Das andere Zeitalter Justinians. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n. Chr. 3525252463

In dieser historischen Analyse der Herrschaftszeit Justinians (527–565) werden politik- und mentalitätengeschichtliche A

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Das andere Zeitalter Justinians. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n. Chr.
 3525252463

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Vorüberlegungen: Mentalitäten und Katastrophen
1.1 Zum Verhältnis von christlicher Eschatologie und Zeitgeschichte - das Problem des Jahres 500 n. Chr.
1.2 Zielsetzung und methodische Grundlagen der Untersuchung
2. Grundvoraussetzungen: Unerfüllte Erwartungen - Der Katastrophendiskurs im 6. Jh. als Spiegel zerbrochener Weltbilder
2.1 Unterschiedliche Deutungsperspektiven der Katastrophen des 6. Jahrhunderts
2.1.1 Pessimismus und Desillusionierung unter den Heiden in der 1. Hälfte des 6. Jahrhunderts. Das Beispiel des Zosimos und des Damaskios
2.1.2 Christliche Endzeiterwartungen, die Suche nach den Ursachen des Leides und das Phänomen der Angst
2.1.2.1 Das Orakel von Baalbek und die Prophezeiung des nahen Weitendes
2.1.2.2 Endzeiterwartungen im Spiegel der Chronik des Josua Stylites
2.1.2.3 Das Weitende als Thema im christlichen Gottesdienst: Romanos Melodos
2.1.2.4 Indizien für eine Wiederaufnahme ›naturwissenschaftlicher‹ Debatten über die Ursachen von Naturkatastrophen
2.1.2.5 Der Kaiser als Urheber allen Unheils: Das Beispiel Prokops
2.1.2.6 Die Thematisierung der Angst: Agathias
2.1.3 Zusammenfassung
2.2 Zum Verhältnis von Angst und Apokalyptik im 6. Jahrhundert
3. Die Herrschaft Justinians und die Katastrophen
3.1 Die Jahre 527-539/40: laeta saecula - Ein neues Zeitalter
3.1.1 Selbstverständnis und Selbstdarstellung Justinians - Traditionen, Hintergründe und Besonderheiten
3.1.1.1 Deo auctore und nostra felicia tempora: Das ›Zeitalter Justinians‹
3.1.1.1.1 Die kaiserliche Herrschaft ἐκ θεοῦ in der Spătantike
3.1.1.1.2 Justinians spezifisches Verständnis einer Herrschaft ἐκ θεοῦ
3.1.1.1.3 Hinweise auf die Vorstellung eines ›Zeitalters Justinians‹ in den Quellen
3.1.1.1.4 Das neue ›Zeitalter‹ im Spiegel des Triumphes über die Vandalen 534
3.1. 1.1.5 Zur Entwicklung des Restaurations-Gedankens
3.1.1.1.6 Zusammenfassung
3.1.2 Abriß der wichtigsten Aspekte der Politik Justinians bis 539/40
3.1.2.1 Justinians Politik während der Herrschaft Justins I.
3.1.2.2 Der 1. Perserkrieg
3.1.2.3 Vorgehen gegen Randgruppen und religiöse Minderheiten I: Homosexuelle, Heiden, neuplatonische Philosophen in Athen
3.1.2.4 Vorgehen gegen Randgruppen und religiöse Minderheiten II: Samaritaner
3.1.2.5 Der Streit um die theopaschitische Formel
3.1.2.6 Weitere Aspekte der Politik Justinians im Spiegel der Quellen
3.1.2.7 Zusammenfassung
3.2 Die Jahre 543-565: Rückzug in die Theologie
3.2.1 Das Bild der späteren Regierungsjahre Justinians in den Quellen
3.2.2 Außenpolitik
3.2.3 Innenpolitik, und Besetzung der hohen militärischen und zivilen Positionen
3.2.4 Religions- und Kirchenpolitik
3.2.5 Zusammenfassung
3.2.6 Anhang: Konkrete Beispiele für Veränderungen in der Politik Justinians seit 543
3.2.6.1 Verträge mit den Persern
3.2.6.2 Heidenverfolgungen
3.2.6.3 Weitere Beispiele
3.3 Die Jahre 540-542: »Da nun vieles gleichsam unvorhergesehen geschehen ist, wie es schwerlich eine andere Zeit herbeiführen würde...«
3.3.1 Die Einnahme Ravennas und die Katastrophe des Gotenkrieges
3.3.2 Der Persereinfall 540 und die Zerstörung Antiocheias
3.3.3 Ausbruch der Pest in Konstantinopel
3.3.4 Schlußfolgerungen und Ausblick
4. Reaktionen, Deutungen und Bewältigungsstrategien in der Bevölkerung
4.1 Fallbeispiele zum Umgang mit Katastrophen durch Betroffene
4.1.1 Der Komet des Jahres 520
4.1.2 Die Katastrophen in Antiocheia zwischen 525 und 528
4.1.3 Das nächtliche Erdbeben in Konstantinopel 533
4.1.4 Die atmosphärische Störung 536-537
4.1.5 Das Kreuzwunder von Apameia im Jahr 540
4.1.6 Die Pestepidemie in Konstantinopel 541/42
4.1.7 Die Rettung Edessas vor den Persern im Jahr 544 und die ›Auffindung‹ des Christusbildes
4.1.8 Sonderbare Vorkommnisse im Jahr 548
4.1.9 Das Erdbeben in Konstantinopel 557
4.1.10 Die Massenhysterie in Amida 560
4.1.11 Zusammenfassung
5. Synthese
5.1 Konsequenzen der Geschehnisse 1: Die Reichsbevölkerung
5.1.1 Kaiserkritik - Direkte Zeugnisse
5.1.2 Zusammenbruch und Neukonzeption chronologischer und eschatologischer Modelle
5.1.2.1 Probleme der Chronologie
5.1.2.2 Eschatologische Aspekte
5.1.3 Wandel in den religiösen Ausdrucksformen
5.1.3.1 Vorüberlegungen: Religion - Frömmigkeit - Volksfrömmigkeit
5.1.3.2 Prozessionen und Marienverehrung
5.1.3.3 Ausbreitung und Funktion des Bilderkultes im 6. Jahrhundert
5.1.4 Zusammenfassung
5.2 Konsequenzen der Geschehnisse II: Der Kaiser
5.2.1 Punktuelle Aktionen
5.2.1.1 Die Verlegung der Hypapante im Jahr 542 und die reichsweite Förderung der Marienverehrung
5.2.1.2 Kanalisierung von Unwillen gegenüber dem Kaiser: Heidenverfolgungen, Missionstätigkeit und die Novellen 77 und 141
5.2.1.3 Die Errichtung des Reiterstandbildes auf dem Augustaion
5.2.2 Längerfristige Entwicklungen: Die Sakralisierung der Person des Kaisers
5.2.2.1 Endgültige Abkehr von der kaiserlichen civilitas und die Selbstdarstellung Justinians als Heiliger Mann
5.2.2.1.1 Vorbemerkungen
5.2.2.1.2 Auswertung des Quellenmaterials
5.2.3 Zusammenfassung
6. Zusammenfassung: Das andere Zeitalter Justinians
7. Anhang: Liste mit Katastrophen im Oströmischen Reich zwischen 500 und 565
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Register

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Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben

Herausgegeben von Albrecht Dihle, Siegmar Döpp, Dorothea Frede, Hans-Joachim Gehrke, Hugh Lloyd-Jones, Günther Patzig, Christoph Riedweg, Gisela Striker Band 147

Vandenhoeck 8c Ruprecht

Mischa Meier

Das andere Zeitalter Justinians Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n. Chr.

Vandenhoeck & Ruprecht

Verantwortliche Herausgeber: Hans-Joachim Gehrke

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie: detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

ISBN 3-525-25246-3

Hypomnemata ISSN 0085-1671

r'j 2(X)3. Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. Internet: www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen. Mikroverfilmungen und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Gerrnany. Druck: Hubert & Go., Göttingen. Umschlagkonzeption: Markus Eidt, Göttingen.

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

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Vorwort........................................................................................................... 1. Vorüberlegungen: Mentalitäten und Katastrophen............................. 1.1 Zum Verhältnis von christlicher Eschatologie und Zeitgeschicnrc das Problem des Jahres 500 n. Chr................................................... 1.2 Zielsetzung und methodische Grundlagen der Untersuchung.........

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3. Die Herrschaft Justinians und die Katastrophen........................................... 3.1 Die Jahre 527-539/40: laeta saecula - Ein neues Zeitalter............... 3.1.1 Selbstverständnis und Selbstdarstellung Justinians - Traditionen. Hintergründe und Besonderheiten.................................... 3.1.1.1 Deo auctore und nostra felicia tempora: Das »Zeitalter justimansnaturwissenschaftlicher< Debatten über die Ursachen von Naturkatastrophen.............. 2.1.2.5 Der Kaiser als Urheber allen Unheils: Das Beispiel Prokops 2.1.2.6 Die Thematisierung der Angst: Agathias............................... 2.1.3 Zusammenfassung........................................................................ 2.2 Zum Verhältnis von Angst und Apokalyptik im 6. Jahrhundert

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Zeitalters Justinians< in den Quellen...................................................................................... 3.1.1.1.4 Das neue >ZeitaIter< im Spiegel des Triumphes über die Vandalen 534 ......................................................................................... 3.1.1.1.5 Zur Entwicklung des Restaurations-Gedankens........................... 3.1.1.1.6 Zusammenfassung........................................................................... 3.1.2 Abriß der wichtigsten Aspekte der Politik Justinians bis 539/40.... 3.1.2.1 Justinians Politik während der Herrschaft Justins 1....................... 3.1.2.2 Der 1. Perserkrieg.............................................................................. 3.1.2.3 Vorgehen gegen Randgruppen und religiöse Minderheiten I: Homosexuelle, Heiden, neuplatonische Philosophen in Athen ... 3.1.2.4 Vorgehen gegen Randgruppen und religiöse Minderheiten Π: Samaritaner........................................................................................ 3.1.2.5 Der Streit um die theopaschitische Formel................................... 3.1.2.6 Weitere Aspekte der Politik Justinians im Spiegel der Quellen... 3.1.2.7 Zusammenfassung............................................................................. 3.2 Die Jahre 543-565: Rückzug in die Theologie.................................... 3.2.1 Das Bild der späteren Regierungsjahre Justinians in den Quellen ... 3.2.2 Außenpolitik........................................................................................... 3.2.3 Innenpolitik und Besetzung der hohen militärischen und zivilen Positionen................................................................................................ 3.2.4 Religions-und Kirchenpolitik.............................................................. 3.2.5 Zusammenfassung.................................................................................. 3.2.6 Anhang: Konkrete Beispiele für Veränderungen in der Politik Justinians seit 543 .................................................................................. 3.2.6.1 Vertrage mit den Persern................................................................... 3.2.6.2 Heidenverfolgungen......................................................................... 3.2.6.3 Weitere Beispiele............................................................................... 3.3 Die Jahre 540-542: »Da nun vieles gleichsam unvorhergesehen geschehen ist, wie es schwerlich eine andere Zeit herbeiführen würde...«.................................................................................................. 3.3.1 Die Einnahme Ravennas und die Katastrophe des Gotenkrieges .... 3.3.2 Der Persereinfall 540 und die Zerstörung Antiocheias..................... 3.3.3 Ausbruch der Pest in Konstantinopel.................................................. 3.3.4 Schlußfolgerungen und Ausblick.........................................................

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Inhalt

Das nächtliche Erdbeben in Konstantinopel 533 ............................ Die atmosphärische Störung 536-537 .............................................. Das Kreuzwunder von Apameia im Jahr 540 .................................. Die Pestepidemie in Konstantinopel 541/42 .................................... Die Rettung Edessas vor den Persem im Jahr 544 und die >Auffindung< des Christusbildes................................................................... 4.1.8 Sonderbare Vorkommnisse im Jahr 548 .......................................... 4.1.9 Das Erdbeben in Konstantinopel 557 ............................................... 4.1.10 Die Massenhysterie in Amida 560 ................................................... 4.1.11 Zusammenfassung............................................................................. 4.1.3 4.1.4 4.1.5 4.1.6 4.1.7

5. Synthese.......................................................................................................... 5.1 Konsequenzen der Geschehnisse I: Die Reichsbevölkerung.......... 5.1.1 Kaiserkritik - Direkte Zeugnisse....................................................... 5.1.2 Zusammenbruch und Neukonzeption chronologischer und eschatologischer Modelle............................................................................ 5.1.2.1 Probleme der Chronologie............................................................ 5.1.2.2 Eschatologische Aspekte.............................................................. 5.1.3 Wandel in den religiösen Ausdrucksformen................................... 5.1.3.1 Vorüberlegungen: Religion - Frömmigkeit - Volksfrömmigkeit 5.1.3.2 Prozessionen und Marienverehrung............................................. 5.1.3.3 Ausbreitung und Funktion des Bilderkultes im 6. Jahrhundert... 5.1.4 Zusammenfassung.............................................................................. 5.2 Konsequenzen der Geschehnisse Π: Der Kaiser............................. 5.2.1 Punktuelle Aktionen........................................................................... 5.2.1.1 Die Verlegung der Hypapante im Jahr 542 und die reichsweite Förderung der Marienverehrung................................................... 5.2.1.2 Kanalisierung von Unwillen gegenüber dem Kaiser: Heidenverfolgungen, Missionstätigkeit und die Novellen 77 und 141 ........................................................................................... 5.2.1.3 Die Errichtung des Reiterstandbildes auf dem Augustaion......... 5.2.2 Längerfristige Entwicklungen: Die Sakralisierung der Person des Kaisers..................................................................................... 608 5.2.2.1 Endgültige Abkehr von der kaiserlichen civilitas und die Selbstdarstellung Justinians als Heiliger Mann........................... 5.2.2.1.1 Vorbemerkungen........................................................................... 5.2.2.1.2 Auswertung des Quellenmaterials................................................ 5.2.3 Zusammenfassung.............................................................................. 6. Zusammenfassung: Das andere Zeitalter Justinians....................................

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Inhalt

7 A„l»nç Liste mit K»ph«n im Oströmi.chen Reich zwischen SOO ................................................... 656 und 565 ................................................................. Quellenverzeichms............................................... Literaturverzeichnis....................................................

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Vorwort

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die gekürzte und leicnt uoerarbeitete Version meiner Habilitationsschrift, die im Sommersemester 2002 von der Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie der Universität Bielefeld angenommen worden ist. Ihr Entstehen wurde erheblich gefördert durch die anre­ gende und freundschaftliche Atmosphäre am Bielefelder Lehrstuhl für Alte Ge­ schichte, insbesondere durch Herrn Prof. Dr. Winfried Schmitz, der seinem Assi­ stenten alle Freiheiten ließ und ihm dabei jederzeit mit Rat und Kritik zur Seite stand. Die Arbeit verdankt nicht nur ihm wertvolle Anregungen, sondern auch Herrn Prof. Dr. Hartmut Leppin und Herrn PD Dr. Tassilo Schmitt, die dankens­ werterweise beide die Mühe auf sich genommen haben, die Habilitationsschrift zu begutachten. Unter all denen, die mir in Gesprächen und Diskussionen weiterge­ holfen haben, danke ich ganz besonders Herrn PD Dr. Wolfram Brandes für eine Reihe wichtiger Hinweise aus byzantinistischer Perspektive. Das Manuskript wurde in verschiedenen Bearbeitungsstadien von meiner Frau Christiane Meier, meiner Mutter Astrid Meier sowie von Frau Angela Willfroth korrekturgelesen. Hierfür möchte ich ihnen herzlich danken. Mein Dank gilt auch den Herausgebern der »Hypomnemata« - vor allem Herrn Prof. Dr. Hans-Joachim Gehrke - für die Aufnahme meiner Arbeit in ihre Reihe. Als ich mich gerade mit der mysteriösen SonnenVerfinsterung der Jahre 536*37 beschäftigte, kam meine Tochter Caroline Zoe zur Welt. Sie bildet seitdem einen munteren Gegenpol zu den Katastrophen des 6. Jahrhunderts. Ihr und meiner Frau Christiane sei dieses Buch gewidmet.

Bielefeld, im November 2002

Mischa Meier

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1. Vorüberlegungen: Mentalitäten und Katastrophen 1.1 Zum Verhältnis von christlicher Eschatologie und Zeitgeschichte - das Problem des Jahres 500 n. Chr. Zwischen 304 und 311 n. Chr., in einer Phase schwerer Christenverfolgungen, verfaßte L. Caelius Firmianus Lactantius sein theologisches Hauptwerk, die Di­ vinae institutiones. Die Schrift sollte das Christentum gegenüber einem heidni­ schen Publikum verteidigen und dabei zugleich die Leser in die christliche Theo­ logie einfuhren. Das abschließende siebte Buch (De vita beata) behandelt in die­ sem Kontext eschatologische Aspekte, unter denen vor allem die Vorstellung vom messianischen Reich ausführlich thematisiert wird. Dort hält Laktanz fest (inst. VH 14,6-11): sciant igitur philosophi qui ab exordio mundi saeculorum milia enumerant, nondum sextum mille­ simum annum esse conclusum. Quo numero expleto consummationem fieri necesse est et huma­ narum rerum statum in melius reformari. [...] necesse est ut in fine sexti millesimi anni malitia omnis aboleatur e terra et regnet per annos mille iustitia sitque tranquillitas et requies a laboribus quos mundus iam diu perfert. Wissen sollen daher die Philosophen, die seit dem Anfang der Welt Tausende von Zeitaltem auf­ zählen, daß das sechstausendste Jahr noch nicht abgeschlossen ist. Wenn diese Zahl sich erfüllt hat dann wird es zwangsläufig zu einem Abschluß und zu einer Veränderung der Lage der irdischen Dinge zum Besseren kommen. [...] Zwangsläufig wird am Ende des sechstausendsten Jahres jegli­ che Schlechtigkeit aus der Welt vertilgt, und es herrscht für tausend Jahre Gerechtigkeit, und es gibt Frieden und Ruhe von den Mühen, die die Welt schon so lange erduldet.

Ein wenig später präzisiert der Autor seine Worte (inst. VU 25,3-8): Fortasse quispiam nunc requirat quando ista quae diximus sint futura. Iam superius ostendi com­ pletis annorum sex milibus mutationem istam fieri oportere et iam propinquare siaunai dhau conclusionis extremae diem. [...] qui licet uarient et aliquantum numeri eorum summa dissetdiaut, omnis tamen expectatio non amplius quam ducentum uidetur annorum. Etiam res ipsa dedarat lapsum ruinamque rerum breui fore, nisi quod incolumi urbe Roma nihil istius uidetur esse metu­ endum. At uero cum caput illud orbis occiderit et ρύμη esse coeperit, quod Sibyllae fore añou, quis dubitet uenisse iam finem rebus humanis orbique terrarum? Illa est duitas quae a&etc sustentat omnia [...]. Vielleicht möchte nun jemand wissen, warm unsere Voraussage eintreffen wird. Ich habe schon weiter oben gezeigt, daß diese Veränderung stattfinden wird, wenn sechstausend Jahre sich erfüllt haben, und daß jener jüngste Tag des letzten Jahresabschlusses schon näherrückL (...) Mögen sie [sc. die Gelehrten] auch unterschiedlicher Ansicht sein und erheblich in ihrer (sc. der Jahre] Ge­ samtzahl voneinander abweichen, so scheint dennoch jegliche Erwartung nicht weiter als awoihi»dert Jahre zu gehen. Sogar der Gegenstand selbst macht klar, daß Fall und Untergang der Weh

Vorüberlegungen: Mentalitäten und Katastrophen

kurz bevorstehen, nur daß scheinbar, solange Rom unversehrt bleibt, nichts davon gefürchtet wer­ den muß. Doch wahrhaftig, wenn jenes Haupt der Welt gefallen ist und der Umschwung eingesetzt hat, was die Sibyllen voraussagen, wer wollte bezweifeln, daß dann das Ende der Menschheit und des Weltkreises gekommen ist? Jene Stadt ist es, die bisher alles aufrecht erhält [...].

Diese Erwartungen knüpfen an chiliastische Vorstellungen an,12wie sie insbeson­ dere unter den frühen Christen verbreitet, wenn auch nicht unumstritten, waren. Ausgangspunkt der skizzierten Perspektiven ist die Apokalypse des Johannes (Apk 20-22, bes. 20,1-15), in der ein Szenario entworfen wird, bei dem auf die Wiederkehr Christi die Fesselung des teuflischen Drachens und die Auferstehung der Märtyrer und Konfessoren folgt, sodann nach der tausendjährigen gemeinsa­ men Herrschaft Christi und der Auferstandenen der Krieg gegen den kurzfristig wieder befreiten Teufel entbrennt und nach dessen endgültiger Entmachtung eine allgemeine Auferstehung mit Weltgericht erfolgt, bei dem diejenigen, die nicht im Buch des Lebens verzeichnet sind, vernichtet und die Gerechten eines ewigen Le­ bens in Glückseligkeit für würdig erachtet werden. Da Laktanz diese Vorstellun­ gen in besonders markanter Weise artikuliert, habe ich ihn als einleitendes Bei­ spiel ausgewählt." Chiliastische Gedanken finden sich aber u.a. schon bei Kerinth, im sog. Barnabasbrief, bei Papias von Hierapolis, Justin, Irenaeus, Tertullian, Commodian und bei Hippolytos von Rom.3 1 Allgemein zum antik-christlichen Chiliasmus vgl. FRICK (1928); WlKENHAUSER (1937); VASILIEv (1942/43), 466-471; DaniÉLOU (1948); BAUER (1954); PODSKALSKY (1972), 77-103; BÖCHER/BlUM (1981); HEID (1993); KEHL (1994); WEBER (1997), 19ff. Eine soziologische Ana­ lyse chiliastischer und millenaristischer Bewegungen bietet TALMON (1966); KIPPENBERG (1990), 9; 12 weist daraufhin, daß Apokalyptik, Messianismus und Chiliasmus eigentlich nicht voneinan­ der zu trennen sind, weil jedes dieser Phänomene auch Elemente der anderen beinhaltet; im Hin­ blick auf den Chiliasmus betont er die sozialrevolutionären Komponenten (11 f.). Ich verwende den Begriff )Chiliasmus< im folgenden in engerer Bedeutung im Sinne einer spezifischen Erwartung, die auf ein tausendjähriges himmlisches Reich entsprechend der Offenbarung des Johannes (Apk 20-22) zielt. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, daß chiliastische Vorstellungen schon im Alter­ tum vielfach kritisiert wurden und nie Bestandteil einer offiziellen kirchlichen Theologie waren, vgl. Böcher/Blum (1981), 732; Heid (1993), 52ff.; 140ff. 2 Vgl. FaBREGA (1974), bes. 127f; 133; 146; zum Chiliasmus des Laktanz s. auch Schwarte f!966>, 163-168. Vgl. auch die von Laktanz selbst angefertigte Zusammenfassung seiner Vorstellungen Lact. epit. 65,7-67,8. 3 Kerinth: Euseb. HE III 28; VII 25,1-3; Theod. haer. II 3 PG 83,389 mit WlKENHAUSER (1937), 6; BÖCHER/BLUM (1981), 729; MäRKSCHIES (1998), 74. - Barnabasbrief: Barn. 15 mit Wikenhauser (1937), 6-8; Schwarte (1966), 86-105, bes. 88ff.; Böcher/Blum (1981), 730; LANDES (1988), 141 ff. - Papias: Euseb. HE III 39 mit KÖRTNER (1983), 97ff. - Justin: lust. Mart. dial. 80-81; vgl. Euseb. HE IV 18,8 mit BÖCHER/BLUM (1981), 729; Heid (1993), 31-51. Irenaeus: Iren. adv. haer. V 23-36 mit WlKENHAUSER (1937), 8f.; SCHWARTE (1966), 105-118, bes. 107ff.; PODSKALSKY (1972), 81L; BÖCHER/BLUM (1981), 729; Heid (1993), 85-109. - Ter­ tullian: Tert. Marc. III 24; res. 25-26; lud. 7 mit Böcher/Blum (1981), 729f.; Heid (1993), 109124. - Commodian: Commod. apol. 791 ff.; vgl. instr. I 28; 41. Allerdings ist die Datierung Commodians nicht sicher; die seit THRAEDE (1959) vorherrschende Ansetzung um die Mitte des 3. Jh.

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Das Problem des Jahres 500 n. Chr.

Charakteristisch für den frühchristlichen Chiliasmus sowie damit verwandte weitere Formen von Endzeiterwartung, die auf Elemente jüdischer Eschatologie und iranische mythologisch-kosmologische Weltwochen und Tausend-Jahr-Spekulationen zurückgehen45(welche auch im pagan-antiken Bereich gewirkt haben)/ ist die Zeitspanne von sechstausend Jahren von der Schöpfung bis zur Wiederkehr Christi (Parusie), für dessen Herrschaft im spezifisch chiliastischen Konzept dann noch einmal weitere tausend Jahre angesetzt werden. Die Zahlen wurden im Rückgriff auf den Schöpfungsbericht (Gen 1,1-2,3) erklärt; in den sechs Tagen der Weltschöpfung und dem Ruhetag sah man eine Weltwoche aus je tausend Jahren typologisch vorgebildet, wobei das letzte, das siebte Jahrtausend durch die Herr­ schaft Christi gekennzeichnet sein sollte. Die Rechtfertigung für die Substitution von je tausend Jahren für einen Schöpfungstag bezog man insbesondere aus Ps 90 (89),4.6 Ein weiterer wichtiger Aspekt der von Laktanz geäußerten Gedanken liegt in der Verknüpfung des Schicksals Roms mit dem Ende der Welt. Auch dies ist kei­ nesfalls neu, sondern findet sich schon in der früheren christlichen Literatur, be­ sonders bei Tertullian. Solange Rom Bestand hat, dauert das irdische Leben fort und findet auch das Ausbleiben der mehrfach bereits erwarteten Parusie Christi eine Erklärung.7 Aller Wahrscheinlichkeit nach erfolgte die Einbindung Roms in (vgl. SMOLAK (1997); DÖPP (2002)) wurde von GÜNTHER (1983) und GrüSZKa (1984) (aufgegriffen von STROBEL (1993), 364ff.) wieder in Zweifel gezogen, die für die Jahrzehnte nach 410 plädieren. Sollte dies zutreffen, könnte die Dichtung Commodians als signifikantes Beispiel für die temporären Endzeiterwartungen nach der Eroberung Roms durch Alarich herangezogen werden. Eine abschließende Klärung des Datierungsproblems steht noch aus. - Hippolytos: Hippol. In Dan. IV 23. Dazu Wkenhauser (1937), 9f; Schwarte (1966), 128ff; Podskai.sk Y (1972). 79f; HEID (1993), 125-134. 4 Chiliastische Vorstellungen, die später in der Offenbarung des Johannes wieder aufgegrif­ fen werden, finden sich schon Ez 37-48. Zeitlich und inhaltlich stehen dieser dann vor allem die Esra- und die Baruch-Apokalypse nahe; vgl. IV Esr 7,26-33; syrBar 29-30. Dazu Bauer (1954), 1074f.; ausführlich SCHWARTE (1966), 70ff„ der auch auf signifikante Unterschiede zwischen spätjüdischer Eschatologie und dem frühchristlichen, wohl itn kleinasiatischen Raum entstandenen Chiliasmus hinweist (84); vgl. auch Böcher/Blum (1981), 724-727. Der Einfluß iranischen Ge­ dankenguts auf die jüdische bzw. später christliche Eschatologie ist umstritten, doch sind auffällige Analogien nicht von der Hand zu weisen; vgl. dazu grundlegend CUMONT (1931); zur Diskussion SCHWARTE (1966), 99f. 5 Theopomp (FGrHist 115 F 65) berichtet im 4. Jh. v. Chr., daß iranische μάγο» glaubten, auf eine dreitausendjährige Phase der Götterherrschaft und eine ebenso lange Zeit allgemeiner Kriege folge eine kürzere Periode, in welcher der Schlaf des Hades (vgl. Apk 20.14) den Men­ schen Glückseligkeit bringe. Platon kennt eine tausendjährige Seelenwanderung im Anschluß an ein Gericht über Gerechte und Ungerechte (Plat. rep. 614b-615b: 621 d). .Anchises berichtet Verg. Aen. VI 748 von einer tausendjährigen Seelenreinigung. 6 Vgl. dazu DANIÉLOU(1948), passim; SCHWARTE (1966), 78ff. 7 Das Ausbleiben des Messias tritt nicht erst im Kontext des Chiliasmus auf. sondern ist be­ reits ein Problem der jüdischen Eschatologie seit dem 2. Jh. v. Chr. Die christliche Erklärung geht

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Voríiberlegungen: Mentalitäten und Katastrophen

christlich-eschatologische Vorstellungen im Kontext der alttestamentarischen Lehre von der Abfolge der vier Weltreiche im Danielbuch (Dan 2,31-45; vgl. auch Dan 7). Während der Verfasser des Danielbuches entsprechend seinen eigenen zeitgenössischen Erfahrungen offensichtlich noch das Makedonen- bzw. Seleukidenreich als letztes der vier Weltreiche ansah, trat in der frühchristlichen Ge­ schichtstheologie an seine Stelle das Imperium Romanum, welches schließlich in die Herrschaft Gottes einmünden sollte.8 Diese Weltreichs-Konzeption beeinflußte nicht nur die Geschichtstheologie des Abendlandes in entscheidender Weise, son­ dern blieb auch in Byzanz stets präsent.9 Der christliche Chiliasmus wurde in der Antike zu verschiedenen Zeiten und regional unterschiedlich virulent. Während er im Osten seit Mitte des 3. Jahrhun­ derts insbesondere durch den Einfluß des Origenes und später durch die Polemik des Eusebios von Kaisareia zunächst an Bedeutung verlor,10 finden sich im We­

sten vor allem im 3., 4. und frühen 5. Jahrhundert einige namhafte Vertreter, ne­ ben Laktanz z.B. Hippolytos (s.o.), Julius Africanus, Victorinus von Pettau, Julius Hilarianus, Sulpicius Severus sowie auch der junge Augustinus.11 aus von II Thess 2,6-7 (καί νυν τό κατέχον οΐδατε, είς τό άποκαλυφϋήναι αυτόν έν τφ αΰτοϋ καιρφ. τό γάρ μυστήριον ήδη ένεργεΐται τής ανομίας- μόνον ό κατεχων άρτι έως έκ μέσου γένηται) und sieht seit Tertullian (apol. 32,1; Scap. 2,6) im Römischen Reich das verzögernde Moment (κατέχον), vgl. Hippol. In Dan. IV 21,3; Hieron. In Hier. V 27 (= S. Reiter [Ed.], S. Hieronymi Presbyteri In Hieremiam Prophetam Libri VI, Turnhout 1960, p. 246). Im einzelnen vgl. dazu KÖTTING (1957), 133; SCHWARTE (1966), 136f.; 140-146; SUERBAUM (1977), lllff. (mit weiteren Tertullian-Belegen); Strobel (1993), 88ff.; MOHRING (2000), 17 mit weiterer Lit.; TtMPE(2001), 85f. 8 Das Danielbuch entstand aller Wahrscheinlichkeit nach zwischen 168 und 165 v. Chr., vgl. KOCH (1982), 277f. Die im christlichen Kontext kanonisch gewordene Abfolge der Weltreiche geht vor allem auf Hieronymus zurück: Babylonier - Meder/Perser - Alexander/Diadochen - Rom (Hieron. In Dan. I 2,31-35 [= F. GLORIE (Ed.), S. Hieronymi Presbyteri Commentariorum in Danielem Libri III , Turnhout 1964, p. 793-795]; II 7,2-7a [= p. 838-843 GLORIE]); vgl. PODSKALSKY (1972), 13; MOHRING (2000), 17 mit weiterer Lit. Allerdings findet sich die Gleich­ setzung des letzten Reiches mit dem Römischen Reich schon IV Esr 11,44 und syrBar 39,3-7 (1. Jh.). Eine Liste mit der jeweiligen Identifizierung der vier Weltreiche bei einzelnen Autoren bietet RoWLEY (1964), 184f. Daß die Weltreichslehre auch in der pagan-römischen Welt nicht unbekannt war, geht z.B. aus Veli. I 6,6 hervor (wohl eine Interpolation: SCHMITZER (2000), 67f.); vgl. dazu auch SUERBAUM (1977), lllff. 9 PODSKALSKY (1972), 4-76. 10 Z.B. Orig, princ. 11 11,2 mit SCHWARTE (1966), 177ff. - Euseb. HE III 28,1-6; HI 39,1113; VII 24,1-2; VII 25,3. Vgl. PODSKALSKY (1972), 82f.; WEBER (1997), 24. Dies bedeutet aller­ dings nicht, daß der Chiliasmus im Osten ganz verdrängt wurde, vgl. z.B. Method. Symp. 9,1 PG 18,176-180 (um 300) mit BOCHER/Blum (1981), 731. Auch Apollinaris von Laodikeia (4. Jh.) war Chiliast, vgl. Basil. Kais, epist. 263,4 PG 32,980; 265,2 PG 32,985-988; Greg. Naz. epist. 102 PG 37,193-201; Hieron. vir. ill. 18. 11 Victorinus: Victorin. Pet. in apoc. 19-21 mit SCHWARTE (1966), 220ff. - Hilarianus: Hilarian. dural. 18 PL 13,1105-1106) mit Gelzer (1978 [1880-85/98]), II 121ff., bes. 128f.; SCHWARTE (1966), 169-175; Landes (1988), 152 (»crude míllenarianism and apocalyptic calcula-

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Das Problem des Jahres 500 n. Chr.

Darüber hinaus - und dies ist insbesondere für die vorliegende Arbeit relevant - wurde von K. STROBEL wahrscheinlich gemacht, daß die Vorstellung von der 6000 Jahre währenden irdischen Weltzeit spätestens seit Mitte des 3. Jahrhunderts unter den Christen weit verbreitet war, ohne daß damit sogleich chiliastische Er­ wartungen im engeren Sinne einhergehen mußten)2 Im westlichen Teil des Impe­ riums verbanden sich vor allem um die Wende zum 5. Jahrhundert, ausgelöst durch die aktuellen tagespolitischen Ereignisse, diffuse Endzeiterwartungen mit christlich-chiliastischen Vorstellungen und trieben im Rahmen einer allgemeinen Beklemmung selbst bei Personen, die sonst prinzipiell keine Chiliasten waren, reiche Blüten.*12 13 Dabei ist zu beobachten, daß an die Stelle einer klar konturierten chiliastischen Lehre nunmehr ein unscharfes Konglomerat von Einzelelementen trat, die unterschiedlichsten Traditionen entstammten. Insbesondere die verschie­ denen Reaktionen auf die Eroberung Roms durch Alarich 410 zeigen deutlich und exemplarisch, wie in Phasen schwerer äußerer Bedrängnisse selbst unter gebilde­ ten Zeitgenossen derartige apokalyptisch-chiliastische Vorstellungen und Angstvi­ sionen hervortraten, die demzufolge auch bei großen Teilen der Bevölkerung mehr oder weniger latent vorhanden gewesen sein müssen.14 Es ist bezeichnend, daß tions«), - Sulpicius Severns: WEBER (1997), 23; 28; 30, der 39ff. aber unter Hinweis auf Sulp. Sev. chron. II 3,7 zu zeigen sucht, daß Sulpicius Severus kein Chiliast im strengen Sinne gewesen sei. - Augustinus: Augustin, serm. 259,2 PL 38,1197-1198. Allerdings hat Augustinus seine chiiiastischen Vorstellungen später revidiert: Die Herrschaft Christi und der Gläubigen fmde ün Rahmen der schon bestehenden Kirche statt, vgl. Augustin, civ. XX 6-9; Lewalter (1934); Schwarte (1966), 277ff. Insofern ist es nicht zutreffend, wenn BÖCHER/BlüM (1981), 732 konstatieren, daß »nach der konstantinischen Wende auch im Westen der Chiliasmus seine Lebenskraft verloren« habe. Feststellbar ist vielmehr eine allmählich abnehmende Konturierung der chiliastischen Lehre zugunsten einer diffusen Endzeiterwartung. Auch SCHWARTE (1966) trägt diesem Umstand nicht genügend Rechnung, wenn er pauschal von einem »Abklingen chiliadischer Weltzeitberechnung im Westen« (169) spricht; vgl. ebd. 175f. 12 Vgl. Strobel (1993), 165. 13 Vgl. z.B. Sulp. Sev. chron. II 3,5-6; II 33,3-4; vit. Mart. 24. Dazu Κ0ΓΠΝ0 (1957), 129; 132; DEMANDT (1984), 57ff.; VAESEN (1988); Weber (1997), 31-38; 39-41. Vgl. die signifikanten Bemerkungen des Augustinus zu offensichtlich verbreiteten Endzeiterwartungen civ. XVIII 54, mit KOTTING (1957), 130. Chiliastisches Gedankengut findet sich z.B. im Ambrosiaster (ad 1 Kor 15,52) und auch bei Ambrosius selbst, vgl. KOTTING (1957), 136; SCHWARTE (1966), 236f.: »Trotz gewisser terminologischer Anklänge an chiliastische Lehren ist Ambrosius weit davon entfernt, Chiliast zu sein« (237). Allgemein zur Endzeiterwartung um 400 vgl. KOTTING (1957), 135ff. 14 Hieronymus etwa, ein entschiedener Gegner des Chiliasmus (in seiner Überarbeitung des Apokalypse-Kommentars des Victorinus von Pettau ersetzte er die chiliastische Auslegung des tausendjährigen Reiches Apk 20 durch eine spiritualistische, vgl. Victorin. Pet. in apoc. 19-21 mit der Bearbeitung des Hieran., in: J. Haussleitner [Ed.], Victorini episcopi Petavionensis opera, Wien - Leipzig 1916 [CSEL 49]), äußerte apokalyptische Gedanken, als er 408 das baldige W eit­ ende ankündigte (epist. 123,15-16; vgl. ZwiERLEIN (1978), 49). Als nach der westgotischen Erobe­ rung Roms seine Befürchtungen nicht eintrafen, klagte er zunächst über das Schicksal der urbs Roma (z.B. epist. 127,12; 128,5; 130,5), doch traten bald erneut apokalyptische Gedanken hervor,

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Vorüberlegungen: Mentalitäten unu ivaiaon vj>n

trotz minutiös festgelegter chronologischer Modelle, denen zufolge der Weltun­ tergang immerhin noch ein ganzes Jahrhundert entfeint lag (s.u.), dennoch viel­ fach das unmittelbar bevorstehende Ende erwartet wurde. In den zeitgenössischen Zeugnissen erscheint die Eroberung Roms im Kontext zahlreicher Unheile und Katastrophen, die schon früher allgemein als prodigia des Weitendes galten.* 15 Die Welt ging 410 nicht unter, doch war das Symbol für die Fortexistenz der bestehenden Ordnung schwer erschüttert: Rom war gefallen und hatte nunmehr seinen Nimbus der Unbesiegbarkeit endgültig verloren. Dementsprechend waren die Reaktionen auf die zweite Einnahme der Stadt im Jahr 455 durch Geiserich auch schon wesentlich leiser und verhaltener, denn dieses Ereignis besaß bei wei­ tem nicht mehr dieselbe Symbolkraft.16 Die christlichen Spekulationen einer Ver­ bindung des Schicksals Roms mit dem Weitende hatten sich nicht erfüllt.17 Damit

ergab sich die Notwendigkeit einer Neukonzeption der chiliastischen Lehre sowie verwandter Vorstellungen, eine Neukonzeption allerdings, die im Grunde schon vorgezeichnet war und sich in den zurückliegenden Jahren bereits angekündigt hatte. Denn mit der Gründung Konstantinopels im Jahr 330, die nicht nur zeitlich im Kontext christlicher Euphorie nach dem Ende der Repressionen erfolgte, ent­ stand vor allem in den Augen der Christen ein neues Rom (ή νέα Ρώμη), das von Beginn an christlich geprägt war.18 »Das neue Rom brachte [...] nichts von einer

heidnischen Vergangenheit mit. Das Konzept der Neugründung war trotz manchen paganen Dekors so gut wie ganz christlich.«19 Was die Christen zuvor mit Rom verbunden hatten, ging nun rasch auf Konstantinopel über,20 sowohl der Glaube an das ewige Bestehen der Stadt bei den einen als auch die Vorstellung vom Zusam­ menfall ihres Untergangs mit dem Weitende bei den anderen, wobei sich letzteres

und Hieronymus erwartete nun den Untergang Roms als des vierten Reiches {In Ezech. VIII praef. [= F. Glorie (Ed.), S. Hieronymi Presbyteri Commentariorum in Hiezechielem Libri XIV, Turn­ hout 1964, p. 333]). Auch Orosius rechnete mit einem nahen, wenn auch noch nicht unmittelbar bevorstehenden Weitende; vgl. Gros, hist. II 6,14. Dazu Goetz (1980), 78f.; 126. Allgemein vgl. Straub (1950). 15 Vgl. z.B. Hippol. 7n Dan. IV 6,4; KÖTTING (1957), 133ff.; SCHWARTE (1966), 73; 135. 16 KÖTTING (1957) I38f.; GÄRTNER (1998), 160; NOETHLICHS (1998), 13f. 17 Dies führte dazu, daß Augustin schließlich die Äußerung des Paulus II Thess 2,6-7 für schlichtweg unerklärbar hielt (vgl. Augustin. civ. XX 19; epist. 199,3,10-11 PL 33,908). 18 Ostrogorsky (1963), 38. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Hinweis BECKS (1993) [1964]), 129, daß Konstantin selbst nie an eine Bezeichnung seiner neuen Stadt als Nova bzw. Secunda Roma gedacht hat, sondern von Anfang an deutlich zum Ausdruck gab, daß er den Namen Konstantinupolis wünschte. Vgl. dazu auch mit großem NachdruckCHANTRAINE (1993). 19 BECK(1993) [1964]), 134. 20 Vgl. Winkelmann (1998), 149f.

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Das Problem des Jahres SM n. Chr,

dann im Mittelalter vielfach allmählich zu einem resi gnati v-pessimistischen War­ ten auf das Ende wandelte.21 In Kreisen heidnischer Intellektueller führte die erste Eroberung Roms zur Entwicklung eines neuen Konzeptes der Romidee, die nunmehr so weit von den tatsächlichen Verhältnissen abstrahierte, daß sie gleichsam auf einer Metaebene den Ersatz für die in ihrem Fortbestand gefährdete reale Stadt darstellte und somit eine Möglichkeit bot, unter Verzicht auf die faktische Existenz Roms dennoch eine Rom-Ideologie aufrecht zu erhalten.22 Für Christen trat demgegenüber der Gedanke eines Konnexes des Schicksals Roms mit dem messianischen Reich an­ gesichts der bereits existierenden christlich geprägten Stadt Konstantinopel natur­ gemäß in den Hintergrund; statt dessen richtete man den Blick wieder mehr auf die älteren, seit dem 3. Jahrhundert geläufigen chronologischen Modelle, wonach das Weitende etwa in die Zeit um 500 fallen sollte.23 Entsprechende Kalkulationen waren seit dem 3. Jahrhundert in Auseinander­ setzung mit dem bereits in apostolischer Zeit reflektierten Problem der Parusieverzögerung entstanden. Sie dienten einerseits dem Zweck, vor dem Hintergrund dieses Ausbleibens der erwarteten Wiederkunft Christi zeitliche Perspektiven zu entwickeln, die den Christen Orientierungshilfen im irdischen Leben geben konn­ ten; darüber hinaus sollten sie konkrete, oft aus unmittelbaren Krisensituationen erwachsene Naherwartungen widerlegen und aufzeigen, daß mit einem baldigen Ende der Welt noch nicht zu rechnen sei.24 Insbesondere die Beschäftigung mit

der Frage der Parusieverzögerung leistete damit einen zentralen Beitrag zur Ent­ wicklung bedeutsamer Aspekte christlicher Zeitrechnung und somit auch der Eschatologie.2526 Sextus Julius Africanus hatte daher bereits im Jahr 221 22 in sei­ nen nur fragmentarisch erhaltenen Χρονογραφία (urspr. 5 Bücher) eine Dauer der Welt von ihrem Anfang bis zur Geburt Christi von 5500 Jahren errechnet. Nach Vollendung des 6. Jahrtausends sollte seiner Ansicht zufolge das tausend­ jährige messianische Reich beginnen, d.h. etwa um 500 n. Chr?6 Auf seiner Chro­

21 Vgl. dazu DIEHL (1929/30); VASŁIEV (1942/43), 489ff.; PODSKALSKY (1975): Mango (1980), 201ff,; PERTOSl(1988); BRANDES (1997), 28. 22 FEICHTINGER (1998), passim; GÄRTNER (1998), 164ff. (speziell zu Rutilius Namadanus); BRODKA (1998). 23 Vgl. zum folgenden Brandes (1997), 29ff. mit weiteren Beispielen; MHER (2002c). 24 Vgl. etwa II Petr 3,4-10; GnïLKA (1959). Zeugnisse für eine erhöhte Naherwartung unter den Christen im späten 2. und frühen 3. Jh. diskutiert SCHÖLLGEN (198485). 74ff 25 Allgemein dazu May (1982), 300f.; STROBEL (1993), 74ff. 26 PG 10,93A; GELZER (1978 [1880-85/98]), 1 24f.; SCHWARTE (,1966). 148-158; CREHAN (1977); vgl. auch Weber (1997), 22f. Africanus versuchte mit seinen Berechnungen dezidiert nachzuweisen, daß der Weltuntergang noch nicht unmittelbar bevorstehe, wie einige Zeitgenossen annahmen. Schon gegen Ende des 2. Jh. hatte der Apologet Theophilos von Antiocheia im Rahmen seiner chronologischen Absicherung des Altersbeweises der christlichen Wahrheit die Geburt Chri­

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Voriíberlegungen: Mentalitäten und Katastrophen

nologie beruhte wahrscheinlich auch die Gewißheit eines fest terminierten Weit­ endes bei Laktanz.27 In seiner ca. 235 entstandenen Chronik setzte Hippolytos die Geburt Christi in das Weltjahr 5502 und äußerte in seinem Daniel-Kommentar (wo er auf das Jahr 5500 kam), daß insgesamt sechstausend Jahre bis zum Sabbat vergehen müßten;28 auch er gelangte somit in die Zeit um 500. Ähnliche Chrono­ logien liegen - ganz unabhängig von konkret chiliastischen Vorstellungen - auch dem Alexandrinischen System zugrunde, das auf die Mönche Panodoros und An­ nianos (um 400) zurückgeht und das Weitende in die Jahre 507 bzw. 508 datiert,29 und auch die sog. proto-byzantinische Ära, die bis in das Jahr 491 gelangt, basiert auf ihnen.3031 All diesen Berechnungen ist gemeinsam, daß das entscheidende Jahr 6000 in die Phase um 500, d.h. die Regierungszeit des Anastasios, fällty' Und in der Tat existiert eine stattliche Reihe von Zeugnissen, aus denen klar hervorgeht, daß die Erwartung eines baldigen Weitendes in der Zeit um 500 n. Chr. eine weite Verbreitung und offenbar auch eine tiefe Verankerung in der Bevölkerung des Oströmischen Reichs besaß.32 Sie schien ihre Bestätigung darin zu finden, daß man in diesen Jahren zunehmend realisierte, daß das Hesperium Imperium fak­ tisch nicht mehr existierte: Die Stadt Rom war gefallen, ein intaktes Imperium Romanum konnte also nicht mehr als Hemmnis des Weltuntergangs fungieren. Darüber hinaus trug der in diesem Zeitraum herrschende Kaiser Anastasios ausge­ rechnet einen Namen, der unmißverständlich an das griechische Wort άνάστασις (>AuferstehungMonophysiten< ist in den letzten Jahren zunehmend in die Kritik geraten, weil er theologisch nicht präzise ist. In der neueren Forschung wird daher mittlerweile häufig die Be­ zeichnung >Miaphysiten< bevorzugt. In den zeitgenössischen nicht-monophysitischen Quellen wer­ den die Vertreter entsprechender Glaubensvorstellungen, die überdies nie eine einheitliche Ge­ meinschaft bildeten, unterschiedlich bezeichnet, wobei das Spektrum u.a. von »Anhänger des EutychesMonophysiten< noch immer geläufiger sind als unter der Bezeichnung >Miaphysiten(, wird im folgenden am älteren Sprachgebrauch festgehalten. 38 AsHBROOK HARVEY (1988) und (1990). 39 Die wenigen Zeugnisse sind gesammelt und erläutert bei WITAKOWSKJ (1990). 40 Jos. Styl. cap. 1 -4 p. 1 -5 W. = p. 33-36 L. Vgl. dazu u. Kap. 2.1.2.2. 41 Jos. Styl. cap. 101 p. 76 W. = p. 95 L. 42 Vgl. z.B. Prok. HA XII18-27; XVIII; dazu RUBIN (1951), passim; DERS. (1961), 59ff. 43 Rom. Mel. 34 M./T. = 50 GdM (p. V 234-266). 44 Vgl. Maas (1910), 285ff., bes. 289; Grosdidier de Matons (1977), 3ff.; Hunger (1984), 22ff.; Surmann (2002). Der Begriff »Kontakion« stammt freilich erst aus dem 9. Jh., hat sich in der Forschung aber auch zur Bezeichnung der frühen Verspredigten, die im 6. Jh. entstan­ den, etabliert (Maas (1910), 285).

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Das Problem des Jahres 500 n. Chr,

endgültig verworfen werden. Zugleich galt es aber auch, eine Erklärung zu finden für die ausgerechnet in dieser Phase einsetzenden zahlreichen Heimsuchungen, die - wie sich allmählich zeigte - nicht mehr als Vorzeichen des drohenden Endes aufgefaßt werden konnten. Auch wer zuvor nicht an das Weitende unter Anastasios geglaubt hatte, sah sich doch zumindest mit den vielfachen Katastrophen kon­ frontiert und mußte einen Weg finden, sie zu erklären und in sein Weltbild einzu­ passen. Die Tatsache, daß sich nach dem Tod des Anastasios die Spannungen zwi­ schen Chalkedoniem und Monophysiten zusehends verschärften und auch Justi­ nian die sich abzeichnende Spaltung nicht zu verhindern wußte, komplizierte die Situation zusätzlich; zwei Kirchen mit eigenen Organisationen und Hierarchien, die sich gegenseitig ausschlossen, standen sich schließlich unversöhnlich gegen­ über. Hinzu kam eine sich zunehmend verschlechternde Stimmung unter den Christen gegenüber den Heiden, die durch eine entsprechende Politik Justinians noch zusätzlich verschärft wurde. Auffalligerweise entstehen im Osten ausgerechnet im 6., spätestens aber zu Beginn des 7. Jahrhunderts die ersten Apokalypse-Kommentare als eigenständiges literarisches Genos (Oikumenios, Andreas von Kaisareia),45 wie überhaupt die im

Osten bis dahin wenig rezipierte Offenbarung des Johannes nun allmählich an Bedeutung zu gewinnen scheint. Offenbar gelangte man daneben aber auch grundsätzlich zu neuen chronologi­ schen Konzeptionen: Nachdem die Zeit um 500 ohne die Erfüllung der Endzeit­ erwartungen verstrichen war, wurde vereinzelt die Kreuzigung (nicht die Geburt!) Christi nunmehr mit dem Weltjahr 6000 synchronisiert und dabei das Weitende um fünfhundert Jahre auf das Weltjahr 7000 verschoben (Malalas, Hesychios). Dagegen ist allerdings auffällig, daß die späteren byzantinischen Chroniken das Schwellenjahr nur selten thematisieren, sondern stattdessen - wie Gelzer es nicht ganz zutreffend ausdrückte - »fröhlich und ohne viel Kopfzerbrechen über das Schlussjahr 6000 wegzählen.«46 Dies mag möglicherweise damit Zusammenhän­ gen, daß das endgültige chronologische Gerüst der Byzantiner, die sog. byzantini­ sche Ära, erst in der 1. Hälfte des 7. Jahrhunderts entwickelt wurde,47 zu einem Zeitpunkt, als das Jahr-6000-Problem keine Aktualität mehr besaß. »Nichts ist 45 MaGDALINO (1993), 9: »It is surely no accident that two of the four surviving Byzantine commentaries on the Apocalypse of St John - the only two of any originality - were composed in this period«. 46 GELZER (1978 [1880-85/98]), I 26. Vgl. allerdings die von BRANDES (1997), 54ff. ange­ führten Hinweise und Notizen in späteren byzantinischen Quellen, die GELZERS Aussage relativie­ ren. 47 Die byzantinische Ära, in der Christi Geburt in das Weltjahr 5508 datiert wird (GWAtEL (1958), 98ff.; 157), erscheint erstmals 638/39 in einem Traktat eines Mönches namens Georgios (Diekamp (1900), 14-51; der Text des Traktats: ebd. 24-32); auch das etwa zeitgleich verfaßte Chronicon Paschate kennt bereits diese Zeitrechnung (DIEKAMP (1900), 45).

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Vorüberlegungen: Mentalitäten und Katastrophen

obsoleter als eine Schrift, die das Ende der Welt voraussagt, nachdem das angege bene Datum vergangen ist.«48 Die Reaktionen auf die Heimsuchungen waren freilich noch wesentlich viel­ schichtiger: So wird z.B. einerseits von Fällen berichtet, in denen verzweifelte Christen sich wieder dem Heidentum zuwandten,49 andererseits kam es aber auch zu Massenbekehrungen.50 Der Kaufmann Kosmas Indikopleustes schließlich kehrt

gleichsam zurück zu den frühchristlichen Wurzeln, wenn er das Reich Christi so­ gar bereits angebrochen wähnt.51

48 Brandes (1997), 62. 49 Joh. Eph. in der Chronik von Zuqnïn [Ps.-Dionys.] p. 79-80 WIT. 50 Vgl. Van Ginkel (1995), 31, mit Anm. 42 (Quellen). 51 S.u. Kap. 5.1.2.2.

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1.2 Zielsetzung und methodische Grundlagen der Untersuchung Dieser kurze Abriß sollte deutlich gemacht haben, worin bei einer Untersuchung des 6. Jahrhundert, die nicht lediglich politik- bzw. ereignisgeschichtlich vorgehen will, eines der vorrangigen Probleme liegt: Die spezifische negative Entwicklung der äußeren Umstände, d.h. der allgemeinen materiellen und ideellen Lebensbe­ dingungen, hatte offensichtlich gravierende Auswirkungen auf die Weitsicht und das Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsbild der Zeitgenossen. Diffuse Endzeiterwartungen, gepaart mit Resignation und Panikreaktionen, scheinen eine Orientierungslosigkeit der Menschen angesichts der über sie hereinbrechenden Ereignisse zu spiegeln. Die Kumulation, Dichte und Schwere der Katastrophen, die insbesondere während der Regierungszeit des Kaisers Justinian über die Be­ völkerung des Oströmischen Reiches hereinbrachen, sind dabei in der Tat einzig­ artig und m.W. in der europäischen Geschichte lediglich mit gewissen Entwick­ lungen im 14. Jahrhundert im Gefolge des Schwarzen Todes vergleichbar. Es wird daher im folgenden - kurz gesagt - um die Erfahrung von Kontingenzen und ihre Bewältigung vor dem Hintergrund ganz spezifischer Rezeptionsbedingungen (zunehmend enttäuschte Endzeiterwartungen) gehen.1

Im Bezug auf diese historische Ausgangssituation wurde die Fragestellung der vorliegenden Arbeit entwickelt. Ausgehend von der bereits angedeuteten These, daß das vielberufene >Zeitalter Justinianst nicht nur durch das sog. Restaurations­ werk des Kaisers, sondern vor allem auch durch eine Unzahl von Katastrophen und Rückschlägen gekennzeichnet war, soll zum einen der Umgang Justinians mit diesen Katastrophen untersucht werden, wobei insbesondere zu fragen ist, inwie­ weit die äußeren Umstände seine Maßnahmen und sein politisches Handeln beein­ flußt haben. Daß dabei die Perspektive zunächst sehr eng auf den Kaiser zentriert werden muß, liegt in der Natur der Fragestellung. Trotzdem ist nicht intendiert, der langen Reihe von Justinian-Biographien lediglich eine weitere hinzuzufiigen. 1 Die Bedeutung kontingenter Faktoren für die Erforschung historischer Prozesse wurde ins­ besondere von Heuss (1985), 14ff. mit Nachdruck hervorgehoben. HEUSS rechnet hierzu ausdrücklich auch außergewöhnliche Naturvorgänge, vgl. ebd. 35: »Man hat an Sonnen- und Mondfinsternisse, an Kometen, an Meteore [...], dann vor allem an die echten Naturkatastrophen wie Erdbeben, Vulkanausbrüche [...], an unkontrollierte Überschwemmungen [...] und Feuersbrünste [...], an Hungersnöte infolge von Mißernten, und schließlich an Epidemien zu denken. All diesem Unheil war die Menschheit die längste Zeit ihres Bestehens ausgeliefert und ist es teilweise heute noch. Das Bewußtsein, Opfer derart blind dreinschlagender Kraft zu sein, bedeutet eine echte Ansiedlung der Kontingenz im Dasein und spiegelt sich wieder in der Angst oder auch Panik, die diese Nöte auslösten«, sowie weiter (36): »Daß Naturkatastrophenkontingenz sich zu geschichtsträchtigen Ereignissen verdichten können, ist aus dem Spätmittelalter mit seiner Bevölkerungsdezimierung durch die Pest bekannt.«

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Vorüberlegungen: Mentalitäten und Katastrophen

Vielmehr ist beabsichtigt, spezifische Verhaltensweisen Justinians, die es im ein­ zelnen herauszuarbeiten gilt, mit den exogenen Faktoren sowie den faßbaren Re­ aktionen darauf in Segmenten der Reichsbevölkerung in Beziehung zu setzen und vor dem Hintergrund eines solcherart angelegten Spannungsverhältnisses zu un­ tersuchen. In diesem Zusammenhang wird es sich mehrfach anbieten, bestimmte Aktionen des Kaisers auf Faktoren in dessen Persönlichkeitsstruktur, insbesondere auf seine exzeptionelle Religiosität, zurückzufuhren. Eine in dieser Art personali­ sierende Argumentation erhebt jedoch keineswegs den Anspruch, eruieren zu können, »was« Justinian in verschiedenen Situationen jeweils gedacht hat; wohl aber erscheint es möglich, zu beschreiben, »wie« er gedacht hat. Denn die Tatsa­ che, daß der Kaiser seine gesamte Umwelt nahezu ausschließlich mittels religiöser Deutungsmuster wahrgenommen hat, d.h. daß er sämtliche Vorgänge in der für ihn faßbaren Umgebung auf die Einwirkung Gottes zurückgeführt hat, erscheint wie sich zeigen wird - durchaus plausibel und sicher aus den Quellen belegbar. Zum anderen ist der Blick auf die Reichsbevölkerung zu richten; im Zentrum dieses Teils der Untersuchung soll die Frage nach den Auswirkungen der Kata­ strophen auf die Mentalität(en) der Zeitgenossen stehen. Dabei stellt sich auf den ersten Blick als Hauptproblem eine nahezu vollkommen fehlende Differenzierung nach regionalen, sozialen u.a. Kriterien dar. Dieser Mangel ist den Quellen ge­ schuldet, die zwar - verglichen mit anderen Zeiträumen des Altertums - für das 6. Jahrhundert in verhältnismäßig reichlicher Anzahl vorhanden sind, aber längst nicht genügen, um vor dem Hintergrund unserer spezifischen Fragestellungen Untergliederungen der beschriebenen Form zu ermöglichen. Insbesondere im Fall von Naturkatastrophen - ohnehin punktuelle Ereignisse, die jeweils nur kurze, ausschnittartige Einblicke in größere Zusammenhänge erlauben - werden in den Quellen vornehmlich die betroffenen Kollektive insgesamt, d.h. Städte, Regionen usw. sowie herausragende, als Exempla (oft moralischer Art) stilisierte Einzel­ schicksale thematisiert. Soweit das Material überhaupt Einblicke in soziale Diffe­ renzierungen erlaubt, scheint es jedoch so zu sein, daß insbesondere die Entwick­ lungsprozesse, die wir für den religiösen Bereich herausarbeiten werden (Zunahme der Marienverehrung, Ausbreitung des Bilderkultes), von allen Schichten der Bevölkerung bis hin zum Kaiser mitgetragen wurden. Das ohnehin veraltete Konzept der Volksfrömmigkeit greift für unsere Fragestellungen nicht. Die Arbeit legt somit zwei verschiedene methodische Ansätze zugrunde: Das herkömmliche politikgeschichtlich orientierte Vorgehen (bei dem allerdings die Perspektive, aus der die Quellen interpretiert werden, verändert wurde, da die Zeugnisse vornehmlich unter dem Aspekt der Einwirkungen von Katastrophen auf die Entscheidungen und das Handeln des Kaisers untersucht werden) soll durch einen mentalitätengeschichtlichen Ansatz ergänzt werden, der nach dem Umgang mit den Ereignissen durch die Zeitgenossen und den aus der spezifischen Rezep­ 24

Zielsetzung und methodische Grundlagen der Untersuchung

tion resultierenden Konsequenzen fragt. Dies ist nicht mit einem Versuch gleich­ zusetzen, politische, religiöse, geistes- und kulturgeschichtliche Entwicklungen aus einem einzig durch exogene Faktoren definierten Determinismus heraus zu erklären. Vielmehr soll die Einbindung der als katastrophal beschriebenen Ge­ schehnisse in historische Kontexte und vorgegebene mentale Dispositionen im Vordergrund stehen und auf ihre Konsequenzen hin untersucht werden. In einem letzten Schritt sind die beschriebenen beiden Stränge zusammenzu­ führen, um so aufzuzeigen, ob und in welcher Weise bestimmte Reaktionen auf Katastrophen innerhalb der Bevölkerung - soweit man aufgrund der punktuellen Ausschnitte von ihr als einem Kollektivum sprechen kann - Einfluß auf Regie­ rungsmaßnahmen Justinians hatten und wie diese Maßnahmen wiederum von den Zeitgenossen aufgenommen wurden. Ziel der Arbeit ist somit, die Interaktion jeweils verstanden als Interreaktion auf bestimmte Katastrophen - von Kaiser und verschiedenen Gruppen innerhalb der Bevölkerung darzustellen und als wesentli­ ches Movens fur politisch-gesellschaftliche sowie mentalitätengeschichtliche, insbesondere religiöse Entwicklungen im 6. Jh herauszuarbeiten. Es soll gezeigt werden, daß die auffällige Dynamik, die allgemein und wohl auch zu recht als Charakteristikum dieses Zeitraumes gilt, weniger von der Person des Kaisers und seinem vermeintlichen Restaurationsprogramm ausgegangen ist (wie bislang zu­ meist vermutet wurde), als von den zahlreichen Katastrophen (die freilich z.T. auch Konsequenzen kaiserlicher Politik waren). Dabei wird sich herausstellen, daß die Herrschaft Justinians aufgrund der skizzierten Rahmenbedingungen in viel stärkerem Maße, als es bisher geschehen ist, bereits als Übergangsphase vom Oströmischen zum Byzantinischen Reich angesehen werden muß. Es handelt sich hierbei um einen komplexen Transfonnationsprozeß, der sich keineswegs - wie bislang häufig zu lesen ist2 - hauptsächlich auf die Phase des späten, nachjustinia­

nischen 6. und des frühen 7. Jahrhunderts eingrenzen läßt, sondern dem u.a. auch wichtige Entwicklungen und strukturelle Veränderungen angehören, die sich aus besonderen, im einzelnen noch zu beschreibenden Gründen unter der Herrschaft Justinians vollzogen haben. Es geht in der vorliegenden Untersuchung allerdings nicht in erster Linie darum, diesen Wandlungsvorgang insgesamt und in all seinen Facetten zu analysieren, zumal sich letztlich jeder geschichtliche Zeitraum als Phase der Transformation und des Wandels begreifen läßt. Vielmehr sollen die Hinweise auf markante Veränderungen in zentralen Bereichen des Alltags und der Politik vor allem deshalb in den Kontext der Diskussion der Übergangsproblema­ tik gestellt werden, um die beschriebenen Prozesse selbst deutlicher zu konturie2 Z.B. bei OSTROGORSKY (1941), 237ff.; WEISS (1977). 531 (mit älterer Literatur); MaIER (1973), 74ff.; Av. Cameron (1978); dies. (1979a). 3f.; P. SCHREINER (1994). 4; Wirth (1997), 47. Dezidiert gegen Weiss (1977), der eher Kontinuitäten hervorgehoben hatte, argumentieren Kazhdan/Cutler (1982), mit besonderer Betonung von Brüchen im späten 6./frühen 7. Jh.

Vorüberlegungen: Mentalitäten und Katastrophen

ren. Daß sich dabei neue Aspekte im Hinblick auf die Frage des Übergangs von Ostrom zu Byzanz ergeben, kann als Nebenergebnis der Behandlung der eigentli­ chen Fragestellung verstanden werden. Die damit verbundene komplexe Proble­ matik gilt es aber nur am Rande zu streifen. Auch wenn die Kriterien für dasje­ nige, was noch als >spätantik< und schon als >byzantinisch< zu gelten hat, keines­ wegs festliegen und daher nur eine grobe Orientierung an verbreiteten, in der For­ schung zumeist implizit zugrunde gelegten Vorstellungen möglich ist, wird sich doch zeigen, daß sich in den nahezu vier Jahrzehnten der Herrschaft Justinians gravierende Veränderungen vollzogen haben, die insbesondere durch eine zuneh­ mende Loslösung der gesamten oströmischen Gesellschaft von antiken Traditio­ nen gekennzeichnet sind, so daß es am Ende der Arbeit gerechtfertigt erscheinen wird, dem behandelten Zeitraum einen besonderen Übergangscharakter beizumes­ sen. Die Untersuchung geht von einer Reihe von Grundbedingungen aus, die es im folgenden kurz zu skizzieren gilt: Prinzipiell wird für das 6. Jahrhundert eine hohe religiöse Aufladung öffentli­ cher Ausdrucks- und Kommunikationsformen vorausgesetzt, die sich in nahezu allen erhaltenen Quellen spiegelt3 und die sich insbesondere in den späteren Jah­ ren Justinians noch erheblich verdichtet - letzteres ein Sachverhalt, den es in den folgenden Kapiteln ausführlicher zu analysieren gilt. Sie manifestiert sich u.a. in der seit ca. 500 rapide zunehmenden Kirchenbautätigkeit im gesamten Oströmi­ schen Reich, insbesondere aber in der Kaiserstadt Konstantinopel, ferner in der hohen Anzahl religiöser Prozessionen im 5./6. Jahrhundert, in der wachsenden Relevanz einer religiösen Legitimation des Kaisertums und des damit verbunde­ nen Aufstiegs der christlichen Frömmigkeit zur zentralen Herrschertugend,4 in der

damit einhergehenden hohen Bedeutung von Frömmigkeit im sozialen und gesell­ schaftlichen Alltag überhaupt, in der zunehmenden Abhängigkeit politischer Ent­ wicklungen und politischen Handelns von religiösen Faktoren (erinnert sei etwa an die im Jahr 512 aus religiösen Differenzen erwachsenen schweren Unruhen gegen Anastasios,5 oder das geforderte Bekenntnis zur Orthodoxie als Vorausset­ zung für seine Thronbesteigung)6 sowie in der Wahrnehmung der Umwelt vor­

wiegend mit Hilfe religiöser (d.h. christlicher, nicht allgemein ritueller) Deu­

3 Dies betont auch SCOTT (1996), 24 mit besonderem Hinweis auf Johannes Malalas. 4 MagdaUNO (1993), 12 (Kirchenbau); BALDOVIN (1987), 213f. (Prozessionen); DIE­ FENBACH (1996) (Frömmigkeit als Herrschertugend). 5 Capizzi (1969), 119ff.; Gray (1979), 39. Die komplexen Zusammenhänge politischer und religiöser Faktoren bei den Unruhen unter Anastasios diskutiert Wirth (1990). 6 De caerim. I 92 p. 418,19-20 (ορθόδοξον βασιλέα τη οικουμένη); I 92 p. 421,12-13 REISKE (προβαλούμεΟα ίίνόρα είς την βασιλείαν και ορθόδοξον καί αγνόν). Vgl. dazu auch Gray (1979), 34.

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Zielsetzung und methodische Grundlagen der Untersuchung

tungsmuster (zum Begriff der Deutungs- bzw. Orientierungsmuster s.u.) durch die Zeitgenossen - insbesondere letzterer Aspekt wird in dieser Arbeit noch mehrfach zu diskutieren sein. Vor dem Hintergrund dieser zentralen Rolle von Religion in ihrer spezifisch christlichen Auffassung gewinnen die beschriebenen Endzeiterwartungen, die einen integralen Bestandteil des christlichen religiösen Systems darstellten, an besonderer Relevanz. Denn allein die hohe religiöse Aufladung spricht bereits für die weite Verbreitung und die tiefe Verankerung entsprechender eschatologischer Vorstellungen. Auch aus diesem Grund wird im folgenden eine ausgesprochen hohe Akzeptanz der auf ein Weitende um 500 zielenden eschatologischen Vor­ stellungen bei den Zeitgenossen vorausgesetzt. Einige Quellenzeugnisse, die diese Vermutung in besonderer Weise fundieren, werden im weiteren Verlauf der Arbeit noch näher zu besprechen sein. Ein weiterer Punkt betrifft die Katastrophen und ihre Deutung: Der Befund ei­ ner rapiden Zunahme von außergewöhnlichen, als katastrophal empfundenen Na­ turphänomenen sowie von Ereignissen, die auch im heutigen Sinne als Katastro­ phen gelten, ergibt sich zunächst aus den schriftlichen Quellen. Er stellt somit vordergründig ein Wahmehmungsphänomen dar,7 und es erhebt sich daher die grundsätzliche Frage, ob das in den Quellen gezeichnete Bild wirklich als authen­ tisch angesehen werden kann oder ob der moderne Historiker nicht vielmehr einer negativen Verzerrung erliegt. In der Tat kann zweifelsfrei davon ausgegangen werden, daß die Sensibilität für ungewöhnliche Naturereignisse im 6. Jahrhundert merklich gegenüber den vergangenen Jahrhunderten zugenommen hat - ein Um­ stand, der wiederum mit den seit 500 virulenten Naherwartungen in Zusammen­ hang gebracht werden könnte.8 Diese erhöhte Sensibilität spiegelt sich u.a. darin, daß nunmehr nahezu jedes Erdbeben in einem noch so entlegenen und kleinen Ort verzeichnet und tradiert wird, daß auch Erdbeben erwähnt werden, die überhaupt keinen Schaden verursacht haben,9 und daß auffällig viele Brände und Erdbeben,

die im liturgischen Kalender Konstantinopels vermerkt sind und derer durch jähr­ liche Prozessionen gedacht wurde, dem 6. (und 5.) Jahrhundert angehörten. Daß die Gattung der Chronik, in welcher derartig katastrophale Ereignisse stets eine besondere Rolle spielen, ausgerechnet im 6. Jahrhundert einen besonderen Auf-

7 So mit Nachdruck BRANDES (1989), 176. WALDHERR (1998), 63 weist daraufhin, daß ins­ besondere hinsichtlich der Nachrichten über zunehmende Naturkatastrophen in der Spätantike ent­ sprechende Vorsicht angebracht sein sollte. 8 In diesem Sinne vgl. bes. MAGDAUNO (1993), 5. 9 Z.B. Malal. p. 478,16-17 D. (= p. 403,41-42 TH.) (Antiocheia, frühe 30er Jahre); Malal. p. 478,8-11 D. (= p. 402,34-36 Th.); Chron. Pasch p. I 629,11 (Konstantinopel, 533); Prok. Btí VII 29,4-5 (Konstantinopel und andere Orte, 548); Malal. p. 488,18-19 D. (= p. 419,53-54 TH.); Theoph. a.m. 6049 p. I 231,1-2 (Konstantinopel, 557).

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Voríiberlegungen: Mentalitäten und Katastrophen

Schwung nimmt (zentral ist in unserem Kontext das Werk des Johannes Malalas), dürfte ebenfalls kein Zufall sein. Überdies zeigen Hymnen des Severos von Antiocheia anläßlich bestimmter Unglücksfälle, daß Dürren, Erdbeben und Kriegslasten auch im Gottesdienst thematisiert wurden.10 Dennoch wird man zu kurz greifen, wenn man die Zunahme von Katastrophen­ schilderungen in den Quellen zum 6. Jahrhundert einseitig als reines Wahmehmungsphänomen zu erklären versucht. Die großen, einschneidenden und in ihrer Wirkung nachhaltigen und prägenden Ereignisse sind zweifelsohne historisch. So stellen etwa die Brand- und Erdbebenkatastrophen in Antiocheia 525-528 - ar­ chäologisch verifizierbar -, ferner die Zerstörung der Stadt durch die Perser 540, das schwere Erdbeben in Konstantinopel im Jahr 557, der Kutrigureneinfall 559 und insbesondere natürlich die Pest mit ihrer ersten und schwersten Welle im Jahr 541/42 Geschehnisse dar, die in ihrer grundsätzlichen Historizität über jeden Zweifel erhaben sind. Andere Ereignisse lassen sich aufgrund der beschriebenen Reaktionen auf sie als authentisch erweisen. So dürfte etwa das Erdbeben in Kon­ stantinopel im Jahr 533 allein deshalb nicht anzuzweifeln sein, weil es eine kurz­ fristige monophysitische Gegenbewegung gegen das chalkedonische Bekenntnis einleitete. In diesem Fall ging es dem Berichterstatter vornehmlich um die religiö­ sen Spannungen und nicht um die >Erfindung< eines Erdbebens aufgrund einer besonders hohen Sensibilität ñir derartige Ereignisse.11 Darüber hinaus lassen sich einzelne Katastrophen als historisch erweisen, wenn sie in mehreren Quellen un­ abhängig voneinander berichtet werden.12 Daß z.B. die Nachrichten über Erdbe­

ben in Anazarbos historische Grundlagen besitzen, geht aus entsprechenden Maueremeuerungsinschriften hervor.13 Schließlich hat nicht nur die Archäologie, sondern auch die naturwissenschaftliche Katastrophenforschung in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte erzielt. So konnte etwa im Hinblick auf die in einer Reihe von Texten erwähnte mehrmonatige (!), für die Zeitgenossen mysteriöse Verfinsterung der Sonne 536-537 mittlerweile eine Bestätigung der Berichte auf­ grund dendrochronologischer Befunde und Untersuchungen des Grönland-Eises erzielt werden.14 Aus diesem Ereignis wiederum, das gravierende Auswirkungen

auf das Klima gehabt haben muß, lassen sich weitere in den Quellen aufschei­ nende Katastrophen, wie etwa Unregelmäßigkeiten bei den Wasserständen einiger Flüsse (Po 540, Nil 548), sowie Nahrungsmittelengpässe aufgrund von Mißernten

10 Vgl. Sev. Ant. Hymn. 244-267 (PO 7,692715). 11 Malal. p. 478,8-11 D. (= p. 402,34-36 TH.); Chron. Pasch, p. I 629,10-20. 12 Z.B. die Sonnenfinsternis des Jahres 512, der Komet des Jahres 520, das verheerende Hochwasser in Edessa 525 u.a. (zu den Quellen vgl. Kap. 7). 13 SAYÄR(1997). 14 S. dazuu. Kap. 4.1.4.

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Zielsetzung und methodische Grundlagen der Untersuchung

plausibel erklären. Demgegenüber wird die Frage einer generellen Klimaver­ schlechterung in der Spätantike in der Forschung weiterhin kontrovers diskutiert.1' Alles in allem wird man daher unter Berücksichtigung einer erhöhten Rezepti­ onsbereitschaft im Bezug auf entsprechende Ereignisse und mit stetem Blick auf sich daraus möglicherweise ergebende, schwer auszumachende Übertreibungen, Verzerrungen und Erfindungen dennoch davon ausgehen können, daß sich die äußeren Lebensbedingungen im 6. Jahrhundert durch die kurzfristige Abfolge ei­ ner Reihe von Katastrophen in gravierender Weise verschlechtert haben. Um einen gewissen Eindruck von der Dichte und Schwere unheilvoller Ereig­ nisse zu vermitteln, durch die der von uns behandelte Zeitraum gekennzeichnet ist, wurde im Anhang der Arbeit eine Liste wichtiger faßbarer Katastrophen beige­ fugt. Sie basiert in Teilen auf älteren Katalogen zu jeweils bestimmten Katastro­ phenformen (z.B. Erdbeben, Brände in Konstantinopel, Kometen, Heuschrecken usw.), in denen jedoch nicht immer korrekte Zuordnungen und Datierungen gege­ ben werden.15 16 Darüber hinaus wurde das Quellenmaterial noch einmal kritisch auf

15 Klimatisch bedingte Faktoren werden seit längerem immer wieder in die umfassende Dis­ kussion über den >Niedergang< des Römischen Reiches eingebracht (bes. von E. HUNTINGTON), vgl. den Überblick dazu bei Demandt (1984), 350ff. Im Hinblick auf die ausgehende Spătantike hat erst kürzlich KODER (1996a), 270ff. naturwissenschaftliche Indizien sowie Hinweise in den schriftlichen Quellen dafür zusammengetragen, daß es im 6. Jh. zumindest wiederholt zu »remarkable climatic phenomena« (277) gekommen sei. Er weist aber auch darauf hin, daß man kaum unterscheiden könne, ob es sich dabei um Anzeichen für eine längerfristige Veränderung des Klimas oder lediglich um »a climatic oscillation« (277) handele. Allerdings sei die Koinzidenz einer auffälligen Serie außergewöhnlicher Naturphänomene und einer verbreiteten Endzeiterwar­ tung um 500 in der Tat bemerkenswert (277). Andernorts hebt KODER die Bedeutung einer allge­ meinen Klimaabkühlung seit der Wende zum 5. Jh. für die Transfonnationsprozesse zum Mittelal­ ter ausdrücklich hervor (Koder (1991/92), bes. 411; ders. (1993a)). Auch Patlagean (1977), 75ff. betont die Bedeutung klimatischer Veränderungen für die Bevölkerungsentwicklung in der Spätantike besonders und zählt eine Reihe von regionalen Dürre- und Kälteperioden auf, die in den Quellen zum 6. Jh. genannte werden (76£). CROKE (1990b), 168-175 verweist zwar auf die steti­ gen Fortschritte naturwissenschaftlicher Erkenntnismethoden zur Klimaentwicklung in der Vergan­ genheit, will aber zum aktuellen Zeitpunkt noch keine definitiven Schlüsse in der Frage nach einer grundsätzlichen Klimaveränderung in der Spätantike sowie nach ihren dann möglichen direkten und indirekten Auswirkungen auf die Lebensbedingungen ziehen. Einen kurzen Überblick über Äußerungen klassisch-antiker Autoren zu Klimaphänomenen gibtNEUMANN (1985). 16 Z.B. Seibel (1857), passim [allg. Naturkatastrophen und Pest]; Ginzel (1899), 223-226 [Sonnen- und Mondfinsternisse]; DÜCK (1904) [Erdbeben in Konstantinopel]; GUNDEL (1921), 1191-1193 [Kometen]; CAPELLE (1924) [Erdbeben]; SCHNEIDER (1941) [Brände in Konstan­ tinopel]; Kallner-AMIRAN (1950/51) [Erdbeben in Palästina]; DOWNEY (1955a) [Erdbeben in Konstantinopel]; GRUMEL (1958), 458ff. [Sonnen- und Mondfinsternisse, 458ff - Kometen, 469ff - Erdbeben, 476ff.]; GalaNOPOULOS (1960), 374ff. [Flutwellen]; HERMANN (1962), U04ff. [Erdbeben]; SCHOVE (1984) [Kometen und Sonnenfinsternisse]; GUIDOBONI (1989), 622ff„ bes. 689ff. [Erdbeben]; Kohns (1994), 87 5 ff. [Hungersnöte]; Kronk (1999), 84-92 (Kometen); wei­ tere Kataloge nennt Waldherr (1998), 52, Anm. 3; sie sind jedoch zumeist nicht vollständig, oft

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Vorüberlegungen: Mentalitäten und Katastrophen

besonders gravierende Geschehnisse hin durchgesehen und ausgewertet. Trotz allem kann diese Liste keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit sowie auf eine exakte Spiegelung der zeitgenössischen Situation erheben. Zum einen ist bereits der sich in den Quellen bietende Befund als höchst subjektiv einzuschätzen. Er wird bestimmt von den besonderen Interessen des jeweiligen Autors, wie z.B. regionalen und chronologischen Schwerpunktsetzungen, und seinem generellen Umgang mit Katastrophen (der durchaus funktional sein kann). Die Auswahl aus dem sich derart präsentierenden Material konnte ebenfalls nicht gänzlich objektiv erfolgen. Wichtigstes Leitkriterium war der Versuch, lediglich Ereignisse in den Katalog aufzunebmen, die von den Betroffenen als katastrophal empfunden wur­ den und nachhaltigen Eindruck ausgeübt haben. Daß dabei vielfach Ermessensent­ scheidungen zu treffen waren, versteht sich von selbst. Nicht berücksichtigt wer­ den konnten in unserer chronologisch aufgebauten Liste Ereignisse, die aus den Quellen heraus nicht annähernd datierbar sind,17 sowie langfristige, sich zuneh­

mend als katastrophal erweisende Prozesse, wie z.B. der Gotenkrieg in Italien. Insofern ist der Katastrophenkatalog lediglich als Handreichung zu verstehen, der einen grundsätzlichen Einblick geben und einen ersten Eindruck von der Situation im behandelten Zeitraum vermitteln soll. Sein zeitliches Spektrum wird definiert durch das für eschatologische Naherwartungen bedeutsame Schwellenjahr 500 sowie das Todesjahr Justinians 565, mit dem der in dieser Arbeit untersuchte Zeit­ abschnitt endet. In einer Untersuchung, die ihren Ausgangspunkt bei eschatologischen Naher­ wartungen, d.h. bei einem Aspekt verbreiteter religiöser Vorstellungen nimmt und diesen mit dem Faktum einer anhaltenden Reihe von Katastrophen konfrontiert, um u.a. mittels eines mentalitätengeschichtlichen Ansatzes nach den sich aus die­ ser Konstellation ergebenden Konsequenzen zu fragen, ist vor Beginn der Einzel­ analysen zunächst das zugrundegelegte Verständnis von Religion und Katastrophe

regional begrenzt, teilweise fehlerhaft und vermögen keinen hinreichenden Gesamteindruck von der Situation im 6. Jh. zu vermitteln. 17 So erwähnt z.B. Prok. BG VII 40,5-6 einen von Germanos (PLRE II 505-507 [G. 4]) zu­ rückgeschlagenen, nicht näher datierbaren Anteneinfall aus der Zeit Justins I. (die modernen Emendationen /Ιουστινιανός« statt hs. >Ίουστΐνος< sind irreführend, vgl. Waldmüller (1976), 33f.). Aus Marcellinus Comes geht hervor, daß bis zum Jahr 530 immer wieder Übergriffe auf Illyrien stattfanden (Marc. com. ad ann. 530 = Chron. min. II 103 MOMMSEN). Prokop berichtet darüber hinaus, daß seit dem Beginn der Herrschaft Justinians nahezu jedes Jahr Hunnen, Slaven und Anten römisches Gebiet verheert hätten (HA XVIII 20-21); dies ist in diesen Dimensionen sicherlich polemische Übertreibung, wirft jedoch ein Licht auf die grundsätzliche Situation. Justi­ nian hatte die Sicherung der Donau im Jahr 530 dem Chilbudios (PLRE IIIA 286f. [Ch. 1]) über­ tragen, der immerhin drei Jahre lang die Grenze stabilisieren konnte, dann jedoch im Kampf fiel. In der Folgezeit sei die Donaugrenze entblößt gewesen und immer wieder von Barbaren überschritten worden (BG VII 14,1-6).

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Zielsetzung und methodische Grundlagen der Untersuchung

kurz zu beschreiben sowie zur Problematik einer mentalitätengeschichtlichen Un­ tersuchung eines antiken Gegenstandes Stellung zu nehmen. Da es sinnvoll erscheint, den Religionsbegriff ausführlich erst an fortgeschrit­ tener Stelle im Zusammenhang der Frage nach den Begriffen >Frömmigkeit< und >Volksfrömmigkeit< zu diskutieren, sei hier lediglich angemerkt, daß im folgenden ein funktionales Verständnis von Religion zugrundegelegt wird, wonach diese als ein System aufzufassen ist, das Erklärungs-, Deutungs- und Orientierungsmuster für kontingente Vorgänge bereitstellt. Damit kann praktizierte, d.h. sicht- und faß­ bare Religion, die wir als Frömmigkeit bezeichnen möchten, als Kontingenzbe­ wältigungspraxis angesehen werden in dem Sinne, wie sie von H. Lübbe in meh­ reren theoretischen Arbeiten ausführlich beschrieben worden ist.18 Ein in unserem Kontext zentrales Orientierungsmuster, welches durch die Religion angeboten wird, stellt dabei die Apokalyptik dar. Diese läßt sich mit U. H. J. Kortner als Mittel zur Bewältigung eines im Anschluß an O. Spengler als >Weltangst< um­ schriebenen Bewußtseins des Verlorenseins im endlosen zeitlichen Kontinuum charakterisieren; im Rahmen (christlicher) eschatologischer Naherwartungen kommt ihr somit eine besondere Bedeutung zu, die ebenfalls an anderer Stelle näherhin zu beschreiben ist.19 Es bleibt die Beantwortung der Frage, in welchem Sinne der Begriff der Kata­ strophe in der vorliegenden Arbeit verstanden werden soll. Das griechische Wort καταστροφή ist in der antiken Literatur noch keineswegs entsprechend unserem Sprachgebrauch auf negativ konnotierte Ereignisse fixiert; vielmehr weist es ein breites Bedeutungsspektrum auf, das - ausgehend von der Grundbedeutung »Umwendung« - verschiedene Formen des Umdrehens bezeichnen kann, wobei es zumeist eher einen Verlauf als ein konkretes Ereignis umschreibt. In seiner dem modernen Sprachgebrauch am nächsten kommenden negativen Bedeutung ist es dagegen nur selten belegt.20 In der griechischen Literatur wird statt des abstrakten Begriffs καταστροφή zur Bezeichnung eines unheilvollen Ereignisses eher der konkrete Vorgang genannt;21 Prokop z.B. bezeichnet die Pestepidemie nicht als καταστροφή, sondern als λοιμός, νόσος oder κακόν (BP Π 22,1-5),22 während er

an anderer Stelle die Katastrophen unter Justinian insgesamt als πάθη beschreibt (HA XVIU 37) - insofern weist der zeitgenössische Sprachgebrauch durchaus 18 Vgl. bes. LÜBBE (1986), 127ff.; DERS. (1998), 35ff.; daneben bereits LUHMann (1977), 182ff. S.u. Kap. 5.13.1. 19 S.u. Kap. 2.2. 20 Vgl. LSJ 915, s.v. καταστροφή. 21 vgl. Hebbeker (1998), bes. 11 ff. 22 Zwar erscheint καταστροφή auch im Kontext der Pestschilderung, bezeichnet dort aber lediglich das Lebensende (του βίου καταστροφή, vgl. Prok. BP II 23,19). Einen Überblick über die vielfältigen Termini zur Bezeichnung der Pest in der spätantik-byzantinischen Literatur bieten Leven (1993), 37ff., bes. 45ff. sowie STATHAKOPOULOS (1998).

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Vorüberlegungen: Mentalitäten und Katastrophen

Äquivalente zu unserem Katastrophenbegriff auf - und speziell Erdbeben, Über­ schwemmungen und Eroberungen ganzer Städte als Faktoren nennt, die heilloses Chaos verursachen (πάντα γάρ έν άπασι ξυνεταράχθη, HA VII 6-7). Malalas wiederum bezeichnet Erdbeben wiederholt mit dem vielsagenden Begriff θεο­ μηνία (»Ausdruck göttlichen Zornes«).23 Geht man demgegenüber vom modernen landläufigen Verständnis von Kata­ strophen als »enormejn] Abweichungen vom Normalen, dem Erwarteten, mit ne­ gativen Vorzeichen« aus,24 so ist zunächst das paradox amnutende Faktum zu konstatieren, daß Kriege, Naturereignisse mit negativen Konsequenzen für die Menschen und Krankheiten im Altertum zwar als außergewöhnliche, bedrohliche Vorkommnisse empfunden wurden, daß sie aber andererseits - gemessen an unse­ ren modernen Vorstellungen und Erfahrungen - stets gegenwärtig waren. Die Be­ stimmung der Katastrophe als negative Abweichung vom Normalen kann somit als historische Kategorie nicht greifen, denn sie operiert zwangsläufig mit zwei verschiedenen Vorstellungen des Normalfalles, dessen Bezugspunkt auf der einen Seite die unmittelbar vom Ereignis Betroffenen darstellen, auf der anderen Seite Historiker, die aus der zeitlichen Distanz heraus das Geschehen beschreiben und deuten. Die Geschichtswissenschaft hat bisher für die Untersuchung von Kata­ strophen kaum methodische Konzepte entwickelt.25 Um zu einer angemessenen

Definition des Katastrophen-Begriffs zu gelangen, ist es daher notwendig, auf theoretische Modelle aus der Soziologie zurückzugreifen. Dort wird die Katastro­ phe vornehmlich als eine Extremform des sozialen Wandels umschrieben, der durch drei Faktoren gekennzeichnet ist: Radikalität, Rapidität und Ritualität. Da­ mit erscheint die Katastrophe als ein Ereignis, das aufgrund seines extrem tiefgrei­

23 Vgl. zu den zahlreichen Belegstellen bei Malalas den Index der Edition THURNS, S. 486, s.v. θεομηνία: terrae motus. Der entsprechende Wortgebrauch ist seit dem 5. Jh. belegt (CROKE (1981), 123). Allgemein dazu vgl. CHANIOTIS (1998), 404£, mit weiteren Begriffen und reichhalti­ gem Belegmaterial (bes. Anm. 2 und 3). 24 CLAESSENS (1995), 69. 25 Vgl. auch Waldherr (1998), 58, der diesen Umstand ebenfalls konstatiert und auf der Basis älterer Forschungen vorschlägt, die Katastrophe als »eine Fehlleistung der von Menschen getragenen Systeme, also ein Versagen sowohl der gebauten als auch der sozialen Infrastruktur« zu definieren (59f.). WALDHERR versucht damit, die kulturelle Bedeutung von Katastrophen stärker zu akzentuieren, um den Umgang mit ihnen als »Indikator für die Verarbeitung existentieller Prob­ leme und für zentrale Konflikte« in einer Gesellschaft nutzbar zu machen (62). Eine derartige Ein­ grenzung des Katastrophenbegriffs impliziert jedoch bereits feste Vorstellungen von ihrer Rolle als Indikator gesellschaftlicher Entwicklungen, die indes im Einzelfall erst zu prüfen ist. Das Ereignis einer Katastrophe als solches wird durch Waldherrs Definition nicht systematisch bestimmt. Das vor kurzer Zeit erschienene Lexikon zur Historischen Geographie des Altertums (SONNABEND (1999b)) enthält leider keine Lemmata >Katastrophe< bzw. »Naturkatastrophe«, immerhin aber die Stichwörter »Erdbeben« (109-114), »Finsternisse« (142-144), »Klima« (260-263), »Klimakunde« (263-266), »Kometen« (269-272), »Krieg« (272-280), »Meteor« (343-344).

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Zielsetzung und methodische Grundlagen der Untersuchung

fenden (= radikalen) und überraschenden (= rapiden) Charakters zu grundlegenden Veränderungen im sozialen Handeln der Betroffenen fuhrt und dabei metaphysi­ sche (= rituelle) Deutungsmuster (wie z.B. den Zorn Gottes, das Wirken eines Dämons oder Fluches usw.) evoziert.26 Diese Definition erscheint allerdings nicht unproblematisch, denn sie verbindet über den Katastrophen-ßegríff soziales Ver­ halten mit Deutungsmustem; diese wiederum stellen einen wesentlichen Gegen­ stand der vorliegenden Untersuchung dar, können also in der Definition der Kata­ strophe nicht bereits als gegeben vorausgesetzt werden. Es wird daher an Einzelfállen zu überprüfen sein, ob das unerwartete Ereignis tatsächlich stets mittels einer rituellen Deutung erfaßt worden ist oder ob nicht auch Erklärungen vorge­ bracht worden sind, die unter Berücksichtigung der jeweiligen Ausgangslage als rational beschrieben werden können. Klammert man somit das Moment der Ritualität zunächst aus, so bietet der soziologische Ansatz m.E. ein brauchbares Fundament für eine Definition der Katastrophe, das auch auf historische Untersu­ chungen anwendbar, in unserem Kontext allerdings noch zu erweitern ist: Zum einen sind neben den faktischen (d.h. als Ereignissen mit Konsequenzen im physi­ schen und materiellen Bereich anzusehenden) Katastrophen auch noch diejenigen Fälle zu berücksichtigen, die von den Zeitgenossen lediglich als Katastrophen empfunden wurden, ohne aber unmittelbare Auswirkungen auf den Bereich des Physischen und des Materiellen gehabt zu haben; zu dieser Gruppe zählen z.B. Sonnenfinsternisse, Kometen, geheimnisvolle Vorzeichen usw. Auch diese Phä­ nomene trafen plötzlich ein und wirkten sich in spezifischer Weise auf das soziale Verhalten der Menschen aus. Sie sind indes nicht mit den bereits erwähnten ritu­ ellen Deutungsmustem zu verwechseln, sondern konnten ihrerseits den Gegen­ stand ritueller Interpretation bilden. Zum anderen sind auch längerfristige Ent­ wicklungen mit zu berücksichtigen, die allmählich verheerende Folgen für die Betroffenen zeigen und im Verlauf ihres Fortschreitens eine Eigendynamik ent­ falten, die sie jeglicher - möglicherweise zunächst noch gegebenen - menschli­ chen Kontrolle entziehen. Damit ergibt sich schließlich die folgende Definition von Katastrophen: Ereig­ nisse, die plötzlich (rapide) und tiefgreifend (radikal) auf den Alltag der Menschen einwirken oder in dieser Weise empfunden werden und die sich gravierend auf das soziale Handeln der Betroffenen auswirken, sowie längerfristige Entwicklungen, die sich menschlicher Kontrolle zunehmend entziehen, aber letztlich ähnliche Konsequenzen für das soziale Verhalten haben wie die punktuellen Ereignisse. Ist somit das in dieser Arbeit zugrundegelegte Verständnis einer >Katastrophe' beschrieben, so sind im folgenden noch einige Anmerkungen zur Problematik

26 Vgl. zu dieser Definition Clausen/Dombroivsky (1987), 267f.; CLAUSEN (1992), 293; ausführlich ders. (1983), 41ff., bes. 50ff.

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Vorüberlegungen.· Mentalitäten und Katastrophen

eines mentalitätengeschichtlichen Ansatzes für einen althistorischen Untersu­ chungsgegenstand anzufiigen. Die sog. Mentalitätsgeschichte als Paradigma in­ nerhalb der Geschichtswissenschaft ist vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend zum Gegenstand kontroverser Theorie- und Methodendiskussionen geworden,27 ein Umstand, der auf den ersten Blick erstaunlich erscheint, ist doch das ihr zugrundeliegende Konzept trotz mehrfacher Modifikationen immerhin bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts zurückzuverfolgen (»Annales«-Historiker).2829

Betrachtet man den heutigen Stand mentalitätengeschichtlicher Forschung, so sind zwei wesentliche Aspekte augenfällig: Zum einen konzentrieren sich entspre­ chende Studien vornehmlich auf die europäische, insbesondere französische Ge­ schichte des Mittelalters oder der frühen Neuzeit. Zum anderen scheint gerade in Deutschland noch immer ein gewisses Unbehagen gegenüber mentalitätenge­ schichtlichen Untersuchungen zu bestehen,22 das erst allmählich zurückgeht. Zwar

mangelt es nicht an theoretischen Arbeiten, die sich mit der Mentalitätsgeschichte auseinandersetzen; doch finden sich entsprechende Fachuntersuchungen nur ver­ einzelt, und wenn, dann häufig in Verbindung mit einem für deutsche Ge­ schichtswissenschaften charakteristischen systematischen Ansatz. Der Grund für diese offenkundige Abneigung wurde bereits wiederholt in ei­ nem methodologischen Grundproblem der französischen Mentalitätsgeschichte gesehen, nämlich in dem Fehlen einer exakten Definition von Begriff und Inhalten dieses historischen Paradigmas, das von den »Annales«-Historikem bislang ledig­ lich auf der Basis eines gewissen Verständnis-Konsenses eher diskursiv einge­ grenzt als exakt definiert wurde.30 Einige Stimmen lehnen dabei sogar eine theo­ retische und methodologische Verankerung der Mentalitätsgeschichte gezielt ab, da dies den unvoreingenommenen, kreativen Zugang zum Forschungsobjekt zu sehr einenge.31 Dagegen finden sich - wohl nicht zufällig - insbesondere in der Vgl. z.B. IGGERS (1974); Reichardt (1978); DERS. (1979/80); HINRICHS (1979/80); (1979/80); Gurevich (1983); Schulze (1985); Sellin (1985); Graus (1987a); Raulff (1987); RIEKS (1989); DIES. (1990); DlNZELBACHER (1993), XV-XXXVII; BORGOLTE (1997); GŁCHER-HOLTEY (1998). 28 Die Entwicklung der Mentalitätsgeschichte läßt sich recht anschaulich an den Beiträgen der Zeitschrift »Annales d’histoire éconotnique et sociale« (seit 1946 »Annales (ESC)«) studieren, die erstmals 1929 von MaRC BLOCH und LUCIEN FEBVRE herausgegeben wurde und sich seitdem als zentrales Organ vorwiegend französischer Forscher, die sich diesem neuen Arbeitsfeld zuge­ wandt hatten, etabliert hat. Vgl. dazu Erbe (1979); SCHULZE (1985), 249ff.; Burke (1991); Raphael (1994). Die Entstehung des »Annalestt-Konzept läßt sich jetzt anhand der Briefe Febvres und Blochs an Henri Pirenne nachvollziehen·. Lyon/Lyon (1991). 29 Vgl. Hinrichs (1979/80), 226f.; Dinzelbacher (1993), XVII. 30 Vgl. dazu Reichardt (1978), 130ff. und Schulze (1985), 261 mit Äußerungen französi­ scher Mentalitätsforscher. Ausführlich RIEKS (1990), 64ff. 31 Vgl. Gurevich (1983), 177ff. 27

thiriet

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Zielsetzung und methodische Grundlagen der Untersuchung

deutschsprachigen Literatur verschiedene Versuche, Mentalität bzw. Mentalitäts­ geschichte inhaltlich zu verorten sowie überhaupt zu definieren.32 Obwohl sich die Definitionsversuche in zentralen Punkten überschneiden, sind sie doch nie dekkungsgleich, so daß Begriffe und Inhalte grundsätzlich unscharf bleiben. Dabei zeigt sich jedoch, daß immerhin zwei Aspekte mit einer gewissen Konstanz wie­ derkehren: Zum einen die Deutung von Mentalität als einem gruppenspezifischen Phänomen; zum anderen ihre methodisch nicht unproblematische (s.u.) Beziehung auf Denkmuster bzw. Vorstellungen einerseits sowie auf konkretes Handeln ande­ rerseits, d.h. auf zwei gänzlich unterschiedliche Kategorien.33 Μ. Borgolte z.B. spricht bereits im Untertitel seiner Studie über »Selbstverständnis» und »Mentalitäten« vom »Bewußtsein, Verhalten und Handeln.«34 Damit tritt zur Schwierigkeit der verschiedenen, nur partiell deckungsgleichen Definitionen noch das weitere Problem, daß diejenigen Aspekte, die allen Definitionen gemeinsam sind, auf unterschiedlichen Strukturebenen angesiedelt werden müssen. Neben diesem grundsätzlichen Problem der begrifflichen und inhaltlichen Eingrenzung haben noch weitere mit dem Schlagwort der Mentalitätsgeschichte verbundene Bedenken35 dazu beigetragen, daß verschiedentlich sogar davor gewarnt wurde, mentalitätsgeschichtliche Forschung überhaupt zu betreiben. 32 Eine zusammenfassende Umschreibung des Bedeutungsspektrums von »Mentalität« auf der Basis der »Annales«-Schule bietet ReichaRDT (1978), 131ff. Zu den verschiedenen Eingrenzungs- bzw. Definitionsversuchen vgl. etwa Sprandel (1972), 9; RlEKS (1990), 73; DinzeLBACHER (1993), XXI. Weitere Definitionen von »Mentalität« und »Mentalitätsgeschichte« bietet SELLIN (1985), 559f., mit Hinweis auf das unbefriedigende Ergebnis. Vgl. allerdings auch VOVELLE(1990), 5. 33 Vgl. REICHARDT (1978), 132; SELLIN (1985), 560. 34 Vgl. Borgolte (1997), 189. 35 Die unscharfe Bestimmung von >Mentalität< sowie die zumeist unkritisch unterstellte Vor­ aussetzung, daß Mentalitäten sich in Verhalten, d.h. anhand der in Quellen greifbaren Handlungen manifestieren, implizieren unweigerlich die Gefahr, daß zunächst eine Mentalität aus einem be­ stimmten Verhalten rekonstruiert wird, um dann wiederum selbiges aus der so gewonnenen Menta­ lität heraus zu erklären (GŁCHER-HOLTEY (1998), 477; die neuere französische Forschung hat sich diesem Problem mittlerweile gestellt, vgl. CHARTIER (1989)). Schon seit längerem ist jedoch be­ kannt, daß ein grundsätzlich handlungsleitendes (Un-)Bewußtsein und konkretes Verhalten nicht immer übereinstimmen müssen, so daß wechselseitige Rückschlüsse methodisch problematisch sind (vgl. BORGOLTE (1997), 192). Daneben bereitet auch die verbreitete Bestimmung der Menta­ lität als einer Form des kollektiven Unbewußten Probleme; der Begriff der Mentalität als histori­ sche Kategorie dient in der Regel zur Beschreibung von Vorstellungen und .Anschauungen, die Gesellschaften oder Gruppen innerhalb einer Gesellschaft gemeinsam sind. Es ist allerdings frag­ lich, ob Gesellschaften tatsächlich ohne weiteres in verschiedene, klar voneinander unterschiedene Gruppen gegliedert werden können, die jeweils durch spezifische Anschauungen gekennzeichnet sind und anhand dieser jeweils gesondert umschrieben werden können. Die historischen Realitäten sind zweifellos wesentlich komplexer (vgl. BORGOLTE (1997), 205ff.; DlNZELBACHER 11993), XXIV). Der Begriff der Mentalität beschreibt Kollektive, die sich jedoch nicht scharf voneinander abgrenzen lassen, sondern deren Mitglieder (die stets auch eine individuelle Mentalität in die

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Vorüberlegungen.· Mentalitäten und Katastrophen

Es ist allerdings fraglich, ob eine derart radikale Abwendung von einer For­ schungsrichtung, die immerhin zahlreiche anerkannte Studien und Ergebnisse hervorgebracht hat, wirklich erforderlich ist. Gerade die bislang unscharfe begriff­ liche und inhaltliche Bestimmung von Mentalitätfen) und Mentalitätsgeschichte erlaubt es doch, diese Schlagworte jeweils von neuem mit Sinn zu füllen und so einzugrenzen, daß sie die Basis einer historischen Fragestellung und Methode bieten können.36 Dieses Verfaltren dürfte insbesondere aus der althistorischen Perspektive interessant und vielversprechend erscheinen, da zum einen die Antike aufgrund der ihr eigenen Quellensituation37 ganz spezielle Herausforderungen an

Gruppe mit einbringen) jeweils mit verschiedenen weiteren Kollektiven vernetzt sind und dabei unterschiedliche Mentalitäten nebeneinander besitzen, wobei sicherlich nicht auszuschließen ist, daß diese sich untereinander beeinflussen, so daß die Mentalität jeder einzelnen Gruppe nicht nur von den zugehörigen Individuen, sondern ebenso stark auch von weiteren Gruppen mit konkurrie­ renden Mentalitäten geprägt wird (REICHARDT (1978), 132). Die Frage, inwieweit dieser Prozeß eher auf der Ebene des Bewußtseins oder des Unbewußten abläuñ, d.h. mit anderen Worten, ob Mentalitäten auch zielgerichtet umgeprägt werden können oder nicht, fuhrt zu einem weiteren Problemfeld, nämlich der Abgrenzung von Mentalität und Ideologie (dazu im einzelnen Sellin (1985), 581ff.). Ein letzter wichtiger Kritikpunkt an den Methoden der Mentalitätsgeschichte bezieht sich auf das Quellenproblem: Da die meisten erhaltenen Quellen die sozialen Eliten der jeweils untersuchten Gesellschaften betreffen und das alltägliche Leben des größten Teils der Bevölkerung im allgemei­ nen nur schwer rekonstruierbar ist, wird den Mentalitätsforschem der Vorwurf gemacht, im besten Fall die Mentalitäten von Eliten zu beschreiben (SCHULZE (1985), 263; Sellin (1985), 573), damit aber nur den geringsten Teil von Gesellschaften zu erfassen und dem eigenen Anspruch, eine »histoire totale« zu betreiben, nicht gerecht zu werden. Die »Annales«-Historiker haben schon früh versucht, diesen Vorwurf zu entkräften, indem sie die Erschließung neuer Quellengattungen auf ihre Fahnen schrieben (vgl. SCHULZE (1985), 260), ein Schritt, der eng mit der Integration der seriellen Methode in die historische Forschung verbunden ist. Diese Methode jedoch birgt wie­ derum spezifische neue Probleme: Das quantitativ-statistische Verfahren kann nur dann funktionie­ ren, wenn eine ausreichende Anzahl gleichartiger Quellen zu einem bestimmten Phänomen zur Verfügung steht. Dies trifft allerdings nur selten zu, so daß oft sog. qualitativ-individuelle Quellen herangezogen werden müssen, um ein Gesamtbild zu entwerfen. Die Stellung und das Gewicht dieser qualitativ-individuellen Zeugnisse gegenüber den quantitativ-statistischen Quellen ist auch unter den Mentalitätshistorikem umstritten (Thirjet (1979/80), 221; Hinrichs (1979/80), 231f.; REICHARDT (1979/80), 236 [jeweils für eine Kombination qualitativ-individueller und serieller Quellen unter einer sinnvollen Fragestellung]; SCHULZE (1985), 263; VOVELLE (1990), 232ff.; vgl. auch Dinzelbacher (1993), XIX). Im übrigen ergibt sich bei ihnen das besondere Problem, daß nicht klar ist, inwieweit derartige Zeugnisse einzelner Individuen als Indizien für kollektive Men­ talitäten gewertet werden können (SELLIN (1985), 591). 36 Warnung vor Mentalitätsgeschichte: BORGOLTE (1997), der aber ausdrücklich ihre Lei­ stungen und Ergebnisse anerkennt. Zu den Vorteilen der unscharfen Begriffsbestimmung vgl. auch RlEKS (1990), 66. 37 Zu dieser besonderen Quellensituation gehört nicht nur die vergleichsweise geringe Zahl von Zeugnissen, die überdies oft lückenhaft und disparat sind, sondern auch der Umstand, daß zumindest die literarischen Quellen während ihrer Überlieferung einem Selektionsprozeß ausge-

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Zielsetzung und methodische Grundlagen der Untersuchung

den mentalitätsgeschichtlichen Ansatz stellt, da sich zum anderen aber in der al­ tertumswissenschaftlichen Forschung bislang vergleichsweise wenige mentalitäts­ geschichtliche Arbeiten finden und in diesen Studien der Mentalitätsbegriff bis­ weilen ohne weitere methodische Reflexion eingeführt und angewendet wird.*38 Eine mentalitätsgeschichtliche Arbeit zur Antike sieht sich zunächst in beson­ derem Maße mit dem Quellenproblem konfrontiert; Das in der französischen Ge­ schichtswissenschaft entwickelte serielle Verfahren, d.h. die Auswertung mög­ lichst großer Mengen von Quellen ein und derselben Kategorie, scheidet als me­ thodische Leitlinie prinzipiell bereits aus, denn das wenige erhaltene Material ist zu inhomogen, als daß diese Methode Erfolg versprechen könnte.39 So legt z.B. die Studie von J.-N Biraben und J. Le Goff zur Pestepidemie im 6. Jahrhundert deutlich die Schwächen des seriellen Verfahrens im Bezug auf die Antike dar: sie kommt über die Kalkulation einiger statistischer Werte, die trotz aller Bemühun­ gen letztlich unsicher bleiben, nicht hinaus.40 Das Hauptgewicht der Interpretation setzt waren, so daß sie nur selten als repräsentativ angesehen werden können, sondern eher Auf­ schlüsse über spezifische Mentalitäten während des Überlieferungszeitraumes geben. 38 Vgl. z.B. KUDLIEN (1991), 10, Arun. 5 (kurzer Verweis auf ausgewählte Literatur zum Be­ griff der Mentalität); OLSHAUSEN (1998). Eine Ausnahme bilden SCHUBERT (1993), 15-19, die ihr Verständnis des Mentalitäts-Begriffs erläutert und diesen insbesondere vom Begriff der Identität abgrenzt, sowie vor allem Strobel (1993), llffi, bes. 26-32, der für seine mentalitätsgeschichtli­ che Untersuchung der sog. Krise des 3. Jh. n. Chr. eigens das Konzept der »mentalen Strukturen« entwickelt, das hauptsächlich auf den Überlegungen SELLINS (1985) basiert. STROBEL fragt »nach den Mustern von Gegenwartswahmehmung, Zeiterleben und Verarbeitung für historisches Gesche­ hen, ebenso nach der Orientierungsfindung der Zeitgenossen und den Mustern ihres Bildes von Gegenwart und Vergangenheit« (27). Er sieht Wahrnehmung, Denken, Wissen, Wollen und Han­ deln bzw. soziales Verhalten als »unlösbar vernetzte Leistungsbereiche innerhalb der Gesamtfunk­ tion des menschlichen Gehirns«, die vor allem durch mentale Strukturen im Sinne kognitiver Mu­ ster und alltagsübergreifender Orientierungsschemata geprägt seien (31). GíRardeï (1993) ver­ sucht exemplarisch, das Paradigma der französischen Mentalitätsgeschichte in modifizierter Form auf die Geschichte der späten Republik und des frühen Prinzipats anzuwenden und äußert sich dabei insbesondere zur Problematik der Mentalitätsgeschichte für die altertumswissenschaftiiche Forschung (202-205). Leppin (1996) sucht mittels eines mentalitätsgeschichtlichen .Ansatzes einen Beitrag zur Erforschung hochrangiger kaiserlicher Freigelassener zu leisten. Wertvolle mentalitäts­ geschichtlich angelegte Studien sind darüber hinaus in der Vergangenheit entstanden, ohne daß dies jeweils aus dem Titel hervorgehen mußte, vgl. etwa STRASBURGER (1969 [1954]). Lediglich einführenden Charakter besitzt demgegenüber der kurze Artikel von H. Sonnabend, Mentalität, in: DERS. (1999b), 340-343. 39 Damit scheidet freilich auch eine der wenigen methodischen Prämissen der Mentaütätsgeschichte aus, nämlich die Erforschung bestimmter Phänomene über möglichst lange Zeiträume hinweg (langue durée: Vgl. BRAUDEL (1958)). Dieses Verfahren, das ohne die serielle Methode kaum denkbar ist, hat allerdings mittlerweile selbst aus den Reihen der »Annales«-Historiker Kritik erfahren, die zu Recht darauf hinweisen, daß Mentalitäten keineswegs stets langfristige Phänomene ohne innere Entwicklung sein müssen (VOVELLE (1990), 126ff.; 154ffi; vgl. auch DlNZELBACHER (1993), XXV); zur Diskussion SCHULZE (1985), 256f.; SELLIN (1985), 587. 40 Vgl. Biraben/Le Goff (1975 [1969]).

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Vorüberlegungen: Mentalitäten und Katastrophen

muß somit zwangsläufig auf den qualitativ-individuellen Quellen liegen, die je­ doch mit allgemeineren Zeugnissen wie z.B. archäologischen oder siedlungsge­ schichtlichen Befunden kombiniert werden können. Daneben bietet sich bei Phä­ nomenen. die Parallelen zu vergleichbaren, aufgrund einer günstigeren Quellen­ lage besser erforschten Gesellschaften aufweisen (wie z.B. der Pestepidemien des 6. und 14. Jahrhunderts), die Möglichkeit des Analogieschlusses zur Kontrolle und Ergänzung der gewonnenen Resultate;41 es ist in diesen Fällen dann jeweils genau zu prüfen, ob möglicherweise bestimmte Erklärungsmuster der mediävistischen bzw. frühneuzeitlichen Mentalitätenforschung auf antike Verhältnisse über­ tragen werden könnten, was mitunter immerhin einer indirekten Adaption des »Annales«-Ansatzes auf die Antike entspräche. Dennoch muß natürlich die Inter­ pretation des Einzelzeugnisses im Vordergrund stehen, was einen grundlegenden Unterschied zu den großen Arbeiten der französischen Schule darstellt; es wird sich zeigen, daß wichtige mentalitätsgeschichtliche Ergebnisse nicht unbedingt auf der Wahl der (zur seriellen Interpretation geeigneten) Quellengattung basieren müssen, sondern vielmehr auf der Art der Fragestellung sowie der Kontextualisierung der Einzelinterpretation.42

Was die exakte Bestimmung des Mentalitätsbegriffes angeht, so scheint es an­ gebracht zu sein, von dem Konsens auszugehen, der allen bislang vorgetragenen Definitionen zugrundeliegt, und auf dieser Basis gewisse Modifikationen und Er­ gänzungen vorzuschlagen - insbesondere im Hinblick auf die spezifischen Vor­ aussetzungen des 6. Jahrhunderts n. Chr. Den bisher erarbeiteten Definitionen zufolge handelt es sich bei Mentalitäten um Denkmuster bzw. Inhalte, die Angehörigen bestimmter Gruppen gemeinsam sind und die in Form von unbewußten Anschauungen und Vorstellungen, die sich zu Meinungen und Wertungen verdichten, das bewußte Denken sowie das Ver­ halten und Handeln der einzelnen Gruppenmitglieder maßgeblich beeinflussen. Die Mentalität konstituiert dabei eine Art gemeinsamen Wissens, das den Men­ schen Orientierungshilfen im alltäglichen Leben bietet, insbesondere dann, wenn individuelle Deutungsdispositionen nicht mehr greifen oder gänzlich versagen. Insbesondere V. Sellin hebt dabei den Charakter von Mentalität als eines ge­ meinsamen Wissens bestimmter gesellschaftlicher Gruppen hervor und konsta­ tiert; »Solches Wissen besitzt Orientierungsfunktion. Dank solchen Wissens weiß

41 Den historisch-anthropologischen Vergleich zur Erhellung antiker Phänomene fordert auch CH. Meier in einem Gespräch mit U. Raulff über den mentalitätsgeschichtlichen Ansatz; vgl. MEIER/RaULFF (1987), 163ff., bes. 178; 181; vgl. darüber hinaus jetzt auch MEIER (1996), 262ff. 42 STROBEL (1993), 14. Diese Diskussion hat auch Eingang in die französische Mentalitäts­ forschung gefunden, vgl. z.ß. Vovelle (1976) sowie auch REICHARDT (1979/80), 236; SELLIN (1985), 593.

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Zielsetzung und methodische Grundlagen der Untersuchung

der einzelne, welche Ziele er verfolgen soll und welche Mittel hierzu tauglich sind; er weiß, wie er die Wirklichkeit ordnen soll in Freund und Feind, Nützlich und Unbrauchbar, Richtig und Falsch, Gut und Böse. Ohne solche gesellschaftlich vermittelten Orientierungen könnte der Mensch nicht existieren. Zwar besitzt er die Fähigkeit zur Reflexion und zur Selbstbestimmung und damit zur Distanzie­ rung gegenüber den gesellschaftlich vorgegebenen Verhaltensregeln, aber er kann unmöglich alle sozialen Vorgaben gleichzeitig in Frage stellen. Die fraglose Hin­ nahme der meisten Geltungen, in denen er lebt, erscheint geradezu notwendig im Sinne einer >Entlastung< des Bewußtseins.«43 Angesichts der bereits angedeuteten Schwierigkeiten dieser Definition hat vor einiger Zeit I. Gilcher-Holtey den Versuch unternommen, den auf diese Weise zumindest annähernd eingegrenzten Mentalitätsbegriff schärfer zu fassen und da­ bei vor allem das Problem der unterschiedlichen Strukturebenen von (Un-) Bewußtsein und Verhalten zu lösen. Ihre Überlegungen, die auf eine Verwend­ barkeit des Mentalitäts-Begriffes für die Neuere und Neueste Geschichte zielen, erweisen sich auch für unsere Zwecke als nützlich. Auf der Grundlage älterer so­ zialpsychologischer Studien weist Gilcher-Holtey zunächst auf die drei unter­ schiedlichen Strukturebenen hin, die der Mentalitäts-Begriff impliziert:4445 1. ) Die Charakterstruktur: Sie betrifft die innere Disposition des Individuums, die vor allem durch eigene Bedürfnisse wie Triebe, Wünsche und emotionale Im­ pulse geprägt, in ihrer Entwicklung aber auch von äußeren Faktoren beeinflußbar ist. 2. ) Die eigentliche Mentalitätsstruktur: Es handelt sich um Meinungen. Ein­ stellungen und Wertvorstellungen, die, bewußt oder unbewußt, von außen rezi­ piert werden und somit Einfluß nehmen auf die Charakterstruktur. Die aus­ schließliche Ansiedlung der Mentalität auf der Ebene des Unbewußten, die sich schon in der Frage der Abgrenzung von Mentalität und Identität als problematisch erweist, wird also aufgegeben. Mentalitäten sind Bewußtseinsinhalte, die zwi­ schen den Ebenen des Unbewußten und des Bewußten oszillieren. 3. ) Die Handlungsstruktur: Entgegen dem älteren Ansatz der Mentalitätshisto­ riker müssen sich Mentalitäten im Sinne einer Kombination der beiden erstge­ nannten Aspekte keineswegs zwangsläufig in Handlungen oder Verhalten manife­ stieren. Neben der Mentalität ist vor allem die jeweilige Situation,40 in der sich ein Verhalten äußert, zu beachten sowie - bei Gruppen - die individuelle Charakter­ struktur jedes einzelnen Mitgliedes. 43 SELLíN (1985), 5X0; vgl. ähnlich bereits REICHARDT (1978), 132. 44 Gilcher-Holtey (1998), 478f. 45 Der Begriff »Situation« sei hier im weiteren Sinne verstanden, d.h. er umfaßt sowohl den konkreten Ereignis- bzw. Geschehenszusatnmenhang, in den ein Verhalten einzuordnen ist, als auch grundsätzliche sozio-ökonomische Grunddispositionen.

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Vorüberlegungen: Mentalitäten und Katastrophen

Eine Aufgliederung des Mentalitätsbegriffs in diese drei Strukturbestandteile zeigt deutlich, daß Mentalität »in einem Wirkungszusammenhang mit der Cha­ rakter- oder Persönlichkeitsstruktur einerseits und den Handlungsoptionen ande­ rerseits gesehen« werden kann. »Geprägt durch die Charakterstruktur, wird Men­ talität als Denkstruktur gefaßt, deren inhaltliche Aufladung in Abhängigkeit von rideologischen Trends< der Zeit steht, die den psychologischen Bedürfnissen des Individuums Rechnung tragen.«46 Damit zeigt sich, daß Mentalität alleine ein Verhalten nicht erklären kann und deshalb lediglich als Handlungspotential, nicht aber grundsätzlich als Deutungs­ muster für eine Handlung angesehen werden kann.47 Die Frage nach spezifischen

Mentalitäten hat somit neben dem eigentlichen Verhalten bestimmter Personen jeweils auch auf den unmittelbaren Kontext, d.h. die konkrete Situation bzw. weitere äußere (z.B. sozio-ökonomische) Faktoren und - sofern dies möglich ist auf die Zusammensetzung der Gruppe zu zielen, da jedes Individuum eine eigen­ ständige Charakterstruktur mit einbringt. Sowohl Mentalität und Handlungsweise als auch Mentalität und Charakterstruktur stehen also in einem jeweiligen Wech­ selverhältnis, ohne aber linear aufeinander bezogen zu sein. Die Einbindung der Mentalität in dieses Spannungsfeld grenzt sie überdies deutlich ab von Identität und Selbstverständnis, zwei Kategorien, die aufgrund ihrer ebenfalls schillernden Bedeutungsspektren leicht mit Mentalität verwechselt werden können. Es handelt sich hierbei freilich um methodische Forderungen, die von einer idealen Quellensituation ausgehen, die natürlich für das 6. Jahrhundert nicht gege­ ben ist, obwohl gerade für diese Zeit zahlreiche Zeugnisse existieren, die bislang noch zu wenig in das Blickfeld der Forschung geraten sind. Es versteht sich daher von selbst, daß bei der Realisierung des beschriebenen Konzeptes Kompromisse nicht zu vermeiden sind, so daß unweigerlich die einzelne Quelle unter dem Ge­ sichtspunkt der Fragestellung, Interpretation, Gewichtung und historischer Ein­ ordnung in den Vordergrund rückt. Immerhin dürfte GlLCHER-HOLTEYS Konzept einer »dynamischen Mentalitätsgeschichte«48 dennoch geeignet sein, den Menta­ litätsbegriff methodisch schärfer zu konturieren und damit nicht nur für eine altertumswissenschañliche Untersuchung auch fruchtbar zu machen. Das Verständ­ nis von Mentalität (bzw. besser: Mentalitäten) als einem Konglomerat bewußter und unbewußter Denkmuster, Vorstellungen und Meinungen der Mitglieder spezi­ fischer Gruppen, eingebettet in ein Spannungsfeld von Charakterstrukturen der Individuen einerseits und von Verhalten und Handlungen unter bestimmten äuße­ ren Voraussetzungen (Situationen) andererseits, soll daher als Form orientierungs­

46 GIŁCHER-HolTEY (1998), 479. 47 GlŁCHER-HOLTEY (1998), 480. Ähnlich bereits ÜINZELBACHER (1993), XXV. 48 GlLCHER-HOLTEY (1998), 480.

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Zielsetzung und methodische Grundlagen der Untersuchung

stiftenden kollektiven Wissens (Deutungsmuster, Orientierungsmuster) entspre­ chend den Überlegungen Sellins die Basis der folgenden Untersuchung bilden. Es erlaubt die Hypothese, daß sich mentale Dispositionen - in unserem Fall eschatologische Naherwartungen - grundsätzlich handlungsleitend auswirken können, daß die Resultate dieses Handelns jedoch unterschiedlichen Charakter aufweisen können, jeweils abhängig von den Besonderheiten der Situation sowie den individuellen Dispositionen der Mitglieder der zu untersuchenden Gruppen. In den folgenden Kapiteln gilt es, diese Hypothese auf der empirischen Basis zu überprüfen und danach zu fragen, ob sich in unterschiedlichen Situationen im Kontext verschiedener Katastrophen Handlungsmuster abzeichnen, die allen Be­ troffenen gemeinsam sind oder zumindest verallgemeinerbar erscheinen. Auf eine ausführliche Beschreibung des zugrundegelegten Quellenmaterials kann an dieser Stelle verzichtet werden. Entsprechende Hinweise und Zusammen­ fassungen finden sich in nahezu jeder modernen Darstellung zu Justinian und sei­ nem >ZeitalterAußenwelt< Notiz nimmt.« 77 Nicht erwähnt wird z.B. die Usurpation des Prokopios, der sicherlich Heide war (.Jnuit. ΧΧΠΙ 3,2), im Jahr 365. 78 Damask. fr. 303 Z. = fr. 115A ATH. Damaskios nennt zunächst die Herrschaft Julians, es folgt ein Anschlag eines gewissen Lucius, wahrscheinlich gegen Theodosios II. (von Haehung (1980), 85), ein weiterer Attentatsversuch eines nicht namentlich genannten Heiden, wohl des Isauriers Flavios Zenon (PLRE II 1199f. [Z. 6]; vgl. VON HAEHLING (1980). 87) sowie die Ver­ schwörung des Severianos (PLRE II 998f. [S. 2]) gegen Zenon (vgl, von Haehung (1980). 88). 79 Vgl. von Haehling (1980), 82; 95. 80 Von Haehling (1980), 94f. 81 S.u. Kap. 3.1.2.3. 82 Im einzelnen vgl. dazu Chuvin (1991), 95ff.; AthaNASSIADI (1993). 17-24. 83 Damask. fr. 305 Z. =fr. 108 AtH; vgl. ATHANASSIADI (1993). 17f: »The emperor's öfter is indicative of the atmosphere which prevailed in the upper layers of the administration: cultured

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Grundvoraussetzungen: Unerfüllte Erwartungen

Heiden ihre bewunderten Märtyrer,84 wobei viele es allerdings vorzogen, unter­ zutauchen bzw. zu fliehen - wie z.B. Damaskios’ Lehrer Isidor85 — oder dem an­ haltenden Druck nachzugeben und zum Christentum überzutreten, wie etwa der Ägypter Horapollon, der unter Zenon und Anastasios lebte (PLRE Π 569f. [H. 2]). Horapollon. von den Christen verfolgt und als >Psychapollon< verspottet,86 lehrte Philosophie in Alexandreia.87 Sein Onkel Heraiskos, der während der Heidenver­ folgung unter Zenon umkam,88 prophezeite ihm, er werde einst ohne erkennbaren Grund zum Christentum übertreten.89 Diese Voraussage trat schließlich ein, nach­

dem Horapollon von seiner Frau für einen Liebhaber verlassen und nahezu seines gesamten ererbten Besitzes beraubt worden war. Durch die persönlichen Schick­ salsschläge gezeichnet besaß er nicht mehr die Kraft, den alltäglichen Widerstän­ den seitens der Christen auch weiterhin noch zu begegnen und konvertierte.90 Schicksale dieser Art waren keine Einzelfälle. W. E. Kaegi hat in einer noch im­ mer lesenswerten Studie anschaulich dargestellt, wie sich das Heidentum im ge­ samten Oströmischen Reich seit Mitte des 5. Jahrhunderts auf dem Rückzug be­ fand. ein V organg, der begleitet wurde von Defaitismus, Desillusionierungen und resignativen Konversionen zum Christentum.91

2.1.2 Christliche Endzeiterwartungen, die Suche nach den Ursachen des Leides und das Phänomen der Angst Auf christlicher Seite überwog seit etwa 500 zunächst die Erwartung des baldigen Weitendes,92 ein Umstand, auf den sogar heidnische Zeitgenossen hingewiesen haben.93 Die Auseinandersetzung mit der Wiederkehr Christi und dem Untergang

der irdischen Welt scheint im 6. Jahrhundert weite Teile der Bevölkerung im bureaucrats like Severianus, who happened to profess openly pagan beliefs, were not actively persecuted in normal times, but pressure was brought to bear on them. Intolerance in such cases took the sly shape of psychological coercion.« Vgl. auch AL. Cameron (1969), 18 zur Bedeutung von τών κρατουντών. 84 Vgl. Damask./r. 319-320 Z.=/r. 126Eu. 119K ATH; epit. Phot. 185 Z.=fr. 119JÄTH. 85 Damask./r. 321 Z. = fr. 122A ATH.; epit. Phot. 181; 186; 187 Z. = fr. 119C; 121; 122B ATH. 86 Damask./r. 314 Z. =/r. 117B ATH.; Zach. Vita Sev. p. 32 KUGENER. 87 Zach. Vita Sev. p. 20 KUGENER. 88 Damask./r. 334 Z. = fr. 128 ATH. 89 Damask. fr. 317 Z. = fr. 120B ATH. 90 Vgl. dazu im einzelnen Maspero (1914), 163ff.; Athanassiadi (1993), 21 f. 91 Kaegi (1966). 92 Vgl. in diesem Sinne auch MaGDAlino (1993), 4f.; Külzer (2000), 59: »Mit dem An­ bruch des sechsten Jahrhunderts n. Chr. erlebten die eschatologischen Erwartungen in Byzanz einen ersten Höhepunkt.« 93 Vgl. Simpl, comm. in Aristol. de caei. 1 3 p. 87,29-88,5 HEIBERG; Simpl, comm. in Aristol. phys. VIII 10 p. 1335,5-9 Diels.

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Unterschiedliche Deutungsperspektiven der Katastrophen des 6. Jh.

Oströmischen Reich intensiv beschäftigt zu haben, wie nicht nur aus der breiten Streuung entsprechender konkreter Textzeugnisse hervorgeht/4 sondern auch aus

94 Vgl. dazu Brandes (1997), 39ff.; für den syrischen Raum Braun (1892), bes. 275f; ASHBROOK Harvey (1988), 299, mit Anm. 16; Witakowski (1990), 102ff. - Ich gebe im folgen­ den zunächst eine allgemeine Liste der mir bekannten relevanten Zeugnisse: — Narses von Edessa (2. Hälfte 5. Jh.), in: P. Gignoux (Ed.), Homélies de Narsaï sur la Creation. Turnhout 1968 (PO 34), p. 581,411; 679,118; vgl. dazu WITAKOWSKI (1990), !05f. — [Prosp. Tiro] De Enoc et Helia = Chron. min. 1 493 MOMMSEN mit STROBEL (1977), 279f. Damit vergleichbar sind die Erwartungen des sog. Komputisten von Karthago, der um 455 von einer 80jährigen Fortdauer der Welt, gerechnet ab dem Jahr 449, ausging, vgl. STROBEL (1977), 271-273. — Jakob von Sarug p. 26 Jansma; vgl. dazu Witakowski (1990). 102f. — Stephan bar Sudaili (greifbar nur in der Kritik des Philoxenos): Philoxenos p. 33: 3? FROTHINGHAM. — Paschale Campanum ad ann. 493; 496 = Chron. min. I 746-747 MOMMSEN. Vgl. dazu TRONCARELLI (1989), 567ff. — Fasti Vindoboneneses Posteriores ad ann. 495 = Chron. min. I 330 MOMMSEN. — Ale. Avit. epist. 21-22 p. 54,3-55,9 PEIPER; epist. 30 p. 60,12-15 PEIPER; epist. 34 p. 64,30 PEIPER; carm. V 231-259 p. 261 PEIPER (Hinweis W. BRANDES). — Theos. Tubing. § 2-3 Erbse. — Baalbek-Orakel p. 14,94-95; 19-22,173-227. — Malal. p. 408,12-409,10 D. (= p. 334,42-335,58 TH.); vgl. Joh. Mosch. Prat. Spirit. 38 PG 87.3, 2888-2889; Chron. Pasch, p. I 610,10-611,10; Theoph. a.m. 6010 p. 1 163,31-164,8; Kedren. 635-636 PG 121,692: Traum des Anastasios mit Vorhersage des baldigen Endes (Interpretation nach Mango (1980), 204, aufgegriffen von MAGDALINO (1993), 11). — Jos. Styl. cap. 49 p. 38 W. - p. 65 L. — Joh. Ruf.p/eroph. VII; XII; XIII; XIX; XXVI; LXXXV11I; LXXXIX. — Sev. Ant. epist. 79-81 BROOKS. — Die Siebte Vision Daniels (eine armenische Apokalypse, die auf einem griechischen Original aus der Zeit um 500 basiert (vgl. Alexander (1969), 118, Anm. 74; Brandes (1990), 310; DERS. (1997), 54); Text und deutsche Übersetzung: KALEMKIAR (1892), 109-136; 227-240, der 114 den Text allerdings fälschlich in das 7. Jh. datiert; der Verfasser dieser Apokalypse besaß jedoch recht genaue Informationen über historische Ereignisse des späten 5. Jh. [bis zutn Tod Zenons], weshalb der Text ohne Zweifel den Jahren um 500 angehört, vgl. Macler (1896), 288fE). Auf signifi­ kante, mitunter nahezu wörtliche Übereinstimmungen zwischen der Siebten Vision Daniels und dem Orakel von Baalbek, ein Umstand, der neben den inhaltlichen Aspekten ebenfalls für eine Datierung der Daniel-Vision in die Zeit um 500 spricht, weist ALEXANDER (1967). 118f. hin. — Prokop von Gaza PG 87,316C mit E. JEFFREYS (1990a), 113. — Rom. Mel. 34 Μ./Γ. = 50 GdM (p. V 234-266); Rom. Mel. 48 M.T. = 51 GdM (p. V 296326). — Nicetius epist. ad lustinianum 1; 7 (W. Gundlach [Ed.] Epistolae Merowingici et Karolini Aevi, Tom. 1, Berlin 1892, p. 118-119 [MGH Epist. III] = Η. A. POHLSANDER, A Call to Repentance. Bishop Nicetius of Trier to the Etnperor Justinian, Byzantion 70 (2000), 456-473, hier 464465). — Hesychios, ΕΙς τήν Χριστού γέννησιν PG 97,44-45 (darauf beruhend der Wiederabdruck in Dindorfs Malalas-Edition, S. LII-LII1). — Malal. p. 481,3-21 D. (= p. 406,87-407.8 TH.).

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Grundvoraussetzungen: Unerfüllte Erwartungen

deren Qualität. Die Endzeitproblematik zieht sich durch Texte verschiedenster literarischer Gattungen und unterschiedlichster Provenienz, schimmert darüber hinaus aber auch implizit immer wieder in den Quellen hervor.95 Gerade dieser

Umstand dürfte in besonders eindringlicher Weise belegen, welch weite Kreise die Diskussion erfaßt hatte. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf die Tatsache, daß um die Wende zum 6. Jahrhundert die Kirchenbautätigkeit insbe­ sondere in Konstantinopel (bes. Polyeuktoskirche, Hagia Sophia), aber auch im

— Eine der Hauptintentionen der Chronik des Johannes Malalas scheint in einer Auseinanderset­ zung mit zeitgenössischem Endzeitglauben bestanden zu haben, vgl. E. JEFFREYS (1990a), lllff.; DIES. (1990b), 121ff.; MEER (2002c), 159ff. sowie u. Kap. 5.1.2.1. — Ps.-Zach. XII 4. — Simpl, comm. in Aristot. de cael. I 3 p. 87,29-88,5 HE1BERG; Simpl, comm. in Aristot. phys. VIII 10 p. 1335,5-9 Dels (Polemik gegen christliche Endzeiterwartungen). Ob die Kontroverse zwischen Johannes Philoponos und Simplikios über die Ewigkeit der Welt ebenfalls vor dem Hin­ tergrund christlicher Endzeiterwartungen gedeutet werden kann, ist nicht zu entscheiden. Beide Autoren, insbesondere der Christ Johannes, vermeiden es strikt, auf der Basis christlicher Vorstel­ lungen zu argumentieren. Vgl. dazu auchWELAND (1960); Sorabd (1987a); ders. (1987b), 1 ff. — Joh.Eph. VitaSYO 17,125-126; Vita 27 PO 18,554-555. — Im 6. Jh. beginnt auch im Osten eine neue Auseinandersetzung mit der Offenbarung des Johan­ nes, vgl. Junillus PL 68,18A (vgl. ebd. 20A); Ps.-Leontius, De sectis PG 86.1, 1204C (zählt die Apk zu den kanonischen Schriften des NT) und insbesondere den Apokalypse-Kommentar des Oikumenios (dazu s.u. Kap. 5.1.2.2). In der syrischen Chronistik wird im 7. und im 9. Jh. darauf hingewiesen, daß in der Regierungszeit des Anastasios die 6000 Jahre abgelaufen seien (Chron. Melk. 12 p. 30 de Halleux [zur Entstehungszeit der Chronik im 7. Jh. vgl. Brock (1992a), 7]; Chron. ad ann. 846 = Chron. min. (Syr.) II p. 166 CHABOT). Auch Mich. Syr. VIII 5 und IX 5 bezeugt auf der Basis zeitgenössischer Quellen die allgemein verbreitete Erwartung des Endes der Welt. Mich. Syr. IX 11 (zur Herrschaft des Anastasios): En l'an 2 de son regne, ou, selon d'autres, en Γan 14, finit le sixiéme millénaire; c ‘est-á-dire les 6000 ans depuis la création du monde. Cette année était, selon le comput des Grecs, l’an 814. - Que six mille ans se soient écoulés et que ce monde transitoire doive finir, naus le savons et le confessons; mais quand? Nous ne le savons pas. Nous attendons Dieu qui seul connaït toute chose avant qu 'eile existăt et ce qui doit arriver. Dazu vgl. Brandes (1997), 56. — Seit Anfang des 6. Jh. wird Konstantinopel auch als >Zweites (Neues) Jerusalem« bezeichnet, eine Benennung, die starke eschatologische Implikationen aufweist (zur eschatologischen Bedeu­ tung Jerusalems vgl. KÜLZER (2000), 58): Vita Danielis Stylitae 10p. 12,13-14; vgl. Epitome Vitae 1 p. 95,30-31. Die Parallelisierung Konstantinopels und Jerusalems kommt auch in einigen Bau­ werken zum Ausdruck: Die Anfang des 6. Jh. aus Mitteln der Anicia luliana (PLRE II 635f. [Anicia luliana 3]) ausgestaltete monumentale Polyeuktoskirche wurde ausdrücklich in Anlehnung an den Tempel Salomons in Jerusalem konzipiert (vgl. Anth. Graec. I 10,47-48; HARRISON (1983), 276ff.; DERS. (1990), 137ff.; u. Kap. 3.1.2.1); auch die mit der Polyeuktoskirche konkurrierende Hagia Sophia wurde auf den Tempel Salomons bezogen (Rom. Mel. 54,21 M./T. = 54,21 GdM (p. V 492-494); Anonymi in Hagiam Sophiam Hymnus p. 141-147 TRYPANIS). Vgl. dazu MagdaLINO (1993), Hf.; Brandes (1999a), 123f. 95 Zu diesen indirekten Bezugnahmen und Hinweisen auf Endzeiterwartung im 6. Jh. in den entsprechenden Quellen vgl. umfassend die brilliante Analyse des Materials von MagdaLINO (1993), 5ff.

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Unterschiedliche Deutungsperspektiven der Katastrophen des 6. Jh.

gesamten Oströmischen Reich beträchtlich zunimmt; P. Magdalino weist zu recht darauf hin, daß dies nicht lediglich mit »growing piety« erklärt werden könne, und deutet diese Entwicklung ebenfalls im Kontext eschatologischer Na­ herwartungen: Die Menschen schufen Wohnungen für Christus und die Heiligen, mit deren Erscheinen in unmittelbarer Zukunft gerechnet wurde.96

2.1.2.1 Das Orakel von Baalbek und die Prophezeiung des nahen Weitendes So wird z.B. in dem bereits erwähnten Orakel von Baalbek der voraussichtliche Weltuntergang mit einer bemerkenswerten Präzision chronologisch in der unmit­ telbaren Zukunft fixiert: Der 503/04 entstandene Text setzt das Weitende noch vor 510, spätestens aber mit dem Tod des regierenden Kaisers Anastasios an,97 dessen Herrschaft - sofern die Lesung stimmt - fälschlich auf 31 Jahre (d.h. bis 522/3) veranschlagt wird.98 Die in den zurückliegenden Jahrhunderten noch diffus und

schemenhaft rezipierte Endzeiterwartung nimmt um 500 also konkrete Gestalt an, ein Umstand, der freilich durch die äußeren Rahmenbedingungen erheblich geför­ dert wurde: Zum einen ist hier das historisch zwar zufällige, für die Zeitgenossen aber ungemein bedeutsame Faktum des Namens des regierenden Kaisers zu nen­

96 Magdalino (1993), 11-13 (das Zitat 12); zustimmend KÜLZER (2000), 60. Empirische Erhebungen zur Kirchenbautätigkeit im Osten in der Spätantike bietet Dl SEGNI (1999), 149ff., bes. 160-164; vgl. bereits Claude (1969), 8501, bes. 103. Weiteren Aufschluß und Bestätigung der These einer zunehmenden Kirchenbautätigkeit um 500 wird die in Vorbereitung befindliche Habi­ litationsschrift von R. HaENSCH erbringen, dem ich für mündliche Hinweise danke. 97 Baalbek-Orakel p. 14,94-95; p. 19-22,173-227; vgl. dazu ALEXANDER (1967). 111-117; ders. (1968), 997-1018; Brandes (1990), 309; KÜLZER (2000), 61£; Möhring (2000). 35ffi Beatrice (1997), 179ff. hat die seit Alexander (1967), 103 vertretene Ansicht, daß es sich beim Verfasser des Orakels um einen Anhänger des Chalcedonense gehandelt habe, widerlegt und zu zeigen versucht, daß der Text von einem Monophysiten stamme, den er (m.E. ohne hinreichende Argumente, s.u.) mit Severos von Antiocheia identifiziert (187ff.). Zur Datierung des Orakels vgl. Alexander (1967), 41 f. 98 Baalbek-Orakel p. 19,172. Diese Prophezeiung erscheint jedoch sonderbar, weil zum einen keine Erklärung für die Zahl von ausgerechnet 31 Jahren gegeben wird (und auch in der Forschung nicht bekannt ist), zum anderen sich damit ein Widerspruch zu der Voraussage des Untergangs Konstantinopels noch vor 510 ergibt. Allerdings ist der Orakel-Text an der entspre­ chenden Stelle nicht sicher (vgl. den App. bei ALEXANDER (1967), 19 z. St.); BEATRICE (1997), 185, Anm. 39, schlägt deshalb gegen Alexander (1967), 19 und Penna (1972). 51 vor, statt λα' (31) die Zahl tct’ (11) zu lesen, womit man in das Jahr 502/3 gelangte. Dies würde immerhin den Widerspruch zur vorausgehenden Prophezeiung des Endes vor 510 auflösen. Beatrice stützt sich freilich weniger auf die Überlieferung, die trotz aller Unsicherheiten doch eher für die Lesung λα' spricht, als auf die chiliastische Geschichtsteleologie, die das Ende der Welt um 500 ansetzte. Dennoch erscheint mir sein Vorschlag zumindest erwägenswert zu sein, wenngleich dann aller­ dings die problematische Frage zu beantworten wäre, wie sich ein für das Jahr 502/3 prognosti­ ziertes Weitende zum bislang unumstrittenen Entstehungszeitpunkt des Textes ün Jahr 503/4 ver­ halten soll.

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Grundvoraussetzungen: Unerfüllte Erwartungen

nen: »Sein Name gleicht dem jüngsten Tag« (όμοιοι δέ τό όνομα αύτοΰ τη ήμερα τή έσχατη)99 - die Allusion an das griechische Wort άνάστασις (>AuferstehungAnastasiospositiv< und >negativ< um­ schreibt. Demzufolge besteht negative Apokalyptik lediglich in der Verbalisierung von apokalyptischer Angst. Diese spiegelt sich in der Vorstellung vom erwarteten Weitende als Eschaton im eigentlichen Wortsinn. Der Weltverlauf wird nicht nur als endlich, sondern auch als abgeschlossen gedacht - mit anderen Worten; Jegli­ che Existenz und jegliches Sein findet im postulierten Weitende einen Abschluß; es gibt keine Form irgendeines Neubeginns, etwa nach dem Muster der stoischen Ekpyrosis oder anderen Arten eines Neuanfangs.2526 Dagegen ist die positive Apo­

kalyptik in der Lage, das Weitende zugleich auch als Ausweg aus der vermeintli­ chen Ausweglosigkeit, die durch die Aufhebung der Zukunft entsteht, zu begrei­ fen. Positive Apokalypsen, wie z.B. die Offenbarung des Johannes, deuten das Weitende nicht als ausweglosen Abschluß, sondern als Durchgangsstadium, als Krisis im eigentlichen Sinn des Wortes. Das Ereignis des Weitendes verliert sei­ nen Charakter der Endgültigkeit, denn es läutet zugleich den Neubeginn ein. In der positiven Apokalyptik gelingt es, »Katastrophenangst zur Krisenangst zu wan­ deln, die drohende oder erwartete Katastrophe als Krise zu deuten, den Untergang

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KOrtner (1988), 290; vgl. DENS. (1989), 34. KÖRTNER (1988), 144; vgl. DENS. (1993), 290f. Vgl. SELLIN (1985), 580. KÖRTNER (1988), 57; DERS. (1989), 35; ders. (1993), 291. Vgl. KÖRTNER (1988), 74ff.; DERS. (1989), 35; 48. KÖRTNER (1988), 278ff„ bes. 291. Körtner (1988), 182«'.; 278«'., bes. 291; DERS. (1993), 293.

Zum Verhältnis von Angst und Apokalyptik im 6. Jh.

als Durchgang oder Übergang.«27 In diesem Umstand liegt der Grund dafür, daß positive Apokalyptik immer auch ein gewisses Quantum an Hoffnung impliziert.28 Die positive Apokalyptik erwartet die Krisis des Weitendes mit einer ganz eigen­ tümlichen Mischung aus Zuversicht und Grauen. Erst das Moment der Hoffnung macht die Weltangst, die sich im Spiegel des erwarteten Weitendes zu apokalypti­ scher Katastrophenangst, d.h. zunächst zu negativer Apokalyptik, verdichtet, für den Betroffenen erträglich und leistet einen Beitrag zu ihrer Überwindung.29 Stellt somit das Phänomen der Apokalyptik allgemein den Versuch dar, eine ins Katastrophale gesteigerte Weltangst zu bewältigen, dem Geängstigten Orien­ tierungshilfen im Leben zu verleihen und die Kontingenzen des Alltags zu beste­ hen, so ist es doch allein die positive Apokalyptik, die aufgrund ihrer Umdeutung des Untergangs in einen Übergang in der Lage ist, Angst zu überwinden. Eine Übertragung dieser theoretischen Prämissen auf die Situation im Oströmischen Reich des 6. Jahrhunderts ergibt somit, zunächst grob umrissen, folgendes Bild: Die um 500 n. Chr. unter den Christen virulenten endzeitlichen Prognosen stellen Aspekte einer Apokalyptik dar, die sich im Verlauf der vorangegangenen Jahrhunderte als Orientierungshilfe und sinnstiftende Strukturierung des Daseins allmählich entwickelt und seitdem eine zunehmende theologische Fundierung erfahren hatte. Sie konkretisierte sich um 500 in der verbreiteten Naherwartung des Weitendes als positiver Apokalyptik und leistete damit einen wichtigen Bei­ trag zur Kompensation und Kanalisierung der - verursacht durch die äußeren Le­ bensbedingungen - wachsenden Katastrophenangst. Umso schwerer mußten die Folgen der Enttäuschung dieser Erwartungen lasten. Sie bewirkte zunächst einen Verlust der Apokalyptik als Form der Angstbewältigung sowie als Orientierungs­ hilfe im alltäglichen Leben. Die allgemeine Angst, die z.B. in der zitierten Agathias-Passage zumindest hervorschimmert (Agath. V 5), sich aber auch in der ho­ hen Sensibilität gegenüber dem Außergewöhnlichen spiegelt (ablesbar z.B. in der Aufnahme von Erdbeben, die überhaupt keine Schäden verursacht haben, in die Chroniken) scheint ein Beispiel der skizzierten Weltangst darzustellen, deren Cha­ rakteristikum die Orientierungslosigkeit des Individuums ist. Sie steigert sich auch dies wird bei Agathias noch recht deutlich - infolge der anhaltenden äußeren Bedrohungen und schweren Beeinträchtigungen (Katastrophen) zur apokalypti­ schen Angst (im weiteren Sinne), d.h. der Angst vor dem Ende der Welt (Agath. V 5,2). Dieses jedoch erscheint in jenem Stadium der Entwicklung noch nicht wie­ der von neuem fest definiert und eingegrenzt. Vielmehr ist insbesondere die Herr­ schaftsphase Justins I. und Justinians von verschiedenen Versuchen gekennzeich-

27 28 29

KÖRTNER (1988), 279; vgl. dens. (1989), 49. Körtner (1988), 295ff.; ders. (1989), 49. KÖRTNER (1988), 295.

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Grundvoraussetzungen: Unerfüllte Erwartungen

net, neue Formen der Apokalyptik zu entwerfen, mit deren Hilfe wieder eine Ori­ entierung im Dasein ermöglicht werden soll. Dabei ist deutlich der Versuch er­ kennbar, an der biblischen Apokalyptik, wie sie sich u.a. im Weltwochenschema, den Daniel-Visionen, in der synoptischen Apokalypse und in der Offenbarung des Johannes manifestiert, festzuhalten. Die z.B. bei Malalas und einigen syrischen Schriftstellern greifbaren Versuche, den Termin der Parusie rechnerisch um wei­ tere Jahrhunderte zu verschieben,30) sowie die neu einsetzende Beschäftigung mit

der Apokalypse des Johannes (Junillus, Kommentar des Oikumenios) werfen ein signifikantes Licht auf die Versuche, die aktuellen Ereignisse durch Modifikatio­ nen obsoleter Deutungsmuster wieder erklärbar zu machen. Apokalyptik stellt somit die Kompensation und intendierte Überwindung einer

Angst - nennen wir sie mit SPENGLER und KÖRTNER Weltangst - durch ihre Pro­ jektion in die Zukunft dar. Sie verleiht Orientierung im Alltag, d.h. für die Kon­ tingenzen der Gegenwart, durch eine Begrenzung und positive Deutung einer prinzipiell als unheimlich, weil weder überschaubar noch aktuell erfahrbar emp­ fundenen Zukunft. Insbesondere die christliche Apokalyptik mit ihrer deutlichen Betonung des Weitendes als eines chronologisch fest kalkulierbaren Durchgangs­ stadiums in eine metaphysische Heilswelt weist offenkundig diese Funktion der Angstbewältigung auf. Mit dem Ausbleiben des erwarteten und durch das 6000Jahre-Schema zeitlich fixierten Weitendes verlor die Apokalyptik jedoch ihre Glaubwürdigkeit und versagte ausgerechnet in dieser zentralen Funktion. Zurück­ bleiben mußte demzufolge eine mit dem wachsenden Abstand zum erwarteten Termin trotz gleichzeitiger Katastrophen (als endzeitlicher Vorzeichen) zuneh­ mende Orientierungslosigkeit, d.h. eine immer schwieriger zu kompensierende Weltangst. Während Orientierungslosigkeit, verstanden als Phänomenologie der Weltangst, in den Quellen m.E. allenthalben nachweisbar ist - insbesondere am Beispiel des Zusammenbruchs der herkömmlichen chronologischen Systeme -,31 ist die Angst selbst - wie gesagt - nur schwer faßbar. Die skizzierte Funktion von Apokalyptik sowie die daraus abgeleiteten Konsequenzen für den Fall ihres Ver­ sagens scheinen mir jedoch eine hinreichende methodische Absicherung dafür darzustellen, verschiedene Hinweise auf Angst in den Quellen zum 6. Jahrhundert in der vorliegenden Arbeit als Indizien für eine in der Tat verbreitete Weltangst im beschriebenen Sinne zu deuten und damit zumindest ein mögliches Erklärungs­ modell als Basis für weitere Diskussionen anzubieten.

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100

S.u. Kap. 5.1.2.1. Dazu s.u. Kap. 5.1.2.1,

3. Die Herrschaft Justinians und die Katastrophen 3.1 Die Jahre 527-539/40: laeta saecula' - Ein neues Zeitalter Im Zentrum des zweiten Hauptteils dieser Arbeit steht die Person Justinians. Ziel der folgenden Kapitel ist eine Analyse seiner Politik unter der Fragestellung, ob sich dabei besondere Handlungsweisen aufzeigen lassen, die als Reaktionen auf Kontingenzerfahrungen, vor allem auf Naturkatastrophen, erklärt werden können. Der grundsätzlich chronologisch angelegten Untersuchung ist dabei ein einleiten­ der Abschnitt vorangestellt, da einige grundsätzliche Bemerkungen zum spezifi­ schen Selbstverständnis Justinians im Kontext des christlichen Kaisertums in der Spätantike zum Verständnis des Folgenden für erforderlich erachtet wurden.

3.1.1 Selbstverständnis und Selbstdarstellung Justinians - Traditionen, Hintergründe und Besonderheiten Es sind insbesondere die 30er Jahre, die Justinian auf dem Höhepunkt seiner Macht zeigen. Diese ist vor allem durch die Niederschlagung des Nika-Aufstan' des1 2 im Innern gefestigt und hat durch spektakuläre außenpolitische Erfolge eine

zunehmende Konsolidierung erfahren. Es sind gerade diese vielfachen Erfolge, die wiederum zur stetigen Erweiterung der Ziele und Perspektiven kaiserlichen Han­ delns beigetragen haben, so daß die politischen Entwicklungen bis 539/40 eine rasante Eigendynamik aufweisen, die sicherlich auch die Erwartungen Justinians zu Beginn seiner Alleinherrschaft weit übertroffen hat. Wie aus verschiedenen zeitgenössischen Dokumenten, die im einzelnen noch zu besprechen sind, hervor­ geht, fühlte sich der Kaiser in seinem Wirken zunehmend von Gott begünstigt und bestätigt; umso schwerer müssen daher die massiven Rückschläge der Jahre 540542 gewirkt haben.3 In der Tat ist - dies sei bereits vorweggenommen - nach 542 ein deutliches Erlahmen der kaiserlichen Aktivität sowie eine grundsätzliche Ver­ lagerung seiner politischen Hauptinteressen erkennbar. Um diese Entwicklung zu dokumentieren, sollen im Anschluß an einige grund­ sätzliche Überlegungen zum Selbstverständnis Justinians - in denen insbesondere seine religiös geprägte Wahrnehmung der eigenen Umwelt aufgezeigt werden soll - die Grundzüge der kaiserlichen Politik der Jahre 527-539/40 sowie 542-565 in 1 C. Tanta 6b. 2 Eine ausführliche Analyse der Vorgänge mn den Nika-Aufstand im Januar 532 würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Ich habe meine diesbezüglichen Thesen an anderer Stelle formu­ liert, vgl. Meier (2003). 3 Vgl. zu diesem Gegensatz auchHoNORÉ (1978), 20f.

101

Die Herrschaft Justinians und die Katastrophen

zwei getrennten Kapiteln dargelegt werden. Dabei gilt es zu verdeutlichen, daß die Ziele, Inhalte und Methoden der Politik Justinians in diesen beiden Phasen einen prinzipiell verschiedenartigen Charakter aufweisen. Während innerhalb der jewei­ ligen Zeitabschnitte zwar gewisse Entwicklungen festzustellen sind, die kaiserli­ che Politik insgesamt jedoch einen hohen Grad an innerer Kohärenz besitzt, er­ folgte zwischen 540 und 542 ganz offensichtlich ein eklatanter Bruch. Aus diesem Grund sind im Anschluß an die Betrachtung der beiden zeitlichen Hauptabschnitte die Jahre 540-542 gesondert zu untersuchen, eine Vorgehensweise, die insbeson­ dere auch dadurch gerechtfertigt wird, daß das Oströmische Reich in dieser Zeit wie bereits angedeutet - durch eine exzeptionelle Reihe schwerster Katastrophen getroffen wurde, die mit dem zu dokumentierenden Politikwechsel seit ca. 542 zusammenzubringen zunächst naheliegt. Es wird sich dabei zeigen, daß die Jahre 540-542 in der Tat einen unverkennbaren Übergangscharakter besitzen. Darüber

hinaus soll aber auch deutlich werden, daß das Nachlassen der kaiserlichen Akti­ vität - insbesondere auf dem Gebiet der Gesetzgebung - nicht nur auf personale Faktoren zurückzufuhren ist, etwa auf den Tod Tribonians, wie man in der For­ schung mitunter zu glauben geneigt ist,4 oder auf den Tod Theodoras im Jahr 548, der - anders als häufig behauptet wird5 - keine wirkliche Zäsur darstellt in dem Sinne, daß ein grundsätzlicher Politikwechsel erkennbar wäre.6 Vor allem in der Religionspolitik, bei der man vielfach den Einfluß Theodoras in Rechnung gestellt hat, lassen sich grundsätzlich keine markanten Einschnitte feststellen. Zunächst jedoch einige Zahlen zur Verdeutlichung: Es ist bereits bei einer oberflächlichen Durchsicht der Quellen auffällig, daß die frühen Jahre Justinians in der zeitgenössischen Literatur wesentlich umfassender dokumentiert sind als die Spätphase. Ein prominentes Beispiel stellt die Chronik des Johannes Malalas dar: In der Edition DlNDORFS umfaßt das 18. Buch, das die Regierungszeit Justi­ nians behandelt (allerdings 563 abbricht), 71 Textseiten, von denen allein 54 Sei­ ten sich auf die Zeit vor 540 beziehen.7 Man mag dies auf den unvollständigen

Charakter der griechischen Malalas-Handschrift zurückfuhren, doch ein Blick auf die Theophanes-CArom'A, die - unter anderem - noch auf einem besseren Malalas-

4 Vgl. z.B. HonorÉ (1978), passim; Jones (1988), 149f.; 208; Mazal (2001), 78; 282. Auch Lanata (1984) konzentriert ihre Untersuchung der justinianischen Gesetzgebung vorwie­ gend auf die Phase bis zum Tod Tribonians und postuliert damit von vornherein einen Einschnitt. 5 Vgl. etwa DIEHL (1901), 13; 415; SCHUBART (1943), 169; 202f.; SCHNEIDER (1961), 96 sowie Barker (1966), 71; 185ff., der mit Theodoras Tod eine neue Phase der Herrschaft Justi­ nians einsetzen läßt; ähnlich PODSKALSKY (1984), 266L; Beck (1986), 148 (»[...] das Ende zeich­ nete sich ab, obwohl er sie doch 17 Jahre überlebte«); MAZAL (2001), 70. 6 Dies betont - mit Blick auf die Kirchenpolitik Justinians - mit Recht auch LEPPIN (2000), 77. 7 In der Edition THURNS umfaßt das 18. Buch (inkl. der ergänzten Passagen aus der späteren Malalas-Tradition) 78 Seiten, von denen sich 51 Seiten auf Ereignisse vor 540 beziehen.

102

Die Jahre 527-539/40: laeta saecula - Ein neues Zeitalter

Text basiert, bestätigt den Eindruck ebenso wie das Chronicon Paschale (Osterchronik). Auch andere Autoren des 6. Jahrhunderts bevorzugen, selbst wenn sie gegen Ende der Herrschaftszeit Justinians oder später geschrieben haben, die frühen Jahre des Kaisers.8 Man mag für diesen Umstand verschiedene Erklärun­ gen anfiihren;9 daß insbesondere die 30er Jahre eine ungeheure Faszination auf Zeitgenossen und Spätere ausgeübt haben, dürfte jedoch nicht zu bestreiten sein. Auch die Gesetzgebung Justinians bestätigt - rein quantitativ betrachtet - die­ ses Bild: Die enorme Anzahl der justinianischen Konstitutionen (403!) im Codex Justinianus repetitae praelectionis,1011 der seit dem 16. November 534 den ersten Codex Justinianus von 529 als überarbeitete Neuauflage ersetzte.” wird ergänzt durch eine beachtliche Reihe von Novellen.12 Zwar ist der Kaiser nicht mehr zur Ausführung seines ursprünglichen Planes, auch die Novellen eigens zusammenzu­ stellen, gelangt,1314so daß wir mit einem beträchtlichen Verlust an Material zu rechnen haben und auf privat erstellte Sammlungen angewiesen sind:” doch be­ steht Einigkeit darüber, daß die zeitliche Verteilung der einzelnen Konstitutionen auf die Regierungsjahre Justinians die ursprünglichen Verhältnisse noch immer ungefähr spiegelt: 5 Von den 168 erhaltenen Novellen16 sind 155 Justinian zuzu­

8 Vgl. dazu SCOTT (1985), 104f., der ferner Johannes Lydos, Agathias, zahlreiche Gedichte des Agathias-Aj'Ă/oí und Corippus anfiihrt. 9 Vgl. die Überlegungen bei Scott (1985), 105ff. 10 EbRARD (1947), 44. JONES (1988), 155 beziffert die Gesamtzahl der Konstitutionen im Codex Justinianus auf 4650; vgl. jedoch auch NOETHLICHS (1999), 704f.: insgesamt 4680 Gesetze mit ca. 360 justinianischen Bestimmungen aus ca. 290 Gesetzen. 11 EbRARD (1947), 28ff.; WENGER (1953), 638ff.; HonoRÉ (1978), 212ff.; Pieler (1978). 41 Iff. 12 Der Begriff >Novelle< (novella constitutio), der schon im 4. Jh. begegnet und nach der Veröffentlichung des Codex Theodosianus alle späteren Gesetze umfaßt hat (vgl. C. Haec 2). wird itn folgenden im Sinne Justinians verwendet als Bezeichnung eines jeden Gesetzes, das nach dem 1. Januar 535 erlassen worden ist; vgl. C. Cordi 2: novellae nostrae tam decisiones quam constitu­ tiones, quae post nostri codicis confectionem latae sunt; WENGER (1953), 652: Pieler (1978). 408f. 13 Dies hatte er C. Cordi 4 noch angekündigt. Vgl. PIELER (1978), 409; JONES (1988). 151. 14 Es handelt sich a) um die Epitome Juliani, eine lateinische Sammlung von 124 Novellen (die allerdings 2 Dubletten enthält), die nach 555 wohl zu Unterrichtszwecken verfaßt wurde und den Text verkürzt wiedergibt (WENGER (1953), 669; BRETONE (1992). 258); b) um das sog. .Juthenticum, eine Sammlung von 134 Novellen aus den Jahren 535-556, die - ungekürzt - die latei­ nischen Novellen im Original, die zweisprachigen in der lateinischen Fassung und die griechischen in einer wörtlichen lateinischen Übersetzung enthält (WENGER (1953), 669-671; BRETONE (1992), 258); c) um eine griechische Sammlung von 168 Novellen, die unter Tiberios II. entstand (WENGER (1953), 671f.; VAN DER WAL (1964), 9ff; Bretone (1992), 257f.l. Grundlegend zum justinianischen Novellencorpus und seiner Überlieferung ist noch immer die ältere Arbeit von NOAILLES (1912/14). 15 Vgl. JONES (1988), 150.

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weisen,16 17 von denen wiederum drei in die Zeit vor der Promulgation des Codex Justinianus repetitae praelectionis fallen.18 Von den übrigen 152 sind allein 106 Novellen in die 30er Jahre zu datieren, während die Aktivität in der Gesetzgebung nach 542 deutlich zurückgeht (was in der Forschung stets mit dem Tod Tribonians erklärt wird19) und für die Jahre 547, 549, 550, 557, 560, 561, 562 und 564 sogar überhaupt keine Novellen überliefert sind.20 Daß diese Zahlen in der Tat als Be­ lege für ein Nachlassen der gesetzgeberischen Aktivität des Kaisers herangezogen werden können, geht insbesondere daraus hervor, daß seit 542 auch die inhaltlich­ formale Gestaltung der Novellen sich in deutlichem Maße verändert; der vielbe­ schworene Klassizismus Justinians jedenfalls, insbesondere die zahlreichen Rück­ griffe auf eine vermeintliche altrömische Vergangenheit, sind Phänomene, die vorwiegend für die Novellen vor 542 charakteristisch sind.21 Daß dieser Wechsel nicht lediglich ein Resultat des Todes Tribonians darstellt,22 sondern tiefere, vor­ nehmlich durch exogene Faktoren bedingte Ursachen besitzt, soll im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit deutlich werden. Justinian selbst jedenfalls scheint seine Aktivitäten seit 542 von der Gesetzgebung auf sein theologisches Schrifttum verlagert zu haben, das signifikanterweise zu diesem Zeitpunkt plötz­ lich einsetzt.

3.1.1.1 Deo auctore und nostra felicia tempora: Das /Zeitalter Justinianst Die aktive, energische und von ausgesprochenem Optimismus gekennzeichnete Politik Justinians steht in auffallendem Gegensatz zu der bangen, von Orientie­ rungslosigkeit, Ängsten und Endzeiterwartungen geprägten Grundstimmung in der 16 Zu diesem Material sind noch die sog. 13 Edikte (allerdings z.T. identisch mit den Novel­ len, vgl. WENGER (1953), 673) und eine Appendix mit einigen weiteren Konstitutionen zu rechnen. 17 Von den übrigen stammen vier von Justin II. (Nr. 140, 144, 148, 149), drei von Tiberios II. (Nr. 161, 163, 164), drei sind Erlasse der praefecti praetorio (Nr. 166-168); Nr. 75 = 104 und 143 = 150 sind Dubletten; Nr. 32/34 liegt in griechischer (32) und lateinischer (34) Fassung vor. Vgl. Wenger (1953), 671, der jedoch Nov. 168 versehentlich doppelt zählt und somit auf 154 justinianische Novellen kommt. 18 Nr. 151 (a. 533), 152 (a. 534), 155 (a. 533). 19 Z.B. von WENGER (1953), 668; PlELER (1978), 409; Bonini (1985), 140; JONES (1988), 149f.; 208; Mazal (2001), 78; 282. Paradox ist, daß man in der Forschung einen Einschnitt nach dein Tod Tribonians sieht, ohne daß Einigung über den Zeitpunkt seines Ablebens besteht, vgl. Z.B. NoaŁles (1912/14), I 7: um 545/46; HonorÉ (1978), 64; 134; 137: 542 (mit plausibler Be­ gründung); JONES (1988), 150: 545; Mazal (2001), 282: 542/42 oder 545/46. 20 WENGER (1953), 668; Bonini (1985), 139ff.; Jones (1988), 150 mit dem Hinweis, daß aus der Zeit zwischen 565 und 1453 insgesamt 460 Konstitutionen erhalten sind. Die gesetzgeberi­ sche Aktivität Justinians insbesondere in den 30er Jahren ist also durchaus bemerkenswert. Tabel­ larische Übersicht bei HONORÉ (1978), 133; 135 und KRUMPHOLZ (1992), 212. 21 HONORÉ (1978), 252; ebd. 126: »The year 542 is transitional.« 22 So die These HONORÉS (1978), 26; 77f.; 252.

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Bevölkerung, die wir auf der Basis programmatischer Äußerungen in den erhalte­ nen Quellen konstatiert haben.23 Diese Diskrepanz hat zwar auch in der Forschung bereits vereinzelt Beachtung gefunden, ist aber bislang noch nicht plausibel erklärt worden.2425 Der Kaiser selbst ließ jedenfalls keinen Zweifel daran aufkommen, daß seine Herrschaft eine neue Phase der römischen Geschichte einleitete, oder - mit anderen Worten: Justinian selbst war der erste, der erkannt zu haben glaubte, daß er int Zeitalter Justinians lebte. Insbesondere in den frühen Jahren seiner Herr­ schaft nutzte er daher jede Gelegenheit, den epochalen Charakter seiner Regierung zu propagieren (s.u.). Im folgenden wird dieser Sachverhalt zunächst zu doku­ mentieren sein, bevor dann der Frage nachzugehen ist, welche Faktoren es Justi­ nian ermöglichten, seine eigene Regierungszeit als epochal zu begreifen, obwohl ihm - anders als der modernen Forschung, die wiederholt vom /Zeitalter Justi­ nians/ gesprochen hat2627 - die historische Distanz gefehlt hat.

Wertvolle Hinweise zur Beantwortung dieser Frage und damit auch zur gene­ rellen Beurteilung der Politik Justinians in den ersten Jahren seiner Regierung liefern - neben den Proömien der Novellen ' - die Inaugurations- bzw. Promulga­ tionskonstitutionen, die 528-534 im Zusammenhang der Rechtskodifikation ent­ standen sind und als kunstvolle und subtil formulierte Texte zentrale Quellen für das kaiserliche Selbstverständnis und die Selbstdarstellung bilden.28 Sicherlich 23 S.o. Kap. 2.1.2. 24 Vgl. Scott (1985), 108; TH. Mayer-Maly, Rez. Lanata (1984), ZRG (Rom. Abt.) 105 (1988), 890. 25 In diesem Sinne vgl. bereits OSTROGORSKY (1963), 66; HONORÉ (1978), 16 mit Hinweis auf C. Haec pr. und 3; vgl. auch Gray (1988), 484: »Justinian war sich sehr bewußt, daß das Zeit­ alter ihm gehörte.« Anders Evans (1968), 126: »Justinian [...] probably never intended to mark an epoch.« 26 Vgl. z.B. Schubart (1943), 34f.; Downey (1958), 14; Rubin (1960); ders. (1961), 55; Schneider (1961), 92; 99; OSTROGORSKY (1963), 59; 66; vgl. auch ebd. 63 (»justinianische Epo­ che«); IRMSCHER (1964), 171ff.; ders. (1986), 27; CONSTANTELOS (1962/63), 74; ders. (1964/65), 372; BARKER (1966), VII; 67; 76; 91; 124; 261; DanneNBRING (1972), 114; 116; 130; 136; CAPIZZI (1978), 6; Maas (1992); CLAUSS (1993), 579; SPE1GL (1995), 111 (»Ära Justi­ nians«); Evans (1996); Mazal (2001), passim. 27 Zu den Proömien der Novellen als Quellen zum Selbstverständnis der Kaiser (insbesondere seit Justinian) vgl. DÖlger(1964 [1953]), 9ff., bes. 23ff.; HUNGER (1964), 19ff. 28 Es handelt sich dabei um die folgenden Konstitutionen: C. Haec (13. Februar 528: Einset­ zung der Kommission zur Erstellung des Codex Justinianus)', C. Summa (7. April 529: Promulga­ tion des Codex Justinianus)·, C. Deo auctore (15. Dezember 530: Einsetzung der Digesten-Kommission); C. Imperatoriam (21. November 533: Promulgation der Institutiones)·, C. ΤαηΙα/Δέόωκιν (16. Dezember 533: Promulgation der Digesten)·, C. Cordi (16. November 534: Promulgation des Codex Justinianus repetitae praelectionis). In den Kreis dieser Konstitutionen gehört ferner C. Omnem (16. Dezember 533: Neuorganisation des Rechtsstudiums). Vgl. zu diesen Konstitutionen bes. Ebrard (1947), 28ff. - Nach den Untersuchungen HonorÉs (1978) kann mittlerweile als sicher gelten, daß der größte Teil der justinianischen Gesetze, die programmatische Äußerungen zum Selbstverständnis des Kaisers enthalten, von Triboman verfaßt wurde (unsicher noch

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erscheint eine vorrangige Auswertung dieser Texte auf den ersten Blick als me­ thodisch nicht ganz unproblematisch, da entsprechende Zeugnisse aus der vorju­ stinianischen Gesetzgebung kaum überliefert sind und die Besonderheiten der justinianischen Quellen sich daher nur schwer konturieren lassen. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird sich jedoch zeigen, daß die Aspekte, die es im folgen­ den herauszuarbeiten gilt, sich auch in anderen zeitgenössischen Quellengattungen wiederfinden (besonders in panegyrisch ausgerichteten Texten, die durchaus mit älteren Zeugnissen vergleichbar sind, wie z.B. bei Agapet, Romanos Melodos, Prokop, Johannes Lydos u.a.), so daß die aus der Gesetzgebung heranzuziehenden Passagen zwar zumeist besonders eindrücklich und aufschlußreich erscheinen, keinesfalls aber für sich allein stehen. Aus den genannten Dokumenten ragt vor allem die Konstitution Deo auctore (15. Dez. 530) heraus, in der Justinian eine Kommission unter der Leitung Tribo­ nians mit der Erstellung der Digesten beauftragte. Da dieser Text zwar immer wieder zitiert,29 bislang aber nie wirklich interpretiert worden ist, seien im folgen­ den insbesondere dem Präskript, das für das kaiserliche Selbstverständnis von fundamentaler Bedeutung ist, einige einleitende Bemerkungen gewidmet. Die Konstitution Deo auctore, von Justinian an den quaestor sacri palatii Tribonian gerichtet, jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von letzterem selbst in minutiöser Absprache mit dem Kaiser verfaßt,30 stellt eine rhetorisch-stilistische Meisterleistung dar. Ich möchte in diesem Zusammenhang vor allem auf die effektvoll komponierten Einleitungs- und Schlußworte hinwei­ sen: Die Wendungen Deo auctore nostrum gubernantes imperium (C. Deo auc-

Schindler (1966), 2). Diese Tatsache reduziert jedoch keineswegs den Aussagewert der Texte im Hinblick auf die persönlichen Vorstellungen Justinians von seiner Herrschaft und seinem göttlichen Auftrag (vgl. auch JONES (1988), 156: »il se dévoile«). Zum einen ist zu beobachten, daß auch nach dem Tod Tribonians ähnlich programmatische Aussagen wie zuvor den Novellen vorange­ schaltet werden. Zum anderen wird man davon ausgehen müssen, daß die Texte zwar von Tribonian verfaßt wurden, jedoch in enger Absprache mit Justinian, der dies im übrigen auch selbst gesondert betont; vgl. C. Tanla/Δίδωκεν pr. Im übrigen sollte der gehässige VorwurfProkops (HA XIV 3), Justinian habe trotz seiner schlechten Sprachkenntnisse die Abfassung der Gesetze nicht dem zuständigen Quästor überlassen, sondern selbst übernommen, trotz der erheblichen Übertrei­ bung - Justinian hat sicherlich nicht alle Konstitutionen selbst verfaßt - und Polemik doch grund­ sätzlich ernst genommen werden (in diesem Sinne auch SCHINDLER (1966), 3f.). 29 Z.B. von SCHUBART (1943), 78-80; RUBIN (1960), 148; Hunger (1964), 69f.; DVORNIK (1966), 717; DERS. (1975b [1965]), 340; PERTUSI (1968), 12; DERS. (1985), 561; TREITINGER (1969 [1938]), 214; IRMSCHER (1976), 133; FEARS (1981), 1143; EVANS (1996), 60; MAZAL (2001), 91. 30 Die Urheberschaft Tribonians hat aufgrund stilistischer Eigentümlichkeiten HONORÉ (1978), 1)2 plausibel gemacht. Allerdings ist davon auszugehen, daß die Konstitution - wie im übrigen alle anderen von Tribonian verfaßten Gesetzestexte auch - Vorstellungen Justinians verbalisiert und in enger Absprache mit diesem entstanden ist.

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tore pr.) und in [...] nostrique imperii vestrique ministeri gloriam (C. Deo auctore 14) bilden gleichsam den programmatischen Rahmen, in dem Justinian Grundla­ gen seiner Herrschañsauffassung entfaltet. In diesen Worten ist das kaiserliche Verständnis der eigenen Rolle gleichsam in nuce enthalten: Sein Herrschaftsauf­ trag stammt direkt von Gott (Behrends’ Übersetzung von deo auctore mit »mit Gottes Beistand« ist daher m.E. zu schwach31), und Justinian selbst erstrebt auf­ grund seines Waltens Ruhm für die Ewigkeit - Gedanken, die sich wie ein Leitfa­ den nicht nur durch die Inaugurations- und Promulgationskonstitutionen, sondern auch durch die spätere Novellen-Gesetzgebung ziehen32 und nicht zuletzt in der kaiserlichen Baupolitik sichtbaren Ausdruck fanden.33 Es handelt sich hierbei zwar um Inhalte, die für das spätantike Kaisertum grundsätzlich charakteristisch sind,34 die aber unter Justinian eine neue programmatische Ausprägung erfahren. Insbesondere die enge Bindung des Kaisers an Gott wird im Präskript der Konsti­ tution Deo auciore klar artikuliert (C. Deo auciore pr.): Deo auctore nostrum gubernantes imperium, quod nobis a caelesti maiestaie traditum est, et bella feliciter peragimus et pacem decoramus et statum rei publicae sustentamus: et ita nostros animos ad dei omnipotentis erigimus adiutorium, ut neque armis confidamus neque nostris militibus ne­ que bellorum ducibus vel nostro ingenio, sed omnem spem ad solam referamus summae providen­ tiam trinitatis: unde et mundi totius elementa processerunt et eorum dispositio in orbem terrarum producta est. Von Gott eingesetzt das Reich lenkend, das uns von der himmlischen Hoheit übergeben worden ist bringen wir Kriege glücklich zu Ende, zieren den Frieden und erhalten den Bestand des Gemein­ wesens: Und wir richten unsere Herzen so auf den Beistand des allmächtigen Gottes, daß wir we­

31 Vgl. O. Behrends/R. KNúTEL/B. KupisCH/Η. H. Seiler (Hgg.), Corpus Iuris Civilis. Text und Übersetzung, Bd. II: Digesten 1-10, Heidelberg 1995, 55. Auch HUNGER 11964). 69 übersetzt die Wendung mit »unter Gottes Führung« nicht stark genug. 32 Zum Gedanken des ewigen Nachruhms bei Justinian vgl. HONORÉ (1978), 17. der glaubt, Justinan habe in der Phase von 527 bis 529 lediglich versucht, Gott zu besänftigen, und erst ab 530 offensiv mit Gottes Hilfe den eigenen Ruhm angestrebt; vgl. ferner LAN ATA (1984). 6ff. sowie Hunger (1964), 82f. mit Hinweis aufTVov. lust. 88,2,1 (a. 539); 25 epil. (a. 535): 6 epil. (a. 535): ή άεί βασιλεία; vgl. auch C. Tanta 12; C. Tanta 23: in omne aevum = C. Jéöowrv 23; C. Omnem 11; C. Summa 3; C. Cordi 6; Nov. lust. 9,3 (a. 535): nostri imperii providentiam per hoc in aeter­ num reminiscentes; 32=34 pr. (a. 535); 47,1,1 (a. 537); Prok. aed. I 1.10; IV 1.26. Zur strikten Rückführung des Kaisertums auf Gott s.u. 33 Vgl. zu diesem Anspruch auch Prok. aed. 1 1,17-19. 34 So findet sich - im paganen Kontext - etwa auf einer Inschrift für Diokletian die Formel diis auctoribus (CIL III 12326). Ambrosius z.B. hat Gott den auctor imperii des Kaisers genannt (Ambros, epist. extra coli. X 12 p. 230 Zelzer), und Honorius bezeichnete in einem Brief an sei­ nen Bruder Arkadios Gott als auctor nostri imperii (Coll. Ävcll. 38,4). Die Vorstellung von Gott als auctor imperii verfestigte sich insbesondere im späten 5. und im 6. Jh., vgl. ENSSLIN (19393, 154ff.; Fears (1981), 1141ff; LEPPIN (1996a), 152ff, bes. 155f. Zur Entwicklung der Idee des von Gott eingesetzten Kaisertums in der Spätantike vgl. bes. HUNGER (1964). 49ff.

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Die Herrschaft Justinians und die Katastrophen der Waffen noch unseren Soldaten noch den Generälen noch unserer eigenen Begabung vertrauen müssen, sondern jegliche Hoffnung allein auf die vorsorgende Umsicht der höchsten Dreifaltigkeit setzen: Von ihr her haben sich die Grundbestandteile der gesamten Welt entwickelt und ist ihre Anordnung zum Weltkreis geschaffen worden.

Kein anderer spätantiker Kaiser hat seine Herrschaft in derart eindrücklicher Weise auf Gott allein zurückgefuhrt35 und diese Anschauung so oft und so inten­ siv betont wie Justinian,36 der die religiös-sakrale Aura, die den Kaiser insbeson­ dere in der Spätantike ohnehin stets umgab,37 so noch zusätzlich erweitert hat und aus diesem Grund auch im Rahmen des christlichen Kaisertums neue Maßstäbe gesetzt hat.38 Neben der Wendung deo auctore bekräftigt auch der anschließende, inhaltlich eigentlich redundante Relativsatz (quod [...] traditum est) noch einmal den Gedanken der gottgegebenen Herrschaft, bevor dieser dann im folgenden im­ mer weiter entfaltet bzw. inhaltlich konkretisiert wird und sich damit zum Leit­ motiv des anschließenden Textes entwickelt. In diesem Zusammenhang fällt dann auch bereits ein Wort, das für Justinian ebenfalls programmatischen Charakter besitzt: felix - ein Adjektiv, das der Kaiser insbesondere in den ersten Jahren sei­ ner Alleinherrschaft mehrfach zur Beschreibung des von ihm eingeläuteten >Zeitalters< gebraucht.39 Daß es sich bei diesem Zeitalter um die Epoche Justinians handelt, wird ebenfalls schon in diesem kurzen Präskript suggeriert: In den weni­ gen Textzeilen stößt man insgesamt vier mal auf das Pronomen noster\ 35 Dazu vgl. Morisi (1963), 153ff; Karayannopulos (1975 [1956]), 256f.; Hunger (1975b [1965]), 349; Fears (1981), 1143; Jones (1988), 166f. 36 Z.B. Cod. tust. I 17,18; I 29,5; VII 37,3,5; C. Tanta/Αέδωκεν 18 (a. 533); Nov. lust. 1 pr. (a. 535); 8,11 (a. 535); 8 Edikt pr. (a. 535); 28,4,2 (a. 535); 47,1 pr. (a. 537); 60,1,1 (a. 537); 69,4,3 (Ł 538); 73 pr. 1 (a. 538); 77 pr.; 80 pr. (a. 539); 81 pr. (a. 539); 85 pr. (a. 539); 86 pr. (a. 539); 105,2,4 (a. 536/37: Der Kaiser [bzw. seine τύχη] ist den Menschen von Gott als νόμος έμψυχος [lex animata] gesandt worden); 109 pr. (a. 541); 113,3 (a. 541); 133 pr. (a. 539); 137 pr. (a. 565); 152 pr. (a. 534); C1G IV 8643; Hunger (1964), 51ff., bes. 69 (»Absolutes Gottver­ trauen«) und 70: »[...] ein tief eingewurzeltes, weit in die Antike zurückreichendes Bewußtsein der besonderen Beziehung zwischen Gott und seinem erwählten Stellvertreter auf Erden« (zu Cod. lust. I 27,1). Bereits unter der Herrschaft Justins I. betonte Justinian, daß die Stellung des Kaisers gottgegeben sei: Coll. Avell. 147 (a. 518); 196 (a. 520). Vgl. allerdings auch NOETHLICHS (1999), 708, der in Justinians Zeugnissen zum eigenen Herrschaftsverständnis lediglich traditionelle Topoi »in verbal aufgeblähter Form« erkennen kann; gegen diese These vgl. die nachfolgenden Überle­ gungen. 37 Vgl. TRE1TINGER (1969 [1938]), 49ff.; DEMANOT (1989), 221; 223f.; LeppIN (1996a), 197ff.; Clauss (1999), 189ff. 38 Martin (1984), 120; 131. 39 Vgl. Cod. lust. I 27,1,8 (a. 534): sub felicissimo nostro imperio·, I 27,2,18 (a. 534): ex kalendis Septembribus instantis felicissimae tertiae decimae indictionis·, 1 29,5: nostra felicia [...] tempora; C. Tanta 23 (a. 533): ex tertio nostro felicissimo [...] consulatu; C. Cordi 4 (a. 534): quarti nostri felicissimi consulatus (rxir Bedeutung des 3. und 4. Konsulats Justinians für dessen Zeitaltervorstellungen s.u.);Append. VII 14 (a. 554): nostri temporis [...J felicitatem.

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Bella, pax und der status rei publicae werden bereits im ersten Satz als zentrale Inhalte kaiserlicher Politik genannt, wobei die (schon von Augustus bekannte)4' Verbindung von bella und pax zu einer harmonischen Einheit besonders auffällig ist: Während nämlich der Abschluß der Kriege noch in Aussicht gestellt wird, erweist sich die pax durch die Verwendung des Verbums decorare als bereits rea­ lisiert.40 41 In der Formulierung feliciter peragimus manifestiert sich überdies der zuversichtliche Glaube an eine siegreiche und endgültige Beendigung aller Kon­ flikte. Zum Zeitpunkt der Konstitution dürfte dies vornehmlich auf den sich schon jahrelang hinziehenden Krieg mit den Persern gerichtet gewesen sein, der durch Beiisars Sieg bei Dara im Juni 530 endlich einen glücklichen Verlauf zu nehmen schien.4243 Von einigem Gewicht ist auch die Wendung status rei publicae', es handelt sich hierbei um eine Formulierung, die insbesondere im staatstheoretischen Denken Ciceros eine besondere Rolle spielt und in dessen Schriften häufig belegt ist/' Cicero subsumiert unter den status rei publicae die kanonischen Verfassungsformen der Königsherrschaft, der Aristokratie und der Volksherrschaft,44 ein Sprach­ gebrauch, der noch bei Augustin bezeugt ist.45 Im 6. Jahrhundert scheint die Wen­ dung indes vornehmlich den festen oder gefährdeten sowie auch den räumlichen Bestand des Staates bezeichnet zu haben, wie aus einigen Belegen bei Cassiodor hervorgeht46 und auch an unserer Stelle durch das Verbum sustentare wahr­ scheinlich gemacht wird. Ob Justinian/Tribonian hier wirklich eine gezielte Cicero-Allusion intendiert hat, ist natürlich nicht sicher zu klären. Die Wahl des Ausdrucks an einer derart exponierten Stelle - dem spätantiken Sprachgebrauch entsprechend hätte status bzw. res publica allein vollkommen ausgereicht4 - ist allerdings auffällig und wird mit der vielbeschworenen klassizistischen bzw. ar­ chaistischen Tendenz der justinianischen Gesetzgebung48 nur partiell erklärt.44 40 Vgl. kurz etwa STROTHMANN (2000), 196f. 41 Die auf die Zukunft gerichtete, optimistische Verbindung von Krieg und Frieden hebt «ach NOETHLICHS (2000), 120 als besonderes Signum justinianischer Selbstdarstellung hervor. 42 Prok. BP I 13-14; Malal. p. 452,13-453,2 D. (= p. 380,84-96 Th.); Ps.-Zach. IX 3; Evagr. HE IV 12; Theoph. a.m. 6022 p. I 180,30-181,11; Rubin (1960), 279ff.; PLRE IIIA 184f. 43 Z.B. Cie. rep. I 42; 68; II 57; 60; 62; leg. agr. 1 8,26; II 3,8; ΠΙ 2,4; Plane. 39,94; sen. 7,16; har. resp. 27,60; Süll. 22,63; Pis. 2,4; Font. 3,6; Catii. I 1,3; Verr. II 1,7.18. 44 SUERBAUM (1977), 12, Anm. 35; 17 mit Anm. 50; 63f. 45 Augustin, civ. XVIII 45; XVIII 46 (bezogen auf die Änderung der Verfassungsfonn unter Augustus); vgl. SUERBAUM (1977), 183, Anm. 39; 220, Anm. 104. 46 Vgl. SUERBAUM (1977), 266. 47 Vgl. dazu Köstermann (1937), bes. 23211 mit Belegen. 48 Z.B. Hunger (1975b [1965]), 339. Vgl. PringSHEIM (1961a), 9ff; SCHINDLER (1966k HonorÉ (1978), 251ff.; Haase (1993), 7ff. Gegenüber älteren Meinungen, die besonders eine klassizistische Haltung Justinians in der Gesetzgebung akzentuiert haben, vertrat Prłnusheim die These eines Archaismus; zur Kritik daran vgl. aber Schindler (1966), 12ft".; 340.

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Der implizit mitschwingende Hinweis auf die politische Terminologie der späten Republik, die in gebildeten Kreisen Konstantinopels nachweislich noch präsent war,49 50 könnte vielmehr ein subtiles Beispiel für den Versuch darstellen, in der Gesetzgebung nicht an die unmittelbaren Vorgänger anzuschließen, sondern an die Traditionen längst vergangener Zeiten51 - ein Vorgehen, das in letzter Konse­ quenz zur Distanzierung insbesondere von den Kaisern des 5. Jahrhunderts führt und das eigene Wirken Justinians damit umso schärfer als neues >Zeitalter< konturiert. Charakteristisch für dieses >Zeitalter< ist ein Begriff, der ebenfalls bereits im Präskript zu C. Deo auctore fällt: spes.S2 Optimistische Erwartungen und Per­ spektiven wurden offensichtlich in der kaiserlichen Repräsentation ganz gezielt geäußert und so der verbreiteten Depression in der Bevölkerung entgegengehalten. Mehrfach betont Justinian in offiziellen Dokumenten der 30er Jahre, daß er in der Lage sei, selbst aussichtslose Unterfangen zu bewältigen, und gibt somit Anlaß, optimistisch in eine glückliche Zukunft zu blicken (s.u.). T. HONORÉ bezeichnet diese Phase daher nicht zu unrecht als »the age of hope«.53 Der Grund für diese Zuversicht liegt einmal mehr in dem besonderen Verhältnis des Kaisers zu Gott, wie im Präskript ausdrücklich betont wird: Weder die militärische Schlagkraft des Reiches noch das ingenium des Kaisers selbst, sondern allein die providentia Gottes garantieren das Gedeihen des Staates. Daß das Wirken Gottes an dieser prominenten Stelle ausgerechnet mit dem Begriff providentia umrissen wird, ist insofern bemerkenswert, als πρόνοια/'providentia sonst in der Gesetzgebung Ju­ stinians eine zentrale Herrschertugend darstellt (s.u.). Dieser macht sich also die providentia Gottes gewissermaßen zu eigen54 - ein weiteres Indiz für die Beto­

49 Zutreffend dazu Av. Cameron (1985), 23: »Any notion of Justinianic classicistn as a simple or unified phenomenon must be rejected. The concept has no explanatory force; on the contrary, it must itself be explained«; vgl. in diesem Sinne auch Maas (1992), 44. 50 Dies geht aus den Fragmenten des staatstheoretischen Dialoges Περί πολιτικής επιστήμης noch deutlich hervor, vgl. z.B. ebd. p. 27,26-30 mit PRAECHTER (1900), 621ff„, bes. 629; 631; Dvornik (1966), 707; Pertusi (1968), 3; ders. (1985), 543; MäZZUCCHI (1978), 243f. 51 Diesen Anschluß suchte Justinian in der Tat wiederholt; eine längere Reihe charakteristi­ scher Beispiele aus der Gesetzgebung gibt PRINGSHEIM (1961a), 15. 52 Vgl. C. Deo auciore 2; C. Tanta!άέ&ωκεν pr. und 12 (a. 533); Cod. lust. I 27,2,4b (a. 534); Nov. lust. 8,10,2 (a. 535); 14 epil. (a. 535); 30,11,2 (a. 536); 109 pr. (a. 541). 53 HonorÉ (1978), 17; vgl. auch ebd. XVIf. Allerdings unterscheidet HONORÉ zu wenig zwischen den kaiserlichen Verlautbarungen und der Grundstimmung in der Bevölkerung, die zumindest nach dem Zeugnis der Quellen - keineswegs derart positiv war. 54 Vgl. HUNGER (1964), 84. Justinian hebt die riQbvoialprovidentia Gottes auch andernorts hervor, vgl. etwa Nov. lust. 6,8 (a. 535); 116 pr. (a. 542). Signifikant ist darüber hinaus die ge­ meinsame Nennung von göttlicher und kaiserlicher itQbvouilprovidentia Nov. lust. 80,8 (a. 539). Allerdings kann sich πρόνοια/providentia bei Justinian auch auf kirchliche Würdenträger oder kaiserliche Beamte beziehen; vgl. z.B. Nov. lust. 17,5,3 (a. 535); 25,4 pr. (a. 535); 28,5 pr. (a.

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nung der engen Verbindung von Gott und Kaiser im Herrschaftskonzept Justinians.5556 Im weiteren Verlauf der Konstitution werden die im Präskript und im Schluß­ satz angesprochenen Inhalte noch vertieft oder durch neue Aspekte ergänzt, die ein weiteres Licht auf die Interpretation des Kaisertums durch lustinian werfen. Die Bindung des Kaisers an Gott wird auch weiterhin wiederholt hervorgehoben?6 Wie bereits angedeutet, erhebt sie den Herrscher in eine religiöse Sphäre, ein Sachverhalt, der insbesondere in einer Passage, in der lustinian die Vollendung der Digesten mit der Weihung eines Tempels parallelisiert, in aller Deutlichkeit hervortritt: [...] oportet [...] quasi proprium et sanctissimum templum iustitiae consecrare (C. Deo auctore 5). Selbst die Romidee wird diesem Gedanken unter­ geordnet: Entsprechend einer alten Bestimmung des Salvius Julianus hätten alle Gemeinden sich nach den Gewohnheiten Roms zu richten (vgl. Dig. I 3,32 pr.), quae caput est orbis terrarum. Unter >Rom< sei aber nicht nur die alte Hauptstadt zu verstehen, sondern auch Konstantinopel, das mit Gottes Gnade unter besseren Vorzeichen gegründet worden sei (C. Deo auctore 10). Besonders hervorgehoben wird zudem die Fähigkeit Justinians, auch aus­ sichtslos erscheinende Unternehmungen zu einem erfolgreichen Ende zu bringen und somit begründeten Anlaß für die im Präskript erwähnte spes zu geben. Dem­ entsprechend kann er das DZgerien-Projekt einerseits als schier unbewältigbare Aufgabe zeichnen, andererseits aber auch deren erfolgreiche Durchführung in Aussicht stellen, ein gezielt vorgetragener Optimismus, der sich zwar auf die po­ sitiven Erfahrungen während der Arbeit am Codex gründen konnte, nichtsdesto­ weniger aber ein erstaunliches Maß an Zuversicht und Vertrauen in den glückli­

535); 29,1 (a. 535); 30,7 pr. (a. 536); 58 (a. 537); 59,3 (a. 537); 60,1,1 (a. 537); 101 epil. (a. 539): 103,3,1 (a. 536) u.ö. Zumindest im Hinblick auf die Beamten deuten die Zeugnisse daraufhin, daß Justinian davon ausgeht, Aspekte seiner eigenen ttQÖvotaJprovidentia auf diese übertragen zu können; vgl. etwa Nov. lust. 30,7 pr: πρόνοιαν τοίνυν και αυτός ό παρ’ ήμών στελλόμενος ίΐήσεται πολλήν [...]. 55 Es handelt sich hierbei um einen Aspekt der μίμησις θεού des spätantiken Kaisers (HUNGER (1964), 85), die - auch im Hinblick auf siQávotaJprovidentia - schon vor Justinian viel­ fach bezeugt ist (vgl. HUNGER (1964), 84ff.), von diesem aber wiederum in besonderem Maße hervorgehoben wird, ein Umstand, den auch HUNGER (1964), 87 mit Recht betont. Vgl. zur ttQovoiaJprovidentia z.B. Cod. lust. V 16,27,1 (a. 530); VII 62,39 (a. 530); C. Imperatoriam 1 (a. 533); C. Λέδωκεν 12 (a. 533); Nov. lust. 4 epil. (a. 535); 8,10,2 (a. 535); 8 Edikt (a. 535); 9,3 (a. 535); 10 pr. (a. 535); 18 epil. (a. 536); 24,6 pr. (a. 535); 72 epil. (a. 538); 73 epil. (a. 538); 74 epil. (a. 538); 80 pr.; 80 epil. (a. 539); 87 epil. (a. 539); 89 epil. (a. 539); 112,2 pr. (a. 541); 113,3; 113 epil. (a. 541); 118 epil. (a. 543); 119 epil. (a. 543); 134 epil. (a. 556); Edikt VII pr. (a. 542); Edikt ΧΠΙ (a. 538/39); Prok. aed. II 2,21 (προμήθεια, vgl. auch II 7.9; II 9,12; IV 2,11; V 5,3; VI 2,2); ΠΙ 1,3; IV 2,1; IV 3,24; V 5,2 (πρόνοια). Explizit zur μίμησις θεού Justinians vgl. bes. Cod. lust. 11,6 pr.; V 16,27,1; Nov. lust. 69,4,1 (a. 538); 81,2 (a. 539). 56 Vgl. bes. C. Deo auctore 2; 12; 14.

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chen Ausgang des wesentlich umfangreicheren Vorhabens verrät. Möglicherweise wollte Justinian mit der Zurschaustellung eines derartigen Optimismus bewußt Zeichen setzen (C. Deo auctore 2): [...] cum [...] adsummam et plenissimam iuris emendationem pervenire properaremus quod nemo neque sperare neque optare ausus est, res quidem nobis difficillima, immo magis impossibi­ lis videbatur. Sed manibus ad caelum erectis et aeterno auxilio invocato eam quoque curam no­ stris reposuimus animis, deo freti, qui et res penitus desperatas donare et consummare suae virtu­ tis magnitudine potest. [...] als wir uns eilig daran begaben, zur größten und umfassendsten Verbesserung des Rechts zu gelangen, [ein Vorhaben], das niemand zu erhoffen noch zu wünschen gewagt hat, da eben er­ schien uns die .Angelegenheit äußerst schwierig, ja mehr noch unmöglich. Aber nachdem wir die Hände zum Himmel erhoben und ewigen Beistand angerufen hatten, konnten wir auch diese Last von unserem Herzen nehmen, im Vertrauen auf Gott, der auch vollkommen aussichtslose Dinge schenken und vollenden kann durch die Größe seiner Kraft.

Der Ruhm und Ewigkeitsanspruch, den Justinian mit Gottes Hilfe zu realisieren erhofft, gewinnt schließlich vor allem gegen Ende der Konstitution an Gestalt (C. Deo auctore 14): in maximam et aeternam rei memoriam deique omnipotentis providentiae argumentum nostrique imperii vestrique ministeri gloriam.

{...] zum höchsten und ewigen Gedenken an das Werk, zum Beweis der vorsorgenden Umsicht des allmächtigen Gottes und zu unserer Herrschaft und euren Dienstes Ruhme.

Nur drei Jahre später war das gewaltige Unternehmen abgeschlossen. Die Promul­ gation der Digesten erfolgte wiederum durch eine Konstitution programmatischen Charakters (C. TantalΔέόωκεν. 16. Dez. 533), die wichtige Gedanken aus C. Deo auctore konkretisiert und weiterfuhrt. Die Zuversicht und der Optimismus des Kaisers sind mittlerweile noch weiter gewachsen. Man muß sich dabei vergegen­ wärtigen, daß zwischen den Konstitutionen der >ewige< Friede mit Persien, der Nika-Aufstand und die Niederringung des Vandalenreichs lagen. Auch in C. TantalΔέδωκεν betont Justinian, daß das DjgeVen-Projekt zunächst undurchführbar erschien, doch weisen seine Worte nunmehr einen signifikanten Zusatz auf: Hatte er in C. Deo auctore noch allgemein von der Aussichtslosigkeit des Unternehmens gesprochen, so sagt er nun, daß ein entsprechendes Vorhaben vor seiner Zeit aussichtslos erschienen sei (C. Tanta pr.): [...] quod nemo ante nostrum imperium umquam speravit neque humano ingenio possibile esse penitus existimavit.

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was niemand vor unserer Herrschaft jemals erhofft und überhaupt menschlicher Fähigkeit als möglich zugetraut hat.

In der griechischen Fassung wird die Formulierung nemo ante nostrum imperium durch die Eingrenzung auf die früheren Kaiser konkretisiert. Justinians offen­ sichtliche Vorstellung, in einer neuen Epoche zu leben, gewinnt hier durch schär­ fere Abgrenzungen gegenüber der Vergangenheit deutlicher an Gestalt. Trotz aller Schwierigkeiten wurde also das gewaltige Digesten-Projekt (πραγμα τοσοΰτον, C. Αέδωκεν 12), das zunächst überhaupt jenseits jeglicher Hoffnung zu liegen schien (δπερ ήν μέν τήν αρχήν υπέρ απασαν è/Jtíöa), in nur drei Jahren vollendet.57 58 Der Niedergang des römischen Rechts, der sich seit der Gründung Roms über einen Zeitraum von 1400 Jahren kontinuierlich hinge­ zogen hatte (hier scheint eine interessante Vorstellung der Vergangenheit und ih­ rer Periodisierung hervor), konnte daher mit Gottes Hilfe letztlich aufgehalten werden.59 Der Kaiser nimmt dies zum Anlaß, Senat und Reichsbevölkerung feier­ lich dazu aufzurufen, Gott Dank abzustatten für die Segnungen ihrer Zeit,60 und auf diese auch explizit einzugehen (C. Tanta 6b): [...] ne causa, quae in rebus non prospere gestis et tristibus temporibus Romanis increbuit cala­ mitatibus, bello coalescens civili, nostris remaneat temporibus, quae favor caelestis et pacis vi­ gore firmavit et super omnes gentes in bellicis periculis posuit, ne luctuosum monumentum laeta saecula inumbrare concedatur. [...] damit nicht eine Regelung, die sich in unseligen Verhältnissen und traurigen Zeiten den Rö­ mern zum Schaden entwickelt hat, die sich mit Bürgerkrieg verbindet, in unseren Zeiten Bestand hat, welche die himmlische Gunst durch die Kraft des Friedens gestärkt und in kriegerischen Ge­ fahren über alle Völker gestellt hat, damit nicht zugelassen werde, daß ein jammervolles Denkmal glückliche Zeitalter überschattet.

57 C. Αέδωκεν pr.: [ΰπερ ούδείς] τών πρό ήμών βεβασιλευκότων [αύτοκρατόρων] ετι οϋδε είς νοΰν βάλλεσθαι ήλπισεν αν ούτε δυνατόν ολως [τη ανθρώπινη φύσει] αυτό αν ένομίσϋη. 58 C. Αέδωκεν 12; vgl. C. Tanta 12: [...] perfecta et in tribus annis consummata, quae ut primum separari coepit, neque in lotum decennium compleri sperabatur; C. Imperatoriam 2: opus desperatum. 59 C. Tanta/Αέδωκεν pr. Vgl. auch C. Deo auctore 5; C. Imperatoriam T. Et cum sacratissi­ mas constitutiones antea confusas in luculentam ereximus consonantiam [...]. Dazu EBRARD (1947), 40. 60 C. Tanta 19: haec igitur omnia scientes, patres conscripti et omnes orbis terrarum homi­ nes, gratias quidem amplissimas agite summae divinitati, quae vestris temporibus tam saluberri­ mum opus servavit: quo enim antiquitas digna divino non est visa iudicio, hoc vestris temporibus indultum est; deutlicher noch sind die Worte C. Αέδωκεν 19: [...] χάριν μέν όμολογείτε Οεφ τφ τοΐς ϋμετέροις χρόνοις αγαθόν τοσοΰτον φυλάξαντι. Vgl. dazu Donatuti (1953), 235.

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Erneut wird die Gegenwart scharf mit der Vergangenheit kontrastiert, die an der zitierten Stelle mit den Zeiten der Republik und des Prinzipats assoziiert wird. Den verschiedenen Umschreibungen glückloser Verhältnisse, die sich in dem kur­ zen Textabschnitt auffallend häufen (res non prospere gestae, tristia tempora, calamitates, bellum civile), werden die laeta saecula als Gegenwart ohne Makel entgegengestellt. Auch hier begegnet wieder die harmonische Verbindung von Krieg und Frieden, auf die Justinian schon in C. Deo auctore hingewiesen hatte und die er auch an anderer Stelle noch betont (vgl. C. TantalΛεόωκεν 12). Außen­ politische Erfolge und Eintracht im Innern werden als bereits realisiertes Regierungsprogramm herausgestellt. Nur knapp zwei Jahre nach dem Blutbad des NikaAufstandes dürfte allerdings insbesondere die Verbannung des bellum civile in die vergangenen tristia tempora so manchem Zeitgenossen wie blanker Hohn vorge­ kommen sein. Faßt man die in unserem Zusammenhang wesentlichen Aspekte der behandel­ ten Konstitutionen zusammen, so ergeben sich insgesamt drei zentrale Punkte: 1. ) Die dezidierte Rückführung des Kaisertums direkt auf Gott, die - in dieser Intensität einmalig in der Spätantike - von wiederholten Hinweisen darauf be­ gleitet wird, in der Gunst Gottes zu stehen, ständig im Einklang mit seinem Willen zu handeln (deo adnuente, deo placido, deo propitio)61 und aus diesem Grunde auch aussichtslos erscheinende Unternehmungen erfolgreich zu Ende fuhren zu können. Die ohnehin sakrale Aura des Kaisers wird dadurch noch zusätzlich ver­ stärkt; die allmähliche Annäherung Justinians an Christus - charakteristisch fiir die späten Jahre seiner Herrschaft62 - findet in dieser Haltung ihre Ausgangsbasis. 2. ) Die stets implizit mitschwingende Charakterisierung der eigenen Regie­ rungszeit als neues, glückliches >ZeitalterGottesgnadentum< möchte ich mei­ den, weil er falsche Assoziationen wecken kann64 - unterschied sich beträchtlich von derjenigen in den ersten drei Jahrhunderten, in denen die Principes selbst zu­ nehmend kultisch verehrt und in weitaus stärkerem Maße der Sphäre des Göttli­ chen zugehörig empfunden wurden als in der Spätantike,65 wobei die Formen und Intensität dieser Verehrung freilich unterschiedlich waren - je nach dem Selbst­ verständnis der einzelnen Principes.66 Die Tradition der hellenistischen Königrei­ che brachte es dabei mit sich, daß im Osten des Reiches die kultische Verehrung der Principes stets tiefer verwurzelt war als in den westlichen Gebieten.67 Die Entwicklung dieser Zusammenhänge im einzelnen zu dokumentieren, ist hier nicht der Ort; es sei dazu insbesondere auf die noch immer grundlegende Darstel­ lung von W. Ensslin, den einschlägigen RAC-Artikel von J.R. Fears, den gedan­ kenreichen Aufsatz von J. Martin zum Selbstverständnis des spätantiken Kaisers sowie auf die neue Monographie von Μ. CLAUSS68 verwiesen. Für uns ist lediglich die Tatsache von Bedeutung, daß mit der Christianisierung des Kaisertums und zunehmender Teile der Reichsbevölkerung die ältere Vorstellung vom vergött­ lichten Kaiser, die insbesondere in der Tetrarchie noch einmal deutlichen Aus­ druck gefunden hatte,69 nicht mehr zu halten war und durch das Konzept des von Gott eingesetzten Herrschers, des Kaisers έκ θεού, verdrängt und allmählich er­ setzt wurde70 - ein Konzept, das im Grunde schon seit Paulus von den Christen

63 Ensslin (1939), 154ff.; ders. (1943), 53ff.; EICKHOFF (1981), 19ff (kurzer Überblick); Fears (1981), 1137ff.; vgl. weiterhin HUNGER (1964), 49ff. Auch der altgläubige Julian postu­ lierte einen göttlichen Auftrag, vgl. Jul. Misopog. 352C-D, in: C. Prato/D. Micalella (Edd.). Giuliano Imperatore. Misopogon, Rom 1979, p. 38-40. 64 Die unterschiedlichen Konzeptionen, die mit dem Begriff >Gottesgnadentum< verbunden werden können, finden sich bei Fears (1981). 65 Sehr pointiert CLAUSS (1999), 17: »Der römische Kaiser war Gottheit.« Anders z.B. LILIE (1994), 2; »Der princeps ist nicht göttlich oder von Gott bestimmt [...].« LtLIE weist aber auch darauf hin, daß der Gedanke des Gottkaisertums sich im Verlauf des Prinzipats zunehmend eta­ bliert hat. 66 Vgl. Fears (1981), 1121ff„ bes. 1128ff.; Clauss (1999), 489. 67 Vgl. Price (1984a); DERS. ( 1984b). 68 Ensslin (1943); Fears (1981); Martin (1984); Clauss (1999); vgl. auch dens. (1996), 400ff. 69 Vgl. dazu Clauss (1999), 189ff. 70 Vgl. dazu den Überblick bei DÖLGER (1932), 117ff. und Karay.aNNOPULOS (1975 [1956]), 240ff. sowie TRE1T1NGER (1969 [1938]), 32ff. und Lilie (1994), 5-7; kurz Hunger (1979), 264. Daß dieses Konzept auch für Heiden vertretbar war, zeigen ENSSUN (1939). 155t'.;

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vertreten wurde,71 u.a. bei Tertullian bereits mehrfach in pointierter Form begeg­ net72 und schließlich durch Eusebios seine gültige und programmatische Ausge­ staltung erfuhr.73 Nach diesen Vorstellungen war der Kaiser vom Logos-Christus eingesetzt als φίλος τού λόγου und οΐά τις ύποφήτης του Οεου,74 gleichsam ein ύπαρχος Gottes,75 der bis zur Wiederkunft des himmlischen Basileus, d.h. bis zur Parusie, dessen Stellung einnehmen sollte76 und nach dessen Vorbild in μίμησις ύεοΰ zu herrschen hatte.77 Schon vor längerer Zeit wurde aber in der Forschung darauf hingewiesen, daß daneben auch ältere Vorstellungen der Prinzipatszeit lebendig blieben, wonach der Kaiser im Rahmen des consensus omnium ein Auserwählter des Volkes war.78 Damit erhielten die spätantiken Kaiser gleichsam eine doppelte Legitimation: Sie waren von Gott berufen und zugleich vom Volk bestimmt.79 Anläßlich des Todes Anastasios’ und der nachfolgenden Erhebung Justins I. 518 wird dieser Gedanke anschaulich auf den Punkt gebracht: δει ούν ή μας πάντας κοινή βουλεύσασθαι, (1943), 61ff.; Fears (1981), 1139 und Clauss (1999), 209ff. Der Übergang von der Auf­ fassung, der Kaiser sei göttlich, zur Vorstellung vom Kaiser als einem Beauftragten Gottes erfolgte natürlich nicht abrupt, sondern fließend und allmählich. Auch die christlichen Kaiser wurden viel­ fach noch als Götter angeredet und verehrt, vgl. ENSSLIN (1943), 65ff.; HUNGER (1964), 49f.; CLAUSS (1999). 196ff., der diesen Aspekt allerdings überbetont. 71 Röm 13; vgl. DÖLGER (1932), 117ff; ENSSLIN (1943), 55f.; FEARS (1981), 1134f. 72 Vgl. Tert. Scap. 2,6; apol. 30 mit DÖLGER (1932), 121; weitere Belege aus der christli­ chen Apologetik ebd., 119ff.; vgl. auch Fears (1981), 1135ff. 73 STRAUB (1964 [1939]), 113ff.; DvoRNK (1966), 614-622; Farina (1966). Vgl. auch die etwas allgemeineren Ausführungen vonRUHBACH (1976), 236ff., bes. 248ff. 74 Euseb. Tricenn. 2 p. 199-200 HEIKEL; KARAYANNOPULOS (1975 [1956]), 242f. 75 Euseb. Tricenn. 7 p. 215 HEIKEL: οΐα μεγάλου βασιλέως ύπαρχος; KARAYANNOPULOS (1975(1956]), 242f. 76 KARAYANNOPULOS (1975 [1956]), 243; vgl. auch SCOTT (1985), 108. 77 Euseb. Tricenn. 1 p. 196-199; 3 p. 200-202 HEIKEL; vgl. dazu bes. BAYNES (1974 [1955]), 168-172; KARAYANNOPULOS (1975 [1956]), 243; Pertusi (1985), 555ff. Charakteristisch sind in diesem Zusammenhang zwei Verse aus dem Panegyricus des Dichters Corippus auf Justin II. (Coripp. Laud. lust. II427-428): Terrarum dominis Christus dedit omnia posse. Ille est omnipotens, hic omnipo/enlis imago. 78 Sehr pointiert Treitnger (1969 [1938]), 18: »Das Volk, als Nachfolger des populus Romanus, und die einfachen Soldaten, die sich im Hippodrom zur Akklamation aufstellen, haben daneben kein direktes Recht, den Kaiser zu bestimmen, aber die Akklamation ist rechtlich notwen­ dig und stellt zusammen mit der übereinstimmenden Wahl zu allen Zeiten die einzige, juristische Basis der Macht des Kaisers dar« (ähnlich ebd. 31; gegen ein solches formal-juristisches Verständ­ nis der Akklamation durch das Volk vgl. Anastos (1975), 182; LILIE (1994), 12; ders. (1995), 449. Dennoch darf die Bedeutung der Bestätigung des neuen Kaisers durch das Volk keinesfalls unterschätzt werden, vgl. Beck (1966a), 29ff.; PERTUSI (1968), 12f.; ders. (1985), 560ff.; KARAYANNOPULOS (1975 [1956]), 244ff. mit Belegen; ANASTOS (1975), 181 ff.; HUNGER (1979), 267; Fügen (1993), 54; Lilie (1994), 8; 10ff., bes. 15; Evans (1996), 61. 79 Treitinger(1969 [1938]), 35. Vgl. auch Martin (1997), 51. ders.

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καί τόν τφ ϋεφ άρέσκοντα καί τη πολιτεία συμφέροντα έπι/χξασθαι - »Wir alle müssen also gemeinsam einen Entschluß fassen und denjenigen auswählen, der Gott gefällt und dem Staate nützlich ist.«80 Aus diesem doppelten Ursprung des Kaisertums resultieren folgerichtig auch spezifische Pflichten gegenüber Gott und dem Volk, den Urhebern der Herrschaft: Der Kaiser hat seine Stellung als Dienst an Gott zu verstehen81 und dementsprechend danach zu streben, ihm zu gefallen;82 dies erfolgt insbesondere durch demonstratives Vorleben christlicher Werte und Moral.83 »Wenn nämlich der Kaiser fromm ist,« merkt Prokop an, »dann setzen sich auch nicht die göttlichen Dinge von den menschlichen ab, son­ dern pflegen sich mit ihnen zu verbinden und gerne die Gesellschaft mit den Men­ schen aufzusuchen.«84 Dem Volk gegenüber darf der Kaiser keine Willkür walten lassen, sondern er hat sich stets um seine Untertanen zu kümmern und zu sorgen, ihr Wohl ist das wichtigste Ziel seiner Herrschaft.85 Erfüllt der Kaiser diese Pflichten nicht, verliert er den Beistand Gottes, was sich z.B. in seinem - dann (zumindest der Theorie nach) legitimen - Sturz manifestieren kann.86 KA­ faßt die Stellung des spätantik-frühbyzantinischen Kaisers daher wie folgt zusammen: »Der Kaiser der frühbyzantinischen Zeit ist der Auserwählte Gottes [...]; seine Macht stammt aber sowohl von Gott wie auch von dem Volk, und er herrscht, einerseits, damit seine Untertanen jedem äußeren Einfluß und jeder Beunruhigung entzogen, im Geiste einer geordneten Gesetzgebung und vä­ terlichen Betreuung leben können [...], und andererseits, damit er wie ein »guter Hirt< die Seelen seiner Untertanen zur Frömmigkeit und zur Kenntnis des wahren Gottes fuhrt und sie für das Himmelreich vorbereiten läßt.«87 RAYANNOPULOS

80 De caerim. I 93 p. 426,16-18 ReisKE. Vgl. ähnlich z.B. auch Prok. Gaz. Anast. 5 p. 8.2326: Δόγμα τι θειον ώς αληθώς έπ'ι σο'ι τήν ψήφον έκίνει, καί ώσπερ έκ μιας γνώμης δήμος ίίπας έβόα, μεγάλη βουλή προσετίθετο, βασιλίς έπένευεν, ή δέ ψήφος έφέρετο. 81 Quanta sit in vestra clementia dilectio dei, cui serviendo regnatis et regnando servitis [...] (Brief des Papstes Leo I. anMarkianos [epist. 142], PL 54,1110C-111 IA; vgl. ENSSLIN (1943). 94; TREIT1NGER (1969 [1938]), 145f.; KARAYANNOPULOS (1975 [1956]), 247). 82 Vgl. Ambros, epist. extra coli. I 26 p. 186 ZelzeR: quo gloriosior factus es eo amplius auctori tuo deferendum noueris. An Justinian gerichtet ist die Mahnung Agapets: σκήχτρον βασι­ λείας παρά θεοϋ δεξάμενος, οκέπτου πώς αρέσεις τοι ταύτην σοι δεδωκότι (Agap. Ελιά. 61). 83 Vgl. KARAYANNOPULOS (1975 [1956]), 247f. 84 Prok. aed. I 4,24: βασιλέως γάρ εύσεβοϋντος ούδε άποφοιτμ τών άνθρωπείων τά θεία πραγμάτων, άλλ’ έπιμίγνυσθαί τε καί έμφιλοχωρεϊν τή ές τοΐς ανθρώπους δμιλί