreten und Arbeiten abzugeben. Als sie krankheitsbedingt in ihrem Beruf nicht mehr in vollem Umfang arbeiten konnte, war das eine Aufgabe, die Gertrud Müller versuchte zu meistern. Selbstkritisch sagte sie über sich: „Ich lerne und studiere nun schon ein Jahr an dem Vers, aber er ist doch sehr schwer: zu Hause zu bleiben auch bereit, wenn Er heißt andere zu gehen“.138 4.2 Die erste Geschäftsführerin: Theodora Reineck (1874–1963) „Solange die Deutsche Evangelische Bahnhofsmission ihren segensreichen Dienst am Bahnhof tun wird, wird auch der Name Theodora Reinecks unvergessen bleiben“.139

Theodora Reineck wurde am 14.9.1874 in Smyrna, heute Izmir, in der Türkei geboren und war die zweite Tochter des aus Magdeburg stammenden evangelischen Pfarrers und Direktors des türkischen Collège Évangélique Erhard Reineck und seiner Ehefrau Marie Jeanne Louise Godet aus Neuchâtel. Reinecks Vater war nach seiner Rückkehr aus der Türkei als Superintendent in Thüringen tätig und Theodora Reineck besuchte dort die Schule in Heldrungen sowie die Herrnhuter Anstalt in Neudietendorf. Vom 16. bis 18. Lebensjahr ging sie in ein Mädchengymnasium in Lausanne und sprach durch ihre Schulbildung drei Sprachen. 23-jährig übernahm sie 1897 im Auftrag des amerikanischen Hilfskomitees die Leitung eines Waisenhauses für armenische Kinder in Bursa in der Türkei. Sie kehrte von diesem Aufenthalt nach sieben Jahren zurück, begann 1908 ihre Tätigkeit im DRK-AnscharKrankenhaus in Kiel und trat dem Deutsch-Evangelischen Frauenbund bei, dem sie bis zu ihrem Tod angehörte. Darüber hinaus war sie im Verein der Freundinnen junger Mädchen aktiv. Mit 36 Jahren, 1910, wurde Reineck durch Pfarrer Johannes Burckhardt nach Berlin auf die neu geschaffene Position einer Geschäftsführerin bei der Zentrale der Evangelischen Bahnhofsmission in der Tieckstraße 17 berufen.140 Diese Stelle wurde notwendig, um die Entfaltung des Reichsverbandes effektiv zu entwickeln und das Netzwerk der Lokalorganisationen zu festigen. Stetig nahmen Reinecks administrative Aufgaben und die Geschäftsreisen zu, so dass man sich 1914 entschloss, eine halbe Kraft einzustellen, die Reineck unterstützte. Zu diesem Zeitpunkt wurde Reinecks Gehalt auch zum ersten Mal erhöht. Die Kommission der Deutschen Bahnhofsmission einigte sich darauf, alle zwei Jahre Reinecks Gehalt um 120  M aufzustocken bis ein jährliches Höchstgehalt von 2 400 M erreicht war.141 Vergleichseinkommen von fest angestellten Bahnhofsmis138 Ebd., S. 13. 139 Die Rundschau. Mitteilungsblatt der Inneren Mission, 8, 1937, Nr. 8, S. 106. 140 Hildegard Hunkel, Theodora Reineck zum Gedächtnis, in: Neue Evangelische Frauenzeitung, 2, 1963, S. 37–38. 141 Protokoll der Kommissionssitzung der Deutschen Bahnhofsmission am 10.11.1915, ADW, CA, Gf/St 85.

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Abbildung 17: Das Verbandshaus der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission in der Kaiserswerther Straße 15, Berlin-Dahlem, in dem Theodora Reineck eine Wohnung hatte

sionarinnen der Berliner Bahnhofsmission sowie von Fürsorgerinnen, die in der nachgehenden Fürsorge tätig waren, beliefen sich im „Dritten Reich“ auf die Hälfte beziehungsweise ein Drittel des Verdienstes von Theodora Reineck, nämlich 100 RM beziehungsweise 150 RM monatlich.142 Nach ihrer vorzeitigen Berentung sicherte der Reichsverband Deutsche Bahnhofsmission zwei Jahre lang, bis zum Beginn der Rentenauszahlung, ihr finanzielles Auskommen.143 Die Versorgungskassenbeiträge sollten auch darüber hinaus noch gezahlt werden.144 Das Aufgabenfeld, das Reineck zu bewältigen hatte, war vielfältig. Sie erledigte den gesamten Schriftverkehr mit allen Behörden, vertrat den Verband Deutsche Bahnhofsmission bei Konferenzen und feierlichen Anlässen, wie beispielsweise bei der Jahrhundertfeier der Deutschen Reichsbahn,145 gewährleistete die Öffentlichkeitsarbeit, bereiste die in Deutschland organisierten Bahnhofsmissio142 Schreiben des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend an den Evangelischen Oberkirchenrat am 9. Juli 1935, Anlage: Haushaltsvoranschlag der Berliner Evangelischen Bahnhofsmission 1935, EZA, 7/13477. 143 Aktenvermerk zur Besprechung mit Pastor Thöldtau am 11. November 1937, ADW, CA, Gf/St 87. 144 Auszug aus dem Protokoll der Vorstandssitzung der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission vom 8.6.1937, ADW, CA, Gf/St 87. 145 Jahresbericht des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission 1935, ADW, CA, Gf/St 92, S. 5.

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nen, hielt Vorträge in ganz Deutschland, beriet die bahnhofsmissionarischen Mitarbeiterinnen und saß den Ausschusssitzungen bei. Seit 1923 war sie auch Vorstandsmitglied des Deutschen Nationalkomitees zur Bekämpfung des Mädchenhandels, dessen Schriftführerin sie über vier Jahrzehnte blieb. Darüber hinaus hatte die Arbeit auch eine praktische Komponente, vor allem dann, wenn Armbinden und Flugblätter gepackt werden mussten oder wenn Reineck „vor Ort“ mithalf, was sie auf den Berliner Bahnhöfen zuweilen tat.146 Besonders an den Quartalstagen, an denen die Dienstmädchen ihre Stellen wechselten, hatte Reineck viel zu tun, da Bitten um Abholungen bei ihr eingingen, oder die zugereisten Frauen direkt in ihrem Büro vorstellig wurden. Umfassende praktische Arbeit am Bahnhof hätte den Rahmen ihrer sonstigen Tätigkeiten jedoch gesprengt. Aus diesem Grund machte die Bahnhofsmission auf ihren Plakaten und Handzetteln deutlich, dass sich die jungen Frauen, die sich in Berlin niederlassen wollten, direkt an das Zentralbüro der Berliner Bahnhofsmission und deren Leiterin Else Brüggemann und nicht an die Geschäftsleitung der Deutschen Bahnhofsmission respektive Theodora Reineck wenden sollten.147 1925 wurde auf der Tagung der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission in Neudietendorf beschlossen, dass die bereits von Gertrud Müller fünfzehn Jahre zuvor kritisierte sorgfältige Schulung der hauptamtlichen und ehrenamtlichen Kräfte endlich in Angriff genommen werden sollte.148 Hierzu wurde ein Grundstück in der Kaiserswerther Straße in Dahlem gekauft. Nach der Fertigstellung des Hauses 1927149 wurde dieses für Schulungen genutzt, für deren Organisation ebenfalls Reineck verantwortlich war. Das Haus stellte zeitgleich auch die Zentrale der Deutschen Bahnhofsmission dar, die man sich fortan nicht mehr mit dem Evangelischen Verband teilte. Theodora Reineck zog nun von der Friedbergstraße, in der die bisherige Geschäftstelle lokalisiert gewesen war, in die Kaiserswerther Straße um und hatte dort bis zu ihrer Berentung eine Wohnung.150 Als sie nach 27-jähriger Tätigkeit aus dem Dienst 1937 ausschied, erhielt sie die höchste Auszeichnung der Inneren Mission – die Wichern-Plakette – begleitet von vielen guten Wünschen, die sie in der Zeit des Abschiednehmens erreichten. Die Unterverbände äußerten das Bedürfnis, dass auch künftig eine fürsorgliche Persönlichkeit in der Zentrale des Reichsverbandes die Arbeit begleiten solle, indem sie die einzelnen Bahnhofsmissionen weiterhin besuchen und für Fragen sowie Probleme erreichbar bleiben sollte.151 Dieses Anliegen war nicht nur dem Um146 Theodora Reineck, Friedensarbeit in Kriegszeiten, in: Fürsorge für die weibliche Jugend 23, 1914, S. 333–335, hier: S. 334. 147 Ratschläge für die Anmeldung, in: Verzeichnis der Vertrauensadressen des Verbandes Evangelische Deutsche Bahnhofsmission, [vmtl. 1920er Jahre], ADW, CA, Gf/St 94, S. 2. 148 Tagung der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission in Neudietendorf bei Erfurt vom 8.– 10. Mai 1925, in: Weibliche Jugend 35, 1926, Heft 7, S. 167–168. 149 Martha Goedel, Das neue Heim der Deutschen Bahnhofsmission, in: Deutsche Mädchenzeitung 59, 1927, S. 220. 150 Nachdem sie berentet worden war, zog Reineck in die Habelschwerdter Allee 25 um, die sich ebenfalls im Bezirk Dahlem befindet. Vgl. Schreiben des Central-Ausschusses für Innere Mission an das Daheim-Hospiz im Memelgebiet am 8. Juni 1938, ADW, CA, Gf/St 87. 151 Schreiben des Reichsverbands der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission an die Aus-

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stand geschuldet, dass Theodora Reineck über Jahrzehnte die mütterliche Persönlichkeit an der Spitze des Verbandes gewesen war, und deren Umsicht man in Zukunft vermissen würde. In dieser Bitte spiegelt sich auch kollegiale Solidarität, da Reineck frühzeitig, in ihrem 63. Lebensjahr, das Amt der Geschäftsführerin abgeben musste. Die kommissarische Geschäftsführung des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission erhielt Pfarrer Walter Thöldtau, der durch die organisatorische Zusammenlegung der Berliner Bahnhofsmission mit dem Bahnhofsdienst von der Geschäftsführung der Bahnhofsmission für die des Reichsverbandes frei geworden war. Um Thöldtaus Anstellungsverhältnis finanziell und juristisch zu sichern und zu einem dauernden zu machen, schlug der Präsident des Dachverbandes, von Kameke, dem Central Ausschuss vor, Pfarrer Thöldtau als Geistlichen beim Central-Ausschuss zu berufen und ihn als solchen mit der Geschäftsführung des Reichsverbandes zu beauftragen.152 Durch die unwägbaren Verhandlungen mit der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt um das Weiterbestehen der Bahnhofsmissionen und den ihnen zugestandenen Kompetenzen, war der Vorstand und Ausschuss des Verbandes zu der Überzeugung gekommen, dass hierfür ein männlicher Geschäftsführer geeigneter sei.153 Konkret waren es wohl die gravierenden Einschnitte in das bahnhofsmissionarische Tätigkeitsfeld, nämlich das Sammlungsverbot für die Bahnhofsmissionen und die planmäßige Eröffnung von NS-Bahnhofsdiensten in Berlin, beides Entwicklungen des Jahres 1936, die zu dem Entschluss des Dachverbandes beitrugen, die Geschäftsführung zum 1. Januar 1937 an Pastor Thöldtau zu übergeben.154 schussmitglieder, die Unterverbände, die Bahnhofsmissionen und die Mitglieder des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission am 30. Juni 1937, ADW, CA, Gf/St 99. 152 Hermine Bäcker, Die Geschichte der Bahnhofsmission, Schreibmaschinenmanuskript [1966], ADW, HGSt 1425, Blatt 57/58. 153 Schreiben des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission an die Ausschussmitglieder, an die Unterverbände des Reichsverbandes und an sämtliche Bahnhofsmissionen am 31. Dezember 1936, ADW, CA, Gf/St 92. 154 Die schwierige Situation des Dachverbandes und damit auch seiner Unterverbände und lokalen Bahnhofsmissionen wird auch an dem schnellen Wechsel der Geschäftsführerinnen deutlich. Nach Ausscheiden Pfarrer Thöldtaus, der nur ein Jahr für den Dachverband aktiv war, folgte ihm wieder eine Frau, Armgard von Alvensleben, die ebenfalls nur ein Jahr die Geschäfte der Deutschen Bahnhofsmission versah. Nach ihr wurde Leonie von Schierstaedt berufen, deren Posten jedoch nur formal bestand, da die Auflösung der Bahnhofsmissionen der Ausführung dieses Amtes zuvor kam. Armgard von Alvensleben (* 1893, Friedrichsdorf, Pommern, † 1970, Celle), Vater: Kgl. preußischer Rittmeister Edgar von Knebel Döberitz, Mutter: Isidore von Biel. Kurze Ehe mit dem Kgl. preußischen Leutnant der Reserve Joachim von Alvensleben, der im Ersten Weltkrieg fiel. Aus der Ehe ging eine Tochter, Anna, hervor. Zweite Ehe mit Rudolf von Strbensky, die nach knapp einem Jahr wieder geschieden wurde. Zunächst nahm Armgard von Alvensleben eine Tätigkeit als Krankenschwester und Sozialarbeiterin auf, dann, 1937, wurde ihr die Geschäftsführung des Dachverbandes Evangelische Deutsche Bahnhofsmission übertragen. 1938–1945 folgte sie jedoch dem Ruf als Äbtissin in das Stift Heiligengrabe und gab ihre Stelle beim Dachverband der Bahnhofsmission auf. Nach der Flucht vor der sowjetischen Armee ließ sie sich in Hannover nieder, wurde erneut als Geschäftsführerin des Dachverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission berufen und war darüber hinaus jahrzehntelang im Vor-

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Obwohl Reineck jahrzehntelang die Geschäfte des Dachverbandes eigenständig und erfolgreich geführt hatte, wurde ihr offenbar in einer für die lokalen Bahnhofsmissionen und den Gesamtverband politisch wie ökonomisch schwierigen Situation weder zugetraut noch zugebilligt, ihr Amt auch weiterhin zum Nutzen der Organisation zu führen. Bruno Nikles argumentiert, dass es angesichts der Zurückdrängung von Frauen im Nationalsozialismus dem Verband der Evangelischen Bahnhofsmission „sinnvoller erscheinen [musste] Männer verhandeln zu lassen.“155 Dass Reineck ihre Position an einen Mann abgeben musste, zeigt, wie die Definition des sozialen Geschlechts von „Mann“ und „Frau“ gesellschaftliche Strukturen prägen und dadurch die Möglichkeiten Räume zu schaffen, zu erweitern und in diesem Fall, zu erhalten, eingeschränkt oder ermöglicht werden.156 Da das Strukturprinzip „Geschlecht“ auch das Handeln und Denken jedes Menschen durchzieht, hatte Theodora Reineck offensichtlich selbst die Überzeugung, dass ein Mann den neuen Aufgaben im nationalsozialistischen Staat eher gewachsen sei. Ihre vorzeitige Entlassung trug sie mit „christlicher Demut“ und ordnete die eigene Person den Gegebenheiten einer vorzeitigen Entlassung und dem gesamten Werk unter: „Beim Scheiden habe ich nur den Wunsch, dass mein Fortgang nicht die geringste Störung oder Unsicherheit in der Arbeit bringe. Es wäre mir Genugtuung und Freude, so habe bauen zu dürfen, dass ich wüsste, dass Haus steht fest und die mit daran baute, darf ruhig wegbleiben“.157 stand des Vereins der Freundinnen junger Mädchen aktiv. Vgl. Christine Winzler, Das Bild eines Menschen. Dank an Armgard von Alvensleben, in: Sozialpädagogik, 4, 1967, S. 2–5. Vgl. ebenso: Freda Niemann, Armgard von Alvensleben in: Theodor Schober (Hrsg.), Haushälterschaft als Bewährung des christlichen Glaubens. Ludwig Geißel zum 65. Geburtstag gewidmet, Stuttgart 1981, S. 331–335. Leonie von Schierstaedt (* 3.10.1901, Laesgen, Schlesien, † 23.8.1990, Eutin), Von 1932– 1939 war sie Reisesekretärin in der Pommerschen Frauenhilfe und wurde 1939 die Geschäftsführerin des Dachverbandes Evangelische Deutsche Bahnhofsmission. Durch das Verbot der Bahnhofsmissionen konnte sie ihr Amt nicht ausführen, gründete allerdings mit dem Berliner Evangelischen Bahnhofsdienst (in diesem war die Berliner Bahnhofsmission seit 1937 aufgegangen) als auch dem Dachverband einen neuen gemeinsamen Verein, den „Evangelischen Heimatdienst Berlin e.V.“ Der Heimatdienst deckte jene Aufgaben ab, die ehedem unter die nachgehende Fürsorge des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend fielen: das Beschaffen von Wohnmöglichkeiten für wandernde Personen und die Integration neu zuziehender Personen in das kirchliche Gemeindeleben. In Ausnahmefällen und nach vorheriger Anmeldung wurde auch wieder die Abholung vom Bahnhof gewährleistet. 1940 wurde Schierstaedt Oberin der Schwesternschaft der Evangelischen Frauenhilfe in Potsdam, gab diese Tätigkeit jedoch 1948 auf, weil sie nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands die bahnhofsmissionarische Arbeit wieder aufgenommen hatte. Da Schierstaedt in Berlin (Ost) aktiv war und die DDR die Bahnhofsmissionen außer derjenigen am Ostbahnhof 1956 verbot, war sie bis zu ihrer Berentung 1971 nur noch Geschäftsführerin der Evangelischen Frauenhilfe. Vgl., WolfDietrich Talkenberger, Nächstenliebe am Bahnhof: Die Bahnhofsmission in der SBZ und der DDR, Stuttgart 2002, S. 148–152. 155 Nikles, Soziale Hilfe, S. 236. 156 Löw, Raumsoziologie, S. 173ff. 157 Theodora Reinecks’ Abschiedsbrief an die ‚Evangelische Bahnhofsmissionen, meine Mitarbeiter und Freunde‘, am 30. Juni 1937, ADW, Gf/St 99, S. 2., Hans Hermann Fries, Theodora Reineck, in: BBKL, Band XXIV, Hamm 1999, Spalten 1206–1207, datiert das Ende ihrer Tä-

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Der Vorschlag Pastor Thöldtau mit der Geschäftsführung des Reichsverbandes zu betrauen, wurde vom Central Ausschuss abgelehnt, so dass Thöldtau nach einem Jahr wieder ausschied und von Armgard von Alvensleben abgelöst wurde. Von der Notwendigkeit einem Mann die Leitung der Deutschen Bahnhofsmission zu übertragen, sprach der Reichsverband – möglicherweise in Ermangelung geeigneter Kandidaten – nicht mehr.158 Im Zweiten Weltkrieg verlor Reineck ihre Wohnung in Berlin und zog nach Frankfurt am Main, wo sie bis zu ihrem Tod am 6.1.1963 lebte.159 Auch dort war sie wieder aktiv, indem sie dem Ortsverband des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes beitrat. Mitgliedsfrauen des Frankfurter Ortsverbandes charakterisierten Theodora Reineck folgendermaßen: „Aber wir liebten unser Fräulein Reineck vor allem um ihres Herzens willen, dieses liebevollen, liebespendenden Herzens willen, das nichts für sich wollte, sondern alles für andere. Sie hat uns ein Christentum vorgelebt, in dem Glauben und Leben eine Einheit waren“.160 4.3 Schlussfolgerungen und Einordnung der Handlungsräume . von Frauen in Leitungspositionen Theodora Reineck und Gertrud Müller verwandten ihre ganze Kraft für ihren Beruf. Durch ihre berufliche Stellung war es ihnen möglich, auf der administrativen, der diskursiven und der praktischen Ebene ihre Handlungsmöglichkeiten zu gestalten, indem sie die überregionale Vernetzung der Bahnhofsmissionen durch den Aufbau eines Dachverbandes voranbrachten, in verbands- und vereinspolitische Entscheidungen einbezogen waren, sich in aktuelle Debatten einschalteten und beide auch vor Ort, an den Berliner Bahnhöfen, tätig waren. In ihrem Engagement waren sie durchaus erfolgreich: Als Müller mit ihrer Arbeit begann, baute sie die erste Bahnhofsmission, damals in Berlin, mit auf; als Reineck eingestellt wurde, waren es bereits 30 und bei ihrem Ausscheiden mehr als zehn Mal so viele Bahnhofsmissionen.161 Der erarbeitete (Handlungs-)Raum war jedoch nur unter dem Verzicht auf eigene Kinder und Heiratschancen möglich. Wie viele Geschlechtsgenossinnen, die hauptberuflich innerhalb des diakonischen Bereiches tätig waren, blieben Müller und Reineck unverheiratet und kinderlos. Lange war protestantischen Frauen – im Gegensatz zu den Katholikinnen – individuelle Verwirklichung, jenseits der Ehe, tigkeit für die Deutsche Bahnhofsmission fälschlicherweise auf das Jahr 1939: „Als die konfessionelle Bahnhofsmission auf Anordnung des Reichsverkehrsministers zum Ende des Jahres 1939 eingestellt werden musste, gab sie ihr Amt als Geschäftsführerin auf“. 158 Hermine Bäcker, Die Geschichte der Bahnhofsmission, Schreibmaschinenmanuskript [1966], ADW, HGSt 1425, Blatt 57/58. 159 Vgl., Fries, Spalten 1206–1207. 160 Hunkel, S. 37–38. 161 1910: 65, 1922: 200, 1932: 340, 1938: 372 Bahnhofsmissionen. Vgl. Evangelische Deutsche Bahnhofsmission 28. Rundschreiben, 1922, S. 5; Jahresbericht des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission 1932, ADW, CA, Gf/St 93, S. 1; Die Rundschau. Mitteilungsblatt der Inneren Mission, 9, 1938, Nr. 10, S. 138.

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verwehrt geblieben. In der evangelischen Kirche fehlte nämlich das katholische Bild der (unverheirateten) Jungfrau Maria gänzlich. Nach lutherischer Auffassung war die Frau nur für die Ehe bestimmt. „Aber: gefällst Du keinem Manne – dann – wehe Dir – dann hast Du Deinen Beruf verfehlt – zu was bist Du dann in der Welt?“162 Auf der 23. Jahrestagung des Evangelischen Verbandes hielt die Diakonisse und Publizistin Anna Borchers in ihrem Vortrag dieser Haltung entgegen, dass „nach der heiligen Schrift die Frau (…) wie der Mann gleich am Anfang zur Arbeit bestimmt [sind]. Darum hat nur die Frau ihr Leben verfehlt, die nichts in ihrem Leben getan hat, keineswegs die Frau, die ehelos geblieben ist“.163

Sie kritisierte deshalb scharf, dass, im Gegensatz zur männlichen, die weibliche Erziehung vollständig auf die Ehe reduziert würde.164 Ehelosigkeit wurde erst durch die Verbindung mit wohltätigen Aufgaben im Beruf der Diakonissin relativiert und akzeptiert.165 Um der sozialen und sittlichen Nöte der Großstadt, besonders Berlins, entgegenzuwirken,166 rekrutierte die protestantische Kirche seit den 1890er Jahren schließlich ehelose Frauen in großer Zahl. Diese veränderte Sichtweise war auch durch das Konzept der geistigen Mütterlichkeit möglich geworden. Der Entwurf, der nicht nur die Mutter, sondern die Frau schlechthin als mütterlich postulierte, ebnete bürgerlichen, unverheirateten Frauen einen Weg in den sozialen Arbeitsbereich der Öffentlichkeit, mit dem Argument, dass in der pflegenden und emotionalen Kompetenz der Frau die Differenz zum Mann liege, was eine notwendige Ergänzung im beruflichen und öffentlichen Leben darstelle.167 Darin ist auch der Grund zu suchen, warum Reineck, Müller und viele ihrer Kolleginnen innerhalb der kirchlichen Sozialarbeit, obwohl ohne Ehemann, dennoch durch eine „wesensgemäße“ Tätigkeit respektiert wurden, denn es schien, wie die Historikerin Bärbel Kuhn konstatiert, „die allein stehende Frau […] prädestiniert und moralisch verpflichtet, einer von Egoismus bestimmten Welt mit weiblichen Tugenden entgegen zu treten und sie durch eine entsprechende Erziehungsarbeit langfristig zu verbessern“.168 162 Elisabeth Gnauck-Kühne, Aufzeichnungen zum Glaubenswechsel, zit. in: Schmidbaur, S. 50– 55, hier: S. 52. 163 Anna Borchers, Wie helfen wir den jungen Mädchen zur Klärung und Festigung in den sittlichen Fragen? Vortrag auf der 23. Jahrestagung des Evangelischen Verbandes zur Pflege der weiblichen Jugend Deutschlands, in: Fürsorge für die weibliche Jugend, 8, 1915, S. 226–230 und 253–258, hier: S. 257. 164 Anna Borchers (* 1870, Königshütte, Schlesien, † 1918, Grünberg, Schlesien.) Borchers war Expertin des ev. Kinder- und Hortwesens und für die Kinder- und Jugendpflege richtungsweisend. Sie gründete und leitete verschiedene diakonische Einrichtungen, unterrichtete zukünftige Diakonissinnen, war Redakteurin der Fachzeitschrift „Der Kinderhort“, sowie Publizistin und Vorsitzende der Gruppe „Kinderpflege“ des Verbandes der Berufsarbeiterinnen der Inneren Mission. 1992 wurde das Anna-Borchers-Archiv in Darmstadt gegründet. Vgl. Manfred Berger, Anna Borchers, in: BBKL, Bd. XX, Nordhausen 2002, Spalten 244–250. 165 Vgl. Kuhn, S. 54f. Vgl. auch Schmidbaur, S. 50–55, hier: S. 52f. 166 Vgl. Baumann, S.113. 167 Vgl. Sachße/Tennstedt, Armenfürsorge, Bd. 2, S. 42–45. 168 Zit. nach: Kuhn, S. 79.

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IV. Der öffentliche Raum der Berliner Bahnhofsmission

Die fest angestellten Frauen des Dachverbandes der Deutschen Bahnhofsmission und seiner Lokalorganisationen hatten durch die soziale Tätigkeit ein nützliches gesellschaftliches Arbeitsgebiet gefunden, das sie nicht wieder aufgeben wollten. Ehelosigkeit bedeutete zwar den Verzicht auf den Status einer bürgerlichen Ehe und Mutterschaft. Gleichzeitig mussten und konnten diese Frauen finanziell – jedenfalls teilweise – für sich selbst sorgen und nahmen ihre Karriere tatkräftig in die eigenen Hände. Obwohl berufliches und öffentliches Engagement auf den sozialen Bereich beschränkt blieben, lag der Lohn für den geübten Verzicht in einem Zuwachs an Selbständigkeit und Eigenverantwortung, Freiheit und beruflichen sowie finanziellen Entfaltungsmöglichkeiten. Diese Ausführungen entsprechen der These Martina Löws, dass die Raumkonstitution erheblich von der „Reichtums-Dimension“, das heißt von den Verfügungsmöglichkeiten über soziale Güter abhängig ist. Folgerichtig argumentiert, waren Frauen in Leitungspositionen, wie Reineck und Müller, besonders gegenüber der Schar ehrenamtlich arbeitender Frauen, aber durchaus auch gegenüber festangestellten Frauen ohne Leitungspositionen sowohl in ihren Handlungsräumen als auch in der finanziellen Entlohnung stark bevorzugt. Wie lässt sich ihre Ausnahmeposition darüber hinaus erklären? Der Grund lag darin, dass die Mehrheit der Frauen keine angemessenen Forderungen nach finanzieller Grundsicherung und erträglichen Arbeitsbedingungen stellen konnten, weil dem die Selbstlosigkeit des Berufsbildes und das Konzept der geistigen Mütterlichkeit entgegenstanden. Da der sozialen Mission gegenüber dem Erwerb immer der Vorrang gegeben wurde, wurden Leitungspositionen in Wohlfahrt und Administration nur in Ausnahmefällen mit den teilweise hoch ausgebildeten Frauen besetzt. Es handelte sich folglich nur um einen ganz kleinen Kreis von Frauen, darunter auch Müller und vor allem Reineck, die relativ gut besoldete und anspruchsvolle Positionen einnehmen konnten Für eine andere Frauengruppe, die fest angestellte Frauen ohne Leitungspositionen, ergab sich durch diesen Vorrang der ideellen Anteile ihres Berufes gegenüber den materiellen eine prekäre Situation. Zum einen waren sie nicht durch einen Ehemann abgesichert, der Lohn war aber gleichzeitig sehr niedrig, zum anderen brachten Lohnforderungen auch die Abwertung der geleisteten Arbeit mit sich, weil unterstellt wurde, dass rein materialistische, und nicht mütterlich-fürsorgliche, Gründe zu den Lohnforderungen geführt hätten.169 Für die Beurteilung der sich ehrenamtlich engagierenden Frauen ergibt sich eine widersprüchliche Feststellung. Einschränkend muss nämlich in Betracht gezogen werden, dass – so sehr Martina Löws Reichtums-These grundsätzlich zuzustimmen ist – sie für die Situation von Frauen, die gänzlich ohne Besoldung arbeitete, wenig greift. Das liegt daran, dass das Ehrenamt Frauen überhaupt erst den Weg in die Öffentlichkeit geebnet hat, das heißt, dass nur die Möglichkeit unbezahlter Arbeit vielen Frauen ein soziales Engagement im öffentlichen Raum gestattete.

169 Fleßner, S. 7–39.

5. Mediale Öffentlichkeit

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5. Mediale Öffentlichkeit: . Die Öffentlichkeitsarbeit und Werbetätigkeit . der Berliner Bahnhofsmission und des Dachverbandes Öffentlichkeitsarbeit einer Organisation verläuft heute auf zwei Ebenen: Erstens arbeitet sie „extern“, indem Informationen über die Einrichtung bereitgestellt werden, mit der Zielgruppe kommuniziert und Überzeugungsarbeit geleistet wird, um Vertrauen in die eigene Arbeit oder Dienstleistung bei der beabsichtigten Klientel herzustellen. Zweitens kommt die „interne“ Öffentlichkeitsarbeit hinzu, die den Informations- und Kommunikationsfluss eines Unternehmens zu seinen Mitarbeitern regelt. Der Dachverband der Deutschen Bahnhofsmission verfügte zwar nicht über eine eigene Presseabteilung, dennoch gab es Merkmale moderner Öffentlichkeitsarbeit. Es gab hier bereits die typischen externen und internen Bereiche: Pressearbeit, Mediengestaltung, Veranstaltungsorganisation und Interne Kommunikation. Durch Zeitungsinserate, Handzettel, Plakate, Broschüren, später auch in Informationsmappen für Schulen, in Ausstellungen und im Film warben die Bahnhofsmissionen für sich und informierten über die eigene Institution sowie die angebotenen Dienstleistungen. Durch seine Medien konstituierte der Dachverband und die Berliner Lokalorganisation einen zusammenhängenden, wahrnehmbaren, öffentlichen Raum, in dem sie sich sowohl selbst inszenierten, als auch für ihre Zielgruppe Orientierung anbieten wollten.170 Die Organisationen kommunizierten durch ihre Medienproduktion jedoch nicht nur mit Städtern im urbanen Umfeld, sondern ebenso mit der Provinz, weil in der Lokalpresse Anzeigen über die angebotenen Dienstleistungen geschaltet und vor dem Zuzug in die Stadt warnende Artikel publiziert wurden. Somit erweiterte sich der öffentlich-städtische Raum der Berliner Bahnhofsmission, des Dachverbandes sowie deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, zu einem zusammenhängenden Raum mit der Provinz. Nach dem Ersten Weltkrieg machte die Öffentlichkeitsarbeit des Gesamtverbandes einen Modernisierungsschub insofern durch, als dass die Plakate modern gestaltet und Fotografien vermehrt eingesetzt wurden. Damit verlief die Entwicklung bahnhofsmissionarischer Öffentlichkeitsarbeit bis zu einem gewissen Grad parallel zu derjenigen anderer Bereiche, da im Ersten Weltkrieg eine Presseabteilung und Kriegs-Öffentlichkeitsarbeit entstanden waren und sich bis 1945 eine eigene Pressearbeit in der deutschen Wirtschaft, Politik und den Kommunen als selbstverständlich etablierte, auch wenn diese im Nationalsozialismus durch die politische Propaganda und Zensur beschränkt wurde.171 Andere Medien, wie der Einsatz von Leuchtreklamen, wurden zwar diskutiert, dennoch bevorzugte die Organisation bis in die 1930er Jahre Medienträger, die bereits im 19. Jahrhunderts eingesetzt worden waren: das Plakat und andere Druckerzeugnisse wie Zeitungsartikel, Flugschriften, Broschüren und Postkarten. 170 Zur Bedeutung von Medien für die Wahrnehmung eines zusammenhängenden Stadtraums: Zimmermann, Einleitung, hier: S. 7. 171 Vgl. Franco P. Rota, PR- und Medienarbeit im Unternehmen, München 2002; ebenso: Michael Kunczik, Geschichte der Öffentlichkeitsarbeit in Deutschland, Köln etc. 1997.

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IV. Der öffentliche Raum der Berliner Bahnhofsmission

Richtet man den Blick auf die lokale Berliner Bahnhofsmission, so war in § 2 der Satzung des Trägervereins der Berliner Bahnhofsmission festgehalten, dass man sich zur Erfüllung der Vereinszwecke der Presse bedienen wollte.172 Dieses Vorhaben datierte aus der Zeit, als es weder die organisierte Arbeit am Bahnhof noch verbandliche Strukturen derselben gegeben hatte. Da der Verein Wohlfahrt maßgeblich an der Herausbildung eines bahnhofsmissionarischen Dachverbandes beteiligt war, organisierte er – gemeinsam mit dem Evangelischen Verband und dem Freundinnenverein – vor allem in der Anfangszeit eine über Berlin hinausgehende Öffentlichkeitsarbeit, die die Arbeit der Berliner und anderer Bahnhofsmissionen bekannt machen sollte. Zu diesem Zweck druckte der Verein Flugblätter sowie Plakate und schaltete Anzeigen und Artikel in Zeitungen. Nach der Jahrhundertwende übernahm der sich entwickelnde Verband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission die Öffentlichkeitsarbeit zunehmend selbst, so dass der Verein von dieser Aufgabe, die auch in finanzieller Hinsicht nicht leicht zu bewältigen war, zunehmend entlastet wurde. Allerdings führte der Verein die Öffentlichkeitsarbeit für die eigenen, lokalen Aktivitäten in den seit Beginn seiner Gründung herausgegebenen Jahresberichten fort, die er ab den 1920er Jahren auch fotografisch illustrierte. Dort berichtete er ebenso über die Berliner Bahnhofsmission als eine Vereinsaktivität unter anderen. In der Öffentlichkeitsarbeit der Bahnhofsmissionen jedoch war auch die Berliner Bahnhofsmission an die Weisungen des Dachverbandes gebunden. Der Lokalebene kam dabei stets die Umsetzung der Öffentlichkeitsarbeit in den Städten, mit den Reisenden und wandernden jungen Frauen zu. In diesem Kapitel wird im Folgenden herausgearbeitet, wie anfangs die Öffentlichkeitsarbeit besonders durch den Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend gestaltet war und – nachdem überregionale Strukturen herausgebildet waren – in welchen Bereichen sowie mit welchen Medien und Strategien der Dachverband der Bahnhofsmission die Öffentlichkeitsarbeit betrieb. Wie inszenierte sich der Dachverband, so dass sein Wirken auf verschiedenen Ebenen des öffentlichen Raumes wahrgenommen, wiedererkannt und dadurch reproduziert beziehungsweise fortgeführt wurde? Löw führt aus, dass die Inszenierungsarbeit wesentlich ist, um das Plazieren sozialer Güter und Menschen, die den Raum erst konstituieren, für die Wahrnehmung und Wiedererkennung vorzubereiten. Das schließt das klassische Bahnhofshallenplakat ebenso ein, wie die Kleidung der Bahnhofsmissionarinnen.173 Von Interesse ist, wie die Öffentlichkeitsarbeit sowohl des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend als auch des Dachverbandes durch die Mitarbeiterinnen der Berliner Bahnhofsmission umgesetzt wurde. Für die in der Berliner Bahnhofsmission und ihrem Dachverband fest angestellten Frauen war die Mediengestaltung eine Möglichkeit, in die Öffentlichkeit zu treten und aktiv den städtischen Raum mitzugestalten. Inwiefern waren sie in Entscheidungsprozesse über den Einsatz von Medien eingebunden? Wie sah ihr Gestaltungsrahmen gegenüber männli172 Satzung des Vereins, in: Entwickelung, hier: S. 4. 173 Löw, Raumsoziologie, S. 204ff. Der Begriff der Inszenierungsarbeit wird bei Schildt Selbstrepräsentation genannt. Vgl. den Forschungsbericht von Axel Schildt, Stadt, Medien und Öffentlichkeit in Deutschland im 20. Jahrhundert. Ergebnisse der neueren Forschung, in: IMS 1 (2002), S. 36–43.

5. Mediale Öffentlichkeit

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chen Verbandsmitgliedern oder Pfarrern aus? Konnten sie selbst Artikel verfassen? Hatten die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen der Berliner Bahnhofsmission ebenfalls Gestaltungsrahmen oder waren es vor allem die angestellten und vernetzten Mitarbeiterinnen, die an der Öffentlichkeitsarbeit mitwirken konnten? 5.1 Pressearbeit und Mediengestaltung der Bahnhofsmission Die Pressearbeit nach modernem Standard, wie das Verfassen von Pressemitteilungen, die Beantwortung von Presseanfragen, die Organisation von Pressekonferenzen oder das Durchführen von journalistischen Reisen und Interviews, war beim Verein Wohlfahrt nicht und beim Dachverband der Bahnhofsmission lediglich in Ansätzen vorhanden. Sie erstreckte sich auf Tätigkeiten wie das gelegentliche Beantworten von Presseanfragen oder die Durchführung von Rundreisen, welche die jeweilige Geschäftsführerin wahrnahm. Entwickelter hingegen war die Mediengestaltung, das heißt die an die entsprechende Zielgruppe gerichteten Veröffentlichungen für Werbezwecke in den Druck- und audiovisuellen Medien. Im Folgenden wird der Umgang des Dachverbandes der Deutschen Bahnhofsmission sowie der Berliner Lokalorganisation mit verschiedenen Medien in den Unterkapiteln „Presseveröffentlichungen, Handzettel und illustrierte Druckerzeugnisse“, „Plakatdruck“ sowie „Leuchtreklame“ und „Rundfunk und Film“ untersucht. 5.1.1 Presseveröffentlichungen, Handzettel und illustrierte Druckerzeugnisse Da sich die kommerziellen Massenmedien im 20. Jahrhundert „als entscheidende Quelle für Information und Unterhaltung breiter Schichten der Bevölkerung allmählich durch[gesetzt hatten]“,174 baute die Öffentlichkeitsarbeit auf lokaler und überregionaler Ebene neben der Nutzung von Plakaten bevorzugt auf der Informationsvermittlung in Zeitungen auf. Die Voraussetzungen für die Herausbildung der Massenpresse lagen zum einen in der Alphabetisierung umfassender Bevölkerungskreise und der dadurch erfolgten „Leserevolution“.175 Zum anderen war es die Urbanisierung, die den Wunsch vieler Menschen nach Orientierung, nach einer modernen Ausdrucksform der eigenen Lebenssicht, aber auch nach Information und Zerstreuung förderte. Um die Jahrhundertwende gab es in Deutschland 5 000 verschiedene Periodika, vor allem Tageszeitungen und illustrierte Wochen- und Monatsschriften, die ihre Abnehmer fanden. Obwohl der Berliner Lokalverein und der Dachverband modernen gesellschaftlichen Entwicklungen ambivalent gegenüberstanden, nutzten sie technische Neuerungen, wie zeitgemäße Medien, durchaus. Hierbei gingen sowohl der Trägerverein der Bahnhofsmission und später auch der Dachverband mit Warnaufrufen gegen städtische Zuwanderung an die Öffentlichkeit, benutzten zur Illustration das Mittel der Fotografie oder veröffentlichten Arti174 Schildt, Massenmedien, in: Faulstich/Hickethier, hier: S. 157. 175 Diesen Begriff verwendet Borscheid, in: Ders./Wischermann, hier S. 28.

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IV. Der öffentliche Raum der Berliner Bahnhofsmission

kel in kirchlich-diakonischen Organen, die um die Betreuung junger binnenwandernder Frauen kreisten, wie „Arbeitslosigkeit“, „Sittlichkeit und Prostitutionsrisiko“ oder „Rückbindung der Frauen an die Kirche“. Der Dachverband stellte sich darüber hinaus in Werbebroschüren, Begleitheften für Schul-Anschauungsmappen, auf Postkarten sowie durch künstlerisches Druckmaterial, wie Gedichtbände, dar. Die finanziellen Mittel zur Medienproduktion kamen anfänglich aus dem Verein Wohlfahrt, sehr bald auch aus den Organisationen, die den Dachverband bildeten, und schließlich vom Dachverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission selbst. Es ist nicht mehr zu rekonstruieren, ob Vereinsfrauen Zeitungsartikel in und für Provinzialblätter verfassten. Die kontinuierlich erscheinenden Jahresberichte des Vereins wurden vom jeweiligen Vereinsdirektor geschrieben, allerdings häufig durch Schilderungen aus der Arbeit der Heime, der nachgehenden Fürsorge oder der Bahnhofsmission durch fest angestellte Mitarbeiterinnen ergänzt. Bekannt ist ebenso, dass sowohl die Gedichtbände als auch die Schulanschauungsmappen, die der Dachverband herausgab, von fest angestellten Frauen des Dachverbandes geschrieben wurden oder diese an der Erarbeitung beteiligt waren.176 So schrieben Theodora Reineck und die Berliner Fürsorgerin Ilse Neidholdt eine Broschüre über die Bahnhofsmission als Unterrichtsmaterial für die oberen Schulklassen. Diese wurde neben Flugblättern und einem Plakat einer Informationsmappe beigegeben, die in Preußen und anderen deutschen Staaten für den Unterricht empfohlen wurde.177 Die Anfänge der Öffentlichkeitsarbeit durch die Berliner Bahnhofsmission und ihren Trägerverein werden durch die Verwendung von verschiedenen Medienbereichen beziehungsweise medialen Hilfsmitteln, nämlich erstens Presseveröffentlichungen und zweitens Publikation von Flugschriften deutlich. In einem dritten Schritt wird die Verwendung der Fotografie in den Jahresberichten des Vereins Wohlfahrt in den 1920er Jahren thematisiert. Zum einen wurden Veröffentlichungen in der Presse für die so genannte vorausgehende Fürsorge verwendet. Besonders im Oktober eines jeden Jahres, wenn die Zahl der nach Berlin reisenden Dienstmädchen aus ländlichen Gebieten anstieg, warnte die Bahnhofskomission des Vereins Wohlfahrt in der ländlichen Tagespresse ebenso wie in den evangelischen Sonntags-, Konsistorial- und Kreisamtsblättern178 davor in die (Groß‑)Stadt abzuwandern. Im Jahr 1901 stellte der Verein Wohlfahrt beispielsweise sieben östlichen Provinzen insgesamt 6 740 Beila176 Fräulein von Bistram, Bericht über das Marienheim I, in: 17. Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend, EZA, 7/13476, S. 3–4; Gibelius, in: Jahresberichte 1925–1927, BDW CI 2927, S. 17–20; Storck, in: Jahresberichte 1925–1927, BDW CI 2927, S. 21–23. 177 Vgl. Nikles, Soziale Hilfe, S. 150f. 178 P. Seiffert, Wie ist nach den bisherigen Erfahrungen die Fürsorge für die einwandernde weibliche Jugend (‚Bahnhofsmission‘) a) zu gestalten und wie lässt sie sich b) auf alle großen Städte ausdehnen?, in: Der Vorstände-Verband, 6, 1897, Nr. 12, S. 195–209, hier: S. 196f. Müller, Die Bahnhofsmission, hier: S. 53. Die Verfasser der Artikel, Pastor Seiffert und Gertrud Müller waren beide Mitglieder der Kommission zur Fürsorge für die einwandernde weibliche Jugend, kurz Bahnhofskommission genannt, die der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend ins Leben gerufen hatte.

5. Mediale Öffentlichkeit

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gen für Amtsblätter zu.179 Seitens der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bahnhofsmissionen wurde allerdings immer wieder Verwunderung darüber geäußert, dass die jungen Frauen trotz der zahlreichen Warnhinweise unvermindert nach Berlin strömten. Daran wird der Glaube der Fürsorgerinnen und Fürsorger wie auch der Pfarrer an die Macht der Medien deutlich. Sie hatten offensichtlich gehofft, dass die Binnenwanderung eingedämmt werden würde, indem junge Frauen mithilfe der Medien abgehalten werden, ihre eigenen Erfahrungen mit einem neuen Lebensentwurf zu machen. Als Teil der vorausgehenden Fürsorge wurde zum anderen für Werbezwecke und zum Verteilen im Laufe der Zeit ein immer größeres Repertoire von Handzetteln, Flugschriften und Zeitschriftenartikeln gedruckt. Den Druck der Informationsmaterialien musste der Verein Wohlfahrt teilweise von seinen Einnahmen bestreiten und war zuweilen gezwungen, für Druckerzeugnisse mehr als die Hälfte seiner Einnahmen zu verwenden.180 Eine große finanzielle Hilfe war es deshalb, als nach der Jahrhundertwende ein Berliner Drucker Vereinsmitglied im Verein Wohlfahrt geworden war und anstatt seines jährlichen Mitgliedsbeitrages die Materialien unentgeltlich drucken ließ.181 Die Druckerzeugnisse wurden sowohl an den Berliner Vorort-Bahnhöfen als auch auf den Bahnhöfen im Stadtgebiet von den Berliner Bahnhofsmissionarinnen verteilt. Gerade für die Arbeit an den Bahnhöfen am Stadtrand und außerhalb Berlins wurden zuweilen auch Frauen, die in anderen Wohltätigkeitsorganisationen, wie den kirchlichen Frauenvereinen oder den Berliner Jungfrauenvereinen, tätig waren, sowie interessierte Lehrerinnen herangezogen.182 Anfänglich wurden in der Zeit um den Quartals- und Monatsersten und später täglich Flugschriften wie „Für die Reise“, „Gutes Wort“ und „Ratschläge“, die „Sonntagsblätter“ und die „Deutsche Mädchenzeitung“ an die jungen Zuwanderinnen verteilt.183 Letzt genannte Zeitschrift war ein vom Evangelischen Verband herausgegebenes Organ, das in starker Auflagenhöhe erschien und sich an ein junges, weibliches Publikum mit dem Ziel richtete, dieses in den evangelischen Jungfrauenvereinen zu organisieren. In der Mädchenzeitung fanden fest angestellte Frauen, wie Maria Stehmann, die bereits im Kaiserreich die Leitung der Geschäftsstelle des Evangelischen Verbandes übernommen hatte und in der Weimarer Republik im Vorstand für den Dachverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission aktiv war, ein Forum zur Veröffentlichung eigener Beiträge.184 179 Zehnter Jahresbericht des Vereins Fürsorge für die weibliche Jugend, 1901, EZA, 7/13475, S. 17. 180 Fünfter Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend, 1896, EZA, 7/13475, S. 6. 181 17. Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend, 1908, EZA, 7/13476, S. 17. 182 (…) Prelle, Der Vorortdienst der Bahnhofsmission, in: Fürsorge für die weibliche Jugend, 21, 1912, S. 329–330, hier: S. 330. 183 Seiffert, Wie ist nach den bisherigen, hier: S. 197. Vgl. auch Nikles, Soziale Hilfe, S. 54. 184 Niederschrift der 37. Ausschußsitzung des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission am 10. Mai 1932, ADW, CA, Gf, St 91, S. 1. Stehmann war die Nachfolgerin von Anna Zarnack als Leiterin der Geschäftsstelle des Evangelischen Verbandes. Das Büro war für die Herstellung und den Versand verschiedener Verbandsmedien verantwortlich.

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IV. Der öffentliche Raum der Berliner Bahnhofsmission

Neben Publikationen in der Presse und dem Druck von Handzetteln und Flugschriften, setzten der Dachverband und der Verein Wohlfahrt zur Illustration bestimmter Druckerzeugnisse des Weiteren die Fotografie, die sich im 19. Jahrhundert durchzusetzen begann,185 zunehmend ein. Wiederholt bat der Dachverband bereits vor dem Ersten Weltkrieg in seinen Rundschreiben um „Lichtbilder“, die die Bahnhofsmissionarinnen in ihrem Arbeitsumfeld zeigen und die bei einer beabsichtigten Fotoserie Verwendung finden sollten.186 Die Halbjahresschrift der Deutschen Bahnhofsmission wurde ebenfalls illustriert und dadurch die Selbstinszenierung der eigenen Organisation auch visuell vermittelt.187 Die Fachschrift wurde nicht nur für interne Zwecke genutzt, sondern auch verkauft, so dass junge Frauen diese entweder nach der Ankunft in Berlin oder noch in ihrem Heimatort erwerben und sich auf diese Weise einen Überblick über die Aktivitäten der Evangelischen Bahnhofsmission verschaffen konnten. In großem Umfang wurden Fotografien auch in den Jahresberichten des lokalen Trägervereins der Berliner Bahnhofsmission ab den 1920er Jahren eingesetzt, so dass im 21-seitigen Jahresbericht von 1928/1929 immerhin 15 Fotografien zu finden sind. Der Bericht gibt einen Einblick in die Freizeitgestaltung der Heimbewohnerinnen sowie in die Wohnlichkeit der vom Verein unterhaltenen Unterkunftsheime und erinnert dabei an heutige Pensionsreiseführer. Wenn beispielsweise bei städtischen oder staatlichen Ämtern oder bei Vereinsmitgliedern um Subventionen oder Spenden gebeten wurde, legte der Verein mit den illustrierten Berichten Rechenschaft über die Fortschritte der Vereinsarbeit ab, warb zugleich für die eigene Organisation und konnte seine Ausführungen durch die Fotografien glaubhaft machen. Darüber hinaus konnten die abgedruckten Bilder den Vereinsmitgliedern und anderen Personen, die den Verein unterstützten, visuell vermitteln, dass sich dieser in anerkennenswerter Weise um das Wohl seiner jungen „Zöglinge“ kümmerte. Die eigene Tochter konnte man somit bedenkenlos den Vereins-Fürsorgerinnen anvertrauen und auch gegenüber anderen Familien eine Empfehlung für die Organisation aussprechen. 5.1.2 Plakate Das Plakat trat Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Siegeszug an und wurde in der Folgezeit vor allem als Werbeträger genutzt. Dabei machte es eine Entwicklung vom prunkvoll-ästhetischen Design, für dessen Gestaltung immer wieder renommierte Künstler herangezogen wurden, zu einer „nüchternen, werbetechnisch-psychologisch orientierten ‚Gebrauchsgrafik‘“188 in den 1920er Jahren durch. Diese Entwicklung lässt sich in der Gestaltung der bahnhofsmissionarischen Plakate nachvollziehen. Im Kaiserreich waren diese zwar nicht so aufwendig konzipiert wie viele künstlerisch gestaltete Plakate um die Jahrhundertwende, dennoch aber in 185 Zimmermann, Einleitung. Ebenso: Ward. 186 Deutsche Bahnhofsmission, 13. Rundschreiben, 1913, S. 3f. 187 Nikles, Soziale Hilfe, S. 153. 188 Reinhardt, in: Borscheid/Wischermann, hier: S. 51.

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Aufbau und Schrift verspielter als die klar aufgebaute bahnhofsmissionarische Plakatgestaltung der 1920er Jahre. Im Kaiserreich diskutierte die Kommission der Deutschen Bahnhofsmission folgenden Plakatentwurf: Unter einem Halbkreis, der den Namen „Ev. Dt. Bahnhofsmission“ bildete, sollten die an den bahnhofsmissionarischen Aufgaben beteiligten Verbände, nämlich der Evangelische Verband für die weibliche Jugend und der Verein der Freundinnen junger Mädchen links und rechts unterhalb des Halbkreises Erwähnung finden. Darunter, mittig gesetzt, erschien eine an reisende Frauen gerichtete Warnung, sich Fremden nicht anzuvertrauen. Daran schloss sich ein Adressenteil an. Im unteren Drittel des Plakates wurden Hinweise gegeben, die an zuziehende Männer sowie an Auswanderer generell gerichtet waren und Stellenvermittlungsmöglichkeiten nannten.189 In den 1920er Jahren wirkte das Plakat wegen seiner modernen Gestaltung und dem verwendeten Schrifttyp übersichtlich und bewusst klar: Jetzt dominierte eine rechteckige, geradlinige Plakataufteilung. Aus dem Halbkreis war nun ein waagerechter Schriftzug geworden, der in großen Lettern das Wort „Bahnhofsmission“ zeigte. Die Kopfzeile hatte eine kleinere Entsprechung am unteren Ende des Plakates und informierte in einem Balken über die Adresse der Jüdischen Bahnhofshilfe sowie die evangelische und katholische Auswandererhilfe. Die Mitte des Plakats war in drei rechteckige Spalten unterteilt: links und rechts waren die Abzeichen von evangelischen und katholischen Bahnhofsmissionen und -diensten zu sehen, und in der Mitte befand sich ein ähnlicher Warnaufruf wie auf dem oben genannten Entwurf, nämlich sich nicht an Fremde zu wenden. Der Adressenteil entfiel aufgrund des Hinweises, dass spezifische Adressen über die Zentralstellen zu beziehen seien. Angaben über Stellenvermittlungen fehlten ebenfalls. Durch die zeitgemäße Entwicklung der Plakatgestaltung wird deutlich, dass sich der Dachverband der Bahnhofsmission bewusst darüber war, dass es bei diesem Medium nicht nur darum ging, Informationen für reisende und binnenwandernde Personen sowie Auswanderer bereitzustellen. Vielmehr warb die Organisation auch um eine bestimmte Zielgruppe, für die sie ihre Dienstleistungen anbieten wollte. Eine erfolgreiche Werbestrategie war allerdings nur möglich, wenn sich die Plakatgestaltung den ästhetischen Vorstellungen der Zeit entsprechend entwickelte und dadurch mit anderen Werbeträgern konkurrenzfähig blieb. Zwei Fragen beschäftigten die Bahnhofsmission betreibenden Verbände in ihrer Plakatwerbung immer wieder: Erstens die Suche nach geeigneten Plakatierungsmöglichkeiten und zweitens die einheitliche Konzeption der unter den Konfessionen verschieden gestalteten Plakate. Zum ersten Punkt: Da Aushänge in der Stadt oder auf dem Bahnhof nicht beliebig möglich waren, stellte sich das Problem, geeignete Orte im Stadtraum beziehungsweise Möglichkeiten zu finden, wo die Plakate der Bahnhofsmission befestigt werden durften. Erste Anlaufstelle war hierfür die Preußische Eisenbahndirektion. Anfänglich verhandelten der Evangelische 189 Dieses Plakat liegt als Entwurf vor, weshalb nur ein Eindruck des eigentlichen Plakates gegeben werden kann. Entwurf eines Bahnhofshallenplakates aus dem Kaiserreich, ADW, CA, Gf/ St 92.

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IV. Der öffentliche Raum der Berliner Bahnhofsmission

Verband für die weibliche Jugend, der Verein der Freundinnen junger Mädchen und auch der Trägerverein der Berliner Bahnhofsmission zum Teil separat mit der Eisenbahndirektion, um in Preußen Plakate in der dritten und vierten Wagenklasse aufhängen zu dürfen.190 Nach der Zusammenführung bahnhofsmissionarischer Aktivitäten verschiedener Vereine durch die Gründung der Kommission der ­Deutschen Bahnhofsmission im Jahr 1897 übernahm diese die Verhandlungen und einigte sich mit der Eisenbahndirektion darauf, dass die größeren Anschläge, die Platz für die Adressen der deutschen Bahnhofsmission sowie von Heimen und Herbergen ließen, nur in der vierten Klasse geklebt, während die kleineren in den Frauen- und Nichtraucherabteilen der dritten Klasse aufgehängt werden sollten. Insgesamt wurden in dieser ersten, durch die gegründete Kommission durchgeführten, Aktion nahezu 30 000 Plakate gedruckt und aufgehängt.191 Der Trägerverein der Berliner Bahnhofsmission beließ es allerdings nicht allein bei Verhandlungen mit der Reichsbahn, sondern war äußerst aktiv darin, weitere Werbeflächen zu erhalten, um so die Bahnhofsmission noch bekannter zu machen. Deshalb wurden Vereinbarungen für das Aufhängen von Plakaten mit Pferdebahn- und öffentlichen Verkehrsunternehmen für Bus und Straßenbahn getroffen.192 Auch die Plakatierung der Anschläge selbst wurde in den Anfangsjahren, Ende des 19. Jahrhunderts, durch die Berliner Bahnhofsmission organisiert. Bei diesen Klebeaktionen beteiligten sich die Berliner Bahnhofsmissionarinnen und andere Frauen der ihnen nahe stehenden Vereine. Die Plakatierung erstreckte sich nicht nur auf Berlin, sondern auf das ganze preußische Territorium. Insgesamt hingen die Frauen auf 800 Bahnhöfen Plakate auf. Abgesehen von den vereinzelten Aktivitäten der Berliner Diakonissinnen, die bereits Mitte des 19. Jahrhundert an den Bahnhöfen auf ihre Heime durch Plakate aufmerksam gemacht hatten, führten die Berlinerinnen mit diesem Engagement zum ersten Mal organisierte, bahnhofsmissionarische Öffentlichkeitsarbeit in Preußen durch. Zum zweiten Punkt: Die Frage der einheitlichen Gestaltung der Plakate stand immer wieder auf der Agenda der Bahnhofsmissionen. Noch bis in das erste Jahr­ zehnt des 20. Jahrhunderts hinein hatten die einzelnen Konfessionen – evangelische und katholische Bahnhofsmission sowie Jüdischer Frauenbund – jeweils eigene gedruckte Aufrufe, die zudem deutschlandweit nicht immer identisch waren.193 Gertrud Müller hatte deshalb die Ineffizienz der Außendarstellung immer wieder kritisiert und ein einheitliches Auftreten der drei Konfessionen und der vielen einzelnen Bahnhofsmissionen auf der Plakatgestaltung angeregt. Doch erst nachdem die Interkonfessionelle Kommission für Bahnhofsmission 1910 ihre Arbeit aufgenommen hatte, konnte dieses Projekt in Angriff genommen werden.194 190 Paul Hasse, Eisenbahnplakate, in: Fürsorge für die weibliche Jugend, 7, 1898, S. 41–43, hier: S. 42. Vgl. auch Eisenbahn-Nachrichten-Blatt, 39, 1901, S. 375. 191 Hasse, Eisenbahnplakate, hier: S. 42. 192 Fünfzig Jahre Verein Wohlfahrt, [vmtl. 1940], EZA, 7/13477, S. 7. 193 Vgl. den Plakataufruf des Marianischen Mädchenschutzvereins Frankfurt/Main, Trägerverein der katholischen Bahnhofsmission verschiedener Diözesen, aus dem Jahr 1906. Abgedruckt in: Nikles, Soziale Hilfe, S. 85. 194 Nähere Ausführungen zu der Kommission, die nicht identisch ist mit der mehrfach erwähnten

5. Mediale Öffentlichkeit

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Abbildung 18: Plakat der Bahnhofsmission, 1920er Jahre

Das Gremium arbeitete ökumenisch und bezog sich folglich nur auf die Zusammenarbeit zwischen den christlichen Kirchen unterschiedlicher Konfession, d.h. auf die Kirchen mit evangelischem und katholischem Bekenntnis. Die jüdische Bahnhofshilfe war kein Mitglied dieser Kommission. Auf den Bahnhöfen arbeiteten die Vertreterinnen der evangelischen und katholischen Bahnhofsmissionen allerdings mit der jüdischen Bahnhofshilfe zusammen. In Fragen der Plakatgestaltung wurden diese deshalb mit einbezogen und auf den Anschlägen neben den evangelischen und katholischen Organisationen genannt, was die Innere Mission als „[f]riedliche[s] Nebeneinanderarbeiten der verschiedenen Bekenntnisse“195 lobte. Der Aushang, welcher mit der ersten gemeinsamen Aufschrift „Bahnhofsmission in Deutschland“ sowohl die christlichen als auch die jüdischen Organisationen nannte, wurde 1911 in einer Auflage von 100 000 Stück gedruckt, war 1913 vergriffen und wurde ein Jahr später, um eine Spalte für Auslandsadressen ergänzt, mit einer Neuauflage von 80 000 Stück herausgegeben.196 Weitere Plakataktionen wurden 1920 und 1923 durchgeführt.197 Zur erfolgreicheren Professionalisierung der Öffentlichkeitsarbeit beschloss der Ausschuss der Deutschen Bahnhofsmission 1927, dass der Aushang von Plakaten unter klareren Gesichtspunkten erfolgen sollte und die Plakatierung generell kontrolliert werden müsste. Es wurde nun auch Bahnhofskommission, vgl. FN 219 im III. Kapitel (Der öffentliche Raum am Bahnhof) dieser Arbeit. 195 Die neuen Aushänge der Bahnhofsmission, in: Monatsschrift für Innere Mission, 31, 1911, S. 356–357, hier: S. 356. 196 Deutsche Bahnhofsmission, 13. Rundschreiben, 1913, S. 3f. 197 Vgl. Nikles, Soziale Hilfe, S. 148, und Jahresbericht des Verbandes Evangelische Deutsche Bahnhofsmission 1. Januar bis 31. Dezember 1923, ADW, CA, Gf/St 93.

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IV. Der öffentliche Raum der Berliner Bahnhofsmission

ein neuer Plakatentwurf verabschiedet, der, wie oben bereits beschrieben, neben den Bahnhofsmissionen, auch auf den Bahnhofsdienst, der deutschlandweit drei Jahre zuvor gegründet worden war, sowie auf konfessionelle Gruppen der Auswandererfürsorge Bezug nahm. Darüber hinaus wurden die Plakate ab jetzt gerahmt aufgehängt, und die Bahndirektion bewilligte Plakate auch in D-Zügen.198 5.1.3 Leuchtreklamen Mit der Erfindung des elektrischen Lichts Ende des 19. Jahrhunderts wurde auch die erste Lichtwerbeanlage am Berliner Spittelmarkt eingesetzt.199 Einige Jahre später führte die Zigarettenmarke „Josetti“ in Berlin die erste bewegte Lichtreklame an der Leipziger Straße Ecke Friedrichstraße zu Werbezwecken ein.200 Die Lichtreklame hatte nicht nur die nächtlichen Großstädte verändert; sie war zu einem eigenen Kulturphänomen geworden, welches zusammen mit der Straßenbeleuchtung ein Nachtleben erst möglich gemacht hatte. Die Menschen veränderten ihre Wahrnehmung der nächtlichen Stadt, so dass Gegenden, die unbeleuchtet waren, nun gemieden und gefürchtet wurden, ging man doch davon aus, dass dunkle städtische Gegenden das „Gesindel“ anziehen würden.201 Anfang der 1920er Jahre begann die Reichsbahnverwaltung aus wirtschaftlichen Gründen Fahrzeuginnenflächen für Werbeträger, vor allem Leuchtreklamen, verstärkt zu vermieten. Auch Teilflächen in Bahnhöfen, auf Vorplätzen und Bahnsteigen, in Tunnel und Wartesälen konnten angemietet werden.202 Das wiederum bedeutete, dass den traditionellen Plakaten der Berliner Bahnhofsmission eine herausfordernde Konkurrenz gegenüberstand. Der Direktor des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend, Willibald Jaehn, schlug dem Ausschuss des Dachverbandes der Bahnhofsmission deshalb vor, Lichtreklamen für die bahnhofsmissionarischen Plakate einzuführen. Die Mitglieder von Vorstand und Ausschuss des Dachverbandes der Deutschen Bahnhofsmission entschieden jedoch, anstatt Leuchtreklamen einzuführen, bei den erprobten Bahnhofshallenplakaten zu bleiben und damit auf bewährte Medien zurückzugreifen.203 Bahnhofsmissionarische Leuchtreklamen in der Nähe der wichtigsten Berliner Bahnhöfe hätten jedoch durchaus sinnvoll sein können, um jungen Frauen bei ihrer Ankunft in Berlin, aber auch im Stadtraum einen sichtbaren Wegweiser zur nächsten Bahnhofsmission zur Verfügung zu stellen. Da der öffentliche Raum im Allgemeinen und die nächtliche Straße im Besonderen gesellschaftlich stets als Bedrohung für Frauen definiert wurden – eine Sichtweise, welche die Bahnhofsmission uneingeschränkt teilte –, hätte der Einsatz von Leucht198 Protokoll der Ausschusssitzung der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission 1927, ADW, CA, Gf/St 90, S. 5. Vgl. auch Nikles, Soziale Hilfe, S. 215. 199 Reinhardt, in: Borscheid/Wischermann, hier: S. 50. 200 Brune-Berns, in: Borscheid/Wischermann, hier: S. 104. 201 Birkefeld/Jung, S. 196. 202 Brune-Berns, in: Borscheid/Wischermann, hier: S. 108. 203 Niederschrift der 28. Ausschußsitzung des Verbandes Evangelische Deutsche Bahnhofsmission, 21. März 1929, ADW, CA, Gf/St 90, S. 5.

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reklamen auch als Beleuchtung der Straße begrüßt werden können. Die Entscheidung dagegen kann einerseits mit dem nicht zu leistenden finanziellen Mehraufwand erklärt werden. Andererseits empfanden die Ausschuss- und Vorstandsmitglieder des Dachverbandes Leuchtreklamen als inadäquat beziehungsweise unpassend, weil sie diese in erster Linie mit kommerzieller Werbung in Verbindung brachten. Aus diesem Grund entschied sich der Ausschuss gegen Leuchtreklamen mit dem Hinweis, dass die Plakate „konfessionell“ bleiben sollten. Ihm erschien die Nutzung herkömmlicher Medienträger für eine wohltätige Organisation angemessener, selbst wenn damit eine Entscheidung gegen die eigenen (Werbe‑)Interessen verbunden war. Da großstädtische Bahnhofsmissionen, wie die in Berlin, andere Bedingungen hatten als Vertretungen kleinerer Städte oder ländlicher Gegenden, wäre die Möglichkeit zu unterschiedlich angepassten Werbestrategien möglicherweise sinnvoll gewesen. Aus Gründen der einheitlichen Außenwirkung der Organisation war die Entscheidung gegen Leuchtreklamen jedoch für alle lokalen Bahnhofsmissionen richtungsweisend. 5.1.4 Film und Radio Die Anfänge des Films lagen um die Jahrhundertwende und somit in der Zeit, als auch die Berliner Bahnhofsmission gegründet wurde.204 Die Konjunktur des Films stieg vor allem in den stabilen Zeiten der Weimarer Republik an, um dann, bedingt durch die Weltwirtschaftskrise, einen Einbruch – auf immer noch hohem Niveau – zu erleben.205 Mitte der 1920er Jahre, als die Berliner Kinos über eine Million Besucher monatlich verzeichnen konnten,206 wurde ein Film über die gegen den „Mädchenhandel“ operierenden Organisationen, wie die Polizei, das Deutsche Nationalkomitee und andere Organisationen, gedreht, in dem auch die Bahnhofsmission erwähnt wurde.207 Der Film wurde nach Fertigstellung in ganz Deutschland gezeigt und fand, laut Darstellung des Deutschen Nationalkomitees, große Beachtung. Die Berliner Morgenpost berichtete über den Film: „Es wird die Polizei bei ihrer warnenden, beratenden Tätigkeit gezeigt, ebenso die fürsorgliche Arbeit privater Organisationen, wie des Nationalkomitees zur Bekämpfung des Mädchenhandels und der Bahnhofsmission“.208 Der Dachverband der Deutschen Bahnhofsmission sowie die Berliner und andere Lokalorganisationen standen jedoch dem Medium Film distanziert gegenüber, 204 Der erste Werbefilm kam 1896 in die Kinos. Vgl. Reinhardt, in: Borscheid/Wischermann, hier: S. 50. 205 1932/33 gingen jährlich 238 Millionen Deutsche ins Kino, im Vergleich zu 1929, als es noch 352 Millionen Personen gewesen waren. Vgl. Führer, Auf dem Weg, hier: S. 746f. 206 Brune-Berns, in: Borscheid/Wischermann, hier: S. 110. 207 Deutsches Nationalkomitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels. Geschäftsbericht für das Jahr 1926, GStA PK, I HA, Rep. 77, Tit. 423, Nr. 31, ADH. 3, Bd. 4, S. 5. 208 Berliner Morgenpost vom 3.2.1927, zit. in: Deutsches Nationalkomitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels. Geschäftsbericht für das Jahr 1926, GSPK, I HA, Rep. 77, Tit. 423, Nr. 31, ADH. 3, Bd. 4, S. 5.

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was teilweise an dem ökonomischen und schichtspezifischen Hintergrund ihrer Klientel gelegen haben könnte. Laut dem Historiker Karl Christian Führer war die Unterrepräsentanz junger Frauen, trotz der generell proletarischen Schichtzugehörigkeit der Kinogängerinnen und -gänger, im Kaiserreich auf die soziale Kontrolle weiblicher Personen in der Öffentlichkeit durch ihre Eltern zurückzuführen.209 In der Weimarer Republik wiederum spielte zum einen die ökonomische Lage der jungen Frauen eine Rolle für den geringen Anteil von Kinogängerinnen. Zum anderen fand eine Schicht- und Altersverschiebung der Kinorezipienten statt, die sich nun hauptsächlich aus älteren Personen, mittelständigen Familien und Männern zusammensetzte.210 Sollten diese Ergebnisse, entgegen dem allgemein verbreiteten Bild, dass das Kino vor allem von Frauen genutzt wurde, zutreffen, dann hätte die Bahnhofsmission ihre Klientel unter dem Filmpublikum weder angetroffen, noch mit diesem Medium erreicht. Durch das Medium Film auf die Arbeit der Bahnhofsmissionen aufmerksam zu machen, wäre dann auch nicht sinnvoll gewesen. Eine weitere Erklärung, warum der Dachverband seine knappen finanziellen Ressourcen nicht für das Medium Film einsetzte, ist in der ambivalenten Haltung der Inneren Mission und der ihr unterstellten Organisationen zum Filmmarkt zu sehen. Ein Grundkonflikt gegenüber den neuen Massenmedien dieser Zeit war, dass man zwar erkannte, dass Filme für die eigenen Belange sinnvoll eingesetzt werden konnten, und manche kirchlichen Organisationen das Medium Film auch nutzten. Dennoch sah man die Notwendigkeit, diese Form der Unterhaltung oder Informationsvermittlung zu lenken beziehungsweise einzuschränken, vor allem wenn sie gegen die eigenen moralischen oder sittlichen Normen verstießen. So stellte die Evangelische Konferenz für Gefährdetenfürsorge, mit der die Bahnhofsmissionen zusammenarbeiteten, beim Preußischen Innenministerium Anträge, bestimmte Kinofilme zu zensieren.211 In den 1920er Jahren trat auch das Radio als massenmediale Innovation seinen Siegeszug an. Nach nur wenigen Jahren waren bereits eine Million Rundfunkempfänger in Deutschland zu verzeichnen.212 Von der Möglichkeit, Reklamespots213 oder Kurzberichte über die eigene Organisation im Radio zu platzieren, machte die 209 Emilie Altenloh, Zur Soziologie des Kinos. Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher, Leipzig 1913, zitiert in dem Artikel von Führer, hier: S. 748. 210 Führer, Auf dem Weg, hier: S. 754f. Axel Schildt geht davon aus, dass sich das Filmpublikum aus der städtischen Ober- und Mittelschicht zusammensetzte, wonach es keine Schichtverschiebung von proletarischen zu mittelständischen Nutzern des Mediums „Film“ gegeben hätte. Vgl. Schildt, Massenmedien, in: Faulstich/Hickethier, S. 156–177. 211 Die Evangelische Konferenz für Gefährdetenfürsorge stellte einen Antrag zur Eröffnung des Wiederrufverfahrens gegen die Zulassung des Films „Das gottlose Mädchen“. Stein des Anstoßes waren Filmsequenzen, die nach Ansicht der Evangelischen Kirche durch die Schilderung des Lebens in amerikanischen Erziehungsheimen auch das Prestige deutscher Fürsorgeeinrichtungen untergraben würde. Vgl. Der Film: „Das gottlose Mädchen“, in: Die Innere Mission im evangelischen Deutschland, 23, 1928, S. 575. 212 Bis 1932 gab es bereits vier Millionen Haushalte in Deutschland, die über ein Radiogerät verfügten. Vgl. Schildt, Massenmedien, in: Faulstich/Hickethier, hier: S. 164. 213 Reklame im Radio war zwar nicht unumstritten, wurde aber dennoch gesendet. Vgl. Führer, Auf dem Weg, hier: S. 776f.

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Bahnhofsmission in der Weimarer Republik jedoch keinen Gebrauch. Zwar gab es in Deutschland keinen Sender wie in den USA, der im Besitz der Kirchen war und der über kirchliche Wohlfahrtsarbeit hätte berichten können. Allerdings gab es einen Rundfunksender für Frauen. Dieser beriet seine Zielgruppe anfänglich über Fragen zur Haushaltsführung und erweiterte dann sein Programm dahingehend, dass er speziell auf weibliche Hörer ausgerichtete Informations- und Weiterbildungssendungen anbot. Im Laufe der Zeit entwickelte der Sender auch Programme, welche die Hörerinnen interaktiv einbanden und es ihnen ermöglichte, das Medium Radio gezielt zu nutzen. In diesem Rahmen wäre es möglich gewesen, über das Serviceangebot der Bahnhofsmissionen zu berichten. Dass das nicht geschah, lag vermutlich an der Klientel, die von der Bahnhofsmission angesprochen werden sollte und die mit den Radiohörerinnen nicht identisch war. Obwohl gerade in den Großstädten und besonders in Berlin im Vergleich zu anderen deutschen Gebieten verhältnismäßig viele Menschen über einen Radioanschluss verfügten, rekrutierte sich die Hörerschaft vor allem aus dem Mittelstand. Das lag besonders an den Kosten, die man als Radiohörer aufbringen musste. Zum einen waren Radioempfänger, besonders die Röhrengeräte, in den ersten Jahren in der Anschaffung teuer, zum anderen mussten von Anfang an auch Gebühren bezahlt werden, wollte man sich als „Schwarzhörer“ nicht strafbar machen. Zudem verfügten noch 1930 „nur“ 50 Prozent aller deutschen Haushalte über Stromanschlüsse und somit über die prinzipielle Möglichkeit, Radio zu hören.214 Sowohl für den Verein Wohlfahrt als auch den Dachverband der Deutschen Bahnhofsmission musste es also in den 1920er Jahren nur wenig rentabel erscheinen, im Radio über die Arbeit der Bahnhofsmissionen zu informieren, da davon auszugehen war, dass weder die typischen Hausmädchenkammern in den städtischen Haushalten, noch die Zimmer in den Berliner Heimen, in denen die jungen Frauen wohnten, über spezielle Stromanschlüsse verfügten. Darüber hinaus war die Entlohnung speziell von Dienstmädchen so gering, dass das Radiohören einer Luxusbeschäftigung gleich gekommen wäre, an die nicht zu denken war. Erst im nationalsozialistischen Staat wurde erstmals im Radio über die Bahnhofsmission berichtet, was allerdings nicht auf die Initiative des Dachverbandes zurückging, sondern vom Berliner Rundfunk und dem Kurzwellensender initiiert worden war. 1935 berichteten die Sender über das 25-jährige Bestehen der Reichszentrale, die 1910 mit der Anstellung Theodora Reinecks als Generalsekretärin ihren Anfang genommen hatte. Einige Monate nach diesem Bericht bat auch der Kurzwellensender um ein deutsch-englisches Interview, das am Anhalter Bahnhof stattfand und schließlich in die USA und nach Afrika übertragen wurde.215

214 Vgl. Führer, Auf dem Weg, S. 739–781. Schildt weist darauf hin, dass das Radiohören im „Dritten Reich“ staatlich gefördert wurde, wodurch wiederum mehr Menschen Zugang zu diesem Medium erhielten. Vgl. Schildt, Massenmedien, in: Faulstich/Hickethier, hier: S. 164. 215 Jahresbericht des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission, 1935, ADW, CA, Gf/St 92, S. 5.

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5.2 Veranstaltungsorganisation Neben der Pressearbeit gehört die Organisation verschiedener Veranstaltungen, wie beispielsweise die Gestaltung von Ausstellungen, ebenfalls zur Öffentlichkeitsarbeit. Diese Möglichkeit der Selbstpräsentation zum Zweck der Außendarstellung und Kommunikation mit der anvisierten Klientel wurde dem Dachverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission in zwei Fällen ermöglicht: einmal im Rahmen einer Ausstellung über die Arbeit der Polizei in Berlin und ein weiteres Mal bei einer größeren Wohlfahrtsmesse in Düsseldorf. Beide Ausstellungen wurden Mitte der zwanziger Jahre gezeigt, weil der Dachverband seine Öffentlichkeitsarbeit erst in der Weimarer Republik strukturierter in Angriff nahm, indem er zunehmend neue Medien einsetzte. Über die Polizeiausstellung ist wenig bekannt. Gezeigt wurden Bahnhofsmissions-Abzeichen, um zu veranschaulichen „wie die Polizei gemeinsam mit der Bahnhofsmission den Gefährdeten nachgeht und Hand in Hand mit ihr arbeitet“.216 Auf der Düsseldorfer Ausstellung für Gesundheitspflege, Soziale Fürsorge und Leibesübungen, kurz GESOLEI, informierte ein eigener Stand innerhalb der Halle, die der Wohlfahrtspflege und sozialen Fürsorge gewidmet war, über die Arbeit der Bahnhofsmissionen. Die Bilder und Schautafeln wurden thematisch der Auswanderer- und Gefährdetenfürsorge zugeordnet, was den organisatorischen und inhaltlichen Mustern der Inneren Mission entsprach. Unter dem Titel „Fürsorge für die fluktuierende Bevölkerung“ wurden die Tätigkeitsbereiche Auswanderer-, Bahnhofs-, Binnenschiffer- und Seemannsmission behandelt. Der Bahnhofsmission selbst war eine große Stellwand gewidmet, auf welcher die deutschen Bahnhofsmissionen auf einer Deutschlandkarte eingezeichnet waren. Mit Blick auf das zu erwartende Publikum und die erwünschte Werbenutzung, bemühte sich der Reichsverband, neben einer rein textlichen Umsetzung der Organisationsdarstellung, auch um andere Zugänge zu seiner Präsentation. Um ansprechender von der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden, wurde deshalb mit visuellen Mitteln gearbeitet, indem auf einer Schautafel ein Eisenbahnsignalmast eingezeichnet und eine Lokomotive angedeutet wurde. Diese konzeptionellen Überlegungen und die ansprechende Gestaltung waren lohnend, da die Ausstellung als Publikumsmagnet viele Millionen Besucher verzeichnen konnte.217 5.3 Interne Kommunikation In diesen Bereich fällt vor allem die Kommunikation zwischen der Leitung einer Organisation und ihren Mitarbeitern. Diese manifestiert sich im Erarbeiten von Mitarbeiterzeitschriften oder in der Schulung des Teams. Im Folgenden sollen drei Zeitschriften vorgestellt werden, in denen Bahnhofsmissionarinnen und der Organisation nahestehende Personen Beiträge veröffentlichten. Das erste Organ richtete 216 Bericht über den zweiten Lehrgang der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission am 8.–11. Oktober 1926, ADW, CA, Gf/St 90. Die Ausstellung wurde zwar nicht von der Bahnhofsmission konzipiert, diente aber ihrer Öffentlichkeitsarbeit. 217 Nikles, Soziale Hilfe, S. 148–150.

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Abbildung 19: Die Bahnhofsmission wirbt für ihre Arbeit auf der Düsseldorfer Ausstellung „Gesundheitsfürsorge, soziale Arbeit und Leibesübung“, 1926

sich konkret an das bahnhofsmissionarische Personal, die anderen beiden an Mitarbeiterinnen der Inneren Mission in ihrer Gesamtheit. Alle drei Zeitschriften waren aber auch externen Leserinnen zugänglich. 5.3.1 Mitarbeiterzeitschriften Das vom Dachverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission herausgegebene Organ „Deutsche Bahnhofsmission“, war eine halbjährlich erscheinende Fachzeitschrift, bei der Theodora Reineck über mehrere Jahrzehnte lang für die Schriftleitung verantwortlich war.218 In dieser Zeitschrift wurden ausführliche Abhandlungen über für die Bahnhofsmission relevante Themen, aktuelle Informationen, die Neuerungen der bahnhofsmissionarischen Arbeit betrafen, sowie Nachrufe über verdiente Persönlichkeiten der Bahnhofsmission veröffentlicht. Außerdem diente die Zeitung dazu, über den jeweils aktuellen Stand der lokalen Bahnhofsmissionen zu informieren. Bahnhofsmissionarinnen, Pfarrer und andere, in der Wohlfahrtspflege aktive Personen, veröffentlichten auch in der vom Evangelischen Verband für die weibliche Jugend 1892 gegründeten Fachzeitschrift „Der Vorstände-Verband“, die unter 218 Die Zeitschrift veränderte drei Mal ihren Namen von „Deutsche Bahnhofsmission“ (bis 1915) über „Evangelische Deutsche Bahnhofsmission“ (bis 1931) zu „Evangelische Bahnhofsmission“ (bis 1939).

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dem Namen „Fürsorge für die weibliche Jugend“219 weitergeführt wurde und mit der vor allem Vereinsleiterinnen und –leiter der Jungfrauenvereine und „Berufsarbeiterinnen“ der Inneren Mission, zu denen auch einige Bahnhofsmissionarinnen gehörten, angesprochen werden sollten. Hier ging es um die Belange der evangelischen Jugend als Entität, wobei die Klientel und die Themen, die für Bahnhofsmissionarinnen wesentlich waren, wie „binnenwandernde junge Frauen“, „städtische Gefährdungen“ oder „Arbeitslosigkeit“, sowie die „Dienstleistungen der Bahnhofsmission“ einige Themenkomplexe unter vielen anderen waren. Darüber hinaus veröffentlichte die Bahnhofsmission auch in verschiedenen Zeitschriften der Inneren Mission eigene Beiträge. Zu nennen wäre hier das von Johann Hinrich Wichern begründete Organ des Central-Ausschusses der Inneren Mission „Fliegende Blätter aus dem Rauhen Hause zu Horn bei Hamburg“ und ihre Nachfolgezeitschrift „Die Innere Mission im evangelischen Deutschland“. Beide Periodika informierten über die Interessen der Inneren Mission, speziell über diakonische Aufgabengebiete, zu denen auch die der Bahnhofsmission gehörten, sowie über freie Wohltätigkeitsvereine. Bahnhofsmissionarische Beiträge zu den genannten Zeitschriften lieferten Männer und Frauen, die entweder beim Dachverband der Deutschen Bahnhofsmission beziehungsweise der Berliner Bahnhofsmission arbeiteten oder in deren Trägerverein, dem Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend, aktiv waren. Schwierig wird die Einschätzung des medialen Gestaltungsrahmens dadurch, dass eine Reihe der verfassten Artikel entweder gar nicht, nur mit einem Kürzel oder mit dem anonymen Hinweis „eine Bahnhofsmissionarin“ gezeichnet wurden und die Verfasserin im Dunkeln blieb. Zuweilen unterzeichneten auch Männer ihre Publikationen nicht. Das war vor allem bei eher beschreibenden Tätigkeitsberichten der Fall, im Gegensatz zu Artikeln, die inhaltliche Diskussionen anschoben oder sich in diese einschalteten. Aussagen lassen sich über jene schreibenden Frauen machen, deren Autorinnenschaft ebenso bekannt ist, wie deren berufliche Position innerhalb des bahnhofsmissionarischen Umfeldes. Dabei lässt sich feststellen, dass die Tatsache, dass Frauen zwar durch ihr öffentliches Engagement Präsenz im medialen Raum hatten, ihr Gestaltungsrahmen jedoch, der sich in der Häufigkeit der Publikationen und den Inhalten der Artikel zeigt, von verschiedenen Determinanten abhängig war.220 Ausschlaggebend für die Konstitution des medialen Raumes waren die Kriterien Geschlecht und Klasse in Verbindung mit einer „Rang-Dimension“, die bereits in anderen Bereichen bahnhofsmissionarischer Arbeit aufgezeigt wurde.221 Der publizistische Gestaltungsrahmen war dementsprechend sowohl unter den Geschlechtern, als auch unter den Frauen selbst verschieden groß. Die Möglichkeit, in den medialen Raum einzugreifen und sich an inhaltlichen Diskussionen zu beteiligen, 219 Bis 1898 hieß die Zeitschrift ‚Der Vorstände-Verband‘. Vgl. Fries-Lebusa. 220 Heike Fleßner schreibt hierzu: „Die Tatsache, daß wir es zwar mit einer Feminisierung des Berufsfeldes zu tun haben (…) die damit einhergehende starke Präsenz von Frauen [zeigt] sich aber nicht in einer entsprechenden Zunahme an gesellschaftlichem Status, öffentlichem Einfluß und politischer Entscheidungsteilhabe“. Vgl. Fleßner, hier: S. 9. 221 Vgl. hierzu FN 284.

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Abbildung 20: Ausschnitt eines Berichtes der Berliner Bahnhofsmissionarin Julie Lippert im Jahresbericht des Vereins Fürsorge für die weibliche Jugend 1905

hatten deshalb vor allem fest angestellte Frauen bürgerlicher Herkunft, die aufgrund ihrer Ausbildung eine relativ hohe Position in der jeweiligen Organisation einnahmen und durch die Aktivität in einem Ausschuss oder Gremium in Netzwerkstrukturen eingebunden waren. In erster Linie waren das die Frauen des Dachverbandes der Evangelischen Bahnhofsmission, die Geschäftsführerin Theodora Reineck, sowie ihre Vorgängerin Gertrud Müller.222 Beide Frauen äußerten sich häufiger und umfangreicher in den Printmedien als andere Bahnhofsmissionarinnen. Da beide viele Tagungen besuchten und dort Vorträge hielten, wurden Tagungsberichte, eigene Vorträge oder Berichte über die zahlreichen Rundreisen, die beide zu den verschiedenen Bahnhofsmissionen unternahmen, abgedruckt. Aber auch andere Frauen, die im Vorstand oder Ausschuss des Dachverbandes aktiv waren und Leitungsfunktionen in einer Wohlfahrtsorganisation hatten, wie Hulda Zarnack oder Hermine Bäcker, äußerten sich häufig und griffen auch in inhaltliche Diskussionen ein.223 Unter den Bahnhofsmissionarinnen, die vor Ort arbeiteten, waren es wiederum vor allem die fest angestellten Leiterinnen, wie die Leiterin der Berliner Bahnhofs222 Vgl. Müller, Die Bahnhofsmission; Reineck, Die Bahnhofsmissionarin. Vgl. auch das Kapitel IV.2.1.4 (Frauen in der Fachzentrale des Verbandes am Beispiel zweier Protagonistinnen) dieser Arbeit. 223 Hermine Bäcker, Evangelische Gefährdetenfürsorge, in: Evangelische Bahnhofsmission, 46. Rundschreiben, 1935, S. 24; Zarnack, 1912.

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mission, Else Brüggemann, die häufiger als andere Mitarbeiterinnen Artikel veröffentlichten. Die regelmäßigen Berichte der lokalen Bahnhofsmissionen, die in den Rundschreiben der Deutschen Bahnhofsmission erschienen, waren ebenso von den Leiterinnen verfasst worden.224 Berliner Bahnhofsmissionarinnen wie Eva Aleith, Annemarie Gibelius, Julie Lippert und Hedwig Storck waren teilweise durch ihr Engagement in der Bahnhofskommission des Vereins Wohlfahrt vernetzt, publizierten im Grunde aber nur in den Jahresberichten des Vereins, seltener hatten sie Gelegenheit, wie die Vereinsfrau Fräulein von Knoblauch, auch in Zeitschriften zu publizieren. Ihre Berichte konzentrierten sich im Allgemeinen auf die Erlebnisse und Erfahrungen bei der Arbeit vor Ort. So berichteten die Berlinerinnen ausführlich über ihr Engagement am Bahnhof im Ersten Weltkrieg, über den Heimalltag der verschiedenen Berliner Wohnheime und über Probleme, die mit Kolleginnen und Kollegen und/oder Reisenden auftraten. Auch appellierten sie in der einen oder anderen Weise an andere Frauen, sich in die karitative Arbeit einzubringen. Dabei gelang es ihnen immer wieder deutlich zu machen, dass die Arbeit, die von ihnen geleistet und durch die die städtische Not gelindert würde, unabdingbar sei.225 5.3.2 Schulung der Mitarbeiterinnen Die Schulungen der Mitarbeiterinnen waren Teil der Öffentlichkeitsarbeit des Dachverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission, weil ein breites Lehrgangsangebot zur Identifikation der Mitarbeiterinnen mit ihrer Organisation führte, was wiederum die Voraussetzung für eine effektive, einheitliche Außendarstellung war. In einem Schreiben an das Wohlfahrtsministerium, in dem der Zentralausschuss der Inneren Mission einen Überblick über den zurückliegenden ersten Lehrgang gab, wurde mit der Bedeutung der Öffentlichkeitsarbeit für die Organisation auch deren Bedarf an Mitarbeiterschulungen begründet: „Die Notwendigkeit und der Erfolg des Lehrganges hat sich vor allem dadurch bekundet, dass durch die besser geleistete Arbeit die Öffentlichkeit (Behörden und Volk) aufmerksam auf die Bahnhofsmission geworden sind, sodass dem Liebeswerk neue Ausbaumöglichkeiten gegeben und somit dem Volke grössere und bessere Hilfsmöglichkeiten geboten werden können“.226

Obwohl sich Sozialarbeit im Sinne der klassischen juristischen und medizinischen Berufe bis heute nicht professionalisiert hat, gab es doch im Kaiserreich eine deut224 Brüggemann, 1937, S. 14–15. 225 Aleith, S. [2–3]; Gibelius, in: Jahresberichte 1925–1927, S. 17–20; Julie Henriette Lippert, Bahnhofsmission, in: 14. Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1905, EZA, 7/13475, S. 6–9; Storck, in: Jahresberichte 1925–1927, S. 21–23. Fräulein von Knoblauch, Wie stärken wir unsere Freudigkeit zur Arbeit?, in: Bericht über die II. Konferenz der Deutschen Bahnhofs-Mission in Berlin am 20. April 1906, Berlin 1906, GStA PK, IHA Rep. 77 Tit. 1072, Nr. 44, Bl. 57–72, S. 17–19. Für die in der Bahnhofskommission aktiven Frauen Vgl. 17. Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1908, EZA, 7/13476, S. 25. 226 Schreiben des Central-Ausschusses für Innere Mission an das Preussische Wohlfahrtsministerium am 27. September 1926, ADW, CA, Gf/St 89, Blatt 44a.

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liche Entwicklung hin zu einer Verberuflichung sozialer Hilfe.227 Wie auch das Beispiel der Bahnhofsmission zeigt, entwickelten sich der soziale Beruf und das soziale Ehrenamt dabei parallel nebeneinander, wobei die Zahl der fest angestellten Bahnhofsmissionarinnen langsam aber kontinuierlich anstieg. Bahnhofsmissionarische Arbeit zu professionalisieren und einen eigenständigen Beruf daraus zu entwickeln war jedoch niemals Gegenstand der Diskussionen des Dachverbandes und der Lokalorganisationen, weil die finanziellen Mittel für eine lange Ausbildung fehlten und darüber hinaus die bahnhofsmissionarische Tätigkeit als nicht so umfassend galt, als dass sie über mehrere Jahre hätte erlernt werden müssen. Stattdessen entschloss sich der Dachverband der Deutschen Bahnhofsmission in den 1920er Jahren dazu, seine Mitarbeiterinnen durch verschiedene Kurs- und Lehrgangsmodule zu schulen. Bei den neu angestellten Frauen wurde zusätzlich darauf geachtete, dass diese bereits eine Ausbildung, beispielsweise in einer Frauenfachschule der Inneren Mission, durchlaufen hatten und dadurch wohlfahrtspflegerische Kenntnisse mitbrachten. Die folgenden Ausführungen verdeutlichen, dass die Schulungen einerseits zwar dazu dienten, den ehrenamtlich arbeitenden Frauen und den Festangestellten das bahnhofsmissionarische Aufgabengebiet näher zubringen. Andererseits steigerten die Kurse auch die Identifikation der Mitarbeiterinnen mit ihrer Organisation und verbesserten dadurch die Außendarstellung als Teil der Öffentlichkeitsarbeit des Dachverbandes. Wie entwickelte der Dachverband die Schulungen, wie erfolgreich war er mit diesen bei seinen Mitarbeiterinnen und wer führte den Unterricht durch? Für eine geschlossene Außenpräsentation war es wichtig, das Kennzeichnende der eigenen Tätigkeit, nämlich, das christliche Fundament der Arbeit, herauszustellen. Besonders in der NS-Zeit, als die Gesamtorganisation bedroht war, erschien das dem Dachverband überlebenswichtig. Wie wirksam war das Konzept vor allem nach 1933? Die Lokalorganisationen konzipierten zwar keine eigenen Schulungen. Allerdings wurden Hospitanzen auf lokaler Ebene durchgeführt. Die Mitarbeiterinnen der Berliner Bahnhofsmission veranschaulichten dann während eines begrenzten Zeitraumes den zu schulenden Frauen die tägliche Arbeit am Bahn­hof. Seitdem Theodora Reineck im Kaiserreich angestellt worden war, wurden Mitarbeiterinnenschulungen immer wieder thematisiert. Ein erster Kurs wurde zwar noch im Ersten Weltkrieg angeboten,228 mit regelmäßigen Schulungen begann man jedoch erst knapp ein Jahrzehnt später. Dass der Beginn regelmäßiger Schulungen erst in der Weimarer Republik aufgenommen, dann aber zielstrebig vorangetrieben wurde, hatte verschiedene Gründe. Im Kaiserreich wurde der Dachverband der Deutschen Bahnhofsmission erst aufgebaut und war damit beschäftigt, tragbare Strukturen auszubilden. Dieser Prozess war zwar im Ersten Weltkrieg abgeschlossen, aber die desolate wirtschaftliche Finanzlage zu Beginn der Weimarer Republik zwang den Dachverband dazu, Schulungen auf der Agenda erneut nach hinten zu 227 Sachße, Ehrenamtlichkeit, S. 51–55. 228 Lehrgang für Bahnhofsmissionarinnen, in: Evangelische Deutsche Bahnhofsmission, 18. Rundschreiben, 1916, S. 19.

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setzen. Schließlich wurde dem Dachverband immer deutlicher, dass Mitarbeiterschulungen nicht mehr aufgeschoben werden konnten. Es musste eine Strategie entwickelt werden, um gegenüber dem rasanten Ausbau des Wohlfahrtsstaates und der städtischen Wohlfahrtsarbeit in der Weimarer Republik konkurrenzfähig zu bleiben und Eigenständigkeit zu bewahren, um nicht „kommunalisiert“ zu werden.229 Die Kurse und Lehrgänge wurden von Theodora Reineck, der die Schulung der Mitarbeiterinnen ein ernstes Anliegen war, konzipiert. Durchgeführt wurde der Unterricht im Berliner Burckhardthaus von Personen, die bei der Bahnhofsmission oder ihr nahe stehenden Organisationen fest angestellt waren, wie beispielsweise vom Direktor des Trägervereins der Berliner Bahnhofsmission Willibald Jaehn. Männer übernahmen dabei, besonders in den Anfangsjahren, den Großteil der Vorträge. Später lehrten auch Frauen, wie Wohlfahrtsfürsorgerinnen oder Leiterinnen von lokalen Bahnhofsmissionen, vor allem, wenn theoretische Grundlagen mit praktischen Einblicken verbunden werden sollten.230 Mit Blick auf die Außendarstellung der Organisation wurden grundsätzlich alle Lehrgänge und Kurse, die von der Bahnhofsmission angeboten wurden, in einen kirchlich-theologischen Rahmen gestellt. Ziel war es, den Arbeitskräften zu vergegenwärtigen, dass sie innerhalb einer konfessionellen Institution arbeiteten, die ihrer Tätigkeit eine spezifische Ausrichtung und Legitimation gab. Die Frage, ob diakonisch-soziales Handeln überhaupt „christliche“ Arbeit sei, zeigt den virulenten Grundkonflikt zwischen verfasster Kirche und Diakonie. In Krisen- oder Umbruchzeiten wurden die Stimmen, welche die theologische Grundlage diakonischer Arbeit hervorgehoben wissen wollten, noch vehementer. In den wirtschaftlich und politisch krisenhaften Anfangsjahren der Weimarer Republik wurde in Kirchenkreisen deshalb zur Gewissheit, dass „‚unser Volk und unsere Kirche‘, das ist unbestreitbar, ‚neben dem Dienst des geordneten Pfarramtes mehr als je auch der außerordentlichen Verkündigung des Evangeliums auf alle mögliche Weise‘ [bedarf]“.231 Deshalb wurde die Bahnhofsmission in die Pflicht genommen, die sich nicht mehr nur auf fürsorgerische Tätigkeiten beschränken sollte, vielmehr müsste sie „ein Weg und ein Mittel der Missionierung werden, um ungezählten Volksgenossen, die dem Evangelium entfremdet sind, Tages- und Abendgrüße aus der Ewigkeit unseres Herren zu bringen“.232 Zwar übernahmen Bahnhofsmissionarinnen keine geistlichen Aufgaben, in dem sie Gottes Wort pastoral predigten, allerdings war auch für Theodora Reineck und den Verband Deutscher Bahnhofsmission das Evangelium selbstverständlicher Bestandteil der auszuarbeitenden Schulungen. Missionarische 229 Niederschrift der Ausschussberatung des Verbandes Evangelische Deutsche Bahnhofsmission am 12. November 1925, ADW, CA, Gf/St 90, S. 4. 230 So boten die bei der Bahnhofsmission angestellten Berliner Wohlfahrtsfürsorgerinnen Ilse Neidholdt und Frau Drope neben Vorträgen praktische Übungen an. Vgl. Niederschrift der 37. Ausschußsitzung des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission am 10. Mai 1932, ADW, CA, Gf/St 91, S. 3. 231 (…) Beutel, Vergangenheit und Zukunft der deutschen Bahnhofsmission, in: Die Innere Mission im evangelischen Deutschland, 17, 1922, S.111–113, hier: S. 112. 232 Ebd., S. 113.

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Arbeit am Bahnhof praktisch zu erleben, war deshalb für alle zu schulenden Mitarbeiterinnen vorgesehen, indem die Teilnehmerinnen die Bahnhofsmissionarinnen bei ihrem Dienst an den Berliner Bahnhöfen begleiteten. Die Frauen, die mehrwöchige Kurse besuchten, erhielten darüber hinaus auch einen Einblick in den Heim­ alltag. Angeboten wurden zwei Schulungsmodule, nämlich mehrtägige Lehrgänge und mehrwöchige Kurse.233 Während man mit den mehrtägigen Lehrgängen 1925 begann, liefen die mehrwöchigen Kurse erst vier Jahre später an und wurden 1932234 bereits wieder eingestellt. Die mehrtägigen Lehrgänge waren für „Berufsarbeiterinnen“ mit Berufserfahrung und für ehrenamtlich arbeitende Bahnhofsmissionarinnen gedacht. Angesprochen wurden damit Mitarbeiterinnen, die bereits Erfahrung mit dem bahnhofsmissionarischen Aufgabenfeld hatten. Die Lehrgänge sollten ein Basiswissen der Besonderheiten und Erfordernisse der Bahnhofstätigkeit vermitteln. Es wurden die Grundlinien sozialer Arbeit sowie wohlfahrtspolitische und rechtliche Aspekte thematisiert oder die Netzwerkbildung und Kooperation mit wohltätigen Vereinen und Heimen erörtert.235 Die mehrwöchigen Kurse wurden von neu angestellten Frauen ohne bahnhofsmissionarische Berufserfahrung besucht. Der Lehrplan für sie war umfangreicher als für die Berufsarbeiterinnen und die Ehrenamtlichen in den nur einige Tage laufenden Kursen. Die Basis der Kurse waren tägliche Bibelstunden und die Vermittlung der Bedeutung des kirchlichen Rahmens, um die seelsorgerischen Aspekte der Arbeit auf „dem Boden des Evangeliums“236 ausführen zu können. Es wurde eine Einführung in bahnhofsmissionarische Arbeit gegeben und ein Verständnis der ersten Hilfe vermittelt. Den Teilnehmerinnen wurden darüber hinaus administrative 233 Anfänglich war geplant die zu schulenden Frauen in drei statt zwei Kategorien einzuteilen, indem man die ehrenamtlich arbeitenden Frauen in einer extra Gruppe zusammenfassen und ihnen lediglich einwöchige „Crashkurse“, die grundsätzliche Kenntnisse für die Arbeit am Bahnhof vermittelten, anbieten wollte. Vgl. Frl. Weber, Ausbildung von Bahnhofsmissionarinnen, in: Bericht über die Tagung und III. Mitgliederversammlung des Verbandes Deutsche Bahnhofsmission am 8.–10. Mai 1926, S. 20–23, hier: S. 22. Dass eine Einteilung in ehrenamtliche und fest angestellte Kräfte vorgenommen wurde, die wiederum eine unterschiedliche Schulung erhalten sollten, zeigt erneut die Diskrepanz des Stellenwerts beider Frauengruppen. Der Umstand, dass die freiwilligen sozialen Hilfskräfte eine große Zahl der in der Bahnhofsmission arbeitenden Frauen ausmachte, hätte jedoch eine ebenso umfangreiche Schulung, wie sie für die fest angestellten Kräfte vorgesehen war, nicht nur gerechtfertigt, sondern nötig gemacht. 234 Im Gegensatz zu Nikles, Soziale Hilfe, S. 146, der das Jahr des letzten Schulungskurses auf 1931 legt, ist nach meinen Recherchen davon auszugehen, dass zumindest noch 1932 ein Kurs stattgefunden hat. Vgl. Niederschrift der 37. Ausschußsitzung des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission am 10. Mai 1932, ADW, CA, Gf/St 91, S. 3. 235 Bericht über den ersten Lehrgang der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission am 14.–18. Mai 1926 an das Preussische Wohlfahrtsministerium am 27. September 1926, ADW, CA, Gf/St 89. Vgl. auch Bericht über den zweiten Lehrgang der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission am 8.–11. Oktober 1926, ADW, CA, Gf/St 90. 236 Hermine Bäcker, Die Geschichte der Bahnhofsmission, Schreibmaschinenmanuskript [1966], ADW, HGSt 1425, Blatt 211.

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Kenntnisse, wie das Führen einer Kartothek und das Anlegen einer Akte, sowie ein Grundwissen der Buchführung gelehrt. Da an den ersten beiden mehrwöchigen Kursen nur etwa zehn Frauen teilgenommen hatten, ging die Zentrale der Deutschen Bahnhofsmission dazu über, die Kosten für Anreise, Unterkunft und Verpflegung zu übernehmen, so dass bei den darauffolgenden Kursen die Teilnehmerinnenzahl auf über 20 anstieg. Insgesamt nahmen im Verlauf von vier Jahren rund 70 neu angestellte Frauen das Kursangebot in Anspruch.237 1933 wurden die zweigeteilten Schulungsmodule – mehrwöchige Kurse auf der einen und mehrtägige Lehrgänge auf der anderen Seite – aufgegeben, um bis 1938238 nur noch ein einziges Modul anzubieten, das in seiner zeitlichen Dauer von Mal zu Mal variierte. Von nun an besuchten ehrenamtliche wie fest angestellte Bahnhofsmissionarinnen die Schulungen gemeinsam, ohne Unterschied, ob sie neu zur Organisation kamen oder schon länger für die Bahnhofsmission tätig waren. Für das Jahr 1935 ist bekannt, dass an dem vierwöchigen Schulungskurs 30 Frauen teilgenommen hatten.239 Die Zusammenlegung der Kurse und Lehrgänge ist vermutlich auf die Tatsache zurückzuführen, dass angesichts der wenigen bezahlten Stellen beim Dachverband oder den lokalen Bahnhofsmissionen, ein Kursangebot, das sich speziell an die neu angestellten „Berufsarbeiterinnen“ richtete, nicht mehr gerechtfertigt erschien.240 5.4 Zusammenfassende Betrachtung Die Betonung der christlichen Ausrichtung der Arbeit wurde nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten noch verstärkt. Da die Bahnhofsmissionen in ihrer Arbeit bedroht waren, erschien es notwendig hervorzuheben, dass die Mitarbeiterinnen nicht nur einen Dienst an den Reisenden erbrachten, sondern dass sie diesen mit christlicher Mission ausführten. Das war besonders wichtig, um das Spezifische der Organisation herauszustellen und die eigene Existenz zu legitimieren insbesondere nachdem staatliche Bahnhofsdienste eröffnet worden waren. Die Leitung des Dachverbandes ging davon aus, dass die Betonung des religiös-kirchlichen Momentes der bahnhofsmissionarischen Tätigkeit eine Schutzfunktion für die Einrichtung darstellte und konzipierte die neuen Schulungsmodelle deshalb so, dass die „bewusst evangelische Haltung der Bahnhofsmissionarinnen“241 sowie die „Besinnung auf den tragenden Grund christlicher Liebesarbeit“ deutlicher als zu237 Für die Anzahl der Teilnehmerinnen 1932 Vgl. Niederschrift der 37. Ausschußsitzung des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission am 10. Mai 1932, ADW, CA, Gf/St 91, S. 3. Für die Anzahl der Teilnehmerinnen in den Kursen 1929, 1930, 1931 Vgl. Niederschrift der 36. Ausschußsitzung des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission am 12. März 1931, ADW, CA, Gf/St 92. 238 Zwischen 1936–1938 gab es eine Pause der Schulungen. 239 Hermine Bäcker, Die Geschichte der Bahnhofsmission, Schreibmaschinenmanuskript [1966], ADW, HGSt 1425, Blatt 211/212. 240 Nikles, Soziale Hilfe, S. 146. 241 Die Rundschau. Mitteilungsblatt der Inneren Mission, 9, 1938, Nr. 12, S. 170.

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vor herausgestellt wurden. Gleichzeitig wollte der Dachverband bezüglich der christlichen Ausrichtung seiner Organisation Transparenz herstellen und darüber hinaus seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit staatlichen Organisationen signalisieren.242 Das war möglich, indem zuweilen auch Frauen der NS-Frauenschaft zu den Gemeindeabenden, die nach den Lehrgängen stattfanden, eingeladen wurden. Insgesamt wurden in den 13 Jahren, in denen Schulungen durchgeführt wurden, nur ein kleiner Teil der Mitarbeiterinnen erreicht. Das lag daran, dass eine Beteiligung an einem der Lehrgänge oder Kurse freiwillig war und davon abhing, ob die jeweilige Mitarbeiterin von ihrer Chefin für eine Weiterbildung von der Arbeit freigestellt wurde. Diejenigen Frauen allerdings, die eine Schulung durchlaufen hatten, schätzten das Angebot als sehr sinnvoll, wie der Dachverband an die lokalen Bahnhofsmissionen rückmeldete: „Von vielen Seiten ist uns zum Ausdruck gebracht worden, daß gerade durch den persönlichen Austausch unter sachkundiger Leitung den Teilnehmerinnen neue Möglichkeiten für erfolgreiche Inangriffnahme der Gegenwartsaufgaben erschlossen wurden“.243 Das Konzept, das Charakteristische der eigenen Arbeit zu verdeutlichen und dadurch die Identifikation mit der bahnhofsmissionarischen Organisation zu steigern, ging also bei den Frauen, die man mit den Schulungen erreichte, auf und diente damit dem Profil und Bestand der Gesamtorganisation. Für das sechsjährige Weiterbestehen der Bahnhofsmissionen während der nationalsozialistischen Herrschaft war es strategisch richtig, den kirchlichen Rahmen der bahnhofsmissionarischen Arbeit klarer herauszustellen, wenn es der Bahnhofsarbeit letztendlich auch nicht das Überleben sicherte. 6. Finanzierung und Öffentlichkeitsarbeit . von Verein und Dachverband im Kaiserreich und der . Weimarer Republik244 Viele Aktionen, die von der Berliner Lokalorganisation und dem Dachverband initiiert wurden, stellten eine Schnittmenge zwischen der Finanzierung und der Öffentlichkeitsarbeit der Bahnhofsmissionen dar. Einerseits ging man mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen und mit Hilfe medialer Mittel an die Öffentlichkeit, um die Bevölkerung für finanzielle Beihilfen zur Unterstützung der wohlfahrtspolitischen Arbeit zu gewinnen, andererseits wurden Finanzmittel für die Öffentlichkeitsarbeit in nicht unerheblichem Maße benötigt. Die Frauen der Berliner Bahn242 Ilse Neidholdt, Hauptversammlung und Lehrgang des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission, in: Die Rundschau. Mitteilungsblatt der Inneren Mission, 5, 1934, Nr. 11, S. 168. 243 Schreiben des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission an die lokalen Bahnhofsmissionen über den achten Lehrgang im Oktober 1932 am 17. August 1932, ADW, CA, Gf/St 94. 244 Für die finanzielle Lage der Berliner Bahnhofsmission und des Reichsverbandes Evangelische Deutsche Bahnhofsmission im nationalsozialistischen Staat vgl. das V. Kapitel (Die Berliner Bahnhofsmission und der Dachverband zwischen Zustimmung und politischem Kalkül: Der lange Weg bis zum Ende der Arbeit am Bahnhof 1933–1939) dieser Arbeit.

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IV. Der öffentliche Raum der Berliner Bahnhofsmission

hofsmission oder auch die Bewohnerinnen der Berliner Marienheime hatten an der Finanzierung des Lokalvereins und in späteren Jahren auch des Dachverbandes einen wesentlichen Anteil. Zwar beantragten sie keine finanziellen Mittel bei Ministerien; diese Aufgabe übernahm der Vereinsvorsitzende des Vereins Wohlfahrt. Allerdings traten sie entweder mit der Bitte um Spenden oder mit selbst gefertigten Handarbeiten, die auf Basaren verkauft wurden, an die Berliner Bevölkerung heran. Dass die Finanzierung der Organisationen mit Öffentlichkeitsarbeit einherging und diese wiederum die Organisationen subventionierte, wurde von einzelnen Personen, Organisationen und vor allem den Medien durchaus kritisch beobachtet. Dem Verein wurde hierbei vorgeworfen, bewusst irreführende Maßnahmen zur Gewinnsteigerung zu ergreifen und die Öffentlichkeit durch zensierte Meldungen zu täuschen. Während der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend von Anfang an für seine verschiedenen Tätigkeitsbereiche eine Mischfinanzierung ausbildete, musste der Dachverband eine Finanzierungsstrategie allmählich entwickeln und konnte erst in der Weimarer Republik zu einer eigenständigen Finanzierung seiner Organisation gelangen. Im Folgenden wird in einem ersten Schritt die Finanzierungsstrategie des Vereins Wohlfahrt und in einem zweiten Schritt die Finanzierungsmöglichkeiten des sich entwickelnden Dachverbandes sowie die miteinander verzahnte Finanzierung beider Organisationen veranschaulicht. Dabei wird nachgezeichnet, wie erst durch den voll funktionierenden Dachverband eine Finanzierung von lokaler und übergeordneter Ebene möglich wurde. Das wird deutlich an Sammelaktionen, die der Dachverband staatlicherseits beantragte, diese von den Bahnhofsmissionarinnen an den Berliner Bahnhöfen durchgeführt wurden und dadurch sowohl die regionale als auch die überregionale Organisation finanziert werden konnten. 6.1 Finanzierung des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend Der Berliner Lokalverein Wohlfahrt der weiblichen Jugend legte qua Satzung die Möglichkeiten seiner Subventionierung fest und verfügte über Einnahmen aus verschiedenen Geldquellen.245 Erträge hatte er aus seinem Hausgrundstück in der Borsigstraße 5, seinen Hospizen, aus Mitgliedsbeiträgen, aus Spenden, die an der Arbeit interessierte Bürger und im Kaiserreich auch die Kaiserin überreichten, aus Kirchenkollekten, Verkäufen von Druckmaterialien und von Handarbeiten, die durch Heiminsassinnen angefertigt wurden, sowie kirchlichen, städtischen und staatlichen Beihilfen wie die 1,50 Reichsmark Pflegegeld, die das Berliner Wohlfahrtsamt dem Verein täglich für die Unterbringung von auf Wohnungssuche befindlichen Frauen zahlte.246 Der Vereinsvorsitzende versuchte aber nicht nur kommunale Ämter für die Finanzierung der Vereinsaktivitäten zu gewinnen, sondern beantragte auch staatliche Beihilfen entweder beim Innenminister oder dem Minis245 Vgl. Satzung des Vereins, in: Entwickelung, hier: S. 5. Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1928–1929, EZA, 7/13477, S. 21. 246 Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1928–1929, EZA, 7/13477, S. 11 und 15.

6. Finanzierung und Öffentlichkeitsarbeit von Verein und Dachverband

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ter für Volkswohlfahrt. Der Verein Wohlfahrt verstand sich besonders im Kaiserreich als staatstragende Organisation, die aufgrund ihrer weltanschaulichen Ausrichtung unterstützungswürdig sei. So rechtfertigte der Verein die geforderte, staatliche finanzielle Unterstützung unter anderem damit, dass er im Sinne des Staates arbeite, weil er die Einflussversuche der Sozialdemokratie auf die jungen nach Berlin wandernden Frauen abwende und diesen stattdessen christlich-nationale Werte entgegensetze.247 Laufende Unterstützung wurde zwar nicht gewährt, aber die Ministerien waren zu außerordentlichen Hilfeleistungen bereit und auch über das Kaiserreich hinaus um ein gutes Verhältnis zu den bahnhofsmissionarischen Trägervereinen bemüht. So bemerkte der Minister für Volkswohlfahrt in einem internen Schrei­ben an den Preußischen Innenminister, dass „die Bestrebungen der Bahnhofsmission treibenden Vereine hier wärmste Förderung und Unterstützung [finden]“.248 Auch „die Stadt Berlin [subventionierte] sie [die Bahnhofsmission, A. M. K.] mit einem sehr erheblichen Beitrag“,249 weil durch das bahnhofsmissionarische Tätigkeitsspektrum die Kommune erheblich entlastet wurde und ihr durch vergleichsweise geringen finanziellen Aufwand großer wohlfahrtspolitischer Nutzen entstand. Wenn der Verein finanzielle Unterstützung erhalten wollte, war es unumgänglich, Ministerien, städtische Ämter und andere Spender über die Aktivitäten des Vereins informiert zu halten. Dafür wurden jährlich detaillierte und teilweise illustrierte Jahresberichte herausgegeben, die der Vereinsgeistliche oder Vereinsvorsitzende verfasste und die durch Schilderungen von Bahnhofsmissionarinnen oder Heimleiterinnen ergänzt wurden. Finanzielle Einnahmen waren jedoch nicht nur für die Öffentlichkeitsarbeit und die Herstellung von Druckmaterialien nötig, sondern auch um größere Anschaffungen zu realisieren, Heim-Modernisierungen durchzuführen, oder um dem Verein in politisch und ökonomisch unruhigen Zeiten das Überleben zu sichern. Im Ersten Weltkrieg wurden sowohl die Hospize als auch die so genannten Passantinnenheime sehr viel weniger frequentiert und warfen dementsprechend kleinere Erträge ab.250 Zusätzliche Ausgaben entstanden dem Verein durch seine Aktivitäten an der „Heimatfront“. Mindestens eines der Heime wurde für Flüchtlinge bereitgestellt251 und die Truppen an verschiedenen Berliner Bahnhöfen kontinuierlich mit Essen versorgt. Den finanziellen Problemen versuchte der Verein zu begegnen, indem er Mitglieder und Unterstützer um Sachmittel, wie gut erhaltene Möbel, bat, so dass beschädigte und alte Einrichtungsgegenstände kostengünstig ersetzt werden konnten. Relativ erfolgreich scheint der Verein durch die Ausgabe von Darlehensscheinen zu je 100 M gewesen zu sein, die verzinst nach einer Zeit von fünf bis

247 Schreiben des Vereins Wohlfahrt für die weibliche Jugend an das Preußische Innenministerium, 30. März 1912, GStA PK, I HA, Rep. 77, Tit. 1072, Nr. 37, Bd. 2. 248 Schreiben des Preußischen Ministers für Volkswohlfahrt an den Preußischen Minister des Innern am 17. Mai 1923, GStA PK, I HA, Rep. 77, Tit. 435, Nr. 1, Bd. 2, Blatt 93. 249 Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1928–1929, EZA, 7/13477, S. 16. 250 Der Berliner Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend, 1916, S. 227–231, hier: S. 229. 251 Schreiben des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend an den Evangelischen Oberkirchenrat am 2. September 1915, EZA, 7/13476, S. 1–4 (eigene Zählung), hier: S. 2.

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zehn Jahren wieder zurückgezahlt wurden.252 In der Weimarer Republik hatte der Verein mit seinen Dauer-Wohnheimen, die sich nicht voll besetzen ließen, Probleme. Für seine Schwierigkeiten machte er die wirtschaftliche Lage des Mittelstandes verantwortlich, weil sich daraus die Klientel rekrutierte, die in den Häusern wohnte. Diese Probleme glich er jedoch mit seinem Hospiz, dass das finanzielle Standbein des Vereins darstellte, und den „Passantinnenheimen“ aus, die – anders als noch im Kaiserreich – keine Belegungsnot hatten.253 Öffentlichkeitswirksame Aktionen, von denen noch die Rede sein wird, waren zusätzlich zu den genannten Einnahmequellen ein weiterer finanzieller Rückhalt. 6.2 Finanzierung des Dachverbandes Da 1894, als mit organisierter bahnhofsmissionarischer Arbeit begonnen wurde, der Dachverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission noch nicht existierte, gab es auch keine Finanzierung desselben. Die Anfänge eines überregional arbeitenden Dachverbandes wurden erst 1897, durch die Gründung der Kommission der Deutschen Bahnhofsmission, gemacht, die sich fortan um die Finanzierung kümmerte. Hauptsächlich kamen die Einnahmen für die im Entstehen begriffene Deutsche Bahnhofsmission von den beiden tragenden Verbänden, dem Evangelischen Verband der weiblichen Jugend und dem Verein Freundinnen junger Mädchen. Staatliche Unterstützung scheint die Kommission der Deutschen Bahnhofsmission weniger in finanziellen Beihilfen als durch die Abnahme von Druckmaterialien erhalten zu haben. So machte das Preußische Innenministerium sowohl verschiedene Landräte als auch die ihm unterstellten Behörden auf die Tätigkeit der Organisation aufmerksam und veranlasste, dass mehrere Tausend Druckerzeugnisse bei der Kommission wie die Werbeschrift „Die Bahnhofsmission“ und „Fürsorge für die nach Berlin ziehenden weiblichen Dienstboten“ abgenommen wurden.254 Nachdem sich mit der Stelle einer Geschäftsführerin die Deutsche Bahnhofsmission administrativ verselbständigt hatte, wurden die Lokalvereine wie der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend aufgefordert, Beiträge an die Kommission der Deutschen Bahnhofsmission zu zahlen und 1916, als der Dachverband Rechtsstatus erhalten hatte, wurden die Zahlungen auf ein regelmäßiges Fixum festgelegt. Der Dachverband konstatierte: „Freilich müssen sie [die regionalen Bahnhofsmissionen, A. M. K.] sich dann als eine Familie, deren Glieder alle gleiche Pflichten und Rechte haben, betrachten. (…) Die Pflichten bestehen nicht nur im idealen Zusammenhang, sondern auch darin, daß gemeinsame neue Gebäude auf eine feste Grundlage zu stellen und es durch regelmäßige Beiträge zu erhalten“.255

252 Der Berliner Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend, 1916, S. 227–231. 253 Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1925–1927, BDW C I 2927, S. 9. 254 Dankschrift des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend an den Preußischen Minister des Innern am 4. Oktober 1897, GStA PK, I HA, Rep. 77, Tit. 1072, Nr. 37, Bd. 1, Blatt 77–80. 255 Theodora Reineck, Einleitung/Reisen der Generalsekretärin, in: Evangelische Deutsche Bahnhofsmission, 19. Rundschreiben, 1916, S. 1–7, hier: S. 2.

6. Finanzierung und Öffentlichkeitsarbeit von Verein und Dachverband

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Nach dem Ersten Weltkrieg waren dem Verband hohe Ausgaben durch den Bau einer eigenen Zentrale, die in der Kaiserswerther Straße in Dahlem gebaut wurde, sowie durch die Professionalisierung der Öffentlichkeitsarbeit entstanden, so dass er nun staatliche Beihilfen beantragte und auch erhielt. Zu diesem Zweck wurde die Sammlung „Reise um die Welt mit der Bahnhofsmission“ genehmigt und veranstaltet. Die Sammelblätter zeigten einen Zug mit zehn Abteilen, der um die Welt zum geplanten Haus in der Kaiserswertherstraße 15 führte. Die Spender konnten für 50 Pfennig einen Platz im Zug erwerben. Insgesamt erbrachte die Sammlung einen Ertrag von 10 000 M und weitere10 000 M wurden vom Innenministerium gestiftet.256 Das Innenministerium genehmigte für Preußen darüber hinaus eine am 24. und 25. September 1920 veranstaltete und vom Dachverband durchgeführte Lotterie, die einen Erlös von 300 000 M einbrachte. Der Lotterieplan sah vor, 272 727 fortlaufend nummerierte Lose zum Preis von je 3,30 M zu verkaufen. Zur Verlosung kamen Gewinne zu einem Gesamtbetrag von 300 000 M, wobei Gewinne für insgesamt 11  989 Personen vorgesehen waren. Hierbei gab es vier Hauptgewinne für insgesamt 110  000  M. Die Ziehung fand in Berlin in der Preußischen GeneralLotterie-Direktion statt.257 Öffentlichkeitswirksame Aktionen, wie die Organisation von Gewinnspielen und Wettbewerben, dienen sowohl der Außenwerbung einer Organisation als auch der Kommunikation mit der Zielgruppe. An der Idee der Durchführung einer Lotterie wird deutlich, dass der Dachverband der Deutschen Bahnhofsmission in vielfältiger Weise sowohl am Erhalt als auch am Ausbau der eigenen Organisation arbeitete und finanzielle Erwägungen sowie öffentlichkeitswirksamen Nutzen miteinander verband. Finanzielle Unterstützung beantragte der Dachverband beim Innenministerium auch für Vorträge, Lehrgänge und Schulungen der Mitarbeiterinnen258 und für zu druckendes Arbeitsmaterial, das man den neu eintretenden Bahnhofsmissionarinnen aushändigen wollte. In seinem Beihilfegesuch an das Innenministerium machte der Dachverband deutlich, warum die Anleitung seiner Bahnhofsmissionarinnen dringend war: „Eine besondere Aufmerksamkeit muß die Deutsche Bahnhofsmission ferner den vielen auswanderungssüchtigen Mädchen zuwenden, ehe sie durch leichtsinnige Inserate angelockt, die Heimat verlassen. Gerade die Berührung in den Wartesälen, wo manches Gespräch an das Ohr der Helferin kommt, gibt Gelegenheit zu mütterlicher und vernünftiger Beratung auf diesem 256 Hermine Bäcker, Die Geschichte der Bahnhofsmission, Schreibmaschinenmanuskript [1966], ADW, HGSt 1425, Blatt 45. 257 Lotterie- und Gewinnplan der Deutschen Bahnhofsmission 1919, GStA PK, IHA, Rep. 77, Tit. 1072, Nr. 37, Bd. 2, Blatt 421. Das Spielkapital betrug 900 000 M. Das Innenministerium erlaubte einen Reinerlös für die Deutsche Bahnhofsmission von 300 000 M und die Gewinne betrugen ebenfalls 300 000 M. Vgl. Schreiben des Ministers des Innern an den Verband Evangelische Deutsche Bahnhofsmission am 3. Januar 1920, GStA PK, IHA, Rep. 77, Tit. 1072, Nr. 37, Bd. 2, Blatt 424. 258 Gesuch um Beihilfe der Deutschen Bahnhofsmission an das Preußische Ministerium des Innern am 22. Februar 1922, GStA PK, I HA, Rep. 77. Tit. 435, Nr. 1, Bd. 1. Blatt 235, S.1. Vgl. auch Schreiben der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission an das Preussische Ministerium für Volkswohlfahrt am 24. September 1928, ADW, CA, Gf/St 89, Blatt 59 a und b.

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IV. Der öffentliche Raum der Berliner Bahnhofsmission Gebiet. Dafür müssen aber wiederum die Helferinnen sorgfältig ausgearbeitetes Material erhalten, um entweder rechtzeitig abzuraten oder die Verreisenden an die richtigen Stellen zu weisen“.259

6.3 Verzahnte Finanzierungsstrategien Der Dachverband und die Berliner Lokalorganisation unternahmen auch gemeinsame Aktionen, um ihre finanzielle Basis zu sichern. So bat der Dachverband bei staatlichen Stellen um die Erlaubnis, Sammlungen an den Bahnhöfen durchführen und Wohlfahrtspostkarten zum Verkauf anbieten zu dürfen. Für die Realisierung der Aktionen waren dann jedoch die lokalen Bahnhofsmissionen und ihre Mitarbeiterinnen verantwortlich. Der größte Anteil der Erträge ging dabei an die Lokalorganisationen und ein geringerer Prozentsatz an den Dachverband oder die Interkonfessionelle Kommission, wenn Aktivitäten gemeinsam mit der katholischen Bahnhofsmission durchgeführt wurden. Ab dem Jahr 1919 gab der Staatskommissar für die öffentliche Wohlfahrtspflege über mehrere Jahre seine Zustimmung, dass der Dachverband drei Millionen Wohlfahrtspostkarten für 50 bis 60 Pfennige pro Stück vertreiben konnte.260 Umfangreichere Einnahmen erhielt man jedoch erst 1923, als der Reichsverkehrsminister öffentliche Sammlungen auf den Bahnhöfen bewilligte.261 Um junge Frauen als Sammlerinnen in den Lokalvereinen rekrutieren und Erfolg versprechende Sammlungen durchführen zu können, warb der Dachverband im Vorfeld für die Durchführung der Kollekten in Zeitschriften wie der „Deutschen Mädchenzeitung“ oder der „Weiblichen Jugend“ und wies mit Blick auf die Öffentlichkeit auch auf die Notwendigkeit eines geordneten Ablaufs der Sammelaktionen hin.262 Wie die Leiterin der Evangelischen Berliner Bahnhofsmission, Else Brüggemann, ausführte, erwirtschaftete ihre Organisation 1927 an zwei aufeinander folgenden Tagen auf 52 Berliner Bahnhöfen einen Reinertrag von über 2  500 RM nach Abzug sämtlicher Unkosten und der vereinbarten 20 Prozent, die an die Zentrale der Interkonfessionellen Kommission für Bahnhofsmission abgegeben wurden,263 weil die Sammlung gemeinsam mit der katholischen Bahnhofsmission 259 Gesuch um Beihilfe des Verbandes Evangelische Deutsche Bahnhofsmission an das Ministerium des Innern am 4. März 1920, GStA PK, I HA, Rep. 77, Tit. 1072, Nr. 37, Bd. 2, Blatt 430–431. 260 Vgl. Schreiben des Verbandes Evangelische Deutsche Bahnhofsmission an den Staatskommissar für die öffentliche Wohlfahrtspflege am 13. November 1919, GStA PK, I HA, Rep. 191, Nr. 3883. Vgl. ebenso: Schreiben des Preußischen Staatskommissars für die Regelung der Wohlfahrtspflege an den Verband Evangelische Deutsche Bahnhofsmission am 3. Juni 1927, GStA PK, I HA, Rep. 191, Nr. 3883. Vgl. auch Ausschußsitzung des Verbandes Evangelische Deutsche Bahnhofsmission am 14.11. 1924, ADW, CA, Gf/St 90, S. 3. 261 Für das Jahr 1923 wurden vier Sammlungen vom Reichsverkehrsminister bewilligt. Vgl. Schrei­ben des Verbandes Evangelische Deutsche Bahnhofsmission an den Centralausschuß für Innere Mission am 22. Dezember 1922, ADW, CA, Gf/St 89, Blatt 19 a und b. 262 Theodora Reineck, Evangelische Deutsche Bahnhofsmission, in: Weibliche Jugend 34, 1925, Heft 9, S. 219. 263 Schreiben des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend an den Polizeipräsidenten zu Berlin

6. Finanzierung und Öffentlichkeitsarbeit von Verein und Dachverband

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Abbildung 21: Junge Frauen, die in den Heimen des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend wohnten oder in einem Berliner Jungfrauenverein organisiert waren, halfen bei den Bahnhofssammlungen, 1920er Jahre

durchgeführt worden war. In einer weiteren Sammlung, die noch im selben Monat an zwei Tagen stattfand, konnten ähnliche Sammlungsergebnisse erzielt werden. Dabei waren die Erträge, die auf den einzelnen Bahnhöfen erzielt wurden, unterschiedlich hoch und lagen zwischen knapp drei RM am Bahnhof Putlitzstraße und über 600 RM auf dem Potsdamer Ring- und Wannseebahnhof. Die Hoch- und Untergrundbahnen brachten hierbei generell weniger Gewinn als die Fernbahnhöfe, vermutlich, weil auf letzteren mehr Menschen unterwegs waren und auf Reisen befindliche Personen eher bereit waren für einen „guten Zweck“ zu spenden. Aus der Statistik geht nicht hervor, welchen Anteil die evangelische Organisation an dem Sammelergebnis hatte, da die Liste die gesammelten Erträge von evangelischer und katholischer Bahnhofsmission gemeinsam erfasste und die protestantische Seite nicht gesondert aufgeführt wurde. Es ist aber davon auszugehen, dass die Hälfte des auf dem Bahnhof gesammelten Betrages an die jeweilige Organisaam 4. April 1928, GStA PK, I HA, Rep. 191, Nr. 3884, Blatt 17. Die Interkonfessionelle Kommission war das Gremium für die überörtliche Zusammenarbeit der evangelischen und katholischen Bahnhofsmissionen und -dienste. Vgl. FN 349.

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IV. Der öffentliche Raum der Berliner Bahnhofsmission

tion ging. Die drei im ersten Teil der Arbeit näher untersuchten Bahnhöfe konnten dabei gute Gewinne erzielen. Während auf dem Anhalter Bahnhof über 550 RM gesammelt werden konnte, lagen die Sammelerträge des Schlesischen und Stettiner Bahnhofs bei etwa der Hälfte, was im Gesamtvergleich der 52 Bahnhöfe immer noch überdurchschnittlich hoch war.264 Einzelpersonen, Parteien, Politiker und vor allem die Presse übten große Kritik an der Verquickung von Finanzierung und Öffentlichkeitsarbeit sowie den scheinbar unangemessenen Methoden, die zur Finanzierung der Organisation angeblich angewandt wurden. Journalisten verdächtigten Wohlfahrtsorganisationen generell, dass sie hinsichtlich ihrer Finanzierungsstrategien nur bestimmte Fakten an die Öffentlichkeit bringen würden. Sie unterstellten diesen, eine Pressearbeit zu betreiben, die selektive Meldungen an die Öffentlichkeit gelangen ließ, andere unterschlug und dadurch gerechtfertigtes Misstrauen auf sich zog. Beanstandet wurde deshalb der nicht nachvollziehbare Spendenfluss und es wurde in Frage gestellt, dass das Geld überhaupt bahnhofsmissionarische Einrichtungen erreiche. Die Berliner Bahnhofsmission wurde unter dem Titel „Was geht in der Bahnhofsmission vor?“ von der Vossischen Zeitung scharfen Angriffen ausgesetzt, weil sie angeblich den Wohlfahrtskartenverkauf mit „an dem Erlös prozentual beteiligten Agenten betreibe“.265 Vermutet wurde, dass es sich um ein von der Bahnhofsmission gedecktes Gewerbe handele und mit der Arglosigkeit der Bevölkerung Profite erzielt worden seien. So berichtete der Preußische Staatskommissar zur Regelung der Wohlfahrtspflege dem Polizeipräsidenten, dass bei Sammlungen in Berlin den beteiligten Organisationen vorgeworfen würde, eine Irreführung der Öffentlichkeit beabsichtigt zu haben, da die Sammelbüchsen mit der Aufschrift „Krüppel, Blinde, arme Kinder“ versehen worden waren und diese Personengruppen nur eine unbedeutende Rolle im bahnhofsmissionarischen Aufgabengebiet spielen würden.266 Weder Polizei noch Reichsbahngesellschaft hatten indes ein Interesse daran, die Arbeit der Bahnhofsorganisationen zu behindern und brachten keinerlei Kritik vor.267 Der Berliner Bahnhofsmission entstanden deshalb keine nachteiligen Konsequenzen und sie konnte ihre Sammlungen auch in den folgenden Jahren durchführen. Bedenkt man die häufig prekäre finanzielle Lage des Dachverbandes der Bahnhofsmission oder des Berliner Lokalvereins, so ging es ihnen wohl in erster Linie darum, Geldmittel zu organisieren, die die pekuniäre Situation entspannten. Aus diesem Grund brachten sie auf den Sammelbüchsen Schilder an, die für Spenden warben, die Blinden, Behinderten und Kindern zugute kommen würden, was tatsächlich eine von der Bahnhofsmission betreute Teilklientel abdeckte. Dass die Bahnhofsmissio264 Schreiben des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend an den Polizeipräsidenten zu Berlin am 4. April 1928, GStA PK, I HA, Rep. 191, Nr. 3884, Anlage 1, Blatt 18. 265 Bericht des Evangelischen Presseverbands für Deutschland am 17. Juli 1924 über den Artikel in der Vossischen Zeitung, Nr. 316 vom 5. Juli 1924, ADW, CA, Gf/St 99. 266 Schreiben des Preußischen Staatskommissars für die Regelung der Wohlfahrtspflege an den Polizeipräsidenten in Berlin am 19. September 1929, GStA PK, I HA, Rep. 191, Nr. 3884, Blatt 44–45. 267 Schreiben des Polizeipräsidenten an den Preußischen Staatskommissar für die Regelung der Wohlfahrtspflege am 6. März 1930, GStA PK, I HA, Rep. 191, Nr. 3884, Blatt 63, 64, 69.

6. Finanzierung und Öffentlichkeitsarbeit von Verein und Dachverband

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nen dabei für jene Personen warben, von denen sie annahmen, dass sich die Spendenfreudigkeit am ehesten aktivieren ließ, deutet weniger auf bewusst betrügerische Irreführungen als vielmehr auf die finanzielle Notsituation und, im besten Falle, auf einen wirtschaftlichen Blick der Bahnhofsmissionen hin, um die öffentlichen Räume nicht nur zu erhalten, sondern auch auszubauen. 6.4 Zusammenfassende Betrachtung Das am Anfang der Arbeit ausführlich beschrieben Konzept wird nun in Zusammenhang gesetzt mit den erarbeiteten Ergebnissen über den (Handlungs-)Raum von Frauen auf Vereins- und Verbandsebene. In den vorangegangenen Ausführungen standen die Vereins- und Verbandsräume der Bahnhofsmission im Mittelpunkt. Verbunden war damit die Frage, welche Frauen die Möglichkeit hatten, auf diesen Ebenen Räume zu konstituieren. Sowohl Vereins- als auch Verbandsfrauen konnten einen befriedigenden Tätigkeitsbereich durch ihr Engagement finden. Das Argument, dass es zwei gesellschaftliche Sphären gäbe, denen die Geschlechter zugeordnet werden können, nämlich die öffentliche den Männern und die private den Frauen, konnte am Beispiel der verschiedenen Frauengruppen entkräftet werden, die auf vielfache Weise im öffentlichen Raum aktiv wurden. Sowohl im Verein als auch im Verband stellten die Frauen häufig die Mehrheit im Vorstand. Gemeinsam mit ihren männlichen Mitstreitern entschieden die meist verheirateten Frauen des Vorstandes über alle Belange, die das Vereinsinteresse berührten, mit. Das konnte die Schaffung von Heimathäusern genauso betreffen wie die Einrichtung von Koch- und Haushaltungsschulen oder von Stellenvermittlungen. Die Vereinsfrauen waren ebenso in Finanzentscheidungen und die Personalpolitik involviert oder berieten darüber, wie der Verein zur Frage der gewerkschaftlichen Anbindung von Dienstmädchen stand. Manche gaben Zeitschriften heraus, waren als Schriftleiterinnen tätig oder gründeten Jungfrauenvereine oder Waisenhäuser. Unverheiratete Vereinsfrauen wurden als Heimleiterinnen oder Vorsteherinnen beispielsweise der Vereinsarbeitschule angestellt, engagierten sich in Vereinskommissionen und veröffentlichten Artikel in den Vereinsjahresberichten oder schrieben Beiträge in verschiedenen Zeitschriften. In Ausschuss und Vorstand des Dachverbandes der Deutschen Bahnhofsmission waren zumeist Frauen aktiv, die eine relativ hohe Position einnahmen, häufig als Generalsekretärinnen verschiedener Organisationen. Die Frauen, die direkt beim Dachverband selbst angestellt waren, wurden in die Öffentlichkeitsarbeit im Bereich „interne Kommunikation“ mit einbezogen. Einige stellten Schulungsmappen zusammen, die an verschiedene Bildungsträger geschickt wurden und über die Bahnhofsmissionen informierten, sie gaben Gedichtbände mit heraus oder verfassten Artikel für verschiedene Zeitschriften. Bezogen auf Umfang und Reichweite der Tätigkeit, hatten vor allem die zwei Verbandsgeneralsekretärinnen eine umfangreicherer Stellung. Sie vereinten mehrere Ämter in ihrer Person und waren beispielsweise Schriftleiterinnen und Geschäftsführerinnen in verschiedene Organisationen.

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IV. Der öffentliche Raum der Berliner Bahnhofsmission

In der Berliner Bahnhofsmission waren es ebenso die fest angestellten Frauen, die neben der Tätigkeit am Bahnhof auch anderer Aufgabengebiete abdeckten. So wurden sie für die Besuchsarbeit in den Gemeinden herangezogen oder waren in dem Bahnhofskomitee des Vereins aktiv, sie schrieben Beiträge in Zeitschriften und in den Jahresberichten und arbeiteten als Kursleiterinnen bei Schulungen der Bahnhofsmissionarinnen. Die Leiterinnen von Bahnhofsmissionen konnten sich darüber hinaus auch im Vorstand und Ausschuss des Dachverbandes Deutsche Bahnhofsmission engagieren und vernetzen. Ob diese Handlungsräume mit Macht ausgestattet waren, soll hier noch einmal kritisch hinterfragt werden. Die vier Determinanten, die Martina Löw als Raum konstituierend, das heißt mit Macht beziehungsweise Einfluss ausgestattet, beschreibt, beziehen sich erstens auf die Reichtums-Dimension, zweitens auf die Wissens-Dimension, drittens auf die Rang-Dimension, und schließlich auf die Assoziations-Dimension. Viele Frauen, sowohl an den Bahnhöfen als auch im Verein, waren ehrenamtlich aktiv und arbeiteten ohne Besoldung. Das ehrenamtliche Engagement war einem bürgerschaftlichen Selbstverständnis geschuldet und öffnete Frauen überhaupt erst die Möglichkeit öffentlich aktiv zu werden. An dieser Stelle muss Löws Theorie der Reichtums-Dimension eingeschränkt werden, weil nur das Ehrenamt, also die fehlende Bezahlung, öffentliche Aktivitäten vieler Frauen gesellschaftsfähig machte. Gleichzeitig blieben diese Frauen natürlich in Abhängigkeit zum Ehemann oder der versorgenden Familie, was ihre Handlungsräume stark schmälerte. Die Gehälter angestellter Vereinsfrauen beispielsweise als Heimvorsteherinnen wiederum waren auch nicht so umfangreich, dass die Frauen davon komplett selbständig leben konnten. Weitgehend finanziell unabhängig waren nur die Generalsekretärinnen des Verbandes, deren Anzahl in einem Zeitraum von 50 Jahren auf zwei beschränkt blieb. Die Berufstätigkeit von Vereins- und Verbandsfrauen war generell an den Verzicht der Ehe und somit auch an Kinder gekoppelt. Wollte eine Frau eine Familie gründen, musste sie hierfür ihren Beruf und damit auch die finanzielle (Teil-)Autonomie aufgeben. Mit der Raumkonstitution eng verbunden sind zwei Ebenen, die Löw die Wissens- und Rang-Dimension nennt. Festanstellungen bekamen überhaupt nur Frauen, die vorher eine bestimmte Ausbildung absolviert hatten. Aufgrund des Konzepts der geistigen Mütterlichkeit, das Frauen eine Möglichkeit gegeben hatte im öffentlichen Raum aktiv zu werden, hatte die soziale Mission gegenüber dem Erwerb immer den Vorrang. Das führte dazu, dass Leitungspositionen in Wohlfahrt und Administration nur in Ausnahmefällen mit gut ausgebildeten Frauen besetzt wurden. Weder Festanstellung noch gute Ausbildung führten daher notwendigerweise zu einer höheren Position. So waren die Posten des Geschäftsführers der Berliner Bahnhofsmission, die des Präsidenten des Dachverbandes der Deutschen Bahnhofsmission oder die meisten Vorstandsposten im Verein Wohlfahrt ausschließlich mit Männern besetzt. Gute Vernetzung ist ein weiteres Kriterium, das nach Löw Raum konstituierend und mit Macht und Einfluss ausgestattet ist. Auch diese Möglichkeit hatten vor allem angestellte Frauen, die durch ihre Festanstellung in ein Netzwerk von

6. Finanzierung und Öffentlichkeitsarbeit von Verein und Dachverband

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Ausschüssen und Komitees eingebunden waren und sich – besonders seit der Weimarer Republik – im Verband der Berufsarbeiterinnen organisieren konnten. Das war Ehrenamtlichen ab den 1920er Jahren nicht mehr gestattet. Die analysierten Frauengruppen bewegten sich also nicht nur in der Privatsphäre, sondern waren im öffentlichen Raum der Stadt in vielfältiger und unterschiedlicher Weise aktiv. Ihre konstituierten (Handlungs-)Räume variierten über einen Zeitraum von fünf Jahrzehnten und erweiterten sich oder wurden wieder eingeschränkt. Bedenkt man jedoch die obigen Ausführungen und darüber hinaus auch, wie sehr die bahnhofsmissionarischen Angebote von den Nutzerinnen immer wieder zurück gewiesen wurden, so waren die geschaffenen Räume der Bahnhofsmissionarinnen und der Frauen in Verein und Verband stark begrenzt. Blickt man nun auf den Raum des bahnhofsmissionarischen Trägervereins und des Dachverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission, so konstituierte sich dieser dergestalt, dass sowohl ein Vereins- als auch ein Verbandshaus geschaffen, Heime eröffnet, Kurse und Lehranstalten eingerichtet, Bahnhofsmissionarinnen rekrutiert und in vielen deutschen Städten Bahnhofsmissionen gegründet wurden als auch, dass die Akteure mit einer breit angelegten Medienarbeit an die Öffentlichkeit gingen. Die konstituierten Räume waren somit öffentlich nicht nur sichtbar, sondern wurden zur Wiedererkennung vorbereitet und inszeniert sowie mit der gewünschten Symbolik beziehungsweise Wertevermittlung versehen. Der sowohl von den Vereinsmitgliedern als auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Dachverbandes gestaltete Raum wurde von der anvisierten Klientel angenommen, wiedererkannt oder abgelehnt, wie an den Problemen mit den Dienstmädchen und den Arbeiterinnen deutlich wurde. Die teilweise antimoderne Weltanschauung der beteiligten Akteure vermochte es, sich durch gezielte Selbstinszenierung und unter Verwendung zeitgemäßer Mittel – wie besonders an der Öffentlichkeitsarbeit, aber auch in dem organisierten Aufbau einer Heimstruktur deutlich wurde – dauerhaft zu institutionalisieren. Wichtiges Kriterium für die Institutionalisierung und die Ausbildung räumlicher Strukturen war hierbei, dass einerseits sowohl die einzelnen Lokalorganisationen als auch die Öffentlichkeitsarbeit einheitlich gestaltet waren. Andererseits war auch die umfangreiche Netzwerkbildung von Verein und Verband eine wichtige Ressource zur Konstitution und Erhaltung der öffentlichen Räume. Räume sind aber auch umkämpft und unterliegen ständigen Aushandlungsprozessen, weil Kooperationspartner wechseln und sich die konstituierten Räume in diesem Prozess verändern, indem sie sich vergrößern aber auch eingeschränkt werden können. Im nächsten Kapitel, das das Ringen der Berliner Bahnhofsmission, ihres Trägervereins und des Dachverbandes sowie der beteiligten Akteure unter nationalsozialistischer Herrschaft thematisiert, soll dieser Prozess näher ausgeführt werden.

V. Die Berliner Bahnhofsmission . und der Dachverband zwischen Zustimmung . und politischem Kalkül: Der lange Weg bis zum Ende der Arbeit am Bahnhof 1933–1939 Der Dachverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission und die Berliner Lokalorganisation setzten anfänglich große Hoffnungen in den neuen Staat, was in der Bereitschaft zur Kooperation mit der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt im bahnhofsmissionarischen Arbeitsbereich zum Ausdruck kam. Drei Gebiete boten sich für protestantische Frauen zur Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche an: die Jugendarbeit, die Eugenik und die Unterstützung des nationalsozialistischen Mutterschaftskonzepts.1 Bahnhofsmissionarinnen hatten sich von jeher in der konfessionellen Jugendarbeit verortet und sahen genau dort Anknüpfungspunkte zu nationalsozialistischen Organisationen. Nach dem Aufbau staatlicher Bahnhofsdienste kooperierten die Bahnhofsmissionarinnen deshalb mit den nationalsozialistischen Bahnhofsfürsorgerinnen, so dass ein reibungsloser Parallelbetrieb von staatlichen und konfessionellen Betreuungsdiensten am Bahnhof gewährleistet war. Die Nationalsozialisten ihrerseits bestärkten die Bahnhofsmissionen in dem Glauben, dass sie eine gute Zusammenarbeit wünschten, weil sie auf die bahnhofsmissionarische Infrastruktur in wichtigen wohlfahrtspolitischen Bereichen angewiesen waren. Sehr bald nach der Machtübernahme wurde jedoch deutlich, dass die Bahnhofsmissionen in ihrer Arbeit kontinuierlich beschnitten wurden und schließlich ganz aufgelöst werden sollten. Die nur vorgeblich bejahende Politik der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt gegenüber kirchlichen Institutionen stand in einer seit der Weimarer Republik andauernden Tradition des Werbens der ­NSDAP um die Wählerschaft der protestantischen Kirche. Zu keiner Zeit waren NS-Politiker jedoch willens, den kirchlichen Gestaltungsanspruch, in diesem Fall innerhalb der Wohlfahrtspolitik, zu dulden.2 Sie drängten folglich nach der Implementierung der eigenen Macht auch den Einfluss konfessioneller Organisationen systematisch zurück. Zum Ende des Kalenderjahres 1939 wurde die Berliner Bahnhofsmission geschlossen. Bereits im April hatte das Reichsverkehrsministerium auf Anordnung des Stellvertreters Adolf Hitlers, Rudolf Heß, den Reichsverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission über das endgültige Ende ihrer am Bahnhof arbeitenden Informations- und Servicedienste informiert.3 Während die noch in an1 2 3

Claudia Koonz, Mothers in the Fatherland, New York 1987, S. 239. Ulrich von Hehl, Die Kirchen in der NS-Diktatur. Zwischen Anpassung, Selbstbehauptung und Widerstand. in: Bracher/Funke/Jacobsen, S. 153–181, hier: S. 160ff. Schreiben der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission an die Mitglieder des Vorstandes

V. Der lange Weg bis zum Ende der Arbeit am Bahnhof 1933–1939

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deren Städten arbeitenden Bahnhofsmissionen bereits im August 1939 ihre Tätigkeit einstellen sollten, bildete die Berliner Bahnhofsmission insofern eine Ausnahme, als es ihr gestattet wurde, bis zum 31. Dezember gleichen Jahres weiterzuarbeiten.4 Die Schließung der Berliner Bahnhofsmission kam jedoch nicht unerwartet, waren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter doch seit der Eröffnung der NS-Bahnhofsdienste, die zwei Jahre zuvor erst am Görlitzer und Anhalter Bahnhof dann schließlich auch an anderen Berliner Bahnhöfen ihre Arbeit aufgenommen hatten, auf diese Entwicklung vorbereitet.5 Dieses Kapitel thematisiert die Veränderung der öffentlichen Räume des Dachverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission, der Berliner Lokalorganisation und ihrer Mitarbeiterinnen durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten. Mit der Gleichschaltung ging die Etablierung nationalsozialistischer Organisationen und deren Netzwerke im Wohlfahrtsbereich einher, wodurch neue räumliche Strukturen6 ausgebildet wurden. Zu fragen ist, wie die Bahnhofsmission an diesen Strukturen partizipieren konnte oder wollte? Wie kompatibel war die NSIdeologie mit derjenigen der konfessionellen Bahnhofseinrichtungen? Auf den ersten Blick fallen die ideologischen Unterschiede auf: Während nach christlicher Anschauung jeder Mensch das gleiche Recht auf Hilfe hat, vertrat die NSV die nationalsozialistische Rassen- und Volksgemeinschaftsideologie, nach der nur der „völkisch wertvolle Mensch“ als hilfswürdig galt. Damit ging eine Negation des gerade für die Bahnhofsmission wichtigen Begriffes „Nächstenliebe“ einher, weil die Hilfen und Unterstützungsleistungen der Wohlfahrtspflege nicht mehr auf Mitleid oder Rechten aufbauten. Bei genauerem Hinsehen gab es jedoch durchaus Schnittmengen und es kam zu Kooperationen zwischen den kirchlichen lokalen und überregionalen Organisationen und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. Zu fragen ist also, welche konfessionellen Konzepte die Nationalsozialisten, vor allem die NSV, übernehmen konnten. Wo wichen die Bahnhofsmissionen und ihr organisatorischer Überbau von christlichen Überzeugungen ab? Wie verhandelbar waren dadurch die öffentlichen Räume der Bahnhofsmission?

und Ausschusses, die Unterverbandsleitungen und die Evangelischen Bahnhofsmissionen am 21. April 1939, ADW, CA, Gf/St 92. Das Reichsverkehrsministerium ist im Februar 1939 durch den Stellvertreter Hitlers informiert worden, dass die „Charitas und Innere Mission, ihre Tätigkeit der Christlichen Bahnhofsmission einzustellen haben“. Abschrift des Schreibens des Stellvertreters des Führers an den Reichsverkehrsminister am 7. Februar 1939, ADW, CA, Gf/ St 87. 4 Abschrift des Schreibens des Reichsverkehrsministeriums an die Konferenz für kirchliche Bahnhofsmission am 20. Juli 1939, ADW, CA, Gf/St 87. 5 Vgl. Rat und Hilfe für Reisende. Neue NS-Bahnhofsdienststellen vor der Eröffnung, in: Tägliches Beiblatt zum Völkischen Beobachter, 1937, ADW, CA, Gf/St 99. Reichsweit begann dieser Auflösungsprozess bereits 1935 als die konfessionelle Bahnhofsmission in Nürnberg von einem NS-Bahnhofsdienst ersetzt worden war. Vgl. Nikles, Soziale Hilfe, S. 244f. 6 Räumliche Strukturen versteht Löw als Teil gesellschaftlicher Strukturen. Die Anordnung von sozialen Gütern und Menschen zu Räumen wird dann zu räumlichen Strukturen, wenn sie in Regeln festgeschrieben oder durch Ressourcen abgesichert sind. Vgl. Löw, Raumsoziologie, S. 166.

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V. Der lange Weg bis zum Ende der Arbeit am Bahnhof 1933–1939

Trotz der Zusammenarbeit in wichtigen wohlfahrtspolitischen Arbeitsfeldern war die Politik der NSV gegenüber dem Dachverband und den Unterorganisationen der Deutschen Bahnhofsmission wenig transparent. Speziell der Entzug finanzieller Ressourcen bei wiederholter Beteuerung der Notwendigkeit der Bahnhofsmissionen wurde auf der Lokalebene deutlich. Während im Allgemeinen der Dachverband mit den neuen Machthabern verhandelte und die Lokalorganisationen weisungsgebunden waren, gab es somit Entwicklungen, die nur den Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend und die Berliner Bahnhofsmission betrafen. Vor diesem Hintergrund wird die Frage gestellt, wie die Berliner Bahnhofsmission mit den Einschränkungen umging und welche Auswirkung die drohende Schließung auf die öffentlichen Räume der Bahnhofsmissionarinnen hatte. Wurden diese für alle Mitarbeiterinnen endgültig beschränkt? 1. Nach der Machtübernahme: der Wunsch . zur Kooperation Die Geschichte der Auflösung der Bahnhofsmissionen unter nationalsozialistischer Herrschaft ist untrennbar mit dem sechsjährigen Versuch des Gesamtverbandes verbunden, ein eigenständiges, christliches Profil zu bewahren beziehungsweise dieses hervorzuheben, um der Liquidation zu entgehen und zeitgleich mit dem nationalsozialistischen System zu kooperieren. Die Zusammenarbeit war zum einen taktisches Kalkül, zum anderen gingen viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gesamtorganisation und der einzelnen Bahnhofsmissionen mit bestimmten Grundüberzeugungen des Nationalsozialismus konform. Sie begrüßten den neuen Staat nicht zuletzt, weil sie sich eine Wiederherstellung der in der Weimarer Republik angeblich als verloren gegangenen christlichen Werte und dadurch einen Bedeutungsgewinn des eigenen Handlungsfeldes versprachen. Diese grundsätzliche Haltung hatten viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Berliner Bahnhofsmission und ihres Dachverbandes, obwohl die Bahnhofsmissionen während der Weimarer Republik sowohl von staatlichen Ministerien als auch kommunalen Ämtern regelmäßige finanzielle und ideelle Unterstützung erhalten hatten. Dass die Frauen der Berliner Bahnhofsmission und des Dachverbandes durch den Ausbau der kommunalen Sozialarbeit eine Zunahme fest angestellter Frauen und dadurch eine grundsätzliche Erweiterung der eigenen Handlungsräume in der Weimarer Republik erfahren hatten, wurde jedoch nicht reflektiert. Die Hoffnung, die in den neuen Staat gesetzt wurde, drückte der Vorsitzende des Dachverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission, Karl Otto von Kameke, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in einem Schreiben an die Unterverbände und lokalen Bahnhofsmissionen folgendermaßen aus: „Mit voller Einmütigkeit und ohne irgend welche Vorbehalte stellt sich die Bahnhofsmission in den Dienst des neuen Deutschland und seiner nationalen Führung. Sie begrüßt die große Wendung in unserem Vaterlande umso freudiger, als gerade wir in unserer Arbeit uns in den vergan-

1. Nach der Machtübernahme: der Wunsch zur Kooperation

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genen Jahren oft genug zur Wehr setzen mussten gegen das Eindringen weltlicher oder gar widerchristlicher Mächte in unsere christliche Liebesarbeit“.7

An diesem Zitat wird deutlich, dass der Dachverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission sich nicht in Opposition oder Gegnerschaft zur nationalsozialistischen Führung stellte, weil er sich mit dieser in gemeinsamer Ablehnung der als religiös indifferent, antikirchlich und bolschewistisch empfundenen Weimarer Demokratie wähnte. Das hatte seinen Grund darin, dass nach dem Ersten Weltkrieg die traditionelle Obrigkeitsbindung der evangelischen Kirche im Kaiserreich, gerade in Preußen, an einen Endpunkt gekommen war, weil sich die bestehende Verbindung von Thron und Altar auflöste. Durch die Folgen zunehmender Säkularisierung und vermeintlicher Einflusslosigkeit hatten viele Protestanten – jedenfalls vorübergehend – die Weimarer Demokratie radikal abgelehnt und sich Rechtsparteien zugewandt. 1933 erhoffte sich diese Klientel wenigstens eine teilweise Rückkehr zum Status quo ante und dadurch auch wieder einen Bedeutungsgewinn der eigenen Kirche. Die nationalsozialistische Regierung nährte die Hoffnung der protestantischen Kirche auf eine starke Position in dem neuen System, indem sie ihr den Schutz derjenigen religiösen Rechte garantierte, welche den Staat nicht beeinträchtigten.8 Parallel dazu beobachteten die Nationalsozialisten das kirchliche Umfeld und hatten die Auflösung kirchlicher Organisationen stets im Blick. Ein Verbot der Bahnhofsmissionen sofort nach der Machtübernahme erschien ihnen jedoch nicht erstrebenswert. Eine rasche Abschaffung konfessioneller Hilfsdienste am Bahnhof wäre strategisch unklug und nicht ohne öffentliche Irritationen zu realisieren gewesen, da die Bahnhofsmissionen im Jahr 1933 bereits 50 Jahre lang bestanden und gesellschaftliche Anerkennung genossen. Dass die endgültige Schließung der deutschen Bahnhofsmissionen nach einem sechsjährigen Prozess des Changierens zwischen Annäherung und Zurückdrängung im Jahr 1939 vorgenommen wurde, hatte mehrere Gründe: Erstens war nach sechs Jahren die organisatorische Basis geschaffen worden, damit nationalsozialistische Bahnhofsdienste die Arbeit der konfessionellen Einrichtungen übernehmen konnten. Bei der inhaltlichen Arbeit von Mitarbeitern der staatlichen Bahnhofsdienste griffen Institutionen wie die NSV unter Erich Hilgenfeldt oder die NS-Frauenschaft unter Gertrud Scholtz-Klink auf bewährte, protestantische Modelle zurück, so dass der Transformationsprozess kurz vor Ausbruch des Krieges abgeschlossen war. So wurden kirchliche Konzepte und Ideologien der Jugendschutzarbeit für obdachlose und auf Wanderschaft befindliche Personen, für die Arbeitsvermittlung sowie die Betreuung sogenannter gefährdeter Personen beiderlei Geschlechts übernommen. Zweitens nutzte die NSV den kommenden Kriegsausbruch, weil sie nun Widerstand – weder gesamtgesellschaftlich noch aus kirchlichen Kreisen – kaum erwartete. Drittens wollte sie den reibungslo-

7 8

Schreiben des Vorsitzenden des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission an die Leitungen der Unterverbände und die Bahnhofsmissionen am 12. Juni 1933, ADW, CA, Gf/St 92, S. 1. Koonz, S. 228.

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V. Der lange Weg bis zum Ende der Arbeit am Bahnhof 1933–1939

sen Ablauf von Soldatentransporten sichern und hierfür an den Bahnhöfen mit ihren eigenen Organisationen kooperieren. 1.1 Der Umgang mit obdachlosen Personen, mittellosen Wanderern . und Prostituierten Die Zusammenarbeit zwischen staatlichen Einrichtungen und konfessionellen Bahnhofsmissionen zum Zweck der Unterstützung männlicher und weiblicher Wanderer, Obdachloser und Prostituierter hatte eine lange Tradition, die von den Nationalsozialisten weitergeführt wurde. Die Einteilung nichtsesshafter Personen in Arbeitswillige respektive Arbeitsunwillige hatte Pastor Bodelschwingh mit seinem Konzept „Arbeit statt Almosen“ bereits im 19. Jahrhundert auf eine griffige Formel gebracht, die die evangelische Fürsorgetätigkeit fortan – auch noch im nationalsozialistischem System – leitete. Hierbei wurde die Arbeitswilligkeit als Voraussetzung für Hilfeleistungen überprüft und Disziplinierungsmaßnahmen mit protestantischen Sittlichkeitsvorgaben verbunden. Die NSV stützte sich in diesem Aspekt ihrer Wohlfahrtspolitik auf bereits vorhandene Strukturen und Regelwerke der Inneren Mission und baute sie in ihrem Sinne aus. Dadurch konnten sich nationalsozialistische Organisationen nicht nur relativ widerstandslos etablieren, sondern auf die Zusammenarbeit mit der Bahnhofsmission rechnen. Darüber hinaus ging, durch die Übernahme protestantischer Ideologien und Modelle auf bahnhofsmissionarischem Gebiet und in der Jugendfürsorge mit binnenwandernden Personen, die Raumübernahme von weiten Teilen der Öffentlichkeit und den bahnhofsmissionarischen Organisationen selbst fast unbemerkt vonstatten. Ein halbes Jahr nach der Machtübernahme wurden die nichtsesshaften und wandernden Menschen aus der Öffentlichkeit mit polizeistaatlichen Mitteln zumindest temporär entfernt. Dies geschah mittels der am 18. September 1933 beginnenden Bettlerrazzia, einer reichsweiten Verhaftungswelle, die in manchen Teilen Deutschlands bis zu fünf Tage dauerte. Obdachlose Menschen wurden während der Razzia an öffentlichen Orten ergriffen oder aus Notunterkünften heraus festgenommen. Die Durchsuchung erfasste mehrere zehntausend Menschen, wobei der größte Teil zu Gefängnisstrafen verurteilt, ein kleinerer Prozentsatz in Arbeitshäusern und geschlossenen Fürsorgeanstalten interniert und einige in Konzentrationslager verschleppt wurden.9 Sowohl öffentliche Fürsorgebehörden als auch private Wohlfahrtsverbände wurden über die Vorbereitungen zu dem bevorstehenden Ereignis informiert und in diese einbezogen. Auf einem Treffen der Reichsgemeinschaft der Wohlfahrtsverbände, in der die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt, die Innere Mission, die Caritas und das Rote Kreuz seit Juli 1933 organisiert waren,10 und das 9

Ayaß, „Asoziale“, S. 30f. Eine andere Quelle spricht von 100 000 Verhafteten und nennt Meseritz und Görlitz als Orte, an denen Konzentrationslager zur Internierung der festgenommenen Bettler eingerichtet worden waren. Vgl. Ulrich Sondermann-Becker, „Arbeitsscheue Volksgenossen“. Evangelische Wandererfürsorge in Westfalen im „Dritten Reich“, Bielefeld 1995, S. 55. 10 Der Dachverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission war durch seine Einbindung

1. Nach der Machtübernahme: der Wunsch zur Kooperation

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einen Monat vor der geplanten Bettlerrazzia stattfand, stand die „Bekämpfung des Bettelunwesens“ auf der Liste der zu erörternden Themen. Zwölf Tage nach dieser Besprechung, am 28. August 1933, teilte die Wohlfahrtsabteilung der NSV-Reichsführung dem Zentralausschuss für Innere Mission, dem Deutschen Caritas-Verband und dem Deutschen Roten Kreuz mit, dass eine Razzia geplant sei, mit der dezidierten Aufforderung, diese Information an die regionalen und örtlichen Untergliederungen weiterzuleiten.11 Somit ist davon auszugehen, dass auch die Bahnhofsmissionen und Bahnhofsdienste von der bevorstehenden Aktion wussten und sich entsprechend auf eine Kooperation vorbereiteten. Um nach der Razzia die verbleibenden Bettler und Landstreicher besser kon­ trollieren zu können, wurden in der Folgezeit – zumindest regional – amtliche Wan­ derbücher eingeführt12 was auch innerhalb der konfessionellen Wandererfürsorge auf große Zustimmung stieß, so dass sie die Einführung der Bücher vorbehaltlos unterstützte. Die Wandererfürsorge verstand sich als vor allem für jene obdachlosen Menschen zuständig, die noch Hoffnung auf eine gesellschaftliche Wiedereingliederung versprachen. Sie ging folglich mit der nationalsozialistischen Wohlfahrtspolitik in diesem Punkt konform und führte, wie auch die Bahnhofsmission, die Kategorisierung Nichtsesshafter in nicht-unterstützungswürdige Landstreicher und redliche Wanderer fort. In der Zeitschrift „Der Wanderer“ wurde diese Unterscheidung bereits vor Einführung der Wanderbücher folgendermaßen formuliert: „Eine noch stärkere Siebung kann erreicht werden, wenn in Bälde das schon längst angestrebte Wanderbuch für sämtliche mittellose Wanderer in Deutschland eingeführt wird. Selbstverständlich darf dieses Wanderbuch nur geordneten und arbeitsfähigen Wanderern ausgestellt werden, bei denen das Wandern einen Sinn hat. […] So ist zu hoffen, […] daß die Landstraßen bald vollends von den unsauberen und ungeeigneten Elementen gesäubert sein und auf die Dauer nur noch geordneten deutschen Wanderern dienen werden.“13

Wohnungslose ohne Wanderbücher mussten fortan mit verstärkten polizeilichen Repressalien rechnen und galten automatisch als asoziale Wanderer.

in die Innere Mission seit 1924 Teil der in diesem Jahr gegründeten Deutschen Liga der freien Wohlfahrtspflege. Der Zusammenschluss der Spitzenverbände Innere Mission, Caritas, Paritätischer Wohlfahrtsverband, Deutsches Rotes Kreuz, Arbeiterwohlfahrt, Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden und Zentralwohlfahrtsstelle der (christlich) nationalen Arbeiterschaft wurde bereits im Juli 1933 (zwei Wochen nach Reinecks’ Brief an Bäcker) gleichgeschaltet, als Erich Hilgenfeldt, der Leiter der NS-Volkswohlfahrt, die Reichsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege gründete. Anfänglich ging man noch von einer Gleichberechtigung aller Verbände aus. Ein knappes Jahr später wurde jedoch die Reichsgemeinschaft in eine Arbeitsgemeinschaft, jetzt dezidiert unter Führung und Leitung der NS-Volkswohlfahrt, umgewandelt. Vgl. Jochen-Christoph Kaiser, NS-Volkswohlfahrt und Innere Mission, in: Jörg Thierfelder / Theodor Strohm (Hrsg.), Diakonie im „Dritten Reich“, Heidelberg 1990, S. 37–59, hier: S. 42. 11 Schreiben der NS-Wohlfahrtsabteilung an den Zentralausschuss für Innere Mission, den Caritas-Verband und das Deutsche Rote Kreuz vom 28.8.1933, ADW, CA 1859 VII, 222a. 12 Deutscher Herbergsverein (Hrsg.), Der Wanderer. Zeitschrift für die gesamte Wandererfürsorge 52, 1935, S. 103. Wanderbücher wurden zumindest in Westfalen eingeführt. 13 Mailänder, Gibt es noch mittellose Wanderer?, in: Deutscher Herbergsverein (Hrsg.), Der Wanderer. Zeitschrift für die gesamte Wandererfürsorge 51, 1934, S. 94–96.

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V. Der lange Weg bis zum Ende der Arbeit am Bahnhof 1933–1939

Nachdem die Straßen gesäubert und Bettler sowie Landstreicher mehr und mehr aus dem Blickfeld der Bevölkerung verschwunden waren, wandte sich das Amt für Volkswohlfahrt direkt an den Reichsverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission mit der Aufforderung zur organisatorischen Zusammenarbeit bei der Kanalisierung hilfsbedürftiger Wanderer.14 Diese Möglichkeit der Einflussnahme ließ der Reichsverband der Bahnhofsmission jedoch verstreichen, da er sich erst bei der Inneren Mission hinsichtlich des weiteren Vorgehens absichern wollte.15 Da die Bahnhofsmission über Monate keine Rückmeldung an das Amt für Volkswohlfahrt gab, stellte das Amt ohne die Mithilfe des Reichsverbandes der Bahnhofsmission ein vier Punkte umfassendes Regelwerk auf.16 Der Reichsverband der Bahnhofsmission wurde über dieses informiert und erteilte seine Zustimmung.17 Dem ersten Punkt zufolge sollten nur solche Wanderer betreut werden, „die als geordnet gelten, das heißt im wesentlichen arbeitsfähig und arbeitswillig und im Besitz eines Wanderbuches oder sonstiger Legitimationspapiere […] sind.“18 Die übrigen Punkte der Volkswohlfahrtsbestimmungen bezogen Bahnhofsmissionen und Wandererfürsorge direkt ein. Sie waren der Wandererfürsorge und somit den Bahnhofsmissionen und -diensten besonders wichtig, weil sie auf deren eigene Initiative zurückgingen, bereits vor dem ‚Dritten Reich‘ von den Bahnhofsorganisationen praktiziert worden waren und sie deshalb mit den Bestimmungen politisch übereinstimmten. In der Volkswohlfahrtsbestimmung wurde festgelegt, dass die Bahnhofsmissionen keinerlei Geldbeträge an die Wanderer ausgeben, sondern stattdessen Essensgutscheine verwenden sollten, deren Finanzierung das Winterhilfswerk übernehmen wollte. Bargeldauszahlungen und Ausgabe von Fahrkarten wurden strengstens untersagt, weil man davon ausging, dass durch Geldzahlungen die betreffenden Personen ein Leben als Bettler vor bezahlter Arbeit vorziehen könnten. Ferner war das Winterhilfswerk bereit, Einrichtungen der Wandererfürsorge wie Herbergen oder Wanderarbeitsstätten finanziell zu unterstützen.19 Ende der dreißiger Jahre nahmen die restriktiven Maßnahmen gegen Obdachlose stetig zu. Der 1937 ergangene Erlass, der es ermöglichte, „Asoziale“ in Vorbeugehaft zu nehmen, wurde einige Monate später durch eine Anweisung Hey­ drichs konkretisiert, vor allem ‚Asoziale‘ ohne festen Wohnsitz zu verhaften. Im Oktober 1938 veröffentlichte der „NS-Volksdienst“ schließlich die Verordnung, dass es keine Landstreicher mehr geben dürfe. Unbehelligt blieben dabei Personen, 14 Schreiben der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, Reichsleitung, Amt für Volkswohlfahrt, an den Reichsverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission vom 23.10.1934, ADW, CA 1859, Bd. 7, Bl. 23. 15 Schreiben des Reichsverbandes Evangelische Deutsche Bahnhofsmission an die NSDAP, Amt für Volkswohlfahrt, Reichsleitung, vom 28.1.1935, ADW, CA 1859, Bd. 7, Bl. 27. 16 Rundschreiben 66 des Reichsbeauftragten des Winterhilfswerks an alle Gauleiter der NSDAP vom 28.11.1934, ADW, CA 1859, Bd. 7, Bl. 28. 17 Schreiben des Reichsverbandes Evangelische Deutsche Bahnhofsmission an die NS-Volkswohlfahrt, Reichsführung, Wohlfahrtsabteilung, vom 14.12.1934, ADW, CA 1859, Bd. 7, Bl. 25. 18 Rundschreiben 66, ADW, CA 1859, Bd. 7, Bl. 28. 19 Ebd.

1. Nach der Machtübernahme: der Wunsch zur Kooperation

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die Arbeit nachweisen konnten. Den anderen drohte die Verschleppung ins Konzentrationslager.20 Auch die NS-Bahnhofsdienste hatten Anweisung, die Ausschlusskriterien, wonach nur bestimmte Personen betreut werden sollten, zur Anwendung zu bringen. So hieß es in der „Wohlfahrts-Korrespondenz“ in einem Artikel über die NS-Bahnhofsdienste: „Unnötig also zu betonen, dass z.B. Landstreicher nicht betreut werden. Sie werden sofort den für sie zuständigen Stellen überwiesen.“21 Bei den geschilderten Maßnahmen standen zunächst Männer im Vordergrund. Frauen wurden ab Mitte der 1930er Jahre vermehrt in den Blick des Kampfes gegen „Asoziale“ genommen, indem neben männlichen Landstreichern nun auch sexuell unangepasste Frauen und solche, die sich prostituierten, verfolgt wurden. Zwar wurde bereits nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gegen Prostituierte vorgegangen, beispielsweise ebenfalls durch Razzien, ihre volle Härte entfaltete die Verfolgung jedoch erst später.22 Seit 1927 hatte in Preußen die weibliche Polizei, die unter anderem mit der Bahnhofsmission zusammenarbeitete, von der Sittenpolizei die Aufgabe übernommen, sich um Prostituierte zu kümmern. 1937 kam es nun zu einer Neustrukturierung der weiblichen Polizei, indem diese wieder der männlichen Polizei unterstellt wurde. Die weibliche Kriminalpolizei war im Nationalsozialismus für „asoziale Frauen“ und „Berufsverbrecherinnen“ zuständig. „Asoziale“ im Sinne des im selben Jahr, 1937, ergangenen Erlasses „Vor­beugende Verbrechensbekämpfung“ waren auch Prostituierte, die auf dieser Grundlage von der Kriminalpolizei zu mehreren Tausend ins Konzentrationslager eingewiesen wurden. Damit kam es zu einer direkten Aushebelung der Grundpfeiler der weiblichen Polizei. Das von Josephine Erkens geführte Hamburger Reformprojekt war angetreten, der staatlichen Doppelmoral hinsichtlich der Behandlung von Prostituierten, Freiern und Zuhältern entgegenzuarbeiten. Obwohl die preußische weibliche Polizei restriktiver gearbeitet hatte als die Hamburger Kolleginnen, waren sie doch für und nicht gegen Frauen im Einsatz. Indem sich die weibliche Polizei an der Verfolgung von Prostituierten beteiligte, kam es zu einer kompletten Umdrehung der ursprünglichen Gründungsintention der weiblichen Polizei. Trotz diesen Maßnahmen gegen Prostituierte begann die staatliche Förderung der Prostitution. Allerdings nicht in ihrer freien Form, sondern in Bordellen fürs Militär und in Konzentrationslagern für Arbeitshäftlinge, die zu den „privilegierten“ Gefangenen gehörten.23 Bei den Verschärfungen der Repression gegen Prostituierte kooperierten die Bahnhofsmissionarinnen mit der weiblichen Polizei oder der evangelischen Gefährdetenfürsorge, indem sie bei Frauen, die sie als „gefährdet“ einstuften, die Kriminalbeamtinnen oder Fürsorgerinnen einschalteten. Häufig brachten sie die fragliche Person in einem Heim der Inneren Mission unter und leitete schließlich den nächsten Schritt ein. In dem Fall, dass die Fürsorgerinnen informiert wurden, stellten die Bahnhofsmissionarinnen dann eine Schnittstelle dar, die Vermittlungstätig20 21 22 23

Ayaß, Vom ‚Pik As‘, S. 169. Nikles, Machtergreifung, S. 254. Ayaß, Asoziale, S. 184ff. Bock, S. 191.

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V. Der lange Weg bis zum Ende der Arbeit am Bahnhof 1933–1939

keiten übernahmen. Die evangelische Gefährdetenfürsorge sah die Aufgaben der Bahnhofsmissionarin darin, „für das alleinreisende Mädchen zu sorgen, das gefährdet und ratlos erscheint. […] Sie hat die sittlichen Zustände auf den Bahnhöfen zu beobachten und wichtige Beobachtungen an die zuständigen Stellen weiterzu­ge­ ben.“24 Die von den Nationalsozialisten stets vorgespiegelte Einheit von Frauen kann an diesem Beispiel als Schimäre entlarvt werden, zeigt es doch deutlich, wie Unterschiede zwischen Frauen produziert wurden. Martina Löw’s These, dass nicht nur die Kategorie „Geschlecht“, sondern auch „Schichtzugehörigkeit“ für die Möglichkeit von Raumkonstitution im Sinne von (eingeschränkten) Handlungsmöglichkeiten entscheidend ist, wird von der Psychoanalytikerin Ute Benz bestätigt, die davon ausgeht, dass das nationalsozialistische System „Unterschiede [machte] zwischen der Mehrheit der deutschen Frauen einerseits, die von Geburt an als wertvoll galten und deswegen öffentliche, ideelle und materielle Unterstützung erhalten konnten, und zwischen Frauen andererseits, denen öffentlich Wert abgesprochen wurde und die deswegen vielfältig benachteiligt, beschädigt, zur Zwangsarbeit verschleppt, verfolgt und umgebracht wurden.“25

Unterschiede dieser Art gab es natürlich auch schon in den Jahrzehnten davor; weder im Kaiserreich noch in der Weimarer Republik wurde aber eine Einheit aller Frauen vorgetäuscht, und die unangepasst lebenden Frauen wurden zwar strengen polizeilichen Regeln unterworfen und später von den Fürsorgerinnen der Jugendämtern unnachgiebig beobachtet, aber sie wurden nicht in Konzentrationslager verschleppt. Sei es aus Überzeugung oder aus strategischem Kalkül zur Erhaltung des eigenen (Handlungs-)Raumes: die Bahnhofsmissionarinnen hatten gegen die NSSäuberungen, die sich gegen Frauen richteten, die den geltenden moralischen Ansprüchen nicht genügten, offenbar nichts einzuwenden. Die Bahnhofsmissionen beteiligten sich zwar nicht aktiv an der nationalsozialistischen Säuberungspolitik. Durch ihre kooperative Haltung gegenüber den nationalsozialistischen Machthabern und ihre Befürwortung strikterer Maßnahmen gegen unliebsame Personen sowie die Zustimmung zur „Säuberung“ des Stadtbildes nahmen sie billigend in Kauf, dass verfolgte Personen in Konzentrationslagern verschwanden. Deshalb fehlt sowohl ein Einspruch der Inneren Mission und der ihr angeschlossenen Organisationen gegen diese Maßnahmen als auch eine kritische Reflexion der eigenen Praxis, die bereits im 19. Jahrhundert eine Teilung in integrationswillige Wanderarme und nicht unterstützungswürdige Bettler und Vaganten vorgenommen hatte. Auch die Vermittlung Jugendlicher aufs Land schloss konsequent an den Gedanken der Notwendigkeit gesellschaftlicher Integration wandernder Menschen an und war ebenfalls eines der traditionellen Arbeitsfelder der Bahnhofsmission. Auf die lange Erfahrung der Bahnhofsmissionen und ihre Kooperationsbereitschaft konnte die NSV deshalb im Bereich der Landhelfervermittlung in zweifacher Hinsicht zurückgreifen. Erstens betreuten die Bahnhofsmissionarinnen die Jugendli24 Bäcker, S. 24. 25 Ute Benz (Hrsg.), Frauen im Nationalsozialismus. Dokumente und Zeugnisse, München 1997, S. 11.

1. Nach der Machtübernahme: der Wunsch zur Kooperation

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chen an den Bahnhöfen und boten Verpflegung, Beaufsichtigung und Beratung – auch für jene Landhelfer, die vorzeitig die Stelle gewechselt hatten – an.26 Zweitens hatten die Bahnhofsmissionarinnen bereits vor 1933 mit der Gefährdeten- und Straffälligenfürsorge zum Zweck der Vermittlung Jugendlicher zusammengearbeitet, so dass die evangelische Jugendfürsorge „seit Jahren und Jahrzehnten [auf] feste Verbindungen zu Familien auf dem Lande [zurückgreifen konnte]“.27 Die Bahnhofsmissionarinnen waren im Nationalsozialismus jedoch damit konfrontiert, dass sich dieses Arbeitsgebiet teilweise als nicht regulierbar in ihrem Sinne herausstellte. Insofern kämpften sie an zwei Fronten: zum einen mit den Jugendlichen, die zeitweilig ein Leben auf der Straße einer Anstellung vorzogen, zum anderen gegen die Politik der NSV, die sich unkalkulierbar gestaltete. Die NSV nutzte die bestehende Infrastruktur der Bahnhofsmission nämlich nur anfänglich, drängte dann deren Einfluss bis Mitte der 1930er Jahre zurück und überließ ihnen schließlich nur noch die Fürsorge für jene Personengruppen, die nicht voll arbeitsfähig waren. 1.2 Landhelferinnen- und Landhelfervermittlung Da das nationalsozialistische Regime vor allem in der Anfangszeit bestrebt war, die hohen Arbeitslosenzahlen schnell zu senken, finanzierte es Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und vermittelte arbeitsuchende Personen als Landhelfer oder Notstandsarbeiter in Beschäftigungsverhältnisse. Diese verblieben dadurch in einem Quasi-Erwerbslosenverhältnis, verschwanden aber aus der Arbeitslosenstatistik.28 Zur Senkung der Arbeitslosigkeit in Berlin sollten neben 30 000 Erwerbslosen, die als Notstandshelfer eingesetzt wurden, außerdem 10 000 Berliner Jugendliche als Landhelfer vermittelt werden.29 Obwohl Jugendliche beiderlei Geschlechts auf dem Land in Arbeit gebracht wurden, hatten die Bauern vor allem einen erhöhten Bedarf an Landmädchen.30 Wie aus Berichten des Dachverbandes der Evangelischen Bahnhofsmission hervorgeht, verliefen die von ihr vorgenommenen Vermittlungen jedoch nicht immer erfolgreich und endeten zum Teil damit, dass die Jungen und Mädchen die ländlichen Stellen verließen und wenigstens zeitweise ein bettelndes Leben auf der Straße wählten: „Es waren noch keine 14 Tage verstrichen, seit der Transport angekommen und vermittelt worden war. Da war der hiesige Bahnhof überschwemmt von Ausreissern. Bei allen dieselbe Klage über schlechtes Essen, schlechte Unterkunft – oft hatten sie nicht einmal ein eigenes Bett – 26 Hermine Bäcker, Die Geschichte der Bahnhofsmission, Schreibmaschinenmanuskript [1966], ADW, HGSt 1425, Blatt 43. 27 Schreiben des Central-Ausschusses für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche an den Präsidenten der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung am 12. Dezember 1934, ADW, CA, Gf/St 324, S. 3. 28 Spree, hier: S. 20, http://epub.ub.uni-muenchen.de/archive/00000382/. 29 ‚Berlins Arbeitsschlacht nach dem Göring-Plan‘, in: Deutsche Zeitung, [vmtl. 1933], BArch, R 8034 II, Nr. 4068, Blatt 134. 30 ‚Berliner Arbeitslose auf Landarbeit in der Mark‘, in: Kreuz-Zeitung, 25.4.1934, BArch, R 8034 II, Nr. 4068, S. 9.

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V. Der lange Weg bis zum Ende der Arbeit am Bahnhof 1933–1939 grosse Unsauberkeit etc. Alles gute Zureden half nichts, die meisten erklärten: wir wollen nur nach Hause, und wenn wir kein Geld bekommen, werden wir es uns zusammenbetteln. Im Warteraum [des Bahnhofs, A. M. K.] entstand eine richtige Kleiderbörse. (…) Bei den Recherchen fand man in den Feldscheunen Jungen und Mädchen zusammen, überhungert und heruntergekommen“.31

Die Gründe für das Scheitern von Vermittlungsversuchen waren vielfältig. Zum einen lag es daran, dass sich sowohl die Jugendlichen als auch die Bauern ein falsches Bild voneinander machten. Die Bauern erhofften sich volle Hilfskräfte und reagierten mit Unverständnis, wenn die Mädchen oder Jungen beispielsweise nicht wussten, wie sie zu melken hatten. Zum anderen waren die Stellen nicht immer gut dahingehend recherchiert, ob und wie die zu vermittelnden Jugendlichen auf den Bauernhof passten. Die Jungen und Mädchen wurden zum Teil zwangsweise in die bäuerlichen Haushalte vermittelt und unterschätzten obendrein die sehr einfachen ländlichen Bedingungen, insbesondere in den östlichen Reichsgebieten. Lehnten sie die Arbeit ab, wurden sie nicht als Arbeitslose, sondern als Arbeitsverweigerer eingestuft. Damit waren sie als Personen stigmatisiert, gegen die so genannte vorbeugende Maßnahmen getroffen wurden,32 das heißt, dass sie ohne richterlichen Beschluss überwacht oder – in der Regel in einem Konzentrationslager – unbegrenzt festgehalten werden konnten. Die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung nahm zwar die konfessionelle Landhelfervermittlung anfänglich in Anspruch, zögerte dann aber einen weiteren Auftrag an die evangelischen Einrichtungen, die mit der Arbeitsvermittlung befasst waren, zu erteilen.33 Erst mit dem von der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung erlassenen Gesetz vom 5.1.1935 über Arbeitsvermittlung, Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung wurden klare Richtlinien innerhalb des Stellenvermittlungssystems geschaffen und Aktivitäten karitativer Organisationen eingeschränkt. Bis Ende Juli 1936, als die nationalsozialistischen Arbeitsämter effektiv genug arbeiteten, wurde der Einfluss von Bahnhofsmission und Gefährdetenhilfe auf diesem Gebiet zurückgedrängt, sowie die Stellenvermittlung auf bestimmte Personen reduziert und der Inneren Mission und den ihr angeschlossenen Organisationen die Vermittlung „voll arbeitseinsatzfähiger Personen, insbesondere voll arbeitseinsatzfähiger Hausgehilfinnen“34 entzogen. Nur Vermittlungen nichtvollerwerbsfähiger Personen sowie die Vermittlung von Angestellten der Inneren Mission und Personen, die innerhalb des kirchlichen 31 Schreiben des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission an die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung am 1. Februar 1934, ADW, CA, Gf/St 328, S. 2. 32 Bundesministerium für Finanzen (Hrsg.), Entschädigung von NS-Unrecht, Berlin 2001, S. 36. Der Maßnahmenkatalog wurde 1937 erlassen. Vgl. Ayaß, Vom ‚Pik As‘, S. 169. 33 Schreiben des Central-Ausschusses für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche an die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung am 12. Dezember 1934, ADW, CA, Gf/St 324, S. 1–3. 34 Schreiben des Central-Ausschusses für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche an die Landes- und Provinzialverbände der Inneren Mission am 28. Juli 1936, ADW, CA, Gf/St 324, S. 1–2, hier: S. 1.

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Umfeldes Arbeit suchten, wurden gestattet.35 Landhelferinnen und -helfer wurden in der Folgezeit von der Bahnhofsmission oder der Gefährdetenfürsorge auch weiterhin in Arbeit gebracht, allerdings reduziert auf den Kreis von Personen, die von den staatlichen Arbeitsämtern nicht vermittelt wurden. Die Gefährdetenfürsorge beschrieb die ihnen überlassenen Personen folgendermaßen: „Mütter mit mehr als 2 Kindern, aggressive Psychopathen, Arbeitsverweigerer und andere, die letzten Endes nicht arbeitsvermittlungsfähig sind“.36 Obwohl die Bahnhofsmissionarinnen und die in der Wanderer- und Gefährdetenfürsorge tätigen Mitarbeiter wussten, wie schnell die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung beispielsweise aus Jugendlichen, die mit ihrer ländlichen Stelle nicht zurecht kamen, Arbeitsverweigerer machte, stigmatisierten sie die Jungen und Mädchen ebenso als „letzten Endes nicht arbeitsvermittlungsfähig“.37 Die bereits mehrfach beleuchteten Schnittmengen zwischen christlichem Hilfeanspruch und nationalsozialistischer Politik werden hier erneut deutlich und erklären, warum die Nationalsozialisten auf protestantische Modelle und bereitwillige Kooperationsangebote zurückgreifen konnten. Im Kern gab es eine ideologische Übereinstimmung in der Frage, dass nicht alle Menschen einen Hilfeanspruch hatten und von Unterstützung ausgeschlossen werden konnten und sollten, weil sie angeblich nicht willens oder fähig waren, in die Gesellschaft (re‑)integriert zu werden. Die Nationalsozialisten stützten sich hierbei auf einen „hygienischen“ Rassismus, der sich gegen psychisch Kranke, geistig Behinderte und gesellschaftliche Randgruppen richtete, für deren Situation nicht soziale Rahmenbedingungen sondern genetische Defekte verantwortlich gemacht wurden.38 Sie überließen den kirchlichen Organisationen die Personen, die für die „Volksgemeinschaft“ nicht produktiv verwertbar waren, weil sie durch die angebliche Determiniertheit als nicht heilbar eingestuft wurden.39 Die konfessionelle Wohlfahrt ihrerseits stützte sich auf das Bo­del­ schwing’sche Konzept, das besagte, dass vor allem über Arbeitswilligkeit der Weg aus der Arbeits- und Obdachlosigkeit führte. Da weder dem Müßiggang noch einem möglichen Vagantentum wandernder Personen Vorschub geleistet werden sollte, wurden wandernde Arbeits- und Obdachlose beiderlei Geschlechts, die diese Auflagen nicht erfüllten, von mildtätiger Unterstützung ausgeschlossen. Die Bahnhofsmissionen und andere mit wandernden Personen befasste konfessionelle Organisationen waren ab 1936, als ihnen von den Arbeitsämtern die Vermittlung voll arbeitseinsatzfähiger Personen entzogen wurde, in die Lage versetzt, dass sie nur noch Personen vermitteln durften, die sie teilweise selbst als nicht vermittlungsfähig und nicht hilfeberechtigt eingestuft hatten.

35 Die Rundschau. Mitteilungsblatt der Inneren Mission, 8, 1937, Nr. 4, S. 55f. 36 Vgl. Bericht über die Tagung der Evangelischen Gefährdetenfürsorgerinnen in Steinseiffersdorf, Schlesien, vom 13.–15.2.1937, CA, Gf, St 324, S. 1–2, hier: S. 1. 37 Ebd. 38 Hans-Walter Schmuhl, Rassismus unter den Bedingungen charismatischer Herrschaft. Zum Übergang von der Verfolgung zur Vernichtung gesellschaftlicher Minderheiten im Dritten Reich, Bracher/Funke/Jacobsen, S. 182–197, hier: S. 187ff. 39 Kaiser, NS-Volkswohlfahrt, in: Thierfelder/Strohm, S. 38.

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Zu Kooperationen kam es noch in einem anderen Bereich, der sich weniger durch Zusammenarbeit auf der Grundlage weltanschaulicher Anknüpfungspunkte auszeichnete, als vielmehr durch pragmatischen Opportunismus und Überlebensstrategie: in dem Verhältnis der evangelischen Bahnhofsmission zur jüdischen Bahnhofshilfe. Die ambivalente Haltung der Bahnhofsmissionen gegenüber den von ihnen betreuten Jugendlichen wurde auch in ihrer Haltung gegenüber Kollegen und Reisenden jüdischer Konfession deutlich. 1.3 Das Verhältnis zur Jüdischen Bahnhofshilfe Juden traten als Feindbild in bahnhofsmissionarischen Äußerungen kaum auf. Im Gegenteil, die Zusammenarbeit mit den jüdischen Kollegen am Bahnhof hatte eine jahrzehntelange Tradition. Als Gefahr für die eigene Zielgruppe wurden vielmehr die Sozialdemokratie und deren Organisationen sowie unangepasst lebende Personen, die nicht in bahnhofsmissionarische Moralvorstellungen passten, wie Obdachlose oder Prostituierte, eingestuft. Man war sich jedoch des Antisemitismus des neuen Systems durchaus bewusst, weshalb die Ausschussmitglieder des Dachverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission ein halbes Jahr nach der Machtübernahme „die heutige Lage“40 auf die Agenda ihrer Ausschusssitzung setzten und darüber verhandelten, wie man sich fortan der Jüdischen Bahnhofshilfe gegenüber positionieren wollte. Den Grund dafür, die Zusammenarbeit mit den jüdischen Kollegen zur Disposition zu stellen, formulierten einige Ausschussmitglieder während der Ausschussdebatte folgendermaßen: „Die Judenfrage ist heute nicht eine weltanschauliche, sondern eine politische. Wir müssen darauf achten, daß wir in unserer evangelischen Haltung bleiben und uns auch nicht dem Schein nach in Gegensatz zum neuen Staat bringen, den wir bejahen“.41 Die so genannte Judenfrage war also – laut Aussage der Ausschussmitglieder – keine Frage der persönlichen Wertungen, Vorstellungen, Sichtweisen, und betraf auch nicht die Konfession, vielmehr war sie eine „rassische“ geworden, schloss die Juden von ihrer Zugehörigkeit zum deutschen Volk aus und berührte dadurch die Politik, den Staat und die gesamtgesellschaftliche Ordnung in Deutschland. Zum Schutz der eigenen Organisation entschieden sich die Bahnhofsmissionen, hierzu Stellung zu beziehen und eine opportunistisch-pragmatischen Haltung gegenüber alten Beziehungen anzunehmen. Die Bahnhofsmission war deshalb nicht gewillt, die Existenz der jüdischen Bahnhofshilfe zu schützen. So versäumte man in der Ausschusssitzung auch nicht, die in der Vergangenheit bestandenen Kollegialitäten zur Jüdischen Bahnhofshilfe als unbedeutende Zusammenarbeit auf loser Basis zu beschreiben und darauf hinzuweisen, dass die Jüdische Bahnhofshilfe von Anfang an aus der Interkonfessionellen Kommission, der deutschlandweiten Interessensvertretung der evangelischen und katholischen Bahnhofsmissionen, ausgeschlossen gewesen war. 40 Niederschrift der 39. Ausschußsitzung des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission am 19. Juni 1933, DEF, R 2e, S. 2. 41 Ebd., S. 4.

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Zwei Themen wurden in der Ausschusssitzung bezüglich der Jüdischen Bahnhofshilfe diskutiert: erstens, ob es wünschenswert wäre, dass die jüdische Organisation weiterhin Bahnhofskollekten durchführen sollte und zweitens, ob die Jüdische Bahnhofshilfe auch in Zukunft auf den Bahnhofsplakaten genannt werden sollte. In der Ausschusssitzung sprach sich der Dachverband dafür aus, dass Sammlungen der jüdischen Organisation am Bahnhof unterbleiben sollten, wohlwissend, dass jede Konfession auf diese Art der Finanzierung der Bahnhofsdienststellen angewiesen war. Somit wurde der Einrichtung eine wichtige finanzielle Basis entzogen, die ihre öffentlichen (Handlungs-)Räume bis zur Existenzbedrohung einschränkte, weil finanzielle Ressourcen zu deren Erhaltung grundlegend waren. Das Verbot der Sammlungen am Bahnhof hatte für die evangelischen Bahnhofsmissionen somit den nützlichen Nebeneffekt, dass die Jüdische Bahnhofshilfe keine Konkurrenz mehr bei der Spendenbereitschaft der Reisenden darstellte. Dass das kurzfristig gedacht war, sollte sich in der folgenden Zeit herausstellen. Zwar stärkte das Sammlungsverbot für die jüdische Bahnhofshilfe vorübergehend die finanziellen Ressourcen der evangelischen und katholischen Organisationen. Auf lange Sicht erging es ihnen jedoch genau wie der jüdischen Bahnhofshilfe: ihre öffentliche Handlungsräume wurden eingeschränkt, indem ihnen von der NSV die finanzielle Basis entzogen wurde. Dass die jüdische Bahnhofshilfe geschlossen wurde, war nur der Anfang eines schleichenden Prozesses, der auch die Bahnhofsmissionen anderer Konfessionen einholte und bei dem es überlebenswichtig gewesen wäre, von Anfang an zusammen zu stehen und als eine Organisation zu agieren. Einen neuen Plakatdruck zu veranlassen, der dann die jüdische Bahnhofshilfsstellen auf den gemeinsamen Aushängen nicht mehr nannte, verneinte man vorerst jedoch, weil es zu kostenintensiv für den Dachverband gewesen wäre, die alten Plakate auszutauschen und neue drucken zu lassen. Wenn die Jüdische Bahnhofshilfe auf den Plakaten weiterhin genannte wurde konnte man darüber hinaus jüdische Reisende gezielt an die jüdische Hilfsorganisation verweisen, was ebenfalls im Sinne der protestantischen Organisation war. Auf der Ausschusssitzung machte man daher deutlich, dass es als Handlungsorientierung für die vor Ort arbeitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter darauf ankäme, zuerst evangelischen und katholischen Reisenden zu helfen und Fahrgäste jüdischer Konfession an die Jüdische Bahnhofshilfe zu verweisen. Die fehlende Übereinstimmung zwischen christlicher Weltanschauung und Praxis der bahnhofsmissionarischen Einrichtungen wird hier erneut erkennbar. Das Credo der Bahnhofsmissionen war stets, dass Hilfestellungen jedem ratsuchenden Menschen gewährt würden, ohne Unterschied der Konfession, des Geschlechts, der Schichtzugehörigkeit und der ethnischen Herkunft. Dennoch sollten, obwohl auch in dieser Ausschusssitzung dieser ethische Leitgedanke wiederholt wurde,42 in der Praxis jüdische Reisende nicht mehr betreut werden. In den meisten Städten musste sich die Evangelische Bahnhofsmission mit der Jüdischen Bahnhofshilfe in der Folgezeit nicht mehr auseinandersetzen, weil diese ihre Dienste bereits 1933 einstellte. Nur in Berlin konnte die Jüdische Bahnhofs-

42 Ebd., S. 5.

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hilfe verhältnismäßig lange bestehen, weil sie bis 1936 existierte.43 Sie hätte deshalb die Unterstützung des Dachverbandes der Deutschen Bahnhofsmissionen besonders bedurft. Zum Schutz der eigenen Organisation entzog er dennoch der Jüdischen Bahnhofshilfe seine kollegiale Hilfe, um sich den nationalsozialistischen Machthabern als vertrauenswürdiger Kooperationspartner anzubieten. 2. Beharrung und Repression: die sukzessive Auflösung des Dachverbandes . und der Berliner Bahnhofsmission Die zwiespältige Politik der Nationalsozialisten gegenüber dem Dachverband der Bahnhofsmission und dessen Unterorganisationen wurde von Anfang an deutlich. Trotz forcierter Kooperationen seitens der NSV und Beteuerungen, die Bahnhofsmissionen nicht auflösen zu wollen, kam es ein halbes Jahr nach der Machtübernahme Hitlers zu Bestrebungen der NS-Frauenschaft, die evangelische Bahnhofsmission in Elberfeld im Rheinland zu übernehmen, möglicherweise weil durch das zwangsweise Ausscheiden der Helferinnen der Jüdischen Bahnhofshilfe ein Raum entstanden war, den die NS-Frauenschaft füllen wollte.44 Es ist schwer einzuschätzen, ob der Dachverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission tatsächlich davon ausging handlungsfähig zu sein und gegenüber der NS-Frauenschaft gleichberechtigt zu agieren. Anzunehmen ist aber, dass der Verband, wie ein Brief der Generalsekretärin Theodora Reineck an die Geschäftsführerin der Konferenz für Gefährdetenfürsorge, Hermine Bäcker, deutlich macht, zumindest zu Anfang des neuen Systems noch von einer gewissen Verhandlungsstärke der in der Deutschen Liga der Freien Wohlfahrtspflege organisierten Verbände, und dadurch der eigenen Organisation, ausging. Reineck beharrte jedenfalls vorerst auf der Ebenbürtigkeit der Verhandlungspartner und wies Übernahmeversuche anderer Organisationen oder eigenständige Verhandlungen individueller Bahnhofsmissionen strikt zurück. Hierbei argumentierte sie in verschiedene Richtungen, welche die Befugnisse der Unterverbände und lokalen Bahnhofsmissionen, den Schutz vor Arbeitslosigkeit der eigenen Angestellten und die Entscheidungshoheit ihrer eigenen Organisation betraf. Auch berief sich Reineck auf die konfessionelle Grundstruktur der Bahnhofsmission, die charakteristisch für die Gesamtausrichtung der Arbeit sei. Das von Reineck angesprochene christliche Fundament bahnhofsmissionarischer Arbeit wurde zu einem der stärksten Argumente des Reichsverbandes sowie einzelner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen gegenüber den nationalsozialistischen Machthabern, nämlich, dass der Dienst der Menschen, die sich in der Vergangenheit in der Bahnhofsmission engagiert hatten, ein von Gott befohlener sei. Somit konnte dieser Befehl durch niemanden, weder Adolf Hitler noch einer politischen Organisation, außer Kraft gesetzt werden.45 43 Thoben, S. 40–45, hier: S. 44. 44 Abschrift des Briefes Theodora Reinecks an Hermine Bäcker am 14. Juli 1933, ADW, CA, Gf/ St 89, Blatt 69. Vgl. Nikles, Soziale Hilfe, S. 231. 45 D. Stoltenhoff, Die Berechtigung kirchlicher Arbeit am Bahnhof. Vortrag gehalten auf der Kon-

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2.1 Einschränkung finanzieller Handlungsspielräume 1934 wurden die finanziellen Handlungsmöglichkeiten der Bahnhofsmission eingeschränkt, indem zwei kurz hintereinander erlassene Gesetze „über das Verbot von öffentlichen Sammlungen“ und „zur Regelung der öffentlichen Sammlungen und sammlungsähnlichen Veranstaltungen“46 die Kollekten freier Träger zuerst begrenzte und schließlich vollständig verbot. Selbst die Erträge der bis dahin noch zugestandenen Bahnhofssammlungen waren sehr dezimiert worden, da an den Tagen, an denen die Bahnhofsmissionen Sammlungen durchführen durften, auch nationalsozialistische Organisationen an die Bevölkerung mit Bitten um Kollekten herantreten konnten. Die Situation wurde von der Generalsekretärin des Dachverbandes folgendermaßen kritisch analysiert: „Die Schwierigkeiten bestehen heute sachlich darin, daß improvisierte Sammlungen seitens der N.S.V., der Frauenschaft oder der H. J. in den Tagen stattfinden, die nach langhändiger und mühseliger Vorbereitung für die Bahnhofsmission am Bahnhof vorgesehen waren. Ferner werden die Sammlungen oft während ihrer Durchführung (durch Aufwendung von mancherlei Mitteln und Gewinnung von Persönlichkeiten) durch Verbote der Gauleiter jählings unterbrochen. – Ferner wird das Recht, die Sammelerträge selbst zu vereinnahmen, beanstandet und was dergleichen mehr ist“.47

Der Gewinn-Wettlauf mit staatlichen Organisationen führte bei den letzten erlaubten Spendensammlungen dazu, dass von den Bahnhofsmissionen nur 30 Prozent des Ergebnisses der Vorjahre eingenommen werden konnten.48 Die Politik des nationalsozialistischen Staates verfehlte ihre Wirkung nicht und der öffentliche Raum der Bahnhofsmissionen sowie ihrer Mitarbeiterinnen wurde durch den Entzug finanzieller Ressourcen effektiv beschnitten. Die Politik der NSV beruhte darauf, nicht konfrontativ, durch große Einschnitte und Verbote vorzugehen, sondern sie erweiterte den eigenen Handlungsrahmen durch kleine Schritte, indem sukzessive die finanziellen Grundlagen eingeschränkt wurden oder durch Sammlungsunterbrechungen und Parallelsammlungen, die offiziell nicht beanstandet werden konnten. Da zeitgleich zu den eingeschränkten Sammlungen auch kommunale Zuschüsse sowie Beihilfen, die auf Reichsebene erteilt worden waren, gekürzt oder ganz gestrichen wurden, kamen die Bahnhofsmissionen in empfindliche finanzielle Bedrängnis. Einige Bahnhofsmissionen mussten ihren fest angestellten Frauen bereits 1935 kündigen49 und das Weiterbestehen des gesamten Verbandes war bereits vor dem endgültigen Verbot der Bahnhofssammlungen gefährdet.50 ferenz für kirchliche Bahnhofsmission in Berlin am 11. Oktober 1935, in: Evangelische Bahnhofsmission, 47. Rundschreiben, 1935, S.12–19. 46 Nikles, Soziale Hilfe, S. 242. 47 Nikles, Machtergreifung, S. 250. 48 Niederschrift der 44. Ausschußsitzung des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission am 11. November 1936, ADW, CA, Gf/St 91, S. 2. 49 Niederschrift der 43. Ausschußsitzung des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission am 12. Oktober 1935, ADW, CA, Gf/St 89, S. 4. 50 Abschrift des Berichtes über die Arbeit der Bahnhofsmission und ihrer derzeitigen Gefährdung durch finanzielle Schwierigkeiten, erstattet von Theodora Reineck am 2. Februar 1934, ADW, CA, Gf/St 93, S. 1–3, hier. S. 3.

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Als die Sammlungen 1936 verboten wurden, waren die seit über zehn Jahren traditionell durchgeführten Kollekten beendet und der Dachverband der Bahnhofsmission von nun an auf rein innerkirchliche Sammlungen angewiesen. Reichshaushaltsmittel standen den deutschen Bahnhofsmissionen seit 1937/1938 nicht mehr zur Verfügung und Unterstützungsleistungen des Winterhilfswerkes, das sich nach der Machtübernahme zu einem riesigen Unternehmen entwickelt hatte, wurden zuerst beschnitten und schließlich ganz eingestellt. Die Taktik der NSV, nämlich über das langsame Zerstören der finanziellen Basis der Bahnhofsmissionen diese handlungsunfähig zu machen und durch den Aufbau von staatlichen Bahnhofsdiensten deren Funktion zu übernehmen, wurde in einem Schreiben des Winterhilfswerkes an den Reichsverkehrsminister deutlich. In diesem wurde zwar bekräftigt, dass die Bahnhofsmissionen auch dort ihre Tätigkeit ausüben dürften, wo es bereits aufgebaute NS-Bahnhofsdienste gäbe. Allerdings könne eine finanzielle Unterstützung der konfessionellen Einrichtungen am Bahnhof nicht gestattet werden, weil die eigenen finanziellen Mittel nur für Einrichtungen eingesetzt werden könnten, die dem öffentlichen Interesse dienten. In dem Schreiben heißt es weiter: „Ein öffentliches Interesse ist aber an denjenigen Orten, an denen ein NSV-Bahnhofsdienst vorhanden ist, nicht als gegeben zu erachten, da der NSV-Bahnhofsdienst ohne Schwierigkeiten in der Lage ist, die Tätigkeiten der kirchlichen Bahnhofsmission mitzuübernehmen“.51

Wird nun ein näherer Blick auf die Berliner Lokalorganisation gelenkt, so wird offenbar, dass sich auch für die Berliner Bahnhofsmission die sich zuspitzende finanzielle und politische Lage völlig unkalkulierbar entwickelte. Die Berliner Bahnhofsmission erhielt zwar nach einer Unterbrechung im Jahr 1938 bis 1939 noch staatliche Zuwendungen, weil das Landeswohlfahrts- und Jugendamt nach Rücksprache mit der NSV der Meinung war, „daß die Arbeit der Bahnhofsmission für die Stadt unentbehrlich sei“.52 Die Unterstützungsleistungen waren aber willkürlich und im Voraus nicht mehr einschätzbar. Der Trägerverein der Berliner Organisation, der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend, unternahm nun gezielte Maßnahmen zum Erhalt des Vereins und seiner vordringlichen Aufgabenfelder, nämlich zur Aufrechterhaltung der Dienstleistungen am Bahnhof, also der eigentlichen „Bahnhofsmission“, der Heimunterbringung der hilfesuchenden Personen und deren weiteren Betreuung in Berlin. Aus Kostengründen musste er seine Geschäftsstelle aufgeben und diese mit dem Evangelischen Verein für soziale Zwecke zusammenlegen.53 Beide Vereine hatten nun ein gemeinsames Büro in Berlin-Kreuzberg in der Oranienstraße 69. In einem nächsten Schritt kündigte die Berliner Bahnhofsmission vorsorglich ihre Mitgliedschaft beim Dachverband Evangelische Deutsche Bahnhofsmission, um von den Beitragszahlungen, welche die Unterver51 Abschrift von Abschrift des Schreibens des Reichsbeauftragten des Winterhilfswerkes des Deutschen Volkes an den Reichsverkehrsminister am 8. Februar 1939, ADW, CA, Gf/St 87. 52 Überblick über die Situation der Bahnhofsmission gegeben von der Konferenz für Kirchliche Bahnhofsmission vom 3.3.1939, ADW, CA, Gf/St 87, S.1–3, hier: S. 3. 53 Die Zusammenlegung beider Vereine ist für das Jahr 1933 nachgewiesen. Vgl. Übersicht über die Aufgabengebiete des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend, [vmtl. 1933], ADW, CA, Gf/St 92, Blatt 52–54.

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bände und lokalen Bahnhofsmissionen an den Verband abzuführen hatten, enthoben zu sein. Durch die immer prekärer werdende Lage musste der Verein die Gehälter seiner Berufskräfte innerhalb eines Jahres von 150 RM auf 120 RM kürzen54 und parallel dazu einzelnen Mitarbeiterinnen kündigen. Von den ursprünglich 15 fest angestellten Frauen im Jahr 193355 arbeiteten zwei Jahre später noch 12,56 1937 noch elf57 und 1939 nur noch sechs Frauen für die Berliner Bahnhofsmission.58 Dass bis zur Schließung der konfessionellen Bahnhofsmissionen wenigstens diese sechs Frauen angestellt bleiben konnten, hatte seinen Grund darin, dass die Berliner Bahnhofsmission dem Berliner Bahnhofsdienst anbot, sein gesamtes Aufgabenfeld zu übernehmen.59 Konkrete Verhandlungen führten schließlich dazu, dass am 1. Januar 1938 die Evangelische Bahnhofsmission und der Evangelische Bahnhofsdienst in Berlin unter der organisatorischen Leitung des Bahnhofsdienstes unter dem Oberdomprediger Richter zusammengelegt wurden. Geschäftsführer beider Organisationen wurde Generalsekretär F. Schröder. Beide Einrichtungen arbeiteten auf allen Berliner Fernbahnhöfen von sieben Uhr morgens bis 24 Uhr nachts. Da die angestellten Frauen der Berliner Bahnhofsmission übernommen wurden,60 standen für den Dienst insgesamt 20 Berufsfürsorgerinnen und Berufsfürsorger und eine weit höhere Zahl unbezahlter Helferinnen und Helfer zur Verfügung. Darüber hinaus unterhielten die fusionierten Organisationen gemeinsam neun Heime. Die Geschäftsstelle der Berliner Bahnhofsmission in Kreuzberg wurde aufgegeben und nur noch das Büro des Bahnhofdienstes in der Anklamer Straße aufrechterhalten.61 „Bahnhofsmission“ blieb die Bezeichnung für beide Organisationen. Auf die Fusion reagierten vor allem die Frauen der katholischen Bahnhofsmission empört und 54 Schreiben des stellvertretenden Vorsitzenden des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend an den Evangelischen Oberkirchenrat am 9. Juli 1935, EZA, 7/13477, S. 1–5 (eigene Zählung), hier: S. 3. 55 Übersicht über die Aufgabengebiete des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend, [vmtl. 1933], ADW, CA, Gf/St 92, Blatt 52–54. 56 Schreiben des stellvertretenden Vorsitzenden des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend an den Evangelischen Oberkirchenrat am 9. Juli 1935, EZA, 7/13477, S. 1–5 (eigene Zählung), hier: S. 3. 57 Schreiben des Vorsitzenden des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend, von Bahrfeldt, an die Finanzabteilung des Evangelischen Oberkirchenrates am 1. März 1937, EZA, 7/13477. 58 Liste der Angestellten der Evangelischen Bahnhofsmission in Berlin 1939, BArch, R 58, Nr. 5693a, Blatt 145. 59 Schreiben der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission an den Centralausschuß für Innere Mission am 9. Oktober 1937, ADW, CA, Gf/St 87. Bereits ein Jahr nach der Machtübernahme war die Berliner Bahnhofsmission an den Berliner Bahnhofsdienst mit dem Vorschlag herangetreten, die Arbeit in Berlin zu vereinheitlichen. In den darauf folgenden Jahren erwuchs daraus jedoch vorerst keine Zusammenarbeit. Vgl. Schreiben des Vorsitzenden des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend, von Bahrfeldt, an die Finanzabteilung des Evangelischen Oberkirchenrates am 1. März 1937, EZA, 7/13477. 60 Schreiben des Vorsitzenden des Evangelischen Bahnhofsdienstes, Oberdomprediger D. Richter, an die Finanzabteilung des Evangelischen Oberkirchenrates am 29. Januar 1938, EZA, 7/13478. 61 Die Rundschau. Mitteilungsblatt der Inneren Mission 9, 1938, Nr. 2, S. 18.

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legten unter Hinweis darauf, dass „Mädchenschutzarbeit“ Frauenaufgabe sei, ihr Veto ein.62 Auch die evangelischen Bahnhofsmissionarinnen hatten ihre Eigenständigkeit gegenüber dem Bahnhofsdienst in der Vergangenheit immer wieder betont.63 Aufgrund der oben beschriebenen prekären finanziellen Situation des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend und seiner Mitarbeiterinnen, ist jedoch verständlich, warum diese an der Fusion, auch unter männlicher Führung, keine Kritik hatten. 2.2 Aufbau der nationalsozialistischen Bahnhofsdienste Der erste nationalsozialistische Bahnhofsdienst war 1935 in Nürnberg von der Nationalsozialistischen Volksfürsorge eingerichtet worden. In Berlin wurde ein Jahr später ebenfalls begonnen staatliche Betreuungsstationen einzurichten. Innerhalb eines Jahres wurden auf dem Anhalter, dem Schlesischen, dem Görlitzer und dem Lehrter Bahnhof sowie den Bahnhöfen Alexanderplatz und Charlottenburg staatliche Bahnhofsdienste eröffnet64 Bei diesen Aktionen versicherte das Hauptamt für Volkswohlfahrt sowohl dem Zentralausschuss für Innere Mission als auch dem Caritasverband, dass nur dort NS-Bahnhofsdienste eröffnet werden sollten, wo es „besondere(n) politische(n) Erfordernisse(n) und verkehrstechnische(n) Not­ wendigkeiten“65 gebe, wobei die NSV nicht gedenke, das Arbeitsgebiet der Reisenden- und Migrantenbetreuung zu übernehmen. Der Prozess der schleichenden Übernahme der Bahnhofsmissionen wurde in zwei Richtungen vorangetrieben. Zum einen wurden der Inneren Mission und der Caritas die staatlichen Bahnhofsdienste als Entlastung der Bahnhofsmissionen für das steigende Arbeitspensum durch vermehrten Reiseverkehr angeboten. Zum anderen sicherte sich die NSV gesellschaftliche Akzeptanz, indem die nationalsozialistischen Bahnhofsdienste das Konzept und Erscheinungsbild der konfessionellen Betreuungsdienste übernahmen, so dass für die ratsuchenden Personen vordergründig kein Unterschied in der Unterstützung deutlich wurde. Die Mitarbeiterinnen der NS-Bahnhofsdienste re­ krutierten sich aus der HJ und hier vor allem den Unterorganisationen „Bund deutscher Mädel“66 (BDM) für Mädchen der Altersgruppen bis 18 Jahre und ab 1938 aus dem BDM-Werk „Glaube und Schönheit“ für junge Frauen im Alter bis 21 Jahre. So geht aus einem Schreiben der Reichsjugendführung an das Reichsverkehrsministerium hervor, dass die HJ am Bahnhof „die Betreuung und Überwachung der 62 Vgl. Nikles, Soziale Hilfe, S. 262f. 63 Das Bedürfnis sich abzugrenzen gab es bereits nachdem sich der Bahnhofsdienst 1924 reichsweit gegründet hatte. Bis dahin firmierte die männliche und weibliche Organisation unter dem Namen „Bahnhofsmission“. Die Bahnhofsmissionarinnen beanspruchte nun diesen Namen für sich, woraufhin für das männliche Pendant der Name „Evangelischer Bahnhofsdienst“ gewählt wurde. Vgl. 40 Jahre Evangelischer Bahnhofsdienst in Deutschland, 1937, S. 1–5, hier: S. 3. 64 Rat und Hilfe für Reisende. Neue NS-Bahnhofsdienststellen vor der Eröffnung, in: Tägliches Beiblatt zum Völkischen Beobachter, 1937, ADW, CA, Gf/St 99. Vgl. für die Eröffnung des Lehrter Bahnhofs, Der Lokalanzeiger am 3. August 1937, ADW, CA, Gf/St 99. 65 Notiz in Die Rundschau, Mitteilungsblatt der Inneren Mission, 8, 1937, Nr. 11, S.140. 66 Michael Kater, Hitler-Jugend, Darmstadt 2005, S. 82.

2. Beharrung und Repression

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Abbildung 22: NS-Bahnhofsfürsorgerin am Anhalter Bahnhof 1937

wandernden Jugend ihren Schutz vor verbrecherischen Elementen und die Überwachung aller Hauptgefahrenpunkte“67 übernehme. Die Jugendlichen konnten hier Auskunft über Zuganschlüsse, Quartiere, Jugendherbergen, HJ-Dienststellen und Sonstiges erhalten. Mitarbeiterinnen, die über 21 Jahre waren, kamen aus der NSFrauenschaft. Wie in Abbildung 22 erkennbar ist, waren die eingesetzten NS-Fürsorgerinnen in den ersten Jahren – ähnlich den konfessionellen Bahnhofsmissionarinnen – älter als 21 Jahre. Später, vor allem im Krieg, wurden auch Mädchen dazu herangezogen Verwundetentransporte zu versorgen. Die Kleidung der Bahnhofsdienst Mitarbeiterinnen unterschied sich von der Armbinde mit rosa Kreuz der konfessionellen Bahnhofsmissionarinnen durch eine schwesternähnliche Tracht. Trotz der Unterschiede rückten die staatlichen Fürsorgerinnen mit ihrer Kleidung, ähnlich den evangelischen Bahnhofsmissionarinnen, den mütterlichen, helfenden Aspekt in den Vordergrund. Reisende wurden auf den ersten Blick deshalb kaum daran erinnert, dass sie es hier mit Helferinnen verschiedener Organisationen zu tun hatten, so dass es für viele Personen wohl keinen Unterschied machte, an welchen Bahnhofsdienst sie sich wendeten. 67 Schreiben der Reichsjugendführung der NSDAP an das Reichverkehrsministerium am 31. August 1937, BA, R 5, Nr. 3148.

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V. Der lange Weg bis zum Ende der Arbeit am Bahnhof 1933–1939

Der Vorsitzende des Dachverbandes, Karl Otto von Kameke, sah den Aufbau nationalsozialistischer Bahnhofsdienste und die mögliche Schließung konfessioneller Bahnhofsmissionen gerade in der Reichshauptstadt mit größter Sorge, da durch den Ausfall der Berliner Bahnhofsmission ein „‚leerer Raum‘ entstehen [könnte und] die N.S.V. an dieser für das ganze Reich maßgeblichen Stelle das Feld allein behaupten würde“.68 Kameke spricht damit deutlich aus, dass zur Erhaltung öffentlicher Räume die Bahnhofsmission vor Ort präsent sein müsse, dass ein „leerer Raum“ eben nicht entstehen dürfe – im Wortsinne – damit sich die eigene Position am Bahnhof erhalten konnte. Von den Entwicklungen alarmiert, bat der Reichsverband nun um sofortige Mitteilung, wenn neue NS-Bahnhofsdienste entstünden. Die örtlichen, konfessionellen Bahnhofsmissionen wurden dennoch ermahnt, mit den staatlichen Bahnhofsdienststellen zusammenzuarbeiten69 und Schwierigkeiten durch Konkurrenzsituationen mit NS-Bahnhofsdiensthelferinnen pragmatisch zu lösen. Diese Anweisung ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die nationalsozialistischen Bahnhofsfürsorgerinnen der Inanspruchnahme ihres Betreuungsangebotes manchmal etwas nachhalfen. Wenn sich eine konfessionelle Bahnhofsmissionarin einem oder einer Ratsuchenden annehmen wollte, wurde diese/r von der nationalsozialistischen Fürsorgerin gefragt, „ob sich der Fahrgast nicht lieber von ihr betreuen lassen wolle“.70 2.3 Schließung der Bahnhofsmissionen Die Politik des Dachverbandes und der lokalen Bahnhofsmissionen dem Staat entgegenzukommen, zu kooperieren und dabei die Schnittmengen zwischen nationalsozialistischer und christlich-städtischer Wohlfahrtsarbeit herauszustellen scheiterte schließlich. Im April 1939 unterrichtete der Dachverband seine Vorstandsmitglieder, die Unterverbandsleitungen sowie die lokalen Bahnhofsmissionen davon, dass die Bahnhofsmissionen bis zum 30. September auf jenen Bahnhöfen ihre Tätigkeit einzustellen hätten, auf denen bereits staatliche Bahnhofsdienste bestünden – mit Ausnahme der Berliner Bahnhofsmission, die erst bis zum 31.12.1939 geschlossen werden sollte.71 Die Bahnhofsmissionen, die auf Bahnhöfen ohne einen 68 Schreiben des Vorsitzenden der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission, Karl Otto von Kameke, an den Centralausschuß für Innere Mission am 27. August 1937, ADW, CA, Gf/St 87, S. 1–2, hier: S. 2 69 Die Zusammenarbeit der B.M. mit den öffentlichen volkspflegerischen Einrichtungen, in: Evangelische Bahnhofsmission, 50. Rundschreiben, 1938, S. 16–19. 70 Vermerk des Dr. Engelmann, Oberkonsistorialrat in der Finanzabteilung des Evangelischen Oberkirchenrats am 24. August 1937 über eine Unterredung mit dem Vorsitzenden des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission, von Kameke, EZA, 7/13477, S. 1–4, hier: S. 1. 71 Schreiben des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission an die Mitglieder des Vorstandes und Ausschußes, die Unterverbandsleitungen und die Evangelischen Bahnhofsmissionen am 6. April 1939, ADW, CA, Gf/St 99. Schreiben des Reichsverkehrsministers an die Konferenz für kirchliche Bahnhofsmission am 20. Juli 1939, ADW, CA, Gf/St 87.

2. Beharrung und Repression

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Parallelbetrieb staatlicher Bahnhofsdienste arbeiteten, waren ursprünglich von dieser Regelung ausgenommen, wurden dann aber ebenfalls bis Ende des Jahres 1939 geschlossen.72 Die Regelung betraf ausschließlich die so genannte mitgehende Arbeit, also die Arbeit am Bahnhof selbst. Der Trägerverein der Berliner Bahnhofsmission, der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend, blieb samt dem Heimbetrieb bestehen. Den Festangestellten, die bei der fusionierten Berliner Bahnhofsmission, aber auch bei anderen Bahnhofsmissionen arbeiteten, sicherte der Dachverband zu, sich um ein neues Arbeitsgebiet zu kümmern und führte Vorabsprachen sowohl mit dem Reichsverkehrsministerium als auch mit dem Zentralausschuss der Inneren Mission.73 Die Mitarbeiterinnen hatten nun die Gelegenheit, sich beim Zentralausschuss beziehungsweise der jeweiligen Eisenbahndirektion, um eine neue Arbeit zu bewerben. Für den Fall, dass für die jeweilige Mitarbeiterin keine Arbeit im Anschluss gefunden wurde, konnte sich die ehemalige Bahnhofsmissionarin entweder an die örtliche Bahnhofsmission oder den Dachverband mit der Bitte um Übergangsgeld wenden. Auch die NS-Bahnhofsdienste bemühten sich um die erfahrenen Mitarbeiterinnen der evangelischen Bahnhofsorganisationen, indem ihnen bessere Bezüge als ihre bisherigen in Aussicht gestellt wurden.74 Obwohl in den Quellen überliefert ist, dass manche Festangestellten das kirchliche Umfeld verließen,75 gibt es keine Erkenntnisse darüber, ob und in welchem Maße die Frauen auf die Angebote der NSV eingingen, oder ob sie überhaupt wieder Arbeit fanden. Von den verbliebenen sechs Berliner Bahnhofsmissionarinnen waren einige bereits über 50 Jahre alt, so dass ihre Weitervermittlung in andere Arbeitsgebiete vermutlich problematisch war. Darüber hinaus waren alle unverheiratet, so dass sie auf finanzielle Unterstützung durch den Dachverband angewiesen waren. Die Liquidation des Dachverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission war für Januar 1940 geplant. Gemäß dem Wunsch der an der Besprechung beteiligten Personen sollte das Vermögen dem Zentralausschuss der Inneren Mission übertragen und treuhänderisch verwaltet werden, verbunden mit der Auflage, das Geld für die Dauer von zehn Jahren weiterhin für wandernde Menschen zu verwenden.76 Obwohl der Dachverband letztendlich nicht aufgelöst wurde, kam das 72 Hermine Bäcker, Die Geschichte der Bahnhofsmission, Schreibmaschinenmanuskript [1966], ADW, HGSt 1425, Blatt 64/65. 73 Schreiben des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission an die Mitglieder des Vorstandes und Ausschusses, die Unterverbandsleitungen und die Evangelischen Bahnhofsmissionen am 21. April 1939, ADW, CA, Gf/St 92. 74 Vermerk des Dr. Engelmann, Oberkonsistorialrat in der Finanzabteilung des Evangelischen Oberkirchenrats am 24. August 1937 über eine Unterredung mit dem Vorsitzenden des Reichsverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission, Karl Otto von Kameke, EZA, 7/13477, S. 1–4, hier: S. 1. 75 Schreiben des Landesvereins für Innere Mission der evangelischen-lutherischen Kirche in Sachsen an Hermine Bäcker am 11. Mai 1939, ADW, CA, Gf/St 95. 76 Aktennotiz über die Besprechung am 27. November 1939, ADW, CA, Gf/St 87. An der Besprechung nahmen u.a. Leonie von Schierstadt und Karl Otto von Kameke aus dem Vorstand der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission als auch der seit 1934 im Amt befindliche Bischof von Berlin/Brandenburg, Karow, teil.

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V. Der lange Weg bis zum Ende der Arbeit am Bahnhof 1933–1939

nun folgende Versammlungsverbot quasi einer Liquidation gleich, und machte ihn handlungsunfähig. Außer der seit 1939 eingesetzten Generalsekretärin Leonie von Schierstaedt waren an der Entscheidung, wie mit dem Dachverband zu verfahren sei, nur männliche Vorstandsmitglieder beteiligt, was die geringe Möglichkeit der Einflussnahme auf der Leitungsebene für Frauen innerhalb der Organisation unterstreicht. Leonie von Schierstaedt gründete mit dem Berliner Evangelischen Bahnhofsdienst (in diesem war die Berliner Bahnhofsmission seit 1937 aufgegangen) als auch dem Dachverband einen neuen gemeinsamen Verein, den „Evangelischen Heimatdienst Berlin e.V.“ Der Heimatdienst organisierte mit Hilfe der Trägervereine ehemaliger Bahnhofsmissionen und anderer evangelischer Organisationen, wie der Evangelischen Frauenhilfe und Ortsgruppen des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes, sowohl Wohnmöglichkeiten für wandernde Personen als auch die Integration neu zuziehender Personen in das kirchliche Gemeindeleben. In Ausnahmefällen und nach vorheriger Anmeldung wurde auch wieder die Abholung vom Bahnhof gewährleistet.77 1940 wurde Schierstaedt Oberin der Schwesternschaft der Evangelischen Frauenhilfe in Potsdam, von wo aus sie weiterhin im Sinne des Dachverbandes und der Berliner Bahnhofsmission tätig blieb.78 3. Zusammenfassende Betrachtung: Differenzierung der Perspektive durch unterschiedliche Blicke auf den Raum Räume sind relational strukturiert. Dementsprechend haben verschiedene Raumnutzer einen unterschiedlichen Blickwinkel auf denselben Raum. Abhängig davon wie sich die den Raum nutzenden Personen positionieren, Kontakt aufnehmen und handeln, können (Handlungs-)Räume im selben materiellen Raum unterschiedlich groß und veränderbar sein. Das wird in den folgenden Abschnitten deutlich, die den Blickwinkel verschiedener Nutzerinnen und Nutzer, nämlich der „normalen“ Reisenden, der binnenwandernden jungen Frauen, der staatlichen und der konfessionellen Bahnhofsmissionarinnen, aufzeigen. Für die „normalen“ Reisenden und die fürsorgerisch betreute Klientel der Bahnhofsmissionen, die „gefährdeten“ Frauen, bestand in der Übergangsphase seit 1935 – als sukzessive NS-Bahnhofsdienste und konfessionelle Bahnhofsmissionen nebeneinander bestanden – in der Betreuung wenig Unterschied. Für manche Reisenden stellte die Eröffnung von NS-Bahnhofsdiensten auch ein willkommenes erweitertes Betreuungsangebot dar. Dadurch, dass manche Hilfsbedürftigen oder Ratsuchenden gegenüber konfessionellen Betreuungsstationen in der Vergangenheit durchaus Zurückhaltung geübt hatten, weil sie kirchlichen Angeboten kritisch gegenüber standen, konnte die neu entstandene Situation auf den Bahnhöfen für sie 77 Winzler, 1967, S. 2–5, hier: S. 4. Siehe auch Sitzung zur Vorbereitung eines Evangelischen Geleitdienstes an der wandernden Gemeinde am 30. November 1939. DEF, R 2e. 78 Vgl. FN 561.

3. Zusammenfassende Betrachtung

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auch eine Bereicherung darstellen. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges sind neue Freiräume für die binnenwandernden Frauen entstanden, weil die staatlichen Bahnhofsdienste und seine Mitarbeiterinnen nun Soldaten, Verwundete, Umsiedler, Verschleppte und Zwangsarbeiter betreuten sowie die Judendeportationen nach Osten überwachten. Für die Observation moralischen Fehlverhaltens junger, wandernder Frauen dürfte dann nicht mehr viel „Raum“ gewesen sein. Die Organisation „Bahnhofsmission“ verlor zwar ihre Räume, dennoch blieb der bahnhofsmissionarische, öffentliche Raum erhalten, wenn auch unter staatlicher statt konfessioneller Führung. Der durch den Vorsitzenden der Deutschen Bahnhofsmission, Karl Otto von Kameke angesprochene „leere Raum“, der durch die Schließungen der konfessionellen Bahnhofsmissionen entstanden war, wurde in der Mehrheit entweder durch Mitgliedsfrauen der NS-Frauenschaft oder der HJ neu besetzt. Um die eigenen (Handlungs-)Räume und das vertraute Betätigungsfeld zu erhalten, konnte es für einige Bahnhofsmissionarinnen verlockend gewesen sein zum NS Bahnhofsdienst zu wechseln. Der Übertritt war jedoch nur jenen Frauen möglich, die dadurch nicht in Konflikt mit der eigenen christlichen Überzeugung gerieten. Dieselbe Aussage gilt auch für die ehrenamtlich arbeitenden Frauen. Vermutlich wurden sie nicht abgewiesen, wenn sie den staatlichen Bahnhofsdiensten entweder unentgeltlich ihre Arbeit anboten oder darüber verhandelten eine bezahlte Arbeit zu erhalten. Das war aufgrund des eigenen christlichen Bekenntnisses aber sicherlich nicht für jede Frau eine Option. Die Frauen, die nicht weiter vermittelt wurden, oder die durch persönliche Vorbehalte nicht zum NS-Bahnhofsdienst wechselten, verloren somit ihre (Handlungs-)Räume.

VI. Konstitution, Erhaltung . und Beschränkung öffentlicher Räume Die Berliner Bahnhofsmission existiert – mit einer sechsjährigen Unterbrechung im „Dritten Reich“ – seit über 110 Jahren. Ab Sommer 1945 wurden Bahnhofsmissionarinnen auf den Berliner Bahnhöfen wieder aktiv und erschlossen sich sowie der Berliner Organisation erneut öffentliche Räume. Der Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend fungierte nicht mehr als Trägerorganisation der Berliner Bahnhofsmission und hatte damit sein bahnhofsmissionarisches Aufgabenfeld dauerhaft verloren. Auch junge, berufstätige Frauen wurden in den Vereinsheimen nicht mehr betreut. Erhalten konnte der Verein das Charlottenheim, das weiterhin als Altersheim für Frauen genutzt wurde, und zwei seiner außerhalb Berlins gelegenen Erholungshäuser.1 Organisiert wurde die Arbeitsaufnahme der Berliner Bahnhofsmission von einzelnen Kirchengemeinden, Bezirksstellen der Inneren Mission und einigen Gruppen der Evangelischen Frauenhilfe. 1949 übernahm der Gesamtverband der Inneren Mission die Leitung aller Aktivitäten der evangelischen Bahnhofsmissionsarbeit in Berlin (West).2 Es ist anzunehmen, dass einige der Bahnhofsmissionarinnen, die nach Kriegsende den Dienst aufnahmen, bereits in den Jahren vor der Schließung durch die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt bei der Berliner Bahnhofsmission gearbeitet hatten. Die in den 1930er Jahren aktiven Geschäftsführerinnen des Dachverbandes der Bahnhofsmission, Theodora Reineck und ihre Nachfolgerinnen Armgard von Alvensleben sowie Leonie von Schierstaedt, waren bestrebt, ehemals bestandene gesellschaftliche und individuelle (Handlungs-)Räume wiederzugewinnen. Daher bemühten sie sich um die Einrichtung einer zentralen Geschäftsführung, agierten hierbei aber nicht nur unabhängig voneinander, sondern teilweise gegeneinander und von verschiedenen geografischen Lokalitäten aus. Während Reineck in Frankfurt am Main die bahnhofsmissionarische Arbeit wieder aufnahm und die Geschäftsführung für den englischen und amerikanischen Sektor von hier aus organisieren wollte, beanspruchte Alvensleben die Geschäftsführung für den englischen Sektor von Hannover aus. Schierstaedt wiederum wurde in Berlin-Dahlem aktiv. Durch den klugen Einsatz ihrer Ressourcen, vor allem durch ihre Verbindung zum Evangelischen Verein für Innere Mission, konnte Armgard von Alvensleben die Geschäftsführung für die westlichen Sektoren übernehmen und die Evangelische Deutsche Bahnhofsmission in der Bundesrepublik entwickelte 1

2

Jahresbericht des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1948 und 1949, EZA, 7/13477. Ein Erholungsheim gab der Verein in der Folgezeit ab, weil es auf dem Gebiet der DDR lag. Mitte der 1950er Jahre betrieb der Verein somit ein Altersheim in Berlin und ein Erholungsheim in Bad Sachsa, Niedersachsen. Vgl. Jahresbericht des Vereins „Weibliche Wohlfahrt“ 1953–1955, BDW C I 2927. Nikles, Soziale Hilfe, S. 313ff.

VI. Konstitution, Erhaltung und Beschränkung öffentlicher Räume

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sich schließlich wieder als selbständige verbandliche Einheit innerhalb der Inneren Mission.3 Leonie von Schierstaedt zeichnete für das Gebiet der ehemaligen DDR verantwortlich, bis 1956 unter dem Vorwurf der Spionage im sowjetischen Sektor nahezu alle Bahnhofsmissionen – die am Ostbahnhof bestand jedoch weiter4 – geschlossen wurden. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR wurden nach dem Fall der Mauer wieder sieben Einrichtungen eröffnet, so dass es derzeit nahezu 100 Bahnhofsmissionen deutschlandweit gibt. Helferinnen und Helfer arbeiten aktuell noch an drei Berliner Bahnhöfen: am Bahnhof Zoologischer Garten, am ehemaligen Schlesischen Bahnhof, dem heutigen Ostbahnhof, und am neu gebauten Hauptbahnhof. Wie zu Zeiten des Kaiserreichs, arbeitet der überwältigende Anteil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ehrenamtlich, ein geringerer Teil ist aber auch angestellt. Die Bahnhofsmissionen bieten keine spezielle Hilfestellung mehr bei der Anreise junger, ländlicher Zuwanderinnen. Auch der Aufbau eines Bahnhofsdienstes für Männer wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr für notwendig erachtet und keine nach Geschlechtern getrennte Betreuung betrieben. Das Konzept der „vorausgehenden“, „nachgehenden“ und „mitgehenden“ Hilfe wurde obsolet, so dass sich die angebotenen Dienstleistungen heutzutage hauptsächlich auf die Arbeit am Bahnhof beschränken: Hier bieten die Helferinnen und Helfer für alle Reisenden ihre Hilfe an und arbeiten weiterhin auch als Vermittlungsstelle zwischen Obdachlosen, Drogenabhängigen und Prostituierten sowie städtischen Ämtern und sozialen Projekten. Dieser Exkurs skizziert die sich nach 1945 wieder etablierende Arbeit der Bahnhofsmission nur kurz, um aufzuzeigen, dass die Organisation bis heute weiter existiert. Im Mittelpunkt der Arbeit jedoch stand der Zeitraum seit der Gründung der Berliner Bahnhofsmission Ende des 19. Jahrhunderts bis zu ihrer Schließung in den 1930er Jahre. Die Arbeit konzentrierte sich auf die Frage, wie und mit welchem persönlichen Nutzen Frauen Räume in der Öffentlichkeit der Stadt durch die Berliner Bahnhofsmission konstituierten, erweiterten und erhielten. Hierbei war von Interesse, welche Kooperationen diese Räume ermöglichten und welchen Aushandlungsprozessen sie unterlagen, welche Klassen- und Geschlechtsstrukturen die Räume durchzogen, von welchen sozialen Ungleichheiten sie gekennzeichnet waren und wie diese Räume eingeschränkt wurden. Mithilfe des methodischen Raumkonzepts von Martina Löw wurden zwei verschiedene stadt-öffentliche Räume in den Blick genommen: der bahnhofsmissionarische Raum an den Berliner Fernbahnhöfen zum einen und der lokale vereins- sowie überregionale verbandspolitische Raum zum anderen. Wie sich herausstellte, gab es nur vereinzelt Schnittmengen zwischen den auf verschiedenen Ebenen agierenden Akteurinnen. Die wenigsten Frauen, die vor Ort arbeiteten, waren auch im Verein oder dem Dachverband engagiert. Ausnahmen stellten einige in der durch den Verein Wohlfahrt initiierten „Bahnhofskommission“ aktiven Frauen sowie die im Vorstand und Ausschuss des Dachverbandes engagierten Leiterinnen der jeweiligen Bahnhofsmissionen, wie 3 4

Nikles, Soziale Hilfe, S. 321 und 340ff. Erich Preuß, Nach der Ankunft des Zuges. Berlin Ostbahnhof, in: Der Fahrgast 3, 2003, S. 42–43, hier: S. 43.

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VI. Konstitution, Erhaltung und Beschränkung öffentlicher Räume

Else Brüggemann, dar. Beide Frauengruppen waren in einem Ausschuss vernetzt und gleichzeitig als Bahnhofsmissionarinnen auch an den Bahnhöfen aktiv. Mehrheitlich existierten jedoch drei verschiedene Akteursgruppen, die mit unterschiedlichen Aufgaben befasst waren und verschiedene Räume konstituieren konnten. Die praktische Arbeit an den Berliner Bahnhöfen übten vorwiegend kleinbürgerliche und bürgerliche Frauen aus. Während im Kaiserreich die meisten von ihnen ehrenamtlich tätig waren, wurde in den 1920er Jahren eine zunehmend größere Gruppe von Frauen fest angestellt. Als die Berliner Bahnhofsmission 1939 geschlossen wurde, verloren schließlich alle Frauen ihre (Handlungs-)Räume. Das Profil der Vereinsfrauen hingegen sah völlig anders aus. Hier engagierten sich im Kaiserreich und der Weimarer Republik vornehmlich adlige und großbürgerliche Ehefrauen oder Witwen, die die berufliche und gesellschaftliche Stellung ihres Ehemannes zum Nutzen des Vereins einsetzten. Wenn sie unverheiratet waren, konnten einzelne Frauen Führungspositionen in den Heimen und Fachschulen übernehmen. Am Bahnhof engagierten sich die wenigsten Vereinsfrauen, beziehungsweise wie oben angesprochen, nur einige, die in der Bahnhofskommission des Vereins aktiv waren. Im Dachverband der Deutschen Bahnhofsmission oder seinen Gremien wurde eine dritte Frauengruppe aktiv: Diese Frauen kannten praktische Arbeit aus eigener Tätigkeit, waren aber vor allem auf administrativ-politischer Ebene engagiert. Sie entstammten vornehmlich bürgerlichen und großbürgerlichen Familien, waren fest angestellt tätig und ausnahmslos unverheiratet. Trotz der Verschiedenheit der Akteursgruppen, gab es in den Voraussetzungen, Räume konstituieren zu können und innerhalb dieser zu agieren, parallele Bedingungen. Neben der eigenen Motivation in die Öffentlichkeit treten und gesellschaftliche Räume erobern zu wollen, waren es vor allem ökonomische und technische Voraussetzungen, wie die Industrialisierung und Urbanisierung, die mit ihren Implikationen der steigenden Zuwanderung in die sich industrialisierende Hauptstadt, sowohl die Transportmöglichkeiten für eine steigende Binnenwanderung als auch den Bedarf an Arbeitskräften in Berlin anschoben. Des Weiteren schuf auch eine größere Anzahl von Vereinen und Verbänden am Ende des 19. Jahrhunderts Möglichkeiten für Frauen öffentliche Räume zu konstituieren. Die Kirchen verzeichneten eine zunehmende Säkularisation der Bevölkerung, der sie hofften mit Hilfe des sozialen Engagements von Frauen zu begegnen. Dabei schuf das Konzept der geistigen Mütterlichkeit, das nicht nur der biologischen Mutter, sondern der Frau schlechthin Kompetenzen in der sozialen Arbeit zusprach, einerseits die Möglichkeit, das Frauen auf unterschiedlichen Ebenen wohltätig aktiv wurden und stadtöffentliche Räume besetzen konnten. Andererseits begrenzte dieses Konzept die Möglichkeit innerhalb der sozialen Tätigkeit aufzusteigen und die öffentlichen Räume zu erweitern. Die gesellschaftliche Struktur beziehungsweise die Konstruktion einer öffentlichen und privaten Sphäre, der Männer und Frauen zugeordnet wurden,5 und die bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sinnstiftend blieb, war die Voraussetzung dafür, Frauen auf die Privatsphäre zu verweisen. Wie vorliegende Studie auf5

Vgl. Hausen, Die Polarisierung in: Conze, S. 363–393.

VI. Konstitution, Erhaltung und Beschränkung öffentlicher Räume

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zeigt, wurde innerhalb des wohltätigen Engagements für junge Binnenwanderinnen nur das öffentliche Auftreten bestimmter Frauen sanktioniert und betraf vor allem die alleinreisenden Frauen, nicht jedoch die Bahnhofsmissionarinnen oder die auf Vereins- und Verbandsebene aktiven Frauen. Der Wanderungsprozess von Frauen wurde im Unterschied zu dem von Männern deshalb mit Skepsis betrachtet, weil Frauen schnell unter Verdacht kamen, sich im städtischen Umfeld zu prostituieren. Durch die Verknüpfung von ökonomischen Bedingungen in den Großstädten, Annahmen über die biologische Disposition von Frauen und zeitgenössischen Moralvorstellungen wurden Binnenwanderinnen als „gefährdet“ wahrgenommen und parallel dazu ein moralisches und gesundheitliches Risiko angenommen, das von ihnen, speziell wenn sie sich prostituierten, für die gesamte Gesellschaft ausginge. Das „Gefährdetenkonzept“ war somit eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass sowohl die Bahnhofsmissionarinnen als auch die Frauen des Vereins Wohlfahrt und des Dachverbandes der Bahnhofsmission öffentliche Räume konstituierten und räumlichen Strukturen ausbildeten, die ein bestimmtes Handeln wiederum nach sich zogen. Wie Martina Löw deutlich macht, sind (räumliche) Strukturen und Handeln unter anderem von Klassenprinzipien durchzogen,6 was auch an den sozial engagierten Frauen und ihrer Klientel deutlich wird. Die Zuwanderinnen kamen entweder aus ländlichen Arbeiter-, Handwerker- und Bauernfamilien, die eine proletarische Lebensführung auszeichnete, oder stammten aus einem kleinbürgerlichen Milieu und unterschieden sich dadurch deutlich zu den im Verein und Verband aktiven Frauen und Männern. Den Bahnhofsmissionarinnen waren die Zuwanderinnen in ihrer Schichtzugehörigkeit jedoch sehr viel näher. Dass das Engagement der Fürsorgerinnen dennoch auf gesellschaftliches Wohlwollen stieß und sie öffentlich aktiv werden konnten, lag an der dichotomen Wahrnehmung und Konstruktion beider Akteursgruppen, da der gefallenen die sittlich reine Frau gegenübergestellt wurde, wobei die eine Gruppe von Frauen in der Öffentlichkeit auf ihre Sexualität reduziert und die andere entsexualisiert wurde. Die Entsexualisierung der Bahnhofsmissionarinnen verdeutlichte sich hierbei nicht nur über den sichtbaren kirchlichen Rahmen der Arbeit, sondern auch durch ihr angeblich rein mütterliches Engagement. Zurückkommend auf die These Margit Brückners, nachdem entsexualisiertes Auftreten von Frauen in der Öffentlichkeit diese als Frauen nicht sichtbar mache, wurde in vorliegender Arbeit eine andere Deutung vorgeschlagen. Auch wenn die Bahnhofsmissionarinnen nur über ihr entsexualisiertes Auftreten öffentlich agieren konnten, wurden sie als Frauen doch sichtbar, denn ihre Tätigkeit unterlag einem zeitgenössischen Weiblichkeitsbild, das Frauen zwar einschränkte und dadurch Männer in ihren gesellschaftlichen Räumen kaum bedrohte, dennoch oder gerade deswegen blieben sie als Frauen in der Öffentlichkeit erkennbar und hatten so die Möglichkeit öffentliche Räume individuell zu konstituieren. Für die binnenwandernden Frauen hatten das „Gefährdetenkonzept“ und die damit einhergehenden Hilfeleistungen des Vereins Wohlfahrt, der Berliner Bahnhofsmission und ihres Dachverbandes ambivalente Auswirkungen. Einerseits wa6

Löw, Raumsoziologie, S. 173ff.

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VI. Konstitution, Erhaltung und Beschränkung öffentlicher Räume

ren die Dienstleistungen und Integrationshilfen von Protektionsgedanken geleitet, so dass in das Leben der jungen Zuwanderinnen stark eingegriffen, sie in ihren Handlungsrahmen begrenzt und das Bild über „gefährdete“ Frauen reproduziert wurde. Gleichzeitig erleichterten diese Angebote den Berlin-Wanderinnen den Weg in ein neues städtisches Umfeld und erschlossen ihnen dadurch neue Räume. Für die Bahnhofsmissionarinnen sowie die Vereins- und Verbandsfrauen wiederum war das Konzept der „gefährdeten“ Frau wesentliche Basis für die Konstituierung, Erhaltung und Erweiterung ihrer öffentlichen Räume. Darin mag auch der Grund liegen, dass binnenwandernde Frauen der vornehmliche, jugendfürsorgerische Fokus der Akteurinnen städtischer Wohltätigkeit blieben, selbst als Frauen in der städtischen Öffentlichkeit in den 1920er Jahren sichtbarer wurden und die Bahnhofsmissionen und die Vereinsmitglieder auch eine Erweiterung, mindestens eine Veränderung der eigenen betreuten Gruppen erfuhren. Geschlechts- und Klassenstrukturen, sowie Kriterien sozialer Ungleichheit, wurden jedoch nicht nur gegenüber den Zuwanderinnen, sondern auch innerhalb der aktiven Frauen deutlich und zeigten sich in der individuellen (Un-)Möglichkeit Räume zu konstituieren und zu erweitern. Zur Raumkonstitution im Einzelnen Für die in dieser Arbeit vorgenommene Analyse der wohlfahrtspolitischen Arbeit der Frauen in der Bahnhofsmission erstens auf dem Bahnhof und zweitens im Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend sowie im Dachverband der Deutschen Bahnhofsmission wird nicht von zwei Räumen, einem „begehbaren“ und einem „sozialen“ Raum, ausgegangen, sondern von einem sozialen Raum gesprochen, der jedoch unterschiedliche materielle Bestandteile und Symboliken aufwies und sich an verschiedenen Orten materialisierte. Räume konstituierten sich demnach durch eine relationale Anordnung materieller und symbolischer Güter sowie durch die in diesen Räumen agierenden Lebewesen. Inklusion und Exklusion über räumliche Verteilungen wurden ebenso erkennbar wie Veränderungen in der Organisation des Nebeneinanders, das als gesellschaftlicher Wandel in der Konstitution von Räumen begreifbar wurde.7 Die Berliner Bahnhofsmissionarinnen arbeiteten an öffentlichen Orten in zweifacher Hinsicht. Zum einen hatten sie ihren Einsatzort am Bahnhof und zum anderen in der Stadt selbst. In Berlin existierten 1894, als die ersten acht Berliner Bahnhofsmissionarinnen ihren Dienst aufnahmen, um Reisenden allgemein und den jungen Zuwanderinnen im Speziellen, ihre Dienste anzubieten, insgesamt zehn Fernbahnhöfe. Die Frauen positionierten sich an den Bahnhöfen, ausgestattet mit einer Armbinde, Handzetteln und Flugschriften an den Zügen, wo sie die ankommenden Reisenden erwarteten oder in Eigeninitiative ansprachen. Zusätzlich hängten sie sowohl in den Zügen, als auch an den Bahnhöfen Warnplakate auf. Indem Zimmer oder kleine Wellblechhäuschen von der Bahnverwaltung bereitgestellt wurden, 7

Ebd., S. 14f.

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konnten sie sich zunehmend auf den Bahnhöfen etablieren. Die von den Bahnhofsmissionarinnen angeordneten Güter entfalteten eine Symbolik, die bestimmte Wertvorstellungen transportierten, da der bahnhofsmissionarische Raum nicht nur aus sichtbaren Substanzen, sondern auch aus Atmosphären bestand, die ebenfalls raumkonstituierend waren. Neben Gegenständen oder Räumlichkeiten können auch Personen durch eine öffentlich wirksame Strategie inszeniert werden, um dadurch eine gewünschte Wirkung zu erzielen. Das Tragen einer Armbinde und die Gestaltung der Bahnhofszimmer waren somit auch Inszenierungsleistungen. Durch die Armbinde, die den kirchlichen Rahmen erkennen ließ, erhielten die Fürsorgerinnen eine gewisse Autorität sowie Legitimität, waren gesellschaftlich in ihrem Erscheinungsbild akzeptiert und verkörperten durch diese Symbolik die soziale Mütterlichkeit, die lange Zeit als einzig akzeptierte Form weiblichen Auftretens in der Öffentlichkeit galt. Die Uniform wies sie als Angehörige einer disziplinierenden Institution, der Kirche, aus, deren Autorität und Würde sich auf sie übertrug. Auch die bahnhofsmissionarischen Zimmer wurden von den Fürsorgerinnen „inszeniert“, indem sie diesen ein Aussehen gaben, das die gewünschte Ausstrahlung als „christlicher Schutzraum“ erhielt und so die Wahrnehmung möglicher Nutzer beeinflusste. Die Berliner Fernbahnhöfe lagen, außer den Bahnhöfen Zoologischer Garten und Charlottenburg, alle entweder im alten historischen Stadtkern, der sich im 19. Jahrhundert zur City wandelte, oder im erweiterten Einflussbereich des Zentrums. Während sich das Zentrum zum Ort der Repräsentation und Kultur, des Einkaufens und der Büroarbeit entwickelte, zeichneten sich die um das Zentrum anschließenden Stadtbezirke durch eine Kombination aus Wohn- und Geschäftsviertel aus. Diese Stadtviertel unterschieden sich in ihrem Sozialstatus, Milieu und ihrer Bewohnerschaft jedoch erheblich. Der Arbeitsalltag der Bahnhofsmissionarinnen war deshalb stark von der Gegend, in der der Bahnhof lag, geprägt, weil sich das Milieu der den Bahnhof umgebenden Stadtbezirke auch in den Bahnhöfen selbst widerspiegelte. Prostituierte, Wanderarbeiter oder wohlhabende Berliner wohnten und arbeiteten nicht nur in den Stadtbezirken um den jeweiligen Bahnhof, sondern sie betraten und nutzten diesen auch. Gleichzeitig hielten sich die Bahnhofsmissionarinnen in der näheren oder weiteren Umgebung des Bahnhofs auf, wodurch der Bahnhof und die Stadt beziehungsweise die Vorstädte zu einem bahnhofsmissionarischen Raum verschmolzen. Das war der Fall bei Kontrollgängen, oder um Reisende zu ihren Bestimmungsorten und junge Frauen zu ihren Wohnheimen in Berlin zu begleiten, bei ihrer Besuchsarbeit als Teil der nachgehenden Fürsorge, bei Sammelaktionen oder wenn sie in Zügen bis in die Vorstädte mitfuhren. Dadurch, dass die Berliner Bahnhofsmissionarinnen zum ersten Mal organisierte, bahnhofsmissionarische Öffentlichkeitsarbeit durchführten und an 800 Bahnhöfen Plakate aufhängten, erstreckte sich ihr öffentlichkeitswirksamer Raum nicht nur auf Berlin und die Vororte, sondern auf das gesamte preußische Territorium, wodurch sie ihren öffentlichen Raum flächendeckend zwischen Stadt und Provinz ausdehnten. Weil Räume im Handeln geschaffen werden, konstituierte sich der Raum der Bahnhofsmission und ihrer Mitarbeiterinnen auch durch ihre umfassenden Kooperationen, die mit vielen verschiedenen Organisationen angestrebt und durchgeführt wurden. So mit dem Deutschen Nationalkomitee zur Bekämpfung des Mädchen-

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handels, ebenso mit dem Berliner Bahnhofsdienst, der Polizei, den Obdachlosenasylen, den Berliner Jugend‑, Wohlfahrts- und Gesundheitsämtern, dem Pflegeamt sowie dem Jugendheim im Polizeipräsidium und im „Dritten Reich“ mit der Nationalsozialistischen Volksfürsorge. Das bahnhofsmissionarische Aufgabenfeld stellte bei den Kooperationen eine Schnittstelle zwischen reisenden und hilfsbedürftigen Personen sowie kommunalen, privaten und konfessionellen Einrichtungen dar und war deshalb von Flüchtigkeit gekennzeichnet, so dass die Personen nur kurzfristig von den Bahnhofsmissionarinnen betreut wurden. Besonders in der fürsorgerischen, also besonders in der „nachgehenden“ Betreuung von so genannten Gefährdeten, aber auch obdachlosen Frauen und Männern, erhofften sich die Helferinnen Möglichkeiten Handlungsräume zu erweitern. Da der Haupteinsatzort der Bahnhofsmissionarinnen jedoch meist der Bahnhof blieb, änderte sich an dem kurzfristigen Hilfehandeln im Allgemeinen nichts. Kommunale Politiker, wie der Berliner Oberbürgermeister Sahm, machten deutlich, dass die Dienstleistungen der Bahnhofsmissionen gewünscht und die Fürsorgerinnen zu den Kooperationen und Überweisungen offiziell befugt waren, nicht zuletzt weil sie dadurch der Kommune halfen Ruhe und Ordnung im öffentlichen Raum durchzusetzen. Der Berliner Magistrat verlautbarte, dass die Berliner Bahnhofsmission die Stadt in großem Umfang unterstütze, so dass sie für ihre Dienste finanziell beispielsweise unterstützt wurde, indem die Hilfestelle am Schlesischen Bahnhof durch den Magistrat mitgetragen wurde, was es der Bahnhofsmission wiederum ermöglichte ihre öffentlichen Räume aufrechtzuerhalten. Das Vertrauen städtischer Stellen in die Berliner Bahnhofsmission verdeutlichte sich auch darin, dass den Fürsorgerinnen in den 1920er Jahren Fahrkarten zur Verfügung gestellt wurden, die diese eigenverantwortlich an bedürftige Personen ausgeben konnten. Da die Bahnhofsmissionen an allen Berliner Bahnhöfen ähnlich gestaltet waren und die Fürsorgerinnen ihre Dienstleistungen kontinuierlich und dauerhaft reproduzierten, konnte sich die Bahnhofsmission institutionalisieren, wodurch die gesellschaftlichen Räume Dauerhaftigkeit und eine gewisse Wirkmächtigkeit entfalteten. Das hatte zur Folge, dass auch zunehmend mehr Menschen die Dienstleistungen der Mitarbeiterinnen in Anspruch nahmen. Relativierend muss jedoch konstatiert werden, dass selbst nach vier Jahrzehnten nur jede sechste Person (15 Prozent), die über einen Bahnhof nach Berlin wanderte, die bahnhofsmissionarischen Dienstleistungen in Anspruch nahm. Damit ist ein weiteres, wichtiges Kriterium zur Möglichkeit der Konstitution von Räumen durch die Bahnhofsmissionarinnen angesprochen. Deren Raum stellte sich nämlich nicht nur her, weil die Fürsorgerinnen selbst an den Bahnhöfen und im Stadtraum präsent waren, sondern auch, weil Menschen über Wahrnehmungs‑, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse den so konstituierten Raum und die Dienste der Berliner Bahnhofsmission nutzten. Die Synthetisierung8 und Nutzung gesellschaftlicher Räume durch Reisende und hilfebedürftige Personen war somit unverzichtbare Voraussetzung dafür, dass die Berliner Bahnhofsmissionarinnen ihre öffentlichen Räume erhalten konnten. 8

Damit ist die Verknüpfung der umgebenden sozialen Güter und Menschen zu Räumen gemeint. Vgl. Ebd., S. 158ff.

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Die Möglichkeit, öffentliche Räume zu konstituieren, lag darüber hinaus nicht unerheblich an den Aktivitäten des bahnhofsmissionarischen Trägervereins, dem 1890 durch den Pfarrer Johannes Burckhardt ins Leben gerufenen Verein zur Fürsorge der weiblichen Jugend, der sich später den Namen Wohlfahrt der weiblichen Jugend gab. Durch das Engagement der aktiven Frauen und Männer, wurde vier Jahre nach Vereinsgründung die erste organisierte Bahnhofsarbeit initiiert, lokal weiter entwickelt und es wurden – mithilfe anderer Organisationen – verbandliche Strukturen ausgebildet. Über das Handlungsmodell „Verein“ konnten Frauen dadurch ebenfalls öffentliche Räume konstituieren. Die im Verein aktiven Frauen waren überwiegend verheiratet oder verwitwet und engagierten sich gemeinsam mit den männlichen Vereinsmitgliedern, indem sie mit dem Vorstand und den unterschiedlichen Arbeitsausschüssen die politische Richtung des Vereins, seine Vereinsziele und -aktivitäten aushandelten und modifizierten. Sie entschieden mit bei der Etablierung neuer Vereinsschwerpunkte, trafen Finanzentscheidungen und betrieben Personalpolitik. Dadurch waren die Vereinsfrauen auf einem wohlfahrtspolitischen besonders für die Kommune wichtigen Feld aktiv und übten dabei viele Fähigkeiten ein, die für öffentliches Engagement hilfreich sind, wie Verhandlungsgeschick und Diplomatie bei der Durchsetzung eigener Ziele. Weibliche Mitglieder stellten vor allem im Kaiserreich und der Weimarer Republik zu manchen Zeiten über die Hälfte des Vorstandes und repräsentierten dabei die hohe berufliche Stellung und das Vermögen ihrer Ehemänner.9 Vorstandsfunktionen wie Vorsitz, Schriftführung oder Beisitz wurden von ihnen jedoch kaum gehalten. Einzig das Amt der zweiten stellvertretenden Vorsitzenden wurde in der Weimarer Republik mit einer Frau besetzt. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme sank der Anteil von Frauen auf unter ein Viertel der Vorstandsmitglieder. Es waren nun bürgerliche und nicht mehr adlige und großbürgerliche Frauen, die sich für den Verein einsetzten. Sowohl die gesunkene Anzahl von Frauen im Vorstand als auch die veränderte Schichtzugehörigkeit verdeutlichen, dass weder die Verbindung von Thron und Altar noch das Modell der verheirateten adligen oder großbürgerlichen Frau, die sich philan­thropisch engagierte, noch existierte. Mit den Bahnhofsmissionarinnen hatten die Vereinsfrauen indes nur vereinzelt Schnittmengen, weil ihr Engagement zumeist auf den Bereich der Vereinspolitik beschränkt blieb und sie sich in ihrer Schichtzugehörigkeit von den Bahnhofsmissionarinnen unterschieden. Grundsätzlich engagierte sich im Kaiserreich und in der Weimarer Republik die Mehrheit der Mitgliedsfrauen weder praktisch, noch griffen sie in die mediale Öffentlichkeitsarbeit ein oder veröffentlichten Beiträge in den Jahresberichten. Dieses Engagement war – mit einigen Ausnahmen – den wenigen unverheirateten, ebenfalls im Kaiserreich und der Weimarer Republik aus dem adligen Milieu stammenden Vereinsfrauen sowie einigen aktiven weiblichen Ausschussmitgliedern des Vereins vorbehalten. Diese waren entweder als Vorsteherinnen von Heimen und Leiterinnen von Arbeitsschulen oder, wenn sie sich in der Bahnhofskommission engagierten, auch vereinzelt am Bahnhof aktiv. Die Frauen, 9

Die Frauen wurden in den Mitgliederlisten stets mit der Berufsbezeichnung ihres Mannes genannt wie beispielsweise Frau Senatspräsident Stiller oder Frau Bankier Loesche.

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die in den 1930er Jahren für den Verein aktiv wurden, waren vermutlich alle unverheiratet und hatten einen eigenen Beruf. Auch sie waren indes nicht bei der Bahnhofsmission angestellt. Durch die Palette von Angeboten und die Integrationshilfen für Zuwanderinnen, die der Verein bereitstellte, agierte er mit einer konservativen Grundhaltung, weil er die im Fokus stehenden jungen Frauen vor etwas bewahren wollte, statt ihnen attraktive und zukunftsweisende Berufs- und Lebensmöglichkeiten zu eröffnen. Aufgrund des Gefährdetenkonzepts wurden die Nutzerinnen der Vereinsangebote in ihrer Raumkonstitution behindert, da sie sich weder in den Heimen noch in den Jungfrauenvereinen durchwegs frei und gemäß ihren eigenen Zielvorstellungen bewegen konnten. Dennoch war der Verein in seinen Angeboten auch innovativ. Heimathäuser für junge Berlinwanderinnen, besonders für Frauen aus Arbeiterfamilien zu schaffen, war ein neuer Gedanke und zeigt, dass sich die Vereinsmitglieder darüber bewusst waren, dass der Prozess der kontinuierlichen Zuwanderung in die Hauptstadt und die Arbeitsuche im städtischen Umfeld irreversibel war. Das Ansinnen der Vereinsakteure war hierbei, christlich-bürgerliche Werte – auch als Bollwerk gegen die Sozialdemokratie und die Säkularisierung – im städtischen Umfeld zu verankern. Durch seine Aktivitäten sowie durch Netzwerke und Kooperationen war der Verein nicht auf ein lokales Handlungsfeld beschränkt, sondern dehnte sich national und international aus. Dabei konstituierte sich auch der soziale Raum des Vereins in der relationalen Anordnung von materiellen Gütern, der diesen Gütern inhärenten Symbolik und durch die in diesen Räumen agierenden Akteure. Die Ausdehnung der Vereinsaktivitäten wurde hierbei im Verlauf der betrachteten fünf Jahrzehnte in unterschiedlichem Ausmaß in Berlin und darüber hinaus sichtbar. Die Entscheidung, das Hauptbüro in der Tieckstraße 17 in der Oranienburger Vorstadt, nahe dem Stettiner Bahnhof, zu eröffnen, wurde bewusst getroffen und hatte sowohl symbolische wie auch pragmatische Gründe, weil man in einem von Prostitution geprägten Stadtteil präsent sein und dadurch seine Schutzfunktion deutlich machen wollte. Der öffentliche Raum des Vereins bestand aber auch aus den Heimathäusern, die er im Norden, Süden, Osten und Westen eröffnete, den verschiedenen Stellenvermittlungsbüros, den Klubs für junge Mädchen, die bald in allen Stadtteilen existierten, den Haushaltungs- und Arbeitsschulen, mit denen Frauen proletarischer Schichten angesprochen wurden, sowie dem Verein für Hausangestellte, dem Schlafstellennachweis und den Hospizen. Schließlich dehnte der Verein seine Präsenz auch auf andere deutsche Landesteile aus, indem er außerhalb Berlins gelegene Erholungshäuser eröffnete. Durch seine Zusammenarbeit mit anderen Organisationen, wie den Freundinnen junger Mädchen, dem Verband der Evangelischen Jugend oder dem Deutschen Nationalkomitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels hatte der Verein international agierende Kooperationspartner, wodurch einzelne Vereinsmitglieder wie die erste Schriftführerin Gertrud Müller und der Vorsitzende Johannes Burckhardt über den lokalen Rahmen hinaus Räume konstituieren konnten. Durch die Inszenierung seiner Öffentlichkeitsarbeit, die bewusste christliche Gestaltung der Berliner Bahnhofsmission, der Lehrkurse, Übernachtungs- und

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Wohnmöglichkeiten und anderer Integrationsangebote wurden die konstituierten öffentlichen Räume von unterschiedlichen Adressatengruppen wiedererkannt, angenommen und genutzt, wodurch die aktiven Frauen und Männer die öffentlichen Vereins-, Verbands oder bahnhofsmissionarischen Räume sicherten. Auch die städtischen Ämter Berlins waren auf diese Dienstleistungen angewiesen und unterstützten den Verein deshalb ideell und finanziell. So förderten sowohl einzelne Ministerien als auch die Stadt Berlin die Vereinsaktivitäten, beispielsweise indem die Unterhaltung der Heime subventioniert wurde. Da die bewusst gestalteten Räume von Menschen und Menschengruppen zwar ähnlich wahrgenommen werden, aber nicht universell sind, können sie auch abgelehnt werden, was wiederum zur Einschränkung von Räumen führen kann. So war der Verein unter den Frauen, derer er sich bevorzugt annehmen wollte, nämlich den Dienstmädchen und Fabrikarbeiterinnen, nur eingeschränkt erfolgreich. Das wurde bei der Besuchsarbeit und der Heimbelegung deutlich. Für die Zuwanderinnen, die als Dienstmädchen in Berlin Stellungen suchten, war die christliche Ausrichtung der Vereinsaktivitäten nur bedingt attraktiv, was zur Folge hatte, dass spätestens in den 1930er Jahren neu Zugezogene weder besucht noch vom Verein selbst angeschrieben wurden. Von den Heim­angeboten wiederum fühlten sich vorwiegend kleinbürgerliche und nicht proletarische Frauen angesprochen. Dadurch wurden in die durch den Verein Wohlfahrt sowie der Heimleiterinnen und Bahnhofsmissionarinnen geschaffenen Räume eine beträchtliche Zahl junger Zuwanderinnen mit ein‑, andere jedoch dauerhaft ausgeschlossen. Die 1897 durch den Berliner Lokalverein, den Verein der Freundinnen junger Mädchen und den Evangelischen Verband für die weibliche Jugend gegründete Kommission der Deutschen Bahnhofsmission entwickelte den Dachverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission. 1916 wurde dieser gerichtlich eingetragen und bildete regionale, lokale und zentrale Strukturen aus. An der Herausbildung des Dachverbandes waren somit unterschiedliche Akteure beteiligt: die Mitgliedsfrauen des Freundinnenvereins, die Frauen und Männer des Evangelischen Verbandes und die Personen, die im Ausschuss zur Fürsorge für die einwandernde weibliche Jugend („Bahnhofskommission“) des Berliner Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend engagiert waren. Nachdem der Dachverband noch im Kaiserreich voll funktionsfähig wurde, engagierten sich auf Leitungsebene in dem überproportional von Frauen besetzten Vorstand und Ausschuss (unverheiratete) Frauen wie die Leiterinnen verschiedener Bahnhofsmissionen und die Generalsekretärinnen und Vorsitzenden von konfessionellen und freien Wohlfahrtsverbänden und -vereinen. Im Vorstand und Ausschuss des Dachverbandes der Bahnhofsmission waren sie deshalb aktiv, weil es zwischen den Aufgaben ihrer eigenen Organisation und der Bahnhofsmission sich überschneidende Tätigkeitsfelder gab: die Zuwanderung junger Frauen, der Mädchenhandel oder die Gefährdetenarbeit. Die engagierten Männer und Frauen waren mit allen Fragen befasst, die die öffentlichen Räume des Dachverbandes sicherten und erweiterten, wobei es um die Öffentlichkeitsarbeit, die Schulung von Mitarbeiterinnen, die Finanzierung und den Ausbau der Organisation ging. In der Kommission der Deutschen Bahnhofsmission und darauf folgend des Dachverbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission waren

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es vor allem zwei Protagonistinnen, die nicht nur öffentliche Räume konstituierten und viele Jahre halten konnten, sondern innerhalb dieser Räume auch Leitungsfunktionen übernahmen. Gertrud Müller und Theodora Reineck waren für die Gesamtorganisation nicht nur am längsten aktiv, sie prägten und forcierten die Verbandsentwicklung durch ihr Engagement erheblich. Durch ihre berufliche Stellung war es ihnen möglich auf der administrativen, der diskursiven und der praktischen Ebene ihre Handlungsmöglichkeiten zu gestalten, indem sie die überregionale Vernetzung der Bahnhofsmissionen durch den Aufbau eines Dachverbandes voranbrachten, in verbandspolitische Entscheidungen einbezogen waren, sich in aktuelle Debatten einschalteten und beide auch zuweilen vor Ort, an den Berliner Bahnhöfen, tätig waren. Dass sich, wie Adelheid von Saldern anmerkt, Machtkonstellationen und Gesellschaftshierarchien verräumlichen und symbolische Kraft auf Wahrnehmungen ausüben,10 wird am Ausbau öffentlicher Räume und der zunehmenden Nutzung des Dachverbandes sowie seiner Netzwerkstrukturen deutlich. Neben einem handlungsfähigen Dachverband wuchs die Anzahl der deutschlandweiten Bahnhofsmissionen vom Kaiserreich bis in die 1930er Jahre auf 300 Lokalorganisationen an. Die bereits angesprochene Symbolwirkung wurde durch Inszenierungsarbeit in der Gestaltung der einzelnen Bahnhofsmissionen und vor allem der Öffentlichkeitsarbeit erreicht, für die der Verband nicht unerhebliche finanzielle Mittel verwandte. Die Medienproduktion und Öffentlichkeitsarbeit des Verbandes war dementsprechend umfangreich und reichte von Plakaten, Handzetteln, Flugschriften, Postkarten, Gedichtbänden über die Veröffentlichung einer Fülle von Artikeln in verschiedenen Zeitschriften sowie der Herausgabe einer eigenen Verbandszeitschrift bis zum Erstellen von Schulmappen und der Mitwirkung an Ausstellungen. Damit beteiligte sich der Verband an gesellschaftlichen Diskussionen, war aber auch selbst meinungsbildend und hatte maßgeblichen Anteil an der Zählebigkeit des Bildes der „gefährdeten“ Frau in der Öffentlichkeit, was die Bahnhofsmissionen wiederum notwendig machte und ihren eigenen Bestand sowie den des Verbandes sicherte. Hierbei war die Organisation jedoch nicht nur Teil moderner Urbanität, vielmehr kommunizierte sie ebenso mit ländlichen Gegenden, weil in der Lokalpresse Anzeigen über die angebotenen Dienstleistungen geschaltet und vor dem Zuzug in die Stadt warnende Artikel publiziert wurden. Somit erweiterte sich der öffentlichstädtische Raum der Berliner Bahnhofsmission, des Dachverbandes sowie ihrer Mitarbeiterinnen, zu einem zusammenhängenden Raum mit der Provinz. Die Existenz des Dachverbandes wurde auch durch öffentliche Unterstützung gewährleistet, indem er finanziell subventioniert wurde oder Verkaufs- und Sammelaktionen durchführen konnte. Dass sich der Verband sukzessive institutionalisierte wird daran deutlich, dass die Bahnhofsmissionen in den 1930er Jahren fest im Öffentlichkeitsbild vieler Städte verankert waren, so dass es für die Nationalsozialisten unmöglich war, die Institution sofort nach der Machtübernahme abzuschaffen. Erst nach dem Aufbau staatlicher Betreuungseinrichtungen am Bahnhof, die dem Auf-

10 Saldern, Stadt und Öffentlichkeit, hier: S. 3.

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bau der konfessionellen Organisationen folgten, war die Zurückdrängung der Evangelischen Bahnhofsmission möglich. Räume sind einerseits von Geschlechts- und Klassenstrukturen durchzogen und andererseits abhängig von den Kriterien sozialer Ungleichheit. Damit konstituiert sich Raum nach Martina Löw abhängig von den Möglichkeiten, auf soziale Güter (Reichtums-Dimension), auf Bildung (Wissens-Dimension), auf soziale Positionen (Rang-Dimension) und auf Zugehörigkeit (Assoziations-Dimension) zurückzugreifen. Deutlich wurde das durch die unterschiedlichen Voraussetzungen, die die individuellen Frauen hinsichtlich ihrer Ausbildung oder Schichtzugehörigkeit mitbrachten und inwieweit sie fest angestellt wurden oder ehrenamtlich arbeiteten und an der Öffentlichkeitsarbeit partizipieren konnten. Die Raumkonstitution ist erheblich von der „Reichtums-Dimension“, das heißt von den Verfügungsmöglichkeiten über soziale Güter, wie beispielsweise Ausbildungsmöglichkeiten und Einkommen, abhängig. Um eine Festanstellung bei der Berliner Bahnhofsmission erhalten und eine dementsprechende Position beispielsweise als Leiterin ausüben zu können, galt: je solider die Schul- und Berufsausbildung war, desto bessere Positionen konnten Frauen in den Lokalorganisationen oder dem Gesamtverband erlangen. Eine Ausbildung und damit Festanstellung waren somit notwendige Voraussetzungen, um finanzielle Unabhängigkeit zu erringen und neue Räume konstituieren zu können. So brachten auch nur die fest angestellten Frauen die Ausbildungsgrundlagen mit, um sich beispielsweise zu Wohlfahrtspflegerinnen ausbilden zu lassen und dadurch in einem Verband assoziiert zu sein, der bestrebt war ihre Interessen zu vertreten. Dass zur Durchsetzung von (Handlungs-)Räumen die Zugehörigkeit zu einem Netzwerk wichtige Voraussetzung sein konnte (Assoziations-Dimension), wurde in den 1920er Jahren deutlich, als der Verband der Wohlfahrtspflegerinnen beschloss, ehrenamtliche Frauen aus seiner Organisation auszuschließen. Völlig außerhalb jeglicher Besoldung stand die Schar ehrenamtlich arbeitender Frauen. Ihr Engagement und ihre Arbeit blieben unbezahlt und sie dadurch in einem andauernden Abhängigkeitsverhältnis zum Ehemann oder einer anderen sie versorgenden Person. Die eben ausgeführte Löw’sche These von der notwendigen „Reichtums-Dimension“ für die Raumkonstitution wurde in dieser Arbeit hinsichtlich der ehrenamtlich arbeitenden Frauen eingeschränkt. Nur die Möglichkeit unbezahlter Arbeit gestattete vielen Frauen ein soziales Engagement im öffentlichen Raum, was wiederum die Voraussetzung dafür war, eine soziale Aktivität in der städtischen Öffentlichkeit aufnehmen zu können. Zu diesen ungleichen Bedingungen kamen jedoch auch noch die geschlechtsspezifischen, gesellschaftlichen Strukturprinzipien, wodurch die Vereinsfrauen, die Frauen des Dachverbandes und die Leiterinnen der lokalen Bahnhofsmissionen überwiegend oder ausschließlich angestellt arbeiten konnten, wenn sie unverheiratet waren. Darüber hinaus waren die fest angestellten Frauen prinzipiell gegenüber fest angestellten Männern benachteiligt, weil sie durchgängig niedrigere Bezüge hatten. So verdiente der Vorsitzende des Vereins Wohlfahrt mehr als doppelt so viel als die Geschäftsführerin des Dachverbandes der Bahnhofsmission, Theodora Reineck. Fest angestellte Bahnhofsmissionarinnen der Berliner Bahnhofsmission so-

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wie Fürsorgerinnen, die in der nachgehenden Fürsorge tätig waren, verdienten wiederum nur die Hälfte beziehungsweise ein Drittel des Einkommens, das Theodora Reineck erhielt. Auch die Möglichkeiten, auf der medialen Ebene und dadurch an der Öffentlichkeitsarbeit zu partizipieren, machen oben genannte Kriterien deutlich. Ausschlaggebend für die Konstitution des medialen Raumes waren die Kriterien Geschlecht und Klasse in Verbindung mit der jeweiligen sozialen Position und dem Zugang zu verbandlichen beziehungsweise Vereinsstrukturen. Der publizistische Gestaltungsrahmen war dementsprechend sowohl unter den Geschlechtern, als auch unter den Frauen selbst verschieden groß. Die Möglichkeit in den medialen Raum einzugreifen und sich an inhaltlichen Diskussionen zu beteiligen, hatten deshalb vor allem fest angestellte Frauen bürgerlicher Herkunft, die aufgrund ihrer Ausbildung eine relativ hohe Position in der jeweiligen Organisation einnahmen und durch die Aktivität in einem Ausschuss oder Gremium in Netzwerkstrukturen eingebunden waren. Für den Dachverband der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission waren das Theodora Reineck, die Geschäftsführerin der Deutschen Bahnhofsmission, sowie ihre Vorgängerin Gertrud Müller oder Leiterinnen anderer Organisationen, die ebenfalls im Ausschuss oder Vorstand des Dachverbandes engagiert waren. Unter den Bahnhofsmissionarinnen, die vor Ort arbeiteten, waren es wiederum vor allem die fest angestellten Leiterinnen, wie die Leiterin der Berliner Bahnhofsmission, die häufiger Artikel veröffentlichten oder regelmäßige Berichte über ihre Bahnhofsmission verfassten. Einige Bahnhofsmissionarinnen, die über die Bahnhofskommission des Vereins Wohlfahrt vernetzt waren, publizierten im Grunde nur in den Jahresberichten des Vereins und sehr selten auch in Zeitschriften. Die kontinuierlich erscheinenden Jahresberichte des Vereins wurden vom jeweiligen Vereinsdirektor geschrieben, allerdings häufig durch Schilderungen aus der Arbeit der Heime, der nachgehenden Fürsorge oder der Bahnhofsmission durch fest angestellte Mitarbeiterinnen ergänzt. Da Räume in einer hierarchisch organisierten Gesellschaft zumeist ungleich verteilt sind, werden sie häufig Gegenstand sozialer Auseinandersetzungen. Das verdeutlichte sich an dem kulturpolitischen Streit zum Thema „Mädchenhandel“ zwischen Akteuren des Dachverbandes, des Vereins Wohlfahrt und dem Deutschem Nationalkomitee einerseits sowie dem Innenministerium und der Polizei andererseits. Auch vor Ort an den Bahnhöfen kam es zu Aushandlungsprozessen um öffentliche (Handlungs-)Räume, wie die Konkurrenzsituation der Berliner Bahnhofsmissionarinnen zu den Beamtinnen der weiblichen Polizei zeigte. Besonders umkämpft war der öffentliche Raum, nachdem die Nationalsozialisten die eigene Macht implementierten, den Einfluss und teilweise die Arbeitsgebiete des Vereins und des überregionalen Verbandes zurückdrängten und die lokalen Bahnhofsmissionen schlossen. Forciert wurde dieser Prozess der Beschränkung durch den Entzug finanzieller Ressourcen. Die finanzielle Lage der Berliner Bahnhofsmission und ihres Trägervereins war deshalb zunehmend prekär. Der Verein konnte nicht mehr eigenständig agieren, verlor sein Vereinsbüro und musste sich gemeinsam mit einem anderen Verein organisieren. Darüber hinaus sank die Mitarbeiterinnenzahl kontinuierlich und die

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verbliebenen Bahnhofsmissionarinnen mussten Einkommenseinbußen akzeptieren. Schließlich wurden die Evangelische Bahnhofsmission und der Evangelische Bahnhofsdienst in Berlin unter der organisatorischen Leitung des Bahnhofsdienstes zusammengelegt. Die öffentlichen Räume der verbleibenden Frauen wurden nun noch weiter eingeschränkt. Dass sie ihre Organisation unter männliche Führung stellen mussten, zeigt, wie gesellschaftliche Strukturen von der Zuordnung zu einem Geschlecht geprägt sind und dadurch die Möglichkeiten Räume zu schaffen, zu erweitern und, in diesem Fall, zu erhalten, eingeschränkt oder ermöglicht werden. Ein ähnlicher Prozess wurde auch an der Position Theodora Reinecks deutlich, die deshalb frühzeitig berentet wurde, weil der Vorstand und Ausschuss des Verbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission zu der Überzeugung gekommen waren, dass ein männlicher Geschäftsführer für die Verhandlungen mit der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt geeigneter sei. Obwohl Reineck jahrzehntelang die Geschäfte des Dachverbandes eigenständig und erfolgreich geführt hatte, wurde ihr offenbar in einer für die lokalen Bahnhofsmissionen und den Gesamtverband politisch wie ökonomisch schwierigen Situation, weder zugetraut noch zugebilligt, ihr Amt auch weiterhin zum Nutzen der Organisation zu führen. Der langsame Auflösungsprozess innerhalb der Berliner Lokalorganisation, durch den alle Mitarbeiterinnen ihren Aufgabenbereich, die Festangestellten zusätzlich ihr Einkommen, verloren und vermutlich eine große Zahl der Frauen auch langfristig arbeitslos und ohne Betätigungsfeld blieben, bedeutete den weitgehenden Verlust ihrer öffentlichen Räume. Ausnahmen bildeten einzig die Frauen, die von den staatlichen Bahnhofsdiensten übernommen wurden. Bekannt ist, dass die NSV daran Interesse hatte, Frauen aus den konfessionellen Organisationen zu übernehmen, da sie in das Arbeitsfeld gut eingearbeitet und daher versiert waren. Es liegen jedoch keine Kenntnisse darüber vor, ob und wie viele Frauen auf dieses Angebot eingegangen sind. Im Vergleich zu den Frauen, die am Bahnhof ehrenamtlich oder fest angestellt arbeiteten oder die im Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend aktiv waren, hatten sich die Frauen, die in Vorstand und Ausschuss des Dachverbandes engagiert waren, sowohl durch die Festanstellung und damit die finanzielle Unabhängigkeit als auch durch die berufliche Position in dem behandelten Zeitraum die umfangreichsten Räume schaffen können. Insgesamt blieb der (Handlungs-)Raum der meisten Frauen jedoch stets beschränkt, weil auch bei den vernetzten, fest angestellten Frauen in Verein, Verband und Bahnhofsmission Leitungspositionen in Wohlfahrt und Administration nur in Ausnahmefällen mit gut ausgebildeten Frauen besetzt wurden. Weder Festanstellung noch solide Ausbildung führten daher notwendigerweise zu einer höheren Position. Die Zahl der Frauen, die in verhältnismäßig hohe Stellungen aufsteigen und diese Position über einen längeren Zeitraum innerhalb der Bahnhofsmission halten konnten, blieb deshalb auf zwei Akteurinnen, nämlich Gertrud Müller und vor allem Theodora Reineck begrenzt. Die Posten des Geschäftsführers der Berliner Bahnhofsmission, die des Präsidenten des Dachverbandes der Deutschen Bahnhofsmission oder die meisten Vorstandsposten im Verein Wohlfahrt wurden dagegen ausschließlich mit Männern besetzt. Das lag erheblich am Konzept der geistigen Mütterlichkeit, das ursprünglich Frauen eine Möglich-

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keit gegeben hatte im öffentlichen Raum aktiv zu werden, schließlich aber auch zum Hemmnis wurde, weil der sozialen Mission gegenüber dem Erwerb immer der Vorrang gegeben wurde. Die Akteurinnen an den Bahnhöfen, im Verein und im Dachverband, ließen sich nicht auf den Privatbereich verweisen. Gestützt auf ein medial wirksames Gefährdetenkonzept und im Rückgriff auf den sich institutionalisierenden bahnhofsmissionarischen Raum, gelang es ihnen über viele Jahrzehnte auf verschiedene Weise und mit unterschiedlichem Einflusspotenzial ausgestattet, öffentliche Räume zu konstituieren und zu erhalten. Bei der Raumkonstitution kam es zu kontinuierlichen Grenzverschiebungen innerhalb der sozialräumlichen, wohlfahrtspolitischen und medialen Öffentlichkeit. Es wurde deshalb deutlich, dass ein bis weit in das 20. Jahrhundert hinein wirkendes Konstrukt, das die Gesellschaft in eine vermeintlich klar getrennte private und öffentliche Sphäre trennte, und Frauen sowie Männer je einem Bereich zuordnete, wenig tauglich ist, die sozialen Beziehungen zwischen den Geschlechtern und die historische Wirklichkeit von Frauen angemessen zu analysieren. Durch die Erweiterung der Räume der Frauen, die im Mittelpunkt der Arbeit standen, wurden die Räume anderer Frauen, nämlich der jungen Binnenwanderinnen, dauerhaft beschränkt. Bedenkt man insgesamt die verschiedenen Determinanten der Raumkonstitution und darüber hinaus auch, wie sehr sich die Nutzerinnen am Bahnhof und in den darüber hinaus gehenden Betreuungsangeboten entzogen, so waren die geschaffenen Räume der Bahnhofsmissionarinnen und der Frauen in Verein und Verband stets stark begrenzt.

Abkürzungsverzeichnis ADW Archiv des Diakonischen Werkes der EKD, Berlin AfS Archiv für Sozialgeschichte BArch Bundesarchiv, Berlin BBKL Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon BDM Bund Deutscher Mädel BDW Bibliothek des Diakonischen Werkes, Berlin BM/B.M. Bahnhofsmission DDR Deutsche Demokratische Republik DEF Archiv des Deutsch-Evangelischer Frauenbundes EKD Evangelische Kirche in Deutschland EZA Evangelisches Zentralarchiv, Berlin GG Geschichte und Gesellschaft GStA PK Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz HJ Hitlerjugend HZ Historische Zeitschrift IMS Informationen zur modernen Stadtgeschichte LAB Landesarchiv Berlin LAH Landeskirchliches Archiv Hannover L’HOMME. Z.F.G. L’HOMME. Zeitschr. F. Feministische Geschichtswiss. M Mark NS Nationalsozialismus NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSV/N.S.V. Nationalsozialistische Volkswohlfahrt RM Reichsmark SO Südost TAJB Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte VSWG Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12:

Abbildung 13:

Abbildung 14:

Berliner Fernbahnstreckennetz, 1882, Karte aus: Krings, S. 260. Blick vom Café Josty auf den Potsdamer Platz, 1914, Fotografie aus: Berliner Kaffeehäuser. Großstadtdokumente, Berlin 1904, abgedruckt in: Henkel/März, S. 65. Blick vom Wittenbergplatz auf das Kaufhaus des Westens und den Kurfürstendamm, 1935, Fotografie, Sammlung Alfred Gottwaldt. Bahnhofsmissionarinnen bei Truppenspeisungen, 1915, Fotografie aus: Brüggemann, Bericht über die Arbeit der Berliner Bahnhofsmission, S. 11–14, hier: S. 11. Zuwanderung nach Berlin, Grafik, Verfasserin. Datenquelle siehe FN 254. Betreuung alleinreisender Kinder, Ende 1920er Jahre, Fotografie aus: Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1928–1929, EZA, 7/13477, S. 19. Der Anhalter Bahnhof um 1910, Fotografie aus: Landesbildstelle. Grundriss des Anhalter Bahnhofs um die Jahrhundertwende, Sammlung Alfred Gottwaldt. Dienstraum der Bahnhofsmission am Anhalter Bahnhof, Mitte der 1920er Jahre, Fotografie aus: Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1925–1927, BDW, C I 2927, S. 7. Westlicher Bahnhofskopf des Schlesischen Bahnhofs an der Madai­ straße (heute Erich-Steinfurth-Straße), 1905, Fotografie, Sammlung Alfred Gottwaldt. Das zum Varietee „Plaza“ umgestaltete Empfangsgebäude des ehemaligen Bahnhofs am Küstriner Platz um 1930, Postkarte im Besitz der Verfasserin. Der Stettiner Bahnhof um 1925. Die Borsigstraße, in der das erste Marienheim des Trägervereins der Berliner Bahnhofsmission stand, mündete in den Bahnhofsvorplatz, Postkarte, Sammlung Alfred Gottwaldt. Bahnhofsmissionarin am Stettiner Bahnhof im Gespräch mit zwei reisenden Frauen, 1925, Fotografie aus: Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1925–1927, BDW C I 2927, S. 6. Sophie Loesche (1826–1898): Vorstandsfrau des Vereins Fürsorge für die weibliche Jugend, Gründerin des im Besitz des Vereins befindlichen Waisenhauses „Zoar“, Begründerin der Berliner Jungfrauenvereine und langjährige Schriftführerin der Deutschen Mäd-

Abbildungsverzeichnis

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chenzeitung, Fotografie aus: Thiele, Aus der Geschichte, S. 7–13, hier: S. 8. Abbildung 15: Heimbewohnerinnen im Wohnzimmer des Marienheimes I, 1928/29, Fotografie aus: Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1928–1929, EZA, 7/13477, S. 9. Abbildung 16: Gertrud Müller, die Geschäftsführerin des Evangelischen Verbandes und erste Sekretärin des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend, Fotografie aus: Thiele, Aus der Geschichte, S. 7–13, hier: S. 11. Abbildung 17: Das Verbandshaus der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission in der Kaiserswerther Straße 15, Berlin-Dahlem, in dem Theodora Reineck eine Wohnung hatte, Fotografie, nach 1928, ADW, BA/CA XII.1, Bild 5. Abbildung 18: Plakat der Bahnhofsmission, 1920er Jahre, aus: Nikles, Soziale Hilfe, S. 148. Abbildung 19: Die Bahnhofsmission wirbt für ihre Arbeit auf der Düsseldorfer Ausstellung „Gesundheitsfürsorge, soziale Arbeit und Leibesübung“, 1926, Fotografie, ADW, BA/CA XII.11. Abbildung 20: Ausschnitt eines Berichtes der Berliner Bahnhofsmissionarin Julie Lippert im Jahresbericht des Vereins Fürsorge für die weibliche Jugend 1905, aus: Julie Henriette Lippert, Bahnhofsmission, in: 14. Jahresbericht des Vereins zur Fürsorge für die weibliche Jugend 1905, EZA, 7/13475, S. 6–9. Abbildung 21: Junge Frauen, die in den Heimen des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend wohnten oder in einem Berliner Jungfrauenverein organisiert waren, halfen bei den Bahnhofssammlungen, 1920er Jahre, Fotografie aus: Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1928–1929, EZA, 7/13477, S. 18. Abbildung 22: NS-Bahnhofsfürsorgerin am Anhalter Bahnhof 1937, Fotografie aus: Tägliches Beiblatt zum Völkischen Beobachter, 1937, ADW, CA, Gf/St. 99.

Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Ungedruckte Quellen Archiv des Diakonischen Werkes der EKD, Berlin (ADW): – Bestand Central-Ausschuß, Referat Gefährdetenfürsorge/Straffälligenpflege (CA, Gf/St) 2, 7, 11, 85, 86, 87, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 99, 100, 158, 159, 324, 327, 328, 329, 490 – Bestand Central-Ausschuß (CA) 1859, Bd. 7 – Bestand Hauptgeschäftsstelle des Diakonischen Werkes der EKD (HGSt) 1425 – Bestand Verband der deutschen evangelischen Bahnhofsmission (VBM) 26 – Bildarchiv des Central-Ausschusses für Innere Mission (BA/CA) XII.1 Bild 5, XII.11 Bundesarchiv, Berlin-Lichterfelde (BArch): – Bestand Reichsverkehrministerium (R 5) 3: Anhang II, 3148, 3148: Anlage I, 3165: Bd. 1, 3436: Bd. 1, 3437: Bd. 2, Anhang II/3 – Bestand Reichskommissar für die Überwachung d. öff. Ordnung (R 1507) Film 67138, 67195 – Bestand Reichsarbeitsministerium (R 39.01) 9015, 9021, 9257, Film 33050, Film 33164, Akte 81, Film 33177 – Bestand Reichssicherheitshauptamt (R 58) 266, 5693a, 7254 – Pressearchiv (R 8034 II) 4057, 4065, 4068, 4079, 5437, 5449, 5461, 5469, 5482, 6958, 6963, 6964, 7989, 7990, 7991, 7992 – Bestand Dt. Nationalkomitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels (R 8075) Nr. 1 Deutsch-Evangelischer Frauenbund, Bundeszentrale Hannover (DEF): – Bestand Bahnhofsmission 1909–1952 (R 2 e) – Bestand Deutsches Nationalkomitee 1905–1926 (V. 18 I) – Bestand Deutsches Nationalkomitee 1927–1950 (V. 18 II) – Bestand Gefährdetenfürsorge 1899–1926 (V. 3. b.) – Bestand Internationaler Bund der Freundinnen junger Mädchen (G. 2. u) Evangelisches Zentralarchiv in Berlin (EZA): – Bestand Oberkirchenrat (7) 13475, 13476, 13477 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin (GStA PK): – Bestand Ministerium des Innern (Rep. 77) – Tit. 258 : Nr. 75, Tit : 303, Nr. 1, Bd. 14, Tit : 423, Nr. 10, Tit. 423 : Nr. 31, ADH 3, Bde.1–4, Tit. 423 : Nr. 31, Vol. XVI, Tit. 423 : Nr. 97, Tit. 435 : Nr. 1, Bd. 1 und 2, Tit. 435 : Nr. 6, Tit.

2. Periodika

257

435 : Nr. 18, Beiheft 1, Tit. 662 : Nr. 128, Tit. 667 : Nr. 8, Tit. 667 : Nr. 33, Tit. 1072 : Nr. 37, Bd. 1/2, Tit. 1214 : Nr. 2, – Bestand Ministerium für Landwirtschaft (Rep. 87 B) Nr. 13411, Nr. 13412 – Bestand Finanzministerium (Rep. 151) IC, Nr. 11168 – Bestand Ministerium für Volkswohlfahrt (Rep. 191) Nr. 22661–2662, Nr. 3883, Nr. 3884 Landesarchiv Berlin (LAB): – Bestand Stadtverordnetenversammlung (A Rep. 000–02–01) Nr. 551, Nr. 593, Nr. 687, Nr. 711, Nr. 792, Nr. 1117, Nr. 2310, Nr. 2392, Bd. 2, – Bestand Magistrat der Stadt Berlin, Generalbüro (A Rep. 001–02) Nr. 816, Nr. 2272, Nr. 2309, Nr. 2310, Nr. 2349/1 – Bestand Eisenbahndirektion (A Rep. 080) Nr.14848, Bd. 1–6, Nr. 14958, Nr. 15018, Nr. 50173, Nr. 50197, Nr. 50630, Nr. SU 50121, Nr. SU 50195, Nr. SU 50483, Nr. SU 50484 – Bestand Polizeipräsidium Berlin (A Pr. Br. Rep. 030) Tit. 43: Nr. 1643, Nr. 1644, Nr. 1652 Landeskirchliches Archiv, Hannover (LAH): – Bestand Landesverein der Inneren Mission (E 2) 151, 155, 157, 218, 244, 267, 380, 381, 393, 394 – Bestand Landesjugendpfarramt (E 50) 41, 102, 103, 108, 110, 392, 393, 579 – Sammlung (S4c) 2721

2. Periodika Jahresberichte – Jahresberichte der Gesellschaft zur Fürsorge für die Zuziehende Männliche Jugend, 1902–1903 – Jahresberichte des Nachrichtendienstes des Gesamtverbandes der Berliner Inneren Mission, 1936–1939 – Jahresberichte des Verbandes der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission, 1923, 1926 Unter neuem Titel: Jahresberichte des Reichsverbandes Evangelische Deutsche Bahnhofsmission, 1931–1936 – Jahresberichte des Vorstände-Verbandes der evangelischen Jungfrauenvereine Deutschlands, 1900–1905 Unter neuem Titel: Evangelischer Verband zur Pflege der weiblichen Jugend, 1913/14–1920/21, Evangelischer Verband für die weibliche Jugend, 1921/22, 1927/28, Evangelischer Reichsverband weiblicher Jugend, 1928/29–1932/33 – Jahresberichte des Vereins der Freundinnen junger Mädchen, 1923, 1924, 1928, 1929 – Jahresberichte des Vereins Fürsorge der weiblichen Jugend, 1894–1907 Unter neuem Titel: Jahresberichte des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend, 1908–1939 Fünfzig Jahre Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend 1890–1940 Statistiken – Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 1894–1915/19, 1924, 1926–1939 – Statistisches Jahrbuch deutscher Städte, 1894–1916, 1926–1933 Unter neuem Titel: Statistisches Jahrbuch deutscher Gemeinden, 1934–1939

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Quellen- und Literaturverzeichnis

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3. Gedruckte Quellen 40 Jahre Evangelischer Bahnhofsdienst in Deutschland, in: Heimatfremd. Mitteilungen des Evangelischen Bahnhofsdienstes in Deutschland, 68, 1937, S. 1–5. Berliner Kaffeehäuser. Großstadtdokumente, Berlin 1904. Berlin für Kenner. Ein Bärenführer bei Tag und Nacht durch die deutsche Reichshauptstadt, in: Joachim Schlör, Wenn es Nacht wird. Streifzüge durch die Großstadt, Stuttgart 1994, S. 287–298. „Das gottlose Mädchen“, in: Die Innere Mission im evangelischen Deutschland, 23, 1928, S. 575. Der Berliner Verein „Wohlfahrt der weiblichen Jugend“ im Jahre 1915, in: Fürsorge für die weibliche Jugend, 25, 1916, S. 227–231. Die Bahnhofsmission und der Mädchenhandel, in: Sonntags-Blatt für Innere Mission 63, 1912, S. 107–108 und 125–126. Die neuen Aushänge der Bahnhofsmission, in: Monatsschrift der Inneren Mission, 31, 1911, S. 356–357. Die Wohlfahrtseinrichtungen Berlins. Ein Auskunftsbuch., hg. v. d. Auskunftsstelle der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur, Berlin 1896.

3. Gedruckte Quellen

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3. Gedruckte Quellen

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b e i t r ä g e z u r s t a d t g e s c h i c h te u n d urbanisierungsforschung

Herausgegeben von Christoph Bernhardt (geschäftsführend), Harald Bodenschatz, Christine Hannemann, Tilman Harlander, Wolfgang Kaschuba, Ruth-E. Mohrmann, Heinz Reif, Adelheid von Saldern, Dieter Schott und Clemens Zimmermann.

Franz Steiner Verlag

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ISSN 1612–5746

Adelheid von Saldern (Hg.) Inszenierte Einigkeit Herrschaftsrepräsentationen in DDR-Städten Unter Mitarbeit von Alice von Plato, Elfie Rembold, Lu Seegers 2003. 420 S. mit 14 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08301-0 Adelheid von Saldern (Hg.) Inszenierter Stolz Stadtrepräsentationen in drei deutschen Gesellschaften (1935–1975). Unter Mitarbeit von Lu Seegers 2005. 498 S. mit 30 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08300-3 Frank Betker „Einsicht in die Notwendigkeit“ Kommunale Stadtplanung in der DDR und nach der Wende (1945–1994) 2005. 412 S. mit 38 s/w-Fot., 10 Abb., 20 Graph. und Schem., geb. ISBN 978-3-515-08734-6 Clemens Zimmermann (Hg.) Zentralität und Raumgefüge der Großstädte im 20. Jahrhundert 2006. 174 S. mit 35 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08898-5 Christoph Bernhardt / Heinz Reif (Hg.) Sozialistische Städte zwischen Herrschaft und Selbstbehauptung Kommunalpolitik, Stadtplanung und Alltag in der DDR 2009. 324 S. mit 50 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08763-6 Thomas Biskup / Marc Schalenberg (Hg.)



Selling Berlin Imagebildung und Stadtmarketing von der preußischen Residenz bis zur Bundeshauptstadt 2008. 376 S. mit 71 Abb. und 8 Farbtaf. mit 17 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08952-4 7. Thomas Höpel Von der Kunst- zur Kulturpolitik Städtische Kulturpolitik in Deutschland und Frankreich 1918–1939 2007. 516 S. mit 47 Schaubild. und 11 Tab., geb. ISBN 978-3-515-09106-0 8. Ueli Haefeli Verkehrspolitik und urbane Mobilität Deutsche und Schweizer Städte im Vergleich 1950–1990 2008. 380 S. mit 54 Abb. und 12 Farbktn., geb. ISBN 978-3-515-09133-6 9. Ralf Roth (Hg.) Städte im europäischen Raum Verkehr, Kommunikation und Urbanität im 19. und 20. Jahrhundert 2009. 274 S. mit 24 Abb. und 11 Tab., geb. ISBN 978-3-515-09337-8 10. Petra Spona Städtische Ehrungen zwischen Repräsentation und Partizipation NS-Volksgemeinschaftspolitik in Hannover 2010. 349 S. mit 52 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09668-3

Am­ 1.­ Oktober­ 1894­ nahmen­ die­ ersten­ evangelischen­ Bahnhofsmissionarinnen­ am­ Berliner­ Bahnhof­ Friedrichstraße­ ihre­ Arbeit­ auf­ und­ leisteten­ Orientierungshilfe­ für­ die­ massenhaft­ Stellung­ suchenden­ Frauen,­ die­ in­ die­ deutsche­ Hauptstadt­ einwanderten.­ In­ die­ städtische­Öffentlichkeit­traten­Frauen­jedoch­ nicht­nur­durch­ihr­wohlfahrtspolitisches­ Wirken­ an­ den­ Berliner­ Fernbahnhöfen,­ sondern­ auch­ durch­ ihr­ Engagement­ im­ Trägerverein­ der­ Bahnhofsmission,­ dem­ Verein­zur­Fürsorge­für­die­weibliche­Jugend,­als­auch­im­Dachverband­der­sich­ langsam­ entwickelnden­ Evangelischen­ Deutschen­Bahnhofsmission.

Damit­ gelang­ es­ ihnen,­ über­ viele­ Jahrzehnte­ auf­ verschiedene­ Weise­ und­ mit­ unterschiedlichem­ Einflusspotenzial­ öffentliche­Räume­–­wenn­auch­begrenzt­–­ zu­konstituieren­und­zu­erhalten.­Astrid­ Mignon­Kirchhof­zeigt,­dass­ein­bis­weit­ in­das­20.­Jahrhundert­hinein­wirkendes­ Konstrukt,­ das­ die­ Gesellschaft­ in­ eine­ vermeintlich­ klar­ getrennte­ private­ und­ öffentliche­Sphäre­trennt­und­Frauen­sowie­ Männer­ je­ einem­ Bereich­ zuordnet,­ wenig­tauglich­ist,­die­sozialen­Beziehungen­zwischen­den­Geschlechtern­und­die­ historische­ Wirklichkeit­ von­ Frauen­ angemessen­zu­analysieren.

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ISBN 978-3-515-09776-5

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