Das Bild zwischen Kognition und Kreativität: Interdisziplinäre Zugänge zum bildhaften Denken [1. Aufl.] 9783839413654

Versteht man das Bild als kreative Quelle der Erkenntnis, so entstehen Spannungsfelder, zu denen individuelle ebenso wie

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Das Bild zwischen Kognition und Kreativität: Interdisziplinäre Zugänge zum bildhaften Denken [1. Aufl.]
 9783839413654

Table of contents :
Inhalt
Vorwort – Kunst- und Bildwissenschaft zwischen Natur- und Kulturwissenschaften
Einführung
‚Wiener Schulen‘ im Rückblick. Eine kurze Bildergeschichte aus Kunst-, Naturund Neurowissenschaften
Kreativität? Über das Schöpferische in Natur und Kunst
Explosion und Kreativität. Natur- und kulturwissenschaftliche Übergänge in Werken von Ilya Prigogine und Jurij Lotman
Kreative Bilder und die Dynamik ihrer Objekte
Visio – Vision – Visionsbild. Zur Authentizität der Miniaturen des Rupertsberger Codex Hildegards von Bingen
Selbst, Kultur und soziale Kognition
Überlegungen aus der Perspektive der Neuroinformatik
„Bilderreich und Wortgewandt“ – Bildwissenschaft im Kindergarten. Die symbolische Praxis des Sprechens über Bilder und ihre Relevanz für die Frühpädagogik
Strategien technischer Bildformen. Kunstvermittlung und Bildkompetenz
Dargestellte Bewegung als mediale Form
Der Fischschwanz als Erinnerungsbild hybrider Körperempfindungen
Immanente Text-Bild Verhältnisse als Architektur des Widerspruchs
Mediumistische Bilder als Karikaturen und Collagen unterbewusster Prozesse. Albert von Schrenck-Notzing und seine Materialisationsphänomene
Mayers Seelen-Fächer. Johann Christoph Andreas Mayer (1747–1801) als Hirnforscher zwischen Äquipotenztheorie und Phrenologie
Christine Ladd-Franklin – Eine Einführung
Eine neue Theorie der Lichtempfindungen
SEMEIOTIC
Funktionstüchtigkeit, Abweichung, Störung. In Gedenken an John Michael Krois
Autorinnen und Autoren

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Elize Bisanz (Hg.) Das Bild zwischen Kognition und Kreativität

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Elize Bisanz (Hg.) Das Bild zwischen Kognition und Kreativität. Interdisziplinäre Zugänge zum bildhaften Denken

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld ISBN 978-3-8376-1365-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort – Kunst- und Bildwissenschaft zwischen Natur- und Kulturwissenschaften ELIZE BISANZ 9 Einführung  ELIZE BISANZ 13 ‚Wiener Schulen‘ im Rückblick Eine kurze Bildergeschichte aus Kunst-, Naturund Neurowissenschaften KARL CLAUSBERG 21 Kreativität? Über das Schöpferische in Natur und Kunst PIERANGELO MASET 75 Explosion und Kreativität Natur- und kulturwissenschaftliche Übergänge in Werken von Ilya Prigogine und Jurij Lotman MARLENE HEIDEL 85 Kreative Bilder und die Dynamik ihrer Objekte  WINFRIED NÖTH 111 Visio – Vision – Visionsbild Zur Authentizität der Miniaturen des Rupertsberger Codex Hi ldegards von Bingen PETER CORNELIUS CLAUSSEN 133

Selbst, Kultur und soziale Kognition ANNE SPRINGER 171

Zur Bedeutung von Bildern Überlegungen aus der Perspektive der Neuroinformatik ALOIS SCHLÖGL 195 „Bilderreich und Wortgewandt“ – Bildwissenschaft im Kindergarten Die symbolische Praxis des Sprechens über Bilder und ihre Relevanz für die Frühpädagogik FRIEDERIKE PLAGA 209 Strategien technischer Bildformen Kunstvermittlung und Bildkompetenz FLORIAN SCHAPER 227 Dargestellte Bewegung als mediale Form  JOACHIM PAECH 235 Der Fischschwanz als Erinnerungsbild hybrider Körperempfindungen  URSULA LÜCKE 261 Immanente Text-Bild Verhältnisse als Architektur des Widerspruchs  TORSTEN WUNSCH 287 Mediumistische Bilder als Karikaturen und Collagen unterbewusster Prozesse Albert von Schrenck-Notzing und seine Materialisationsphänomene TIMON KUFF 317

Mayers Seelen-Fächer Johann Christoph Andreas Mayer (1747–1801) als Hirnforscher zwischen Äquipotenztheorie und Phrenologie WIBKE LARINK 343 Christine Ladd-Franklin – Eine Einführung ELIZE BISANZ 359 Eine neue Theorie der Lichtempfindungen  CHRISTINE LADD-FRANKLIN 365 SEMEIOTIC  KENNETH LAINE KETNER 375 Funktionstüchtigkeit, Abweichung, Störung In Gedenken an John Michael Krois KARL CLAUSBERG – JOHN KROIS – ELIZE BISANZ 403

Autorinnen und Autoren 421

Vorwort – Kunst- und Bildwissenschaft zwischen Natur- und Kulturwissenschaften ELIZE BISANZ In seinem Buch „Zur Logik der Kulturwissenschaften“ beschreibt Ernst Cassirer fünf Aspekte der kulturwissenschaftlichen Forschung • den Gegenstand der Kulturwissenschaft, • die Distinktion zwischen Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung, • die Definition von Naturbegriffen und Kulturbegriffen sowie • die klare Trennung zwischen dem Formproblem und dem Kausalproblem • und sucht Auswege aus der „Tragödie der Kultur“, die als das Dilemma des Menschen beschrieben wird, in der Unendlichkeit der kulturellen Produktion sich selbst zu verlieren. Demnach berücksichtigt die Logik der Kulturwissenschaft die innere und äußere Welt, fokussiert auf die Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung, erklärt Naturbegriffe und Kulturbegriffe, diskutiert die Formprobleme und Kausalprobleme und sucht nach Ausgleich zwischen der menschlichen Individualität und der Universalität der Natur und der Kultur. Waren es physische oder geistige Gegenstände, die das Erstaunen des Menschen erweckt haben und ihn damit zur wissenschaftlichen Reflexion trieben? War es die Ordnung der Natur oder waren die eigenen Schöpfungen der Menschen die bestimmende Kraft, und wie wurden die innere und äußere Welt verbunden? Mit der Entdeckung des Kosmos beginnt der Mensch sich aus dem Bann der Gefühle zu befreien und zu einer freieren und weiteren Anschauung über das Ganze des Seins zu erheben. Die Suche nach der universellen objektiven Ordnung beginnt.

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Elize Bisanz Allerdings musste der Mensch sehr schnell feststellen, dass er dieses Gefühl mit einem anderen verbinden muss. Denn näher als die Natur steht dem Menschen die Ordnung, die er in seiner eigenen Welt findet: die Ordnung der kulturellen Sittlichkeit. So entwickelte sich die Wissenschaftsgeschichte des Abendlandes zwischen diesen beiden Polen: Die Suche nach den Naturgesetzen und die Suche nach den Kulturgesetzen. Der Mensch zwischen sinnlicher Wahrnehmung seiner Umwelt – die äußere Natur – und dem Denken der inneren Wahrnehmung seines Selbst. Die bekanntesten Vertreter dieser Positionen sind auf der positivistischen Seite René Descartes und auf der musisch poetischen Seite Giambatista Vico. Die Positionen sind in den Werken „Über die Methode“ und „Die neue Wissenschaft“ formuliert: Descartes, der bis heute in der Form des Cartesianismus die wissenschaftliche Legitimation nicht verloren hat, und Vico mit seiner „Neuen Wissenschaft“, der eben die Wahrheit der Wissenschaft in der poetischen, erfinderischen und relationalen Kraft gesucht hat. Die Wissenschaftsgeschichte der westlichen Kultur hat auch Stationen erlebt, in der die Relevanz beider Seiten für die Wissenschaft verteidigt wurde. Zu den wichtigsten Denkern dieser Tradition gehören Charles S. Peirce mit seiner Lehre des Pragmatizismus und Ernst Cassirer mit der Kulturwissenschaft, in der er die disziplinäre Zuständigkeit sieht, genau diese Verbindungswege zu gestalten. Das verbindende Element der beiden Sphären sehen sowohl Peirce wie auch Cassirer im Medium, in der Repräsentation. Das Medium, die Repräsentation, ist demnach die Äußerung eines Naturgesetzes und die Äußerung eines Denkgesetzes, und der Ort des Mediums ist unmissverständlich die Kultur „Der Lebensprozeß der Kultur besteht eben darin, daß sie in der Schaffung derartiger Vermittlungen und Übergänge unerschöpflich ist.“ Das kulturelle Werk wird „zum Vermittler zwischen Ich und Du, nicht indem es einen fertigen Gehalt von dem einen auf das andere überträgt, sondern indem es sich an der Tätigkeit des einen die des anderen entzündet.“ Die „Werke der Dichtung, der bildenden Kunst, der Religion werden zu den Monumenten, zu den Erinnerungs- und Gedächtniszeichen der Menschheit. Denn in ihnen besteht nicht nur ein Stoffliches weiter, sondern sie sind der Ausdruck eines Geistigen, das, wenn es auf verwandte und empfängliche

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Vorwort Subjekte trifft, jederzeit wieder aus seiner stofflichen Hülle befreit und zu neuer Wirkung erweckt werden kann.“1

Das Medium, das die Kunst- und Bildwissenschaft untersucht, ist demnach das Bild und der Prozess des Sehens: sie versteht das Bild als Zugang zu den Verflechtungen zwischen Natur und Kultur. Dabei untersucht sie sowohl künstliche wie auch künstlerische Bilder. Bilder haben unterschiedlichste Funktionen; mit Charles Peirce soll hier auf die veränderten Funktionen des Bildes als Repräsentation sowohl in der natur- wie auch in der geisteswissenschaftlichen Forschung hingewiesen werden. „The distinction on which all philosophy is based is between Images of Reason and Images of Sense. The distinction on which all Psychology is based is between Images of the Inner Sense and Images of the Outer Sense. The distinction on which Metaphysics is based is between Images as Images and 2

Images as Representation.”

Somit sind Bilder Verkörperungen von sinnlicher Wahrnehmung und dem Denken. Ihre Elemente sind: Sense (sinnliche Wahrnehmung), Representation (Repräsentation, Darstellung), Reason (Denken). Aus diesem triadischen Modell lassen sich folgende Thesen formulieren: • Das Sehen ist eine Verflechtung organischer und intellektueller Funktionen • Bilder manifestieren Strukturmerkmale des Sehens • Künstlerische Bilder sind Verflechtungen von sinnlicher, intellektueller und repräsentationaler Bedeutungssphären Ein Vergleich zwischen künstlichen und künstlerischen Bildern zeigt, dass technische Bilder Instrumente der Darstellung und künstlerische Bilder Dokumente der sinnlich-körperlichen und symbolischen Handlungen sind. Dabei fällt auf, dass das wissenschaftliche Instrument Bild das Sehen nicht reflektiert. Somit ist Kunst- und Bildwissenschaft mehr als die Rekonstruktion der Geschichte des Kunstwerks. Sie ist die Wissenschaft, die die In-

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Ernst Cassirer, 1961 Zur Logik der Kulturwissenschaft. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt. S. 111. Charles S. Peirce, 1860 June 30, in: Kenneth Laine Ketner (1998) His Glassy Essence, S. 208.

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Elize Bisanz teraktionen zwischen der inneren, der sinnlichen, sowie der äußeren Welt und ihre Dokumentation in Bildern untersucht.

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Einführung ELIZE BISANZ Die Anfänge des disziplinübergreifenden regen Interesses an der visuellen Wahrnehmung und am bildhaften Denken der heutigen neurowissenschaftlichen und bildwissenschaftlichen Forschung lassen sich unmittelbar bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. Physiologie, Kunstgeschichte, Philosophie, Psychologie sowie Optik konkurrierten durch unterschiedlichste Thesen und Konzepte hinsichtlich der physischen und psychischen Strukturmerkmale der visuellen Wahrnehmung. Wichtige Erkenntnisse zum Phänomen des bildhaften Denkens und des Sehens konnten vor allem an den disziplinären Schnittstellen gewonnen werden, die unübersehbare Parallelen zu den zeitgenössischen bildwissenschaftlichen Forschungen zeigen. Nach der Philosophie und der Psychologie nähert sich auch die jüngste Kunstgeschichte schrittweise, sei es auch über Umwege einer Sprechakttheorie, traditionell entfernten Gedankenwelten wie Sprachund Zeichentheorien an, und erklärt das Bild als den Schauplatz der Semiosis, der bildhaften Verkörperung von Bedeutungsprozessen. Mit dieser sprachwissenschaftlichen Neuorientierung der Bildwissenschaft kündigen sich allerdings fatale Folgen für die Erforschung von Bilderwelten an, denn durch die Reduktion des Bildes auf linguistische Modelle versperrt die Bildakttheorie den Zugang zur genuin bildhaften Logik der triadischen Verflechtung der kontextuellen, materiellen und gedanklichen Bedeutungswelten sowie der Kraft der Bilder, vorsprachliche Sphären zu erschließen und zu erzeugen. Die Logik des Bildes bekämpft jegliche Semiotisierung, ihre Gleichsetzung mit Gesetzmäßigkeiten der natürlichen Sprache nivelliert die post- Saussureschen, postlinguistischen Errungenschaften des Strukturalismus, des Poststrukturalismus sowie der Dekonstruktion des bildhaften Zeichens und der Kunst. Denn der zeichentheoretische Ansatz erklärt einen Aspekt der Bilder, den Zeichenaspekt; wenn allerdings

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Elize Bisanz Bilder als [zu?] lebendige Prozesse der Bedeutungsgenerierung erklärt werden wollen, sollte der forschende Blick die vorlinguistischen Strukturen des bildhaften Zeichen mitdenken, wie dies zum Beispiel in der Lehre des Pragmatizismus zu finden ist, die lange vor der Sprachwissenschaft die Wissenschaft der symbolischen Logik formulierte und deren prozesshafte Form primär in der abstrakten bildhaften Kommunikation manifestiert sah. Bilder als optische Medien sind zunächst durchdrungene Erlebnisräume, spiegeln die Strukturen unserer Sinneswahrnehmungen wider, tragen Kodes unseres kulturellen Gedächtnisses. Sie sind darüber hinaus Verkörperungen kreativer Handlungen, die neben einer ikonischen Informationsvermittlung synästhetische und symbolische Felder erschließen. Im Kopf wird in Bildern gefasstes Wissen generiert und repräsentiert, vor Augen wird es appliziert und modelliert. Innere Bilder stehen wiederum unter dem massiven Einfluss der medialen Bilder, deren Habitus offensichtlich nachhaltige Wirkungen auf die Strukturierung der internen Repräsentation hat. In diesem Spanungsfeld bleiben Bilder potenzielle Quellen neuartiger Relationen und unvorhersehbare und -gesehene Welten, eine Agora kreativer Vorgänge. Die Beiträge des vorliegenden Bandes spiegeln die verschiedenen disziplinären bilderrelevanten Diskurse wider. Sie exemplifizieren darüber hinaus das Spannungsverhältnis zwischen wissenschaftshistorischer Reflexion und zeitgenössischen Forschungsschnittstellen der Geistes- und Naturwissenschaft. Demensprechend gestaltet sich auch die Zusammensetzung der Themen im Kontext der Bildwissenschaft: die Identität des Bildes als historisches Faktum, das verdichtete Information über die Ideengeschichte des kulturellen Prozesses vermittelt und die Eigenschaft der Bilder, selbst als Quellen für prozesshafte Auseinandersetzungen zwischen der Natur und der Kultur zu fungieren. Dabei wird aus der Perspektive der Disziplinen Philosophie, Kulturwissenschaft, Kunstwissenschaft, Bildwissenschaft und Neurowissenschaft und am Beispiel konkreter Anwendungsbereiche der Frage nachgegangen, inwieweit Bilder Produkte neuronaler und inwieweit sie Produkte kreativer Handlungen sind, sowie welche Möglichkeiten die Kunst- und Bildwissenschaft hat, die Strukturmerkmale der kreativen Bildhandlung zu diagnostizieren. Bekanntlich gibt es unterschiedliche Annäherungsweisen zum Begriff und zum Phänomen der Kreativität. Erwähnenswerte Perspektiven sind zum Beispiel die anthropologische Erklärung als kulturelle Tätigkeit der Bedeutungsproduktion, die Perspektive der historischen Reduktion auf das Neue, die philosophische Su-

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Einführung che des Unerklärbaren sowie die psychologische Erklärung der Originalität und Spontaneität. All diese Perspektiven spielen für den Kontext der vorliegenden Publikation keine ausschlaggebende Rolle; stattdessen werden hier auf Phänomene des bildhaften Denkens, der bildhaften Kommunikation und des bildhaften Ausdrucks als Produkte kreativer Vorgänge hingewiesen. Das Konzept der Annäherung an das Bild als eine Verkörperung kreativer Handlungen zielt auf die synchronische Analyse der semantischen, syntaktischen und pragmatischen Funktionshorizonte von Bildern. Folgende Schwerpunkte verbinden die multiplen Funktionshorizonte von Bildern: • Kreativität und ästhetische Bilder, • Bilder im Kontext klinischer und psychologischer Kognitionsforschung, • kulturelle Kreativität und Selbstrepräsentation, • neuro- und informationswissenschaftliche Daten zum bildhaften Denken, • semiotische Bildmodelle, • Verkörperung von Zeit und Raum in Bildern, • Bilder als Projektionsflächen von imaginären Denkmustern und semantischen Feldern. Die wissenschaftliche Popularität der disziplinübergreifenden Blicke wird vor allem von der naturwissenschaftlichen Seite forciert. Prominente Beispiele in der zeitgenössischen mehrheitlich naturwissenschaftlichen Perspektive der Kognitionsforschung rekurrieren immer häufiger auf bild- und kunstwissenschaftliche Erklä3 rungsmodelle. Renommierte Forscher wie die amerikanischen

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Kognitionsforschung ist ein hochaktuelles und innovatives Forschungsgebiet der Neurowissenschaften. Sie führt sowohl zu Erkenntnissen über die Grundlagen von Wahrnehmungs-, Lern- und Bewusstseinsprozessen als auch zu Einsichten in neuropsychiatrische Erkrankungen oder psychosoziale Störungen. Auch hier sind unterschiedliche Fachdisziplinen involviert. Die Psychologie entwickelt auf der Grundlage von Verhaltensbeobachtungen Hypothesen zu bestimmten kognitiven Leistungen. Neuroanatomie und Neurophysiologie untersuchen die vielfältigen strukturellen und funktionellen neuralen Verarbeitungsebenen. Neurologie, Neuropsychiatrie und Neuropsychologie beschäftigen sich mit Diagnostik und Therapie kognitiver Symptome bei Patienten mit Funktionsstörungen des Gehirns. Eine fachspezifische Informatik schließlich definiert im Arbeitsbereich computational Neuroscience auf Grund der in anderen Disziplinen generierten Daten theoretische Konzepte und Modellie-

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Elize Bisanz Neurowissenschaftler Vilayanur S. Ramachandran und Diane Rogers-Ramachandran berufen sich explizit auf das Erkenntnispotenzial von künstlerischen Bildern sowie auf den Einsatz von Bildern in Therapien schwerer Erkrankungen wie Phantomschmerzen. Eine weitere Perspektive öffnet die Anwendung von Bildmaterialien in der optischen Technologie. Die BCI-Technologie produziert „virtuelle Bilder“ als Denkmuster, die die Vorstellung von bestimmten Handlungen hervorrufen. So wird untersucht wie das menschliche Gehirn „virtuelle“ Realitäten – wie sie etwa beim Neurofeedback zum Einsatz kommen – wahrnimmt. Das Hervorrufen des Gegenwartsgefühls durch mentale Bilder ist auch ein zentrales Anliegen der Robotics-Forschung. Darin werden mit speziell entwickelten Algorithmen Gedankenschemata über EEGSignale herausgefiltert.4 All diese Beispiele öffnen ein Panorama multipler Funktions- und Anwendungshorizonte der Bildkognition; sie zeigen, dass sowohl im kunstgeschichtlichen wie auch im naturwissenschaftlichen Kontext Bilder als Manifestationen und Verflechtungen semantischer, syntaktischer sowie pragmatischer Strukturen verstanden werden.

Die Beiträge Eine lebendige Geschichte der gelebten interdisziplinären Wissenschaft zeigt Karl Clausbergs Rückblick auf die Wiener Schulen, der zugleich als ein Überblick des kollektiven Gedächtnisses der Wissenschaftsentwicklung seit dem 19. Jahrhundert fungiert. Der Autor präsentiert ein spannendes Panorama involvierter Disziplinen und Ideenmuster, die allesamt die Kernelemente des heutigen bildwissenschaftlichen Forschungsfeldes tiefgreifend bestimmen. Pierangelo Maset erforscht die Ursprünge der Kreativität als schöpferische Kraft und als Quelle geschichtlicher Überlieferung kultureller Identität in der Form von Schöpfungsmythen. Anhand begrifflicher und formaler Dichotomien, wie Aura und Authentizität, Schöpfung und Erschöpfung, Kunst und Naturbild sowie Natur und Mensch, veranschaulicht er ästhetische Kategorien als kreativen Umgang mit bildimmanenten Strukturen. Somit bleiben Natur und Mythos der Ursprung aller Bilder.

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rungsansätze, die wiederum auf die experimentellen Ansätze rückkoppeln und neue Fragestellungen aufwerfen. José del R. Millàn vom Dalle Molle Institute for Perceptual Artificial Intelligence.

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Einführung Für eine adäquate Auseinandersetzung mit der Kreativitätsthematik bietet sich vor diesem Hintergrund die Rekonstruktion der Genese und Entwicklung des Kreativitätsbegriffes an. Indem der historische Begriffswandel und seine kulturellen Ursachen aufgezeigt werden, erhellt sich die pragmatische Seite des Begriffes bzw. Zeichens, d.h. seine Bedeutung/en für die Zeichennutzer und seine Funktion im kulturellen System. Marlene Heidel bestimmt den Ort des Terminus Kreativität im Dialog zwischen Natur- und Kulturwissenshaft und exemplifiziert sie mit den Begriffen Explosion und Bifurkation. Die Bedingungen der Kreativität sind demnach die Explosion in einem Zustand des Ungleichgewichts, strukturrelevante Wirkung des individuellen Ereignisses, sowie Wechselwirkung zwischen Momenten des Ungleichgewichts und Phasen der Strukturstabilität des Systems. Unter dem Titel „Kreative Bilder und die Dynamik ihrer Objekte“ demonstriert Winfried Nöth die Stärke Peirce’s Zeichenkonzeption zur Explikation komplexer Bildstrukturen. Mit dem Konzept der kreativen Bilder analysiert er das schöpferische Potenzial von Bildern als imaginäre Welten und legt die Schwäche derjenigen Bildtheorien zu Tage, die aus der Perspektive positivistischer Zeichentheorien agieren. Die Stärke Peirce’s Konzeptes im Zusammenhang mit kreativen Bildern sieht Nöth in der Hervorhebung einer Verdopplung des Objektes, eines dynamischen und eines unmittelbaren Objekts. Anlehnend an Peirce’s Pragmatizismus vertritt Nöth die These, dass vor allem Kategorien wie Unbestimmtheit und Vagheit unerschöpfliche Quellen der Kreativität präsentieren. Cornelius Claussen diskutiert grundlegende Fragen des Bildsehens: die kognitive Fähigkeit des zweidimensionalen Bildsehens und die Fähigkeit kopfgemachte Universen zu generieren, welche die Informationen der Sinnesorgane verändern, überlagern oder ersetzen können. Im Mittelpunkt stehen Visionen verstanden als innere Bilder, die wir ins Gedächtnis rufen können oder die im Traum, Tagtraum und in vielen Formen halluzinatorischer Vorgänge vor ein „inneres Auge“ treten können. Anne Springer untersucht die kulturellen Wurzeln von Selbstrepräsentationen und deren semantischen Strukturen aus den Perspektiven der Psychologie und der Neurowissenschaft. Selbstrepräsentationen werden als Gedächtnisstruktur beschrieben, die das gesamte selbstbezogene Wissen einer Person enthält. Ähnlich argumentiert Friederike Plaga in Bezug auf die Rolle von Bildern im Sozialisationsprozess von Kindern. Bilder erklärt sie als Symbolsysteme; mit der Betrachtung von Bilderbüchern, so

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Elize Bisanz die Grundthese, beginnt ein bildlicher Sozialisationsprozess bei Kindern. Sie bekräftigt die Relevanz der sozialen Praxis des Sprechens von Kind und Erwachsenem über Bilder, denn die Vielfalt, Art und Auswahl der bildliteralen Impulse, die ein Kind erhält, hängen vom sozialen und ästhetischen Verhalten der erwachsenen Bezugspersonen ab. Austausch über Bilder stärkt die kognitive Entwicklung zur Bildung grundlegender symbolischer Fähigkeiten. Am Beispiel Albert von Schrenck-Notzings Materialisationsphänomenen untersucht Timon Kuff Bilder als Karikaturen und Collagen unterbewusster Prozesse. Zentrales Thema bildet das Verhältnis der Vermittelbarkeit und Abbildbarkeit von Körper und Geist. Die psychologische, mentalitätsgeschichtliche und ästhetische Bedeutsamkeit erklärt der Autor damit, dass sich in ihnen der Ausdruck vom Eindruck einer fetischistischen Ursprungssuche spiegelt. Er bekräftigt die These, dass Schrenck-Notzings Projekt ein gleichermaßen naturwissenschaftlich und bildästhetisch fundiertes epistemologisches Modell darstellt, welches sich im rationalen Wissenssystem verankert sehen wollte. Alois Riegl diskutiert die jüngsten Entwicklungen der bildgestützten Forschung durch die BCI-Technologie. In diesem Kontext erklärt er den kreativen Geisteszustand zunächst über eine naturwissenschaftliche Gegenüberstellung von Dualismus vs. Monismus, Geist und Materie. Im Kontext der visuellen Wahrnehmung wird vor allem der Unterschied der Gamma-Aktivität bei bedeutungsvollen vs. bedeutungslosen Bildern diskutiert. Mit graphischen Beispielen der Schemata eines Brain-ComputerInterface und Free Space virtual Environment markiert Riegl die Grenzen der visuellen Erkennbarkeit. Joachim Paech hebt die mediale Form von kinematographischen Bildern als dargestellte Bewegung hervor. Aus einer philosophischen und medienästhetischen Perspektive reflektiert der Autor die unterschiedlichen Beziehungen zwischen dem Bild und dem Körper mittels Bewegung und fragt nach der Auswirkung dieser Relationen auf die Bilder, ihre Wahrnehmung und deren Repräsentationen. Unter dem Thema „Mayers Seelen-Fächer. Johann Christoph Andreas Mayer als Hirnforscher zwischen Äquipotenztheorie und Phrenologie“ spannt Wibke Larink eine Brücke zwischen den theoretischen und historischen Themenbereichen Bild- und Hirnforschung. Darin erklärt sie, inwiefern Mayer auf die Thesen seiner Vordenker Descartes und Haller Bezug nahm, um dann doch zu eigenen Ergebnissen zu gelangen, die die phrenologischen Ideen Galls und Spurzheims vorwegnahmen.

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Einführung Zu den wichtigsten Charakteristika des Denkens gehörte nach Charles S. Peirce das bildhafte Denken. Bildhaft bedeutete vor allem das räumliche und relationale Denken, das als Ganzheit wahrgenommen wird. Das Ziel des letzten Abschnitts des Bands ist, die Grundgedanken eines interdisziplinär orientierten bildwissenschaftlichen Ansatzes mit zwei Pionieren dieser Richtung zu exemplifizieren: am Beispiel des Wissenschaftskonzepts Semeiotik von Charles S. Peirce und den Untersuchungen der visuellen Wahrnehmung von Christine Ladd-Franklin, eine Schülerin von Charles S. Peirce, die durch die Verflechtung der Disziplinen Logik, Psychologie und Biologie eine Theorie der Sehwahrnehmung entwickelte, die multiple Aspekte der Perzeption und der anatomischen Funktionsleistung des Sehorgans verbinden konnte. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die programmatisch als eher hinderlich befürchtete disziplinäre Heterogenität der Textsammlung sich als überaus produktiv erweist. Die schwerpunktorientierte Zusammenstellung multidisziplinärer Ansätze erzeugt eine wissenschaftliche Metaebene auf der, neben den inhaltlichen Erkenntnissen auch die Besonderheiten der disziplinbestimmten Logiken und die daraus gewonnenen Erkenntnisse zur Bildkognition und Kreativität gezeigt werden können.

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‚Wiener Schulen‘ im Rückblick Eine kurze Bildergeschichte aus Kunst-, Naturund Neurowissenschaften KARL CLAUSBERG Von Wiener Schulen im Plural zu reden ist in vielfacher Hinsicht gerechtfertigt und angemessen. Im Folgenden hat ein ‚zugereister‘ Ehemaliger1 den Blick noch einmal auf die Geschichte jener Leitbilder gerichtet, die zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zirkulierten und auch in der Wiener Kunstgeschichte eine grundlegende Rolle gespielt haben; in ihnen konzentrierten sich die ungemalten Konfliktstoffe der Kunstbetrachtung. Die 'Wiener Schule' der Kunstgeschichte konnte nie mit einem schlichten Singular zusammengefaßt werden; und sie läßt sich nicht aus fächerübergreifend-weltanschaulichen Zusammenhängen herauslösen. Die Rolle der hier rekapitulierten Wiener Leitbilder ist ohne deren Verwurzelung im umbrechenden österreichischen Bildungssystem kaum vollständig zu verstehen. Die 1848–53 durchgeführte große Unterrichtsreform erhielt eine damals sehr fort1

Das Folgende ist weiteres Teilstück einer immer mal wieder aufgegriffenen Rückbesinnung, die mit dem kunsthistorischen Werdegang des Verfassers zu tun hat: 1965 Studienbeginn in Hamburg, 1969/70 Stipendiat am Warburg Institute in London, und 1974 Promotion in Wien. Siehe zunächst Karl Clausberg: Wiener Schule – Russischer Formalismus – Prager Strukturalismus. Ein komparatistisches Kapitel Kunstwissenschaft; in: IDEA, Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle Nr. 2/1983, S. 151– 180. In diesem Text ist die internationale Wirkungsgeschichte des k.k. Herbartianismus ausführlicher dargestellt. – Zu österreichischen HegelAversionen Clausberg: Zwischen Pathosformel und Ornament – Ernst Hans Gombrich; in: Merkur Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken, Heft 8, August 1994, S. 714–721. – Zu Hirnforschungsaspekten Clausberg: Tenere a mente Gombrich. Una brevestoria dell'arte e delle neuroscience. in: L'Arte e i Liguaggi della Percezione. L'eredità di Sir Ernst H. Gombrich, a cura di Richard Bösel undc, Milano 2004, p. 69–80.

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Karl Clausberg schrittliche, wissenschaftlich begründete Pädagogik zur Grundlage: die Psychologie und Erkenntnistheorie des Königsberger KantNachfolgers Johann Friedrich Herbart. Der ‚Architekt' dieser folgenreichen donaumonarchischen Bildungsreform war Franz Serafin Exner (1802–1853). Wenige Jahre zuvor – 1842/44 – hatte er als Philosophieprofessor in Prag mit scharfer Kritik an der rein spekulativen Psychologie der Hegel-Schule die österreichischen Aversionen gegen ‚preußisches‘ Machtdenken in fortdauernde intellektuelle Bahnen gelenkt. — Die Auswirkungen lassen sich nicht nur bis zu Karl Poppers und Ernst Hans Gombrichs eisiger Hegel-Verdammung verfolgen; sie sind auch generell nicht aus den Ansichten und Debatten der Kunst-, Natur- und Neurowissenschaften wegzudenken.

—I— „Ein harter Kampf wird gegenwärtig von deutscher Wissenschaft gekämpft. Die Hegelsche Philosophie steht im Felde mit hochfliegenden Fahnen, ihren Angriff verwegen nach allen Seiten tragend.“ Mit dieser knappen Situationsbeschreibung hat Exner 1842 seine leise ansetzende Gegenoffensive eröffnet.2 Er wolle eine Seite des Hegelschen Systems ins Auge fassen, das den Hauptgegenständen der lauten Befehdung ferner liege und deshalb unparteiische Besprechung besser vertrage: die Psychologie. Falsche Theorie bleibe in luftiger Höhe schweben, wo sie es liebe mit dunklen Worten nichtige Gestalten zu umkleiden, so Exner. „Die wahre [Theorie] dringt in die wirklichen Dinge ein, macht sie durchsichtig für den Gedanken. Dadurch wird sie zuletzt praktisch, und vermag hilfreiche Vorschriften zu geben, nach denen sich durch Umstaltung des Wirklichen gewünschte Ziele erreichen lassen.“

Teil solcher Philosophie sei die Psychologie; sie solle durch Erfahrung gegebener Seelenzustände erklären. Moralisten, Politiker, Pädagogen und wer sonst gründlicher Einsicht in die menschliche Seele bedürfe, suchten ihre Belehrung. – Aber: „Eine Psychologie, welche sich untüchtig zeigte, solche Belehrung zu gewähren, bewiese, daß sie ihre Aufgabe nicht gelöst; ein philosophisches System,

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Franz Exner: Die Psychologie der Hegelschen Schule, Leipzig 1842; zweites Heft, Leipzig 1844.

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‚Wiener Schulen‘ im Rückblick welches eine untüchtige Psychologie lieferte, müßte nothwendig an wesentlichen Gebrechen leiden.“

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Exner, der in seiner Geburtstadt Wien Philosophie und Rechtswissenschaft studierte und 1831 nach Prag berufen worden war, wo er dem wegen seiner liberalen Ansichten suspendierten Mathematiker und Theologen Bernard Bolzano4 begegnete, hatte das Humboldtsche Ideal freier Lehre und Forschung vor Augen, als er 1848 als Wiener Ministerialrat – zusammen mit dem aus Berlin geholten Altphilologen Hermann Bonitz (1814–1888) – die öster5 reichische Unterrichtsreform in Angriff nahm. Praktische Anwendung philosophischer Erkenntnisse war demgemäß schon 1842 eine sich abzeichnende Maxime, und die nüchterne Prüfung der mittlerweile mächtig aufgekommenen Hegelianischen Lehre dringliches Gebot. Unter dem Etikett der Psychologie nahm er nicht in erster Linie Hegel selbst, sondern die einschlägigen Wer6 ke dreier erklärter Hegelianer aufs Korn; und unter denen vor allem den Nachfolger Herbarts in Königsberg, Karl Rosenkranz (1805–1879). Dieser hat es sich nicht nehmen lassen, 1843 in einer ‚sehr verbesserte‘ Auflage seiner Psychologie7 ausführlich auf Exners Vorwürfe zu antworten, und Exner hat dann seinerseits 1844 das zweite Heft seiner Fundamentalkritik folgen lassen. 3 4 5

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Exner Hegel-Schule 1842, S. 2. Eduard Winter (Hg.): Der Bolzanoprozess. Dokumente zur Geschichte der Prager Karlsuniversität im Vormärz. Brünn, München, Wien 1944 Hermann Bonitz und Franz Exner: Organisationsentwurf für österreichische Gymnasien und Realschulen, Wien 1849. – Helmut v. Engelbrecht: Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs. 5 Bde.Wien: 1982–1988. – Guter Überblick bei Peter Stachel: Das österreichische Bildungssystem zwischen 1749 und 1918; in: Karl Acham (Hg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Bd.1: Historischer Kontext, wissenschaftssoziologische Befunde und methodologische Voraussetzungen. Wien: 1999, S. 115–146 und http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/PStachel2.pdf. Johann Eduard Erdmann: Grundriß der Psychologie für Vorlesungen, Leipzig 1840. – Carl Ludwig Michelet: Anthropologie und Psychologie, oder die Philosophie des subjektiven Geistes, Berlin 1840. – Karl Rosenkranz: Psychologie, oder die Wissenschaft vom subjektiven Geiste, Königsberg 1837. Karl Rosenkranz: Psychologie oder die Wissenschaft vom subjectiven Geist: nebst Widerlegung der vom Herrn Dr. Exner gegebenen vermeintlichen Widerlegung der Hegel'schen Psychologie, 2., sehr verb. Auflage Königsberg: Bornträger, 1843, speziell S. 367–430.

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Karl Clausberg Die in faßlichster Popularität und mit jovialer Laune geschriebene Broschüre sei ein polemisches Produkt des abstrakten Verstandes, der sich gegen alles Spekulative sträube, so Rosenkranz zu Beginn seiner Gegendarstellung. Der ihm zuvor völlig unbekannte Dr. Exner habe sehr ergötzlich die Abweichungen zwischen Hegel und seinen Gefolgsleuten ausgebreitet und so bei allen Gegnern der Hegelschen Philosophie großen Jubel erregt. Unter solchen Umständen sei er, Rosenkranz, weit entfernt vom liebgewordenen Hochmut des Schweigens, der eigentlich das einzige Mittel sei, vor Zeitvergeudung zu schützen.8 In der Tat hat Exner mit seinen gelegentlich unverhohlen Wienerischen Zungenschlägen den hochtrabenden Hegeleien deutlich das Wasser abgegraben und zu Repliken herausgefordert; eine Exner-Kostprobe zur dialektischen Methode mag das belegen: „Der Geist, lehrt man uns, ist die Negation der Natur. Wohlan, wenn es euch nothwendig dünkt, so negirt die Natur und habt Euren Geist. Ganz recht, sagen die Verfasser [der Hegelianischen Psychologien], wir haben den Geist. Aber er ist noch nicht der rechte; diese Negation ist noch keine eigentliche Negation. Nun, erwiedern wir, dann ist diese Negation verunglückter Gedanke; werft ihn weg, und negirt besser. O nein, sagen sie; diese verunglückte Negation nennen wir den subjectiven Geist, und negiren sie wieder, und was herauskommt, nennen wir den objectiven Geist. Nun also habt ihr die Negation der Natur? Noch nicht; aber wir negiren sie wieder, und fahren so fort, bis Alles, was wir von Geist und Geistern in dieser Welt gesehen, gehört und gelesen, sein Plätzchen gefunden, dann schließen wir ab und negiren ordentlich. – Dieß ist Methode, und zwar dialektische.“

Exners respektloses Fazit: „Der Begriff schlägt über in sein Gegentheil; aber wie ein schlechter Gaukler fällt er zehnmal auf den Bauch hin, bis es ihm gelingt, das eilfte Mal ganz herum und wieder auf die Füße zu kommen.“

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— Da konnte Rosenkranz nur mit vorgeschobener zusätzlicher Übertreibung parieren: Hatte Exner das dialektische Umwälzen der Begriffe zum Beispiel als endlose Sisyphos-Arbeit charakteri10 siert , so zitierte Rosenkranz nun den Veitstanz der Ideen, um

8 Rosenkranz Psychologie 1843, S. 370. 9 Exner Hegel-Schule 1842, S. 67. 10 Exner Hegel-Schule 1842, S. 78.

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‚Wiener Schulen‘ im Rückblick die ruhelosen Wirbel der dialektischen Methode dann wieder auf Hegels sprachlich angemessene Form zurückzuschrauben.11 Und so weiter. Exners Folgenabschätzung der Hegel-Philosophie war beängstigend: Die Freiheit des Geistes in seiner Objektivität, lehre die Hegelsche Schule, sei das absolute Kriterium für die Willkür des subjektiven Geistes, d.h. die Summe von Ansichten über Recht und Unrecht, welche sich zu irgend einer Zeit in der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft, dem Staate herausbilde, sei der objektiv gültige Maßstab für das Handeln jedes Einzelnen in ihnen. „Macht ist Recht.“12 – Schon zuvor hatte er ein treffendes Bild für solche Wesensart gewählt: „So ist denn, sagen wir, der Geist ein Proteus geworden, der sich endlos verwandelt. Nur ist er zugleich auch allmächtig, denn er kann eben Alles, was er will; Nichts kann ihm widerstehen, ja Alles, was er will, ist schon wirklich, indem er es will, und einfach dadurch, daß er es will. Die Hegel’sche Philosophie hat nicht selten Lust gezeigt, ins öffentliche Leben einzutreten; was würde sie aber wohl von einem Staatsmanne urtheilen, der mit ihren Ueberzeugungen […] es unternähme, ein Land zu regieren?“13

Exners Gesamturteil über die Psychologie der Hegel-Schule blieb auch nach Rosenkranz’ eingehender Erwiderung – immerhin rund sechzig Buchseiten – vernichtend: sie habe sich bisher nicht durch treue Auffassung der Erfahrung hervorgetan, schrieb er 1844; sie vermische die Begriffe ineinander und wälze die Schwierigkeiten in ihnen von Stufe zu Stufe empor ins Absolute hinein und erkläre sodann, daß sie dort alle nicht mehr existierten. „Was lernen wir wohl über die Natur des Anschauens, wenn gesagt wird, sein Grund sei das Vorstellen, und noch weiter hinauf die absolute Negativität des absoluten Geistes, ja es sei selbst in Wahrheit eigentlich das Vorstellen, und dies das Denken, und dies der absolute Geist?“14

— Insbesondere hat Exner den Hegelianern vorgeworfen, daß sie von bedeutenden neueren Leistungen zur Klärung solcher Zu-

11 12 13 14

Rosenkranz Psychologie 1843 S. 387ff. Exner Hegel-Schule 1842, S. 54. Exner Hegel-Schule 1842, S. 47–48. Exner Hegel-Schule 2 1844, S. 126–127.

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Karl Clausberg sammenhänge keine Notiz genommen hätten; nämlich von der Psychologie und Erkenntnistheorie Herbarts.15 „Daß die Herbartsche Philosophie überhaupt im entschiedensten Widerspruche steht mit der Hegel’schen, daß sie gegenwärtig allein in Deutschland die innere Lebenskraft besitzt, vermöge welcher sie in geschlossener Macht als ebenbürtige Gegnerin jener gegenübersteht: dies ist selbst von Freunden des Hegel’schen Systems ausgesprochen und zugestanden worden. Zum Ignoriren ist es zu spät.“16

— II — Johann Friedrich Herbart (1776–1841), der 1809 auf den Lehrstuhl Kants in Königsberg berufen worden war, hatte 1824 in seiner Psychologie ein merklich anderes Szenario des Vorstellungslebens entworfen: „Alle Vorstellungen im engern Sinne, das heisst, solche, die ein Bild sind von irgend einem, gleichviel ob wirklichen, oder scheinbaren, oder erdichteten Gegenstande, sind Gewebe von Reihen, die in einer schnellen Succession unmerklich fortfliessend, durchlaufen werden. Der Schwung durch die Partial-Vorstellungen lässt einen Gesammt-Eindruck zurück, der jeden Augenblick auf die geringste Veranlassung wieder in irgend eine innere Bewegung gerathen kann.“17

Wie unterschiedlich die resultierenden Vorstellungswelten ausfallen konnten, hatte Herbart unter anderem so belegt: Denke man sich die drei Hauptfarben Rot, Gelb, Blau, samt allen dazwischenliegenden Tönen, die aus ihnen gemischt oder in sie zerlegt werden könnten: so erscheine das ganze System notwendig als ein gleichseitiges Dreieck. Dieses Farbendreieck hänge mit dem sinnlichen Weltraum durchaus nicht zusammen, habe auch mit ihm kein gemeinsames Maß. Wollte man das Farbendreieck aufs Papier zeichnen, so könnte es eben so gut ein Differential-Dreieck

15 Exner Hegel-Schule 1842, S. 110. 16 Exner Hegel-Schule 1842, S. 111. 17 Johann Friedrich Herbart: Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik. Erster, synthetischer Theil. Königsberg 1824, Siebentes Capitel. Von den Vorstellungsreihen niederer und höherer Ordnungen; ihrer Verwebung und Wechselwirkung. §. 100, S. 349ff., speziell S. 362.

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‚Wiener Schulen‘ im Rückblick sein wie eine Quadratmeile im sinnlichen Weltraum einnehmen. – Es gebe noch andre Veranlassungen, solche Räume zu konstruieren; auch der intelligible Raum in der Metaphysik gehöre hierher. Genau genommen lägen auch die Gegenstände der reinen Geometrie nicht im sinnlichen Weltraum.18 Ja sogar der sinnliche Weltraum selbst sei nicht ursprünglich nur Einer, so Herbart weiter; sondern Auge und Tastsinn hätten unabhängig von einander Gelegenheit zur Produktion des Raums gegeben; erst später würde beides verschmolzen und erweitert. Herbarts Schlußfolgerung: „Man kann nicht oft genug gegen das Vorurtheil warnen, als gebe es nur Einen Raum, den des sinnlichen Weltalls. Es giebt ganz und gar keinen Raum; aber es giebt Veranlassungen, dass Systeme von Vorstellungen ein Gewebe von Reproductions-Gesetzen durch ihre Verschmelzung erzeugen, dessen Vorgestelltes nothwendig ein Räumliches – nämlich für den Vorstellenden – seyn muss, und solcher Veranlassungen finden sich mehrere, die nicht alle gleichen Erfolg haben; denn manche angefangene Raum-Erzeugung bleibt unvollendet im Dunkeln liegen. Das Vorurtheil aber, von dem hier die Rede ist, reicht schon für sich allein zu, alle Metaphysik zu verderben.“19

Die fließenden Gewebe aus Vorstellungsreihen und deren flexible Kombinatorik waren himmelweit von den autonomen ‚dialektischen Wirbeln‘ der Hegel-Schule entfernt; und es ist gut nachzuvollziehen, wie Herbarts konträre Ideen in der aufkommenden Sinnesphysiologie und anderen Wissenschaften aufgenommen wurden. Seine wiederholten, auch in mathematischen Formeln gefaßten Ausführungen, daß Reihenbildung von Vorstellungen auf Hemmungen und die Schwellen des Bewußtseins einen sehr starken Einfluß ausübe20, hat die begrifflichen Leitlinien der empirischen Seelenforschung weit über das 19. Jahrhundert hinaus geprägt. So hat zum Beispiel einer der Exner-Söhne, der hochrenommierte Wiener Hirnforscher Sigmund Exner(-Ewarten) (1846– 1926), ein umfassendes Basiskonzept neuronaler Hemmungen und Bahnungen in der Hirnforschung etabliert und zum folgenreichen Entwurf psychischer Erregungen im Organe des Bewusstseins entfaltet:

18 Herbart: Psychologie 1824, S. 359–360. 19 Herbart: Psychologie 1824, S. 360–361. 20 Herbart: Psychologie 1824, S. 361.

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Karl Clausberg „Als dunkle Wahrnehmungen spielen sich in der [Hirn]Rinde Processe ab, deren Resultate dem Bewusstsein einverleibt werden, ohne dass die Factoren derselben nachträglich vom Bewusstsein noch erfasst werden können. Es ist gleichsam ein ausserhalb des Bewusstseins ablaufendes psychisches Leben, dessen Resultate in das Bewusstsein aufgenommen, die Rolle von Empfindungen spielen.“21

— Zu den weitläufigen Folgen dieses Entwurfs zählt auch das Konzept der microgenesis, das von einem anderen Wiener Multitalent, dem Musikwissenschaftler und Psychologen Heinz Werner (1890–1964), der zeitweise Exners Assistent war, in die englischsprachige Forschung eingeführt worden ist.22 Einer der transatlantischen Propagatoren der Mikrogenesis, der New Yorker Neurologe Jason W. Brown, hat 1988 deren Wesenszüge so zusammengefaßt: „The basic assumption of microgenesis is that mental representations (perceptions, ideas), as well as actions and affects, have a prehistory that forms the major part of their structure. There is an unfolding in microtime – in seconds or in a fraction of a second – leading to an action or an idea. This unfolding process is concealed from the individual, who is only aware of events in consciousness. The surface events that articulate consciousness – limb movements, utterances, objects and mental images – are like the tip of an iceberg in cognitive structure.”23

— Die Übereinstimmungen dieses Eisbergspitzen-Konzepts mit Exners Formulierungen sind offensichtlich. Exners momentane neuronale Bahnungen und Hemmungen, die in ‚dunklen Wahrnehmungen‘ münden, wirkten auch in der ‚Neuen Leipziger Schule‘ fort. Wilhelm Wundts ambitionierter Assistent Friedrich Sander (1889–1971) hat sich in einem Kongreßbericht über Aktualgenese-Forschungen24 ausdrücklich auch auf 21 Sigmund Exner: Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der psychischen Erscheinungen, Leipzig und Wien 1894, S. 69ff, Zitat S. 236. 22 Jaan Valsiner (Ed.): Heinz Werner and Developmental Science, New York 2005. – Talis Bachmann: Microgenetic Approach to the Conscious Mind, Amsterdam 2000, mit interessanten forschungsgeschichtlichen Hintergrundinformationen. 23 Jason W. Brown: The Life of the Mind. Selected Papers, Hillsdale NJ 1988, Introduction: Microgenetic Theory, p. 3. 24 Friedrich Sander: Experimentelle Ergebnisse der Gestaltpsychologie, aus: Bericht über den 10. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Bonn 1927, Jena 1928; wiederabgdruckt in: Friedrich Sander und

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‚Wiener Schulen‘ im Rückblick Werners Untersuchungen Über Mikromelodik und Mikroharmonik25 bezogen. Darin war im Prinzip schon jener Alternativbegriff Mikrogenese vorbereitet, den Werner nach seiner Emigration in die englische Fachterminologie überführte und mit seiner sachlicheren Darstellungsweise – im Gegensatz zu Sanders expressionistischen Wortgemälden von drängenden Vorgestalten und beruhigten Endgestalten und – dort zu stetig wachsender Aufmerksamkeit verhalf. – Zur Wirkungsgeschichte der von Sander propagierten Aktualgenese, die vor allem im deutschsprachigen Raum Resonanz fand, ist festzuhalten, daß auch sie nicht ohne Einfluß auf die angelsächsische Forschung geblieben ist: Sander verfaßte für einen Sammelband über Psychologien von 1930 einen Beitrag mit dem Titel Structure, Totality of Experience and 'Gestalt'26; die Übersetzung ins Englische besorgte Susanne K. Langer, die damals mit Alfred North Whitehead zusammenarbeitete. Es ist also durchaus wahrscheinlich, daß Whiteheads Prozeßphilosophie von aktual- und mikrogenetischen Forschungen stimuliert wurde, zumal er 1936/37 Heinz Werner in Harvard begegnet sein dürfte.27 Noch etwas ist anzumerken: Werners Untersuchungen waren auch dem ‚russischen Piaget‘ Lew Wygotski (1896–1934) bekannt, der seinerseits die Meinung vertrat, daß die eigentlichen Wirkungen ästhetischer Erfahrung vorbewußt und verborgen bleiben: „Für uns liegt klar auf der Hand, daß die intellektuellen Vorgänge, die Denkprozesse, die sich bei jedem von uns mittels und gelegentlich des Kunstwerkes einstellen, zur Psychologie der Kunst im engeren Sinne des Wortes nicht dazugehören. Sie sind gewissermaßen das Ergebnis, die Folge, die Konsequenz, die Nachwirkung des Kunstwerkes, das sich einzig und allein durch seine Hauptwirkung realisieren kann.“

Hans Volkelt, Ganzheitspsychologie / Grundlagen * Ergebnisse * Anwendungen. Gesammelte Abhandlungen, München 1962 S. 73–112. 25 Sander: Experimentelle Ergebnisse 1928 S. 103. – Heinz Werner: Über Mikromelodik und Mikroharmonik in: Zeitschrift für Psychologie 98, 1926, S. 74–89. 26 Sander: Structure, Totality of Experience and 'Gestalt'; in: C. Murchinson (Ed.): The Psychologies of 1930, Worchester MA, Clark Univ. Press 1930. – Deutsche Version: Funktionale Struktur, Erlebnisganzheit und Gestalt; in: Archiv für die gesamte Psychologie 85, 1932, S. 237–260. 27 Franz Riffert: Whitehead's Theory of Perception and the Concept of Microgenesis; in: Concrescence: The Australasian Journal for Process Thought, Vol. 5, 2004 [web-version]

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Karl Clausberg So einer der Fundamentalsätze in Wygotskis 1925 geschriebener, aber erst 1968 publizierter Psychologie der Kunst.28 Und an anderer Stelle: „Die ganze Geschichte der Interpretation und der Kritik als Geschichte des eindeutigen Sinnes, den der Leser [oder Betrachter] fortlaufend in das Kunstwerk hineintrug, ist also nichts anderes als die Geschichte der Rationalisierung, welche sich jeweils in ihrer Art veränderte.“29.

— So ergibt sich schließlich ein weitgespanntes, ursprünglich auf Herbarts Psychologie der Vorstellungsreihen zurückgehendes Geflecht von Konzeptwanderungen, das durch den zweiten Weltkrieg weitgehend verschüttet wurde.

— III — Die Grundlinien der Herbartschen Erkenntnistheorie waren bereits in seinen ersten Publikationen klar greifbar gewesen. So hatte der gebürtige Oldenburger schon im Jahre 1803, als er – nach Studien in Jena und einem Intermezzo als schweizer Hauslehrer – in Göttingen mit seiner akademischen Karriere begann, ein Vortragsmanuskript Über den Standpunkt der Beurteilung der Pestalozzischen Unterrichtsmethode30 verfaßt. Auf wenigen Seiten waren die wesentlichen Fragen einer pädagogisch angewandten Philosophie skizziert: Trage der Mensch – so wie die Pflanzen – das Prinzip seiner Bildung in sich selbst? Manche sagten, daß Temperament oder biblische Erbsünde ihn prägten. Die neuesten philosophischen Systeme behaupteten, er mache und setze und bestimme sich ganz selbst, und vergäßen darüber, daß sie ihre eigenen intelligiblen Welten vor jeder Einwirkung verschlossen hielten.31 – Herbart seinerseits hielt dagegen den Menschen weder für ganz vorherbestimmt noch für völlig frei, sondern in einem Mittelzustande begriffen, in dem halbe Bildung und noch halb

28 Lew S. Wygotski: Psychologie der Kunst [1925], Dresden 1976, S. 42. 29 Wygotski Psychologie 1976, S. 79. 30 Johann Friedrich Herbart: Über den Standpunkt der Beurteilung der Pestalozzischen Unterrichtsmethode; Bremen 1803; abgedruckt in: Fr. Bartholomäi (Hg.): Joh. Friedr. Herbarts Pädagogische Schriften, bearb. von E. von Sallwürk, 7. Auflage Langensalza 1906, Zweiter Band S. 220– 239. 31 Herbart Standpunkt 1803/1906, S. 226.

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‚Wiener Schulen‘ im Rückblick 32

offene Bildsamkeit die Aufgaben der Erziehung vorgaben. Der Mensch habe anstelle von Instinkten Vernunft; das heiße, ihn treibe kein anderer Mechanismus als der, welcher sich aus Vorstellungen erzeuge, die er empfing, die er vernahm. „Diese Vorstellungen selbst sind Kräfte, die sich untereinander hemmen, und die sich wieder einander helfen; sie sind Mächte, die sich heben und stürzen, sich drängen und befreien; und sie geraten durch eben diesen Streit in alle die mannigfaltigen Zustände, […] die in ihrer wunderbaren Mischung und Vereinzelung, ihrer unaufhörlichen

kontinuierlichen Veränderung und neuen

Gestaltung, alle Abteilung [Einteilung] der Philosophen zwischen Verstand und Willen, und zwischen Vernunft und Willkür, und zwischen dem Triebe und der Freiheit, jeden Augenblick beschämen und vernichten.“33

Hier tauchte zum ersten Mal in knappen Zügen jenes Doppelbild auf, das von Herbartianern immer wieder benutzt wurde, um den idealistischen Seelenkonstrukten ein naturwissenschaftlich begründetes Modell der Bildsamkeit von Individualität und Subjektivität entgegenzuhalten. Aber auch die Umrisse einer zukünftigen Sozialpsychologie waren darin schon angelegt: „Die Psychologie bleibt immer einseitig, so lange sie den Menschen als allein stehend betrachtet“, konnte man dann in Herbarts kürzergefaßtem Lehrbuch zur

Psychologie in zweiter Auflage von 1834 lesen; und die nachfolgende, häufig zitierte Erläuterung: „In dem Ganzen jeder Gesellschaft verhalten sich die einzelnen Personen fast so, wie die Vorstellungen in der Seele, wenn die geselligen Verknüpfungen eng genug sind, um den gegenseitigen Einfluß vollständig zu vermitteln.“34

Diese Analogie mobilisierte ein soziologisches Leitbild, in dem die neu-entdeckten zellulären Organismus-Strukturen und zeitgenössische biologische Evolutionskonzepte mit der altertümlichen Tradition des Mikrokosmos-Makrokosmos zusammentrafen und schließlich in regelrechte entwicklungs- und sozialpsychologisch begründete Staatslehren einmündeten.35

32 Herbart Standpunkt 1803/1906, S. 229. 33 Herbart Standpunkt 1803/1906, S. 227–228. 34 Johann Friedrich Herbart: Lehrbuch zur Psychologie, 2. Auflage 1834, 3. Auflage hrsg. von G. Hartenstein 1850, §24o S. 166. 35 Guter Überblick bei George Perrigo Conger: Theories of Macrocosms and Microcosms in the History of Philosophy, New York 1922.

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Karl Clausberg Daß alle organischen Wesen aus Bläschen oder Zellen bestehen, hatte der philosophierende Mediziner Lorenz Oken (1779– 1851), der kurz nach Herbart in Jena Fichtes Schüler war, 1805 in seinem Buch über Die Zeugung36 behauptet. Diese Bläschen seien die infusoriale Masse oder der Ur-Schleim, woraus sich alle größeren Organismen gestalten. Deren Erzeugung sei daher nichts anderes als eine gesetzmäßige Zusammenhäufung von Infusorien. Und in Okens Lehrbuch der Zoologie war dann 1815 noch eine andere bemerkenswerte Gleichsetzung dieser Elemententhiere zu finden: „Wie ursprünglich die Elemente in Atome aufgelöst sind, so werden diese Thiere nur die Atome des Thierreichs vorstellen, nur Puncte, Linien, Flächen oder einförmige Kugeln sein, nur aus der ersten organischen Materie, Schleim bestehen, Schleimpuncte sein. Sie sind nothwendig die untersten, und verhalten sich zu den andern Thieren wie die Elemente zu andern Materien, d.h. sie sind der Urstoff aller Thiere.“37

Okens hellsichtige Spekulation hatte – gegründet auf die lange bekannte Anschauung mikroskopischer Pflanzenzellen – die tatsächliche Entdeckung und Deutung tierisch-menschlicher Zellstrukturen vorweggenommen: 1826 fand Karl Ernst von Baer die Eizellen von Säugetieren; 1839 legte Theodor Schwann mikroskopische Untersuchungen vor, die endgültig die Übereinstimmungen im Aufbau von Tieren und Pflanzen erhärteten.38 Bald war von pflanzlichen Zell-Republiken und tierisch-menschlichen ZellMonarchien die Rede, und immer wieder auch von Mikro- und Makrokosmen der staatlichen Organisation. Der Pathologe Rudolf Virchow, der 1848 an der Märzrevolution beteiligt war, beschrieb dann in den 1850er Jahren menschliche Körperzellen als „freiern Staat gleichberechtigter, wenn auch nicht gleichbegabter Einzelwesen, der zusammenhält, weil die Einzelnen auf einander angewiesen sind“39; und Ähnliches mehr. – Pate gestanden hat in solchen und anderen Fällen das Leitbild des Herbartianischen Realismus; und dessen Ausstrahlung war international. 36 Lorenz Oken: Die Zeugung, Bamberg 1805. 37 Lorenz Oken: Lehrbuch der Zoologie, 1815, S. 12. 38 Theodor Schwann: Mikroskopische Untersuchungen über die Uebereinstimmung in der Structur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen, Berlin 1839. 39 Rudolf Virchow: Cellular-Pathologie; in: Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medicin, achter Band, Berlin 1855, S. 25.

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‚Wiener Schulen‘ im Rückblick 1873 veröffentlichte zum Beispiel ein hochrangiger russischer Reichsbeamter, Paul von Lilienfeld (1829–1903) den ersten Band seiner Gedanken über die Socialwissenschaft der Zukunft, in dem er die menschliche Gesellschaft als ‚realen Organismus‘ bezeichnete.40 „Die menschliche Gesellschaft ist, gleich den Naturorganismen, ein reales Wesen“, schrieb er mit Emphase ins Vorwort; „[sie] ist nichts mehr, als eine Fortsetzung der Natur, ist nur ein höherer Ausdruck derselben Kräfte, die allen Naturerscheinungen zu Grunde liegen.“ Das seien Aufgabe und Thesis, die er als Autor durchzuführen und zu beweisen gedachte; — und als Ergebnis wollte er verbuchen: Die menschliche Gesellschaft zeige dieselben Erscheinungen wie Naturorganismen im Übergange vom Kleinen zum Großen, vom Engen zum Weiten. Er habe dargelegt, „dass die Erscheinungen des socialen Kosmos denen des physischen völlig analog sind und dass, gleichwie der physische Mensch zur Natur dieselbe Stellung einnimmt, wie der physische Mikrokosmos zum physischen Makrokosmos, so auch der sociale Mensch zur ganzen menschlichen Gesellschaft sich wie ein socialer Mikrokosmos zum socialen Makrokosmos verhält.“

Daher sei es auch möglich, die Gesetze der Erscheinungen, wie in der Natur, so auch in der Gesellschaft aufzufinden.41 Die physiologische Gleichsetzung von Leib und Gesellschaft unter dem alten Leitbild des Mikro/Makrokosmos war allgegenwärtig: Man bedachte Nervenverbindungen des Telegraphenzeitalters, Blutzirkulation des Verkehrs und ganz allgemein Bau und Leben des socialen Körpers, so der 1868 als Professor für Politikwissenschaften nach Wien berufene Schwabe Albert Schäffle, der die Analogie von Körper und Staat 1875 in der ersten Auflage seines vierbändigen Werks bis ins extreme Detail durchgeführt hat.42 Und 1878 hat der deutsche Darwinismus-Verkünder und erklärte Antiklerikale Ernst Haeckel sogar in Wien einen programmatischen Vortrag über Zellseelen und Seelenzellen gehalten.43 — Oh-

40 P.L. [Paul von Lilienfeld]: Gedanken über die Socialwissenschaft der Zukunft. Erster Theil. Die menschliche Gesellschaft als realer Organismus. Mitau 1873. 41 P.L. [Paul von Lilienfeld] Gedanken 1873, S. 393–394. 42 Albert Schäffle: Bau und Leben des Socialen Körpers. Vier Bände. Tübingen, 1875 bis 1878. In der 2. Auflage von 1896 hat Schäffle die rigorose Körper/Staat-Analogie deutlich gemildert. 43 Ernst Haeckel: Zellseelen und Seelenzellen. Vortrag, gehalten am 22. März 1878 in der "Concordia" zu Wien, Bonn 1878.

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Karl Clausberg ne den maßgebenden Einfluß der Herbartianischen Erziehungsund Staatslehre wäre das sicher nicht möglich gewesen. Eifrigster Förderer des psychisch zentrierten Leitbildes – so, wie Herbart es ursprünglich angelegt hatte – war der Böhmische Pädagoge Gustav Adolf Lindner (1828–1887), der – nach dem frühen Tode seines Prager Lehrers Exner – dank klar formulierter Lehrbücher, so der vielfach aufgelegten Empirischen Psychologie nach genetischer Methode44, zu einem der Wortführer des k.k.Herbartianismus aufstieg. Neben individualpsychologischer Bildsamkeit rückte zunehmend die seelische Verfassung des staatlichen Ganzen ins Blickfeld. Die Gesellschaft sei ein Gesamtmensch, hat Lindner 1871 im Vorwort zu seinen Ideen zur Psychologie der Gesellschaft geschrieben;45 „darum muß sich das Auge von der Einseitigkeit und Beschränktheit des Individuums, des Mikrokosmos, zu ihr emporheben, um an ihren großen und vollendeten Dimensionen gleichsam im Lapidarschrift dasjenige wahrzunehmen, was sich im Bewußtsein des Individuums hinter seine mikroskopische Kleinheit versteckt. Schon der gemeine Sprachgebrauch kann nicht umhin, von öffentlicher Meinung, vom Volksgeiste, von socialen Ideen, kurz von der Gesellschaft wie von einer beseelten Persönlichkeit zu reden.“

Er habe mit dieser Metapher Ernst gemacht, so Lindner; dadurch hätten sich ihm die Umrisse einer Wissenschaft gezeigt, die sich als geistige Doppelgängerin der Volkswirtschaft erweise und mit der selben zu eigentlicher Sozialwissenschaft ergänze.46 Er habe vor, die geistigen Funktionen des gesellschaftlichen Vorstellens und Wollens untersuchen, schrieb Lindner im Vorwort; und dementsprechend begann auch er sein Buch mit einer Physiologie der Gesellschaft, in der zum Beispiel Sprache als Organisation des geistigen Verkehrs nach dem Lieblingsdenkbild des verkehrsbesessenen Jahrhunderts charakterisiert erscheint. Hauptstücke seiner Ideen waren jedoch die Grundzüge der Socialpsychologie und die Politische Psychologie, welche die Gesellschaft als vorstellendes und wollendes Wesen beschreiben. Gesellschaftliches Bewußtsein, das Prinzip der Öffentlichkeit, die Sprache als Trägerin des öffentlichen Bewußtseins, gesellschaftli-

44 Gustav Adolf Lindner: Lehrbuch der empirischen Psychologie nach genetischer Methode, 1. Auflage Cilli 1858. 45 Gustav Adolf Lindner: Ideen zur Psychologie der Gesellschaft als Grundlage der Socialwissenschaft, Wien 1871. 46 Lindner Ideen 1871, S. IV.

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‚Wiener Schulen‘ im Rückblick che Assoziation und Apperzeption, öffentliche Aufmerksamkeit, öffentliches Gedächnis, Volksphantasie, gesellschaftliches Selbstbewußtsein, Einzel- und Gesamtwollen sowie deren Gleichgewicht, Hemmung und Förderung, politische Funktionen und Formen, sittliche Ideen und kultureller Fortschritt – dieses ganze Ensemble theorieträchtiger Reizworte hat Lindner der Reihe nach abgehandelt und mit dem Begriff des öffentlichen Gewissens zur harmonischen Norm einer beseelten, sorgsam sich fortpflanzenden Gesellschaft abgerundet. Was läßt sich als auffälligstes Zwischenergebnis festhalten? – Vor allem: Die Herbartianischen Staats- und Erziehungslehren operierten immer noch mit dem althergebrachten Mikro/MakroSchema zweistufiger Ähnlichkeit, das sich tatsächlich schon in dreifache Größenordnung zerlegt hatte und deren Maximen forcierte: So, wie der menschliche Leib als Zellstaat ausgebildet und ertüchtigt, aber auch bei Erkrankung geheilt werden könne, so sollte auch der Körper der Gesellschaft behandelt werden; und dergleichen mehr.47 – Diese Leitbildmerkmale haben dann, gleichsam mit Herbarts offenen Vorstellungsabläufen den Umbrüchen der Physik folgend, neuartige, weniger leibhaftige Qualitäten angenommen.

47 Zu wienerischen Kunstreflexen bei Klimt: Clausberg. Ausdruck und Aura. Synästhesien der Beseelung. S. 41–86, spez. S. 74–77; in: ders.: Ausdruck Ausstrahlung Aura. Synästhesien der Beseelung im Medienzeitalter [hrsgg. mit Elize Bisanz und Cornelius Weiller] Bad Honnef 2007.

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Karl Clausberg Abb. 1: Franz Serafin Exner sen.

Lithographie, Zum Sande, 1843 Bildarchiv ÖNB PORT_00134845_01

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‚Wiener Schulen‘ im Rückblick Abb. 2: Karl Rosenkranz

Lithographie nach einer Zeichnung von J.H. Stobbe; signiert 3. August 1843. Bildarchiv ÖNB PORT_00024996_01

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Karl Clausberg Abb. 3: Johann Friedrich Herbart

Stich nach einer Zeichnung von C.H. Steffens o.J. Bildarchiv ÖNB PORT_00011088_01

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‚Wiener Schulen‘ im Rückblick Abb. 4: Gustav Afolf Lindner

Lithographie von Jan Vilimek 1883 Wikimedia Commons

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Karl Clausberg Abb. 5: Franz Serafin Exner jun. und Sigmund Exner(-Ewarten)

Portraitphotos Bildarchiv Österr. Akademie der Wissenschaften

40

‚Wiener Schulen‘ im Rückblick Abb. 6: Ludwig Boltzmann

Lithographie von R. Fenzl 1898 Bildarchiv ÖNB PORT_ 00136596_01

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Karl Clausberg Abb. 7: Richard Wallaschek

Nach einer Photographie aus den 1890er Jahren; in: A Group of German Professors, Illustrated; in: Music: a monthly magazine […] Chicago, Vol. 15, 1898/99, pp. 450–458, esp. p. 457. © Digital Library, University of Michigan

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‚Wiener Schulen‘ im Rückblick Abb. 8: Viktor Urbantschitsch

Photographie, um 1920 Bildarchiv ÖNB Pf3667C1

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Karl Clausberg Abb. 9: Heinz Werner

Photographie, um 1960 courtesy Jaan Valsiner

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‚Wiener Schulen‘ im Rückblick

— IV — Einen bemerkenswerten Auftakt zu neuartig naturwissenschaftlichen Modellbildungen von Staatsorganismen und Volkswirtschaften hatte Gustaf Adolf Lindner 1875 gegeben; in einer kompakten Broschüre, deren zukunftsweisender Titel hellhörig macht: Über Latente Vorstellungen.48 Lindner schien das Leitbild physikalischer Kraftwechselwirkungen so bedeutend, daß er es für berechtigt hielt, diese Analogie direkt auf das Gebiet des Seelenlebens und der Gesellschaft zu übertragen, „und zwar nicht im Sinne einer Metapher, sondern im Sinne eines realen Thatbestandes.“49 Kräfte könnten sich im Gleichgewicht zeigen oder als Bewegung in Erscheinung treten, so Lindner; in aktueller Wirkung oder nur potentiell, wenn sie gehemmt würden. Die ersteren Kräfte seien frei, weil sie ihr Ziel erreichten, die letzteren in ihrer aufgehobenen Wirkung latent. Latent vorhandene Kräfte [z.B. unter Druck stehende Kessel] ließen sich nun bequem räumlich und zeitlich verschieben und demgemäß in ihrer Anwendung akkumuliert einsetzen; man könne sie „nach Analogie der Volkswirtschaft die Kapitalisation der Kraft nennen.“ Lindners nachfolgende Rückübertragung: „Fast noch augenscheinlicher als in der Natur sieht man den Process der Kapitalisirung, Concentrirung und Harmonisirung latenter Kräfte in der Gesellschaft“50 — Von diesem Grundmodell gehemmter oder entfalteter Kräfte ausgehend ist Lindner dann noch einmal die herbartianischen Aspekte individuellen und gesellschaftlichen Seelenlebens, nämlich die Verhältnisse von aktuellen und latenten Interessen, Bestrebungen und Vorstellungen durchgegangen. Individuelle Einzelleistungen würden sich im Staatsverband zunächst hemmend gegenübertreten, ohne damit zu verschwinden, so Lindner; gehemmte Kräfte würden ungeschwächt fortdauern als jeweils partikulares Streben. Weniger antagonistische Bestrebungen könnten sich jedoch vereinen, und so weiter: „Auf diese Weise wird sich der Kampf der zahllosen Individual- und Solidarinteressen innerhalb der Gesellschaft in den Bewegungen einiger weniger Persönlichkeiten darstellen, welche die gesellschaftliche Bewegung leiten.“

48 49 50 51

Gustav Adolf Lindner: Über Latente Vorstellungen, Prag 1875. Lindner Vorstellungen 1875, Einleitungssatz. Lindner Vorstellungen 1875, S. 5. Lindner Vorstellungen 1875, S. 9.

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Karl Clausberg Die gleichen Verhältnisse sah Lindner – Herbarts schon zitierten Lehrsatz umkehrend – auch innerhalb des Seelenlebens Einzelner wiederkehren: Wie in der Gesellschaft, so könne auch im individuellen Bewußtsein, dem Schauplatz des Seelenlebens, beim Zusammentreffen zahlloser elementarer Einzelkräfte schließlich sogar allgemeine Hemmung eintreten. In solchen Zuständen verhindere die Fülle der Empfindungen, daß es zu klarem Vorstellen komme. Die aufgehaltene Bewegung so vieler Vorstellungen verrate sich dem Bewußtsein lediglich als Druck, der als Empfindungston und als Gefühl wahrgenommen werde.52 Latente und aktuelle Vorstellungen bildeten Pyramiden, welche nur mit ihren Spitzen über die Schwelle des Bewußtseins emporragten.53 Aus solch mechanistischen Prämissen ergab sich für Lindner ein überraschend modernes Bild des Seelengefüges: „Am gewaltigsten ist jedoch die Wirkung latenter Vorstellungskräfte innerhalb der Sphäre des Strebens. Denn hier gilt es eben, unter den vielen sich gleichzeitig darbietenden Antrieben, zu wollen und zu handeln, irgend einer Richtung die Oberhand über die anderen zu verschaffen. Man irrt, wenn man glaubt, dass die wenigen klaren Vorstellungen, welche über die Schwelle unseres Bewusstseins dahin ziehen, für sich allein, sei es ausschliesslich oder auch nur vorwiegend die entscheidende Richtung unserer Bestrebungen bestimmen.“54

Lindner schloß mit der Erkenntnis: „dass sowohl in der Gesellschaft, wie innerhalb des Bewusstseins nicht das vereinzelte Wenige, was an der Spitze steht, sondern das chaotisch zurückgedrängte Viele die bewegende Kraft der eigentlichen socialen und psychologischen Entwickelung darstellt“; solche Einsicht werde nicht verfehlen können, die Wissenschaften der Socialistik und Psychologie auf eine neue naturgemäße Grundlage zu stellen.55 In der Tat: Spuren dieses seelischen Doppelmodells herbartianischer Prägung sind nicht nur in Freuds Psychoanalyse wiederzufinden, sondern auch in der 'Wiener psychologischen Schule der Volkswirtschaftslehre'; dazu später noch etwas mehr. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß das explizite Verfahren der Modell- oder Bildübertragung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften wei-

52 53 54 55

Lindner Lindner Lindner Lindner

Vorstellungen Vorstellungen Vorstellungen Vorstellungen

1875, S. 1875, S. 1875, S. 1875, S.

10. 16. 17. 19.

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‚Wiener Schulen‘ im Rückblick tere Wiener Schule gemacht hat — auch durch Infragestellung und Umkehrung. Im Jahre 1908 hielt der Physiker Franz Serafin Exner junior (1849–1926) seine Inaugurationsrede als Rektor der k.k. Universität Wien Über Gesetze in Naturwissenschaft und Humanistik.56 Man habe sich seit langem daran gewöhnt, die ganze Fülle der Disziplinen in zwei große Gruppen, in Humanistik und Naturwissenschaft, zu teilen, so Exner einleitend; als Geisteswissenschaften einerseits, als exakte Wissenschaften anderseits pflege man die Vertretungen dieser beiden Gruppen zu bezeichnen. Die Naturwissenschaft verfüge über Gesetze, die Humanistik dagegen nicht, – wenn man Gesetz nicht im gewöhnlichen Sinne des Wortes als Gesetzmäßigkeit verstehe, sondern als mathematisch formulierbare, jederzeit ausnahmslos zutreffende quantitative Beziehung nehme.57 Solche Gesetze existierten aber nicht in der Natur, so Exner; erst der Mensch formuliere und benutze sie als sprachliche und rechnerische Hilfsmittel und wolle damit nur sagen, daß Vorgänge in der Natur so verlaufen als würde die Materie, einem vernünftigen Wesen gleich, diesen Gesetzen gehorchen.58 Doch Naturereignisse erschienen zunächst regellos und chaotisch. Erst allmählich würde man bemerken, daß durchaus nicht jedes denkbare Geschehen, so etwa deren Umkehrung, real möglich sei. Alles strebe bestimmten Zielen zu: Dissipation von Energie sei das grundlegende Prinzip, das tote und lebendige Materie und sämtliche Tätigkeiten des Menschen in gleicher Weise bestimme.59 Warum aber, so fragte Exner seine Zuhörer, seien die Vorgänge in der Natur nicht regellose? Etwa weil Gesetze herrschten? Die Naturgesetze seien ja aus Vorgängen abstrahiert und bewiesen nur, daß diese, aber nicht warum sie regelmäßig verlaufen. – In dieser Frage sah Exner eine Wende menschlicher Erkenntnis, die von einem Physiker-Kollegen eingeleitet worden sei: vom viel zu früh der Forschung entrissenen Ludwig Boltzmann (1844–1906). Der habe gezeigt, daß die Welt in ihrer Entwicklung unentwegt aus minder wahrscheinlichen in wahrscheinlichere und damit auch immer stabilere Zustände übergehe. Es sei ein weitverbreiteter Irrtum zu glauben, daß zufällige Ereignisse auch ein zufälli-

56 Franz Exner: Über Gesetze in Naturwissenschaft und Humanistik, Wien 1908. 57 Exner Gesetze 1908, S. 46. 58 Exner Gesetze 1908, S. 49. 59 Exner Gesetze 1908, S. 50–51.

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Karl Clausberg ges, also unbestimmtes Resultat haben müßten. Beim Münzwerfen etwa seien die Einzelergebnisse rein zufällig, aber mit steigender Wurfzahl strebe das Gesamtresultat einem exakten Wert zu. Ähnliches ergebe sich für die Molekülbewegungen von Gasen. Das Chaos ihrer zufälligen Zusammenstöße führe, wie Boltzmanns Berechnungen gezeigt hätten, genau zu jenen [Druck- und Temperatur-]Zuständen, die sich an Gasen tatsächlich messen und berechnen ließen. Eine bestimmte Verteilung der Geschwindigkeiten unter den Molekülen werde sich als die wahrscheinlichste herausstellen: sehr große und kleine würden selten sein, solche mittlerer Größe am häufigsten vorkommen.60 Der von Exner fast ehrfürchtig zitierte Boltzmann, der heute als maßgeblicher Wegbereiter der Quantenphysik gilt, hatte sich sein akademisches Leben lang mit der Rolle von 'Bildern' in der theoretischen Physik beschäftigt. Er vertrat bereits 1890 entschieden die Meinung, daß es Aufgabe der Theorie sei, 'rein in uns existierende Abbilder der Außenwelt' zu konstruieren, die bei allen Gedanken und Experimenten zur Vollendung der Denkprozesse zu dienen hätten, nämlich zur „Ausführung dessen im großen, was sich bei Bildung jeder Vorstellung im kleinen in uns vollzieht“. Es sei ein eigentümlicher Trieb des menschlichen Geistes, sich solche Abbilder zu schaffen und sie der Außenwelt immer mehr anzupassen.61 – Kein Zweifel: Auch wenn sich Boltzmann allen Philosophen und namentlich auch Herbart gegenüber widerborstig zeigte; in seinen beiläufigen Erläuterungen haben sich nicht selten Bilder Herbartianischer Vorstellungsreihen eingestellt, und wie hier zitiert sogar in zwei beziehungsreichen Größenordnungen. Das Drängen nach Veranschaulichung lag in der Ungreifbarkeit der neuen Forschungsfelder begründet. „Die überraschendsten und weitgehendsten Analogien zeigten sich zwischen scheinbar ganz disparaten Naturvorgängen“, notierte Boltzmann 1892 bei anderer Gelegenheit. „Die Natur schien gewissermaßen die verschiedensten Dinge genau nach demselben Plane gebaut zu haben oder, wie der Analytiker trocken sagt, dieselben Differentialgleichungen gelten für die verschiedensten Phänomene.“

60 Exner Gesetze 1908, S. 54–55. 61 Ludwig Boltzmann: Über die Bedeutung von Theorien [Graz 1890]; in: ders.: Populäre Schriften, Leipzig 1905, S. 77.

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‚Wiener Schulen‘ im Rückblick So geschehe die Wärmeleitung, die Diffusion und die Verbreitung der Elektrizität in Leitern nach denselben Gesetzen. Dieselben Gleichungen könnten als Lösung von Problemen der Hydrodynamik und der Potentialtheorie betrachtet werden. Die Theorie der Flüssigkeitswirbel wie die der Gasreibung zeige überraschendste Analogien mit der des Elektromagnetismus.62 In einem Grundsatzpapier Über die Unentbehrlichkeit der Atomistik forderte Boltzmann 1897, „die zur Darstellung einer Reihe von Tatsachen dienenden Bilder so zu gestalten, daß daraus der Verlauf anderer ähnlicher vorhergesagt werden kann.“63 Dafür gab es seinerzeit zwei heißumstrittene Ansätze, die von unterschiedlichen Betrachtungsweisen ausgingen: die kontinuierlich gleitende der Differentiale und Integrale, die damals in der Energetik des Chemie-Nobelpreisträgers von 1909, Wilhelm Ostwald, gipfelte; und die mit diskreten Einheiten rechnende Atomistik, zu deren feurigsten Verfechtern Boltzmann zählte; dementsprechend deutlich fielen dessen Werturteile aus: Auch die Differentialgleichungen der mathematisch-physikalischen Phänomenologie – so Boltzmanns scharfzüngige Charakterisierung – seien offenbar nichts weiter als Regeln für die Bildung und Verbindung von Zahlen und geometrischen Begriffen; diese aber seien wieder nichts anderes als Gedankenbilder, aus denen die Erscheinungen vorhergesagt werden könnten. Genau dasselbe gelte auch von den Vorstellungen der Atomistik, aber diese gehe übers Leistungsvermögen der Vorstellungsweise Ostwalds hinaus.64 Boltzmann schreckte in seinem Atomistik-Plädoyer nicht davor zurück, unverblümt zu betonen, „daß es in der Natur des Bildes liege, daß dasselbe gewisse willkürliche Züge behufs der Abbildung beifügen muß, und daß man strenge genommen, jedesmal über die Erfahrung hinausgehe, sobald man aus einem gewissen Tatsachen angepaßten Bilde auch nur auf eine einzige neue Tatsache schließt.“65

— Solche Bildqualitäten der willkürlichen Hinzufügung und Übertragung hatte Boltzmann bereits 1886 in einem Vortrag an der 62 Ludwig Boltzmann: Methoden der theoretischen Physik [1892]; in: ders.: Populäre Schriften, Leipzig 1905, S. 6–7. 63 Ludwig Boltzmann: Über die Unentbehrlichkeit der Atomistik in der Naturwissenschaft [In: Annalen der Physik und Chemie N.F. Band 60, 1897]; in: 1905, S.141ff, Zitat S. 152. 64 Boltzmann Unentbehrlichkeit [1897] 1905 S. 142–143. 65 Boltzmann Unentbehrlichkeit [1897] 1905 S. 152.

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Karl Clausberg k.k. Akademie der Wissenschaften bemüht: Bekanntlich habe [Henry Thomas] Buckle statistisch nachgewiesen, daß, wenn man nur eine genügende Anzahl von Menschen in Betracht ziehe, nicht bloß die Anzahl naturbedingter Sterbefälle, Krankheiten undc, sondern auch die relative Zahl sogenannter freiwilliger Handlungen, der Heiraten in einem gewissen Alter, der Verbrechen, der Selbstmorde vollkommen konstant bleibe, so lange die äußeren Umstände sich nicht wesentlich ändern. Nicht anders gehe es bei den Molekülen von Gasen, so Boltzmann.66 – Hier hat Exner mit der Umkehrung der Analogie unmittelbar anschließen können. Auch alle Objekte humanistischer Forschung seien Vorgänge in der Natur, so Exner in seiner Inaugurationsrede; möge es sich um den Gang der Weltgeschichte handeln, um nationalökonomische Probleme oder um Entstehung und Entwicklung der Sprachen. Kaiser und Könige unterlägen den Naturgesetzen so gut wie jeder Stein, und um keines Haares Breite könnten sie dieselben verrücken. Warum also folge der Lauf der Weltgeschichte nicht ebenso strengen Gesetzen wie der Lauf der Gestirne? Gewiß seien doch auch hier die Einzelereignisse, nämlich die Handlungen der Menschen und deren Umstände im großen und ganzen nur zufälliger Art. Es handle der Mensch nach freiem Willen, das sei wahr, aber was er wolle, was er in jedem Momente seines Lebens vorhabe, das hänge an einer tausendgliedrigen Kette von Zufällen.67 Und so werde auch hier das Gesetz des Zufalls und der großen Zahlen zur Geltung kommen, das Exner schon zuvor am Beispiel von Lotterie-Spielen und Versicherungen erläutert hatte.68 Gesetzmäßigkeiten im Großen entspreche nur in Sonderfällen eine Gleichförmigkeit im Kleinen. „So wird niemand von uns es erleben, daß in einem bestimmten Momente alle Menschen Wiens, die sich auf der Straße befinden, genau gleich schnell gehen“, obwohl das nicht prinzipiell auszuschließen wäre. Der Fortgang sei absehbar wie in der Physik. Wenn in einem Körper alle Moleküle momentan die gleiche Geschwindigkeit hätten, würde dieser Körper, sich selbst überlassen, keine Sekunde lang in diesem unwahrscheinlichen Zustande verharren, sondern in einen gewöhnlich-ungeordneten übergehen.

66 Ludwig Boltzmann: Der zweite Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie [1886]; in: ders.: Populäre Schriften, Leipzig 1905, S. 34. 67 Exner Gesetze 1908, S. 67–68. 68 Exner Gesetze 1908, S. 61ff.

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‚Wiener Schulen‘ im Rückblick „Darum müssen wir jeden geordneten Zustand, so paradox es klingt, als einen widernatürlichen ansehen, als einen Zustand, den wir nur künstlich durch beständige Eingriffe gegen die Natur und gegen das Gesetz des Zufalles aufrecht erhalten können. Alle juristischen Gesetze, geschriebene und ungeschriebene, die den Lauf der Gesellschaft in Ordnung halten, sind ja nichts anderes als derartige Eingriffe.“69

Exners Schlußfolgerung: Auch das Menschengeschlecht müsse im Laufe der Zeit aus weniger wahrscheinlichen in wahrscheinlichere Zustände übergehen. Vergleiche man Zustände von Kulturvölkern mit jenen wilder Völkerstämme oder gar, soweit möglich, prähistorischer Menschen, so zeige sich auffallende Gleichförmigkeit im Gegensatz zu einer Fülle von Ungleichmäßigkeiten in physischer, intellektueller und sozialer Beziehung, die sich um so mehr steigerten, je älter die Kultur werde. „Darum die große Zahl der Durchschnittsmenschen in jedem Volke, denen nur wenige Genies aber auch nur wenige ganz tief stehende Individuen gegenüberstehen; darum auch in materieller Beziehung die Masse des Mittelstandes gegenüber den vereinzelten Erscheinungen der ganz Reichen und ganz Besitzlosen. Die völlig gleichmäßige Verteilung der geistigen wie der materiellen Güter wäre ein außerordentlich unwahrscheinlicher Zustand, ihm nähern wir uns aber um so mehr, je weiter wir in der Kultur und in der Zeit nach rückwärts blicken.“70

Wie in der Historie, so müsse es sich ähnlich auf allen Gebieten humanistischer Forschung verhalten, so Exner. Sprachen und Schriften entstünden und vergingen, indem sich ihre Entwicklung durch beständige zufällige Veränderungen beim Gebrauch im täglichen Leben vollziehe. Welche Zeiträume dazu erforderlich seien, entziehe sich einer auch nur oberflächlichen Schätzung, aber gewiß müßten auch hier hunderttausende von Jahren in ungestörter Folge wirken, damit von einem Gesetz die Rede sein könnte. Gleichwohl: Anfänge von Gesetzmäßigkeiten ließen sich hier wie in der Historie erkennen, Grammatik und Lautbildung seien ja Beispiele dafür. Müßte er nicht fürchten, den sicheren Boden der Zahlen zu verlassen, so Exner anschließend,

69 Exner Gesetze 1908, S. 63. 70 Exner Gesetze 1908, S. 69.

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Karl Clausberg „so wäre es wohl verlockend auch die geistigen Typen mit ihren Gesetzmäßigkeiten, wie z.B. die Stile auf den verschiedenen Gebieten der Kunst und ihre Entwicklung auf die gleiche allgemeine Ursache zurückzuführen.“71

— Vermutlich bezog sich Exner auch auf jene berühmten Langzeitstudien des kurz vor Boltzmann verstorbenen Alois Riegl (1858–1905); der Wiener Kunsthistoriker hatte in seinen Stilfragen72 von 1893 die fünftausendjährige Entwicklung der Ornamentik vom ägyptischen Lotus bis zur Arabeske nachgezeichnet. Und vielleicht wußte Exner sogar vom unpublizierten Buchmanuskript der Historischen Grammatik der bildenden Künste73, in dem Riegl die Analogie von Sprache und Kunst zum Ausgangpunkt nahm, also jenes Bildübertragungsverfahren anwandte, das Boltzmann von der Physik aus ins Auge gefaßt hatte. Exner beschloß seine Rektoratsrede, indem er noch einmal als humanes Spiegelbild der neuen Wissenschaftswelten den altehrwürdigen Mikro/Makrokosmos bemühte: „Und unsere alma mater, ist sie etwas anderes als ein Abbild dieser weiten Welt? Ist sie nicht ein Mikrokosmos, der alles umfaßt was die Welt bietet? Hier findet jeder der sich für die Kämpfe des Lebens vorbereiten will, die Welt vor sich ausgebreitet, aber nicht nur die Welt wie sie ist, sondern, und dadurch unterscheidet sich die Universität prinzipiell von allen anderen Unterrichtsanstalten, auch die Welt wie sie geworden ist. Nur ein Tor kann darin Überflüssiges sehen, dem Einsichtigen zeigt der Werdegang auf jedem Gebiete auch den wahrscheinlichsten Zustand, dem dieses zustrebt; nur so können wir hoffen einen Blick in die Zukunft zu tun.“

Aber es war klar, daß dieser Blick auf die universitäre Welt im Kleinen nur noch begrenzten Anspruch erheben konnte: als Rückbesinnungsverfahren der Wissenschaften, aber nicht mehr als Universalmodell einer Weltordnung. Die ehemals allmächtige Leitfigur des Mikro/Makrokosmos74, die so ausdauernd noch bis ins 19. Jahrhundert gewirkt hatte, war nun in Exners Ausfüh-

71 Exner Gesetze 1908, S. 71–73. 72 Alois Riegl: Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik, Berlin 1893. 73 Alois Riegl: Historische Grammatik der bildenden Künste. Aus dem Nachlaß hrsg. v. Karl M. Swoboda und Otto Pächt, Graz 1966. 74 Karl Clausberg: Zukunft voraus! Hildegards heil(ung)sgeschichtliches Weltbild; in: Atlas der Weltbilder, hrsg. von Christoph Markschies und Johannes Zachhuber, Akademie-Verlag, im Druck.

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‚Wiener Schulen‘ im Rückblick rungen zur Beschwörungsformel ohne weitere naturwissenschaftliche Erklärungsmacht geschrumpft. Den neuen Mikrokosmos der atomaren Strukturen und demnächst sogar quantenphysikalischen Wirkungen verbanden keinerlei Ähnlichkeitsbeziehungen mehr mit jener makroskopischen Welt, die alle Gebildeten nun als zerebrale Illusion hinnehmen mußten. Gleichwohl hat Exner versucht, mit maßgeschneiderten Bildübertragungen die Einheit von Humanistik und Naturwissenschaft aufrechtzuerhalten, und noch viel mehr; seine Rede hatte bildungspolitische Dimensionen: Für die aufs Weltkriegsdrama zutreibende Vielvölker-Donaumonarchie kam das von Exner entworfene Verlaufsbild reifender ‚Kulturstaaten‘ gerade recht; es versprach bei steigender Ungleichheit wachsende Stabilität, ohne auf heikle Kulturmorphologien oder hegelianische Selbstvollendung zu setzen. Folgerichtig ist von Exners Ausführungen der Begriff eines Wiener Indeterminismus abgeleitet worden.75 — Solche Grundeinstellung, wie immer sie schließlich adäquat zu benennen wäre, hat in vielfältigen Brechungen auch in der Wiener Kunstgeschichte Spuren hinterlassen.

—V— Das eigentümlich Wienerische Pendeln zwischen scheinbar zielgerichteten und tastend anmutenden Wesenszügen der Kunstentwicklung war schon in Riegls Schriften offenkundig. Seiner nachhaltigsten Begriffsprägung, dem Kunstwollen, sind deshalb widersprüchlichste Merkmale zugeschrieben worden, von regelrechtem Fatalismus bis zu beliebigen open end-Abfolgen künstlerischer Aufgaben und Lösungen. Nicht ohne Grund: Riegl hat mit allen möglichen, oft provisorischen Formulierungen gearbeitet, um seine detaillierten Beobachtungen in Worte zu fassen. Wenn es überhaupt so etwas wie eine generelle Bauform seiner Gedankengänge gab, so ist sein späterer Nachfolger Julius von Schlosser (1866–1938), der Doktorvater Gombrichs, mit dem zweideutigen Hinweis auf das 'Fluidum des Herbartischen Realismus' der

75 Michael Stöltzner: Franz Serafin Exner's Indeterminist Theory of Culture; in: Physics in Perspective (PIP), Vol. 4 No 3, August 2002. – ders.: Vienna Indeterminism II: From Exner’s Synthesis to Frank and von Mises; 2002; http://philsci-archive.pitt.edu/archive/00000624/

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Karl Clausberg Wahrheit wohl doch am nächsten gekommen.76 Um nur zwei Indizien zu nennen: Sowohl das Moment der Hemmung des Kunstwollens durchs Material – im Gegensatz zu Gottfried Sempers optimierten Zweck/Material/Werkzeug-Produkten – als auch die stilistischen Reihenbildungen sind am besten aus Herbartschem Blickwinkel verständlich. Die Besonderheit der Rieglschen Sehweise lag darin, daß sie ihre Beobachtungen mal in präformative, d.h. keimhaft angelegte, mal in epigenetische, d.h. nachträglich zufügende Wortbilder kleidete.77 — Historische Sachverhalte konnten unter verschiedenen Blickwinkeln unterschiedlich zielstrebig erscheinen, wie schon Droysens Topik der sprachlichen Ergebnisdarstellungen es registriert hatte.78 Das Bestreben Riegls, stilistische Veränderungen jeweils sämtlicher Kunstbereiche aus einem einzigen einheitlichen Prinzip zu erklären, sei ihm zum Fallstrick geworden, bemerkte Ernst H. Gombrich (1909–2001) in Art and Illusion79, seinem bekanntesten Buch, mit dem er sich auf den Direktorensessel des Londoner Warburg Institute und schließlich in die Adelsliste britischer Kulturschaffender geschrieben hat. Die spektakulären Emigrantenlaufbahnen Wiener Kunsthistoriker waren gesättigt mit retrospektiven Kontroversen, die weit über die Grenzen des Fachs hinausreichten. Besonderes Gewicht gewann Gombrichs radikale Verurteilung kulturphysiognomischer Trugschlüsse, die er – mit seinem Mentor Karl Popper80 – der Hegelianischen Philosophie und deren mutmaßlichen Gefolgsleuten anlastete. Anzahl und Rang der Verdächtigen, die das expressionistische Trauma in Gestalt aller

76 Julius von Schlosser: Die Wiener Schule der Kunstgeschichte; in: Mitteilungen des österreichischen Instituts für Geschichtsforschung, Erg.band. XIII, H. 2, 1934, S. 38. 77 Karl Clausberg: Naturhistorische Leitbilder der Kulturwissenschaften – Die Evolutions-Paradigmenin: M. Brix / M. Steinhauser (Hrsg.) Geschichte allein ist zeitgemäß / Historismus in Deutschland, Gießen 1978, S. 41– 51. 78 Johann Gustav Droysen: Grundriß der Historik, Jena 1858. – ders.: Historik. Vorlesungen über Enzyklpädie und Methodologie der Geschichte, München 1937. 79 Ernst Hans Gombrich: Art and Illusion, New York 1960, deutsche Ausgabe 1967 S. 35ff. 80 Karl Raimund Popper: The open society and its enemies, London 1945. – ders.: The poverty of historicism, London 1957. – Zum Verhältnis Gombrichs zu Popper: Andrew Hemingway: E.H. Gombrich in 1968: Methodological Individualism and the Contradictions of Conservatism; in: Human Affairs vol. 19 No 3 Sept.2009 pp. 297–303.

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‚Wiener Schulen‘ im Rückblick möglichen Kulturmorphologien befördert haben sollten, waren beeindruckend; unter ihnen waren Carl Schnaase, Jacob Burckhart, Wilhelm Dilthey Warburgs Lehrer August Schmarsow und Karl Lamprecht, Wilhelm Worringer, Arnold Hauser, Max Dvorák, Hans Sedlmayr, Erwin Panofsky, Johann Huizinga, Andre Malraux81 – und nicht zuletzt auch Alois Riegl. Riegl sei jener vorwissenschaftlichen Denkweise zum Opfer gefallen, in der sich einheitliche Prinzipien so leicht und kräftig vermehrten – der mythologischen Denkweise. Das Kunstwollen gleiche einem unsichtbaren Geist, so Gombrich, der künstlerische Entwicklung ‚nach ehernen Gesetzen‘ vorwärtstreibe. In dieser Geschichtsauffassung lasse sich unschwer ein Wiederaufleben jener romantisch-mythologischen Vorstellungen erkennen, die in Hegels Philosophie gipfelten.82 Er habe an anderer Stelle auseinandergesetzt, warum er derartige Erklärungen in der Kunstgeschichte für so gefährlich halte: Indem sie die Gewohnheit bestärkten, in Kollektiven zu denken und von Menschheit, Rassen oder Zeitaltern zu sprechen, schwächten sie die innere Widerstandskraft gegen totalitäre Denkweisen. – Damit war nicht nur der für Wiener besonders schlimme Vorwurf angedeutet, daß Riegl ein verkappter Hegelianer und ideologischer Vorläufer totalitärer Kunstgeschichte gewesen sein könnte. Es war auch eine gegen andere Wiener Emigranten gerichtete Provokation. 1963 antwortete Otto Pächt (1902–1988) – wie Gombrich lange Zeit Exil-Wiener in England (Oxford) – in der Rubrik Art Historians and Art Critics des Burlington Magazine mit einer nur wenige Seiten umfassenden, aber nicht weniger grundsätzlichen Darstellung der Leistungen Riegls.83 Mehr noch: Pächt unternahm eine prinzipielle Auseinandersetzung mit den Ansichten seines Wiener Kollegen am Warburg Institute. Gombrichs auf rund vierhundert Buchseiten ausgebreitete Kernthese von Art and Illusion besagte, daß neuzeitliche Künstler (in einer Popperschen Abfolge von conjectures and refutations) wie Naturwissenschaftler experimentierten und demnach in gegebenen frames of reference eine relativ freie Wahl der Gestaltungsmöglichkeiten hätten. Dagegen machte Pächt geltend, daß 81 Ausführlicher dazu Clausberg: Zwischen Pathosformel und Ornament – Ernst Hans Gombrich; in: Merkur Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken, Heft 8, August 1994, S. 714–721. 82 Gombrich: Art and Illusion, deutsche Ausgabe 1967 S. 37. 83 Otto Pächt: Alois Riegl; in: Burlington Magazine 1o5, 1963, S. 188 ff., Wiederabdruck in: Otto Pächt, Methodisches zur kunsthistorischen Praxis, München 1977, S. 141 ff.

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Karl Clausberg solche Freiheit, die an Beliebigkeit grenze, nicht zu erklären vermöge, wieso sich bestimmte allgemeine Tendenzen abzeichnen und durchsetzen können. Für Riegl seien bedeutende Künstler gerade jene gewesen, die ein allgemeineres Kunstwollen mit höchster Intensität und Qualität verwirklichten. In dem Bild, das Riegl von der Kunstentwicklung zeichnete, seien Stilveränderungen in einer sehr spezifischen Weise bedeutungsvoll, so Pächt: Kontinuität laufe nicht einfach vor sich hin, jede stilistische Phase erzeuge vielmehr ihre eigenen, besonderen Probleme, die in der nachfolgenden gelöst würden, nur um neue Konflikte hervorzurufen, für die wiederum neue Antworten gefunden werden müßten. – Solcher Charakteristik und Kritik hat Gombrich dann elf Jahre später, 1974, seine Logic of theVanity Fair entgegengehalten, in der er ‚Alternativen zum Historismus beim Studium von Mode, Stil und Geschmack‘ als ein gesellschaftliches ‚Fortschrittsmodell‘ propagierte.84 Der theoretische Schlagabtausch der beiden wichtigsten Exilvertreter der so janusköpfigen Wiener Schule, die man sich um die akademischen Väterfiguren Alois Riegl und Julius von Schlosser gruppiert vorstellen kann, war weitläufig, nicht immer subtil und nicht immer nur zwischen den Zeilen zu lesen. Auch diese scheinbar nebensächlichen Auseinandersetzungen, deren Reflexe in Gombrichs Art and Illusion so grell in die Augen springen, sind heute noch von Interesse – vor allem angesichts des legendären Rufs, der Gombrichs englischen Schriften mittlerweile vorauseilt, während das Riegl-Verständnis seither mit dem von Gombrich lancierten Hegelianismus-Verdacht zu kämpfen hat. Dabei hatte doch der tief im österreichischen Herbartianismus, jener dezidiert anti-hegelianischen Staatsdoktrin, verwurzelte Riegl sogar den Grundgedanken zu einer anderen Hauptthese in Art and Illusion geliefert: die Absage an den Naturalismus als durchgängiges Universalziel der abbildenden Künste. Auch dieser Konfliktstoff war von Gombrich bereits 1950 in einem Textscharmützel thematisiert worden: Otto Pächt hatte in einer detaillierten Untersuchung über Early Italian Nature Studies and the Early Calendar Landscape85 gezeigt, wie sich frühe Landschaftsdarstellungen Schritt für

84 Ernst Hans Gombrich: Logic of theVanity Fair: Alternatives to Historicism in the Study of Fashions, Style and Taste; repr. in: ders. Ideas and Idols. Essays on the Values in History and in Art, Oxford 1979, pp. 60–92. 85 Otto Pächt: Early Italian Nature Studies and the Early Calendar Landscape; in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 1950, pp. 13– 47.

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‚Wiener Schulen‘ im Rückblick Schritt aus pharmakologisch-kalendarischen Pflanzenporträts anreicherten. Gombrich konterte im selben Jahr mit einem Vortrag über The Renaissance Theory of Art and the Rise of Landscape86, in dem er darlegte, daß das Genre der Landschaftsmalerei nur dank der antiken Sparteneinteilung der Malerei-Themen habe (wieder)entstehen können. So gelehrt Gombrichs Herleitungen auch sein mochten, sie hatten nicht den gleichen kunsthistorischen Evidenzgrad wie Pächts detaillierte Beobachtungen. Es waren nur generelle Prämissen, die Gombrich dann in Art and Illusion zu einer seiner Generalthesen ausgebaut hat: Sie besagt, daß immer schon bildliche Schemata vorhanden sein müssen, um daran neuerliche Darstellungsexperimente durchführen zu können. Solche Argumentation führt schließlich zur heiklen Frage, wann und wie solche Ausgangsschemata – innere Bilder, Erinnerungsbilder, Konzepte oder ähnliches – individuell und gesamthistorisch entstehen. Hinzu kommt der Verdacht, daß Gombrichs Schemata-Auswahl leicht dazu verleitet, unpassende Sachverhalte auszublenden. Hier nur ein charakteristisches Beispiel, das an gegenwärtige Hirnforschungsperspektiven heranführt: Synästhesie. Obwohl schon seit den ersten Untersuchungen als ‚zwangsmäßige‘ Doppelempfindungen beschrieben und definiert, hat Gombrich Synästhesien im Kunstkontext seiner choice situations als letztlich konventionenabhängig hingestellt. „Selbst wenn wir zugeben, daß die meisten Menschen mehr oder minder intensive synästhetische Erlebnisse haben, bleibt doch die Frage offen, ob diese Erlebnisse nicht rein subjektiv und individuell sind, so daß sie sich der Mitteilung und Verständigung völlig entziehen.“

Gebe es überhaupt Kriterien, um zu ermessen, ob bestimmte visuelle Konfigurationen bestimmten Tonfigurationen besser oder weniger gut entsprächen? Sei es überhaupt möglich, zu ermitteln, was sich zu allgemein akzeptierten Konventionen kristallisiere, wie er es bei der bewußten malerischen Erforschung der sichtbaren Welt gezeigt habe?87

86 Gombrich: The Renaissance Theory of Art and the Rise of Landscape; repr. in: ders.: Norm and Form. Studies in the Art of the Renaissance, Oxford 1966, pp. 107–121. 87 Gombrich: Art and Illusion, deutsche Ausgabe 1967 S. 407ff. Spez. S. 408

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Karl Clausberg Roman Jakobson habe ihn darauf aufmerksam gemacht, daß Synästhesie eine Frage von Relationen sei, so Gombrich; er habe daraufhin ein kleines Gesellschaftsspiel erfunden: Es bestehe darin, sich die denkbar einfachste Sprache vorzustellen, in der Beziehungen noch ausgedrückt werden können; nämlich eine Sprache, die nur aus zwei Wörtern besteht: – ping und pong. Wenn in dieser Sprache, sagen wir, ein Elefant und eine Katze zu benennen wären, bestünden doch kaum Zweifel, welches Tier ping und welches pong heißen müßte, so Gombrich. Oder man nehme Suppe und Himbeereis. Für ihn jedenfalls sei Suppe eindeutig pong und Himbeereis ping. Oder wie stehe es mit Rembrandt und Watteau? Es sei doch klar, daß Rembrandt pong sein müsse und Watteau ping. Er wolle aber nicht behaupten, daß die Sache immer funktionieren müsse oder daß sich alle Beziehungen irgendwie in ein solches zweiteiliges System einordnen ließen. Zum Beispiel gebe es Meinungsverschiedenheiten über Tag und Nacht oder über männlich und weiblich. Aber vielleicht könne man auch da mehr Übereinstimmung erzielen, wenn man die Fragen etwas anders formuliere. Junge Mädchen seien doch offenbar ping und gesetzte Matronen pong. Es komme also auf die Aspekte des Weiblichen an; und so weiter.88 Gombrichs Auslegung dieses Spiels, das beliebige Zwangspaarungen mit reichlich Ironie durchspielte, war abzusehen. Das Beispiel zeigt, wie die über neuronale Befunde hinweggehende Kunstbetrachtung zur voreingenommenen Ansichtssache wurde; und in diesem Fall lassen sich die Präferenzen auch direkt herleiten: Als eine seiner Synästhesie-Quellen nannte Gombrich das 1952 erstmals erschienene Buch The Sensory Order von Friedrich August Hayek (1899–1992).89 Der Autor, Exilwiener wie Gombrich und seit 1931 Professor an der London School of Economics, war einer der führenden Köpfe der schon erwähnten ‚österreichischen Schule der Nationalökonomie‘. Der spätere Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, der bei der Konzeption der sozialen Markwirtschaft der BRD maßgeblich mitwirkte, hatte ursprünglich Psychologie studiert. Mit seinem Werk über die sensorische Ordnung war er noch einmal zurückgekehrt zu den individuellsubjektiven Grundlagen seiner liberalistischen Weltsicht, die so auffällig Auslegungen herbartianischer Gesellschaftspsychologie,

88 Gombrich: Art and Illusion, deutsche Ausgabe 1967, S. 411. 89 Friedrich August Hayek: The Sensory Order. An Inquiry into the Foundations of theoretical Psychology, London 1952.

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‚Wiener Schulen‘ im Rückblick etwa die Wirksamkeit verdeckter, nicht zentral lenkbarer (latenter) Interessen, verrät.90 Auf den ersten Blick könnte diese Vermutung weit hergeholt erscheinen, denn Hayek hat den herbartianischen Hintergrund seiner vielseitigen Interessen eher im Dunkel gelassen.91 Zudem hat er sich ausdrücklich gegen leichtfertige Übertragungen von Denkmodellen und Analogien gewandt: In einer 1942 bis 1944 geschriebenen Artikelserie92, die 1952 erweitert unter dem provokanten Titel The Counter-Revolution of Science / Studies in the Abuse of Reason herauskam, ist allem voran der 'Einfluß der Naturwissenschaften auf die Sozialwissenschaften' ins Visier genommen. Damit sollte womöglich auch eine Abgrenzung von Exners Rektoratsperspektiven von 1908 gemeint sein, aber im Verlauf des Textes wird deutlich, daß Hayeks Hauptstoßrichtung weiter zurückliegende Kontroversen aufnahm: In den 1880er Jahren hatte Carl Menger (1840–1921), der Begründer der ‚österreichischen Schule der Nationalökonomie‘, mit dem Hauptvertreter der ‚preußischen Historikerschule‘, Gustav von Schmoller (1838– 1917), einen Methodenstreit geführt, der erheblich zur Profilierung der psychologischen Wiener Socialistik beitrug. Für Hayek legte es diese Tradition nahe, den Berliner Szientismus und Historismus prinzipiell – in der Hauptgestalt österreichischer Aversionen: Hegel – aufs Korn zu nehmen. Damit hat er nicht nur willkommene Stichworte für Popper und Gombrich geliefert, sondern indirekt auch die Herkunft seiner eigenen Psychologie-Neigung durchblicken lassen. Denn das ‚herbartianische Fluidum‘ der k.k. Staats- und Erziehungslehren, das erst anhand seiner Vorgeschichte so recht begreiflich wird, legte solche Kombination denkbar nahe. Wien war am Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur eines der Zentren der physiologischen Psychologie und Hirnforschung, dort hatten sich auch in ungewöhnlicher Breite die Problemstellungen mehrsinniger Erfahrungsweisen angereichert — und eben diese Fragen hat Hayek 1952 in seinem Buch über Sensorische Ordnung theoretisch angesprochen. Für gewisse intermodale und intersensorische Eigenschaften gebe es Begriffe, so Hayek, die wir nicht ohne weiteres einem ein90 Otto Neurath: Rezension zu F.A. Hayek, The Road to Serfdom, London 1944; in: The London Quarterly of World Affairs, Jan. 1945. p. 121–122. 91 Bei Alan O. Ebenstein: Friedrich Hayek: a biography, New York 2001, findet sich kein Hinweis auf Herbart oder Exner. 92 Friedrich August Hayek: Scientism and the Study of Society; in: Economica, NS 9, pp. 267–291, 10, pp. 34–63, 11, pp. 27–39; reprint: The Counter-Revolution of Science / Studies in the Abuse of Reason, 1952.

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Karl Clausberg zelnen Sinn zuordnen würden: stark oder schwach, sanft oder weich, kribbelnd oder scharf und anderes mehr. Mit der Entwicklung des konzeptionellen Denkens und den Folgen des Sensualismus [speziell durch Helmholtz’scharfe Trennung der Modalitäten] seien solche Vermischungen mehr und mehr zurückgedrängt worden. Man könne sagen, daß die oben genannten ursprünglich übergreifenden Eigenschaften selbst wiederum Qualitäten anderer Ordnung seien, die in unterschiedlichen Verbindungen einzelner Sinnesmodalitäten auftauchten. Gelegentlich könnten die intermodalen Verbindungen so stark sein, daß regelrechte Phänomene von Synästhesie, nämlich Farbenhören und dergleichen aufträten. Zudem gebe es Hinweise, daß Synästhesien verstärkt in frühen Stadien der mentalen Entwicklung vorkämen; und an dieser Stelle hat Hayek dann seinerseits unter anderen kurz auf zwei Landsleute: Heinz Werner und Albert Wellek verwiesen.93 Als Fazit läßt sich festhalten, daß Gombrich Hayeks Konzept variabler sensorischer Ordnungen übernahm und es in Richtung rein ‚konventioneller‘, kulturell eingeübter Synästhesien verlagerte, ohne noch auf entwicklungspsychologische Probleme einzugehen. Seine beiläufige Quintessenz, das ironische ping-pong-Spiel, hatte wenig mit klinischen Befunden, aber auch nichts mehr mit Francis Galtons einst wegweisenden Studien zur mental imagery, number-forms, colour associations und visionaries94 von 1883 zu tun. – Allerdings stammen Gombrichs Bemerkungen aus einer Zeit, in der es um Synästhesie-Forschung sehr still geworden war; insofern machten sie schon eine positive Ausnahme.95

93 Hayek: Order 1952, p. 21–24; Die sensorische Ordnung, Gesammelte Schriften in deutscher Sprache, Alfred Bosch, Manfred E Streit (Hg.), Tübingen 2006, S. 20–24. 94 Francis Galton: Inquiries into Human Faculty and its Development, London 1883. 95 Zum Stichwort Synästhesie hat Gombrich nur allgemeine Dastellungen der Psychologie erwähnt: Edwin Garrigues Boring, Sensation and Perception in the History of Experimental Psychology, New York 1942, p. 49; – Neuere Literatur in Charles E. Osgood: Method and Theory in Experimental Psychology, New York 1953, p. 642–646. – Friedrich August von Hayek, The Sensory Order, London 1952, p. 19–24.

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‚Wiener Schulen‘ im Rückblick

— VI — Die Beschäftigung mit Synästhesien hatte in Wien frühzeitig eingesetzt. Der erste 'klinische Fall' wurde dort bekannt: Bereits im Jahr 1873 hatte ein gewisser J.A. Nussbaumer, stud. phil. in Wien, in der Wiener Medizinischen Wochenschrift persönliche Sinneserfahrungen geschildert, die allen etablierten Lehren zu widersprechen schienen.96 Beigefügt war dem dreiteiligen Fortsetzungsartikel ein ‚Beglaubigungsschreiben‘ des Anatomen Prof. Brühl, dessen Vorlesungen Nussbaumer mehrere Jahre besucht und dem er schließlich seine besonderen Fähigkeiten glaubwürdig hatte vorführen können. Ohne besondere musikalische Schulung und Kenntnisse war Nussbaumer, wie Brühl schrieb, in der Lage, ihm vorgespielte Töne fehlerfrei mit immer wieder denselben Farbangaben zu identifizieren; er war ein lupenreiner klinischer Synästhetiker, würde man heute sagen. Damals jedoch kostete es den Studenten nicht geringe Überwindung, wie er schrieb, mit seinen Selbstbeobachtungen an die Öffentlichkeit zu treten. Er summierte sie mit der Feststellung, „daß die Empfindung eines Tones, eines Klanges, kurz eine jede Gehörempfindung bei mir von einer Lichtempfindung […] begleitet ist.“97 Solche doppelten Sinneseindrücke kenne er an sich nun schon seit seiner frühen Jugend, so Nussbaumer. Er und sein zwei Jahre älterer Bruder hätten nicht selten und besonders zur Winterszeit ihr sogenanntes Glockenspiel getrieben: Löffel, Gabeln und andere klingende Gegenstände wurden einzeln an Schnürchen befestigt, und eine solche Gabel am Bindfaden war nun eine Glocke. Jeder Spieler nahm fünf oder sechs Glocken, und dann sei das Läuten losgegangen, indem man zwei oder drei solcher Glocken schwang und an die Mauer prallen ließ. Das so erzeugte Klingen der Glocken war das Vergnügen an der Sache, und sie seien nicht müde geworden, dieses Läuten stundenlang fortzusetzen. Er erinnere sich deutlich, daß schon damals sowohl sein Bruder als auch er die Töne und Klänge nach Farben benannten. „Als wir nun, mein Bruder und ich, heranwuchsen, hörte wohl das Glockenspiel auf, nicht aber die Farbenempfindung. Wir beide benannten weiter, wie früher, jeden Ton, der uns unter andern Tönen besonders auffiel, nach sei-

96 J A.Nussbaumer: Ueber subjective Farbenempfindungen, die durch objective Gehörsempfindungen erzeugt werden; in: Wiener Medizinische Wochenschrift 1873, Nr. 1, Sp. 4–7, Nr. 2, Sp. 28–31, Nr. 3, Sp. 52–54. 97 Nussbaumer in: Wiener Medizinische Wochenschrift 1873, Nr. 1, Sp. 6.

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Karl Clausberg ner Farbe. [...] Die geschilderten Farbenempfindungen waren uns beiden aber so konstant, so bestimmt, und für jeden einzelnen Ton so charakteristisch, dass wir uns zur genaueren Bezeichnung von Tönen, welche wir bei unserem Mangel an musikalischer Bildung sonst höchstens als hoch, tief oder mittelliegend hätten bezeichnen können, immer der Farben bedienten, deren Empfindung sie in uns erregte.“98

Einbildung, nichts als leere Einbildung – oder leere Gespenster einer kranken Phantasie, würden manche der geehrten Leser sagen, so Nussbaumer weiter; aber wie sollte sich ein Knabe von vier oder fünf Jahren etwas einbilden können, was die phantasiereichsten Menschen sich nicht einzubilden vermöchten; wie sollte ferner eine Einbildung so getreu beibehalten, wie in allen möglichen Modifikationen so genau ihrem Objekte entsprechen können?99 Allein die Erwägung, daß seine Mitteilung vielleicht auch Bekenntnisse anderer Beobachter veranlassen würde, die bisher aus gleichen Rücksichten wie er geschwiegen hätten, habe ihn endlich alle Bedenken vergessen lassen. – Doch auch die Protektion seines anfangs selbst skeptischen Mentors Brühl hat nicht verhindern können, daß Nussbaumer zunächst von einem anderen Wiener Professor zum Psychopathen erklärt worden ist. – Ironie der Geschichte: Derselbe Prof. Benedikt hat sich dann knapp zwei Jahrzehnte später in eine internationale Kommission zur Festlegung von Aufgaben zukünftiger Synästhesie-Forschung wählen lassen.100 Einen sehr bemerkenswerten, gleichwohl in der jüngsten Synästhesie-Literatur kaum bekannten Versuch, den Gesamtkomplex der Sekundärempfindungen in einer medizinischneurowissenschaftlich verankerten Ästhetik unterzubringen, hat der Begründer der Wiener Musikwissenschaft, Richard Wallaschek (1860–1917) unternommen. Schon der Titel seines 1905 publizierten Buchs Psychologie und Pathologie der Vorstellung101 stellte dieses Vorhaben demonstrativ unter das Vorzeichen 'klinischer' Observanz; doch diese Herangehensweise war nicht auf Zergliederung und Isolierung der Phänomene gerichtet, sondern vielmehr auf integrative Ganzheitlichkeiten: Immer wieder findet

98 Nussbaumer in: Wiener Medizinische Wochenschrift 1873, Nr. 1, Sp. 7. 99 Nussbaumer in: Wiener Medizinische Wochenschrift 1873, Nr. 3, Sp. 52. 100 Friedrich Mahling: Das Problem der „Audition colorée“. Eine historischkritische Untersuchung, Leipzig 1926, S. 13. 101 Richard Wallaschek: Psychologie und Pathologie der Vorstellung: Beiträge zur Grundlegung der Aesthetik, 1905.

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‚Wiener Schulen‘ im Rückblick man für unterschiedliche Empfindungsfelder das Ganze und seine Teile diskutiert und schließlich in markanten Maximen zusammengefaßt. Wallascheks Augenmerk war unter anderem auf die Vorkommen von sekundären Farben bei Gefühlen, Eigenschaften und Personen gerichtet. Bei Farbenhörern seien sie nicht nur an Einzelempfindungen verschiedenster Art, sondern auch an Gefühle geknüpft; gerade hier seien Chromatismen sehr weit verbreitet. Doch sie hefteten sich ebensogut an Ausgangspunkte, nämlich an die Erreger dieser Gefühle, so Wallaschek, und verbänden sich mit der Wahrnehmung physischer und moralischer Eigenschaften; mehr noch, mit deren Trägern: mit Personen, Ländern, Völkern undc. Farberscheinungen vereinigten sich tatsächlich nicht nur mit Namen von Personen, sondern mit ihrer Rede, ihren Aktionen, ihren psychischen Eigenschaften. Sein Farbenhörer Herr L. habe ihm wiederholt gestanden, daß er ganze Vorträge nach der dabei auftretenden Farbenentwicklung beurteile. Es sei begreiflich, daß Chromatismen, wie sekundäre Empfindungen überhaupt, dann auch bei Sympathie und Antipathie bedeutenden Einfluß hätten. Sprache war für Wallaschek neben der Musik das andere große Ausdruckssystem, in dem Aufführungen wie auch Aufzeichnungen wesentliche Rollen spielten. Man wisse längst, daß Redner, die wirken wollten, ihre ganze Persönlichkeit einsetzen müßten: in Gebärden, Mienenspiel, Haltung und Führung des Körpers. Ebenso gehöre zum Musikgenuß die Wahrnehmung der musizierenden Persönlichkeiten. Man erkenne auch sofort Dirigenten, die mit ihrem Orchester nicht harmonierten.102 Noch vor den inneren Vorstellungsformen hatte Wallaschek, ausgehend vom neuropathologischen Beispiel der Aphasie, die Besonderheiten von Sprach- und Musikaufzeichnung erörtert. Das Notenschreiben habe sich ebensosehr die Unabhängigkeit von der gewöhnlichen Schrift bewahrt, wie das Notenlesen vom gewöhnlichen Lesen. Bei Patienten, welche die Fähigkeit zur Sprachschrift verloren hätten, könnte mitunter die Fähigkeit, musikalisch zu schreiben, durchaus noch erhalten sein.103 Musikalische Schrift habe ähnliche Stadien durchgemacht wie die Sprachschrift, in der schließlich jedes Wort in einzelne feststehende Buchstabenelemente zerlegt wurde. Auch die Musikschrift habe zunächst nichts anderes als Erinnerungszeichen gekannt, die so-

102 Wallaschek: Psychologie1905, S. 127–128. 103 Wallaschek: Psychologie1905, S. 75. Das musikalische Schreiben.

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Karl Clausberg genannten Neumen, die für kundige Benutzer sehr wertvoll, aber für andere kaum zu entziffern waren, weil sie keine objektiv vereinbarten Zeichen gewesen seien. Von solchen Überlegungen ausgehend hat zwei Jahrzehnte später ein anderer Wiener Musikwissenschaftler und Psychologe, Albert Wellek (1904–1972), eine regelrechte Kulturgeschichte der Synästhesien entwickelt. Es stehe heute fest, schrieb Wellek 1929 in einem Auszug seiner Dissertation104 über Das Doppelempfinden in der Geistesgeschichte105, daß es sich bei Synästhesien um eine ganze Stufenleiter handle, die vom halluzinatorischen oder gleichsam eidetischen Doppelempfinden in stetigem Übergang herab bis zu bloßem Vorstellen, Fühlen oder gar Denken von Farben und Bildern führe. Ähnliche Abstufungen waren auch schon vom Begründer der Synästhesie-Forschung, dem Genfer Psychologen Thèodore Flournoy (1854–1921) benutzt worden, der 1893 das erste Standardwerk der neuen Wissenschaft Über Phänomene der Synopsie (Audition Colorée)106 verfaßte. Auch der schon erwähnte Heinz Werner war in seinen musikund entwicklungspsychologischen Untersuchungen auf Synästhesie-Phänomene aufmerksam geworden. Es lasse sich, abgesehen von besonderen Bewußtseinszuständen, wie sie im Traume etwa vorlägen, zeigen, daß ein und dasselbe Individuum sozusagen in verschiedenen Schichten seines Seelenlebens erlebe und denke, schrieb er in seiner 1926 erstmals erschienenen, vielfach neuaufgelegten Einführung in die Entwicklungspsychologie. Je nach äußeren oder inneren Umständen – ob man sich in Zerstreutheit oder gesammelter Konzentration befinde, ob im Zustand nüchterner wissenschaftlicher und praktischer Arbeit oder im Zustand affektiver Hingabe an Menschen und Dinge – verhalte und gebärde man sich bald ‚primitiver‘, bald ‚kultivierter‘ und ‚zivilisierter‘.107 Als Primitiver fände man aber Ausdruck nicht nur verkörpert in der physiognomischen Schau der Wahrnehmungen, 104 Albert Wellek: Doppelempfinden und Programmusik. Beiträge zur Psychologie, Kritik und Geschichte der Sinnenentsprechung und Sinnensymbolik. Dissertation Wien-Prag 1927, Maschinen-Manuskript der Universitätsbibliothek Wien. 105 Albert Wellek, Das Doppelempfinden in der Geistesgeschichte; in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, hrg. von Max Dessoir, Bd. 23, 1929, S. 14–42. 106 Thèodore Flournoy: Des Phénomènes de Synopsie (Audition Colorée). Photismes – Schèmes visuels – Personnifications, Paris/Geneve 1893. 107 Heinz Werner: Einführung in die Entwicklungspsychologie, Leipzig 1926; Zitat S. 2. – Umgearb. Auflagen 1933, 1953, 1959, 1970.

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‚Wiener Schulen‘ im Rückblick sondern noch viel mehr und reicher in der Bildung visionärer, illusionärer Erlebnisweisen.108 Solche expressiven Synästhesien hat Werner urtümlichen, diffus-komplexen Erscheinungsformen zugeordnet, die in Werdegängen der Mikrogenese (Aktualgenese) erlebt werden. Mutmaßlich zugrundeliegende neurale Prozesse des mehrsinnigen Erlebens hatte schon Sigmund Exner 1894 in seinem großangelegten Entwurf zur physiologischen Erklärung psychischer Erscheinungen skizziert: Werde etwa das Wort „Rot“ ausgesprochen, so könne es geschehen, daß vom Sprachorgan her [Hirn]Rindenfasern in Erregung geraten, welche Rotempfindung verursachen; und je nach Stimmung der übrigen Rindenfasern würde nun das ganze Farbenorgan in Erregung versetzt und sämtliche Lokalfasern in Mitleidenschaft ziehen. In diesem Falle werde dann eine große rote Fläche vorgestellt. Oder es könnten gewisse Lokalfasern durch ein Erinnerungsbild z. B. von einem kleinen runden Gegenstand gebahnt sein, so daß die Erregungen wesentlich auf diesen Bahnen fortschreiten, dadurch zur Vorstellung eines roten runden Feldes oder weiter zu der einer Kirsche109 führen, die schon in ihrer Entwicklung durch Hemmung andere Bahnen in ihrem Erregungszustand herabdrücke und dergleichen mehr. Voraussichtlich würden aber immer Bahnungen in der Rinde vorhanden sein, welche den Erregungen sofort eine bestimmte Richtung geben.110 Wien war um die vorletzte Jahrhundertwende Ursprungsort vielfältigster psycho-physiologischer Studien, die allesamt deutlich vom Herbartianischen Universalmodell der steigenden und fallenden Bewußtseinsinhalte geprägt wurden. So publizierte im Jahre 1907 der renommierte Wiener Gehörspezialist Viktor Urbantschitsch (1847–1921) ein Buch Über subjektive optische Anschauungsbilder111, eine mit sorgfältigen Versuchsreihen untermauerte Studie über die Beeinflußbarkeit subjektiver Gesichtsempfindungen. Daß äußere Reize auf die Vollständigkeit von Ge108 Werner Einführung 1926, S. 107. 109 Solche Texte und deren Illustrationen hat Max Ernst als Anregung genommen; siehe. Clausberg: Tenere a mente Gombrich. Una brevestoria dell'arte e delle neuroscience. in: L'Arte e i Liguaggi della Percezione. L'eredità di Sir Ernst H. Gombrich, a cura di Richard Bösel undc, Milano 2004, p. 69–80, spez. p. 71–74. 110 Sigmund Exner: Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der psychischen Erscheinungen, Leipzig und Wien 1894S. 300. 111 Viktor Urbantschitsch: Über subjektive optische Anschauungsbilder, Leipzig und Wien 1907.

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Karl Clausberg dächtnisbildern bald fördernd, bald hemmend wirkten, hatte Urbantschitsch schon zwei Jahrzehnte zuvor experimentell nachgewiesen. Besonderen Anlaß zu diesen Untersuchungen hatte der Fall Nussbaumer gegeben, wie Urbantschitsch einleitend ausdrücklich anmerkte.112 Durch ein einfaches Versuchsverfahren sei es ihm schließlich gelungen, das allgemeine Vorkommen der von Nussbaumer geschilderten Doppelempfindungen nachzuweisen, so Urbantschitsch. Die Intensität derartiger Photismen sei individuell sehr verschieden. Als besonderes Phänomen dürfe man in Fällen wie bei Nussbaumer aber nicht das Auftreten von Photismen überhaupt, sondern nur das durch bestimmte Töne veranlaßte auffallend starke Hervortreten bestimmter Farben betrachten.113 – Diese abgestuften Wiener Normalvarianten von physiologischen Synästhesien haben sich durch die weitere Forschungsgeschichte gezogen. Kurz vor seinem Tode in der Neuen Welt hat Heinz Werner einen Stichwortartikel zum deutschen Handbuch der Psychologie beigesteuert, in dem er die früher eher implizit behandelten Mehrsinnigkeiten noch einmal voll auf den Begriff brachte; sein Beitragstitel: Intermodale Qualitäten (Synästhesien).114 Für ihn waren weniger denn je die abgesonderten 'klinischen' Fälle von zwanghaften Synästhesien tonangebend, sondern die Intensitätsund Verknüpfungsgrade normaler Sinneswahrnehmungen. Die experimentell und allgemein beobachtbaren Sachverhalte schienen ihm am besten mit einer genetisch-organismischen Wahrnehmungslehre zu verstehen: Im Totalerleben unter ‚primitiven‘ Bedingungen seien die Sinne noch nicht in einzelne diskrete Felder gespalten, und zu dieser Einheit der Sinne sollte man in besonderen Bewußtseinszuständen der Regression, bei Tagträumereien, in pathologisch-schizophrenen oder Vergiftungszuständen, aber auch in künstlerischer und religiöser Inspiration zurückfinden können.115 In solchen Erlebnisweisen konnten andererseits, wie bereits angemerkt, auch verstärkt jene ergebnisoffenen Wer112 Victor Urbantschitsch: Ueber den Einfluß einer Sinneserregung auf die übrigen Sinnesempfindungen; in: Pflügers Archiv Nr. 42, 1888, S. 154– 182. 113 Urbantschitsch Einfluß 1888, S. 181–182. 114 Heinz Werner: Intermodale Qualitäten (Synästhesien), bearbeitet und teils aus dem Englischen übertragen von Heiner Erke; in: Handbuch der Psychologie Band 1, Allgemeine Psychologie, I. Der Aufbau des Erkennens, 1. Halbband Wahrnehmung und Bewußtsein, Göttingen 1966, S. 278–303. 115 Werner Intermodale Qualitäten 1966, S. 299.

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‚Wiener Schulen‘ im Rückblick degänge von Wahrnehmungen zum Zuge kommen, die Werner als microgenesis in die gegenwärtige Wissenschaftssprache und als Forschungsperspektive eingeführt hat.116 Abschließendes credo: Gerade diese Kombinationen von mehrsinnig-synästhetischen und mikrogenetischen Wahrnehmungsformungen scheinen mir auch für zukünftige kunst- und bildwissenschaftliche Untersuchungen besonders vielversprechend zu sein.

R ESÜMEE Durch die österreichische Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte zieht sich wie ein roter Faden der Anti-Hegelianismus. Den Hauptvorwurf, daß Hegels Dialektik nicht auf genetischer, d.h. historisch-kausaler Faktenverkettung entsprechender Betrachtung beruhe, hat schon Franz Serafin Exner senior 1842/44 mit aller Schärfe erhoben und stattdessen den psychologischen Realismus Herbarts als Richtschnur propagiert. Die hier durchgegangenen Theoriestationen der Herbartschen Vorstellungsreihen ließen im Doppelbild eines beseelten Gesellschaftskörpers aus ihrerseits beseelten Körperzellen das alte Mikro/MakrokosmosSchema noch einmal als staatstragende Extrapolation aufleben, bevor die neue Boltzmannsche Physik um 1900 veränderte Perspektiven auch für die Humanistik nahelegte. Exners PhysikerSohn hat in seiner Rektoratsrede von 1908 wiederum ein Doppelbild gesellschaftlicher Zustände und kultureller Veränderungen skizziert, das nun aber auf entschiedene ‚Selbstunähnlichkeit‘ hinauslief: Zufälligkeiten auf mikroskopischer Individualebene führten, wie in Boltzmanns Gas-Statistik, doch zu absehbarem Gesamtverhalten in makroskopischem Maßstab. — Solche Aspekte scheinen auch in der ‚Wiener Schule der Nationalökonomie‘ durchgeschlagen zu sein; jedenfalls haben sich im Londoner Hayek-Zirkel, dem Gombrich und Popper angehörten, sowohl die

116 Heinz Werner: Microgenesis and Aphasia; in: Journal of Abnormal and Social Psychology, 1956 No 52, p. 347–353. – Zum aktuellen Stand Talis Bachmann: Microgenetic Approach to the Conscious Mind, Amsterdam 2000. – derselbe: Microgenesis and Temporal Dynamics of Conscious and Unconscious Processing; in: Haluk Ogmen, Bruno G. Breitmeyer (Eds):The First Half Second. The Microgenesis and Temporal Dynamics of Unconscious and Conscious Visual Processes, Cambridge MA 2006, p. 1– 33.

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Karl Clausberg fortgeschrittenen Strukturmerkmale herbartianischer Theorien wie auch die anti-hegelianischen Affekte gehalten. Vielfältige Varianten oder Parallelen der individuell/sozialen Doppelansichtigkeit von Kulturprozessen sind auch in der ‚Wiener Kunstgeschichte‘ aufgetaucht: eher ‚historisch-aufgabenorientiert‘ bei Riegl und Pächt, deutlicher konjunkturell-zufallsbedingt in Gombrichs Logik des Jahrmarktes. Ein allgemeines Merkmal der hier rekapitulierten Wiener Bildergeschichten aus Kunst-, Natur- und Neurowissenschaften ist noch eigens hervorzuheben: die Abwendung von sinnesphysiologischen Gegebenheiten im Laufe des 20. Jahrhunderts, die im Fach Kunstgeschichte besonders deutlich ausfiel. Mit dem Aufkommen von Behaviourismus und Gestaltpsychologie schienen Sinnesphysiologie und Psychophysik alter Schule, die in Wien mit Sigmund Exner eine ihrer Koryphäen hatte, überholt. An deren Stelle rückte u.a. die wieder ganzheitlich angelegte Psychoanalyse Freuds und in der Kunstbetrachtung – neben Panofskys neuer Ikonologie, der Suche nach ‚höheren‘ Bedeutungen – die reine ‚Inselhaftigkeit‘ der großen Künstler, die Gombrichs Wiener Doktorvater Julius von Schlosser propagierte. Doch gleichzeitig bildeten sich auch die Ansätze der Aktualgenese und MikrogenesisStudien, die das Verständnis für die Eigenarten sensorischer Erkenntnis wachgehalten haben. Die Wiener Geschichte der Synästhesie-Forschung liefert dazu ein ergänzendes Kapitel.

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Kreativität? Über das Schöpferische in Natur und Kunst PIERANGELO MASET Der Begriff des Schöpferischen hat in unserer Zeit einen nostalgischen Klang angenommen, mit der Verwendung des Wortes begibt man sich in die Nähe des Autors, des Authentischen und der Aura. All diese mit großem „A“ beginnenden Begriffe sind im Zwanzigsten Jahrhundert unter Druck geraten: Dem Verlust der Aura folgte der Tod des Autors und schließlich die Unmöglichkeit des Authentischen. Statt schöpferisch zu sein, ist man heute kreativ, innovativ oder konstruktiv. Die Sprache der Systeme und Systematiker merzt jede auch nur entfernt metaphysisch wirkende Schwingung aus und begründet ihre Kompatibilität mit der verlustfreien Übersetzbarkeit ins Englische. Dort heißt „schöpferisch“, aus dem Lateinischen abgeleitet, bekanntlich „creative“. Da kommt die Kritik Martin Heideggers in den Sinn, der in verschiedenen Texten nicht müde wurde darzulegen, dass durch die lateinischen Übernahmen griechischer Wörter sich das technokratische Denken auszubreiten begann: „Das römische Denken übernimmt die griechischen Wörter ohne die entsprechende gleichursprüngliche Erfahrung dessen, was sie sagen, ohne das griechische Wort. Die Bodenlosigkeit des abendländischen Denkens beginnt mit diesem Übersetzen.“1

In heutiger Zeit, in der wir von den penetrierenden Mächten des Benchmarkings und den penetranten Gestaltungen des Controllings regiert werden, haben sich sprachliche Instrumentalisierungen flächendeckend, gleichsam planetarisch durchgesetzt. Die Ideologie der Kreativität führt weit reichende Flurbereinigungen mit sich. 1

Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt/ Main 1977, S. 8.

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Pierangelo Maset Die Annahme, dass mit dem Begriff der Kreativität andere Bedeutungen verbunden sind als mit dem des Schöpferischen, findet einige Argumente: Kreativität bezieht sich auf andere Kontexte als die, die mit dem Begriff des Schöpferischen in Verbindung stehen. Kreativ sein kann die Managerin, die eine neue „Firmenphilosophie“ entwirft ebenso wie der Florist, der ein schmückendes Blumengesteck bindet, aber sind die Beiden in den skizzierten Fällen auch schöpferisch? Das greift zumindest etwas hoch, denn bei Handlungen, die einen reinen Zweckzusammenhang verfolgen, verwenden wir diesen Begriff in der Regel nicht. Das Schöpferische steht für uns in einem anderen Zusammenhang, der einerseits deutlich mit religiösen, andererseits mit künstlerischen Motiven zu tun hat. Von dort stammt eine lang währende Tradition dieses eng mit biblischen Motiven verbundenen Begriffes, der im Zuge der Entwicklung eines autonomen Künstlertums auch für künstlerische Werke Verwendung fand. Wörter mit dem Stamm „Schöpfer“ bzw. „Schöpfung“ werden bis heute in einem positiven Sinn verwendet, eine Ausnahme bildet die „Erschöpfung“. Das deutet darauf hin, dass die Akte des Werdens, des In-die-Welt-Bringens oder Ins-Werk-Setzens im allgemeinen unseren Zuspruch finden. Ergebnisse des Schöpferischen sind das Neue, Frische, Unverbrauchte, das neue Perspektiven beinhaltet und unsere Aufmerksamkeit erregt. Das griechische Wort für Schöpfung „Genesis“, das auch in den lateinischen Bibelübersetzungen verwendet wird, beinhaltet eine Vielzahl von Bedeutungen, nämlich der Ursprung, die Entstehung, das Werden (auch im Gegensatz zum „Sein“), das Geschlecht, die Produkte der Kunst, das Geschaffene und auch die Geschlechtsteile. All diese Bedeutungen schwingen mit, wenn wir vom Schöpferischen sprechen, und die entscheidenden Momente unserer Existenz finden in den Dimensionen dieses einzigartigen Begriffs statt. Der biblische Text des Buches Genesis 1 trägt die Überschrift Die Erschaffung der Welt. Diese wird durch das göttliche Wort nach und nach mit Elementen, Pflanzen und Lebewesen bevölkert. Der Schöpfungsakt findet auf einer imaginären Bühne statt: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte. Es war sehr gut.“ Eine gewaltige Entwicklungsabfolge wird auf knapp zwei Bibelseiten erzählt, in einer Dichte, die dem Leser die Schöpfungsgeschichte im Zeitraffer vor Augen führt. Am Ende von Genesis 2 heißt es lapidar: „Das ist die Entstehungsgeschichte von Himmel und Erde, als sie erschaffen wurden.“

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Kreativität? Im zehnten Buch von Platons Politeia, das ca. 385 v. Chr. verfasst wurde, wird die Schöpfung von der Nachahmung in den Künsten abgesetzt; - eine folgenschwere philosophische Setzung, die die Kunst mit der Welt des Scheins verband und sie abwertete. Rund sechshundert Jahre später, um 255 n. Chr., wird die Betrachtung, die ja für alle Kunst, und sowohl für ihre Produzenten wie für ihre Rezipienten notwendig ist, von Plotin im ersten Band der Enneaden mit dem Schöpferischen verschränkt: „Die schöpferische Thätigkeit demnach hat sich uns als ein Schauen erwiesen; sie ist nämlich das Resultat des Schauens, eines in sich verharrenden Schauens, das nichts anderes gethan, sondern dadurch dass es Schauen ist geschaffen hat. Vor diesen Hintergründen ist es kaum vorstellbar, dass in unserem Kulturkreis der Begriff des Schöpferischen demnächst durch den des Kreativen endgültig ersetzt werden könnte; sollte es dennoch geschehen, so wäre damit ein Verlust verbunden, der einerseits die geschichtliche Überlieferung der abendländischen Tradition beträfe, andererseits aber auch das Verschwinden einer – profan ausgedrückt – literarischen Gattung bedeutete, sprich der Schöpfungsmythen. Diese existieren weltweit, und in den meisten Kulturen der so differenten menschlichen Zivilisationen stehen am jeweiligen Beginn Erzählungen über die Erschaffung der jeweiligen Welten. Im ägyptischen Schöpfungsmysterienspiel von Memphis steht am Anfang das Wort und der Schöpfergott Ptah spricht die Dinge und Wesen in ihre Existenz; in den Mythen afrikanischer Pygmäen wird die Menschheit aus verschieden farbiger Erde geformt, unter Beigabe göttlichen Speichels; bei den australischen Aborigines wird die Welt in ihre Existenz gesungen, die Lieder der Alten beinhalten das maschige Gewebe, das die Welt ausmacht, die „Songlines“ – wie es in dem gleichnamigen Buch Bruce Chatwins beschrieben wird – sind die in der Landschaft eingeschriebenen Traumpfade einer Kultur, die ihr Gedächtnis und ihre Mythen in Liedern und Bildern überliefert. Auch in keltischen Mythen wird der Schöpfungsakt mit dem Gesang verbunden, und in der Mayakultur wird die Erde sogar durch den Ruf nach ihr geschaffen – man könnte diese Auflistung lange fortsetzen. Claude Lévi-Strauss hat in seinen Forschungen immer wieder die strukturellen Ähnlichkeiten von Mythen herausgearbeitet: „[…] wenn der Inhalt des Mythos ganz zufällig ist, wie lässt sich dann verstehen, dass die Mythen von einem Ende der Welt zum

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Pierangelo Maset anderen einander so sehr ähneln?“2. Auffälligerweise sind gerade die Schöpfungsmythen von Ähnlichkeiten gekennzeichnet, immer wieder taucht das Motiv des Beginns der Welt durch den sprachlichen Akt und der Erschaffung des Menschen durch Gottes Hand auf, die einzelnen Materialien oder unterschiedlichen Sprech- oder Lautakte variieren dabei. Der Widerspruch zwischen der Beliebigkeit bzw. Zufälligkeit der einzelnen Inhalte der jeweiligen Mythen bei gleichzeitiger struktureller Ähnlichkeit dieser Erzählungen unterschiedlichster Kulturen legt den Schluss nahe, das die Vorstellung des Schöpfungsaktes eng an sprachliche und gestalterische Akte geknüpft ist. Das Göttliche ist an einen solchen Akt geknüpft, der die menschlichen Fähigkeiten weit übersteigt. Indem der Mensch aber schöpferische Handlungen vollziehen kann, ist er auch in der Lage, sich vorzustellen, dass das höhere Wesen hierzu noch in ganz anderer Weise befähigt wären. Im mittelalterlichen Denken ist in diesem Zusammenhang zwischen der Natur und Gott unterschieden worden, beispielsweise im Werk der Hildegard von Bingen: „Durch die Schöpfungsordnung kommt zum Ausdruck, dass etwas ist und nicht nichts ist, dass es neben Gott kein zweites Prinzip gibt und alles Geschaffene verdanktes Dasein ist, das durch keine innerweltliche Kraft grundsätzlich vernichtet werden könnte. Als geschaffenes Dasein ist Natur nicht Gott, sondern von Gott unterschieden. Der Naturbegriff sagt nicht ‚daß’, sondern ‚wie’ etwas ist. Als ‚zweite Schöpfung’ bedeutet die Inkarnation das Eingehen Gottes in dieses Dasein des Geschaffenen; sie ist Bedingung der Möglichkeit eines in der Natur sich anzeigenden Gottes.“3

Die schaffende Natur (natura naturans) und die geschaffene Natur (natura naturata) erscheinen als verwirklichter göttlicher Plan, den der Mensch zumindest in manchen Aspekten erkennen und auslegen kann. Die Vorstellung vom Schöpferischen, die stets von Spekulationen über den Beginn, den Akt und die Ursache der Schöpfung verbunden ist, ist an die religiöse Dimension gebunden. Sie lässt sich allein deshalb nicht auf messbare „kreative Prozesse“ reduzieren.

2

Lévi-Strauss, Claude: Strukturale Anthropologie, Frankfurt/ Main 1971, 228.

3

Leutenschläger, Gabriele: Hildegard von Bingen – die theologische Grundlegung ihrer Ethik und Spiritualität, Stuttgart 1993, S.109.

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Kreativität?

Unerhörte Musik Es lassen sich Hinweise dafür finden, dass die unterschiedlichen Erzählungen der Schöpfungsmythen, in denen am Anfang das Wort oder das Lied standen, um diejenigen Ausdrucksformen zu ergänzen sind, die nicht vom Menschen stammen. Hierzu haben Gilles Deleuze und Félix Guattari einen Gedanken formuliert, der den Anfang der Kunst beim Tier ansiedelt, es geht dabei um einen Vogel: „Der Scenopoeïetes dentirostris, ein Vogel aus den Regenwäldern Australiens, läßt die Blätter, die er jeden Morgen vom Baum abtrennt, zu Boden fallen, dreht sie so um, daß ihre hellere Innenseite mit dem Boden kontrastiert, konstruiert sich auf diese Weise eine Szene wie ein Ready-made, und lässt dann genau darüber, auf einer Liane oder einem Ast sitzend, seinen Gesang erschallen, einen komplexen Gesang aus eigenen Tönen und denen anderer Vögel, die er in den Intervallen nachahmt, während er zugleich die gelbe Wurzel von Federn unter seinem Schnabel freilegt: ein vollkommener Künstler.“4

Der schöpferische Anfangsimpuls der Kunst wird hier bei einer Vogelart verortet, die dieser Beschreibung nach Elemente einer Performance vollzieht. Das Schöpferische ist in der Natur überall vorhanden, in jedem Detail ihrer Gestalten. Der ambivalente Weg des Menschen ist es, immer wieder zweite und dritte Naturen zu konstruieren, die in der Regel durch Verbrauch und Beeinträchtigung der ersten in die Welt kommen. Zu differenzieren wäre zwischen Kunst und natürlicher Schöpfung, was heute hier nur andeutungsweise geschehen kann, vielmehr versuche ich eine kleine Sortierung.

Sortierungsversuche Mit der Land Art im letzten Drittel des Zwanzigsten Jahrhunderts ist in der Kunst ein weiterer Großversuch, das Kunstschöne mit dem Naturschönen zu vereinigen, unternommen worden. Künstler wie z.B. Robert Smithson, Walter de Maria oder Christo haben versucht, in Großprojekten Kunst und Natur zu verschränken und zu neuen ästhetischen Aussageformen zu gelangen. Deutlich wird gerade bei den genannten Künstlern – die typische Arbeiten

4

Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix: Was Main1996, S.218 f

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ist

Philosophie?, Frankfurt/

Pierangelo Maset für das Etikett Land Art geliefert haben –, dass ein Hang zum Monumentalen besteht. Man knüpft an die Ästhetik des Erhabenen an, indem das natürliche Erhabene mit seinem artifiziellen Gegenstück und mit erhabenen Konzepten verbunden wird. Smihson gestaltet mit seiner Geröllspirale Spiral Jetty (1970), einem der bekanntesten Werke der siebziger Jahre, ein ausgedehntes Stück Landschaft, Christo verpackt Ende der sechziger Jahre einen australischen Küstenabschnitt, Walter de Maria malt Kreise mit enormen Durchmessern und halbkilometerlange Linien in die Wüste, versenkt Jahre später auf der Kasseler documenta 6 einen vertikalen Erdkilometer, und Joseph Beuys verwirklicht im Rahmen der documenta 7 sein bahnbrechendes Projekt „7000 Eichen“ – 1982– 1987. Diese eindrücklichen Arbeiten haben gemeinsam, dass sie mit einer gewissen Übersteigerung des Schöpferischen arbeiten: mit der Monumentalität des Kunstobjekts in der Landschaft, der Weite der als Einschreibungsfläche dienenden Wüste, der extrem verlaufenden Linie bzw. der nicht nachprüfbaren Tiefe des Erdkilometers, der überdimensional verpackten Küste und der enormen Menge der Eichen, neben denen noch, um die Symbolattacke zu komplettieren, jeweils ein Basalt-Monolith eingesenkt wurde. Mit der Wucht dieses Übermaßes wird durchaus die Ästhetik des Erhabenen bemüht, die die Betrachter überwältigt. Andererseits realisierten sich mit den skizzierten Werken neue künstlerische Ansätze: Bei Smithson zeigen sich Kunst und Natur in ihren aktualisierten Potenzialen, in ihrem gemeinsamen Werden, die philosophische Differenzierung von natura naturans und natura naturata wird zugespitzt. De Maria thematisiert ein Verschwinden, ein Aufgehen des Artefakts in der Natur; bei Christo wird das natürliche Erhabene vom Artifiziellen verdeckt, es umhüllt es, ruft es dadurch auf, und Joseph Beuys ästhetisiert mit seiner Baumaktion außerästhetische Kontexte im Sinne der Sozialen Plastik. So wie der metallene Erdkilometer mit Gewalt in unbesehene Erdlabyrinthe eindringt, hat auch die bemerkenswerte Baumpflanzaktion Beuys’ etwas Gewaltiges, symbolisch wie real: An den Basaltmetern zerschellten nach deren Installation an Kasseler Straßen mehrere Zweiradfahrer. Beuys’ Eingriff in die Gestaltung der Stadt Kassel ist in eine Stadt eingepflanzt, die durch den Zweiten Weltkrieg in ihrem Kern zerstört und durch stumpfsinnige Straßenplanungen der sechziger und siebziger Jahre bis heute total zerrissen ist.

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Kreativität? Und um ein Argument vom Anfang dieses Textes wieder aufzugreifen: Die „7000 Eichen“ als „kreativ“ zu bezeichnen, wäre sicherlich eine schlimme Fehlleistung hinsichtlich dieser schöpferischen Leistung des Künstlers Beuys.

Selbstverständliche Blicke und Bilder Seit den achtziger Jahren zeigt sich eine andere, zurückhaltendere Auseinandersetzung der Kunst mit der Natur, die sich nicht an die Ästhetik des Erhabenen anschließt und stattdessen die Bedeutsamkeit des besonderen Einzelnen im Ensemble der natürlichen Erscheinungen betont. In der in den achtziger Jahren berühmt und berüchtigt gewordenen Berliner Ausstellung ZEITGEIST, die den endgültigen Durchbruch der so genannten Neuen Wilden markierte, fiel zwischen all den publikumswirksamen Verzweiflungs- und Überschwangsbildern von Künstlern wie Fetting, Penck, Schnabel, Immendorf oder Dahn ein älterer, 1931 in London geborener Künstler auf, der rasch dahingemalte, auf den ersten Blick grobschlächtige Landschaftsbilder präsentierte, in denen der Mensch sich auf geringe Spuren – wie etwa entfernte Häuser oder Straßen – zurückgezogen hatte. Malcolm Morleys Bilder sind Momentaufnahmen einer Natur, die sich bildlich in ihren selbstverständlichen und naheliegenden Potenzialen zeigt, als Lebensraum für rezeptive Existenzen, die sich in den Landschaften eingefunden haben. So sieht man z.B. in Devonshire Bullocks aus dem Jahre 1981 im Bildvordergrund eine Gruppe wenig konturierter Ochsen friedlich auf einer Anhöhe im Grase liegen, unter der sich ein grünes Tal mit Wiesen und vereinzelten Häusern erstreckt. Das Bildmotiv ist so simpel wie gleichzeitig komplex, es stellt die Frage nach der Darstellbarkeit einer solchen ‚Einfachheit’, die ihre motivische Komplexität aus der überraschenden Neufassung einer längst obsolet geglaubten Genremalerei bezieht. Morley zeigt einen Blick, der immer seltener möglich ist, einen Blick, der ein Vergehen bezeugt. Er gleitet dabei keineswegs in die Idylle ab, sein grober Pinsel übersteigert die Natur nicht, sondern hält sie als Momentaufnahme skizzenhaft fest, fernab jeder naturalistischen Darstellungsweise. Nichts ist künstlicher als die Naturdarstellungen dieses Malers, aber sie lassen uns Potenziale der Natur gerade dadurch erkennen, dass sie ihre Kraft, Zivilisation einzuhüllen und zu überdecken, mit feinsinnig groben Mitteln zum Vorschein bringen.

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Pierangelo Maset Malcolm Morley malt im Grunde das Verschwinden des selbstverständlichen Naturbildes und des selbstverständlichen Naturblickes. Darin besteht die Verblüffung, die seine Kunst erzeugt, es geht in ihr um die Korrespondenz von Natur und Kunst. Die naturästhetische Korrespondenz wurde in der philosophischen Literatur der neunziger Jahre vor allem von Martin Seel ausgearbeitet. In Seels Konzeption taucht die grundsätzliche Dualität von Korrespondenzschönheit und Ästhetik des Erhabenen auf: „So sehr die Korrespondenzschönheit eine positive Gegenwelt zum Kampf mit der Natur und unter den Menschen ist, so sehr ist die erhabene Natur eine positive Gegenwelt zur Übereinstimmung des Menschen mit der Natur.“5

Hier kommt nicht nur, im Verständnis von Korrespondenzschönheit als „Gegenwelt“, das von Nietzsche an der Bewusstseinsphilosophie festgestellte Ressentiment gegenüber der Natur zum Ausdruck, da mit dieser Vorstellung Natur abermals in einem Außerhalb des Menschen angesiedelt wird, sondern wir verharren auch noch in einer starren Dualität, die die ästhetisch relevante Natur ausschließlich vom Menschen her denkt und sie entweder hinsichtlich ihres Reichtums an Auszulösendem oder an ihrem Schauder des Überwältigenden bemisst. Beide ästhetische Haltungen aber instrumentalisieren Natur und subsumieren sie unter die Herrschaft des menschlichen Denkens. Andere naturästhetische Haltungen als die oben skizzierten einzunehmen, kommt einem Rösselsprung gleich, da man als Mensch wahrzunehmen hätte, dass man sich nicht um seiner selbst willen aus der Natur zurückzöge bzw. sie zu verschonen trachtete. Tendenzen zu einem solchen Rösselsprung sind möglicherweise in der Gegenwartskunst auszumachen. In den Gemälden Karin Kneffels, einer Meisterschülerin Gerhard Richters, die auf irritierend nahe liegende Weise Tiere, Pflanzen, Landschaften darstellt. Kneffels Tierbilder, zumeist im 20 x 20 cm-Format akribisch in Öl gemalt und seriell angeordnet, zeigen Haus- und Nutztiere detailgetreu, typisierend und ohne jede symbolträchtige Dramatik in pictorialer Phänomenalität. Diese Tiere existieren zwar als Nutztiere in Bezug auf den Menschen, doch nun präsentieren sie sich dem menschlichen Blick außerhalb ihrer Zurichtung in einer phänomenalen Rein5

Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt/Main 1991, S.132

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Kreativität? heit, die ihre Präsenz und Würde als Teil der Schöpfung und nicht als Element der Zurichtung und des Nutzens durch bzw. für den Menschen hervorkehren, das Nutztierhafte wird vom tiefer liegenden Tierhaften wieder eingeholt. In ihren Obstbildern, Aquarellen im Format 32x32 cm, werden all die Dinge, die wir ansonsten als Nahrungsangebot kennen, in gemalter Wesensschau minutiös dargestellt, aber die Himbeeren, Kirschen oder Weintrauben, die uns entgegenprangen, haben sich verselbständigt. Hiermit wird ein Entzug der Realität dargestellt, in der die natürlichen Phänomene ausschließlich als für den Menschen erscheinende betrachtet werden können. Der Mensch hat sie zwar durch Gestaltung, Pflege und Züchtung veredelt, doch sie haben ein eigenes Sein, das sich dem Zugriff entziehen kann, ein Sein, das nicht für den menschlichen Blick ist. Darin liegt die spezifische Schönheit der Dinge und Wesen, die in Kneffels Malerei dargestellt werden. Gleichzeitig kündigt sich mit dieser künstlerischen Position ein ästhetisches Naturverhältnis an, das nicht restlos in der Dualität von Korrespondenzschönheit und Erhabenheit aufgeht und eine Schonung natürlicher Anwesenheiten mit ästhetischen Mitteln entwirft. All das auf dem Plateau der Bilder zumindest einigermaßen sortieren zu können, spräche zumindest nicht gegen Bildkompetenz. Im besten Falle würde diese selbst etwas Schöpferisches einbringen, was uns darauf verwiese, den Begriff des Kreativen baldmöglichst umzukodieren.

Literatur Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt/ Main 1977. Lévi-Strauss, Claude: Strukturale Anthropologie, Frankfurt/ Main 1971. Leutenschläger, Gabriele: Hildegard von Bingen – die theologische Grundlegung ihrer Ethik und Spiritualität, Stuttgart 1993. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Was ist Philosophie?, Frankfurt/Main1996. Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt/Main 1991.

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Explosion und Kreativität Natur- und kulturwissenschaftliche Übergänge in Werken von Ilya Prigogine und Jurij Lotman MARLENE HEIDEL

Einleitung Die inflationäre Verwendung des Kreativitätsbegriffes in Managementetagen, gesamten Wirtschaftszweigen – hier vorzugsweise in den Creative Industries, esoterischen Selbstfindungsgruppen und Gehirnjoggerkreisen bringt für eine Beschäftigung mit diesem Terminus ein nicht gerade geringes Maß an Skepsis mit sich. Nicht nur, dass der Kreativitätsbegriff häufig als effektives Werkzeug für die Regierung des Individuums zum Wohle des Unternehmensprofites fungiert, auch fehlt es ihm an Inhalt, das heißt an Bedingungen, die ihn kennzeichnen. Ein gesamter wissenschaftlich-künstlerischer Diskurs macht sich tapfer auf, die Propheten des ökonomischen Imperativs Be creative! zu stellen. Doch bringt es die Tradition des postmodernen Subjekts mit sich, dass in diesem Spiel nicht eindeutig zwischen den Parteien zu unterscheiden ist. Die kreative „Subversion der Ordnung [ist] Teil ihrer Optimierung geworden“1 und lässt die jeweiligen Positionierungen nicht mehr eindeutig ausmachen, oft – und das ist gerade das Bezeichnende – selbst innerhalb eines Individuums nicht. Für eine adäquate Auseinandersetzung mit der Kreativitätsthematik bietet sich vor diesem Hintergrund die Rekonstruktion der Genese und Entwicklung des Kreativitätsbegriffes an. Indem der historische Begriffswandel und seine kulturellen Ursachen aufgezeigt werden, erhellt sich die pragmatische Seite des Begriffes bzw. Zeichens, d.h. seine Bedeutung/en für die Zeichennutzer und seine Funktion im kulturellen System.

1

Bröckling 2003: 34.

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Marlene Heidel Ziel dieses Beitrages ist jedoch, sich der Kreativität im Dialog zwischen der Natur- und Kulturwissenschaft über die Begriffe der Explosion und Bifurkation zu nähern, um in diesem Dialog nach Bedingungen der Kreativität zu suchen. Im Zentrum stehen dabei die Explosion – so wie sie Lotman versteht – und die Bifurkation in der Prigogineschen Verwendung. Mit der Fokussierung dieser Begriffe gelingt es voraussichtlich nicht, dem kreativen Marktplatz zu entkommen. Dennoch lohnt sich die begriffliche Praxis als Versuch einer temporären Ausreise aus dem normierten Markt. Das Prigoginesche Moment der Bifurkation und das Lotmansche Moment der Explosion haben folgende drei Gemeinsamkeiten, die im weiteren Verlauf als Bedingungen der Kreativität diskutiert werden: 1. das Auftreten von kausalitätsfreien Zuständen des Ungleichgewichts von chemischen, biologischen und kulturellen Systemen, in denen deterministische Gesetze an strukturierender Kraft oder völlig an Wirkung verlieren, und somit die Neustrukturierung des Systems unvorhersagbar wird; 2. die strukturrelevante Wirkung von individuellen Ereignissen bzw. Handlungen, die diese singulären Elemente im stabilen Zustand des Systems nicht hätten; 3. die Wechselbeziehung zwischen Momenten des Ungleichgewichts und Phasen der Strukturstabilität des Systems.

Lotman und Prigogine: Ein biographisches (Un-)Gleichgewicht Lotman und Prigogine sind Kinder einer explosiven Zeit, in deren Folge beide unterschiedliche Lebenswege beschritten jedoch sehr ähnliche wissenschaftliche Interessen und Gedanken entwickelten. Lotmans kulturwissenschaftliche und Prigogines vorrangig naturwissenschaftliche Beschäftigung mit Ungleichgewichtszuständen von Systemen in Verbindung mit ihren biographischen Erfahrungen zu bringen, erscheint hier keineswegs als abwegig bzw. überinterpretiert. Prigogine wurde zu Beginn des Jahres 1917 in Moskau geboren – in dem Jahr, das mit der Oktoberrevolution in die Weltgeschichte einging. Im Jahr 1921 verließen seine Eltern mit ihm Russland, da sie dem neuen politischen System kritisch gegenüberstanden. Bis 1929 lebten sie in Deutschland und gingen dann nach Brüssel, wo Ilya Prigogine an der Université Libre de

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Explosion und Kreativität Bruxelles Chemie studierte.2 Der Verfolgung durch die in Belgien einmarschierten Nationalsozialisten entkam der jüdische Wissenschaftler Prigogine dank eines Bekannten, der ihn mit Papieren ausstattete, die offiziell bestätigten, dass er getauft war und in Russland zu den Weißen gehörte. Dennoch wurde er kurzzeitig zusammen mit seiner ersten Frau, der Poetin Hélène Bolle, verhaftet, da sie Widerstandskämpfer in ihrer Wohnung unterbrachten. Mittels des persönlichen Einsatzes der Königin Elisabeth von Belgien und anderen konnten beide frei kommen3. Nach dem 2. Weltkrieg war es Prigogine endlich möglich, sich dem so wichtigen internationalen wissenschaftlichen Austausch zu widmen. Nach einer Professur an der Université Libre de Bruxelles ging er Ende der 1950er in die Staaten, forschte und lehrte an der University of Texas at Austin und der University of Chicago.4 Bis zu seinem Tod 2003 war er Präsident der International Academy of Science. Für seine Erforschung von dissipativen Strukturen, ohne die mit Prigogine nicht von Kreativität gesprochen werden kann, erhielt er 1977 den Nobelpreis für Chemie. Lotman erblickte 1922 in Petrograd das Licht der Welt. Sein Studium an der philologischen Fakultät der zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Petrograder sondern Leningrader Universität musste er aufgrund des Frontdienstes im Großen Vaterländischen Krieg unterbrechen. Dass Lotman den Krieg – sogar ohne größere Verletzungen – überlebte, erschien als fast unmöglich. Laut einer inoffiziellen Statistik kehrten nur fünf Prozent der jungen Männer seines Jahrgangs aus dem Krieg zurück.5 Nach dem Krieg beendete er sein Studium an der Leningrader Universität als einer der besten Studenten. Eine Aspirantur wurde ihm jedoch trotz seiner überdurchschnittlichen Begabung verwehrt. Der Grund dafür war Punkt 5, unter dem im Personalausweis die Nationalität vermerkt war: bei Lotman stand Jude. Im Zuge der sowjetischen Okkupation Estlands und der damit einhergehenden russischen Sprachkolonisation, wurden zahlreiche Russischlehrer in den baltischen Gebieten der Sowjetunion benötigt.6 Dieser Umstand rettete Lotman vor dem sowjetischen Osten in Richtung Westen – nach Tartu, wo er als Lehrer für russische Literatur am Tartuer Lehrerinstitut begann, weiterhin wissenschaftlich arbeitete und 1952

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Prigogine 1977. Vgl. Balescu 2007: 4 ff. Prigogine 1977. Egorov 1999: 31. Egorov 1999: 46 ff.

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Marlene Heidel seine umfassende Doktorarbeit beendete, die er letztendlich später an der Leningrader Universität vorlegte.7 Ein Jahr nach Stalins Tod 1954, während des einsetzenden Tauwetters im Land, konnte Lotman an den Lehrstuhl für Russische Literatur der Universität Tartu wechseln.8 In seiner Funktion an dieser Universität war Lotman einer der bedeutendsten Initiatoren und Vertreter der Moskau-Tartu Schule, die auch vor 1989 außerhalb der Sowjetunion in internationalen Wissenschaftskreisen bekannt war. Bereits vor dem Ende des Kalten Krieges war Lotman Korrespondenzmitglied der British Academy und Mitglied der Norwegischen Akademie der Wissenschaft. 1988 bekam der den Preis der Alexander-von-Humboldt-Stiftung und 1989 die Ehrendoktorwürde der Université Libre de Bruxelles.9 In der Peripherie des diktatorischen Systems sowie im und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verfasste Lotman bis zu seinem Tod 1993 zahlreiche bedeutende Schriften zur Kulturanalyse und trug zuletzt mit seinen Arbeiten dazu bei, das sowjetische Regime zu unterlaufen.10

Bedingungen der Kreativität aus kultur- und naturwissenschaftlicher Perspektive

DIE

E RSTE B EDINGUNG DER K REATIVITÄT : E XPLOSION ALS KAUSALITÄTSFREIER Z USTAND U NGLEICHGEWICHTS

DES

In seinem letzten Werk Kultur und Explosion, das 1992 zuerst in russischer Sprache in Moskau erschien, zeigt Lotman, dass kulturelle Innovationen als Wechselbeziehung zwischen sukzessiven Entwicklungen und unvorhersagbaren kulturellen Explosionen zu verstehen sind. Das lange Zeit im deutschsprachigen Wissenschaftsraum unbeachtete Buch11 ist spätestens mit seiner Über-

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Ebd.: 54, 78. Ebd.: 60 ff. Eismann/Grzybek 1994: 105. Kristeva 1994: 375. In den letzten Jahren sind z.B. in Kroatien, Serbien, Estland, Frankreich, Polen, Spanien und Italien die jeweiligen landessprachlichen Übersetzungen erschienen. In Russland und vornehmlich auch in den USA fand Kultur und Explosion auf der Basis des russischen Originaltextes Eingang in den wissenschaftlichen Diskurs. In Deutschland gehörte Christa Ebert zu den wenigen, die sich ca. zehn Jahre nach der Erstveröffentli-

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Explosion und Kreativität setzung in die deutsche Sprache im Rahmen des Projektes Lotman und die Kulturtheorie des Konstanzer Exzellenzclusters Kulturelle Grundlagen von Integration auch hierzulande aus dem Exotenstatus der Slawistik in das Zentrum des kulturwissenschaftlichen Diskursen gelangt.12 Unter der Explosion versteht Lotman einen Zustand eines kulturellen Systems, in dem Kausalitäts- und Wahrscheinlichkeitsgesetze durch das Eindringen eines systemfremden Elements oder durch innere Schwankungen des Systems außer Kraft gesetzt worden sind. Im Moment der Explosion springt ein System in einen völlig neuen, nicht vorhersagbaren Zustand über. Dieser explosive Zustand, in dem die jeweiligen sturkurbedingten Gesetzlichkeiten aufhören zu existieren, ist als Menge von gleichwahrscheinlichen Elementen zu verstehen, deren weiterer Verlauf unvorhersagbar ist. Jedoch wäre es nicht im Sinne Lotmans, hier von grenzenlosen Möglichkeiten zu sprechen. „Der Moment der Explosion ist der Moment der Unvorhersagbarkeit. Unvorhersagbarkeit darf man nicht als grenzenlose und nicht bestimmte Möglichkeiten des Übergangs von einem Zustand in einen anderen sehen. [...] Immer wenn wir über die Unvorhersagbarkeit sprechen, haben wir einen bestimmten Satz an gleichwahrscheinlichen Möglichkeiten im Kopf, aus der sich nur eine realisiert.“13

Mit der einsetzenden Realisierung einer Möglichkeit geht das Ungleichgewicht des explosiven Zustands wieder in eine Struktur über. Die realisierte Möglichkeit hat letztendlich ihren Möglichkeitscharakter verloren und bestimmt die Zukunft des neu strukturierten Systems. Die nun das System neu dominierenden Elemente können jedes beliebige aus dem vorherigen System, aber auch Elemente aus einem anderen System sein, „die zufällig in chung von Kultur und Explosion auf das letzte Buch von Lotman bezogen (Ebert 2002). Ebert versteht Kultur und Explosion als eine Reaktion Lotmans auf das Ende der Sowjetunion und vermutet, dass er damit das Ende der Kultursemiotik verband, die wie die Kultur in den Moment der Explosion gelangt sei (ebd.). Da Lotman den Begriff der Explosion jedoch weit vor dem offiziellen Ende der Sowjetunion verwendete, erscheint eine andere These durchaus berechtigt: Mit der Beschäftigung mit explosiven Prozessen nahm Lotman kulturelle Prozesse, wie sie auch mit dem Begriff der Perestroika verbunden sind, bereits theoretisch vorweg und sagte somit im gewissen Sinne das Ende des statischen Systems der Sowjetunion vorher. 12 Frank/Ruhe/Schmitz 2010 13 Lotman 2000: 108; Übers. d. Verf.

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Marlene Heidel die Explosion und in das Gewebe der Möglichkeiten der zukünftigen Bewegung einbezogen wurden“.14 Auch für Prigogine und Stengers können die Schwankungen und die damit einhergehenden Bifurkationen, die zu neuen Strukturen führen, sowohl externen als auch internen Ursprungs sein.15 Die explosiven Prozesse innerhalb des kulturellen Zeichensystems sind für Lotman Voraussetzung für kulturelle Innovation. Allerdings spricht Lotman in Kultur und Explosion an keiner Stelle direkt von Kreativität, sondern z.B. vom schöpferischen Akt. Auch wenn in der deutschen Übersetzung von Dialog mit der Natur von 16 Kreativität die Rede ist, so findet diese wortwörtlich in der 1986 in der Sowjetunion erschienenen russischen Übersetzung keine Erwähnung, sondern hier wird meistens tvorcheskij – übersetzt schöpferisch – verwendet. Das liegt auch an dem einfachen Umstand, dass dem lateinischen creare entstammende Worte, wie das russische kreativnost, recht neu in der russischen Sprache 17 sind und mit einer Art Hippnessfaktor versehen sind. Wie die Konnotationen von Explosion erahnen lassen, ist dieser Begriff mit dem naturwissenschaftlichen Denken verbunden.18 Auch wenn Lotman den belgischen Physikochemiker Prigogine in Kultur und Explosion kein einziges Mal zitiert, so führt Lotmans Verständnis der kulturellen Explosion direkt zu ihm und sein zusammen mit der belgischen Chemikerin und Philosophin Isabelle Stengers verfasstes Werk Der Dialog mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens.19 Doch bereits in früheren Werken wie Universe of the Mind. A Semiotic Theory of Culture20 verweist

14 15 16 17 18

Lotman 2000: 23; Übers. d. Verf. Prigogine/Stengers 1986a [1979]: 182 Z.B. Prigogine/Stengers 1986a: 25, 28, 250, 311, 313. Für diesen Hinweis danke ich Elena Malzew. Das russische vzryv wird meist mit Explosion übersetzt. Auf die Möglichkeit vzryv als eine Art Ausbruch bzw. Entladung in Anlehnung an den Lachausbruch (vzryv smecha) zu übersetzen, wies Thomas Grob auf der Konferenz Integration und Explosion. Perspektiven auf die Kultursemiotik Jurij Lotmans 2008 in Konstanz hin. An dieser Stelle wird von Explosion die Rede sein, da dieser Begriff die Nähe zu naturwissenschaftlichen Konzepten, die Lotmans Denken unter anderem prägten, in sich trägt. 19 Sein letztes Buch diktierte der von Krankheit gezeichnete Lotman und verlieh ihm den Charakter der mündlichen Rede. Im Vergleich zu den vorherigen Arbeiten Lotmans sind jedoch in Kultur und Explosion nicht immer alle Zitat- und Gedankenquellen dokumentiert (vgl. Egorov 1999: 231–232, 233–235 f.). 20 Lotman [1990] 2001: 230 ff.

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Explosion und Kreativität Lotman auf Prigogines und Stengers Dialog mit der Natur und deren Begriff der Bifurkation und der damit verbundenen Verlagerung des wissenschaftlichen Augenmerks auf biologische, chemische und physikalische Systeme außerhalb des Gleichgewichts. Unter Bifurkationen bzw. dem Verzweigungspunkt versteht Prigogine instabile Zustände, „wo das System zwischen mehr als einer möglichen Zukunft ,wählen‘ kann“21 Während dieser Zustände befindet sich das System in einer Nichtgleichgewichtssituation ohne deterministische Gesetze. In Dialog mit der Natur erläutert Prigogine zusammen mit Stengers die Bedeutung von Nichtgleichgewichtssystemen der Thermodynamik für das schöpferische Werden des Lebens beschreiben. Komplexe chemische und biologische Systeme der Nichtgleichgewichts-Thermodynamik grenzt Prigogine in ihrer Funktionsweise von Systemen der klassischen Mechanik, der Welt der Bewegung, ab. Erstere sind durch Irreversibilität, Unvorhersagbarkeit der Regeln und letztere durch Gesetzmäßigkeit, Determinismus und Reversibilität bestimmt. Bewegungen aus der Perspektive der klassischen Mechanik, so wie sie Newton erforschte, sind vorhersagbar. Anders formuliert: Der Systemzustand ist durch Position und Geschwindigkeit sämtlicher materieller Punkte für die Gegenwart beschrieben und kann auf der Grundlage der Gesetze (z.B. Gravitations- und Bewegungsgesetze), nach denen sich die Trajektorie richtet, für die Vergangenheit und Zukunft errechnet werden. Durch die Berechenbarkeit des Systemzustands zu jedem beliebigen Zeitpunkt verliert hier die Zeit und somit die Vergangenheit und Zukunft an Bedeutung. Mit dieser Berechen- und Vorhersagbarkeit sowie der Bedeutungslosigkeit der Zeit innerhalb der klassischen Mechanik geht die Ausblendung der Innovation einher. Das Ideal der klassischen Mechanik, die Welt mittels weniger grundlegender allzeit gültiger Gesetze zu entdecken und zu beschreiben und in einer Wissenschaftssprache darzustellen, verbannt Innovation und Kreativität aus dem Erkenntnisprozess der Welt.22 Daraus lässt sich jedoch nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass die Aufstellung dieser die Innovation exkludierenden Gesetze nicht selbst kreativ ist. Im Gegenteil ist damit durchaus eine schöpferische Antizipation der Wirklichkeit verbunden23 und eine

21 Prigogine/Stengers 1986a: 170. 22 Prigogine/Stengers 1986a: 66 f. 23 Pohl 1986: 111.

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Marlene Heidel begriffliche Kreativität24 beispielsweise der wissenschaftlichen Tätigkeit Newtons. Jedoch mit der im 19. Jahrhundert einsetzenden Erforschung der Thermodynamik wandelte sich, so Prigogine und Stengers, die in der klassischen Mechanik vertretene Wissenschaftsauffassung grundlegend. Irreversibilität und Unbestimmtheit von Systemen wurden von der Wissenschaft nicht länger ausgeblendet, sondern rückten allmählich in das Zentrum der Forschung. Sie sind nun für die Erforschung der Natur grundlegend – und hier vor allem des Prozesses der spontanen Selbstorganisation von Systemen insbesondere von Lebensvorgängen. Ein System ist nicht mehr wie in der klassischen Mechanik durch Position und Geschwindigkeit seiner Bestandteile festgelegt, sondern durch eine Anzahl von makroskopischen Parametern wie Druck, Volumen, chemische Zusammensetzung usw. Anders als in der klassischen Mechanik, in der Systeme als geschlossen galten, werden Systeme nun als offene und von der Außenwelt abhängige betrachtet. Die Randbedingungen sowie die Situation des Ungleichgewichts in der Nähe von Verzweigungen werden zu wichtigen Parametern in der Erforschung eines Systems. Prigogine nennt diese neuen dynamischen Zustände der Materie, die aufgrund von Wechselbeziehungen eines Systems mit seiner Außenwelt und aufgrund des damit verbundenen Energieaustauschs entstehen können, dissipative Strukturen25 und erhält für seine Forschungsarbeiten dazu 1977 den Nobelpreis für Chemie. Diese Zustände unter Nichtgleichgewichtsbedingungen enden jedoch nicht im Chaos. Im Gegenteil hier ist infolge der Kommunikation der Teilchen untereinander ein Prozess der Selbstorganisation der Moleküle zu beobachten, der zu einem System höherer Ordnung führen kann, dessen Struktur nicht vorhersagbar ist. Beispiele für derartige dissipative Strukturen sind chemische Uhren und biologische Mutationen. In Bezug auf das Leben der Erde stellen diese dissipativen Strukturen keine Nebensächlichkeit dar, sondern sein Wesen und sein schöpferisches bzw. kreatives Potential. Der naturwissenschaftlich orientierte Begriff der Verzweigung bzw. Bifurkation, den Prigogine und Stengers in Dialog mit der Natur verwenden, kommt dem sehr nahe, was Lotman in Kultur und Explosion unter explosiven Prozessen innerhalb der Kultur versteht. Ganz ähnlich wie die Explosion bei Lotman ist damit der

24 Prigogine/Stengers 1986a: 25. 25 Prigogine/Stengers 1986a: 152.

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Explosion und Kreativität Zustand gemeint, in dem ein zunächst stabiles System die Schwelle der Instabilität überschreitet, sich von seinem Gleichgewicht entfernt und für das System mehr als eine mögliche Zukunft offen steht.26 Der Einfluss von Prigogines Arbeiten auf Lotmans Denken zeigt sich auf prägnante Weise im letzten Interview mit Jurij Lotman.27 Auch wenn Lotman Prigogine nicht direkt erwähnt, so ist der Bezug des Interviewtitels An der Schwelle der Unvorhersagbarkeit zu Dialog mit der Natur – und hier vor allem zum Kapitel Jenseits der Schwelle der chemischen Instabilität – unverkennbar. In diesem letzten Interview verdeutlichte Lotman nochmals die Wichtigkeit der explosiven Prozesse und des damit einhergehenden Begriffes der Unvorhersagbarkeit für die zeitgenössische Wissenschaft: „Was interessiert uns jetzt besonders in Tartu? Wir arbeiten daran, den Begriff der Unvorhersagbarkeit in den Bereich der Wissenschaft einzuführen. Bis jetzt beschäftigte sich die Wissenschaft mit Ursachen- Wirkungszusammenhängen und ließ das Unvorhersagbare, das Zufällige außerhalb ihres Rahmens.“28

In Kultur und Explosion beschreibt Lotman die kreative bzw. schöpferische Inspiration als eine Anspannung, die den Menschen aus der Sphäre der Logik und somit Kausalbeziehungen in das Gebiet des unvorhersagbaren, schöpferischen Schaffens versetzt.29 Schöpferische Prozesse sind bei Lotman stets als explosive gedacht. Jedoch beschränkt er diese schöpferische Kraft nicht allein auf den Menschen, sondern räumt ein, dass auch jegliche weiteren Innovationen der Natur 30 ihren Ausgangspunkt in explosiven Zuständen haben. Anders als Prigogine legt Lotman jedoch selbstverständlich seinen Schwerpunkt nicht auf die Analyse chemischer und physikalischer, sondern kultureller Systeme und deren innovative Dynamik. Auch für Prigogine und Stengers ist Kreativität mit unvorhersehbaren Regeln von Systemen, der Offenheit und der spontanen Selbstorganisation von Systemen verbunden. Ebenfalls sprechen sie sowohl dem Menschen, als auch der Natur im Allgemeinen Kreativität zu. Eine Besonderheit der menschlichen Kreativität ist jedoch laut Stengers und Prigogine, dass der Mensch sich Ziele 26 27 28 29 30

Prigogine/Stengers 1986a: 170. Lotman 1993. Lotman 1993; Übers. d. Verf. Lotman 2000: 27. Lotman 1993.

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Marlene Heidel setzen und somit seine Zukunft bewusst gestalten kann. Die schöpferische Kraft ist nach Prigogine und Stengers jedoch nicht als Besetzen von vorher bestehenden Nischen gedacht. Die Innovationen „verändern die Umgebung, in der sie auftreten, und indem sie sich ausbreiten, schaffen sie die Bedingungen, die für ihre eigene Vermehrung notwendig sind, also ihre ,Nische’“.31 Zweifelsohne erfolgt bei Innovationen eine Selektion. Ausschlaggebend ist jedoch, dass diese Selektion oft durch eine Kraft der Innovation geschaffenen Umwelt stattfindet.32 Wissenschaft und Kreativität sind für Prigogine und Stengers auf das engste miteinander verbunden. Sie betonen die begriffliche Kreativität der Wissenschaft, die sie letztendlich im wissenschaftlichen Dialog mit der Natur ausmachen.33 Wohingegen es in der klassischen Mechanik auf das Aufstellen von ewig gültigen Gesetzen sowie die Kontrollierbarkeit und Reproduzierbarkeit der Beobachtung ankam, geht es in dem Dialog um veränderbare Zwänge, die Sinn erzeugen.34 Am Ende von Dialog mit der Natur heißt es zudem treffend: „Jenseits der falschen Klassifikationen, der Verbote, der kulturellen, politischen und ökonomischen Zwänge stehend, gibt es für die Wissenschaften theoretisch nur eine Grenze: die der menschlichen Kreativität.“35

In einem Interview mit dem Komponisten Andrew Gerzso wies der übrigens leidenschaftliche Klavierspieler Prigogine in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Kreativität neben der Wissenschaft selbstverständlich auch in der Kunst und der Literatur nicht nur eine, sondern die zentrale Rolle spielt. Am Beispiel der Musik verdeutlich er, dass die besagten Verzweigungen, also unvorhersagbare und überraschende Momente, grundlegend für die Musik sind.36 Wie Prigogine und Lotman betont auch Adorno das irreversible Werden in Bezug auf die Kunst: „Das Kunstwerk ist in sich, nicht erst, wie es im Historismus beliebt, seiner Stellung in der realen Geschichte nach, kein dem Werden enthobenes Sein,

31 32 33 34 35 36

Prigogine/Stengers 1986a: 188. Prigogine/Stenger 1986b: 189. Prigogine/Stengers 1986a: 25. Prigogine/Stengers 1986a: 295 f., 311 Ebd.: 311. Gerzso 1995

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Explosion und Kreativität sondern als Seiendes ein Werdendes. Was an ihm erscheint, ist seine innere Zeit, und die Explosion der Erscheinung sprengt deren Kontinuität.“37

Demnach kann für das Kunstwerk kein Aufgehen in einer einheitlichen Zeit (was einer mechanistischen Analyse eines Kunstwerks entsprechen würde), bzw. Enthobensein aus dieser ausgemacht werden, sondern es besitzt seine eigene innere Zeit – als ein eigenes Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Auch wenn Adorno von einer inneren Zeit38 spricht, so verweist er nicht alleinig auf eine Kontinuität. Zwar bedeutet die Analyse von Kunstwerken, „der in ihnen aufgespeicherten immanenten Geschichte innezuwerden“39, jedoch hebt Adorno ebenfalls die Explosion der Erscheinung in Bezug auf die innere Zeit des Kunstwerks hervor. Wie in Kultur und Explosion und in Dialog mit der Natur ist auch in der Ästhetischen Theorie das Werden als Zusammenspiel von Kontinuität und Explosion beschrieben. Der von Benjamin attestierte Verfall der Aura infolge der im 19. Jahrhundert einsetzenden massenhaften technischen Reproduzierbarkeit der Kunstwerke stellt hier natürlich ein großes Fragezeichen hinter die schöpferische bzw. kreative Kraft des Kunstwerks und seines Schöpfers. Schreibt doch Benjamin – die Zeichen seiner Zeit (er)kennend – im Vorwort seines Kunstwerkaufsatzes selbst, dass es sich bei Schöpfertum und Genialität um überkommene Begriffe handelt, deren „unkontrollierte [...] Anwendung zur Verarbeitung des Tatsachenmaterials in faschistischem Sinn führt.“40 Die Hoffnung, die Benjamin aus der massenhaften Reproduzierbarkeit und somit Zugänglichkeit von Filmen und Photografien für die Masse schöpfte, lag darin, dass er den Privilegcharakter der auratischen Kunst sowie der Unterscheidung zwischen Autor und Publikum im Verschwinden sah.41 Jedoch ist nicht generell davon auszugehen, dass bei Benjamin der Begriff des Schöpferischen ausgeklammert ist. Das schöpferische Werden erfährt bei Benjamin eine Verschiebung von seiner Fokussierung auf das Kunstwerk hinein in die Wechselbeziehung zwischen z.B. Photographie, Autor und Publikum. Anders könnte

37 Adorno 1970: 132. 38 Ebenso sprechen Prigogine und Stengers von interner Zeit: […] die Welt [enthält] eine unendliche Vielzahl an internen Zeiten, die jeweils mit der Entwicklung der individuellen Schicksale verknüpft sind“ (1986a: S. 264). 39 Adorno 1970: 132. 40 Benjamin [1936] 1963: 9. 41 Benjamin 1963: 29.

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Marlene Heidel formuliert werden, dass Benjamin hoffnungsvoll das schöpferische Werden bzw. die Kreativität in das produzierende Publikum verortete. „Der Lesende ist jederzeit bereit, ein Schreibender zu werden“.42 Mit dieser einstigen Zuversicht Benjamins ist das Potential der Überwindung der Grundverhältnisse der kapitalistischen Produktion und der damit einhergehenden Ausbeutung des Proletariats verbunden. Diese Interpretation der Benjaminschen Auffassung verdeutlich, dass Kreativität bei Benjamin nicht an ein auratisches Kunstwerk gebunden ist, sondern ebenfalls einem produzierenden (Massen-)Publikum Kreativität zugesprochen werden kann, insofern diese Produktion Mittel der Erkenntnis der gesellschaftlichen Strukturen ist und den Massen den Weg aus der Unterdrückung weist. An dieser Stelle wird unschwer deutlich, dass das Kreativitätsdiktat unserer Tage beträchtlich wenig mit Benjamins Publikumsvorstellungen gemeinsam hat. Ganz im Gegenteil können die massenhaft in Erscheinung tretenden Kreativitätsratgeber und -seminare durchaus als Anleitungen für die optimierte Anpassung an die Gesetze der kapitalistischen Produktion gelesen werden. Nicht etwa die optimierte Anpassung, sondern gerade Situationen des Ungleichgewichts – Explosionen – sind nach Prigogine, Stengers und Lotman das Innovationsmoment der Kultur, welche alle drei im Bereich der Kunst und der Wissenschaft verortet sehen. Wie für Prigogine ähneln für Lotman: „Die großen wissenschaftlichen Ideen im bestimmten Sinn der Kunst, denn beider Entstehung ist mit der Explosion verwandt. Die technische Realisierung der neuen Ideen entwickelt sich nach den Gesetzen der schrittweisen Entwicklung. Darum kann die wissenschaftliche Idee nicht ihrer Zeit entsprechen. [...] Allgemein ist die Technik dadurch charakterisiert, dass die praktischen Anforderungen als leistungsfähige Stimulatoren ihres Fortschrittes auftreten. Darum ist das Neue in der Technik eine Realisierung des Erwarteten, das Neue in der Wissenschaft und der Kunst eine Realisierung des Nichterwarteten. Daraus geht eine Konsequenzen hervor: in dem gewohnten Phraseologismus ,Wissenschaft und Technik’ stellt die Konjunktion ,und’ keineswegs eine ideale Harmonie dar. Sie liegt am Rande eines tiefen Konfliktes.“43

42 Benjamin 1963: 29. 43 Lotman 2000: 17, 18; Übers. d. Verf.

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Explosion und Kreativität

Z WEITE B EDINGUNG DER K REATIVITÄT : W IRKUNG DES INDIVIDUELLEN E REIGNISSES

DIE STRUKTURRELEVANTE

Lotman, Prigogine und Stengers betonen, dass die Geschichte der abendländischen Wissenschaft durchaus nicht vorhersehbar war, aufgrund ihrer Entwicklung jedoch nicht mehr umgangen werden kann. Prigogine und Stengers schildern als Beispiel für die Unvorhersagbarkeit folgende Begebenheit: Als Adam Smith an seinem Reichtum der Nationen arbeitete, stellte James Watt an der gleichen Universität gerade seine Variante der Dampfmaschine fertig. Adam Smith sah derzeit in seinem Buch den einzigen Nutzen der Kohle darin, Heizwärme für die Arbeiter zu produzieren.44 Aus dieser Perspektive ist zumindest während der Anfänge der Industrialisierung noch von keinem kausalen Zusammenhang zwischen Industrialisierung sowie freier Marktwirtschaft einerseits und dem fossilen Brennstoff Kohle andererseits auszugehen. Mit der Unvorhersagbarkeit von Systemen ist jedoch durchaus keine Einflusslosigkeit individueller Ereignisse verbunden. Das Gegenteil ist der Fall: Prigogine und Stengers weisen darauf hin, dass der Physiker James Clark Maxwell bereits um 1850 auf die Bedeutung singulärer Punkte aufmerksam geworden ist. In seinem Essay Sience and Free Will aus dem Jahr 1873 stellt Maxwell fest: „Von einem bestimmten Niveau ab hat jede Existenz ihre singulären Punkte; je höher das Niveau, um so zahlreicher sind sie. An diesen Punkten können Einflüsse, deren physische Stärke zu geringfügig ist, als daß ein endliches Wesen sie erfassen könnte, Resultate von großer Bedeutung hervorrufen. Alle großen Resultate, die durch menschliches Streben bewirkt wurden, beruhen darauf, daß diese singulären Zustände ausgenutzt werden, wenn sie auftreten.“45

Da es an mathematischen Verfahren sowie chemischen und biologischen Kenntnissen mangelte, um die wesentliche Rolle der singulären Punkte – Prigogine nennt sie Verzweigungen – zu fassen, wurde dieses Denkmodell nicht weiter vorangetrieben.46 Heute ist die Forschung komplexer natur- und auch kulturwissenschaflicher Systeme fortgeschritten. Man geht davon aus, dass es zum einen Zustände des Gleichgewichts eines Systems

44 Prigogine/Stengers 1986a: 111. 45 Maxwell zitiert nach Prigogine/Stengers 1986a: 80. 46 Ebd.

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Marlene Heidel gibt, in denen ein lokales Ereignis bzw. individuelle Initiativen in Hinblick auf das Gesamtsystem ohne Bedeutung sind, und zum anderen die erwähnten Verzweigungen existieren, bei denen einzelne Ereignisse Folgen für das gesamte System haben.47 Lotman sieht das sehr ähnlich: Nicht etwa stufenweise Entwicklungen sind die Impulse für Innovationen, sondern individuelle Handlungen innerhalb explosiver Zustände des Systems. Die Zentren der kulturellen Sphären sind laut Lotman als Zustände des Gleichgewichts zu verstehen, die durch Regelerhalt und Selbstbeschreibungen den Status quo des Systems aufrecht erhalten. Trotz der Betonung des individuellen Ereignisses im Zusammenhang mit der Explosion gehen weder Lotman noch Stengers und Prigogine davon aus, dass dieser explosive Charakter von jeder beliebigen individuellen Handlung bzw. jedem Individuum ausgehen kann. Wäre zum Beispiel Puschkin aufgrund biographischer Umstände bereits in der Phase seines frühen Schaffens aus der Literatur herausgerissen worden – so Lotman in Kultur und Explosion – wäre die Kette der Ereignisse der russischen Literatur, die über Gogol, Dostoevskij, Tolstoj, Blok zu Solženicyn führt, eine gänzlich andere. Zudem ist mit Lotman davon auszugehen, dass ohne Puschkin die Rolle der russischen Literatur für die russische Intelligenzija und für das Schicksals Russland generell eine andere wäre.48 Puschkin und seine Werke sind somit unersetzbar. Die gesamtsystemische Wirkung eines individuellen Ereignisses ist letztlich für Lotman das Unterscheidungsmerkmal zwischen der authentischen Explosion und der Imitation dieser.49 Auch wenn Lotman darauf aufmerksam macht, dass im Nachhinein der Moment der Explosion vor allem in der Kunst unerreichbar ist, zeigt er am Beispiel einiger Schriftsteller, dass zumindest mit zeitlichem Abstand die Unterscheidung zwischen der authentischen Explosion und dem Imitat möglich ist.50 Die entscheidende Frage ist, ob das aus der Perspektive des Systems singuläre Verhalten eine Änderung der systemischen Struktur bewirkte, oder bereits als Imitation und daher als eine Form der bereits bestehenden Struktur verstanden werden kann und somit als antiexplosiv zu bezeichnen ist. Vor diesem Hintergrund stellen sich viele der gegenwärtigen Kreativitätsanrufungen unschwer als

47 48 49 50

Prigogine/Stengers 1986a: 195, 307 Lotman 2000: 59. Lotman 2000: 19. Lotman 2000: 19 ff.

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Explosion und Kreativität eben diese Imitationen innerhalb der kapitalistischen Marktordnung heraus. Welche als authentisch explosive Ereignisse im Sinne der kulturellen Innovation für unsere Gegenwart bedeutend sind, werden erst die nächsten Generationen genauer wissen.51 Jetzt lässt sich aber bereits vorausahnen, dass diese authentischen Explosionen mit großer Wahrscheinlichkeit nichts mit Be creativ! und Co. zu tun haben werden, das uns so zahlreich in systematischem Hochglanz entgegentritt.

D RITTE B EDINGUNG DER K REATIVITÄT : W ECHSELBEZIEHUNG ZWISCHEN M OMENTEN DES U NGLEICHGEWICHTS UND P HASEN DER S TRUKTURSTABILITÄT DES S YSTEMS Explosion und die strukturrelevante Wirkung von individuellen Ereignissen sind keine ausreichenden Bedingtheiten für Kreativität. Damit eine Innovation von Zeitgenossen angeeignet und mit diesem Schritt in das kulturelle Erbe übergehen kann, bedarf es nach Lotman neben dem explosiven Prozess eines Prozesses mit einem sukzessiven, etappenweisen Charakter. Kultur ist für Lotman nur als Wechselbeziehung von explosiven und sukzessiven Prozessen denkbar. Dementsprechend ist für Lotman „die Unvorhersagbarkeit der explosiven Prozesse auf keinen Fall der einzige Weg zum Neuen.“ Denn „ganze Sphären der Kultur können ihre Bewegung nur in der Form des sukzessiven Prozesses realisieren. Sukzessive und explosive Prozesse stellen eine Antithese dar, sie existieren aber nur in der Beziehung zueinander. Die Zerstörung des einen Pols würde zum Verschwinden des anderen führen. [...] Wir sollten uns nicht in die Irre führen lassen, dass diese beiden Pole in der historischen Realität wie Feinde auftreten, die nach der völligen Zerstörung des anderen Pols streben. Solch eine Vernichtung würde der Untergang für die Kultur sein, ist aber glücklicherweise nicht möglich.“52 „Sowohl sukzessive als auch explosive Prozesse erfüllen [...] wichtige Funktionen – eine sichert die Innovationen – die andere die Kontinuität.“ 53

Eine Rückkehr zum Moment der Explosion z.B. mittels der Instrumente der Wissenschaft schließt Lotman jedoch aus. Vielmehr geht es ihm darum, sowohl theoretisch fundiert als auch mithilfe von konkreten Beispielen wie etwa aus der Literatur die Bedeutung authentischer Explosionen für die Kultur aufzuzeigen. 52 Lotman 2000: 17; Übers. d. Verf. 53 Lotman 2000: 21; Übers. d. Verf. 51

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Marlene Heidel Auch für Prigogine und Stengers ist Kreativität nicht nur an Momente des Ungleichgewichts, sondern auch an Phasen der Strukturstabilität gebunden. In Dialog mit der Natur gehen beide davon aus, dass die Geschichte eines Systems durch eine Aufeinanderfolge von stabilen Bereichen, welche durch Gesetze bestimmt sind, und instabilen Bereichen im Umkreis von Verzweigungspunkten gekennzeichnet ist.54 Neben Lotman, Stengers und Prigogine sei an dieser Stelle auch auf Pape verwiesen, der im Kontext seiner Auseinandersetzung mit dem Peirceschen Kreativitätsbegriff anschaulich beschreibt, dass Erfahrungen und Handlungen nicht an sich kreativ sein können, sondern von Kreativität nur gesprochen werden kann, wenn es eine bestimmte „Beziehung zu oder Bedeutung in einem bestimmten Kontext“55 gibt. Mit anderen Worten ist auch bei Pape Kreativität an eine Kontinuität, ein kulturelles Erbe gebunden, welches über sukzessive Prozesse weitergegeben wird. Als Beispiel erwähnt Pape den aus Fahrradteilen zusammengesetzten Stierkopf Picassos. Nicht die Zusammenfügung der Fahrradteile sei kreativ, sondern die Zusammenfügung der Fahrradteile als Skulptur – die Bedeutung als Skulptur und somit die Beziehungen zu anderen Skulpturen. Kreativ ist gegebene Erfahrungen zu überschreiten und Ideen einzuführen, die nicht im bisher Bestehenden enthalten sind, und eine neue Ordnungen zu schaffen.56 Obwohl das wissenschaftliche Interesse an Momenten des Ungleichgewichts und ihre Bindung an Phasen der Strukturstabilität in den 1970er Jahren vor allem in den Naturwissenschaften gewachsen ist, bestand dieses Interesse jedoch weitaus früher – sowohl mit wissenschaftlicher Perspektive auf die Natur als auch auf die Kultur. In Having Gombrich in Mind (2004) zeigt Clausberg, dass Gedanken zur Gesetzmäßigkeit und Unvorhersagbarkeit in der Kultur bereits 1908 von Franz Serafin Exner in seiner Inaugurationsrede an der Wiener Universität formuliert wurden. Doch weder Lotman noch Prigogine und Stengers verweisen auf diese aufschlussreiche und zeitlich sehr frühe Quelle. In der 1908 gehaltenen Rektoratsrede mit dem Titel Gesetze der Naturwissenschaften und Humanistik übertrug Exner das Boltzmannsche statistische

54 Prigogine/Stengers 1986a: 170. 55 Pape 1994: 19. 56 Ebd.: 23

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Explosion und Kreativität Modell der Teilchenphysik in den Bereich der Kultur.57 Exner zeigt mittels der Boltzmann-Statistik, dass Naturgesetze entstehen, indem ein System von völlig zufälligen Ereignissen je nach den Systembedingungen einen wahrscheinlichsten und somit gesetzmäßigen Zustand ansteuert.58 Der gesetzmäßige Zustand tritt mit absoluter Sicherheit jedoch nur mit unendlich vielen Einzelereignissen auf. Je kleiner die Anzahl der Einzelereignisse wird, desto weniger wahrscheinlich wird der gesetzmäßige Zustand.59 Als anschauliches Beispiel erwähnt Exner hier das Würfeln. Exner geht davon aus, dass von Gesetzen „nur bei der über alle Vorstellung großen Zahl von Einzelereignissen [...] [gesprochen werden kann], wie sie bei molekularen Vorgängen eintreten. Auf allen anderen Gebieten gibt es keine Gesetze, nur Gesetzmäßigkeiten, und diese werden umso zweifelhafter je kleiner die Zahl der Ereignisse ist, aus denen sie abgeleitet werden, um schließlich, bei allzu geringer Zahl derselben, in zufällige Erscheinungen überzugehen.“60

Exner, so Clausberg, vermutete, dass Gemeinsamkeiten auszumachen sind zwischen stilistischen Phänomenen der Kunstgeschichte und Regelmäßigkeiten, die aus dem quasi-chaotischen Verhalten von Atomen hervorgehen. Nur ist es für die Humanistik unmöglich, Gesetze zu formulieren bzw. Ereignisse vorherzusagen, da die Einzelereignisse nicht in der dafür notwendigen hohen Anzahl beobachtet werden können, wie es in der Naturwissenschaft möglich ist. Den Unterschied zwischen der Naturwissenschaft und der Humanistik begreift Exner somit nur als einen graduellen61, bedingt durch die große Zahl von Einzelereignissen, wie sie in molekularen Vorgängen auftreten, und bedingt durch die geringe Zahl von Einzelereignissen, die für die Humanistik zur Verfügung stehen.62 Exner betrachtet Kultur als Produkt von zufälligen Ereignissen. Bestünde die Möglichkeit, eine große Zahl an Einzelereignissen zu beobachten, so könnte jedoch der wahrscheinlichste Zustand des Systems ermittelt werden.63 Genau von

57 58 59 60 61 62 63

Clausberg 2004. Exner 1908: 57 Ebd. Exner 1908: 85. Exner 1908: 73. Ebd.: 85. „Und so wird auch hier das Gesetz des Zufalls zur Geltung kommen, auch das Menschengeschlecht muß im Laufe der Zeit aus weniger wahr-

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Marlene Heidel dieser Vorstellung Exners und der damit verbundenen Möglichkeit der Bestimmung des wahrscheinlichsten Zustandes eines Systems nahm der späte Boltzmann teilweise Abstand. Er beschäftigte sich in einer späteren Phase seines Lebens mit der Idee, dass bestimmte Regionen des Universums vom thermischen Gleichgewicht abweichen und somit von einem statischen und flukturierenden Universum ausgegangen werden muss.64 Beweisen konnte Boltzmann diese Idee damals noch nicht – ein Dilemma, welches letztendlich einen der Gründe für seinen Selbstmord 1906 lieferte.65 Erst im letzten Drittel des 20. Jahrhundert ist es unter anderem dank der Arbeiten Prigogines möglich, diesem „geistigen Anspruch gerecht zu werden“.66 Anstatt wie die Boltzmannsche Statistik und somit auch Exner den Zufall eher in Bezug auf Gleichgewichtsbedingungen zu sehen, betrachtet Prigogine ihn genau wie Lotman im Zusammenhang mit gleichgewichtsfernen Systembedingungen. Wohingegen die Boltzmannsche Statistik die Entwicklung eines Systems von einem zufälligen beliebigen Anfangszustand zum wahrscheinlichsten Zustand des Systems unter Gleichgewichtsbedingungen untersucht, geht Prigogine davon aus, dass „unter gleichgewichtsfernen Bedingungen das Boltzmannsche Ordnungsprinzip, das auf der Entwicklung zum wahrscheinlichsten Zustand beruht, nicht mehr gilt“.67 Zufällige bzw. unvorhersagbare Zustände eines Systems gehen bei Lotman und Prigogine anders als bei Exner und in der Boltzmannschen Statistik bei Vorhandensein einer großen Zahl nicht in eine wahrscheinlichste und somit statistisch ermittelbare Ordnung über. Im Moment der Explosion bzw. Verzweigung herrschen nicht etwa Wahrscheinlichkeitsgesetze, sondern das System generiert während des Übergangs in eine sukzessive Phase seine eigenen Gesetzlichkeiten und manifestiert diese. Mit der Übertragung der Boltzmannschen Statistik auf die Kultur gelang Exner die Klärung von Gesetzmäßigkeiten als Verbindung von Zufall und Ordnung für Kultur- und Naturwissenschaft, jedoch stellten weder er noch die Boltzmannsche Statistik konkret die Frage nach der Entstehung neuer Modifikationen und

64 65 66 67

scheinlichen in wahrscheinlichere Zustände übergehen.“ (Exner 1908: 68) Vgl. Prigogine 1988: 7 Ebd. Ebd.: 8. Prigogine/Stengers 1986a: 247

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Explosion und Kreativität ihrer Überleitung in eine neue Ordnung. Das ist auch der entscheidende Unterschied zu Prigogine und Lotman, mit deren Begriffen der Explosion bzw. der Verzweigung der Kreativität aus kultur- und naturwissenschaftlicher Perspektive viel näher gekommen werden kann.

Natur- und kulturwissenschaftliche Übergänge Wie bereits dargestellt, erfolgt sowohl bei Exner als auch bei Lotman, Prigogine und Stengers ein Austausch zwischen der naturund kulturwissenschaftlichen Perspektive. Diese Betrachtungsweise ruft nicht selten berechtigte Kritik auf den Plan. Auf die Problematik der Übertragung physikalischer und biologischer Deutungsmuster auf kulturelle Phänomene – wie sie beispielsweise der neodarwinistischen Erklärung von Geschlechterrollen, bzw. allgemein der Idee vom genbestimmten Verhalten innewohnt – wird zahlreich berechtigt hingewiesen.68 Hier ist wichtig, zwischen einer bloßen informationsarmen Übertragung naturwissenschaftlicher Erklärungsmodelle auf kulturelle Phänomene und einer erkenntnisbringenden Interaktion zwischen Natur- und Kulturwissenschaft zu unterscheiden, in der die spezifische natur- und kulturwissenschaftliche Logik erhalten bleibt. Darüber hinaus sind Gemeinsamkeiten zwischen Kultur- und Naturwissenschaft häufig nicht die Folge einer einseitigen Übertragung, sondern resultieren aus dem gemeinsamen zeitspezifischen Diskursraum, der die Bedingungen für die Wissenschaft und somit die Möglichkeiten des Denkbaren setzt. Im Fall von Lotman muss unbedingt darauf hingewiesen werden, dass sein letztes Werk Kultur und Explosion nicht als einfache Übertragung des naturwissenschaftlichen Konzeptes von Prigogine verstanden werden darf. Egorov69 weist darauf hin, dass Lotman wahrscheinlich bereits 1971 – also weit vor Prigogines und Stengers Dialog mit der Natur – erstmals in der Zeitschrift Semiotik 5 den Begriff Explosion70 gebrauchte. Lotman entwickelte

68 Vgl. Hohlfeld/Inhetveen/Kötter/Müller 1986: 45. 69 Egorov 1999: 231. 70 Auch in den 1970 größtenteils von Lotman verfassten Vorschlägen zum Programm der IV. Sommer-Schule über sekundäre modellbildende Systeme ist von der Notwendigkeit zyklischer und lawinenförmiger Modelle für die Analyse der Dynamik der Kultur die Rede (Lotman 1970: 83). Die Programmvorschläge für die IV. Sommer-Schule können aus heutiger

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Marlene Heidel diesen Terminus aus der Analyse des künstlerischen Textes und hat beim Prigogineschen Begriff der Bifurkation offenbar Ähnlichkeiten ausgemacht. Bereits 1968 beschreibt Lotman in seinem Aufsatz Analyse des Pasternakschen Gedichts ,Die Stellvertreterin’ den Aufbau des Gedichts als „Verbindung zweier unvereinbarer Elemente“.71 Auf der einen Seite steht eine Ordnung, die die Erwartungsstruktur des Lesers bestimmt – sie bestätigt beim Leser ein künstlerisches System. Auf der anderen Seite steht die Widerlegung dieses Systems. Diese Verbindung beider Elemente gibt „jedem semantischen Element einen unerwarteten Charakter und erhöht seine Information“.72 Genau diese Verbindung der beiden unvereinbaren Elemente, die letztendlich die Innovation bzw. Kreativität ausmacht, und mittels der der künstlerische Text lebt, wird in Kultur und Explosion zur Grundvoraussetzung für das gesamte kulturelle System – der Semiosphäre. Die Lotmansche Strategie des Dialoges beider Wissenschaften reiht sich in eine wissenschaftliche Tradition ein. Prigogine und Stengers räumen ein, dass die Idee des Gleichgewichts, die das Denken in der Dynamik und später in der Thermodynamik bestimmte, einen großen Einfluss auf das soziologische und ökonomische Denken hatte.73 Sie betonen jedoch auch, dass „Begriffe der Nichtlinearität, Instabilität und der Verstärkung geringfügiger Veränderungen“ ohne Anleihen aus der Physik zuvor beispielsweise bei Saussure formuliert wurden.74 Hier verweisen sie auf die Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft und Saussures Gedanken zur Ausbreitung von sprachlichen Wellen, die dieser auch als Wellen von Neuerungen beschreibt.75 Auch wenn Saussure den Keim aller Veränderungen im Sprechen sieht76, so hält er bekanntlich die Ursache dieser Veränderungen nicht für „das Wesentliche: für die Wissenschaft von der Sprache genügt es stets, die Lautveränderungen festzustellen und ihre Wirkungen zu überblicken“.77 Diese Feststellung der Veränderung genügt Lot-

71 72 73 74 75 76 77

Perspektive nahezu als Lotmans Programm für seine kulturwissenschaftlichen Arbeiten gelesen werden – an deren Ende tatsächlich die Fokussierung der Beziehung zwischen zyklischen bzw. sukzessiven und explosiven Prozessen stand. Lotman 1968. Ebd. Prigogine / Stengers 1986a: 193. Ebd. Prigogine/Stengers 1986a: 193; Saussaure [1916] 1967: 241, 246 ff. Saussure 1967: 117. Saussure 1967: 22.

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Explosion und Kreativität man nun nicht mehr, denn ihn interessiert vor allem die kreative Funktion78 – d.h, die bedeutungsgenerierende – eines kulturellen Systems. Sich dennoch in der Tradition Saussures begreifend befasste sich Lotman eingehend mit der kreativen Funktion und ist dabei vor allem in Bachtins Werken fündig geworden. Bachtins Beschäftigung mit der lebendigen Sprache und sein in diesem Kontext entwickelter Dialogbegriff hatte einen großen Einfluss auf Lotmans Arbeiten zu explosiven Prozessen innerhalb der Kultur. Für Bachtin ist die Sprache kein „abstraktes System normativer Formen, sondern eine konkrete in der Rede differenzierte Ansicht von der Welt“.79 Er betont das Individuelle, die Lebendigkeit und das Werden der Sprache infolge ihrer Differenziertheit und Offenheit gegenüber dem Kontext.80 Genau das sind Kriterien, die bei Lotman eine bedeutende Rolle für die kreative Funktion eines Textes spielen. Verweilt man bei Bachtin, so führt der Weg direkt zu Julia Kristeva und den französischen Poststrukturalisten, die ohne die Arbeiten ersterer und ihre Übersetzungen Bachtins ins Französische nicht zu denken wären. Die Wechselbeziehung zwischen unvorhersagbaren, explosiven und sukzessiven Prozessen prägt auch Kristevas Denken. In Revolution der poetischen Sprache zeigt sie, wie das Semiotische, der vorsprachliche Raum, eng mit dem Symbolischen, d.h. den kulturellen Kodes, verbunden ist. Der Prozess der Sinngebung und somit Kunst ist als „Explosion des Semiotischen im Symbolischen“ zu verstehen.81 Die „Explosion des Semiotischen im Symbolischen ist nicht Negation der Negation, nicht Aufhebung des durch das Thetische erzeugten Widerspruchs und Einführung eines idealen, die vorsymbolische Unmittelbarkeit restaurieren82 den Positiven; sie ist vielmehr Überschreitung der Setzung [...].“

Die Überschreitung der Setzung geschieht als Zersplitterung und Neuzusammensetzung des Symbolischen. Diese Beschreibung der sinngebenden Praxis weist eindeutige Analogien zu Lotmans Moment der Explosion auf, welche wahrscheinlich aus Lotmans und Kristevas gemeinsamen Bezugspunkt Bachtin resultieren.

78 79 80 81 82

Lotman 2001 [1990]: 13. Bachtin 1979: 185. Bachtin 1979: 180. Kristeva 1978: 78. Kristeva 1978: 78 f..

105

Marlene Heidel Vor dem Hintergrund der explosiven Momente im globalen Finanzsystem sei zum Abschluss noch auf den Weltsystemtheoretiker Immanuel Wallerstein verwiesen, der spätestens seit Ende der 1990er in seinen Analysen der kapitalistischen Weltwirtschaft von Phasen der Systemstabilität und Phasen des Chaos ausgeht. Letztere Phasen sind wie Lotmans unvorhersagbare Prozesse geprägt durch die Möglichkeit zum individuellen Handeln und zur menschlichen Kreativität. In Wallersteins Text Time and Duration. The unexcluded Middle aus dem Jahr 1997 treffen wir ebenfalls wie in den späten Werken Lotmans auf Braudel und Prigogine. Wallerstein versucht hier, einen angemessenen Standpunkt für die zeitgenössische Kultur- und Naturwissenschaft zu skizzieren. Interessanterweise aus der Perspektive der Kulturwissenschaft zeigt er mit Braudel, wie wichtig die Analyse langer Zeiträume und die durch diese Analyse deutlich werdenden Strukturen sind, die die Bedeutung individuellen Handelns stark relativieren. Aus der Perspektive der Naturwissenschaft erläutert er mit Prigogine die Bedeutung von Ungleichgewichtszuständen und Bifurkationen.83 Doch soll noch auf eine weitere Bedeutung der Explosion verwiesen werden, die unsere Zeit prägt. So manchen mag Kultur und Explosion vielleicht an Huntingtons Clash of Civilisation erinnern. Die Konzepte der Explosion im Sinne Lotmans und des Clash im Hinblick auf die Kulturen stellen jedoch zwei Gegensätze dar, wie sie schärfer nicht sein können. Der US-Außenministeriumsberater Huntington leitet den blutigen Zusammenstoß zwischen den Kulturen mit der Folge des Niedergangs der einen und des Aufstiegs einer anderen Kultur aus so genannten Tatsachen der Geschichte ab und sagt auf dieser Grundlage die Zukunft voraus. Für Lotman ist der Zusammenstoß im Moment der Explosion alles andere als ein blutiger mit Kampf- und Kriegsrethorik beladener Begriff. Auch ist damit nicht der Aufstieg und der Niedergang von Kulturen verbunden. Auf das bei Huntington offensichtlich werdende Defizit weist in gewisser Weise Exner bereits bei Huntingtons Vorgänger Oswald Spengler und seinem Der Untergang des Abendlandes hin. In der zweiten Auflage seiner Physikalischen Grundlagen der Naturwissenschaften kritisiert Exner Spenglers Kulturkonzept. Für Spengler sind Kulturen Organismen, so Exner, die ein Anfang und eine Ende haben. Hier verwechselt Spengler Kultur und ihre Schöpfer bzw. Träger miteinander. Die Schöpfung tradiert ihren Schöpfer 83 Wallerstein 2004a: 40 f.; ders. [1997] 2004b: 79 f.

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Explosion und Kreativität in der Kultur und bleibt lebendig.84 Exner zeigt im Vorwort zu seinen Vorlesungen und vor allem in seinem unveröffentlichten Spätwerk Vom Chaos zur Gegenwart (1926), dass die Besonderheit der Kultur darin liegt, dass der menschliche Geist einen Weg gefunden hat, Kulturgut weiterzugeben und vor allem neues zu schaffen. In unserem Kontext heißt das, kreativ zu sein – das Merkmal, das die Explosion ausmacht, jedoch im Clash ausgeschlossen ist. Nicht umsonst formulierte Lotman in Kultur und Explosion mit Blick auf die Gegenwart und Zukunft der Wissenschaft: „Im Moment erlebt die europäische Zivilisation (Amerika und Russland eingeschlossen) eine Periode der Diskreditierung der Idee der Explosion als solche. [...] Die Explosion als physikalische Erscheinung, lediglich als Metaphorik auf andere Prozesse übertragen, bedeutete für den modernen Menschen Zerstörung und wird als Symbol für Destrukturiertheit verstanden. Aber wenn die Grundlagen unserer heutigen Tage solche Assoziationen wären, wie sie in großen offenen Epochen wie der Renaissance oder allgemein in der Kunst üblich sind und waren, dann würde man unter Explosion solche Erscheinungen verstehen, wie die Geburt eines neuen Lebewesen oder andere schöpferische Umwandlungen der Strukturen des Lebens.“85

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84 Exner 1922: X 85 Lotman 2000: 19 f.; Übers. d. Verf.

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109

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110

Kreative Bilder und die Dynamik ihrer Objekte WINFRIED NÖTH Wenn Kreativität die Fähigkeit ist, Neues zu erschaffen, dann sind kreative Bilder neue Bilder, Bilder von noch zuvor noch nicht Gesehenem oder zumindest noch nie so Gesehenem. Die Bilder der Impressionisten, der Expressionisten, der Surrealisten oder auch der Abstrakten waren Bilder von revolutionärer Kreativität, weil sie die Frage des Verweisens der Bilder auf die sichtbare Welt auf radikale Weise zum Problem erhoben. Kann aber von Bildern des Imaginären oder gar Unbekannten, weil noch nie Gesehenem, eigentlich noch gesagt werden, dass sie auf irgendetwas verweisen, i. a. W., können solch Bilder überhaupt noch als Zeichen gelten? Dieser Frage möchte der vorliegende Beitrag am Beispiel von Bildern imaginärer Objekte nachgehen. Hintergrund und Horizont der Überlegungen ist die Zeichentheorie des Begründers der modernen Semiotik, Charles S. Peirce (1839–1914). Für Peirce sind alle Bilder Zeichen, die Objekte repräsentieren, aber die Objekte eines Bild-Zeichens müssen nicht reale Gegenstände sein, sondern sie können auch fiktionaler oder imaginärer Art sein. Mit diesem Ansatz einer erweiterten Bildsemiotik, die sowohl für reale als auch für imaginäre Objekte gilt und dabei von einem erweiterten Zeichenbegriff ausgeht1, vermeidet eine von Peirce ausgehende Bildsemiotik die semiotischen Aporien, in welche jene geraten, die Bilder imaginärer Objekte als „leere Zeichen“ oder „Zeichen ohne Denotat“ oder gar als nicht zeichenhafte Phänomene begreifen möchten.

1

Vgl. Nöth 2005.

111

Winfried Nöth

Das Bild und das Objekt, auf welches es verweist Was Peirce unter einem Zeichen versteht, dafür gibt er 1897 die folgende Definition: „Ein Zeichen (oder Repräsentamen) ist etwas, das für jemanden in gewisser Hinsicht oder Fähigkeit für etwas steht. Es wendet sich an jemanden, d. h., es erzeugt im Geist dieser Person ein äquivalentes Zeichen oder vielleicht ein weiter entwickeltes Zeichen. Das Zeichen, welches es erzeugt, nenne ich den Interpretanten des ersten Zeichens. Das Zeichen steht für etwas, sein Objekt. Es steht für dieses Objekt nicht in jeder Hinsicht, sondern in Bezug auf eine Art Idee.“2

Der Objektbezug der Bild-Zeichen ist von besonderem Interesse, wenn es sich um Bilder imaginärer Objekte handelt. Das Zeichen, das wir wahrnehmen, verweist demnach auf sein Objekt als etwas, das dem Moment seiner Wahrnehmung notwendigerweise vorausgeht. Das Objekt eines jeden Bildes qua Zeichen ist nämlich das visuelle Wissen um die Welt der Gestalten, Farben und Formen, in der wir leben, die Erinnerung an Gesehenes, die Erfahrung der sichtbaren Welt, auf welche sich dieses Bild bezieht. Gegenüber dem Moment der Wahrnehmung des Zeichens liegt dessen Interpretant, also der Gedanke, das Bild, das Wissen, die Reaktion, welches das Zeichen evoziert, in der Zukunft. Der Interpretant, den das Bild-Zeichen erzeugt, ist nämlich die Interpretation des Bildes im Sinne einer vom Bild ausgelösten Emotion, Reaktion, Reflexion, Handlung oder Denkgewohnheit, etwa als eine Vorstellung, eine Empfindung, ein mentales Bild eine Idee, ein Wissen oder ein Gedanke, welcher auf Grund des Zeichens im Geist der Person entsteht, die das Zeichen interpretiert. Zeichen sind also nicht Elemente oder gar Gegenstände, sondern sie kommen als Relationen in Prozessen vor. Zu den Zeichen gehören nach Peirce aber nicht nur externe Repräsentationen auf Zeichenträgern, wie etwa die gesprochenen oder geschriebenen Texte, Zeichnungen auf Papier oder Bilder auf einer Filmleinwand. Auch interne, mentale Bilder und Gedanken sind Zeichen, denen Zeichen als Objekte vorausgehen und Interpretanten folgen. Damit sind bloße Phantasien und Imaginationen ebenso wie Gedanken und Ideen Zeichen. Ferner können auch die Objekte der Zeichen bloße mentale Bilder sein. Ebenso, wie Zeichen sich

2

CP 2.228, 1902.

112

Kreative Bilder und die Dynamik ihrer Objekte auf Zeichen beziehen und Bilder Abbilder anderer Bilder sein können, haben mentale Bilder und bloße Imaginationen ihren Objektbezug oft in bloßen Ideen, Gedanken oder gar Phantasien. Das, was Peirce mit dem Objekt eines Zeichens meint, ist also keineswegs lediglich ein materielles „Ding“.3 Nur genuin indexikalische Zeichen verweisen auf Dinge oder Tatsachen in Zeit und Raum, nur ihre Objekte sind „existierende Individuen“4. Andere Zeichen repräsentieren Objekte, die z. B. „etwas Allgemeines“ beinhalten oder etwas, „an dessen Existenz man früher bloß glaubte“, das es aber gar nicht gibt.5 Das Objekt des Zeichens bestimmt Peirce an anderer Stelle als etwas „Wahrnehmbares oder bloß Vorstellbares oder sogar in gewisser Weise Unvorstellbares“, vielleicht sogar „etwas gänzlich Fiktives“.6 Es ist dabei stets die kognitive Voraussetzung für die Interpretation eines Zeichens, das Wissen, die Erfahrung, die dem Zeichen vorausgehen muss, wenn es interpretierbar ist. Wenn sowohl das Zeichen als auch sein Objekt bloß mentale Bilder oder gar Imaginationen sein können, dann können auch das Bild eines Einhorns und die literarische Gestalt des Don Quijote sowohl Zeichens als auch Objekt eines Zeichens sein, das sich auf diese Bilder und Zeichen bezieht. Die Bildtheorie, die von anderen als von peirceschen Prämissen ausgeht, tut sich schwer mit der Interpretation der Objekte, auf die sich imaginäre Bilder beziehen. Vor dem Hintergrund positivistischer Zeichentheorien, die unter Begriffen wie Denotat, Referent oder Bezeichnung allein etwas real Existierendes als Objekt des Zeichens anerkennen, werden zwei reduktionistische Alternativen diskutiert. Der erste semiotische Reduktionismus ist besonders radikal. Er besteht nämlich darin, nur solche Bilder als Zeichen anzuerkennen, die sich indexikalisch auf real Existierendes beziehen. Vertreten wird diese Position etwa von Gernot Böhme (1999), Lambert Wiesing (1998, 2001) und Hans Belting (2005). Nach dieser Position sind Bilder, die etwas völlig Neues oder bloß Imaginäres zeigen, ganz einfach keine Zeichen mehr, sondern „Phänomene sui generis“. Selbst das Bild der Mona Lisa ist für Böhme z. B. kein Zeichen mehr, wenn die Annahme zutrifft, dass dieses Bild niemals das Abbild einer wirklich existierenden Person gewesen sei.

3 4 5 6

Vgl. Santaella 1988, 1990, 1994; Joswick 1996; Pape 1996. CP 2.283, 1902. CP 2.232, 1910. CP 8.314, 1909.

113

Winfried Nöth Weniger reduktionistisch ist der semiotische Mittelweg, den Nelson Goodman7 einschlägt, um Bilder imaginärer Objekte semiotisch zu erklären. Im Gefolge Freges (1892) und der logischen Positivisten nimmt Goodman (1978, 1981) die Spaltung der Zeichen (in seiner Terminologie „Symbole“) in solche vor, die ein Denotat haben und solche, die keines haben. Bilder und Wörter, die für fiktive oder imaginäre Objekte wie etwa „Einhorn“ oder „Don Quijote“ stehen, sind danach im Gegensatz zu Bildern existierender Objekte weder Darstellungen noch haben sie ein Denotat, weil es doch das, was sie bezeichnen, nicht gebe. Es sind aber dennoch Zeichen, wenngleich auch „leere Zeichen“8 weil sie „ihrem Charakter nach darstellend“9 sind und wie andere Zeichen benutzt werden. Ganz ohne einen derartigen Dualismus, für den die Unterscheidung zwischen Realem und Imaginären fundamental wäre, kommt Peirce’ semiotische Bildtheorie aus, denn nach ihr hat jedes Zeichen, ob nun real, imaginär oder gar abstrakt, ein Objekt. Das Objekt des Zeichens ist danach nicht notwendigerweise ein materielles Korrelat, das in einer realen Welt der Gegenstände oder Sachverhalte zu suchen wäre. Das Objekt eines BildZeichens liegt vielmehr auch in der Erfahrung oder im Wissen von dem, was das Zeichen repräsentiert oder mental evoziert. Dies müssen nicht existierende Gegenständen oder Sachverhalte sein, denn das Wissen und die Erfahrung, die der Repräsentation vorausgehen, umfassen Gegenstände und Tatsachen ebenso wie Ideen, bloße Vorstellungen, Phantasien oder gar Irrtümer.10 Peirce unterscheidet zwischen zwei Objekten eines jeden Zeichens, das dynamische und das unmittelbare Objekt. Das dynamische Objekt ist „das Objekt außerhalb des Zeichens“11 Ein real existierendes Objekt, das in einem Bild dargestellt ist, ist dessen dynamisches Objekt, aber dynamische Objekte von Zeichen können auch bloße Ideen oder gar Phantasien sein. In einer Typologie von 1908 unterscheidet Peirce drei Arten dynamischer Objekte, solche, die den Charakter einer bloßen Möglichkeit haben, solche die real existieren und solche, die physikalisch oder logisch Notwendigkeiten sind. Nur die zweite dieser Klassen enthält Objekte, die als Denotate im Sinne der positivistischen Semantik in Frage

7 8 9 10 11

Vgl. Nöth 2006 Goodman 1981: 125 Goodman 1978: 80 Vgl. z. B. CP 2.230, 1910 EP, S. 480, 1908

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Kreative Bilder und die Dynamik ihrer Objekte kommen. All diese Objekte gehören einer Realität an, die, sofern sie nicht selbst aus Zeichen besteht, unabhängig von den Zeichen Bestand hat und die Logik der Zeichen bestimmt. Das dynamische Objekt ist nämlich die semiotische Ursache des Zeichens, das, was das Zeichen „zu seiner Repräsentation determiniert“12 Allerdings können wir dieses Objekt nie ganz erfassen, sondern uns ihm immer nur in unendlich vielen Schritten möglicher Darstellungen und Erforschung annähern.13 Es gehört einer Realität an, von der Peirce sagt: „Ich definiere ‚real‘ als das, was seine Eigenschaften in einer Weise innehat, dass es nicht den geringsten Unterschied ausmacht, was irgendjemand über sie gedacht haben mag oder wird, wobei ‚denken‘ für mich ‚vorstellen‘, ‚dafürhalten‘ und ‚wollen‘ einschließt […]; die Eigenschaften eines realen Dings bleiben aber von all dem völlig unberührt.“14

Das unmittelbare Objekt ist „das Objekt, so wie es das Zeichen darstellt“.15 Im Bild, das wir wahrnehmen, ist es als unser stets unvollständiges Wissen von dem Dargestellten präsent.16 Es ist gewissermaßen eine Spur, ein Index des dynamischen Objektes, das uns niemals vollständig zugänglich ist. Das unmittelbare Objekt eines Bildes lässt dessen dynamisches Objekt nicht nur notwendigerweise unvollständig erkennen, sondern es kann dieses Objekt aus Gründen wie Unkenntnis, Irrtum oder ästhetische Absicht auch verschleiert, verzerrt oder gar verfälscht erscheinen lassen. Wenn Peirce davon spricht, dass wir das Objekt kennen müssen, mit ihm vertraut sein müssen, um das Zeichen interpretieren zu können, so meint er das unmittelbare Objekt, denn da das dynamische Objekt außerhalb des Zeichens liegt und wir ihm nur in Annäherung nähern können, können wir mit ihm nicht vertraut sein. Das unmittelbare Objekt muss also ein kognitives Objekt sein, es ist dieses Objekt, auf das sich Peirce bezieht, wenn er davon spricht, dass das Objekt des Zeichens „selbst von der Natur eines Zeichens oder eines Gedankens ist“17 Als ein nur unvollständig repräsentiertes Objekt kann das unmittelbare Objekt auch ein vages, ungenaues, durch Vorurteile getrübtes oder

12 13 14 15 16 17

CP CP CP CP CP CP

4.536, 8.181, 6.495, 8.343, 4.536, 3.538,

1906; CP 8.183, 1903. 1903; CP 1.339, 1893. 1906. 1910. 1906; CP 8.183, 1903. 1903.

115

Winfried Nöth gar falsches Objekt sein. Stets enthält das unmittelbare Objekt aber einen indexikalischen Hinweis auf das dynamische Objekt, auf das es durch diesen Index verweist.18 Betrachten wir als Beispiel für die zwei Objekte eines Zeichens eines real existierenden Objektes das Bild eines südamerikanischen Capybaras, eines auch Wasserschwein genannten fast Wildschwein großen Nagetieres (Abb. 1). Das dynamische Objekt dieses Bildes ist das fotografierte Tier, dessen Existenz ganz unabhängig davon ist, ob es diese Bild gibt oder nicht. Je nach Kontext kann es auch die Klasse dieser Tiere sein, z. B. in einem enzyklopädischen Artikel über dieses Tier. Dieses dynamische Objekt determiniert sein Zeichen, das Foto, welches es abbildet, insofern, als dieses Foto nur dann ein Zeichen des Nagetieres ist, wenn es dieses so oder so ähnlich, seiner Realität entsprechend repräsentiert. Als Realität dieses Tieres ist das dynamische Objekt seinen Betrachtern aber nie vollständig in allen seinen vielen Details zugänglich. Das unmittelbare Objekt dieses Fotos ist eine Annäherung an das dynamische Objekt, denn es ist das Objekt, wie es den Betrachtern des Bildes erscheint, hier als Seitenansicht ohne Farbe, in all seiner Unvollständigkeit der Repräsentation. Abb. 1: Bild eines Capybaras (Hydrochoerus hydrochaeris)

Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Capivara.jpg

18 EP, S. 480, 1908.

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Kreative Bilder und die Dynamik ihrer Objekte

Imaginäre Objekte, wahre und falsche Repräsentationen und die vorausgesetzte Bekanntheit des Objektes Peirce’ Erweiterung der Kategorie des Objekts eines Zeichens von den real existierenden Objekten auf mentale und dabei auch imaginäre Objekte, die an Zeichenkonzeptionen der Scholastik anknüpft19, steht im Zusammenhang mit drei weiteren Prämissen der peirceschen Zeichentheorie, (1.) der Prämisse von den Gedankenzeichen, (2.) der Prämisse von den Objekten der Zeichen, die selbst Zeichen sein können und (3.) der Prämisse von der Notwendigkeit der Vertrautheit des Interpreten mit dem Objekt des Zeichens. Zu den Zeichen gehören auch mentale Zeichen (thought-signs) und somit auch mentale Bilder.20 Peirce spricht sogar davon, dass jedes Objekt eines Zeichens, womit nur das unmittelbare Objekt gemeint sein kann, von der Natur eines Gedankens sei: „Jedes Zeichen steht für ein von ihm unabhängigen Objekt; aber es kann nur insofern ein Zeichen dieses Objektes sein, als dieses Objekt selbst von der Natur eines Zeichens oder Gedankens ist.“21 – Diese Konzeption von den Zeichen, die nicht an äußere materielle Träger gebunden sein müssen, sondern auch unsichtbare mentale Repräsentationen sein können, steht im Gegensatz zu den instrumentellen Zeichentheorien, die im Zeichen äußere Werkzeuge des menschlichen Geistes sehen.22 Für Peirce ist ein Zeichen aber nicht notwendigerweise das Werkzeug eines Zeichengebers zur Übermittlung von Gedanken und Absichten. Vielmehr haben Zeichen auch ihre eigenen Bedingungen semiotischer Möglichkeiten und Notwendigkeiten, die sich dem Einfluss des Zeichengebers entziehen. Das Objekt des Zeichens kann selbst ein Zeichen sein, denn auch der kontinuierliche Fluss unserer Gedanken und mentalen Bilder ist ein Zeichenprozess (Semiose), im Verlaufe dessen ein gegebenes Gedanken-Zeichen in einem mentalen Dialog durch neue Gedanken-Zeichen interpretiert wird23, wobei der Produzent und der Rezipient des Zeichens ein und der gleiche Geist ist.24

19 20 21 22 23 24

Tabarroni 1989 CP 5.283, 1868; 1.480, 1896; W 223; vgl. Short 2004: 215. CP 3.538, 1903. Nöth 2009. MS 1476, 1904 [in Peirce 1991]. CP 5.284, 1868.

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Winfried Nöth Zeichen, Objekt und Interpretant gehören dabei nicht unterschiedlichen Seinssphären an, sondern sie gehören zu einer Folge von Zeichen, in der das Objekt eines Zeichens, ein dem gegenwärtigen Zeichen vorausgehendes Zeichen ist, während der Interpretant ein Folgezeichen ist, das das zuvor wahrgenommene Zeichen interpretiert. Nur das kann das Objekt eines Zeichens sein, was dem Interpreten bereits vertraut ist, denn, „zu sagen, dass ein Objekt einem Geist gegenwärtig ist, heißt nur, eine Metapher dafür zu verwenden, dass das Objekt für diesen Geist in einer Relation des Gewussten zum Wissenden steht.“25 Das Zeichen verweist nicht auf sein Objekt, sondern es repräsentiert es, indem es eine Vorstellung von etwas hervorruft, das als ein Kollateralwissen von diesem Objekt ganz unabhängig vom gegebenen Zeichen vorhanden sein muss. Etwas zu repräsentieren heißt danach, Bilder, Erfahrungen oder Wissen zu aufzurufen, nicht jedoch, Information über etwas Unbekanntes zu vermitteln. Vertrautheit mit dem Objekt des Zeichens bedeutet also nicht die Notwendigkeit der Existenz desselben, denn wir sind auch mit Gefühlen, Erfahrungen, Gedanken, Imaginationen und Fiktionen vertraut. Etwas völlig Unbekanntes kann also nicht das Objekt eines Zeichens sein, obwohl das Objekt eines Zeichens nicht existent, imaginär oder sogar falsch sein mag. Zwar ist die Funktion des Zeichens nicht nur darauf beschränkt, etwas zu repräsentieren, das bereits völlig bekannt ist, denn es hat auch die Funktion, „weiterführende Informationen über sein Objekt zu geben“, aber das Zeichen „kann sein Objekt nur repräsentieren, und von ihm erzählen“, es kann „mit dem Objekt nicht überhaupt erst bekannt machen.“26 Das Postulat vom notwendigen Vorwissen um das Objekt bedarf einer Vertiefung. Widerspricht dieses Postulat von der vorausgesetzten Bekanntheit des Objektes und davon, dass kein Zeichen in der Lage sei, auf ein gänzlich unbekanntes Objekt zu verweisen, nicht unserer Erfahrung, dass es auch Zeichen gibt, die wir nicht verstehen, weil sie etwa Geheimzeichen oder Wörter einer unbekannten Sprache sind? Ist dann etwa das Bild des Capybaras (Abb. 1) für all jene, die ein solches Tier noch nie gesehen haben, kein Zeichen? Wörter einer unbekannten Sprache sind in der Tat für diejenigen Personen, die dieser Sprache nicht mächtig sind, keine Zeichen, und zwar insofern nicht, als diese Wörter für diese Perso-

25 CP 8.18, 1871. 26 CP 2.230–231, 1910.

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Kreative Bilder und die Dynamik ihrer Objekte nen keinen Objekt- und Interpretantenbezug haben. Andererseits trifft es zu, das wir beim Hören von Wörtern uns unbekannter Sprachen doch wenigstens wissen, dass es sich eben um Wörter einer Sprache handelt. In diesem Sinne sind jene Wörter dann doch Zeichen, aber es sind sehr vage Zeichen, über dessen Objektbezug wir nur wenig wissen. Wenn wir etwa Vokale und Konsonanten hören, die wir bereits aus anderen Sprachen kennen, so stellen wir beim Hören dieser Zeichen einen Objektbezug her, der allerdings im Vergleich zur Interpretation des gleichen Zeichens durch einen Sprecher der für uns unbekannten Sprache ein äußerst schwacher Objektbezug ist. Auch Bilder können nun in ähnlicher Weise Zeichen und zugleich nicht Zeichen sein. Ein Bild einer unbekannten Person etwa ist für den Betrachter kein Zeichen dieser ihm unbekannten Person, da doch nur das ein Zeichen sein kann, dessen Objekt uns bereits bekannt ist. Es ist aber in viel größerem Maße ein Zeichen als dies das Wort einer unbekannten Sprache ist. Obwohl uns die Person unbekannt sein mag, wissen wir vom Objekt eines solchen Porträts viel mehr als vom Objekt des Wortes einer uns unbekannten Sprache: Wir sehen z. B., dass es sich um eine Frau handelt, erkennen die Haut-, Augen und die Haarfarbe, die Gesichtszüge, das Alter etc. All dies sind Objekte dieses BildZeichens, mit denen wir vertraut sind. Das Objekt eines Zeichens ist also nicht allein ein konkret identifizierbare Ganzes, sondern es besteht aus einer Vielzahl von Elementen, deren Zusammensetzung das Neue ist, dessen Information wir aus diesem Zeichen gewinnen. Gleiches gilt für unser Bild eines Capybaras. Es ist für all jene, die ein solches Tier noch nie gesehen haben, das Zeichen eines Tieres mit bestimmten von anderen Tieren bekannten Eigenschaften (s. u.). Das Zeichen steht mit seinem Objekt nicht nur in einer Relation der Repräsentation. Es repräsentiert nicht nur sein Objekt, sondern ist auch von diesem determiniert27, und zwar insofern, als das Wissen und die Erfahrung, die das Zeichen bei seinem Interpreten voraussetzt, einen semiotischen Einfluss auf die Art und Weise hat, wie das Zeichen interpretiert wird. Dieser Einfluss kann nicht nur von imaginären, sondern sogar auch von falschen Voraussetzungen ausgehen. Auch ein Umstand, der irrtümlich oder gar fälschlich als Tatsache angenommen oder postuliert wurde, kann das Objekt eines Zeichens sein. Zwar ist Wahrheit das dynamische Objekt eines Zeichens, wie 27 Parmentier 1985; Pape 1996

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Winfried Nöth Peirce 1906 schreibt28, aber ein Bild, das auf Grund von Manipulationen oder gar Fälschungen etwas nicht Existierendes als vermeintlich Existentes darstellt, ist kein Zeichen ohne Objekt. Ein solches Bild ist vielmehr von zwei Objekten bestimmt, einem, welches den Tatsachen entspricht, und einem anderen, welches ihnen widerspricht. Beide dynamische Objekte eines solchen Zeichens stehen in diesem Semioseprozess, in dem sich wahre und falsche Zeichen in einem Spannungsverhältnis stehen, in dem es um das Wahre geht, welches das Falsche widerlegen kann, denn: „Um seine Aufgabe erfüllen zu können und sein Potenzial wirksam werden zu lassen, muss ein Zeichen von seinem Objekt dazu gezwungen werden. Dies ist offenbar der Grund für die Dichotomie zwischen dem Wahren und dem Falschen. Denn es braucht zwei, um zu streiten, und bei jedem Zwang gibt es eine große Dosis Streit, da es ganz unmöglich Zwang ohne Widerstand geben kann.“29

Imaginäre Zeichen, um die es hier geht, sind keine falschen Zeichen, die in einem Konfliktverhältnis zu wahren Zeichen stünden. Es sind vielmehr Zeichen möglicher oder auch unmöglicher Objekte, die im Gegensatz zu realen Objekten stehen. Der Konflikt zwischen dem bloß Imaginären und dem Realen findet seine Auflösung in der Einsicht in das Imaginäre der Repräsentation.

Die Unbestimmtheit der Zeichen als Quelle ihrer Kreativität Die Gründe dafür, warum ein Bild einerseits als Zeichen ein Objekt haben muss, mit dem wir vertraut sein müssen, wenn wir das Zeichen verstehen wollen, und andererseits dennoch Neues oder wie Peirce sagt, „weiterführende Informationen über sein Objekt“ vermitteln kann, so dass semiotische Kreativität durch Zeichen möglich wird, liegen in der notwendigen Allgemeinheit, Unbestimmtheit und Vagheit aller Zeichen. Wie das Beispiel des Porträts einer unbekannten Person gezeigt haben mag, setzt sich jedes Bild aus einer Vielzahl von Einzelzeichen zusammen, wobei die meisten dieser Einzelzeichen ihre Objekte oft nur sehr allgemein, vage und dabei unvollständig darstellen. Mit der Kombination dieser Einzelzeichen vervielfältigen sich die Möglichkeiten ihrer Interpretation. Dabei können Bilder nicht nur fiktive Objekte 28 EP 2, S. 380 und 304. 29 CP 5.554, 1906.

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Kreative Bilder und die Dynamik ihrer Objekte darstellen, sondern sogar irreführende oder gar falsche Informationen vermitteln. Was bekannt sein muss, ist nicht das Objekt des Bildes als einem Ganzen, sondern es sind die Objekte der Einzelzeichen, aus denen es sich zusammensetzt. Die Analogie zur Sprache mag hier erhellend sein. Ein Text, der in einer unbekannten Sprache geschrieben ist, ist kein Zeichen, da er keine Interpretanten erzeugt. Auch Bilder können Unbekanntes abbilden, und sie sind dann keine Zeichen, wenn wir ihr Objekt nicht (er)kennen, aber dabei kommt es nicht darauf an, ob das Objekt existiert oder nicht. Bilder, die so völlig uninterpretierbar bleiben, wie es Texte in unbekannten Sprachen sind, sind überdies sehr selten, denn sie sind fast immer zumindest teilweise etwas Bekanntem ähnlich. Betrachten wir noch einmal das Bild es südamerikanischen Capybaras (Abb. 1). Für diejenigen, die noch nie ein solches Nagetier gesehen hat, bleibt dieses Bild dennoch kein Zeichen ohne einen Referenten und schon gar nicht ein leeres Zeichen, lassen doch die erkennbaren Details dieses Bildes unschwer erkennen, dass es ein Tier abbildet und das dieses Tier z. B. dem Meerschweinchen ähnelt, auch wenn es einen viel größeren Körper hat. Das kreative Potenzial der Bilder variiert mit der Art ihres Objektbezuges. In dieser Hinsicht sind Bilder entweder ikonische, indexikalische oder symbolische Zeichen.30 Das ikonische Bild ist dem, was es abbildet, ähnlich, weil es visuelle Eigenschaften mit ihm gemeinsam hat. Das indexikalische Bild entsteht als die optische Spur seines Objektes, etwa als Schattenbild, als Röntgenbild, Ultraschallbild, als Filmbild oder als Fotografie, und das symbolische Bild beruht schließlich auf Konventionen, die gelernt werden müssen, wie etwa das Bild des schwarzen Adlers auf goldenem Grund, das per Gesetz zum Wappen der Bundesrepublik Deutschland bestimmt wurde. Das kreative Potenzial der symbolischen Bilder ist insofern gering, als die Konvention, die es bestimmt, bekannt sein muss, aber Symbole sind allgemeine Zeichen und die Allgemeinheit der Symbole bedeutet, dass ihr Objektbezug unbestimmt ist, was aber zugleich einen großen Interpretationsspielraum eröffnet. Indexikalische Bilder, wie etwa Passfotos, lassen insofern nur einen geringen Spielraum für Kreativität, als sie ihren Interpreten nur die Möglichkeit bieten, die existenzielle Beziehung zwischen dem Bild und seinem Objekt festzustellen. Die Unvollständigkeit ihres 30 Vgl. Nöth und Santaella 2000.

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Winfried Nöth unmittelbaren Objektes lässt allerdings auch bei diesen Zeichen einen gewissen Raum für kreative Ergänzungen bei deren Interpretation. Ikonische Bilder bieten den höchsten Spielraum für Kreativität, denn sie sind Zeichen auf Grund ihrer eigenen Qualitäten – Linien, Punkte, Formen, Farben und Strukturen –, aber auch noch unbestimmte Gefühle, die sie evozieren. Nur wenn die Ähnlichkeit des ikonischen Zeichens mit seinem dynamischen Objekt auch wirklich als zeichenhaft interpretiert wird, wenn also das Ikon einen Interpretanten produziert, fungiert das Ikon auch tatsächlich als Zeichen; ist dies nicht der Fall, fungiert es lediglich als ein potentielles Zeichen. Das Ikon ist in besonderer Weise mit Kreativität assoziiert, denn die Wirkung ikonischer Zeichen sind Empfindungen, Suggestionen, Hypothesen oder bloße Konjekturen. Die Ähnlichkeiten, die ikonische Zeichen ausmachen, sind nie präzise und lassen notwendigerweise große Interpretationsspielräume. Das ikonische Bild ist die Domäne des Unbestimmten, Vagen, nur schwach Bestimmten, aber es ist die Domäne der Imagination und der starken Sinneseindrücke. Wie selbst eine falsche oder fiktive verbale Darstellung unter diesen Voraussetzungen eigene dynamische Objekte haben, schildert Peirce 1903 am Beispiel des nach allem, was wir wissen, unwahren Satzes „Napoleon war ein lethargischer Mensch“: „Jemand, der sagt, dass Napoleon eine lethargische Kreatur war, ist offenbar in seinem Geist von Napoleon bestimmt; denn andernfalls könnte er an Napoleon überhaupt nicht denken. Es gibt hier jedoch einen paradoxen Begleitumstand. Derjenige, der diesen Satz […] interpretiert, muss von dem Objekt des Zeichens ganz unabhängig von dessen Wirkung durch Kollateralbeobachtung bestimmt sein. Andernfalls wird er nicht dazu bestimmt sein, einen Gedanken von diesem Objekt zu haben. Wenn er noch nie zuvor von Napoleon gehört hat, wird der Satz ihm nicht mehr bedeuten, als dass eine Person oder eine Sache namens Napoleon eine lethargische Kreatur war. Denn Napoleon kann seinen Geist nur dann bestimmen, wenn das Wort in diesem Satz seine Aufmerksamkeit auf den richtigen Mann lenkt, und das kann nur geschehen, wenn sich ganz unabhängig von diesem Satz in dem Interpreten eine Gewohnheit gebildet hat, aufgrund welcher das Wort verschiedene Attribute des Mannes Napoleon aufruft. Ziemlich das Gleiche gilt für jedes Zeichen überhaupt. In gegebenen Beispielssatz ist Napoleon nicht das einzige Objekt. Ein anderes Teilobjekt ist Lethargie. Der Satz kann nämlich seine Bedeutung nur vermitteln, wenn Kollateralerfahrung seinen Interpreten darüber instruiert hat, was Lethargie ist oder was das ist, was „Lethargie“ in diesem Satz bedeutet.“31

31 CP 8.178, 1903.

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Kreative Bilder und die Dynamik ihrer Objekte Als Zeichen ist der Satz vom lethargischen Napoleon also von mindestens zwei Teilobjekten bestimmt, von denen ein Wissen vorausgesetzt werden muss, wenn er interpretierbar sein soll. Wer mit den Objekten der Zeichen „Napoleon“ und „lethargisch“ nicht vertraut ist, wird von dem, was der Satz meint, lediglich eine vage Vorstellung haben können, etwa dass „ein Mann“ lethargisch ist oder dass Napoleon „irgend eine Eigenschaft“ hatte. Die semiotischen Implikationen dieses Beispiels sind unschwer auf den Prozess der Interpretation von Bildern imaginärer Objekte übertragbar. Mit den Objekten der Figuren in Bildern sind ihren Interpreten immer zu unterschiedlichen Graden bekannt. Der Übergang von Realem zu Fiktiven ist dabei notwendigerweise gleitend. Auch wenn Mona Lisa keine reale Person gewesen sein mag, so bleibt ihr Bild dennoch das Zeichen einer Frau, da wir in ihm viele Zeichen der Weiblichkeit erkennen, von denen wir unabhängig von diesem Bild ein Vorwissen haben. Das dynamische Objekt determiniert also die Repräsentation als das vorausgehende Wissen von den Dingen und Sachverhalten, die im Zeichen als unmittelbares Objekt repräsentiert sind. Allein ist eine Repräsentation nicht in der Lage, überhaupt etwas zu repräsentieren. Eine Erfahrung von Begleitumständen des Repräsentierten, dem Objekt der Repräsentation, muss vorhanden sein. Ansonsten gibt es keine Repräsentation.

Imaginäre Objekte als von Zeichen erzeugte Objekte Während die dynamischen Objekte der beiden Zeichen „Napoleon“ und „lethargisch“ zwei Realitätssphären angehören, in denen es zum einen Napoleon und zum anderen lethargische Menschen tatsächlich gegeben hat bzw. gibt, kann eine solche Realitätssphäre für die imaginäre Gestalt des lethargischen Napoleons nicht angenommen werden, wo doch der Sieger von Austerlitz keineswegs lethargisch war. An dieser Stelle wird deutlich, wo die imaginären Objekte von Zeichen zu finden sind. Es sind Objekte, die überhaupt erst durch Zeichen geschaffen werden. Dieses Einsicht vermittelt Peirce z. B. am Bespiel der Fiktionalität des Hamlet. Auch wenn der Satz „Hamlet war verrückt“ ein Zeichen sei, das auf eine imaginäre Welt verweise, so sei es doch kein Zeichen ohne ein Objekt. Das Objekt des Zeichens (d. h. dieser Satz) sei nämlich das Universum Shakespeares, soweit es Hamlet betreffe, und dieses Universum sei von Zeichen geschaffen. Das Objekt 123

Winfried Nöth eines Zeichens könne also etwas sein, das überhaupt erst vom Zeichen selbst geschaffen wurde.32 Die Fähigkeit der Zeichen, neue Objekte zu erzeugen, ist verwandt mit der Fähigkeit der Sprache, durch Neologismen, Benennungen und Definitionen neue Wörter zu erzeugen. Peirce sieht in diesem autopoietischen Potenzial der Zeichen ein semiotisches Wunder, das dem der biologischen Fortpflanzung nicht nachstehe: „Die vielleicht wunderbarste Fähigkeit der Menschheit ist eine, die sie mit allen Tieren und in gewisser Weise auch mit allen Pflanzen gemeinsam hat. Ich meine die Fähigkeit der Fortpflanzung. Ich spiele hier nicht auf die physiologischen Wunder an, die groß genug sind, sondern auf die Tatsache der Erzeugung einer neuen Menschenseele. Hat auch das Wort eine derartige Vater-Sohn-Beziehung? Wenn ich schreibe: „Lass Kax einen Gasofen bedeuten!“, dann ist dieser Satz ein Symbol, welches ein anderes Symbol in sich selbst erzeugt. Hier haben wir eine gewisse Analogie zur Vaterschaft. Das ist genau so und nicht anders, als wenn ein Autor von seinen Schriften als seinen Kindern spricht, – ein Ausdruck, welcher nicht als ein metaphorischer, sondern lediglich als ein allgemeiner betrachtet werden sollte.“33

Das imaginäre Objekt des lethargischen Napoleon ist ein durch Zeichen erzeugtes Objekt, weil die Gestalt des lethargischen Napoleon, welche der Ausdruck bezeichnet, überhaupt erst durch den Ausdruck, der sie bezeichnet, als imaginäres Bild evoziert wird. Wie in diesem Beispiel erzeugen alle neuen Bilder imaginärer Objekte ihre eigenen Objekte. Als ein Objekt, das nur im Zeichen in Erscheinung tritt, ist das Objekt eines Zeichens imaginärer Objekte ein unmittelbares Objekt. Auch Zeichen imaginärer Objekte sind jedoch nie ohne völligen Bezug auf unsere von dynamischen Objekten bestimmte Erfahrungswelt. Der Satz „Hamlet ist verrückt“ verweist z. B. darauf, dass ein Mann verrückt ist. Dieser Satz ist ein Zeichen, das ein dynamisches Objekt hat, weil unabhängig von diesem Satz verrückte Menschen existieren. Die Fragmente der Realität, aber auch der bereits bekannten Fiktionen und Imaginationen, die ein imaginäres Zeichen inkorporiert, sind ihr dynamisches Objekt. Wenn das dynamische Objekt das ist, was es uns erlaubt, das Zeichen aus einem von diesem unabhängigen Erfahrungshorizont her zu interpretieren (s. o.), so sind die dynamischen Objekte der Mythen, Fiktionen und Imaginationen in den ihnen kulturge-

32 CP 8.178, 1903. 33 CP 7.590, 1867.

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Kreative Bilder und die Dynamik ihrer Objekte schichtlich vorausgehen Bildern und Symbolen zu finden, auf die sie sich beziehen. Das dynamische Objekt einer Repräsentation ist ferner in der Gesamtheit der psychischen, kognitiven und natürlichen Determinanten zu suchen, welche die Produktion oder Rezeption des Bildes imaginärer Objekte bestimmen. Während der Wissenshorizont, der es uns ermöglicht, in der Karikatur vom lethargischen Napoleon sowohl den Feldherrn von Austerlitz als auch einen lethargischen Menschen zu erkennen, deren dynamisches Objekt ausmacht, hat das überraschende, erst durch die Karikatur erzeugte kreative Bild von dem in Wirklichkeit nie lethargischen Napoleon, also das mentale Bild, das erst durch das Zeichen dieser Karikatur erzeugt wird, in seiner überraschenden Kombination zweier unvereinbarer Zeichen zunächst noch kein dynamisches, sondern nur ein unmittelbares Objekt. Das neue mentale Bild kann jedoch später, wenn es zu einem Bestandteil unseres Wissens wird, wenn wir uns etwa daran erinnern, dass Peirce dieses imaginäre Bild vom lethargischen Napoleon erfunden hat, zu einem dynamischen Objekt der Zeichen werden, die sich auf jenes Erinnerungsbild beziehen. Wir können somit vorläufig zusammenfassen, dass das Moment des Überraschenden und Neuen, das die Kreativität einer neuen Repräsentation ausmacht, nur ein unmittelbares Objekt hat, denn nur dies ist ja das vom Zeichen erzeugte Objekt. Die Kreativität der fiktionalen Repräsentationen, die bereits unserem Erinnerungshorizont oder gar dem Horizont des kulturellen Wissens angehören, sind Elemente die als dynamische Objekte die Interpretation von Zeichen bestimmen. Jedes neue kreative Zeichen bedarf eines Hintergrundes an dynamischen Objekten, die es uns ermöglichen, es zu interpretieren, aber das Element seiner besonderen Kreativität entstammt seinem unmittelbaren Objekt. Als Beispiel eines solchen Bildes eines imaginären Objektes, das sich auf andere Bilder bezieht, die ihm als ihr dynamisches Objekt vorausgehen, führt Peirce das Bild eines Phoenix an.34 Jedes Bild eines imaginären Phoenix ist nach Peirce trotz der mangelnden Realität dessen, was es repräsentiert, ein Zeichen mit einem Objekt, denn „obwohl ein Phoenix nicht real existiert, sind reale Beschreibungen des Phoenix wohlbekannt.“35 Die Summe der wohlbekannten Bilder des Phönixes, das kulturelle Wissen um seinen Mythos ebenso wie die Vorstellung von Feuer, Asche und Vögeln, die wir haben müssen, um den Phoenixmythos zu

34 MS 318: 41; vgl. Pape 1996: 109. 35 CP 2.261, 1910.

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Winfried Nöth verstehen, sind die dynamischen Objekte aller Phoenixbilder, denn sie sind die Determinanten, welche die Repräsentation dieser Bilder bestimmen. Wie alle Zeichen, so hat auch ein Phoenixbild ein unmittelbares Objekt. Dies liegt einerseits im kreativ Neuen des Bildes, so gering es auch sein mag, andererseits in der Unvollständigkeit, mit der es den komplexen Phoenixmythos und seine vielen mythologischen Aspekte zu repräsentieren vermag. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Peirce seine Zeichenklasse des Ikons, dem Zeichen. welches seinem Objekt ähnlich ist, u. a. auch mit Bildern nicht existierender Objekte exemplifiziert. Eines seiner Beispiele eines Ikons ist die Statue eines Zentaurus, jenes mythologischen Wesens mit menschlichem Oberkörper und Pferdeleib: „Die Statue eines Zentaurus ist fürwahr kein Repräsentamen, wenn es so etwas wie einen Zentaurus gar nicht gibt. Und doch, wenn sie einen Zentaurus darstellt, dann geschieht dies kraft ihrer Gestalt, und diese Gestalt hat sie ganz gleich, ob es einen Zentaurus gibt oder nicht.“36

Ähnlich wie bei den Interpretationen der imaginären Bilder vom lethargischen Napoleon und vom verrückten Hamlet wird hier deutlich, was mit der vorausgesetzten Bekanntheit des Objektes eines kreativen Bildes eines nicht existierenden Wesens gemeint ist. Die Objekte der Statue eines Zentaurus, die wir kennen müssen, um das Bild zu verstehen, sind seine zwei Hauptbestandteile, der Pferdeleib und der menschliche Oberkörper. Wir greifen ja auf unser Weltwissen von wohl Bekanntem zurück, wenn wir in dem einem Bestandteil einen menschlichen Oberkörper sehen und in dem anderen einen Pferdeleib sehen. Die Vertrautheit mit der kreativen Kombination der beiden Bestandteile zu einer Figur ist dabei nicht notwendigerweise vorausgesetzt. Wenn wir auch mit ihr vertraut sind, dann erscheint uns das Bild des Zentaurus als ikonisches Zeichen jener anderen Zentauren, die wir zuvor gesehen haben. Im letzteren Fall determiniert das Objekt des Zeichens, also unser Wissen davon, wie ein Zentaurus beschaffen sein muss, damit das Bild eines Zentaurus auch als solches interpretiert werden kann, unsere Interpretation des Bildes. Zum Beispiel würden wir ein Bild einer Gestalt mit Pferdeleib und Vogelkopf nicht ohne weiteres als das Bild eines Zentaurus anerkennen wollen. Die Ikonizität der Zeichen setzt also nicht deren

36 CP 5.73, 1903.

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Kreative Bilder und die Dynamik ihrer Objekte Ähnlichkeit mit Dingen voraus, die genau so existieren, wie es das Bild zeigt.

Exemplarische Analyse mit Anmerkungen zu den Interpretanten Betrachten wir die Printwerbung in Abb. 2 als Beispiel für ein Zeichen, das ein teilweise imaginäres Objekt repräsentiert. Das Bild ist das digital manipulierte Foto eines Gemäldes mit dem Titel Die Proklamierung des deutsche Kaiserreichs im Spiegelsaal zu Versailles von Anton von Werner aus dem Jahr 1885. Die Bildmanipulation besteht in einer Substitution eines Bildzeichens durch ein anderes. Die Dame, die in diesem Werbebild „in Führung geht“, nimmt nämlich die Position des deutschen Kaisers ein, der im Originalbild aus dem Jahr 1885 an ihrer Stelle auf dem Podest steht, und in jenem Bild so abgebildet ist, wie es 1871 zu Bismarck und den hochrangigen Militärs gesprochen haben mag. Es handelt sich also um eine visuelle Metapher, denn gemeint ist hier ja nicht, dass die Dame wirklich Bismarck und die Generäle und Diplomaten des Jahres 1871 anredet, sondern, dass sie dank ihrer regelmäßigen FAZ-Lektüre die Führung in der heutigen Männerwelt einnimmt, ganz so, wie 1871 der deutschen Kaiser seine Diplomaten und Militärs führte. Die visuelle Metapher ist in ihrer Nebeneinanderstellung des schon rein chronologisch Unvereinbaren kreativ. Die anachronistische Nebeneinanderstellung des Bildes dieser Geschäftsfrau des 21. Jh.s mit dem Bild der Führungselite des Kaiserreiches von 1871 erzeugt einen semantischen Konflikt, der, ganz abgesehen von seinem Anachronismus, auf der Unvereinbarkeit zweier historisch sehr verschiedener Gesellschaftssysteme beruht. Es ist ein Bild von so noch nie Gesehenem, aber deswegen kein Zeichen ohne Objekt, sind doch seine Hauptbestandteile Zeichen, deren Objekte wir kennen, nämlich einerseits eine Frau in Führungsposition, die einen Vortrag hält, und andererseits Bismarck und die Führungselite des Deutschen Reiches in Versailles. Beides sind Bild-Zeichen, die auf bekannte Objekte verweisen, wenn auch in vager Weise, da uns die genaue Identität der Frau, die hier „in Führung geht“ unbekannt bleibt. Die kreative Nebeneinanderstellung dieser beiden auf bekannte Objekte verweisenden Bildkonstituenten, welche die visuelle Metapher ausmacht, erzeugt ein neues Objekt, dasjenige einer Frau, die wie wichtige Männer „in Führung geht“. In vager Weise ist uns auch dieses Objekt des Zei127

Winfried Nöth chens bekannt, denn Frauen, wie diese sind in der heutigen Zeit nichts Unbekanntes mehr. Die besondere Weise, wie aber diese Dame hier „wie ein deutscher Kaiser in Führung geht“, ist ein Wissen, das erst von diesem Zeichen, also dieser Printwerbung, erzeugt wird und gerade insofern liegt der kreative Aspekt dieses Bildes in der Objekt- und noch nicht in der Interpretantendimension dieses Bildes, denn das Kreative liegt hier im Unterschied der bekannten Zeichenobjekte zu den bisher unbekannten, weil erst vom Bild erzeugten Objekte. Obwohl einige der erörterten Analysen zu den Objekten dieser Werbeanzeige einem Diskurs nahe kommen, der üblicherweise als „Interpretation“ bezeichnet wird, betrifft er noch nicht die Interpretantendimension des BildZeichens, sondern dessen Objektbezug, haben wir uns doch bisher ganz auf den Aspekt des Vorwissens beschränkt, das zum Verständnis dieser Werbebotschaft erforderlich ist.

Abb. 2. Visuelle Metapher in einer Printanzeige für ein FAZ-Abonnement

Quelle: Focus 45/2004: 207.

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Kreative Bilder und die Dynamik ihrer Objekte Die Analyse der Interpretantendimension dieses Bild-Zeichens betrifft nicht das Vorwissen um die Inhalte dieser Werbebotschaft, welches die Voraussetzung für die Interpretation der Zeichen ist, und sei dieses Wissen auch erst ein von der Werbebotschaft erzeugtes Wissen, sondern sie betrifft deren Wirkungen, z. B. die Emotionen, die Reaktionen, die Absatzsteigerung, die Verkaufserfolge, die Konsumgewohnheiten, oder die zukünftigen KonsumPräferenzen, die dieses Bild einer imaginären Szene in Verbindung mit der verbalen Botschaft zur Folge haben kann. Zwar ist es an dieser Stelle nicht möglich, die Interpretantendimension dieses Werbebildes auch nur annähernd erschöpfend zu ergründen, aber es können an dieser Stelle doch einige Anmerkungen zu den möglichen Interpretanten dieses Werbebildes angebracht sein.37 Unter den verschiedenen Interpretanten, die Peirce unterscheidet, sind besonders zwei für die Analyse dieser Werbeanzeige relevant, der dynamische Interpretant, der eine spontane Reaktion als dominanten Bedeutungseffekt beschreibt, und der finale Interpretant, der die langfristige Wirkung des Zeichens im Auge hat. Als dynamischer Interpretant dieser Anzeige kommt der Überraschungseffekt in Frage, welcher dieses kreative Bild auf Grund der Unvereinbarkeit des Dargestellten hervorruft. Das bloße Erregen der Aufmerksamkeit und womöglich des Interesses der potentiellen Konsumenten dieses Warenangebotes ist der Bedeutungseffekt eines Zeichens, der einen solchen Interpretanten bedeutet. Die zweite Interpretantenklasse, die für diese ebenso wie für die meisten anderen Werbeanzeigen von Relevanz ist, ist der finale Interpretant. Er ist ein Bedeutungseffekt, der auf die Überzeugungen, Denk- und Handlungsgewohnheiten der Konsumentinnen und Konsumenten abzielt. Dieser Effekt tritt bei einer Werbekampagne in dem Maße ein, in dem diese Werbebotschaft den erwünschten Erfolg hat, nämlich, im Falle unserer FAZ-Werbung, neue Abonnenten und Leser zu gewinnen. Keine Werbung kann sich ja darauf beschränken, lediglich die Neugier ihrer Leser zu erwecken oder Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ein dritter Interpretant, der jedoch für diese besondere Anzeige weniger relevant ist, ist der emotionale Interpretant, der die gleichen Ziele, durch emotionale Wirkungen hervorzurufen trachtet. Ziel einer jeden Werbekampagne ist notwendigerweise die Absatzsteigerung, und diese hat die Bildung neuer Konsumgewohnheiten zur Vo37 siehe auch Bishara 2008: 243–253.

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Winfried Nöth raussetzung. Während der dynamische Interpretant unserer Werbebotschaft eine Art Signalwirkung beschreibt, die dieses Werbebild auf seine Betrachter ausübt (oder nicht), zielt der finale Interpretant dieser Anzeige darauf ab, Überzeugungen vom Wert des Produkte hervorzurufen und neue Konsumgewohnheiten zur Folge zu haben. Ob und in welchem Maße diese möglichen zu tatsächlichen Interpretanten werden oder gar geworden sind, das festzustellen wäre die Aufgabe einer empirischen Untersuchung der Marketingstrategie, mit welcher in dieser Werbekampagne gearbeitet wurde.

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Visio – Vision – Visionsbild Zur Authentizität der Miniaturen des Rupertsberger Codex Hildegards von Bingen 1 PETER CORNELIUS CLAUSSEN Karl Clausberg hat mit einer ganzen Serie innovativer Bücher und Beiträge die Physiologie und Psychologie des Sehens, wie sie im 19. Jahrhundert von Hermann von Helmholtz und Ernst Mach erforscht worden ist, energisch für die Kunstgeschichte erschlossen, weitergedacht und kulturgeschichtlich vertieft.2 Er öffnete damit der Kunstwissenschaft im Dialog mit den Naturwissenschaften kultur- und wissenschaftsgeschichtlich einen ganz neuen Bereich, gerade was das Bildsehen und die äußeren und inneren Bilder angeht. Dagegen sind meine Überlegungen über Visio, Visionen und Visionsbilder wie ohne Fundament, denn im Grunde verweigern sie sich dem Diskurs, da sie sich vor allem auf eigene Erfahrung stützen.3 Ob sich mein Ansatz, der auch ein Klärungsversuch sein sollte, damit in einem wissenschaftlichen Umfeld behaupten kann, ist fraglich. Ich gehe das Risiko ein und versuche im zweiten Teil, die Miniaturen zu den Visionen Hildegards von Bingen auf ihre Authentizität hin zu befragen. 1

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Meine Auseinandersetzung mit Hildegards Visionen liegt zehn Jahre zurück. Ich konnte sie aus Zeitknappheit nicht auf den neuesten bibliographischen Stand bringen, denke aber, meine Argumente haben immer noch Aktualität. Aus der Vielzahl dieser Arbeiten seien nur erwähnt: Olaf Breidbach / Karl Clausberg (Hg.), Video ergo sum. Repräsentation nach innen und außen zwischen Kunst- und Neurowissenschaften (Interface Bd. 4), Hamburg 1999. Karl Clausberg, Neuronale Kunstgeschichte, Wien/NY 1999. Peter Cornelius Claussen, Herzwechsel, München 1996. Peter Cornelius Claussen, Die innere Bilderfabrik. Oneiroides Erleben, Krankheitserleben und künstlerische Mission, in: Rausch im Bild - Bilderrausch. Drogen als Medien von Kunst in den 70er Jahren, hg. von Henrik Jungaberle und Thomas Röske (Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung der Sammlung Prinzhorn 2004/05), Heidelberg 2004, S. 127–142.

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Peter Cornelius Claussen

Bildsehen und innere Bilder Vorstellungen darüber, wie wir uns ein Bild im Kopf schaffen, stützen sich auf die Visualisierung von Hirnaktivitäten durch Magnetresonanz. Diese kann nicht viel mehr zeigen, als dass beim Sehen mehrere Bereiche der Hirnrinde in Korrespondenz beteiligt sind. Das mag ein Fortschritt sein, auf der Wegstrecke zum Verstehen ist es aber nur ein kleiner Schritt. Der Vorgang der Bildentstehung im Bewusstsein selbst bleibt einstweilen unerklärlich und nicht vorstellbar. Es ist bezeichnend, dass Barbara Maria Stafford, die diesen Bereich anzudenken gewagt hat, dabei bewusst in eine Terminologie verfallen ist, die der Mystik und der 4 Alchemie entliehen ist. Karl Clausberg hantiert geschickt mit 5 dem Modell, das Descartes im 17. Jahrhundert hinterlassen hat. Dieses läuft auf eine Art Theater im Kopf hinaus, das die wie Seilzüge funktionierenden Sehnerven in Hohlräumen des Hirns dem seelischen Zentralorgan, der Zirbeldrüse, vorführen. So viel bildhafte Anschaulichkeit hat die moderne Hirn- und Bewusstseinsforschung nicht zu bieten. Wenn ich Olaf Breidbach richtig verstehe, ist es einstweilen nicht einmal möglich, zwischen den äußeren Bildern, also dem Sehen von Realität, und den inneren Bildern hirnphysiologisch zu unterscheiden. Was uns jeweils als objektives Bild von Wirklichkeit erscheint, ist determiniert durch die Möglichkeiten und Einschränkungen des menschlichen Wahrnehmungsapparates, der wiederum einen Vorrat innerer Bilder voraussetzt. Ohne eine solche gespeicherte Bilderfahrung wären wir vermutlich sehend blind. Wir könnten nichts erkennen. Pointiert kann man sagen: Der Mensch ist die Summe seiner Bilder – oder vielleicht besser das Kreativpotential dieses Bildergenerators eingerechnet: die Summe seiner potentiellen Bilder.

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Barbara Maria Stafford, Towards a New Analogica: Cognition as Collage, in: Video ergo sum 1999 (wie Anm. 2), S. 201–218. Clausberg, Karl, Video ergo sum? Licht und Sicht in Descartes’ Selbstverständnis sowie Fludds Erinnerungsscheinwerfer. Ein Ausblick auf die Kunstgeschichte der virtuellen Bilder zwischen Mnemotik und Projektionstechnik, in: Video ergo sum, 1999 (wie Anm. 2), S. 8–33.

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Visio – Vision – Visionsbild Zwei Fragen vorweg, die ganz allgemein das Bildsehen betreffen: Warum hat unser Wahrnehmungssystem (und das einiger anderer Primaten) die im kognitiven Apparat vermutlich aufwändige Fähigkeit zu zweidimensionalem Bildsehen bereitgestellt, wenn es doch in der Umgebung, in der unsere Urahnen lebten, kein sichtbares Objekt gab, an dem diese Fähigkeit zu erproben war? In der Natur kommt, soweit ich sehe, kein zweidimensionaler Abklatsch von Welt vor. Schon gar nicht konfrontiert uns Natur mit einem rechtwinklig begrenzten Ausschnitt, wie er uns heute als Bild, Buchseite, Bildschirm, Dia- und Beamerprojektion oder Kinoleinwand so selbstverständlich erscheint. Derartige Fähigkeiten können sich wohl kaum in der kurzen Zeitspanne ausgebildet haben, seit Menschen zweidimensionale Bilder anfertigen. Ich frage: Hat die zunächst nur virtuelle Fähigkeit, komplexe Sachverhalte in einer Bildfolie zu abstrahieren, unseren entfernten Vorfahren irgendeinen Überlebensvorteil gebracht? Vermutlich ist die Antwort positiv und wird die Abstraktionsleistung betonen, im Hinblick auf schnelle Handlungsentscheidungen situative Komplexität zu reduzieren. Dann hätte das zweidimensionale Bild ein stofflich nicht fassbares Äquivalent im neuronalen Zusammenklang der visuellen Informationsverarbeitung und –speicherung. Eine bereite Matrix, die schon längst vor dem Zeitalter der Bilder angelegt war, nun aber im Bild-, Buch- und Bildschirmzeitalter zu einem unendlich erweiterbaren nach Außen verlegten Zentralorgan des Erkennens und Wissens geworden ist. Warum gibt es in jedem von uns darüber hinaus die Fähigkeit, nicht nur Bilder, sondern kopfgemachte Universen zu generieren, welche die Informationen der Sinnesorgane verändern, überlagern oder ersetzen können? Diese enorm aufwändige Tätigkeit des Gehirns wird uns in milder Form im Traum präsentiert, kann aber in Situationen starker Gefährdung als Ausweichwelt an die Stelle von Wirklichkeit treten. Möglicherweise sind die Paralleluniversen Überlebensräume in Situationen, die aussichtslos erscheinen, die man aber „entrückt“ überstehen kann.6 Was hier als hilfreich beschrieben wird, kann für die betroffene Person durchaus verstörend und belastend sein. Wir sind es gewohnt, solche Systeme außerhalb der Realität als psychotische Entgleisung des Gehirns anzusehen, als krankhafte Abnormalität, die Menschen als Verrückte aus der Gesellschaft ausschließt und in Anstalten isoliert. In anderen Zeiten und Kulturen wäre dieses „in

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Diese These vertrete ich in „Herzwechsel“, 1996 (wie Anm. 3). Vergleiche dazu auch unten den Abschnitt über das Oneiroid.

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Peter Cornelius Claussen sich Außersichsein“ ganz anders beurteilt worden; im Mittelalter entweder als visionär im Sinne eines Mediums göttlicher Botschaften oder als Besessenheit von teuflischen Mächten. Vor diesem Hintergrund erscheint das Paradox, dass „Vision“ heute zum Allerweltswerbewort für materielle Zukunftshoffnungen von Wirtschaft und Politik geworden ist, Menschen mit Visionen aber pathologisiert und marginalisiert werden, wie eine zeitversetzte Analogie: Im heutigen Sprachgebrauch ist der religiöse Aspekt von Vision durch Hoffen auf diesseitige Prosperität und der teuflische durch Angst vor einem fatalen psychischen Geschehen ersetzt worden. In vorliegendem Text werden Visionen indessen wertfrei als innere Bilder verstanden, die wir ins Gedächtnis rufen können oder die im Traum, Tagtraum und in vielen Formen halluzinatorischer Vorgänge vor ein „inneres Auge“ treten können. Ob oder wie der innere Bildergenerator mit dem Bewusstsein, der Psyche und auch der Kreativität verbunden ist, scheint mir eines der spannendsten künftigen Forschungsfelder. Wie steht es aber mit der wissenschaftlichen Untersuchung historisch überlieferter Visionen? Damit befassen sich fast ausschließlich Textwissenschaften.7 Die Kunstgeschichte kann nicht viel mehr als bestimmte Darstellungsmodi von Visionsbildern analysieren, die Visionstexte illustrieren oder Personen bei der Vision wiedergeben. Vor allem für die in der Bibel überlieferten Visionen gibt es eingespielte Bildkonventionen (Apokalypse, Weltgericht, Verklärung, Traum Nebukadnezars etc.) und immer wieder neue Inszenierungsversuche.8 Am Interessantesten sind dabei Forschungsansätze, die Realitätsebenen der Visionsdarstellungen medial zu differenzieren. Hier soll aber nicht von solchen illustrativen Visionsbildern die Rede sein, die ohne eigene Erfahrung, sozusagen von außen versuchen, ein Visionsgeschehen nachzustellen. Es geht vielmehr um die Möglichkeit (oder Unmöglichkeit),

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Benz, Ernst, Die Vision. Erfahrungsformen und Bilderwelt, Stuttgart 1969; Dinzelbacher, Peter, Mittelalterliche Visionsliteratur. Eine Anthologie, Darmstadt 1989; Haas, Alois, Traum und Traumvision in der deutschen Mystik, in: Gottleiden – Gottlieben. Zur volkssprachlichen Mystik im Mittelalter, Frankfurt 1989, S. 109–126. David Ganz, Medien der Offenbarung. Visionsdarstellungen im Mittelalter, Berlin 2008; Hamburger, Jeffrey, The Visual and the Visionary: Art and Female Spirituality in Late Medieval Germany, New York 1998; Stoichita, Victor I.: Das mystische Auge. Vision und Malerei im Spanien des Goldenen Zeitalters (Bild und Text, hg. von Gottfried Boehm und Karlheinz Stierle), München 1997.

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Visio – Vision – Visionsbild authentische Visionserfahrung ins Bild zu setzen oder im Bild wieder aufzufinden. Innere selbstgenerierte Bilder entziehen sich bisher der auf Struktur und Typenscheidung zielenden wissenschaftlichen Forschung: Sie unterliegen ständiger Metamorphosen und sind in der Perspektive von außen nicht zu fassen. Auch, wenn Betroffene einigermaßen deutliche Erinnerungen an Visionen haben, können sie diese kaum adäquat vermitteln. Versucht man sie zu schildern, verändern sie sich und werden Erzählung, in welche sinnsuchende Deutung und Symbolik einfließt. Hält man sie mit Stift, Pinsel oder Pixel fest, wird die Totalität des Erlebens zum zweidimensionalen statischen Bild. Filmische Annäherung scheint nur auf den ersten Blick als geeignetes Medium. Film gehorcht den Gesetzen der Unterhaltung und wird als Traum-Fake in der Regel zu Kitsch. Der schwierigen Vermittelbarkeit und allgemeinen Ausgrenzung des Themas unwillkürlich kreierter innerer Bilder entspricht eine unscharfe Terminologie zu diesen Erscheinungen. Unter dem Begriff Halluzination werden höchst unterschiedliche Dinge subsummiert. Dabei kommt es nicht nur innerhalb des therapeutischen Gesprächs, sondern auch bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Kreativpotential innerer Bildkreation auf Unterscheidung an. Aus den vielen Möglichkeiten solcher nicht durch die Augen übermittelter Bilder seien hier drei herausgegriffen:9 1. Veränderungen des Sehens, die häufig während der Migräne-Aura auftreten (Flimmerskotome, Zickzack-Fortifikationen u. ä.), können in seltenen Fällen auch über längere Zeiträume andauern und komplexere abstrakte Formationen annehmen.10 Die eindrucksvollste Schilderung und Nachzeichnung einer solchen außergewöhnlichen Bildfiguration lieferte ein Patient der psychiatrischen Anstalt Waldau bei Bern, dem diese in fast gleicher Form immer wieder erschien. Ernst Morgenthaler veröffentlichte die Beschreibung des Trugbildes 1919 samt einer satzspiegelgro9

Es sind zugleich die drei Kategorien von Gesichtserscheinungen, über die ich aus eigener Erfahrung reden kann. Als Migräniker bin ich mit ephemeren Formen des Flimmerskotoms vertraut. In einer dreitägigen Phase nach einer Herztransplantation hatte ich massive Halluzinationen. Anschließend bewegte ich mich 14 Tage lang in einer oneiroiden Phase in eigenen selbstgeschaffenen Welten. Darüber berichte ich ausführlich in „Herzwechsel“ 1996 (wie Anm. 3). 10 Material dazu hat in reichem Maß Klaus Podoll zusammengetragen, auf dessen Beitrag in diesem Band verwiesen sei.

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Peter Cornelius Claussen ßen Farbreproduktion (Abb. 1) in „zwei Drittel natürlicher Größe“.11 Mit den üblichen Augenerscheinungen der Aura-Phase hat es wenig gemein, allenfalls ein „Flimmern, Züngeln oder Flackern“. Das sorgfältig gefertigte Bild zeigt vor goldgelb waberndem Grund einen schrägen rötlichen Balken und eine große, nach unten schwingende und geschuppte Schlauchform mit abgerundetem Ende, in dem ein Flammenstern wie eine Blüte aufscheint und tropfenfömige Protuberanzen auswirft. Was das Bild (Abb. 1) trotz aller Genauigkeit und Fertigkeit des Zeichners nicht zeigen kann: Alles schien diesem in ständiger Bewegung, stabil blieb einzig der Kontur der Großformen. Immer wieder betont er, dass sich das Bild „scharf ausgeschnitten“ und „wie in einem Rahmen“ beim Geradeausblicken einstellte, besonders deutlich in der Dunkelheit. Da sein Auftauchen immer ein Vorbote von starken (beidseitigen) Kopfschmerzen war, ist eine besondere, persistierende Form eines Flimmerskotoms während einer Migräne-Aura zu vermuten. Der Verdacht liegt nahe, dass dieser Patient, dessen Zustand als katatonisch mit Wahnideen beschrieben wird, der akustische und visuelle Halluzinationen hatte und schon eine längere Zeit in der Anstalt verbracht hatte, die Erscheinung der Aura in einer extremen halluzinatorischen Steigerung erlebte. Für die „Gattung“ Halluzination spricht der fest umgrenzende Rahmen, für ein Flimmerskotom die immer wieder auftretende, gleich bleibende Grundform der Erscheinung. 2. Halluzinationen. Als Halluzinationen bezeichne ich alle Formen von Trugbildern, welche die betroffene Person passiv – quasi als Zuschauer – erlebt.12 Dabei gibt es immer ein Distanzbewusstsein und in der Regel auch die Gewissheit, dass das Gesehene nichts mit der normalen Realität zu tun hat. Halluzinationen können plötzlich auftreten und sind deshalb besonders verstörend und belastend. Sie können durch Drogen angeregt sein, sind häufig Begleiter von Alkohol-Delirien und kennzeichnen in vielfältiger Form psychotische Zustände. Eingeschlossene Bergleute, Gefangene, Schiffbrüchige, verirrte Polarforscher sind prominente Beispiele für halluzinatorische Wahrnehmungen in lebensbedrohlichen und freiheitsberaubenden, aber auch reizarmen 11 Walter Morgenthaler, Über Zeichnungen von Gesichtshalluzinationen, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 45, 1919, S. 19– 29, Tafel III. Der Zeichner hatte eine gute Ausbildung und war vor seiner Internierung Ingenieur. Ich spüre in seiner Zeichnung und den überlieferten Kommentaren ein eigenes, wissenschaftlich zu nennendes Interesse an seiner Augenerscheinung. 12 Akustische Halluzinationen bleiben hier außer Acht.

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Visio – Vision – Visionsbild Situationen. Zu den lebensbedrohlichen Situationen, auf die das Cortex-Körpersystem mit Halluzinationen reagiert, können auch schwere Krankheiten oder postoperative Phasen gehören. Ein Künstler, der nach zeitgenössischen Berichten unter psychischer Verwirrung mit Gesichtserscheinungen gelitten hat, war der bedeutende flämische Maler Hugo van der Goes. Möglicherweise ist sein „Marientod“ (Brügge ca. 1480) der Versuch, in die biblische Szene derartige Erfahrungen einfließen zu lassen.13 Von manchen Künstlern der frühen Moderne sind Selbstzeugnisse erhalten, die auf besondere Bewusstseinszustände hindeuten, sondern auch von Hermann Obrist (1862–1927), der mittels zeichnerischer, textiler und plastischer Nachschöpfungen seiner Halluzinationen zwischen 1895 und 1900 frühe abstrakte Werke entwarf.14 Komplizierter ist die Beurteilung der Bildsysteme von Psychiatrisierten. Vieles spricht dafür, dass das ungeheure künstlerische Werk von Adolf Wölfli (ebenfalls Patient Morgenthalers in der Waldau bei Bern) als die Nachschöpfung eines märchenhaften, visionären Kindheitsentwurfs zu gelten hat, den sein auf Trauma- und Schuldkompensation angelegtes System ständig halluzinatorisch aktualisierte und erweiterte.15 Als weiterwirkende Umsetzung einer großen Halluzination ist das in einer psychiatrischen Anstalt entstandene Werk des August Natterer nachweisbar. Prinzhorn überliefert dessen Bericht, wonach ihm 1907 in den Wolken tausende rasch wechselnder Bilder wie auf einer Kinoleinwand erschienen seien. Er erblickte dabei große Geheimnisse, vor allem die alles beherrschende Hexe, welche die Welt geschaffen habe.16 13 Peter Cornelius Claussen, Unsichtbares sichtbar machen. Der Marientod des Hugo van der Goes und Raffaels Transfiguration, in: Die Wahrheit der Begegnung. Anthropologische Perspektiven der Neurologie, Festschrift für Dieter Janz, hg. von R.-M.E. Jacobi, P.C. Claussen, P. Wolf, Würzburg 2001, S. 491–512. 14 Bernd Apke, „Gehe hin und bilde dieses!“ Die Bedeutung der Visionen Hermann Obrists für sein künstlerisches Werk, in: Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900–1915. Ausstellungskatalog Schirn, Frankfurt 1995, S. 688–693. 15 Aus der vielfältigen Literatur über Wölfli nenne ich hier nur Morgenthaler, Walter, Ein Geisteskranker als Künstler, Bern 1921; Hunger, Bettina, Kohlenbach Michael u.a. (Hrsg.). Porträt eines produktiven Unfalls. Adolf Wölfli, Basel/Frankfurt am Main 1993; Adolf-Wölfli-Stiftung, Kunstmuseum Bern (Hrsg.), Adolf Wölfli. Schreiber, Dichter, Zeichner, Componist. Basel 1996. 16 Wie Bettina Brand-Claussen und Ferenc Jádi gezeigt haben, sind viele Werke des ehemaligen Elektrotechnikers Versuche, der Vision von der Welthexe mit einer quasi technischen Exaktheit im Bilde beizukommen.

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Peter Cornelius Claussen Näher eingehen möchte ich auf einen Künstler, der auf eine halluzinatorische Phase mit einem lebensbegleitenden zeichnerischen Werk reagierte: Théophile Bra. Dieser wenig bekannte französische Bildhauer (1797–1863) war in Paris an Monumentalbauten wie dem Arc de Triomphe beteiligt und hat einige Denkmäler in den nördlichen Departements ausgeführt. Er war nicht mehr als eine Fußnote der Kunstgeschichte, bis man vor etwa zwanzig Jahren im Archiv seiner Geburtsstadt Douai einen umfangreichen Nachlass, 63 Alben und mehrere Kisten Manuskripte und Zeichnungen fand. Jacques de Caso hat Teile davon gesichtet und in New York und Paris Ausstellungen organisiert.17 Was zu sehen war (Abb. 2), kann als Sensation bezeichnet werden. Die Besucher trauten ihren Augen kaum, weil hier jemand als Zeitgenosse von Delacroix abstrakte Bilder der Mitte des 20. Jahrhunderts zu antizipieren schien. Der Klassizist beschickte die Salons mit mäßigem Erfolg, erhielt aber in stetiger Folge öffentliche Aufträge, die erst im letzten Lebensjahrzehnt abebbten. Soweit seine offizielle Seite. Einschneidend war eine psychische Krise, die 1826 einsetzte und von Halluzinationen begleitet war. Bra hat dies als wichtigstes Ereignis in seinem Leben empfunden, als eine Art Erweckung und Berufung, aber auch als Strafe. Mehrere autobiographische Schriften gibt er über das Ereignis im Selbstverlag heraus; unter Pariser Intellektuellen und religiösen Schwärmern wird er herumgereicht. Er hatte während der halluzinatorischen Phase 1826 Notate angefertigt, schriftlich, teils aber mit Diagrammen, Zeichnungen oder auch Gouache-Illustrationen (Abb. 2). Dieses Oeuvre hielt der sonst nicht öffentlichkeitsscheue Mann geheim. Und das Erstaunlichste: Er führte die Notate, von denen er wohl fürchtete, dass sie ihn bei Bekanntwerden mit der katholischen Kirche in Konflikt bringen könnten, nach seiner Genesung jahrzehntelang bis mindestens 1855 unbeirrt weiter. Riesige kosmologische Weltentwürfe, immer Fragment und vielfach begleitet von symbolbeladenen Federzeichnungen von verstörender Schönheit (Abb. 2), die manchmal verraten, dass er noch einer Epoche angehört, an deren Beginn Füssli und Blake standen. Es ist so, als habe der ansonsten akademisch/klassizistisch arbeitende Künstler ein neues Medium entdeckt, in dem er auszudrücken ver-

Siehe die betreffenden Beiträge in: August Natterer. Die Beweiskraft der Bilder. Leben und Werk – Deutungen, hg. von Inge Jádi und Bettina Brand-Claussen, Heidelberg 2001. 17 The Drawing Speaks, Théophile Bra: Works 1826–1855, ed. by Jacques de Caso, Ausstellungskatalog: The Menil Collection, New York 1997.

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Visio – Vision – Visionsbild mochte, was in der offiziellen Kunstsprache nicht formuliert werden durfte. In unserem Zusammenhang ist es wichtig, dass Bra auf seine halluzinatorische Phase in einer Weise reagiert, die nahelegt, er habe geglaubt, mit seinen Halluzinationen eine Botschaft zu bekommen, also auserwählt zu sein. Seine Schriften tragen deutlich missionarische Züge. Seiner Kunst, der Bildhauerei, konnte er derartiges offenbar nicht anvertrauen. Ein Moderner des 20. Jahrhunderts hätte als Künstler diese Erfahrungen vermutlich in seiner Kunst verarbeitet. Das geheime Oeuvre des Theophile Bra könnte man insofern als eine Art Kryptomoderne bezeichnen. Die Frage, warum er weiter im Gestus des Visionärs aber ohne Publikum wie in einer lebenslangen spiritistischen Sitzung mit sich selbst dem Zustand der Gnade seiner Visionen nacharbeitete, scheint mir brennend interessant. In einer vorübergehenden Psychose hat er einen lebensbestimmenden Auftrag bekommen, für den er die Ausdrucksmittel künstlerisch neu erfinden musste. 3. Oneiroid. Vom Wahn der Psychose unterscheidet sich das Oneiroid durch seinen ephemeren Charakter. Dieser sich von der Realität abkoppelnde Zustand lässt die Betroffenen in eigene kopfgemachte Universen abdriften, in denen sie sich selbstbewusst bewegen und die sie auch nach der Rückkehr in die „normale“ Realität nicht von dieser unterscheiden können.18 Diese oneirischen (=traumartigen) Erlebnisse sind von Träumen durch die viel stärkere Intensität und durch die Tatsache unterschieden, dass sie übergenau im Gedächtnis bewahrt werden. Derartige Zustände treten bei schweren Krankheiten und länger anhaltenden lebensbedrohlichen Situationen auf, häufig auch nach schweren Operationen. Solche Kopfreisen sind mit dem geläufigen Bild der Visionen schon allein durch die literarische Gattung der Jenseitsvisionen verbunden.19 An dieser Stelle möchte ich Joseph Beuys einführen, den die Älteren unter uns noch in seiner Mission erlebt haben, die Menschen durch Kunst zu verändern und zu verbessern. Sein eigener zentraler Mythos hat viele seiner Auftritte und Aktionen, sowie auch sein Outfit mit Filzhut und Fliegerweste geprägt: Wenn er 18 Schmidt-Degenhard, Michael, Die oneiroide Erlebnisform – Zu Problemgeschichte und Psychopathologie des Erlebens fiktiver Wirklichkeiten, Berlin/Heidelberg 1992. Immer noch lesenswert: Mayer-Gross, Wilhelm, Selbstschilderungen der Verwirrtheit. Die oneiroide Erlebnisform, Berlin 1924. 19 Vgl. die entsprechenden Abschnitte bei Dinzelbacher, Peter, Himmel, Hölle, Heilige. Visionen und Kunst im Mittelalter, Darmstadt 2002.

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Peter Cornelius Claussen mit Fett, Filzhüllen, Schlitten, Wärmematerialien und Kalorienspeichern umging, so waren das für ihn aufgeladene Zeichen seines eigenen Überlebens (Abb. 3). Beuys hat die Geschichte oft erzählt. Er war im 2. Weltkrieg Bordfunker in einem Sturzkampfbomber (Stuka). Als das Flugzeug am 16.3. 1944 auf der Krim abstürzte, sei er schwerverletzt von Tataren gefunden worden.20 Nur ihrer Fürsorge verdanke er sein Leben. Sie hätten ihn in Filz gewickelt und auf Schlitten in ihr Lager gebracht. Dort habe man seine Wunden mit Fett gesalbt und geheilt. Das Wunder seiner Rettung habe er den natürlichen Heilmethoden und den einfachen Grundsubstanzen zu verdanken, vor allem den natürlichen Menschen Eurasiens. Alle haben wir diese Geschichte geglaubt. Vermutlich auch Beuys selbst. Erst nach seinem Tod ist deutlich geworden, dass daran etwas nicht stimmen kann. Sein Soldbuch dokumentiert, dass er schon einen Tag nach dem tatsächlich nachgewiesenen Absturz im deutschen Militärlazarett lag, das er 21 erst nach drei Wochen verlassen konnte. Die Rettung und Heilung durch Tataren und Schamanen ist also ein Mythos. Trotzdem möchte ich Beuys vor schnellen Entlarvungsurteilen in Schutz nehmen. Es steht für mich außer Frage, dass Beuys seiner Erinnerung getraut hat, dass sie für ihn Realität war. Das ist typisch für ein Oneiroid. Meine durch eigene Erfahrung gestützte These lautet: Der verletzt vom Himmel Gefallene hat seine pflegerische Lazarettumgebung während einer oneiroiden Phase in eine 20

So wiedergegeben z.B. in der Biographie von Götz Adriani u.a., Joseph Beuys. Leben und Werk, Köln 1981, S. 23: „Tataren entdeckten Beuys in einer völligen Einöde oben am Flaschenhals der Krim in den Trümmern der JU 87 und pflegen den meist Bewußtlosen etwa acht Tage, bis ein deutsches Suchkommando die Überführung in ein Militärlazarett veranlasst.“ Seltsamerweise wird das illustriert mit einem Foto, das den Bruchpiloten Beuys ganz gesund neben einem notgelandeten Stuka zeigt. 21 Das ist bisher in der vielstimmigen Beuys-Literatur kaum thematisiert. Die wichtigsten und zuverlässigsten Informationen gibt der Lexikonartikel von Franz-Joachim Verspohl, in: AKL (Allgemeines Künstlerlexikon) Bd. 10, München/Leipzig 1995, S. 295–306, 295. Ich verdanke FranzJoachim Verspohl auch den Hinweis auf einen eher poetischen als dokumentarischen Film, den Norbert Hinterberger u.a. am Absturzort gedreht haben. Er wurde als Begleitprogramm der Berliner Ausstellung „Berlin-Moskau/Moskau-Berlin 1950–2000“ gezeigt. Im Film berichten drei ältere Russen, die den Absturz miterlebt haben wollen, wie sie als Kinder zu dem Wrack gelaufen seien. Den Pilot fanden sie tot. Beuys aber sei aus dem Flugzeug geklettert und hätte ihnen zwei Suppendosen geschenkt. Nur wenig später trafen die deutschen Sanitäter ein.

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Visio – Vision – Visionsbild kopfgemachte, von Sehnsucht nach Ursprünglichkeit geprägte Gegenwelt ("eurasische" Krimtataren) umgedeutet. Das Pflegepersonal, der Transport auf Bahren, das Pflegen und Salben der Wunden, die Verbände und Wolldecken des Lazaretts – alles ist Teil dieses Systems. Dabei ist zu berücksichtigen, dass er sich schon als junger Mann vor dem Krieg in die Welt russischer Steppenvölker eingelesen hatte. Das imaginierte Geschehen wurde Teil seines Auftrags als Künstler und damit auch Teil der Selbstmythisierung. Abb. 1: Patientenzeichnung, entstanden in der Psychiatrischen Anstalt Waldau bei Bern. Als mögliches Phänomen einer Migräne-Aura

Quelle: veröffentlicht von Ernst Morgenthaler 1919

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Peter Cornelius Claussen Abb. 2: Theophile Bra, Federzeichnung 9. November 1826.

Quelle: Douai, Bibliothèque municipale, Ms. 1674, carton 1 (Kat. Bras, fig. 8)

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Visio – Vision – Visionsbild Abb. 3: Joseph Beuys, Rudel (1979). New York, Guggenheim Museum

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Peter Cornelius Claussen Abb. 4: Liber Divinorum Operis der Hildegard von Bingen, 5. Vision, Lucca

Quelle: Bibl. Governativa, ms. 1942, fol. 88v

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Visio – Vision – Visionsbild Abb. 5: „Liber Scivias“ der Hildegard von Bingen (Kopie). Autorenbild. Ehemals Wiesbaden,

Quelle: Hessische Landesbibliothek, Cod. 1, fol. 1

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Peter Cornelius Claussen Abb. 6: „Liber Scivias“ der Hildegard von Bingen (Kopie). „Makrokosmos“.Ehemals Wiesbaden

Quelle: Hessische Landesbibliothek, Cod. 1, fol. 14 (Visio I, 3)

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Visio – Vision – Visionsbild Abb. 7: „Liber Scivias“ der Hildegard von Bingen (Kopie). „Erschaffung der Welt, Sündenfall und Erlösung“. Ehemals Wiesbaden

Quelle: Hessische Landesbibliothek, Cod. 1, fol. 41v

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Peter Cornelius Claussen Abb. 8: „Liber Scivias“ der Hildegard von Bingen (Kopie). „Das Gebäude des Heils“. Ehemals Wiesbaden,

Quelle: Hessische Landesbibliothek, Cod. 1, fol. 66 (Visio III, 2)

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Visio – Vision – Visionsbild Abb. 9: „Liber Scivias“ der Hildegard von Bingen (Kopie). „Die Säule des Wortes Gottes“. Ehemals Wiesbaden,

Quelle: Hessische Landesbibliothek, Cod. 1, fol. 145v (Visio III, 4)

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Peter Cornelius Claussen Abb. 10: „Liber Scivias" der Hildegard von Bingen (Kopie). „Der Fall des Menschen“. Ehemals Wiesbaden,

Quelle: Hessische Landesbibliothek, Cod. 1, fol. 4 (Visio I, 2)

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Visio – Vision – Visionsbild Abb. 11: „Liber Scivias“ der Hildegard von Bingen (Kopie). „Der Leuchtende“. Ehemals Wiesbaden,

Quelle: Hessische Landesbibliothek, Cod. 1, fol. 2r (Visio I, 1)

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Peter Cornelius Claussen Abb. 12: „Liber Scivias“ der Hildegard von Bingen. Reproduktion nach dem Original (Rhein. Bildarchiv, Köln) „Der mystische Leib“. Ehemals Wiesbaden

Quelle: Hessische Landesbibliothek, Cod. 1, fol. 66r (Visio II, 5)

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Visio – Vision – Visionsbild

Die Miniaturen der Visionen Hildegards von Bingen Die Möglichkeiten und methodischen Grenzen, die mit dem Komplex der bildlichen Nachschöpfung innerer Bilder verbunden sind, lassen sich nach einer Periode intensiver Forschung vielleicht am Deutlichsten an der Visionsüberlieferung (Abb. 6, 7, 4) Hildegards von Bingen (1098–1179) zeigen, deren Neubeachtung in der Kunstgeschichte durch das wegweisende Buch Clausbergs (Kosmische Visionen) eingeleitet wurde.22 Obwohl seit 1945 verschollen und farbig nur noch durch eine buchmalerische Kopie erschließbar,23 sind die Miniaturen des Rupertsberger Codex „Scivias“ (= Wisse die Wege) diejenigen, die dem Wirken Hildegards am nächsten sind. Deshalb dürfen Sie die größte Authentizität beanspruchen. Im Autorenbild des Liber Scivias (Abb. 5) sehen wir Hildegard als inspirierte Seherin, die Stirn von einem Flammenvorhang verdeckt. Der Blick ist leer, ohne Pupillen, wohl um das innere Sehen bei offenen Augen anzudeuten. Sie hält Schreibtafeln und einen dicken Griffel für ihre Notate in der Hand, während Probst Volmar als Zeuge und Schreiber daneben sitzt und den Kopf neugierig in den Inspirationsraum streckt. Hildegards drei Hauptbücher geben Gesichte wieder, welche sie während ihres langen Lebens immer wieder bei wachem Bewusstsein überkamen. Als Texte sind sie von der gelehrten Äbtissin jeweils in großer Konsequenz so strukturiert worden, dass am Anfang eines jeden Kapitels unter der Überschrift „Visio“ die reine, unkommentierte Beschreibung dessen steht, was sich vor ihrem inneren Auge an Formen und Farben in ständiger Veränderung abgespielt hat. Das Geschilderte bleibt dabei zunächst rätselhaft. Anschließend gibt ihr in einem zweiten Teil, der Audatio, eine Stimme vom Himmel Aufklärung darüber, was sie gesehen hat. Das Gesehene wird durch die göttliche Belehrung mit Sinn erfüllt. In einem dritten Teil fügt sie ihre eigenen, oft recht aus-

22 Karl Clausberg, Kosmische Visionen. Mystische Weltbilder von Hildegard von Bingen bis heute, Köln 1980; zuvor schon Clausberg, Karl, Mittelalterliche Weltanschauung im Bild, z.B. die Visionen der Hildegard von Bingen, oder: Mikrokosmos – Makrokosmos reconsidered und auf den neuesten (Ver-)Stand gebracht, in: Bauwerk und Bildwerk im Mittelalter, Giessen 1981, S. 237–258. 23 Vom Original gibt es nur einen Satz von Schwarz-Weiß Fotos im Rheinischen Bildarchiv, Köln.

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Peter Cornelius Claussen giebigen theologischen Kommentare an. Letztere gehorcht weitgehend den zeitüblichen Regeln der Predigt und Didaktik. Die prima materia bleibt also auch im Text das Bild. Es trägt die verhüllte, erläuterungsbedürftige Offenbarung. Das innere Bild ist der letztlich unangreifbare Grund, von dem aus die Prophetin ihre Sicherheit und ihre Sendung gewinnt. Auch wenn es niemals Illustrationsversuche gegeben hätte, ist diese besondere Poetologie der Visionstexte Hildegards ein Phänomen, das nicht nur Text-, sondern auch Bild- und Kunstwissenschaften angeht. Da der Hildegard-Boom der letzten Jahrzehnte sehr stark von der optischen Präsenz dieser Illustrationen mitgetragen wurde, ist es heilsam, sich klarzumachen, dass die Hildegard-Rezeption seit der Renaissance bis ins frühe 20. Jahrhundert allein über die Texte erfolgte. Von den zehn erhaltenen Handschriften des Liber Scivias wurden nur zwei illustriert, von den vier Handschriften des Liber divinorum operum nur eine einzige (Abb. 4).24 Die Bilder von Hildegards Visionen sind also keineswegs selbstverständlich, sondern erklärungsbedürftige Ausnahmen. Ihre besondere Prominenz haben sie vor allem deshalb gewonnen, weil die Miniaturen des Rupertsberger Codex (seit dem Verschwinden des Originals 1945 vor allem durch eine Kopie überliefert) als authentisches Selbstzeugnis Hildegards, vielfach als eigenhändiges Werk der Visionärin galten. Das Axiom der Autorschaft Hildegards an den Miniaturen des Liber Scivias ist spätestens seit den Untersuchungen von Keiko Suzuki und besonders durch die von Lieselot25 te Saurma-Jeltsch in Frage gestellt. Keiko Suzuki betont das Paradox, das mit der Übertragung eines Visionserlebens in Worte einhergeht, sieht aber zugleich richtig, dass die Rückübersetzung der Worte in ein statisches Bild noch viel größere Schwierigkeiten 26 mit sich bringt. Der drohenden Selbstauflösung der Vision im

24 Von den sechs erhaltenen Handschriften des Liber vitae meritorum weist keine Illustrationen auf. Siehe Christel Meier, Hildegard von Bingen, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Aufl. III, Sp. 1257–1280, 1264f. 25 Keiko Suzuki, Bildgewordene Visionen oder Visionserzählungen. Vergleichende Studie über die Visionsdarstellungen in der Rupertsberger „Scivias“ Handschrift und im Luccheser „Liber divinorum operum“-Codex der Hildegard von Bingen (Neue Berner Schriften zur Kunst 5), Bern/ Berlin/ NY 1998. Liselotte E. Saurma-Jeltsch, Die Miniaturen im „Liber Scivias“ der Hildegard von Bingen. Die Wucht der Visionen und die Ordnung der Bilder, Wiesbaden 1998. 26 Suzuki 1998, S. 35. Ausführlich auch dies., Zum Strukturproblem in den Visionsdarstellungen der Rupertsberger „Scivias“-Handschrift, in: Sacris

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Visio – Vision – Visionsbild Bild könne nur mit künstlerischen Mitteln entgegengewirkt werden. Entscheidend sei, inwieweit „der Maler“ sich dieser Paradoxie bewusst sei. Suzuki schließt die Möglichkeit völlig aus, dass Hildegard ihre Visionen unmittelbar zeichnete oder später „zur bild27 lichen Wiedergabe“ brachte". Was Hildegards Mitwirkung an der Bebilderung des Rupertsberger Liber Scivias betrifft, so ist ihre Argumentation kompliziert und nicht frei von Widersprüchen. Ein Großteil der Miniaturen sei nach 1168 bis weit in die 70er Jahre unter ihrer Aufsicht entstanden. Dennoch steht für Suzuki eine künstlerische Urheber28 schaft Hildegards „außer Betracht“. Sie beschränkt in einer etwas rigiden Polarität Hildegards Interesse an den Bildern und ihre Einwirkungsmöglichkeit ausschließlich aufs Inhaltliche; das Formale und Künstlerische sei dagegen ganz Sache der Maler gewesen. Aus der auch formalen Andersartigkeit und stärkeren Konventionalität der letzten drei Miniaturen schließt sie dann aber, dass Hildegard deren Ausführung nicht mehr beeinflussen konnte, entweder weil sie schon zu alt gewesen sei oder diese Miniaturen erst nach 1179, nach Hildegards Tod, entstanden seien.29

Erudiri 35, 1995, S. 221–291. Die wichtigen Überlegungen über den Abstraktionsprozess von mittelalterlichen Lehrbildern und ihre Tradition, die Christel Meier, Malerei des Unsichtbaren. Über den Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Bildstruktur im Mittelalter, in: Text und Bild, Bild und Text. DFG Symposion 1988, hg. von W. Harms (Germanistische Symposien, Berichtsbände 11), Stuttgart 1990, S. 35–65 angestellt hat, sind weder von Suzuki noch von Saurma-Jeltsch beachtet worden. Sie spielen allerdings auch in meiner (anderen Fragen folgenden) Argumentation keine Rolle. 27 Suzuki 1998, S. 273f. Sie zielt in diesem Punkt gegen Madeline H. Caviness, Gender Symbolism and Text Image Relationship: Hildegard von Bingen's Scivias, in: Translation Theory and Practice in the Middle Ages, ed. by J. Beer, Kalamazoo 1997, S. 71–111, 73, die davon ausgeht, dass sich Hildegard in der Zeit der Visionen auch zeichnerische Notate machte, die sie mit dem Beginn der Arbeiten am Text Anfang der 40er Jahre überarbeitete. Später habe sie dann die Ausführung der Miniaturen beaufsichtigt. Ausführlicher Madeline H. Caviness, Hildegard as Designer of the Illustrations of Her Works, in: Hildegard of Bingen. The Context of her Thought and Art, ed. by Charles Burnett, Peter Dronke (Warburg Institute Colloquia 4), London 1998, S. 29–42. 28 Suzuki 1998, S. 275. 29 Suzuki 1998, S. 264. Einige Motive dieser letzten Miniaturen sind den Visionstexten des in den 70er Jahren entstandenen Liber divinorum operum entnommen.

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Peter Cornelius Claussen Suzuki relativiert den Authentizitätsanspruch erheblich, den man gewöhnlich mit einer Einwirkung der Visionärin verbindet. Hildegard habe sich nach 25 Jahren kaum an alle Einzelheiten ihrer früheren Visionen erinnern können, zumal die jüngere Visionsserie, die zum Liber divinorum operum (geschrieben 1173/74) führte, eine derartige Rückblende erschwert habe. Jede Einwirkung auf die Maler hätte deshalb von ihrem eigenen Visionstext ausgehen müssen.30 Das schließe gewisse inhaltliche Abweichungen vom Text nicht aus. Wenn Christel Meier argumentiert hatte, diese Abweichungen sprächen nicht für eine unmittelbare Einflussnahme Hildegards, sehen Suzuki wie zuvor Schomer gerade 31 in solchen Freiheiten ein Argument für ihre Mitwirkung. Anders im Formalen. Hier konstruiert Suzuki ein gegenläufiges Argument. Da sich Hildegard an ihren Text halten musste, seien Eigenheiten wie die häufigen Asymmetrien in den Bilderfindungen (z.B. Abb. 7), die im Text keinen Rückhalt fänden, nicht auf ihre Einsprache zurückzuführen, sondern allein der Kreativität des Malers zuzuschreiben.32 In diesem Sinne schildert sie eine strikte Rollenverteilung, die dann aber überraschenderweise doch eine Zusammenarbeit bedeutet: „Ich glaube, Hildegard war sich bewusst, dass die Miniatur nie mit dem geschauten Bild identisch sein konnte, und wünschte, dass die Miniatur in ihrer Art und Weise die ‚unsagbare‘ visionäre Erscheinung vergegenwärtige. Das Mittel dafür, die künstlerische Kreativität und Spontaneität, muss aber vom 33 Maler selber ausgegangen sein.“

In dem „Unsagbaren“ steckt, dass hier den Miniaturen und dem Bildkünstler eine Zusatzleistung zugetraut wird, die bei der Um30 Suzuki 1998, S. 274f. 31 Meier 1979, S. 160; auch dies., Calcare caput draconis. Prophetische Bildkonfigurationen in Visionstext und Illustrationen: Zur Vision Scivias II 7, in: Hildegard von Bingen. Prophetin durch die Zeiten. Zum 900. Geburtstag, hg. von E. Forster OSB, Freiburg/Basel/Wien 1997, S. 359–405, 385. Suzuki 1998, S. 271, bes. Anm. 173. Josef Schomer, Die Illustrationen zu den Visionen der hl. Hildegard als künstlerische Neuschöpfung. Das Verhältnis der Illustrationen zueinander und zum Texte, Bonn 1937. 32 Suzuki 1998, S. 275. „...sind die asymmetrischen Komponenten ... nicht auf Hildegards visuelle Natur zurückzuführen, denn diese Komponenten lassen sich vom Visionstext des Sc (Liber Scivias) nicht herleiten.“ 33 Suzuki 1998, S. 276. Ich muss zugeben, dass mir der Begriff Spontaneität in diesem Zusammenhang und bei einem derartigen Werk der Buchmalerei nicht geheuer ist. Im Blick auf die Umsetzung der Visionen ist er sogar irreführend.

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Visio – Vision – Visionsbild setzung der Vision in Sprache verloren gehen musste. Unausgesprochen wird Hildegard damit zur treibenden Kraft eines Anspruchs, das Bild einem uns und den Malern unbekannten Visionseindrucks anzunähern. Für Suzuki sind die Miniaturen der Rupertsberger Handschrift dann auch „bildgewordene Visionen“, im Gegensatz zu der Bebilderung des Codex in Lucca (Abb. 4), die sie als „Visionserzählungen“ bezeichnet.34 Wenn Suzuki Hildegard in ihrer möglichen künstlerischen Einflussnahme auf ein Minimum reduziert und eigentlich nur als Anspruchsinstanz gelten lässt, so verlagert sie ein gerütteltes Maß an Erklärungsbedarf auf einen kongenialen Anonymus, der als kreativer Künstler die Wirkung des Mediums Vision virtuell im Bild habe restituieren können. Suzukis Argumentation kann nicht deutlich machen, warum Hildegard keinerlei Einflussmöglichkeit im Formalen und Künstlerischen gestattet sein soll. Das wirkt wie ein Gegenaxiom zu der bisherigen Annahme, Hildegard sei für die Miniaturen künstlerisch verantwortlich, auch wenn sie selbst nicht notwendigerweise den Pinsel geführt hätte. Die Text-Bild Analyse, die Lieselotte Saurma-Jeltsch mit einer aufschlussreicher Sammlung möglicher Bildmuster und -motive verbindet, kann bis zu einem gewissen Grad die Zeitgebundenheit der bildlichen Umsetzung der Visionen im Rupertsberger Codex deutlich machen, nicht aber die Einzigartigkeit und Widerspenstigkeit der malerischen Mittel in einen „Normalfall“ verwandeln. Hier soll nur von ihrer These zur Datierung die Rede sein. Ausgangspunkt ist die perfekte Organisation von Schrift und Bild, die nach Saurma-Jeltsch auf ein professionell organisiertes Skripto35 rium und Buchmalereiatelier hinweist. Das Buch ist auf dem Rupertsberg entstanden, denn Marianna Schrader und Adelgundis Führkötter haben zwei der „Schreiberhände“ in einer Güterliste und im Nekrolog des Klosters wiedergefunden.36 Die Güterliste

34 Suzuki 1998, S. 286. 35 Saurma-Jeltsch 1998, S. 6; auch dies., Die Rupertsberger „Scivias“Handschrift. Überlegungen zu ihrer Entstehung, in: Hildegard von Bingen. Prophetin durch die Zeiten. Zum 900. Geburtstag, hg. von E. Forster OSB, Freiburg/Basel/Wien 1997, S. 340–358, 345–348. Insgesamt bedeutet das die Preisgabe der Vorstellung, die Nonnen vom Rupertsberg hätten das Buch ganz oder teilweise selbst hergestellt. 36 Marianna Schrader, Adelgundis Führkötter, Die Echtheit des Schrifttums der heiligen Hildegard von Bingen. Quellenkritische Untersuchungen, Köln 1956, S. 26–41. Zum Skriptorium auf dem Rupertsberg Albert Derolez, The Manuscript Transmission of Hildegard von Bingen's Writings: The State of the Problem, in: Hildegard of Bingen. The Context of her

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Peter Cornelius Claussen ist gegen 1195 beendet worden, woraus Saurma-Jeltsch einen indirekten Hinweis auf eine Entstehung des Codex nach Hildegards Tod (1179) ableitet. Bislang war Baillets Datierung 1160– 1180 allgemein akzeptiert und noch durch Führkötters Beobachtung gestützt worden, die Korrektur des Alters beim Befehl zur Niederschrift in der „protestificatio“ könne nur durch die Autorin selbst erfolgt sein.37 Gerade dieses Argument dreht SaurmaJeltsch um. Ein solcher Fehler hätte sich bei einer Abfassung der Handschrift unter Hildegards Augen erst gar nicht einschleichen 38 können. Da von der Paläographie her eine Entstehung noch zu Hildegards Lebzeiten möglich oder wahrscheinlich ist und Schrift und Bilder in engem zeitlichen Zusammenhang entstanden sind, muss Saurma-Jeltsch ihre Hauptargumente für eine Datierung 39 nach 1179 aus der Stilkritik der Malerei gewinnen. Überzeugende Vergleiche aus der mittelrheinischen oder kölnischen Region, in der die Maler vermutet werden, gibt es aber nicht. Die verwandteste Miniatur findet sich in einer um 1160 entstandenen Handschrift (Abb. 3) der Visionen Elisabeths von Schönau (gest.1164), in vieler Hinsicht eine Vorstufe der Ausmalung im Rupertsberger Codex.40 Doch sieht Saurma-Jeltsch auch Züge

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Thought and Art, ed. by Charles Burnett, Peter Dronke (Warburg Institute Colloquia 4), London 1998, S. 17–28, 27. Louis Baillet, Les miniatures du „Scivias“ de Sainte Hildegarde, in: Fondation Eugène Piot. Monuments et mémoires 19, 1911, S. 49–149. Führkötter 1978, Bd. 1, S. XIX. Saurma-Jeltsch 1998, S. 5. Die Schriftbänder in einigen der Miniaturen sind von einer Schreiberhand geschrieben, die auch im Text zu finden ist. Anne L. Clark, Elisabeth of Schönau: A Twelfth-Century Visionary, Philadelphia 1992; knapp Joachim M. Plotzek, Zur rheinischen Buchmalerei im 12. Jahrhundert, in: Rhein und Maas, Köln 1972, II, S. 305–332, 329f. Elisabeth von Schönau stand in Korrespondenz mit Hildegard und ist in ihren späten Visionen durch Hildegards Liber Scivias beeindruckt. Wenn man die räumliche Nähe zwischen den Klöstern Hildegards und Kloster Schönau (bei St. Goarshausen) und die ähnliche soziale Stellung der Seherinnen sowie die Parallelen ihrer „Krankenvita“ berücksichtigt, erscheint es aussichtsreich solchen parallelen Bedingungen auch im Hinblick auf die Bebilderung der Visionstexte nachzugehen. Dass Hildegard von dem Versuch, die Visionen der Elisabeth zu bebildern, Kenntnis hatte, halte ich für sicher. Es wäre interessant zu wissen, ob die Handschrift aus Schönau noch zu Lebzeiten Elisabeths oder nach 1164 als eine Art Gedenkschrift entstanden ist. Die zweite Frage ist, wo sie entstand? Auch das wäre für die Frage nach dem Rupertsberger Atelier von Bedeutung. Die Handschrift aus Kloster Schönau hat ein ähnliches Schicksal

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Visio – Vision – Visionsbild jüngerer Stilentwicklung, die sie durch Vergleiche mit dem Evangeliar Heinrichs des Löwen (gegen 1188) und mit Motiven des (im 19. Jahrhundert verbrannten) Hortus Deliciarum (ca. 1175–95) verdeutlicht. Ein Nachweis für eine Entstehung nach Hildegards Tod ist das nicht, aber eine bedenkenswerte These. Weniger das stilkritische Instrumentarium als vielmehr der geringe Bestand an vergleichbaren Handschriften lässt eine Entscheidung einfach nicht zu, ob die Handschrift um 1175, wie die übrige jüngere Forschung meint,41 oder zehn Jahre später entstanden ist. Die direkte Autorschaft Hildegards an den Miniaturen vertritt heute eigentlich nur noch Madeline H. Caviness.42 Für die nicht minder merkwürdigen, prächtigeren Miniaturen des Liber divinorum operum in Lucca (vgl. Abb. 4), die vermutlich um 1225–30 im Zuge der von Friedrich II. unterstützten aber vergeblichen Bemühungen entstanden, Hildegard heilig sprechen zu lassen, ist eine direkte Mitwirkung Hildegards schon aus chrono43 logischen Gründen auszuschließen. Die für das Buch „Scivias“ in Hildegards Kloster auf dem Rupertsberg angefertigten Miniaturen (Beispiele Abb, 6, 7) verlassen in bemerkenswerter Weise die Konventionen mittelalterlicher Buchmalerei. Die z.T. gegenständlich nicht fassbaren Formen und Farben wecken Assoziationen verschiedenster Art. So könnte man sich in der Miniatur zu Visio I, 3 (Abb. 6) auf den ersten Blick an einen mikroskopischen Schnitt durch eine Zellstruktur oder an wie der Liber Scivias vom Rupertsberg. Sie lag ebenfalls in der Hessischen Landesbibliothek Wiesbaden und ist wie dieser 1945 in Dresden verschollen. 41 1175–80 datiert Derolez 1998, S. 24; 1170–80 Michael Zöller, Gott weist seinem Volk seine Wege. Die theologische Konzeption des "Liber scivias" der Hildegard von Bingen 1098–1179 (Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie 11), Basel/Tübingen 1997. Auch Suzuki 1998 rechnet mit einem Entstehungszeitraum ab 1168 bis 1180. Hiltgard Keller hatte schon 1933 die Entstehung der Handschrift in den Jahren 1175–1180 angenommen, nämlich in der Zeit, in der Wibert von Gembloux im Kloster wirkte. Hiltgard Keller, Mittelrheinische Buchmalereien in Handschriften aus dem Kreise der Hildgart von Bingen (Diss.), Stuttgart 1933. 42 Caviness 1998. 43 Suzuki 1998, S. 278ff. Sie weist (S. 41, 121–150, 262ff) einleuchtend auf das unterschiedliche Verhältnis der Miniaturen zum Text in den beiden illustrierten Codices. Die Maler des Prachtcodex des Liber divinorum operum in Lucca halten sich möglichst getreu an den Wortlaut der Visio und sorgen für ein klares Bildkonzept. Es ist aber nicht auszuschließen, dass es auch hier ein vermittelndes Medium in Form von Skizzen gegeben hat.

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Peter Cornelius Claussen ein Pantoffeltierchen erinnert fühlen, mikroskopischen Mikrokosmos eben. Die Stimme der Auditio erklärt hingegen, dass es sich um den Makrokosmos handelt, der hier weitab von üblichen Bildkonventionen ins Bild gesetzt ist. Weniger spektakulär, aber besonders bezeichnend für die zugrunde liegende visuelle Struktur erweisen sich Text und Bild der zweiten Vision des dritten Buches (Abb. 8): In einer goldenen Kreisfläche ist ein unregelmäßiges zinnenbewehrtes Mauergeviert auf die Spitze gestellt: Türme, baumartige Auswüchse und rätselhafte Figuren gehen davon in alle Richtungen aus. Dieses Bild des Heilsgebäudes gibt eine Überschau für die nächsten zehn Einzelvisionen. Eine davon (Abb. 9) „Die Säule des Wortes Gottes“, ist im Gesamtbild (Abb. 8) über der linken oberen Mauerschräge zu sehen. Diese Einzelbilder vergrößern jeweils einen Bezirk der zunächst gezeigten Topographie und bereichern ihn mit Einzelheiten. Das Ganze funktioniert meiner Meinung nach nicht er- oder aufzählend, sondern nach visuellen Gesetzen, denen der Text zu folgen hat. Assoziationen zu moderner Bildtechnik stellen sich ein. Suzuki fühlt sich an Film erinnert, Heerlein an photographische Zoomtechnik.44 Ich denke an Möglichkeiten, welche die visuelle Wissenserschließung am Computer-Bildschirm durch Mausklick bietet. Übrigens hat Karl Clausberg in der Analyse der Illustrationen zum Liber Divinorum Operum in Lucca (Abb. 4) schon herausgestellt, dass diese Miniaturenfolge, in der das Einzelbild Teile des vorangehenden Bildes aufgreift und verändert, als Ganzes einen „dynamischen, nicht statischen Charakter“ „gewissermaßen eine kinematographische Form“ annimmt.45 Das scheint mir eine wichtige Parallele und spricht eigentlich dafür, dass auch für diesen Prachtcodex über den Text hinaus in irgendeiner Form ältere Anweisungen oder Vorlagen existiert haben könnten. Das Eintauchen ins Bild, das sich im Liber Scivias jeweils wieder als eigenes Universum entpuppen kann, kennzeichnet den Ablauf vieler innerer Gesichte, nicht nur bei Hildegard. Eine Vorgehensweise, die für die Authentizität der Visionen Hildegards spricht, und, wichtiger noch, für den Versuch einer möglichst getreuen Wiedergabe des Gesehenen im Text und in der Bildsequenz.

44 Suzuki 1998, S. 39; Karin J. Heerlein, Hildegard von Bingen. Erträge des Jubiläumsjahres, in: Kunstchronik 53, 2000, S. 549–560, 560. 45 Clausberg 1980, S. 79

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Visio – Vision – Visionsbild Unabhängig von der Datierungsfrage ist die Idee von SaurmaJeltsch einleuchtend, den illustrierten Codex des Liber Scivias in die schon vor 1179 einsetzenden Bemühungen einzureihen, das Gedächtnis der Prophetin (unter Betonung des benediktinischen 46 Reformaspektes) zu sichern. Allerdings drängt sich die Frage auf: Warum sind nicht auch schon frühere Handschriften ihrer Visionstexte von Bildern begleitet? Gerade wenn man die zeitlich vorangehende Parallele der Elisabeth von Schönau mit einer um 1160 entstandenen Miniatur vor Augen hat, hätten Bilder als Begleitung der Texte doch nahegelegen. Dieser Gedanke weiterverfolgt führt mich zu der These: Hildegard hat bis in ihre letzten Lebensjahre eine adäquate Bebilderung für nicht möglich gehalten und deshalb nicht gewünscht. Das setzt indessen voraus, dass sie zu einem frühen Zeitpunkt ernsthaft mit der Umsetzung in Bilder experimentiert hat. Wenn man annimmt, der Bildercodex sei gegen Ende ihres Lebens (Suzuki) oder nach ihrem Tod (Saurma-Jeltsch) entstanden, liegt der Schluss nahe, dass Hildegard im Vollbesitz ihrer Kräfte von der Unmöglichkeit überzeugt war, ihre Visionen in Bilder zu verwandeln. Um zu einer derartigen Überzeugung zu kommen, wird sie Bildexperimente angestellt haben. Mir erscheint die Annahme durchaus realistisch, dass Hildegard versucht hat, auf Wachstafeln oder anderen Bildträgern ihre Visionen auch zeichnerisch zu fixieren. Sicher scheint mir, dass Hildegard mit ihren Zeichenkünsten und vermutlich mit dem Medium Bild ganz allgemein für diesen Zweck nicht zufrie47 den war. Um die Fiktion weiterzutreiben: Hildegards zeichnerische Notate werden im Kloster ehrfürchtig bewahrt worden sein und im letzten Lebensjahrzehnt der schon zu Lebzeiten Verehrten sowie nach ihrem Tod eine besondere und von Hildegard wohl nicht beabsichtigte Rolle gespielt haben. Vermutlich versuchen die meisten der ausgeführten Miniaturen, solchen zeichnerischen 46 Saurma-Jeltsch 1998, S. 24. Dazu gehört die Abfassung der Vita (seit 1174/75), deren Fertigstellung mit dem Tod Hildegards umso dringlicher wird. Auch der Riesencodex der Opera Omnia vom Rupertsberg ist noch zu Lebzeiten Hildegards entstanden. Siehe Derolez 1998, S. 22f. 47 Der Stapel von drei Wachstafeln, den Hildegard im Autorenbild auf dem linken Knie balanciert, ist als Hinweis auf die drei Bücher gesehen worden, in die sich der Text gliedert (Saurma-Jeltsch 1998, S. 25). Er weist aber deutlich darauf, dass Hildegard ihre Notate zunächst in dieser Form abfasste. Dazu Derolez 1998, S. 17f. Das wird in erster Linie Schriftliches betreffen, könnte aber Schemata und Zeichnungsversuche mit einschließen. Teilweise hat. Caviness 1998, S. 29ff ähnliche Vorschläge gemacht.

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Peter Cornelius Claussen Vorgaben zu folgen. Auf alle Fälle erwecken sie diesen Eindruck. Für eine zumindest indirekte Einwirkung Hildegards sprechen meiner Ansicht nach außer den vielfach traditionslosen Bilderfindungen einige formale Beobachtungen: Das Bildformat. Die Hälfte der Darstellungen (so Abb. 9, 10, 11) besitzt ein ungewöhnlich hochrechteckiges Format, das nicht zuletzt durch die Rahmung Assoziationen zum Format von Wachs- oder anderen Schreibtafeln weckt. Zwar ist das Schreibdiptychon, das Hildegard in der Autorenminiatur (Abb. 5) trägt, rundbogig geschlossen, die übliche Form sind aber hochrechteckige Tafeln. Die Strichführung. Kein Strich in den Miniaturen ist mit dem Lineal oder dem Zirkel gezogen. Wo immer möglich, werden Linien zu fließenden Wellen oder Kurven (Abb. 7, 9, 10, 11). Der Eindruck dieser bewusst schlingernden Freihändigkeit ist der auf Präzision und Systematik zielenden spätromanischen Buchmalerei diametral entgegengesetzt und kann wohl nur als Versuch angesehen werden, das bewegliche Formengefüge erlebter Visionsabläufe anzudeuten, das von festen und geraden Konturen über Gebühr verfestigt worden wäre. Punktierte (gesteppte) Konturen. Perlbänder als Schmuckelement sind in Gewandung, Schmuckelementen und Nimben keine seltene Erscheinung in der Buchmalerei des 12. Jahrhunderts. Damit haben die durch weiße Punktreihen aufgelösten Konturen, die sich in den meisten der Miniaturen des Rupertsberger Codex häufen (Abb. 6, 9, 10, 11), nichts zu tun. Sie kommen niemals im Rahmen, sondern nur in den Bildfeldern vor, also innerhalb der Illusionsebene der Vision. Sie sind nicht Schmuck, sondern vermutlich eher als Versuch anzusehen, den Realitätseindruck zu durchlöchern, wechselndes Licht und Bewegung darzustellen. Damit sind diese punktierten Lichtbänder ein weiteres (wenn auch etwas unbeholfenes) Mittel der Entmaterialisierung. Asymmetrien. Die Formfindung innerhalb des gerahmten Feldes vermeiden in der Regel Symmetrien. Die Asymmetrien (Abb. 7, 10) sind nicht nur dort zu finden, wo Chaos angesagt ist, sondern sind ein durchgehendes Prinzip der Gestaltung.

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Visio – Vision – Visionsbild Farben. Hier geht es nicht um ihren Symbolwert, sondern nur um formale Auffälligkeiten. Der abrupte Wechsel des Farbspektrums von Bild zu Bild wäre zu analysieren, der Wechsel von flimmernden Punktund großzügigen Flächeneffekte. Ebenso die unterschiedlichen Farbtiefen. Die Rolle der großflächig eingesetzten Gold- und Silberfarbe und der braun-schwarz melierten Dunkeltöne (Abb 7, 10). Die Grenzen solcher Fragen sind allerdings eng gezogen, solange das Original verschollen bleibt. Unfertige Miniaturen. Zu erwägen und anhand der Fotos vom Original zu untersuchen wäre, ob in Einzelfällen wie in der Vision des mystischen Leibes (Abb. 12) eine Miniatur deshalb nicht vollendet wurde, weil man Einzelheiten der Vorlage nicht mehr verstand oder, um ein Missverständnis zu vermeiden, nicht abzuändern wagte. Visuelle Argumentation. Hier verweise ich nur darauf, was ich oben zu der Vision des Heilsgebäudes (Abb. 8) und den folgenden zehn Einzelvisionen (Abb. 9) gesagt habe. Wenn das erste Bild dieser Miniaturenfolge (Das Gebäude des Heils, Vision III, 2, Abb. 8) als Übersicht nach Art eines „Stadtplanes“ funktioniert,48 zu dem das hilfesuchende Auge immer wieder zurückkehren kann, so frage ich mich, ob diese Funktion so in gleichem Maße für den bilderlosen Text gelten kann? Ich muss zugeben, dass mich das visuelle Prinzip der Visionserscheinungen als Nur-Leser überfordert, wenn mir die Bilder nicht hilfreich zur Seite stehen. Deshalb habe ich die Vermutung, dass Hildegard den Liber Scivias 1141–51 in dieser Struktur geschrieben hat, als sie noch mit einer Bebilderung rechnete.49

48 Einleuchtend ist der Vergleich mit dem Jerusalemplan in Cambrai (BM, Ms. 466, fol. 1) Saurma-Jeltsch 1998, Abb. 38. 49 Ich begebe mich mit dieser These auf unsicheres Terrain. Ich will auf keinen Fall darüber urteilen, inwieweit Hildegards besondere Poetologie ein gefiltertes und geordnetes Substrat ihrer Visionen oder die Vision so etwas wie die Stichwortgeber zu ihrer seherischen Dichtung ist.

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Peter Cornelius Claussen

Fazit Ganz gleich ob man von einer Entstehung der Miniaturen in den letzten Lebensjahren Hildegards oder in den Jahren nach ihrem Tod ausgeht, ihre Einwirkung ist, so meine These, vorauszusetzen. Aber sie ist vermutlich eine mehrfach gebrochene, die sich einer einfachen Umsetzung ins Bild widersetzt. Ja vielleicht lief diese Einwirkung sogar auf ihr Verbot einer Bebilderung heraus. In diesem Sinne sind die Miniaturen zu sehen als Ergebnis einer Auseinandersetzung mit Hildegards (gegebenenfalls auch posthum wirksamen) hohen Ansprüchen an das Bild. Das macht die Einzigartigkeit und besondere Qualität dieser in ihren Fähigkeiten gewiss nicht überragenden, technisch aber wohl völlig professionellen Buchmalerei aus. Ob die Miniaturen des Rupertsberger Scivias Hildegards Erwartungen an das Bildmedium Vision auch nur annähernd entsprochen hätten, erscheint mir zunehmend fraglich. Die Miniaturen des Liber Scivias sind für Kunsthistoriker nicht zuletzt auch deshalb interessant, weil hier das Medium Bild im Hinblick auf die inneren, selbstgenerierten Bilder problematisiert, ja auf die Probe gestellt wird.50 Die inneren Bilder selbst sind damit aber nicht wirklich zu fassen, zu erklären oder zu kategorisieren. Schon gar nichts halte ich von nachträglichen Diagnosen, die mittelalterliche Visionen in 51 heutige Beurteilungssysteme einspannt. Hildegards Visionen 50 Das ist durchaus im Sinne von Beltings Vorstellungen einer anthropologisch-historischen Bildwissenschaft gemeint. Vgl. Hans Belting, BildAnthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft (Bild und Text, hg. von Gottfried Boehm und Karlheinz Stierle), München 2001. 51 Über Hildegards Krankheit, die besonders im angelsächsischen Bereich als schwere und lang andauernde Form einer Migräne angesehen wird: Barbara Newman, Three-Part Invention: The Vita S. Hildegardis and Mystical Hagiography, in: Hildegard of Bingen. The Context of her Thought and Art, ed. by Charles Burnett, Peter Dronke (Warburg Institute Colloquia 4), London 1998, S. 189–210, S. 197ff. Diese „Diagnose” wurde zuerst aufgestellt von Charles Singer, The scientific Views and Visions of Saint Hildegard, in: Studies in the History and Method of Science 1, 1917, S. 1–55 und von Oliver Sacks, Migräne, Hamburg 1994 (1992), S. 445–448 aufgegriffen. Obwohl man eine gewisse Ähnlichkeit mit der Zeichnung von Morgenthalers Patient in der Anstalt Waldau sehen kann, sind Hildegards Visionen mit solchen Hinweisen nicht wirklich erklärt. Da sie die Visionsbilder als dynamisch sich entwickelnde Formen beschreibt, passen die recht starren Figurationen der Migräne-Aura nicht ins Bild.

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Visio – Vision – Visionsbild bleiben außerhalb ihrer Text- und Abbildexistenz wissenschaftlich eine terra incognita. Wenn man sich bildlichen Zeugnissen neuerer Zeit, die, bewusst oder nicht bewusst, visionäre Erlebnisse spiegeln, mit einer primär diagnostischen Motivation nähert, scheint mir das ebenfalls problematisch. Wichtiger für Bild- und Kunstwissenschaftler ist es, auf die künstlerische Umsetzung zu achten, die man allerdings kaum adäquat als Differenz zur Vision selbst darstellen kann, sondern nur als Differenz zum Erwarteten.

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Selbst, Kultur und soziale Kognition ANNE SPRINGER Bereits die erste einschlägige sozialpsychologische Theorie über das Selbst1 postuliert zwei Aspekte, die auch in heutigen Selbsttheorien zentral sind: das self as knower und das self as known.2 Während das self as knower die Person als Subjekt ihrer Erkenntnis bezeichnet, beschreibt das self as known die Person als Objekt ihrer Erkenntnis. Das self as knower entspricht den kognitiven Prozessen3, die introspektiv nicht zugänglich sind. Das self as known umfasst hingegen die Inhalte individuellen Selbstwissens. Diese sind empirisch fassbar („empirical me“) und kategorisieren sich in das materielle Selbst (Körper, Besitz), das spirituelle Selbst (Gedanken, Gefühle) und das soziale Selbst (Ruf, Ansehen). Im Gegensatz zum materiellen und spirituellen Selbst differenziert sich das soziale Selbst in verschiedene „soziale Selbste“ (multiple social selves), die gleichberechtigt nebeneinander stehen: “We do not show ourselves to our children as to our club-companions, to our customers as to the laborers we employ, to our own masters and employers as to our intimate friends. From this there results what practically is a division of the man into several [social] selves.“4

Auch heutige Selbstforscher postulieren ein kontextabhängiges Selbst (self-concept oder self-image)5. Sie verstehen das Selbst als Gedächtnisrepräsentation, in der die Gesamtheit des selbstbezogenen Wissens gespeichert ist.6 Die Frage, warum sich unser Selbst an das soziale Umfeld adaptiert, beantworten sie durch 1 2 3 4 5 6

James, 1890, 1892. James, 1890; 1892. Stream of consciousness, James, 1892, S. 175. James, 1892, S. 162. Einen Überblick gibt Hannover, 2000; Hannover, Pöhlmann und Springer, 2004; vgl. Baumeister, 1998 Greenwald und Banaji, 1989; Markus, 1977.

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Anne Springer eine Struktur- und eine Prozessannahme.7 Strukturell wird das Selbstkonzept als semantisches Netzwerk (semantic network) aufgefasst8, das aus einer Fülle miteinander vernetzter Selbstaspekte besteht. Ein Selbstaspekt enthält Informationen, die auf einen bestimmten Erfahrungsbereich bezogen sind, wie etwa soziale Beziehungen (z.B. Selbst als Schwester), Aktivitäten (z.B. Selbst als Forscherin) und persönliche Eigenschaften (z.B. Selbst als extravertiert).9 Funktional wird angenommen, dass zu einem Zeitpunkt nur eine Teilmenge aller verfügbaren Selbstaspekte abgerufen werden, nämlich die, die besonders leicht kognitiv zugänglich (d.h., besonders leicht aus dem Gedächtnis abrufbar) sind. Die Zugänglichkeit von Aspekten ist umso höher, je kürzer ihre letzte Aktivierung (z.B. durch den Kontext) zurückliegt (temporäre Zugänglichkeit10). Außerdem führt eine besonders häufige Aktivierung von Selbstaspekten über die Zeit dazu, dass ihre Zugänglichkeit chronisch erhöht (d.h. ihre zeitliche Dauer verlängert) wird.11 Voraussetzung für die Zugänglichkeit von Selbstaspekten (accessibility12) ist natürlich, dass sie überhaupt im Gedächtnis verfügbar sind (availability13). „If there is no exposure to a particular construct at all, then the construct will not even be available (i.e., it will have zero accessibility).”14 Das Konzept der mentalen Zugänglichkeit ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil neue Information vor dem Hintergrund des verfügbaren (aktuell zugänglichen) Wissens interpretiert und enkodiert wird (während umgekehrt im Gedächtnis enthaltenes Wissen an neue Information assimiliert wird): “the construct is temporarily more accessible in that it is more easily applied than other relevant constructs to subsequent informational input“.15 Dies machen sich Selbstforscherinnen zunutze, um die Auswirkungen von Selbstwissen experimentell zu überprüfen. Dazu erhöhen sie bei ihren Versuchsteilnehmern gezielt die Zugänglich7 8 9 10 11 12 13 14

Linville und Carlston, 1994. Bower und Gilligan, 1979; Kihlstrom und Cantor, 1984. Hannover, 1997. Linville und Carlston, 1994. Higgins, 1989. Higgins, 1990 Vgl. Higgins, 1990. Higgins, 1990, S. 306 (für eine ausführliche Darstellung siehe Hannover, 1997). 15 Bargh, Lombardi und Higgins, 1988, S. 600; vgl. Bargh, 1997; Strack, 1988.

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Selbst, Kultur und soziale Kognition keit ganz bestimmter Selbstaspekte (Priming-Verfahren) und erfassen die Konsequenzen hinsichtlich Kognition, Emotion und Handeln.16 Um die Auswirkungen solcher Selbstwissens-Aktivierungen zu erklären, haben Selbstforscher die Interaktion zwischen dem self as known (semantische Inhalte des Selbstwissens) und dem self as knower (kognitive Prozesse, mittels derer die Person Selbstwissen generiert) in den Blick genommen. Sie haben dabei vor allem auf die – aus der kulturvergleichenden Forschung stammende – Unterscheidung zwischen independentem und interdependentem Selbst17 zurückgegriffen. Diese basiert auf der Annahme, dass Menschen ihr Selbst in Abhängigkeit davon beschreiben, wie sie sich zu ihrem sozialen Umfeld positionieren.

Kulturabhängige Selbst-Repräsentationen: Independenz und Interdependenz Die kulturvergleichende Psychologie unterscheidet individualistische und kollektivistische Kulturen (Hofstede, 1980). Individualistische Kulturen (z.B. Westeuropa, Nordamerika) sind typischerweise durch ein hohes Maß an Selbstbestimmung gekennzeichnet, die sie dem Einzelnen einräumen. Kollektivistische Kulturen (z.B. Osteuropa, Asien, Südamerika) betonen hingegen Konformität und Gruppenzugehörigkeiten.18 Beide Kulturkreise gehen mit unterschiedlichen Arten der Selbstkonstruktion einher. Menschen in individualistischen Kulturen verfügen typischerweise über ein independentes Selbstkonzept, das ihre individuellen Merkmale und dadurch ihre Unabhängigkeit von Anderen hervorhebt. Demgegenüber dominiert in kollektivistischen Kulturen ein interdependentes Selbstkonzept, das vor allem die sozialen Bezüge der Person repräsentiert, wie die Zugehörigkeit zu einer Familie und anderen Gruppen.19 Um die Art des Selbstkonzepts in Erfahrung zu bringen, wird häufig die Self-Construal-Scale20 verwendet.21 Sie enthält 24 Aus-

16 Für einen Überblick siehe Hannover, Pöhlmann, Springer und Roeder, 2005. 17 Markus und Kitayama, 1991, 1998. 18 Triandis, 1989. 19 Markus und Kitayama 1991, 1998; vgl. Kanagawa, Cross und Markus, 2001. 20 Singelis, 1994.

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Anne Springer sagen, die auf einer fünfstufigen Skala als mehr oder weniger zutreffend auf die eigene Person eingeschätzt werden sollen. Je zwölf Items erfassen die relative Bedeutsamkeit independenten Selbstwissens (z.B. „I am comfortable with being singled out for praise or rewards“) bzw. interdependenten Selbstwissens (z.B. „My happiness depends on the happiness of the people around me“) in der individuellen Selbstkonstruktion. Je stärker die Person sich mittels independenter Inhalte und je weniger sie sich mittels interdependenter Inhalte beschreibt, als desto stärker independent gilt ihr Selbstkonzept. Obwohl die Art der Selbstkonstruktionen vom kulturellen Kontext geprägt ist, ist sie – entgegen der traditionellen Sichtweise22 – nicht vollständig und stabil kulturell festgelegt.23 Es geht vielmehr um eine Tendenz, Andere in stärkerem oder schwächerem Ausmaß in die Selbst-Beschreibung einzubeziehen. Gegenwärtige Konzeptionen betonen daher die Dynamik von Selbstkonstruktionen: „societies socialize for and individuals have access to a diverse set of overlapping and contradictory processes and procedures for making sense of the world and [that] the processes and procedures that are cued in the moment influence the values, relationality, self-concept, well-being and cognition that are salient in the moment“.24

Welche der beiden Selbstwissensarten im Selbstbild dominiert, hängt also von der kognitiven Zugänglichkeit independenter und interdependenter Selbstaspekte ab. Je nach den Idealen, mit denen Menschen in den verschiedenen Kulturen konfrontiert sind, greifen sie vor allem auf independentes Selbstwissen (Wissen um eigene individuelle Merkmale) oder interdependentes Selbstwissen (Wissen um sich in sozialen Beziehungen) zurück, so dass vorrangig die eine oder andere Selbstwissensart ausdifferenziert, elaboriert und chronisch hoch zugänglich wird. Dies geht einher mit systematischen Unterschieden zwischen den beiden kulturellen Gruppen im Hinblick auf die Inhalte, die im Gedächtnis über das Selbst gespeichert sind (Kühnen, Hannover und Schubert, 2001).

21 Für weitere Skalen siehe Gabriel und Gardner, 1999; Hui, 1988; Matsumoto, Weissman, Preston, Brown und Kupperbusch, 1997; NarioRedmond, Biernat, Eidelman und Palenske, 2004. 22 Für einen Überblick siehe Oyserman, Coon und Kemmelmeier, 2002. 23 Vogeley und Roepstorff, 2009; Choudhury, Nagel, und Slaby, 2009. 24 Oyserman und Sorensen, 2009, S. 26.

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Selbst, Kultur und soziale Kognition Trotz der chronischen Dominanz verfügen Menschen natürlich grundsätzlich über beide Arten von Selbstwissen. Der Sozialpsychologe David Trafimow und Kolleg/innen konnten diese Annahme als eine der ersten empirisch belegen. Sie teilten ihre Probanden nach kultureller Zugehörigkeit (China vs. Nordamerika) als chronisch „interdependent“ bzw. „independent“ ein.25 Beide Versuchsgruppen wurden anschließend hälftig einem Priming entweder independenten oder interdependenten Selbstwissens ausgesetzt. Dazu wurden die Teilnehmer aufgefordert, drei Minuten lang entweder Unterschiede (Priming independenten Selbstwissens) oder Gemeinsamkeiten zwischen sich und nahe stehenden Personen zu reflektieren (Priming interdependenten Selbstwissens).26 Anschließend wurden die Selbstbeschreibungen der Teilnehmer mittels des Twenty Statement Test27 erhoben, in dem 20 Satzanfänge der Form „I am...“ zu vervollständigen sind. Nordamerikanische Probanden verwendeten dabei häufiger generelle Merkmale und seltener demographische Merkmale, Gruppenzugehörigkeiten oder Kontextbezüge als chinesische Probanden. Zusätzlich wurden interessanterweise nach einem Priming von independentem Selbstwissen sowohl von den amerikanischen als auch chinesischen Probanden mehr independente und weniger interdependente Selbstbeschreibungen produziert als nach einem Priming von interdependentem Selbstwissen. Die Unterscheidung der Selbstkonzept-Arten hat in der Forschung der letzten zwei Dekaden eine immens wachsende Aufmerksamkeit erfahren (für einen Überblick siehe Han und Northoff, 2008). Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass Menschen sich in Kognition, Emotion und Handeln in Abhängigkeit davon unterscheiden, auf welche der beiden Selbstwissensarten sie bevorzugt zurückgreifen. Personen mit interdependentem Selbstkonzept zeigten eine stärker feldabhängige Wahrnehmung28, schwächere Tendenzen zur Selbstwerterhöhung29 und erlebten häufiger interpersonal bezogene Emotionen (z.B. Scham, Sympathie)30 als Personen mit independentem Selbstkonzept dies tun. 25 Trafimow, Triandis und Goto, 1991, 26 Für eine aktuelle Übersicht über Priming-Techniken siehe Oyserman und Lee, 2008. 27 Kuhn und McPartland, 1954. 28 Chua, Boland und Nisbett, 2005; Ishii, Reyes, Kitayama, 2003; Oyserman, Sorensen, Reber, und Chen, 2009. 29 Endo, Heine und Lehman, 2000. 30 Matsumoto, 1989; vgl. Masuda, Ellsworth, Mesquita, Leu, Tanida, und van de Veerdonk, 2008.

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Anne Springer Weiter bevorzugten Interdependente im Vergleich zu Independenten gegenüber einem Interaktionspartner eine stärkere räumliche Nähe31, bezogen den aktuellen Kontext stärker in ihr Kommunikationsverhalten ein32 und waren eher in der Lage, die Perspektive eines Interaktionspartners einzunehmen.33

Das Semantisch-Prozedurale Interface Modell des Selbst Anhand welcher psychologischen Mechanismen lassen sich die Auswirkungen der beiden Selbstwissensarten erklären? Eine Antwort auf diese Frage bietet das SPI (Semantisch-Prozedurales Interface)-Modell des Selbst.34 Es postuliert zwei Mechanismen, mittels derer die Selbstkonstruktion Einfluss auf die individuelle Erfahrung nimmt. Ausgangspunkt ist die relative kognitive Zugänglichkeit von independenten (autonomen) und interdependenten (sozialen) Inhalten des Selbstwissens (siehe oben). Ist zu einem Zeitpunkt überwiegend autonomes Selbstwissen zugänglich, assimilieren Personen neu eintreffende Information eher an autonome als soziale Inhalte und sind in ihrem Denken und Handeln eher durch autonome Selbstinhalte geleitet. Ist zum gegebenen Zeitpunkt überwiegend soziales Selbstwissen verfügbar, wird neue Information eher daran assimiliert und die Person eher durch soziale Selbstinhalte beeinflusst. Die semantische Assimilation neuer Information an zugängliches Selbstwissen wird im SPIModell als semantischer Mechanismus bezeichnet. Der zweite Mechanismus bezieht sich auf unterschiedliche Modi der kognitiven Verarbeitung: Ist eher autonomes Selbstwissen zugänglich, werden neue Informationen weitgehend losgelöst von dem Kontext verarbeitet, in dem sie aufgetreten sind (kontextunabhängiger Verarbeitungsmodus). Ist hingegen vorrangig soziales Selbstwissen zugänglich, wird Information unter vergleichsweise starker Berücksichtigung ihres Erscheinungskontextes verarbeitet (kontextabhängiger Verarbeitungsmodus). Diese prozedurale Beeinflussung der Verarbeitung neuer Information

31 Holland, Roeder, van Baaren, Brandt, und Hannover, 2004. 32 Gudykunst, Matsumoto, Ting-Toomey, Nishida, Kim und Heyman, 1996; Haberstroh, Oyserman, Schwarz, Kühnen und Ji, 2002. 33 Wu und Keysar, 2007. 34 Kühnen et al., 2001.

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Selbst, Kultur und soziale Kognition durch zugängliches Selbstwissen wird als prozeduraler Mechanismus bezeichnet. Die unterschiedlichen Verarbeitungsmodi werden im SPIModell aus dem Erwerb von Selbstwissen abgeleitet. Ausgangspunkt ist die unterschiedliche Struktur der beiden Selbstwissensarten:35 Während autonomes Selbstwissen in der Regel generell repräsentiert ist, wird soziales Selbstwissen typischerweise konkret im Gedächtnis gespeichert. Definieren Menschen sich bevorzugt über autonome Inhalte, werden Informationen über das Selbst fortwährend über verschiedene Kontexte hinweg generalisiert, d.h. kontextunabhängig verarbeitet. Im Unterschied dazu ist kontextabhängige Verarbeitung eine Bedingung für den Erwerb sozialen Selbstwissens. Weil Repräsentationen konkreter Personen und Situationen hier Teil des Selbstwissens sind, werden sie kontinuierlich in die Selbst-Wahrnehmung einbezogen. Die bevorzugte Anwendung entweder kontextunabhängiger oder kontextabhängiger Prozeduren während des beständigen Selbstwissenserwerbs führt dazu, dass die entsprechenden Prozeduren stärker als andere etabliert werden. Daher neigen Personen mit independentem Selbstkonzept generell dazu, Informationen kontextunabhängig zu verarbeiten, während bei interdependentem Selbstkonzept generell kontextabhängige Prozeduren überwiegen.36 Verschiedene Studien stützen die im SPI-Modell postulierte semantische Assimilation neuer Information an zugängliche Selbstinhalte, d.h. den semantischen Mechanismus.37 So wurde in der zuvor geschilderten Studie von Trafimow et al. (1991) die Zugänglichkeit beider Selbstwissensarten manipuliert und anschließend die Auswirkungen auf die Selbstbeschreibungen der Versuchsteilnehmer nachgewiesen. Jüngere Studien haben zudem Evidenz für den postulierten prozeduralen Mechanismus erbracht.38 Ulrich Kühnen und Daphna Oyserman (2002) verwendeten die Pronoun-circle-Aufgabe39, um independentes oder interdependentes Selbstwissen zu aktivieren. Die Probanden lasen kurze Aufsätze über eine alltägliche Begebenheit (z.B. Ausflug in die Stadt), die entweder aus Sicht eines Einzelnen oder einer Gruppe von Personen beschrieben war, und kennzeichneten alle im Text 35 Hannover, 1997; Kanagawa et al., 2001; Rhee, Uleman, Lee und Roman, 1995. 36 Kühnen et al., 2001; Hannover und Kühnen, 2002. 37 Für einen Überblick siehe Hannover, Pöhlmann, Roeder, Springer und Kühnen, 2005. 38 Kühnen et al., 2001; Oyserman et al., 2009. 39 Brewer und Gardner, 1996.

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Anne Springer enthaltenen Pronomina. Wird die Sicht eines Einzelnen eingenommen (z.B. „ich“, „mein“), wird Wissen um die Einzigartigkeit der eigenen Person aktiviert, während ein Gruppen-Fokus (z.B. „wir“, „uns“) Wissen um soziale Verbundenheit zugänglich macht. Anschließend sahen die Probanden auf einem Monitor einzelne Großbuchstaben, welche aus einem jeweils anderen, kleinen Buchstaben zusammengesetzt waren. Während in der einen Aufgaben-Bedingung so schnell wie möglich der kleine Buchstabe identifiziert werden sollte, war in einer anderen Bedingung der große Buchstabe anzugeben. Abb. 1: „Letter Identification Task“

F F F F F F FFFFFFF F F F F F F Quelle: „Thinking About the Self Influences Thinking in General: Cognitive Consequences of Salient Self-Concept“ von U. Kühnen und D. Oyserman, 2002, Journal of Experimental Social Psychology, 38, S. 494. Copyright 2002 von Elsevier

Die Hypothese war, dass bei kontextunabhängiger Verarbeitung der kleine Buchstabe vergleichsweise schnell identifiziert, d.h. aus dem visuellen Kontext herausgelöst werden kann. Das Erkennen des großen Buchstabens sollte hingegen durch kontextabhängige Verarbeitung unterstützt werden, weil die elementaren Buchstaben zu einem Ganzen integriert werden müssen. Wie erwartet wurden nach Aktivierung interdependenten Selbstwissens große Buchstaben schneller als kleine Buchstaben erkannt, was für integrative, kontextbezogene Verarbeitung spricht. Umgekehrt wurden nach Aktivierung independenten Selbstwissens kleine Buchstaben schneller identifiziert als große Buchstaben. Dies spricht für kontextunabhängige Verarbeitung, bei der einzelne Details aus einem Gesamtkontext herausgelöst werden.

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Selbst, Kultur und soziale Kognition Diese und neuere Befunde40 zeigen die prozeduralen Auswirkungen der beiden Selbstwissensarten auf basale Wahrnehmungsprozesse. Kühnen und Oyserman (2002) zeigten darüber hinaus, dass sich solche Effekte auch für komplexe Funktionen wie Gedächtnisleistungen finden lassen. Sie aktivierten erneut die eine oder die andere Selbstwissensart. Anschließend wurde den Probanden für 90 Sekunden ein Blatt präsentiert, auf dem Bilder von 28 alltäglichen Objekten unsystematisch angeordnet waren. Die Instruktion war, sich möglichst viele der Objekte für einen späteren Gedächtnistest einzuprägen. Abb. 2: Stimulus-Bilder in der Gedächtnis-Aufgabe

Quelle: „Thinking About the Self Influences Thinking in General: Cognitive Consequences of Salient Self-Concept“ von U. Kühnen und D. Oyserman, 2002, Journal of Experimental Social Psychology, 38, S. 497. Copyright 2002 von Elsevier

Anschließend erhielten die Probanden ein Antwortblatt, um die Namen aller Objekte einzutragen, die sie erinnern konnten – und zwar überraschenderweise sogar auf die Position, auf der das jeweilige Objekt zuvor präsentiert worden war. Die Annahme war, dass Objekte nach einem Priming interdependenten Selbstwissens wahrscheinlich im Verbund mit dem räumlichen Kontext (d.h. kontextabhängig) enkodiert werden. Daher sollte die Position eher memoriert werden können als nach einem Priming independenten Selbstwissens. Tatsächlich zeigte sich, dass nach Aktivierung von interdependentem Selbstwissens signifikant mehr Objekte an richtiger Position abgerufen wurden als nach Aktivierung von in40 Oyserman et al., 2009; Lin und Han, 2009.

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Anne Springer dependentem Selbstwissens. In der Gesamtanzahl der – unabhängig von der Position – richtig erinnerten Objekte unterschieden sich die Versuchsgruppen jedoch nicht. Da die Probanden nicht explizit aufgefordert worden waren, sich die Position der Objekte einzuprägen, legen diese Ergebnisse nahe, dass Objekte bei Zugriff auf interdependentes Selbstwissen spontan in Verbindung mit ihrem räumlichen Kontext enkodiert, d.h. kontextabhängig verarbeitet werden.41 Zusammengenommen sprechen diese Befunde für die Annahme des SPI-Modells, dass der Zugriff auf independentes Selbstwissens einen kontextunabhängigen Verarbeitungsmodus nach sich zieht, während die Anwendung interdependenten Selbstwissens in kontextabhängiger Verarbeitung resultiert. Sie legen weiter nahe, dass der Grad der Kontextabhängigkeit kausal auf die Art des zugänglichen Selbstwissens rückführbar ist: Da die Probanden den Priming-Bedingungen nach Zufall zugeordnet werden, sollten sie sich allein in der Art des aktivierten Selbstwissens systematisch voneinander unterscheiden, während anderweitige potentielle Unterschiede zwischen den Versuchsgruppen herausgemittelt werden sollten. Die gemessenen Effekte können somit ursächlich auf die aktivierte Selbstwissensart zurückgeführt werden.

Exekutive Funktionen des Selbst Eine offene Frage in den bislang geschilderten Arbeiten betrifft die kognitiven Grundlagen kontextunabhängiger / kontextabhängiger Verarbeitung. Welche kognitiven Prozesse versetzen eine Person in die Lage, Information kontextunabhängig zu verarbeiten, und welche kognitiven Prozesse sind für kontextabhängige Verarbeitung verantwortlich? In meinen eigenen Untersuchungen habe ich angenommen, dass beide Arten der Selbstdefinition mit Unterschieden in der Anwendung exekutiver Funktionen im Arbeitsgedächtnis verbunden sind.42 Gegenwärtige Konzeptionen sehen die Funktion des Arbeitsgedächtnisses nicht allein in der Speicherung von Information, sondern auch in einer übergeordneten Steuerung der vielen mentalen Operationen, die an der Ausführung einer bestimmten

41 Kühnen und Oyserman, 2002. 42 Springer, 2005.

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Selbst, Kultur und soziale Kognition kognitiven Aufgaben beteiligt sind.43 Die exekutiven Kontrollfunktionen versetzen uns im Alltag beispielsweise in die Lage, uns während eines Gesprächs auf Wichtiges zu konzentrieren (selektive Aufmerksamkeit), während wir Ablenkungen aus der Umwelt aktiv ausblenden können (Inhibition). Angewandt auf den Grad der Kontextabhängigkeit der beiden Selbstwissensarten bin ich davon ausgegangen, dass kognitive Kontrollfunktionen – je nachdem, welche Selbstwissensart im Arbeitsgedächtnis aktiviert ist – entweder die Anwendung kontextunabhängiger oder kontextabhängiger Prozeduren initialisieren: Kontextunabhängige Verarbeitung resultiert dann, wenn die Person (1) ihre Aufmerksamkeit selektiv auf die Merkmale eines Stimulus richtet, die für die Bearbeitung einer aktuellen Aufgabe relevant sind (selektive Aufmerksamkeit) und (2) aufgabenirrelevante Information aktiv unterdrückt, d.h. aus der weiteren Verarbeitung weitestgehend aktiv ausschließt (Inhibition). Löst ein Stimulus mehrere Reaktionstendenzen gleichzeitig aus, gewährleisten diese Kontrollfunktionen, dass die adäquate Antwortreaktion ausgeführt wird und interferierende Reaktionstendenzen inhibiert werden. Somit habe ich angenommen, dass im Arbeitsgedächtnis enthaltenes independentes Selbstwissen die Fokussierung auf aufgabenrelevante Information und die Inhibition aufgabenirrelevanter Information begünstigt. Umgekehrt sollte der Zugriff auf interdependentes Selbstwissen mit einem weiten Aufmerksamkeitsfokus einhergehen, d.h. mit einer vergleichsweise starken Berücksichtigung aufgabenirrelevanter Information während der Verarbeitung des aufgabenrelevanten Zielreizes.44 In einer Studie zur Überprüfung dieser Annahmen habe ich in Zusammenarbeit mit der Sozialpsychologin Bettina Hannover das Selbstkonzept der Probanden mittels der Self-Construal Scale45 in deutscher Fassung46 erhoben. Die anhand der Skala als extrem independent oder extrem interdependent beschriebenen Probanden bearbeiteten eine Variante der Stroop-Aufgabe zur Überprüfung von selektiver Aufmerksamkeit.47 Einzelne Wörter wurden über- oder unterhab einer horizontalen Bezugslinie auf einem Bildschirm dargeboten.

43 44 45 46 47

Baddeley und Sala, 1996; Monsell, 1996. Springer, 2005. Singelis, 1994. Hannover, Kühnen und Birkner, 2000. Stroop, 1935; für einen Überblick siehe MacLeod, 1991.

181

Anne Springer Abb. 3: Beispiele für Stimuli zur Messung von Interferenz-Effekten

also

darüber

unten

----------

----------

----------

neutral

kongruent

inkongruent

Quelle: Springer, 2005, S. 81. Copyright 2005 beim Kovac-Verlag

Die Teilnehmer gaben an, ob das Wort oberhalb (oder unterhalb) der Referenzlinie erscheint, wobei die Reaktionszeiten und Fehlerraten gemessen wurden. Während einige Wörter semantisch neutral waren (z.B. viel, also), waren andere Wörter kongruent oder inkongruent zu ihrer Position. Somit aktivierten inkongruente Stimuli (z.B. Wort „oben“ präsentiert unter der Linie) gleichzeitig zwei widersprüchliche Antworttendenzen, während kongruente Stimuli stets mit ein- und demselben Antworttyp verbunden waren (z.B. ‚oben’). Die Aktivierung unterschiedlicher Antworttendenzen durch inkongruente Stimuli sollte innerhalb des kognitiven Systems zu einem Konflikt führen und sich verlangsamend auf die Antworten auswirken, d.h. einen Interferenz-Effekt zeitigen: Je weniger die Person ihre Aufmerksamkeit auf das antwortrelevante Stimulusmerkmal (= Position des Wortes) fokussiert, desto stärker sollte der Interferenz-Effekt sein, d.h., desto langsamer sollte die Person in inkongruenten Trials antworten verglichen mit neutralen und kongruenten Trials. Um zweitens die Inhibition der aufgabenirrelevanten Dimension (= semantische Wortbedeutung) zu messen, waren einige der Durchgänge so miteinander verbunden, dass die Dimension, die in Trial n-1 antwortirrelevant war (z.B. das Wort „darüber“ präsentiert unter der Linie) im nachfolgenden Trial n antwortrelevant wurde (z.B. das Wort „unten“ präsentiert über der Linie, so dass nun „unten“ die richtige Antwort ist). In dem Maße, wie die Person die irrelevante Stimulus-Dimension in Trial n-1 inhibiert, sollte ihre Reaktionszeit im nachfolgenden Trial n, in welchem die inhibierte Dimension antwortrelevant wird und deshalb reaktiviert werden muss, verlängert sein (negativer Priming-Effekt48).

48 Tipper, 1985; für einen Überblick siehe Fox, 1995.

182

Selbst, Kultur und soziale Kognition Abb. 4: Beispiele für Stimuli zur Messung negativer Priming-Effekte

----------darüber

unten -----------

Prime

Probe

Antwort: unten

Antwort: oben

Quelle: Springer, 2005, S. 82. Copyright 2005 beim Kovac-Verlag

Wie erwartet zeigten nur interdependente Personen InterferenzEffekte, während independente Personen durch die interferierende Stimulus-Dimension nicht nachweislich beeinflusst waren.49 Dieses Ergebnis unterstützt die Annahme, dass kognitive Kontrollfunktionen durch die relative Zugänglichkeit von Selbstwissen beeinflusst sind: War für die Probanden independentes Selbstwissen chronisch zugänglich, richteten sie ihre Aufmerksamkeit selektiv auf die aufgabenrelevante Dimension, was zu kontextunabhängiger Verarbeitung führte. War hingegen interdependentes Selbstwissen zugänglich, zeigten sie kontextabhängige Verarbeitung, d.h. die aufgabenrelevante Dimension (Position des Wortes) und die aufgabenirrelevante Dimension (semantische Bedeutung) wurden parallel verarbeitet (sichtbar an Interferenz-Effekten). Weiter zeigten sich erwartungsgemäß negative Priming-Effekte nur für independente Probanden. Dies spricht dafür, dass sie die antwortirrelevante Dimension inhibierten, so dass ihre Reaktionszeiten anstiegen, wenn diese Dimension nachfolgend aufgabenrelevant wurde und reaktiviert werden musste. Dieses Muster fand sich auch in einer NachfolgeUntersuchung, in der wir die Zugänglichkeit der SelbstwissensArten durch ein Priming-Verfahren manipulierten.50 Zusätzlich konnten wir die Effekte anhand eines neuen Face-PlaceParadigmas unter Verwendung von bildhaftem Stimulus-Material (Fotos von Gesichtern, Gebäuden) replizieren.51 Die Parallelität der Befunde unterstützt die Annahme, dass ins Arbeitsgedächtnis geladenes independentes Selbstwissen die Anwendung kognitiver Kontrollfunktionen begünstigt, nämlich die Fokussierung auf auf49 Springer, 2005. 50 Springer, 2005. 51 Springer, Volz, Derrfuss, Beyer, und Hannover, submitted.

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Anne Springer gabenrelevante Information und die Inhibition von aufgabenirrelevanter Information, und so zu kontextunabhängiger Verarbeitung führt. Demgegenüber scheint der Zugriff auf interdependentes Selbstwissen einen weiten Aufmerksamkeitsfokus zu fördern, d.h. die parallele Verarbeitung von aufgabenrelevanter und – irrelevanter Information, resultierend in einem kontextabhängigen Verarbeitungsmodus.52 Eine momentan besonders intensiv untersuchte Frage ist, inwieweit die kognitiven Effekte independenten und interdependenten Selbstwissens auch auf neuronaler Ebene sichtbar gemacht werden können.53 Die Arbeitsgruppe um den Social-NeuroscienceForscher Shihui Han hat mit bildgebenden Verfahren (funktionelle Magnet-Resonanz-Tomographie; fMRT) untersucht, welche neuronalen Unterschiede zwischen chronisch independenten und interdependenten Probanden sichtbar werden, während sie sich selbst, eine nahe stehende oder eine fremde Person mittels Adjektiven charakterisieren.54 Für independente Probanden zeigte sich, dass ihre Selbsteinschätzung mit einem Aktivierungsanstieg im mittleren Präfrontalcortex (MPFC) einherging, verglichen mit Einschätzungen einer nahe stehenden oder fremden Person. Im Unterschied dazu fand sich bei interdependenten Probanden eine erhöhte Aktivierung im MPFC sowohl bei Einschätzung der eigenen Person als auch nahestehenden Person, relativ zur Einschätzung einer fremden Person. Diese Befunde legen nahe, dass independente und interdependente Selbstkonstruktionen auch auf neuronaler Ebene differenzierbar sind.55 Ließe sich darüber hinaus neuronale Evidenz für die postulierten prozeduralen Effekte der Selbstkonzeptarten finden, spräche dies für die Annahme, dass traditionell als universell geltende kognitive Prozesse abhängig von kulturellen Selbstkonzepten variieren.56 Dies könnte weiterführend neue Antworten auf die Frage aufwerfen, inwieweit Menschen auf neuropsychologischer Ebene danach diagnostiziert werden können, wie sie ihr Selbst in Relation zu anderen Personen definieren.

52 Für eine weiterführende Diskussion siehe auch Beyer, 2009; Waszak, Springer und Prinz, in press. 53 Einen Überblick gibt Han und Northoff, 2008. 54 Zhu, Zhang, Fan, und Han, 2007. 55 Zhu et al., 2007. 56 Z.B. Hedden, Ketay, Aron, Markus, und Gabrieli, 2008.

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Selbst, Kultur und soziale Kognition

Zusammenfassung und Implikationen für kulturvergleichende Ansätze Zusammengefasst wurden folgende Annahmen erläutert: Das Selbstkonzept kann als Gedächtnisstruktur beschrieben werden, die das gesamte selbstbezogene Wissen einer Person enthält (self as known). Menschen unterscheiden sich systematisch in dem Ausmaß, in dem sie Andere im Selbstkonzept repräsentieren. Je nach Situation werden Aspekte des Selbstwissens flexibel abgerufen. Die aktivierten – independenten versus interdependenten – Aspekte des Selbstwissens beeinflussen, wie neue Information interpretiert wird. Sie nehmen außerdem Einfluss darauf, in welchem prozeduralen Modus (kontextabhängig versus kontextunabhängig) Information verarbeitet wird (self as knower). Der Grad der Kontextabhängigkeit geht mit Unterschieden in kognitiven Kontrollfunktionen einher (z.B. selektive Aufmerksamkeit, Inhibition). Die aktivierten Aspekte des Selbstwissens wirken sich nicht nur auf kognitive (und neuronale) Prozesse aus, sondern beeinflussen auch komplexes Erleben und Verhalten (z.B. Gedächtnis, emotionales Erleben, Kommunikation). Wie außerdem dargestellt wurde, ist der Einfluss der Selbstkonstruktion (independent vs. interdependent) nicht nur nach situativer Aktivierung (Priming) nachweisbar, sondern zeigt sich auch im Kulturvergleich (d.h., je nach chronischer Dominanz der einen oder anderen Selbstwissensart). Ein prominentes Beispiel ist die Studie von Morris und Peng (1994) zur Kausal-Attribution (Ursachen-Zuschreibungen). Chinesische und nordamerikanische Probanden sahen computeranimierte Kurzfilme, z. B. einen einzelnen (blau gefärbten) Fisch, der an der Spitze einer Gruppe von (andersfarbigen) Fischen schwamm. Dieses Verhalten kann einerseits als Flucht vor der Gruppe, d.h. durch soziale Einflussnahme, erklärt werden, andererseits auch durch eine individuelle Führungs-Disposition. Bei der Erklärung des Verhaltens gewichteten nordamerikanische Probanden interne Faktoren höher als chinesische Teilnehmer, während diese umgekehrt das Verhalten des Einzelnen stärker auf den externen Einfluss der Gruppe zurückführten. Nordamerikanische (independente) Probanden interpretierten den einzelnen Akteur also relativ unbeeinflusst vom sozialen Kontext, während er von chinesischen (interdependenten) Probanden stärker mit dem Kontext in Verbindung gebracht wurde. Dieses Muster konnte später auch experimentell mittels eines

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Anne Springer Primings kultureller Bedeutungszusammenhänge (cultural frames) anhand von Bildern repliziert werden.57 Abb. 5: A. Bilder US-amerikanischer und chinesischer Symbole zur Aktivierung kultureller Konstrukte (Iconic Images). B. Stimulus-Material für die Attributions-Aufgabe A

B

Quelle: „Multicultural minds: A dynamic constructivist approach to culture and cognition“ von Hong, Y., Morris, M. W., Chiu, C., und Benet-Martinez, V., 2000, American Psychologist, 55, 7, S. 712 bzw. S. 714. Copyright 2000 der American Psychological Association

Diese und viele weitere kulturvergleichende Befunde wurden oft zwei unterschiedlichen Denksystemen (“Systems of Thought”) zugeschrieben.58 Geprägt durch die erkenntnistheoretischen und philosophischen Traditionen der Östlichen und Westlichen Welt sei das Denken in individualistischen Kulturen eher analytisch, in kollektivistischen Kulturen eher holistisch: „Asians see the big picture and they see objects in relation to their environments ...Westerners focus on objects while slighting the field.“59 Im Gegensatz dazu stellen die im vorliegenden Aufsatz beschriebenen sozial-kognitiven Ansätze die Selbstkonstruktion in den Mittelpunkt, um kulturelle Unterschiede zu erklären. So rückt das Selbst in die Rolle eines zentralen Vermittlers: Nicht nur haben Menschen aus verschiedenen Kulturen unterschiedliche Selbstkonstruktion, sondern es sind genau diese Selbstkonstruktionen, die vermittels psychologischer (semantischer und prozeduraler) Mechanismen zu kulturellen Unterschieden im

57 Hong, Morris, Chiu und Benet-Martinez, 2000 (siehe Abbildung 5). 58 Nisbett, 2003. 59 Nisbett, 2003, S. 109.

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Selbst, Kultur und soziale Kognition Denken, Fühlen und Handeln führen. In diesem Zusammenhang lassen sich auch die diskutierten kognitiven Kontrollfunktionen, die mit independentem bzw. interdependentem Selbstwissen assoziiert sind, auf die kulturvergleichende Selbstforschung anwenden.60 Wie zuvor erläutert, scheint die Dominanz independenten Selbstwissens kontextunabhängige Verarbeitung zu begünstigen (z.B. Fokussierung auf aufgabenrelevante Information). Bezogen auf die zuvor geschilderten kulturellen Unterschiede in der Kausal-Attribution61 ergibt sich: Weil independente (nordamerikanische) Teilnehmer selektiv auf das Verhalten des Individuums fokussierten (welches sie erklären sollten), unterschätzten sie den Einfluss des sozialen Kontextes, verglichen mit den interdependenten (chinesischen) Versuchsteilnehmern. Neuere Befunde stehen mit dieser Interpretation in Einklang: Beurteilten chinesische Probanden komplexe Bilder (Tiere oder Objekte vor Hintergrundszenen) danach, wie gut sie ihnen gefallen, so ergab die Messung der Blickbewegungen, dass sie länger und häufiger auf den Bild-Hintergrund als auf Vordergrund-Objekte schauten, während nordamerikanischen Probanden stärker das Vordergrund-Objekt in den Blick nahmen.62 Ein weiteres Beispiel ist der Befund, dass chinesische Probanden stärker als deutsche Probanden vermeiden, sich einem Kommunikationspartner gegenüber redundant zu äußern.63 Vermeidung von Redundanz sollte begünstigt werden, wenn die Person den Kontext der kommunikativen Botschaften, d.h. die Gesamtheit der bereits schon gegebenen Informationen, kontinuierlich mit einbezieht und nicht allein auf die aktuelle Nachricht fokussiert. Abschließend sei die Frage nach der Genese unterschiedlicher Selbstkonzepte aufgegriffen. Studien zur frühen Eltern-KindInteraktion64 zeigen kulturelle Unterschiede im Verhalten von Eltern bereits gegenüber Säuglingen. Im gemeinsamen Spiel benannten nordamerikanische Mütter ein bestimmtes Spielzeug häufiger als japanische Mütter dies taten, während diese Spielzeug häufiger dazu verwendeten, um ihren Kindern soziale Verhaltensweisen aufzuzeigen als amerikanische Mütter.65 Duffy, 60 Vgl. Schlicht, Springer, Volz, Vosgerau, Schmidt-Daffy, Simon und Zinck 2009. 61 Hong et al., 2000; Morris und Peng, 1994. 62 Chua et al., 2005. 63 Haberstroh et al., 2002. 64 Greenfield, Keller, Fuligni und Maynard, 2003; Keller, Kärtner, Borke, Yovsi und Kleis, 2005. 65 Fernald und Morikawa, 1993.

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Anne Springer Toriyama, Itakura und Kitayama (2009) zeigen, dass amerikanische und japanische Kinder im Alter von 6 bis 13 Jahren in einer Wahrnehmungsaufgabe (Framed Line Test) Unterschiede in der Kontextabhängigkeit aufweisen, die parallel zu den oben beschriebenen Unterschieden zwischen Erwachsenen waren. Bei jüngeren Kindern im Alter von vier bis sechs Jahren ließen sich solche Unterschiede in der Kontextabhängigkeit jedoch noch nicht nachweisen. Dies lässt vermuten, dass möglicherweise kulturelle Sozialisationsstrategien zur Herausbildung unterschiedlicher Wahrnehmungsstile beitragen, die wiederum den Erwerb von Selbstwissen beeinflussen könnten. Interessanterweise wurden Selbst-Repräsentationen auch als „narrative Konstruktionen“ beschrieben66, die von Kindheit an fortwährend weiterentwickelt, ergänzt und revidiert werden. So wie sich Erzählungen um eine Hauptperson spinnen, taucht aus einzelnen Geschichten in unserem Bewusstsein zunehmend das Bild unseres Selbst auf.67 Die narrativen und interpretativen Prozesse, die den Aufbau des Selbstkonzepts leiten, sind von der Art der sozialen Interaktion und kommunikativen Gepflogenheiten abhängig: „self-narrative is always already shaped by others, and by those kinds of narratives that are common and possible in the culture surrounding the child.“68 Ob und inwieweit kulturelle Sozialisationsstrategien erklären können, wie unterschiedliche Selbstkonzepte und kognitive Stile entstehen, ist eine spannende Frage für zukünftige Untersuchungen.

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66 Gallagher, 2000. 67 Vgl. Vosgerau, Schlicht, Springer und Volz, 2008. 68 Gallagher, 2007, S. 204.

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Zur Bedeutung von Bildern Überlegungen aus der Perspektive der Neuroinformatik ALOIS SCHLÖGL Wie aussagekräftig sind Bilder, welche Bedeutung haben Bilder? Diese Frage ist immer wichtiger, spielen Bilder doch beinahe allen Lebensbereichen eine Rolle, die Naturwissenschaften einschließlich den Neurowissenschaften und der Medizintechnik stellen hier keine Ausnahme dar. Im letzten Jahrzehnt haben in der Neurowissenschaften insbesondere bildgebende Verfahren wie die Funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) sehr an Bedeutung gewonnen. Im Gespräch der Bildwelten des Wissens mit Randolf Menzel und David Poeppel zum Thema „Brains on Fire“1 werden unterschiedliche und (scheinbar) widersprüchliche Standpunkte über die Bedeutung von Bildern vertreten. Der Gebrauch und eventueller Missbrauch von Bildern wird auch in der Naturwissenschaft thematisiert.2 In den anderen Beträgen dieses Bandes wird die Bedeutung auch aus einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektive betrachtet, das „Konzept des Bildes“ thematisiert bzw. eine Reflexion vornimmt. Der Beitrag eines Informatikers, Medizintechniker und Neurowissenschafter kann naturgemäß nur eine naturwissenschaftliche Sichtweise darstellen. Eine solche fächerübergreifenden Diskussion birgt natürlich die Gefahr, unterschiedliche

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Brains on Fire – Bilder der Neurobiologie. Ein Gespräch der Bildwelten des Wissens mit Randolf Menzel und David Poeppel. Instrumente des Sehens. Bildwelten des Wissens, Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 2,2 – . Editoren: Angela Fischel,. M. Pratschke und B. Schneider. Akademie Verlag, Herausgeber Horst Breedekmap und Gabriele Wieser, 2003 J.M. Ottino, Is a picture worth 1000 words? Nature, 423, 30 Jan 2003, S. 4–6.

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Alois Schlögl Begrifflichkeiten unzulässigen Verkürzungen und Missverständnissen mit sich bringen. Diese Gefahr muss jedoch in Kauf genommen werden, damit eine fächerübergreifende (interdisziplinären) Debatte stattfinden kann. Es ist zu hoffen, dass Missverständnisse vermieden bzw. ausgeräumt werden können, und es zu einer gegenseitigen Befruchtung kommt. Wenn man über die „Bedeutung“ von Bildern nachdenkt, kommt man als Informatiker unmittelbar mit der Informationstheorie nach C.E. Shannon3 in Berührung. Die „Bedeutung“ einer Nachricht wird in der Informationstheorie auch als „Informationsgehalt“ beschreiben. Diesen Informationsgehalt I kann man auch quantifizieren:

Wobei pi die die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer „Nachricht“ i aus N möglichen Nachrichten ist. (Falls Variationen von Bildern auftreten, und deren Unterschied keine Bedeutung hat, werden diese Variation jeweils als ein Bild betrachtet). Mit dieser Informationstheorie ist es auch möglich die „Entropie" von nutzvoller Information (dem Signal) und nutzloser Information (Rauschen), sowie „Redundanz“ und „Irrelevanz“ und zu quantifizieren, bzw. wieviel an Information von einem „Sender“ zu einem „Empfänger“ übertragen wird. Diese Betrachtungsweise hat sich in der Nachrichtenübertragung sehr bewährt und ist eine Grundlage für die moderne Telekommunikationstechnologie. In diesem Kontext kann man ein Bild durch aus als eine „Nachricht“ betrachten, und die Bedeutung des Bildes entspricht dem Informationsgehalt. Im folgenden wird versucht, anhand von drei ausgewählten Beispielen die Bedeutung von Bildern aus einer naturwissenschaftlichen und informationstheoretischen Sicht zu beschreiben. Die drei Bespiele stammen aus aktuellen Forschungsarbeiten zum Themenbereich Elektroenzephalogramm und Neurowissenschaft. Die Diskussion zu dieser Thematik sind durchaus auch auf andere Bereiche übertragbar.

3

Claude E. Shannon: A mathematical theory of communication. Bell System Tech. J., 27:379–423, 623–656, 1948.

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Zur Bedeutung von Bildern

Brain Computer Interfaces Die Forschung auf dem Gebiet von Gehirn-Computer Schnittstellen (engl. Brain-Computer Interface), oder kurz BCI, beschäftigt sich mit dem Problem, die gemessene Gehirnaktivität in Signale zur Steuerung von Geräte umzuwandeln. Ziel ist es Informationen aus dem eigenen Gehirn an die Mitwelt zu übertragen ohne dass eine Muskelaktivität (Mimik, Gestik, Sprache, Arm- Bein- oder Augenbewegung) notwendig ist. Es gibt verschiedene Technologien um die Gehirnaktivität zu bestimmen, meist wird die elektrische Aktivität (wie beim Elektroenzephalogram bzw. Elektrokortikogramm) verwendet, es werden aber auch optische Verfahren (z.b. Nahinfrarotspektroskopie – NIRS), Magnetenzephalogramm (MEG) und Funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) untersucht. Abb. 1a: Vereinfachtes Schema Brain Computer Interface Die Gehirnaktivität einer Versuchsperson wird gemessen, charakteristische Merkmale werden extrahiert, und diese werden in einem sogenannten „Klassifikator“ in ein Steuersignal umgewandelt. Die Auswirkung des Steuersignals (Cursor am Bildschirm, etc.) zeigt der Versuchsperson den Erfolg oder Misserfolg, und stellt damit eine wichtige Rückmeldung dar.

Quelle: modifiziert nach A. Schlögl, J. Kronegg, J.E. Huggins, S. G. Mason 2007

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Abb. 1b: Komponenten eines Brain Computer Interface

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Quelle: modifiziert nach Schlögl A., Brunner C. BioSig 2008

Die wesentlichen Elemente von Abb. 1a sind auch hier enthalten. Zusätzlich wird noch noch die sogenannte Offline-Analyse, welche zur Optimierung der Algorithmen und zur Bestimmung der personenspezifischen Klassifikators dient, gezeigt. Weiters ist auch ein eigener Verarbeitungsblock zur Bereinigung von Störeinflüssen und Artefakten hervorgehoben.

Alois Schlögl

Zur Bedeutung von Bildern Dazu ist eine Reihe von Verarbeitungsschritten notwendig sind (siehe Abbildung 1a und 1b). In der Regel werden die Daten von Störeinflüssen nach möglich bereinigt, es werden charakteristische Merkmale extrahiert, und diese in einem sogenannten Klassifikationsschritt zu einem Steuersignal kombiniert. Dieses Steuersignal kann dann verwendet werden um verschiedene Anwendungen zu bedienen, wie z.b. einen Cursor oder Ball am Bildschirm zu bewegen, Buchstaben an einem Bildschirm auszuwählen um einen Brief zu schreiben4, oder sich in der Virtuellen Realität zu bewegen, verschieden Computeranwendungen zu bedienen. Wenn diese Technologie robust genug ist, könnte damit auch ein Rollstuhl bedient werden. Ein wesentlicher Aspekt ist auch, dass die Versuchsperson durch das Kontrollieren ihrer Umwelt Rückmeldung über den Erfolg erhält. Man unterscheidet zwischen Echtzeit/Online Analyse und der Offline Analyse. Bei der Echtzeit-Analyse werden die gemessenen Daten möglichst unmittelbar in das Steuersignal umgewandelt. Die Offline-Analyse wird verwendet um verschiedene Analysemethoden zu vergleichen, oder um Analysen durchzuführen welche wesentlich zeitaufwendiger sind. Hier wird auch die Informationstheorie verwendet um den Informationsgehalt des Steuersignals eines Brain-Computer Interfaces zu bestimmen.5 Damit kann ein optimierter Klassifikator für die jeweilige Versuchsperson bestimmt werden. Ein solcher Klassifikator dient dann in der Echtzeitanalyse dazu, die extrahierten Merkmale optimal zu einen Steuersignal zu kombinieren. Im Rahmen der Forschung an diesem Thema wird insbesondere nach besseren Analysemethoden gesucht. In der Regel wird auch der Klassifikator an die jeweilige Versuchsperson angepasst, um optimale Ergebnisse im Sinne einer maximalen Informationsübertragung zu erzielen. Die Abbildung 1 zeigt die verschiedenen Datenverarbeitungsstufen. Dabei ist das Schema mehr oder weniger detailreich dargestellt, um es von anderen Systemen (z.b. einer reinen EEG-Analyse ohne Rückmeldung an die Versuchsperson) zu unterscheiden. Die eigentlichen Verarbeitungsschritte sind hinter den einzelnen Kästen „versteckt“. Diese Verarbei4

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Schlögl A, Lee FY, Bischof H, Pfurtscheller GCharacterization of FourClass Motor Imagery EEG Data for the BCI-Competition 2005. Journal of neural engineering 2 (2005) 4, S. L14–L22 A. Schlögl, J. Kronegg, J.E. Huggins, S. G. Mason; Evaluation criteria in BCI research. (Eds.) G. Dornhege, J.R. Millan, T. Hinterberger, D.J. McFarland, K.-R.Müller; Towards Brain-Computer Interfacing, MIT Press, 2007, p.327–342.

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Alois Schlögl tungsschritte entweder in mathematischen Formeln oder als Berechnungsanweisungen für den Computer umgesetzt. Die Bedeutung dieser Abbildungen liegt darin die einzelnen Verarbeitungsschritte, mehr oder weniger detailreich, in einem Überblick darzustellen. Damit wird die Betonung auf bestimmte Komponenten gelegt. Um das Prinzip eines BCI’s zu verstehen, ist die einfacher Abbildung 1a ausreichend. Abbildung 2a zweigen auch welche Komponenten notwendig sind um BCI-Forschung zu betreiben. Was ist nun der Kontext in dem diese Bilder stehen? Ziel dieser Abbildungen ist es ein Unterschied zu anderen mehr oder weniger ähnlichen Systemen aufzuzeigen. Z.b. ein EEG System zur Aufzeichnung und Analyse von EEG-Daten enthält keine Rückkopplung. Die Datenanalyse muss nicht in Echtzeit erfolgen, sondern die Daten können vorerst nur gespeichert, und erst später analysiert werden. Biofeedbacksysteme sind ebenfalls einem BCISystem ähnlich, allerdings enthalten diese keinen Klassifikationschritt. Anstelle vieler Merkmale optimal zu kombinieren, wird nur ein einziges Merkmal als Feedback verwendet. Für die Bedeutung dieser Bilder spielt es keine Rolle ob diese Abbildung wie hier mit dem Computer erzeugt wurde, oder ob es sich um eine Freihandzeichnung auf Papier oder einer Tafel handelt. Sondern es ist entscheidend ob bestimmte Teile dargestellt sind oder nicht, und wie die einzelnen Komponenten untereinander in Beziehung stehen.

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Zur Bedeutung von Bildern

Topographische Darstellung von Gehirnaktivität Abb. 2: Topographische Karte der Klassifikationsgüte zur Unterscheidung von vier verschiedenen mentalen Aufgaben.

Quelle: Schlögl A., Lee FY., Bischof H., Pfurtscheller G. 2005

Abbildung 2 stellt eine topographische Karte dar. Solche Darstellung werden in der EEG Analyse häufig verwendet um eine Lokalisierung von Gehirnaktivität darzustellen, wobei eine Vielzahl von verschiedenen Eigenschaften des EEG damit dargestellt werden kann. Im einfachsten Fall kann man die laufende und sich ständig ändernde Potentialverteilung wie in einem Film darstellen. Häufig wird damit auch die räumliche Verteilung von sogenann-

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Alois Schlögl ten evozierten Potentialen6 dargestellt. Oder man kann die Leistung eines bestimmten Frequenzbands darstellen. Im Fall von Abbildung 2 wurden noch weitere Verarbeitungsschritte angewandt, mit dem Ziel jene Positionen hervorzuheben, welche die größtmögliche Trennbarkeit zwischen 4 verschiedenen Zuständen ermöglicht. Dazu wurden Merkmale extrahiert, Klassifikatoren erstellt und validiert, das Ergebnis von für jede Elektrodenposition und jedes Paar von Elektroden ermittelt, und die mittlere Klassifikationsgüte über die verschiedenen Elektrodenpositionen dargestellt. Dies entspricht einer Offline-Analyse in Abbildung 1b. Die Details der verwendeten Methoden sind in Schlögl A., Lee FY., Bischof H., Pfurtscheller G. 2005 beschrieben. Im vorliegenden Fall von Abbildung 2 kann man sehen welche EEG Elektroden am besten geeignet sind um ein Brain-Computer Interface zu steuern, und bei welchen Versuchspersonen ein guter Erfolg erwartet werden kann. Wichtig ist zu verstehen, dass verschiedene Methoden angewandt werden können um topographische Karten zu erstellen. Dabei können aus demselben Experiment, ähnliche oder auch sehr verschiedene Karten entstehen, je nach dem welche Methode angewandt wird und welche Fragestellung (bzw. Hypothese) zugrunde gelegt wird. Die Bedeutung dieser topographischen Karten hängt ganz entscheidend auch dieser Fragestellung und den Analysemethoden ab. Diese bestimmen den Kontext in dem die Abbildung eine Bedeutung erhält. Eine unwichtige Fragestellung kann wunderschöne Darstellung ergeben ohne dass sie jedoch von Bedeutung ist. Umgekehrt kann ein „unschönes“ Detail möglicherweise ein der Anlass für neue Erkenntnis sein.

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Ein evoziertes Potential erhält man in dem man einen bestimmten Stimulus (z.b. visuell, akustisch etc.) wiederholt der Versuchsperson präsentiert, und die Mittlere Reizantwort ermittelt.

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Zur Bedeutung von Bildern

Funktionelle Kopplungen im Gehirn In einer Untersuchung 7 wurde Versuchspersonen „bedeutungsvolle“ (engl.: familiar) und „bedeutungslose“ (engl.: unfamili8 ar) Objekte visuell präsentiert. Dabei wurde das Elektroenzephalogramm von der Kopfoberfläche gemessen. Mit einer Methode zur „Quelllokalisierung“ wurde die Gehirnaktivität in den Arealen „inferior-temporal gyrus (ITG), left“, „superior-parietal lobe (SPL), bilateral“ und „middle frontal gyrus (MFG), right“ geschätzt, und versucht mit verschiedenen Methoden auf die funktionelle Kopplung zwischen diesen Arealen zu schließen. Das Ergebnis ist in Abb 3 dargestellt. Abb. 3: Funktionelle Kopplungen im Gehirn

In der Abbildung 3 sind die Ergebnisse von zwei verschiedenen Methoden, dem „phase locking value“ (PLV) und der „partial directed coherence“ (PDC) für die beiden Bedingungen „familiar“ und „unfamiliar“ verglichen. Dabei sieht man, dass es bei „bedeutungsvollen“ Objekten zu Kopplungen und Interaktionen zwischen den Gehirnregionen ergibt. Bei der Präsentation von „bedeutungs-

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Supp, G. .; Schlögl, A.; Trujillo-Barreto, N.; Müller, M. M.; Gruber, T., Directed Cortical Information Flow during Human Object Recognition: Analyzing Induced EEG Gamma-Band Responses in Brains source Space. PLoS ONE [Elektronische Ressource] 2 (2007) 8, S. e684 – e684. Bedeutungsvolle Objekte sind Objekte welche der Umwelt eine konkrete Bedeutung haben wie z.b. eine Geige oder eine Elefant, bedeutungslose Objekte sind abstrakte Gebilde ohne eine konkrete Bedeutung.

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Alois Schlögl losen“ Objekten kann nur eine wesentlich geringere Interaktion festgestellt werden. Wenn man nun die beiden Methoden, PLV und PDC, vergleicht, sieht man dass PDC durch gerichtete Pfeile dargestellt ist, während die PLV nur einfache Verbindungen aufzeigt. Dies ist in der Eigenschaft der PDC begründet, welches ein Maß für eine „kausale“ Verbindung darstellt, also eine Ursache-Wirkung Beziehung analysieren kann, während die PLV nicht geeignet ist um Kausalverbindungen aufzuzeigen. Die Ergebnisse der PDC Analyse lassen vermuten, dass es sich um bi-direktionale Verbindungen zwischen den einzelnen Gehirnarealen handelt. Diese Schlussfolgerung kann anhand der der PLV Ergebnisse nicht getroffen werden. Die „unfamiliar“ Ergebnisse zeigen unterschiedliche Verbindungen, und scheinen sogar einen Widerspruch zwischen PDC und PLV zu zeigen. Die Darstellung ist für sich alleine also nicht ausreichend um eine endgültige Antwort zu geben welche Ergebnisse nun der Wirklichkeit entsprechen. Aber aufgrund von Ergebnissen von Computersimulationen kann man zeigen, das PDC besser geeignet ist die Struktur von gekoppelten Systemen wiederzugeben. Man auch sehen, dass die PDC, im Gegensatz zur PLV, in der Lage ist zwischen unidirektionalen und bidirektionalen Verbindungen zu unterscheiden. Damit liefert die PDC auch eine wesentlich spezifischere Aussage. Es ist wichtig zu verstehen dass es sich bei diesen Bildern um indirekte Ergebnisse handelt. Gemessen wurde das EEG an der Kopfoberfläche, trotzdem wurden Rückschlüsse auf die Verhältnisse innerhalb des Gehirns gezogen. Eine direkte Validierung ist mit der heutigen Technologie aufgrund von ethischen Überlegungen nicht vertretbar. Es ist damit nicht „bewiesen“ ob die Wirklichkeit diesen Ergebnissen tatsächlich entspricht, sondern es handelt sich um eine bestmögliche Schätzung aufgrund der angewandten Methoden. Um dieses Bild richtig zu verstehen, ist es also wichtig den Kontext der Fragestellung und Analysemethode zu berücksichtigen.

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Zur Bedeutung von Bildern

Zusammenfassung Die Informationstheorie9 ermöglicht eine Quantifizierung einer Nachricht. Damit ist es auch möglich bedeutende von weniger bedeutungsvollen Nachrichten zu unterscheiden. Es gibt keine Grund, weshalb Bilder nicht auch als „Nachrichten“ im Sinne der Informationstheorie betrachtet werden können. Eine Konsequenz der Informationstheorie ist, dass der Informationsgehalt einer Mitteilung (e.g. Bildes) nur in einem vorgegeben Kontext (i.e. der Menge der möglichen verschiedenen Mitteilungen) bestimmbar ist. Eine weitere Konsequenz ist, dass erfolgreiche Informationsübertragung nur stattfinden kann, wenn Sender und Empfänger die Nachricht im selben Kontext verstehen. Was ist nun die Menge der möglichen Nachrichten, i.e. der Kontext, in den einzelnen Bespielen. Bei technischen Zeichnungen (wie in Abb. 1a und 1b) ist für die Bedeutung eines Bildes nicht wichtig ob das Bild mit der Freihand oder mit einem Lineal oder am Computer erstellt wurde, oder ob es sich um eine Fotografie handelt. Solange die Elemente und die Beziehung zwischen den Elementen gleich ist, wird auch die Bedeutung gleich sein. Falls man dieselben Bilder allerdings nach anderen Gesichtspunkten beurteilt, wird eine Freihandzeichnung sehr wohl von einer maßstabsgetreuen Abbildung oder eine Fotografie unterschieden werden. In Abbildung 1a und b ist auch das Ziel ein BCI von anderen ähnlichen Systemen zu unterscheiden, sowie die einzelnen Komponenten mehr oder weniger stark hervorzuheben. Die Beispiele der topographischen Darstellung von Gehirnaktivität, der Kopplungen im Gehirn, wie auch der Bilder aus fMRT Messungen10 sind immer nur so stark wie die zugrunde liegenden Analysemethoden. Hier stellt also die verwendeten Analysemethoden den Kontext dar, innerhalb dessen die Bedeutung (i.e. den Informationsgehalt) bewertet wird. Dabei gibt es natürlich auch bessere und weniger gut geeignete Methoden, um Daten zu analysieren. Der scheinbare Widerspruch kann in der Regel damit auf-

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Claude E. Shannon: A mathematical theory of communication. Bell System Tech. J., 27:379–423, 623–656, 1948. 10 Brains on Fire – Bilder der Neurobiologie. Ein Gespräch der Bildwelten des Wissens mit Randolf Menzel und David Poeppel. Instrumente des Sehens. Bildwelten des Wissens, Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 2,2. Editoren: Angela Fischel,. M. Pratschke und B. Schneider. Akademie Verlag, Herausgeber Horst Breedekmap und Gabriele Wieser, 2003.

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Alois Schlögl geklärt werden, dass man den „Kontext“ in die Betrachtungen einbezieht. Wenn man also den Kontext bei der Betrachtung von Bildern mitberücksichtigt, ist die Auseinandersetzung über die Bedeutung von Bildern11 kein Widerspruch. Der „Kontext“ stellt auch gemeinsame Basis dar, um eine erfolgreiche Informationsübertragung durchzuführen, ist es auch wichtig das Sender und Empfänger die übertragene Information im selben Kontext sehen, es also eine gemeinsame Übereinkunft über den Kontext gibt, in dem eine „Nachricht“ übertragen wird. Das Prinzip der Informationstheorie kann auch auf die fächerübergreifende Diskussion dieses Bandes angewandt werden. Selbst wenn der gemeinsame Kontext zwischen einer naturwissenschaftlichen Betrachtung einerseits und sozial- und kulturwissenschaftlichen Betrachtung noch nicht garantiert ist, besteht doch die Möglichkeit dass eine Diskussion einen gemeinsame Basis (i.e. Kontext) für eine befruchtende Diskussion geschaffen wird.

Literatur Brains on Fire – Bilder der Neurobiologie. Ein Gespräch der Bildwelten des Wissens mit Randolf Menzel und David Poeppel. Instrumente des Sehens. Bildwelten des Wissens, Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 2,2 . Editoren: Angela Fischel,. M. Pratschke und B. Schneider. Akademie Verlag, Herausgeber Horst Breedekmap und Gabriele Wieser, 2003 J.M. Ottino, Is a picture worth 1000 words? Nature, 423, 30 Jan 2003, S 474–6. Birbaumer N, Ghanayim N, Hinterberger T, Iversen I, Kotchoubey B, Kübler A, Perelmouter J, Taub E, Flor H. A spelling device for the paralysed. Nature. 1999 Mar 25;398(6725):297–8.

11 Brains on Fire – Bilder der Neurobiologie. Ein Gespräch der Bildwelten des Wissens mit Randolf Menzel und David Poeppel. Instrumente des Sehens. Bildwelten des Wissens, Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 2,2. Editoren: Angela Fischel,. M. Pratschke und B. Schneider. Akademie Verlag, Herausgeber Horst Breedekmap und Gabriele Wieser, 2003.

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Zur Bedeutung von Bildern Schlögl A, Lee FY, Bischof H, Pfurtscheller G Characterization of Four-Class Motor Imagery EEG Data for the BCI-Competition 2005. Journal of neural engineering 2 (2005) 4, S. L14–L22 Schlögl A., Brunner C. BioSig: A Free and Open Source Software Library for BCI Research, Computer, vol. 41, no. 10, pp. 44– 50, October, 2008. Supp, G. .; Schlögl, A.; Trujillo-Barreto, N.; Müller, M. M.; Gruber, T Directed Cortical Information Flow during Human Object Recognition: Analyzing Induced EEG Gamma-Band Responses in Brains source Space. PLoS ONE [Elektronische Ressource] 2 (2007) 8, S. e684 – e684 Claude E. Shannon: A mathematical theory of communication. Bell System Tech. J., 27:379–423, 623–656, 1948. A. Schlögl, J. Kronegg, J.E. Huggins, S. G. Mason; Evaluation criteria in BCI research. (Eds.) G. Dornhege, J.R. Millan, T. Hinterberger, D.J. McFarland, K.-R.Müller; Towards BrainComputer Interfacing, MIT Press, 2007, p.327–342

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„Bilderreich und Wortgewandt“ – Bildwissenschaft im Kindergarten Die symbolische Praxis des Sprechens über Bilder und ihre Relevanz für die Frühpädagogik FRIEDERIKE PLAGA Menschen unterscheiden sich von allen anderen Lebewesen durch ihre Fähigkeit, eine große Anzahl unterschiedlicher Symbolsysteme zu kreieren und zu verstehen. Diese Fähigkeit macht Kultur überhaupt erst möglich, denn wir können dadurch nicht nur Informationen von einer Generation zur nächsten weitergeben, sondern wir können Dinge lernen, ohne direkte Erfahrungen mit ihnen zu machen. Kinder sind von Geburt an von den Symbolsystemen Sprache und Bild umgeben, sie durchlaufen eine bildnerische und eine sprachlich-literarische Sozialisation, die eng miteinander verknüpft sind. Die Entwicklung von Symbolisierungsfähigkeit ist ein zentrales Thema in der frühkindlichen Entwicklung, denn die Ausdifferenzierung dieser Fähigkeit ist Voraussetzung für die kindliche Teilnahme an Kultur und Bildung. Die Entwicklung von Bildkompetenz in den ersten Lebensjahren ist bislang von der Frühpädagogik nicht differenziert dargestellt worden. Das Bildersehenlernen findet in einer sozialen Situation zwischen Kind und Erwachsenem statt. Im pädagogischen Kontext ist die Situation, wenn Kind und Erwachsener zusammen ein Bilderbuch anschauen und darüber sprechen, besonders effektiv für den Erwerb von Bild- und Sprachkompetenz, denn das Kind lernt, sich gleichzeitig in den beiden zentralen Symbolsystemen Bild und Sprache zu bewegen. Das Sprechen über Bilder ist eine Szene gemeinsamer Aufmerksamkeit mit dem Fokus auf die symbolische Darstellung eines Aspektes von Wirklichkeit. Diese spezielle symbolische, soziale Praxis des Sprechens von Kind und Erwachsenem über Bilder ist Thema dieses Beitrags.

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Friederike Plaga Nachdem ich allgemein beschreibe, was Bilderwerb und Spracherwerb für Prozesse sind und was Kinder in diesen Prozessen für Fähigkeiten erwerben, möchte ich in meinem Beitrag exemplarisch darstellen, welche Faktoren in dieser sozialen symbolischen Praxis eine Rolle spielen: 1. Welche kindlichen Fähigkeiten sind Voraussetzung, um Worte und Bilder als Repräsentationen von Wirklichkeiten zu verstehen? 2. Welche Relevanz hat der Einfluss des erwachsenen Mitbetrachters auf den Prozess? 3. Wie beeinflusst die Auswahl der Bilder die Entwicklung von Bildkompetenz? Ein Zusammenspiel dieser verschiedenen Faktoren fördert den Aufbau eines differenzierten mentalen Bildarchivs und führt zu einer differenzierten Sprache im frühen Kindesalter. Durch die wissenschaftliche Analyse dieser Situation sollen Rückschlüsse für die bildpädagogische Arbeit im Kindergarten gezogen werden. Wie muss die Kommunikation über welche Bilder beschaffen sein, damit Erzieherinnen eine Atmosphäre herstellen, in der sich Bild- und Spracherwerb optimal entwickeln können? Wissenschaftliche Forschungsergebnisse aus unterschiedlichen Disziplinen, wie zum Beispiel Bildwissenschaften, Entwicklungspsychologie, Evolutionäre Anthropologie und Spracherwerbsforschung, können für eine pädagogische Praxis des Bildersehenlernens genutzt werden. Der kindliche Umgang mit Bildern erleichtert den Erwerb repräsentationaler Einsichten und bereitet den Weg für eine symbolische Sensitivität, die eine Grundlage ist, um mit komplexeren Symbolssystemen, wie z.B. mit Schriftsprache, umzugehen. Den bildpädagogischen Arbeitsansatz Bilderreich und Wortgewandt, der den Erwerb von Sprach- und Bildkompetenz in den Mittelpunkt pädagogischer Arbeit in Kindertagesstätten rückt, stelle ich am Ende des Beitrags vor.

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Bilderreich und Wortgewandt

Verschränkungen der Prozesse Bilderwerb und Spracherwerb Bilderwerb und Spracherwerb sind zwei miteinander eng verknüpfte zentrale soziale Prozesse, die Kinder parallel im frühen Kindesalter durchlaufen. Das Erlernen des Bildersehens ist ein vielschichtiger psycho1 logischer, ästhetischer, kultureller und sozialer Prozess. Visual literacy nennt man die Fähigkeit, Bildern zu verstehen und selbst mentale Bilder herstellen zu können; visual literacy ist nicht angeboren, sie wird in einem Lernprozess erworben. Kann man die Strukturen des Spracherwerbs mit denen des Bilderwerbs vergleichen, bzw. wie sind diese beiden Prozesse ineinander verzahnt und welche strukturellen Ähnlichkeiten weisen sie auf? Die Entwicklung von Symbolisierungsfähigkeit, also das Verständnis davon, dass ein Bild oder ein Wort für etwas steht, das mit der Wirklichkeit in Verbindung steht, aber nicht anwesend ist, ist ein Lernprozess, der im frühen Säuglingsalter beginnt und ganz bestimmte Bedingungen braucht. Sowohl beim Spracherwerb als auch beim Bilderwerb hat dieser Prozess immer auch mit dem Entstehen von Vorstellungsbildern zu tun, denn sowohl zu den Begriffen als auch zum Erkennen von Bildern erzeugen Kinder mentale Bilder, vielmehr sie vergleichen bereits gespeicherte innere Bilder mit einem aus den neu ankommenden Sinnesdaten erzeugten Wahrnehmungsbild. Wenn ein bereits vorhandenes und ein neues Aktivierungsmuster teilweise übereinstimmen, kommt es zu einer veränderten Vorstellung. Im kindlichen Gehirn ist, während der Phase der Hirnreifung, die Bereitschaft, bereits vorhandene innere Bilder zu verändern, besonders groß.2 Auf einer einfachen Ebene hängt der Erwerb von Bildkompetenz immer mit dem Sprechen über Bilder zusammen, denn bildliche Sozialisation ist nicht denkbar ohne sprachliche Kommunikation über Bilder, aber auch der Spracherwerb ist nicht denkbar ohne den Erwerb von mentalen Bildern. Kinder lernen, wenn sie das Wort „Vogel“ hören, sich im Kopf ein Bild eines Vogels abzurufen.

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Vgl. Jens Thiele, Aspekte der bildnerischen Sozialisation, in: Jens Thiele, Jörg Steitz-Kallenbach, Handbuch Kinderliteratur, Freiburg, 2003, S. 37 ff. Vgl. Gerald Hüther, Die Macht der inneren Bilder, Göttingen, 2006, S. 73 ff.

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Friederike Plaga „Die Fähigkeit, mentale Bilder zu erzeugen und diesen Wörtern, später Sätze zuzuordnen, ist ein wesentlicher Schritt zum Verständnis von Literatur. Wer diese Fähigkeit gar nicht oder nur rudimentär erworben hat, findet kein Vergnügen an fiktionalen Texten, weil diese gerade die Möglichkeit voraussetzen, sich sprachlich dargestellte Handlungen, Personen, Lokalitäten usw. bildlich im Kopf vorzustellen und ihnen dadurch Plastizität zu verleihen.“

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Am Anfang dieser Prozesse lernen Kinder die Bezeichnung eines Gegenstandes mit einem Wort. Dieses Wort verknüpft das Kind mit einem mentalen Bild, sodass es möglich wird, das Wort als Repräsentation des abwesenden Gegenstandes zu benutzen. Die Abbildung eines Gegenstandes auf einem Bild lernt das Kind ebenfalls als Repräsentationen von Wirklichkeit zu erkennen. Es gilt also, den wirklichen sichtbaren Gegenstand, das Bild des Gegenstandes und das mentale Bild des Gegenstandes in Einklang zu bringen. Begriffe bezeichnen reale Gegenstände, Gegenstände auf Bildern und geistige Bilder von Gegenständen. Mit zunehmendem Alter entwickelt sich der Spracherwerb zum immer komplexeren Verstehen von Sätzen und Grammatikkonstruktionen. Gegenstände und Ereignisse werden durch lautliche Symbole ersetzt und die Beziehungen zwischen Gegenstän4 den und Ereignissen werden zu Grammatik. Der Bilderwerb entwickelt sich weiter zum Verstehen von Zusammenhängen im Bild, zum Verstehen von kontinuierenden Darstellungsformen, von Bilderfolgen und von aufeinander folgenden monoszenischen Bildern. Sowohl die Sprache als auch Bilder ermöglichen es jedoch, nicht nur abwesende Wirklichkeit zu repräsentieren, sondern beide Systeme machen es uns möglich, die Wirklichkeit zu überschreiten. „Bilder sind Manifestationen semantischer, syntaktischer sowie pragmatischer Strukturen. Mehr noch: als Erkenntnis- und Kommunikationsmedium objektivieren sie nicht nur wirkliche sondern auch mögliche Welten, Formen und Bedeutungen.“ 3

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Bettina Kümmerling-Meibauer, Erste Bilder, erste Begriffe: Weltwissen für Kleinkinder, in: Kümmerling-Meibauer, Maria Linsmann, Literatur im Laufstall, Troisdorf, 2009, S. 31. Vgl. Gisela Szagun, Das Wunder des Spracherwerbs, Weinheim, 2007. Elize Bisanz, Denken in Bildern – Bilder als Konzepte organischer und geistiger Synergien in: Clausberg, Bisanz, Weiller, Ausdruck, Ausstrahlung – Aura. Synästhesien der Beseelung im Medienzeitalter, Frankfurt, 2006.

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Bilderreich und Wortgewandt

Welche Fähigkeiten entwickeln Kinder beim Bilderwerb? Zwei Fähigkeiten bilden die Grundlage für ein Verständnis des Bildes als Repräsentation von Wirklichkeit: Es ist die Fähigkeit der Projektion von dreidimensionalem Objekt zu zweidimensionaler Abbildung auf die Fläche und umgekehrt, und es ist die Fähigkeit, Schemata zu erfassen, also die Ähnlichkeit zwischen etwas Abgebildeten und der Wirklichkeit zu erkennen, z.B. einen Apfel als Apfel zu erkennen, egal welche Farbe er hat, ob er abstrakt oder fotorealistisch dargestellt ist. Um das zu können, muss ein Kind prototypische Merkmale des Objektes auf dem Bild erfassen können. Sowohl Bilder als auch Begriffe können prototypische Strukturen haben. Um den Begriff „Vogel“ richtig benützen zu können, verwenden Kinder eine prototypische Begriffsstruktur. Ein Begriff ist durch Merkmale charakterisiert. Die Exemplare eines Begriffes, die viele kennzeichnende Merkmale auf sich vereinigen, nennt man prototypische Exemplare eines Begriffs. Zum Beispiel ist die Amsel ein prototypischer Vertreter des Begriffs „Vogel“ (klein, singt, zwitschert, fliegt, sucht Insekten), während ein Pinguin diese Merkmale nicht aufweist und trotzdem unter den Begriff „Vogel“ fällt. Kinder beherrschen zunächst nur einen Teil der Merk6 male, die die Bedeutung eines Wortes ausmachen. Wenn ein eineinhalbjähriges Kind zu einem Hund „Katze“ sagt, so hat es für „Katze“ vor allem das Merkmal „vier Beine“ gespeichert, die anderen Merkmale, die einen Hund von einer Katze unterscheiden, hat es noch nicht gelernt. Grundlegend für jedes Umgehen mit Bildern ist die Fähigkeit zu visueller Vorstellung, die beinhaltet, dass Objekte oder Beziehungen in der Vorstellung reproduziert werden können und mit diesen Vorstellungsinhalten gedanklich operiert werden kann, sodass neue Bilder in der Vorstellung entwickelt werden können. Um Bildkompetenz zu erlangen, bilden Kinder in Bezug auf Bilder zunächst basale Fähigkeiten aus. Das ist die Figur-GrundDiskrimination als die Fähigkeit, aus einem komplexen optischen Bildhintergrund Teilfiguren zu erkennen und zu isolieren. Es die Wahrnehmungskonstanz als die Fähigkeit, eine Figur in verschiedenen Größen, Anordnungen, räumlichen Lagen, aus verschiedenen Perspektiven dargestellt, im Bild als dieselbe Figur wieder zu erkennen und von anderen Figuren zu unterscheiden; und es ist 6

Vgl. Gisela Szagun, Das Wunder des Spracherwerbs, S. 56–59.

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Friederike Plaga die Fähigkeit zur Wahrnehmung räumlicher Beziehungen als die Fähigkeit, räumliche Beziehung zwischen Objekten im Bildraum zu erkennen. Außerdem lernen Kinder im Umgang mit Bildern, das Dynamische im Bild mitzudenken. Obwohl das Bild, auf dem ein Kind schaukelt, statisch ist, stellt es eine Bewegung dar. Im weiteren Entwicklungsverlauf ist Bildkompetenz das differenzierte Verstehen von unterschiedlichen Bildgrammatiken innerhalb eines Bildes, z.B. in pluriszenischen Darstellungen oder in kontinuierlichen Bilderzählformen und das Verstehen von aufeinander folgenden Einzelbildern im Comic, in der Bildergeschichte und schließlich in monoszenischen Einzelbildern, die aufeinander folgen.

Entwicklungen, die zum Verständnis von Bildern führen Bevor das Kind mit einem bis eineinhalb Jahren die ersten Worte spricht und auf Dinge in Bildern zeigt, sie erkennt und benennt, muss es Fähigkeiten entwickeln, damit das überhaupt möglich wird. Kinder fangen ungefähr mit neun Monaten an, sich für Bilder in Bilderbüchern zu interessieren. Das ist deshalb so, weil sie in diesem Alter ihre Aufmerksamkeit lenken können. In diesem Alter beobachten und verstehen sie, dass andere Menschen zielgerichtet mit Gegenständen der Umwelt umgehen und gleichzeitig zu ihnen einen Bezug herstellen. „Mit neun Monaten fangen Kleinkinder an, eine Reihe von Verhaltensweisen zu zeigen, die das plötzlich auftauchende Verstehen anderer Personen als intentionale Akteure widerspiegeln, deren Beziehung zu äußeren Gegenständen nun verfolgt, gesteuert oder geteilt werden können.“7

Das bedeutet, zwischen neun und zwölf Monaten nehmen Säuglinge das Verhalten Erwachsener gegenüber Gegenständen bewusst wahr, sie verhalten sich triadisch, d.h. heißt Kind, Erwachsener und Gegenstand interagieren in einer Szene gemeinsamer Aufmerksamkeit. Diese Fähigkeit ist Voraussetzung für ein gemeinsames Bilderbetrachten. Das Kind blickt zuverlässig dorthin, wo der Erwachsene hinblickt, es interagiert in Bezug auf einen 7

Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, Frankfurt, 2002, S. 77ff.

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Bilderreich und Wortgewandt Gegenstand über eine längere Zeitspanne und es imitiert den erwachsenen Umgang mit Dingen. Kleinkinder können mit neun Monaten die intentionalen Handlungen eines Erwachsenen gegenüber äußeren Gegenständen reproduzieren, während sie vor diesem Alter nur von Angesicht zu Angesicht, also dyadisch imitieren können. Zum Beispiel strecken Babys mit sechs Monaten die Zunge heraus, wenn Eltern es vormachen. Durch das triadische Imitieren kann das Kind überhaupt erst etwas über den Gebrauch von Artefakten lernen. Dadurch, dass ein Kind beobachtet, wie ein Erwachsener ein Artefakt, z. B ein Bild, gebraucht, versucht das Kind, indem es das Verhalten des Erwachsenen imitiert, zu erkennen, zu welchem Zweck der Erwachsene das Symbol verwendet, also warum z. B der Erwachsene ein Bild anschaut, statt etwas anderes mit ihm zu tun. Tomasello beschreibt dieses kindliche Verhalten als ein Hin8 einversetzen in den intentionalen Raum des Erwachsenen. „Die neu auftretenden Tätigkeiten der gemeinsamen Aufmerksamkeitslenkung sind nichts anderes als die ontogenetische Manifestation der einzigartigen sozio-kognitiven Anpassung des Menschen für die Identifikation mit anderen, wodurch diese als intentionale Akteure wie das eigene Selbst verstanden werden.“

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Tomasello sieht diese Fähigkeit der gemeinsamen Aufmerksamkeitslenkung als eine Art Eintrittskarte an für die kindliche Teilhabe an Kultur. Das Verständnis von anderen als intentionalen Wesen ist ein Schlüssel, um an dem Kollektiv der menschlichen Kognition teilzuhaben und diese kreativ weiterzuentwickeln. „Das menschliche Verstehen von Artgenossen als intentionale Wesen ist somit eine kognitive Fähigkeit, die aus der Identifikation des Menschen mit seinen Artgenossen hervorgeht, sehr früh in der Kindheit auftritt und artspezifisch ist.“

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Denn nur wenn Kinde verstehen, dass andere Personen intentionale Beziehungen zur Welt unterhalten, und verstehen, dass diese Strukturen ihren eigenen ähnlich sind, können sie auch von

8 Vgl. Ebd. Tomasello, , S.104. 9 Vgl. Ebd. Tomasello. S.18. 10 Vgl. Ebd. Tomasello, S.96 f.

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Friederike Plaga anderen Individuen lernen, bzw. von ihren symbolischen Repräsentationen, z. B. von Bildern.11 Schon ganz kleine Kinder ergreifen Gegenstände und auch die ersten Bilderbücher, um an ihnen zu saugen, denn sie wollen etwas über die Angebote solcher Objekte im Hinblick auf Handlun12 gen lernen. De Loache hat sich in unterschiedlichen Untersuchungen damit beschäftigt, wie Kinder am Beginn ihres Lebens mit Bildern umgehen. Untersucht wurde die Fähigkeit der Kinder zweidimensionale Bilder von dreidimensionalen Objekten wieder zu erkennen. Die Wahrnehmung von Bildern ist bei Kindern sehr früh entwickelt, schon Neugeborene scheinen zweidimensionale Versionen von dreidimensionalen Objekten zu erkennen.13 In einer Untersuchung zur Bildwahrnehmung von fünf Monate alten Kindern stellt De Loache fest, dass die einfache Bildwahrnehmung, die eine Entsprechung von Objekt und Bild herstellt, nicht gelernt werden muss. Weiterhin untersucht sie, in welchem Unfang Kinder im Stande sind, zwei-dimensionale Bildreize, die in verschiedenen Graden dem dreidimensionalen Objekt ähnlich sehen, zu erkennen.14 Kleinkinder von neun Monaten finden Bilder verwirrend, denn sie können zwar ein Bild von einem Objekt unterscheiden, aber sie verstehen noch nicht, was ein Bild ist. Sie verstehen den Charakter einer dualen Repräsentation nicht. Neun Monate alte Kinder behandeln farbige Fotografien so, als wären sie tatsächlich die Objekte, die sie darstellen, sie lecken am abgebildeten Eis und beißen in Äpfel, sie bearbeiten Bilder haptisch, denn sie verstehen noch nicht , wie sich abgebildete von wirklichen Dingen unter15 scheiden. Besonders schwer fällt ihnen das, wenn die Bilder sehr realistisch sind, wie z.B. Farbfotografien. Es hängt also auch von der Art des Bildes ab, wie schwierig sich das Verständnis des Bildes als Symbol gestaltet. Je mehr das abgebildete Objekt dem wirklichen Gegenstand gleicht, desto schwieriger ist es für das 11 Vgl. Ebd. Tomasello,. S.16. 12 Vgl. Ebd. Tomasello, S.104. 13 A.M. Slater, D. Rose, V. Morison, New-born infants perception of similarities and differences between two-and three-dimensional stimuli, in: British Journal of Developmental Psychology, 2, S. 287–294. 14 Judy S. De Loache, Mark S. Strauss, Jane Maynard, Picture Perception in Infancy, in: Infant Behavior and development 2, 7S. 7–89 (1979). 15 Sophia L. Pierroutsakos, Judy S. De Loache, Infant’s Manual Exploration of Pictorial Objects Varying in Realism in: Infancy, 4(1), S. 141–156.

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Bilderreich und Wortgewandt Kind, eine duale Repräsentation anzunehmen. Untersuchungen, in denen man neun Monate alten Kindern Farbfotografien, Schwarz-Weiß-Fotografien, farbige Zeichnungen und SchwarzSchweiß-Zeichnungen z.B. eines Autos, vorlegte, ließen klar werden, dass es eine direkte Korrelation zwischen manueller Exploration und Realistik des Bildes gibt. Eine schwarz-weiße Zeichnung wird von dem neun Monate alten Kind weniger manuell exploriert als eine Fotografie. Mit 11–12 Monaten fangen Kinder an, deiktische Gesten zu benutzen, sie deuten auf etwas, was dann gemeinsamer Bezugs16 punk wird. Tomasello nennt das triadisch deklarative Gesten. Besonders die Gesten des Hinlangens mit offener Hand und die gezielte Zeigegeste mit dem Zeigefinger sind dazu geeignet, die kindliche Initiative auszudrücken in dieser triadischen Kommunikationssituation mit dem Erwachsenen und dem Bild. Mit achtzehn Monaten hat das Zeigen auf Dinge im Bild die manuelle Exploration der Bilder vollständig abgelöst, die distanzierende Geste des Zeigens bildet den Beginn eines Verständnisses von Bildern als Repräsentationen von Wirklichkeit.

Die Kommunikation über das Bild zwischen Kind und Erwachsenem Wenn sich nun das Verständnis des Bildes als Symbolsystem ausbildet, dann entwickelt sich das Bildverständnis weiter in einem Prozess des Austauschs zwischen Kind und Erwachsenem über den Sinn der Bilder, darüber, was die Bilder erzählen. Das Sprechen über ein Bilderbuch ist eine Szene gemeinsamer Aufmerksamkeit von Kind und Erwachsenem auf ein Bild. Dabei lernt das Kind im Gespräch, wie Bedeutungen entstehen. Sprachliche Symbole repräsentieren die Welt nicht direkt, sondern werden mit dem Ziel verwendet,, andere dazu zu bringen, bestimmte wahrnehmungsgemäße oder begriffliche Situationen auf die eine statt auf die andere Art aufzufassen. Sprechen ist ein sozialer Akt, bei dem eine Person versucht, die Aufmerksamkeit einer anderen Person auf etwas in der Welt zu fokussieren, daher lernt man Sprache nur im sozialen Kontext. Tomasello nennt diesen Kontext Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit. Damit meint er eine soziale Interaktion, bei der Kind und Erwachsener während einer bestimmten Zeit ihre Aufmerksamkeit auf einen dritten 16 Vgl. Tomasello, S. 107 ff.

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Friederike Plaga Gegenstand richten und außerdem gegenseitig auf die Aufmerksamkeit des anderen hinsichtlich dieses dritten Gegenstandes achten.17 Diese Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit sind durch zwei Merkmale gekennzeichnet. Zum einen sind sie keine Wahrnehmungsereignisse, weil sie nur eine Teilmenge von Gegenständen aus der Wahrnehmungswelt des Kindes beinhalten. Sie sind auch keine sprachlichen Ereignisse, denn sie beinhalten mehr Dinge als jene, die von sprachlichen Symbolen angezeigt werden. „Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit sind also in einem Zwischenbereich angesiedelt – einem wesentlichen Zwischenbereich sozial geteilter Wirklichkeit – zwischen der größeren Welt der Wahrnehmung und der kleinen Welt der Sprache.“

18

Bei dem Gegenstand der folgenden Betrachtungen, dem Sprechen über ein Bild, ist die Teilmenge der Wahrnehmung besonderer Art, sie ist symbolischer Art. Ich benutze eine symbolische Form, um mich einer symbolischen Form anzunähern. In diesen Szenen nimmt das Kind den Gegenstand, die andere Person und sich selbst wahr, was für den Spracherwerb sehr zentral ist. Eine Szene gemeinsamer Aufmerksamkeit stellt einen intersubjektiven Kontext bereit, indem ein Symbolisierungsprozess stattfindet. Damit eine Szene gemeinsamer Aufmerksamkeit als Format zum Spracherwerb fungieren kann, muss das Kind verstehen, dass es Mitspielerrollen gibt, die austauschbar sind. Das Kind lenkt die Aufmerksamkeit genauso, wie der Erwachsene es tut. Tomasello nennt das Imitation durch Rollentausch. Imitation durch Rollentausch bedeutet, dass das Kind durch Imitation lernt, ein Symbol genauso zu benutzen, wie der Erwachsene es tut. Kinder müssen lernen, dass sprachliche Symbole verschiedene Perspektiven auf einen Gegenstand verkörpern. Bilder verkörpern eine bestimmte bildliche Perspektive auf einen Gegenstand, einen Zustand, einen Handlungszusammenhang. Für die pädagogische Arbeit mit Bildern sind Forschungen maßgeblich, die darzustellen versuchen, wie die Erwachsenen in der Kommunikation mit Kinder über Bilder agieren können, um den Bilderwerb zu fördern. Ninio und Bruner haben in ihren For-

17 Vgl. Tomasello, S.117. 18 Vgl. Tomasello, S.118.

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Bilderreich und Wortgewandt schungen festgestellt dass es beim Bücherlesen mit Kindern im zweiten Lebensjahr natürliche Strategien gibt, die die Äußerungen der Mütter auf wenige Grundtypen beschränken, nämlich 1. Ausruf: z.B. „Schau!“, 2. Frage: z.B. „Was ist da?“, 3. Bezeichnung: 19 „Das ist ein X.“, 4. Rückmeldung: z.B. „Ja.“ Auch wenn die Bezugspersonen in diesem frühen Alter der Kinder nicht sicher sein können, ob das Hinweisen auf und Lehren von Bedeutung von den Kindern verstanden wird, so geht es in dieser Kommunikation über Bilder darum, über Bedeutungen zu verhandeln; zugrunde liegt die Annahme, dass irgendwo eine Verständigungsbasis gefunden werden kann. „Wir dürfen wohl schließen, dass die Meisterung des Bedeutens durch Kinder ebenso sehr von der Bewältigung der Gesprächsregeln abhängt, wie von der individuellen Fähigkeit, Wahrnehmungen mit Lauten und mit inneren kognitiven Repräsentationen der Welt zu verknüpfen. Denn wie wir gesehen haben, hat Bedeuten nicht nur mit der Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichneten zu tun, sondern auch mit den zwischenmenschlichen Strategien zur gegenseitigen Abstimmung der Bezeichnungen.“

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Zur Forschung zu diesem Setting mit Elementarkindern haben zum Beispiel Szechter und Liben Eltern dabei beobachtet, wie sie mit ihren Kindern ein textloses Bilderbuch betrachten, das sich mit Perspektive und insbesondere mit Zoom beschäftigt. In der Untersuchung von Szechter und Liben21 wird der Einfluss des Erwachsenen beim gemeinsamen Bilderbuchanschauen untersucht. Kann das Verhalten des Erwachsenen das Verständnis von Bildern in einem Bilderbuch, das räumliche Zusammenhänge thematisiert, beeinflussen? Zweck der Untersuchung ist darzustellen, welche Rolle die elterliche Unterstützung bei der Entwicklung von Verständnis von räumlichen Darstellungen im Bilderbuch hat. Welche unterschiedlichen Strategien benutzen Eltern und gibt es einen Zusammenhang zwischen einem bestimmten Verhalten und dem Zuwachs an Fähigkeiten beim Kind?

19 Vgl Bruner, Bücher lesen: Die Entwicklung des Benennens in: Jerome Bruner, Wie das Kind sprechen lernt, Bern, 1987. 20 Vgl. Bruner, S. 75. 21 Lisa E. Szechter, Lynn S. Liben, Parental Guidance in Preschoolers’ Understanding of spatial-graphic representations, in: Child Development, May/June 2004, Volume 75, Number 3, S. 869–885.

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Friederike Plaga Es wurden 27 Mütter und vier Väter jeweils mit ihren 3– 5jährigen Kindern untersucht, während sie gemeinsam mit ihrem Kind das Bilderbuch „Zoom“22 anschauten. Die Eltern bekamen außer dem Hinweis, dass sie bei S.16 stoppen sollten, keine weiteren Hinweise, wie sie das Buch gemeinsam anschauen sollten. Vor dem gemeinsamen Anschauen beurteilten die Eltern das Buch alleine und bewerteten, wie das Buch ihnen selbst gefiel und wie es voraussichtlich ihrem Kind gefallen würde. Welche Strategien verwenden Eltern, um ihre Kinder beim gemeinsamen Anschauen von „Zoom“ beim Verständnis der raum-graphischen Konzepte zu unterstützen? Sie verwenden drei verschiedene Strategien: Zum einen wird 1. die Aufmerksamkeit auf einen gleich bleibenden Gegenstand in den verschiedenen Bildern gelenkt. Die Eltern nehmen einen Teil des Bildes, der dann auf den darauf folgenden Seiten im Blick gehalten wird, und verfolgen diesen Teil rückwärts und vorwärts als Bezugspunkt. Als Beispiel wird eine Situation beim Bilderbuchlesen dargestellt: „P: (on p.5) Can you find the rooster on this page (P flips back to p.4 and then returns to p.5). P: Not quite huh? You can see the boy and the girl (P points at the boy and girl). We’re getting farther away from the rooster huh? P. (on p.10) Ohh. Where did we start? Do you remember? Where’s the rooster? C points to the magazine cover at the farm building).”

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Eine weitere Strategie lenkt 2. die Aufmerksamkeit auf die dargestellte Größe der Gegenstände im Bild. Eine Situation wird in der Untersuchung geschildert: „P. (on p.3) Do you see that they’re making the chicken look smaller (P flips back to p.2 and then back to p.3)? C: Yeah. P: Yeah. Look at (P turns back to p.2) look how big chicken is (P points to the picture; then P turns to p.3 again). Now look at the chicken (P points at the chicken).C: Is it little? P: Yeah, it’s getting smaller and smaller (P points to 24 chicken).“

Als drittes kommunikatives Muster wird 3. das Zoomen verbalgestisch erklärt bzw. das Zoomen wird physisch demonstriert. In der Untersuchung wird dieses Vorgehen an folgendem Beispiel dargestellt: 22 Istvan Banyai, Zoom, New York, 1995. 23 Szechter, Liben, 2004, S. 875. 24 Ebd.

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Bilderreich und Wortgewandt „P: It’s called Zoom (P lays her hands on title page.) It’s, it’s uh Zoom ’cause you kinda zoom in on something (moves right hand in the air quickly once from left to right) and zoom out on other things (puts index finger and thumb together, moves hand quickly through air toward herself).You know how you zoom in on some things and zoom out and you can see it from farther away (fingers spread out as she moves hand back toward herself, making motion of zooming out). Okay (P turns to p.1).“

Neben den beobachteten Strategien gab es auch Eltern-Kind Interaktionen, bei denen die Eltern nicht versuchten, die kindliche Aufmerksamkeit auf die raum-grafischen Besonderheiten von „Zoom“ zu lenken Solche Eltern fokussierten sich immer nur auf eine Seite, als wäre darauf ein isoliertes Bild und zeigten und benannten dann auf dieser Seite. Dadurch, dass sie jede Seite als neues Bild behandelten, anstatt Beziehungen zwischen den Seiten herzustellen, lenken sie die Aufmerksamkeit der Kinder fast gar nicht auf räumliche Relationen, auf Abstände und Perspektiven. Ein deutlicher Qualitätsunterschied bei den Gesprächen über die Bilder war also beobachtbar. Das Resümee der Untersuchung ist, dass die verbale Begleitung der Bezugspersonen beim gemeinsamen Betrachten eine wichtige Rolle spielt, wenn Kinder lernen, raum-graphische Repräsentationen zu verstehen. „Our findings suggest that it may be important to design public education programs to help parents foster their children’s graphic literacy […]”.25

Die Bilder und ihre Relevanz im Prozess des Erwerbs von Sprache und Bildverständnis Das Bilderbuch ist eine Kunstform, ein Text-Bild-Gebilde, das einen festen Adressatenkreis hat, der sogar altersmäßig differenziert ist, die ersten symbolischen Darstellungen von Wirklichkeit, von Erwachsenen für das mit dem Symbolsystem Bild noch unerfahrene Kind kreiert. Das Kind tritt mit neun Monaten in die Worterwerbsphase ein und beginnt mit einem Jahr, Dinge in Bildern zu benennen. Die ersten Bilderbücher, die Kinder in diesem Alter benutzen, die Erste-Konzepte-Bücher, enthalten Darstellungen von einem Gegenstand pro Seite, frontal dargestellt, in satten Farben ohne Farb25 Vgl. Szechter, Liben, 2004, S .882.

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Friederike Plaga abstufungen, ohne Benennungen und Text. Der meist einfarbig gestaltete Hintergrund ist ein negativer Raum. Die Dinge schweben in diesem Raum, keine Lichtquelle oder Schattierung ist sichtbar, dadurch fehlt eine räumliche Orientierung. Die Darstellungsweise dieser Gegenstände reicht von abstrakt, als schwarze und weiße Silhouetten, als Umrisslinie, bis hin zu fotografisch dargestellten Gegenständen und erweitert sich dann zu einer Anzahl von Gegenständen auf einer Seite, die aus dem selben Bereich genommen werden oder auch thematische Bezüge herstellen. Diese Bilderbücher sind an den Beginn des Bilderwerbs angepasst. Stern nennt diese Phase Substanzstadium, das Kind benennt Gegenstände im Bild, die unverbunden nebeneinander stehen.26 Beim Bilderwerb folgt auf das Substanzstadium das Aktionsstadium, in dem Bilder als Handlungen gedeutet werden, Bewegung wird im Bild nachvollzogen und als solche erkannt. Kinder verwenden in diesem Alter, ab achtzehn Monaten, Verben und Adjektive. Die ersten Verben, die Kinder verwenden, sind Bewegungs- und Handlungsverben, die veränderliche und vorübergehende Zustände bezeichnen. Die Adjektive, die Kinder mit zwei Jahren anfangen intensiv zu benutzen, bezeichnen sichtbare Eigenschaften von Objekten. Bilderbücher für dieses Alter stellen Handlungen dar. In den Wimmelbüchern sind handelnde Personen nebeneinander auf einem Bild abgebildet. Im Bild werden Objekte aus verschiedenen Perspektiven dargestellt und es gibt Sichtweisen und Überblicke, die man beim realen Sehen nicht findet. So kann ein Kind im Bild überblicken, was es sonst nur in kleinen Ausschnitten wahrnimmt Im Stadium des Spracherwerbs, wenn Kinder ganze Satzkonstruktionen verwenden, erreicht der Bilderwerb das Relationsstadium; die Aufmerksamkeit reicht aus, um mehrere Einzeldinge in einem Bild in Beziehung zu setzen bzw. einer Bildergeschichte zu folgen und schließlich Bilder von Seite zu Seite verfolgen zu können. Einzelbilder, die herausgehobene Momente einer Handlung darstellen, verlangen ein fortgeschrittenes abstraktes Bildverständnis. Differenzierte Bildgrammatiken und unterschiedliche Textkörper, die von Bezeichnungen von Gegenständen bis zu fiktionalen Texten reichen, begleiten den kindlichen Erwerb von literacy.

26 Vgl. im folgenden: William Stern, Psychologie der frühen Kindheit, Leipzig, 1921, S. 117 ff.

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Bilderreich und Wortgewandt

„Bilderreich und Wortgewandt“ – Ausblick in die Praxis Die Vielfalt, Art und Auswahl der bildliteralen Impulse, die ein Kind erhält, hängen vom sozialen und ästhetischen Verhalten der erwachsenen Bezugspersonen ab. Welche Art von bildliteralen Impulsen in welcher Länge und Häufigkeit das Kind bekommt, hängt von den Bezugspersonen ab, die so Bildpräferenzen und Vorlieben der Kinder überhaupt erst entstehen lassen. Der Bildererwerb findet in einer sozialen Praxis statt. Die soziale Unterstützung und das grundlegende Bedürfnis, Teil einer sozialen Gruppe zu sein, sind die sozialen Prozesse, die die Entwicklung eines symbolischen Verstehens vorantreiben. Bilder stimulieren eine kognitiv besonders anregungsreiche Erwachsenen-KindKommunikation. Die Erwachsenen-Kind-Konversationen über Bilder weisen mehr Abstraktionen und induktive Schlussfolgerungen auf als der Austausch über reale Objekte. Bilder stimulieren eher einen Austausch über Arten und übergeordnete Kategorien. Für die pädagogische Praxis bedeutet das: Kinder brauchen für ihre kognitive Entwicklung die Möglichkeit, mit einem Erwachsenen zusammen ihre Aufmerksamkeit steuern zu lernen, die Möglichkeit, intensiv, häufig und regelmäßig über Bilder zu sprechen, damit grundlegende symbolische Fähigkeiten ausgebildet werden können. Diese symbolischen Fähigkeiten sind Grundlage, um den Umgang mit anderen Symbolsystemen, wie z.B. Schrift und Mathematik, zu differenzieren. Der Kindertagesstätte hat hier eine kompensatorische Aufgabe gerade für zweisprachige Kinder und Kinder aus bildungsfernen Milieus, in denen die familiäre Kommunikation Defizite aufweist. Chancengleichheit entscheidet sich schon im Kindergarten, denn die Fähigkeit, differenziert mit den unterschiedlichen Symbolsystemen umzugehen, erfährt ihre Grundlegung in den ersten Jahren der kindlichen Entwicklung. Bilderreich und Wortgewandt ist ein Ansatz zur parallelen literacy- und visual-literacy-Förderung für eins- bis sechsjährige Kinder in Kindertagesstätten, der dem kindlichen Bilderwerb die gleiche Wichtigkeit für die kognitive Entwicklung beimisst wie dem Spracherwerb, bzw. der die Prozesse des Bilderwerbs und des Spracherwerbs in untrennbarer Beziehung zueinander sieht und daher die Förderung beider Prozesse aufeinander abstimmt.

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Friederike Plaga Drei zentrale Eckpunkte etablieren eine Bild- und Sprachkultur in der Kindertagesstätte: Erstens, die Schaffung eines zentralen Raums, einer Leseecke in der Einrichtung, die den Umgang mit Bildern und Büchern in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Zweitens, eine Bilder(buch)bibliothek, die nicht nur nach inhaltlichen Kriterien, sondern nach bildlichen Gesichtpunkten eingerichtet wird, und zwar so, dass die ganze Bandbreite an Bildtechniken, Bildstilen und Bilderzählformen für die Kinder ständig zugänglich ist. Das bedeutet, dass das Bildmaterial auf die kindliche Sprachentwicklung abgestimmt wird. Das beginnt in der Krippe mit den allerersten Frühe-Konzepte-Büchern und erweitert sich über eine Vielzahl von Bilddifferenzierungen bis hin zu anspruchsvollen Bildgrammatiken, die Texten zugeordnet werden und für Kinder geeignet sind, die am Übergang vom Kindergarten zur Schule stehen. Bilderzählformen und Bildstile beeinflussen die Entwicklung des symbolischen Sehenlernens als einer fortschreitenden Entwicklung von repräsentierenden und abstrahierenden Funktionen der visuellen Wahrnehmung. Drittens, die Erzieherin wird sich ihrer Rolle als erwachsene Mitbetrachterin, die sich in einer Szene gemeinsamer Aufmerksamkeit mit dem Kind über die Wahrnehmung der Bilder austauscht, bewusst. Sie erlernt Strategien zu benutzen, um den Kindern einen differenzierten Umgang mit Bildern zu ermöglichen. Das Sprechen über Bilder wird zum täglichen Angebot für alle Kinder. Dabei sind Bilder nicht, wie bei verschiedenen Sprachförderkonzepten, nur ein gemeinsamer Aufmerksamkeitsfokus, der für die Spracherwerbsförderung einen günstigen Sprechanlass gibt, sondern, der gemeinsame sprachlichen Austausch über die Wahrnehmung des Bildes ist eine Praxis zum Erwerbs von Bildverständnis und gleichzeitig zur Differenzierung von Sprache. In einer ersten Pilotphase des Projekts wurden sieben Bilderbuchbibliotheken in Hamburg eingerichtet, die nach dem Ansatz von Bilderreich undWortgewandt arbeiten Sie wurden mit einem Fortbildungsprogramm begleitet und befinden sich in einer kontinuierlichen Qualitätssicherung.

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Bilderreich und Wortgewandt

Literatur Istvan Banyai, Zoom, New York, 1995. Elize Bisanz, Karl Clausberg, Cornelius Weiller, Ausdruck, Ausstrahlung – Aura. Synästhesien der Beseelung im Medienzeitalter, Frankfurt, 2006. Jerome Bruner, Wie das Kind sprechen lernt, Bern, 1987. Gerald Hüther, Die Macht der inneren Bilder, Göttingen, 2006. Bettina Kümmerling-Meibauer, Maria Linsmann, Literatur im Laufstall, Troisdorf, 2009. Judy S. De Loache, Mark S. Strauss, Jane Maynard, Picture Perception in Infancy, in: Infant Behavior and development 2, (1979), S. 77-89. Sophia L. Pierroutsakos, Judy S. De Loache, Infant’s Manual Exploration of Pictorial Objects Varying in Realism in: Infancy, 4 (2003),1, S. 141-156. A.M. Slater, D. Rose, V. Morison, New-born infants perception of similarities and differences between two-and threedimensional stimuli, in: British Journal of Developmental Psychology, 2, S. 287-294. William Stern, Psychologie der frühen Kindheit, Leipzig, 1921. Gisela Szagun, Das Wunder des Spracherwerbs, Weinheim, 2007. Lisa E. Szechter, Lynn S. Liben, Parental Guidance in Preschoolers’ Understanding of spatial-graphic representations, in: Child Development, May/June 2004, Volume 75, Number 3, S. 869-885. Jens Thiele, Jörg Steitz-Kallenbach, Handbuch Kinderliteratur, Freiburg, 2003. Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, Frankfurt, 2002.

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Strategien technischer Bildformen Kunstvermittlung und Bildkompetenz FLORIAN SCHAPER Bildungspolitische Paradigmenwechsel der letzten Jahre bilden eine Herausforderung für das Fach Kunst an der Schule. Die Umstellung von In- zur Outputsteuerung hat den Begriff der Bildkompetenz zu besonderer Prominenz gebracht. Hierbei sind es nicht mehr nur zweidimensionale Objekte, welche mit Bild gemeint sind. Die Forderungen an das Fach Kunst werden entlang eines erweiterten Bildbegriffs argumentiert. Dieser umfasst zweiund dreidimensionale Objekte und Artefakte visuell-bildlicher Informationen.1 Besonders für den Bereich der technischen Bildformen muss der Begriff Bildkompetenz für die Schule befragt werden. Neuerungen in bildgebenden Verfahren ermöglichen immer neuen Bildformen. Die in neuen Technologien, wie beispielsweise dem Computer, eingeschriebenen Strategien übertragen sich dabei auch auf analoge Bildformen, bzw. analoge Bildstrategien sind auf das digitale Medium übertragbar. Dies führt zu einem sich wechselseitig beeinflussenden Prozess analog-digitaler Bildgebung. Die Hypothese, auf welche dieser Beitrag eine Vorschau sein soll2, lautet, dass durch die Beschäftigung mit aktuellen künstlerischen Bildstrategien ein Beitrag zur Ausbildung von Bildkompetenz geleistet werden kann. Das Paradigma Kunstvermittlung bietet, durch die Nähe zur Kunst und Prozessoffenheit, dabei einen entscheidenden Vorteil gegenüber anderer Konzepte für das Fach Kunst.

1 2

Vgl. Bund Deutscher Kunsterzieher e.V. 2008. Der Beitrag leistet eine Vorschau auf mein Dissertationsprojekt. Die Veröffentlichung der Dissertation ist für Ende 2011 geplant.

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Florian Schaper Abbildung: Digitale Zeichnungen aus der Serie klärwerk III

Quelle: Susanne Britz 2002.

Neue Bildstrategien Die Künstlerin Susanne Britz bearbeitet digitale Bilder in einem Bildbearbeitungsprogramm. Ihre digitalen Zeichnungen sind nicht mit Bleistift oder Feder, sondern mit der Computermaus angefertigt. Auch der Träger der Zeichnung ist kein Papier, sondern ein digitales Foto. In den Zeichnungen analysiert Britz das digitale Foto und erarbeitet dessen bild-physikalische Gesetze. Es sind analysierende, fragende und kategorisierende Linien in schwarz und weiß, manchmal auch in grellen Farben. In den Linien sind Unruhen zu erkennen, welche daher rühren, dass die Künstlerin nicht mit einem Zeichenstift auf einem Grafiktablett3 arbeitet, sondern mit der Computermaus. Die Linien bilden Parallelen, Kreise und Pfeile. Es ergeben sich Zeichen, die wie Blätter aussehen, Linien, welche das Bild unterteilen oder Zahlen, welche wie nummerische Kommentare im Raum stehen. Hier und da sind holprige Linien 3

Ein Grafiktablett ist ein Computereingabegerät, d.h. Zeichenwerkzeug, welches häufig im Computer Aided Design Anwendung findet und sich wie ein Stift mit (digitaler) Schreibunterlage benutzten lässt.

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Strategien technischer Bildformen eingeschrieben, dann wieder Geraden. Die Bewegungen in den Linien verraten die menschliche Hand hier und da um dann an anderer Stelle diese durch eine exakte Gerade zu verstecken. Es scheint, als würde uns die Künstlerin durch ihre Zeichnungen eine Metaebene im Bild eröffnen, in welcher sie Bedeutungen und Fließrichtungen markiert. Durch die Überzeichnungen werden in den Bildern weitere Bildebenen eingezogen. Susanne Britz schreibt die physikalischen Gesetze innerhalb ihrer Bilder neu und hält diese mit ihren Überzeichnungen fest. Die Handzeichnung mittels der Computermaus schreibt ebenso konkrete Spuren in das Bild ein wie die Ebenen der digitalen Bildbearbeitung. Britz erweitert damit das Medium Zeichnung in einer Art digitalem Palimpsest-Verfahren, in dem sie den Zeichengrund überzeichnet. Bei der Betrachtung der Zeichnungen ist zu erkennen, dass die Künstlerin in mehreren Ebenen gezeichnet hat. Die unterschiedlichen Farben in der Zeichnungen erlauben einen Rückschluss darauf, welche Ebene früher oder später eingearbeitet worden ist. Die Arbeit in Ebenen ist ein typisches Verfahren der digitalen Bildbearbeitung. Trotzdem fallen die Zeichnungen nicht in den Bereich der digitalen Bildmanipulation, denn sie gaukeln nicht vor etwas zu sein, was sie nicht sind. Ihre Art der Bildbearbeitung hat nicht die Aufgabe, dem Betrachter eine Blickrichtung vorzugeben, indem beispielsweise die Farben verändert oder Dinge in ein Foto eingefügt werden. Es ist vielmehr die Möglichkeit, einen Bildraum zu erschließen und das Gefundene zeichnerisch zu markieren. Britz Zeichnungen werden so zu etwas Neuem. Eine Mischform aus digital und analog, welche sich in der Linienführung zeigt und gleichzeitig den Bildraum erschließt. Das Zeichnerische, so zeigen uns die Bilder, ist dabei nicht an das analoge Medium Papier gebunden. Bildstrategien können unabhängig vom Bildmedium entfaltet werden. So beschreibt beispielsweise auch van Tuyl 2003 die Möglichkeit der medialen Umsetzung des Malerischen im digitalen Medium. Demnach ist das Malerische nicht ausschließlich an die Realisierung mit Farbe, Pinsel und Leinwand gebunden, sondern kann auch in anderen Medien, wie beispielsweise dem Computer, umgesetzt werden.4

4

Vgl. van Tuyl 2003, S. 6.

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Florian Schaper

Schulfach Kunst Während die Kunst mittels neuer technischer Bildverfahren immer neue Bilder und Bildformen generiert, sieht sich das Fach Kunst an der Schule mit einem elementaren Paradigmenwechsel konfrontiert. Dieser bedeutet, mittels curricularer Vorgaben, die Schule von Input- auf Outputorientierung umzustellen5. Dies hat zur Folge, dass Lehrer und Pädagogen festschreiben müssen, was Schüler zu einem bestimmten Zeitpunk können sollen. Die leitende Fragestellung gilt also den Fähigkeiten, Fertigkeiten und dem Wissen, welches von Schülern abrufbar und anwendbar sein sollte. Es hat in den letzten Jahren damit eine Interessenverschiebung stattgefunden. Die Hinwendung zur Output-Steuerung ist eng mit dem Begriff der Kompetenzen verbunden.6 Es ist also nicht mehr ausschließlich die allgemeine Bildung, welche Ziel der schulischen Bemühungen ist, sondern zielgerichtete, mess- und vergleichbare fachliche Kompetenzen, die sogenannten hard skills.7 Für das Schulfach Kunst ist mit dieser Umstellung der Begriff Bildkompetenz zu einer besonderen Prominenz gelangt. Wie in Veröffentlichungen zum Thema deutlich wird, setzt sich Bildkompetenz aus einer Reihe von Teilkompetenzen zusammen. Eine Aufstellung dieser Teilkompetenzen hat 2008 der BDK (Fachverband für Kunstpädagogik e.V.) vorgenommen. Es werden hier die Bildungsstandards im Fach Kunst für den mittleren Schulabschluss vorgeschlagen8. In diesen sind die Orientierung in der heutigen bildgeprägten Welt und die Ausbildung von Bildkompetenz als zentrale Aufgaben im Fach Kunst markiert. Der Kunstpädagoge Manfred Blohm kritisiert, dass die vom BDK geforderten Standards zwar für eine bildungspolitische Argumention des Faches brauchbar sind, für eine inhaltlich fundierte Auseinandersetzung aber wenig taugen.9 Die inhaltliche Argumentation nimmt Pierangelo Maset bereits 1995 vor, wenn er konstatiert, Kunstvermittlung an Schulen müsse vor allem auf die Anforderungen der Gesellschaft vorbereiten. „Die rasante Geschwindigkeit, mit der sich neue Formen und Techniken in den Lebenswelten durch-

5 6 7 8 9

Gut nachzuvollziehen in: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2003. Vgl. Niehoff 2006, S. 239. Vgl. Rohlfs et al. 2008, S. 12. Vgl. Bund Deutscher Kunsterzieher e.V. 2008. Vgl. Blohm 2009, S. 2.

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Strategien technischer Bildformen setzen, stellt hohe Anforderungen an die Zeitgenossenschaft.“10 Was Maset bereits 1995 beschreibt und der BDK als Zieldimension der Bildungsstandards vesteht, ist die Notwendigkeit, mit und über bildliche Darstellungsformen zur kommunizieren. Dies gilt in der heutigen, durch technische Bilder geprägten Welt, verstärkt. In vielen Berufen ist der Umgang mit Bildern selbstverständlich, teilweise unumgänglich geworden. Die Entwicklung im Bereich der Medizin scheint dabei besonders rasant fortzuschreiten. In seinem Beitrag Körper in/aus Zahlen. Digitale Bildgebung in der Medizin11, beschreibt der Mediziner Harun Badakhshi die rasante technologische Entwicklung der bildgebenden Verfahren in der medizinischen Diagnostik und Therapie. Sein Beitrag bezieht sich dabei vor allem auf die bildgebenden Verfahren in der Onkologie, welche in den letzten Jahren einen erheblichen Entwicklungsschub erfahren haben.12 Diese neuen Aufgaben und die potenziellen Erweiterungen des Aktionsradius der bildgebenden Verfahren stehen hier stellvertretend für die zunehmende Visualisierung – und damit Ästhetisierung – von Arbeit. Die Erzeugung dieser Bilder erfolgt dabei mit technischen Mitteln und ästhetischen Kriterien, der Anwendungsbereich ist allerdings oft ein außerästhetischer.13 Wie Badakhshi in seinem Beitrag zeigt, bilden grafische Oberflächen nicht nur die Schnittstelle für die medizinische Diagnose, sondern auch für die Therapie. Eingriffe am Patienten werden häufig nicht mehr haptisch und/oder direkt visuell geleitet vorgenommen, sondern über ein dazwischengeschaltetes visuelles Interface. Der Monitor ist für den Arzt also der einzige Referent, während er den Patienten behandelt. Der subkutane Tumor wird nicht an sich gesehen, sondern lediglich über die digitale EchtzeitRepräsentation auf dem Computerbildschirm. Das Beispiel zeigt die veränderte Rolle technisch bedingter Bilder nicht nur im ästhetischen, sondern eben auch im außerästhetischen Bereich. Um den von Pierangelo Maset beschriebenen Anforderungen an die Zeitgenossenschaft Rechnung zu tragen, müssen die neuen technischen Bildformen Teil des Kunstunterrichts an Schulen werden. Die vom BDK formulierten Standards können dabei als programmatische Überschriften verstanden

10 11 12 13

Maset 1995, S. 17. Badakhshi 2006. Vgl. Badakhshi 2006, S. 199. Vgl. Maset 1995, S. 90.

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Florian Schaper werden, eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Forderungen steht aber, wie Manfred Blohm betont, weiterhin an.

Bilder Bilder werden gemeinhin als Kerngeschäft des schulischen Kunstunterrichts bezeichnet. Sie sind zwar in vielen Fächern der Schule präsent, aber bilden wohl in keinem einen so zentraler Gegenstand wie im Fach Kunst14. Das Fach kann damit in der neuartigen visuellen Kultur eine wichtige Aufgabe für die Bildung übernehmen.15 Zwar gibt es neben den Bildern auch viele nichtbildliche Artefakte, welche Gegenstand im Kunstunterricht sind, das Bild hat aber seit je her eine originäre Stellung gegenüber anderen künstlerischen Medien. Bilder werden im Fach Kunst verhandelt und erschlossen. Sie werden analysiert und interpretiert aber auch selbst hergestellt, manipuliert oder ausgestellt. Der Kunstunterricht besteht also aus einer Reihe von Bildhandlungen, also bewussten Analysen und Eingriffen am Bild. Künstlerische Bilder, wie die von Susanne Britz, sind besonders geeignet um die Verhältnisse digitaler und analoger Strategien zu verdeutlichen. Die für den Kunstunterricht zu formulierende Bildkompetenz hat zwei Stoßrichtungen. Zum einen ist sie dem klassischen Bildungsbegriff verpflichtet, welche in einer aufklärerischen Dimension selbständige Subjekte ausbildet. Zum anderen geht es heute in der Kunstvermittlung darum, Vorgehensweisen zu entwickeln, mit denen auf beschleunigte gesellschaftliche Entwicklungen reagiert werden kann.16 Im besonderen Maße gilt dies für die rasante Entwicklung im Bereich der technischen Bildverfahren. Künstler nutzen neue Technologien um immer neue Bildstrategien hervorzubringen. Neue Technologien beeinflussen aber auch die Bildgebung in außer-ästhetischen Zusammenhängen. Das hier angerissene Forschungsprojekt argumentiert die Kunstvermittlung in Relation zu aktuellen technischen Bildformen. Die Integration der Ausbildung von Bildkompetenz in das Paradigma Kunstvermittlung scheint hierfür ein viel versprechendes Konzept, da die Kunstvermittlung die nötige Prozessoffenheit mitbringt. Sie ge-

14 Vgl. hierzu auch Niehoff 2006, S. 240. 15 Vgl. Scheibel 2004, S. 57. 16 Vgl. Maset 1995, S. 31.

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Strategien technischer Bildformen währt zudem einen kunstnahen Zugang zur Kunst, in welchem die Potenziale des Kunsthaften entfaltet werden können.

Literatur Badakhshi, Harun (2006): Körper in/aus Zahlen. Digitale Bildgebung in der Medizin. In: Hinterwaldner, Inge; Buschhaus, Markus; Hinterwaldner-Buschhaus (Hg.): The picture’s image. Wissenschaftliche Visualisierung als Komposit. München: Fink, S. 199–205. Blohm, Manfred (2009): Bildkompetenzen und Kunstunterricht. Überlegungen zu Fragen von Bildungsstandards und Bildkompetenzen. In: BDK-Mitteilung, Jg. 2009, H. 4, S. 2–5. Bund Deutscher Kunsterzieher e.V. (2008): Bildungsstandards im Fach Kunst für den mittleren Schulabschluss. Online verfügbar unter http://www.bdk-online.info/xmentor/pub/ article.php?artid=2958, zuletzt geprüft am 15.02.2011. Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hg.) (2003): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Bonn, Berlin (Bildungsforschung, 1). Maset, Pierangelo (1995): Ästhetische Bildung der Differenz. Kunst und Pädagogik im technischen Zeitalter. Stuttgart: Radius-Verl. Niehoff, Rolf (2006): Bildkompetenz. Begriffsklärung, Diskussionsstand und Probleme. In: Kirschenmann, Johannes; Schulz, Frank; Sowa, Hubert (Hg.): Kunstpädagogik im Projekt der allgemeinen Bildung. München: kopaed (Kontext Kunstpädagogik, 7), S. 239–243. Rohlfs, Carsten; Harring, Marius; Palentien, Christian (Hg.) (2008): Kompetenz-Bildung. Soziale, emotionale und kommunikative Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH Wiesbaden. Scheibel, Michael (2004): Hypermedien in der Kunstausbildung. Arbeiten in digitalen Netzen und virtuellen Räumen. In: Huber, Hans Dieter; Lockemann, Bettina; Scheibel, Michael (Hg.): Visuelle Netze. Wissensräume in der Kunst. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, S. 53–87. van Tuyl, Gijs (2003): Vorwort – Die unzeitgemäße/zeitgemäße Malerei. In: Lütgens, Annelie (Hg.): Painting pictures. Malerei und Medien im digitalen Zeitlater. Bielefeld: Kerber, S. 6–9.

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Dargestellte Bewegung als mediale Form JOACHIM PAECH

Wie Bewegung in die Bilder kommt Bilder bewegen sich nicht. Im Gegenteil, der Wunsch der Bilder ist es, alles, was sich bewegt, in ihren Grenzen aufzuheben. Das haben die Bilder mit den Mythen gemein, dass sie Bewegungen anhalten und unbewegt wiederholen wollen. Viele Mythen handeln von Bildern, in denen sie ihre Bewegungen ankommen und erstarren lassen, so, wie der schreckliche Anblick der Medusa erst manch andere versteinert und dann sie selbst, als sie sich in Perseus Schild gespiegelt sah, das Leben gekostet hat1. Ein Mythos 2 vom Ursprung der Malerei erzählt nach Plinius d. Ä. , dass die Tochter des griechischen Töpfers Dibutades den Schatten ihres Geliebten, bevor sie ihn des Morgens verabschiedet, im Umriss an der Wand festgehalten hat. Abb. 1: Johannes Jakob Sandrart: Die Erfindung der Malerei, Nürnberg 1683

1 2

Ovid: Metamorphosen, 4. Buch, 770f. Plinius d. Ä. Naturalis historia, XXXV, 43, 151 (dt. Ü. R.König/G.Winkler, München 1978, nach Victor I. Stoichita: Eine kurze Geschichte des Schattens. München (Fink) 1999, S.11).

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Joachim Paech Die (narrative) Bewegung kann sie nicht aufhalten, nur die unbewegte (ikonische) Darstellung kann sie zurückbehalten und zur Erinnerung bewahren, mit der sie den Geliebten in seiner Abwesenheit vergegenwärtigen (repräsentieren) kann. Und es war wohl auch der (magische) Zweck der paläolithischen Höhlenmalereien von Lascaux, die Bewegungen der bewegt dargestellten Tiere anzuhalten, bevor sie in der Jagd getötet werden sollten. Die Bewegungslosigkeit der Bilder wird offenbar von Anfang an auf der Ebene des Dargestellten von diversen Formen der Bewegtheit unterlaufen. Die Bewegung, die sie als originäres Werk hervorgebracht hat, kommt erst in der Unbewegtheit ihrer Darstellung zu einem Stillstand3, der das Bild ‚als Bild’ konstituiert. Die Bewegung, die die Bilder darstellen, ist unbewegt, kein Zweifel, dennoch erinnert die Konfiguration des Dargestellten häufig an eine Bewegtheit, die im Bild nur aufgehoben, also bewahrt ist und figural, mehr oder weniger narrativ oder auch als Dimension 4 von Zeit im Bild und seiner Betrachtung fortbesteht. Bilder können außerdem bewegt werden, was von dem Untergrund abhängt, dessen Bestandteil sie geworden sind: Wandbilder sind Teil der Architektur, Bilder an der Wand bleiben austauschbar. Kleinere Bilder sind beweglicher als größere, leichtere mehr als schwere. Der Betrachter schließlich (Bilder wollen gesehen werden) wird sich selbst bewegend zum Bild verhalten, von der MakroBewegung des ganzen Körpers bis zur Mikro-Bewegung der (Augen-)Wahrnehmung. Auch die mythischen Erzählungen lösen bereitwillig die piktorale Erstarrung wieder auf, wenn Perseus das im Spiegel seines Schildes erstarrte und abgeschlagene Haupt der Medusa davonträgt oder wenn der Töpfer Dibutades nach den Umrissen des Geliebten seiner Tochter eine Statue formt, die zumindest die Option seines Kollegen Pygmalion5 aufrecht erhält, sie mit Hilfe der Götter wieder zu beleben. Flackerndes Licht in den Höhlen von Lascaux sowie Licht und Schatten auf den Reliefs oder auch nur die Bewegung des Betrachters vor ihnen geben den bewegungslosen figuralen Darstellungen den Anschein der Bewegung ihrer Figuren zurück.

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4 5

Zu modernen Vorstellungen, dass die ‚mediale Linie’ (Paul Klee) im Bild generisch aktiv bleibt, vgl. Joachim Paech: Der Bewegung einer Linie folgen … Berlin (Vorwerk 8) 2002, S.148. Vgl. Gottfried Boehm: Bild und Zeit. In: Hannelore Paflik (Hg.) Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft. Weinheim 1987, S.1–23. Ovid: Metamorphosen, 10.Buch, 243f.

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Dargestellte Bewegung als mediale Form Diese unterschiedlichen Ebenen der wesentlichen und doch nur relativen Unbewegtheit von Bildern könnte man in dem folgenden Dreieck ihrer jeweiligen Bedingungen zusammenfassen. Da sind erstens die ‚medialen Bedingungen‘ der Formen bildlicher Darstellung, die innerhalb der Malerei selbst verschieden sein können und sich hinsichtlich der Skulptur deutlich unterscheiden. In der Regel sind das die materialen Grundlagen, die die Techniken der handwerklichen Darstellung bedingen und die schließlich durch die darstellende apparative Technik der modernen Bild-Medien erweitert werden. Zweitens handelt es sich um die dargestellten Formen selbst, die figural oder abstrakt sein können und deren relative (Un-)Bewegtheit sowohl medial als auch drittens von nicht-pikturalen Bedingungen beeinflusst ist. Dazu gehören Sujet und Narration (deren Vermeidung in der Abstraktion als Hinwendung zur Medialität der Malerei beabsichtigt war) und schließlich die dispositive Struktur der Anordnung der Bilder zum Betrachter an der Wand des Museums, als Fotografie der Familie in der Brieftasche des Reisenden oder (vielleicht) auf der Leinwand eines Kinos. Allerdings soll es hier nicht nur um die Beziehung der Bilder zur Bewegung, sondern darüber hinaus zu einer bestimmten Bewegung, zur Geschwindigkeit gehen, die ein modernes Bewusstsein für die Bewegung und deren Darstellung geschaffen hat. Geschwindigkeit als (bis zur Lichtgeschwindigkeit) beschleunigte Bewegung ist ein Projekt des 19. Jahrhunderts und dessen Industrialisierung von Raum und Zeit und entsprechend der Wahrnehmung seiner Menschen, die wiederum die Formen der piktoralen Darstellung seitdem beeinflusst hat. Bewegung ist jetzt eine Erfahrung ihrer mechanischen Beschleunigung, deren bildliche Darstellung zuerst in der Fotografie zum Ausdruck kommt. Auch wenn sie Vorläufer hat, die jeweils Teilaspekte vorweggenommen haben, ist ihr Bildgebungsverfahren in der Kombination von Mechanik, Optik und Chemie, die ein Bild gleichsam ‚automatisch‘ hervorbringen lassen, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ganz und gar neu6. Aus der historischen Annäherung an die Fotografie werden indes einige ihrer ‚mediale Eigenschaften’ deutlich. Der älteste Vorläufer ist der Spiegel, der Objektbewegungen reflektiert und wie jedes Bild auch begrenzt selbst bewegt werden

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Gegenüber der Camera obscura betont Crary die grundsätzlich veränderte dispositive Anordnung des Beobachters zur Fotografie (Jonathan Crary: Techniques of the Observer. On Vision an Modernity in the Nineteenth Century. MIT, 1990.)

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Joachim Paech kann. Weil er jedoch nur reflektiert und nicht repräsentiert7, was sich aktuell vor ihm befindet, hat ihm Umberto Eco8 den Status eines ikonischen Zeichens und damit den Charakter eines Bildes in Differenz zum Abgebildeten verweigert. Seine dispositive Struktur bindet den Betrachter so unmittelbar an das Medium, dass es nur dessen Blick reflektiert, was der Katoptrik seiner medialen Eigenschaft entspricht. Die Camera obscura, die schon im 11. Jahrhundert in Alhazens Lehrbuch der Optik praktisch für dessen Sehtheorie angewandt wurde, hat vor allem das Sehen außerhalb des Auges, als Modell an dessen Stelle, anschaulich gemacht: In der Camera obscura sieht das Auge sich selbst beim Sehen zu, woraus die Geometrie des Lichts für das Sehen (Alhazen) und die perspektivische Konstruktion bildlicher Sichtbarkeit (Alberti) ableitbar wurden9. Das Sehen selbst sollte im Orient mit der Bewegung des Lichts an den Brechungen ornamentaler Strukturen sichtbar werden, während gleichzeitig die Renaissance-Perspektive im Westen die Bewegung durch die festgelegte Geometrie der Beziehung von Auge und Bild(konstruktion) aus den Bildern und ihrer Wahrnehmung verbannt hat. Ihre medialen Eigenschaften (die Geometrie zum Beispiel) als Bedingung ihrer figuralen Darstellung haben den Betrachter im Bild fest mit dem unbewegen Bild verbunden und davor angeordnet. Während das Mittelalter noch seine Bilder vor die Kirche und in Umzügen herumgetragen hat, ist die Zentralperspektive das Äußerste an pikturaler Bewegungslosigkeit (da helfen auch Leonardos Wasserbilder nichts, in denen das Wasser still halten musste, damit es gemessen werden konnte10). Erst das Barock nähert sich wieder dem ‚bewegten‘ Bild, am deutlichsten und nachhaltigsten wohl in den mechanisch betriebenen Bühnendekorationen. Auch das Panorama, das kurz vor der Fotografie aufkommt und zeitgleich mit ihr Karriere macht, ist eine Camera obscura, die allerdings nach außen hin verschlossen ist, wodurch ihr Bild 7

Christiaan L.Hart Nibbrig (Hg.): Was heißt ‚Darstellen’? Frankfurt/M. 1994. 8 Umberto Eco: Über Spiegel. In Ders.: Über Spiegel und andere Phänomene. München (Hanser) 1988, S.26–61. 9 Vgl. Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks. München (C.H.Beck) 2008, bes. S.104–143. 10 Gombrich, Ernst W.: „Leonardo da Vincis Forschungsmethode der Analyse und Permutation. Die Formen der Bewegung von Wasser und Luft“, in: Ders: Die Entdeckung des Sichtbaren. Zur Kunst der Renaissance III, Stuttgart 1983, S. 55–76.

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Dargestellte Bewegung als mediale Form als dargestellte Sichtbarkeit vom Akt des Sehens doppelt abgekoppelt erscheint: Ihr Bild ist permanent und unbewegt. Der Betrachter jedoch bewegt sich wie in einem riesigen Auge, wo er an einem unveränderten, privilegierten und universellen Blick teil hat. Die medialen Eigenschaften des Bildes, sein rahmenloser Rundhorizont, setzen den Betrachter zwar in Bewegung, jedoch nur innerhalb des Bildhorizontes, das Bild selbst bleibt figural bewegungslos. Das Diorama schließlich verwendet die Bühnenmechanik für die Anordnung der Betrachter zu einer Anordnung von Bildern, die ihre figurale Unbewegtheit zwischen den Bildern durch Lichtveränderungen sujethaft verzeitlichen (im Wechsel von Tag zu Nacht zum Beispiel). In Bezug auf die darstellende (mediale, dispositive) und die dargestellte Bewegung (ihre Figuration) kann man die Fotografie folgendermaßen charakterisieren: Ihre medialen Eigenschaften sind ganz und gar auf eine Form von Bewegung eingestellt, deren Maß die Zeit und nicht der figurative Raum ist. Vor allem der mechanische Verschluss des optischen Lichtgangs ist durch seine Bewegung ein Zeitmesser, der auch nicht wie die verwandte Uhr einen Verlauf, sondern einen (immer kürzeren Ab-)Schnitt für das Maß des Lichteinfalls verwendet. Für die chemische Beschichtung 11 des Bildträgers ist die ‚Zeit der Entwicklung‘ hinsichtlich Entstehung und Wiedergabe des Bildes maßgebend und nur die Optik mit ihrem beweglichen Fokus greift in die räumliche Struktur des Bildes durch die Verlagerung des Schärfenbereichs ein. Eine nicht gering zu achtende mediale Eigenschaft des Fotoapparates ist beinahe von Anfang an seine Fähigkeit transportiert zu werden, die zunimmt, je kleiner der Apparat wird und sich an die Körperbewegung seines Benutzers anpasst. Die dispositive Anordnung des Fotografen zum Akt der Fotografie ist zunehmend beweglich; ebenso ist es die Anordnung des Betrachters zum fotografischen Bild, insbesondere seit William Fox Talbots Negativ/Positiv-Verfahren Papierabzüge möglich gemacht hat. Und welche ‚Form‘ nimmt die im fotografischen Verfahren dargestellte Bewegung an? Kann aufgrund dieser medialen Bedingungen überhaupt Bewegung dargestellt werden oder schließt nicht eine auf einen Zeitpunkt oder -schnitt gerichtete Darstellung die Figuration von Bewegung jenseits der Pose aus? Bewe-

11 Vgl. Michael Wetzel: Die Zeit der Entwicklung. Photographie als Spurensicherung und Metapher, in: Tholen, Scholl (Hg.) Zeit-Sprünge. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, Weinheim (VCH) 1990, S.265–280.

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Joachim Paech gung kann nur durch Bewegung dargestellt werden. Das bedeutet bekanntlich, dass alle Eigenschaften der Fotografie, deren häufig erklärtes Ziel die ontologisch begründete Wiedergabe des Realen ist, den so wesentlichen Anteil der Bewegung (des Lebens) nicht repräsentieren kann. Die medial begründete Suggestion der Zeit erinnert an das Dagewesene und entzieht somit noch einmal dem Bild die Gegenwart des Bewegten. Tatsächlich wird Bewegung fotografisch nicht durch sie selbst wiedergegeben, sondern durch eine Form, die sich der (medialen und dispositiven) apparativen Beweglichkeit verdankt und Bewegung im unbewegten Bild ‚symbolisiert‘. Derartige Formulierungen von Bewegung im bewegungslosen fotografischen Bild finden, je nach Intention, auf drei Ebenen statt, die Medium, Figuration und Dispositiv unterschiedlich beteiligen. Die Objektunschärfe einer Bewegung im bewegungslosen Umfeld ist in der fotografischen Regel häufig als Fehler erkannt und aussortiert worden: Der Fotograf Atget zum Beispiel hatte das Zeitmaß seines Apparates wie fast immer in seinen Ansichten von Paris auf die statische Architektur eingestellt, zu der auch die Menschen in den Straßen gehörten. Eine plötzliche Bewegung hat sich dann als ‚Geisterfotografie‘12 in der Form einer Verwischung oder Unschärfe abgebildet. Abb. 2 : Eugène Atget: Au Petit Dunkerque, 1900

12 In diesem Sinne sind auch die okkultistischen Fotografien des 19. Jahrhunderts reine Produkte ihrer medialen (fotografischen und spiritistischen) Bedingungen.

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Dargestellte Bewegung als mediale Form Diese Form ist ein ‚unbewegtes Bild von Bewegung’ in einem bewegungslosen Bild, das oft nicht mehr erkennen lässt, was, sondern nur noch dass sich etwas bewegt hat. Wenn die Formulierung Objektbewegung von vornherein Absicht der Fotografie ist, dann muss sich der Fotograf zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden: Entweder das Objekt, zum Beispiel ein schnelles Auto, bewegt sich vor einer starren Kamera, dann erscheint seine Bewegung in der Form einer Unschärfe vor deutlich abgebildetem starrem Umfeld; oder die Kamera wird mit dem Objekt mitbewegt, dann ist es wie bewegungslos deutlich abgebildet, und seine tatsächliche Bewegung ist nur aus der Relation zum ‚verrissenen‘ Umfeld zu erkennen. Sind mit hoher Verschlussgeschwindigkeit Objekt und Umfeld gleich scharf abgebildet, gibt es keinerlei ‚Form‘ einer Bewegung mehr im Bild (man könnte auch von einer Nullform sprechen13). Was sich bewegt (hat), ist jetzt eine Sache der Erfahrung (das Auto wird sich bewegt haben und nicht die Landschaft) und nicht mehr einer konventionalisierten ‚lesbaren‘ Form, die Bewegung im Bild symbolisiert (dieser Nullform von Bewegung begegnen wir wieder im filmischen ‚freeze frame‘). Die Bewegungsunschärfe als Form für die Darstellung von Bewegung 14 in der Fotografie kommt so in der abgebildeten Wirklichkeit nicht vor, d.h. sie ist ein konventionalisiertes Zeichen, das sich der medialen Eigenschaften fotografischer Abbildung verdankt (mechanischer Verschluss, Zeit der Entwicklung, optischer Fokus, dispositive Konstellation), nicht aber der abgebildeten Realität. Alle Einschreibungen von Bewegung in bewegungslose Dar15 stellungen sind derartige ‚mediale Formen‘ wie Unschärfen ,

13 „In den Kurzzeitphotographien von Mach wird die Bewegung nicht nur in ihrem Fluß angehalten, sondern überhaupt erst sichtbar gemacht.“ (Marlene Schnelle-Schneyder: Photographie und Wahrnehmung am Beispiel der Bewegungsdarstellung im 19.Jahrhundert. Marburg 1990, S.144) Diese Paradoxie der (zu ihrer Messung) angehaltenen Bewegung ist auch dann nicht aufgelöst, wenn Bewegung an Formen von Verdichtungen der von einem Projektil durchflogenen Luft sichtbar wird. Diese Form anstelle der nicht mehr darstellbaren Bewegung wird künftig für die Fotografie von Überschall-Geschwindigkeiten üblich. 14 Vgl. Le Nouveau Vague oder Unschärfe als intermediale Figur. In: Joachim Paech, Jens Schroeter (Hg.) Intermedialität. analog/digital. Theorien, Methoden, Analysen. München (Fink) 2008, S.345–360. 15 Vgl. Ullrich, Wolfgang: Die Geschichte der Unschärfe, Berlin 2002; Wellmann, Marc: Die Entdeckung der Unschärfe in Optik und Malerei. Zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. u.a. 2005.

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Joachim Paech ‚speed lines‘ Phasenwiederholungen etc., die auch ‚idiomatische‘ Formen genannt worden sind.16 Und als solche ‚idioms’ konnten sie problemlos für die Darstellung von Bewegung auch in der Malerei oder später in Comics ‚zitiert‘ werden, nachdem die Fotogra17 fie zum Standard für die Realitätsabbildung geworden war . Wie die Fotografen mit ihren Apparaten und Stativen sind nun auch die Maler mit der Staffelei an die frische Luft gegangen, wo ihnen eine bewegte Wirklichkeit begegnete: Wie deren Bewegung im Bild zu formulieren sei, ist eine Erfindung der Fotografie. Es hat den Anschein, als ob die Bewegung natürlicher Objekte auch an deren Figuration im Bild (Malerei, Fotografie, gleichviel) an ihnen selbst dargestellt werden kann (wie an den Figuren von Läufern auf antiken Vasen, d.h. immer schon). Bei Pferden zum Beispiel kann man sehr genau bestimmen, ob sie im Stand, im Trab oder im Galopp abgebildet worden sind, wenn man weiß, welche Figur (oder ‚Pose‘) welche Gangart bedeutet. Und um sie ‚richtig‘ darstellen zu können, muss man sie wiederum anhalten, sonst ergeht es uns wie vielen Malern des 19. Jahrhunderts, die Schaukelpferde gemalt haben, wenn sie Pferde im Galopp meinten. Tatsächlich haben Eadward Muybridge und Etienne Jules Marey die Bewegungen ihrer Objekte, Tiere und Menschen in unendlich vielen Bewegungsvarianten fotografisch angehalten, um ihre Bewegung darstellen (und messen) zu können. Muybridge hat sie zuerst 12, später 24 mal in Einzelbildern fixiert, Marey hat die in der Bewegung angehaltene Figur im selben Bild mehrfach nacheinander abgebildet. Weil der Hintergrund jeweils neutral gehalten war, hat die Bewegung keine ‚eigene‘ Form ausgebildet, zumal Unschärfen mit der Absicht, Bewegung im Bild messen zu wollen, unvereinbar waren.

16 Rosemary Hawker spricht in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Jacques Derrida (‚Die Wahrheit in der Malerei’) von der Unschärfe als ‚photgraphic idiom’, das in der Malerei Gerhard Richters als Index für Fotografie wiederkehrt. (Rosemary Hawker: The Idiom in Photography As the Thruth in Painting. In: The South Atlantic Quarterly 101:3, Summer 2002, S.541–554). 17 Vgl. Shiff, Richard: „Phototropism (Figuring the Proper)“, in: Studies in the History of Art, Vol. 20, 1989, S. 161–179.

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Dargestellte Bewegung als mediale Form Abb. 3 : Etienne Jules Marey: Chronphotographie, 1886

Die Bewegung als Form, die in den bewegungslosen Bildern die Bewegung ‚formuliert‘, ist hier (und künftig, wenn es um die Kinematographie geht) zwischen die Bilder gewandert als ‚Form ihrer Differenz‘. Das geht nur in Serien von aufeinander folgenden Bildern, deren Beziehung durch einen Zeitindex (eine Frequenz) geregelt ist. Allerdings lässt sich dadurch nicht nur ‚Bewegung‘, sondern auch deren Veränderung (Beschleunigung, Verlangsamung) formulieren, weil ihre Differenzform nicht mehr ‚idiomatisch‘ im Bild dessen Bestandteil, sondern als Zeitindex zwischen den Bildern variabel ist. Das gilt auch für den Abstand zwischen den Körpern in Mareys Chronophotographie, wo jede ‚Figur‘ durch den Abstand zur vorangehenden und folgenden an ihrem Zeitpunkt bewegt und in ihrer Bewegung messbar ist. Nicht mehr das einzelne Bild (Muybridge) oder die einzelne Figur (Marey), sondern der Abstand ihrer Wiederholung mit Zeitindex ist entscheidend. Der Zeitindex bemisst sich nach der Verschlussgeschwindigkeit (‚mediale Eigenschaft’), die einen Zeitpunkt festlegt, nach dem Körpervolumen (Figuration) und der dispositiven Anordnung, in der die Reihenaufnahmen in der Folge durch mehrere zusammen geschaltete oder eine bewegte Kamera gemacht wurden. Es ist folgerichtig, dass beide, Muybridge (per ‚Zoöpraxiskope‘) und Marey (mit dem Rollfilm), ihre Bilderfolgen schließlich in apparative Anordnungen gegeben haben, die von vornherein mit ihren medialen Eigenschaften auf die Formulierung der Bewegung als ‚Differenz-Form’ von Reihenbildern zugeschnitten waren. Allerdings

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Joachim Paech war damit auch der Schritt von der wissenschaftlichen Messbarkeit zur Ästhetik des Bewegungsbildes getan. Noch einmal: Da Bewegung grundsätzlich nur durch Bewegung selbst darstellbar ist, haben die figuralen Darstellungsverfahren in unbewegten Bildern von der Malerei bis zur Fotografie das Problem, Bewegung als solche nicht abbilden zu können. Die mediale Konstellation der Fotografie, vor allem der Zeitindex ihrer Verschlussbewegung, generieren Formen, die in den Bildern Bewegung symbolisieren (idiomatisch repräsentieren) und mit dem Vorschuss an Ontologie, der die Fotografie mit dem Realen verbindet, in Beziehung setzen lassen, als ob es eine fotografierte Erscheinung des Realen selbst wäre. Wir haben uns daran gewöhnt, in diesen Formen abgebildete Bewegung ‚wieder zu erkennen‘, ebenso wie die Malerei sie (wie ‚idioms‘) als Zeichen für Bewegung in ihre Bilder integriert hat. – In Reihenfotografien (ebenso in entsprechend gemalten oder gezeichneten Bildern) kann die Form der Bewegung, die bisher im Bild selbst Bewegung formulierte, zwischen den Bildern als deren Differenz-Form angeordnet werden, wenn sie wiederum durch einen Zeitindex (eine Frequenz ihrer Wiederholung) aufeinander bezogen sind.18 Die ersten kinematographischen Apparate waren auch die ersten ‚Übersetzer‘ dieser Differenz-Form in den projizierten Schein kontinuierlicher Bewegung des neuen kinematographischen Bewegungsbildes, das die medialen Eigenschaften, die dargestellte Figuration und die dispositive Anordnung ihrer Betrachter, neu geregelt hat. Da nun im projizierten Bewegungsbild die Bewegung endlich in den Bildern angekommen zu sein schien, irritierte die Zeitgenossen (bis heute) die Tatsache, dass es weiterhin unbewegte Bilder sind, mit denen auf der Leinwand scheinbar ‚Bewegung durch sich selbst‘ dargestellt wurde.

18 Ein interessanter Nebenschauplatz für diesen Wechsel von der ‚sichtbaren’ idiomatischen Form für Bewegung im Bild zur unsichtbaren, nur im Effekt erkennbaren Differenz-Form des kinematographischen Bewegungsbildes ist die Tatsache, dass zwar Bewegung indizierende Fotografien, nicht aber mehr filmische Bewegung(sänderungen) oder gar Bewegungslosigkeit im (Buch-)Druck dargestellt werden können, was den Film für längere Zeit vom Bereich literarischer Hochkultur ferngehalten hat: Er ist dort als Film nicht darstellbar.

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Dargestellte Bewegung als mediale Form

Bewegung im kinematographischen Bewegungsbild „Wenn im Saal, in dem die Erfindung Lumières gezeigt wird, das Licht ausgeht und auf der Leinwand plötzlich – Schatten einer schlechten Radierung – das große graue Bild ‘Straße in Paris’ erscheint, sieht man, wenn man hinschaut, Menschen, die in verschiedenen Posen erstarrt sind, Kutschen und Häuser – alles ist grau, auch der Himmel über all dem ist grau. Man erwartet nichts Besonderes von so einem vertrauten Anblick, oft schon hat man diese Pariser Straßen auf Bildern gesehen. Doch plötzlich beginnt die Leinwand seltsam zu vibrieren und das Bild wird lebendig. Die Kutschen aus dem Hintergrund fahren direkt auf Sie zu in die Dunkelheit, in der Sie sitzen. Menschen erscheinen irgendwo aus der Ferne und werden größer, wenn sie sich Ihnen nähern. Im Vordergrund spielen Kinder mit einem Hund, Radfahrer rasen vorbei, Fußgänger überqueren die Straße, sich zwischen den Kutschen hindurchschlängelnd – alles bewegt sich, lebt, brodelt, kommt in den Vor19 dergrund des Bildes und verschwindet aus ihm irgendwohin.“

In diesem Text von Maxim Gorkij aus dem Jahr 1896 wird die Überraschung deutlich, die die Ankunft der Bewegung in den bis dahin bewegungslosen Bildern ausgelöst hat. Als sich das Staunen gelegt hatte, drehten sich die Leute um und blickten auf einen ratternden Projektor, der auf einem Projektionsstrahl die vielen unbewegten Bilder, die mit dem Film (mehr als) 16 mal/Sek. projiziert wurden, auf die Leinwand zu schleudern schien. Da nur schwer vorstellbar war, dass mit bewegungslosen Bildern, auch wenn sie durch den Projektor geschaltet wurden, Bewegung auf der Leinwand sichtbar werden konnte, musste es sich um eine Täuschung der Augen handeln. Die Bewegung in den Bildern war demnach eine bloße Illusion. Die Erklärung für die Bewegung des projizierten Bewegungsbildes wurde als Wahrnehmungseffekt auf der Seite der dispositiven Anordnung im Auge des Betrachters gesucht und gefunden, und weil sie einfach und plausibel war (man traute dem Kino sowieso nicht viel Gutes zu und war daher nicht überrascht, dass es auf Täuschung beruhte) und auch von den Wortführern20 der Zeit ungeprüft verbreitet wurde, blieb es 19 Gorkij, Maxim: Flüchtige Notizen.(Bericht über den Cinématographe Lumière in Niznij -Novgorod. In: Nizegorodskij listok .4.Juli 1896 unter dem Namen I.M.. Pacatus). In: Kintop. Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films. 1995. 4, S. 11–16 ( Übersetzung aus dem Russischen von Jörg Bochow). Vgl. dazu Anne und Joachim Paech: Menschen im Kino. Film und Literatur erzählen. Stuttgart, Weimar 2000, S.19. 20 Auch Marey, der es hätte besser wissen müssen, hat die Entstehung des Bewegungseindrucks in analoger Anordnung zu seiner Chronophotogra-

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Joachim Paech dabei. Aber wie kommt tatsächlich die figurale Bewegung auf die Kinoleinwand? Vermutlich wirken auch hier wieder alle drei Faktoren medialer Eigenschaften der Darstellung, figuraler dargestellter Formen und dispositiver Anordnungen zusammen. Zuerst und vor allem beruht der analoge Film auf Fotografie. Das hat seine Bilder der Anerkennung ontologischer Wirklichkeit über die Lebendigkeit seiner bewegten Darstellung hinaus versichert. Eine Filmkamera ist ein Fotoapparat, der mit einem Uhrwerk gekoppelt wurde, das heißt, sie funktioniert wie eine Zeitmaschine. Statt der Uhrzeiger, die Sekunde für Sekunde vorrücken, läuft durch die Filmkamera ein Filmband, in der Bild für Bild erst 16, später 24 Bilder / Sek. belichtet und im Projektor projiziert werden. Und aus demselben Grund, warum die Hemmung in einer Uhr die Zeit nur schrittweise auf dem Zifferblatt darstellt, kann die Filmkamera Bewegung nur in einer Abfolge einzelner unbewegter Bilder aufzeichnen und im Projektor wiedergeben: Der genaue Verlauf der Zeit muss mit dem Federwerk der Uhr synchronisiert werden, weshalb er in kleinste Einheiten zerlegt und für die präzise Darstellung der Zeit wieder zusammengesetzt wird, tick für tack21. Abb. 4: Hemmung einer Uhr und Malteserkreuz einer Filmkamera

phie, wo sich die Bewegungsphasen auf einem Bild verdichteten, dem Auge zugeschrieben, „das vom optischen Gesichtspunkt einen photographischen Apparat darstellt mit seinem Objektiv und seiner dunklen Kammer, dessen Verschluss die Lider bilden, während die Netzhaut (…) die empfindliche Platte vorstellt“, wo die einzelnen Bilder ineinander zum Eindruck von Bewegung verschwimmen. (E. J. Marey: Die Chronophotographie. Berlin 1893, S.3–4 (Reprint Frankfurt/M. 1985) 21 Vgl. Peter Gendolla: Zeit-Stationen. Über Beschleunigungen und die Kunst, anzuhalten … In: Synema (Hg.): Zeit. Wien 1999, S.91–102.

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Dargestellte Bewegung als mediale Form Und weil die dargestellte Bewegung so gut wie nie dieselbe Bewegung ist, mit der sie mechanisch in der Kamera dargestellt wird, muss sie auf eine Frequenz herunter gebrochen werden, die fotografisch möglich und hinsichtlich ihrer Wahrnehmung akzeptabel ist (je höher die Frequenz einer Uhr, desto genauer ist sie; je mehr Bilder / Sek. projiziert werden, desto fließender ist die wieder zusammengesetzte dargestellte Bewegung im Film; dass der Zeitindex auch regelrecht zerbrechen kann, davon ist später noch die Rede). Der Zeitindex der Reihenfotografie, deren Frequenz oder zeitlicher Abstand, der nicht mehr symbolisch in sondern mechanisch zwischen den einzelnen bewegungslosen Bildern operiert, hat sich bei 24 Bildern / Sek. (oder mit Flügelblenden scheinbar auf 48 Bilder verdoppelt) eingependelt. Diese mediale Eigenschaft der Kinematographie induziert gemeinsam mit dem Prozess figuraler Darstellung in einer Folge bewegungslos projizierter Bilder („in der Tat ist hier die Bewegung durchaus vorhanden, sie steckt 22 im Apparat“ ) die Bewegung als ‚Differenz-Form‘ zwischen den Bildern. „Die Bewegung entschlüpft in das Intervall“23 heißt es bei Henri Bergson, tatsächlich wird sie dort ‚formuliert’, das heißt sie nimmt dort die ‚Gestalt’24 an, die das Bewegungsbild der Leinwand offeriert. Die Wahrnehmung des Betrachters schließlich erkennt im Prozess figuraler (gegenständlicher oder abstrakter) Darstellung die Veränderungen im Bildraum des Bewegungsbildes als deren Bewegung in der dargestellten Zeit25. Dass Bewegung nur als ‚Differenz-Form‘ kinematographisch darstellbar ist, erhellt allein daraus, dass beim Fehlen figuraler Differenzen trotz mechanischer Bewegung der Bilder im Apparat keine figurale Bewegung erkennbar ist: Das Bild ist ‚eingefroren‘ im ‚freeze fra-

22 Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung. Jena 1921, S.308. 23 Ebd., S.311. 24 Rudolf Arnheim hat die Forschungen Max Wertheimers (1912) im Rahmen der Gestalttheorie für den modernen Film weiterentwickelt. Leider ist diese Seite der Filmtheorie Arnheims nie so recht populär geworden. Vgl. Rudolf Arnheim: Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges. Berlin 1965, S.322–355 (‚Bewegung’). 25 Vgl. Julian Hochberg: The Perception of Moving Images. In: IRIS, No 9 (Vol 5, No 2) 1989, S.41–68; Julian Hochberg, Virginia Brooks: The Perception of Motion Pictures. In: Handbook of Perception, Vol 10, 1978, S.259–304; Julian Hochberg and Virginia Brooks: Movies in the Mind’s Eye. In: David Bordwell and Noel Carroll (eds.): Post-Theory. Reconstructing Film Studies, Madison 1996, S.368–387.

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Joachim Paech me‘26, seine Bewegung nähert sich der Nullform. Am ‚Ende‘ des Films von François Truffaut Les 400 coups (Sie küssten und sie schlugen ihn) aus dem Jahr 1959 hält (noch) nicht die Bewegung der kinematographischen Darstellung, aber die ‚im Film‘ dargestellte Bewegung des Jungen an: Abb. 5: François Truffaut: Les 400 Coups, 1959

Vierundzwanzig Differenzen zwischen nacheinander projizierten Lichtbildern verbinden sich mit ihrem Zeitindex zur Form einer fließenden Bewegung figuraler Elemente im Bewegungsbild, vorausgesetzt natürlich, dass die Bilder des Films mechanisch präzise übereinander projiziert werden, andernfalls bleiben die Einzelbilder im ‚Flicker‘ unterscheidbar, die Bewegung diskontinuierlich. Und schließlich hat die dispositive Anordnung des Kino‚Theaters‘ den Betrachter (vorübergehend) wieder unbeweglich gemacht und ihn vor dem Bewegungsbild der Leinwand fixiert. Was ein bloßer Effekt kinematographischer medialer Eigenschaften (der mechanischen Projektion von Lichtbildern in einer Black26 Das eingefrorene ‚Bild‘, auf dem der Film von François Truffaut: Les 400 coups endet, kann hier in einem Einzelfoto nicht adäquat wiedergegeben werden, weil seine ‚angehaltene Bewegung’, die keine eigene Form hat, nicht dargestellt werden kann. Die Ursache der abwesenden Bewegung ist in dem Foto selbst nicht ersichtlich.

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Dargestellte Bewegung als mediale Form box) ist, wird sich auflösen, sobald auch die Bewegungsbilder technisch wieder den Körperbewegungen ihrer Konsumenten zuerst nach Hause und schließlich überall hin folgen können. Auch kinematographisch also ist die Bewegung noch nicht in den Bildern angekommen. Aber zwischen ihnen formuliert ihre Differenz-Form mit entsprechendem Zeitindex das, was sich schließlich als ihr Bewegungsbild auf der Leinwand neu konstituiert. Die Beschleunigung oder Verlangsamung kinematographisch dargestellter Bewegung, der Moment also, wo Bewegung ‚als Bewegung’ wahrgenommen wird, ist ein Effekt, der eine dargestellte Geschwindigkeit zum Gegenstand haben kann (nicht muss) und deren Darstellung auf Veränderungen des Zeitindex medialer Voraussetzungen, der Differenz-Form figurativer Darstellung und der Wiedereinführung der Bewegung als medialer Form im fotografischen Bild selbst beruht. Geschwindigkeit ist eine Form von Bewegung. Kinematographisch setzt sie die Darstellung von Bewegung in einem Bewegungsbild voraus, dem sie als eine besondere Form von Bewegung eingeschrieben ist.

Geschwindigkeit als mediale Form „Speed is the Mother of Cinema“27. Für Edgar Reitz hat das eine doppelte Bedeutung. Zum einen ist das Cinema direkt mit der mechanischen Beschleunigung in der Moderne verbunden. Zum anderen bringt es die modernen Geschwindigkeiten auf eine Weise zum Ausdruck, dass es die Form ihrer Darstellungen auch in den Künsten und anderen Medien modellhaft vorgegeben hat. Ähnlich wie die bewegungslose Fotografie die Form der Bewegung eingeführt hat, mit der sie auch in Bildern anderer Medien formuliert werden konnte, ist es nun das kinematograpische Bewegungsbild, das die neuen Geschwindigkeiten ‚formuliert‘. Eisenbahnen, Rennwagen, Flugzeuge symbolisieren das Tempo der Moderne am Beginn des 20. Jahrhunderts, und der Kinematograph als privilegiertes Medium ist nicht müde geworden, deren atemberaubende Schnelligkeit vorzuzeigen. Marinettis Futuristen haben die „Schönheit der Geschwindigkeit (besungen).

27 Edgar Reitz: Speed is the Mother of Cinema. In: Thomas Elsaesser, Kay Hoffmann (Hg.) Cinema Futures: Cain, Abel or Cable. The Screen Arts in the Digital Age. Amsterdam 1998, S.63–72 – In einem Film von 1963 hat Edgar Reitz die Darstellung von Geschwindigkeit zum Thema gemacht: ‘Geschwindigkeit. Kino 1’.

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Joachim Paech Ein Rennwagen […] ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake“28, deren Bewegungslosigkeit hoffnungslos veraltet ist. Dennoch, wenn Giacomo Balla diese Schönheit der Geschwindigkeit in einem bewegungslosen Bild der Malerei durch Linien darzustellen versucht, woher stammt dann deren Form, die offenbar allgemein als bewegungslose Darstellung von Geschwindigkeit akzeptiert worden ist? Abb. 6: Giacomo Balla: Lignes en mouvement et successions dynamiques, 1913

28 F.T.Marinetti: Manifest des Futurismus. In: Hansgeorg SchmidtBergmann: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente. Reinbek 1993, S.77.

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Dargestellte Bewegung als mediale Form Abb. 7: Geschossfotografie von Ernst Mach

Giacomo Balla kann sich durchaus auf die wissenschaftliche (be29 wegungslose) Fotografie von Geschwindigkeiten beziehen , deren prominentes Beispiel die Geschossfotografien von Ernst Mach sind30. Die durch das Geschoß unterschiedlich verdichtete Luft konnte durch eine spezielle Beleuchtung fotografisch ‚blitzartig‘ sichtbar gemacht werden. Die Fotografie hat das Geschoß im Bild sistiert und ihm die Geschwindigkeit als Form hinzugefügt. „Ohne sie hätte die Beobachtung nicht verifiziert und damit nicht einem

29 „Maler wie Russolo, Balla und Dottori bedienten sich bei ihren Geschwindigkeitsdarstellungen der Folie der durch Hochgeschwindigkeitsfotografien sichtbar gemachten hyperbolischen Überschallwellen.“ (Siegfried Reinecke: Mobile Zeiten. Eine Geschichte der Auto-Dichtung. Bochum 1986, S.69). 30 Vgl. Christoph Hoffmann (Hg.): Über Schall: Ernst Machs und Peter Salchers Geschoßfotografien. 2001. – Wie sehr man im Vorfeld der Kinematographie dran interessiert war, Bewegung als mediale Form fotografisch vorzuzeigen, beweisen auch die Rauchbilder E .J. Mareys (Vgl. Georges Didi-Huberman; Laurent Mannoni: Mouvements de L’Air. Etienne-Jules Marey, Photographe des Fluides. Paris 2004).

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Joachim Paech wissenschaftlichen System integriert werden können.“31 Als die ersten Flugzeuge über den Himmel rasten, wurden sie zum Synonym für die vorwärtsstürmende Geschwindigkeit der Zeit. Der Blick aus dem Flugzeug, der anfangs nur wenigen vorbehalten war, zeigte ein anderes Bild. Was sie aus der Höhe zu sehen bekamen, war das langsame Vorbeiziehen der Erde unter ihnen, eine Erfahrung, die Gertrude Stein wiederum mit einer malerischen Form verglichen hat: „Als ich zum ersten Mal in Amerika war, reiste ich sehr oft im Flugzeug und als ich zur Erde hinunterblickte sah ich all die kubistischen Linien, die zu einer Zeit entstanden waren, als kein einziger Maler jemals in einem Flugzeug geflogen war. Ich sah auf der Erde das sich Vermischen der Linien Picassos, kommen und gehen, sich entwickeln und selbst wieder zerstören...“32

Wie kommt es zu Bildern von Geschwindigkeit? Eigene Erfahrungen mit der mechanischen Beschleunigung haben die Zeitgenossen zuerst als Reisende mit der Eisenbahnfahrt33 und schließlich auch selbst mit Automobilen machen können, die bald schon massenhaft von den Fliessbändern liefen, was sich wiederum in literarischen Beschreibungen niedergeschlagen hat, die auch aus Filmen hätten stammen können. In einem Text von Ilja Ehrenburg wird der Zusammenhang explizit. „Im dunklen Saal […] erbebte Bernard plötzlich: auf der Leinwand raste ein Auto. Mit diesem Auto raste der ganze Zuschauerraum. Bernard fühlte plötzlich, dass auch er irgendwohin raste. Das übrige war schnell vergessen [...]“

31 Herta Wolf: Die Divergenz von Aufzeichnen und Wahrnehmen. Ernst Machs erste fotografiegestützte Experimente. In: Christoph Hoffmann (Hg.): Über Schall, S.302. 32 Stephen Kern: The Culture of Time and Space, 1880–1918. London 1983, S.245 (Gertrude Stein: Picasso (1938), New York 1959). Zu malerischen Versuchen, die Geschwindigkeit des Fliegens wiederzugeben, etwa bei Fernand Léger oder Robert Delaunay vgl. Joachim Paech: Bilder von Bewegung – bewegte Bilder. Film, Fotografie und Malerei. In: Monika Wagner (Hg.): Moderne Kunst 1. Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst, Reinbek 1991, S. 237–264. 33 Vgl. Joachim Paech: Unbewegt bewegt. Das Kino, die Eisenbahn und die Geschichte des filmischen Sehens. In: Ulfilas Meyer (Hg): Kino-Express. Die Eisenbahn in der Welt des Films. München, Luzern (Bucher) 1985, S.40–49.

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Dargestellte Bewegung als mediale Form Monsieur Bernard beschließt, sich ein Auto zu kaufen, mit dem er sich auf den Weg nach Perigueux macht. Nach anfangs langsamer Fahrt wird er immer schneller, bis das Fahren ihm wie ‚rasender Flug‘ vorkam. „Er konnte weder Hügel, noch Bäume, noch Menschen deutlich erkennen. Alles rings um ihn flimmerte wie damals im Kino. [...] Charles kennt jetzt nur noch eins: Geflimmer und Wind. Er hat die Augen zusammengekniffen. Er ist trunken ...“

34

Die Fahrt endet katastrophal, weil die Geschwindigkeit das Risiko des Unfalls und abrupten Abbruchs der Bewegung (wie im Filmriss) einschließt, was sich bis zu den Verfolgungsjagden wiederum im Kino herumgesprochen hat. Während die Literatur die Erfahrung der Geschwindigkeit sprachlich atemlos durch kurze, abgehackte Sätze wiederzugeben versucht, die durchaus beschleunigte Montageformen des Films nachahmen, können sich die Bildmedien auf das Vor’bild’ Film unmittelbar beziehen. Wenn Geschwindigkeit kinematographisch dargestellt und im Film medial formuliert wird, dann liegen dem dieselben medialen Eigenschaften der Fotografie zugrunde, mit denen die Filmkamera Geschwindigkeit fotografiert, mit denen der Film montiert und projiziert wird, und die auch für die Darstellung jeder anderen Bewegung vorausgesetzt werden. Abb. 8 : Jean Epstein: La Glace à Trois Faces, 1927

34 Ilja Ehrenburg: Das Leben der Autos. Berlin (Malik Verlag) 1930, S.278, 282-283

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Joachim Paech Abb. 9 : Jean Epstein: La Glace à Trois Faces, 1927

Wie in der Einzelfotografie kann Geschwindigkeit im Film durch Objektunschärfen oder Verwischungen des Hintergrunds wiedergegeben werden, wenn die Kamera sich mit dem Objekt (einem Rennwagen zum Beispiel) mitbewegt. In diesem Fall bleibt im Film zwar die Bewegung des Rennwagens optisch erhalten, die Geschwindigkeit kann jedoch nur relativ zu den Verwischungen des Hintergrunds eingeschätzt werden. Diese Figuration von Geschwindigkeit im Film ändert nichts an den medialen Bedingungen ihrer Darstellung als Reihenfotografie und schon gar nichts an der bequemen Disposition des festgesetzten Zuschauers im Kino als deren Betrachter. Erwin Panofskys Idee, dass der Betrachter „als Subjekt ästhetischer Erfahrung […] in ständiger Bewegung sei […], indem sein Auge sich mit der Linse der Kamera identifiziert, die ihre Blickweite und -richtung ständig wechselt“35, ist spätestens (tatsächlich bereits bei jedem Einstellungswechsel) dann nicht mehr haltbar, wenn nur noch kürzeste Einstellungen zum Beispiel in Music-Clips montiert werden. Von Identifizierung mit einem Kamerablick kann keine Rede sein; der Eindruck von Geschwindigkeit entsteht hier ausschließlich aus der beschleu-

35 Erwin Panofsky: Stil und Medium im Film. In Ders.: Stil und Medium im Film und Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers. Frankfurt/M. 1999, S.25.

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Dargestellte Bewegung als mediale Form nigten Montage kürzester Einstellungen: Der Zeitindex (die Frequenz) und damit die Differenz-‚Form‘ der Bewegung für die Einzelbildfolge des Films sind regelrecht zerbrochen, es gibt (mehr oder weniger) keine Kontinuität mehr außer jener der mechanischen Abfolge figural unverbundener kurzer Einstellungen. Ge36 schwindigkeit ist hier ein rein medial induzierter Effekt , der im Prinzip (ähnlich wie in Discos) bis zum stroboskopischen Flicker der leeren Einzelbilder 24 mal in der Sekunde vorangetrieben werden kann. Wenn das stehende Bild des ‚freeze frame‘ als Nullform des mechanisch bewegten und projizierten Bildes gelten kann, dann sind die Zeitlupe und der Zeitraffer die beiden extremen Varianten des Zeitindex der darstellenden Bewegung, deren Differenz-Form entweder als Verlangsamung oder als Beschleunigung wahrgenommen wird. Technisch handelt es sich beim Zeitraffer im Extremfall um ein ‚stop motion‘ oder ‚single frame‘-Verfahren, bei dem der Zeitindex der darstellenden Bewegung (des Bewegungsbildes) gegenüber der dargestellten Bewegung (dem Wachstum einer Pflanze zum Beispiel) so stark heruntergefahren wurde, dass etwas, das eine Woche dauert, normal projiziert in wenigen Minuten beschleunigt abzulaufen scheint. Umgekehrt wird der Zeitindex bei der Zeitlupe so weit ‚aufgefüllt‘, dass die dargestellte Bewegung gedehnt und entsprechend verlangsamt erscheint. Beides sind mediale Effekte, die im Unterschied zur Clip-Montage die figurale Kontinuität zugrunde legen. Geschwindigkeit, wenn sie in einem einzelnen gemalten oder fotografierten Bild dargestellt werden soll, erscheint als eine besondere Form der ‚Form von Bewegung‘, die weitgehend konventionalisiert aus anderen medialen Darstellungen übernommen wird. Kinematographisch ist die Geschwindigkeit der Objektbewegung die fotografische Form von Bewegung ‚als Geschwindigkeit‘ im projizierten Bewegungsbild bei ‚normalem’ Zeitindex und auf Kontinuität bezogener Differenz-Form der Bewegung. Hinzukommen jedoch mediale Möglichkeiten der Variation des Zeitindex, die bis zum völligen Zerbrechen zeitlicher und figuraler Formulierungen von Bewegung reichen können. Die Bewegung des Flickers ist

36

„Die Schnittgeschwindigkeit von Music-Videoclips ist groß. Gemessen werden zumeist Schnittlängen zwischen 0,4 und fünf Sekunden.“ (Irmbert Schenk: Zeit und Beschleunigung. Vom Film zum Videoclip? In: Christine Rüffert (Hg.) ZeitSprünge, wie Filme Geschichte(n) erzählen. Berlin 2004, S.74 – Film und Video unterscheiden sich im Effekt nicht wesentlich).

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Joachim Paech nur noch Selbstinduktion des Mediums, vierundzwanzig Mal in der Sekunde. Alles, was hier versucht wurde als ‚mediale Form von Bewegung’ zu beschreiben, bezieht sich ausschließlich auf die Kinematographie, ihre fotografischen Grundlagen, ihre Mechanik, Optik, Chemie im dispositiven Rahmen des Bewegungsbildes auf der Leinwand im Kino. Es ist vielleicht nicht unwichtig zu verstehen, wie Bewegung in diese technischen Bilder gekommen ist, die uns heute fast schon altmodisch und überholt vorkommen und offenbar nicht mehr der Rede wert sind37. Die Bilder der neuen elektronischen, analogen oder digitalen Medien sind gewissermaßen Bilder ihrer eigenen Bewegung, durch sie sie überhaupt erst als Bilder entstehen. Das heißt, sie stellen figurale Bewegung durch die immanente (Pixel-)Bewegung ihres Bildes her, sie stellen Bewegung also durch Bewegung selbst dar. Was uns gegenwärtig begegnet, wenn wir einen kinematographischen Film mit dem elektronischen Monitorbild des Fernsehens dargestellt bekommen, ist eine Hybridform zweier unterschiedlicher Prinzipien der Darstellung von Bewegung, die dabei ist, ihren älteren mechanischen Anteil abzulegen.

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37 Vgl. Angela Krewani: Multimediale Praxis und anachronistische Theoriebildung? Zu einigen Aporien der Film-, Fernseh- und Medienwissenschaft. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 123, 2001, S.73–84.

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Dargestellte Bewegung als mediale Form Eco, Umberto: Über Spiegel. In Ders.: Über Spiegel und andere Phänomene. München (Hanser) 1988, S.26–61. Gombrich, Ernst W.: „Leonardo da Vincis Forschungsmethode der Analyse und Permutation. Die Formen der Bewegung von Wasser und Luft“, in: Ders: Die Entdeckung des Sichtbaren. Zur Kunst der Renaissance III, Stuttgart 1983, S. 55–76. Gendolla, Peter: Zeit-Stationen. Über Beschleunigungen und die Kunst, anzuhalten… In: Synema (Hg.): Zeit. Wien 1999. Gorkij, Maxim: Flüchtige Notizen.(Bericht über den Cinématographe Lumière in Niznij -Novgorod. In: Nizegorodskij listok .4.Juli 1896 unter dem Namen I.M.. Pacatus). In: Kintop. Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films. 1995. Hochberg, Julian; Brooks, Virginia: Movies in the Mind’s Eye. In: David Bordwell and Noel Carroll (eds.): Post-Theory. Reconstructing Film Studies, Madison 1996, S.368–387. Hochberg, Julian ; Brooks, Virginia: The Perception of Motion Pictures. In: Handbook of Perception, Vol 10, 1978, S.259–304. Hochberg, Julian: The Perception of Moving Images. In: IRIS, No 9 (Vol 5, No 2) 1989, S.41–68. Hoffmann, Christoph (Hg.): Über Schall: Ernst Machs und Peter Salchers Geschoßfotografien. 2001. Hawker, Rosemary: The Idiom in Photography As the Thruth in Painting. In: The South Atlantic Quarterly 101:3, Summer 2002, S.541–554. Hart Nibbrig, Christiaan L. (Hg.): Was heißt ‚Darstellen’? Frankfurt/M. 1994. Kern, Stephen: The Culture of Time and Space, 1880–1918. London 1983 Krewani, Angela: Multimediale Praxis und anachronistische Theoriebildung? Zu einigen Aporien der Film-, Fernseh- und Medienwissenschaft. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 123, 2001, S.73–84. Marinetti, F.T.: Manifest des Futurismus. In: Hansgeorg SchmidtBergmann: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente. Reinbek 1993. Marey, E. J.: Die Chronophotographie. Berlin 1893 (Reprint Frankfurt/M. 1985). Ovid: Metamorphosen, 4. Buch. Ovid: Metamorphosen, 10. Buch. Panofsky, Erwin: Stil und Medium im Film. In Ders.: Stil und Medium im Film und Die ideologischen Vorläufer des RollsRoyce-Kühlers. Frankfurt/M. 1999.

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Dargestellte Bewegung als mediale Form Wolf, Herta: Die Divergenz von Aufzeichnen und Wahrnehmen. Ernst Machs erste fotografiegestützte Experimente. In: Christoph Hoffmann (Hg.): Über Schall. Ernst Machs und Peter Salchers Geschoßfotografien. 2001.

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Der Fischschwanz als Erinnerungsbild hybrider Körperempfindungen URSULA LÜCKE In der Phase der Ausdifferenzierung und Etablierung der (Natur-) Wissenschaften ab dem 17. Jahrhundert wurde der Versuch unternommen, Meerjungfrauen mithilfe empirischer Methoden als real existierend nachzuweisen. Die Einordnungsversuche des fischschwänzigen bzw. monoflukigen Wesens ließen es durch einige Familien wandern. Zum Ende des 18. Jahrhunderts scheint der Streit um die Zuordnung beendet. Dugong und Manati, empirisch belegbare und als Verwandte des Elefanten beschriebene Meeressäuger, werden in der Gattung "Sirenia" klassifiziert und abgebildet. Verführungsgewalt und Begehrlichkeiten in Verkörperung der langhaarigen, oft barbusigen Nixe mit Fischschwanz scheint aus dem naturwissenschaftlichen Kontext gebannt, ist damit aber nicht gänzlich verschwunden. In einer kaum da gewesenen Massivität breiten sich Sirene, Undine, Melusine, kleine Meerjungfrau, schöne Lau und Loreley in der europäischen Kunst des 19.Jahrhundert aus. Der Fischschwanz, der oft mit diesen Wasserwesen in Verbindung steht, fungiert dabei als Erinnerungsbild, das in der Lage ist, hybride Körperempfindungen zu tradieren. Die verschiedenen Ausbildungen von Fischschwänzen und deren gestische Inszenierungen nehmen Einfluss auf die Bedeutung ihrer Träger_innen bzw. Inhaber_innen. Dabei stelle ich folgende These auf: Mit der Reduktion von Doppel- auf Monofischschwanz bzw. – fluke in naturwissenschaftlichen Abbildungen des empirisch belegbaren Meeressäugers geht eine massive Einschränkung des Imaginationsspektrums von aktiver Verwandlungsfähigkeit mit vielfältigen Körperempfindungen einher. Die Entwicklung mündet schließlich in Verbildlichungen von passiver Fremdbestimmung ohne Entfaltungsspielraum. Gleichzeitig eröffnen sich im Moment der genauesten Festschreibung durch und in naturwissenschaft261

Ursula Lücke liche Kategorien neue Gestaltungsräume sowohl in den Naturwissenschaften, als auch den Künsten des 19. Jahrhunderts. Die Ausbildung des (Fisch)-Schwanzes, der nicht immer in Reinform auftritt, imaginiert dabei vielfältige und sehr heterogene Körperempfindungen

Der Fischschwanz als Zivilisationskennzeichen und fiktive Genealogie Der erste fischschwänzige Wassermensch in historischer Zeit sei, nach Gwen Bennwell und Arthur Waugh, der Gott Ea oder Oannes gewesen. In ihrer Veröffentlichung Töchter des Meeres, von Nixen, Nereiden, Sirenen und Tritonen von 1962, wird Oannes als Herr aller Gewässer und einer der drei großen babylonischen Götter beschrieben. „Die Babylonier verehrten die ‚große Tiefe‘ als das Element, aus dem alles geschaffen wurde, und so der Ursprung aller Dinge auf Erden war.“1 Oannes stamme vom ‚himmlischen Ozean‘ ab und verließ das irdische Meer nur tags, um nachts immer dorthin zurückzukehren. Oannes wird als Gott des Lichtes und der Wahrheit beschrieben, der seinem Volk die Zivilisation brachte und ihnen Kenntnisse über Natur, Kultur und alle Arten von Künsten vermittelte, welche die sanften Sitten fördern und die Menschen menschlicher machen sollten2. Oannes selber habe den Körper wie der eines Fisches gebildet, unterhalb seines Fischkopfes sei noch ein zweiter Kopf und menschenähnliche Füße seien unten aus seinem Fischschwanz hervor gewachsen.3 Der Fischschwanz fungiert bei Oannes als Kennzeichen von Zivilisationsprozessen. Die Melusine des Jean d’Arras von 1369, so Walpurga Hülk in Melusine – Lusignan: Fiktive Genealogie im Namen der Mutter von 1991, werde zum Ursprung eines edlen Geschlechts und zur Garantin der kulturellen Entwicklungsprozesse, wenn ihr Geheimnis bewahrt bleibt. „Jean, Duc de Berry, dritter Sohn Johannes des Guten (Jean le Bon) von Frankreich und berühmter Mäzen seiner Zeit […] bat 1387 seinen Bibliothekar und Buchbinder, Jean d’Arras, die Geschichte des Schlosses von Lusignan und der gleichnamigen Familie aufzuzeichnen, deren Lehnsherr der Herzog war. Das

1 2 3

BenwellundWaugh 1962, S.17. BenwellundWaugh 1962, S.18. Vgl. BenwellundWaugh 1962, S.18.

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Der Fischschwanz als Erinnerungsbild Schloß, so erzählte man sich, sei von einer Fee errichtet worden und erhob sich zu dieser Zeit über einem vom Krieg zerstörten Poitou, das Jean de Berry erst 1369 von den Engländern zurückgegeben worden war.“

4

Jean d’Arras durchstöbere daraufhin die prunkvolle Bibliothek des Herzogs, die sowohl Werke über Astronomie und Astrologie enthielte, als auch Literatur über abenteuerliche Entdeckungsfahrten, wie die Reiseberichte des Marco Polo. Besondere Aufmerksamkeit wurde u.a. der Speculum maius des Vincent von Beauvais zuteil. Hier fand d’Arras, so Hülk, die Versatzstücke und Episoden über fischschwänzige Meerfrauen. In Verbindung mit dem Schloss Lusignan konnte die Erzählung der Melusine entstehen. Darin wird Melusine als Garantin kultureller Entwicklungsprozesse beschrieben, wenn ihr Geheimnis bewahrt bleibe. In der Eigenschaft der Kulturträgerin ähnelt sie dem babylonischen Wassergott Oannes. Allerdings konnte er sich jeden Abend in seine andere Welt zurückziehen, ohne dass es dem von ihm geförderten Zivilisationsprozess geschadet hätte. Die Entdeckung durch ihren Ehegatten, dass Melusine sich immer samstags vom Nabel abwärts in ein schlangen- oder fischschwanzartiges Wesen verwandelt, hat Konsequenzen. Das gebrochene Versprechen des Gatten lässt Melusine dem Schloss entschwinden und mit ihr weichen auch alle kulturellen Errungenschaften, die durch ihre Anwesenheit entstanden waren. Dem in der Erzählung beschriebenen Verfallsprozess und der Abfolge der Ereignisse entspräche die Realität der Familienchronologie in keiner Weise. Jean d’Arras habe, so Hülk, die chronologische Reihenfolge vom Namen der Ahnfee und der Namensgebung der Familie umgekehrt, da die Familie von Lusignan schon seit 1177 über die Marche herrschte. So führe die Verbindung eines Märchenstoffes mit einem konkreten histographischen Anspruch zu zahlreichen fiktiven Genealogien, die den Ursprung eines Adelsgeschlechts bis in graue Vorzeiten verbürge und in die Zukunft weitertradiere. Gelehrte etymologische Deutungen verbänden Melusine mit einer römischen Geburtsgöttin oder mit einer Eichengöttin. Hülk aber gibt einer volkstümlichen Etymologie den Vorzug. Das Volk habe niemals aufgehört, ‚Merlusine‘ oder ‚mère Lusine‘ zu sagen, was von ‚mater Lucinia‘, der Schutzfee einer alten römischen Siedlung abgeleitet sei. Ein besonderer Kuchen, der auch heute noch zu Pfingstmontag gebacken werde,

4

Hülk, in: Roebling 1991, S.36.

263

Ursula Lücke „hat entweder die Form einer Frau mit Fischschwanz, die in der linken Hand einen Kamm hält und die rechte zum Kopf führt, oder einer Frau mit Fischschwanz, die ihre Hände in Gebetshaltung auf der Brust gefaltet hat.“

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Abb. 1: Fee Melusine, mittelalterlicher Holzschnitt

Quelle: Sonnfried Streicher, Fabelwesen des Meeres, Hinstorff, Rostock, 1996, S.35

Die Abbildung einer Melusine in einem mittelalterlichen Holzschnitt zeigt den Unterkörper mit einem Fischschwanzansatz, der in einem ringelförmigen Schlangenende ausläuft. Dem schuppigen Anteil erwachsen zwei Lebensbäume, deren volutenartigen Ausläufer Menschenoberkörper entspringen. Der Fiscschwanzanteil verkörpert hier eine Entwicklungszone, die das Potential hat, ein ganzes Familiengeschlecht ausbilden zu können.

5

Hülk, in: Roebling 1991, S. 45

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Der Fischschwanz als Erinnerungsbild

Skylla als doppelfischschwänzige Seelenbegleiterin und wandelbare Monsterfigur Seit dem 2. Jahrhundert und vor allem in den Bestiarien des Mittelalters lassen sich in Abbildungen und Beschreibungen fischschwänzige, als Sirene oder Meerjungfrau bezeichnete Wesen finden, welche über eine dämonische Stimmgewalt verfügten. Woher kommt dieses Bild der wunderschönen Meerfrau und waren es tatsächlich visualisierte verführerische Körperformen, denen sich in antiken Vorstellungen ein zumeist männlich gedachter Held, wie z.B. der griechische Odysseus mit viel List erwehren musste, um nicht buchstäblich unterzugehen? In der Odyssee lassen sich keinerlei Hinweise finden, ob ein besonderes Äußeres der Sirenen Anlass für eine derartige Anziehungskraft gewesen ist. Die Stimme ist es und insbesondere der Gesang, der die Begegnung mit den Sirenen zu einem in der Regel tödlich endenden Abenteuer werden lässt. Während das Grimmsche Deutsche Wörterbuch unter dem Begriff „Sirene“ über zwei Seiten das fabelhafte Seeungeheuer in Gedichten und Beschreibungen ausführt, und dann in einer kurzen Erläuterung ein Gerät erwähnt, welches Töne erzeugt6, drehen sich Reihenfolge und Umfang der Ausführungen in neueren Lexika um. So findet sich in einem Taschenlexikon jüngeren Datums unter dem Begriff „Sirene“ „ein Schallgeber, bei dem der Schall durch period. Unterbrechung eines Luftstroms und die dadurch bewirkten Druckschwankungen hervorgerufen wird.“7 Dieses Gerät, welches bei Betätigung einen jammernden oder ziehenden Ton von sich gibt, wird bekanntlich zur Warnung der Menschen bei nahenden Katastrophen eingesetzt. Außer der Verbindung von Sirene und Gefahr dürfte das Instrument, dessen Ton eher an ein jammerndes Winseln erinnert, kaum etwas mit dem betörenden Gesang der Sirenen des Altertums gemein haben, wären da nicht noch die bellenden Geräusche der Skylla. Monika Boosen stellt in ihrem 1986 erschienenen Buch Etruskische Meeresmischwesen einen Reigen von Wesen vor, die aus Mensch und Tier und insbesondere Fisch zusammengesetzt sind. Dabei nimmt die Figur der Skylla in dieser Untersuchung eine herausragende Rolle ein. Mit Bezugnahme auf griechische Vorbilder, die in den Meeresmischwesen vor allem schreckliche Ungeheuer sehen wollten, welche den Verstorbenen auf seinem Weg 6 7

Grimm, 1905, S. 1231ff. Meyers 1987, S. 193.

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Ursula Lücke ins Jenseits bedrohen, zeigt die Autorin eine unabhängige etruskische Neuschöpfung auf: „Mit Skylla wird […] ein Wesen bezeichnet, das zusammengesetzt ist aus einem menschlichen, meist weiblichen Oberkörper und einem Unterkörper, der in Fischform gestaltet ist. Dieser kann aus einem Fischleib mit Schwanzflosse bestehen […], aber auch aus zwei Fischschwänzen, die sowohl in Schlangenköpfen […] als auch in Schwanzflossen enden können.“

Die beliebteste etruskische Darstellungsweise einer Skylla sei die mit den ausgebreiteten Fischschwanzbeinen, welche die lange Laufzeit von 4.–1. Jahrhundert v. Chr. hat und vor allem auf Sarkophagen und Urnen abgebildet wurde. Im Gegensatz zur homerischen Deutung der Skylla als Ungeheuer und Symbol für die Gefährdung von Schiffen und Menschen stelle die etruskische Skylla zumeist ein über die übrigen Meerwesen hinaus gehobenes Wesen dar, das die Verstorbenen ins Jenseits geleitet. Zahlreiche Darstellungen aus dem Bereich der Grabkunst zeigen, dass die griechische Vorstellung eines freudlosen Daseins der Toten im Schattenreich den Etruskern zumindest im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. fremd gewesen sei. Das Meer spiele „offenbar eine bedeutende Rolle im Bereich der etruskischen Grabkunst. Dies kann eigentlich nur erklärt werden mit einem Bezug zu der Vorstellung vom Jenseits auf der ‚Insel der Seligen‘ und der Fahrt dorthin über das Meer.“ Die etruskische Skylla mit dem ausgebreiteten Doppelfischschwanz verkörpert, so Boosen, ein bedeutendes Symbol für die Jenseitsreise, was ihr häufiges Vorkommen auf Urnen und Sarkophagen begründe. Metamorphose als Motiv der Verfremdung wird von Klaus J. Heinisch in seinem 1981 erschienenen Buch Der Wassermensch in der Weise beschreiben, „[…] daß das Ich sich damals wie heute seiner selbst noch nicht oder nicht mehr sicher ist, auf der die Anziehungskraft des "Anderen" beruht, das man sein möchte oder sein könnte […]. Der stärkste […] Reiz liegt dabei in der elementar bedingten oder, besser gesagt: der elemetar ‚gerichteten‘ Verwandlung, der, wie Goethe es ausdrückt, ‚behaglichen‘ Auflösung in die Urelemente des Feuers oder der Luft, vor allem aber in das des Wassers, dessen Kontrast zu dem erdgebundenen und erdbestimmten Menschen wohl am stärksten empfunden wird. Hier ist die Verfremdung – sofern dieser Begriff zunächst Selbstentfremdung, als das überraschende und überwältigende Erlebnis des Sich-selbst-nicht-mehr-Kennens verstanden wird – am durchgreifendsten und "natürlichsten" und enthält gleichzeitig die zauberhafte

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Der Fischschwanz als Erinnerungsbild Verlockung der Gefahr, die der Ambivalenz der tückischen Elemente entspricht.“

8

Heinisch stellt das Moment der Verwandlungsfähigkeit in den Mittelpunkt seiner Analyse. Nur im Zustande starker körperlicher Deformierungen mit angewachsenen Fremdzusätzen bis hin zu ungeheuerlichen Verunstaltungen sei dem Glaukos eine Möglichkeit zur Einsicht seines wahren Wesens möglich. Der Weg führe nicht über seinen heilen, sondern über seinen teilweise gewaltsam veränderten Körper, um das Trugbild der Körperlichkeit von Grund auf anzugreifen und aufzulösen. Im Unterschied zu Glaukos, so Heinisch, lasse Vergil im Verwandlungsprozess das Bild der Skylla aus dem Mythologischen ins Mythische wachsen: „Finstere Höhlen jedoch umgeben das Lager der Scylla, Die ihre Köpfe hervorstreckt, die Schiffe an Klippen zu treiben: Oben von Menschengestalt und Jungfrau mit schwellenden Brüsten Bis zu der Scham, doch unten ein Meerungeheuer, dem Seehund 9 Ähnlich der Bauch, und die Schwänze so lang, wie Delphinen sie wachsen.“

Vergil beschreibe die Verformung der Skylla noch objektiv, d.h. von außen betrachtet, während bei Ovid die Verformung, abgesehen von einem Bericht der Medea, ‚Scylla belle gefräßig und wild im sizilischen Meer‘, von der Skylla selbst innerhalb der GlaukosEpisode subjektiv erlebt werde: „Scylla kam und stieg in die Flut bis zur Mitte des Rumpfes, Als sie den Schoß von bellenden Robben entstellt sah. Erst vermochte sie nicht zu erkennen, daß diese Teil ihres Leibes Seien; sie schauderte furchtsam, schreckte dann zaghaft die frechen Mäuler der Hunde davon; doch sie zog, was sie floh, mit sich weiter, Tastete ängstlich die Hüften, die Schenkel hinab und die Füße, Fand aber nur den Rachen des höllischen Hundes und steht nun Auf dem wütenden Tier, und die Rücken der schrecklichen Kläffer 10 Sind im verkümmerten Schoß, im geblähten Bauche verwachsen.“

Ein Vergleich zwischen Vergils und Ovids Skylla ergebe, dass jener eine Erscheinung beschreibe, dieser die Verformung sich im wahrsten Sinne des Wortes am lebendigen Leibe vollziehen ließe, 11 was der Verwandlung Vorgangscharakter verleihe. In der von 8 9 10 11

Heinisch 1981, S.12. Verg. Aen. III, 424–428, zitiert nach Heinisch 1981, S.14. Ovid, Met. XIV, 59–67, zitiert nach Heinisch 1981, S.15. Vgl. Heinisch, 1981 S.15

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Ursula Lücke Heinisch als ‚moderner’ beschriebenen Version des Ovid erscheint Skylla der Metamorphose zunächst ausgeliefert um dann zum Subjekt dieses Vorganges zu werden. Sie bemerkt die Verwandlung zunächst gar nicht als die ihrige und versucht sich der Erinnerung ihres Körpers mit tastenden Händen zu versichern. Sie wird aber mit Schrecken gewahr, dass sich ihrer Bauchzone ein grässliches Monster entwunden, doch nicht abgelöst hat; es ist in Form von Hundsköpfe mit ihr verwachsen und zu ihrem Körper geworden. Anders als bei der Verwandlung des Glaukos, dem die zwar auch gewaltsamen, aber willentlich von ihm herbeigeführten Veränderungen die Seele eröffnet, wird Skylla die Bestien nicht mehr los sondern selbst zum Ungeheuer. Die Ansatzzone des Fischschwanzes mit den laut und grässlich bellenden Hundeköpfen verkörpert bei der Skylla des Ovid eine als zutiefst fremd und abstoßend empfundene Verwandlung ihres Körpers, mit dem sie fortan leben muss.

Doppelfischschwanz als Raum greifende erotische Geste Das Motiv des Doppelfischschwanzes mit den stark auseinander gebreiteten Enden, die von beiden Händen eines Meermischwesens gefasst werden, findet sich in häufig in Steinmetz-Arbeiten an Kapitellen und ornamentalen Friesen romanischer Kirchen. Die Überganszone vom Warm- zu Kaltblüter ist häufig drapiert mit Schurz oder Pflanzenornament oder ihr entspringen, wie bei der Skylla, Hundeprotomen oder andere Gewächse. In jedem Fall stellt die Übergangszone eine hochsensible Schnittstelle dar, an der Geschlechtlichkeit gesucht und auch gefunden wird. In einer unverblümten Darstellungsweise stellt die sheela-na-gig ihre, im Verhältnis zum Körper riesige Vulva auch und gerade inmitten und an christlichen Gotteshäusern zur Schau12. Die sheela-na-gig greift zumeist mit beiden Händen bzw. Fingern nach ihrer Vulva und zieht dabei die Schamlippen auseinander oder bildet mit Handformationen dreieckartige Gebilde aus, die sie zumeist vor dem Unterbauch platziert. Die Geste des Spreizens der Schamlippen, so meine These, findet sich gestisch im Spreizen des Fischschwanzes wieder, den in Ausnahmefällen auch Bartträger einnehmen können. 12 Vgl. Andersen 1977; Eibl-Eibesfeldt, Sütterlin 1992, S.181 ff; Bredekamp in: Fruh 1989, S. 221 –258.

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Der Fischschwanz als Erinnerungsbild Abb. 2: Doppelsirene, San Valentino, 2. Hälfte 13. Jahrhundert, Bitonto, Italien

Abb. 3: Bartträger mit gespreiztem Fischschwanz, St. Peter und Paul, Pfarrhoftor, 12./13. Jahrhundert, Remagen

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Ursula Lücke Das Spreizmotiv kann dabei soweit gehen, dass nur noch das pure Organ präsentiert wird. Karl Clausberg erläutert im Kapitel Gespaltene Köpfe und halbierte Bilder der 1999 erschienenen Veröffentlichung Neuronale Kunstgeschichte. Selbstdarstellung als Gestaltungsprinzip: „Gebückte menschliche Randfiguren scheinen anderorts [...] von diesem Wunsch nach inniger Tuch- und Wangefühlung an den Blockkanten beseelt zu sein, während sie darunter mit den Händen merkwürdige Rautenschlitze in der Umbruchkante öffnen und – wie die berüchtigten sheela-na-gig ihre Vulva – zur Schau stellen; weitere Komparsen zeigen sich rittlings darüber, Rücken an Rücken verwachsen oder gespalten von gezahnten Eckvoluten, die sich wie Kreissägen zwischen ihre Körper senken, während sie selbst mit Händen und Füßen auf erotische Versteckspiele aus sind.“

13

Auffällige Spaltungs- und Verschmelzungsmotive, die, so Clausberg, sowohl in der älteren Kunstgeschichte, als auch in der modernen Kunst zu finden seien, werden im Grenzbereich von normalen und pathologischen Bildgestaltungsformen analysiert. Ein Beispiel bildet der Löwe des Villard de Honnecourt, der in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich sei: „[…] als kunst-geschichtliches Produkt einer gespalten-rekonstruierten Darstellungsweise, und als Mischwesen, das sich auf dem Wege zur naturalistischen Wiedergabe und damit zur Auflösung seiner starren Symmetrie befindet. Was geschah, wenn die Formenzerspaltung oder Verschmelzung räumliche Verkantung involvierte? Welche Wirkungen entstanden oder wurden verfügbar, wenn etwa Relieffriese – also 'skulptierte Malerei' – um architektürliche Bildträger, Kapitelle oder Pilastervorlagen gewunden oder umgebrochen wurden? […] An den Kanten konnten sich in der Tat imaginäre Kräfte entladen, die in den flachen Lamellen- und Flechträumen wie unter sicherem Verschluß erschienen […].“14

Die von Clausberg beobachtete Entladung der Kräfte findet bei den doppelschwänzigen Meeresmischwesen einen vorbildlichen Ausdruck. Die im Relief als flach und harmlos erscheinende Übergangszone von Fisch zu Fleisch verbunden mit der Geste der Fischschwanzspreizung und Überdehnung der Körpermitte gelangt zu einer Intensität, die der betrachtenden Person förmlich in die Augen springen vermag. Das gestische Spiel des (Fischschwanz)-Spreizens lässt Überschreitungen von Geschlechtskategorien zu, die Schönheitsideale 13 Clausberg 1999, S. 98f. 14 Clausberg 1999, S. 96f.

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Der Fischschwanz als Erinnerungsbild und Schwanzzugehörigkeiten in Frage stellt. Der offensichtlichste Zusammenhang von Fischschwanz und uneindeutiger Geschlechtlichkeit verspricht eine Zeichnung des so genannten Wasserweibs vom Schottenkloster in Regensburg. Die Zeichnung der offen zur Schau gestellten Körpermitte widersetzt sich einer genauen Bestimmung des Geschlechtes. Abb. 4: Wasserweib mit Löwenfortsatz, Schottenkloster, Regensburg, (Bildrecht bei der Autorin)

Die Überprüfung an der originalen Steinfigur am Schottentor zeigt jedoch, dass ein Steinlöwe in das Wasserweib eingemeißelt wurde. War die Fischschwanzspreizung so provokativ, dass sie, weil greifbar, unschädlich gemacht werden musste? Der schroffe Eingriff spricht jedenfalls für diese Vermutung. Im Unterschied zur etruskischen Skylla, die freien Bewegungsspielraum ihrer Hände besaß und die Schwänze in alle Richtungen ausbreiten konnte, erscheinen sowohl die sheela-nagig als auch die den Fischschwanz greifenden Meereswesen, auch wenn über die Kapitellkanten getrieben, in ihrem Bewegungsspielraum stark reduziert auf die erotische Geste.

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Ursula Lücke

Monoflosse und Schönheitsverlust als androgyne Entwicklung In Erasmus Franciscis Ost- und Westindischer Garten wie auch Sinesischer Lust- und Statsgarten aus dem Jahre 1668 lassen sich, nach Klaus Heinisch in Der Wassermensch zwei Abbildungen finden, die mit 1. Meer-Mensch, so bey Brasilien gefangen, und 2. Schwimmende Siren bezeichnet werden. „Meer-Mensch“ und „Siren“ erscheinen im Vergleich so ähnlich, dass es sich vermutlich um dasselbe Wesen handelt. Erwähnt wird sowohl von Heinisch als auch von Francisci selber nur die männliche Variante eines Fisch-Menschen. Die „Siren“ und der „Meer-Mensch“ sind kahlköpfig mit kurzen Gänsepfoten dargestellt, beim „MeerMensch“ sind deutlich gerundete Brustansätze feststellbar. Die abgefleischte Hand und die „Riebe“ sind knochenartig und nicht fischgrätig dargestellt. Sind hier stereotype Geschlechterbilder in Frage gestellt und geht diese Entwicklung einher mit sich auflösenden Schönheitsidealen? Mit der Neuen Welt entdeckte Christoph Kolumbus auch die Hässlichkeit von Seekühen, die für ihn allerdings noch Sirenen hießen. Am 9. Januar 1493 machte Kolumbus folgenden Eintrag ins Logbuch: „Ich sah drei Sirenen, die sich sehr hoch aus dem Meer erhoben. Sie sind nicht so schön, wie sie gemalt werden, denn in gewisser Weise haben sie ein Gesicht wie ein Mann.“

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Ein Chronist des Kolumbus berichtet über die Reise: „Am Freitag, dem 4.Januar des Jahres 1493, verließ er seinen Heimathafen. Unterwegs sah er drei Seejungfrauen hoch aus dem Wasser herausspringen. Er versicherte, diese Wesen seien nicht so schön gewesen, wie sie meistens gezeichnet werden; immerhin hatten ihre Gesichter menschliche Züge.“

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Obwohl die beiden Aussagen von Kolumbus und seinem Chronisten im Datum etwas divergieren, sind sie sich über das Aussehen der Sirenen einig. Beide beschreiben die Sirenen als nicht sehr schön, sie sähen aus „wie ein Mann“. Ob damit gemeint ist, dass Männer hässlich sind oder sein dürfen oder ob Frauen, wenn sie wie Männer aussehen unschön sind? Jedenfalls wird die bildhüb15 Zitiert aus: Ellis 1997, S.91. 16 Zitiert aus: Benwell und Waugh 1962, S. 71.

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Der Fischschwanz als Erinnerungsbild sche Schönheit, die den Sirenen nachgesagt wurde, von Kolumbus bzw. von seinem Chronisten in spürbarer Enttäuschung vermisst. Die Erwartung einer verführerischen Seejungfrau ist noch in ihrer Negation vorhanden, aber die Beurteilung dessen, was da gesehen wurde, hat sich merklich verändert. Schönheit ist nun nicht mehr unbedingte Voraussetzung, um ein weibliches Meereswesen als Sirene benennen zu können. Somit können 'naturnähere' Zeichnungen und der Schönheit schmeichelnde Gemälde von Sirenen auseinander treten. Von daher lässt sich auch die Darstellungsweise von Francisci nachvollziehen, dessen Sirene kahlköpfig und damit wohl kaum noch dem Schönheitsideal einer holden Meerjungfrau folgend, abgebildet wurde. In Alfred Brehm Die Säugethiere, 3. Band: Hufthiere, Seesäugethiere, aus dem Jahre 1877 bilden die Sirenen (Sirenia) eine eigene Ordnung innerhalb der Seesäugetiere in Abgrenzung u.a. zu Flossenfüßlern, wie Ohrenrobben, Seehunden oder Walrossen und Waltieren, wie Delfinen und Walen. Der Abschnitt über die Sirenen beginnt wie folgt: „Wer bei den Sirenen der Thierkundigen an jene Märchengestalten des Alterthums denken wollte, welche, halb Weib, halb Fisch, die kristallenen Wogen des Meeres bewohnen und den armen Erdensohn durch wunderbaren Gesang und noch wunderbarere Geberde, durch Neigen des Hauptes und glühende Blicke der Augen einladen, zu ihnen hinabzusteigen, mit ihnen zu spielen, zu kosen und – zu verderben, würde sich irren. Die Naturforscher haben in diesem Falle einzig und allein ihre Vorliebe für dichterische Namen bewiesen, ohne der Dichtung selbst gerecht zu werden. Der Name Sirenen paßt für die zu schildernden Meerbewohner ungefähr ebensogut wie der jener griechischen Baumnymphe Hamadryas auf einen der sonderbarsten und wahrlich nur im Auge eines Naturforschers schönen Affen. Wenn man weiß, daß die Sirenen auch ‚Seekühe’ heißen, dürfte jede etwa sich geltend machende dichterische Erregung beschwichtigt, wenn man einen Blick auf unsere weiter unten folgende Abbildung werfen will, die anmuthig beschäftigte Einbildungskraft wohl vollends in die rechten Schranken gewiesen werden.“

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Der Wortteil ‚-kuh‘ in dem zusammen gesetzten Substantiv ‚Seekuh‘ wird hier als Ausdruck für das Gegenteil von Schönheit benutzt. Die "angedichtete" Schönheit der Seekuh ist jetzt nur noch als schwacher Abglanz im Auge des Naturforschers zu finden. Bald darauf gelten in der Illustrierte[n] Naturgeschichte der Thiere 17 Brehm 1877, S. 657.

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Ursula Lücke aus dem Jahre 1882 die als harmlos erkannten, zur Gruppe der pflanzenfressenden Wale zugehörigen Meerkühe, deren Zauber „vor der nüchternen Forschung… gewichen [ist],… uns nicht mehr als räthselhafte Geschöpfe, sondern nur noch als Thiere, die werthvolles Fleisch und Fett liefern.“18 Abb. 5: „Meer=Jungfer“

Quelle: Johann G. O. Richter, Ichthyotheologie, 1754, Anhang

Johann Gottfried Ohnefalsch Richter befasst sich in seiner 1754 erschienenen Ichthyotheologie mit der ‚Meer=Jungfer‘ als wundersamen Erscheinungen, die auch als Sirene bezeichnet und den Fischen zugeordnet wird19. Die Abbildung im Anhang des Buches

18 Martin 1882, S. 598. 19 Vgl. Richter 1754, S. 675.

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Der Fischschwanz als Erinnerungsbild zeigt in einigen Details Ähnlichkeiten mit Franciscis „MeerMensch“. Die Hände sind zu Gänsepfoten verkürzt, der Schwanz erscheint als zusammen gewachsene Formation. Die Brust ist behaart, der Körper mit einer Art Knorpelmantel und der Kopf mit langen Haaren versehen. Der Kopf sitzt auf einem dicken Hals, das große Maul reicht von einer Seite des Gesichts zur anderen und in Verbindung mit den Glupschaugen erscheint die Meerjungfer im Gesicht froschartig. Am ästhetischen Nullpunkt angelangt ist die Meerjungfer eingezwängt in ihren Fischschwanzkorsett, dessen mittig verlaufende Nahtstelle noch an die ehemalige (Bewegungs)-Freiheit erinnert. Abb. 6: Arnold Böcklin, Meeresstille, 1887

Über 100 Jahre nach der Veröffentlichung von Richter’s ‚Meer=Jungfer‘ scheint es in Arnold Böcklins Gemälde "Meeresstille" von 1887 ruhig zuzugehen. Eine Meerfrau mit den langen roten Haaren räkelt sich auf einer schön drapierten Felsplatte, den lachsartigen Fischschwanz lässt sie ins Wasser gleiten und sie ist von Möwen umgeben, die ornithologisch exakt klassifizierbar sind. Die linke Hand der Meerfrau scheint etwas greifen zu wollen und in weiterer Verfolgung dieser Geste bilden die Vogelköpfe auf einmal ein hackartiges Zeigen der Schnäbel Richtung Wasseroberfläche. Ein weiterer Fischschwanz wird anschaulich, der sich, nach optischen Gesetzten korrekt gebrochen dargestellt, unter der Wasseroberfläche fortsetzt. Gibt Böcklin der Meerfrau ihre alten Bewegungsspielräume zurück, indem er ihr wieder den

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Ursula Lücke Doppelfischschwanz zubilligt? Befreit er den Fischschwanz aus dem Zwang der Abbildungsgewalt und Festschreibungsmacht der Biologie oder des schmerzhaften Spaltungsprozesses in der Dichtkunst des Hans Christian Andersen, welcher der Kleinen Meerjungfrau unter Verlust ihrer Stimmengewalt den Monofischschwanz spreizen ließ, um wie auf Messerschneiden laufend ihrem Untergang in Form einer Liebe entgegen eilen zu dürfen? Bei genauerer Betrachtung des zweiten Schwanzes in der „Meeresstille“ wird eine andere Musterung deutlich, als die des lachsfarbenen. In weiterer Verfolgung des bläulich-schwarzen Schwanzes taucht schemenhaft blass und unscharf ein, mit großen Nasenlöchern und breitem Mund versehenes Gesicht auf, das in Untersicht aus dem Wasser heraus der betrachtenden Person entgegen blickt. In enger Verschlingung der beiden Schwänze lässt Böcklin die Repräsentationen der maximalen ästhetischen Differenz wieder auseinander treten. Das in ästhetischer und entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht als unterste Kategorie klassifizierte Froschgesicht erscheint schlüpfrig und bedrohlich aus den Tiefen des Wassers aufzusteigen und zum dunklen, verdrehten Spiegelbild der Meerfrau zu werden. Die schlüpfrig glitschigen Empfindungen beim Berühren einer Froschhaut verbunden mit erhoffter oder befürchteter Verwandlung werden im Märchen „Froschkönig“ weitertradiert. Auch in technischer Hinsicht lassen sich Übernahmen des Froschmotivs in Begriffsbildungen finden. Die Eroberung des Meeres durch den technisierten Menschen schreitet im 20. Jahrhundert soweit voran, dass durch den Gasfluss geregelten Lungenautomaten von Emil Gagan und Jaques-Yves Cousteau dem ‚Froschmann‘ ein quasi freier Flug im Meereswasser ermöglicht wird.20 Die Sängerin Peaches verweist in ihrem Lied „Slippery dick“ des 2006 erschienenen Albums „Impeach My Bush“ den Aspekt der Schlüpfrigkeit des Schwanzes zurück an den Klassifikationsursprung. Im Song heißt es: „..slippery dick, it`s just a fish in the atlantic...“ Dem Hinweis folgend bin ich auf einen Fisch mit selbigen Namen gestoßen, der im Jahre 1769 von Marcus E. Bloch auf Latein mit Halichoeres bivittatus (bivius lat. (via) mit zwei Eingängen, bivium Doppel-, Scheideweg) betitelt wurde. Der Fisch wird als Protogyner Hermaphrodit beschrieben, d.h., er durchläuft eine Ge21 schlechtsumwandlung von weiblich zu männlich – eben: just a fish in the atlantic?

20 Vgl. Lücke 2000, S.179. 21 Vgl.: http://en.wikipedia.org/wiki/Slippery_dick, Zugriff: 25.6.09.

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Der Fischschwanz als Erinnerungsbild

Der armenische Kreuzstein mit Fischschwanz? Die bisher analysierten Bildmotive entstammen geografisch weitestgehend dem abendländisch-europäischen Bereich und kulturgeschichtlich gründen sie sich auf antike Vorbilder und ausnahmsweise auf babylonische Fischschwanzträger. In meinem Promotionsvorhaben „Das Gedächtnis der Symbole. Zur Ikonographie christlicher Steinmetz und Edelmetallarbeiten im Nahen Osten und fernen Europa“ möchte ich den Fokus auf ein sowohl geografisch als auch kulturhistorisch wenig beachteten, für das christlich geprägte Bildprogramm jedoch höchst interessanten Bereich bildwissenschaftlicher Forschung richten. Armenien war das erste Land mit einer christlichen Staatsreligion. In der Vermutung, Übergänge von paganen zu christlichen Symbolen aufspüren zu können, habe ich Bildmaterial recherchiert und erste Bildbetrachtungen angestellt. Der armenische Kreuzstein, auch Khatchkar genannt (ebenso: Khachkar, Khatschkar), nimmt im Symbolrepertoire der armenischen Kultur eine herausragende Stellung ein. Diese werden als zumeist rechteckige, in Flachrelief gearbeitete und nach Westen ausgerichtete Steinstelen beschrieben, in die ein Kreuz eingemeißelt ist. Die Rückseite sei nicht skulptiert, es ließen sich aber Inschriften nachweisen. Zumeist ist das i.d.R. lateinische Kreuz mit kürzerem Quer- als Langholz von Ornament umgeben, seltener 22 finden sich figurale Ausführungen . Was hat es auf sich mit der flachen Steinstele, die als künstlerische Ausdruckform eine Synthese von Bild, Schrift, Skulptur und Architektur bildet? Welche Verkörperungen bilden einen so hohen Identifikationsgrad aus, dass sie in der armenischen Kulturlandschaft von frühchristlicher bis in heutiger Zeit weit über die Grenzen des heutigen Armeniens hinaus Bestand haben?

22 Vgl. Asarian in: Armenien 1995, S.112.

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Ursula Lücke Abb . 7: Kirche von Achtamar, Westseite

Quelle: Mazhar Sevket Ipsiroglu, Die Kirche von Achtamar. Bauplastik im Leben des Lichts, Berlin, 1963, S. 48

Mit der Methode des genauen Hinsehens wird bei längerer Betrachtung in den weitaus meisten Khatchkars eine Formation am unteren Ende des Kreuzes auffällig, die in der bisher gesichteten Literatur nur wenig gedeutet wurde. Auf den ersten Blick als Abbild der Kreuzigung erscheinend, geraten bei längerer Sichtung komplexe Bildungen ins Blickfeld. So findet sich am unteren Ende des Langholzes eine Gestaltung, die zumeist in spiegelsymmetrischer Weise sich zur Linken und Rechten des Langholzes nach oben hin auswächst. Woher kommt dieses Motiv der hybriden Bildung aus vegetabilen oder zoomorphen Endungen mit aufgepflanztem Kreuz und wie kann es im Bildprogramm der Khatchkars gedeutet werden? In der Literatur als Lebensbaum beschreiben, wird hier die These vertreten, dass diese Interpretation nicht ausreichend ist, um die Formation hinreichend deuten zu können. Die Hauptthese, der in dieser Arbeit nachgegangen werden soll, lautet: Die häufig beobachtete untere Ausbildung an den Kreuzen der Khatchkars verweist als mehr oder weniger offensichtlicher Doppel-Schwanz in Endungen von Fauna und Flora auf pagane Motive, die aufgrund ihrer Bildmächtigkeit in das Symbolrepertoire der neuen Religion der armenischen Christen aufgenommen und assimiliert wurden. Die Erscheinungsformen erstrecken sich von Fisch-, Delphin-, Vogel- oder Schlangen-Endungen bis zu botanisch bestimmbaren oder abstrahierten vegetabilen Auswüchsen.

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Der Fischschwanz als Erinnerungsbild Woher kommt dieses Motiv der hybriden Bildungen und wie kann es im Bildprogramm der Kreuzsteine gedeutet werden? Ist in den Khatschkars der obere, zumeist menschliche Teil paganer Hybridbildungen mit dem des Kreuzes ausgetauscht worden? Ist das Kreuz eine Art BlackBox, das vielfältige Aspekte aufzunehmen in der Lage war? Waren diese einverleibten paganen Frakmente eine bildhafte Basis, auf die sich die neue Religion gründen könnte? Bildeten der symmetrisch ausgebreitete Doppelfischschwanz und das Lebensbaummotiv dabei buchstäblich den Ursprung und Urquell des Kreuzes? Warum wurde der Fisch zum Geheimsymbol der Christen? Übernahm die christliche Kultur Symbolgehalte, die durch die Vishaps oder Dragon-Stones, vermittelt wurde? Ist die Wächterfunktionen der Dragon-Stones für Wasserquellen auf die Khatchkars23 übertragen worden, deren Errichtung zumeist an solchen Stellen erfolge, an denen die Vishaps standen?24 Hakob Simonian beschreibt die aus der Mittelbronzezeit (23. – 16. Jahrhundert v.Chr.) stammenden großen monolithischen Steinsäulen als eigenständige, nur für das Armenische Hochland typische Stelen, die auch als Vischap, Drache, bezeichnet werden. Diese Stelen seien aufrecht stehende, von allen Seiten sichtbare Kultobjekte, die oft an natürlichen oder künstlichen Wasserquellen und –reservoiren errichtet worden seien. Die frühen Beispiele weisen, so Simonian weiter, einen glatten Fischkörper und einen großen Kopf auf, wobei Augen, Kiemen, Mund und Flossen deutlich reliefiert erscheinen.25 Wurde mit dem Kult auch ein Machtanspruch verbunden, der eine nicht-vertikale Nutzung der vishaps mit einschloss? In horizontal ausgerichteter Verwendung beschreibt Sirapies Der Nersessian die Vischaps als liegend genutzte, ausgekehlte Röhren, die ein hoch entwickeltes Bewässerungssystem bildeten und mit einem Wasser-Kult in Verbindung stünden: „To this period also belong the numerous dolments, menhirs and cromlechs that are a feature of the country. The fish-shaped stones known as vishaps (the Armenian Word for dragon) are a spezial type of megalith of which specimens also exist in Georgia. On some are craved the head and forelegs of an ox, on others birds and even a human figure. These megaliths are usually found on hills, close to the sources of lakes or streams, and they were probably associated with some form of water cult. This is also suggested by the

23 Parallelen zu irischen Kreuzsteinen: Vgl. Manoukian 1969, S.10. 24 Vgl. Manoukian 1969, S.2. 25 Vgl. Simonian, 1995, S. 44.

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Ursula Lücke sinuous lines simulating water craved of some of the vishaps. Fragments of other vishaps were hollowed out to form water conduits, and they probably formed part of a highly developed irrigation system“.

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Das Motiv an hybriden Bildungen aus Mensch-/Tierköpfe und – Körper an/auf Pflanzenstengel haben, nach Jurgis Baltrusaitis, besonders die orientalischen Christen, namentlich die Armenier im Mittelalter interessiert27. Die Skythen, die u.a. im nördlichen Schwarzmeegebiet28 lebten, gelten als die Vernichter der urartäischen Kultur (ca. 9.–7. Jh. v.Chr.)29. Dennoch stand die Skythische Kultur mit der Urartäischen in regem kulturellen Austausch und verfügte ebenso diese in ihrem Bildprogramm über eine Anzahl antropomorpher Göttinnen und Götter. So seien (nach Hero30 dot IV, 8–10) aus der Vermählung einer Jungfrau oder Göttin , die auf einer goldenen Rossstirn als schlangenfüßigen Göttin dargestellt wird, mit Herakles31 die Ureltern der Skythen und Nachbarstämme hervorgegangen, während, so Herodot weiter (IV, 111)32, die Kinder von Amazonen mit jungen Skythen die Sauromaten oder Sarmaten (ca. 3. Jh.v.Chr bis 3. Jh.n.Chr.) hervorgebracht hätten, die als Nachfahren der Skythen gelten. Da sowohl die Georgische, als auch die Armenische Kultur sich auf die Urartäer als Ursprung berufen, liegen Motivübernahmen nahe. Ist also in den armenischen Kreuzsteinen der obere, zumeist menschliche Teil paganer Hybridbildungen mit dem des Kreuzes ausgetauscht worden? Und schöpft das in den Khatchkars gedeutete Lebensbaummotiv33 sowohl aus dem Sujet des Weltenbaumes, das sich an Gegenständen von Grabbeigaben skythischer 34 Kurgane nachweisen lässt , als auch aus Motiven, die von schlangen- oder fischschwänzigen Göttinnen herrühren? Ist der Weltenbaum auch als Spreizmotiv und Doppelfischschwanz interpretierbar?

26 27 28 29 30

31 32 33 34

Der Nersessian, 1969, S. 14. Vgl. Baltrusaitis 1985, S.143. Ca. 7. – 3. Jh.v.Chr., Teile aber auch bis 4. Jh. n.Chr. Vgl. Pjotrowski 1980, S.114f. Vgl. Abb. 1 Darstellung der schlangenfüßigen Göttin auf einer goldenen Rossstirn aus dem Cimbalka-Kurgan, Bessonova in: Armenien 1995, S. 152. Skythischer Name werde von Herodot nicht genannt, ähnlich sei der skythische Targitaos. Vgl. Bessonova in: Rolle 1991, S. 151. Vgl. van Loon in: Armenien 1995, S, 115ff. Vgl. Boltrik und Fialko in: Rolle 1991, S.179.

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Der Fischschwanz als Erinnerungsbild Viele Steinmetzarbeiten armenischer Kreuzsteinen oder Kirchen – wie z.B. die in Bezug auf ihre Bauplastik berühmteste armenische Kirche von Achtamar – deuten in der Oberflächengestaltung auf Techniken hin, die eher denen von Metallarbeiten näher zu stehen scheinen. So finden sich filigrane Gestaltungen in Stein, die in der Anmutung gezogener und verdrillter Drähte oder wie Treibarbeiten mit Punzen erscheinen, die in der Edelmetallkunst als Toreutik bezeichnet werden. Haben sich hier Metall verarbeitende Techniken in Stein niedergeschlagen, die möglicherweise sogar bis nach Deutschland gewandert sind, wie Details der Bauplastiken des Schottenklosters in Regensburg nahe zu legen scheinen? Wenn die hier anvisierten Überlegungen annähernd stimmen, könnte die Wanderung von Motiven sogar buchstäblich über den Transport metallischer Gegenstände erfolgt sein, die das Potenzial enthalten, architektonische Grundrisse von Gebäuden übermitteln zu können. Erste Recherchen zu mittelalterlichen Metallarbeiten Armeniens ergaben, dass sie weit gehend eingeschmolzen und vernichtet worden seien35. Die Mehrzahl der armenischen Bevölkerung von Konstantinopel seien Händler und Handwerker gewesen und insbesondere als 36 Gold- und Silberschmiede sollen sie dort gearbeitet haben . Die Plünderung von Konstantinopel im Jahre 1204 während des 4. Kreuzzuges durch die Kreuzfahrer ließen, wie in der Literatur nachgewiesen, eine Masse an Schätzen und Gemmen nach West37 europa (Frankreich, Italien, Deutschland) wandern . Besonders aktuellen Bezug bekommt dieser Aspekt der Einverleibung von Kreuzzugsbeute durch die Eröffnung des Halberstädter Domschatzes im April 2008 mit anschließender wissenschaftlicher Tagung. Laut Darstellung der Geschäftsstelle 'Domschätze in Sachsen Anhalt 2008' gelte der Halberstädter Schatz mit insgesamt 650 Stücken als der umfangreichste mittelalterliche Kirchenschatz, der in Europa erhalten geblieben sei. Wie die Anreicherung des Schatzes erfolgte, wird in von der Geschäftsstelle 'Domschätze in Sachsen Anhalt 2008' beschrieben: „Seit der Bistumsgründung im frühen 9. Jahrhundert wuchs der Reliquienschatz des Halberstädter Domes Schritt für Schritt an. Bedeutenden Zuwachs erhielt der Reliquienschatz im August 1205, als Bischof Konrad von Krosigk vom 4. Kreuzzug nach Halberstadt zurückkehrte. Konrad war 1204 an der

35 Buschhausen in: Pro Oriente o.J., S.25. 36 Vgl. Kévorkian in: Armenien 1995, S.298. 37 Vgl. Baltrusaitis 1985, S.39; Nickel 1974, S.168.

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Ursula Lücke Plünderung von Konstantinopel durch die Kreuzfahrer beteiligt gewesen. Zu den Beutestücken, die daraufhin nach Halberstadt gelangten, gehört u.a. eine Kreuzreliquie von nicht geringer Größe“

38

Erste Untersuchungen ergaben, dass drei von acht erhaltenen, einst weit verbreiteten Demetriosreliquiare im Halberstädter Domschatz enthalten sind. Im Kapitel Drei Demetriosreliquiare von Petra Janke in der Veröffentlichung Der Heilige Schatz im Dom zu Halberstadt von 2008 wird von ihr folgende Vermutung geäußert: „Der Stil des Reliefs und die Form der Buchstaben weisen aber auf eine Entstehung in der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts. Vielleicht gelangten die Kapseln durch Bischof Konrad von Krosigk (1201 – 1208) nach Halberstadt, der während des Vierten Kreuzzuges Reliquien des Märtyrers erworben hatte – wohlmöglich sogar alle drei Demetriosreliquiare des Domschatzes.“

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Zwei der drei Demetriosreliquiare zeigen auf den Rückseiten aufwendige Goldschmiedetechniken von Treibarbeiten, die Kreuzesdarstellungen mit dem Lebensbaummotiv aufweisen. In den bisher gefundenen und gesichteten Edelmetallarbeiten mit diesem Motiv, die dem der Khatchkars so nahe steht, handelt es sich ausschließlich um Reliquiare. Weitere Recherchen sollen Aufschluss darüber geben, ob noch andere Kirchenschätze oder Sammlungen Objekte dieser Art beherbergen. Ob und in wie weit sich eine Motivtransfer nach West nachweisen lässt, ist noch zu klären. In meiner Arbeit als Goldschmiedin reagiere ich handwerklich-künstlerisch auf Bildauseinandersetzungen. Im Wissen um die Körperempfindungen in Ausübung der Goldschmiedetechniken und um die Kenntnisse der Möglichkeiten der Edelmetallverarbeitung bereichert, eröffnet sich mir ein spezifischer Blick auf die oben beschriebenen Gegenstände. In nachahmender Tätigkeit der Techniken und Ideen solcher Kulturgegenstände sind Erfahrungen möglich, die zum einen in der kulturwissenschaftlichen Reflexion vielschichtige Analysen zulassen. Zum anderen bilden sie die Grundlage für künstlerische Arbeiten, die vom Geiste der analysierten Bilderwelten getragen werden. Beide Verfahren führen zu Ergebnissen, die ohne die Clausberg’sche Methode des genauen Hinsehens nicht möglich gewesen wären.

38 www.domschaetze.de, PDF-Datei, Zugriff: Juni 2008. 39 Janke in: Meller 2008, S. 57.

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Der Fischschwanz als Erinnerungsbild Abb. 11: Meeresinklusion, Armband 925 Silber, Bernstein, Gießharz, Fotokopie, 2006

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Immanente Text-Bild Verhältnisse als Architektur des Widerspruchs TORSTEN WUNSCH

Eine Ergänzung zur Theorie des „Picturesque“ an den Beispielen Giovanni Battista Piranesi und Edward Hopper 1 Von denjenigen Künstlern, die uns etwas über das Verhältnis von Zeichen und Bild mitteilen können, gehört Giovanni Battista Piranesi (1720–1778) sicherlich zu den bekannteren. Seine Bilder und Radierungen gehören fast schon zur populären Kultur und gelten bei manchen als „röhrende Hirsche“ der Architektur, wie es Susanne Grötz in dem Band Vision Piranesi ausgedrückt hatte.2 Wenn man aber davon ausgeht, dass die Kunst eigentlich, wie die Philosophie, eine Positionsbestimmung des Menschen beinhaltet, dann wäre Piranesi jenen zuzuordnen, denen die Welt nach der Erfindung der Lautschrift in ihre Einzelteile zerfallen ist, und die versucht haben diesem Zustand Ausdruck zu verleihen. Piranesis Werke stehen zwischen Renaissance und Klassik, es ist aber die Frage, ob man sie noch barock nennen darf, denn ihre Formensprache hat bei aller Groteske schon etwas Naturwissenschaftliches, das noch über den barocken Realismus hinausreicht. Gleichzeitig ist den Werken Piranesis der Verweischarakter eigen, der so typisch für die barocke Sicht auf die Dinge ist, aber vielleicht an einigen Stellen darüber hinausgeht und sich so mit dem Klassizismus berührt, dem er zumindest zeitlich gesehen näher

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2

Der hier vorliegende Text bezieht sich auf den oben genannten Vortrag und ist ein Auszug aus meiner Dissertation. Aus rechtlichen Gründen habe ich hier auf Abbildungen verzichtet. Vgl. Max Stemshorn/Susanne Grötz (Hrsg.), Vision Piranesi, Tübingen, 2002, S. 8.

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Torsten Wunsch stand. An dieser Stelle berührt er sich übrigens auch, so merkwürdig es zuerst klingen mag, mit Edward Hopper. Beide Künstler sind auf ihre eigene Weise Allegoriker und beide scheinen Zivilisation offenkundig als steinerne Textur aufgefasst zu haben, was hier in unserem Kontext des Typografischen von Bedeutung ist. Und beiden scheint die Ambivalenz und das sprichwörtliche Unbehagen, welche Kultur und Zivilisation auf die Menschen ausüben, lebenslanges Thema gewesen zu sein. Piranesi war eigentlich Architekt und fühlte sich als Sohn eines Steinmetzen, dessen Familie immer im Kontakt mit anderen Baumeistern stand, zur Architektur berufen, aber er hatte Zeit seines Lebens nicht ein Bauwerk fertig stellen können. Stattdessen hat er der Nachwelt mehr als siebenhundert Zeichnungen und über eintausend Druckvorlagen hinterlassen. Sein Hang zum Realismus, den er ebenfalls mit Hopper teilt, sowie zur exakten Reproduktion vergangener Stile mag auch darin genauso eine Begründung finden wie in seinem Werdegang als Zeichner von Veduten des alten Roms. Als der in Veneding geborene Piranesi 1740 in Rom „der Hauptstadt des Universums“ ankam, welches damals eher eine größere Provinzstadt war, trat er in die Werkstatt von Giuseppe Vasi (1710–1782) ein, dem damals berühmtesten Vedutenzeichner und -radierer. Ab 1748, als Piranesi zum zweiten Mal nach Rom kam und sein eigenes Geschäft dort eröffnete, vervielfältigte und verkaufte er seine Ansichten von der Stadt und ihrer Umgebung recht gut an Touristen, was durchaus seinem exzentrischen Stil zuzuschreiben war, der das Bild von Rom im 18ten und 19ten Jahrhundert mit geprägt hatte. Reisende hatten also noch lange nach Piranesis Tod die Erwartung, Rom und seine antiken Monumente so vorzufinden, wie sie von Piranesi festgehalten und interpretiert worden sind.3 Vielleicht war ihm als Baumeister, der sich in Natura mit der Statik und anderen Vorgaben des Bauens hätte auseinandersetzen müssen, das Prinzip der Glaubwürdigkeit, welches seine Zeichnungen bei aller Absurdität fast immer durchzieht, sehr bewusst. Dass Piranesi ausgerechnet bei Giuseppe Vasi in die Lehre ging, war so gesehen kein Zufall, denn so fand er die geeignete Technik präzise Architekturzeichnungen, und nichts anderes waren seine Veduten zunächst, hervorbringen und auch vervielfältigen zu können. Piranesi nutzte diese Technik, in der er es recht schnell zur Meisterschaft brachte, dann auch um seine Funde in

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Vgl. Norbert Miller, Archäologie des Traums, Frankfurt/M./Berlin, S. 10.

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Immanente Text-Bild Verhältnisse den Trümmern des alten Roms genauestens aufzuzeichnen und zu katalogisieren. Umso erstaunlicher ist das, was Giovanni Battista Piranesi nach dem Prinzip der Schrift, die in seinen Werken immer wieder auch als Motiv und Stilmittel auftaucht, aus diesen und anderen Trümmern, welche die Geschichte hinterlassen hat, als neue Art der Vedute rekonstruierte und was später die ästhetische Kategorie des „Picturesque“, auf die ich noch näher eingehen möchte, mitbestimmen sollte. Piranesi war ein Grenzgänger, dessen Bilder sich vielleicht noch am ehesten als spätbarock-klassizistisch charakterisieren oder einordnen ließen, aber auf jeden Fall aus der Richtung des manieristisch-barocken inspiriert worden sind. Zumindest oberflächlich betrachtet scheinen sie sich erst einmal jedem Ordnungssystem entgegenzustellen, während sie doch auf das „Reale“ und Bekannte entweder durch das Hervorheben des Alltäglichen durch einen gewissen Naturalismus und auch in Form der Tradition verweisen. In ihrem Überbordenden und Grotesken sind sie vor allem barock, was ja letztlich nichts anderes meint als grotesk, bizarr oder absurd; sie wären eine Fortführung des künstlerischen Diskurses, der in Rom im 17ten Jahrhundert schon von Caravaggio und Carracci geführt worden ist. Gegenüber dem Manierismus, der sich oft noch auf religiöse Themen beschränkte, hatte die barocke Kunst ihr Vokabular und ihr Themenfeld stark erweitert.4) Die manieristische und die barocke Art brauchen in diesem Sinne aber beide ein Bezugssystem, welches ihre Grundlage bildet und sich, wie Arnold Hauser ausführt, auf das bekannte Formenvokabular der Kunstgeschichte bezieht: „Die künstlerische Lösung aber ist jedes Mal, ob sie sich nun als ein Protest gegen die klassische Kunst äußert oder die formalen Errungenschaften dieser Kunst zu bewahren sucht, ein Derivativum, ein Gebilde, das letzten Endes von der Klassik abhängig bleibt, seinen Ursprung also in einem Kulturerlebnis, nicht in einem Naturerlebnis hat. Wir stehen hier einem vollkommen unnaiven Stil gegenüber, der seine Darstellungsformen nicht sowohl an dem auszudrückenden Inhalt als an der Kunst der vorangehenden Epoche orientiert, und zwar in einem solchen Umfang, wie es bis dahin bei keiner bedeutenden Kunstrichtung der Fall war.“5

In Venedig – neben Rom eine andere Hochburg des barocken Stils – entstand im frühen 18ten Jahrhundert die Architekturphanta-

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Vgl. Ingo F. Walther, Malerei der Welt, Köln 1995, S. 216. Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1967, S. 381.

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Torsten Wunsch sie, das Capriccio, welches schon eine Kombination barocker Bühnenkunst mit der Vedute darstellte.6) Im Capriccio zeigte sich schon die Vorliebe für das Groteske und Rätselhafte, deren Realismus auch einen Ersatz darstellt, für die göttlichen Trost, der schon im Barock unter dem Druck der Verhältnisse immer mehr an Glaubwürdigkeit und Wirkung einbüßte, ohne dass die Ängste der Menschen aber weniger wurden. „Die Endzeitängste und Identitätskrisen, die Todesvisionen und Wirklichkeitszweifel verbanden in den Augen dieser Generation die eigene Zeit mit der ‚Barock-Endzeit‘“, wie Eva-Gesine Baur über diese Zeit geschrieben hatte. „Und die Spielarten der Verdrängung – nicht Bewältigung – sind in gewisser Hinsicht tatsächlich verwandt. Mythen und Märchen, Feste und Phantasien, Theater und Musik werden herangezogen, um Traumwelten und Zwischenreiche zu erschaffen, die all das vergessen machen, ohne jedoch die Erkenntnis dieser Mechanismen zu verlieren, ohne die Reflexion über den Schein aufzugeben.“7

Die Kunst des Capriccio hatte ebenso einen Einfluss auf Piranesi, wie die Bühnenbilder Galli Bibienas, die neben den römischen Ruinen und den italienischen Renaissance-Bauten sein Bezugsoder Zeichensystem bildeten, an dem er seine speziellen Ansichten entfaltete. Wie Norbert Miller in seinem wegweisenden Buch über Piranesis Archäologie des Traums bemerkte, kann dessen Werk zu großen Teilen als Auseinandersetzung mit der Renaissance-Architektur, namentlich mit Andrea Palladio, aufgefasst werden.8 Diese These wird neuerlich unterstützt durch die Dissertation von Jung-Rak Kim, der sich mit den bekannten Carceri im Verhältnis zu der Architektur Palladios beschäftigt hatte.9 Das wäre eine Seite, nach der sich Piranesis Werk abgrenzen ließe, die andere Seite ist der zu seiner Zeit heraufziehende Klassizismus, der für Piranesi konkret Gestalt angenommen hatte, als Joachim Winckelmann 1755 in Rom eintraf. Besonders bitter war für Piranesi, dass ihm Winckelmann auch noch das Amt des Oberaufsehers für die Altertümer Roms gleichsam vor der Nase weggeschnappt hatte, obwohl er sich aufgrund seiner Beobachtungen

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John Wilton-Ely, Piranesi – Vision und Werk, München 1978, S. 9. Eva-Gesine Baur in Ingo F. Walther (Hrsg.), Malerei der Welt, Köln 1995, S. 337. Vgl. Norbert Miller, Archäologie des Traums, Frankfurt/M./Berlin, S. 25. Jung-Rak Kim, Eine Untersuchung zu Giovanni Battista Piranesis Carceri: die im Architekturcapriccio verborgene Kunstkritik, Freiburg 2003.

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Immanente Text-Bild Verhältnisse und Studien über das antike Rom dafür sicherlich berufen gefühlt haben muss. Piranesi fiel in eine Art Dauerstreit mit Winckelmann und dem Klassizismus, wobei er die römische gegenüber der griechischen Antike verteidigte und auch propagierte, dass alle antiken Formen ihre Berechtigung als Grundlage der abendländischen Kultur hätten, und nicht nur die griechischen, wie es der Klassizismus forderte. Im Grunde hatte auch der Klassizismus als die erste echt-bürgerliche Epoche noch einmal versucht den Zerfall aufzuhalten, noch einmal ein geschlossenes Bild zu erzeugen, dessen Grundtenor von „edler Einfalt und stiller Größe“ strahlen sollte, wie es bei Joachim Winckelmann fast schon zu einem geflügelten Wort geworden ist. In dieser Auseinandersetzung fand der Eklektizismus Piranesis, den er sein Leben lang verteidigte, sicherlich auch eine Wurzel: „Ich schmeichle mir, dass ich mit dem bisher Gesagten die ägyptische und etruskische Architektur von dem Makel befreien konnte, den man ihr bisher fälschlich beigelegt hatte, und dass ich damit zugleich selbst gerechtfertigt bin, weil ich in meinen Entwürfen den ägyptischen und etruskischen Stil verbunden habe. Sehr ungerecht ist es ja in der Tat, wenn einige Kritiker uns als Gesetz aufbürden wollen, dass wir nur dem Griechischen nachzustreben haben.“10

Daher scheint Piranesi der Renaissance doch etwas näher gewesen zu sein, aber nicht weil er die Auffassung von göttlicher Harmonie und Transzendenz teilte, sondern weil die Renaissance Architektur freizügiger mit ihren Stilen umging und er wahrscheinlich auch eine starke Bewunderung für die Architektur Palladios hegte. Piranesis große Stärke lag vielleicht darin, dass er sich seinen Antipoden nicht verschlossen hatte, sondern versuchte die vorhandenen Dinge um ihn herum aufzugreifen und weiterzuentwickeln. So war Piranesi auch ein Meister der Perspektive, die er von ihrem engen Rahmen befreite und zu einer grotesken und verwirrenden Multiperspektive entwickelte. Auch das Erkennen der Zentralperspektive als Stilmittel oder auch als symbolische Form, um hier einen Ausdruck von Erwin Panofsky zu gebrauchen, mag man als Zeichen einer vorurteilslosen Schöpferkraft sehen. Piranesi gehört muss schon zu den modernen Künstlern gerechnet werden, deren Oeuvre immer auch etwas von ihrer eige10 Piranesi, Diverse Maniere, zitiert in Max Stemshorn/Susanne Grötz (Hrsg.), Vision Piranesi, Tübingen, 2002, S. 21.

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Torsten Wunsch nen Zerrissenheit enthält. Mit ihm nimmt auch die Landschaftsmalerei eine Wende, in dem sie zur Darstellung der Stadtlandschaft wird, die dann in der modernen Großstadt in einem gewissen Grade verwirklicht wurde. Seine Werke sind die Werke des verhinderten Architekten, aber genauso wie später bei den Künstlern des Bauhauses scheinen Architektur und etwas, das ich hier einmal als typografisches Denken bezeichnen möchte, dicht beisammen gelegen zu haben. Er gehörte wahrscheinlich zu den schöpferischen Charakteren, bei denen die Zerrissenheit sowohl echt als auch programmatisch war, und sich mit höchster Präzision auf der anderen Seite verbunden hatte. Auch für ihn war das Bild anscheinend mehr als nur Darstellung, sondern es stellte gleichzeitig einen Architekturentwurf dar, der bei aller Unmöglichkeit immer auch etwas Mögliches hatte, was in meinen Augen eine gewisse Ähnlichkeit mit der Haltung zur Typografie aufweist, wie sie am Anfang des 20sten Jahrhunderts von Schwitters, van Doesburg, Moholy-Nagy und anderen angestrebt worden ist. Es gab ja auch dort eine gewisse Diskrepanz zwischen Funktionalität und Klarheit, wie sie in diversen Manifesten verkündet worden war, und dem bildhaften Ausdruck. Die typografische Form ist ein Feld, in dem Kapriolen – Capriccios – möglich sind, wie sie in der realen Architektur nicht oder nur sehr schwer umsetzbar sind. Dennoch ist auch der Typograf ein Architekt, der sich die Regeln sucht, die sein System glaubwürdig und verständlich machen. Piranesis Schaffensperiode fällt schon in die Zeit der Aufklärung und es wäre eine wichtige Frage, ob Piranesi die gesellschaftlichen Veränderungen des bürgerlichen Zeitalters um ihn herum so direkt wahrgenommen hatte. Jedenfalls saß er als Zeichner von Ansichtskarten für Touristen an einer Stelle, an der schon deutlich wurde, dass die Welt am Vorabend der industriellen Revolution dabei war, in eine der Arbeit und im Gegenzug in eine der Freizeit zu zerfallen, bei der letztere eben eine bestimmte Erfüllung im Reisen und in der sich dazu entwickelnden Freizeitindustrie suchte. Stephan Oettermann hatte auch auf dieses Phänomen in seinem Buch über das Panorama Bezug genommen.11 Das Groteske in Piranesis Bildern, Reminiszenz an das barocke Denken, gepaart mit bürgerlichen Realismus, lässt vielleicht darauf schließen, dass er sich selber als jemand gefühlt haben muss, der nicht so ganz dort war, wo er eigentlich sein wollte und aus dieser Situation heraus grandiose Utopien zu

11 Stephan Oettermann, Das Panorama – Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt/M. 1980, S. 37.

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Immanente Text-Bild Verhältnisse spinnen im Stande war. Der Aspekt der Polemik, der von JungRak Kim besonders für die Carceri d’invenzione herausgestellt wurde, ist auch in Piranesis anderen Arbeiten nicht von der Hand zu weisen. Es scheint so, als ob Giovanni Battista Piranesi erkannt hatte, dass sowohl die Renaissance als auch der Klassizismus jeweils Versuche darstellten, den Zerfall der gesellschaftlichen Strukturen noch einmal aufzuhalten und eine Art ästhetisches Gesamtkonzept vorzulegen. Aber schon die Renaissance hatte sich die Concinnitas, die schöne Ordnung der Welt, durch Säkularisierung erkauft, also im Grunde durch Anpassung an die neuen Verhältnisse und einen gewissen Pantheismus. Das System der Ständeordnung, welches schon im Mittelalter dabei war sich allmählich aufzulösen, verfiel in der Renaissance zugunsten von Kapitaleinsatz und individueller Freiheit mit all ihren mitunter ins zynische gleitenden Konsequenzen. Horst Bredekamp hatte in einem Buch über das vielleicht berühmteste Renaissancebild, die Primavera von Botticelli, darauf hingewiesen, dass die Vereinzelung des Individuums, die symptomatisch für die kapitalistische Industriegesellschaft ist, schon in der Frührenaissance auf Botticellis Bildern fühlbar wurde. Die Primavera selber wird dabei als ein sehr vielschichtiges Bild charakterisiert, welches von seinem Stil und Habitus her einerseits noch in das späte Mittelalter passen könnte, aber neben seinen Verweisen auf die griechische Mythologie und auch auf die Familie der Medici, so etwas wie eine Sehnsucht nach Harmonie und auch Natur ausdrückt.12 Auch der Manierismus und die barocke Ästhetik in ihrer überbordenden Formenvielfalt, die eigentlich auf Illusion und das Absolute hin ausgelegt ist, stellen sich dieser Kälte gegenüber als eine Art Antidot dar, weil sie es in ihrem Verweis- und Zitatcharakter dem Beschauer überlassen, die Totalität als Imagination zu konstruieren. Auch Palladio hatte seine Bauten als historische Zeichen beziehungsweise Denkmale konzipiert. Die bekanntesten seiner Bauten, wie die Villa Rotonda oder La Malcontenta sind Zentralbauten, die den Blick aus der umgebenden Natur auf den imaginären Mittelpunkt der Architektur hinleiten, die allegorisch auf die Antike als ein Vergangenes verweist. Auch beim Betreten der Gebäude eröffnet sich dem Betrachter eine Utopie, die ihn selbst in den Mittelpunkt einer künstlichen Weltordnung stellt.

12 Vgl. Horst Bredekamp, Sandro Botticelli – La Primavera, Berlin 2002, S. 86ff.

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Torsten Wunsch

Zum Begriff des „Picturesque“ Bezogen auf die Malerei, wäre eine solche Anordnung vergleichbar mit der sogenannten idealen Landschaft, die sich im Klassizismus als Ausdruck der Suche nach Arkadien, aber dann in Italien entwickelt hatte. Gemeint ist damit ein bestimmter Kanon in der Landschaftsmalerei, der vorwiegend während des 18ten Jahrhunderts entstanden ist und der mit festgelegten Elementen, wie einem Flusslauf, bestimmtem Licht oder einigen freistehenden Bäumen, ein festes Sinngefüge bildete, das Stephan Oettermann als synthetische Natur bezeichnet hatte. „Schön war nach diesem Kanon ein Landschaftsbild nur dann, wenn es Hügel von Lorrain, Ruinen von Poussin und Bäume von Fragonard vereinigte“, was darauf hinweist, dass die ideale Landschaft sich auf bestimmte frühere Richtungen der Landschaftsmalerei bezog und auch hier eine Art Diskurs stattgefunden hat.13 Dieses Sinngefüge hatte nun die Eigenschaft gleichsam selber zu einem Zeichen zu werden und die individuellen Elemente auf dem Bild zu eliminieren. Ideale Landschaft stellt daher Landschaft an sich dar, und nicht einen Ausschnitt aus der realen Landschaft. Nicht zuletzt verdanken die Kompositionen dieses auch der Zentralperspektive, die tendenziell alles, wie Oettermann geschrieben hatte, in sich gleichsam „aufsaugt“.14 Daraus ergaben sich nach einiger Zeit verschiedene Nachteile. Zum einen beherrschten nur ausgebildete Künstler den Kanon und zum anderen erschöpfte sich diese Art der Landschaftsdarstellung irgendwann. Obwohl die ideale Landschaft schon in einem gewissen klassischen Realismus als „Erneuerung des im Manierismus verlorengegangenen Wirklichkeitsverhältnisses“15 verstanden werden kann, reichte ihre Naturtreue irgendwann nicht mehr aus, um das wohlhabende Bürgertum, welches im 18ten Jahrhundert anfing vor allem nach Italien zu reisen, zu befriedigen. Diese Bürger wollten Bilder von den Stellen und Orten haben, die sie besucht hatten, und keine allegorischen Stellvertreter. Die Folge davon war, dass sich Künstler darauf spezialisierten, Ansichten oder Veduten für diese Reisenden zu malen, zu radieren oder zu zeichnen, so wie es auch Piranesi getan hatte. Diese Ansichten, welche in einem gewissen Sinne als Vorläufer der heutigen Postkarten zu bezeichnen wären, waren „gekenn-

13 Stephan Oettermann, Das Panorama – Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt/M. 1980, S. 23. 14 Ebenda, S. 22. 15 Ebenda.

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Immanente Text-Bild Verhältnisse zeichnet durch ein aufs Detail gerichtetes Naturstudium, durch nüchterne, oft trockene Malerei, die gewissenhaft bis ins kleinste den Gegenstand abbildet.“16 Auf diese Weise entwickelte sich eine Kunstrichtung, deren kommerzielle Ausrichtung immer eindeutiger wurde. Nicht jeder konnte sich allerdings solche Bilder oder gar einen eigenen Maler leisten und so fingen die reisenden Bürger selber an zu dilettieren, und unterwegs ihre eigenen Bilder im Stile der Veduten zu malen, wobei ihnen die wiederentdeckte Technik des Aquarells sehr nützlich war, da sie im Gegensatz zu Ölfarben recht unkompliziert anzuwenden war und so schnelle und flüchtige Skizzen der Natur erlaubte. Dieser „naive“ Naturalismus wurde dabei noch durch Hilfsmittel wie die Camera obscura unterstützt, so dass die Standortwahl – wie beim Fotografieren – für das Ergebnis des Bildes immer wichtiger wurde. Damit geriet die Landschaftsmalerei aber erneut in ein Dilemma, denn auf den naturalistischen Veduten wurde das Problem der idealen Landschaft gleichsam um einhundertachtzig Grad gedreht. Die Veduten verwiesen nun überhaupt nicht mehr auf irgendein Sinngefüge, da sie nur noch Ausschnitte aus der realen Landschaft darstellten. Die gleiche Tendenz zur Beliebigkeit, die oft auch die Fotografie im Negativen auszeichnet, machte sich auf den Ansichten bemerkbar, weil sie nur noch aus zufälligen Elementen bestanden. Anstatt in das Bild hinein, drängte nun alles aus dem Bild hinaus und drohte selbiges gleichsam zu sprengen. Hier tauchen also die Probleme auf, die ich schon vorher im Zusammenhang mit den Stilfragen angesprochen hatte. Durch den Mangel an bedeutenden Zeichen und Elementen auf der Bildoberfläche, werden alle Details von der Wahrnehmung als gleichwertig erkannt, was eigentlich dazu führt, dass das Auge ständig in Bewegung ist und das Bild nach etwas Bedeutungsvollem absucht. „Die aus lauter ,Nebensächlichkeiten‘ und Zufälligkeiten zusammengesetzte Vedute verwies nicht mehr auf ein bestimmtes Sinngefüge, das im idealen Landschaftsbild durch den Fernblick auf einen wichtigen Fluchtpunkt hin symbolisiert wurde, sondern verwies nur noch auf die außerhalb des Abschnitts liegenden, nicht abgebildeten Nebensächlichkeiten. Die dargestellten Einzelheiten hatten nicht mehr einen Fluchtpunkt, auf den sie sich bezogen, sondern die unzähligen Einzelheiten wurden nur noch vom Horizont zusammengehalten. Ideale Landschaft war, so kann man formulieren synthetische Natur, Veduten-Landschaft dagegen summierte Natur. Die Entdeckung

16 Ebenda, S. 23.

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Torsten Wunsch der Ausschnitthaftigkeit koinzidierte mit der Erfahrung des Horizonts. Mit einem Wort der Ausschnitt drängte zur Vervollständigung.“17

Dieses „Drängen des Horizonts“, wie wir weiter bei Oettermann lesen können, konnte in eine Richtung gedacht nur zum Panorama (und später zum Film) führen, wenn dem Drängen gleichsam nachgegeben wurde. Auf der anderen Seite führte es aber zu einer neuen Suche nach Sinn in den Bildern, die sich bis heute in der künstlerischen Fotografie fortgesetzt hat. Vornehmlich versuchte man den Standort so wählen, dass man gleichsam ideale Ausschnitte aus der Natur fand, oder aber solche, die das Bild, zum Beispiel durch am Rand stehende Bäume, natürlich begrenzten. Etwas Ähnliches haben letztlich auch Hobby-Fotografen im Sinn, wenn sie bei der Aufnahme einer Landschaft oder eines anderen Ortes, bekannte Personen oder Mitreisende mit ins Bild nehmen oder in den Vordergrund stellen. Oberflächlich tritt man so natürlich auch den Beweis an, an dem entsprechenden Ort wirklich gewesen zu sein, aber ästhetisch hat es vor allem den Zweck die Beliebigkeit des reinen Ausschnitts abzuschwächen. Durch solche Kompromisse, welche die malenden Bürger durch den Widerspruch von Realität und Ideal eingehen mussten, entdeckten diese das Pittoreske oder auch Malerische, welches als ästhetische Theorie vielleicht am besten in dem durch englische Maler und Theoretiker geprägten Begriff des „Picturesque“ ausdrückt wird. Gemeint ist damit zunächst einmal natürliche Landschaft, dort wo sie gleichsam am idealsten ist und somit schon wie ein Bild oder auch „gemalt“ wirkt. Dabei schwingt in diesen Begriffen mit, dass es sich bei dieser Natur oder diesen vielfältigen Naturformen auch um etwas Künstliches und damit Zeichenhaftes handelt, welches den beschriebenen Unterschied zur Vedute ausmacht. In dem deutschen Begriff des Malerischen scheint daher auch der Hinweis auf das barocke Malerische zu stecken, welches Mannigfaltigkeit mit dem Verweis auf andere Kunststile verbunden hatte und somit auch zu einer künstlichen Anordnung als Zeichensystem wurde. Piranesi war es, der genau diesen Effekt, der kleinste Bildatome als Basis der Imagination verwendete, für seine späteren Bilder meisterhaft umzusetzen wusste. Das „Picturesque“ wäre also nicht nur der Kunst- sondern auch der Zeichentheorie zuzuordnen, aber es zieht seine besondere Qualität vielleicht daraus, dass es ein Verhältnis von Natur

17 Stephan Oettermann, Das Panorama – Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt/M. 1980, S. 24.

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Immanente Text-Bild Verhältnisse zum Zeichen als Basis hat, und damit auch wieder Hinweise auf das Grundproblem des Typografischen, nämlich der Trennung von Zeichen und Bild, gibt. Im „Picturesque“, das als Begriff tatsächlich erst nach Piranesi durch die Reiseberichte von William Gilpin geprägt wurde, wird gleichsam nach den Zeichen und damit auch nach menschlichen Spuren in der Natur gesucht. Es ist daher kein Zufall, dass diese Theorie auch im Zusammenhang mit der Entwicklung von Landschafts- und später auch von Stadtarchitektur Bedeutung gewonnen hatte. Das „Picturesque“ ist, wie man an den Stadien der Landschaftsmalerei erkennen kann, im Grunde eine bürgerliche Theorie, welche der Kunst zunächst eine gewisse Befreiung und Demokratisierung verschafft hatte, was ihr dann später auch angelastet wurde. Entsprechend fällt sie auch in die Entstehungszeit des bürgerlichen Liberalismus, der anfangs nicht nur in der Ökonomie von einem freien Spiel der Kräfte ausging, sondern den Menschen allgemein in einem dialogischen, freien und gleichberechtigten Verhältnis mit anderen Individuen und auch der Natur gesehen hatte. Zu diesem Kräftespiel gehörte es auch, nicht nur das Schöne an der Natur, sondern auch das Erhabene zu erkennen und sich so als Subjekt als ein Teil der Natur wahrzunehmen, während gleichzeitig nur das Subjektive die Natur durch Geschichte verändern kann. Die meisten Ästhetiken dieser Zeit von Kant über Schiller bis zu Burke und Alison beschäftigen sich mit dem Erhabenen. Gemeinsam ist diesen Theorien, dass sie das Erhabene als eine Kategorie auffassen, die zwar einerseits etwas mit Größe zu tun hat, aber anderseits diese Größe nur in Relation zur subjektiven Empfindung wahrgenommen werden kann.18 Das Erhabene wäre so gesehen auch ein Moment der Wahrheit in der Darstellung, denn es verweist das Subjekt in seine natürlichen Schranken. Damit erkennt der Mensch seine Rolle in der Natur, die im Gegensatz zur Unendlichkeit des Erhabenen, immer eine endliche und damit auch zeitliche und geschichtliche Rolle darstellt. Der Erkennen des Subjektiven im Erhabenen oder auch durch das Erhabene ist deshalb im Grunde auch wieder Allegorie; das bekannte pittoreske Motiv der Ruine somit Denkmal und Erinnerung an die Sterblichkeit als Vanitas-Bild. Dabei ist dieses Erkennen eigentlich nur als ein Negatives möglich, und verändert so auch die Auffassung vom Schönen, welches jetzt nicht mehr absolut gedacht werden kann, sondern nur noch als Verhältnis zum Erhabenen. Das Ästhetische (und damit auch das Schöne) 18 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, (Werke 4), Köln 1995, S. 114ff.

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Torsten Wunsch als ein Resultat aus verschiedenen Komponenten zu denken, welches ja schon in der antiken Architekturtheorie Vitruvs als Fortsetzung der griechischen Auffassung von Ästhetik beschrieben wird, schien sich im 18ten Jahrhundert auch als Folge bürgerlicher Liberalisierung allmählich durchzusetzen und das „Picturesque“ wäre eine solche Verhältnisgleichung. Kant hatte zum Beispiel in der Kritik der Urteilskraft darauf hingewiesen, dass das Schöne gleichsam Form wäre, während das Erhabene für sich allein genommen reine Quantität darstellen würde: „Das Schöne der Natur betrifft die Form des Gegenstandes, die in der Begränzung besteht; das Erhabene ist dagegen auch an einem formlosen Gegenstande zu finden, sofern Unbegränztheit an ihm oder durch dessen Veranlassung vorgestellt und doch Totalität derselben hinzugedacht wird: so daß das Schöne für die Darstellung eines unbestimmten Verstandesbegriffes, das Erhabene aber eines dergleichen Vernunftbegriffes genommen zu werden scheint. Also ist das Wohlgefallen dort mit der Vorstellung der Qualität, hier aber der Quantität verbunden.“ 19

Damit deutet sich an, dass das Schöne und das Erhabene zwei Seiten einer Medaille sind, was gerade dem Begriff der Schönheit jene Abhängigkeit von seiner Gegenseite, zu der auch die Hässlichkeit und das Leiden gehört, verschafft hat, so wie im Erhabenen auch Wohlgefallen liegt. Das Erhabene kann als ein Unendliches und Formloses nur in seiner Negativität zu einem endlichen Subjektiven gedacht werden. Auch Schiller hatte diese Ambivalenz beschäftigt, so dass er sie von der Seite des Erhabenen her untersucht hatte: „Das Gefühl des Erhabenen ist ein gemischtes Gefühl. Es ist eine Zusammensetzung von Wehsein, das sich in seinem höchsten Grad als ein Schauer äußert, und von Frohsein, das bis zum Entzücken steigen kann und, ob es gleich nicht eigentlich Lust ist, von seinen Seelen aller Lust doch weit vorgezogen wird. Diese Verbindung zweier widersprechender Empfindungen in einem einzigen Gefühl beweist unsere moralische Selbständigkeit auf eine unwiderlegliche Weise. Denn da es absolut unmöglich ist, dass der nämliche Gegenstand in zwei entgegengesetzten Verhältnissen zu uns stehe, so folgt daraus, dass wir selbst in zwei verschiedenen Verhältnissen zu dem Gegenstand stehen, dass folglich zwei entgegengesetzte Naturen in uns vereiniget sein müssen, welche bei Vorstellung desselben auf ganz entgegengesetzte Art interessiert sind. Wir erfahren also durch das Gefühl des Erhabenen, dass sich der Zustand unsers Geistes nicht nothwendig nach dem Zustand des Sinnes richtet, dass die Gesetze der Natur nicht nothwendig auch die unsri-

19 Kant, Kritik der Urteilskraft, (Werke 4), Köln 1995, S. 109/110.

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Immanente Text-Bild Verhältnisse gen sind, und dass wir ein selbständiges Principium in uns haben, welches von allen sinnlichen Rührungen unabhängig ist.”20

Sehr wahrscheinlich hat die ästhetischen Theoretiker gerade deshalb das Erhabene beschäftigt, weil sich aus diesem heraus ein neuer Begriff von Schönheit ableiten ließ, der eben auch die Gewalt und die Unendlichkeit mit einschloss. Friedrich Schiller hatte beispielsweise 1792 ebenfalls einen bemerkenswerten Aufsatz mit dem Titel Über die tragische Kunst geschrieben, in dem er die Verlockungen des unwiderstehlichen Zaubers des Tragischen, des Schauderhaften und des Entsetzens darlegt. Die Trennung dessen vom Erhabenen, was ursprünglich einmal „schön“ genannt wurde, musste dabei allerdings erst einmal vollzogen werden, wofür Edmund Burke 1757 mit seiner Studie A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful den Grundstein gelegt hatte. Auch in Burkes Theorie kommt dem Erhabenen (sublime) als dem Großen und Schrecklichen eine größere Bedeutung zu als dem Schönen (beautiful), und zwar vornehmlich deshalb, weil auch Burke die Erscheinung des Erhabenen als Reflexion auffasst. So hatte schon Burke festgestellt, dass der Schrecken immer nur dann angenehm ist, wenn er aus einer gewissen Distanz wahrgenommen wird. Damit wird das Ästhetische als das Erhabene seiner Unmittelbarkeit entrissen und gewissermaßen als Kulturerlebnis manifestiert.21 Allerdings möchte ich nur am Rande dazu bemerken, dass auch das Erhabene allein Gefahr läuft, wieder zu einer reinen Wirkungsästhetik zu werden. Ein Beispiel dafür sind heutzutage die große Anzahl von „Blockbuster-Filmen“, deren Inhalt primär darin besteht, das Publikum durch Monu20 Friedrich Schiller, Über das Erhabene, zitiert bei Umberto Eco, Die Geschichte der Schönheit, München 2004, S. 297. 21 „Er (Burke, d. V.) stellt sich die Frage: wie kann der Schrecken angenehm sein? Seine Antwort lautet, wenn er aus nicht allzu großer Nähe droht. Diese Behauptung impliziert eine Distanz von dem, was Furcht erregt, und daher eine Art Interesselosigkeit ihm gegenüber. Schmerz und Schrecken sind Ursache von Erhabenem, wenn sie nicht wirklich schädlich sind. Diese Interesselosigkeit ist dieselbe, die im Laufe der Jahrhunderte eng an die Idee des Schönen geknüpft zu sein schien. Das Schöne ist das, was ein Wohlgefallen hervorruft, welches nicht notwendig zum Besitz oder zum Genuss der Sache drängt, die gefällt; ebenso bezieht sich der an das Erhabene gebundene Schrecken auf etwas, das von uns nicht Besitz ergreifen kann. Hierin besteht die fundamentale Beziehung zwischen Schönem und Erhabenem.“ (Umberto Eco, Die Geschichte der Schönheit, München 2004, S. 291.).

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Torsten Wunsch mentalität zu beeindrucken und, den Panoramen des 19ten Jahrhunderts nicht ganz unähnlich, das unmittelbare Gefühl zu geben, dabei zu sein. Die Bedeutung, die das sogenannte Schöne bei Burke hat, wird dann eigentlich erst aus unserem zeitlichen Abstand heraus erkennbar. Burke beschreibt zum Beispiel kleine und glatte Dinge als „schön“ und es wird relativ schnell deutlich, dass er, gerade weil er eine Gegenposition zum Erhabenen aufbauen möchte, in die Versuchung gerät, Schönheit als ein Absolutes im Sinne des damaligen vorherrschenden Geschmacks zu beschreiben. Das Schöne hat also bei Burke noch jene reine und naive Unmittelbarkeit, die das Erhabene gerade nicht hervorruft. Er gerät dabei in ein ähnliches Dilemma wie der Sophist Hippias und bleibt bei recht oberflächlichen Aussagen, wodurch das angeblich „Schöne“ bei Burke doch eher als etwas „Hübsches“ oder „Nettes“ dargestellt wird. Gerade dadurch aber wird angedeutet, dass Burkes Schönheitsbegriff eigentlich in einem Verhältnis zum Erhabenen gedacht werden und nur als eine Art Teilkategorie seiner Ästhetik, so wie bei Vitruv die venustas, begriffen werden müsste. Ich habe das so interpretiert, dass der Schritt über Burke hinaus, wie ihn auch Kant, der von Burke sehr beeinflusst wurde, vollzogen hatte, darin bestand, auch die Schönheit in ein Bezugssystem zu setzen, ihn so zu reflektieren und damit auch zu einem kritischen Begriff von Schönheit zu gelangen. Damit wird gleichzeitig der Übergang von einer sensualistischen, rein auf Empfindungen ausgelegten Schönheitslehre zur Zeichentheorie und zu einem dialektischen Schönheitsbegriff markiert, in dem das Schöne dann auch wieder als das Wahrnehmbare aufgefasst werden kann. Die pittoreske Schönheit ist selber Reflexion, da es an dem Erhabenen reflexiv gebrochen wird. Bei Hegel finden wir beispielsweise schon die Grenze, die dem Subjekt durch das Erhabene aufgezeigt wird, und die dann im Grunde auch bei Benjamin den Schönheitsbegriff als Einschnitt in prägt. Schönheit ohne Leid wäre Trug, Illusion oder auch Warenästhetik denn wie Schiller sagte: „Ohne das Erhabene würde uns die Schönheit unsrer Würde vergessen machen.“22 Genau das aber versuchen die manchmal als naiv und als Suche nach Andenken belächelten Theorien des „Picturesque“ herauszustellen, in denen, knapp gesagt, die Schönheit als ein Aufscheinen von Geschichte in der Natur betrachtet werden kann. Kurt Jauslin hatte das sich daraus ergebende dialogische Ver-

22 Friedrich Schiller, Über das Erhabene, zitiert bei Umberto Eco, Die Geschichte der Schönheit, München 2004, S. 297.

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Immanente Text-Bild Verhältnisse hältnis von Zivilisation und Natur folgendermaßen zusammengefasst: „Der Begriff des ‚Picturesque‘ reicht weiter als das deutsch-provinzielle ‚Malerische‘ und fasst eine Fülle von Bedeutungen vom Idyllischen bis zum Grotesken. Prinzipiell beschreiben die englischen Theoretiker des 18. Jahrhunderts damit den Eingriff des Menschen, der Natur in eine künstliche Anordnung verwandelt. Die künstlichen Ausschnitte der Landschaftsmalerei ergeben, auf die wirkliche Natur übertragen, das Ensemble von Architektur und Landschaftspark. Durch den Eingriff des Architekten wird die indifferente Natur mit Bedeutungen aufgeladen: sie erhält eine Geschichte, die mit jener nichts mehr zu schaffen hat, die ihr von der Naturwissenschaft verordnet wird. Solcher wechselseitigen Durchdringung von Kunst und Wirklichkeit sind keine proportionalen Grenzen mehr gesetzt. In ihr entfaltet sich das freie Spiel der Kräfte, das nach der liberalistischen Theorie der ersten industriellen Revolution das ökonomische System des Marktes regeln sollte.“23

Würden wir diese Kategorien auf die palladianische Villa Malcontenta anwenden, dann fällt vielleicht auf, wie vieles vom Pittoresken eigentlich schon in der idealen Anordnung des Gebäudes und der umgebenden Natur hindurchscheint. Palladio war auch weniger ein Architekt der großen öffentlichen Bauten, sondern der Privathäuser, welche dem einzelnen Menschen gewissermaßen ein Tempel sein sollten.24 Die Concinnitas als göttliche Weltordnung wäre auch bei Palladio deshalb Utopie, weil sich ihre Harmonie schon aus dem Widerspruch zwischen Geschichte und Natur heraus dialektisch entwickelt. Um hier wieder auf Piranesi zurückzukommen, so wird dieser, der einen scharfen Verstand und eine gute Beobachtungsgabe besaß, wahrscheinlich dieses an der Ästhetik Palladios bewundert haben; das Idyll, das sich als Refugium des Subjekts im Kontext einer immer noch dominierenden Natur darstellt. Im Idyll steckt deshalb auch etwas Selbstverantwortung des Menschen, der sich die Natur kultiviert und sie deshalb an einer solchen Stelle gut für ihn ist und eben dadurch zu einem Zeichen wird, dass sie durch die Kultivierung Geschichten erlebt und Geschichte erfahren hat. Gleichzeitig scheint das seinem venezianisch-kapriziösen Gemüt und seinem großen Ehrgeiz, welche immer unter den Eindrücken der römischen Ruinen standen, keineswegs gereicht zu haben.25 Für seine eigene – durchaus 23 Inge Habig/Kurt Jauslin, Der Auftritt des Ästhetischen, Frankfurt/M. 1990, S. 119. 24 Vgl. Georg Germann, Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, Darmstadt 1980, S. 132f. 25 Vgl. ebenda, S. 130ff.

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Torsten Wunsch kritische – Vision einer Welt, in der schon die Zivilisation über die Natur triumphiert, war das Idyll Palladios vielleicht schon ein wenig zu ruhig geworden. Schon auf seinen frühen Rom-Veduten nutzt er das Motiv des Ruinösen ausgiebig. Fast immer sind auf seinen Zeichnungen die Spuren des Verfalls zu erkennen und Proportionalität wird auf die zufällige Anordnung von Bruchstücken reduziert. Als Piranesi, der Rom zwischenzeitlich verlassen musste, um 1748 zum zweiten Mal dorthin kam, orientierte er sich endgültig an der venezianischen Kunst der Vedute. Vom Capriccio, der Architekturphantasie, und von den Bühnenbildern hatte er sich die Illusionistische Wirkung der barocken Kunst abgeschaut, die durch das Erhabene den Betrachter gleichzeitig auf Distanz hält.26 Verbunden mit seinem Realismus verstärkt sich gegenüber Palladio noch mehr der Eindruck, dass das Ästhetische nunmehr ein Vergangenes darstellt. Die Ruine ist einerseits Vanitas-Bild, andererseits aber auch wieder ein Modell, an dem sich die Einbildungskraft entfalten kann. Piranesi demonstriert anhand seiner Bilder die Funktion der Schrift, die Dinge in ihre Einzelteile zu zerlegen um daraus etwas Neues entstehen zu lassen. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass Piranesi die Schrift als solche auf seinen Zeichnungen als Element auch dazu einsetzt, um auf den typografischen Charakter seiner Bilder hinzuweisen. Ich möchte dazu anmerken, dass er seine Zeichnungen und Radierungen weniger als Unikate, sondern in Buchform veröffentlichte und dass Schrift eben dort oft eine einleitende und beschreibende Funktion hatte, die meistens auf seinen Titelblättern und Frontispizen erschien. Es ist sicherlich nicht falsch, daraus abzuleiten, dass sich Piranesi über die Prinzipien und Wirkungen von Schrift sehr klar und bewusst gewesen sein muss, und dass er ihre Funktion als Modell des dialektischen Denkens erkannt hatte, welches seit der Antike das abendländische Denken geprägt hat. Wenn der Künstler bei Piranesi selber der subjektive Schöpfergott sein sollte, dann war die Schrift das Werkzeug seines Geistes, der sich auf die Tradition der Antike berufen hatte, und mit dessen Hilfe die vergangene Größe des alten Roms wieder lebendig werden sollte. „In der Sprache Palladios ist hier die Abkehr von Palladio vollzogen: vor Piranesis Augen war eine neue Welt aufgegangen, der phantastische Traum einer Unendlichkeit von Architektur, die von der Erhabenheit des antiken Rom ihren Ausgang nimmt und die zugleich allein in ihrer ungehemmten Willkür

26 Vgl. Norbert Miller, Archäologie des Traums, Frankfurt/M./Berlin, S. 33.

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Immanente Text-Bild Verhältnisse der Erfindung das gemäße Bild dieser verlorenen Größe zu zeichnen vermag. Die von den sprechenden Ruinen wachgerufene Vision tritt an die Stelle der Nachahmung, die Hyperbel an die Stelle des Maßes und der Proportion.“27

Von Interesse ist in diesem Zusammenhang, dass Piranesi von Anfang an eigentlich kein Landschaftsmaler oder auch -architekt war, sondern seine Kulissen als Phantasien seiner urbanen Umgebung gestaltete, womit er prophetisch die moderne Großstadt als Auferstehung der antiken Großstadt Rom vorweg nahm.

Zur Idealansicht der Via Appia Die Kunst der Vedute hatte sich in ihrer professionellen Form besonders in Venedig weiterentwickelt und war auch als Capriccio eher die Ansicht einer Stadtlandschaft, als ein Landschaftsbild. Die Vedute als Stadtansicht findet ihre Vorläufer auch in den hier schon erwähnten Stichen von Merian, welche gleichsam zu immer realistischeren Abbildungen entwickelt wurden, und ihre Nachfolger bei den Impressionisten. Dieses ist insofern wichtig zu bemerken, als auch die Bilder Piranesis größtenteils in einen urbanen Kontext eingebunden waren. Wie ich es schon vorher durch das Hauser-Zitat angedeutet habe, darf die barocke Ästhetik als Spiel mit den Zeichen, also prinzipiell als Text aufgefasst werden, der gegenüber der Renaissance eine verstärkte Vertextung der Kultur beziehungsweise eine Dominanz der zweiten Natur erkennbar werden lässt. Zu Piranesis Zeit wird dieses auch durch den Einsatz des Kupferstichs als Reproduktionstechnik deutlich, was bei Benjamin in seinem Trauerspielbuch in den Sätzen Ausdruck findet: „Die Renaissance durchforscht den Weltenraum, das Barock die Bibliotheken. Sein Sinnen geht in die Buchform ein.“28 So sind auch die Arbeiten aus den Antichità Romane von 1756 teilweise auf die Grabmale an den Seiten der Ausfallstraßen Roms zurückzuführen. Das Bild, welchem in unserem hier behandelten Zusammenhang eine größere Bedeutung zukommt, die Idealansicht der Via Appia kann als eine Anhäufung von Grabmalen interpretiert werden, die sich zu einer gewaltigen Textur vereinigen. Diese Art Ansicht als Frontispiz zum Band II der Antichità Romane wird noch einmal auf dem Frontispiz zum dritten Band aufge-

27 Norbert Miller, Archäologie des Traums, Frankfurt/M./Berlin S. 29. 28 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels (Gesammelte Schriften I.1), Frankfurt/M. 1991, S. 319.

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Torsten Wunsch griffen, der wahrscheinlich eine neue Ansicht des Circus Maximus zeigt. Assoziationen mit der Gartenabteilung des nächsten Baumarktes oder auch mit dem Palais idéal des Facteur Cheval, könnten zeigen, dass Piranesi sich hier an die Grenzen der Anhäufung vorgewagt hatte. Dass diese Zeichnung dennoch faszinierend glaubwürdig ist, und damit einen visionären und utopischen Charakter trägt, verdankt sie sicherlich auch der oft bewunderten Detailtreue und Stilsicherheit des Künstlers und Archäologen. Der Schritt über Palladio hinaus wird deutlich in Szene gesetzt. Das Erhabene erscheint nunmehr nicht mehr nur als Natur, sondern als eine unendlich und ewig erscheinende Struktur von Architektur und anderen Zeichen wie Grabmale und Ornamente. Piranesi baut eine Textur auf, welche die Kriterien des Mythos erfüllt. Das Ornament – oft in Form des Stilzitats – scheint hier auf als ein Moment des „Picturesque“, welches die erhabene Struktur der Einbildungskraft zugänglich macht und ein Erscheinen von Zeit vorbereitet. Unterstützt wird dieses noch von der die Architektur überwuchernde Natur, welche sich ganz allmählich wieder ihr Recht verschafft. Indem Piranesi auf die untergegangene Antike verweist, glorifiziert er sie zumindest oberflächlich. Der Beschauer soll sich durch den Titanen Piranesi selbst als Teil dieser Vergangenheit erleben. Gleichzeitig aber bricht in diese Struktur, welche gleichzeitig wie die bekannten Carceri auch wieder Gefängnis zu werden droht, das Chaos ein, aus dem sich der Betrachter mit Hilfe seiner Einbildungskraft und der ordnenden Struktur der historisierenden Stilzitate zu befreien versucht. Dass dem Betrachter dieses gelingen kann, wäre auch auf die hohe Authentizität der Radierung zurückzuführen, welche bekannte Formen und deren Bedeutungen vermittelt; Piranesi hält insofern an Palladio und Vitruv fest, als sie ihm als Mittler dienen zwischen der dargestellten Ordnung, und der, die sich im Kopf der Betrachterin oder des Betrachters realisiert. An der Stelle, an der noch Palladio versucht das Ästhetische als architektonischen Systemzusammenhang zu realisieren, setzt Piranesi allein auf die Kraft der Imagination. Seine Entwürfe, deren Grundkonzepte nicht so verschieden sind von Fischer von Erlachs Entwurff Einer Historischen Architectur, ein Werk, das Piranesi nachweislich kannte, stellen sich dar als ein gewaltiger Traktat der Architekturgeschichte. „Ähnlich wie Fischer von Erlach stellt auch Piranesi einen Querschnitt durch die Architekturgeschichte vor, beschränkt sich aber auf einen Rahmen, der

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Immanente Text-Bild Verhältnisse ihm zugänglich war: die römische Antike und die neuere Baukunst Roms und seiner Heimat Venedig. Aus diesen Anregungen formt er keine chronologische Reihe, sondern exemplarische Architektursituationen. Er bildet Musterkomplexe von Großarchitekturen. Anders als Fischer von Erlach greift er nicht auf Einzelmonumente zurück; vielmehr steigert er sie zu monumentalen Gebäudekomplexen, die eine Erfassung durch den Betrachter nicht mehr zulassen.“29

Sehen wir davon ab, dass Piranesi besonders auf seinen späteren Zeichnungen durchaus auch ägyptische und etruskische Stilformen verwendet hat, bemerkt auch Bruno Reudenbach in obigem Zitat richtig, dass der Betrachter den Systemzusammenhang durch die pseudochaotische Struktur nur noch indirekt wahrnehmen kann. Die Betrachterin oder der Betrachter werden im Grunde in einen Diskurs über architektonische Formen hineingezogen, zu dem die Imagination weitere Bilder beisteuert. Gombrich hatte diesen Effekt der Ergänzung durch die Einbildungskraft anhand des „Sfumato“ bei Leonardos Mona Lisa beschrieben: „Der Künstler muss etwas dem Beschauer überlassen. Wir sind es gewohnt zu ergänzen was wir nicht sehen und gerade dieses Ergänzen erhöht den Eindruck der Lebendigkeit.“ Wir möchten im Geiste die Geschichte eigentlich weitererzählen, gleichzeitig dienen die Ornamente als Gliederung, an denen sich die Wahrnehmung orientieren kann. Ich möchte dazu anmerken, dass William Gilpin raue und zerklüftete Oberflächen als „picturesque“ bezeichnet hatte. In diesem Zusammenhang würde es bedeuten, dass die Wahrnehmung an solchen Texturen – ebenso wie an schriftlichen Texten, die ebenfalls zerklüftet sind, da sie aus unterschiedlichen Buchstaben bestehen – in Lage ist, Einbrüche in die epische Struktur festzustellen und diese als eine neue Zeichenstruktur der Einbildungskraft zugänglich zu machen; hier mag man eine gewisse Verwandtschaft zu dem dialektischen Bild vermuten.30 Bei Piranesi darf die zweite Natur über die erste triumphieren, das ist ein moderner Aspekt an ihm. Der steinerne Text, welchen die „Geburt der Großstadtarchitektur aus dem Geist der Archäologie“ (Kurt Jauslin) hier aufscheinen lässt, wäre mit einem Wort Benjamins ein Traumgewebe. Die Ornamente und die Pflanzen als Elemente des „Picturesque“ sind ein Moment der Erkenntnis der Struktur und wären damit auch ein Moment des Erwachens. Es 29 Bruno Reudenbach, G. B. Piranesi – Architektur als Bild, München 1979, S. 34. 30 Vgl. Norbert Miller, Archäologie des Traums, Frankfurt/M./Berlin, S. 8.

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Torsten Wunsch ist sicherlich eine interessante Frage, wie Piranesi selber seine Größenphantasien eingeschätzt hätte. Die Sprache der Bilder lässt vermuten, dass er seiner eigenen Utopie gegenüber keineswegs unkritisch gegenüber stand, sondern sie im Gegenteil für ihn auch deutliche Kritik an der Gesellschaft war, in der er leben musste. Die subjektive Überhöhung hingegen ist ambivalent; oft sind Piranesis Bauten von kleinen Figuren begleitet, die sich von der übermächtigen Architektur eingeschüchtert fühlen müssen. Es gibt einmal den Künstler als Titan, als Schöpfergott31 und einmal das vereinzelte Subjekt, welches der eigenen Technik fremd gegenübersteht. Piranesi selber hatte die Erfahrung einer neuen Zeit machen müssen, die ihn nicht zum großen Baumeister auserkoren hatte, sondern nur zu einem – wenn auch berühmten – Vedutenzeichner hat werden lassen. Die Egalisierung, welche die bürgerliche Epoche vorangetrieben hatte, muss dem ehrgeizigen Künstler, der auch als recht launisch und jähzornig galt,32 sicherlich schmerzhaft bewusst gewesen sein. Die Welt, in der sich eine vernünftige Gesellschaft realisieren sollte, wird dem Kapital und dem zunehmenden ökonomischen Druck ausgeliefert. Das ist ein Aspekt der Wahrheit im „Picturesque“, welches die Harmonie immer nur als ein Vergängliches auffasst. Stephan Oettermann hatte bemerkt, dass im bürgerlichen Zeitalter der Horizont, den die Zentralperspektive eröffnete, sein Gegenstück im Gefühl des Kerkers hatte.33 Die Unterwerfung der Natur durch die Begriffe findet ihre Entsprechung in der Unterwerfung und Besitznahme der Natur durch die Kunst mit allen ihren in der Dialektik der Aufklärung erläuterten Konsequenzen. Dafür steht die heutige Welt der Massenmedien. Die „rauschhafte Aufbruchstimmung“ hatte ihren Preis in anderen Restriktionen wie der neurotischen Selbstkontrolle des Bürgers, die wir bei Freud als das berühmte Unbehagen an der Kultur wiederfinden können. Man kann sicherlich die Carceri von Piranesi als den Gegenpol zu seinen anderen architektonischen Höhenflügen sehen und daraus Vermutungen über seine melancholischen und ambivalenten Gefühle anstellen, das sich in seinen Zeichnungen auch als Kulturkritik und Zukunftsvision gleichermaßen äußert. Die Carceri zei-

31 Es ist zu bemerken, dass im Schriftsatz beispielsweise Buchstaben mitunter zusammengezogen werden, um einen nicht zu zerklüfteten Eindruck zu erzeugen und den Lesefluss nicht zu behindern. 32 Vgl. ebenda S. 15. 33 Vgl. Stephan Oettermann, Das Panorama – Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt/M. 1980, S. 17f.

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Immanente Text-Bild Verhältnisse gen aber auch die perspektivischen Fähigkeiten des Künstlers und demonstrieren durch ihre groteske Übersteigerung, dass die Zentralperspektive kein Naturgesetz ist, sondern ein Stilmittel, welches bis zur völligen Irrationalität ausgereizt werden könnte. Auch die Via Appia nutzt die Zentralperspektive aus, um die epische Struktur bis zum Horizont ins Unendliche reichen zu lassen. Dadurch aber, dass es Piranesi dem Betrachter überlässt, aus den Trümmern der Antike eine neue Geschichte zu rekonstruieren, rettet er das Ästhetische als ein Vergangenes vor der Wirklichkeit, in der es tatsächlich ein Ausdruck von Herrschaft wäre. In diesem Eklektizismus steckt eine Menge zum Verständnis sowohl der manieristischen Ästhetik, als auch der realen Architektur des Historismus. Kurt Jauslin hatte diesen Vergleich aufgebracht und auch das kritische Potential und die daraus entstehende Angemessenheit an die Verhältnisse der modernen Industriegesellschaft herausgearbeitet, welche die reale Großstadtarchitektur des 19ten Jahrhunderts durch eine ganz ähnliche ästhetische Produktionsweise besaß: „Entgegen den Behauptungen der Soziologen ist das Stadtbild des Historismus nicht ohne weiteres als ein Abbild von Herrschaftsstrukturen zu verstehen. Die Destruktion der Ordnungen durch die überwältigende Realität wirkt in Wahrheit egalisierend. Es entsteht eine zwar chaotische, ihrem Wesen nach aber antifeudale Struktur.“ 34

Gerade dadurch, dass er seine Vision als eine vergangene konstruiert, macht er deutlich, welches Schicksal die Zivilisation erwarten kann. Seine Bauten bleiben Grab- oder Denkmal und Ruine und werden dabei von der Natur, die sich wieder ihr Recht zurückholt, allmählich überwuchert. Der palladianische Dialog mit der Natur scheint auch in der epischen Struktur der Via Appia immer wieder durch und macht deutlich, dass die Bauwerke zwar für die Ewigkeit sein sollen, aber in Wirklichkeit genauso vergänglich sind, wie alles was der Mensch erzeugt. Dadurch werden aber die gewaltigen Bauten dem Ewigen, Göttlichen und Unendlichen entrissen und – bei aller Distanz – der Verantwortung durch den Menschen zurückgegeben, was ich als eine materialistische Komponente in den Werken Piranesis werten würde. Das Problem, dass sich das Ästhetische im Grunde mit Hilfe der Phantasie befreien muss, da es als ein ästhetisch erkanntes nicht mehr in der Wirklichkeit erscheinen darf, denn die Trennung von 34 Inge Habig/Kurt Jauslin, Der Auftritt des Ästhetischen, Frankfurt/M. 1990, S. 148.

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Torsten Wunsch Bild und Zeichen ist nach Adorno und Horkheimer unwiderruflich, wird zum Thema des Artefaktes selber: „Sieht man, wie anhand des Concinnitas-Begriffs erläutert wurde, das palladianische Bauen als stringente Formulierung der Ambivalenz zwischen einer Vorstellung vom Paradies und seiner Verlorenheit an die irdische Wirklichkeit an, so lässt sich die nachbarocke Architekturgeschichte verkürzt als Auffächerung dieser coincidentia oppositorum lesen: die Zwecke verselbständigen sich, wie andererseits auch das ästhetische Decorum. Der Begriff des Ästhetischen beginnt eigentümlich zu flackern, da er sich in einer nicht mehr auf die Gegenwärtigkeit von Transzendenz gerichteten Weise mit den realen gesellschaftlichen Zwecken einlässt. Schwefelgeruch verbreitet sich, seit Piranesi die Stadtlandschaft als Gefängnis rekonstruiert und damit die feudale Struktur von Architektur selbst zum Thema des Artefakts gemacht hat, im ästhetischen Denken des späten 18. Jahrhunderts.“ 35 „Jenseits aller vitruvianischen und palladianischen Proportionalität eröffnete das Ruinenfeld den Blick für das ‚Picturesque‘, dessen Theorie, verbunden mit der des Sublimen, Edmund Burke 1756 entwickelt hatte. Im ‚Picturesque‘ schimmert noch die Größe der zerfallenen ästhetischen Systeme als groteske Disproportion durch: Es ist ein Moment ihrer Realität.“36

Die Wahrnehmung versucht der chaotischen Struktur einen Sinn abzugewinnen, was sie dazu bringt, eine neue Ordnung in den Zeichen zu suchen, welche die Realität, die nach dem Prinzip der Schrift in ihre Einzelteile zerfallen ist, als das Vertraute und Bekannte übrig gelassen hat. Ich möchte bemerken, dass Piranesi insofern typografisch vorgeht, als er einerseits ein bildhafte Struktur erzeugt, gleichzeitig aber auch einzelne Zeichen als Brüche hervortreten lässt, so dass die Struktur als Zeichensystem wahrnehmbar wird. Hans Dieter Schaal hatte offensichtlich vor, mit seinem Bild Denkgebäude, dessen Ähnlichkeit mit der Via Appia kaum zufällig sein kann, diese Struktur noch einmal zitierend aufzugreifen und als Zeichensystem offenzulegen. Das würde in gewisser Weise auch auf die ambivalente Gedächtnisfunktion der Schrift abzielen, die ich schon versucht hatte zu diskutieren und die einerseits Erinnerungen löscht, während sie andererseits Geschichte erst möglich macht, und die dadurch sichtbar gemacht wird. Sieht man die Struktur als Traum, so wären die Stilfragmente jene Kategorie, die eine Brücke zwischen Traum und Erwachen bilden, denn wie Freud sagte, „der Traum beschäftigt sich niemals mit Dingen, die uns nicht auch bei Tag zu beschäftigen

35 Ebende S. 144 36 Ebenda S. 118/ 119

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Immanente Text-Bild Verhältnisse würdig sind, und Kleinigkeiten, die uns bei Tag nicht anfechten, vermögen es auch nicht uns in den Schlaf zu verfolgen.“37 Wie auf vielen Bildern von Edward Hopper, auf den ich im folgenden noch einmal zurückkommen möchte, wird die Ambivalenz der Stadt (und Stadt ist eine Metapher für Gesellschaft allgemein), die sie schon immer hatte, deutlich gemacht: Stadtluft macht frei, aber nur innerhalb ihrer Mauern und damit auch innerhalb ihres eigenen gesellschaftlichen Gefängnisses. Wer denken will, muss auch bereit sein, seine Natürlichkeit und damit eine andere Freiheit zu opfern. Die Fähigkeit genau das zu reflektieren (und damit den Schaden zu begrenzen, den Zivilisation an den Subjekten und den Dingen verrichtet), gehört zu den Eigenschaften eines aufgeklärten Kunstwerkes, das seine Transzendenz nicht mehr unmittelbar aus dem Göttlichen, sondern allenfalls aus dem Bewusstsein der Immanenz ziehen kann. Man muss, mit Kierkegaard zu sprechen, wissen, dass man glaubt. Der Blick in die Geschichte wird zum ordnenden Prinzip, welcher die Traumelemente mit der Realität vermittelt, was letztlich eine Eigenschaft des dialektischen Bildes wäre. „Der historische Materialismus muss das epische Moment der Geschichte preisgeben. Er sprengt die Epoche aus der dinghaften ‚Kontinuität der Geschichte‘ ab. (Er sprengt aber auch die Homogenität der Epoche auf. Er durchsetzt sie mit Ekrasit, d. i. Gegenwart.)“38

Möglicherweise kommen wir so einer Erklärung näher, warum Piranesis Werke immer noch sehr gegenwärtig und auch verstörend wirken. Die Forderung des Typografen nach Klarheit ist gewissermaßen als Moment nachvollziehbarer Realität erfüllt. Walther Killy hatte einmal in seinem Buch über den literarischen Kitsch folgendes formuliert: „Die Wahrheit des epischen Symbols ist in nachdenklicher Weise mit seiner Wahrscheinlichkeit verbunden, fehlt diese, so wird jene nie Leben gewinnen, sondern ein toter Gemeinplatz bleiben. […] Sie drückt sich aus in der von Benjamin als unauflöslich bezeichneten Verbindung, welche die Sache mit der Wahrheit eingegangen ist.“39

37 Sigmund Freud, Über Träume und Traumdeutungen, Frankfurt/M. 1987, S. 29. 38 Walter Benjamin, Das Passagen Werk (Gesammelte Schriften V.1), Frankfurt/M. 1991, S. 592/593. 39 Walther Killy, Deutscher Kitsch, Göttingen 1962, S. 22.

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Torsten Wunsch In diesem Sinne würden Piranesis Arbeiten daher auch den dialektischen Charakter des Allegorischen verdeutlichen, der nach Benjamin schon in der Schriftform selber steckt, nämlich in ihrem Verhältnis von Heiligkeit und profaner Funktion. Der Griff in die Geschichte schafft ein Moment der Abstraktion im Bild – nach der Theorie des dialektischen Bildes ein Kontingent unsinnlicher Ähnlichkeiten –, welches dessen philosophischen Gehalt verstärkt hervortreten und wahrnehmbar werden lässt.

Zu Edward Hopper Da es möglicherweise, wie ich es schon angedeutet habe, einige überraschende Parallelen zwischen Piranesi und Edward Hopper (1882 – 1967) gibt, obwohl beide Künstler einen zeitlichen Abstand von ungefähr einhundertfünfzig Jahren haben, möchte ich hier noch einen kurzen Nachtrag zu Hopper machen, der sich vor allem mit dessen Bild The City (Die Großstadt, 1927) auseinandersetzt. Edward Hopper war jemand, der sich anfangs auf seinen Reisen, die ihn auch nach Paris und London führten, Anregungen für seine Bilder holte. Damit entsprach er in einem gewissen Sinne den Malern des 18ten Jahrhunderts, die den Begriff des „Picturesque“ mit geprägt hatten. Viele seiner Bilder sind ebenfalls Veduten in ihrem ursprünglicheren Sinn als Landschaftsbilder, die mit dem Blick des Künstlers transformiert worden sind. Hatte Piranesi die Reisenden zu sich kommen lassen, so war Hopper in der Frühzeit seines Schaffens selber ein Reisender, viele seiner frühen Bilder sind europäische Szenerien. Später hatte Hopper seinen Wohnsitz in New York nicht wieder verlassen. In dieser Zeit entstanden seine typischen Amerika Bilder. Rolf G. Renner hat eine gute Beschreibung dessen abgegeben, was auch bei Hopper die Dialektik des Pittoresken zunächst ausgemacht hatte: „Und so, wie sich der Mythos des ungehinderten Ausgriffs in den freien Naturraum in den Texten Poes und Melvilles zu Erstarrung und Orientierungslosigkeit umkehrt, wandelt sich häufig auch die Darstellung der Natur in Hoppers Bildern. Entweder ist sie von den Zeichen der Zivilisation durchschnitten – dafür stehen die manisch wiederholten Ansichten von Straßen, Bahnübergängen und Leuchttürmen –, oder aber die Zeichen der Zivilisation

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Immanente Text-Bild Verhältnisse zeigen sich verloren und gefährdet in einer unberührten Natur; diesen Eindruck erwecken die meisten Bilder, die Hopper von Häusern malt.“40

Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass sich auch bei Hopper der Mythos von reiner Natur in einen Mythos der Zivilisation verwandelt. Neben den Landschaftsbildern gibt es die schon erwähnten Bilder, auf denen eher der steinerne Text des Urbanen dominiert, und in dem das Individuum seinen neuen Lebensraum findet. „Hoppers Bild Großstadt zeigt“, wie Ivo Kranzfelder The City beschreibt, „von einem Standpunkt über den Dächern aus, eine Stadtarchitektur. Der Platz, den es vorführt, wird nach hinten begrenzt durch gleichförmige Wohnblocks. Das auffälligste Gebäude, das in das Bild hineinragt, passt nicht in die eher triste architektonische Landschaft. Es hat einen ganz anderen Charakter als alle umliegenden und überhaupt auf dem Bild sichtbaren Häuser; es könnte mit seinem Mansarddach auch aus Paris stammen. Die gleichförmigen Wohnblocks, die es umgeben, dürften zeitlich nach ihm entstanden sein.“41

Hoppers Bild zeigt nicht mehr die Großstadt des 19ten, sondern die des 20sten Jahrhunderts. Das viktorianische Haus in der Mitte kontrastiert die Indifferenz der modernen Architektur, die daher noch stärker als Natur-Mythos in Erscheinung tritt. Der ordnende Effekt erfolgt hier nicht mehr unbedingt über die Ornamentstruktur, sondern über das einzelne Gebäude (mit einer Ornamentstruktur), welches eine weitere Ebene eröffnet. Hopper ist hier eigentlich wieder beim Ursprung des „Picturesque“ angelangt, dessen Intention ja darin bestand ein wahrnehmbares Zeichen der Erinnerung in eine ungeordnete Struktur zu stellen. Die Indifferenz, die nach Georg Simmel einen entscheidenden Anteil an der großstädtischen Kultur und Geisteshaltung hat, wird noch unterstrichen durch die wenigen und zerstreuten Individuen auf der Straße. Die Kälte der Anonymität fegt über den dargestellten Platz und verstärkt die Metaphorik der menschenleeren Natur, zu der sich auch bei Hopper das Schöne nur als ein Vergangenes und damit Distanziertes und Fremdes darstellt. „Das Verfahren des Melancholikers ist das der Allegorie. Der Blick des Allegorikers auf die Stadt ist – in Anlehnung an Walter Benjamins Baudelaire40 Rolf G. Renner, Edward Hopper – Transformation des Realen, Köln 1999, S. 7. 41 Ivo Kranzfelder, Edward Hopper – Vision der Wirklichkeit, Köln 2002, S. 116.

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Torsten Wunsch Studien der Blick des Entfremdeten. Das Montagehafte und Konzeptuelle in Hoppers Darstellungen entspricht der Schematisierung und Abstrahierung des Sinns im Verfahren der Allegorie. Seine Betonung des Fragmentarischen ist als destruktives Element ein allegorisches. Die Fiktionalität ist dem Maler wie dem Betrachter ständig vor Augen. Allegorie ist hier nicht als traditionelle Form der Renaissance und des Barock – als Code – verstanden, sondern als moderne Form. Ein modernes allegorisches Verfahren schafft sich im Sinne einer gesteigerten Subjektivität seine Emblematik und seinen Schlüssel jeweils selbst. Mit dem Steinmotiv ist bei Hopper eine Emblematik der saturnischen Versteinerung alles Lebendigen entfaltet. Der Blick des Grüblers trifft hinter der Oberfläche der Dinge stets auf die unausweichliche Wahrheit des Todes.“42

Die Kategorie des Bruchs wäre das Entscheidende, welches die dargestellten Dinge voneinander trennt, aber dadurch auch wieder neu vermittelt. Im Vergleich mit der Via Appia, unterstreicht Hoppers Bild auch noch einmal die Relativität der Wahrnehmung, die sich ja, wie Gombrich sagte, eigentlich als Suche einer Ordnung in der Unordnung darstellt. Die Schönheit des Pittoresken besteht im Grunde darin, keine Dominanz des Einen gegen das Andere, also auch des Schönen oder des Erhabenen, aufkommen zu lassen, sondern auch wieder die Vermittlung und das dialektische Aufgehobensein herauszustellen. In diesem Sinne kann sich natürlich auch moderne Architektur als Bruch mit dem Eklektizismus oder auch einer mittelalterlichen Altstadtstruktur darstellen, was durchaus als sehr wohltuend empfunden werden kann, weil es dem Auge eine Unterbrechung und Gliederung bietet und so zum Interpretieren und Nachdenken anregt.

Literatur Adorno, Theodor W., Gesammelte Schriften, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, 1973 Baum, Klaus, Die Transzendierung des Mythos – Zur Philosophie und Ästhetik Schellings und Adornos, Dissertation an der Universität Hamburg, Königshausen + Neumann, Würzburg, 1988 Beck, Hubert, Edward Hopper, Ellert und Richter Verlag, Hamburg, 1992 Benjamin, Walter, Gesammelte Schriften, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, 1974

42 Hubert Beck, Edward Hopper, Hamburg 1992, S. 40.

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Immanente Text-Bild Verhältnisse Bredekamp, Horst, Sandro Botticelli – La Primavera, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 2002 Buck-Morss, Susan, Dialektik des Sehens, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, 2000 Dällenbach, Lucien/Hart Nibbrig, Christiaan L. (Hrsg.), Fragment und Totalität, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, 1984 Derrida, Jaques, Die Schrift und die Differenz, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, 1976 Derrida, Jaques, Grammatologie, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, 1974 Eco, Umberto, Die Geschichte der Schönheit, Carl Hanser Verlag, München/Wien, 2004 Eco, Umberto, Einführung in die Semiotik, Wilhelm Fink Verlag, München, 1972 Erben, Dietrich, Die Kunst des Barock, Verlag C. H. Beck, München, 2008 Evers, Bernd (Vorwort), versch. Autoren, Architekturtheorie – von der Renaissance bis zur Gegenwart, Benedikt Taschen Verlag GmbH, Köln, 2003 Freud, Sigmund, Über Träume und Traumdeutungen, Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt/Main, 1971 Friedl, Friedrich/Ott, Nicolaus/Stein, Bernard, Typographie – Wann Wer Wie, Könemann Verlagsgesellschaft, Köln, 1998 Friedl, Friedrich, Thesen zur Typografie 1900 – 59, Linotype GmbH, Eschborn, 1986 Friedl, Friedrich, Thesen zur Typografie 1960 – 84, Linotype GmbH, Eschborn, 1985 Fuchs, Siegfried E., Die Kunstschrift, Verlag Aurel Bongers, Recklinghausen, 1982 Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode, J. C. B. Mohr, Tübingen, 1960 Gadamer, Hans-Georg (Hrsg.), Das Problem der Sprache, Wilhelm Fink Verlag, München, 1967 Gadamer, Hans-Georg, Habermas Jürgen, Das Erbe Hegels – Zwei Reden aus Anlaß des Hegel Preises, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, 1979 Gombrich, Ernst H., Die Geschichte der Kunst, Phaidon Verlag, Berlin, 16. Ausgabe 1995, sowie, Belser Verlag, Stuttgart, 14. Ausgabe 1987 und Kiepenheuer, 1. Ausgabe 1953 Gombrich, Ernst H., Die Kunst Bilder zum Sprechen zu bringen, Klett Cotta Verlag, Stuttgart,1993

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Torsten Wunsch Gombrich, Ernst H., Kunst und Illusion – Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Phaidon Verlag, Berlin, 6. Ausgabe 2002 Gombrich, Ernst H., Meditationen über ein Steckenpferd, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, 1978 Habig, Inge/Jauslin, Kurt, Der Auftritt des Ästhetischen – Zur Theorie der architektonischen Ordnung, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main, 1990 Hauser, Arnold, Soziologie der Kunst, Verlag C. H. Beck, München, 1988 Hauser, Arnold, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, Verlag C. H. Beck, München, ungekürzte Sonderausgabe in einem Band, 1967 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Werke in zwanzig Bänden, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, 1989 Kant, Immanuel, Werke in sechs Bänden, Könemann Verlag, Köln, 1995 Kim, Jung-Rak, Eine Untersuchung zu Giovanni Battista Piranesis Carceri: die im Architekturcapriccio verborgene Kunstkritik, Freiburg, 2003 (gedruckte Fassung bei print-on-demandwebservice) Kranzfelder, Ivo, Edward Hopper – Vision der Wirklichkeit, Benedikt Taschen Verlag GmbH, Köln, 2002 Miller, Norbert, Archäologie des Traums – Versuch über Giovanni Battista Piranesi, Carl Hanser Verlag, München/Wien, 1981 Moles, Abraham, Psychologie des Kitsches, Carl Hanser Verlag, München, 1972 Morris, Charles William, Grundlagen der Zeichentheorie/Ästhetik und Zeichentheorie, Carl Hanser Verlag, München, 1972 Oettermann, Stephan, Das Panorama – Die Geschichte eines Massenmediums, Syndikat, Frankfurt/M. 1980 Opitz, Michael/Wizisla, Erdmut, Benjamins Begriffe, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., 2000 Panofsky, Erwin, Was ist Barock?, Philo und Philo Fine Arts Berlin – Hamburg, 2005 Renner, Rolf Günter, Edward Hopper – Transformation des Realen, Benedikt Taschen Verlag GmbH, Köln, 1999 Stegmaier, Werner (Hrsg.), Kultur der Zeichen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, 2000 Stemshorn, Max/Grötz, Susanne (Hrsg.), Vision Piranesi, Wasmuth Verlag, Tübingen, 2002

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Immanente Text-Bild Verhältnisse Stetter, Christian, Schrift und Sprache, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, 1999 Tiedemann, Rolf, Studien zur Philosophie Walter Benjamins, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, 1973 Walther, Ingo F., Malerei der Welt, Benedikt Taschen Verlag GmbH, Köln, 1995 Wanetzky, Harald, Typotektur – Architektur und Typografie im 20. Jahrhundert, Dissertation an der Universität Freiburg, Freiburg, 1995 Wilton-Ely, John, Giovanni Battista Piranesi – Vision und Werk, Hirmer Verlag, München, 1978 Zimmer, Robert, Edmund Burke – zur Einführung, Junius Verlag GmbH, Hamburg, 1995

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Mediumistische Bilder als Karikaturen und Collagen unterbewusster Prozesse Albert von Schrenck-Notzing und seine Materialisationsphänomene TIMON KUFF »Seele ist ein Verdampfungsprodukt kochender Zeit, eine Nebensache. Sie kann in die Luft gehen.« (Paul Gurk)

Die vorliegende Studie versteht sich als ein Beitrag zu der lange überfälligen Analyse jener zwischen Psychologie, Okkultismus und Kunst oszillierenden mediumistischen Privatforschung, deren Hauptexponent in Deutschland der in München ansässige Suggestionstherapeut und Nervenarzt Freiherr Albert von SchrenckNotzing (1862–1929) war. Schrenck-Notzings bekanntestes Medium wurde die Französin Marthe Berault, alias „Eva C.“. Sie war die Hauptdarstellerin und -produzentin in dessen Werk Materialisationsphänomene. Ein Beitrag zur mediumistischen Teleplastie. (Mit 150 Abbildungen und 30 Tafeln), das bereits Ende 1913 (offizieller Druckvermerk 1914)1 im Verlag von Ernst Reinhardt in München erschien. In der über 13 Jahre währenden Zusammenarbeit mit Eva C. nutzte Schrenck die Fotografie, um seine Ergebnisse in den Korpus der Wissenschaften zu implementieren. Der visuellen Argumentation zur Seite stand die Analyse der scheinbar unerklärbaren, vom Medium produzierten Erscheinungen. Im so genannten wissenschaftlichen Okkultismus bündeln sich somit zentrale Fragen, die um das Verhältnis der Vermittelbarkeit und Abbildbarkeit von Körper und Geist kreisen. Das historische Beziehungsgeflecht von bildwissenschaftlichen, biologischen, psychologischen bzw. parapsychologischen Fragestellun-

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Im Text nachfolgend zitiert als: Schrenck-Notzing 1914.

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Timon Kuff gen bedarf heute einer Dekonstruktion, um zu einer Rekonstruktion und bildsemantischen Neubewertung vorzudringen.2

Psychologie der Karikatur und Mediumismus Im Folgenden bietet es sich an, die Relevanz der photographischen Phantombilder, welche die Materialisationsphänomene ja erst strategisch wirksam machen konnten, in Zusammenhang zu bringen mit Überlegungen zur Psychologie der Karikatur, wie sie in Anlehnung an die Theorien Sigmund Freuds in den 1930er Jahren von Ernst Kris vorgenommen wurden.3 Kris behauptet in seiner Studie zur Psychologie der Karikatur, dass der individuelle Lustgewinn der Karikatur darin bestehe, dass ein „Überladen, Beladen des Vorbildes“ komisch empfunden werde, da „Die Verzerrung des Bildes [...] eine Entstellung des Vorbildes [vertritt].“4 Kris spricht in diesem Zusammenhang auch vom „zweischneidigen Charakter komischer Phänomene“5, was er im Anschluss an Freud und Reik damit begründet, dass das Komische „aus dem Konflikt zwischen Triebtendenzen und ihrer Zurückweisung durch das Über-Ich“ entstehe und „seinen Ort in der Mitte zwischen Lust und Unlust“6 habe. Wenn nun die Bilder aus übersinnlicher Sphäre mit normativen Begriffen gefasst werden sollten, könnte man diese Bilder nicht auch als Karikaturen ansprechen? Ernst Kris behauptet, dass die Karikatur den Zuschauer zu einer „bestimmten Vorstellungsleistung zu verleiten suche“7: „Diese Entwicklung von einer primitiveren (magischen) zu einer höheren Stufe des Vorgangs ist von entscheidenden Veränderungen im Bild selbst begleitet. Auf der Stufe des magischen Denkens sind die Züge des Bildes von ge-

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Die Arbeit ist, mit einigen Veränderungen meiner Dissertation Okkulte Ästhetik. Wunschfiguren des Unbewussten im Werk von Albert von Schrenck-Notzing entnommen, die im Herbst 2011 im PsychosozialVerlag erscheint. Im Folgenden wird der ursprünglich in englischer Sprache verfasste Aufsatz von Ernst Kris über „Psychologie der Karikatur“ in der deutschen Rückübersetzung von Peter Schütze zitiert. Entnommen der Textsammlung: Ernst Kris: Die ästhetische Illusion. Phänomene der Kunst in der Sicht der Psychoanalyse. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1977. Kris 1977, S.152. Ebd. Ebd. Ebd., S.157.

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Mediumistische Bilder als Karikaturen und Collagen ringer Bedeutung; auf der Stufe, der die Karikatur angehört, ist deren Ähnlichkeit eine Voraussetzung für die soziale Funktion des Bildes. Sie ist das Ergebnis einer bestimmten, obwohl nicht leicht bestimmbaren Einstellung auf die Wiedergabe der Wirklichkeit […].“8

Was Kris zu der wichtigen Feststellung bringt: „Ähnlichkeit ist eine Grundbedingung der Karikatur.“9 Überträgt man dieses Funktionsmodell auf die Versuche von Schrenck-Notzing, so lassen sich hier die Anzeichen einer systematischen Regression erkennen: Schrenck ging in der Arbeit mit Eva C. auf die Suche nach bestimmten Urbildern, wobei die Vorstellungsdynamik immer an den Leib des Mediums gebunden blieb. Gleichzeitig wurde dieses regressive, manisch-magische Verlangen nach neuen Bildern begleitet von der progressiven Bestimmung und Einordnung dieser Artefakte im Sinne einer evolutionären Matrix. Diese sprachliche Überhöhung erfolgte im Einklang mit der subjektiven Befriedigung durch die vom Medium gelieferten Bilder. Das „Ideoplastische“ – fast schon eine Kategorie des Erhabenen wurde beim Medium Eva C. als biodynamische Kategorie behauptet und dadurch entscheidend erweitert, dass nun eine okkulte Materie, das Ektoplasma (von Schrenck-Notzing auch Teleplasma genannt) hinzukam, die angeblich durch den (unterbewussten) Willen des Mediums gesteuert werden konnte, und bestimmte Formen und Figuren zu bilden in der Lage war. In der „Nussschale“ eines Medienkabinetts vollzogen sich, gleichsam wie in einer Zeitmaschine oder alchemistischen Retorte, evolutionäre Prozesse. Dreh- und Angelpunkt dieses Geschehens blieb jedoch auch hier der Körper des Mediums, wie Schrenck-Notzing am Beispiel von Eva C. beschrieb: „Der elementarste zunächst der Beobachtung sich darbietende Vorgang ist das Auftreten eines zusammengesetzten und bewegten Stoffes am Körper des Mediums. Stadium der teleplastischen Evolution [...] Die Stücke selbst [...] hängen in der Regel zuerst mit dem Körper des Mediums zusammen durch eine lange, dehnbare Schnur oder durch einen Faden (Nabelschnur?) [...] Im Stadium der Entwicklung oder Aufbildung (Evolution) vergrößert sich die teleplastische Substanz [...]Nach ihrer Loslösung zeigt jedoch die teleplastische Subtanz selbstständige Eigenbewegungen [...] in ganz einwandfreier Weise konnte die Bewegung dieser reptilartigen Materie auf dem bloßen Körper [...] festgestellt werden. [...]Das Zurücktreten der Substanz (Sta-

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Ebd. Ebd.

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Timon Kuff dium der Rückbildung, Involution oder Disvolution) erfolgt vielfach in Form einer plötzlichen, sprunghaft schnellen Bewegung auf den Körper des Mediums zu, der offenbar die Substanz wieder in sich aufnimmt oder resorbiert.“10

Abb. 1: Eva C. mit materialisierter Mona Lisa, Aufnahme vom 14. 2. 1912 (v. Juliette Bisson)

Die wissenschaftlich maskierte Leidenschaft für die Materialisationsphänomene geriet real immer stärker außer Kontrolle, wobei in einer Umkehrbewegung nun bezeichnenderweise der Topos der Kontrolle (Betrugskontrolle, Kontrolle der Technik, der Teilnehmer, der Bilder, der Protokolle etc.) immer stärker zum diskursträchtigen Problem innerhalb des wissenschaftlich sich nennenden Mediumismus hoch gepusht wurde. Schrenck sah sich zunehmend hin- und hergerissen zwischen den an ihn herangetragenen, heterogenen Wünschen nach mehr Wissenschaftlichkeit und dem eigensüchtigen Verlangen nach neuen Bildern. Die allumfassende Kontrolle suggerierte klare Grenzen, aber exakt hier manifestierte sich ein evidenter Widerspruch; denn in der inneren Natur der Phänomene, um die es Schrenck ging, lag es begründet, dass sie keine klar umrissenen Ränder hatten und mithin auch nicht vollständig kontrolliert werden konnten. Fasst man die Phänomene als frei gewordene, emotionale Impulse auf (die das Medium zur Konstruktion von sichtbaren Objekten veranlasste), so übernahm Schrenck in diesem Spiel mit beispielloser Hingabe den halsstarrigen Gegenpart; denjenigen, der den Humor dieser

10 Schrenck-Notzing 1914, S.498ff.

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Mediumistische Bilder als Karikaturen und Collagen Dinge nicht verstehen konnte und deshalb umso hartnäckiger an der Entschlüsselung der Phänomene arbeitete.11 Die Verbissenheit mit der Schrenck diese Dinge nach Außen hin immer stärker zu seiner ganz eigenen, persönlichen Geschichte gestaltete, verrät die bedrängte und unfreie innere Situation des Freiherrn. Ernst Kris hatte auf diese Nachbarschaft von Humor und Wahn luzide hingewiesen: „‚Die pathologische Parallele zur Komik‘ ist die Manie. […] Wir dürfen sie als das pathologische Korrelat der Komik betrachten. Wir wissen, dass sie durch den Triumph des Ich gekennzeichnet ist, zu dessen Gunsten das Über-Ich seiner Macht entsagt hat.“12

Es konnte, nach Schrenck-Notzing, über die zwittrigen Produkte des Unbewussten ehrfürchtig und angestrengt nachgegrübelt werden und die mehr oder weniger aussagekräftige Physiognomie, die Mimik und der veristische Charakter dieser zweidimensionalen Folien bewertet werden – nur gelacht werden durfte nicht. Es liegt nahe, dass diese Verbrämung mit dem exklusiven Charakter der Dunkelsitzungen direkt zusammenhängt. In dem verkapselten privaten Bereich wo die Geschehnisse stattfanden und von dem die Öffentlichkeit weitestgehend ausgesperrt blieb, konnten nur noch hermetische, selbstinduzierte Karikaturen entstehen. Die großbürgerliche Zauberbühne erschaffte sich im Separée ihre eigenen kunstähnlichen Produkte primär durch die kollektive Tätigkeit von Versuchsleiter und dressiertem Medium. Nicht von ungefähr taucht in den Beschreibungen von Schrenck-Notzing das Wort Maske auf, es wird sogar der Begriff der Totenmaske genutzt, um die seelenlosen Produktionen zu umschreiben: „Dieses ganze, deutlich im Relief hervortretende Gebilde ist vergleichbar mit einer äußerst rohen Bildhauerskizze aus weißem, weichem, nachgiebigem Material, einem ersten Entwurf zu der Totenmaske eines Männerantlitzes.

11 Albert Moll verweist auf die prekäre Differenzierung von SchrenckNotzing, der behauptete, dass es bei bestimmten Seancen nur um „Gesellschaftsspiele“ ginge, die nicht vergleichbar seien mit seinen wissenschaftlichen Sitzungen. Moll kommentierte diese Aussage so: „Wenn die Sache zu schlimm wird, wird aus der Sitzung ein Spiel“ (Albert Moll: Psychologie und Charakterologie der Okkultisten. Ferdinand Enke 1929, S.37).

12 Kris 1977, S.160.

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Timon Kuff [...] Die Schöpfung erweckt den unmittelbar überzeugenden Eindruck eines elementaren Naturproduktes.“13

Abb. 2: Eva C. am 1. November 1911 (Paris) Blitzlichtaufnahme von Schrenck-Notzing,

Quelle: Materialisationsph. Tafel 3

Das scheinbar Natürliche wird dogmatisch gegen ein ideales Vorstellungsbild von „Kunst“ gestellt, immer wieder findet sich diese Dualität in den Darlegungen Schrenck-Notzings, womit lediglich die eigene intellektuelle und emotionale Unsicherheit unscharf maskiert wurden. Somit hat es den Anschein, als wolle SchrenckNotzing in jedem Falle der Erkenntnis ausweichen, den der Zeichencharakter der Bilder schlagend offenbart. Die „Kopflosigkeit“, die Maskierung oder die Porträtbildnerei des Mediums dokumentiert den Reichtum der Metamorphosen, die den Versuchsleiter zu einer Stellungnahme veranlassen sollten.

13 Schrenck-Notzing 1914, S.197.

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Mediumistische Bilder als Karikaturen und Collagen Abb. 3: Eva C. am 5. November 1911 in Paris, Blitzlichtaufnahme von Schrenck-Notzing,

Quelle: Materialisationsph. Abb. 45

Abb. 4: Eva C. mit verhülltem Gesicht. Blitzlichtaufnahme vom 16. 8. 1911 (A. v. Schrenck-Notzing)

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Timon Kuff Die Photographie vom 16. August 1911, in der Eva C. hinter den halbgeöffneten Vorhängen, mit einem kapuzenartigen Gebilde auf dem Kopf sichtbar wird, zeigt eine Maskierung, bei der die Tendenz zur Negation des Gesichts nahezu perfektioniert ist. Schrenck-Notzing bemerkte hierzu lediglich, dass das „Medium offenbar bestrebt [war], mit Hilfe seiner teleplastischen Gebilde zu maskieren.“14 Das man, wie Michel Leiris 1931 über die Ledermasken seines Freundes Seabrook bemerkte, „aus der Verbergung und Verneinung eines Gesichts eine tiefe Lust ziehen kann, – eine Lust, die zugleich erotisch ist und mystisch, wie alles was 15 unter dem Zeichen der vollkommenen Exaltation steht“ , wurde vom Versuchsleiter nicht einmal ansatzweise in Erwägung gezogen. Dies hätte unweigerlich jene Grenzen tangiert, die in der elaborierten Sprache über die exzessiven Bilder mit aller Gewalt aufrechterhalten werden sollten. Es hätte bedeutet, die symbolische Gewalt über das Bezeichnete zu verlieren. Aus diesem Grunde wurde von Schrenck-Notzing jedes abgebildete Photo auf mitunter fast einfältige Weise „zu getextet“. Das Ausbleiben der sprachlichen Versicherung hätte für den Referenten das Eingeständnis bedeutet, dem Bild nicht gewachsen zu sein, was zwangsläufig zu einer Offenlegung der Umkehrung der Machtverhältnisse zwischen Medium und Versuchsleiter geführt hätte. Statt die subversive Struktur des Spiels zu erkennen, verirrte sich der Versuchsleiter in mitunter absurde Beschreibungen und Vergleiche, die ungewollt komisch wirken: „Wir kommen nun zu der Maske selbst [...] Das dem Bau einer Nase entsprechende Organ in demselben ist viel zu lang und viel zu sehr gebogen, missgestaltet und erinnert an die Nase des Cyrano de Bergerac. [...] Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, der unbekannte Bildner habe sein Werk nicht vollendet, sondern sei bei der Arbeit durch das Blitzlicht überrascht worden. In diesem Fall würde der Rest des verwendbaren Materials auf der Stuhllehne liegen geblieben sein. [...] Aber die Maske scheint hohl zu sein, und nichts in derselben trägt den Charakter des Lebens.“16

14 Ebd. S.178. 15 „Das ‚caput-mortuum‘ oder die Frau des Alchemisten“ (Erstdruck in französischer Sprache in der Zeitschrift Documents 2.Jg. Nr.8, 1931), hier zitiert nach: Michel Leiris: Das Auge des Ethnographen. Ethnologische Schriften Band 2. Übersetzt von Rolf Wintermeyer. Herausgegeben v. Hans-Jürgen Heinrichs. Frankfurt a. M. 1985. 16 Ebd. S.200–203.

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Mediumistische Bilder als Karikaturen und Collagen Ist aber nicht genau dieses Hohlsein gemeinhin charakteristisch für eine Maske? Und verweigerte Schrenck mit dieser banalen Feststellung nicht die Auseinandersetzung mit der damit unmittelbar zusammenhängenden Frage, was denn hinter der Maske stecken könnte? Schrenck kam immer wieder an eine solche Benennungs- bzw. Sprachgrenze, da er die Maske nur als Metapher für ein Bild nehmen wollte, das aus einer noch unbekannten Materie gebildet zu sein schien. Den Charakter der unfreiwilligen Karikatur konnte er aus diesem Grunde nicht anerkennen, obwohl er annäherungsweise Aspekte erkannte, die eine solche Deutung nahe gelegt hätten. Der begriffliche Rahmen impliziert zwar Aspekte hiervon, überführte diese aber sogleich in eine mächtige Worthülse mit Unschärferelation. Die Rede von den „ideoplastischen Vorstellungsbildern“ kennzeichnet diese als projizierte Karikaturen, indirekte, „über Bande gespielte“ Wunschvorstellungen. In diesem Sinne handelt sich bei den Fotografien um Kippbilder, in denen der Umschlag von Lust und Unlust direkt ablesbar ist. Ähnlich wie die krisengeschüttelte Moderne in Ausprägung neuer literarischer und bildkünstlerischer Ausdrucksformen auf anderen Feldern ebenfalls Wege suchte, um einen ethisch-ästhetischen Neuanfang zu initiieren, lässt das paradoxe Spiel mit dem Unbekannten, wie es Schrenck-Notzing exerzierte, allerdings nur wenig utopischen Spielraum, weil es gebunden bleibt an die subjektiven und neurotisch geprägten „Welten“ der direkt am Prozess Beteiligten. Diesen spezifischen, ästhetisch-soziologischen Konnex hatte nahezu zeitgleich mit Schrenck-Notzing Hans Freimark für die Kunst der 17 Medien nachgewiesen. Schrenck-Notzings Versuch, Konstruktionen des Imaginären als Konstruktionen des Realen zu verkaufen, musste in einer erkenntnistheoretischen Sackgasse münden. Aber immer dort, wo das Ungebundene, Chaotische aus den Rändern des notdürftig gezimmerten, sich als Wissenschaft missverstehenden Rahmens heraustrat, überlappte und so seinen wirklich unkontrollierbaren Anteil sichtbar werden liess, konnte es als Negatives wirksam werden. Ob Schrenck wirklich willens war, dieses Inkommensurable dingfest zu machen, erscheint zum mindesten fraglich. In diesem Sinne muss auch die Frage, ob es sich nun bei den Fotografien der Erscheinungen um unbewusste

17 Hans Freimark: Mediumistische Kunst. Mit einem Beitrag über den Wert mediumistischer Malereien von Eugen Johannes Maecker (Beiträge zur Geschichte der neueren Mystik und Magie, Heft 2) Verlag von Wilhelm Heims, Leipzig 1914.

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Timon Kuff Karikaturen handelt oder um Karikaturen des Unterbewussten handelt, offen bleiben, denn die Antwort muss unterschiedlich ausfallen, je nachdem, aus welchem Blickwinkel die Betrachtung erfolgt.

Die Collage als künstlerische Methode und in der mediumistischen Performance Dass das konkrete Zeitgeschehen sich nachhaltig in die Wirkungsgeschichte von Büchern einprägen kann, ist eine Tatsache, die konstatiert werden muss, ohne damit eine inhaltliche Wertung auszudrücken. So muss die Rezeptionsgeschichte der Materialisationsphänomene vor dem Hintergrund ihrer Publikation kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges beachtet werden. Das Buch wurde bei seinem Erscheinen aufmerksam registriert und kontrovers rezensiert, doch die Diskussion über die Materialisationsphänomene wurde von den politischen Ereignissen überwölbt und in die Schranken gewiesen. Der Erste Weltkrieg wurde frühzeitig als „Materialschlacht“ bezeichnet, da die Soldaten in den unsäglich grauenvollen Grabenkämpfen wie Gegenstände „verheizt“ wurden und weil andererseits eine, im Vergleich mit früheren kriegerischen Auseinandersetzungen, schier gigantische Kriegsindustrie zum Einsatz kam. Die menschliche Materialschlacht war zweifellos bedeutsamer und realer als die Produktion und mediale Reproduktion jener Materialisationsphänomene, die anhand der gezeigten Prothesenhaftigkeit und Zergliederung menschlicher Klischees unbewusst die Schrecken des Krieges als Simulakren einer sinistren Doppelbelichtung in einem völlig anderen Kontext bildtechnisch in Szene setzten. Denn das zerrissene und fetzenartige Aussehen dieser vermeintlich ideoplastisch erzeugten Bilder war teilweise gar nicht so unähnlich demjenigen der, von Waffengewalt getöteten oder entsetzlich verstümmelten Soldaten oder Zivilisten. Den Bildern von Otto Dix etwa, der die entwurzelten Kriegskrüppel ungeschönt porträtierte und die humanitäre Katastrophe und die sozialen Folgen des Krieges gnadenlos direkt zeigte, sind die Werke von George Grosz an die Seite zu stellen, welche die Doppelmoral der Herrschenden und das spätbürgerliche Wertesystem mit scharfer Feder attackierten. Der sezierende Blick des Künstlers auf die Triebkräfte der gesellschaftlichen Schichten bediente sich vielfältiger Techniken, um seine Visionen zur Darstellung zu bringen. Grosz schuf Anfang der 1920er Jahre eine Reihe von Collagen, die er mit der Sammelbezeichnung Materiali326

Mediumistische Bilder als Karikaturen und Collagen sation versah und in denen er, allgemein gesprochen, die Beziehung der Individuen zueinander thematisierte. Abb. 5: Nummer Fünf der Mappe Mit Pinsel und Schere. 7 Materialisationen

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Timon Kuff Eines der rätselhaftesten dieser Bilder (Nummer Fünf der Mappe Mit Pinsel und Schere. 7 Materialisationen, die 1922 im Berliner Malik Verlag publiziert wurde) zeigt eine von Grosz gemalte Frau im Negligee und mit deutlich sichtbarer Scham, die sich im Halbprofil neben einer hybriden, humanoiden Figur befindet, welche aus Prothesen, Maschinenteilen und Zahlenreihen zusammengesetzt ist. Der Bildraum ist kubistisch verschachtelt, zeigt den fragmentarischen Teil einer Häuserfront, den Ausschnitt eines Fensters und links oben das kleine Foto einer jungen Frau mit Bubikopf im Profil mit geschlossenen Augen. Es hat den Anschein, dass die zwei, abgetrennt für sich arbeitenden Hände über dem Kopf des Maschinenwesens permanent bestimmte Zahlen implantieren, was die sinn- und zweckfreie Konstruktion möglicherweise beseelen soll, wie das Zauberpapier den aus Lehm geformten Golem in der jüdischen Mythologie. Die ins Dunkle greifenden Hände der Frau wirken seltsam verkrampft und der rechte Unterarm scheint gar nicht richtig dem Körper zugehörig; auf dem Unterarm ist die, einer Hand ähnelnde Struktur auszumachen, die nach der Brustwarze zu tasten scheint; auch der linke Arm wirkt seltsam prothesenartig appliziert am deutlich sexualisierten Leib der Frau.. Im Zusammenhang wirken die Bildelemente wie eine alptraumhafte Episode; möglicherweise könnte die sonderbare Szenerie aber auch ein Bild darstellen, das durch eine Suggestion erzeugt wurde. Das kleine Foto des Frauenkopfes – ein Medium in Trance zeigend? – steht in seltsamer Beziehungslosigkeit zu allen übrigen Motiven. Vielleicht ist gerade dieser „Bubikopf“ der Sender – oder Empfänger des dargestellten bizarren Materialisationsaktes, und das Blatt zeigt das Medium und den seltsamen Vorstellungsinhalt des medial Vermittelten. Auffallend sind die krüppelhaft verformten Glieder der Frauengestalt und ihre seltsame Gewandung. Insbesondere die ungewöhnliche Kopfbedeckung, die auskragend zu den isolierten Händen hinüberragt, lässt an eine ektoplasmatische Schleierkonstruktion denken; und isoliert man den Kopf mit Hut, wirkt er fast wie ein Double jener, von Eva C. in „guten“ Sitzungen hervorgebrachten und von Schrenck-Notzing fotografierten mediumistischen Kopfbildungen: So scheint das Blatt von Grosz, das mit ätzendem Humor die Beziehungslosigkeit und seelische Kälte der Zeit karikiert, wie durchwirkt von Bildelementen, die jenen Phänomenen stark ähneln, die der Seelensucher Schrenck-Notzing auf die fotografische Platte bannte. Möglicherweise liegt hier eine ästhetische Transformation der mediumistischen Zeugnisse vor, die in den Materialisationsphänomenen publiziert wurden; inwieweit Grosz bewusst

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Mediumistische Bilder als Karikaturen und Collagen auf diese Ikonographie zurückgegriffen hat und er mit seiner dadaistischen Collage einen kommentierenden Beitrag zum Thema Mediumismus beabsichtigte, muss einstweilen offen bleiben.18 Dass höchstwahrscheinlich auch die, von Eva C. in die Sitzungen mit eingeschmuggelten Bilder zuvor „mit Pinsel und Schere“ zu Stande gebracht wurden, nähert die inhaltlich ungleich spannungsloseren Schöpfungen der Materialisations-Aktrice auf prekäre Weise den Werken des dadaistischen Collagekünstlers an. Immerhin kann die harte und radikale Bildsprache von Grosz auch als ein anti-mediumistischer Gegenentwurf zu den normativen Bildentwürfen der angestellten physikalischen Medien gelesen werden, der nicht so leicht zu entschlüsseln ist wie die supranaturalistischen Elaborate von Eva C.. In den erkennbaren „Brüchen“ und Nahtstellen der künstlerischen Collage sind die Bedingungen ihrer Entstehung mit eingearbeitet worden. Während die Faltungsspuren der papiernen Köpfe und Masken von Eva C. eher als Indiz für den „Betrug" des Mediums genommen wurden, verweist die Kunst der Collage im Akt des Zerschneidens und NeuZusammensetzens genau darauf, dass eine Perfektion im Ausdruck bewusst vermieden werden sollte. Die ästhetische Komplexität, wie sie etwa die Collagen von Grosz auszeichnet, war in den Fotografien der Bilderproduktionen der Medien in der Regel nicht aufzufinden, was Schrenck-Notzing allerdings nicht anzufechten schien. Im Gegenteil behauptete er in einer konsequenten Umdrehung der gegen die Echtheit der Phänomene gerichteten Argumentation, dass „der mysteriöse Charakter der psychodynamischen Phänomene [gerade] darin [besteht], dass sie die verschiedensten Möglichkeiten und Kausalbeziehungen bieten, dass sie uns also auch solche visuellen Eindrücke zu erzeugen vermögen, welche die größte Ähnlichkeit mit Dingen aus der uns bekannten Welt besitzen. Die unbekannte, vielleicht psychisch bedingte Kraft bedient sich, sobald sie sich für unsere Sinne realisiert oder materialisiert, einer uns bekannten Bildersprache, um überhaupt für uns verständlich zu sein.“19

18 Grosz waren die Werke von Schrenck-Notzing zumindest nicht unbekannt, was auch noch in einem Brief vom 23.10. 1946 aus Amerika nachklingt, als er einen „Wäschespuk“ ironisch mit den Worten kommentiert: „Ich wusste natürlich durch Däubler und Schrenk [sic!], dass sogenannte Geister ‚schelmisch‘ sind […].“ (George Grosz: Briefe 1913–1959. Herausgegeben von Herbert Knust. Reinbek 1979, S.380). 19 Schrenck-Notzing 1914, S.485.

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Timon Kuff Schrenck-Notzing hypostasierte damit seine eigenen Fotografien als Doubles des Realen und verklärte diese zu einzigartigen Dokumente mediumistischer Kunst. Das konnte aber auch heißen, dass hier Karikaturen unters Volk der Gläubigen gebracht wurden, welche jenen Reproduktionen eines schlichten Bildverständnisses auffallend ähnlich sahen, denen die ganze geballte BildKritik von Grosz galt. Die fotografischen Bilder wurden von Schrenck-Notzing immer aus dem Kontext Ihrer Entstehung interpretiert. Erst das unerhört komplexe, performanceartig zelebrierte Schauspiel der „mediumistischen Geburt“ auratisierte auf dieser Weise die Schöpfungen von Eva C. Der Kontrast zwischen der erregenden Entstehung der mediumistischen Bilder und den (fotografierten) abgebildeten Elaboraten, die als mehr oder weniger realistische Darstellungen keine phantastische Überhöhung zeigten, macht hingegen die eigentümliche Banalität des mediumistischen Bildes aus, das sich präsentiert als eine Versprechung ohne wirkliche Erfüllung. Genauso gewöhnlich wie die Bilder aus Illustrierten oder Magazinen, denen die mediumistischen Bilder entnommen waren, wurde diese Schlichtheit von Schrenck-Notzing anspielungsreich herangezogen zu ihrer Rechtfertigung: „Das Materialisationsprodukt hat oft die größte Ähnlichkeit mit den stofflichen Erzeugnissen unserer irdischen Erfahrung, die Unwahrscheinlichkeit in der Form und das oft kitschige Aussehen derselben reizt zu heftigstem Widerspruch. Aber aus äußerer Ähnlichkeit zweier Endeffekte, eines materialisierten und artifiziellen Erzeugnisses, sofort eine Wesensidentität zu folgern, ist unzuverlässig.“

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Diese absichernde Formulierung legt es nahe, zu fragen, welche Interpretation denn überhaupt zuverlässig sein konnte. Als rhetorische Aussage schien Schrenck damit lediglich ausdrücken zu wollen, das, solange dies nicht bildtechnisch zu beweisen war, eine „Unschuldsvermutung“ gegenüber dem Medium zu gelten habe. Da der Freiherr uneingeschränkter Herrscher über das Reich der von ihm gemachten fotografischen Aufnahmen war, er-

20 Albert von Schrenck-Notzing: „Methodologische Probleme des Okkultismus. Die Beweisführung der Paraphysik“ (1927), hier zit. n. Ders. Gesammelte Aufsätze zur Parapsychologie. Mit einer Einführung von Prof. Dr. Hans Driesch, einem Bildnis, 67 Abbildungen im Text sowie einer mehrfarbigen Tafel. Union Deutscher Verlagsgesellschaft, Stuttgart Berlin Leipzig 1929.

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Mediumistische Bilder als Karikaturen und Collagen übrigte sich allerdings die Frage nach einer korrekten "Spurensicherung" ohnehin. Auf der anderen Seite initiierte Schrenck durch seine mehrdeutige Aussage die Möglichkeiten einer Ausdeutung der vom Medium produzierten Erscheinungen. Insofern konnten einige Bilder aus dem Fundus der mediumistischen Fotografien auch – unbeabsichtigt oder nicht – ikonographisch in eine direkte Nähe zu christlichen Heiligenbildern geraten. Vergleicht man den Bildaufbau jener Fotografie vom 12.Februar 1918, die Dr. Gustav Geley in Paris von Eva C. und ihrer mediumistisch erzeugten „Kindfrau“ anfertigte, mit einem berühmten Gemälde Leonardos, der Madonna Litta, so sind die Gebärden von Eva denen der Maria zumindest auffallend ähnlich. Wie bei einer schrillen Travestie auf die christliche Heiligenlegende scheint hier der, frech in das Blitzlicht der Kamera „blickende“, vorgeblich medial erzeugte Mädchenkopf den Platz des Jesuskindes einzunehmen. Die Aufnahme der erschöpften Eva C. im Profil zeigt aber auch eine Mater Dolorosa des Mediumismus, was die Szene insgesamt vollends paradox erscheinen lässt. Die gelungene „mediumistische Geburt“ geriet so zu einer absurden PietaDarstellung, wobei die Lebendigkeit des „plötzlich vollständig“21 materialisierten Kopfes buchstäblich aus dem Rahmen fällt. Die Bivalenz des Blitzlichtphotos suggeriert den Konnex einer abendländisch-religiösen Tradition; gleichzeitig verstößt die physiognomische Fremdheit massiv gegen die ikonologische Konvention der bildlichen Überlieferung.

21 Gustave Geley: Hellsehen und Teleplastik. Ins Deutsche übertragen von Rudolf Lambert. Union Deutsche Verlagsgesellschaft. Stuttgart 1926, S.194

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Timon Kuff Abb. 6: Die Madonna Litta von Leonardo da Vinci (Hochrenaissance 1490)

Um die Konstellation der dargestellten Figuren hervorzuheben, wurde der Bildhintergrund bei beiden auf dieser Tafel wiedergegebenen Abbildungen mit einem Bildbearbeitungsprogramm entfernt.

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Mediumistische Bilder als Karikaturen und Collagen Abb. 7: Blitzlichtphotographie aus einer Sitzung von Gustave Geley mit Eva C. (Paris 12.2.1918)

Quelle: GELEY 1926 Abb 25 „[…] Zu beachten ist, daß ich in dieser Sitzung weder die ursprüngliche teleplastische Substanz noch die fortschreitende Bildung des photographierten Kopfes beobachtete. Dieser Kopf tauchte plötzlich materialisiert am Vorhangsspalt auf.“ (GELEY 1926 S. 194)

Der Streit um die Echtheit der Fotografien hatte, von Gegnern wie Befürwortern, zu Versuchen geführt, diese Bilder nachzustellen; der Collage-Charakter wurde dabei konkret umgesetzt und bisweilen auf tautologische Weise selbst bestätigt. So auch von Schrenck-Notzing selbst in der erweiterten Neuauflage der Materialisationsphänomene (1923), womit er endgültig beweisen wollte, dass seine „echten“ Fotografien sich von jenen „Fälschungen“, die er eigens anfertigen ließ, deutlich unterscheiden sollten. Tatsächlich aber führte er ungewollt die eigene Tätigkeit ad absurdum, denn die nachträglich inszenierten Bilder unterschieden sich nur graduell von den angeblich mediumistisch erzeugten Bildern und bestätigten im Prinzip lediglich die Möglichkeiten einer beliebigen manuellen Manipulation. Ungerührt von diesem für ihn klägli-

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Timon Kuff chen Ergebnis wurde dem fotografischen Bild von Schrenck eine Authentizität zuerkannt, wobei die zeitliche Entfernung vom Akt seiner Entstehung zugleich die Potentiale zur weiteren Ausdeutung vergrößerte. Die Bilder der Seancen waren gewissermaßen das Kapital, mit dem gewirtschaftet werden konnte und auf die auch in laienhaft-naiver Weise eine ästhetische Theorie der okkulten Bilder appliziert wurde. Dabei wurde die eigentümliche Differenz der ästhetischen Qualitäten mit einer kühnen Selbstverständlichkeit zur Kenntnis genommen, wie viele Beschreibungen in den Protokollen der Séancen zeigen. So schreibt ein erwartungsvoller Schrenck-Notzing über die – ihn letztlich enttäuschende Differenz von Erlebnis und (fotografischem) Ergebnis: „In der künstlerischen Behandlung fehlt der naturalistische Zug, das Bild erscheint, wie viele der früheren, stilisiert und etwas schematisch konventionell im Ausdruck. Trotzdem sind die eigentlichen Gesichtszüge gut modelliert. Wiederum springt der große Gegensatz ins Auge: einerseits ein unter den besten Versuchsbedingungen während rascher Bewegung photographiertes mediumistisches Phänomen, andererseits das Resultat der Negative: Ein anscheinend aus Papier oder irgend einem Stoff geschnittenes und zeichnerisch ausgestattetes Kopfschema!“22

Obwohl Schrenck die Grundlagen der Wahrnehmungspsychologie, insbesondere die sinnesphysiologischen Studien über Wahrnehmungstäuschung sicher gekannt hat, glaubte er scheinbar felsenfest an das von ihm während der Sitzung Gesehene und verschob so das Problem von der individuell-psychologischen Seite auf die technisch-apparative Ebene. Bei den Bildern mit Eva C. schwankte der Versuchsleiter in der Beschreibung und Interpretation der Bilder zwischen psychologischer und kunstwissenschaftlicher Rede; Der Unterschied von Selbst-Erlebtem und dem, mittels Blitzlicht gnadenlos Ausgeleuchtetem ließ ihn zwischen Faszination und Enttäuschung taumeln. Die Kluft zwischen Selbstbeobachtung, Wunschbild und Realität vergrößerte sich im selben Maße, wie die Gläubigkeit hinsichtlich der Faktizität der Fotographie sich steigerte. Die Folge dieser subjektiven und methodischen Orientierungslosigkeit war die Entgrenzung ästhetischer Termini, welche nur mühsam die tatsächlich begriffliche Haltlosigkeit der beobachteten Dinge kaschieren konnten. Es wurde überzeichnet und zwar sowohl seitens des Mediums wie auch von dem, zwischen Verzücken und Verzagen hin und 22 Schrenck-Notzing 1914, S.339.

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Mediumistische Bilder als Karikaturen und Collagen her gerissenen Schrenck-Notzing, der durch diese Erscheinungen, die er selbst angestachelt hatte, zu den seltsamsten geistigen Verrenkungen verführt wurde. Schlussendlich blieb ihm nichts übrig als die mediumistischen Karikaturen als solche auch zu beschreiben. Jedenfalls nahm ihn die Überzeichnung, die Verzerrung im Wortsinn gefangen. Denn er konnte und wollte die Produkte seiner Muse Eva C. nicht negieren, selbst wenn deren „Qualitäten“ weder ästhetisch noch sonst wie wirklich überzeugten. Die Verengung der Perspektiven führte zu ungewollt komischen Aussagen, in denen sich genau jener Zwiespalt artikulierte, in den Schrenck-Notzing durch sein eigenes Tun und das von ihm inszenierte Treiben „seines“ Mediums geraten war. Immerhin gelang es ihm auch bei solchen Fotographien, die scheinbar offenkundig lediglich die (schlechte) Handarbeit des Mediums zu dokumentieren schienen, jene okkulte Ästhetik aufscheinen zu lassen, welche er entwickelte, indem er Worte ähnlich collagierte wie die Medien zuvor ihre Bilder. „Die Aufnahmen zeigen ein merkwürdiges, halbfertiges, in der Entwicklung stehengebliebenes Gebilde, welches in den Haaren des rechten Hinterkopfs am Medium befestigt ist und nicht größer zu sein scheint als das Gesicht eines neugeborenen Kindes oder einer größeren Puppe. Wollte man einen Vergleich machen, so könnte man sagen: Das Ganze sieht aus wie eine angefangene, halbfertige, nach der Natur empfundene weibliche Gesichtsmaskenskizze, komponiert aus einem Brei von aufgeweichter Pappe und schleierartigen Stofffetzen, oder etwa aus einer besonderen Plastilinmasse. [...] Die linke Seite ist verzeichnet resp. verzogen. Das linke Auge schielt.“23

Mit der tautologisch anmutenden Vokabel von der „Gesichtsmaskenskizze“ chiffrierte er die vermeintlich mediale Hervorbringung Evas und machte damit deutlich, das ihn selbst solche „Fehlbildungen“ des Mediums nicht den Verlust der Sprache kosteten, sondern, im Gegenteil, den Ansporn dazu gaben, die Forschungen weiterzuführen. Durch diese subjektiven Einschätzungen wurde der Diskurs über die bildkünstlerischen Fähigkeiten Evas aber auch auf die Erkennbarkeit in einem naturalistischen Sinne reduziert. Schrenck-Notzing definierte und bewertete die Hervorbringungen nach einer schlichten Taxonomie, indem er an den Bildern polaristisch entweder das Naturschöne oder das Kunstschöne hervorhob. Ließ sich ein Bild nicht in dieses Schema einordnen, wurde es als unwillkürliche Karikatur kritisiert bzw. es 23 Ebd. S.265.

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Timon Kuff wurden stilistische Mängel dazu genutzt, um den vermeintlich unwahren Charakter desselben hervorzuheben. Dieses Vorgehen im Sinne der Entlarvung praktizierte Schrenck-Notzing etwa im Falle von Ladislaus Laszlo, dessen, nach eigener Aussage manipulierte Erscheinungen nachträglich auch von Schrenck-Notzing fast durchgängig negativ beurteilt wurden, und die er von vermeintlichen „Spontanschöpfungen originären Ursprungs, wie sie sich in der ideoplastischen Traumphantasie vorfinden“24, streng unterschied. Doch selbst hier zeigte sich Schrenck-Notzing wankelmütig; Indem er die Hervorbringungen Laszlos nicht in toto als Betrug ansprach, hatte er sich ein Erkenntnistürchen als Notausgang offen gehalten und relativierte dadurch seine vorgebliche Radikalkritik. Im Gegensatz also zu Eva C., die zwar Schwankungen in der Qualität zeigte, mutmaßte Schrenck-Notzing beim verhassten Laszlo, dass sich die „Mangelhaftigkeit und Phantasiearmut jener Gebilde […] durch eine geringe künstlerische Einbildungsgabe erklären [könnte].“25 Damit entsprach im Sinne Schrenck-Notzings die konzedierte moralische Verkommenheit des ungarischen Mediums seiner Ausdrucksschwäche im Mediumistischen. Schrenck-Notzing übertrug mit diesem Analogieschluss die ethischen Maßstäbe der von ihm als Nervenarzt maßgeblich vorangetriebenen Suggestionstherapie auf die ästhetischen Manifestationen in den mediumistischen Dunkelsitzungen.26 Eva C. überzeichnete, indem ihre Hervorbringungen immer konkreter, anschaulicher wurden, bis hin zur bemerkenswerten Banalität des "Ganzphantoms", mit dessen Erscheinung sich nicht nur eine ikonologische Rückkoppelung zum überwunden geglaubten Spiritismus herstellte; auch die Maskenbälle der Schwabinger Boheme schienen hier auf eine geisterhaft-ironische Weise wiedergespiegelt zu werden. Gleichwohl beschrieb der pedantische Versuchsleiter auch diese – ihm merkwürdig ähnlich sehende – Figuration mit schmelzendem Pathos und führte sogar den Vergleich mit einem Abbild vom Heiland. Geradezu erlösend 24 Albert von Schrenck-Notzing: Der Betrug des Mediums Ladislaus Laszlo (Nachahmung von Materialisationsphänomenen) Mit 9 Abbildungen im Kunstdruck. Verlag von Oswald Mutze. Leipzig 1924, S.11 25 Ebd. 26 Über den methodischen Zusammenhang zwischen der psychologischpsychiatrischen Suggestionslehre und dem wissenschaftlichen Okkultismus vgl. Timon Kuff: Okkulte Ästhetik. Wunschfiguren des Unbewussten im Werk von Albert von Schrenck-Notzing (Dissertation Leuphana Universität Lüneburg 2010).

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Mediumistische Bilder als Karikaturen und Collagen klingen seine Bemerkungen, wobei ihm selbst der nachgerade gotteslästerliche Aspekt, dass die würdevolle Erscheinung zusammen mit einer nackten Frau abgebildet ist, als Novum in der mediumistischen Bildersammlung einer besonderen Erwähnung wert erscheint. Die Wunschfigur (welche bezeichnenderweise zunächst unter der Versuchsleiterin Juliette Bisson in Paris zur Erscheinung gebracht wurde) wurde von Schrenck-Notzing sogleich in die imaginäre Taxonomie der mediumistischen Erscheinungen eingereiht und bekam hier eine prononcierte Stellung zugewiesen. „Das regelmäßig geformt Gesicht drückt Ernst und Würde aus, wie ein konventioneller, stilisierter Christuskopf. [...] Mit dem Erfolg der Sitzung [...] wurde die vierjährige, aufopfernde Tätigkeit der Mad. Bisson in wohlverdienter Weise belohnt. [...] Überhaupt sind in der ganzen Literatur des Okkultismus [...] keinerlei Nachweise über Beobachtungen teleplastischer Projektion mit gleichzeitig sichtbarem unbekleidetem Medium zu finden.“27

„Ganzphantom“ (Ausschnitt) vom 23. Februar 1913

Quelle: Materialisationsph. Tafel XVIII

Das nackte Medium mit dem Ganzphantom, das zudem den Typus junger Schrenck-Notzing repräsentierte, wirkt so, als wolle Eva dem doppelgesichtigen Forscher sein Alter Ego als Pappfigur vorführen bzw. diesem einen Spiegel vorhalten, um sich an des27 Schrenck-Notzing 1914, S.391ff.

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Timon Kuff sen Verhalten zu ergötzen.28 Die Operation gelang, der Forscher schien tatsächlich platt vor befriedigtem Ehrgeiz, ohne die verstörende Absicht zu verstehen. Die absurde Szene markierte einen Höhe- und Wendepunkt innerhalb der Versuche. Exzentrischer konnte es nicht mehr werden. Es schien gewissermaßen die adäquate Antwort des machtvollen Mediums, wenn es seinen Förderer in kindlich-karikaturhafter Weise auferstehen lassen und die Konfrontation des dressierten Versuchsleiters mit seinem Abbilde dramatisch gestalten konnte. Zugleich symbolisiert das Bild vom nackten (schutzlosen) Medium mit dem geisterhaften Mann das Spiegelbild einer sozialen Klassenstruktur, welche hier auf raffinierte und durchaus klare Weise zur Darstellung gebracht wurde; auch die Fürsten früherer Zeit hatten ihre Porträtisten, nur musste bei diesem subtilen Bild völlig offen bleiben, ob es eine Hommage oder eine Verulkung sein sollte. Wichtig ist die Tatsache, dass Schrenck-Notzing sich offensichtlich nicht in dem Bilde wieder erkannte, was die Frage aufwirft, ob die Aufstellung des Ganzphantoms in ihrer unterstellten Intention möglicherweise doch ihr Ziel verfehlt hatte. Es scheint die bittere Ironie, dass der Schöpfer des Mediums (denn was wäre Eva C. ohne ihren Mentor und Versuchsleiter) sich in dem ernst dreinschauenden Phantom nicht selbst erkannte, sondern – zumindest offiziell – ganz in der objektiven Position des Forschers verblieb, den die direkte Nähe zum Objekt offenbar extrem kurzsichtig hatte werden lassen. Der Witz, so es denn einer gewesen war, blieb für ihn jedenfalls okkult. Die komische Ausdruckskraft jener Ganzphantome konnte Schrenck-Notzing nicht erkennen, weil die subjektiven Wunschfiguren des Unbewussten genau jene Bereiche überdecken mussten, an denen die reflektierte Wahrnehmung den unmittelbaren Seheindruck hätte korrigieren können: Mit Ernst Kris gesprochen, fehlte hier vielleicht „ein Stück Verarbeitung“, das „eine Vorbedingung für Komik“29 [ist]: „Ist diese Verarbeitung nicht gelungen, weil die Affektmenge noch zu groß ist, um einer Verarbei28 Eine Beobachtung, die bereits Gulat-Wellenburg in der ersten, äußerst kritischen Studie, die über die Materialisationsphänomene erschien, festhielt: „Jenes Phantom vom 24.März 1913 gleicht übrigens nach meiner Empfindung dem Baron Schrenck selbst: Die geheimnisvolle Kraft scheint also auch witzig zu sein.“ (Gulat-Wellenburg, in: Mathilde von Kemnitz: Moderne Mediumforschung. Kritische Betrachtungen zu Dr. von Schrenck-Notzing’s „Materialisationsphaenomene“. Mit einem Nachtrag von Dr. med. Walter von Gulat-Wellenburg und zwei Tafeln. J.F. Lehmann’s Verlag. München 1914, S.81. 29 Kris, a.a.O., S.158.

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Mediumistische Bilder als Karikaturen und Collagen tung durch Komik zugänglich zu sein, dann erfolgt ein Umschlag der komischen Wirkung von Lust zu Unlust.“30 Umso intensiver steckte Schrenck-Notzing alle ihm zur Verfügung stehende Macht, Energie und nicht zuletzt seine finanziellen Mittel in die „Arbeit“ mit Eva C. und erinnert damit an den unverbesserlichen, manischen Alchimisten aus der Erzählung Balzacs, der alle libidinösen Bindungen kappt im Glauben an seine Mission: „Die Liebe ist unermesslich groß, aber sie ist nicht unendlich; während die Wissenschaft grenzenlose Tiefen besitzt, in die ich dich allein vordringen sehen muss.“31

Schlussbemerkungen „Einstmals gab es nur ein Jenseits: das, nach dem Tode. Heute gibt es so viele Jenseits als es Forschungszweige gibt, denn überall führte das Nachdenken hinaus über die sinnfälligen Erscheinungen des Diesseits zu den transzendentalen Wurzeln des Geschehens.“

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Die Bilder der Materialisationsphänomene sind psychologisch, mentalitätsgeschichtlich und nicht zuletzt ästhetisch bedeutsam, weil sich in ihnen der Ausdruck vom Eindruck einer fetischistischen Ursprungssuche spiegelt. Schrenck-Notzings Projekt steht exemplarisch für ein gleichermaßen naturwissenschaftlich und bildästhetisch fundiertes epistemologisches Modell, welches sich im rationalen Wissenssystem verankert sehen wollte und nicht im Zusammenhang mystischer oder metaphysischer, gar okkulter Lehren, höchstens im Sinne einer „Aufklärung“ über solche Vorstellungen. Es offenbart eine gewisse Tragik, dass exakt dieser fast zwanghaft um Objektivität bemühte Habitus dazu genutzt werden konnte, den Versuchsleiter mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Der Simplicissimus brachte 1926, drei Jahre vor dem Tode Albert von Schrenck-Notzings eine Sondernummer „Okkultismus“ heraus, deren Titelblatt die groteske Verballhornung einer mediumistischen Sitzung zeigt33: Hier stellt sich offensichtlich

30 Ebd. 31 Honore de Balzac: Der Alchimist. Übersetzt von Emmi Hirschberg. Ernst Rowohlt Verlag, Berlin o.J., S.92. 32 Das Zitat von Friedrich Feerhow ist seiner Einleitung zur Novellensammlung Jenseitsrätsel entnommen. Das Buch wurde 1918 publiziert. 33 Die im Original farbige Zeichnung von Heine trägt den Titel „Spiritistische Sitzung“ (Simplicissimus Heft Nr.6, 31.Jg. vom 10.Mai 1926).

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Timon Kuff gar nicht mehr die Frage nach Parapsychophysik und der Genese der vermeintlich mediumistisch erwirkten Bilder: Das Phänomen Ektoplasma ist hier vom Künstler, dem bedeutenden Zeichner Thomas Theodor Heine, als (selbst)verständliche bildliche Metapher für eine Karikatur adoptiert worden, die eine zeitgebundene politische und mentalitätsgeschichtliche Aussage pointiert: Das unterschwellige Brodeln in der Weimarer Republik nach dem verlorenem Krieg und die Sehnsucht nach einer nationalen Führerfigur. Das Medium „channelt“ mittels Ektoplasma die adäquaten Figuren einer heroischen, imperialen Vergangenheit und macht diese dadurch sicht – und identifizierbar. Dem weiblichen Medium entströmen aus dem Mund und in Höhe des ausgestreckten Fußes die Erscheinungen von Bismarck und Friedrich dem Grossen. Bis in die Pickelhaube hinein formt das Ektoplasma den ersten Reichskanzler des deutschen Reiches nach und auch die bekannte Fritzkrücke des Preussenkönigs dient der Wiedererkennung. Musikalisch untermalt wird die Seance von einem Saxophon spielenden älteren Mann von professoralem Habitus. Er scheint dem Medium den passenden Marsch zu blasen, allerdings seltsamerweise mit einem Instrument, das sonst eher mit Swingoder Jazzmusik in Zusammenhang gebracht wird. Heine scheint hier bewusst bestimmte Symbole reaktionärer Geistwerdung mit zeittypischen Motiven der Swing-Ära zu mischen und die Textzeile unter der Darstellung lautet spöttisch und doppeldeutig: „Gebt dem Volk seine Geister-Erscheinungen wieder!“ Diese Bildwerdung aus dem Geist einer angenommenen nationalen Kollektivseele kodierte jene subtile Lehre der mediumistischen Zwischenstufen, der die okkulte Bildwissenschaft Schrenck-Notzings galt, scheinbar kaltschnäuzig um bzw. führte diese auf ihre spiritistischen Wurzeln zurück. Dabei trifft die Karikatur durchaus den Nagel auf den Kopf, indem Sie den unscharfen Deckungsbereich des mediumistischen Bildes zwischen Wunschbild und Selbstrepräsentation zugunsten einer recht eindeutigen Bildaussage demaskiert. Der Witz dieses Blattes ist allgemein verständlich, wenngleich die Komik aus heutiger Perspektive zugleich einen bitteren, weil vorausblickend- prognostischen Kern enthält. Diese Qualitäten aber konnten die aus vermeintlicher Seelentiefe stammenden Bilder der Materialisationsphänomene nicht aufweisen, was vielleicht auch ein Grund dafür ist, dass sie nach dem Tode Ihres Hauptorganisators weitgehend in Vergessenheit gerieten. Der Geisterglaube hatte sich längst ununterscheidbar vermischt mit dem, was Schrenck-Notzing glaubte als vermeintlich empirische „Tatsachenwirklichkeit“ bewiesen zu haben.

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Mediumistische Bilder als Karikaturen und Collagen

Literatur Hans Freimark: Mediumistische Kunst. Mit einem Beitrag über den Wert mediumistischer Malereien von Eugen Johannes Maecker (Beiträge zur Geschichte der neueren Mystik und Magie, Heft 2) Verlag von Wilhelm Heims, Leipzig 1914. Gustave Geley: Hellsehen und Teleplastik. Ins Deutsche übertragen von Rudolf Lambert. Union Deutsche Verlagsgesellschaft. Stuttgart 1926. George Grosz: Mit Pinsel und Schere. 7 Materialisationen. Malik Verlag, Berlin 1922 George Grosz: Briefe 1913-1959. Herausgegeben von Herbert Knust. Reinbek 1979. Ernst Kris: Die ästhetische Illusion. Phänomene der Kunst in der Sicht der Psychoanalyse. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1977. Michel Leiris: Das Auge des Ethnographen. Ethnologische Schriften Band 2. Übersetzt von Rolf Wintermeyer. Herausgegeben v. Hans-Jürgen Heinrichs. Frankfurt a. M. 1985. Albert Moll: Psychologie und Charakterologie der Okkultisten. Ferdinand Enke 1929. Mathilde von Kemnitz: Moderne Mediumforschung. Kritische Betrachtungen zu Dr. von Schrenck-Notzing´s „Materialisationsphaenomene“. Mit einem Nachtrag von Dr. med. Walter von Gulat-Wellenburg und zwei Tafeln. J.F. Lehmann´s Verlag. München 1914. Albert von Schrenck-Notzing: Materialisationsphänomene. Ein Beitrag zur Erforschung der mediumistischen Teleplastie. Mit 150 Abbildungen und 30 Tafeln. Verlag von Ernst Reinhardt, München 1914. Albert von Schrenck-Notzing: Materialisationsphänomene. Ein Beitrag zur Erforschung der mediumistischen Teleplastie. Zweite, stark vermehrte Auflage. Mit 275 Abbildungen auf 167 Tafeln. Verlag von Ernst Reinhardt, München 1923. Albert von Schrenck-Notzing: Der Betrug des Mediums Ladislaus Laszlo (Nachahmung von Materialisationsphänomenen) Mit 9 Abbildungen im Kunstdruck. Verlag von Oswald Mutze. Leipzig 1924. Albert von Schrenck-Notzing (Herausgegeben von Gabriele Freifrau von Schrenck-Notzing): Gesammelte Aufsätze zur Parapsychologie. Mit einer Einführung von Prof. Dr. Hans Driesch, einem Bildnis, 67 Abbildungen im Text sowie einer mehrfarbigen Tafel. Union Deutscher Verlagsgesellschaft, Stuttgart Berlin Leipzig 1929.

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Mayers Seelen-Fächer Johann Christoph Andreas Mayer (1747–1801) als Hirnforscher zwischen Äquipotenztheorie und Phrenologie WIBKE LARINK Johann Christoph Andreas Mayer (1747–1801) ist der Wissenschaftsgeschichte anscheinend durch die Lappen gegangen, wenn diese hinsichtlich der Gehirnanatomie passend scheinende Metapher gestattet ist, zumal als Hirnforscher. Wenig ist über den Leibarzt des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II überliefert. So möchte ich in meinem Beitrag zum einen für einen nahezu vergessenen Arzt und Wissenschaftler eine Lanze brechen, zum anderen ist es mein Ziel zu zeigen, dass wissenschaftliche Theorien – so auch Mayers Seelen- bzw. Hirnfunktionstheorien – nicht nur um Bilder ergänzt, sondern auch von Bildern gemacht werden. Theorien haben Einfluss auf Bilder, aber Bilder haben ebenso Einfluss auf Theorien. Anhand einer Analyse der Bildfunktionen als bildwissenschaftliche Methode zeige ich, welche Rolle die in Mayers Abhandlung vom Gehirn abgedruckten Bilder für ihn spielten und versuche, am Beispiel dieses Wissenschaftlers eine Antwort auf die Frage zu finden, ob sich die jeweils aktuelle Theorie über den Sitz der Seele im Gehirn an ihren jeweiligen Bilderzeugnissen ablesen lässt. In der Vergangenheit wurde die Erforschung der Hirnfunktionen weitgehend mit der Bestimmung des Ortes einer menschlichen Seele im Gehirn gleichgesetzt. So auch im 18. Jahrhundert. Voltaire (1694–1778) schrieb: „Wie schön wäre es, seine Seele zu sehen. [...] Wir nennen Seele, was beseelt. Mehr darüber wissen wir kaum dank unserer begrenzten Erkenntnis. Drei Viertel der Menschengattung fragen nicht weiter und beunruhigen sich um

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Wibke Larink das denkende Wesen nicht; das übrige Viertel sucht; niemand hat etwas gefunden, und niemand wird etwas finden.“

1

Diese Prognose hielt jedoch niemanden von der Suche ab! Im 18. Jahrhundert kam es zu einer sich stetig vollziehenden Ausdifferenzierung der „Wissenschafften“ in naturwissenschaftliche Einzeldisziplinen. In Deutschland, wie auch in Frankreich und England waren es Mediziner, Anatomen, Physiologen, die immer wieder auch das Gehirn als Untersuchungsobjekt wählten. Sie werden hier der Einfachheit halber als Hirnforscher bezeichnet, wenngleich dieser Terminus nicht besonders zutreffend ist. Die zentrale Stellung, die der kartesianischen Dualismus zu dieser Zeit einnimmt, hat dazu geführt, das die Philosophie der Aufklärung vielfach als ein Reagieren auf und ein sich Abarbeiten an Descartes begriffen wurde. Zumindest für den Bereich dessen, was wir heute Hirnforschung oder Neurowissenschaften nennen, trifft dies sicher zu. Dennoch waren auch ältere, bis in die Antike zurückreichende Theorien wichtig. Betrachtet man die Hirnforschung des 18. Jahrhunderts – ihre Protagonisten und Bilderzeugnisse – in Bezug auf das Seelenorgan, ist das Umschlagen von der Lokalisationslehre Thomas Willis’ (1621–1675) zur Äquipotenztheorie besonders augenfällig. Sie besagt kurz gefasst, dass das gesamte Gehirn Wirkungsbereich seelischer Kräfte ist, es also nicht ein spezielles Seelenorgan im Gehirn gibt. Die Mehrzahl der Ermittler in Sachen Funktionstheorie vernachlässigten die Suche nach dem einen Seelenorgan und verfolgten mit der Äquipotenztheorie einen globalen Ansatz. Dennoch kennzeichnet die Hirnforschung im 18. Jahrhundert auch eine Parallelität verschiedenster Forschungsansätze, wie die Versuche Julien Offray de La Mettries (1709–1751) oder später die Samuel Thomas Soemmerrings (1755–1830) und eben Mayers verdeutlichen. Belegt sind damit auch für die Zeit nach Haller noch Lokalisationsversuche. Das Seelenorgan wurde also durch ihn letztlich nicht in Frage gestellt.2 So schrieb Voltaire 1664 süffisant: „Die neueste Meinung besagt, [der Sitz der Seele] sei im Rückenmark: diesen Platz weist La Peyronie ihr zu; man mußte gewiß erster Chirurg des Königs sein, um solcherart über die Wohnung der Seele zu verfügen.“3

1 2 3

Voltaire (1984), S.711. Vgl. Hagner (2000), S.34f. Voltaire (1984), S.714.

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Mayers Seelen-Fächer

Abb. 1: Porträt Johann Christoph Andreas Mayers, Kupferstich von W. Arndt 1757

Quelle: Bilddokument ID10493 der Porträtsammlung Berliner Hochschullehrer in http://www.sammlungen.hu-berlin.de (1.6.2008).

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Wibke Larink Auch Johann Christoph Andreas Mayer diente am Hofe eines Königs, nämlich des preußischen. Er lehrte Botanik, Anatomie (1777 in Berlin) und Medizin (1778 in Frankfurt/Oder) und war ab 1787 der Leibarzt Friedrich Wilhelms II und Leiter des Botanischen Gartens. Will man bildwissenschaftlich, d.h. in diesem Fall physiognomisch an das Portrait Maiers (Abb.1) herangehen, spricht aus seinen freundlichen Augen, dem lächelnden Mund und den vollen Wangen Lebenslust. Diese dürfte er beispielsweise in der Freimaurerloge Zum aufrichtigen Herzen ausgelebt haben, indem er 1784 mit seinen Logenbrüdern Montgolfieren (Heißluftballons) fliegen ließ. Aus diesem biografischen Schnipsel könnte die kühne Schlussfolgerung gezogen werden, dass für Mayer, wie für viele seiner Zeitgenossen – allen voran Goethe –, naturwissenschaftliches Interesse von sinnlichem Erleben nicht zu trennen war. Diese Einstellung hatte durchaus Einfluss auf den Umgang mit visualisiertem Wissen: Evidenz zeigt sich bei dieser Forscher generation nicht zuletzt im Bild. In seiner Hirnforschung bewegte sich Mayer zwischen zwei Polen: der Äquipotenztheorie seiner Zeit auf der einen und der noch im Werden begriffenen Phrenologie auf der anderen Seite. Die Äquipotenztheorie hatte Mayer als Lehrmeinung des von ihm sehr bewunderten Albrecht von Haller (1708–1777) kennen gelernt. Mit der Phrenologie ist, vor allen anderen, der Name Franz Joseph Galls (1758–1828) verbunden. Gall und sein Forschungspartner Johann Caspar Spurzheim (1776–1832) hatten die Hirnrinde in Felder unterteilt, denen sie bestimmte Eigenschaften zuordneten, die durch Befühlen des Schädels gedeutet wurden. Die einzelnen Fakultäten oder Vermögen des menschlichen Wesens ergänzten einander und bildeten so, was Michael Hagner eine „cerebrale Biographie“4 nennt. Die Phrenologie oder Kraniologie wurde erst nach Mayers Tod populär – das Hauptwerk Galls und Spurzheims erschien von 1810–19 –, hatte also keinen Einfluss auf dessen Forschung. Es ist allerdings nicht abwegig, dass Gall Mayers Arbeiten bekannt waren und er daraus Anregungen für seine später überaus populäre wie polarisierende Lehre erhielt. Mayer hatte bereits 1779 vermutet, dass im Gehirn „bestimmte Fächer“5 für die verschiedenen Seelenleistungen zu verorten sind. Seine nur ansatzweise formulierte Lokalisationstheorie scheint die phrenologischen Ideen Galls vorweggenommen zu haben. Auch folgender

4 5

Hagner (2004), S.55. Mayer (1779), S.40.

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Mayers Seelen-Fächer Satz aus Mayers Abhandlung lässt daran denken, was Gall später formulierte: „Das Gehirn ist beym lebenden Menschen in beständiger Bewegung; dies sieht man bey jedem angeborten Hirnschädel, und es beweiset sich auch dadurch, daß die Hirnschädelknochen an der inneren Oberfläche die Gestalt des Gehirns annehmen, welches mit seinen gespannten Häuten diese Kno6

chen berührt.“

Die sorgfältige Arbeitsweise und genauen Beschreibungen seiner umfassenden Beobachtungen setzen darüber in Erstaunen, dass die Wissenschaftsgeschichte Mayer bisher anscheinend wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Obwohl er in vielen Punkten Hallers Lehrmeinung reproduzierte, bietet sein Text doch einiges Neue.

6

Ebd., S.1.

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Wibke Larink Abb. 2: Anatomisch-Physiologische Abhandlung vom Gehirn

Quelle: Mayer (1779).

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Mayers Seelen-Fächer Wie sein Vorbild Haller neigte sich auch Mayer der Äquipotenztheorie zu und vemutete, dass seelische Kräfte im gesamten Gehirn wirksam werden. Dennoch konnte er es – wie auch Haller – nicht gänzlich lassen, den einen Wohnsitz der Seele zu suchen (d.h. die Seele in einem bestimmten begrenzten Teil des Gehirns zu lokalisieren), und er benannte diesen Ort schließlich auch. In der Vorrede zur Anatomisch-Physiologische[n] Abhandlung vom Gehirn verdeutlichte Mayer, dass die Kenntnis des Ortes der Seele einer Kenntnis ihrer Wirkung diene: „Keinem denkenden Geschöpfe kann eine Begierde angemessener seyn, als die: den Wohnplatz seiner Seele kennen zu lernen; und ich glaube, mit Recht behaupten zu können: dass diese Kenntniß nicht allein für den Arzt von ausserordentlichem Nutzen sey, sondern daß man auch allemal mit ihr den Anfang machen müsse, wenn man über die Wirkungen der Seele sichere Untersuchungen anstellen will.“

7

Die Elemente der Seelentheorie Mayers waren nicht neu. Im Gehirn, das „im Ganzen genommen, die Werkstatt unsrer Seele ist“, sammeln sich „die Eindrücke unserer Empfindungen“, und „nach seinen Würkungen [werden] die Handlungen des Körpers angeordnet.“8 Mit anderen Worten: Während die Seele unmittelbar im Gehirn wirkt, wirkt sie im restlichen Körper nur mittelbar. Sie befindet sich im Gehirn, arbeitet von dort aus an den körperlichen Vorgängen. Das Konzept beruht nicht auf eigenen Überlegungen, und auch als Fähigkeiten der Seele tauchen bei Mayer die tradierten Begriffe der mittelalterlichen Zelldoktrin oder DreiZellen-Lehre auf: Bei einer Unterteilung in drei Zellen, wie sie schon bei Nemesios von Emesa (um 400 n. Chr.) zu finden ist, war die erste Zelle Ort des Gemeinsinnes (Sensus communis) und der Einbildungskraft (Vis imaginativa oder Phantasia). Dahinter war der dritte Hirnventrikel als zweite Zelle geschaltet und der Ratio, d.h. dem Verstand oder verstehenden Erkennen (Vis cogitativa) und der Urteilskraft oder dem von Erfahrung geleiteten Nachdenken (Æstimativa) zugeteilt. Der vierte Ventrikel bildete die dritte Zelle, die das Gedächtnis (Vis memorativa) enthält (Abb. 3).

7 8

Ebd., Vorrede, o.S. Ebd., S.33.

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Wibke Larink Abb. 3: Zellschema aus Chirurgia, Brunschwig (1525)

Quelle: http://eebo.chadwyk.com (8.1.2008). Mayer nennt vier „Fähigkeiten der Seele“: Erstens Sammlungsort innerer Eindrücke oder Empfindungen zu sein (äquivalent zum Senso commune). Zweite Fähigkeit ist das Nachdenken (äquivalent zum Æstimativa). Als dritte Fähigkeit erscheint bei Mayer der Wille. Diesen kennen wir als Volonta von Leonardo da Vincis grafischer Umsetzung der Zelldoktrin: Er sitzt bei ihm ebenfalls in der dritten Zelle. Die vierte seelische Fähigkeit nach Mayer, das Gedächtnis, ist die bei nahezu allen Vertretern der Zellenlehre identisch verortete Memoria. Ebenso selbstkritisch wie weitblickend stellte Mayer seinen Untersuchungen ein bescheidenes Motto voran: „Entwurf bleibt immer ein jedes Werk, welches über den Wohnplatz unserer Seele geschrieben werden kann.“9 „Seele“ setzt Mayer dabei mit „Leben“ gleich. Dies ist entscheidend für seine Theorie, da das Gehirn als Ort herausgestellt wird, der den „Sitz des Lebens“10 beinhaltet. Gleichzeitig wusste Mayer als Arzt, dass es Hirnverletzungen gibt, die nicht zum Verlust des Lebens führen. Auf diesem Wissen basierte die Aufgabe, die sich Mayer stellte: Um den Wohnsitz der Seele im Gehirn zu ermitteln, musste er nachweisen, welcher Teil des Gehirns lebensnotwendig ist.

9 Ebd., Vorrede, o.S. 10 Ebd., S.34.

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Mayers Seelen-Fächer Um dies zu bewerkstelligen, schlug Mayer vor, drei Untersuchungen durchzuführen: Zunächst wollte er Krankheiten und Verletzungen des Gehirns beobachten und durch Leichenöffnungen bestätigen; daraufhin sei die vergleichende Anatomie anzuwenden, da „die Natur, zur Hervorbringung des bloß thierischen Lebens, nur die unumgänglich nöthigen Theile des Gehirns [...] schuf“; und drittens bringe eine Erforschung der Ursprünge der Hirnnerven Gewissheit, besonders derer, die zu Herz und Lunge führten, jenen Organen, die die Lebensverrichtungen bewirkten.11 Seine Untersuchungsschritte brachten Mayer ein klares Ergebnis: Der Sitz der Seele, so folgerte er, befindet sich im verlängerten Mark (Medulla oblongata). Ergänzend stellt er die Frage, ob in dem ermittelten Seelensitz alle seelischen Verrichtungen ablaufen, oder ob „die Bearbeitungen der einzelnen Seelenkräfte in einzelnen besonders dazu organisirten Theilen des Gehirns“ vorgenommen werden? Mit diesen Fragen wagte sich Mayer noch weiter in einen Bereich vor, den er selbst „dieses äusserst spitzfindige Feld der philosophischen Physiologie“ nannte.12 Nach Auswertung seiner Untersuchungen kam Mayer zu dem Ergebnis, dass die Seele in der Tat in unterschiedlichen Hirnregionen ihren verschiedenen Aufgaben nachgeht. Im Text wird eine Theorie erläutert, die es erlaubt, die geistige Entwicklung eines individuellen Gehirns zu erklären. Dass ein gesundes Gehirn jedem anderen gesunden völlig ähnlich sei, werfe die Frage auf, warum sich nicht jede Idee in jedem Menschen entwickle. Mayer beantwortete sie in einer Weise, bei der es sich lohnt, sie mit dem Stand heutiger Hirnforschung zu vergleichen: Er behauptet nämlich, dass sich die Seele durch wiederkehrende Reize mehr Raum im Gehirn schafft: „weil sich die Seele ihre Wohnung ausbauet; jede Empfindung der Sinne des Körpers, auf welche sie Aufmerksamkeit richtet, und ihren dadurch bestimmten Gedanken in einzelne Fächer anordnet; und jede dazu nöthige Faser des Gehirns um desto beweglicher und gewandter macht, je öfter sie derselben bearf“.

11 Ebd., S.34f. 12 Ebd., S.38f.

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Wibke Larink Weiter heißt es: „Rezeptivität hat ein jedes gesundes Gehirn, nach meiner Meinung, für jede Art der Begriffe; Aber Receptacula müssen zuerst durch die vereinigten Kräfte des Körpers und der Seele im Gehirn ausgebildet werden.“

Mayer beschrieb hier letztlich Lerneffekte als Ausdehnung der Seele. Dabei gestand er dem Gehirn des erwachsenen Menschen geringere „Receptivität“ zu, als dem kindlichen. So seien besonders wenig oder nicht genutzte Fächer „mit weit schwererer Mühe brauchbar zu machen, weil ihre Fasern zu steif sind“. Beim Kind dagegen sei das Gehirn noch weich und daher verstärkt aufnahmefähig.13 Aus dieser Beurteilung cerebraler Aggregatzustände eröffnet sich ein Zugang zu diversen Hirnfunktionstheorien, die über den Versuch einer physischen Ortsbestimmung von Seele hinausweisen: Mayer lokalisierte die Seele an einem distinkten Ort (Medulla oblongata) und beschrieb, entgegen der Äquipotenztheorie, die Art ihrer Wirkung als auf das gesamte Gehirn bezogene Entwicklung mithin als eine Vereinnahmung des Gehirns, ausgehend vom verlängerten Mark. Der Seelensitz ist bei Mayer lediglich der Ausgangspunkt, von dem aus sich die Seele mit ihren Funktionen gleich einem Ballon ausdehnt, bis alle ‚Fächer‘ des Gehirns gefüllt sind. Hier werden Parallelen zur rezenten Hirnforschung offensichtlich. So lassen Mayers stabile, nicht ausgebildete oder wieder verkümmerte Fasern, die wie Leiterbahnen zu den jeweiligen Wirkungsorten führen, an Synapsenverbindungen denken. Eine Verstärkte Lernfähigkeit im Kindesalter, größere Gedächtnisleistung durch Übung oder die Notio, dass „für die einzelnen Kräfte der vernünftigen Seele einzelne besonders organisirte Theile des menschlichen Gehirns bestimmt sind“14, sind Themen, die auch die zeitgenössische Hirnforschung verhandelt. Interessant ist, dass er die strikte räumliche Trennung zwischen den einzelnen Seelenvermögen aufhob. Die Einbildungs- und Urteilskraft ist in allen markigen Teilen wirksam, sie ist „mit allen übrigen Seelenkräften so genau verbunden“15. Mayer lokalisierte die Seelenvermögen mit Hilfe der Anatomie: Er verfolgte die Wege der Nerven und schloss daraus auf die rele-

13 Ebd., S.42. 14 Ebd. 15 Ebd., S.44f.

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Mayers Seelen-Fächer vanten Hirnareale. Der Text ist meist vorsichtig formuliert, die Vermutungen Mayers sind stets sorgfältig begründet. Mit Bestimmtheit äußerte sich Mayer allerdings in zwei Punkten: Weder die Zirbeldrüse noch die Hirnhöhlen kamen für ihn als Seelensitz in Frage. Damit widersprach er sowohl Descartes als auch der mittelalterlichen Zellen- bzw. Ventrikellehre, die von seinem Zeitgenossen Soemmerring, zumindest was den Ort der Seele angeht, zwanzig Jahre nach Mayers Veröffentlichung als Lehre vom Seelenorgan wiederbelebt wurde. Welche Rolle nun spielten die Abbildungen in Mayers Anatomisch-Physiologische[r] Abhandlung vom Gehirn? Bilder hielt Mayer für unbedingt notwendig, um das Gehirn zu begreifen, denn es sei fast unmöglich „physiologische Beschreibungen, so gut wir sie auch haben, zu verstehen“16. Sehr deutlich stellte Mayer die Provinienz der von ihm verwendeten Bilder heraus und gab sowohl seine eigene Expertise, als auch die Kunstfertigkeit des Zeichners als Richtschnur für genaues Abbilden an: „Die Zeichnungen von den Kupfertafeln des Gehirns [...] sind unter meiner sorgfältigen Aufsicht von einem unserer vorzüglichsten Künstler, nämlich dem Herrn Hopfer in Berlin, verfertigt worden, so daß ich für deren Genauigkeit stehen kann.“

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Er lobte auch die Bilder, die Haller vom Gehirn veröffentlicht hatte und übernahm dessen Tafel vom Rückenmark. Mit seinen eigenen Abbildungen geht Mayer methodisch über das von Haller Geleistete hinaus. In diesem Zusammenhang bewertet er die Bedeutung einer Verknüpfung von Bild und Text: „Die anatomische Beschreibung soll, mit den Kupfern zusammengehalten, im Stande seyn: die Lage und Ordnung der Theile, welche sich im Gehirne finden, zu erklären, und zugleich die Art anzeigen, wie man dieselben in ihrer natürlichen Folge entdecken kann.“

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Dieses Zitat fokussiert die Wechselwirkung, die zwischen Bildern und Text besteht, und lässt zum anderen deutlich werden, dass bei Mayer nur die Verbindung beider Formen der Wissensgenese oder -vermittlung zum Verständnis der jeweiligen Materie führt. Hier sind die Bildfunktionen nie unabhängig von den Texten zu

16 Ebd., Vorrede, o.S. 17 Ebd. 18 Ebd.

353

Wibke Larink sehen. Wissen – in diesem Falle der Hirnanatomie – wird geordnet und organisiert, und die Wahrnehmung wird geleitet. Letzteres betrifft vor allem die Reihenfolge der Schritte einer Sektion, die Mayer als „natürliche Folge“ bezeichnet, und die anhand der Bilder nachvollziehbar wird. Die mit dem verlängerten Mark verbundenen Teile ließ Mayer zunächst in Nahaufnahme darstellen. In der siebten Tafel wird der Hirnstamm von dorsal gezeigt (Abb.4). In seiner Mitte befindet sich die heute sogenannte Rautengrube (Fossa rhomboidea), der Boden des vierten Ventrikels, der die Form einer Raute bildet.19 Die markigen Schenkel der Zirbeldrüse (b), die „vierfache Erhabenheit“ (d, f) und der markige Querstreifen des Gehirns (g) sind in sagittaler Richtung geschnitten. Dies dient dazu, Innenliegendes wie die Wasserleitung des Sylvius (Aquaeductus Silvii) (k) und den geöffneten vierten Ventrikel (l) besser sichtbar zu machen. Unter der Vierhügelplatte entspringt das vierte Paar der Hirnnerven (Nervus trochlearis) (h). Vom Kleinhirn (s) wurde eine Hälfte entfernt und die verbleibende zurückgebogen, damit sie das verlängerte Mark (m) nicht verdeckt. Mayer beschreibt markige Streifen, durch die „der weiche Theil des Gehörnervs in der vierten Höhle entspringt“20. Thalamus und Tractus opticus (a) sind nur als Kontur festgehalten. Was in der siebten Tafel angedeutet wird, ist in der vierten Tafel perfekt umgesetzt: Innerhalb eines Bildes sind schematische und naturalistische Darstellung funktional miteinander verknüpft (Abb.5). Das Schema, eine einzelne, horizontal geschnittene Hemisphäre, ist in zarten Umrisslinien dargestellt, eine Technik, die wir später auch in Félix Vicq d’Azyrs (1748– 1794) Bilderatlas Traité d’Anatomie et de Physiologie finden. Mayer betont das Offensichtliche in der Legende: „Der Umfang der rechten Halbkugel des Gehirns ist skizziert.“21 Die Skizze dient der Standortbestimmung des räumlich ausformulierten Objekts, bildet die Folie, auf der der rechte Innenraum des lateralen Ventrikels (c) gezeigt wird. An dieser Stelle beschreibt Mayer seine Schnitttechnik und das, was durch Schnitt und Manipulation im Bild gezeigt wird. Darüber hinaus fordert er den Leser/Betrachter auf, Dinge zu sehen, die nicht dargestellt sind: „Die Große Höle der linken seite, welche bedeckt liegt, muß man sich ebenfalls

19 Vgl. Kahle/Frotscher (2005), S.100. 20 Mayer (1779), S.64. Heute werden diese markhaltigen Nervenfasern als Striae medullares bezeichnet. 21 Ebd., S.62.

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Mayers Seelen-Fächer aufgeschnitten denken.“22 Die durchsichtige Trennwand (d) zwischen beiden Seiten des Ventrikels ist hier zwar nicht transparent visualisiert, aber ihr Bild, zusammen mit der Information, dass sie durchsichtig ist, vermag nach Ansicht des Autors die Vorstellungskraft entsprechend anzuregen, damit das, was er darstellen will, aber aus technischen Gründen nicht darzustellen vermag, vor dem inneren Auge gesehen werden kann. Mit Text und Bild stellt er eine Simulation her. Erst in der achten Tafel bindet Mayer die Medulla oblongata in eine Basalansicht des ganzen Gehirns ein (Abb.6). Mit wenigen Schnitten erweitert er das Repertoire der basalen Ansichten. Dadurch kommen sowohl der vordere und hintere markige Schenkel des Kleinhirns (m, n), als auch das Marklager des Großhirns (c) zum Vorschein. Da kein einziges Blutgefäß abgebildet ist, wird dem Betrachter eine Konzentration auf die Hirnnerven und ihre Ursprünge bedeutend erleichtert. Abgebildet ist also kein natürlich vorgefundener Zustand, sondern ein künstlich hergestelltes Objekt. Dies gilt in gewisser Weise natürlich für jedes Präparat, was schon der Begriff impliziert. In diesem Bild aber wird der Eingriff des Präparators nicht verschleiert, sondern er wird zur Methode erhoben: Durch Auswahl bestimmter Formen und Strukturen, und indem andere, in der gewählten Fragestellung (nach den Hirnnerven) unwichtige Teile entfernt bzw. im Bild weggelassen werden, stellt das Bild Ordnung her. Eine Gefahr der Verwechslung von Nerven und Adern besteht nicht. Das Ziel der Abbildung, Ursprung und Lage der Hirnnerven zu zeigen, wird erreicht. Eine Antwort auf die Frage, ob sich die jeweils aktuelle Theorie über den Sitz der Seele im Gehirn an ihren jeweiligen Bilderzeugnissen ablesen lässt, fällt bei Mayer nicht ganz leicht. Zwar ließ er das verlängerte Mark in den von ihm in Auftrag gegebenen Zeichnungen besonders präzise und auch mehrfach mit allen von ihm ausgehenden Nervenenden darstellen. Liegt aber in der Präzision und Häufigkeit der Darstellung derjenigen Hirnteile, denen eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird, schon ein Urteil über deren Funktion? Mayer setzt in seinen Bildern seine Forderung um, die Ursprünge der Hirnnerven zu erforschen, um das Lebens- bzw. Seelenorgan zu finden und zu illustrieren. Bei ihm ist das Bild im besten Sinne Illustration. Anders gesagt: Es ist eine De-

22 Ebd.

355

Wibke Larink monstraton des eigenen, in drei Schritten vollzogenen Gedankenexperiments. Abb. 4: Hirnstamm von dorsal mit einer Kleinhirnhälfte, Tab.VII

Quelle: Anatomisch-Physiologische Abhandlung vom Gehirn, Mayer (1779).

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Mayers Seelen-Fächer Abb. 5: Innenraum des lateralen Ventrikels auf dem Umriss der entsprechenden, horizontal geschnittenen Großhirnhälfte, Tab. IV

Quelle: Anatomisch-Physiologische Abhandlung vom Gehirn, Mayer (1779).

Abb. 6: Hirnbasis, Tab. VIII

Quelle: Anatomisch-Physiologische Abhandlung vom Gehirn, Mayer (1779).

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Wibke Larink

Literatur Brunschwig, Hieronymus: The noble experyence of the vertuous handy warke of surgeri/ practysyd und compyled by the moost experte mayster Jherome of Bruynswyke borne in Straesborowe in Almayne. London 1525. Hagner, Michael: Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung. Göttingen 2004. Hagner, Michael: Homo cerebralis – Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn. Frankfurt a.M., Leipzig 2000. Kahle, Werner/Frotscher, Michael: Taschenatlas Anatomie in drei Bänden. Band 3: Nervensystem und Sinnesorgane. Stuttgart 2005. Mayer, Johann Christoph Andreas: Anatomisch-Physiologische Abhandlung vom Gehirn, Rückenmark, und Ursprung der Nerven. Für Ärzte und Liebhaber der Anthropologie bestimmt. Berlin, Leipzig 1779. Vicq d’Azyr, Félix: Traité d’Anatomie et de Physiologie, avec des Planches Coloriées. Représentant au naturel les divers organes de l’Homme et des Animaux. Tome Premier. Paris 1786. Voltaire: Kritische und Satirische Schriften. München 1984.

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Christine Ladd-Franklin – Eine Einführung ELIZE BISANZ

Das Ziel des folgenden Kapitels ist, die Grundgedanken eines interdisziplinären und bildwissenschaftlichen Ansatzes an zwei Beispielen zu exemplifizieren, am Beispiel des Semeiotik-Konzepts von Charles S. Peirce und am Beispiel der Untersuchungen der visuellen Wahrnehmung von Christine Ladd-Franklin, eine Schülerin von Charles S. Peirce. Zu den wichtigsten Charakteristika des Denkens gehörte nach Charles S. Peirce das bildhafte Denken. Bildhaft bedeutete vor allem das räumliche und relationale Denken, das als Ganzheit wahrgenommen wird. In der 1882 erschienenen Publikation „Studies in Logic“ veröffentlichte Charles S. Peirce eine Textsammlung, darunter auch das Werk seiner Schülerin Christine LaddFranklin (zu der Zeit noch Ladd) „On the Algebra of Logic“. LaddFranklin’s Beitrag war das Ergebnis ihres Studiums in Peirce’s Seminaren in der Zeit 1879–1880, der neben seiner Dozentur im Fach Logik an der Johns Hopkins Universität auch als Physiker für die U.S. Coast and Geodetic Survey tätig war. Unter seiner Betreuung wurde Ladd-Franklin die erste Amerikanerin, die Logik studierte. Dies war auch der Zeitpunkt, zu dem sich LaddFranklin – studierte Mathematikerin – endgültig von der Mathematik verabschiedet hatte und der Logik sowie später der Psycho-

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Elize Bisanz logie zuwandte.1 Ihre Logik-Untersuchungen, vor allem der symbolischen Logik, führte sie später in eine Theorie des Sehens weiter, die sie als Wissenschaftlerin bis zu ihrem Tod vertrat und entwickelte. Durch die besondere Verflechtung der Disziplinen Logik, Psychologie und Biologie gelang es Ladd-Franklin, eine Theorie der Sehwahrnehmung zu entwickeln, die multiple Aspekte der Perzeption und der anatomischen Funktionsleistung des Sehorgans verbinden konnte. Ihre Thesen wurden zum ersten Mal in einem Beitrag über das binoculare Sehen in der ersten Ausgabe des American Journal of Psychology im November 1887 veröffentlicht und rege diskutiert; darüber hinaus haben ihre Theorien zur Farbwahrnehmung entscheidend zur Entwicklung der Psychologie beigetragen. Der Vergleich ihrer Theorien mit der heutigen neurowissenschaftlichen Forschung der Sehwahrnehmung zeigt die pulsierende Aktualität sowie die Relevanz der Logik orientierten Bildwissenschaft für eine interdisziplinäre Bildwissenschaft. Der Einfluss Peirce’s Werk auf die Entwicklung LaddFranklins Forschung ist unübersehbar. Ihr Gesamtwerk zeigt zwei große Themenschwerpunkte: die symbolische Logik und die Theorie der evolutionären visuellen Wahrnehmung. Neben dem diagrammatischen Denken hat sich Peirce bereits in jungem Alter mit den Funktionen und Abstufungen von Lichtwahrnehmung beschäftigt. So zum Beispiel erklärt er in seinem Buch „Photometric Researches“ unter dem Titel „The Sensation of Light“ die Lichtwahrnehmung als eine dreifache Wahrnehmung: „light is a triple sensation“; dabei unterscheidet er zwischen dem Licht, das ausschließlich der äußeren Welt zugeschrieben wird – genannt noumenal light – und dem Licht, das der Erscheinung und der Funktion der sinnlichen Wahrnehmung zugeschrieben wird – genannt phenomenal light. Photometrie im Allgemeinen, so Peirce, untersucht das phenomenal light. Seine Grundthese postuliert, dass unsere sinnliche Farbwahrnehmung der drei Elementarfarben unterschiedlich ist, so dass das Licht umso heller wahrgenommen wird, je höher der Grad der Rotempfindung und niedriger der Grad der Blauempfindung ist.2 Diese und ähnliche Grundkonzepte der Farbwahrnehmung erfahren ihre unmittelba-

1 2

Women in psychology: a bio-bibliographic sourcebook. Agnes N. O’Conell. New York, Greenwood Press, 1990. Pp. 222–227. Durchgeführt vom 1872–1875 und erschienen beim Wilhelm Engelman Verlag in Leipzig 1878.

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Christine Ladd-Franklin – Eine Einführung ren Anwendungen in Ladd-Franklin’s evolutionären Wahrnehmungstheorien. Auch in der Logikforschung erfuhr Ladd-Franklin’s Arbeit große Aufmerksamkeit. In einem Artikel in der New York Evening Post wurde ihre Arbeit von Josiah Royce, zu der Zeit Professor an der Harvard Universität, folgendermaßen dargestellt: „This system, although independently approached by several investigators, was never fully demonstrated until, in 1881, in an extremely technical paper in the Johns Hopkins University Studies in Logic, Mrs. Ladd-Franklin worked out the whole method. There is no reason why this should not be accepted as the definite solution of the problem of the reduction of syllogisms. It is rather remarkable that the crowning activity in a field worked over since the days of Aristotle should be the achievement of an American woman.“

1891–92 besuchte Ladd-Franklin, trotz Studienverbots für Frauen, die Seminare von G.E. Müller in Göttingen und ging anschließend nach Berlin, um dort die Seminare von H. v. Helmholtz und Arthur König zu besuchen. Über die Auseinandersetzungen mit den divergierenden und kontroversen zwei Fronten zwischen Hering / Müller auf der einen und Helmholtz / König auf der anderen Seite entwickelte Ladd-Franklin eine Theorie der evolutionären Farbempfindung und der visuellen Wahrnehmung.3 Bevor sie Europa verließ hatte sie die Gelegenheit ihre eigens entwickelte „theory of color vision“ auf dem internationalen Kongress der Experimentellen Psychologie in London im Jahr 1892 zu präsentieren; sie verteidigte ihre Position als die Weiterentwicklung und Verbesserung der vorhandenen Theorien von Hering und Helmholtz. In ihrer 1892 erschienenen einzigen deutschsprachigen Publikation „Eine neue Theorie der Lichtempfindungen” in der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane formuliert Ladd-Franklin ihre Grundthese der Lichtempfindung, in der sie ähnlich wie die Young-Helmholtz’sche Theorie von drei Grund(farb)empfindungen ausgeht. Sie erklärt Grundfarbenprozesse grundsätzlich als physiologische Phänomene. Auch ihre Theorien der Farbwahrnehmung fanden wissenschaftliche Anerkennung. In der Zeitschrift Nature, Januar 1896, schreibt Prof. W. LeConte Stevens: „Independent theories of colour sensation have been brought out by Mrs. Franklin (Christine Ladd-Franklin‚ Eine neue Theorie der Lichtempfindungen‘

3

Peirce’s Einfluss finden wir zum Beispiel in der Theorie einer offenen und auf Erfahrung basierten Logik.

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Elize Bisanz in der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 1892) in America, and by Ebbinghaus ‚Theorie des Farbensehens‘ ibid. 1893 in Germany. The former particularly is worthy of much more extended notice than can here be given. It may perhaps be quite properly called a chemical theory of vision. Light is always bringing about chemical changes in external objects, and the eye is the one organ whose exercise requires the action of light, while such chemical action is implied in the performance of most of the bodily functions, such as the assimilation of food and the oxidation of the blood. The bleaching action of light upon the visual purple, which is continually formed on the retina, has been known ever since the discovery of this in 1877 by Kühne, who secured evanescent retinal photographs in the eyes of rabbits. Mrs. Franklin considers that light sensation is the outcome of photo-chemical dissociation of two kinds of retinal molecules that she denominates grey molecules and colour molecules, of which the latter arise from the grey molecules by differentiation in such a way that the atoms of the outer layergroup themselves differently in three directions, and the corresponding action of light of proper wave-length give rise to the three fundamental colour sensations. She develops the theory with much skill, applying it particularly to the phenomena of retinal fatigue and colour blindness. To the objections that there is no direct proof of the existence of the assumed grey and colour molecules, it may be answered that Helmholtz himself fully recognized the uncertainty of the assumption that three different sets of nerves respond to the three fundamental colour sensations, and he admitted that these may be only different activities in the same retinal cone.”

Christine Ladd-Franklin wurde in der Wissenschaftsgeschichte nur als Farbtheoretikerin bekannt, weniger bekannt ist allerdings, dass ihre Farbtheorien weder als Ästhetik der Farbe noch als die emotionale Farbenwirkung konzipiert waren; vielmehr entwickelte sie eine interdisziplinär ausgerichtete Theorie der visuellen Wahrnehmung, in der sie durch die Verbindung von Logik, Psychologie und Physiologie die Strukturen des Sehens erklärte. Die zentrale These ihrer Psychophysiologie des Sehens bildete der evolutionäre Charakter der Sehwahrnehmung. „The eyes that can see are not the eyes that can see with […] but in fact it is only with the back that one can see and in the back of our head there occur a complete redistribution of retinal projections. Instead of the physical determinates between colour points we are reproducing the physical distances between corresponding retinal points.“

4

4

Christine Ladd-Franklin, in ihren Notizen im Kasten Nr. 16 des Columbia Archivs ist in einem Manuskript zu lesen.

362

Christine Ladd-Franklin – Eine Einführung Der Ort und der Prozess der Bilder wird damit deutlich definiert; die Netzhaut ist eine membranartige Rezeptorenfläche, auf der die Signale empfangen und in das Innere des Gehirns weitergeleitet werden. Empfangen, übertragen, koordinieren und erschließen bilden die Stationen der Sehtätigkeit. Einen weiteren wichtigen Aspekt ihrer Theorie des Sehens bildet die These der gegenseitigen Einflussnahme von Organ-Denken-Umwelt. In der gleichen Schrift beschreibt Christine Ladd-Franklin die Netzhaut bestehend aus den bekannten Elementen Stäbchen und Zapfen; über die Relation von Form erklärt sie die Funktionalität der Elemente und argumentiert, dass die unterschiedliche formale Struktur auch auf unterschiedliche Funktionen hinweisen könnten. Eine nahezu identische Beschreibung lesen wir im jüngst erschienenen Buch des Neurowissenschaftlers Semir Zeki „Splenders and Miseries oft he Brain: Love, Creativity, and the Quest for Human Happiness“. Darin schreibt Zeki: „We now know that there are many different visual areas in the cortex surrounding the primary visual cortex, and that these different visual areas share the same architecture although they have different functions, some being specialized for color, others for visual motion, others for the perception of facts, and so on. This diversity of functions exhibited by cortical areas that have a common architectural plan is surprising. It runs counter to an anatomical law, that organs with different functions have different structures and architectures. If one were to study in a similar way (i.e. by staining the cells in anatomical sections) other organs of the body that are known to have different functions, such as the heart, kidney and liver, one would find huge differences that are visible at a glance even to a lay person, and thus do not require an expert for their detection.“

5

Ähnlich wie ihr Lehrer Charles S. Peirce konnte Ladd-Franklin keine systematische Schriftensammlung hinterlassen; dennoch war sie in entscheidenden Publikationsorganen ihres Faches wissenschaftlich präsent. So zum Beispiel war sie von 1901–1905 die Mitherausgeberin und Zuständige für die Schwerpunkte Logik und Psychologie im Dictionary of Philosophy and Psychology. Ihre Handschriften und Notizen bezeugen ihr großes wissenschaftliches Engagement für die Förderung ihres Faches. Sie engagierte sich für die Gründung der „Optical Society of America“ an der Co-

5

S. 12, Semir Zeki, Splenders and Miseries of the Brain: Love, Creativity, and the Quest for Human Happiness. 2009. John Wiley und Sons, U.K.

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Elize Bisanz lumbia Universität 1916 und wurde schließlich 1919 selbst Mitglied. Ihr letzter Beitrag wurde 1924 als Nachwort der zweiten Ausgabe der englischen Übersetzung Helmholtz’s Treatise on Physiological Optics veröffentlicht, an deren Übersetzung und Veröffentlichung sie maßgebend beteiligt war. Der folgende Beitrag ist zum ersten Mal 1983 in der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 4 (211–221) erschienen. Die Veröffentlichung in dem vorliegenden Kontext soll zum einen die Aktualität Ladd-Franklin’s Forschung zeigen und darüber hinaus die unmittelbare Auswirkung Peirce’s wissenschaftlichen Werks auf die Interdisziplinäre Bildforschung exemplarisch darstellen.

Literatur Agnes N’Conell: Women in psychology: a bio-bibliographic sourcebook. New York, Greenwood Press, 1990. Pp. 222-227. Semir Zeki: Splenders and Miseries of the Brain: Love, Creativity, and the Quest for Human Happiness. John Wiley und Sons, U.K., 2009.

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Eine neue Theorie der Lichtempfindungen CHRISTINE LADD-FRANKLIN Bis jetzt weiß man gar nichts über das, was in der Netzhaut vorgeht, wenn das objektive Licht in Nervenerregung umgewandelt wird, – man weiß sogar nicht, ob dieser Übertragungsprozess physikalischer oder chemischer Natur ist. Alle Theorien darüber sind notwendigerweise rein hypothetisch; man kann sie nur als heuristisch wertvoll ansehen. Jede derartige Theorie braucht, um existenzberechtigt zu sein, nur einen solchen Prozess anzunehmen, welcher die Erscheinungen naturgemäß und einfach erklärt, ohne mit unseren anderen wohlbegründeten physiologischen Anschauungen in Widerspruch zu kommen. Die Aufgabe jeder Lichtempfindungstheorie besteht nämlich allein darin, einen Netzhautprozess anzunehmen, welcher ein wenigstens mögliches Verbindungsglied zwischen den zwei Bereichen des physikalisch Feststehenden und des psychisch unmittelbar Empfundenen ist. Es ist unmöglich, jemanden für eine neue Theorie der Lichtempfindungen zu interessieren, der nicht von der Unzulänglichkeit der bisherigen Theorien überzeugt ist. Jede Theorie der Lichtempfindungen muss die fehlenden Brücken zwischen folgenden zwei Reihen paralleler Thatsachen, die für sie von kritischer Bedeutung sind, herstellen:

Physikalischer Vorgang 1) Licht einer bestimmten Wellenlänge wirkt auf die Netzhaut. 2) Eine Mischung von Licht zweier verschiedener Wellenlängen wirkt auf die Netzhaut.

……

……

365

Psychischer Vorgang Ein bestimmter Farbton wird empfunden In den meisten Fällen entsteht eine gemischte Empfindung, d.h. eine solche, in welcher man verschiedene Bestand-

Christine Ladd-Franklin

1

teile wahrnehmen kann; sie stimmt jedoch auch, abgesehen von der Weißlichkeit, im Farbenton mit der durch eine zwischenliegende Wellenlänge verursachten Empfindung überein. Es entsteht eine Empfindung, die wir die „Grau- (Weiß-) Empfindung“1 nennen, welche a) stets dieselbe ist, und b) keine Spur einer gemischten Empfindung darbietet.

3) Gewisse Wellenlängenpaare (welche physikalisch nicht besonders ausgezeichnet sind) wirken auf die Netzhaut.

……

4) Der Einfall des Lichtes in das Auge unterliegt folgenden Einschränkungen: a) Das affizierte Stück der Netzhaut ist sehr klein. b) Es ist weit von der Fovea entfernt. c) Das objektive Licht ist sehr schwach. d) Es ist sehr stark. e)Das betreffende Auge ist „total farbenblind“ (wahrscheinlich krankhafte od. atavistische Anomalie.) 5 a) Daßelbe farbige Licht hat lange Zeit auf dieselbe Stelle der Netzhaut eingewirkt.

……

Unter diesen fünf Umständen entsteht ohne Ausnahme ebenfalls die Grau-Empfindung.

……

Das Bild erblaßt, wird weiß und nimmt, falls das objektive Licht schwächer gemacht wird, sogar die komplementäre Farbe an, ob-

Der eigentliche Gegensatz zu „Farbe“ ist Grau, nicht Weiß. Weiß ist eine besondere Art, nämlich die sehr intensive Grauempfindung.

366

Eine neue Theorie der Lichtempfindung

b) Wenn man dann die Augen schließt,

……

wohl daßelbe farbige Licht noch weiter einwirkt. so tritt die Komplementärfarbe deutlich hervor.

Jede Theorie der Lichtempfindungen muß in die oben leergelassene Mittelspalte einen fingierten Netzhautprozess einführen, welcher eine natürliche Verbindung oder ein Zwischenstadium zwischen den beiden Seiten bildet. Den Anforderungen 1. und 2. Wird durch die YoungHelmholtzsche Theorie genügt; ebenso auch dem ersten Teil von 3., d.h. der Thatsache, daß die Mischung aller jener Farbenpaare gleich aussieht. Die Thatsache aber, daß man ihre Bestandteile nicht wahrnehmen kann (unser Bewußtsein macht sogar keine andere Aussage mit größerer Bestimmtheit, als die, daß die Weißempfindung nicht eine Mischung der Rot-, Grün- und Blauempfindungen ist) wird gänzlich ignoriert – d.h. sie wird in das dunkle Gebiet der Urteilstäuschungen verlegt. Für den Psychologen ist also ebenfalls nie ein Grund vorhanden gewesen, diese Theorie anzunehmen, außer demjenigen, daß niemand eine bessere aufgestellt hatte. – Die unter 4. erwähnten Thatsachen kann man auf Grund dieser Theorie nur dadurch erklären, daß zwar alle drei Farbempfindungen unter jenen Umständen wirklich hervorgerufen werden, daß dieses aber – was auch die objektive Beschaffenheit des Lichtes sein mag – durch eine ungemeine Boshaftigkeit der Natur stets im gleichen Grade geschieht. Solch eine Erklärung läßt natürlich viel zu wünschen übrig. – Was die negativen Nachbilder betrifft, so hat Hering durch eine große Anzahl höchst geschickter Versuche die Unmöglichkeit bewiesen, sie durch das nach der Ermüdung noch vorhandene Eigenlicht der Netzhaut zu erklären, wie dieses die Young-Helmholtzsche Theorie thut. Es ist also unumgänglich eine andere hinreichendere Ursache für die negativen Nachbilder anzunehmen.2 Den logischen Forderungen einer zulässigen Theorie der Lichtempfindungen ist von Hering in vorzüglicher Weise genügt worden. Aber, ohne auf seine Anschauungen über die Helligkeit näher einzugehen, weise ich doch auf die unüberwindliche

2

Daß Hering dasselbe für Kontrasterscheinungen geleitestet hat erwähne ich hier nicht; bis jetzt lassen sich diese Erscheinungen mit keiner Theorie in Zusammenhang bringen. Herings sogenannte Erklärung ist bloß eine Übersetzung der Thatsachen in die Sprachweise seiner Theorie.

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Christine Ladd-Franklin Schwierigkeit hin, welche für seine Theorie darin liegt, daß er den Assimilierungs- und Dissimilierungsprozessen Funktionen zuschreibt, die mit den grundlegenden Überzeugungen des Physiologen nicht in Einklang stehen. Abgesehen von Herings Theorie, gibt es keine allgemein bekannte Theorie, welche einen irgendwie gelungenen Versuch gemacht hat, den oben aufgestellten Forderungen zu entsprechen. Die folgende Hypothese stelle ich nicht als die endgültige Hypothese der Lichtempfindungen auf, sondern vielmehr als eine symbolische Darstellung einer Hypothese von der Form, wie sie unseren logischen Forderungen einigermaßen genügen kann. In der letzten Zeit haben die Chemiker es notwendig gefunden, ein neues Moment in ihre Vorstellungen der molekularen Beschaffenheit der Materie einzuführen. Es giebt nämlich Erscheinungen, die sie ohne die Hülfshypothese einer bestimmten Konfiguration der Atome im dreidimensionalen Raume nicht erklären können. Die Gründe, auf welchen diese chemische Theorie beruht, scheinen genug Gewicht zu haben, um auch für eine neue Theorie des Netzhautprozesses benutzt werden zu können. Die Hauptpunkte meiner Theorie bestehen in der Annahme folgender Eigenschaften der in der Netzhaut vorkommenden photochemischen Substanzen: 1. Der Verbindungsprozeß zwischen den physikalischen und psychischen Vorgängen bei der Lichtempfindung vollzieht sich (wenigstens zum Teil) als Dissoziation zweier Arten von Molekülen, die wir als „Graumoleküle“ und „Farbenmoleküle“ bezeichnen wollen. In den unentwickelten Formen des Gesichtssinnes, wie sie in der Netzhaut der total Farbenblinden, in der NetzhautPeripherie der Farbentüchtigen und höchst wahrscheinlich in den Augen vieler niedriger Tiere vorkommen, sind nur Graumoleküle vorhanden. Sie bestehen aus einer äußeren Schicht, deren Atome viele verschiedene Schwingungsperioden haben, und einem inneren festen Kern. Die photochemische Zersetzung des Graumoleküls besteht in dem Losreißen dieser äußeren Atomschicht, welche nun zu einem Erreger der Nervenendigungen wird und die unmittelbare Ursache der Grau-(Weiß-)Empfindungen ist. Diese Zersetzung wird hervorgerufen durch alle Ätherschwingungen des überhaupt sichtbaren Lichtes, jedoch am stärksten durch den mittleren Teil des Spektrums; man kann vielleicht annehmen, daß die Anzahl der Moleküle, die durch Licht von den verschiedenen Wellenlängen zersetzt werden, proportional ist den entsprechenden Ordinaten der Kurve der Intensitätsverteilung im Spektrum der total Farbenblinden.

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Eine neue Theorie der Lichtempfindung Die Farbenmoleküle sind aus den Graumolekülen durch Differentiierung in der Weise entstanden, daß die Atome der Außenschicht sich nach drei zu einander senkrechten Richtungen verschieden gruppierten. Diese drei Atomgruppen unterscheiden sich durch die mittleren Schwingungsperioden der in ihnen befindlichen Atome, und diese drei mittleren Schwingungsperioden stimmen nun mit denen gewisser drei thatsächlich vorkommenden Ätherbewegungen überein (sind gleich, oder Multipla oder aliquote Teile derselben). Durch solches Licht werden die entsprechenden Atomgruppen, und nur diese (oder fast nur diese), losgetrennt; und die so entstandenen drei Zersetzungsprodukte rufen nun die drei von meiner Theorie anzunehmenden Grundempfindungen hervor. Die Fähigkeit der Lichtbewegungen, eine solche Atomgruppe loszutrennen, hängt von der Genauigkeit der oben erwähnten Übereinstimmung ab. Fällt Licht einer nicht übereinstimmenden Schwingungsperiode auf die Netzhaut, so werden zweierlei Atomgruppen, aber jede in geringer Anzahl, losgerissen, rufen zwei Grundempfindungen hervor und erzeugen so die (für das Bewußtsein auch gemischten) Empfindungen der zwischenliegenden Farbentöne. Um die Beschaffenheit der Farbenmoleküle ein wenig zu versinnlichen, habe ich sie durch umstehende Figur schematisch dargestellt, in welcher die verschieden große Ausdehnung nach den drei Richtungen im Raum die verschiedenen Schwingungsperioden der betreffenden Atomgruppen symbolisch andeuten soll.3 Hat sich die Differenzierung in der äußeren Schicht der Farbenmoleküle nur nach zwei Richtungen vollzogen, so haben wir dichromatische Farbensysteme. 2. Wenn eine Mischung von Licht zweier verschiedenen Wellenlängen auf die Netzhaut fällt, so bewirkt jeder Bestandteil die ihm eigentümliche Zersetzung, und man empfindet im allgemeinen, genau wie in dem einen eben beschriebenen Fall, auch eine Mischung der Grundempfindungen. Die rot-blauen Empfindungen unterscheiden sich von allen anderen Mischempfindungen dadurch, daß sie nur durch solche Mischungen entstehen.

3

Ich lege den größten Teil der Masse des Moleküls in das rote Gruppenpaar, um der Thatsache Ausdruck zu geben, daß das rote Licht des Spektrums, obwohl es wenig weißes Licht enthält, dennoch einen hohen Grad von Helligkeit besitzt u.s.w.

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Christine Ladd-Franklin

3. Es wird jedoch Mischungen von objektivem Lichte geben, welche die Eigenschaft haben, die dreierlei Atomgruppen in gleicher Menge loszutrennen. Hierdurch aber entsteht eine nervenerregende Substanz, welche genau dieselbe Beschaffenheit hat, wie die äußere Schicht der Graumoleküle; sie bringt also auch dieselbe Empfindung hervor. Die Erreger der Rot-, Grün- und Blauempfindungen sind ja zusammengenommen gleich den chemischen Bestandteilen der äußeren Schichten der Graumoleküle. Sie haben jedoch nie getrennt existiert, bis die differentiierten Farbenmoleküle ihr selbständiges Losreißen ermöglichten. Daß also Lichtmischungen von komplementären Wellenlängen gleiche Empfindungen hervorrufen, wird auf Grund meiner Theorie (wie jeder Dreifarben-Theorie) dadurch erklärt, daß in jedem solchen Falle dieselben Netzhautprozesse vorhanden sind; daß aber gerade diese (und keine anderen) Mischungen von Netzhautprozessen keine Spur von einer Mischempfindung wahrnehmen lassen, ist eine Folge davon, daß in diesen Fällen die Erreger der Farbenempfindungen genau in solchen Mengen entstehen, daß sie diejenige chemische Substanz erzeugen, welche die Grauempfindung verursacht. 4. Das ausschließliche Entstehen der Grauempfindung unter den übrigen Umständen läßt sich (ungefähr ebenso wie bei jeder anderen Theorie, die einen selbständigen Grauprozeß und einen daraus durch Differentiierung entstandenen Farbenprozeß annimmt) in folgender Weise erklären. In der Netzhaut der total Farbenblinden und in den exzentrischen Teilen der Netzhaut der Farbentüchtigen sind nur die unentwickelten Graumoleküle vorhanden. – Ist das objektive Licht schwach oder auf einen sehr kleinen Teil des Gesichtsfeldes beschränkt, so werden nur die Graumoleküle in genügender Menge dissoziiert, um eine Empfindung hervorzurufen. Wenn auch einige Farben-Moleküle zersetzt werden sollten, so ist doch selbstverständlich das Vorhandensein

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Eine neue Theorie der Lichtempfindung einer Erregung überhaupt viel leichter wahrzunehmen als die spezifische Natur dieser Erregung. Nur bei Rot ist dies nicht der Fall. Das rote Licht löst in sehr geringem Grade den Grauprozeß aus, und sein spezifischer Bestandteil in der von ihm verursachten Gesamtempfindung ist bedeutend. – Bei sehr intensiver Beleuchtung empfindet man wieder Grau (Weiß), da die Farbenmoleküle, die schon bei mittleren Intensitäten leicht zersetzt werden, früher als die Graumoleküle verbraucht sind. – Die drei letzten „Erklärungen“ sind nur Übertragungen der Thatsachen in die Sprache meiner Theorie und bilden keinen wesentlichen Teil derselben. 5. Die negativen Nachbilder aber erfordern zu einer Erklärung im vollen Sinne des Wortes die Aufstellung einer Theorie von der Art der meinigen. Die partiell dissoziierten Moleküle nämlich, deren losgerissener Teil schon eine Farbenempfindung verursacht hat, sind unfähig, in diesem beschädigten Zustand fortzubestehen, und das allmähliche Freiwerden der übrigen Teile der äußeren Schicht hat das Entstehen derjenigen Empfindung, welche die schon empfundene Farbe zum Weiß hätte ergänzen können, zur notwendigen Folge. Um dies durch ein Beispiel deutlicher zu machen, nehme man an, daß rotes Licht eine Zeit lang auf die Netzhaut wirkt; dann haben viele Moleküle ihre die Rotempfindung hervorbringenden Atomgruppen verloren; als solche unvollständig zersetzte Moleküle bestehen sie einige Zeit, doch ist ihr Zustand jetzt höchst labil. Durch das allmähliche Auseinanderfallen ihrer blau- und grünwirkenden Atomgruppen bekommen wir die Erscheinung, daß die Rotempfindung sich allmählich in eine Weißempfindung umwandelt und sogar, wenn das objektive Licht herabgesetzt wird, – noch mehr aber, wenn man die Augen schließt, – in eine Blaugrünempfindung übergeht. Die Komplementärfarbe des Nachbildes wird also durch den allmählichen Verbrauch verstümmelter Moleküle hervorgebracht, welche nun nutzlos geworden sind, deren Fähigkeit aber, in diesem halbzerrissenen Zustand wenigstens eine Zeit lang fortzubestehen, eben die Ursache davon ist, daß wir überhaupt die verschiedenen Teile des Spektrums verschieden empfinden. Dies sind die Erklärungen, die meine Theorie für die oben angegebenen kritischen Thatsachen der Lichtempfindung liefert. In folgenden beiden Beziehungen übertrifft sie aber noch die übrigen bisher aufgestellten Theorien. a) Die Netzhautelemente bestehen aus Stäbchen und Zapfen, die zwar verschieden aussehen, denen wir aber bis jetzt keine verschiedene Funktion haben anweisen können. Die Schwierig-

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Christine Ladd-Franklin keit, dies zu thun, liegt darin, daß die Zapfen, da sie in der Fovea allein vorhanden sind, ausreichen müssen, um alle Lichtempfindungen hervorzurufen, daß aber die Stäbchen auch eine wichtige Rolle spielen müssen, da sie eine sehr ähnliche Struktur haben wie die Zapfen, und diese Zapfen in der Netzhautperipherie fast gänzlich fehlen. Wenn man aber annimmt, daß die Zapfen Farbenmoleküle von der beschriebenen Art enthalten und also Grauempfindungen sowie Farbenempfindungen hervorbringen, daß aber in den Stäbchen nur Graumoleküle vorhanden sind, also hier nur Grauempfindungen entstehen, so wird die Anordnung der Elemente der Netzhaut ganz verständlich. Sehr interessante Versuche von Eugen Fick4 erlauben uns, folgende Beziehungen zwischen Netzhautstruktur und eben wahrnehmbaren Erregungen festzustellen: In der Fovea:

Nur Zapfen; maximalen „Farbensinn“ und nicht – maximalen „Grausinn“.

In den anliegenden In der weiter entNetzhautzonen: fernten Peripherie: Fast ausschließAllmählich zunehlich Stäbchen; fast mende Anzahl von gar keinen „FarStäbchen und abbensinn“. nehmende Anzahl von Zapfen; zunehmenden „Grausinn“ und abnehmenden „Farbensinn“.

Ein besseres Beispiel von St. Mills „Method of concomitant Variation“ wäre schwer zu finden. – Die Netzhaut eines total Farbenblinden ist bis jetzt nie untersucht worden. Sollte es sich ergeben, daß eine solche Netzhaut nur Stäbchen und keine Zapfen enthielte, so wäre dies eine glänzende Bestätigung meiner Vermutung; wenn nicht, so könnte man doch annehmen, daß hier auch in den Zapfen keine Farbenmoleküle, sondern Graumoleküle vorhanden sind. Der atavistische Zustand bezöge sich also nicht auf die Form der Netzhautelemente, sondern auf die in letzteren enthaltenen Moleküle. – Es ist noch zu erwähnen, daß, wenn diese Verteilung der Netzhautprozesse richtig ist, die Beschaffenheit des Auges in dieser Hinsicht eine genaue Wiederholung derjenigen des Gehörsorganes ist; auch im Ohre haben wir vermutlich einen 4

Eugen Fick, Studien über Licht- und Farbenempfindung. Pflügers Archiv. Bd. XLIV., S.441. 1889.

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Eine neue Theorie der Lichtempfindung phylogenetisch sehr alten, im Charakter sehr einfachen Bestandteil des Organs und neben ihm einen hochentwickelten Apparat zum Zerlegen der affizierenden Schwingungen. b) Licht von Schwingungsperioden, die zwischen denen der Grundempfindungen liegen, zersetzen, wie ich schon bemerkt habe, eine verhältnismäßig geringe Zahl von Farbenmolekülen; dieses könnte zur Erklärung der sonst nicht erklärten Thatsache benutzt werden, daß die Mischungen von Rot und Grün und von Grün und Blau weniger gesättigt aussehen, als die Grundempfin5 dungen. Außer Herings Theorie sind zwei andere (die aber wenig Aufmerksamkeit erregt haben) veröffentlicht worden, die dasselbe erreichen wollen, wie die vorliegende Theorie. Es sind dies diejeni6 7 gen von Donders und von Göller. Letztere ist eine physikalische Theorie. Die von Donders ist eine chemische und der vorliegenden sehr ähnlich; in ihr ist aber die Voraussetzung von vier Grundfarben (neben der Weißempfindung) ein wesentlicher Bestandteil. Um den psychischen Thatsachen völlig zu genügen, scheint es zwar nötig zu sein, vier Grundfarben anzunehmen, denn Gelb sieht nicht wie eine Mischfarbe aus; – doch giebt es einige Thatsachen, die sich bis jetzt nur mit einer Dreifarbentheorie vereinigen lassen. Dieses sind: 1. die Trennung der dichromatischen Farbensysteme in zwei bestimmte Gruppen (Rot- und Grünblindheit);8 2. daß es, wie A. König und C. Dieterici bewiesen haben, Farbentöne giebt, durch deren Wegfall aus dem normalen Farbensysteme sich die Farbenverwechslungen der Rotblinden und 9 der Grünblinden erklären lassen. Die zwei letzterwähnten Tatsachen sind aber sehr wichtig; darum scheint es nicht zweifelhaft zu sein, daß in dem jetzigen Zustand unserer Kenntnisse eine Dreifarbentheorie – unter sonst gleichen Umständen – einer Vierfarbentheorie vorzuziehen ist. Ich erlaube mir, die Punkte zu rekapitulieren, worin meine Theorie sich von den jetzt herrschenden unterscheidet. Sie nimmt 5 6 7 8

9

Helmholtz, Handbuch der physiol. Optik. S.332. 2.Aufl. Donders, Noch einmal die Farbensysteme. Gräfen Archiv für Ophthalmologie. Bd. 30 (1), 1884. Göller, Die Analyse der Lichtwellen durch das Auge. Du Bois Reymonds Archiv. 1888. A. König, Über den Helligkeitswert der Spektralfarben bei verschiedener absoluter Intensität; in: Beiträge zur Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane (Helmholtz-Festschrift). Hamburg und Leipzig 1891 S.370. A. König und C. Dieterici, Sitzungsberichte der Berl. Akad. vom 29. Juli. 1886.

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Christine Ladd-Franklin – wie die Young-Helmholtzsche Theorie – drei Grund-(farben-) empfindungen an; die Weißempfindung aber erklärt sie nicht als Mischung von Farbenempfindungen, sondern als durch einen selbständigen Prozeß verursacht, der jedoch auch entsteht, sobald die farbigen Prozesse in gleicher Menge vorhanden sind. Von der Heringschen Theorie ist sie dadurch verschieden, 1. daß die Grudfarbenprozesse physiologisch begreifbar sind, 2. daß sie sich zum Weißprozeß zusammensetzen, anstatt sich einander aufzuheben und diesen dann übrig zu lassen, und 3. daß sie (wofür ich in dieser vorläufigen Mitteilung die nähere Begründung leider unterlassen muss) nicht unsere sämtlichen Helligkeitsbegriffe in Verwirrung bringt, wie es durch die Heringsche Theorie zu leicht geschieht. Wäre Hillebrands Beweis10 gültig, daß in weiß aussehenden Farbenmischungen die Farbenprozesse sich einander aufheben, so wäre meine Theorie von vornherein widerlegt. Zur Vervollständigung seines Beweises fehlt aber der Nachweis für die Richtigkeit zweier von ihm stillschweigend angenommenen Voraussetzungen: 1. daß bei niedrigen Intensitäten die Farbenprozesse, auch wenn sie eine spezifische Farbenempfindung nicht hervorrufen, nichts zu dem Helligkeitseindruck beitragen; 2. daß die spektrale Verteilung des Weißprozesses sich nicht mit der objektiven Intensität ändert.11 Der einzige Einwand, der, soviel ich voraussehe, gegen meine Theorie gemacht werden kann, besteht neben demjenigen, daß Gelb nicht ganz wie eine Mischfarbe aussieht, darin, daß das Dasein der angenommenen Moleküle nicht bewiesen ist. Ich muß aber nochmals ausdrücklich erwähnen, daß sie nur als fingierte Moleküle gedacht sind, – d.h. nur als Bild von dem, was die wirklich existierenden Moleküle leisten müssen – wenn der Netzhautprozeß überhaupt ein chemischer ist, – und daß die ihnen hier ferner zugeschriebenen Eigenschaften unwesentlich sind. Berlin, den 18. Juli 1892.

10 F. Hillebrand, Wiener Sitzungsber., Bd. 08, Sitzung vom 21. Febr. 1889, Seite 48 des Sep.-Abdr. 11 Auf diesen Gegenstand beabsichtige ich später näher einzugehen.

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SEMEIOTIC KENNETH LAINE KETNER „It is my fate to be supposed an extreme partisan of formal logic, and so I began. But the study of the logic of relations has converted me from that error. Formal logic centers its whole attention on the least important part of reasoning, a part so mechanical that it may be performed by a machine, and fancies that is all there is in the mental process. For my part, I hold that reasoning is the observation of relations, mainly by means of diagrams and the like. It is a living process. This is the point of view from which I am conducting my instruction in the art of reasoning. I find out and correct all the pupil's bad habits in thinking: I teach him that reasoning is not done by the unaided brain, but needs the cooperation of the eyes and hands. Reasoning, as I make him see, is a kind of experimentation, in which, instead of relying upon the intelligible laws of outward nature to bring out the result, we depend upon the equally hidden laws of inward association. I initiate him into the art of this experimentation. I familiarize him with the use of all kinds of diagrams and devices for aiding the imagination. “

C. S. Peirce 1

1

Letter from Peirce to J.M. Hantz, 29 March 1887 (see Ketner 1988a:45). This letter was written roughly ten years before Peirce developed Existential Graphs out of the earlier and broader hypothesis of diagrammatic thought. Note that another feature of diagrammatic thought is the claim that we actually observe relations. This doctrine is another early feature, as shown in an important review of Abbot's Organic Scientific Philosophy: Scientific Theism in The Nation, 42 (11 February 1886) 135–136; the review is republished in Ketner and Cook (1975: 73). The doctrine [of Abbot's book] seems to be that the relations are reproduced, without being embodied in any diagram, as 'concepts of relations, dropping out of consideration the things related.' The knowledge of

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Kenneth Laine Ketner Semeiotic is an extensive research project by Charles Peirce, conducted over a number of decades (roughly 1865 through about 1910), the aim of which was to provide an understanding of the logic of scientific method. As such, it can provide an insight into the methodological commonalities found in all science: physical, cultural, biological. Existential Graphs (EG) constitute the lingua franca for mature Semeiotic/Logic. The ontology required for EG is the same required for his Theory of Signs (or Semeiotic), namely: relations understood as the building blocks of reality, much in the manner of contemporary Quantum Physics. The purpose of this essay is to offer a larger-scale overview of Peirce’s Semeiotic. I will not attempt to give a detailed justified exegesis of Peirce’s approach, but will proceed to lay out the proposal on the assumption that my outline does indeed capture Peirce’s Semeiotic. Whether that is true is yet another hypothesis to be tested. I use the term Semeiotic (pronounced “See-my-OH-tick”) to refer to, just as Peirce did, his theory of signs which is quite different from contemporary semiotics. Peirce’s rather well-worked-out approach varies in prominent and significant ways from the mixed methods and variegated fundamentals found in contemporary semiotics. The assumption that semeiotic is the same as semiotics is an equivocation fallacy to be avoided. The question of which approach will survive and prosper is a matter to be settled by scientific study and the flow of civilization. My concern is to maintain clarity for the sake of the ethics2 of science—to insure

2

relations depends upon a special 'perceptive use of the understanding.' This view, although it is not adequately set forth, is the centre of all that is original in the book, and is sure to excite a fruitful discussion of the question of the mode of our discernment of relations. Of all the sciences – at least of those whose reality no one disputes – mathematics is the one which deals with relations in the abstractest form; and it never deals with them except as embodied in a diagram or construction, geometrical or algebraical. The mathematical study of a construction consists in experimenting with it; after a number of such experiments, their separate results suddenly become united in one rule, and our immediate consciousness of this rule is our discernment of the relation. It is a strong secondary sensation, like the sense of beauty. To call it a perception may perhaps be understood as implying that to discern each special relation requires a special faculty, or determination of our nature. But it should not be overlooked that we come to it by a process analogous to induction. See "Peirce's Ethic of Terminology," Ketner 1981. See also Max Fisch's definitive essay, "Peirce's General Theory of Signs," in Fisch 1986.

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SEMEIOTIC that it is clear that the hypotheses advanced here arise from semeiotic, not from semiotics. Is this terminological distinction a personal foible? It may or may not be, but that is irrelevant: both foibled or nonfoibled persons may utter a sound argument, the soundness of which is quite independent of foiblicity factors. Semeiotic as a distinct proposal is a legitimate scientific hypothesis which should be settled by science, not by any of the other three methods Peirce reviewed in “The Fixation of Belief”.3 This essay lies within an abductive (hypothesis-seeking) stage of inquiry. All scientific intelligences will recognize that the next step might be described as the process of torturing the hypotheses to discover what might stand under rigorous examination. I do want to avoid the surprisingly common Abductive Fallacy of Falling in Love with one’s Hypothesis. And scientific intelligences will also recognize that the hypotheses advanced by the essayist are not to be confused with the essayist. In other words, please help me torture these hypotheses, but don’t torture me.

An Outline of Semeiotic: My studies have led me to these working hypotheses. As a general background finding, Peirce’s theory of signs is a rather large undertaking. This is in contrast to a common way of regarding his Semeiotic: as only a small part of his production, situated within the Humanities as we understand them today, involving Hypoicons, or Legisigns, or other supposedly strange word-creations, used to sort representations into appropriate classes. I conclude that for the most part, that approach is a dead end, even an unintentional red herring. Unfortunately, some scholars in contemporary semiotics provide examples of this procedure within various attempts to join particular select and isolated pieces of Peirce’s theory of signs onto an alternate large theory of a kind that Peirce seriously disconfirmed for many good reasons which he duly advanced. One cannot grasp Peirce’s Semeiotic without comprehending the “larger hypotheses” (theories) lying behind it (which it presupposes and employs and incorporates).4 The evidence in support of this conclusion is located in the many instances of semeiotic con-

3 4

P 107 in Comprehensive Bibliography. A good introduction to relevant issues may be found in Susan Haack 1998.

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Kenneth Laine Ketner cepts being informed by, or bolstered by, considerations and arguments arising throughout most of Peirce’s System of Science which is presupposed by his theory of signs. Peirce’s autobiography5 is a good summary of this matter. The discipline of Semeiotic is not an isolated piece of Peirce’s production which can be hitched to any large hypothesis (theory) one might arbitrarily select. The assumption—that Semeiotic is a free-floating orphan for any generous big-theory parent to adopt with no harm to the orphan or its effectiveness—is wrong. The truth is that Semeiotic is no orphan, and not a separable piece, because its bone and sinew is supplied by the whole of Peirce’s big theory, which is a matter of empirical science (although in a wider sense than usually understood). Of course a large theory has the logical status of a large-scale hypothesis made up of a combination of smaller and previously confirmed lesser hypotheses; on Peirce’s approach, a large hypothesis (or theory) is not a “view”, but a growing body of confirmations being processed by the community of scientific intelligences. He often expressed cha6 grin that some of his friends could not understand that point. But, the present outline is best undertaken from its starting point. (By the way, my goal here is to picture the overall pattern; obviously each of the component sections deserve – and for the most part, received, at Peirce’s hand – more thorough examination and research.) The initial benchmark may be truthfully described by this sentence: Peirce was a laboratory mathematical physicist at the level of internationally acclaimed expert accomplishment. After he was introduced to logic at age twelve through devouring Whatley’s volume7 on the subject, his passion for mathematical physics became more focused upon a scientific question that shone the brightest throughout his life: What is the Logic of Science? – By what method(s) does the general community of scientists proceed? Later in his career, Peirce identified Logic with Semeiotic. This means in retrospect, one can revise his early phrase Logic of Science in terms of his later preferred terminology, to read Semeiotic of Science which one tends to shorten to just Semeiotic. He made it quite clear that Semeiotic was conducted only by scientific in-

5 6 7

Given in Bizanz 2009, 35–57; see also Scott 2006. Thus, one finds Peirce scolding William James just for that error, see Peirce 1992: 26. Whatley 1848.

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SEMEIOTIC telligences.8 So from the beginning Semeiotic was a science designed for persons of a scientific cast of mind. For Peirce, if one was only interested in sorting “views,” or shuffling through lists of stipulative definitions, or if one was not testing hypotheses, one could not be a practitioner of semeiotic; paraphrasing Plato’s sign above the Academy entrance, the posting above the door of Peirce’s proposed summer school for Semeiotic at his homestead Arisbe near Milford Pennsylvania, might have read: Persons lacking a scientific intelligence may not enter. The fundamental feature of such minds is what Peirce called the Will to Learn—the capacity to revise one’s beliefs as guided by public tests, the outcomes of which are controlled by reality (as opposed to control by one’s ego).9 Thus if a student of Semeiotic named Betsey were asked “How does the process of communication operate?” she might reply (being a scientist with the Will to Learn), „I don’t know, but let us work together to discover what is really involved when we communicate.” One can imagine this question being asked of two other persons, Fred and Norbert. Fred answers, “Communication is a stimulus and response process, „while Norbert states “It is the passage of information from a coder to a decoder.” After making those statements, Fred and Norbert are aware that they disagree; however, their response to that development is a mutual resolution to co-exist peacefully, meaning they intend to take no steps to resolve the disagreement using reality-based tests of any kind. The scientist, Betsey, observing this conversation, remarks that neither Norbert nor Fred will be able to practice Semeiotic because neither has the Will to Learn, each lacks a resolve to discover a reality-based answer. This was Peirce’s understanding also—if one lacks the laboratory mindset, one will not be able to participate in his science of Semeiotic. Because Semeiotic is a derivative of Greek seme or seed, speaking of roots of that science will not be a misplaced literary image. According to Peirce, all science, including Semeiotic, originates in human common sense and instinct. His notion of common sense has two principal features: there is a basic method component he labeled logica utens, and there is a collection of beliefs (cultural universals) common to all normally functional

8 9

For example, Collected Papers 2.227. Peirce 1995: 170 f.

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Kenneth Laine Ketner humans which he labeled original beliefs. Here are some examples of original beliefs.10

i. There is some kind of order inherent in the universe. ii. There are other beings of some sort with whom I cancommunicate in some way, and they with me. iii. The universe is comprehensible in some way. As for logica utens, it is a largely untrained, untutored, even unconscious, perhaps instinctive, problem-solving ability in normally functioning humans (another cultural universal) manifested in activities such as learning to walk or learning to talk.11 Common sense, with its elemental problem-solving ability prepares one for mathematics, the study of diagrammatic thought.12 This is the general method of developing a model upon which one can experiment to gain hints about an analogous bundle of relations under study outside the model; one then tests consequences of such hypotheses within the model environment, and if successful there, one tests the target bundle of relations to see if the similar analogous consequence is observed there. Euler diagrams for study of syllogisms provide an excellent simple example of the method of diagrammatic thought. Euler’s model is based upon sketched circles, the inner areas of which are understood by the scientists manipulating them as representing all the members of a previously identified class. Then by means of another sketched circle representing a second class, the two circles may be located on a sketchpad to display relations between those two classes, based upon inclusion or exclusion of circles placed so that circle relations are analogous with corresponding class relations in the world being modeled (the relations involved in a basic syllogistic argument pattern). It is well-known that validity or invalidity of various syllogisms can be determined with this method. Perhaps it is not so well known that this is an excellent basic example of Peirce’s notion of diagrammatic thought, an important notion underlying both Existential Graphs and Semeiotic (because a Representamen is a model or diagram of its Object to its Interpretant, the Sign being the entire triadic relation—not only the Representamen). Suffice it to say, at this point we find that Peirce’s Existential Graphs is also a fine example of diagrammatic 10 11 12

Ketner 1972. Bisanz ed. 2009, “The Architecture of Theories,” 58–69. At this point a reader might find useful Peirce’s own discussion of these matters in Bisanz ed. 2009: 43–57. Hardwick ed. 2001 is also a good source.

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SEMEIOTIC thought; indeed, with its built-in capacity to model relations, it became Peirce’s basic modeling method for Semeiotic which is the study of triadic sign relations (not fundamentally or merely the study of types of representamens). A great deal of guidance for Semeiotic and hence Existential Graphs arises with Phaneroscopy. Two important relevant results are the NonReduction and Completeness theorems which form part of the basic elements of Semeiotic.

[Nonreduction Theorem (NT)] No genuine triadic relation may be constructed solely from dyadic relations. [Completeness Theorem (CT)] Any relation of adicity four or higher may be constructed solely from triadic relations. Peirce established these results using a part of the Beta section of Existential Graphs. Later work has confirmed him in the accuracy of these important conclusions now active within the science of Semeiotic. By 1960, based upon work by W. V. Quine13, many persons had begun to doubt these results by Peirce-theorems (NT) and (CT). However, Peirce’s results have been sustained by Herzberger 1981, Ketner 1986, Burch 1991, Correia 2008, Dau and Correia 2006, and Correia and Poeschel 2006. Indeed, Burch also showed that despite claims to the contrary, Quine’s results do not disconfirm Peirce’s results, and indeed the two sets of results are consistent with each other. Additional consequences relevant in Semeiotic are described by Ketner14, and Beil 2004, plus Beil and Ketner 2003, 2004, 2006 (Semeiotic applied in physics). This sequence of work-along with other studies by Royce, Cohen, Fisch, Eisele, Ransdell, Brock, Percy, Haley, Scott, Shapiro, and others – well illustrates the hypothesis-testing nature of Semeiotic, and how since Peirce’s beginnings it has made cumulative progress in the observational, experimental sense. Contrary to those who say otherwise, there is a flourishing Semeiotic (separate from semiotics) that is both contemporary and scientific (confirms and disconfirms hypotheses, which are then used in later experiments). Peircean Esthetics considers issues involving purposive aspects of an inquiry (an inquiry being a course of study of a question by the scientific intelligences within a community, such 13 Cited in Burch 1991, chapter 10. 14 In Samway ed., 1995: 256–284: explanations of triads must be in terms of other triads, and not in terms of dyads only; see Explanation Thesis below.

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Kenneth Laine Ketner study being guided by reality). This first of his Normative Sciences is related to the Principle of Predesignation: An inquiry must begin with a predesignated question. Negatively speaking, there is a fallacy known as Failure to Predesignate. Lacking a question prior to an inquiry, implies that one will have no means for sorting relevant from irrelevant data – everything becomes a datum if one does not predesignate. Failure to Predesignate often underlies another common violation of the ethics of science, a process known as “Cherry Picking” (selecting data that one “likes”). Peircean Ethics studies the factor of control toward a purpose. The four methods of resolving doubt Peirce outlined in “Fixation of Belief” provide good basic examples sufficient for a broad outline.

TENACITY Esthetics: preservation of ego’s current beliefs Ethics: self-censorship, forbidding questioning Truth: ego’s current beliefs. AUTHORITY Esthetics: beliefs aligned with those of an authority approved by ego Ethics: social censorship, force, propaganda Truth: beliefs of the authority (often a list). A PRIORI Esthetics: beliefs of ego’s social group Ethics: conforming via peer pressure Truth: propositions agreed upon by the group. SCIENCE Esthetics: concrete reasonableness Ethics: minimize ego-influence while encouraging questioning, devise tests against reality within a group of qualified collaborators, communicate clearly, reality decides answers to doubts (not egos, or groups of egos), build on previous findings. Truth: accurate description of reality, based upon results of the process of inquiry. Table 1: Purpose and Control in Peirce’s Four Methods of Inquiry

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SEMEIOTIC Semeiotic, equivalently Logic (in Peirce’s broader sense), is the last Normative Science in Peirce’s organization of Research Sciences. According to this structure, the results of prior sciences in the listing are presupposed in Semeiotic. The first sub-branch of Semeiotic, Speculative Grammar, deals with the basic concepts and meanings of Semeiotic; the second, Critic, studies argument relations; the third, Methodeutic, concerns the methods of science (including comparative study of nonscience methods). Metaphysics is listed after the Normative Sciences – it deals with the concepts that arise in all the sciences such as law, causation, chance; again, this is a science project, not a philosophy project. Perhaps it would be fair to say that Peirce regarded philosophy as arising out of science as it develops over history; he did not subscribe to the notion that philosophy arises first then dictates conditions to science. Of those concepts basic to science, the notion of Real is a very important one. Real is understood to mean whatever descriptive aspects some item might have which are independent of any ego considerations on the part of any given single observer of the item. In many daily conversations, the word exist is used as the exclusive descriptor for reality, but in Peirce’s approach, exist is a narrower concept which covers everyday objects such as baseballs and polar bears. Items that exist in that sense are indeed parts of the general collection of reals. But at this point in Peirce’s proposal, there is an important departure from the commonly accepted understanding of exist. In the common approach, there is an additional condition, namely: all of reality is composed exclusively of such existents (objects such as baseballs and polar bears). Peirce’s approach parted company at this point: his hypothesis was that existents such as everyday objects are indeed real, but there is another sub-class of real items, namely those items which are not existents but which still fulfill his proposal about reality in general. Let us designate these as nonexistent reals. Relations— expressed in mathematics, or in language, or in music, or in diagrams, or art – are common examples of such items. Indeed, Peirce regarded relations as the more fundamental building blocks of reality.15 Peirce suggested that existents such as a Masskrug or a Weisswurst were composed of relations of a particular kind; thus, Relation could be seen as the basic component in Nature. That is, some kinds of relations compose what we call 15 See Samway, 1995: 240–50.

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Kenneth Laine Ketner everyday existents; other kinds of relations lack the features of existence, but yet are also real. This brings to mind much of contemporary physics in which the reality of everyday objects such as Sachertorte or Festbier are described in terms of the relations modeled by appropriate mathematical relations. There is no space to consider this issue now.16 Here are some examples from this additional subdivision of reals; notice each is neither a polar bear nor a baseball, but is quite real with consequences that can help or harm quite independently of any single ego’s wishes or desires. 1. Some individual person’s bank account; 2. The structure of a computer program; 3. A particular system of government; 4. A law of nature, “Force = Mass multiplied by Acceleration”; 5. Siegfried loves Brunhilda; 6. Schmidt sold her VW to Brunhilda; 7. Merkel sent a message to Putin; 8. Modus Tollens is a valid argument pattern; 9. A Moebius surface when cut in the long direction retains its continuity; 10. John Doe’s blood electrolytes are dangerously inadequate. All of these situations are very common, but cannot be described as everyday objects or solely in terms of everyday objects, yet they are real in the sense mentioned above. If I really have an empty bank account, and I really owe a huge debt, I really am bankrupt, despite my ego-based wishes to the contrary. (Intense ego-based wishes to the contrary is a condition often abbreviated in everyday speech as “He is in denial.”) A group of qualified, reasonable, and objective persons, despite any initial disagreements, would be led to the same non-egocentric conclusion if they examined the appropriate evidence with an appropriate objective method – this would be the process observable in a properly functioning Court of Law. Such a group’s convergence to a conclusion under the control of reality is a method for attaining truth. Notice this convergence is not mere consensus, in the sense of similarity of vote. The key is that each examiner of the situation is guided not by ego, but by qualifications and ability guided by the real conditions. In other words, there are at least two senses of the term consensus: mere agreement in content, versus agreement reached under the control of nonegocentric realistic obser16 But compare Beil and Ketner 2004, 2006.

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SEMEIOTIC vation and open, sound argument amongst scientific intelligences. Some commentators regard Peirce as one who proposed a consensus theory of truth, but they typically mean consensus:A in the sense of mere agreement, which is an approach he rejected. If one is careful to insist upon his sense of consensus:R, namely convergence under the control of reality (as opposed to the approach he rejected which would be convergence under the control of egocentric factors), then he could be described in terms of that stronger sense.

Test Cases for Semeiotic: We turn to consider some other events from everyday experience as test cases, because the basic phenomenon at hand here is found widely throughout life. • Why would typical citizens of a nation be uncomfortable with disrespectful activities involving the national flag – burning, trampling, tearing? • Why do I keep my father’s nonfunctional pocket watch in a special drawer? • Why does a person grieve when a dear one is lost? • Why are there ceremonies consecrating rings or other artifacts – marriage, going steady, establishing a relationship? These are all familiar events in everyday life. Strict materialism has no explanation for these and many other similar everyday events. For a materialist, a flag is just cloth, a human being is but a body, wedding rings and anniversary necklaces are mere stuff, a relationship is just a mark or a name or a sound. But the strict materialist’s interpretation of these commonplaces goes against the perception of them by typical persons. In a vigorous and thoroughly enacted materialistic understanding of science, there is no basis for such common, everyday phenomena. To live ordinary life as a strict materialist would be a vast incoherence and inconsistency. A thoroughgoing materialism appears to force a scholar sincerely advocating it into a schizophrenic life style wherein chemical or physical objects and reactions are real enough, but the national flag, a wedding ring, a relationship with a sweetheart, 17 are nothing – literally “not-a-thing.” If matters such as these are 17

This relates to Walker Percy’s exceptionally penetrating question, raised (along with others) in his 1983: 85–126).

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Kenneth Laine Ketner vital aspects of daily life, and if scientific materialism (scientism18) has no place for them other than as the sorting bin labeled “items to be ignored”, then it appears that a basis for science other than materialism is required because that approach has a gaping hole in it. Semeiotic is the large hypothesis Peirce advanced as an alternate basis for science. The things that strict materialism wants to ignore are precisely many important things that most persons do not want to ignore, and do not ignore, and rightly regard as important; the examples we are considering here fall within that larger collection. Contrary to the claims made on its behalf, scientific materialism (scientism) is seriously lacking in rigor. A practitioner of scientism might reply, “But in a laboratory we can restrict our attention to only the realities of material items.” Indeed, many persons think this is possible. However, such a restriction is not possible, because within the practice of laboratory work, many non-material realities are required for the laboratory to function. Here are some examples: Predesignation of the question under study; Avoidance of personal biases, or prejudices, or interests that would interfere with open-minded testing of hypotheses; Proper and clear communication between laboratory colleagues; Considerations within the Ethics of Science (Thou shalt not fudge thy data, or searching with equal vigor for both confirming and disconfirming instances). Notice that within these examples one finds a number of non-existent but real items, many of which are relational in nature. If one blurts ahead with a materialistic program (either noticed or un–noticed), then one resolves blindly to follow the larger theory of scientism held as a background large hypothesis which will be untested and therefore somewhat of the nature of a dogma (an enforced belief). It is a serious fallacy to dogmatize one’s large hypotheses, either through ignorance of them, or by conscious choice. Big hypotheses, often called theories, should also be open to test, especially since they can easily slip into the un-noticed background of the process for testing small hypotheses of which one is directly aware. The big hypotheses blend with each relevant small hypothesis and the entire bundle should be tested. If one is unaware of a theory standing behind a small hypothesis under test, one will not be aware of the specific nature of the hypothesis being tested: which is actually the un-noticed theory plus the noted relevant small hypothesis. Big hypotheses not noticed are in 18

On scientism, see Ketner 1999: 22–27.

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SEMEIOTIC many ways similar to enforced belief in big hypotheses (a dogma); one might say the former are somewhat self-“enforcing,” whereas the latter are consciously enforced through planned procedures. Large hypotheses can be tested, but only if their status as unnoticed dogma is removed. If the dogma condition is retained either overtly or inadvertently, a psychic process of compartmentalization often appears. Such a phenomenon often occurs in connection with materialism. In the process of preserving and thinking about non-existent real items materialists regard as throwaways, many persons have relied upon weak band-aids to repair the gaps materialism leaves. One such repair-strategy is supernaturalism, offered instead of materialism as an appropriate ontology to explain the kind of test cases we are considering. Does it provide an appropriate ontology for those cases? No; and here is the reason. Supernaturalism is, in one of its crucial aspects, an explanatory procedure. An event in daily life might puzzle us, which requires explanation – for example, Why did the Trojan War happen? To execute a supernatural explanation, one uses the language of material-in-a-world, but now set in a special world other than the one we live in each day. This other world is the supernatural world. In that world, any thing we can imagine is allowed. There are no controls on the content or nature of a narrative someone might present about a supernatural world. (In Peirce’s terms, this would be a technique lacking an Ethics.) For instance, we might decide to say that in the other world, some powerful persons were angry at the Trojans and wanted them to suffer, so these powerful beings caused events in our world such that the Trojans found themselves at war. Indeed, with this strategy, anything can be “explained”, if by explain one means present an uncheckable story about the puzzling phenomenon. And this is the defeat of supernaturalism as an explanation technique: because it can “explain” anything, it actually explains nothing. Therefore, it is rejected as a rational or objective or reliable explanation strategy. Supernaturalism is the last desperate gasp of a strict and crude materialism, an attempt to keep all the trappings and assumptions of materialism but within another world so rubbery that anything there is possible. The phenomena which supernaturalism is usually invoked to explain, therefore, are delusional, then? Some such phenomena may be chimeras, however, with a rationally viable ontology, there may be reality in some phenome-

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Kenneth Laine Ketner na for which supernaturalism is usually, but inappropriately, invoked. As a setting in which to explore alternatives employing Semeiotic, let us return to the everyday events recently mentioned as examples. The best strategy is to drop the inadequate and disconfirmed big hypothesis of materialism or scientism, and put in its place something scientific such as Peirce’s Semeiotic which allows for and facilitates scientific study of nonmaterial reals such as relations.

* * * * * Most Americans regard the flag of their country with respect. This general behavior pattern can be contrasted, for instance, to our attitude toward paper clips or safety pins. If one goes bad, we toss it in the garbage without a second thought. But if an ordinary flag wears out, to proceed properly it must be burned in a prescribed way. A special flag, such as the exact flag replica Old Glory (raised at Fort McHenry in the war of 1812), described in the national anthem of the United States, gains even more respect and special treatment. A broken rubber band is discarded because it is no longer useful. My father’s broken pocket watch, despite being no longer useful as a time piece, is kept in a special place. Words, used to describe a promise in a marriage ceremony, can be life changing. Graduate students work years in order to have a piece of paper that makes certain statements and is signed with approval by particular academics. Surely words, flags, watches, wedding bands, diplomas, and many other similar things, are more than mere material physical things or physical events. Everyday life is based on these other, nonmaterial factors. Even thorough materialists get married, grieve, honor a flag, speak important words, obtain an advanced degree, or cherish some keepsakes. If one adopts a relational ontology, all this – as well as material objects – becomes quite understandable and functional. Existing things such as material objects are real. Yet nonexisting relations also are realities. Our system of government – and other systems such as The Economy, The Legal System – are not material things, but a complexus of actual relationships (including relations among relations). A computer program is not the material on which it is recorded, but a complex system of relations embodied upon the media appropriate for a particular computing device.

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SEMEIOTIC Such relations are also realities, however they do not exist (they aren’t material things). Thus reality can be divided into two grand classes: real things that exist (such as rocks and paper clips) and real things that don’t exist (such as everyday relations: “The cup is on the table”, or “Suzy loves Fred”). The opposite of reality is figment. Something is real if it has properties independently of any single ego’s wish or desire about what those properties might be, or might not be. A good example: last night I dreamed I flapped my arms and flew across a meadow – that I had such a dream is a reality, that I actually did those things is a figment. Sign relations are common nonexistent realities and are among the most important relation types. A Sign is the complete triadic relation involving an Object (in the sense of an object of discourse – the item we are considering), a Representation of that Object, and some Interpretation of the Representation of the Object. Notice that the word sign is used here to refer to a real triadic relation of a particular type, and not to a single item (the representamen) that represents something else (the object) to an interpretant. There are some simple terms suitable for discussing a sign (I use this word hereafter in the sense of sign relation). The most basic items are Object, Representamen, and Interpretant. In a sign relation, the Object is the topic being considered (the object of discourse), the Representamen is some representation of that Object, and the Interpretant is an interpretation of the Representamen. (Notice that the word Representamen is functioning here as would sign in a narrow sense, as something that represents something else). An example of a full sign relation: if you say “Hello” to me, your hello is a Representamen of your intention (the Object) to greet me, which hello I interpret as your greeting (my interpreting it as such is the Interpretant in this case). Thus, in a sign relation, there are four realities: the Object, the Representamen, the Interpretant, and the fourth is the triadic sign relation itself. We are now sufficiently prepared to lay out the basics of the more direct connection between Semeiotic and EG as a Logic of Relations. The Alpha portion of EG is what is usually known today as Truth-Functional Logic – the logic of complete simple sentences, or compound sentences composed of simple sentences and a limited number of connecting words such as and, or, denial, or implies used to link simple sentences into compound sentences. It is raining is an example of a simple sentence; It is raining implies I am sad exemplifies a compound sentence. The basic element of

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Kenneth Laine Ketner analysis goes to no smaller detail than simple sentences or their compounds or their negations (denials). For instance, the following sentences contain interesting internal features which can be analysed in the Beta or Gamma portions of EG; however, in Alpha EG, each is but a simple sentence which can either be true or false – no additional details of analysis of sentence internal structure is essayed in Alpha. Sentence

Alpha EG Notation

(a) It is raining. (b) All rainy days are fun for ducks. (c) Rainy weather causes my headaches. (d) Dorothy sold her umbrella to Bob. (e) Possibly Dorothy loaned her rain coat to Bob.

R D H B L

Sentence (b) involves a relation between classes operating at less than full sentence scope. In Beta EG, (b) can be analysed as the negation of (h), based on the preliminaries of (f-h):19

(f) Something is a Rainy day.

Beta EG Notation

(g) Something is not fun for Ducks.

Beta EG Notation

(h) One item is both a Rainy day and not fun for Ducks. Beta EG Notation In (h) the “Somethings” of (f) and (g) are now known to be one and the same item, whereas the previous states of information in (f) and (g) were indefinite or indeterminate as to that issue. (By the way, when Peirce wrote determine, he usually meant the process of making a present state of information more definite; typically

19 See Ketner, 1986 for the notation.

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SEMEIOTIC he did not use determine to mean A causes B – thus, in this sense, Sherlock might ask Dr. Watson to determine the name of the chap across the street wearing a red hat – here, Sherlock is not asking for a causal sequence to begin, but is asking Watson to supply additional new information about that man.) Now sentence (i), which is the negation of the Particular Negative (h), expresses the earlier required Universal Affirmative sentence (b) in Beta EG.

(i/b) All Rainy days are fun for Ducks.

Beta EG Notation

The logic of classes becomes in Beta the logic of monadic relations (often properties). One can also now comprehend why Peirce sometimes described Alpha as the Medadic Logic of Relations: Alpha sentences are analysed only as fully bonded (combined) relations. A medad is a relation whose valencies, or connectible locations, or loose ends, are all occupied with bonds or connections. A monad is a relation having one location available for future bonds, such as either (f) or (g). If those two become bonded as in (h), the resulting sentence is a medad. Sentence (c) brings us to dyadic relations. A relation, for Peirce, is a fact about some number of items. Of course, facts are the conclusions of successful scientific inquiries. At the end of a successful inquiry, one concludes, on the general plane, that If a particular activity or performance occurs, then a result of a particular identified sort will appear. While one is studying to ascertain if some particular hypothesis Φ is confirmed, the undertaking and activities will have marked processual overtones. But once the inquiry is successfully terminated, the result of the new process is the focus of attention, and Φ begins to be discussed as a nounlike item, particularly because as a result, Φ will be used, now as a fact, in future inquiry processes as part of initial evidence or resources. Such a discovery moving from process-talk to nountalk is what Peirce identified as Hypostatic Abstraction. Relations, as facts about a particular number of items, are hypostatic abstractions.

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Kenneth Laine Ketner Sentence (c) can now be analysed in Beta to illustrate its relational structure as a Dyadic relation.

(c) Rainy weather Causes my Headaches. Beta EG Notation In sentence (d) we have a fact about three items, a Triadic relation:

(d) Dorothy Sold her Umbrella to Bob.

Beta EG Notation

Because of the [Completeness Theorem], relations of adicity four or more will be perhaps useful, but redundant, because quadrads and above can be constructed of triads only. For an example, hold up the thumb and first two fingers of each hand, then touch your thumbs as if bonded: behold, a quadrad. The relationship is: An N-ad, where N = 4 or more, can be constructed from N-2 triads. Sentence (e) would fall under the third or Gamma section of EG, which adds capacities to analyse modalities, or for expressing items such as graphs of graphs. (We shall not consider any elements of Gamma here.) The three sections of EG are retrospective; that is, Gamma includes but goes beyond all the tools of Beta and Alpha, and Beta includes but goes beyond all the tools of Alpha; Alpha can be considered as including all the tools of one’s instinctive logical abilities and elements of common sense in a setting of a dialogue between two scientific intelligences who are examining a topic (mutually observed in common between them) according to the ethics and esthetics of science. Thus again we see that Semeiotic and EG have deep roots and long legs. We have also arrived at a point for perceiving that Beta EG provides the tools for launching Semeiotic, the study of Sign Relations and processes involving Sign Relations. The general Sign

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SEMEIOTIC Relation is a triadic relation, expressible in Beta as a sentence describing a fact about three items, an Object, a Representamen, and an Interpretant.20

(j) General Sign (Sign Relation)

Beta EG Notation

In the overall development of Semeiotic within the tools of EG Beta, it is at this point that the Nonreduction Theorem and the Completeness Theorem come strongly into use. These are perhaps the two most important Theorems in Semeiotic as a scientific activity among scientific intelligences. An important additional consequence from them for Semeiotic is: [Thesis 1] Any explanation of events or items involving triadic relations must be in terms of resources that include at least some triadic relations. That is a third important result in addition to NT and CT. It runs counter to a bad habit in science which always and automatically seeks to explain in terms of resources conceived as containing only dyadic relations such as causes (a process often described as Reductionism). Within science, and particularly Semeiotic studies, we will not break out of the world containing triadic relations into an explaining resource exclusively composed of dyadic or monadic relations. Explanation of intelligible phenomena requires some triadic relations (typically Sign Relations) within the explaining resources. Consider the reversed pattern: If a scientific intelligence (a Mathematician or a Chemist or a Semeioticist or an Electrician) discovers some intelligent relationship about nature—for instance, Ohm’s Law that in a Direct Current Circuit, Voltage equals Amperes multiplied by Resistance—the item prior to its discovery was in Nature, and was there already as something that

20 I will be using blackletter typeface to indicate generalization. Thus, in (j) S is the generalized triadic sign relation, o its generalized object, r the generalized representamen, and i the generalized interpretant.

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Kenneth Laine Ketner could be comprehended by properly adjusted scientific intelligences. Try it another way: If the phenomenon in nature, that is conceived as a candidate for discovery as an intelligible item, is a phenomenon composed exclusively of dyadic relations (which it would be on the materialist or physicalist large-scale hypothesis), then it will not be expressible within the explaining system or language, which, in order to be intelligible, must have some content of Sign Relation (recall that dyads bonded with dyads produce only more dyads, never a triad). Or another form: A successful explanation requires some Sign Relation in the material being explained and some Sign Relation in the explaining material. These are logical findings of Semeiotic/Beta EG, which , if correct, apply to all science. So, we may add additional Theses that flow from the Nonreduction and Completeness Theorems and some facts of the history of science: [Thesis 2] Any body of phenomena to be explained must contain some triadic relations, else an explaining resource (which must contain some triads to be an explanation) would be constructed only from monads and dyads in contravention of NT. Because explanations of Nature are possible and are actually accomplished (as profusely shown in the History of Science), it follows that [Thesis 3] Nature is not composed exclusively of dyadic and monadic relations. Beta EG provides the analytical capacity for working with various kinds and combinations of Sign Relations. Here is a brief sampling of three of the more basic types Peirce discerned. Some Sign Relations are iconic: in Icons the Representamen is similar to the Object, and through this similarity the Interpretant functions (example: photograph). Some sign relations are Indexes: there is a causal relation between the Representamen and the Object, and that connection is grasped (interpreted) by the Interpretant: for example, fire (Object) in the distance causes smoke (Representamen) which (the R) is seen by an Interpretant (fire watcher) who interprets R to mean “There is a fire.” To show how this example of an Index would appear in Beta EG, the lingua franca of Semeiotic, the Scientific study of Sign Relations and Processes, consider this thought sequence of a scien-

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SEMEIOTIC tific intelligence we shall designate as E (remembering the Watcher in a Fire Tower in Walker Percy’s novels)21

Semeiosis of a Scientific Intelligence (E) in Beta EG

[1] At time T, there is no Smoke at specific location L.

[2] T + x, there is Smoke at L.

[3] General Sign Relation.

[4] E (a Scientific Intelligence) wonders why there is smoke at L.

[5] Something Causes something.

21 I shall employ Roman typeface uppercase to indicate particularized components, and lowercase to indicate a more particularized instance.

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Kenneth Laine Ketner

E understands that generally Fire causes Smoke.22

[7] E guesses (Abduction) that perhaps there is fire at L.23

[8] E arranges a test (Induction, or Experimental Design) of the hypothesis “There is a fire at L (?)”; E telephones someone near the possible fire site, asks for a report. As in this case, a Semeiosis is often a sequence involving all three of the inference types Peirce identified—Abduction (or guessing, which produces a hypothesis for test; Abduction does not produce a fact already loaded with truth), Deduction (of expected

22 At this point a very interesting triadic relation (which Peirce regarded as quite important) makes its appearance. It is the Beta graph of Teridentity (triple identity) diagrammed as a black dot with three Ends (for example,occurring near F and S and E). 23 In (7) the three circles indicate the following: at (1) the two Es are identical in that they are the same person; concerning (2) Sl is smoke at L whereas S is smoke at a more general level, and the line identified by (2) has a bridge (or nonintersection) with the line from U to E; and (?) indicates the line or connection that is hypothetical and awaiting a test from Induction.

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SEMEIOTIC consequences of a hypothesis), and Induction (or experimental design for conducting a test of consequences of a hypothesis). Predesignation of a puzzling problem is also shown here in that at [1] and [2], E has noticed a contradictory sequence at L of first NoSmoke and then later Smoke. This suffices to initiate the question, which then aids to set the esthetics and ethics of the Semeiosis that follows. Then there are Symbols: a Representamen represents an Object by virtue of the fact that the Interpretant so grasps through a habit that it (the R) does. For example, the Representamen composed of alphabetic letters TOOLBOX doesn’t look like a tool or a box, has no causal connection to tools or boxes, but really in the English language community it is by habit interpreted as a Representamen of a whole typology of boxes suitable to contain or store tools. The little word IS bears some examination. Strict materialists typically allow it to perform only limited functions. IS can be used to ascribe a property: “The stove is black.” The word IS can be used to designate an identity relation: “Mark Twain is Samuel Clemens.” But there is a third case, very common in everyday life and language, a case usually overlooked by materialists. IS can be used to establish or notice a Sign Relation: ”Let us habitually realize in the future that this newly discovered species of brown bat is KnoxJonesiana Texaniensis.” (Ketner makes no claims about his ability as a Latin scholar.) The first institutionalizing of a sign relation is often designated 24 by the word IS. Percy noted this clearly. When in Percy’s favored example, Helen Keller’s acquisition of language, Helen initially recognized that the word water IS water, she recognized this sign relation sense of IS. She was not realizing that water is a property of the word water (a falsehood), nor was she realizing that the word water is numerically or extensionally identical with water (another falsehood). She (the Interpretant) was realizing that the Representamen water is in a sign relation with the general type WATER (the Object) of which the liquid in her hand is a token. She became aware of the generality inherent in the kind of sign relation known within Semeiotic as a Symbol. The generalizing aspect of Symbols and their wide applicability tells us why Helen quickly and eagerly asked her teacher for many other symbols.

24 Percy, 1983: 97.

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Kenneth Laine Ketner Contrary to materialistic/nominalistic belief, a sign relation is not a mere convention or sound or name. One reality leads to another reality when a sign relation is successfully discerned. Let us return to the example cases. The material that ultimately becomes a flag or my father’s watch, or a ring or necklace, or a diploma are ordinary things, with no particular importance, no more so than other similar materials. How did my father’s watch acquire the extra meaning it now has within my family? There was a ceremony—a sequence of speech acts.25 After my father’s death, my mother handed the watch to me. She said, in a solemn and serious manner, “This is your dad’s watch; I know what he meant to you and you to him; keep this to remember him.” This remark is not about the property sense of is, nor about the equivalence sense of is, but it was a use of the sign relation sense of is. So indeed, this piece of cloth is the flag of my noble democratic home. This unadorned circlet of gold is my grandmother’s wedding ring. This piece of paper with ink scratches is the diploma I sacrificed for and struggled to attain. This useless and nonfunctional set of gears is my father’s pocket watch which he carried safely through the Second World War. At this point, the hypothesis of this essay is placed before the community of scientific intelligences. It is not now recommended for belief; however, it is ready to be tortured diligently to determine its strength or weakness.

25

See Brock, 1981.

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SEMEIOTIC

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Funktionstüchtigkeit, Abweichung, Störung In Gedenken an John Michael Krois KARL CLAUSBERG – JOHN KROIS – ELIZE BISANZ „Menschen, deren hauptsächliche Tätigkeit es ist, die Wahrheit herauszufinden, werden Wissenschaftler genannt, und ihre Tätigkeit nennt man Wissenschaft, obgleich dieses Wort, wie die meisten allgemeinverbreiteten Wörter, in verschiedenen Bedeutungen verwendet wird. Menschen, die ihr Leben damit verbringen, ähnliche Arten von Wahrheiten über ähnliche Dinge herauszufinden, verstehen, worum es dem anderen geht, weitaus besser als Außenseiter dies tun. Sie sind alle mit Wörtern vertraut, von denen Außenstehende die genaue Bedeutung nicht kennen, sie wissen die Schwierigkeiten des anderen zu würdigen und beraten einander.“ Charles S. Peirce

Die Begegnung und der enge Gedankenaustausch mit John Krois war stets eine große geistige Bereicherung für meine PeirceForschung. Denn wie kaum ein anderer Denker im deutschsprachigen Raum hat er Charles S. Peirce’s Pragmatizismus nicht aus einer monodisziplinären Perspektive gelesen, sondern als ein Universum jenseits der Dichotomie von Natur- und Geisteswissenschaft verstanden. Eine Erklärung für diese gemeinsame Wellenlänge könnte unsere kulturwissenschaftliche Perspektive sein, die vor allem der Cassirer und Vico-Forschung entstammt. Für seine Unterstützung und für den höchst produktiven geistigen Austausch bin ich John Krois unendlich dankbar; in ihm habe ich die wissenschaftliche Verstärkung gefunden, die vor allem in interdisziplinär angelegten Forschungsfragen von unschätzbarer Bedeutung ist. Für die vorliegende Publikation konnte John Krois sein vorgesehener Beitrag „Zur Funktion von Erinnerungsbildern

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Karl Clausberg – John Krois – Elize Bisanz in den Geistes- und Naturwissenschaften“ zu meinem tiefen Bedauern nicht abschließen, dennoch bleibt seine Geisteskraft an vielen Stellen der Publikation gegenwärtig. Zwischen den Jahren 2003–2007 bestand eine enge Zusammenarbeit zwischen Karl Clausberg, John Krois und mir zum Schwerpunkt Bildwissenschaft und Verkörperung. Geplant war ein Forschungsprojekt, dessen Gestaltungsprozess allerdings zum Forschungsfeld selbst wurde. Bald stellte sich heraus, dass das Spiel der Disziplinen – beteiligt waren Kunstgeschichte, Bildsemiotik, Kognitionswissenschaft, Philosophie – uns in den Bann der Faszination und auf Entdeckungsreise führte, und wir im Sog der interdisziplinären Forschung jeglichen Respekt gegenüber disziplinärer Zwangsrhetorik verloren. Das Projekt „Funktionstüchtigkeit, Abweichung, Störung“ – Wissenschaften-übergreifende Probleme der ‚Verkörperung‘ wurde zu unserem persönlichen Projekt der Kraftschöpfung, des „egolosen“ wissenschaftlichen Austauschs, eine Chora, aus der hier ein kleiner Ausschnitt präsentiert werden soll. Der kurze einführende Text aus unserem langjährigen Emailaustausch soll die Lebendigkeit seines Geistes dokumentieren; denn die spontane und lebendige Sprache des digitalen Austausches lässt die erfrischende Energie seines Denkens deutlicher hervortreten. Im Anschluss folgt ein Textausschnitt aus unserem umfangreichen Schriftenaustausch.

06.10.2003 Lieber Herr Clausberg, ich habe den neuen Antrag mit der letzten Version verglichen. Die Änderungen (alle) haben ihn wirklich verbessert. Ich finde, dass der Antrag nun in einem Zustand ist, dass er vorgelegt werden kann. Aber als ich fertig war, habe ich mich gefragt, ob es nicht ratsam wäre noch einen Satz zu schreiben, der zeigt, dass wir Peirces „Photometric Researches“ kennen (aber nicht zum Thema machen wollen). Mir fiel diese Schrift von Peirce erst jetzt ein, als ich die Stellen zur Astronomie wieder las. Am Ende des Paragraphen mit Erläuterungen zu 2) auf Seite 4 (in dem die astronomische Photographie besprochen wurde) ist mir eingefallen, dass Peirce zwar beruflich in der Geodäsie beschäftigt war, aber er hatte auch lange in der Astronomie gearbei-

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Funktionstüchtigkeit, Abweichung, Störung tet. Diese Seite seiner Arbeit habe ich nie verfolgt, aber die Frage ist, ob wir sie nicht mindestens erwähnen sollen. Peirces Arbeit in der Astronomie ging nicht um die Photographie, sondern um die Messung des Lichts von den Sternen. Dafür benutzte er keinen Photoapparat, sondern ein Astrophotometer, wie es ihn damals gab, und zwar wurde das Gerät von einem Berliner erfunden, Johann Zoellner. Peirce benutzte einen ZoellnerAstrophotometer, um die unterschiedliche Helligkeit der Sterne zu messen. Er hat sogar ein Buch mit seinen Resultaten publiziert (Photometric Researches, das 1878 bei Engelmann in Leipzig erschien). Das damals neu aufkommende Medium der Photographie war noch nicht so weit ausgereift, als dass man sie in der Astronomie wissenschaftlich verwenden konnte, aber Peirce hätte es sicher gerne getan. Mit herzlichen Grüßen John Michael Krois

24.06.2004 Lieber Herr Krois, erlauben Sie mir die folgenden Anmerkungen zum Zusammenhang von Verkörperung und Peirce: Anders als das Verständnis der Verkörperung im heutigen kulturwissenschaftlichen Diskurs, der den Körper als eine Bedeutungserzeugungsfläche liest, versteht Peirce Verkörperung und Repräsentation von Bedeutung in einer abstrakteren und umfassenderen Dimension, die nicht unbedingt auf den menschlichen Körper beschränkt ist. Die entscheidende Frage der Repräsentation ist für Peirce: Was verkörpert der Geist? Wovon ist der Geist eine Repräsentation? Den Geist verwendet er „als ein Synonym für Darstellung [representation], und man beachte, dass dieser Geist nicht der Geist ist, mit dem sich die Psychologie beschäftigt.“ (PLZ, S.164) Hier finden wir den unmittelbaren Zusammenhang zur Tartuer Semiotik. Auch für sie sind die kulturellen Ausdrucksformen Repräsentationen des Geistes, verdichteter Geist, daher Verkörperung von Bedeutungsprozessen einer Gemeinschaft. Sowohl Peirce wie auch Lotman suchen nach einer ähnlichen Entwicklungslogik in der Natur und in der Kultur und sehen Semiotik an der Schnittstelle zwischen Natur- und Kulturwissenschaft.

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Karl Clausberg – John Krois – Elize Bisanz Ein authentisches Beispiel dieser Überlappung von naturund kulturwissenschaftlichem Geist präsentiert die Photographie. Sie kann als die Verkörperung der Perzeption (mit dem Auge als ihre biologische Verankerung), der Projektion von Schemata virtueller Umwelten und darüber hinaus als instrumentelle Ausdrucksform verstanden werden. In der naturwissenschaftlichen Nutzung der Photographie, sowohl in der Kosmologie wie auch in der Medizin, lässt sich das photographische Medium als die Verkörperung (indexikalisches Zeichen) des kulturellen Horizonts: Mensch - Abbild - Wissenschaft erklären. Die photographische Technik als „der Zeichenstift der Natur“ (Talbot) hatte für die Medizin, besonders der Bakteriologie, die Bedeutung einer objektiven Darstellung von höchster Realität. Auch für die Kosmologie ist das photographische Medium die Verkörperung von verlässlichen Daten und als solche Grundlage für den wissenschaftlichen Fortschritt. In diesem Kontext kann das Nutzungs- und Herstellungsverfahren der Photographie als die Verkörperung der kulturellen Entwicklung und als die Darstellbarkeit der Kultur erklärt werden. Herzliche Grüße Elize Bisanz

27.06.2004 Liebe Frau Bisanz, (lieber Herr Clausberg) Ihre Antwort auf mein Schreiben hat mein Interesse am Projekt wieder stark angeregt. Das ursprüngliche Konzept ging um eine Einschätzung von der Tragfähigkeit des Begriffs der Verkörperung (Thema der Untersuchung war es, „die Begriffe der Verkörperung und der Bedeutung und ihre Tragfähigkeit für ein modernes, transdisziplinäres Verständnis wissenschaftlicher Erkenntnis jenseits der überkommenen Dichotomie der ‚zwei Kulturen‘ zu untersuchen“). In der Zwischenzeit weiß ich, dass wir dies gar nicht tun müssen. Der Begriff „embodiment“ ist heute inzwischen so sehr etabliert, dass gar keine Untersuchung seiner Tragfähigkeit nötig ist. Während des Jahres hier in Schweden habe ich von einem der wichtigsten Forscher auf dem Gebiet von cognitive science (Peter Gärdenfors) gelernt, dass „embodiment“ inzwischen DAS Thema von cognitive science geworden ist − nicht mehr das Computer Program. So ist cognitive science nur noch an „embodied reason“ und „embodiment“ interessiert und dem-

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Funktionstüchtigkeit, Abweichung, Störung entsprechend wird selbst am MIT hardware (robotics) ernster genommen, als die Entwicklung von software. Zu dieser Entwicklung gehören überraschende Entwicklungen, etwa die Beschäftigung (in cogntive science) mit Ritualen.1 Diese neue Generation von cognitive science beschäftigt sich mehr mit Neuroscience in Bezug auf Biologie denn auf computer science − geschweige Physik.2 Daher ist die Tartuer Schule so wichtig. Sie beruft sich auf Uexkülls „Bedeutungslehre“ (Biosemiotik), und dies machen auch cogntive scientists wie Clark. Der springende Punkt für das Projekt muss sein, dass die heute so wichtig gewordene Thematik der Verkörperung („Embodiment“) theoretisch auf einen Begriff gebracht werden kann. Das kann sie, und zwar durch semiosis. Wie Sie schreiben, „Anders als das Verständnis der Verkörperung im heutigen kulturwissenschaftlichen Diskurs, der den Körper als eine Bedeutungserzeugungsfläche liest, versteht Peirce Verkörperung und Repräsentation von Bedeutung in einer abstrakteren und umfassenderen Dimension, die nicht unbedingt auf den menschlichen Körper beschränkt ist.“

Das ist für das Projekt das Entscheidende. Aber, so formuliert kann man das Projekt als „PeirceForschung“ vielleicht einschätzen und abtun (da es um einen „Schlüsselbegriff“ gehen soll und nicht um historische Forschung zu einem bestimmten Denker). Daher ist es mein Vorschlag, den Gedanken so zu formulieren (in etwa): „Anders als das Verständnis der Verkörperung im heutigen kulturwissenschaftlichen Diskurs, der den Körper als eine Bedeutungserzeugungsfläche liest, ist der Gedanke von Verkörperung und die Repräsentation von Bedeutung in einem allgemeineren und umfassenderen Sinn zu verstehen, die nicht unbedingt auf den menschlichen Körper beschränkt ist.“

Dann kann man die Darstellung wie folgt fortsetzen: „Bedeutung als wirklicher Prozess verlangt konkrete Medien, aber diese ‚Medien‘ − wie der menschliche Körper oder die Schrift − sind auch nur Aspekte eines Prozesses (semiosis), in dem Bedeutung verschiedener Art entsteht. Hier sind zwei vor-kulturelle Arten zu nennen: Iconizität und Indexikalität.

1 2

Etwa: McCauley/Lawson: Bringing Ritual to Mind, Cambridge U. Press 2000. Andy Clark, Being There: Putting Brain, Body, and World Together Again, Cambridge: The MIT Press, 1997.

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Karl Clausberg – John Krois – Elize Bisanz Abdrücke und Spuren verschiedener Art sind Beispiele solcher vorkulturellen Formen. In dem Prozess der Prägung oder Übernahme von Form als materielle Prozesse entstehen Gestalten, die dann als bedeutungsvoll angesehen werden können. Der Begriff der ‚Verkörperung‘ ist somit ein materieller und semiotischer Prozess zugleich. Verkörperung bezeichnet einen Prozess an der Grenze zwischen Geistes- und Naturwissenschaft.“

Ich denke, unser Projekt soll den Begriff Verkörperung auf drei Weisen untersuchen. Sie soll eine historische und systematische Rekonstruktion dieses Schlüsselbegriffs geben (keine „Begriffsgeschiche“! − ein veralterter unsemiotischer Gedanke), begleitet durch zwei konkrete Fallstudien, die den Sinn von Verkörperung konkret illustrieren sollen. Historisch gesehen hat der deutsche Philosoph und Kunsthistoriker Edgar Wind in den 1920er Jahren den Gedanken der „Verkörperung“ als Zentralbegriff der Philosophie ausgearbeitet, und zwar im Anschluss an seine Begegnung mit der Philosophie von Charles Sanders Peirce. Für Wind war der Hauptvorzug dieses Begriffs, dass er − im Gegensatz zu den meisten wissenschaftlichen Begriffen − die Bereiche von Natur- und Kulturwissenschaft vereinte. So hat er auf die Verkörperung in den Naturwissenschaften im „Experiment“ und in den Geisteswissenschaften im „Dokument“ hingewiesen. Winds Ansätze wurden damals nicht zur Kenntnis genommen (er musste 1933 immigrieren). Der Begriff „Verkörperung“ (bzw. „Embodiment“) ist inzwischen zu einem internationalen Schlagwort geworden. Bei der historischen Rekonstruktion soll die entscheidende Rolle der Lebenswissenschaften für die Entstehung des Verkörperungsgedankens als semiosis hervorgehoben werden. Jakob von Uexküll's „Bedeutungslehre“ (Tartuer Schule der Semiotik und MIT robotics berufen sich auf seine Umwelttheorie) war wohl der wichtigste Urheber von der als „Biosemiotic“ bezeichneten Forschung. Biosemiotic findet heute auch bei Neurowissenschaftlern Vertreter, vor allem bei Terrence Deacon.3 Deacon ist allerdings ein grosser Peirce-Anhänger. Meine Gespräche mit ihm haben gezeigt, dass er Peirces Bedeutung für die Verkörperungsproblematik besser versteht als irgendjemand seit Wind. Edgar Wind hat seine Philosophie als eine „Philosophie der Verkörperung“ bezeichnet. Neben Peirce sind heute andere Denkrichtungen von Bedeutung. Die Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty und die neue Generation von „cognitive

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Vf. von The Symbolic Species − The Coevolution of Language and the Brain.

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Funktionstüchtigkeit, Abweichung, Störung science“ (und ihr Vordenker Mark Johnson und George Lakoff) stellen zwei weitere Quellen des Verkörperungsgedankens da). In den letzten Jahren hat aber die Verwendung des Verkörperungsgedankens ständig an Bedeutung gewonnen. Wissenschaftler mit diversen Forschungsrichtungen gehen von Fragestellungen aus, die dem Begriff der Verkörperung (Embodiment) zentrale Bedeutung geben. In der Kunstgeschichte werden traditionelle Felder mit Malerei damit neu gedeutet4, vergleicht die optische Fokussierung des Impressionismus mit der Betonung der Bewegung durch Raum beim Naturalismus] während auch erweiterte bildwissenschaftliche Arbeiten ebenfalls entstehen. So die Untersuchung Tactile Pictures von Yvonne Erikson, die in Anknüpfung an medizinisch-psychologische Forschungen von John Kennedy [Drawing and the Blind] entstand. Eriksson geht die Beziehung zwischen Tastsinn und Sehen nach. Wie die Arbeit von Did-Huberman zum Abdruck, werden hier nicht-künstlerische Bilder und auch Photographie thematisiert. Auch wo der Terminus Verkörperung nicht vorkommt, spielt der Gedanke selbst oft eine zentrale Rolle. Zur Illustration, der Philosoph Stephen Boulter hat neulich in einem Aufsatz über „Metaphysical realism as a pre-condition of visual perception“5 Ergebnisse der neueren Lebenswissenschaften verwendet, um für die zentrale Bedeutung von Verkörperung die Möglichkeit von objektivem Sinn in der visuellen Wahrnehmung zu begründen. Boulters Ansatz ist typisch für eine neue Richtung in der Philosophie, die ihre Anregungen in Lebenswissenschaften (und nicht mehr in den physikalischen oder logischen) sieht. Ein Sammelband, der die „Verkörperung“ als Thema hat6 bringt Beiträge von Philosophen und Anthropologen. Diese Textsammlung thematisiert aber ausschließlich den menschlichen Körper als Bedeutungsträger. Eine internationale Tagung im Mai dieses Jahres7 hat die Thematik auf ihre hier anvisierte Bedeutung erweitert. Eine Rekonstruktion der Entwicklung des Verkörperungsgedankens soll die Beziehungen und Quellen dieses Begriffs aufweisen (dazu gehört das Gedankenexperiment und einiges mehr). Ich werde ab Mitte Juli wieder in Deutschland sein und kann dann den Text zum Abschluss bringen. 4 5 6 7

Erich Fried's Menzel's Realism: Art and Embodiment in NineteenthCentury (Berlin New Haven: Yale University Press, 2002). In Biology and Philosophy 19 (2004), 243–261. Gail Weiss and Honi Fern Haber, hg., Perspektives on embodiment: The intersection of Nature and Culture, New York, 1999. The Body and Embodiment: Intersections of Imagery, Literature, and Science; Göteborg 7–9 Mai 2004.

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Karl Clausberg – John Krois – Elize Bisanz Mit besten Grüßen Ihr John Michael Krois

Wissenschaften-übergreifende Probleme der ‚Verkörperung‘ Der Begriff Verkörperung/Embodiment bedarf zunächst einer anschaulichen Erläuterung, um seine Relevanz in den verschiedenen Wissenschaften deutlich zu machen: Nicht nur organische Wesen sind 'Verkörperungen' von mehr oder minder optimierten, umweltangepaßten (Über)Lebensfunktionen, auch z.B. Meßinstrumente stellen im exakten Wortsinn 'Verkörperungen' von Naturgesetzmäßigkeiten dar, die sie quantifizierend anzeigen sollen. Aber es liegt in der Natur der instrumentenbautechnischen Verkörperung, daß sie oft mehr oder anderes 'auf die Beine stellt' als den Plänen und Erwartungen der Forscher entspricht. Ausschalten von Störquellen und Meßfehlerbereinigung sind dann die etablierten pragmatischen Prozeduren zur Erkenntnisbefestigung. Diese Prozeduren entsprechen evolutionären Selektionsprozessen. In der klinischen Neurologie und Hirnforschung, die es mit menschlich 'verkörperten' Funktionszusammenhängen zu tun haben, sind Korrekturen und Performanz-Prognosen weit komplexer, weil ganz verschiedenartige Kriterienkataloge und Wertbegriffe zum Zuge kommen. In den Geisteswissenschaften schließlich hat die Reflexion grundsätzlichen Charakter angenommen und wirkt mittlerweile wiederum auf theoretische Überlegungen in den Naturwissenschaften zurück. Komplexe Systeme, seien es organismische oder technoide, stoßen an ihre Leistungsgrenzen, wenn Störungen, Neglekte, Meßfehler, Sinnschwund und andere Degradationen sich einstellen. Beurteilungen der Funktionstüchtigkeit und zu erwartender oder unvorhersehbarer Abweichungen sind grundlegende Bestandteile jeder Art von Projektplanung und -durchführung. Deshalb gehören Risikoabschätzungen, Prognosen, Alternativenentwürfe und anderes mehr zu den wichtigsten Begleitverfahren zivilisatorisch-technischer Entwicklungsarbeit. Oft wird aber die Tragweite solcher Verfahren nicht am aktuellen Stand der einzelnen Wissenschaften, sondern nur im historischen Längsschnitt erkennbar. Weil die naturwissenschaftlichen Hochleistungsdisziplinen meist keine Zeit mehr haben, sich um ihre eigene Vorgeschichte zu kümmern, sind hier die Geistes- und Geschichtswis-

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Funktionstüchtigkeit, Abweichung, Störung senschaften gefordert, und auf dieser Ebene von synchronen und diachronen Betrachtungsweisen beginnen sich neuartige Fächerkonstellationen und Kooperativen anzubahnen; zum beiderseitigen Nutzen. – Das von uns ins Auge gefaßte Projekt zielt bewußt auf solche wissenschaftsgeschichtlich vertieften‚ wechselseitigen Erhellungen. Verkörperung/Embodiment ist in den vergangenen Jahren zu einem Schlüsselbegriff der Geisteswissenschaften avanciert. Verkörperung wurde zunächst besonders in der phänomenologischen Philosophie (im Anschluss an Merleau-Ponty) und in den neuen Kognitionswissenschaften/cognitive sciences thematisiert.8 Verkörperung ist in etlichen weiteren Wissenschaften zum Leitbegriff geworden, z.B. auch in der Kunstgeschichte.9 Das Spektrum des Interesses ist mittlerweile in eigenen Sonderbibliographien faßbar.10 In seinem wichtigen Buch: The Symbolic Species11 hat Terrence W. Deacon die enge Koppelung beider Aspekte – der naturund kulturwissenschaftlichen – aufgezeigt. Das Thema Embodiment wurde bereits auf Konferenzen in den letzten Jahren behandelt12 und eine internationale interdisziplinäre Zeitschrift mit dem Titel Embodiment ist in Planung.13 Das Problem der „Verkörperung von Bedeutung“ liegt also im hochaktuellen Grenz- und Überlappungsbereich von gegenwärtigen Geistes- und Naturwissenschaften. Geisteswissenschaftler haben lange mit dem Problem der Beziehung ihrer Fächer zu den Naturwissenschaften und der notwendigen Wiederannäherung gerungen. Immer mehr Forscher –

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Wie Mark Johnson gezeigt hat, ist dies nur eine Richtung in der Geneaologie des Begriffs: John Dewey wäre ebenfalls zu nennen. Der wohl wichtigste Denker in der Entstehung der Idee einer Philosophie der Verkörperung, Edgar Wind, ist bisher kaum zur Kenntnis genommen worden. So wird z.B. der Begriff der Verkörperung (anstelle des Begriffs mimesis) verwendet, um naturalistische Kunst zu charakterisieren und zu deuten. Siehe Introductory Bibliography to Research on ‚Embodiment‘, including assorted URLs for web pages on Biosemiotics for those of you who requested them, Prepared by Roslyn M. Frank, Michael Houser, Tom Ziemke, Jordan Zlatev, and René Dirven, Draft Version 11.04.03; link: http://www.uiowa.edu/~spanport/personal/Frank/EmbodiBibliog.htm Terrence W. Deacon: The Symbolic Species. The Co-Evolution of Language and the Brain, New York: Norton, 1998. Siehe die Anlage „The Body and Embodiment“ Auskunft erhältlich von Mike Anderson, Research Associate, Institute for Advanced Computer Studies, University Of Maryland (http://www. cs.umd.edu/~anderson/ )

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Karl Clausberg – John Krois – Elize Bisanz auch in den Geisteswissenschaften – wenden sich dem Phänomenen der Verkörperung zu, weil dadurch der notwendige Brückenschlag zwischen Natur- und Geisteswissenschaften herbeigeführt werden kann. Kognitionswissenschaftler betreiben ihre Versuche, den menschlichen Geist zu verstehen, nicht mehr allein anhand von Computermodellen, die sich als zu reduktionistisch erwiesen haben. Um Körper samt Umwelt zu begreifen, haben sie Embodiment zu ihrem Leitbegriff erhoben. An dieser Entwicklung waren Denker aus verschiedenen Disziplinen beteiligt. So hat etwa der Philosoph Mark Johnson14 den menschlichen Körper zum Ausgangspunkt für eine Theorie der Bedeutung genommen. Seine Betrachtungsweise ist biologisch, läßt sich aber an Arbeiten in der Computerwissenschaft anschließen. Zusammen mit dem Linguisten George Lakoff hat er 1999 eine allumfassende 'Philosophie im Fleisch' entworfen, die sich weitgehend auf ein in Metaphernkomplexen implementiertes kognitives Unbewußte beruft.15 Organismus und Umwelt sind die herausragenden Orientierungsbegriffe dieser Wissenschaft, die sich auf bedeutende Vorläufer berufen kann. Anfang des letzten Jahrhunderts hatte der Biologe Jakob von Uexküll begonnen, seine theoretische Biologie, die auf einer 'Bedeutungslehre' basierte, auszuarbeiten. Uexkülls Gedanken erleben derzeit eine Renaissance in den Kognitionswissenschaften und in der Biosemiotik. Die Grundthese der Biosemiotik besagt, daß der Organismus-Begriff nicht unabhängig von dem Begriff der Bedeutung verstanden und erläutert werden kann. Bedeutung wird allerdings nicht als psychologischer Terminus verstanden. Der Kognitionswissenschaftler Andy Clark und der KIExperte Rodney Brooks z.B. haben Uexkülls Lehre in der Robotikforschung angewendet.16 Charakteristisch ist die Überschrift eines langen Essays aus dem Jahre 2001, der wörtlich Uexkülls Buchtitel Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen paraphrasierte, indem nun Roboter an die Stelle von Menschen

14 Mark Johnson: The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason Chicago and London: The University of Chicago Press 1987. 15 George Lakoff and Mark Johnson: Philosophy in the Flesh. The Embodied Mind and its Challenge to Western Thought, Basic Books 1999. 16 Andy Clark: Being There. Putting Brain, Body, and World Together Again. Cambridge: MIT Press, 1997, S. 24–31. – Rodney Brooks: New Approaches to Robotics, 1991.

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Funktionstüchtigkeit, Abweichung, Störung rückten.17 — Die Tartuer Schule der Semiotik knüpft traditionsbedingt und sehr bewußt an Uexkülls Arbeiten an, denn Uexküll stammte aus Estland und hat in Tartu / Dorpat studiert. Dort ist gegenwärtig eine Wissenschaftlergruppe tätig, welche die Beziehungen zwischen Leben und Zeichen in den Mittelpunkt ihrer Forschungen stellt. Kognitionsforschung ist ein hochaktuelles und innovatives Forschungsgebiet der Neurowissenschaften. Sie führt sowohl zu Erkenntnissen über die Grundlagen von Wahrnehmungs-, Lernund Bewußtseinsprozessen als auch zu Einsichten in neuropsychiatrische Erkrankungen oder psychosoziale Störungen, d.h. Krankheitsverläufe mit Beeinträchtigungen 'normaler' Hirnfunktionen. Unterschiedliche Fachdisziplinen sind involviert. Die Psychologie entwickelt auf der Grundlage von Verhaltensbeobachtungen Hypothesen zu bestimmten kognitiven Leistungen. Neuroanatomie und Neurophysiologie untersuchen die vielfältigen strukturellen und funktionellen neuralen Verarbeitungsebenen. Neurologie, Neuropsychiatrie und Neuropsychologie beschäftigen sich mit Diagnostik und Therapie kognitiver Symptome bei Patienten mit Funktionsstörungen des Gehirns. Es geht um das Verständnis dieser Symptome in Begriffen der fehlenden psychologischen Operationen, die für eine normale und effiziente Wahrnehmung, für Sprache, Emotionen und normal funktionierendes Gedächtnis und Lernen notwendig sind. Eine fachspezifische Informatik schließlich definiert im Arbeitsbereich computational Neuroscience auf Grund der in anderen Disziplinen generierten Daten theoretische Konzepte und Modellierungsansätze, die wiederum auf die experimentellen Ansätze rückkoppeln und neue Fragestellungen aufwerfen. – In diesem Zusammenhang spielen auch Fragen der Biosemiotik, kulturellen Semantik und persönlichepisodischen Gedächtnisleistungen eine wichtige Rolle, die nicht allein von fachspezifisch grundlagenorientierter oder klinischer Forschung angegangen werden können. Nicht zuletzt sind schließlich die je individuell entfalteten und aufrechterhaltenen ‚Körperbildlichkeiten‘ von hoher diagnostischer Bedeutung; sie erweisen sich zugleich als ein wesentlicher Überlappungsbereich mit den Bildwissenschaften und der Kunstgeschichte. Zwei Stichproben: 1.) Carl Wernicke, der bedeutende Pionier der zerebralen Lokalisationsforschung, hat 1874 in den Hirnzen-

17 Tom Ziemke and N.E. Sharkey: A stroll through the worlds of robots and animals: Applying Jakob von Uexküll’s theory of meaning to adaptive robots and artificial life, 2001.

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Karl Clausberg – John Krois – Elize Bisanz tren abgelegte, sensorische und motorische Körperbilder und deren pathologische Veränderungen zur Grundlage einer neuartigen Diagnostik gemacht.18 Was aus heutiger Sicht sofort auffällt, ist die extensive Verwendung der Bild-Begrifflichkeit (als deren Korrelat auch 'Verkörperung' eingesetzt werden kann): Im Unterschied zu den unmittelbaren Sinneseindrücken wolle er alle Residuen abgelaufener früherer Erregungen, mit denen die Hirnrinde bevölkert sei, ein für alle Mal Erinnerungsbilder nennen, schrieb Wernicke einleitend. Auch von den Leibesbewegungen, die zu veränderungsbedingten Muskelempfindungen Anlaß gäben, würden Erinnerungsbilder in der Großhirnrinde zurückbleiben.19 Erinnerungsbilder von Empfindungen einerseits, von Bewegungsformen des eigenen Leibes andererseits seien also die von der Außenwelt gelieferten Elemente, welche gemeinsam den Inhalt des Bewußtseins konstituierten. Beim Lesen und Schreiben mußten weitere Sorten von Erinnerungsbildern hinzukommen: Kinder lernten dadurch lesen, daß sie die optischen Sinnesbilder der Buchstaben mit deren Klangbildern in Verbindung brächten, so Wernicke; Schreiben werde dadurch erlernt, daß die optischen Sinnesbilder der Buchstaben durch Schreibbewegungen nachgeahmt würden. Vielfältig variable Verknüpfungen von Klang-, Sicht- und Bewegungsbildern waren Wernicke zufolge in speziellen Herden der Hirnrinde und entsprechenden Nervenverbindungen organisiert. Besonderheiten krankhafter Störungen ließen sich im Prinzip schon aus der Geometrie der Verteilung und schematischen Verschaltung erschließen; das war Wernickes zukunftsträchtiger Ansatz. 2.) Ein grandioses Doppelbild aus somatopsychischen und psychoanalytischen Aspekten hat Paul Schilder, der kompetente Wiener Wanderer zwischen den Welten der Psychiatrie und Psychoanalyse, in seinem 1935 erschienenen Buch über ‚Bild und Erscheinung des menschlichen Körpers‘20 entworfen. Ausgehend von klinischen Daten der Körperwahrnehmung präparierte er mit aller Deutlichkeit die irritierend kontra-intuitive Tatsache heraus, daß materieller Leib und subjektiv erfahrene Selbstempfindungen bei krankhaften Störungen, aber auch in ungewöhnlichen Le18 Carl Wernicke: Der aphasische Symptomencomplex. Eine psychologische Studie auf anatomischer Basis. Breslau 1874. – ders.: Nochmals das Bewußtsein; in: Allgemeine Zeitschrift für Psychologie 36/1880, S. 509– 512. 19 Wernicke Symptomencomplex 1874, S. 5. 20 Paul Schilder: The Image and Appearance of the Human Body, London 1935.

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Funktionstüchtigkeit, Abweichung, Störung benslagen nicht mehr zur Deckung kommen. Bei schnellen Fahrstuhlfahrten – so Schilders eingängigstes Beispiel – scheint das innere Körperbild kurzfristig aus seinem organischen Gefäß herauszuhüpfen oder nach unten mit den Füßen durchzutreten. Schon unter weniger exzentrischen Beschleunigungsbedingungen seien Berührungs-, Wärme- und Schmerzempfindungen in ihrer Örtlichkeit oft merklich gegenüber der objektiv gegebenen Körpergeometrie verschoben, scheinen unter der Haut zu liegen und anderes mehr. Fazit: Der Körper ist nicht einfach da, so wie er groß wurde, sondern Körperempfinden, Selbstvorstellungen und tatsächlicher Leib haben sich in lebenslänglichen wechselseitigen Anpassungsprozessen aufeinander einzustellen; – und das Bild des Körpers wird nicht immer dort erscheinen, wo man es zunächst erwartet, und auch weit mehr umfassen als die nackte Leiblichkeit. Solche Verschiebungen konnten bis zu extremen, nämlich externen Formen der Selbstwahrnehmung in der Heautoskopie reichen und damit als Doppelgänger-Motiv auch Grenzbereiche von Psychiatrie und Kunst thematisieren.21 In allen möglichen Schnittmengen erweisen sich also Verkörperung und Bedeutung sowie deren Infragestellungen bei kognitiven Störungen und Neglekten einerseits, bei Meßfehlern sowie Daten- und Sinnverlusten auf der anderen Seite als hochaktuelles Forschungsfeld. Diese Vernetzbarkeit der Fragestellungen ist nicht nur fächerintern und fächerübergreifend relevant, sondern adressiert grundlegend lebenswichtige Fragestellungen: Stabilität oder Fragilität, Eigenschaften und Gefährdungen ‚verkörperter’ Systeme, den erkenntnistheoretischen Status oder das Versagen von Modell-Vorstellungen und Modellierungsversuchen, die prognostischen Gehalte retrospektiver Untersuchungen; und Anderes mehr.

IM

E RGÄNZUNG J OHN K ROIS : V ERKÖRPERUNG INTERNATIONALEN F ORSCHUNGS - UND D ISKUSSIONSSTAND

Der Gedanke der „Verkörperung“ wurde inzwischen von einer wachsenden Anzahl von Forschern auf verschiedenen Gebieten – Natur- und Geisteswissenschaften – aufgegriffen. Bemerkenswert an dieser Entwicklung ist, daß sie gleichzeitig auf verschiedenen 21 Ausführlicher dazu: Karl Clausberg: Ausdruck und Aura. Synästhesien der Beseelung; in: Karl Clausberg, Elize Bisanz, Cornelius Weiller (Hg.): Ausdruck * Ausstrahlung * Aura – Synästhesien der Beseelung im Medienzeitalter .2007, Hippocampus Verlag.

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Karl Clausberg – John Krois – Elize Bisanz Forschungsgebieten stattgefunden hat, ohne daß zwischen ihnen ein sichtbarer direkter Einfluß besteht. Die gegenwärtigen Diskussionen über „Verkörperung“ stellen weitestgehend eine Fortsetzung von Forschungen zum Begriff des „Körpers“ (i.e. des menschlichen Körpers) dar. Wie die Herausgeber des Aufsatzbandes Perspectives on Embodiment: The Intersections of Nature and Culture,22 Gail Weiss and Honi Fern Haber, konstatieren, ist der Begriff „Verkörperung“ inzwischen dabei, den Begriff „Körper“ zu verdrängen. Der Grund hierfür liegt in der größeren Reichweite des ersteren Begriffs, die sich nicht auf die besondere lebendige Entität des menschlichen Körpers beschränkt. Unter den Autoren des von Weiss und Haber herausgegebenen Sammelbandes Perspectives on Embodiment: The Intersections of Nature and Culture ist mit Thomas J. Csordas auch ein Anthropologe vertreten. Csordas setzt sich in seinen Publikationen ausführlich mit dem Begriff der Verkörperung auseinander. So untersucht er in seinem Aufsatz „Embodiment as a Paradigm for Anthropology“23 die Wege, auf denen dieser Begriff Eingang in die Kulturanthropologie fand. Außerdem hat er einen eigenen Sammelband zum Thema Embodiment and experience: The existential ground of culture and self24 herausgegeben. Der Sammelband Perspectives on Embodiment enthält auch einen Aufsatz des Philosophen Mark Johnson, der (häufig gemeinsam mit dem Linguisten George Lakoff25) wichtige Beiträge zu dem neuen Gebiet der Kognitionswissenschaft verfaßt hat. Johnson und Lakoff konzentrieren sich besonders auf die körperliche Basis von Konzeptualisierung und Vernunft.26 Lakoff zufolge „ist in der traditionellen Auffassung die Vernunft abstrakt und

22 Gail Weiss and Honi Fern Haber, eds., Perspectives on Embodiment: The Intersections of Nature and Culture (New York and London: Routledge, 1999), p. xiii–xiv. 23 Thomas J. Csordas, “Embodiment as a Paradigm for Anthropology,” (1988 Stirling Award Essay) Ethos 18, No. 1 (March 1990); 5–47. 24 Thomas J. Csordas (ed.), Embodiment and experience: The existential ground of culture and self (Cambridge: Cambridge University Press, 1994). 25 Siehe George Lakoff, Women, Fire, and Dangerous Things: What Categories Reveal about the Mind (Chicago and London: University of Chicago Press, 1987). 26 See George Lakoff and Mark Johnson, Philosophy in the Flesh: The Embodied Mind and Its Challenge to Western Thought (New York: Basic Book, 1998).

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Funktionstüchtigkeit, Abweichung, Störung körperlos. In der neuen Betrachtungsweise hat die Vernunft eine körperliche Basis.“27 Er fügt hinzu: „Unsere Begriffssysteme (conceptual systems) wachsen aus der körperlichen Erfahrung heraus und machen Sinn im Hinblick (in terms) auf diese Erfahrung; ja, mehr noch, der Kern unserer Begriffssysteme gründet direkt in Wahrnehmung, Körperbewegung und Erfahrung physischer oder sozialer Art.“28

Diese Betrachtungsweise ist an sich nicht neu, wurde doch die Konzeption einer verkörperten Vernunft schon Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts durch Pragmatisten wie Peirce, James und Dewey vertreten. Bald darauf entwickelte sich mit der Kulturanthropologie eine neue Konzeption des Geistes. Statt als ein intrinsisches Vermögen, wird der Geist hier als Zusammenspiel biologischer und kultureller Systeme verstanden. Demgemäß wird der Mensch nicht mehr als animal rationale, sondern als animal symbolicum aufgefaßt. Dieser Perspektivenwechsel betrifft selbstredend nicht bloß die Geisteswissenschaften, sondern letztlich deren Gegenstand. Der Geist, als in Symbolen verschiedenster verkörperter Geist, verliert jene aparte Substantialität, die seit Descartes als Bedingung seiner Eigenständigkeit betrachtet wurde. Nicht in der Abgrenzung von den körperlichen Dingen, sondern gerade in der Einheit mit diesen – so die Grundannahme unseres Projektes – kann die Eigenart des Geistes adäquat bestimmt werden. Neu ist jedoch, daß diese Konzeption inzwischen für eine exakte Analysis von Sprache und Konzeptualisierung nutzbar gemacht wird. Anders als die Anthropologie, deren Untersuchungsobjekt die körperliche Aktivität als solche bildet, fragt die Kognitionswissenschaft nach der Art und Weise, wie die körperlichen Quellen des Wissens die logische Form unserer Begriffe prägen. Charakteristisch hierfür sind die von einem streng logischen Standpunkt geleiteten Arbeiten von Adrian Cussins, insbesondere sein umfangreicher Aufsatz „Content, Embodiment, and Objectivity: The Theory of Cognitive Trails“.29 Cussins kritisiert die älteren Versuche, Begriff, Objekt und Wahrheit rein abstrakt-logisch zu bestimmen. Damit, erklärt er, werde nicht nur die Erfahrung ig-

27 Lakoff 1987, xi. 28 Lakoff 1987, xiv. 29 Adrian Cussins, Content, Embodiment, and Objectivity: The Theory of Cognitive Trails Mind, New Series, 101, No. 404 (Oct. 1992): 651–188.

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Karl Clausberg – John Krois – Elize Bisanz noriert, sondern auch die Tatsache, daß unsere Begriffe in verschiedenen Kontexten auch verschieden verkörpert sind. Cussins Ziel ist die Schaffung einer verkörperten Logik, ohne dabei in den Empirismus zu verfallen. Im Rahmen der wachsenden Hinwendung der Philosophie des Geistes und der Kognitionswissenschaft (research of the mind) zum Phänomen der Verkörperung haben Psychologen und Philosophen inzwischen auch begonnen, die geistige Tragweite (intellectual significance) derjenigen Kulturerscheinungen zu untersuchen, denen eine derartige Bedeutung zuvor stets abgesprochen wurde. Dies gilt insbesondere für das Phänomen des Rituals, von dem etwa Claude Lévi-Strauss am Schluß (im letzten Band?) seiner vierbändigen Mythologica, L'homme nu, sagt, es sei kein geeigneter Gegenstand für das Studium des Geistes. Die heutigen Kognitionswissenschaftlern hingegen erachten es gerade als einen der besten Zugänge zur Untersuchung des Geistes (siehe Robert N. McCauley und E. Thomas Lawson: Bringing Ritual to Mind: Psychological Foundations of Cultural Forms).30 Eine zunehmend wichtige Rolle spielt der Begriff der Verkörperung in der gegenwärtigen Kunsttheorie und Kunstgeschichte. In den 1970er Jahren entwickelte der Philosoph Joseph Margolis eine Theorie der „Verkörperung“, die er sowohl an den Menschen als auch an Kunstwerke heranträgt. Auf beide Aspekte seiner Theorie gab es indes nur wenige Reaktionen.31 Der Grund hierfür ist vielleicht darin zu sehen, daß die Theorie der Verkörperung in Margolis' Darstellung viel von ihrer Wirkung verliert. Margolis spricht noch von dem Vorliegen oder dem Fehlen bestimmter „Attribute“ („properties“), womit er der Begrifflichkeit und dem Denken der scholastischen „Substanz“-Metaphysik verhaftet bleibt und den springenden Punkt der Prozeßphilosophie größtenteils verfehlt: die Ersetzung des Begriffs einer unveränderlichen Substanz durch den der Kontinuität von Ereignissen, wodurch „Attribute“ („properties“) nicht länger von einem „Substrat“ trennbar sind, sondern gleichsam selbst zum Substrat werden. 30 Robert N. McCauley und E. Thomas Lawson, Bringing Ritual to Mind: Psychological Foundations of Cultural Forms (Cambridge University Press, 2001). 31 Eine grundsätzliche Kritik findet sich bei Dale Jacquette, Margolis on Emergence and Embodiment, The Journal of Aesthetics and Art Criticism 44, No. 3 (Spring, 1986): 257–261. Eine Beurteilung von Margolis' Arbeit im Hinblick auf die Kunsttheorie gibt Lucian Krukowski, „The Embodiment and Durations of Artworks, The Journal of Aesthetics and Art Criticism 46, No. 3 (Spring, 1988): 389–397.

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Funktionstüchtigkeit, Abweichung, Störung An Margolis’ Arbeit ist bemerkenswert, daß sie explizit auf die Konzeption des Kunstphilosophen Edgar Wind Bezug nimmt, welcher sich bereits in den 1930er Jahren eingehend mit der Problematik der Verkörperung befaßt hatte.32 Die wachsende Intensität und Vielschichtigkeit des multidisziplinären Diskurses über die Verkörperung kontrastiert jedoch mit einer gewissen Blindheit gegenüber der Geschichte der Auseinandersetzung mit diesem Phänomen – und damit auch gegenüber den theoretischen Fundamenten, welche von früheren, stärker philosophisch geprägten Theoretikern gelegt wurden. Zu nennen sind insbesondere der Semiotiker Charles Peirce und der Kunstphilosoph Edgar Wind. Es ist für den gegenwärtigen Stand der Diskussion bezeichnend, daß Edgar Winds philosophische Konzeption der Verkörperung viel breiter angelegt ist, ja daß sie sich nicht einmal notwendig auf „den Körper“ (i.e. den menschlichen Körper) bezieht. Vielmehr finden wir Wind zufolge Verkörperung auch im Meßvorgang, nämlich (1) als Verkörperung eines Meßsystems in dem verwendeten Meßinstrument und (2) in der Tatsache, daß sich in den Regelmäßigkeiten oder Unregelmäßigkeiten von Messungen zu einem bestimmten Grade Naturgesetze verkörpern.33 Wind zufolge zwingen unsere Handlungen die „Wirklichkeit” in einer bestimmten Weise zu antworten, das heißt, ihre Ordnung oder Unordnung in einer Messung zu verkörpern. Diese “Wirklichkeit” ist etwas von unserem Denken Verschiedenes. Sie unterliegt nicht unserem Einfluß, selbst wenn sie sich in unserem Meßinstrument verkörpert. Deshalb nennt Wind sie „metaphysisch“. Der Akt der Messung mit einem Instrument ist auch ein symbolischer Vorgang: Die Zeiger oder Displays an einem Instrument selbst haben keine unmittelbare Bedeutung, sondern müssen abgelesen werden in Bezug zu einem System der Messung und einem Objekt, welches ein notwendiger Aspekt der jeweiligen Bedeutung ist, das heißt diese Bedeutung muß verkörpert sein in etwas, das zumindest indirekt beobachtbar ist, falls diese Bedeutung als real bezeichnet werden soll.34

32 Joseph Margolis, Persons and Minds: The Prospects of Nonreductive Materialism. Boston Studies in the Philosophy of Science 57 (Dordrecht/Boston: D. Reidel, 1978). 33 Wind versteht den Forschungsprozeß als eine ständige Verkörperung und Erfassung von Gesetzmäßigkeiten, d.h. von Universalien. Siehe Das Experiment und die Metaphysik, p. 35. 34 Cf. Das Experiment und die Metaphysik, p. 31.

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Karl Clausberg – John Krois – Elize Bisanz Peirce drückte diesen Gedanken in seinem Aufsatz „On the logic of drawing history from ancient documents“ aus. Der entscheidende Punkt war für Peirce, daß Aussagen über die Geschichte solche über die Zukunft sind. Zu sagen, eine Schlacht habe irgendwann irgendwo stattgefunden, bedeutet letztlich vorauszusagen, daß man die Überreste einer Schlacht finden wird, wenn man den fraglichen Ort untersucht. Selbst das Auslöschen von Spuren hinterläßt Spuren. Wie Peirce den Begriff „Dokument“ im weitesten Sinne für die Verkörperung von Bedeutung überhaupt gebraucht, so ist auch Winds Begriff der „Verkörperung“ weder begrenzt auf den Begriff „der Körper“ noch bezieht er sich exklusiv auf die Natur- oder die Kulturwissenschaften.

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Autorinnen und Autoren

Elize Bisanz, Kunst- und Bildwissenschaft Univerität Lüneburg, Forschungsfeld Bildwissrnschsaft, Pragmatizismus. Karl Clausberg, Kunstgeschichte Universität Lüneburg, Forschungsfeld neuronale Ästhetik Peter Cornelius Claussen, Kunstgeschichte Universität Zürich. Forschungsfeld Kunstgeschichte des Mittelalters Marlene Heidel, Kulturwissenschaft, Univerität Lüneburg, Forschungsfeld Kunst und Kulturtheorie Kenneth L. Ketner, Philosophie, Texas Tech Universität, Forschungsfeld Charles S.Peirce, Logik John Krois, Philosophie Humboldt Universität zu Berlin, Institut für Philosophie. Timon Kuff, Kunstgeschichte, schungsfeld Bildphilosophie

Universität

Lüneburg,

For-

Wibke Larink, Kulturwissenschaft, Forschungsfeld interdisziplinäre Kunstgeschichte Ursula Lücke, Kulturwissenschaft, Universität Lüneburg, Künstlerin Pierangelo Maset, Kunstvermittlung Universität Lüneburg, Forschungsfeld, Kunstphilosophie, Bildpragmatik. Winfried Nöth, Sprachwissenschaft Universität Kassel, Forschungsfeld Semiotik, Sprachwissenschaft,

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Autorinnen und Autoren Joachim Paech, Philosophie, Universität Konstanz, Forschungsfeld Medientheorien. Friederike Plaga, Kulturwissenschaft, Forschungsfeld Bildpädagogik Florian Schaper, Kunstvermittlung Universität Lüneburg, Forschungsfeld Bildpragmatik Alois Schlögl, Neurowissenschaft, Technische Universität Graz, Forschungsfeld Neuroinformatik. Anne Springer, Psychologie Universität Potsdam, Forschungsfeld Kognitionswissenschaften Thorsten Wunsch, Kunstgeschichte HU Berlin, Forschungsfeld Schriftlichkeit

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Image Thomas Abel, Martin Roman Deppner (Hg.) Undisziplinierte Bilder Fotografie als dialogische Struktur November 2011, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1491-6

Dietmar Kammerer (Hg.) Vom Publicum Das Öffentliche in der Kunst Januar 2012, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1673-6

Annette Jael Lehmann Environments: Künste – Medien – Umwelt Facetten der künstlerischen Auseinandersetzung mit Landschaft und Natur November 2011, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1633-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Image Jeannette Neustadt Ökonomische Ästhetik und Markenkult Reflexionen über das Phänomen Marke in der Gegenwartskunst Mai 2011, 468 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1659-0

Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts 2010, 256 Seiten, kart., 135 Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-420-1

Eva Reifert Die »Night Sky«-Gemälde von Vija Celmins Malerei zwischen Repräsentationskritik und Sichtbarkeitsereignis November 2011, 230 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1907-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Image Sabiene Autsch, Sara Hornäk (Hg.) Räume in der Kunst Künstlerische, kunst- und medienwissenschaftliche Entwürfe

Sebastian Neusser Die verborgene Präsenz des Künstlers Inszenierungen der Abwesenheit bei Salvador Dalí, Joseph Beuys, Robert Morris und Vito Acconci

2010, 304 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1595-1

Februar 2011, 228 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1635-4

Elize Bisanz Die Überwindung des Ikonischen Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Bildwissenschaft

Christine Nippe Kunst baut Stadt Künstler und ihre Metropolenbilder in Berlin und New York

2010, 184 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1362-9

Mai 2011, 382 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1683-5

Lars Blunck (Hg.) Die fotografische Wirklichkeit Inszenierung – Fiktion – Narration

Lars Spengler Bilder des Privaten Das fotografische Interieur in der Gegenwartskunst

2010, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1369-8

Mai 2011, 358 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1778-8

Julia Bulk Neue Orte der Utopie Zur Produktion von Möglichkeitsräumen bei zeitgenössischen Künstlergruppen

Katrin H. Sperling Nur der Kannibalismus eint uns Die globale Kunstwelt im Zeichen kultureller Einverleibung: Brasilianische Kunst auf der documenta

November 2011, ca. 308 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1613-2

Oktober 2011, 388 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1768-9

Anita Moser Die Kunst der Grenzüberschreitung Postkoloniale Kritik im Spannungsfeld von Ästhetik und Politik September 2011, 332 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1663-7

Sandra Umathum Kunst als Aufführungserfahrung Zum Diskurs intersubjektiver Situationen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst. Felix Gonzalez-Torres, Erwin Wurm und Tino Sehgal November 2011, ca. 222 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1838-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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