Das Akteneinsichtsrecht der Verteidigung: Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Einführung der elektronischen Akte im Strafverfahren und am besonderen Beispiel von Telekommunikationsüberwachungsdaten [1 ed.] 9783161621314, 9783161621321, 316162131X

Das Akteneinsichtsrecht gem. § 147 StPO ist seit Inkrafttreten der Reichsstrafprozessordnung am 01.10.1879 fester Bestan

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Das Akteneinsichtsrecht der Verteidigung: Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Einführung der elektronischen Akte im Strafverfahren und am besonderen Beispiel von Telekommunikationsüberwachungsdaten [1 ed.]
 9783161621314, 9783161621321, 316162131X

Table of contents :
Cover
Titel
Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Anlass und Gang der Untersuchung
Erstes Kapitel: Genese des Akteneinsichtsrechts
A. Die Einsicht in die Papierakte
I. Entstehung
II. Entwicklung bis zur Reichsstrafprozessordnung von 1877
III. Zwischenergebnis
IV. Die Fortentwicklung von § 147 RStPO
1. Lex Emminger 1924
2. Die Reform 1950
3. Die Reform 1965
4. Die Reform 1975
5. Die Reform 2000
6. Die Reform 2009
7. Die Reform 2010
8. Redaktionelle Änderung 2015
9. Die Reform 2018
B. Die Einführung der e-Akte
C. Ergebnis
Zweites Kapitel: Verfassungs-, völker- und europarechtliche Grundlagen
A. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen
I. Das Fairnessgebot
1. Die Vorgaben im Allgemeinen
2. Die Waffengleichheit
3. Die Fürsorgepflicht
II. Das Recht auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 Abs. 1 GG
1. Die Vorgaben im Allgemeinen
2. Der Informationsanspruch
3. Die Verwirklichungsstufen
4. Anwendbarkeit im Ermittlungsverfahren
5. Einfachgesetzliche Konkretisierung
6. Zwischenergebnis
III. Weiteres Verfassungsrecht
IV. Zwischenergebnis
V. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung für Eingriffe
1. Einschränkbarkeit der relevanten Verfassungsvorgaben
a) Mitbegründung durch Art. 1 Abs. 1 GG
b) Kombination mit objektiven Verfassungsprinzipien
c) Zwischenergebnis
2. Kollidierende Verfassungsgüter
a) Die Funktionstüchtigkeit/-fähigkeit der Strafrechtspflege
b) Persönlichkeitsrechte Dritter
c) Staatliche Geheimhaltungsgründe und Zeugenschutzinteressen
VI. Ergebnis
B. Völkerrecht und das Recht der Europäischen Union
I. Die Berücksichtigungspflicht der EMRK und sonstiger völkerrechtlicher Verträge
II. EMRK
1. Art. 6 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 EMRK
a) Inhaltlicher Anwendungsbereich
aa) Im Allgemeinen
bb) Art. 6 Abs. 3 EMRK
cc) Informationsanspruch des verteidigerlosen Beschuldigten
dd) Spezielle Vorgaben zum Waffengleichheitsaspekt
b) Zeitlicher Anwendungsbereich
c) Einschränkbarkeit
2. Weitere Konventionsvorgaben
III. Sonstiges Völkerrecht
IV. Vorgaben des Rechts der Europäischen Union
Drittes Kapitel: „Akten“ und „Beweisstücke“ i. S. v. § 147 StPO
A. Meinungsstand
I. Wissenschaftlicher Diskurs
1. Monographien
2. Weitere Literatur
II. Rechtsprechung
III. Zusammenfassung
B. Einfachgesetzliche Auslegung
I. Wortlaut
1. Allgemeiner Sprachgebrauch
2. Satzsemantik und Normtextanalyse
a) § 147 Abs. 1 StPO
b) § 147 Abs. 2 S. 1 StPO
c) § 147 Abs. 3 StPO
d) § 147 Abs. 4 S. 2 StPO
3. Zwischenergebnis
II. Systematik
1. Das Normgefüge im 11. Abschnitt der StPO
a) Auswahl, Hinzuziehung und Ausschluss des Verteidigers
b) Die konkreten Verteidigungsrechte
c) Zwischenergebnis
2. Normativ gleichwertige Rechte
3. Die §§ 32 ff. StPO
a) Elektronische Dokumente
b) Ausgangsdokumente
c) Ein Zuführungsakt bei elektronischen Akten?
d) § 32f StPO
4. § 58a Abs. 2 S. 3 StPO
a) Gesetzgeberische Intention und Normgenese von § 58a Abs. 2 S. 3 StPO
aa) Entstehung der ersten Gesetzesfassung von § 58a Abs. 2 StPO
(1) Bundesratsentwurf
(2) Stellungnahme der Bundesregierung
(3) Weiterer Gesetzesentwurf
(4) Vermittlungsausschuss
(5) Zwischenergebnis
bb) Entstehung der zweiten Gesetzesfassung von § 58a Abs. 2 StPO
(1) Erster „Anlauf“
(2) Zweiter „Anlauf“
(a) Erster Gesetzesentwurf
(b) Regierungsentwurf
(c) Fraktionsentwurf
(d) Rechtsausschuss
(e) Ausschussfassung
(f) 2. Beratung
(g) Vermittlungsausschuss
cc) Weitere Reformen
b) Fazit zu § 58a Abs. 2 S. 3 StPO
5. Einordnung von Original-Informationsträgern
a) Die Abstufungen
b) Beweisstücke
aa) Wortlaut
bb) Systematik
cc) Historie sowie Sinn und Zweck
(1) Der ursprüngliche gesetzgeberische Wille
(2) Fortwirkung des ursprünglichen gesetzgeberischen Willens
dd) Schlussfolgerung
(1) Definitionsansatz
(a) Informations- bzw. Datenträger und Dateien bzw. Daten
(b) Transportierbarkeit
(c) Kopierfähigkeit
(d) Drohender Beweismittelverlust
(e) Veranschaulichung des Definitionsansatzes
(2) Auswirkungen auf § 32e Abs. 1 StPO
(3) Auswirkungen auf § 214 Abs. 4 StPO und § 199 Abs. 2 S. 2 StPO
c) Zwischenfazit
6. Erfordernis eines Zuführungsaktes?
7. Aussonderungsbefugnis der Staatsanwaltschaft
8. Die Einordnung beigezogener Akten
9. Die Tonaufzeichnung als Äquivalent zum Hauptverhandlungsprotokoll
10. Die Vorlage(-pflicht) der „Akten“ gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO
a) Gesetzgeberische Intention
aa) Hinweise für ein Aussonderungsrecht der Staatsanwaltschaft
bb) Belege für ein umfassendes Aktenbegriffsverständnis
cc) Zusammenfassung
dd) Fortentwicklung von § 197 RStPO
b) Systematische und teleologische Betrachtung des § 199 Abs. 2 S. 2 StPO
aa) Überprüfungs-/Kontrollmöglichkeit des gesamten Ermittlungsverfahrens als zwingende Grenze?
bb) Das Akkusationsprinzip
cc) Gegenstand des Ermittlungsverfahrens
dd) Aktenwahrheit bzw. -vollständigkeit
ee) Die Stellung der Staatsanwaltschaft
ff) Die Zuständigkeit zur Aktenführung als Differenzierungskriterium
(1) Vorgänge der Zeugenschutzdienststelle
(2) Vorgänge weiterer Behörden
(a) Nachrichtendienstliche Behörden
(b) Sonstige Behörden
(3) Zwischenergebnis
gg) Die Tat als Konkretisierung des inhaltlichen/thematischen Zusammenhanges
(1) Die Rahmenvorgaben zur prozessualen Tat
(2) Schlussfolgerungen für den Aktenbegriff
(a) Der geschichtliche Lebensvorgang als (Mindest-) Vorlagegegenstand
(b) Ableitung des vollständigen Aktenumfanges
(c) Der Verfolgungswille als Orientierungsmaßstab
(3) Zwischenergebnis
c) Zwischenfazit zur Auslegung von § 199 Abs. 2 S. 2 StPO
11. Die Stellung des Verteidigers
12. Weitere Rechtsnormen außerhalb der StPO
III. Teleologie
IV. Historie
1. Gesetzgeberischer Wille zur Einsicht in die papierne Akte
a) § 147 RStPO i. d. F. vom 01.10.1879
aa) Kein Aussonderungsrecht
bb) Die „Ueberführungsstücke“ i. S. v. § 147 Abs. 4 RStPO als Aktenbestandteil
cc) Funktionen und Stellung der Verfahrensbeteiligten
dd) Zwischenfazit
b) Der Entwurf 1908
c) Darauffolgende Reformbemühungen bis zur sog. Lex Emminger
d) Entwürfe aus 1936 bis 1939
e) Die Reform 1950
f) Die Reform 1965
g) Die Reform 1975
h) Die Reform 2000
i) Die Reform 2009
j) Die Reform 2010
k) Zwischenfazit der historischen Untersuchung
2. Gesetzgeberischer Wille bei der Reform des Akteneinsichtsrechts im Jahr 2018
a) Die Anspruchsnorm – § 147 StPO n. F
b) §§ 32 ff. StPO
aa) § 32 StPO
bb) § 32a StPO
cc) § 32b StPO
dd) § 32c StPO
ee) § 32d StPO
ff) § 32e StPO
gg) § 32f StPO
(1) Der Regierungsentwurf (StPO-E)
(2) Die Ausschussfassung (Ausschuss-E)
c) Zwischenfazit zur Reform des Akteneinsichtsrechts im Jahr 2018
3. Die Reform des Jahres 2021
4. Fazit der historischen Auslegung
V. Zusammenfassung der einfachgesetzlichen Untersuchung und Zwischenfazit
C. Gewährleistungen aus der Verfassung und dem Völkerrecht sowie europarechtliche Vorgaben
I. Verfassungsrecht
1. Das Fairnessgebot im Allgemeinen und die Rechtsschutzgarantie im Besonderen
2. Das Waffengleichheitspostulat
3. Der Gehörsanspruch aus Art. 103 Abs. 1 GG
II. Einfluss der verfassungsrechtlichen Vorgaben auf das einfache Recht
1. Die Spurenakten-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als Ausgangspunkt
2. Analyse der Spurenakten-Entscheidung
a) Der Gewährleistungsgehalt der Rechtsschutzgarantie
b) Die Folgen der Beweisantragsrechtslösung
c) Das von § 147 StPO losgelöste Einsichtsrecht
d) Folgenbetrachtung
e) Das Gebot willkürfreier Gesetzesauslegung
aa) Einfachgesetzliche Ausgangslage
bb) Maßstab des Willkürverbots
3. Zwischenfazit
III. Konventionsrecht
1. Die Vorgaben des Art. 6 EMRK im Allgemeinen
2. Die Vorgaben speziell zur Waffengleichheit
3. Die Vorgaben speziell zur Offenlegung von bzw. Einsichtnahme in Akten
4. Weitere Vorgaben aus Art. 5 Abs. 4 EMRK
5. Einschränkbarkeit
6. Übertragbarkeit und Umsetzung
7. Maßstab für die Feststellung einer Konventionsverletzung
IV. Die RL (EU) 2016/680
V. Zusammenfassung und Auswirkungen der verfassungs-/konventionsrechtlichen Gewährleistungen sowie der europarechtlichen Aspekte auf die §§ 147, 32 ff., 199 Abs. 2 S. 2 StPO
1. Verfassungsrecht
2. Völkerrecht und sekundäres Europarecht
a) Der Offenlegungsanspruch zur Herstellung von Waffengleichheit
b) Die Umsetzungspflicht
c) Folgen für den nationalen Aktenbegriff im Allgemeinen und die Einordnung sog. Spurenakten
d) Folgen für den Umgang mit Aktenkopien und den sog. Ausgangsdokumenten
e) Folgen für die Einordnung außerstrafprozessualer Vorgänge
f) Die Gesamtbetrachtungsdoktrin
g) Weiteres Völkerrecht und sekundäres Europarecht
h) Folgen für den Aktenbegriff des § 199 Abs. 2 S. 2 StPO
i) Zwischenfazit
D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs
I. Zusammenfassung der Untersuchung des Aktenbegriffs
1. Eigenschaften
a) Grundsätzliches
b) Beweisstücke
c) Ausgangsdokumente
d) Schlussfolgerung für und Besonderheiten bei Datenmaterial
aa) Elektronische Dokumente
bb) Sonstiges Datenmaterial (insbesondere TKÜ-Aufzeichnungen)
cc) Erfordernis einer 1:1-Kopie
2. Umfang
a) Der herausgearbeitete Rahmen
b) Konkretisierung des herausgearbeiteten Rahmens und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs
aa) Behörden- bzw. spruchkörperbezogene Eingrenzung
bb) Nachvollziehbarkeit des Ermittlungsverlaufs als weiteres Kriterium
cc) Identität des Ermittlungsgegenstandes
dd) Abstraktion des thematischen/inhaltlichen Zusammenhanges und Veranschaulichung
II. Einordnung des entwickelten Aktenbegriffs in den Forschungsstand und die Rechtsprechung
1. Der Umfang im Allgemeinen
2. Beweisstücke
3. Sonderkonstellation: Ausgangsdokumente
4. Sonderkonstellation: Handakten und vergleichbare Informationsträger
5. Sonderkonstellation: Elektronische Dokumente und sonstige Dateien bzw. Daten
6. Verortung der i. R. e. TKÜ-Maßnahme erhobenen Daten in den entwickelten Aktenbegriff (insbesondere TKÜ-Aufzeichnungen)
Viertes Kapitel: Das Einsichtsrecht
A. Die grundsätzliche Einsicht in Original-Informationsträger und die in § 32f StPO normierten Formen der Einsichtsgewährung
B. Die Besichtigung von Ausgangsdokumenten und Beweisstücken und die Einsicht in übertragene Dokumente und Aktenkopien
C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung
I. Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege
1. Die Gefährdung des Untersuchungszwecks
2. Der Beschleunigungsgrundsatz
3. Der Missbrauchseinwand
II. Staatliche Geheimhaltungsgründe
III. Zeugenschutzaspekte
IV. Persönlichkeitsrechte Dritter
1. Der Sozial- und Privatsphäre angehörende Informationsträger
a) § 147 StPO
aa) Wortlaut und Binnensystematik
bb) Gesetzgeberische Intention
b) § 32f StPO
aa) Wortlaut und Binnensystematik
bb) Gesetzgeberische Intention
c) § 100a StPO
aa) Wortlaut und Systematik
bb) Gesetzgeberische Intention bei der Einführung des § 100a StPO
cc) Gesetzgeberische Intention bei der Reform der §§ 100a ff. StPO im Jahr 2008
d) Das Gebot der Widerspruchsfreiheit
e) Auswirkungen des entwickelten Aktenbegriffs
f) Verfassungs- und Konventionsrecht
g) Zwischenfazit
2. Sonderproblem: Kernbereichsrelevantes Informationsmaterial
a) Problemaufriss
b) Rechtliche Beurteilung
aa) Gesetzgeberische Intention zu § 100d Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 2 StPO
bb) Gesetzgeberische Intention zu §§ 100a Abs. 4 S. 2–4,100c Abs. 5 S. 2–6 StPO a. F
cc) Weitergabe kernbereichsrelevanter Daten an die Verteidigung im Lichte der grundrechtlichen Eingriffsdogmatik
dd) Konsequenzen für die Lösch- und Weitergabekompetenz aus § 100d Abs. 3 S. 2 StPO
ee) Kompensation der Akteneinsichtsbeschränkung
ff) Auswirkungen auf die zugrunde gelegte Unbeachtlichkeit der Beweisverwertbarkeit
gg) Auswirkungen auf Informationsmaterial mit konkretem Bezug zu den §§ 174 ff. StGB und vergleichbar schützenswertes Informationsmaterial
3. Sonderproblem: Steuergeheimnis
4. Zwischenfazit
V. Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse
D. Die prozessuale Fürsorgepflicht
E. Fazit zum Einsichtsrecht
Gesamtfazit
A. Zusammenfassung der Ergebnisse
I. Aktenumfang
II. Akteneigenschaften und die Einordnung von digitalem Informationsmaterial
III. Der Umfang des Einsichtsrechts
B. Ausblick
Literaturverzeichnis
Sachregister

Citation preview

Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht Band 193 herausgegeben von

Rolf Stürner

Saber Meglalu

Das Akteneinsichtsrecht der Verteidigung Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Einführung der elektronischen Akte im Strafverfahren und am besonderen Beispiel von Telekommunikationsüberwachungsdaten

Mohr Siebeck

Saber Meglalu, geboren 1989; Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Bremen; 2016 Erste Juristische Staatsprüfung; Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht, Medienstrafrecht und Strafvollzugsrecht der Universität Bremen; Referendariat am Hanseatischen Oberlandesgericht in Bremen; 2022 Promotion; 2022 Zweite Juristische Staatsprüfung; Rechtsanwalt in Bremen.

Gedruckt mit Unterstützung der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung Hamburg. ISBN 978-3-16-162131-4 / eISBN 978-3-16-162132-1 DOI 10.1628/978-3-16-162132-1 ISSN 0722-7574 / eISSN 2568-7255 (Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außer­halb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Printed in Germany.

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2021/2022 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Bremen als Dissertation angenommen. Sie wurde für die Drucklegung punktuell überarbeitet und umfassend aktualisiert. Literatur und Rechtsprechung konnten bis zum Stand November 2022 berücksichtigt werden. Mein erster und besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Sönke Florian Gerhold. Er stand mir als Doktorvater jederzeit mit Rat und Tat zur Seite. Als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an seiner Professur habe ich viel von ihm lernen können und sehr gerne bei ihm gearbeitet. Neben meiner Tätigkeit an seiner Professur konnte ich an verschiedenen, kleineren wie größeren, juristischen Projekten mitarbeiten und bundesweit an zahlreichen strafrechtlichen Tagungen teilnehmen. Er hat mich stets gefördert und gefordert. Es war eine prägende Zeit. Auch Herr Prof. Dr. Mohamad El-Ghazi nahm sich über die ganzen Jahre, als er noch an der Universität Bremen Wissenschaftlicher Assistent war, ohne Abstriche Zeit für mich, wenn ich einen Diskussionspartner benötigte oder an bestimmten Stellen der vorliegenden Untersuchung nicht weiterzukommen glaubte. Er hat mich mit konstruktiven Anregungen unterstützt und zügig das Zweitgutachten erstellt, wofür ich ihm herzlich danke. Daneben danke ich den vielen weiteren Menschen, die ich während der Zeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter kennengelernt habe und die dafür gesorgt haben, dass mir die Promotionszeit immer in schöner Erinnerung bleiben wird. Dies gilt insbesondere für Prof. Dr. Ingeborg Zerbes, Prof. Dr. Felix Herzog, Maria Teresa Knopp, Antje Spalink, Catharina Pia Conrad, Dr. Gianna Magdalena Schlichte, Betül Yüce, Shirin Dirks, Johannes Aschermann und Thure Erik Höft. Ein großes Dankeschön gebührt auch Vincent Mittag für das Korrekturlesen dieser Arbeit und Marwin Berrer, der immer ein offenes Ohr für mich hatte. Der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung danke ich für die großzügige finanzielle Unterstützung bei der Veröffentlichung. Meine Großeltern und Eltern haben mich seit meiner Kindheit in vielerlei Hinsicht unterstützt und mich darin bestärkt, meine Ziele zu verfolgen. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Bremen, im Dezember 2022

Saber Meglalu

Inhaltsübersicht Vorwort ......................................................................................................... V Inhaltsverzeichnis ........................................................................................ IX

Anlass und Gang der Untersuchung ......................................................... 1 Erstes Kapitel: Genese des Akteneinsichtsrechts ...................................13 A. Die Einsicht in die Papierakte ..................................................................15 B. Die Einführung der e-Akte .......................................................................37 C. Ergebnis ...................................................................................................40

Zweites Kapitel: Verfassungs-, völker- und europarechtliche Grundlagen ...............................................................................................43 A. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen .................................................45 B. Völkerrecht und das Recht der Europäischen Union .................................79

Drittes Kapitel: „Akten“ und „Beweisstücke“ i. S. v. § 147 StPO ......95 A. Meinungsstand .........................................................................................97 B. Einfachgesetzliche Auslegung ................................................................ 139 C. Gewährleistungen aus der Verfassung und dem Völkerrecht sowie europarechtliche Vorgaben ..................................................................... 389 D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs ................................................................................... 474

Viertes Kapitel: Das Einsichtsrecht....................................................... 519 A. Die grundsätzliche Einsicht in Original-Informationsträger und die in § 32f StPO normierten Formen der Einsichtsgewährung .............. 521 B. Die Besichtigung von Ausgangsdokumenten und Beweisstücken und die Einsicht in übertragene Dokumente und Aktenkopien ...................... 527 C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung ....... 534 D. Die prozessuale Fürsorgepflicht ............................................................. 634 E. Fazit zum Einsichtsrecht ........................................................................ 636

VIII

Inhaltsübersicht

Gesamtfazit ............................................................................................... 645 A. Zusammenfassung der Ergebnisse .......................................................... 647 B. Ausblick ................................................................................................. 655 Literaturverzeichnis .................................................................................... 659 Sachregister ................................................................................................ 681

Inhaltsverzeichnis Vorwort ......................................................................................................... V Inhaltsübersicht .......................................................................................... VII

Anlass und Gang der Untersuchung .................................................... 1 Erstes Kapitel: Genese des Akteneinsichtsrechts............................13 A. Die Einsicht in die Papierakte .......................................................15 I.

Entstehung .............................................................................................15

II. Entwicklung bis zur Reichsstrafprozessordnung von 1877 .....................20 III. Zwischenergebnis...................................................................................28 IV. Die Fortentwicklung von § 147 RStPO ...................................................29 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Lex Emminger 1924 .................................................................................29 Die Reform 1950 ......................................................................................30 Die Reform 1965 ......................................................................................30 Die Reform 1975 ......................................................................................31 Die Reform 2000 ......................................................................................32 Die Reform 2009 ......................................................................................33 Die Reform 2010 ......................................................................................34 Redaktionelle Änderung 2015 ..................................................................35 Die Reform 2018 .....................................................................................35

B. Die Einführung der e-Akte .............................................................37 C. Ergebnis ..............................................................................................40

X

Inhaltsverzeichnis

Zweites Kapitel: Verfassungs-, völker- und europarechtliche Grundlagen ...............................................................................................43 A. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen...................................45 I.

Das Fairnessgebot .................................................................................45

1. Die Vorgaben im Allgemeinen .................................................................47 2. Die Waffengleichheit ...............................................................................50 3. Die Fürsorgepflicht ..................................................................................54 II. Das Recht auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 Abs. 1 GG ....................57 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Die Vorgaben im Allgemeinen .................................................................57 Der Informationsanspruch ........................................................................58 Die Verwirklichungsstufen .......................................................................59 Anwendbarkeit im Ermittlungsverfahren ..................................................60 Einfachgesetzliche Konkretisierung .........................................................62 Zwischenergebnis.....................................................................................64

III. Weiteres Verfassungsrecht .....................................................................64 IV. Zwischenergebnis...................................................................................65 V. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung für Eingriffe ................................66 1. Einschränkbarkeit der relevanten Verfassungsvorgaben ...........................67 a) Mitbegründung durch Art. 1 Abs. 1 GG ...............................................67 b) Kombination mit objektiven Verfassungsprinzipien .............................72 c) Zwischenergebnis ................................................................................73 2. Kollidierende Verfassungsgüter ...............................................................73 a) Die Funktionstüchtigkeit/-fähigkeit der Strafrechtspflege ....................73 b) Persönlichkeitsrechte Dritter ................................................................75 c) Staatliche Geheimhaltungsgründe und Zeugenschutzinteressen ...........76 VI. Ergebnis.................................................................................................78

B. Völkerrecht und das Recht der Europäischen Union ...............79 I.

Die Berücksichtigungspflicht der EMRK und sonstiger völkerrechtlicher Verträge .....................................................................80

II. EMRK ....................................................................................................83 1. Art. 6 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 EMRK .............................................................83 a) Inhaltlicher Anwendungsbereich ..........................................................84 aa) Im Allgemeinen .............................................................................84 bb) Art. 6 Abs. 3 EMRK ......................................................................85

Inhaltsverzeichnis

XI

cc) Informationsanspruch des verteidigerlosen Beschuldigten .............87 dd) Spezielle Vorgaben zum Waffengleichheitsaspekt.........................88 b) Zeitlicher Anwendungsbereich ............................................................89 c) Einschränkbarkeit ................................................................................90 2. Weitere Konventionsvorgaben .................................................................91 III. Sonstiges Völkerrecht.............................................................................92 IV. Vorgaben des Rechts der Europäischen Union.......................................92

Drittes Kapitel: „Akten“ und „Beweisstücke“ i. S. v. § 147 StPO ..................................................................................95 A. Meinungsstand ..................................................................................97 I.

Wissenschaftlicher Diskurs ....................................................................97

1. Monographien ..........................................................................................97 2. Weitere Literatur .................................................................................... 111 II. Rechtsprechung .................................................................................... 123 III. Zusammenfassung ................................................................................ 133

B. Einfachgesetzliche Auslegung .................................................... 139 I.

Wortlaut .............................................................................................. 139

1. Allgemeiner Sprachgebrauch ................................................................. 139 2. Satzsemantik und Normtextanalyse ........................................................ 141 a) § 147 Abs. 1 StPO ............................................................................. 141 b) § 147 Abs. 2 S. 1 StPO ...................................................................... 142 c) § 147 Abs. 3 StPO ............................................................................. 143 d) § 147 Abs. 4 S. 2 StPO ...................................................................... 143 3. Zwischenergebnis................................................................................... 144 II. Systematik ............................................................................................ 144 1. Das Normgefüge im 11. Abschnitt der StPO .......................................... 144 a) Auswahl, Hinzuziehung und Ausschluss des Verteidigers ................. 145 b) Die konkreten Verteidigungsrechte .................................................... 146 c) Zwischenergebnis .............................................................................. 148 2. Normativ gleichwertige Rechte .............................................................. 149 3. Die §§ 32 ff. StPO .................................................................................. 150 a) Elektronische Dokumente .................................................................. 150 b) Ausgangsdokumente ......................................................................... 151

XII

Inhaltsverzeichnis

c) Ein Zuführungsakt bei elektronischen Akten? .................................... 152 d) § 32f StPO ........................................................................................ 152 4. § 58a Abs. 2 S. 3 StPO ........................................................................... 153 a) Gesetzgeberische Intention und Normgenese von § 58a Abs. 2 S. 3 StPO ............................................................................... 154 aa) Entstehung der ersten Gesetzesfassung von § 58a Abs. 2 StPO ... 154 (1) Bundesratsentwurf ................................................................ 154 (2) Stellungnahme der Bundesregierung ..................................... 157 (3) Weiterer Gesetzesentwurf .................................................... 158 (4) Vermittlungsausschuss .......................................................... 159 (5) Zwischenergebnis ................................................................. 159 bb) Entstehung der zweiten Gesetzesfassung von § 58a Abs. 2 StPO 160 (1) Erster „Anlauf“ ..................................................................... 160 (2) Zweiter „Anlauf“ .................................................................. 167 (a) Erster Gesetzesentwurf ................................................... 168 (b) Regierungsentwurf ......................................................... 168 (c) Fraktionsentwurf ............................................................ 176 (d) Rechtsausschuss ............................................................. 176 (e) Ausschussfassung ........................................................... 177 (f) 2. Beratung ..................................................................... 179 (g) Vermittlungsausschuss ................................................... 180 cc) Weitere Reformen ....................................................................... 184 b) Fazit zu § 58a Abs. 2 S. 3 StPO ......................................................... 184 5. Einordnung von Original-Informationsträgern ....................................... 185 a) Die Abstufungen ................................................................................ 185 b) Beweisstücke ..................................................................................... 188 aa) Wortlaut ...................................................................................... 188 bb) Systematik ................................................................................... 189 cc) Historie sowie Sinn und Zweck ................................................... 193 (1) Der ursprüngliche gesetzgeberische Wille............................. 194 (2) Fortwirkung des ursprünglichen gesetzgeberischen Willens.. 197 dd) Schlussfolgerung ......................................................................... 200 (1) Definitionsansatz .................................................................. 200 (a) Informations- bzw. Datenträger und Dateien bzw. Daten ..................................................................... 203 (b) Transportierbarkeit ......................................................... 204 (c) Kopierfähigkeit............................................................... 204 (d) Drohender Beweismittelverlust....................................... 207 (e) Veranschaulichung des Definitionsansatzes .................... 207 (2) Auswirkungen auf § 32e Abs. 1 StPO ................................... 210 (3) Auswirkungen auf § 214 Abs. 4 StPO und § 199 Abs. 2 S. 2 StPO ......................................................... 216 c) Zwischenfazit .................................................................................... 218

Inhaltsverzeichnis

XIII

6. 7. 8. 9.

Erfordernis eines Zuführungsaktes? ....................................................... 224 Aussonderungsbefugnis der Staatsanwaltschaft ...................................... 230 Die Einordnung beigezogener Akten ...................................................... 232 Die Tonaufzeichnung als Äquivalent zum Hauptverhandlungsprotokoll ................................................................................................ 232 10. Die Vorlage(-pflicht) der „Akten“ gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO .......... 233 a) Gesetzgeberische Intention ................................................................ 233 aa) Hinweise für ein Aussonderungsrecht der Staatsanwaltschaft ...... 234 bb) Belege für ein umfassendes Aktenbegriffsverständnis ................. 236 cc) Zusammenfassung ....................................................................... 244 dd) Fortentwicklung von § 197 RStPO .............................................. 245 b) Systematische und teleologische Betrachtung des § 199 Abs. 2 S. 2 StPO ...................................................................... 245 aa) Überprüfungs-/Kontrollmöglichkeit des gesamten Ermittlungsverfahrens als zwingende Grenze? ............................ 247 bb) Das Akkusationsprinzip ............................................................... 250 cc) Gegenstand des Ermittlungsverfahrens ........................................ 251 dd) Aktenwahrheit bzw. -vollständigkeit ........................................... 252 ee) Die Stellung der Staatsanwaltschaft ............................................. 258 ff) Die Zuständigkeit zur Aktenführung als Differenzierungskriterium ........................................................... 268 (1) Vorgänge der Zeugenschutzdienststelle ................................ 269 (2) Vorgänge weiterer Behörden................................................. 273 (a) Nachrichtendienstliche Behörden ................................... 273 (b) Sonstige Behörden .......................................................... 276 (3) Zwischenergebnis ................................................................. 280 gg) Die Tat als Konkretisierung des inhaltlichen/thematischen Zusammenhanges ........................................................................ 282 (1) Die Rahmenvorgaben zur prozessualen Tat........................... 283 (2) Schlussfolgerungen für den Aktenbegriff .............................. 284 (a) Der geschichtliche Lebensvorgang als (Mindest-) Vorlagegegenstand ......................................................... 285 (b) Ableitung des vollständigen Aktenumfanges .................. 286 (c) Der Verfolgungswille als Orientierungsmaßstab ............. 290 (3) Zwischenergebnis ................................................................. 291 c) Zwischenfazit zur Auslegung von § 199 Abs. 2 S. 2 StPO ................. 292 11. Die Stellung des Verteidigers ............................................................... 294 12. Weitere Rechtsnormen außerhalb der StPO .......................................... 301 III. Teleologie ............................................................................................ 308 IV. Historie ................................................................................................ 308 1. Gesetzgeberischer Wille zur Einsicht in die papierne Akte .................... 308

XIV

Inhaltsverzeichnis

a) § 147 RStPO i. d. F. vom 01.10.1879 ................................................. 308 aa) Kein Aussonderungsrecht ............................................................ 309 bb) Die „Ueberführungsstücke“ i. S. v. § 147 Abs. 4 RStPO als Aktenbestandteil .......................................................................... 310 cc) Funktionen und Stellung der Verfahrensbeteiligten ..................... 312 dd) Zwischenfazit .............................................................................. 313 b) Der Entwurf 1908 .............................................................................. 314 c) Darauffolgende Reformbemühungen bis zur sog. Lex Emminger ...... 316 d) Entwürfe aus 1936 bis 1939 ............................................................... 317 e) Die Reform 1950 ............................................................................... 319 f) Die Reform 1965 ............................................................................... 321 g) Die Reform 1975 ............................................................................... 327 h) Die Reform 2000 ............................................................................... 328 i) Die Reform 2009 ............................................................................... 333 j) Die Reform 2010 .............................................................................. 334 k) Zwischenfazit der historischen Untersuchung .................................... 336 2. Gesetzgeberischer Wille bei der Reform des Akteneinsichtsrechts im Jahr 2018 .......................................................................................... 339 a) Die Anspruchsnorm – § 147 StPO n. F .............................................. 340 b) §§ 32 ff. StPO .................................................................................... 346 aa) § 32 StPO .................................................................................... 346 bb) § 32a StPO .................................................................................. 348 cc) § 32b StPO .................................................................................. 351 dd) § 32c StPO .................................................................................. 353 ee) § 32d StPO .................................................................................. 354 ff) § 32e StPO .................................................................................. 354 gg) § 32f StPO .................................................................................. 361 (1) Der Regierungsentwurf (StPO-E) .......................................... 361 (2) Die Ausschussfassung (Ausschuss-E) ................................... 368 c) Zwischenfazit zur Reform des Akteneinsichtsrechts im Jahr 2018 ..... 372 3. Die Reform des Jahres 2021 ................................................................... 377 4. Fazit der historischen Auslegung ........................................................... 377 V. Zusammenfassung der einfachgesetzlichen Untersuchung und Zwischenfazit ....................................................................................... 379

C. Gewährleistungen aus der Verfassung und dem Völkerrecht sowie europarechtliche Vorgaben ............................. 389 I.

Verfassungsrecht.................................................................................. 389

1. Das Fairnessgebot im Allgemeinen und die Rechtsschutzgarantie im Besonderen ....................................................................................... 389 2. Das Waffengleichheitspostulat ............................................................... 393

Inhaltsverzeichnis

XV

3. Der Gehörsanspruch aus Art. 103 Abs. 1 GG ......................................... 400 II. Einfluss der verfassungsrechtlichen Vorgaben auf das einfache Recht 402 1. Die Spurenakten-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als Ausgangspunkt ................................................................................. 403 2. Analyse der Spurenakten-Entscheidung ................................................. 406 a) Der Gewährleistungsgehalt der Rechtsschutzgarantie ........................ 406 b) Die Folgen der Beweisantragsrechtslösung ........................................ 408 c) Das von § 147 StPO losgelöste Einsichtsrecht .................................. 412 d) Folgenbetrachtung ............................................................................. 418 e) Das Gebot willkürfreier Gesetzesauslegung ....................................... 420 aa) Einfachgesetzliche Ausgangslage ................................................ 421 bb) Maßstab des Willkürverbots ........................................................ 423 3. Zwischenfazit ........................................................................................ 425 III. Konventionsrecht ................................................................................. 427 1. Die Vorgaben des Art. 6 EMRK im Allgemeinen................................... 428 2. Die Vorgaben speziell zur Waffengleichheit .......................................... 437 3. Die Vorgaben speziell zur Offenlegung von bzw. Einsichtnahme in Akten ................................................................................................. 441 4. Weitere Vorgaben aus Art. 5 Abs. 4 EMRK ........................................... 447 5. Einschränkbarkeit .................................................................................. 450 6. Übertragbarkeit und Umsetzung ............................................................. 451 7. Maßstab für die Feststellung einer Konventionsverletzung .................... 455 IV. Die RL (EU) 2016/680 ......................................................................... 457 V. Zusammenfassung und Auswirkungen der verfassungs-/konventionsrechtlichen Gewährleistungen sowie der europarechtlichen Aspekte auf die §§ 147, 32 ff., 199 Abs. 2 S. 2 StPO .......................................... 459 1. Verfassungsrecht .................................................................................... 459 2. Völkerrecht und sekundäres Europarecht .............................................. 463 a) Der Offenlegungsanspruch zur Herstellung von Waffengleichheit ..... 463 b) Die Umsetzungspflicht....................................................................... 468 c) Folgen für den nationalen Aktenbegriff im Allgemeinen und die Einordnung sog. Spurenakten ....................................................... 469 d) Folgen für den Umgang mit Aktenkopien und den sog. Ausgangsdokumenten ....................................................................... 470 e) Folgen für die Einordnung außerstrafprozessualer Vorgänge ............. 471 f) Die Gesamtbetrachtungsdoktrin ......................................................... 471 g) Weiteres Völkerrecht und sekundäres Europarecht ............................ 472 h) Folgen für den Aktenbegriff des § 199 Abs. 2 S. 2 StPO .................. 472 i) Zwischenfazit ................................................................................... 473

XVI

Inhaltsverzeichnis

D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs .................................................................................. 474 I.

Zusammenfassung der Untersuchung des Aktenbegriffs ....................... 474

1. Eigenschaften ......................................................................................... 474 a) Grundsätzliches ................................................................................. 474 b) Beweisstücke ..................................................................................... 475 c) Ausgangsdokumente .......................................................................... 477 d) Schlussfolgerung für und Besonderheiten bei Datenmaterial ............. 480 aa) Elektronische Dokumente ........................................................... 480 bb) Sonstiges Datenmaterial (insbesondere TKÜ-Aufzeichnungen)... 481 cc) Erfordernis einer 1:1-Kopie ......................................................... 482 2. Umfang .................................................................................................. 487 a) Der herausgearbeitete Rahmen .......................................................... 487 b) Konkretisierung des herausgearbeiteten Rahmens und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs.................................................................. 492 aa) Behörden- bzw. spruchkörperbezogene Eingrenzung ................. 492 bb) Nachvollziehbarkeit des Ermittlungsverlaufs als weiteres Kriterium ..................................................................................... 495 cc) Identität des Ermittlungsgegenstandes ......................................... 496 dd) Abstraktion des thematischen/inhaltlichen Zusammenhanges und Veranschaulichung ............................................................... 497 II. Einordnung des entwickelten Aktenbegriffs in den Forschungsstand und die Rechtsprechung ....................................................................... 500 1. 2. 3. 4. 5.

Der Umfang im Allgemeinen ................................................................. 501 Beweisstücke ......................................................................................... 507 Sonderkonstellation: Ausgangsdokumente ............................................. 508 Sonderkonstellation: Handakten und vergleichbare Informationsträger .. 508 Sonderkonstellation: Elektronische Dokumente und sonstige Dateien bzw. Daten ............................................................................................ 509 6. Verortung der i. R. e. TKÜ-Maßnahme erhobenen Daten in den entwickelten Aktenbegriff (insbesondere TKÜ-Aufzeichnungen) .......... 510

Viertes Kapitel: Das Einsichtsrecht .................................................. 519 A. Die grundsätzliche Einsicht in Original-Informationsträger und die in § 32f StPO normierten Formen der Einsichtsgewährung .............................................................................................. 521

Inhaltsverzeichnis

XVII

B. Die Besichtigung von Ausgangsdokumenten und Beweisstücken und die Einsicht in übertragene Dokumente und Aktenkopien ................................................................................... 527 C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung ............................................................................ 534 I.

Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege ........................................... 534

1. Die Gefährdung des Untersuchungszwecks ............................................ 534 2. Der Beschleunigungsgrundsatz .............................................................. 549 3. Der Missbrauchseinwand ...................................................................... 552 II. Staatliche Geheimhaltungsgründe ....................................................... 553 III. Zeugenschutzaspekte ............................................................................ 566 IV. Persönlichkeitsrechte Dritter ............................................................... 570 1. Der Sozial- und Privatsphäre angehörende Informationsträger ............... 570 a) § 147 StPO......................................................................................... 572 aa) Wortlaut und Binnensystematik ................................................... 572 bb) Gesetzgeberische Intention .......................................................... 572 b) § 32f StPO ......................................................................................... 574 aa) Wortlaut und Binnensystematik ................................................... 574 bb) Gesetzgeberische Intention ......................................................... 575 c) § 100a StPO ....................................................................................... 576 aa) Wortlaut und Systematik ............................................................ 576 bb) Gesetzgeberische Intention bei der Einführung des § 100a StPO .......................................................................... 581 cc) Gesetzgeberische Intention bei der Reform der §§ 100a ff. StPO im Jahr 2008 ................................................................................ 581 d) Das Gebot der Widerspruchsfreiheit .................................................. 582 e) Auswirkungen des entwickelten Aktenbegriffs .................................. 584 f) Verfassungs- und Konventionsrecht ................................................... 585 g) Zwischenfazit .................................................................................... 598 2. Sonderproblem: Kernbereichsrelevantes Informationsmaterial ............... 598 a) Problemaufriss ................................................................................... 598 b) Rechtliche Beurteilung....................................................................... 600 aa) Gesetzgeberische Intention zu § 100d Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 2 StPO .......................................................................... 600 bb) Gesetzgeberische Intention zu §§ 100a Abs. 4 S. 2–4, 100c Abs. 5 S. 2–6 StPO a. F. ..................................................... 601 cc) Weitergabe kernbereichsrelevanter Daten an die Verteidigung im Lichte der grundrechtlichen Eingriffsdogmatik ...................... 606

XVIII

Inhaltsverzeichnis

dd) Konsequenzen für die Lösch- und Weitergabekompetenz aus § 100d Abs. 3 S. 2 StPO ........................................................ 608 ee) Kompensation der Akteneinsichtsbeschränkung .......................... 612 ff) Auswirkungen auf die zugrunde gelegte Unbeachtlichkeit der Beweisverwertbarkeit ............................................................ 615 gg) Auswirkungen auf Informationsmaterial mit konkretem Bezug zu den §§ 174 ff. StGB und vergleichbar schützenswertes Informationsmaterial ................................................................... 618 3. Sonderproblem: Steuergeheimnis ........................................................... 622 4. Zwischenfazit ......................................................................................... 623 V. Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse .................................................... 628

D. Die prozessuale Fürsorgepflicht ................................................. 634 E. Fazit zum Einsichtsrecht ............................................................... 636 Gesamtfazit............................................................................................. 645 A. Zusammenfassung der Ergebnisse ............................................. 647 I.

Aktenumfang ........................................................................................ 647

II. Akteneigenschaften und die Einordnung von digitalem Informationsmaterial ........................................................................... 650 III. Der Umfang des Einsichtsrechts .......................................................... 653

B. Ausblick ............................................................................................ 655 Literaturverzeichnis .................................................................................... 659 Sachregister ................................................................................................ 681

Anlass und Gang der Untersuchung Das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers zählt zu den bekanntesten und mit am häufigsten geltend gemachten Rechten in einem Strafverfahren. Das erste Anschreiben eines mandatierten Verteidigers an eine Strafverfolgungsbehörde oder ein Gericht enthält neben der Verteidigungsanzeige regelmäßig den Antrag auf Gewährung von Akteneinsicht.1 Der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht eine schriftliche Sacheinlassung des Beschuldigten zu übermitteln oder eine eigene Verteidigererklärung zur Sache abzugeben,2 ohne zuvor die Akten eingesehen zu haben, wird als grober anwaltlicher Kunstfehler erachtet; zumindest bis zur Einsichtnahme der Akten hat man zum Tatvorwurf zu schweigen.3 Den Antrag, Akteneinsicht zu gewähren, wird der Verteidiger nicht jedes Mal von Grund auf neu formulieren. Er macht hiervon derart oft Gebrauch, sodass er zumindest für einen solchen Antrag einen vorformulierten Text bereithalten wird. Es brauchen nur noch die fallspezifischen Daten eingefügt zu werden und das Akteneinsichtsgesuch kann versendet werden. Das Akteneinsichtsrecht wurde dem Verteidiger bereits in der am 1. Oktober 1879 in Kraft getretenen Reichsstrafprozessordnung zuerkannt. Seither ist es in § 147 (Reichs-)Strafprozessordnung normiert. Prima facie könnte man durchaus vermuten, dass bei einem solange gesetzlich fest verankerten und praxisrelevanten Recht kaum noch rechtliche Meinungsverschiedenheiten zu verzeichnen sind. § 147 Abs. 1 StPO regelt schließlich „nur“ das Recht, zu Verteidigungszwecken die Akten einzusehen und Beweisstücke zu besichtigen. In einem Kriminalroman, Justizdrama oder beispielsweise einer Gerichtsserie werden oftmals verschiedenste Fragestellungen aus dem Strafverfahrensrecht aufgegriffen – die Akteneinsicht bestimmt das Narrativ hingegen regelmäßig nicht. Tatsächlich verhält es sich in der Rechtswissenschaft und der strafrechtlichen Praxis anders. Jahn kommentiert zu § 147 StPO in der aktuellen Auflage des

1 Siehe etwa die Musterschreiben bei Bosbach/Ackermann/Caba, Verteidigung im Ermittlungsverfahren, Rn. 148 ff. 2 Siehe hierzu Burhoff, Handbuch Ermittlungsverfahren, Rn. 2039 f.; Junker/Armatage/Armatage, Strafverteidigung, Rn. 129 ff. 3 Klemke/Elbs, Strafverteidigung, Rn. 443, 494; Junker/Armatage/Armatage, Strafverteidigung, Rn. 73; Hamm StV 1982, 490, 494 f.; siehe auch Müller/Schlothauer/Knauer/Schlothauer, MAH, § 3, Rn. 10; Barton, Strafverteidigung, § 9, Rn. 137; so grds. auch Burhoff, Handbuch Ermittlungsverfahren, Rn. 236 f., 2019; Bosbach/Ackermann/Caba, Verteidigung im Ermittlungsverfahren, Rn. 137 ff., 170 f.

2

Anlass und Gang der Untersuchung

Löwe-Rosenberg, eine Akte müsse vollständig und wahrheitsgetreu sein.4 Dieses Aktenvollständigkeitsgebot sei „Essentialia für das Akteneinsichtsrecht“,5 welches nach Jahn jedoch nicht nur zu den „wichtigsten, sondern leider auch in der Praxis am häufigsten ignorierten Prinzipien des Strafverfahrensrechts“6 zählt. Angesichts der (praktischen) Bedeutung des Akteneinsichtsrechts sowie des Umstandes, dass dieses Recht bereits seit Inkrafttreten der Reichsstrafprozessordnung normiert ist, müsste man eigentlich mit folgender Kommentierung rechnen: „§ 147 StPO gehört nicht nur zu den wichtigen (oder vielleicht auch: wichtigsten), sondern auch zu den dogmatisch und in der Praxis am wenigsten Probleme bereitenden Rechten.“ Natürlich bringt jede Norm gewisse Auslegungsfragen mit sich. Beschäftigt man sich näher mit § 147 StPO, wird man jedoch mit einer kaum zu überblickenden Kasuistik konfrontiert. Man erkennt schnell, dass das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers alles andere als eindeutig geregelt, geschweige denn wissenschaftlich geklärt ist. Gerichtlichen Entscheidungen lässt sich unschwer entnehmen, dass die Staatsanwaltschaft regelmäßig nicht alles von dem angesammelten Ermittlungsmaterial an die Verteidiger und an das Gericht preisgibt bzw. preiszugeben bereit ist; die Verteidiger rügen dementsprechend häufig, die Akten seien unvollständig zur Verfügung gestellt worden oder die Sichtung des Ermittlungsmaterials sei unter unbefriedigenden Bedingungen – wie etwa die behördlicherseits angeordnete Vorgabe, das Ermittlungsmaterial ausschließlich in den Diensträumen der Strafverfolgungsbehörden zu sichten – gewährt worden.7 Auch kommt es vor, dass das Gericht die Staatsanwaltschaft im Laufe des Hauptverfahrens zur Übersendung bislang nicht vorliegender Aktenauszüge auffordert.8 Unklar ist noch heute bereits eine sehr grundsätzliche Frage, nämlich diejenige, welche der im Laufe eines Ermittlungsverfahrens angesammelten Informationsträger die Staatsanwaltschaft dem Gericht mit der Anklageerhebung gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegen hat. Ebenfalls ist bislang nicht geklärt, welcher Umfang des angesammelten Ermittlungsmaterials dem Einsichtsrecht des Verteidigers unterliegt. Probleme bereitet insbesondere der in § 199 Abs. 2 S. 2 StPO und § 147 StPO normierte Begriff „Akten“. Strafverfolgungsbehörden ermitteln im Rahmen des Ermittlungsverfahrens in verschiedene Richtungen. Sie sollen schließlich den Sachverhalt erforschen, § 160 Abs. 1 StPO. Hierzu gehört es, etwaige sich auftuende Anhaltspunkte oder „Spuren“ zu überprüfen. Kommen die Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverlauf zu dem Ergebnis, dass bestimmte „Spuren“ für das Ermittlungsverfahren

4 5

LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 3 m. w. N. LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 3, mit Verweis auf Wohlers/Schlegel NStZ 2010, 486,

487. 6

LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 3 m. w. N. Vgl. etwa die dargestellten Verfahrensabläufe bei BGHSt 30, 131, 133 ff., BGH StV 2010, 228, 229 m. Anm. Stuckenberg, und KG StV 2018, 75, 75. 8 Siehe bspw. LG Hannover StV 2015, 683, 684. 7

Anlass und Gang der Untersuchung

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mangels Mehrgewinns für die Sachverhaltserforschung nicht weiter zu beachten sind bzw. ihnen nicht weiter nachgegangen werden muss, handelte es sich aus ihrer Sicht um „erfolglose“ Ermittlungshandlungen; derartige Vorgänge werden als sog. Spurenakten bezeichnet.9 Über die Einordnung dieser Vorgänge im Kontext der §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO wird seit vielen Jahrzehnten diskutiert. Auch eine grundlegende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1983, nach der es keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet, derartige Vorgänge grundsätzlich vom Aktenbegriff auszunehmen,10 konnte keine Ruhe in die Kontroverse um den Aktenbegriff einkehren lassen. Ebenso kann es vorkommen, dass die Staatsanwaltschaft im Laufe eines Ermittlungsverfahrens bestimmte Informationsträger erlangt, denen bereits von Beginn an aus Sicht der Staatsanwaltschaft keine Verfahrensrelevanz zukommt. In diesem Fall würde es sich nicht um klassische Spurenakten im vorbenannten Sinne, sondern schlicht um Informationsmaterial handeln, das sich im Laufe eines Ermittlungsverfahrens bei der Staatsanwaltschaft angesammelt hat, von ihr jedoch als bedeutungslos angesehen wird. Ob es sich bei den sog. Spurenakten um Aktenbestandteile handelt, ist mithin nicht die einzig ungeklärte Frage, sondern repräsentiert als das i. R. v. § 147 StPO wohl prominenteste Rechtsproblem lediglich die Frage, ob und inwieweit die Staatsanwaltschaft das Recht oder sogar die Pflicht hat, das angesammelte Ermittlungsmaterial nach – aus ihrer Sicht – verfahrensrelevanten und verfahrensirrelevanten Vorgängen zu sortieren. Innerhalb der Meinungsvielfalt zum strafprozessualen Aktenbegriff und dem Vorlage-/Einsichtsumfang geht es aber nicht nur darum, ob die Staatsanwaltschaft eine solche Aussonderungshandhabe von aus ihrer Sicht verfahrensirrelevanten Vorgängen hat. Selbst über die Frage, welches von dem als verfahrensrelevant erachteten Informationsmaterial dem Gericht vorzulegen und der Einsichtnahme des Verteidigers zugänglich zu machen ist, besteht keine Einigkeit. Wird ein Ermittlungsverfahren beispielsweise gegen mehrere Beschuldigte geführt, stellt sich die Frage, ob der Verteidiger des einen Beschuldigten auch die Vorgänge einsehen kann, die vordergründig den anderweitig verfolgten Beschuldigten betreffen. Hier ist fraglich, ob der gesamte Ermittlungsverlauf betreffend beide Beschuldigte in einer Akte abzulegen ist, in die beide Verteidiger jeweils einsehen können oder ob für jeden Beschuldigten gesondert eine Akte zu führen ist, sodass die Verteidiger lediglich die für ihren Mandanten angelegten Akten einsehen dürfen. Die Spurenakten-Problematik greift also die viel weitreichendere Frage auf: Wodurch wird der vorzulegende und einzusehende Aktenumfang grundsätzlich begrenzt? Wird er beispielsweise personell durch die Identität eines Beschuldigten begrenzt, was den wesentlichen Ansatz des sog. formellen Aktenbegriffs darstellt,11 ist dem Gericht bei der jeweiligen Anklageerhebung nur das-

9

LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 36 m. w. N. BVerfGE 63, 45, 59 ff. 11 Grundlegend BGHSt 30, 131, 138 f. 10

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Anlass und Gang der Untersuchung

jenige Ermittlungsmaterial vorzulegen, das sich konkret auf den jeweils Angeschuldigten bezieht. Das Einsichtsrecht des Verteidigers könnte sich demgemäß ebenfalls nur auf dasjenige Informationsmaterial beziehen, dass den jeweiligen Mandanten konkret betrifft. Demgegenüber wird im Kontext von § 147 StPO auch ein materieller Aktenbegriff vertreten, nach dem das gesamte Ermittlungsmaterial vorzulegen ist, welches im Rahmen der Ermittlungen einer prozessualen Tat angefallen ist.12 Denkbar ist auch, den Aktenbegriff noch enger oder noch weiter zu verstehen. Den Umfang der Aktenvorlagepflicht nach Maßgabe von § 199 Abs. 2 S. 2 StPO könnte man auch unabhängig vom Umfang des Einsichtsrechts gem. § 147 StPO beurteilen; die Aktenbegriffe in den beiden Vorschriften könnten mithin gespalten/divergent auszulegen sein. Selbst wenn man sich für einen der vertretenen Aktenbegriffe, wie etwa den formellen oder den materiellen Ansatz, entscheidet, bleibt die Lösung vieler Fallgestaltungen dennoch schwierig. Problematisch scheint bei der Zugrundelegung des formellen Aktenbegriffs insbesondere die Abgrenzung, wann sich ein Informationsträger auf einen Beschuldigten nicht mehr i. S. d. formellen Aktenbegriffs bezieht. Ein Zeuge entlastet beispielsweise lediglich einen von zwei Beschuldigten. Der Zeuge gibt dabei an, zu dem weiteren Beschuldigten tatsächlich keine Angaben machen zu können. In der Folge wird das Verfahren gegen den von der Zeugenaussage entlasteten Beschuldigten gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Gegen den anderen Beschuldigten wird Anklage erhoben und das Hauptverfahren eröffnet. Inwieweit betrifft die protokollierte Zeugenaussage den Angeklagten? Man könnte auf dem Boden des formellen Aktenbegriffs der Auffassung sein, die Zeugenaussage betreffe den Angeklagten nicht oder nicht konkret. Ebenso wird man einen ausreichenden Zusammenhang zu dem Angeklagten bzw. seinem Strafverfahren aber auch annehmen können. Wie wäre es, wenn der Angeklagte belegen könnte, dass die entlastenden Angaben des Zeugen bewusst wahrheitswidrig gemacht worden sind, um den Verdacht gegen den vormals Mitbeschuldigten abzuschwächen oder gegen den Angeklagten zu erhärten? Es sind viele weitere Fallgestaltungen denkbar. Beispielsweise könnte ein Ermittlungsverfahren gegen einen von drei Beschuldigten gem. § 154 Abs. 1 StPO eingestellt worden sein. Gegen die weiteren Beschuldigten wird das Hauptverfahren eröffnet. Gibt es bei der Zugrundelegung des formellen Aktenbegriffs Konstellationen, in denen die Verteidiger der beiden Angeklagten ein Akteneinsichtsrecht bezüglich desjenigen Strafverfahrens des ehemals Mitbeschuldigten haben, welches Anlass für die Verfahrenseinstellung war? Auch kann es vorkommen, dass bei der Erforschung einer prozessualen Tat gegen mehrere Beschuldigte ermittelt wird, die Verfahren im weiteren Verlauf jedoch aus verschiedensten Gründen getrennt werden. Welches Ermittlungsmaterial ist auf dem Boden des materiellen Aktenbegriffs in den jeweiligen Strafverfahren vorzulegen und inwieweit ist den jeweiligen Verteidigern Einsicht zu

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SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 27 m. w. N.

Anlass und Gang der Untersuchung

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gewähren? In diesen und vielen anderen Fällen lässt sich eine eindeutige Antwort auch bei der Hinzuziehung von Kommentarliteratur nicht finden.13 Unterschiedliche Antworten erhält man auch, wenn man Juristen aus der Praxis fragt, ob konkrete, behördlicherseits angelegte Vorgänge als einzusehende Aktenbestandteile anzusehen sind. Nach der Auffassung mancher Praktiker stellen bestimmte Vorgänge Akten dar, in die Einsicht genommen werden kann. Andere entgegnen, es handelt sich um verfahrensfremde Akten; man kann diese Akten jedoch beiziehen lassen, jedenfalls, wenn man eine überzeugende Begründung liefert. Wieder andere lehnen eine solche Möglichkeit grundsätzlich ab. Was von dem Ermittlungsmaterial verfahrensrelevant ist, entscheidet zunächst schließlich die Staatsanwaltschaft; das Gericht kann im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht lediglich im Einzelfall Akten beiziehen. Nicht selten macht sich eine gewisse Unsicherheit bemerkbar, spätestens, wenn man nach einer rechtlichen Begründung für die jeweils vertretene Rechtsauffassung fragt. Die Unklarheit in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis basiert auf der in weiten Teilen unklar gefassten Vorschrift des § 147 StPO. Sie besteht (in der geltenden Fassung) aus sechs Absätzen. § 147 Abs. 1 StPO bezieht sich hinsichtlich der einzusehenden Akten im Wortlaut auf diejenigen, die dem Gericht vorliegen oder diesem vorzulegen wären. Amtlich verwahrte Beweisstücke können nach § 147 Abs. 1 StPO besichtigt werden. Aus § 147 Abs. 2 S. 1 StPO folgt, dass das Einsichtsrecht während des Ermittlungsverfahrens eingeschränkt besteht; nach § 147 Abs. 2 S. 2 StPO sind dem Verteidiger bei vollzogener, oder im Falle der vorläufigen Festnahme jedenfalls beantragter, Untersuchungshaft die wesentlichen Informationen zugänglich zu machen. Absatz 3 benennt konkretes Informationsmaterial, dessen Einsicht dem Verteidiger in keiner Verfahrenslage versagt werden kann. Der vierte Absatz regelt das Akteneinsichts- und Beweisstückbesichtigungsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten. § 147 Abs. 5 StPO legt die Zuständigkeit über die Entscheidung von Akteneinsichtsgesuchen fest und eröffnet die Möglichkeit, unter den dort genannten Voraussetzungen gerichtliche Entscheidung zu beantragen. Zuletzt normiert der sechste Absatz, dass eine Anordnung über die Versagung von Akteneinsicht spätestens mit Ermittlungsabschluss aufgehoben wird und dem Betroffenen Mitteilung zu machen ist, sobald das Einsichtsrecht uneingeschränkt besteht. Der dritte, fünfte und sechste Absatz ist jeweils relativ klar formuliert. Ähnliches gilt für § 147 Abs. 2 S. 1 StPO. Anders verhält es sich mit den übrigen Regelungen. Der erste Absatz lässt nicht eindeutig erkennen, was die einzusehenden Akten darstellen. Auch bleibt unklar, was unter den dort normierten Begriff des Beweisstücks im Einzelfall zu subsumieren ist. Entsprechend verhält es sich mit den Rechten des verteidigerlosen Beschuldigten aus § 147 Abs. 4 StPO. Um die Frage zu beantworten, welche Akten von § 147 Abs. 1, 4 StPO überhaupt umfasst sind, bedarf es jedenfalls nach dem Wortlaut der Norm der Ergründung,

13

Vgl. zu diesem Themenkomplex etwa LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 58 ff. m. w. N.

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was zu den Akten zählt, die dem Gericht vorliegen oder diesem vorzulegen wären. § 147 Abs. 2 S. 1 StPO ist zwar relativ eindeutig gefasst; was soll aber zu den „wesentlichen Informationen“ i. S. v. § 147 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 StPO zählen? Die eindeutiger formulierten Absätze sorgen für weniger, die übrigen für mehr Diskussion in Rechtswissenschaft und Rechtsprechung. In mehreren Monographien hat man sich mit dem Aktenbegriff und dem Einsichtsrecht in die Akten beschäftigt. Der Relevanz des Akteneinsichtsrechts geschuldet gibt es zudem eine Vielzahl an wissenschaftlichen Beiträgen, die sich mit diesem Themenkomplex auseinandergesetzt haben bzw. bis heute auseinandersetzen. Die wesentlichen Rechtsfragen konnten in Rechtswissenschaft und Rechtsprechung hierdurch jedoch nicht hinreichend geklärt werden. Das Problem besteht nämlich offenbar darin, dass die verschiedenen Meinungslager ihre Standpunkte oftmals mit der Reichweite des rechtlichen Gehörs und des Fairness- bzw. Waffengleichheitsgebotes begründen, über die jedoch in ähnlicher Weise Uneinigkeit besteht – jedenfalls im Zusammenhang mit hieraus abgeleiteten Informationsrechten. In der Diskussion um den Aktenbegriff und die Reichweite des Einsichtsrechts werden von den verschiedenen Meinungslagern grundlegende Rechtsfragen aufgegriffen, die in spezielle Fragestellungen i. R. v. § 147 StPO münden. Oftmals geht es um den Gesichtspunkt der Verfahrensfairness bzw. die Pflicht zur Herstellung von „Waffengleichheit“. Was „Waffengleichheit“ zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft grundsätzlich meint und wann speziell das Akteneinsichtsrecht als in diesem Sinne „waffengleich“ ausgestaltet anzusehen ist, ist jedoch nicht minder fraglich. Ein weites Aktenbegriffsverständnis wird regelmäßig mit entsprechend ausgeprägten verfassungsund konventionsrechtlichen Gewährleistungen begründet; die Zugrundelegung eines engeren Ansatzes ist umgekehrt regelmäßig Folge eines entsprechend restriktiven Verständnisses vom Verfassungs- und Konventionsrecht. Es bedarf deshalb der Klärung, zu welchen Rechtsfolgen die immer wieder im Kontext von § 147 StPO beschworenen Gewährleistungen aus der Verfassung und der EMRK14 führen. Der Diskussionsstand wirft weitere grundlegende Fragen auf. Zu klären ist beispielsweise, ob überhaupt ein anzuerkennendes Bedürfnis der Verteidigung besteht, sämtliche Vorgänge, die mit einem Strafverfahren in irgendeiner Hinsicht inhaltlich zusammenhängen bzw. verbunden sind, vorgelegt zu bekommen bzw. zu sichten. Diese Frage zu klären, erfordert, die Funktion von § 147 StPO zu bestimmen. Da § 147 StPO Verteidigungszwecken dient, geht es bei der Suche nach dem (geltenden) Aktenbegriff auch darum, welche Stellung dem Verteidiger im Strafverfahren generell zukommt.

14 Siehe etwa Jörke, Akteneinsicht, S. 33 ff., 47 ff.; M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 58; Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 52, 55; Gröger, Akteneinsichtsrecht, S. 65 ff.; Wohlers/Schlegel NStZ 2010, 486, 491; Fetzer StV 1991, 142, 142.

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Auch wirft die Suche nach dem (geltenden) Aktenbegriff die Frage auf, ob das Gericht sich per se mit dem gesamten Ermittlungsmaterial der Staatsanwaltschaft auseinanderzusetzen hat. Schließlich gilt die Staatsanwaltschaft als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“.15 Zudem entscheidet sie darüber, welche Taten im Falle der Verfahrenseröffnung der gerichtlichen Aufklärung überhaupt unterliegen, §§ 155 Abs. 1, 264 Abs. 1 StPO. Dies hat den BGH in einer grundlegenden Entscheidung zu der Annahme veranlasst, dass es der Staatsanwaltschaft obliegt, welches Ermittlungsmaterial sie dem Gericht – und unter Hinweis auf den Wortlaut von § 147 Abs. 1 StPO auch der Verteidigung – zur Verfügung stellt.16 „So wie es von Gesetzes wegen ,Sache des Klägers ist, für jeden Prozeß den Prozeßgegenstand zu bestimmen, indem er ihn in der Klage namhaft macht‘ […], so ist es seine damit im Zusammenhang stehende Aufgabe, die Frage zu prüfen und eigenverantwortlich zu entscheiden, welche Akten er neben denjenigen, die auf Grund des Verfahrens und seines Prozeßgegenstands entstanden sind, als Beiakten vorzulegen hat.“17 Die Staatsanwaltschaft ist Anklagebehörde, § 152 Abs. 1 StPO. Der erste Strafsenat hat die Staatsanwaltschaft in der vorerwähnten Entscheidung aus dem Jahr 1981 jedoch mehr oder minder mit einem Kläger im Zivilprozess gleichgesetzt. Der Begründung könnte man entgegenhalten, dass sie der Staatsanwaltschaft eine Parteienrolle beimisst, die nicht dem geltenden Strafprozessrecht entspricht. Verteidiger und Staatsanwaltschaft stehen sich nach dem deutschen Verfahrensmodell nicht als Parteien entsprechend dem anglo-amerikanischen Rechtssystem gegenüber. Möchte man ein weiter reichendes Akteneinsichtsrecht auf den Aspekt des Waffengleichheitsgebots stützen,18 könnte man ebenfalls einwenden, dass der Staatsanwaltschaft hierdurch eine Parteienrolle zugeschrieben wird, die nicht dem geltenden Verfahrensrecht entspricht.19 Ohne tiefgründige Analyse der Stellung der Staatsanwaltschaft und der hiermit einhergehenden Folgen, scheint die Stellung der Staatsanwaltschaft im Kontext von § 147 StPO als ein argumentatives „Versatzstück“. Aber auch der Umfang der Kognitionspflicht scheint näher in den Blick genommen werden zu müssen. Diese vollzieht sich schließlich unabhängig von der Staatsanwaltschaft, § 155 Abs. 2 StPO. Andererseits wird die gerichtliche Untersuchungspflicht auf den in der Anklage bezeichneten Geschehensablauf und den Beschuldigten begrenzt, § 155 Abs. 1 StPO. Auch § 155 StPO lässt sich demnach sowohl für einen engeren als auch für einen weiteren Aktenbegriff anführen, je nachdem, auf welchen der Absätze man die Betonung legt. Ähnlich verhält es sich mit dem im Zusammenhang von § 147 StPO immer wieder aufgegriffenen Grundsatz der Aktenvollständigkeit. Er scheint weitge15

Siehe zu diesem weit verbreiteten Begriff nur LR-StPO/Mavany, Bd. 5/1, § 152, Rn. 2. BGHSt 30, 131, 138 f. 17 BGHSt 30, 131, 139. 18 Siehe etwa Wohlers/Schlegel NStZ 2010, 486, 487, 489. 19 Vgl. zu solchen Gedankenspielen etwa Gaede HRRS 2004, 44, 51. 16

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hend anerkannt zu sein.20 Ob das Prädikat einer Aktenvollständigkeit voraussetzt, dass die vorzulegenden/einzusehenden Akten buchstäblich vollständig etwa das betreffende Ermittlungsverfahren wiederspiegeln oder hieraus – die Existenz eines solches Rechtsgrundsatzes unterstellt – lediglich abzuleiten ist, dass die vorzulegenden/einzusehenden Akten diejenigen Ermittlungsvorgänge vollständig darstellen, die die Staatsanwaltschaft als für das Aktenstudium erforderlich erachtet, kann auf den ersten Blick ebenfalls nicht beantwortet werden.21 Es scheint wiederum davon abzuhängen, welche Verfügungsmacht man der Staatsanwaltschaft hinsichtlich des Ermittlungsstoffes einräumen möchte. All dies macht es erforderlich, auch die Stellung der Staatsanwaltschaft zu untersuchen und anschließend herauszuarbeiten, welche Folgen dies für den Umfang der Aktenvorlagepflicht gem. § 199 Abs. 2 S. 2 und das Akteneinsichtsrecht gem. § 147 StPO hat. Im Kern läuft die Diskussion um den Aktenbegriff oder die Reichweite des Einsichtsrechts oftmals also auf die grundlegende Frage hinaus, ob bzw. inwieweit die Staatsanwaltschaft das angesammelte Ermittlungsmaterial zur Vorlage an das Gericht bzw. der Gewährung von Einsicht an den Verteidiger selektieren darf oder sogar muss. Neben der Frage eines solchen Aussonderungsrechts ist klärungsbedürftig, inwieweit die Bedingungen, unter denen die Verteidiger das Informationsmaterial studieren, denjenigen der Staatsanwaltschaft entsprechen müssen. Letzteres wird insbesondere bei digitalen Informationsträgern relevant. Die Begeisterung für das Thema der vorliegenden Arbeit wurde während eines außeruniversitären Praktikums geweckt. Ein Strafverteidiger antwortete mir auf meine Frage, ob Telekommunikationsüberwachungsaufzeichnungen (TKÜAufzeichnungen) einzusehende Akten seien, sinngemäß: „Meiner Meinung nach eindeutig ,ja‘.“ Ich berichtete ihm von einer Entscheidung, nach der der Verteidiger die TKÜ-Aufzeichnungen lediglich in den Diensträumen der Strafverfolgungsbehörden anhören kann, und fragte deshalb weiter, welche Akten man in die Kanzlei übersendet bekommt und welche man lediglich in den Diensträumen durchsehen kann. Er antwortete hierauf sinngemäß: „Einem Verteidiger müssen die Akten generell übersandt werden, zumindest als Kopie. Das gilt beispielsweise auch für TKÜ-Aufzeichnungen. Ob einem Verteidiger dieses Recht zugestanden wird, hängt in der Praxis jedoch davon ab, in welchem Bundesland man Akteneinsicht beantragt. Die Einsicht in TKÜ-Aufzeichnungen wird bundesweit unterschiedlich gehandhabt.“ Auf weitere Nachfrage von mir, wie das sein kann, dass eine solch grundsätzliche und zugleich praxisrelevante Rechtsfrage in der Praxis uneinheitlich gelöst wird, entgegnete er mir sinngemäß: „Für die Einsicht in Akten müssen Sie in der Praxis manchmal viel Aufwand betreiben. Dabei gibt 20 Siehe bspw. BGH NStZ 2014, 277, 281; SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 18; GrafStPO/Wessing, § 147, Rn. 17. 21 Siehe einerseits etwa MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 12 f.; andererseits bspw. BeckOK-StPO/Wessing, § 147, Rn. 17.

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es genügend Fälle, in denen aus erst mit viel Aufwand erlangten Aktenteilen erheblich entlastendes Ermittlungsmaterial zu Tage getreten ist. In der Praxis läuft vieles anders, als in der Uni.“ Seine Auffassung ähnelt im Ergebnis der eingangs dargestellten Behauptung von Jahn. Dass Juristen unterschiedliche Rechtsauffassungen haben, ist nichts Neues. Man gewinnt jedoch den Eindruck, Staatsanwaltschaften und Verteidiger würden häufig darum „ringen“, welcher Umfang des Informationsmaterials unter welchen Bedingungen zur Verfügung gestellt wird. Der Verteidiger beantragt während des Ermittlungsverfahrens bei der Staatsanwaltschaft Akteneinsicht. Diese wird entweder zum Teil versagt oder lediglich unter bestimmten Rahmenbedingungen gewährt. Der Verteidiger beantragt im Ermittlungsverfahren sodann gerichtliche Entscheidung oder beantragt nach Verfahrenseröffnung beim Gericht erneut Akteneinsicht, wodurch seinem Anliegen stattgegeben wird oder eben nicht. Gegen die gerichtliche Entscheidung legt – je nachdem – entweder die Staatsanwaltschaft oder der Verteidiger Beschwerde ein. Sofern eine solche für zulässig erachtet wird, bestätigt das Beschwerdegericht sodann die vorausgegangene Entscheidung oder eben nicht. Dieser Verfahrensverlauf kommt in der Praxis häufiger vor, als man vielleicht denken mag, insbesondere, sobald es um TKÜ-Aufzeichnungen geht.22 Die gerichtlichen Entscheidungen divergieren dabei mehr als in vielen anderen Bereichen des Strafprozessrechts, was es vergessen lassen könnte bzw. dürfte, wie lange die Vorschrift § 147 StPO existiert, wie praxisrelevant sie ist und wieviel Bedeutung ihr zukommt. Dabei hat die praktische Relevanz der Frage, welche Akten auf welche Art und Weise zugänglich zu machen sind, mit der zunehmenden Digitalisierung weiter zugenommen. Zu heutiger Zeit fällt im Laufe eines Ermittlungsverfahrens im Durchschnitt nicht nur deutlich mehr Informationsmaterial als zu früheren Zeiten an. Auch sind die Arten der Informationsträger vielfältiger geworden. Mittlerweile ist das Erlangen von digital gespeicherten Informationen für Strafverfolgungsbehörden bei weitem keine Ausnahme mehr. In zahlreichen Ermittlungsverfahren werden Maßnahmen zumindest nach § 100a Abs. 1 S. 1 StPO angeordnet und durchgeführt, die eine Fülle an Kommunikationsdaten aufkommen lassen.23 Dies zeigt bereits die Sammlung an Rechtsprechung, in denen es um das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers in TKÜ-Aufzeichnungen geht. Inwieweit und unter welchen Voraussetzungen der Verteidiger sich TKÜ-Aufzeichnungen im Wege der Akteneinsicht anhören kann, wird in der Rechtsprechung

22 Das OLG Hamburg NStZ 2016, 695, 696, gab der Beschwerde der Staatsanwaltschaft bspw. statt; das OLG Zweibrücken StV 2017, 437, 437 f. m. Anm. Wölky, hat die Beschwerde der Staatsanwaltschaft als unzulässig verworfen und sah sie im Übrigen auch als unbegründet an; die Beschwerde des Verteidigers als unzulässig verwerfend: OLG Stuttgart NStZ-RR 2013, 217; der Beschwerde der Verteidigerin stattgebend: OLG Frankfurt StV 2001, 611, 611 f.; siehe im Zshg. mit Videoaufzeichnungen auch LG Augsburg StraFo 2020, 150, 150 ff. 23 Eingehend Gercke StraFo 2014, 94, 96 f.

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völlig unterschiedlich beurteilt.24 In der StPO scheint kaum eine Rechtsfrage so umstritten zu sein, wie die Ausgestaltung des Akteneinsichtsrechts im Fall von TKÜ-Aufzeichnungen. Die Brisanz der Frage, wie digitale Informationsträger i. R. v. § 147 Abs. 1 StPO einzuordnen sind, zeigt sich auch in aktuellen verfassungsgerichtlichen Entscheidungen. Noch am 27.04.2018 gab der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes einer Verfassungsbeschwerde im Kontext von § 147 StPO aufgrund einer angenommenen unzureichenden Informationsgrundlage des Verteidigers statt.25 Am 12.11.2020 hob das Bundesverfassungsgericht eine amts- und oberlandesgerichtliche Entscheidung auf, weil es das Recht des Verteidigers auf Informationszugang als nicht ausreichend berücksichtigt angesehen hat.26 Beide Entscheidungen betrafen die Einsicht in digitales Informationsmaterial.27 Der Wandel der Zeit hat auch Eingang in die Vorschriften der StPO gefunden. Mit Wirkung zum 1. Januar 2018 ist die elektronische Akte im Strafverfahren eingeführt worden, die neben einer Reform von § 147 StPO zu der Einführung der §§ 32 ff. StPO n. F. geführt hat. Unter anderem ist seither ein eigenes Akteneinsichts- und Beweisstückbesichtigungsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten normiert. Die Gelegenheit, im Gesetz selbst oder zumindest in den Gesetzesmaterialien Klarheit betreffend die Reichweite des Aktenbegriffs und des Einsichtsrechts zu bringen, hat der Gesetzgeber hingegen ungenutzt gelassen. Eine Definition des strafprozessualen Aktenbegriffs fehlt nach wie vor. § 32f StPO normiert zwar die Form der Akteneinsichtsgewährung im Allgemeinen relativ eindeutig. Die Frage der Reichweite des Akteneinsichtsrechts hängt jedoch zunächst einmal davon ab, was alles zu den Akten zählt. § 32f StPO normiert beispielsweise nicht, wie mit digitalen Informationsträgern umzugehen ist, denen ein Beweisgehalt entnommen werden soll. Es fragt sich, ob es sich hierbei um Akten handelt, in die nach Maßgabe von §§ 147 Abs. 1, 32f StPO Einsicht genommen werden kann oder ob hiermit die in § 147 Abs. 1, 4 StPO angesprochenen Beweisstücke gemeint sind. Fraglich ist weiter, wie sich die Besichtigung von Beweisstücken vollzieht und wie Kopien von digitalen Informationsträgern zu behandeln sind. In diesem Fragenkomplex verfängt die Diskussion über das „Ob“ und „Wie“ des Akteneinsichtsrechts in TKÜ-Aufzeichnungen. Die große Bedeutung von § 147 StPO für die Verteidigung, die noch heute bestehende immense Uneinigkeit über die Reichweite dieses Rechts und die Einführung der elektronischen Akte im Strafverfahren durch die jüngste Reform haben mich dazu veranlasst, mich mit dem Akteneinsichtsrecht im Allgemeinen und speziell am Beispiel der TKÜ-Aufzeichnungen vertieft auseinanderzusetzen. 24 Vgl. statt vieler OLG Celle NStZ-RR 2017, 48, 49 f. m. w. N.; OLG Saarbrücken NStZ 2019, 362, 362 ff. m. w. N. 25 VerfGH Saarland NZV 2018, 275, 278 ff. 26 BVerfG NZV 2021, 41, 44 ff. m. Anm. Krenberger. 27 VerfGH Saarland NZV 2018, 275, 279; BVerfG NZV 2021, 41, 41 f., 46 f. m. Anm. Krenberger.

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Ziel der Untersuchung ist es, sich mit den soeben angerissenen, in der Diskussion um § 147 StPO vorgebrachten Rechtsauffassungen vertieft auseinanderzusetzen. Ergebnis der Darlegungen soll ein methodengerecht hergeleiteter Aktenbegriff sein. Mit der vorliegenden Arbeit soll daher der Versuch unternommen werden, dem viele Jahrzehnte andauernden Streit um die Frage, was zu den vorzulegenden/einzusehenden Akten zählt und auf welche Art und Weise die verschiedensten Informationsträger vom Verteidiger eingesehen werden können, ein Ende zu bereiten. Hierzu wird zunächst die geschichtliche Entwicklung des Akteneinsichtsrechts untersucht und der verfassungs- und konventionsrechtliche Rahmen von § 147 StPO herausgearbeitet. Im Anschluss sollen der Forschungsstand und die Rechtsprechung um den Aktenbegriff in §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO dargestellt werden. Hierauf aufbauend wird § 147 StPO bzw. der hierin normierte Aktenbegriff nach den anerkannten Auslegungstopoi – also anhand seines Wortlautes, der Systematik, Historie und Teleologie – untersucht. Zur Ermittlung des Umfanges des Akteneinsichtsrechts ist neben einer gesetzeshistorischen Betrachtung eine prozessrechtssystematische Analyse erforderlich. Nach mittlerweile herrschender Auffassung in der Methodenlehre28 und der Rechtsprechung29 wird der Sinngehalt einer Norm schließlich subjektiv (historisch) unter Berücksichtigung der jeweiligen Gesetzesmaterialien und objektiv (teleologisch/systematisch) anhand der im Gesetz zum Ausdruck kommenden Regelungszwecke, also gewissermaßen subjektiv und objektiv im vorbenannten Sinne, ermittelt.30 Insofern ist entstehungszeitlich nach dem Willen des historischen Gesetzgebers zu fragen und sodann geltungszeitlich zu überprüfen, inwieweit die gesetzgeberische Intention bei objektiv-teleologischer bzw. systematischer Betrachtung mit den heutigen Gegebenheiten vereinbar ist.31 Im Anschluss an die einfachgesetzliche Auslegung soll eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem für die hiesige Untersuchung relevanten Verfassungs- und Konventionsrecht stattfinden. 28 Siehe Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 240 m. w. N.; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 778 ff. m. w. N.; Wank, Juristische Methodenlehre, S. 283 ff., 295 f. m. w. N.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 150 f., 153 f.; Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 154 ff. m. w. N. 29 Siehe BVerfGE 79, 127, 143 f.; 88, 203, 300 f.; 108, 1, 23 f., 26, 28 f., 31; BVerfG NStZ 2014, 592, 593 f. m. Anm. Hunsmann; BGH NJW 2009, 2674, 2675 f. 30 Der objektive und subjektive Ansatz innerhalb der Diskussion um das Auslegungsziel und die hierzu heranziehbaren Auslegungsmittel bzw. -kriterien sind nach heute h. M. zu kombinieren bzw. greifen ineinander über, siehe hierzu Walz ZJS 2010, 482, 484 ff. m. w. N.; Kischel, Die Begründung, S. 269 f., 273 f., 283 ff. m. w. N.; eingehend zu den subjektiven und objektiven Positionen innerhalb des Methodenstreits um Auslegungsziel und Auslegungsmittel bzw. zu den entstehungszeitlichen und geltungszeitlichen Auslegungstheorien: Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 135 ff. 31 Eingehend Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 154 ff., 162 f. m. w. N.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 627 ff. m. w. N.; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 787 ff. m. w. N.

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Anlass und Gang der Untersuchung

Im Mittelpunkt steht die Untersuchung der in § 147 Abs. 1, 4 StPO normierten Begriffe „Akten“ und „Beweisstücke“. Am besonderen Beispiel der TKÜ-Aufzeichnungen soll hierbei auch der Frage nachgegangen werden, welche Konsequenz die Untersuchung dieser Begriffe für die Einordnung digitaler Informationsträger im Kontext von § 147 StPO hat. Anschließend wird das Einsichtsrecht in Akten und die Besichtigung von Beweisstücken näher untersucht, im Rahmen dessen ebenfalls auf langjährige und jüngere Streitfragen vertieft eingegangen werden soll. Im Fokus steht dabei das Einsichtsrecht während des Ermittlungsverfahrens, die Berücksichtigungsfähigkeit besonderer staatlicher Geheimhaltungsgründe und wiederum die Frage, auf welche Art und Weise die TKÜ-Aufzeichnungen von Verteidigern angehört werden können. Insbesondere im Zusammenhang mit TKÜ-Aufzeichnungen wird kontrovers diskutiert, ob oder inwieweit das Persönlichkeitsrecht Dritter Einfluss auf das Akteneinsichts-/Beweisstückbesichtigungsrecht haben kann. Auch diese Rechtsfrage soll umfassend erörtert werden. Die vorliegende Arbeit soll sich vordergründig mit dem Akteneinsichtsrecht des Verteidigers gem. §§ 147 Abs. 1, 32f StPO beschäftigen. Sofern sich Besonderheiten im Vergleich zu den Rechten des verteidigerlosen Beschuldigten gem. § 147 Abs. 4 StPO auftun, wird hierauf jeweils gesondert eingegangen.

Erstes Kapitel

Genese des Akteneinsichtsrechts Um das Akteneinsichtsrecht in seiner heutigen Form und Ausprägung bestmöglich begreifen zu können, ist eine Untersuchung der historischen Ursprünge des Akteneinsichtsrechts geboten. Zunächst sollen daher die Ursprünge des Akteneinsichtsrechts in Strafakten herausgearbeitet und sodann soll dargestellt werden, wie sich dieses historisch (weiter-)entwickelt hat.1 Insbesondere wird analysiert, mit welchen Argumenten schon vor vielen Jahrhunderten das Einsichtsrecht eingeführt, abgeschafft, geschwächt oder gestärkt wurde. Hierbei könnten mehrere Parallelen zu gegenwärtigen Rechtsfragen und Argumentationsmustern im Kontext des Aktenbegriffs und der Reichweite des Einsichtsrechts deutlich werden. Im Anschluss wird die Genese von § 147 StPO dargestellt. Mit der Einführung der elektronischen Akte im Strafverfahren sind weitere Vorschriften in die StPO implementiert worden, die § 147 StPO näher ausfüllen. Diese Vorschriften werden dabei gleichsam analysiert.

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Umfassend aufgearbeitet bei Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, passim.

A. Die Einsicht in die Papierakte I. Entstehung Das Akteneinsichtsrecht ist Ausfluss des Verteidigungsrechts; insofern wird die Emergenz des Akteneinsichtsrechts frühestens in der Zeit zu verorten sein, als ein Recht auf Strafverteidigung entstand.1 Aber das römische Recht, nach dem dem Angeklagten relativ weitreichende Verteidigungsmittel zugestanden wurden,2 regelte das Einsichtsrecht nicht.3 Der germanische Strafprozess sah ein Einsichtsrecht ebenfalls nicht vor.4 Zu beiden Zeiten gab es (von dem sog. Appellationsverfahren abgesehen)5 schlicht kein Bedürfnis hierfür: Im römischen sowie im germanischen Strafprozess nahm der Angeklagte stets an gerichtlichen Handlungen teil und zwar unmittelbar.6 Das römische Recht kannte ein Vorverfahren nicht;7 die Anklage wurde durch eine private Person eingeleitet.8 Auch im germanischen Rechtsgang wurden zumindest alle wesentlichen Fragen vor dem berufenen Gericht und demnach in Anwesenheit des Angeklagten geklärt.9

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Vgl. Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 1. Kunkel/Schermaier, Römische Rechtsgeschichte, S. 86: Der Angeklagte durfte sich zeitweise von bis zu sechs Verteidigern vertreten lassen und der Verteidigung wurde das Eineinhalbfache der Redezeit, die der Anklage zur Verfügung stand, eingeräumt. 3 Eingehend Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 2 m. w. N. 4 Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 3 f. m. w. N. 5 Dieses Verfahren zeichnete sich dadurch aus, dass es weitgehend aufgezeichnet wurde. Hierzu zählte etwa die Anklageschrift, die Geschworenenliste oder Zeugenaussagen. Von dem hierbei entstandenen Informationsmaterial wurde nach damaligen römischen Strafverfahrensrecht jedoch eine Abschrift erteilt; eingehend hierzu Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 3 m. w. N.; zur magistratischen Protokollierung: Binding/Mommsen, Handbuch 1, 3. Buch, Abschnitt 1, S. 512 ff. 6 Eingehend Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 2 7 Roßhirt, Grundsätze, S. 284; ebenso Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 2 m. w. N. 8 Zum Beginn des „privaten Rechts“ nach Maßgabe der Zwölftafeln um die Jahre 451–449 v. Chr. eingehend: Kunkel/Schermaier, Römische Rechtsgeschichte, S. 31–35, 41–44; zur Entwicklung des öffentlichen Strafverfahrens: Kunkel/Schermaier, Römische Rechtsgeschichte, S. 81–94. 9 Schmidt, Geschichte, S. 99; Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 3. 2

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A. Die Einsicht in die Papierakte

Erst zu einer Zeit, als gegen den Beschuldigten in seiner Abwesenheit ermittelt oder geurteilt wurde, kam ein Bedürfnis auf ein Einsichtsrecht auf. Soweit ersichtlich ging eine solche prozessuale Veränderung erstmals mit der Einführung des Inquisitionsverfahrens einher.10 Das Strafverfahren sollte weg von dem „Privat-Anklage“-Modell, bei dem das Strafverfahren ursprünglich durch das Bestreben eines nicht-amtlichen „Anklägers“ eingeleitet wurde,11 hin zu einer in Gänze hoheitlichen Strafverfolgung umkonstruiert werden.12 Der Graf Lothar von Segni, der sich Innozenz III. nannte,13 wollte das Inquisitionsverfahren einführen.14 Wurde jemand der Begehung einer Straftat bezichtigt, sollte ein Richter kraft seines Amtes die Wahrheit ermitteln.15 Es sollten möglichst alle Verfehlungen der Geistlichen sanktioniert werden. Der Grund für die Umstrukturierung des Strafverfahrens in einen Inquisitionsprozess war der Umstand, dass private „Ankläger“ nur in wenigen Fällen gegen Geistliche auftraten; Papst Innozenz III. wollte die Missstände in der Kirche16 jedoch weitestgehend beseitigen.17 Daran hinderte 10 Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 4, 5 (dort Fn. 1), 9–12; so auch Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 15; zum „inquisitorischen Proceß“ vgl. Biener, Inquisitions-Process, S. 9; nach Zachariä, Reform, S. 157, war der Grund für das Durchbrechen des strengen Unmittelbarkeitsgrundsatzes die Kombination des akkusatorischen Prinzips mit dem inquisitorischen Verfahren. 11 Vgl. zum Anklagemodell durch eine Privatperson eingehend: Schmidt, Geschichte, S. 76 ff.; siehe zu den Anfängen dieses Modells im germanischen Rechtsgang: ders. a. a. O. S. 37 ff. 12 Vgl. eingehend Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 9 f.; Elemente einer amtlichen Verbrechensverfolgung zeichneten sich jedoch schon vormals ab, vgl. hierzu Sellert/ Rüping, Geschichte, S. 108 ff.; bspw. wurde auch schon zuvor die gerichtliche Untersuchung vereinzelt durch einen öffentlichen/amtlichen Ankläger, z. T. „Stadtkläger“ genannt, in Gang gesetzt, vgl. hierzu Schmidt, Geschichte, S. 84. 13 Zum Vorgang der Namensänderung eines gewählten Papstes: Zoepffel, Papstwahlen, S. 166 f. 14 Innozenz III. führte dieses Verfahrensmodell wohl erstmals ein, vgl. hierzu Biener, Inquisitions-Process, S. 39: „Wie genau Innocenz den ganzen Gegenstand durchdacht hatte, beweist der Umstand, daß er zuerst in einigen Stellen seiner Decretalen die verschiedenen Arten des in der Kirche üblichen Criminalverfahrens, wie er sie theils vorfand, theils selbst erschuf, scharf bestimmt hat.“; ders. a. a. O. S. 40: „[…] die inquisitio ist an die Stelle der alten Procedur auf infamia getreten […]. […] Dagegen hat die Inquisition mehr Schwierigkeiten gemacht, und wir finden daher in den Decretalen […] für dies neue Institut immer mehr Rechtfertigungen und Gründe zu liefern […], um den Schlußstein zu dem neuen Gebäude zuzufügen.“; ähnlich Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 9 m. w. N.; zu den ersten Ansätzen von Inquisition: Biener a. a. O. S. 45 f. 15 Vgl. Friedberg, Corpus Iuris Canonici, liber extra, de simonia, X 5.3.31, Tit.: De Simonia, et ne aliquid pro spiritualibus exigatur vel promittatur, Sp. 760 der Ausg.: „non tanquam sit idem ipse accusator et iudex, sed, quasi fama deferente vel denunciante clamore, sui officii debitum exsequatur [...].“; hierzu auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 10. 16 Eingehend Tillmann, Papst Innocenz III., S. 171 ff. 17 Zu den Gründen für die Einführung von sog. Zentralinstanzen zählte schließlich die Beseitigung von Missständen bei den Klerikern: Tillmann, Papst Innocenz III., S. 157–159;

I. Entstehung

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ihn die Maxime, dass eine Privatperson die Straftat anklagen muss, weil beispielsweise strafrechtliche Folgerungen an eine Klageabweisung geknüpft waren und der Grundsatz galt, dass Laien nicht Geistliche und Geistliche wiederum nicht ranghöhere Priester anklagen konnten.18 Ferner bestand die Möglichkeit, dass wegen persönlicher Verbundenheit von einer „Anklage“ abgesehen wurde.19 Der Beschuldigte sollte fortan nicht mehr an allen gerichtlichen Handlungen unmittelbar anwesend sein,20 sodass geregelt werden musste, ob ein hierbei entstandener Akteninhalt dem Beschuldigten zugänglich gemacht werden soll. Wie bereits erläutert, war „[d]as mittelalterliche Gerichtsverfahren […] weithin von Mündlichkeit geprägt“21 und demnach (streng) unmittelbar ausgestaltet. Auch das gerichtliche Beweisverfahren war bisher völlig anders geregelt, bspw. wurden streitige Behauptungen größtenteils etwa mit der Ablegung eines (Reinigungs-/Überführungs-)Eides entschieden, anstatt Schriftdokumente (oder andere als Tatsachenbeweis heranzuziehende Beweismittel) in das Verfahren einzuführen.22 Man konnte sich von jedweden Vorwürfen demnach „freischwören“, ohne dass es auf die Ermittlung der Wahrheit ankam bzw. ohne dass der materielle Wahrheitsgehalt der in Rede stehenden Behauptungen überprüft wurde.23 In den Verfahren der Geistlichen sollte es nicht mehr um die so verstandene (Un-) Reinheit der Prozessbeteiligten gehen; die Ermittlung der Wahrheit sollte nunmehr im Vordergrund stehen.24 Als ernannter Papst baute Innozenz III. die Verteidigungsrechte in seinen Dekretalen immer weiter aus;25 dem Beschuldigten sollte insbesondere der Name zur Untersuchung von Kirchen und Klöstern, die in Verruf waren: ders. a. a. O. S. 170 f.; ebenso Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 8. 18 Eingehend Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 8 f.; im römischen Strafverfahren musste der Kläger wegen der Verletzung des sog. Calumnieneides harte Strafen befürchten, wenn er die Tat nicht beweisen konnte, vgl. hierzu Binding/Glaser, Handbuch 9, § 7, S. 62. 19 Biener, Inquisitions-Process, S. 41; vgl. Tillmann, Papst Innocenz III., S. 168 f.; Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 8 f. 20 Zur Übertragung der Untersuchungen auf andere Personen durch das sog. Commissorium: vgl. Biener, Inquisitions-Process, S. 48 f. Auch die im Vorfeld vernommenen Zeugen und deren Namen wurden dem Angeschuldigten im Inquisitionsverfahren mitgeteilt: ders. a. a. O. S. 50; zum Ablauf des Vorverfahrens: ders. a. a. O. S. 53 f. 21 Oestmann, Rechtsgeschichte, S. 76. 22 Die Urteile stellten demnach i. d. R. sog. Beweisurteile dar, wonach regelmäßig derjenige das Verfahren gewann, dem die Ableistung eines Reinigungs-/ oder Überführungseides, mit Hilfe von Eideshelfern, gewährt wurde: vgl. hierzu Oestmann, Rechtsgeschichte, S. 77–80; teilweise galten als Beweisgewinnungsmethoden subsidiär das sog. „Gottesurteil“ und der Zweikampf: ders. a. a. O. S. 79–81; Sickor, Das Geständnis, S. 72 m. w. N. 23 Eingehend Sickor, Das Geständnis, S. 72 f. m. w. N. 24 Zum Vorstehenden: Oestmann, Rechtsgeschichte, S. 82; aber auch schon zur fränkischen Zeit vor der sog. Dinggenossenschaft oder dem karolingischen Schöffengericht wurde Sachverhaltsermittlung (mitunter durch die Hinzuziehung von Urkunden) betrieben: vgl. hierzu ders. a. a. O. S. 65 f. 25 Friedberg, Corpus Iuris Canonici, liber extra, ut eccles. beneficia, X 3.12.1, Tit.: Ut Ecclesiastica Benefica sine deminutione conferantur, Sp. 509–512 der Ausg.; ders. a. a. O.

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A. Die Einsicht in die Papierakte

und die Aussage eines Zeugen mitgeteilt werden.26 Hierdurch sollte sichergestellt werden, dass er sich gegen die Vorwürfe verteidigen kann.27 Die Forderung, dass dem Angeschuldigten diese Informationen mitgeteilt werden sollten, erklärte und begründete Innozenz III. auf der Kirchenversammlung im Jahre 1215.28 Angeordnet wurde von Innozenz III. aber lediglich eine Aktenmitteilung und nicht eine umfassende Akteneinsicht im Sinne einer möglichen Herausgabe von Informationsträgern.29 Erst sein Nachfolger Gregor IX. sprach sich für eine Abschriftenerteilung aus,30 wenn beispielsweise der Angeklagte der Vater des vorgeführten Zeugen war.31 Mit seiner Forderung wollte Papst Innozenz III. einer Bestrafung aufgrund unwahrer Aussagen entgegenwirken,32 denn Verleumdungen und Falschaussagen wären für ihn schließlich kontraproduktiv gewesen.33 Durch in-

liber extra, de simonia, X 5.3.31, 32, Tit.: De Simonia, et ne aliquid pro spiritualibus exigatur vel promittatur, Sp. 760–762 der Ausg.; hierzu auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 10 f. 26 Friedberg, Corpus Iuris Canonici, liber extra, de accusationibus, X 5.1.24, Tit.: De accusationibus, inquisitionibus et denunciationibus, Sp. 746 der Ausg.: „Et non solum dicta, sed etiam nomina ipsa testium sunt ei, ut quid et a quo sit dictum appareat, publicanda, nec non exceptiones et replicationes legitimae admittendae[…].“; hierzu auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 11. 27 Friedberg, Corpus Iuris Canonici, liber extra, de accusationibus, X 5.1.24, Tit.: De accusationibus, inquisitionibus et denunciationibus, Sp. 746 der Ausg.: „[…] et exponenda sunt ei illa capitula, de quibus fuerit inquirendum, ut facultatem habeat defendendi se ipsum.“; hierzu auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 11. 28 Es handelte sich um das vierte Laterankonzil, siehe Friedberg, Corpus Iuris Canonici, liber extra, de accusationibus, X 5.1.24, Tit.: De accusationibus, inquisitionibus et denunciationibus, Sp. 745, Fn. 1 der Ausg.; hierzu Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 11; auch die Differenzierung von wiederholten und neu erfassten Ansichten und Begründungen bzgl. der Verteidigungsgrundsätze bei Biener, Inquisitions-Process, S. 48, legt die erstmalige Einführung im Jahre 1215 nahe; eingehend zum vierten Laterankonzil: Tillmann, Papst Innocenz III., S. 152 ff. m. w. N.; hierzu auch Vismann, Akten, S. 145. 29 Friedberg, Corpus Iuris Canonici, liber extra, de accusationibus, X 5.1.24, Tit.: De accusationibus, inquisitionibus et denunciationibus, Sp. 746 der Ausg.: „[…] et exponenda sunt ei illa capitula, de quibus fuerit inquirendum […]“, frei übersetzt als: „[…] und ihm müssen jene Punkte dargelegt (Anmerkung des Verfassers: also nicht ausgehändigt) werden, über welche die Untersuchung stattfinden musste […]“; hierzu insgesamt Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 11 f. 30 So Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 12. 31 Friedberg, Corpus Iuris Canonici, liber extra, de accusationibus, X 5.1.26, Tit.: De accusationibus, inquisitionibus et denunciationibus, Sp. 747 der Ausg.: „Si vero testes contra eundem abbatem producti fuerint, dictorum ipsorum ei copiam faciatis.“; hierzu auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 12. 32 Friedberg, Corpus Iuris Canonici, liber extra, de accusationibus, X 5.1.24, Tit.: De accusationibus, inquisitionibus et denunciationibus, Sp. 746 der Ausg.: „[…]ne per suppressionem nominum infamandi, per exceptionum vero exclusionem deponendi falsum audacia praebeatur.“; hierzu Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 11. 33 Vgl. Tillmann, Papst Innocenz III., S. 170; Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 14 m. w. N.

I. Entstehung

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soweit weitreichende Verteidigungsrechte war sein Ziel – die Wahrheitsermittlung zur Beseitigung der Missstände in der Kirche – am besten zu erreichen.34 Prozessuale Vorgänge wurden zunehmend verschriftlicht. Denn Papst Innozenz III. forderte die Protokollierung aller vom Richter angeordneten Handlungen, auch die Parteien kommunizierten vermehrt durch die Einreichung schriftlicher Vorträge, welche vom Gericht gesondert in Prozessakten aufbewahrt wurden.35 Dies führte so weit, dass eine Prozesshandlung nur noch dann beachtlich sein sollte, wenn sich diese in den gesondert aufbewahrten Schriftsätzen befand – „Quod non est in actis, non est in mundo.“36 Der Beginn eines Mitteilungsrechtes und demnach die Wurzel des Akteneinsichtsrechts kann folglich auf die Einführung der Inquisitionsprozesse im kanonischen Recht bzw. auf die Einführung des Aktenmitteilungsrechts in den Dekretalen im Jahre 1215 datiert werden – als „Erfinder“ des Akteneinsichtsrechts im weiteren Sinne gilt deshalb Papst Innozenz III.37 Zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert wurde der Inquisitionsprozess im deutschsprachigen Raum eingeführt.38 Auch dort fand eine Verschriftlichung bestimmter Prozesshandlungen statt, wodurch Akten entstanden.39 Die Aktenmitteilungsrechte fanden in die deutschen Rezeptionsgesetze nach Schulz um 142540 und nach Spaetgens im Jahre 151641 Eingang.42 Das von Sebastian Brant verfasste Rechtsbuch, das er „Der

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Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 14. Oestmann, Rechtsgeschichte, S. 123. 36 Oestmann, Rechtsgeschichte, S. 123; das auch heute noch gebräuchliche Rechtssprichwort stammt offenbar aus dieser Zeit. Bis zum 19. Jahrhundert versandten die zuständigen Gerichte die Schriftsätze vermehrt an eine Universität, sodass der Fall letztlich von Professoren entschieden wurde. Die hiermit einhergegangene Aktenversendung hörte spätestens mit Einführung des Gerichtsverfassungsgesetzes im Jahr 1879 auf, vgl. hierzu Oestmann, Rechtsgeschichte, S. 196–200; zur deutschen Strafgesetzgebung im 19. Jh.: Hilgendorf/Kudlich/Valerius/Koch, Strafrechtsgeschichte, S. 299 ff. 37 Eingehend Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 7–17 m. z. N. 38 Nach Schmidt, Inquisitionsprozess, S. 55 f., 61, entwickelte sich zu dieser Zeit das inquisitorische Verfahren, wobei die Entwicklung bis ins 15. Jhrdt. hineinreichte; ebenso Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 42 m. w. N.; zur Übernahme der italienischkanonischen Inquisitionsregeln: Schmidt, Inquisitionsprozess, S. 75 f., 83. 39 Vgl. Oestmann, Rechtsgeschichte, S. 150, auch unter Hinweis auf ein abgedrucktes Protokoll einer Verhandlung vor dem Königlichen Kammergericht (vermutlich v. 24.01.1467); siehe zum Protokoll: ders. a. a. O. S. 144 ff. 40 Nach den Recherchen von Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 44, seien die italienisch-kanonischen Regelungen zum Akteneinsichtsrechts erstmalig von einem unbekannten Autor um 1425 rezipiert worden, was im Jahre 1516 von Sebastian Brant (1457–1521) mit dem Titel „Der Richterlich Clagspiegel“ neu herausgegeben worden sei; ähnlich Meyer, Akteninformationsrecht, S. 6. 41 Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 16. 42 Siehe Brant, Der Richterlich Clagspiegel, 2. Teil, Titel: Judicis officium in procedendo, fol. CXIIII v. der Ausg.: „[…] kompt dan der geladen / so sol er im geben abgeschrifft vnnd Copei / das er wiß warvmb er geladen sei […]. […] so die gezügen verhört vnd auffgenommen werden / so solle ire name vnd was sie gesagt haben dem geladenen alles gsagt / vnd abge35

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A. Die Einsicht in die Papierakte

Richterlich Clagspiegel“ nannte, ist offenbar zwar in der Tat im Jahre 1516 erschienen; jedoch stammt der Urtext dieses Rechtsbuchs soweit ersichtlich von Conrad Heyden († 1444), der die römischrechtlichen Inhalte mehreren Hinweisen im Text zufolge bereits um 1436 in Schwäbisch Hall verfasste, sodass das Aktenmittelungsrecht wohl um 1436 rezipiert wurde.43 Die deutschen Strafverfahren sollten gerechter werden44 und die „beweisung […] soll sein klar und klärer dann die sonne.“45

II. Entwicklung bis zur Reichsstrafprozessordnung von 1877 Die Nachfolger von Innozenz III. verkürzten das Recht auf Mitteilung über den Aktenstand zunächst immer weiter.46 Offenbar um des Schutzes der Zeugen willen wurden beispielsweise all diejenigen Informationen verschwiegen, aus denen Rückschlüsse auf die Zeugen möglich waren.47 Demgegenüber wurde das Einsichtsrecht innerhalb der weltlichen Gerichte weiter ausgebaut. In der Zeit von Stauferkaiser Friedrich II. (1215–1250) wurde die Aushändigung einer Untersuchungsabschrift zunächst davon abhängig gemacht, ob der Beschuldigte eine gute Lebensführung aufweist. Nur dem „ehrbaren“ Bürger stand ein Recht auf Aktenmitteilung zu,48 selbst wenn dies nur zweifelshalber anzunehmen war.49 Auch Albertus Gandinus (1245–1311) verschrifft geben werden […].“; eingehend hierzu Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 44, 46–48; zu den konkreten römischrechtlichen Quellen des Klagspiegels: Cordes/Lück/ Werkmüller/Bertelsmeier-Kierst, HRG, Bd. 2, Sp. 1866; siehe zum Klagspiegel allg. auch: Schmidt, Geschichte, S. 113; lediglich in Maximilianischen Halsgerichtsordnungen bestand kein Recht auf Aktenmitteilung, vgl. hierzu erneut Schulz a. a. O. S. 50 f. m. w. N. 43 So Cordes/Lück/Werkmüller/Bertelsmeier-Kierst, HRG, Bd. 2, Sp. 1864 f.; siehe auch die Hinweise bei Cordes/Lück/Werkmüller/Schmidt-Wiegand, HRG, Bd. 1, Sp. 664 f. 44 Eingehend Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 42 ff. m. w. N. 45 Brant, Der Richterlich Clagspiegel, 2. Teil, Titel: Quomodo in accusatione procedatur, fol. CVII r. der Ausg.; siehe hierzu auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 44. 46 Siehe hierzu Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 15 m. w. N. 47 Vgl. Eymericus, Directorivm Inqvisitorvm, Tertia pars Directorii Inquisitorum cum Commentariis, comment. CXXIIII, S. 628/Teil 1 der Ausg.: „In his conciliis illud verbum, signo, diligenter est obseruandum, quasi dicat, non modo testium nomina publicari non debent, sed neque circunstantiae (id enim eo loco puto vocari signum) sunt exprimendae, ex quibus posset delatus venire in notitiam testium, vel denuntiatorum.“; siehe hierzu, unter Angabe einer unrichtigen Primärquelle, auch: Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 21; zum Abbau des Einsichtsrecht nochmals: Schulz a. a. O. S. 19–22. 48 Fridericus Secundus, Constitutiones, Liber I, Tit. LIII: De inquisitionibus faciendis, S. 193 der Ausg.: „[…] facta sibi copia nominum tantum omnium testium, non dictorum (d) nec eorum specialiter qui contra ipsum inquisitionem deponunt […].“; hierzu auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 25. 49 Fridericus Secundus, Constitutiones, Liber I, Tit. LIII: De inquisitionibus faciendis, S. 193 der Ausg.: „[…] si quidem is contra quem inquisitio facta fuerit, levis vite et male conversationis fuisse non probabitur […] inquisitionis ei copia tribuatur.“; hierzu auch

II. Entwicklung bis zur Reichsstrafprozessordnung von 1877

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wehrte Personen mit „schlechtem Ruf“ oder solchen, die als „Übeltäter“ galten, die Aushändigung einer Aktenkopie.50 Wurde die Untersuchung aufgrund der Mitteilung einer bestimmten Person eingeleitet, war jedoch Aktenmitteilung zu gewähren.51 Weiter wurde von Angelus Aretinus52 die Erteilung von Abschriften als „Prozessvoraussetzung“ angesehen, wenn zuvor die Erteilung einer Abschrift beantragt worden war.53 Im Fortgang bewegte sich der Trend immer mehr dahin, der Verteidigung einen Teil der gesammelten Informationen oder sogar den gesamten Informationsstand zugänglich zu machen.54 Prosper Farinacius (1544–1619) gestattete (soweit ersichtlich als Erster) nicht nur Aktenmitteilung durch Informationsmitteilung oder Erteilung einer Abschrift, sondern für die Rechtsanwälte auch Akteneinsicht i. S. e. Herausgabe der Originaldokumente.55 In Anlehnung hieran wurde die Einsicht in die Originalakten – entweder in den Gerichtsstätten oder in Anwesenheit einer anderen öffentlichen Person – als Alternative zur Fertigung von Abschriften später beispielsweise dann gewährt, wenn es ein umfassenderes Verfahren zu beschleunigen galt.56

Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 25; vgl. auch Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 16. 50 Kantorowicz, Gandinus, S. 39 f.: „Sed dominus Fredericus imperator, interrogatus a doctoribus, Bononie dixit, quod iudex per se de maleficio inquirere poterat absque parte, si fama publica et multi de terra dicerent aliquem male fame vel malefactorem, et quod in eis talibus non debeat inquisitio publicari, et sic non fiet ei copia inquisitionis, qui est malefactor et alias male fame.“; vgl. auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 28. 51 Vgl. Kantorowicz, Gandinus, S. 39: „Et si quidem inquirat contra aliquam specialem personam, tunc servandus est ordo traditus Extra de accusationibus c. qualiter et quando, et tunc debet facere citari illam nominatam personam et eidem debet exhibere articulos seu capitula, super quibus inquirit, et nomina testium eidem sunt edenda, et exceptiones et replicationes eidem salve sunt, tam contra personas testium quam contra eorum dicta, ut eis testibus falsa dicendi materia amputetur, ut dicto c. qualiter et quando et c. olim.“; eingehend Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 27 f. 52 Laut Engelmann, Die Postglossatoren, S. 13, ist er im Jahre 1451 gestorben; dem folgend auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 31, Fn. 1. 53 Aretinus/Aretinus, De Maleficiis, qvod fama pvbl. praeced, n. 37, S. 233 f. der Ausg.: „Si tamen reo postulante non detur copia diffamationis, & indiciorum, & ultra procederetur ipso iure, no ualet processus […].“; hierzu auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 31. 54 Eingehend Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 32–37 m. z. N. 55 Farinacius, Praxis, De Indiciis, & Tortura, qv. 39, n. 115, S. 222 der Ausg.: „[…] in quibusdam causis iudicem posse statuere, vt loco copiarum dentur Aduocatis originalia [...].“; hierzu auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 38. 56 Oldekop, Observationes, Tit. IV: De Indiciis, Tortura & Confessione, n. 8, S. 227 der Ausg.: „Si tamen cum delicti atrocitate concurrit morae periculum, vel alia circumstantia, celeriorem requirit processum, tum omnia acta originalia rei Advocato, loco communicationis copiarum, in judicis, vel alterius personae publicae praesentia, dari possunt perlegenda, Farinac. dict. quaest: 39. n. 115.“; hierzu auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 65.

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A. Die Einsicht in die Papierakte

Auch Benedikt Carpzov (1595–1666), der über mehrere Jahrzehnte dem kurfürstlichen sächsischen Schöppenstuhl in Leipzig angehörte,57 gab dem Beschuldigten und ebenso seinem Anwalt ein Recht „[…]im Beyseyn der Gerichtspersonen die Inquisitionacta zu durchsehen[…].“58 Er zog aus der Sächsischen Policey-Ordnung de Anno 1612, wonach der Beschuldigte die Akten lediglich in Gegenwart der Gerichte ansehen konnte,59 den Umkehrschluss, dass Abschriften aus den Akten dem Beschuldigten allgemein nicht erteilt werden dürften.60 Ferner führte er aus: „Dann wann dem Inquisito Abschrift der Inquisitions-acten solte ertheilet werden / würde man mit dem Umbschreiben viel Zeit zubringen / unnd den Inquisitionproceß der doch schleunig und summarischer Weise expediret werden soll / unnöthiger Weise offziehen unnd weitläuffeig machen […]“.61 Die Verweigerung von Aktenabschriften wurde zudem also mit der sonst drohenden Verzögerung des Inquisitionsprozesses begründet. Nach Justus Oldekop (1597–1667) ging zum einem der Umkehrschluss fehl, da es zu der Zeit viele weitere Schriften und andere Gesetze gäbe, welche die Abschriften vielmehr gestatteten.62 Weiter hielt er Carpzov entgegen, dass in wenigen Tagen viele Akten abgeschrieben werden könnten63 und proklamierte, dass es doch um Ruf und Leben eines Menschen gehe, wo nicht überstürzt, sondern vorsichtig und in jeder Hinsicht umsichtig zu handeln sei.64 Die Akteneinsicht (im vorbenannten beschränkten Sinne) könne die Erteilung von Abschriften auch nicht ersetzen, weil beim zügigen Durchlesen unter Gerichtsaufsicht für die Ver57 Würtenberger JuS 1966, 345, 345; hierzu auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 57. 58 Carpzov, Peinlicher Process, Tit. 8, Art. 3, n. 1, S. 121 der Ausg.; siehe auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 59, Fn. 4. 59 Siehe hierzu Carpzov, Practica, De Defension. & Innocent.deduct., qu. 115, n. 102, S. 143 der Ausg.; Carpzov, Peinlicher Process, Tit. 8, Art. 3, n. 1, S. 121 der Ausg.; hierzu auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 60. 60 Carpzov, Practica, De Defension. & Innocent.deduct., qu. 115, n. 102 f., S. 143 der Ausg.: „[...] copiam ipsam Actorum inquisitionalium inqvisito dandam non esse.“; siehe auch Carpzov, Peinlicher Process, Tit. 8, Art. 1, n. 1, S. 115 der Ausg., Art. 3, Rn. 1, Bl. 121 der Ausg.; hierzu Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 60. 61 Carpzov, Peinlicher Process, Tit. 8, Art. 3, n. 1, S. 122 der Ausg.; vgl. auch Carpzov, Practica, De Defension. & Innocent.deduct., qu. 115, n. 103 f., S. 143 f. der Ausg.; hierzu auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 61. 62 Oldekop, Tractatus, Tit: Tractatus Alter. Decades tres quaestionum, ad processum criminalem necessarium, n. 1, S. 73 der Ausg.: „An inquisito, defensionem suam deducturo, danda sit copia actorum inquisitionalium. Quod affirmatur, & de jure Communi nullum habet dubium.“; hierzu auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 62. 63 Oldekop, Tractatus, Tit: Tractatus Alter. Decades tres quaestionum, ad processum criminalem necessarium, n. 12, S. 78 der Ausg.: „In duobus, tribusve diebus multa possunt describi acta.“; vgl. auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 63. 64 Oldekop, Tractatus, Tit: Tractatus Alter. Decades tres quaestionum, ad processum criminalem necessarium, n. 13, S. 78 der Ausg.: „Sed de fama & Sanguine hominis, Christi Sanguine redempti, ubi non praecipitanter, sed prudenter, & undiquaque circumspecte est agendum.“; ähnlich Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 63.

II. Entwicklung bis zur Reichsstrafprozessordnung von 1877

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teidigung notwendige Punkte übersehen werden könnten; zu Hause habe der Anwalt zur Vorbereitung der Verteidigung immer die Gelegenheit, auf die Kopie zurückzugreifen, und könne alles genauer studieren.65 Als Kompromiss schlug Johann Brunnemann (1608–1672) vor, dass der Richter die Zeugenaussagen zweimal niederschreiben lässt.66 War die Rechtsfrage über Akteneinsicht und Erteilung von Abschriften in der Literatur bzw. unter den Rechtsgelehrten somit weitgehend geklärt,67 beschäftigten sich die Rechtsgelehrten mit der Frage, ab welchem Zeitpunkt dem Beschuldigten dieses Recht zustehen sollte.68 Auf die diesbezüglichen Ausarbeitungen soll im Folgenden jedoch nicht weiter eingegangen werden. Interessanter für die hiesige Untersuchung ist vielmehr, wie sich der Meinungsstand um die Akteneinsicht in der Folgezeit entwickelt hat. Hinsichtlich eines Rechts auf Einsicht und Erteilung einer Abschrift der Akten wurde den Vorgaben aus der Literatur in der Praxis zunächst größtenteils gefolgt,69 wobei die Hessen-Darmstädtische PGO von 172670 soweit ersichtlich als erstes Gesetzbuch71 die Mitgabe der Akten an den Verteidiger vorsah.72 In der 65 Oldekop, Tractatus, Tit: Tractatus Alter. Decades tres quaestionum, ad processum criminalem necessarium, n. 8, S. 75 der Ausg.: „Advocatus, per horam unam atque alteram acta perlustrando, omnia tam exacte attendere & observare nequit, quae causae & defensionis inquisiti expostulat necessitas, quam sit eorum habeat copiam domi, ubi toties, quoties opus existimat, in opere deducendae defensionis, ad ea recurrere & omnia pressius confiderare, integra ei relinquitur potestas.“; hierzu auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 63 f.; vgl. aber zur ausnahmsw. Verweisung auf die Originalakten anstatt Abschriftenerteilung die Nachweise bei Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 64 f. 66 Brunnemann, Tractatus Juridicus, cap. VIII., memb. 3, De Rei Defensione, n. 28, S. 138 der Ausg.: „Expediens autem hoc esse posset, ut Judex per Notarium , attestata statim bis describi curet, ut alterum exemplum statim inquisito tradi possit.“; hierzu auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 67. 67 Vgl. aber die zeitlich nachfolgenden „Schwankungen“, die bei Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 67–80, aufgearbeitet sind. 68 Eingehend Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 67–85; siehe auch Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 16 m. w. N. 69 Zur Umsetzung in der Praxis: Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 86–94 m. w. N. 70 Hessen-Darmstädtische Criminal- und peinliche Gerichtsordnung von 1726; abgedruckt bei: Hessen-Darmstädtische PGO, S. 329 ff. der Ausg.; eingehend hierzu Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 88 ff. 71 So auch die Vermutung von Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 90. 72 Dies ergeht aus dem Zusammenspiel der Tit. 11, §§ 16, 19 Hessen-Darmstädtische Criminal- und peinliche Gerichtsordnung von 1726; Tit. 11, § 16 der vorbenannten PGO lautete: „[…] sodann die Acta demjenigen, welcher in der Sache auf vorher ertheiltes Decret zu handeln hat, remotis removendis, mit Annotirung des Tages, wann solches geschehen, communiciret werden.“; deutlicher wird die Herausgabemöglichkeit von Aktenbestandteilen e contrario Tit. 11, § 19 der vorbenannten Hessen-Darmstädtischen PGO: „Es soll auch der Actuarius, ohne daß es ihm wäre angegeben worden, und es wenigstens Unser peinlicher Richter vorher gesehen hätte, nicht das geringste vor sich in einer Criminal-Sache expediren, weniger dem Fiscali oder denen Defensoribus, oder jemand ihrentwegen etwas, so einiges Weges

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A. Die Einsicht in die Papierakte

Aufklärungszeit wurde das Akteneinsichtsrecht, insbesondere die Erteilung von Abschriften, erneut hervorgehoben und die Begründung hierzu weiter ausgebaut.73 Wer Verteidigung bejahe, die Mittel aber versage, spiele mit Worten.74 Auch Johann Samuel Friedrich Böhmer (1704–1772) setzte sich für eine Ausweitung des Akteneinsichtsrechtes ein. Wenn sich ein Angeklagter gegen ihm unbekannte Anzeigen wehren müsste, würde das, was im Wege des Zutritts zur Verteidigung einerseits bewilligt scheint, durch die verweigerte Akteneinsicht andererseits wieder entzogen werden.75 Er fragte, wie man sich sonst gegen Personen und Zeugenaussagen verteidigen solle, wenn man keine Kenntnis von den Akten habe;76 weiter fragte er, ob dies nicht dasselbe wäre, als jemandem der geblendet sei oder dem die Augen verbunden seien, ein Schwert zu reichen, um sich gegen den Nachstellenden zu verteidigen.77 Weiter führte er hinsichtlich der Verweigerung der Einsicht aufgrund von Missbrauchsgefahr aus, dass es lediglich im Einzelfall angebracht sein könne, in solchen Fällen die Einsicht in Akten nach gerichtlicher Untersuchung zu verweigern.78 Dem weiteren Argument der Kritiker, mit der Erteilung der Akteneinsicht gehe eine Verzögerung des Verfahrens einher, begegnete er damit, dass eine kleine Verzögerung keine Verzögerung sei, wenn dadurch Unschuldigen geholfen werde.79

bedenklich, ohne Unsers peinlichen Richters Vorwissen, zeigen, am allerwenigsten aber jemand fremdes über die Acta gehen, noch etwas davon ausfolgen lassen.“; abgedruckt ist Tit. 11, § 16 der vorbenannten PGO bei: Hessen-Darmstädtische PGO, S. 399 der Ausg.; Tit. 11, § 19 der vorbenannten PGO ist abgedruckt bei: Hessen-Darmstädtische PGO, S. 400 der Ausg.; hierzu auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 90. 73 Vgl. die Aufarbeitung bei Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 95–107. 74 Kress, Commentatio, Note ad Artic. VI., § 16, S. 34 der Ausg.: „Ne in verbis ludere, & defensionem, non autem media defensionis concedere videatur ut ut at quondam aliter CARPZOVIVS qu. 115.“; hierzu auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 95 f. 75 Böhmer, Observationes, Obs. X ad quaest. CXV, n. 106, S. 58/Partem Tertiam der Ausg.: „[…] & quod admissione defensionis ex una parte indulgeri videtur,, denegata actorum communicatione, ex altera iterum subtrahitur.“ 76 Böhmer, Meditationes, Art. XX, § XV, S. 109/Abschnitt 1 der Ausg.: „Quomodo enim, quaeso! reus contra personas, et dicta testium se defendere poterit, si eorum notitiam ex actis non habet?“; vgl. hierzu auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 102. 77 Siehe Böhmer, Observationes, Obs. X ad quaest. CXV, n. 106, Bl. 58/Partem Tertiam der Ausg.: „Occulta, & ignota indicia reus non magis declinare potest, quam Caecus gladio hostem insidiantem repellere […].“; Böhmer, Meditationes, Art. XX, § XV, S. 109/Abschnitt 1 der Ausg.: „Nonne hoc idem est, ac occoecato vel velamine oculis obiecto, gladium ad se contra insidiantem defendendum, porrigere?“; hierzu auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 102. 78 Böhmer, Observationes, Obs. X ad quaest. CXV, n. 106, Bl. 58/Partem Tertiam der Ausg.: „[…] & ad summum abusum communicationis actorum involvere, qui usum ipsum tollere nequit; hoc solum recte concludi, quod non promiscua esse communicatio, sed cum caussae cognitione fieri debeat, nec injuste aliquando denegari possit, si probabilis metuendi abusus ratio emergit, & nec acta nec conditio rei probabilem innocentiae spem fuggerunt.“; eingehend Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 102. 79 Böhmer, Observationes, Obs. X ad quaest. CXV, n. 106, Bl. 58/Partem Tertiam der

II. Entwicklung bis zur Reichsstrafprozessordnung von 1877

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Christian Friedrich Georg Meister (1718–1782) lehnte sich an Böhmer an, sprach sich aber dafür aus, dem Verteidiger die Akten mit nach Hause zu geben: „Schließlich bezeuge ich noch aus der Erfahrung, daß es in einigen Gerichten nicht ungewöhnlich sei, dem Defensor die Originalacten dergestalt anzuvertrauen, daß er sie zum nöthigen Gebrauche auf eine gewisse Zeit in seiner eigenen Verwahrung behalte. Welches Mittel, wann es eingeführt ist, und man sich auf die Redlichkeit und Sorgfalt des Defensors verlassen kann, einen vorzüglichen Beyfall verdienet, weil dadurch die bey den übrigen Arten, die Acten zur Einsicht des Defensors zu bringen, eintretende Schwürigkeiten grösten Theils gehoben werden.“80 In der Aufklärungszeit wurde das Recht, die Akten vollständig einzusehen und auch Abschriften zu erhalten, in der Literatur demnach vollends anerkannt. Insbesondere die für Recht empfundene Mitgabe der Akten zur vollständigen Durcharbeitung gab der Verteidigung maximale Wirkungskraft. Nach Schulz erreicht das Akteneinsichtsrecht in dieser Zeit aus Sicht der Verteidigung den Höhepunkt seiner Entwicklung.81 Von der Gesetzgebung wurden die Forderungen aus der Literatur während der Aufklärungszeit zunächst jedoch nicht übernommen, im Gegenteil: Das Einsichtsrecht wurde im Grundsatz verwehrt. Lediglich ausnahmsweise wurden einzelne Informationen aus den Akten mitgeteilt.82 In der Allgemeinen KriminalGerichtsordnung Josephs II. von 1788 wurde das Einsichtsrecht sogar ausnahmslos versagt.83 Dieser Zeitpunkt kann aus Sicht der Verteidigung wiederum als Tiefpunkt des Einsichtsrechts beschrieben werden.84 Die Preußische Criminal-Ordnung von 1805 erlaubte dem Verteidiger (offenbar nach dem Abschluss der Voruntersuchungen) die Akteneinsicht; zwar wurden keine Abschriften erteilt, jedoch durften die verbeamteten Anwälte die Akten bis zu drei Tage in ihre Wohnung mitnehmen.85 In dem bayerischen StrafgesetzAusg.: „Ad III. parvam moram nullam moram, aeque expedire, ne insontium existimatio temere disperdatur, ac utilitatem publicam sontium promtam vindictam exigere […].“; so auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 103, der offenbar jedoch auf eine nicht ganz treffende Passage aus vorbenannter Primärquelle Bezug nimmt. 80 Meister, Peinlicher Process, 1. Abschnitt, 8. Hauptstück, § 50, S. 250 der Ausg.; hierzu auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 104 f. 81 So ausdrücklich Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 106. 82 Eingehend Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 107–112. 83 § 195 S. 3 Allgemeine Kriminal-Gerichtsordnung Josephs II. vom 17. Junius 1788: „Die Einsicht der Criminal-Acten selbst ist Niemand zu begehren berechtigt.“; abgedruckt bei: Joseph II., Joseph des Zweiten, S. 134 der Ausg. 84 Zum Vorstehenden: Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 112 f.; ebenso Meyer, Akteninformationsrecht, S. 11 f. 85 Siehe § 451 Criminalordnung für die Preussischen Staaten vom 11. Dezember 1805: „Zu dem Unterredungstermine muß sich der Vertheidiger durch das Lesen der Akten vorbereiten, welche ihm zu dem Ende von dem Richter vorzulegen, oder wenn der Vertheidiger zu den öffentlichen Beamten gehört, allenfalls, jedoch nicht über drei Tage […] in seine Behausung zu verabfolgen sind.“; abgedruckt bei: Allgemeines Criminalrecht Preußen, S. 162 der Ausg.; hierzu auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 119.

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A. Die Einsicht in die Papierakte

buch von 1813 wurde normiert, dass der Verteidiger in Anwesenheit einer Gerichtsperson sämtliche Akten einsehen könne.86 Nachdem das Einsichtsrecht in der Folgezeit trotz der Abschaffung der schriftlich-geheimen Inquisitionsprozesse und der Einführung eines öffentlichen, mündlichen Hauptverfahrens87 immer wieder geschwächt und gestärkt wurde,88 vereinheitlichte der Gesetzgeber des deutschen Kaiserreichs das Strafprozessrecht wieder.89 § 147 der Reichsstrafprozesssordnung von 1877, die am 01.10.1879 in Kraft trat,90 regelte das Akteneinsichtsrecht in vier Absätzen wie folgt: „[1] Der Vertheidiger ist nach dem Schlusse der Voruntersuchung und, wenn eine solche nicht stattgefunden hat, nach Einreichung der Anklageschrift bei dem Gerichte zur Einsicht der dem Gerichte vorliegenden Akten befugt. [2] Schon vor diesem Zeitpunkte ist ihm die Einsicht der gerichtlichen Untersuchungsakten insoweit zu gestatten, als dies ohne Gefährdung des Untersuchungszweckes geschehen kann. [3] Die Einsicht der Protokolle über die Vernehmung des Beschuldigten, der Gutachten der Sachverständigen und der Protokolle über diejenigen gerichtlichen Handlungen, denen der Vertheidiger beizuwohnen befugt ist, darf ihm keinesfalls verweigert werden. [4] Nach dem Ermessen des Vorsitzenden können die Akten, mit Ausnahme der Ueberführungsstücke, dem Vertheidiger in seine Wohnung verabfolgt werden.“91

Das Akteneinsichtsrecht wurde ursprünglich in § 130 RStPO-E bzw. später in § 148 RStPO-E vorgesehen und letztlich als § 147 RStPO eingeführt.92 86 2. Theil, Art. 145 Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern von 1813: „[…] Sämmtliche Akten im Beyseyn einer vereideten Gerichtsperson zu durchgehen […]“; abgedruckt bei: Bandel, Katechismus, S. 198 der Ausg.; eingehend Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 119; zum Einfluss Feuerbachs und den zu der Zeit entgegengesetzten Partikulargesetzen: Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 17 m. w. N. 87 Vgl. etwa § 15, Art. 25 (zu §§ 19–22) Criminal-Ordnung für die Preußischen Staaten nebst der Verordnung vom 3. Januar 1849; abgedruckt bei: Criminal-Ordnung nebst Verordnung, S. 8, 11 der Ausg.; vgl auch Pieth, Strafrechtsgeschichte, S. 55–57 m. w. N.; vgl. hierzu, und zu der Revolution 1848, auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 121 ff.; siehe auch Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 17 m. w. N. 88 Zur Entwicklung in diesem Zeitraum: Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 120–130 m. z. N.; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 13–16; zu den Reformbestrebungen bis 1848: Binding/Glaser, Handbuch 9, § 13, S. 125 ff.; zu den Reformbewegungen bis zur Einführung der RStPO v. 1877 im Jahr 1879: Binding/Glaser, Handbuch 9, § 16, S. 162 ff. 89 Die bis dahin geltenden Strafprozessordnungen der einzelnen Länder sind bei Hahn/ Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 67 ff., abgedruckt; zur Entstehung eines vorigen Entwurfes aus 1873: Schubert/Regge, Entstehung, S. 4 ff.; eingehend im Zshg. mit dem Akteneinsichtsrecht: Meyer, Akteninformationsrecht, S. 14–16. 90 RGBl. 1877, 253; Die RStPO trat mit den übrigen Reichsjustizgesetzen gem. § 1 EGSTPO i. V. m. § 1 EGGVG am 01.10.1879 in Kraft; zur Entstehung der RStPO und hinsichtlich kritischer Überlegungen hierzu: v. Schwarze, Commentar, Einleitung, S. IX bis XXIV. 91 RGBl. 1877, 280 f.; Einfügung der Absatznummerierungen [1] bis [4] durch Verfasser. 92 Vgl. die Aufstellung der verschiedenen Stadien bei Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 2206 f.

II. Entwicklung bis zur Reichsstrafprozessordnung von 1877

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Seinerzeit wurde in der Literatur aus dem gewählten Wortlaut in den ersten beiden Absätzen („Einsicht der dem Gericht vorliegenden Akten“, „gerichtlichen Untersuchungsakten“) vermehrt geschlussfolgert, dass ein Einsichtsrecht in die Akten, die ausschließlich im Besitz der Staatsanwaltschaft sind, nicht bestehe.93 Zwar tauchte im zweiten Absatz einmalig der Begriff „Untersuchungsakten“ auf, was prima facie für einen unterschiedlichen Aktenbegriff hätte sprechen können. Jedoch erging Gegenteiliges – neben dem noch im Detail darzulegenden gesetzgeberischen Willen94 – schon aus dem Wortlaut des zweiten Absatzes selbst. Mit der Formulierung „Schon vor diesem Zeitpunkt“ wird schließlich deutlich, dass die Einsicht in die Untersuchungsakten nicht nur im Vorverfahren, sondern auch ab Anklageerhebung möglich sein sollte. Insofern lag es nach der damaligen Normausgestaltung nahe, die Begriffe „Untersuchungsakten“ und „Akten“ synonym zu verstehen. Zum Teil hatte man sich dafür ausgesprochen, dass sich der zweite Absatz nicht nur auf die bei der Voruntersuchung entstandenen Akten, sondern darüber hinaus – in Einklang mit Absatz 3 – auf alle im gesamten Vorbereitungsverfahren entstandenen Akten beziehe.95 Weiter wurde davon ausgegangen, dass nach dieser Vorschrift ein Recht auf Abschriftenerteilung auf eigene Kosten bestand, soweit Akteneinsicht gewährt wurde.96 Ferner sprach man sich zum Teil dafür aus, dass das Ermessen im vierten Absatz zugunsten der Verteidigung auszuüben sei, sofern es sich um einen Fall der notwendigen Verteidigung handele.97 Aus dem vierten Absatz ergehe, dass Akten nicht allein die Schriftstücke seien, sondern gerade auch die Beweisgegenstände, auf die sich die schriftlichen Akten bezögen.98 „Ueberführungsstücke“ i. S. d. vierten Absatzes seien Gegenstände, die als Beweismittel dienen sollen; im Falle der Herausgabe bzw. des Transports sei eine Veränderung des Beweismittels möglich, was es zu vermeiden gelte.99 Einig war man sich offenbar darin, dass es sich hierbei um Belastungsmaterial

93 v. Schwarze, Erörterungen, S. 207 f.; v. Holtzendorff/ders., Handbuch, S. 410; Bennecke/v. Beling, Lehrbuch, S. 148; v. Schwarze, Commentar, S. 286, bezieht sich hierbei auf die Gesetzesmaterialien; diff. Löwe, Strafprozeßordnung, § 147 StPO, Note 4 f., § 168 StPO, Note 7. 94 Siehe hierzu insb. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 964 ff.; Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1299. 95 Löwe, Strafprozeßordnung, § 147, Note 5; a. A. Voitus, Kontroversen, S. 68–70; Bennecke/v. Beling, Lehrbuch, S. 149. 96 v. Schwarze, Commentar, S. 286; ähnlich v. Holtzendorff/ders., Handbuch, S. 412; diff. Löwe, Strafprozeßordnung, § 147, Note 9; bzgl. der Entgeltlichkeit diff.: v. Schwarze, Erörterungen, S. 211. 97 v. Holtzendorff/ders., Handbuch, S. 411. 98 Bennecke/v. Beling, Lehrbuch, S. 148, Fn. 7. 99 v. Holtzendorff/ders., Handbuch, S. 411.

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A. Die Einsicht in die Papierakte

handele.100 Insbesondere das Material, das als corpus delicti dienen solle, gehöre nach dem Normzweck hierzu.101 Ob den Ansätzen aus der damaligen Literatur zuzustimmen ist und inwieweit sie immer noch Aktualität genießen, wird i. R. d. Auslegung des Aktenbegriffs anhand der Gesetzesmaterialien zur vorbenannten Einführung von § 147 RStPO und zu den nachfolgenden Reformen historisch untersucht.

III. Zwischenergebnis Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Normierung und die Ausgestaltung des Akteneinsichtsrechts seit dem 13. Jahrhundert davon abhing, welche Einstellung der Gesetzgeber zur Strafverteidigung hatte; das Einsichtsrecht hing also von den politischen Gegebenheiten ab.102 Auch das Aufsteigen des geforderten Überzeugungsmaßstabs von der Wahrscheinlichkeit hin zur Gewissheit des Täters103 hat zur Einführung und späteren Ausweitung des Akteneinsichtsrechts beigetragen.104 Die Einführung eines Einsichtsrechts begründete Papst Innozenz III. damit, dass dem Beschuldigten die Möglichkeit eingeräumt werden sollte, sich gegen unrichtige Aussagen zu verteidigen. Rezipiert wurde ein solches Einsichtsrecht mit dem Leitgedanken, das Beweisaufnahmeergebnis so transparent wie nur möglich zu gestalten. Das Akteneinsichtsrecht wurde immer wieder als Ausfluss des Verteidigungsrechts angesehen: Bejaht man eine Verteidigung, verweigerte man aber ein Akteneinsichtsrecht, spielte man mit Worten. Eine andere Sichtweise wurde mit der Situation verglichen, dass man einem Blinden ein Schwert reicht, damit dieser sich gegen einen auflauernden Feind erwehren soll. Ein Recht auf Herausgabe der Originalakten wurde in umfangreichen Strafverfahren mit dem Beschleunigungsgebot begründet. Jedenfalls einem „ehrbaren“ Bürger sollte ein (mehr oder minder) weitreichendes Einsichtsrecht zugestanden werden. Weiter sollte der Anwalt die Originalakten mit nach Hause nehmen dürfen, weil eine solche Handhabung am praxistauglichsten für die Verteidigung sei. Von anderer Seite wurde gegen ein Einsichtsrecht der Zeugenschutz

100 So etwa Bennecke/v. Beling, Lehrbuch, S. 148, Fn. 8; v. Holtzendorff/ders., Handbuch, S. 411. 101 v. Holtzendorff/ders., Handbuch, S. 411, Fn. 3; hiermit waren also offenbar die gegenständlichen Beweisstücke gemeint, in diesem Sinne wohl auch: Bennecke/v. Beling, Lehrbuch, S. 148 Fn. 8 a. E. 102 So auch schon v. Schwarze, Erörterungen, S. 205; hierauf macht auch Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 1, 5, aufmerksam; so auch Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 18 f. 103 Vgl. hierzu Hall, Lehre, S. 5. 104 Vgl. Schulz, Entwicklung Akteneinsichtsrecht, S. 43 f.; in diesem Sinne wohl auch ders. a. a. O. S. 23 ff.

IV. Die Fortentwicklung von § 147 RStPO

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ins Feld geführt. Das Beschleunigungsgebot wurde auch zulasten der Verteidigungsrechte angeführt; ein Recht auf Erteilung einer Abschrift wurde zum Teil als nicht realisierbar angesehen, weil das Abschreiben dieser Akten zu viel Zeit in Anspruch nähme. Einen Kompromiss im Rahmen dieses politischen Disputs versuchte der Reichsgesetzgeber gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu finden. Die Herausarbeitung des gesetzgeberischen Willens wird innerhalb der historischen Auslegung des Aktenbegriffs gesondert vorgenommen.105

IV. Die Fortentwicklung von § 147 RStPO Im Folgenden werden die sich anschließenden Reformen dargestellt.106

1. Lex Emminger 1924 Durch die Lex Emminger wurden zunächst grammatikalische Änderungen am Normtext der ursprünglichen Fassung von § 147 RStPO vorgenommen. § 147 RStPO erhielt mit dem Inkrafttreten dieses Teils der Verordnung am 01.04.1924107 folgenden Wortlaut, der sich an den markierten Stellen von der vorigen Fassung unterschied: „Der Verteidiger ist nach dem Schlusse der Voruntersuchung und, wenn eine solche nicht stattgefunden hat, nach Einreichung der Anklageschrift bei dem Gerichte zur Einsicht der dem Gerichte vorliegenden Akten befugt. Schon vor diesem Zeitpunkt ist ihm die Einsicht der gerichtlichen Untersuchungsakten insoweit zu gestatten, als dies ohne Gefährdung des Untersuchungszwecks geschehen kann. Die Einsicht der Protokolle über die Vernehmung des Beschuldigten, der Gutachten der Sachverständigen und der Protokolle über die gerichtlichen Handlungen, denen der Verteidiger beizuwohnen befugt ist, darf ihm keinesfalls verweigert werden. Nach dem Ermessen des Vorsitzenden können die Akten, mit Ausnahme der Überführungsstücke, dem Verteidiger in seine Wohnung verabfolgt werden.“108

105

Siehe S. 308 ff. Soweit im Nachfolgenden mit „[…]“ markiert wird, soll dies darauf hinweisen, dass an dieser Stelle in der vorherigen Fassung etwas normiert war, was in der nachfolgenden Fassung an dieser Stelle nicht mehr normiert ist. Soweit Zitatteile kursiv ausgezeichnet sind, ist der Normtext an dieser Stelle geändert worden. 107 Siehe RGBl. I, 1924, 20 f. (§§ 40 Abs. 4, 43 VO v. 07.01.1924). 108 RGBl. I, 1924, 337; Gesetzliche Änderungen durch Verfasser hervorgehoben. 106

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A. Die Einsicht in die Papierakte

2. Die Reform 1950 In einem weiteren Gesetzgebungsverfahren wurde § 147 StPO erneut reformiert. Die Vorschrift bekam mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts am 01.10.1950109 folgenden Wortlaut: „(1) Der Verteidiger ist nach dem Schluß der Voruntersuchung und, wenn eine solche nicht stattgefunden hat, nach Einreichung der Anklageschrift […] zur Einsicht der dem Gericht vorliegenden Akten befugt. Im beschleunigten Verfahren kann der Verteidiger die Akten von dem Zeitpunkt an einsehen, in dem die Staatsanwaltschaft bei Gericht den Antrag auf Aburteilung im beschleunigten Verfahren stellt. (2) Schon vor diesem Zeitpunkt ist ihm die Einsicht der gerichtlichen Untersuchungsakten insoweit zu gestatten, als dies ohne Gefährdung des Untersuchungszwecks geschehen kann. (3) Die Einsicht der Protokolle über die Vernehmung des Beschuldigten, der Gutachten der Sachverständigen und der Protokolle über die gerichtlichen Handlungen, denen der Verteidiger beizuwohnen befugt ist, darf ihm keinesfalls verweigert werden. (4) Nach dem Ermessen des Vorsitzenden können die Akten mit Ausnahme der Überführungsstücke dem Verteidiger zur Mitnahme in seine Wohnung oder in seine Geschäftsräume übergeben werden.“110

Wesentliches Ziel war es, die seit 1945 verloren gegangene Rechtseinheit im Verfahrensrecht eilends wiederherzustellen111 und gleichzeitig das Strafverfahrensrecht von nationalsozialistischen Gedankengängen zu befreien.112 „Es ist eine vordringliche Aufgabe für den Bund, auf den Gebieten, in denen bereits seit den großen Justizgesetzen des Endes der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Rechtseinheit herrschte, diese zu wahren und wiederherzustellen.“113

3. Die Reform 1965 Durch eine weitere Reform wurden § 147 StPO unter anderem zwei Absätze hinzugefügt. Das StPÄG v. 19.12.1964 trat am 01.04.1965 in Kraft,114 wodurch § 147 StPO folgenden Wortlaut erhielt: „(1) Der Verteidiger ist befugt, […] die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der Anklage vorzulegen wären, einzusehen sowie amtlich verwahrte Beweisstücke zu besichtigen. […]

109

BGBl. I, 1950, 505 (Art. 8 Nr. I). BGBl. I, 1950, 645 f.; Gesetzliche Änderungen durch Verfasser hervorgehoben. 111 BT-Drs. 1/530, Anlage 1a, S. 3, 33. 112 Auch sollten kriegsbedingte Vereinfachungen beseitigt werden; zu beiden Motiven: BTDrs. 1/530, Anlage 1a, S. 33. 113 BT-Drs. 1/530, Anlage 1a, S. 33. 114 BGBl. I, 1964, 1082 (Art. 18 Abs. 1). 110

IV. Die Fortentwicklung von § 147 RStPO

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(2) Ist der Abschluß der Ermittlungen noch nicht in den Akten vermerkt, so kann dem Verteidiger die Einsicht in die Akten oder einzelne Aktenstücke sowie die Besichtigung der amtlich verwahrten Beweisstücke versagt werden, wenn sie den Untersuchungszweck gefährden kann. (3) Die Einsicht in die Niederschriften über die Vernehmung des Beschuldigten und über solche richterlichen Untersuchungshandlungen, bei denen dem Verteidiger die Anwesenheit gestattet worden ist oder hätte gestattet werden müssen, sowie in die Gutachten von Sachverständigen […] darf dem Verteidiger in keiner Lage des Verfahrens versagt werden. (4) Auf Antrag sollen dem Verteidiger, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, die Akten mit Ausnahme der Beweisstücke zur Einsichtnahme […] in seine Geschäftsräume oder in seine Wohnung mitgegeben werden. Die Entscheidung ist nicht anfechtbar. (5) Über die Gewährung der Akteneinsicht entscheidet vor Einreichung der Anklageschrift die Staatsanwaltschaft, während der Voruntersuchung der Untersuchungsrichter, im übrigen der Vorsitzende des mit der Sache befaßten Gerichts. (6) Ist eine Anordnung nach Absatz 2 nicht vorher entfallen, so hebt die Staatsanwaltschaft sie spätestens mit dem Abschluß der Ermittlungen, der Untersuchungsrichter spätestens mit dem Schluß der Voruntersuchung auf.“115

4. Die Reform 1975 Seit dem Inkrafttreten des sog. 1. StVRG v. 09.12.1974 am 01.01.1975116 wurden im fünften und sechsten Absatz Änderungen vorgenommen, wodurch § 147 StPO insgesamt folgende Fassung erhielt: „(1) Der Verteidiger ist befugt, die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der Anklage vorzulegen wären, einzusehen sowie amtlich verwahrte Beweisstücke zu besichtigen. (2) Ist der Abschluß der Ermittlungen noch nicht in den Akten vermerkt, so kann dem Verteidiger die Einsicht in die Akten oder einzelne Aktenstücke sowie die Besichtigung der amtlich verwahrten Beweisstücke versagt werden, wenn sie den Untersuchungszweck gefährden kann. (3) Die Einsicht in die Niederschriften über die Vernehmung des Beschuldigten und über solche richterlichen Untersuchungshandlungen, bei denen dem Verteidiger die Anwesenheit gestattet worden ist oder hätte gestattet werden müssen, sowie in die Gutachten von Sachverständigen darf dem Verteidiger in keiner Lage des Verfahrens versagt werden. (4) Auf Antrag sollen dem Verteidiger, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, die Akten mit Ausnahme der Beweisstücke zur Einsichtnahme in seine Geschäftsräume oder in seine Wohnung mitgegeben werden. Die Entscheidung ist nicht anfechtbar. (5) Über die Gewährung der Akteneinsicht entscheidet“117 „während des vorbereitenden Verfahrens die Staatsanwaltschaft“118„, im übrigen der Vorsitzende des mit der Sache befaßten Gerichts.“119

115

BGBl. I, 1964, 1073; Gesetzliche Änderungen durch Verfasser hervorgehoben. BGBl. I, 1974, 3415 (Art. 15 Abs. 1). 117 Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 1964, 1073. 118 BGBl. I, 1974, 3397; Gesetzliche Änderungen durch Verfasser hervorgehoben. 119 Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 1964, 1073. 116

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A. Die Einsicht in die Papierakte

„(6) Ist der Grund für die Versagung der Akteneinsicht nicht vorher entfallen, so hebt die Staatsanwaltschaft die Anordnung spätestens mit dem Abschluß der Ermittlungen […] auf. Dem Verteidiger ist Mitteilung zu machen, sobald das Recht zur Akteneinsicht wieder uneingeschränkt besteht.“120

5. Die Reform 2000 Mit Inkrafttreten des StVÄG v. 02.08.2000 am 01.11.2000121 ist der fünfte Absatz erneut reformiert und ein siebter Absatz hinzugefügt worden, sodass § 147 StPO nunmehr folgende Fassung erhielt: „(1) Der Verteidiger ist befugt, die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der Anklage vorzulegen wären, einzusehen sowie amtlich verwahrte Beweisstücke zu besichtigen. (2) Ist der Abschluß der Ermittlungen noch nicht in den Akten vermerkt, so kann dem Verteidiger die Einsicht in die Akten oder einzelne Aktenstücke sowie die Besichtigung der amtlich verwahrten Beweisstücke versagt werden, wenn sie den Untersuchungszweck gefährden kann. (3) Die Einsicht in die Niederschriften über die Vernehmung des Beschuldigten und über solche richterlichen Untersuchungshandlungen, bei denen dem Verteidiger die Anwesenheit gestattet worden ist oder hätte gestattet werden müssen, sowie in die Gutachten von Sachverständigen darf dem Verteidiger in keiner Lage des Verfahrens versagt werden. (4) Auf Antrag sollen dem Verteidiger, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, die Akten mit Ausnahme der Beweisstücke zur Einsichtnahme in seine Geschäftsräume oder in seine Wohnung mitgegeben werden. Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.“122 „(5) Über die Gewährung der Akteneinsicht entscheidet im vorbereitenden Verfahren und nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens die Staatsanwaltschaft, im Übrigen der Vorsitzende des mit der Sache befassten Gerichts. Versagt die Staatsanwaltschaft die Akteneinsicht, nachdem sie den Abschluss der Ermittlungen in den Akten vermerkt hat, versagt sie die Einsicht nach Absatz 3 oder befindet sich der Beschuldigte nicht auf freiem Fuß, so kann gerichtliche Entscheidung nach Maßgabe des § 161a Abs. 3 Satz 2 bis 4 beantragt werden. Diese Entscheidungen werden nicht mit Gründen versehen, soweit durch deren Offenlegung der Untersuchungszweck gefährdet werden könnte.“123 „(6) Ist der Grund für die Versagung der Akteneinsicht nicht vorher entfallen, so hebt die Staatsanwaltschaft die Anordnung spätestens mit dem Abschluß der Ermittlungen auf. Dem Verteidiger ist Mitteilung zu machen, sobald das Recht zur Akteneinsicht wieder uneingeschränkt besteht.“124 „(7) Dem Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat, können Auskünfte und Abschriften aus den Akten erteilt werden, soweit nicht der Untersuchungszweck gefährdet werden könnte und nicht überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter entgegenstehen. Absatz 5 und § 477 Abs. 5 gelten entsprechend.“125

120

BGBl. I, 1974, 3397; Gesetzliche Änderungen durch Verfasser hervorgehoben. Siehe BGBl. I, 2000, 1262 (Art. 14 S. 2). 122 Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 1964, 1073. 123 BGBl. I, 2000, 1254; Gesetzliche Änderungen durch Verfasser hervorgehoben. 124 Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 1974, 3397. 125 BGBl. I, 2000, 1254 f.; Gesetzliche Änderungen durch Verfasser hervorgehoben. 121

IV. Die Fortentwicklung von § 147 RStPO

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6. Die Reform 2009 Mit Inkrafttreten des 2. Opferrechtsreformgesetzes v. 29.07.2009 am 01.10.2009126 ist § 147 Abs. 5 S. 2 StPO reformiert und ein neuer Satz 3 eingefügt worden. Der ursprüngliche Satz 3 rückte entsprechend in Satz 4. Die Norm erhielt damit insgesamt folgende Fassung: „(1) Der Verteidiger ist befugt, die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der Anklage vorzulegen wären, einzusehen sowie amtlich verwahrte Beweisstücke zu besichtigen. (2) Ist der Abschluß der Ermittlungen noch nicht in den Akten vermerkt, so kann dem Verteidiger die Einsicht in die Akten oder einzelne Aktenstücke sowie die Besichtigung der amtlich verwahrten Beweisstücke versagt werden, wenn sie den Untersuchungszweck gefährden kann. (3) Die Einsicht in die Niederschriften über die Vernehmung des Beschuldigten und über solche richterlichen Untersuchungshandlungen, bei denen dem Verteidiger die Anwesenheit gestattet worden ist oder hätte gestattet werden müssen, sowie in die Gutachten von Sachverständigen darf dem Verteidiger in keiner Lage des Verfahrens versagt werden. (4) Auf Antrag sollen dem Verteidiger, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, die Akten mit Ausnahme der Beweisstücke zur Einsichtnahme in seine Geschäftsräume oder in seine Wohnung mitgegeben werden. Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.“127 „(5) Über die Gewährung der Akteneinsicht entscheidet im vorbereitenden Verfahren und nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens die Staatsanwaltschaft, im Übrigen der Vorsitzende des mit der Sache befassten Gerichts. Versagt die Staatsanwaltschaft die Akteneinsicht, nachdem sie den Abschluss der Ermittlungen in den Akten vermerkt hat, versagt sie die Einsicht nach Absatz 3 oder befindet sich der Beschuldigte nicht auf freiem Fuß, so kann gerichtliche Entscheidung“128 „durch das nach […] § 162 zuständige Gericht“129 „beantragt werden.“130 „Die §§ 297 bis 300, 302, 306 bis 309, 311a und 473a gelten entsprechend.“131 „Diese Entscheidungen werden nicht mit Gründen versehen, soweit durch deren Offenlegung der Untersuchungszweck gefährdet werden könnte.“132 „(6) Ist der Grund für die Versagung der Akteneinsicht nicht vorher entfallen, so hebt die Staatsanwaltschaft die Anordnung spätestens mit dem Abschluß der Ermittlungen auf. Dem Verteidiger ist Mitteilung zu machen, sobald das Recht zur Akteneinsicht wieder uneingeschränkt besteht.“133 „(7) Dem Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat, können Auskünfte und Abschriften aus den Akten erteilt werden, soweit nicht der Untersuchungszweck gefährdet werden könnte und nicht überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter entgegenstehen. Absatz 5 und § 477 Abs. 5 gelten entsprechend.“134

126

BGBl. I, 2009, 2285 (Art. 8). Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 1964, 1073. 128 Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 2000, 1254. 129 BGBl. I, 2009, 2281; Gesetzliche Änderungen durch Verfasser hervorgehoben. 130 Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 2000, 1254. 131 BGBl. I, 2009, 2281; Gesetzliche Änderungen durch Verfasser hervorgehoben. 132 Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 2000, 1254. 133 Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 1974, 3397. 134 Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 2000, 1254 f. 127

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A. Die Einsicht in die Papierakte

7. Die Reform 2010 Durch das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts v. 29.07.2009 ist mit Inkrafttreten am 01.01.2010135 das Einsichtsrecht des Verteidigers während des Ermittlungsverfahrens und das Einsichtsrecht des Beschuldigten im Allgemeinen reformiert worden. Betroffen waren von der Reform die seinerzeitigen Absätze 2 und 7, sodass § 147 StPO folgende Fassung erhielt: „(1) Der Verteidiger ist befugt, die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der Anklage vorzulegen wären, einzusehen sowie amtlich verwahrte Beweisstücke zu besichtigen.“136 „(2) Ist der Abschluss der Ermittlungen noch nicht in den Akten vermerkt, so kann dem Verteidiger die Einsicht in die Akten oder einzelne Aktenteile sowie die Besichtigung von amtlich verwahrten Beweisgegenständen versagt werden, soweit dies den Untersuchungszweck gefährden kann. Liegen die Voraussetzungen von Satz 1 vor und befindet sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft oder ist diese im Fall der vorläufigen Festnahme beantragt, sind dem Verteidiger die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung wesentlichen Informationen in geeigneter Weise zugänglich zu machen; in der Regel ist insoweit Akteneinsicht zu gewähren.“137 „(3) Die Einsicht in die Niederschriften über die Vernehmung des Beschuldigten und über solche richterlichen Untersuchungshandlungen, bei denen dem Verteidiger die Anwesenheit gestattet worden ist oder hätte gestattet werden müssen, sowie in die Gutachten von Sachverständigen darf dem Verteidiger in keiner Lage des Verfahrens versagt werden. (4) Auf Antrag sollen dem Verteidiger, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, die Akten mit Ausnahme der Beweisstücke zur Einsichtnahme in seine Geschäftsräume oder in seine Wohnung mitgegeben werden. Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.“138 „(5) Über die Gewährung der Akteneinsicht entscheidet im vorbereitenden Verfahren und nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens die Staatsanwaltschaft, im Übrigen der Vorsitzende des mit der Sache befassten Gerichts. Versagt die Staatsanwaltschaft die Akteneinsicht, nachdem sie den Abschluss der Ermittlungen in den Akten vermerkt hat, versagt sie die Einsicht nach Absatz 3 oder befindet sich der Beschuldigte nicht auf freiem Fuß, so kann gerichtliche Entscheidung“139 „durch das nach § 162 zuständige Gericht“140 „beantragt werden.“141 „Die §§ 297 bis 300, 302, 306 bis 309, 311a und 473a gelten entsprechend.“142 „Diese Entscheidungen werden nicht mit Gründen versehen, soweit durch deren Offenlegung der Untersuchungszweck gefährdet werden könnte.“143 „(6) Ist der Grund für die Versagung der Akteneinsicht nicht vorher entfallen, so hebt die Staatsanwaltschaft die Anordnung spätestens mit dem Abschluß der Ermittlungen auf.

135

BGBl. I, 2009, 2279 (Art. 8 Abs. 1). Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 1964, 1073. 137 BGBl. I, 2009, 2277; Gesetzliche Änderungen durch Verfasser hervorgehoben. 138 Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 1964, 1073. 139 Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 2000, 1254. 140 Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 2009, 2281. 141 Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 2000, 1254. 142 Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 2009, 2281. 143 Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 2000, 1254. 136

IV. Die Fortentwicklung von § 147 RStPO

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Dem Verteidiger ist Mitteilung zu machen, sobald das Recht zur Akteneinsicht wieder uneingeschränkt besteht.“144 „(7) Dem Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat, sind auf seinen Antrag Auskünfte und Abschriften aus den Akten zu erteilen, soweit dies zu einer angemessenen Verteidigung erforderlich ist, […] der Untersuchungszweck, auch in einem anderen Strafverfahren, nicht gefährdet werden kann und nicht überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter entgegenstehen. Absatz 2 Satz 2 erster Halbsatz, Absatz 5 und § 477 Abs. 5 gelten entsprechend.“145

8. Redaktionelle Änderung 2015 Mit Wirkung zum 25.07.2015146 wurde § 147 StPO erstmals mit einer amtlichen Überschrift versehen,147 die seitdem lautet: „§ 147 Akteneinsichtsrecht, Besichtigungsrecht; Auskunftsrecht des Beschuldigten“.148 Die Unterscheidung zwischen der Akteneinsicht und der Beweisbesichtigung des Verteidigers einerseits und dem Auskunftsrecht des Beschuldigten andererseits wird seither also auch in der amtlichen Überschrift betont.

9. Die Reform 2018 Seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs v. 05.07.2017 am 01.01.2018149 hat § 147 StPO seine bis heute geltende Fassung erhalten. Der ursprünglich siebte Absatz ist in modifizierter Form in den vierten Absatz verschoben worden, sodass Absatz 7 weggefallen ist. Seither steht das Akteneinsichtsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten nicht mehr unter dem Vorbehalt, dass die Einsicht zu einer angemessenen Verteidigung erforderlich ist. Zudem wurden der dritte und sechste Absatz geändert. § 147 StPO ist seither wie folgt gefasst: „(1) Der Verteidiger ist befugt, die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der Anklage vorzulegen wären, einzusehen sowie amtlich verwahrte Beweisstücke zu besichtigen.“150 „(2) Ist der Abschluss der Ermittlungen noch nicht in den Akten vermerkt, so kann dem Verteidiger die Einsicht in die Akten oder einzelne Aktenteile sowie die Besichtigung von amtlich verwahrten Beweisgegenständen versagt werden, soweit dies den Untersuchungszweck gefährden kann. Liegen die Voraussetzungen von Satz 1 vor und befindet sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft oder ist diese im Fall der vorläufigen Festnahme be-

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Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 1974, 3397. BGBl. I, 2009, 2277; Gesetzliche Änderungen durch Verfasser hervorgehoben. 146 Siehe BGBl. I, 2015, 1337 (Art. 10). 147 BGBl. I, 2015, 1333 (Art. 1 Nr. 1), 1338; vgl. hierzu auch BT-Drs. 18/3562, 77. 148 BGBl. I, 2015, 1340. 149 BGBl. I, 2017, 2228 (Art. 33 Abs. 1). 150 Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 1964, 1073. 145

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A. Die Einsicht in die Papierakte

antragt, sind dem Verteidiger die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung wesentlichen Informationen in geeigneter Weise zugänglich zu machen; in der Regel ist insoweit Akteneinsicht zu gewähren.“151 „(3) Die Einsicht in die“152 „Protokolle“153 „über die Vernehmung des Beschuldigten und über solche richterlichen Untersuchungshandlungen, bei denen dem Verteidiger die Anwesenheit gestattet worden ist oder hätte gestattet werden müssen, sowie in die Gutachten von Sachverständigen darf dem Verteidiger in keiner Lage des Verfahrens versagt werden.“154 „(4) Der Beschuldigte, der keinen Verteidiger hat, ist in entsprechender Anwendung der Absätze 1 bis 3 befugt, die Akten einzusehen und unter Aufsicht amtlich verwahrte Beweisstücke zu besichtigen, soweit der Untersuchungszweck auch in einem anderen Strafverfahren nicht gefährdet werden kann und überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter nicht entgegenstehen. Werden die Akten nicht elektronisch geführt, können ihm an Stelle der Einsichtnahme in die Akten Kopien aus den Akten bereitgestellt werden.“155 „(5) Über die Gewährung der Akteneinsicht entscheidet im vorbereitenden Verfahren und nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens die Staatsanwaltschaft, im Übrigen der Vorsitzende des mit der Sache befassten Gerichts. Versagt die Staatsanwaltschaft die Akteneinsicht, nachdem sie den Abschluss der Ermittlungen in den Akten vermerkt hat, versagt sie die Einsicht nach Absatz 3 oder befindet sich der Beschuldigte nicht auf freiem Fuß, so kann gerichtliche Entscheidung“156 „durch das nach § 162 zuständige Gericht“157 „beantragt werden.“158 „Die §§ 297 bis 300, 302, 306 bis 309, 311a und 473a gelten entsprechend.“159 „Diese Entscheidungen werden nicht mit Gründen versehen, soweit durch deren Offenlegung der Untersuchungszweck gefährdet werden könnte.“160 „(6) Ist der Grund für die Versagung der Akteneinsicht nicht vorher entfallen, so hebt die Staatsanwaltschaft die Anordnung spätestens mit dem Abschluß der Ermittlungen auf. Dem Verteidiger“161 „oder dem Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat,“162 „ist Mitteilung zu machen, sobald das Recht zur Akteneinsicht wieder uneingeschränkt besteht.“163

151

Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 2009, 2277. Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 1964, 1073. 153 BGBl. I, 2017, 2211; Gesetzliche Änderungen durch Verfasser hervorgehoben. 154 Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 1964, 1073. 155 BGBl. I, 2017, 2211; Gesetzliche Änderungen durch Verfasser hervorgehoben. 156 Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 2000, 1254. 157 Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 2009, 2281. 158 Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 2000, 1254. 159 Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 2009, 2281. 160 Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 2000, 1254. 161 Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 1974, 3397. 162 BGBl. I, 2017, 2211; Gesetzliche Änderungen durch Verfasser hervorgehoben. 163 Dieser Teil ist unverändert geblieben und stammt damit aus BGBl. I, 1974, 3397. 152

B. Die Einführung der e-Akte Die Akten wurden seit dem 18. Jahrhundert zunächst mit der sog. Fadenheftung zusammengehalten.1 Abgelöst wurde dieses Modell im 20. Jahrhundert2 durch den Einsatz von Schnellheftern und Stehordnern.3 Jedoch sollen auch diese Ablagemittel nunmehr durch die elektronische Aktenführung sukzessive verdrängt werden.4 Die letzte Reform von § 147 StPO hat, was die Befugnis des Verteidigers zur Akteneinsicht anbelangt, keine weitere Veränderung mit sich gebracht. Das grundsätzliche Mitgaberecht der Akten in die Kanzleiräume oder die Wohnung des Verteidigers gem. § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. findet sich nicht mehr in § 147 StPO. Die Form der Einsichtsgewährung ist seit der letzten Reform zur Einführung der elektronischen Strafakte schließlich in dem allgemein gültigen Regelungsgefüge der §§ 32 ff. StPO normiert worden. § 32f StPO wurde durch die letzte Reform 2018 eingeführt, im Jahr 2021 reformiert und lautet wie folgt: „§ 32f Form der Gewährung von Akteneinsicht; Verordnungsermächtigung (1) Einsicht in elektronische Akten wird durch Bereitstellen des Inhalts der Akte zum Abruf“5 „oder durch Übermittlung des Inhalts der Akte auf einem sicheren Übertragungs-

1 Vgl. hierzu und allg. zur Entwicklung der Aktenführung in der behördlichen Praxis: Hoffmann, Schriftgutverwaltung, S. 25 f. 2 Die sog. Büroreform erstreckte sich mit einer Fülle von Entwürfen und Anläufen über einen Zeitraum von 50 Jahren (1895–1945). Im Laufe dieser Zeit wurden nicht nur in der freien Wirtschaft, sondern auch in der öffentlichen Verwaltung der Schnellhefter und der Aktenordner eingeführt. Es wird deshalb davon ausgegangen, dass diese Ablagemittel erst im Laufe des 20. Jh. derart eingesetzt wurden, dass die Fadenheftung (weitgehend) verdrängt wurde; vgl. hierzu Hoffmann, Schriftgutverwaltung, S. 29, Fn. 4; allg. zur Büroreform: ders. a. a. O. S. 28 ff. 3 Enders, Archivverwaltungslehre, S. 54 f., 64 f.; hierzu auch Hoffmann, Schriftgutverwaltung, S. 29, Fn. 4, S. 40; zur geschichtlichen Entwicklung der Stehordner: Vismann, Akten, S. 276 ff. m. w. N. 4 Siehe zum Einsatz sog. elektronischer Zweitakten einiger Bundesländer vor der gesetzlichen Einführung der e-Akte im Strafverfahren: Viefhues StraFo 2015, 187, 194 f.; Graalmann-Scheerer, FS Wolf, S. 188; eingehend auch Kassebohm StraFo 2017, 393, 395 f.; siehe zur Einführung der e-Akte im Rechtsverkehr und der etappenweisen Entwicklung: Claus jurisPR-StrafR 2/2018, Anm. 1, S. 1. 5 BGBl. I, 2017, 2210.

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B. Die Einführung der e-Akte

weg“6 „gewährt. Auf besonderen Antrag wird Akteneinsicht durch Einsichtnahme in die elektronischen Akten in Diensträumen gewährt. Ein Aktenausdruck oder ein Datenträger mit dem Inhalt der elektronischen Akten wird auf besonders zu begründenden Antrag nur übermittelt, wenn der Antragsteller hieran ein berechtigtes Interesse hat. Stehen der Akteneinsicht in der nach Satz 1 vorgesehenen Form wichtige Gründe entgegen, kann die Akteneinsicht in der nach den Sätzen 2 und 3 vorgesehenen Form auch ohne Antrag gewährt werden. (2) Einsicht in Akten, die in Papierform vorliegen, wird durch Einsichtnahme in die Akten in Diensträumen gewährt. Die Akteneinsicht kann, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, auch durch Bereitstellen des Inhalts der Akten zum Abruf“7 „, durch Übermittlung des Inhalts der Akte auf einem sicheren Übermittlungsweg“8 „oder durch Bereitstellen einer Aktenkopie zur Mitnahme gewährt werden. Auf besonderen Antrag werden einem Verteidiger oder Rechtsanwalt, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, die Akten zur Einsichtnahme in seine Geschäftsräume oder in seine Wohnung mitgegeben. (3) Entscheidungen über die Form der Gewährung von Akteneinsicht nach den Absätzen 1 und 2 sind nicht anfechtbar. (4) Durch technische und organisatorische Maßnahmen ist zu gewährleisten, dass Dritte im Rahmen der Akteneinsicht keine Kenntnis vom Akteninhalt nehmen können. Der Name der Person, der Akteneinsicht gewährt wird, soll durch technische Maßnahmen in abgerufenen Akten und auf übermittelten elektronischen Dokumenten nach dem Stand der Technik dauerhaft erkennbar gemacht werden. (5) Personen, denen Akteneinsicht gewährt wird, dürfen Akten, Dokumente, Ausdrucke oder Abschriften, die ihnen nach Absatz 1 oder 2 überlassen worden sind, weder ganz noch teilweise öffentlich verbreiten oder sie Dritten zu verfahrensfremden Zwecken übermitteln oder zugänglich machen. Nach Absatz 1 oder 2 erlangte personenbezogene Daten dürfen sie nur zu dem Zweck verwenden, für den die Akteneinsicht gewährt wurde. Für andere Zwecke dürfen sie diese Daten nur verwenden, wenn dafür Auskunft oder Akteneinsicht gewährt werden dürfte. Personen, denen Akteneinsicht gewährt wird, sind auf die Zweckbindung hinzuweisen. (6) Die Bundesregierung bestimmt durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die für die Einsicht in elektronische Akten geltenden Standards. Sie kann die Ermächtigung durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates auf die zuständigen Bundesministerien übertragen.“9

Im ersten Absatz ist die Form der Einsicht in elektronische Akten geregelt, der zweite Absatz betrifft die papierne Akte. Das Recht zur Mitgabe der Akten in die Wohnung oder Kanzlei des Verteidigers ist für die elektronische Akte in § 32f Abs. 1 S. 3 StPO und für die papierne Akte in § 32f Abs. 2 S. 2 Var. 3 StPO und am deutlichsten in § 32f Abs. 2 S. 3 StPO normiert. Das Übersendungsrecht der papiernen Akte ist mit § 32f Abs. 2 S. 3 StPO nunmehr als Anspruchsnorm ausgestaltet.10 Ein Anfechtungsausschluss nach dem Vorbild von § 147 Abs. 4 S. 2 6

BGBl. I, 2021, 2100. BGBl. I, 2017, 2210. 8 BGBl. I, 2021, 2100. 9 BGBl. I, 2017, 2211. 10 Bell, Akteneinsicht, S. 80 f., hat bereits die Soll-Vorschrift in § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. als Anspruchsnorm gelesen. 7

B. Die Einführung der e-Akte

39

StPO a. F. findet sich nunmehr in § 32f Abs. 3 StPO. Die weiteren Absätze des § 32f StPO betreffen im Wesentlichen datenschutzrechtliche Aspekte.

C. Ergebnis Nach dem Inkrafttreten von § 147 RStPO im Jahr 1879 wurde der Normtext acht Mal reformiert. Das wesentliche Grundgerüst des ursprünglichen § 147 RStPO ist nach fast 150 Jahren immer noch geltendes Recht. Im Laufe der Zeit wurde – von der 2010 in Kraft getretenen Fassung des § 147 Abs. 7 StPO abgesehen – das Akteneinsichtsrecht dabei immer weiter ausgebaut, wobei die Norm durch die jeweiligen Reformen immer beschuldigten- bzw. verteidigungsfreundlicher ausgestaltet wurde. Das ursprünglich in § 147 Abs. 1 RStPO normierte Akteneinsichtsrecht bezog sich ausdrücklich auf die dem Gericht vorliegenden Akten, wobei sich aus dem zweiten Absatz ergab, dass ein Einsichtsrecht auch schon vor dem Abschluss des Voruntersuchungsverfahrens bzw. nach Einreichung der Anklageschrift bestand. Seit dem 01.04.1965 findet dies auch im ersten Absatz Anklang; seitdem wird die Einsicht schließlich ausdrücklich in die Akten gewährt, die dem Gericht vorzulegen wären. Die Gewährung von Akteneinsicht während des Ermittlungsverfahrens steht jedenfalls nach wie vor unter dem Vorbehalt, dass hierdurch der Untersuchungszweck nicht gefährdet wird. Seit dem 01.01.2010 ist in § 147 Abs. 2 S. 2 StPO hierzu eine Rückausnahme kodifiziert. Seit der Einführung von § 147 RStPO ist der Verteidiger zur Akteneinsicht befugt, die Norm gewährt ihm im ersten Absatz seit der Einführung der Norm bis heute einen entsprechenden Anspruch. § 147 Abs. 3 RStPO entspricht im Wesentlichen dem geltenden § 147 Abs. 3 StPO. Das ursprünglich in § 147 Abs. 4 RStPO normierte Verabfolgungs- bzw. Aktenübersendungsrecht, wovon die Ueberführungsstücke ausdrücklich ausgenommen waren, ist mit dem Rechtsvereinheitlichungsgesetz 1950 zunächst ausdrücklich auf die Verabfolgung in die Geschäftsräume erweitert worden. Im weiteren Verlauf wurde die Verabfolgung von der „Kann-Vorschrift“ in eine „SollVorschrift“ geändert, jedoch unter den Vorbehalt gestellt, dass dem keine wichtigen Gründe entgegenstehen. In § 147 StPO ist seit dem 01.04.1965 nicht mehr der Begriff „Überführungsstücke“, sondern der Begriff „Beweisstücke“ normiert. Das Mitgaberecht des Verteidigers ist seit der letzten Reform nicht mehr in § 147 StPO, sondern in § 32f Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 2 Var. 2, S. 3 StPO normiert. Seit dem 01.04.1965 entscheidet im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren über die Gewährung der Akteneinsicht ausdrücklich die Staatsanwaltschaft. Die Versagung der Einsichtsgewährung durch die Staatsanwaltschaft kann seit dem 01.11.2000 in bestimmten Fällen ausdrücklich zur gerichtlichen

C. Ergebnis

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Überprüfung gestellt werden. Der Regelungsgehalt von § 147 Abs. 6 StPO besteht im Wesentlichen ebenfalls seit dem StPÄG 1964. Seit dem 01.11.2000 ist in § 147 StPO ein eigenständiges Akteneinsichtsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten normiert. Die „Kann-Vorschrift“ hat im weiteren Verlauf Anspruchscharakter erhalten. Dieses Recht besteht in modifizierter Form nunmehr in § 147 Abs. 4 StPO. Die hierzu normierten Negativ-Voraussetzungen „Untersuchungszweckgefährdung“ und „überwiegende schutzwürdige Drittinteressen“ bestehen ebenfalls nach wie vor. Seit der letzten Reform steht das Einsichtsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten jedoch nicht mehr unter dem Vorbehalt, dass dies für eine angemessene Verteidigung erforderlich ist. Seit dem Inkrafttreten der RStPO hing das Akteneinsichtsrecht zu keiner Zeit mehr davon ab, ob hierdurch Rückschlüsse auf etwaige Zeugen möglich waren oder der Beschuldigte als „ehrbar“ oder sonst dergleichen anzusehen ist. Auch wurde seither für die Einsichtsgewährung nicht mehr als maßgebend erachtet, ob das Strafverfahren durch eine Privatperson eingeleitet wurde. Die Vorgabe, dass die Akteneinsicht, wie zu Zeiten der Allgemeinen Kriminal-Gerichtsordnung Josephs II. 1788, im Grundsatz zu verwehren ist, besteht seit Einführung von § 147 RStPO nicht einmal mehr im Ermittlungsverfahren, sondern stellt seither auch in diesem frühen Verfahrensstadium die Ausnahme dar. Auch die beaufsichtigte Einsichtsgewährung nach dem Leitbild des bayerischen Strafgesetzbuches 1813 besteht jedenfalls im Grundsatz allenfalls für den verteidigerlosen Beschuldigten. Demgegenüber wirkt – wenn man es so nennen will – der Geist Böhmers, nach dem die Akteneinsicht im Einzelfall wegen Missbrauchs verwehrt werden sollte, in § 147 Abs. 2 S. 1 StPO im Allgemeinen und in § 147 Abs. 4 S. 1 StPO im Besonderen noch heute fort. Seit der Einführung eines eigenen Akteneinsichtsrechts des verteidigerlosen Beschuldigten wird in § 147 StPO ausdrücklich zwischen Akten und Aktenabschriften/-kopien unterschieden. Eine entsprechende Unterscheidung wird auch in § 32f Abs. 2 StPO vorgenommen. Schon Farinacius forderte eine Einsichtsgewährung in Form der Herausgabe der Originaldokumente. Inwieweit diese Forderung der lex lata entspricht, wird noch zu untersuchen sein. Das Anliegen von Carpzov, sowohl dem Verteidiger als auch dem Beschuldigten ein Akteneinsichtsrecht zu gewähren, entspricht im Wesentlichen geltendem Recht. Auch die Forderung von Oldekop und Meister, nach der der Verteidiger die Akten zu Hause studieren können müsse, ist mehrere Jahrhunderte später ebenfalls geltendes Recht. Ein Mitgaberecht der Akten war bereits in der Hessen-Darmstädtischen PGO 1726 geregelt und besteht seit der Einführung von § 147 RStPO bis heute fort. Sofern im Laufe der nachfolgenden Untersuchung auf Reformen aus bestimmten Jahren Bezug genommen wird, ohne die jeweils reformierte Vorschrift zu benennen, sind die dargestellten Reformen des Akteneinsichtsrecht angesprochen.

Zweites Kapitel

Verfassungs-, völker- und europarechtliche Grundlagen

A. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen Allem voran soll untersucht werden, auf welche verfassungsrechtliche Vorgaben § 147 StPO zurückzuführen ist. Verfassungsrechtliche Aspekte erlangen bei strafprozessualen (Auslegungs-)Fragen immer Bedeutung, sei es, weil in einem Strafverfahren naturgemäß durch hoheitliche Maßnahmen Individualinteressen des Betroffenen berührt werden und das Strafprozessrecht somit als „Seismograph der Staatsverfassung“1 gilt, sei es, weil man das Strafprozessrecht schlicht als „angewandtes Verfassungsrecht“ versteht.2 Dies gilt auch für § 147 StPO als vorkonstitutionelles Recht.3

I. Das Fairnessgebot Das Gebot der Verfahrensfairness – dem anglo-amerikanischen Rechtskreis entlehnt, findet sich zumeist auch der Begriff „fair trial“4 – hat seinen Ursprung im Parteienprozess, bei dem jede Partei die Regeln der Verfahrensgerechtigkeit einzuhalten hat, vergleichbar dem Fair-Play-Gebot im Sportbereich.5 Dieses Gebot ist im Gegensatz zu Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK im Grundgesetz nicht explizit geregelt, wird jedoch aus Art. 20 Abs. 3 i. V. m. Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitet.6 Aufgrund des in einem Strafverfahren bedrohten Rechts auf Freiheit

1

Roxin/Schünemann, StPO, § 2, Rn. 1. Sax, Grundrechte, S. 909, 967; ihm folgend BVerfGE 32, 373, 383; zu weiteren Gründen für die Bedeutung des Verfassungsrechts: MüKo-StPO/Kudlich, Bd. 1, Einl., Rn. 45; beides anführend auch: Schröder, Akteneinsicht im Spannungsfeld, S. 123 f. 3 Nach allgemeiner Auffassung gilt vorkonstitutionelles Recht immer dann fort, wenn der nachkonstitutionelle Gesetzgeber dieses Recht wesentlich verändert oder sonst wie in seinen Willen nachträglich aufgenommen hat. Dies ist hier mit den zahlreichen Reformen des § 147 StPO seit dem „Rechtseinheits-Wiederherstellungsgesetz“ v. 12.09.1950 (BGBl. 1950 I, 455) anzunehmen. In der Konsequenz muss dieses fortgeltende Recht auch dem GG genügen, vgl. hierzu v. Mangoldt/Klein/Starck-GG/Wolff, Bd. 3, Art. 123, Rn. 24 f. 4 SSW-StPO/Satzger, Art. 6 EMRK, Rn. 35. 5 Roxin/Schünemann, StPO, § 11, Rn. 4. 6 Z. T. stellt das BVerfG (neben Art. 2 Abs. 2 S. 2 oder den allg. Freiheitsrechten) auf die Artt. 20 Abs. 3, Art. 1 Abs. 1 GG ab: BVerfGE 57, 250, 275; BVerfGK 10, 125, 126; 130, 1, 25; auf Artt. 20 Abs. 3, 2 Abs. 1 GG abstellend: BVerfGE 68, 237, 255; 66, 313, 318; 63, 45, 60; 63, 380, 390; BVerfG StV 2002, 578, 580; BVerfG NJW 2007, 204, 205; so auch BGHSt 53, 294, 304; vgl. auch Brunhöber ZIS 2010, 761, 762 m. w. N.; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 45; 2

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A. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen

der Person, greift das Bundesverfassungsgericht gelegentlich auch auf Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG zurück,7 was aber damit zusammenhängen mag, dass diese Entscheidungen Sachverhalte mit Freiheitsentzug betrafen. Durch seinen (generalklauselartigen) Prinzipcharakter8 sieht sich die Existenz dieses Rechtes aufgrund drohender „Überjustizialisierung“9 oder vorgeblicher Konturenlosigkeit10 vereinzelter Kritik ausgesetzt; andere Teile der Literatur halten den Begriff der „Verfahrensbalance“ oder zumindest den Begriff der „Justizförmigkeit des Verfahrens“ für treffender.11 Die Existenz des Fairnessgebotes hat sich in Literatur und Rechtsprechung gleichwohl durchgesetzt, wobei die strafrechtliche Literatur und die Rechtsprechung zunehmend von einer Prozessmaxime, also einem Leitprinzip des Strafverfahrens, ausgehen,12 wohingegen das Bundesverfassungsgericht immer wieder betont, dass es sich bei dem Recht auf ein faires Verfahren um ein Prozessgrundrecht handelt.13 Unabhängig hiervon wird man einer verfassungsrechtlichen Vorgabe bei der Anwendung des einfachen Rechts, insbesondere bei einer einfachgesetzlichen Konkretisierung, weitreichende Beachtung beimessen müssen,14 sodass auf die Frage nach der Einordnung als (Prozess-)Grundrecht oder Leitprinzip/Prozessmaxime nicht näher eingegangen wird.15 Im Folgenden wird der Gewährleistungsgehalt des Fairnessgebots insbesondere mit Blick auf die Rechte des Beschuldigten bzw. des späteren Angeschuldigten/Angeklagten16 analysiert.

zu weiteren Begründungsansätzen: Jahn ZStW 127 (2015), 549, 560 ff.; LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 13, stellt wohl unter verfehltem Hinweis auf u. a. BVerfGE 54, 277, 292 und BVerfGE 78, 88, 99, zur Begründung auch auf Art. 19 Abs. 4 GG ab, was sich nicht durchgesetzt hat; anders dann aber LR-StPO/Esser a. a. O. Rn. 183. 7 BVerfGE 57, 250, 275; 118, 212, 231; 122, 248, 271; 130, 1, 25; 86, 288, 317. 8 Siehe Jörke, Akteneinsicht, S. 45; vgl. auch Jahn ZStW 127 (2015), 549, 568 f. 9 Kunkis DRiZ 1993, 185, 192, passim; hierzu und hinsichtlich weiterer Kritikpunkte: Roxin/Schünemann, StPO, § 11 Rn. 5 m. w. N. 10 Vgl. Beulke/Swoboda, StPO, Rn. 59; weitere Nachweise bei Jahn ZStW 127 (2015), 549, 568. 11 Roxin/Schünemann, StPO, § 11 Rn. 4. 12 Beispielhaft BGHSt 36, 305, 308 f.; so auch Brunhöber ZIS 2010, 761, 762 Fn. 6 m. w. N.; weitere Nachweise bei LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 104. 13 BVerfGE 57, 250, 275; weitere Nachweise bei Brunhöber ZIS 2010, 761, 762 Fn. 7; BVerfGE 86, 288, 317; 118, 212, 231; 70, 297, 308; BVerfG NJW 2004, 209, 211. 14 Das BVerfG spricht dem Fairnessgebot wohl die Wirkung als Gestaltungs- und Auslegungsdirektive zu: BVerfGE 122, 248, 272; 133, 168, 200; hierzu auch SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 103; vgl. auch Jörke, Akteneinsicht, S. 37. 15 Eingehend hierzu Brunhöber ZIS 2010, 761, 762 f.; SK-StPO/Wohlers, Bd. 1, Einl., Rn. 106 m. w. N. 16 Soweit keine Differenzierungen in den einzelnen Verfahrensstadien auszumachen sind, wird nachfolgend in Anlehnung an § 157 StPO lediglich der Begriff des „Beschuldigten“ verwendet, wenngleich die Ausführungen gleichsam für den Angeschuldigten oder Angeklagten gelten. Gelten bestimmte Ausführungen nur für bestimmte Verfahrensstadien, so wird hierauf gesondert hingewiesen.

I. Das Fairnessgebot

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1. Die Vorgaben im Allgemeinen Der sachliche Schutzbereich wird in Rechtsprechung und Schrifttum weniger definiert als umschrieben.17 Die Forderung des Bundesverfassungsgerichts, dass eine freiheitlich-rechtsstaatliche Demokratie eine faire Handhabung der gesetzlichen Vorschriften erfordert,18 bedarf einer Präzisierung. Durch die Rechtsprechung und die Literatur hat sich eine greifbare Kasuistik herausgebildet, die den Schutzbereich ausreichend bestimmbar macht. In Bezug auf den Beschuldigten19 umfasst das Gebot zunächst das Recht, die Belastungspunkte auf faire Weise kritisch analysieren und auf diese erwidern zu können.20 Dies wird nur dann möglich sein, wenn man den Beschuldigten als Prozesssubjekt wahrnimmt und nicht zum Prozessobjekt21 degradiert.22 Dieser Gesichtspunkt stellt eine zentrale Errungenschaft eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens dar,23 weshalb die partielle Herleitung aus Art. 20 Abs. 3 GG überzeugt. Die Subjektstellung erwächst zudem aus dem (Selbst-)Verständnis, die Persönlichkeit eines jeden zu wahren und ihn nicht herabzuwürdigen, sodass die weitere Begründung des Fairnessgebots aufgrund von Art. 2 Abs. 1 und (insbesondere) der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG ebenso konsequent ist.24 Droht in einem Strafverfahren die Verhängung einer Freiheitsstrafe, ist die Mitbegründung des Fairnessgebots auf Grundlage von Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG nachvollziehbar. Das Fairnessgebot gilt für das gesamte strafrechtliche Verfahren, also zumindest ab dem Ermittlungsverfahren bis hin zur Strafvollstreckung.25 Adressat des Fairnessgebots sind dabei grundsätzlich alle staatlichen Organe, die auf den Gang des Strafverfahrens Einfluss nehmen.26 Primär geht es um das Recht, sich gegen Belastungsmaterial bzw. einen Vorwurf (ausreichend)27 verteidigen28 und auf den Verlauf sowie das Ergebnis des 17

Brunhöber ZIS 2010, 761, 762 m. w. N. Am Prüfungsmaßstab von Art. 1 Abs. 1 GG: BVerfGE 30, 1, 27. 19 Nach h. M. kann sich jeder private Verfahrensbeteiligte auf das Fairnessgebot berufen, vgl. nur: LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 111 m. w. N. 20 Roxin/Schünemann, StPO, § 11 Rn. 7. 21 In gewisser Weise ist der Beschuldigte aber auch noch Verfahrens-„Objekt“ oder anders formuliert „Passivbeteiligter“, hierzu LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. J, Rn. 66 m. w. N., 69, 81–86; siehe auch BVerfGE 9, 89, 95 22 BVerfGE 57, 250, 275; 63, 45, 61; 46, 202, 210 23 MüKo-StPO/Kudlich, Bd. 1, Einl., Rn. 282; ähnlich LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. J, Rn. 66. 24 Nach Jahn ZStW 127 (2015), 549, 569, ist das Fairnessprinzip das prozessuale Pendant zur Menschenwürde. 25 Brunhöber ZIS 2010, 761, 764 f. 26 BVerfGE 57, 250, 283. 27 Beispielhaft BVerfG NJW 1978, 151, wonach das Fairnessgebot in gewissen Fällen einen Anspruch auf Beiordnung eines Verteidigers über die Vorschrift bzw. den Wortlaut des § 140 StPO hinaus gebietet. 28 Mahler, Konfrontative Befragung, S. 1 ff., leitet die konfrontative Befragung von Belastungszeugen aus dem Fairnessgebot ab. 18

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A. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen

Verfahrens Einfluss nehmen zu können.29 Dem Beschuldigten ist ein „Mindestbestand verfahrensrechtlicher Mitwirkungsbefugnisse“ einzuräumen.30 Zu denken ist beispielsweise an das Recht des Beschuldigten, sich in jeder Lage des Verfahrens eines Verteidigerbeistandes zu bedienen (§ 137 Abs. 1 S. 1 StPO),31 den aus dem Beweisantragsrecht gem. den §§ 244 ff. StPO32 erwachsene Beweiserhebungsanspruch33 oder ganz allgemein das Recht auf rechtliches Gehör,34 welches beispielsweise in § 33 StPO und § 163a Abs. 1 S. 1 StPO seinen einfachgesetzlichen Niederschlag gefunden hat. Auch § 136a StPO bringt den Fairnessgedanken zum Ausdruck.35 Leitaussagen über die Stellung des Beschuldigten als Verfahrenssubjekt lassen sich ferner den Bestimmungen über die Mitteilung der Anklageschrift (§ 201 StPO), die Ladungsfrist und das Recht zur Ladung von anderen Personen (§§ 217, 219 f. StPO), das Erklärungsrecht und das letzte Wort (§§ 257 f. StPO) sowie das im Rechtsmittelverfahren geltende Verbot der reformatio in peius (§§ 331, 358, 373 StPO) entnehmen.36 Auch die Vorschriften zur Beiziehung eines Dolmetschers soll einer ausreichenden Verteidigungsmöglichkeit Rechnung tragen (§§ 185 Abs. 1 S. 1 GVG, 259 Abs. 1 StPO).37 Unabhängig davon, ob man den Verteidiger als Subjektsgehilfe ansieht38 oder ihm eine selbstständige Subjektsqualität zuspricht,39 sind alle Verteidigerrechte, insbesondere § 147 StPO, Ausfluss der Anerkennung des Beschuldigten als Verfahrenssubjekt.40 Das Fairnessprinzip trägt zudem zur Wahrheitsfindung bei.41 Ein faires Verfahren gebietet es, die Wahrheit weitestgehend aufzuklären und hierbei dem Beschuldigten als Verfahrenssubjekt weitreichende Einwirkungsmöglichkeiten zu

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St. Rspr.: BVerfGE 133, 168, 200; Oswald JR 1979, 99 f. BVerfG NJW 2004, 209, 211; BVerfGK 10, 125, 126. 31 MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 137, Rn. 4, 6, 12. 32 MüKo-StPO/Kudlich, Bd. 1, Einl., Rn. 310. 33 LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. J, Rn. 77. 34 SK-StPO/Wohlers, Bd. 1, Einl., Rn. 61, 64 m. w. N.; vgl. auch LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 107; im Zshg. mit § 147 StPO ausdrücklich KG StV 2016, 545, 546 f.; im gerichtlichen Verfahren wird rechtliches Gehör jedoch auch und insb. vermittels Art. 103 Abs. 1 GG gewährt, worauf nachfolgend gesondert eingegangen wird. 35 Marczak StraFo 2004, 373, 374. 36 LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. J, Rn. 68. 37 Zur Herleitung aus dem Fairnessgebot: BVerfGE 64, 135, 145 ff. 38 SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, Vor §§ 137 ff., Rn. 51; so im Zshg. mit § 147 StPO a. F. etwa noch Hiebl, Probleme, S. 34 f., dessen Auffassung mit dem nunmehr eigenen Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten gem. § 147 Abs. 4 StPO neben dem Einsichtsrecht des Verteidigers aus § 147 Abs. 1 StPO überholt sein dürfte; ähnlich trotz § 147 Abs. 4 StPO n. F.: LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 11. 39 LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. J, Rn. 106. 40 Vgl. allg. LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. J, Rn. 106; zur Rechtsstellung des Verteidigers: ders. a. a. O. Rn. 107 ff. 41 Vgl. BVerfGE 63, 45, 61. 30

I. Das Fairnessgebot

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verleihen. Das Prinzip der prozessualen Wahrheitsermittlung42 findet seinen Ursprung also ebenfalls im Fairnessgebot. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts gebietet es die Wahrheitserforschungspflicht, dass der Sachverhalt im Rahmen der Hauptverhandlung in einer solchen Weise aufzuklären ist, „die nach allgemeiner Prozeßerfahrung die größte Gewähr für die Erforschung der Wahrheit und zugleich für die bestmögliche Verteidigung des Angeklagten und damit für ein gerechtes Urteil bietet.“43 Mit der Subjektivqualität geht mithin der Anspruch des Beschuldigten auf materielle Beweisteilhabe einher und demzufolge auf Zugang zu den Quellen der Sachverhaltsfeststellung.44 Ansonsten wäre die Durchführung gewisser „Mindest-Mitwirkungsrechte“ in vielen Fällen kaum realisierbar.45 Es geht folglich nicht nur darum, dem Beschuldigten das Recht zur ausreichenden Verteidigung hinsichtlich des konkret zur Verfügung gestellten Informationsstoffes einzuräumen. Das Strafverfahren ist vielmehr derart zu gestalten, dass man zunächst einmal die tatsächliche Möglichkeit für eine ausreichende Verteidigung schafft. Erst durch die Gewährung einer ausreichenden Informationsgrundlage kann sich der Betroffene in vollem Umfang rechtlich erklären und hierdurch auf das Verfahren Einfluss nehmen. Das Fairnessgebot gewährt dem Betroffenen auch ein Recht auf rechtliches Gehör,46 dessen Anwendungsbereich noch weiter reicht als Art. 103 Abs. 1 GG.47 Das Bundesverfassungsgericht hat auf das Erfordernis, „prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde selbstständig wahr[zu]nehmen und Übergriffe […] angemessen ab[zu]wehren“,48 hingewiesen. Zudem sind die Einwirkungsmöglichkeiten nicht nur auf der Grundlage ausreichender Informationsbasis zu gewähren, sondern es ist dem Prozesssubjekt eine Ausübung seiner Rechte zur möglichst ungestörten Ausübung einzuräumen.49 Das aus der Subjektstellung abgeleitete Verteidigungsrecht bringt also gewisse „Vorwirkungen“ oder „vorgeschaltete Rechte“ mit sich, um eine ausreichende

42 Eingehend Meyer, Akteninformationsrecht, S. 53 ff. m. w. N.; Winter, Reform, S. 17 ff.; Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 27 ff. 43 BVerfGE 74, 358, 372. 44 BVerfGK 10, 125, 126; BVerfG NJW 2007, 204, 205; dem folgend Mahler, Konfrontative Befragung, S. 1. 45 Vgl. etwa zur ausreichenden Gewährung des Konfrontationsrecht: BGHSt 51, 150, 154 ff. 46 SK-StPO/Wohlers, Bd. 1, Einl., Rn. 61, 64; LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 108; ähnlich schon: BVerfGE 9, 89, 95; 40, 95, 99. 47 BVerfGE 57, 250, 274; 101, 397, 405; 64, 135, 145; LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 14, Fn. 14 m. w. N. Der unterschiedliche Anwendungsbereich wird an späterer Stelle herausgearbeitet, worauf an dieser Stelle lediglich hingewiesen werden soll. 48 BVerfGE 38, 105, 111. 49 LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 108.

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A. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen

Verteidigung zu ermöglichen oder durchzusetzen. Demzufolge gebietet die Subjektstellung des Beschuldigten die verschiedenen Anwesenheitsrechte innerhalb (§§ 230 ff. StPO) wie außerhalb (§ 168c Abs. 2 StPO) der Hauptverhandlung. Weiter ist die (vorläufige) Einstellung des Verfahrens bei vorübergehender50 oder dauerhafter51 Verhandlungsunfähigkeit ebenso Ausdruck der Anerkennung der Subjektstellung wie die vielfach normierten Belehrungs- und Hinweispflichten.52 Auch das nemo-tenetur-Prinzip sichert ab, dass der Beschuldigte nicht zum Verfahrensobjekt degradiert wird;53 die Unschuldsvermutung wird ebenfalls aus dem Fairnessprinzip abgeleitet.54 Weiter soll das Fairnessgebot davor schützen, dass sich Strafverfolgungsorgane widersprüchlich verhalten oder ihre Befugnisse missbrauchen bzw. in rechtsmissbräuchlicher Weise auf Verfahrensbetroffene einwirken.55

2. Die Waffengleichheit Eine weitere Ausprägung der Verfahrensfairness, die – ähnlich dem Recht auf rechtliches Gehör – eigenständige Bedeutung erlangt hat, jedoch aus dem Fairnessprinzip abgeleitet wird, ist der Grundsatz der Waffengleichheit.56 Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt die Forderung nach „verfahrensrechtlicher ,Waffengleichheit‘ von Ankläger und Beschuldigten“57 betont.58 Aus diesem Grund ist dem Beschuldigten auch das Recht zuzusprechen, sich eines Verteidigers zu bedienen.59 Einfachgesetzlich umgesetzt ist dieses Recht in § 137 Abs. 1 S. 1 StPO. Das Waffengleichheitsgebot genießt als Ausprägung des Fairnessgebots verfassungsrechtlichen Rang,60 gilt jedoch nicht im Verhältnis des Beschuldigten zum Gericht.61 Eine völlige Gleichstellung des Beschuldigten (oder des Verteidi50

MüKo-StPO/Wenske, Bd. 2, § 205, Rn. 17. MüKo-StPO/Maier, Bd. 2, § 260, Rn. 134. 52 Beispielhaft §§ 35a, 136 Abs. 1, 216 Abs. 1 S. 1, 228 Abs. 3, 231a Abs. 2 StPO. 53 BGHSt 53, 294, 305 54 Zum Vorstehenden: MüKo-StPO/Kudlich, Bd. 1, Einl., Rn. 282. 55 BVerfG NJW 2004, 2149, 2150; dem folgend Brunhöber ZIS 2010, 761, 762 m. w. N.; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 46; vgl. auch Marczak StraFo 2004, 373, 376 ff. 56 BVerfGE 38, 105, 111; BGH NStZ 1984, 419; vgl. zu kritischen oder gar ablehnenden Auffassungen die Nachweise bei Safferling NStZ 2004, 181, 185. 57 BVerfGE 38, 105, 111. 58 So auch BVerfGE 63, 45, 61; hierzu LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 117. 59 Siehe BVerfGE 66, 313, 318 f.; 68, 237, 255; 110, 226, 253; z. T. wird dieses Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG abgeleitet, siehe hierzu die Nachweise bei LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 137, Rn. 2. 60 Vgl. BVerfG StV 2002, 578, 580. 61 BVerfGE 122, 248, 275; anders offenbar M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 27, wobei hierbei unberücksichtigt bleibt, dass das Gericht in noch geringerem Maße als die Staatsanwaltschaft als prozessualer „Gegenüber“ angesehen werden kann. Das Fairnessgebot im Allgemeinen ist nach zuvor Gesagtem auch und gerade im Verhältnis des 51

I. Das Fairnessgebot

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gers) und der Staatsanwaltschaft geht hiermit indes nicht einher.62 Deshalb ist es auch überzeugend, das Waffengleichheitsgebot aus dem Fairnessprinzip und nicht etwa aus Art. 3 Abs. 1 GG abzuleiten oder hiermit in Verbindung zu setzen.63 Mit dem Begriff der Waffengleichheit wird zunächst ausgedrückt, dass der Beschuldigte und die Staatsanwaltschaft prozessrechtlich nicht völlig identische Verfahrensbeteiligte sind, weshalb die verfahrensspezifischen Unterschiede möglichst auszugleichen sind.64 Aus diesem Grund wird von Teilen des Schrifttums auch der Begriff der „Verfahrensbalance“ bevorzugt.65 Das Strafverfahren ist zwar kein klassischer Parteienprozess im anglo-amerikanischen Sinne66 bzw. entsprechend des deutschen Zivilprozesses67 und ebenso verbietet schon die in § 160 Abs. 1, 2 StPO normierte Objektivitätspflicht der Staatsanwaltschaft die Beschreibung als „kontradiktorisches Parteiverfahren“.68 Jedoch wird man von einer Quasi-Parteistellung des Beschuldigten/Verteidigers und der Staatsanwaltschaft ausgehen müssen,69 da beide Verfahrenssubjekte regelmäßig verschiedene Standpunkte oder auch Interessen vertreten70 und demzufolge zumindest in gewissen Punkten regelmäßig gegensätzliche Meinungen vertreten.71

Beschuldigten zum Gericht anzuwenden, sollte jedoch nicht auf den Teilbereich des Waffengleichheitspostulats ausgedehnt werden. 62 BVerfGE 122, 248, 272, 275; 133, 168, 200. 63 So aber SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 106; Das BVerfG nahm soweit ersichtlich lediglich in BVerfGE 52, 131, 144, worin es um die Waffengleichheit im Zivilprozess ging, eine Mitbegründung aus Art. 3 Abs. 1 GG an; ablehnend LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 119 m. w. N.; krit. ebenfalls Jörke, Akteneinsicht, S. 34 f. 64 BVerfGE 122, 248, 272, 275; dem folgend LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 117. 65 Roxin/Schünemann, § 11, Rn. 7. 66 Vgl. hierzu nur Kelker ZStW 118 (2006), 389, 392 f. 67 Vgl. etwa §§ 253 Abs. 1, 2, 263, 269, 306 f., 308 Abs. 1 ZPO als Ausdruck der im Zivilprozess geltenden Dispositionsmaxime. 68 Roxin/Schünemann, § 17, Rn. 5; Meyer, Dialektik, S. 47. 69 Ein weiteres Argument dafür, dass das inquisitorische Verfahren zumindest Elemente eines Parteienprozesses enthält, ist nach Kelker ZStW 118 (2006), 389, 400, insbesondere die Existenz der §§ 239, 245 Abs. 2 StPO; krit. zur Ablehnung einer Parteienstellung von Angeklagtem und Staatsanwaltschaft auch Gaede StV 2012, 51. 70 Gaede StV 2012, 51, 53; zum psychologischen Phänomen, dass sich die Staatsanwaltschaft an das Ergebnis des Ermittlungsabschlusses emotional gebunden fühlen soll, weil hinter dem Verfasser der Anklageschrift und dem Sitzungsvertreter nicht selten dieselbe Person steht, sodass diese das Bedürfnis bekommen soll, ihre Auffassung zu rechtfertigen: Meyer, Dialektik, S. 49 m. w. N.; hierzu auch Peters, Strafprozeß, S. 48, ähnlich aus Sicht der Gerichte: Gaede StV 2012, 51, 54. 71 Vgl. eingehend Meyer, Dialektik, S. 46 ff.; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 38; Jörke, Akteneinsicht, S. 39; Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 4; als Beispiel für eine überspitzt formulierte Auffassung dient AK-StPO/Stern, Vorbem. § 137, Rn. 14: „Die Staatsanwaltschaft als ,Herrin des Ermittlungsverfahrens‘ genügt den Anforderungen des § 160 Abs. 2 in der

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A. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen

Der Beschuldigte nimmt gegenüber der Strafverfolgungsbehörde regelmäßig eine antagonistische Stellung ein,72 sodass er in der Regel zumindest partiell einen Denkgegensatz erzeugt, um hierdurch einen Beitrag zur (dialektischen) Wahrheitsfindung zu leisten.73 Nichts anderes gilt im Verhältnis von Staatsanwaltschaft und Verteidiger: der Objektivitätspflicht der Staatsanwaltschaft steht die Parteilichkeit des Verteidigers gegenüber, was schon für sich genommen zu einer gewissen „Gegensätzlichkeit“ führen mag.74 Nach Peters bringt es „[d]ie Tätigkeit des Staatsanwalts […] mit sich, eher die Schattenseiten zu sehen, wie umgekehrt der Verteidiger leichter zu einer zu günstigen Beurteilung von Täter und Tat neigt“,75 was für Meyer dazu führen kann, dass „sich Verteidiger und Staatsanwaltschaft als ,berufsmäßige Gegner‘ betrachten.“76 Etwas dezenter formuliert Beulke, dass in dem durch die StPO vorgegebenen „dialektischen Prozeß um die Ermittlung der Wahrheit gerungen wird.“77 In jedem Fall wird man sagen können, dass die Wahrheitserforschung naturgemäß „in ein dialektisches Verfahren primär gegenläufiger Interessen“78 eingebunden ist. Adversatorische Eigenarten wird man dem deutschen Strafprozess folglich nicht absprechen können, was auch in § 246 Abs. 2 StPO und § 368 Abs. 2 StPO („Gegner des Antragstellers“), § 303 S. 1 StPO („mit Zustimmung des Gegners“), § 308 Abs. 1 S. 1 StPO („Nachteil des Gegners“), § 311a Abs. 1 S. 1 StPO („Anhörung des Gegners“), § 335 Abs. 3 S. 2 StPO („dem Gegner zuzustellen“), § 347 Abs. 1 S. 1 StPO und § 390 Abs. 3 S. 2 StPO („Gegner des Beschwerdeführers“) und § 473 Abs. 7 StPO („Widerspruch des Gegners“) zum Ausdruck kommt. Parteiprozessuale Tendenzen lassen sich auch der Möglichkeit einer Verständigung entnehmen, die eine Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten voraussetzt, § 257c Abs. 3 S. 4 StPO. Die vorbenannten Normen verdeutlichen gleichzeitig, dass das Verhältnis von Verteidigung und Staatsanwaltschaft im Grunde vom Gleichberechtigungsaspekt getragen wird.79 Die Herstellung von Waffengleichheit dient demnach – ebenso wie das Fairnessgebot im Allgemeinen – der Wahrheitsfindung.80

Praxis nicht. Sie ist noch weniger ,objektivste Behörde der Welt‘; sie ist – wenn auch nicht rechtlich […] – so doch faktisch Partei.“; Hervorhebung im Originaltext in Fettdruck. 72 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 30. 73 Allgemein Meyer, Dialektik, S. 43–45; dem folgend Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 30; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 54 f. 74 Eingehend Meyer, Dialektik, S. 50 ff.; Artkämper/Herrmann/Jakobs/Kruse, Aufgabenfelder, Rn. 24. 75 Peters, Strafprozeß, S. 48 f.; ähnlich Beulke, FS Dünnebier, S. 296 f. 76 Meyer, Dialektik, S. 53. 77 Beulke, Verteidiger, S. 40. 78 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 29; vgl. zur dialektischen Wahrheitsfindung und einer erforderlichen kontradiktorischen Prüfung: Beulke, Verteidiger, S. 40. 79 So i. E. auch Beulke, Verteidiger, S. 38; zu weiteren Normen, aus denen dieser Rechtsgedanke abgeleitet werden kann: ders. a. a. O. S. 39. 80 Vgl. Safferling NStZ 2004, 181, 187.

I. Das Fairnessgebot

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Nicht durchgesetzt haben sich Ansätze aus der Literatur, die eine Waffenoder Chancengleichheit mit Hinweis auf die Verschiedenartigkeit von Staatsanwaltschaft und Verteidigung ablehnen und lediglich eine funktionale Chancengleichheit, nach der die gleiche Möglichkeit zur Einflussnahme auf die Beweiswürdigung herzustellen ist, einfordern.81 Dass die Befugnisse der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung anzugleichen sind, kommt an mehreren Stellen im einfachen Gesetz zum Ausdruck. Hingewiesen sei insofern etwa auf § 240 Abs. 2 S. 1 StPO (Fragerecht), § 246 Abs. 3 StPO (Aussetzung bei Verspätung), § 255 StPO (Protokollierung der Verlesung) und § 258 StPO (Schlussvorträge).82 Zum Teil wird davon ausgegangen, dass das Postulat der Waffengleichheit im Vorverfahren nicht anwendbar ist83 und in diesem Verfahrensstadium der Anspruch auf Waffengleichheit in einen Anspruch auf effektive Teilhabe am Verfahren umschlägt.84 Dieser Umstand sei dann jedoch durch die prozessuale Fürsorgepflicht in Gestalt von besonderen Hinweis- und Belehrungspflichten der verfahrenstragenden Organe und durch die Gewährleistung einer effektiven Verteidigung zu kompensieren.85 Zum selben Ergebnis gelangt man, wenn man davon ausgeht, dass das Gebot der Waffengleichheit aufgrund der besonderen Wahrung der Wahrheitserforschung im Vorverfahren nur eingeschränkt gilt bzw. leichter einzuschränken ist.86 Im Ermittlungsverfahren muss es der Staatsanwaltschaft ermöglicht werden, weitgehend ungestört und sicher vor Verdunklungsmaßnahmen den Sachverhalt zu erforschen und Beweise zu sichern, sodass der Staatsanwaltschaft ein Informationsvorsprung gegenüber Beschuldigtem und Verteidiger im Ermittlungsverfahren schlechterdings nicht verwehrt werden kann.87 Die Forderung nach einer uneingeschränkten Geltung von Waffengleichheit im Ermittlungsverfahren88 trägt mithin nicht. Sobald die Sachverhaltserforschung bzw. die Beweissicherung abgeschlossen ist, fällt der Unterschied in der Rollenverteilung zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft jedoch weg, sodass eine Differenzierung hinsichtlich der verfahrensrechtlichen Befugnisse auf den Aspekt der sicherzustellenden Wahrheitserforschung nicht mehr gestützt werden kann. Normiert ist dieser As-

81 Safferling NStZ 2004, 181, 188 m. w. N.; krit. ebenfalls Dreher, FS Kleinknecht, S. 106 f. 82 So auch die beispielhafte Aufzählung bei Rzepka, Fairness, S. 347, Fn. 63. 83 SK-StPO/Wohlers, Bd. 1, Einl., Rn. 63. 84 SK-StPO/Wohlers, Bd. 1, Einl., Rn. 63. 85 So ausdrücklich SK-StPO/Wohlers, Bd. 1, Einl., Rn. 63. 86 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 25 f.; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 39 ff.; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 148; eingehend zu (mehr) Kontradiktion im Ermittlungsverfahren de lege ferenda: Schlothauer StV 2016, 607, 609 ff. 87 SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 109; M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 29 f., nimmt im Ermittlungsverfahren deshalb eine Art abgeschwächte Chancengleichheit an. 88 So offenbar Walischewski, Probleme, S. 25; so wohl auch AK-StPO/Schöch, Vorbem. § 158, Rn. 9 StPO.

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A. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen

pekt einfachgesetzlich in § 147 Abs. 2 S. 1 StPO. Eine rechtliche Differenzierung, die durch die Unterschiede in der Verfahrensrolle nicht mehr gedeckt ist, verbietet sich demnach.89

3. Die Fürsorgepflicht Als weitere Ausprägung des Fairnessgebots wird in Rechtsprechung90 und Literatur91 die prozessuale Fürsorgepflicht angeführt. Dahinstehen kann, ob mit kritischen Stimmen im Schrifttum der sogleich vorzustellende Anwendungsbereich schon unter das allgemeine Gebot des fairen Verfahrens fällt,92 sodass eine weitere selbstständige Ausprägung unnötig wäre. Dass der Gewährleistungsgehalt dieser prozessualen Fürsorgepflicht jedenfalls als Konsequenz eines fairen Verfahrens existent ist, wird schließlich weitestgehend anerkannt.93 Unabhängig davon, ob die prozessuale Fürsorgepflicht als eigenständige „Verästelung“ des Fairnessgebots anzusehen ist, sind die nachfolgend zu erläuternden Vorgaben in einem Strafverfahren folglich zu berücksichtigen. Persönlich sind alle Verfahrensbeteiligten von der Fürsorgepflicht umfasst, wobei dem Beschuldigten primäre Bedeutung beigemessen wird.94 Selbst bei der Auslegung und Anwendung von Befugnisnormen zugunsten von Zeugen oder Verletzten sei ihre grundsätzlich und vordergründig beschuldigtenschützende Funktion zu wahren und zu berücksichtigen.95 Inhaltlich geht es bei der Fürsorgepflicht darum, die faktische Ausübung der Verfahrensrechte jedenfalls sicherzustellen, ggf. sogar zu effektivieren; es soll erreicht werden, dass der Beschuldigte ein „Idealbild“ erfüllt, nach dem er die Möglichkeiten zur Einwirkung auf das Verfahren und ihre Grenzen kennt.96 Einem rechtsunkundigen Beschuldigten oder Angeklagten ist nicht viel damit geholfen, wenn ihm das Gesetz weitreichende Rechte einräumt, welche er nicht kennt.97 Diese Defizite in der Handlungskompetenz sollen ausgeglichen werden.98 89 Positiv formuliert dies offenbar BVerfGE 133, 168, 200; eingehend SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 107; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 145; Winter, Reform, S. 25 m. w. N. 90 Soweit ersichtlich wird die prozessuale Fürsorgepflicht in der Rspr. ohne nähere Begründung dem allgemeinen Fairnessgebot zugeordnet: BGHSt 48, 221, 228; BGH NStZ 2004, 636. 91 Maiwald, FS Lange, S. 745 ff.; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 150; vgl. auch Walischewski, Probleme, S. 27 ff. 92 Vgl. LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 121 m. w. N.; siehe hierzu auch Maiwald, FS Lange, S. 754, 764; ähnlich v. Löbbecke GA 120 (1973), 200, 203 ff. 93 Statt vieler Maiwald, FS Lange, S. 745 ff. 94 SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 115; krit. LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 127; zur Fürsorgepflicht ggü. Zeugen: BGH NStZ 1984, 31, 32. 95 LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 126. 96 Maiwald, FS Lange, S. 745 f., 754. 97 Eingehend Maiwald, FS Lange, S. 753 f. 98 SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 110; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 151; ähnlich Marczak StraFo 2004, 373.

I. Das Fairnessgebot

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Seine Verfahrensrechte, namentlich die Verteidigungsrechte, verkämen zur bloßen Hülle, wenn man ihn nicht von diesen Rechten in Kenntnis setzen würde. Daran wird auch der Umstand, dass der Beschuldigte sich eines Verteidigers bedient, nicht automatisch etwas ändern.99 In der Literatur wird die Fürsorgepflicht deshalb auch als „das wichtigste Regulativ für eine fair gehandhabte Inquisitionsmaxime“100 bzw. als „Grundpfeiler eines fairen Prozesses“101 verstanden. Diese Erwägungen weisen sozialstaatliche Elemente auf, weshalb zur Begründung dieser Rechtsfigur zum Teil auch auf das Sozialstaatsprinzip rekurriert wird.102 Konkret gebietet die prozessuale Fürsorgepflicht in allen Verfahrensstadien103 gewisse Belehrungs- und Hinweispflichten,104 die alle Organe der Strafrechtspflege105 zu berücksichtigen haben. Auch die Pflicht zu Rückfragen und Warnungen wird hierunter gefasst.106 Auf die prozessuale Fürsorgepflicht kann im Einzelfall zudem das Erfordernis einer sog. qualifizierten Belehrung gestützt werden.107 Die prozessuale Fürsorgepflicht soll Überraschungsentscheidungen,108 die auf unzureichender Information über die Verfahrensrechte basieren,109 und Willensmängel bei Prozesshandlungen verhindern.110 Letztlich soll diese Fürsorge dazu dienen, die Einflussmöglichkeiten des Beschuldigten zu garantieren111 und ihn hierdurch prozessual vollständig handlungsfähig zu machen.112 Die Rechtsprechung hat den Fürsorgegedanken vermehrt zur Begründung einer Aussetzung113 oder (längeren) Unterbrechung114 der Hauptverhandlung herangezogen.115 Fürsorglich in diesem Sinne kann die Umterminierung oder Aussetzung

99 Vgl. hierzu SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 115 m. w. N.; Maiwald, FS Lange, S. 759, leitet das Institut der notwendigen Verteidigung aus der Fürsorgepflicht selbst ab. 100 Roxin/Schünemann, StPO, § 44, Rn. 26; dem folgend SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 114. 101 Marczak StraFo 2004, 373. 102 SSW-StPO/Beulke, Einl., Rn. 79; LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 121; v. Löbbecke GA 120 (1973), 200, 203; z. T. wird nur auf das Sozialstaatsprinzip bzw. hierauf und auf Art. 3 Abs. 1 GG abgestellt: siehe Roxin/Schünemann, StPO, § 11, Rn. 11; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 150. 103 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 150; ähnlich LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 128 m. w. N. 104 SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 110; BVerfGE 57, 250, 280. 105 SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 115. 106 SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 116 m. w. N. 107 So ausdrücklich SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 110 m. w. N. 108 SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 116 m. w. N. 109 Marczak StraFo 2004, 373, 376; vgl. auch BGHSt 48, 221, 228. 110 SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 116 m. w. N. 111 Maiwald, FS Lange, S. 753; Marczak StraFo 2004, 373, 375. 112 Vgl. Meyer, Akteninformationsrecht, S. 51. 113 BGH StV 1986, 516, 516 f. 114 BGH NStZ 1983, 281; BGH StV 1992, 53, 53 f. 115 Siehe SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 116.

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A. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen

der Hauptverhandlung insbesondere dann sein, wenn der Verteidiger gehindert ist, an den geplanten Terminen teilzunehmen.116 Die Fürsorgepflicht endet jedenfalls an dem Punkt, an dem man das Prozesssubjekt bevormunden würde. Die Fürsorge darf weder aufgedrängt noch darf hierdurch in das Verteidigungsverhalten eingegriffen werden.117 Einfachgesetzlich konkretisiert wird der Fürsorgegedanke beispielsweise in den Belehrungs- und Hinweispflichten gem. den §§ 35a (Rechtsmittel), 55 Abs. 2 (Auskunftsverweigerungsrecht), 115 Abs. 3 S. 1 (Selbstbelastungsfreiheit) und Abs. 4 S. 1 (Rechtsbehelfe), 115a Abs. 3 S. 2 (Vorführung vor den Richter), 136 Abs. 1 StPO (Erste Vernehmung) oder § 265 Abs. 1 StPO (Hinweis bei Veränderung der Sach- oder Rechtslage). Die Vermeidung von Willensmängeln kommt beispielsweise in § 52 Abs. 2 StPO (Zeugnisverweigerungsrecht) zum Ausdruck.118 Die Fürsorgepflicht gewährleistet demnach weniger, dass den Verfahrensbeteiligten bestimmte Verteidigungsrechte eingeräumt werden, sondern setzt die Existenz dieser Verfahrensrechte vielmehr voraus und gebietet nun, zu ermöglichen, dass die Verfahrensbeteiligten ihre Rechte auch effektiv wahrnehmen können.119 Letzteres bedeutet am Beispiel eines Beweisantrages durchgespielt, dass die Fürsorgepflicht ein Beweisantragsrecht nicht begründet, sondern dem Gericht vielmehr die Pflicht auferlegt, ggfs. durch Hilfestellungen darauf hinzuwirken, dass das – einfachgesetzlich vorgesehene – Beweisantragsrecht zweckentsprechend ausgeübt werden kann, mithin die Beweisanträge sachdienlich und ausreichend dargelegt gestellt werden.120 Das Akteneinsichtsrecht selbst steht zwar nicht im Mittelpunkt der prozessualen Fürsorgepflicht. Jedoch wird man annehmen müssen, dass zumindest die Hinweispflicht aus § 147 Abs. 6 S. 2 StPO auf dem Fürsorgegedanken beruht.121 In Teilen des Schrifttums wird zudem angeführt, dass der Fürsorgegedanke der Staatsanwaltschaft die Pflicht auferlegt, die Verteidigung zumindest darüber zu informieren, wenn sich der Aktenbestand verändert hat.122 Zudem sei der Beschuldigte über ein wie auch immer geartetes eigenes Akteneinsichtsrecht zu informieren.123

116 Vgl. LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 124; zu den typischen Erscheinungsformen der Fürsorgepflicht: Hegmann, Fürsorgepflicht, S. 19 ff. 117 LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 126. 118 Hierzu und zu weiteren Konkretisierungen: v. Löbbecke GA 120 (1973), 200, 204. 119 Ähnlich SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 114. 120 Marczak StraFo 2004, 373, 375; vgl. auch BGHSt 22, 188, 122. 121 So auch B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 152; Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 22 f. 122 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 151. 123 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 152; eingehend, auch zur frühestmöglichen Gewährung: Meyer, Akteninformationsrecht, S. 52 f.

II. Das Recht auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 Abs. 1 GG

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II. Das Recht auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 Abs. 1 GG Ferner kommt als Grundlage für § 147 StPO das Recht auf rechtliches Gehör als weiteres Prozessgrundrecht124 bzw. grundrechtsgleiches Recht125 in Betracht. Bei Art. 103 Abs. 1 GG handelt es sich um eine Konkretisierung des allgemeines Fairnessgebots.126 Persönlich schützt Art. 103 Abs. 1 GG zwar grundsätzlich nur die Personen, die durch die gerichtliche Entscheidung betroffen sind. Jedoch ist anerkannt, dass ein Gericht die nachfolgenden Gewährleistungen auch gegenüber anderen Personen, die die Rechte für den Betroffen ausüben – im Strafverfahren namentlich die Verteidiger –, zu berücksichtigen hat.127 Im Folgenden wird näher auf den sachlichen Gewährleistungsgehalt von Art. 103 Abs. 1 GG eingegangen.

1. Die Vorgaben im Allgemeinen Das Recht auf rechtliches Gehör gewährleistet zunächst einmal, dass einer Person vor einer gerichtlichen Entscheidung grundsätzlich die Gelegenheit eingeräumt wird, dass sie sich zu allen Tat- und Rechtsfragen erklärt.128 Strenger formuliert wird durch Art. 103 Ab.1 GG gewährleistet, dass einer gerichtlichen Entscheidung kein Tatsachenstoff zugrunde gelegt werden darf, zu welchem der Betroffene sich nicht vollständig erklären konnte, wobei diesem auch seine rechtliche Stellung bewusst sein muss.129 Das Bundesverfassungsgericht fordert hierbei, dass das Gericht diese Erklärungen nicht nur entgegennehmen, sondern auch in Erwägung ziehen und gegebenenfalls würdigen muss, sich folglich mit den Erklärungen auseinanderzusetzen hat.130 Der Gehörsanspruch verbietet es, mit dem Menschen „kurzen Prozess“ zu machen.131 Das rechtliche Gehör als ein „prozessuale[s] Urrecht des Menschen“132 ist nicht nur als Prozessgrundrecht anerkannt, sondern ein „objektivrechtliches Verfahrensprinzip, das für ein gerichtliches Verfahren im Sinne des Grundgeset-

124

BVerfGE 9, 89, 95; 65, 305, 307; Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 15. Beispielhaft BVerfGE 107, 395, 396; weitere Nachweise, auch zu Auffassungen, wonach Art. 103 Abs. 1 GG etwa ein „echtes“ Grundrecht sei, bei Dürig/Herzog/ScholzGG/Remmert, Bd. 6, Art. 103, Rn. 2. Die Unterscheidung hat auf den Gewährleistungsgehalt des rechtlichen Gehörs jedoch keine Auswirkungen. 126 Vgl. SK-StPO/Wohlers, Bd. 1, Einl., Rn. 61; Rzepka, Fairness, S. 166 ff. 127 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 134 f.; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 28; vgl. auch Winter, Reform, S. 23 f.; Jörke, Akteneinsicht, S. 34. 128 St. Rspr.: BVerfGE 6, 12, 14 f.; 109, 279, 370; 101, 106, 129; 84, 188, 190. 129 LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 75. 130 BVerfGE 18, 380, 384; 11, 218, 220; 42, 364, 367 f.; 86, 133, 145 f.; vgl. auch LRStPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 89 m. w. N. 131 BVerfGE 9, 89, 95; 55, 1, 6; dem folgend Kopp AöR 106 (1981), 604, 606 m. w. N. 132 BVerfGE 55, 1, 6; BVerfGK 7, 205, 210, vgl. auch Wohlers JZ 2011, 78, 79 m. w. N. 125

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A. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen

zes konstitutiv und grundsätzlich unabdingbar ist.“133 Die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts muss dem Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes gerecht werden.134 Der hohe Stellenwert findet auch in der Literatur Erwähnung. Jörke, um nur ein Beispiel zu nennen, spricht von dem „wichtigste[n] Verfahrensrecht des Beschuldigten im Strafverfahren.“135

2. Der Informationsanspruch Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts gewährt das rechtliche Gehör „den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten im Prozess selbstbestimmt und situationsspezifisch gestalten können.“136 Somit ist der Betroffene gegebenenfalls auch von den Stellungnahmen anderer Verfahrensbeteiligter in Kenntnis zu setzen (sog. Replikrecht),137 um die Möglichkeit einer Gegenerklärung zu eröffnen.138 Zudem sind dem Betroffenen die Ergebnisse der Beweiserhebungen zugänglich zu machen139 und Entscheidungen sind grundsätzlich zu begründen.140 Eine bestimmte Art und Weise der Gehörsgewährung schreibt Art. 103 Abs. 1 GG indes nicht vor.141 Hinsichtlich der dem Gericht nicht vorliegenden Informationen garantiert Art. 103 Abs. 1 GG nach Auffassung von Teilen des Schrifttums – unter Hinweis auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – jedoch kein Informationsrecht.142 Sieht man die ratio von Art. 103 Abs. 1 GG (nur) darin, dass eine Person nicht aufgrund solcher Umstände eine nachteilhafte gerichtliche Entscheidung erfahren soll, welche dem Gericht – im Gegensatz zum Betroffenen – bekannt waren,143 erscheint ein solches Verständnis jedenfalls konsequent. Sollte eine solche Pflicht 133 BVerfGE 55, 1, 6; nahezu wortgleich BVerfGK 7, 205, 210; SSW-StPO/Beulke, Einl., Rn. 82. 134 So ausdrücklich BVerfGE 74, 228, 233. 135 Jörke, Akteneinsicht, S. 26. 136 BVerfGK 3, 197, 204. 137 SK-StPO/Wohlers, Bd. 1, Einl., Rn. 65, mit Verweis auf dens. ZStrR 2012, 471, 472 ff., wobei hierin auf das Replikrecht in der Rspr. des EGMR und die Ausgestaltung im sStGB Bezug genommen wird. 138 BVerfGE 7, 275, 278 f., 281. 139 SK-StPO/Wohlers, Bd. 1, Einl., Rn. 65 m. w. N. 140 Krehl, FS Hassemer, S. 1068 f.; Pohlreich, Gehör, S. 264 ff.; SK-StPO/Wohlers, Bd. 1, Einl., Rn. 66. 141 BVerfGE 6, 19, 20; 31, 364, 370; dem folgend B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 130. 142 SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 91; MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 1; v. Mangoldt/Klein/Starck-GG/Nolte/Aust, Bd. 3, Art. 103, Rn. 32, verweisen neben der sog. Spurenakten-Entscheidung auch auf BVerfGE 109, 13, 38. 143 BVerfGE 63, 45, 59 f.; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 27; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 132; Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 21.

II. Das Recht auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 Abs. 1 GG

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nicht aus Art. 103 Abs. 1 GG ableitbar sein, wird entscheidend zu klären sein, ob und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen und auf welche Art und Weise, ein solcher Informationsbestand der Verteidigung zugänglich zu machen ist.144

3. Die Verwirklichungsstufen Ähnlich dem Fairnessgebot umfasst das Recht auf rechtliches Gehör mithin nicht nur ein Äußerungsrecht, sondern es entfaltet auch bestimmte „Vor- und Nachwirkungen“.145 Insgesamt lassen sich aus den vorigen Ausführungen drei Verwirklichungsstufen des Art. 103 Abs. 1 GG ableiten.146 Auf der ersten Stufe hat der Betroffene einen verfassungsrechtlich-fundierten Anspruch auf die Gewährung von ausreichenden Informationen, um das Äußerungsrecht überhaupt in effektiver Weise ausüben zu können (1. Stufe bzw. Vorwirkung).147 Ferner ist anerkannt, dass der Betroffene auf verfahrensrelevante Umstände hinzuweisen ist, um Überraschungsentscheidungen zu entgegnen,148 was ebenfalls dieser „Vorstufe“ zugeschrieben werden kann. Im Anschluss hieran ist das eigentliche Äußerungsrecht, auch in Form von Anträgen, zu nennen (2. Stufe bzw. Kernstück).149 Hierdurch soll der Betroffene eine Gelegenheit zur Einflussnahme bekommen, sodass Art. 103 Abs. 1 GG letztlich auch der Wahrheitsfindung dient.150 Dass die Äußerung auch zu beachten ist, kann sodann als dritte Stufe bezeichnet werden (3. Stufe bzw. Nachwirkung).151 144 Zur Klärung wird also u. a. danach zu fragen sein, inwieweit der Gewährleistungsgehalt des Fairnessgebots weiter reicht als Art. 103 Abs. 1 GG; Hierauf wird an späterer Stelle gesondert eingegangen; vgl. auch Safferling NStZ 2004, 181, 184 m. w. N. 145 MüKo-StPO/Kudlich, Band 1, Einl., Rn. 70. 146 Wohlers JZ 2011, 78, 79 f.; MüKo-StPO/Kudlich, Bd. 1, Einl., Rn. 70 m. w. N.; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 21 ff.; Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 15; Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 38; vgl. auch Pohlreich, Gehör, S. 1 f. 147 Siehe MüKo-StPO/Kudlich, Bd. 1, Einl., Rn. 70; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 21 f.; vgl. auch B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 131; Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 15. 148 BVerfGE 84, 188, 190; dem folgend SK-StPO/Wohlers, Bd. 1, Einl., Rn. 67; BVerfG NJW 1998, 2515, 2523; LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 85; Wohlers JZ 2011, 78, 80. 149 Meyer, Akteninformationsrecht, S. 22; vgl. auch B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 133. 150 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 133; zur Gewährleistung der Wahrheitsfindung: BVerfGE 7, 275, 278 f.; LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 75; vgl. auch Kempf StraFo 2004, 299, 302: „Voraussetzung für seine Stellungnahme ist […] Information über den Tatvorwurf und Kenntnis der Beweismittel, die von der einen Seite zur Sachverhaltskonstruktion herangezogen werden. Eben darin liegt der materielle Gehalt des Grundsatzes audiatur et altera pars.“ 151 MüKo-StPO/Kudlich, Bd. 1, Einl., Rn. 70; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 22; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 134; dieser Stufe kann auch die gerichtliche Begründungspflicht von Entscheidungen zugeordnet werden: siehe hierzu Wohlers JZ 2011, 78, 80; siehe zu den Verwirklichungsstufen insgesamt auch Pohlreich, Gehör, S. 1 f. m. w. N.

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A. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen

4. Anwendbarkeit im Ermittlungsverfahren Unter den Begriff des Gerichts i. S. v. Art. 103 Abs. 1 GG fallen sowohl das erkennende Gericht als auch richterliche Entscheidungen im Ermittlungs- oder Nachverfahren.152 Hierüber besteht weitgehend Einigkeit. Speziell bei verdeckten Ermittlungen mit Richtervorbehalt kann es rechtsstaatlich angezeigt sein, vor einer gerichtlichen Entscheidung das rechtliche Gehör ausnahmsweise vorläufig zu verwehren, da der Ermittlungszweck ansonsten gefährdet würde. In diesem Fall ist jedenfalls eine nachträgliche Gewährung rechtlichen Gehörs erforderlich, um die gerichtliche Entscheidung möglicherweise zu korrigieren.153 Dies ist in § 101 Abs. 4–7 StPO auch einfachgesetzlich normiert. Umstritten ist seit jeher, ob Art. 103 Abs. 1 GG auch im Ermittlungsverfahren gilt, falls es noch zu keiner richterlichen oder gerichtlichen Entscheidung gekommen ist. In der Sache geht es also um die Frage, ob Art. 103 Abs. 1 GG auch bei rein strafverfolgungsbehördlichem Handeln anwendbar ist. Dies ist für die Reichweite des Akteneinsichtsrechts im Ermittlungsverfahren von Bedeutung. Einer Auffassung zufolge gilt Art. 103 Abs. 1 GG nur im gerichtlichen Verfahren.154 Diese Auffassung teilt in ständiger Rechtsprechung auch das Bundesverfassungsgericht.155 Der Wortlaut von Art. 103 Abs. 1 GG („Vor Gericht“) sei insoweit eindeutig.156 Zudem wird auf die systematische Stellung von Art. 103 GG im 9. Abschnitt („Die Rechtsprechung“) hingewiesen, aus der zu schließen sei, dass die Staatsanwaltschaft nicht in den Anwendungsbereich der Norm falle.157 Dies wird teilweise dadurch korrigiert, dass etwa ein neben Art. 103 Abs. 1 GG bestehender gewohnheitsrechtlicher Anspruch auf Gehör die Gewährung rechtlichen Gehörs auch im nicht-gerichtlichen bzw. nicht-richterlichen Ermittlungsverfahren gebiete.158 Ebenso könnte man der Bestimmung in Art. 103 Abs. 1 GG den Charakter einer objektiven Strukturnorm zuweisen oder mittels eines Vergleichs mit dem Verwaltungsverfahren, in welchem das Gehörsrecht ebenfalls gilt, zu einer Anwendung eines verfassungsrechtlich verbürgten, allgemeinen Gehörsanspruchs im Ermittlungsverfahren gelangen.159 Die Gegenauffassung wendet Art. 103 Abs. 1 GG über den Wortlaut hinaus generell auch im Vorverfahren an.160 Eine Beschränkung auf das Hauptverfahren würde auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der der 152

LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 80. BVerfGE 9, 89, 98 f.; 18, 399, 404. 154 Peters, Strafprozeß, S. 207; Baur, AcP 153 (1954), 393, 405 f.; Arndt NJW 1963, 455, 456; Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 20 f. 155 BVerfGE 27, 88, 103. 156 Schlothauer StV 1987, 356, 359. 157 Meyer, Akteninformationsrecht, S. 31. 158 Seidel NJW 1964, 757, 758. 159 Schlothauer StV 1987, 356, 359. 160 Jörke, Akteneinsicht, S. 32; vgl. auch Behrendt, Gehör, S. 14 f.; Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 24 f.; ungenau Wasserburg NJW 1980, 2440, 2441. 153

II. Das Recht auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 Abs. 1 GG

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Gehörsanspruch Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens sei, zuwiderlaufen.161 Zudem sei die Gewährung rechtlichen Gehörs im Klageerzwingungsverfahren anerkannt, welches zu dem gleichen Ergebnis führen könne wie das Ermittlungsverfahren, sodass Art. 103 Abs. 1 GG generell auch im Ermittlungsverfahren gelten müsse.162 Jedenfalls sei ein Kernbestand rechtlichen Gehörs auch im Ermittlungsverfahren zu gewähren.163 Die Auffassung, die Art. 103 Abs. 1 GG nur im gerichtlichen Verfahren für anwendbar hält, verdient dennoch den Vorzug. Nur sie ist methodisch haltbar, wohingegen die Ansicht der Gegenauffassung mit dem allgemeinen Sprachgebrauch des Gesetzes nicht in Einklang zu bringen ist.164 Der klare Wortlaut des Art. 103 Abs. 1 GG erfährt durch Art. 92 GG eine weitere Bestätigung.165 Hiernach ist die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut. Die rechtsprechende Gewalt – also die Gewalt der Gerichte – wird gem. Art. 92 Hs. 2 GG durch das Bundesverfassungsgericht und durch die vorgesehenen Bundes- und Landesgerichte ausgeübt. In diesem Sinne wird die organisatorische Ausrichtung der rechtsprechenden Gewalt in Art. 95 Abs. 1 GG ausschließlich mit Gerichten und in Art. 95 Abs. 2 GG lediglich mit Richtern in Zusammenhang gebracht. Spätestens an dieser Stelle wäre eine Normierung einer innerdienstlichen Ausgestaltung der Staatsanwaltschaft angezeigt gewesen, wollte man den Gewährleistungsgehalt von Art. 103 Abs. 1 GG in gleichem Umfang auf den Bereich der Staatsanwaltschaft übertragen. Ebenso wäre in Art. 96 GG eine grundsätzliche Regelung bzgl. der Bundesanwaltschaft angebracht, wenn der Verfassungsgeber die Staatsanwaltschaft den Gerichten bzw. der rechtsprechenden Gewalt gleichstellen bzw. die Schutzpflichten aus Art. 103 Abs. 1 GG angleichen wollte. Auch Art. 98 GG beinhaltet ausschließlich Regelungen für Richter. Gem. Art. 97 Abs. 1 GG sind diese lediglich ihrem Gewissen unterworfen, was für weisungsbefugte Personen, die der Staatsanwaltschaft angehören, gerade nicht gilt. Auch hier hätte es einer differenzierenden Klarstellung bedurft, an der es nur deshalb fehlt, weil die Staatsanwaltschaft schlicht nicht als Gericht verstanden wird und diesem auch nicht im Wesentlichen gleichgesetzt werden soll. Dies ist auch konsequent, da die richterliche Gewalt von anderen Gewalten insbesondere durch den Verbindlichkeitsanspruch der von einem Richter getroffenen Entscheidungen abzugrenzen ist,166 was man staatsanwaltlicher Ermittlungsarbeit nicht attestieren kann.167

161

Siehe Jörke, Akteneinsicht, S. 30 f. Hiebl, Probleme, S. 30 f., unter Hinweis auf BVerfG NJW 1976, 1629. 163 LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 80. 164 Meyer, Akteninformationsrecht, S. 31. 165 So auch schon der Hinweis von Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 20, Meyer, Akteninformationsrecht, S. 31, und Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 18. 166 So ausdrücklich v. Mangoldt/Klein/Starck-GG/Classen, Bd. 3, Art. 92, Rn. 15. 167 Vgl. Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 20; krit. ebenfalls Walischewski, Probleme, S. 16 f. 162

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A. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen

Art. 101 GG und gleichsam Art. 103 Abs. 1 GG fügen sich in dieses Regelungsgefüge nicht nur systematisch, sondern auch begrifflich nahtlos ein. Art. 104 GG regelt zwar, welche Mindestanforderungen bei einer Freiheitsentziehung einzuhalten sind, sodass mittelbar auch auf die Strafverfolgungsbehörden Bezug genommen wird. Art. 104 GG wird jedoch nur aufgrund des normierten Richtervorbehaltes im 9. Abschnitt geregelt worden sein. Der Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts steht hierzu nicht im Widerspruch, sondern bestätigt die hier vertretene Auffassung vielmehr. Denn der Gedanke, der hinter Art. 103 Abs. 1 GG steht, ist das Fairnessgebot und dieses Postulat gilt während des gesamten Strafverfahrens und ist in diesem Sinne auch ein objektiv im gesamten Verfahren geltendes Verfahrensprinzip.168 Der Vergleich mit dem Klageerzwingungsverfahren geht schon deshalb fehl, weil das Bundesverfassungsgericht in der in Bezug genommenen Entscheidung den Beschluss eines Oberlandesgerichts für verfassungswidrig erklärt hat.169 Über einen Klageerzwingungsantrag entscheidet ausweislich der §§ 174 Abs. 1, 175 S. 1 StPO ein Gericht, worüber die in gewisser Weise vergleichbare Ausgangssituation nicht hinwegtäuschen kann. Ein Ermittlungsverfahren, das von der Staatsanwaltschaft ohne Anrufung eines Gerichts/Richters geführt wird, unterfällt folglich nicht Art. 103 Abs. 1 GG. Dies führt indes nicht dazu, dass ein Recht auf rechtliches Gehör im Ermittlungsverfahren nicht besteht. Als Ableitung dieses Gehörsanspruches aus dem Fairnessgebot muss dieses Recht auch in diesem Verfahrensabschnitt gelten.170 Dies folgt dann jedoch nicht aus Art. 103 Abs. 1 GG,171 sondern eben aus Art. 20 Abs. 3 i. V. m. Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG.172 Art. 103 Abs. 1 GG regelt lediglich das gerichtliche, oder noch genauer: das richterliche, Gehör.173 Die Normierung in Art. 103 Abs. 1 GG ist somit rein deklaratorisch,174 zeigt jedoch gleichzeitig, dass der Verfassungsgeber der Gewährung rechtlichen Gehörs vor einer gerichtlichen Entscheidung eine immense Bedeutung beigemessen hat.

5. Einfachgesetzliche Konkretisierung In der StPO kommt das Recht auf rechtliches Gehör vielfach zum Ausdruck. Neben den §§ 33 f. StPO (Gewährung rechtlichen Gehörs und Wiedereinsetzung

168 Ähnlich Meyer, Akteninformationsrecht, S. 30 f., und Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 20 f. 169 Siehe BVerfGE 42, 172, 174 f. 170 Ähnlich Dahs, Gehör, S. 70 f.; vgl. auch BVerfGE 9, 89, 95; Rieß, FS Rebmann, S. 395. 171 So aber Dahs, Gehör, S. 71. 172 So i. E. auch B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 137; ähnlich auch Meyer, Akteninformationsrecht, S. 32. 173 Auch Safferling NStZ 2004, 181, 185, geht bei Art. 103 Abs. 1 GG von einem richterlichen Gehör aus. 174 Behrendt, Gehör, Einl. S. XVIII; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 32.

II. Das Recht auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 Abs. 1 GG

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bei Nichtgewährung) gewähren die §§ 136, 163a StPO (Vernehmung), § 201 Abs. 1 StPO (Erklärungsrecht vor Hauptverfahren-Eröffnung), § 257 StPO (Erklärungsrecht nach Beweiserhebung), § 258 StPO (Das letzte Wort) und die §§ 308, 347, 349 Abs. 3 StPO (Recht auf Gegenerklärung) rechtliches Gehör.175 Auch das Beweisantragsrecht gem. den §§ 244 ff. StPO fußt auf Art. 103 Abs. 1 GG.176 Die konkretisierenden Normen decken sich mit den Vorschriften, denen das Fairnessgebot zugrunde liegt. Demgemäß fußen auch alle Normen, die Informationsbefugnisse – bzw. aus entgegengesetzter Sicht: Hinweis- und Informationspflichten – enthalten, auf dem Recht auf rechtliches Gehör. Hierzu zählt neben den §§ 114 Abs. 2, 200 StPO (Konkretisierung der Tatumstände) oder der Hinweispflicht aus § 265 StPO auch das Akteneinsichtsrecht gem. § 147 StPO.177 Letzteres steht auf der Ebene der ersten Verwirklichungsstufe des Art. 103 Abs. 1 GG. Die Ableitung von § 147 StPO aus Art. 103 Abs. 1 GG steht auch nicht zu § 261 StPO in Widerspruch, nach dem die richterliche Überzeugung nicht aus der Aktenlage entstehen darf, sondern aus dem Inbegriff der Verhandlung entstehen muss. Teilweise wird der Einwand erhoben, dass Art. 103 Abs. 1 GG gewährleiste, dass der Tatsachenstoff und das Beweisergebnis nur insoweit verwertbar seien, als hierzu dem Angeklagten zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt wurde; bei einer Deduktion von § 147 StPO aus Art. 103 Abs. 1 GG könne deshalb jedes Akteneinsichtsgesuch abgelehnt werden, weil man darauf verweisen könnte, dass dieses Stellungnahmerecht schon aus der Anwesenheit des Angeklagten und des Verteidigers erwachse, sodass es eines Rückgriffs auf § 147 StPO gar nicht mehr bedürfe; § 147 StPO als Ausprägung von Art. 103 Abs. 1 GG solle nach diesem Verständnis schließlich lediglich dieses Stellungnahmerecht absichern.178 Diese Überlegung greift indes ersichtlich zu kurz. Es ist zwar richtig, dass Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistet, dass man Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Tatsachen- und Beweisstoff erhalten haben muss, damit dieser verwertbar ist. Jedoch gewährt Art. 103 Abs. 1 GG als Vorwirkung einen Informationsanspruch,179 der von dem ebenfalls (oder primär) von Art. 103 Abs. 1 GG umfassten Äußerungsrecht zu trennen ist.180 „Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs vor Gericht dient“,181 so das Bundesverfassungsgericht, „nicht nur der Abklärung der tatsächlichen Grundlage der Entscheidung, sondern auch der Achtung der 175 Hierzu und zu weiteren rechtliches Gehör gewährenden Vorschriften: LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 79; SSW-StPO/Beulke, Einl., Rn. 83; SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 93. 176 SK-StPO/Wohlers, Bd. 1, Einl., Rn. 66 m. w. N. 177 LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 79; bzgl. § 147 StPO: BVerfGE 18, 399, 405; Schäfer NStZ 1984, 203, 204; SK-StPO/Wohlers, Bd. 1, Einl., Rn. 65 f. m. w. N. 178 So Welp, FG Peters II, S. 309; Wohlers/Schlegel NStZ 2010, 486, 487. 179 In diese Richtung tendiert Welp, FG Peters II, S. 310, i. E. jedoch auch. 180 Meyer, Akteninformationsrecht, S. 25 f.; ähnlich B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 132. 181 BVerfGE 55, 1, 5.

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A. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen

Würde des Menschen, der in einer so schwerwiegenden Lage, wie ein Prozeß sie für gewöhnlich darstellt, die Möglichkeit haben muß, sich mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten.“182 Und dies ist nur dann in vollem Maße möglich, wenn man sich auf den Inbegriff der Verhandlung i. S. v. § 261 StPO ausreichend vorbereiten kann. Aus diesem Grund kann der Betroffene nicht auf Alternativen verwiesen werden, die nicht ebenso effektiv für seine Verteidigung sind wie die Einsicht in die Verfahrensakten.183

6. Zwischenergebnis § 147 StPO ist somit auch Ausprägung des Art. 103 Abs. 1 GG, soweit in diesem Verteidigungsrechte normiert sind, die für die Hauptverhandlung oder zumindest für richterliche Entscheidungen im Ermittlungsverfahren gelten.184 Alternative Informationsrechte, wie sie beispielsweise in den §§ 136 Abs. 1 S. 1, 200 f. StPO vorgesehen sind, oder auch § 261 StPO tragen dem Regelungsgehalt des Art. 103 Abs. 1 GG nicht ausreichend Rechnung.185 Ohne die Informationsgewährung in Gestalt der Akteneinsicht bliebe der Gehörsanspruch ein nudum ius.186

III. Weiteres Verfassungsrecht Darüber hinaus können auch noch weitere eigenständige verfassungsrechtliche Aspekte mit Blick auf das Akteneinsichtsrecht relevant werden. Beispielhaft ist die Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG anzuführen,187 die die Effektivität des Rechtsschutzes gewährleistet.188 Jedenfalls innerhalb eines strafrechtlichen Rechtsweges hängt die Effektivität des Rechtsschutzes insbesondere von dem erlangten Informationsstand ab, sodass § 147 StPO verfassungsrechtlich auch auf Art. 19 Abs. 4 GG zurückzuführen ist.189 Die Rechtsschutzgarantie ist

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BVerfGE 55, 1, 5 f.; dem folgend Kopp AöR 106 (1981), 604, 606. Jörke, Akteneinsicht, S. 28; siehe auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 3. 184 So i. E. auch Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 20, der das Akteneinsichtsrecht hierneben mittelbar auch auf den Unmittelbarkeits-/Mündlichkeitsgrundsatz zurückführt; siehe auch Schneider Jura 1995, 337, 337; Park StV 2009, 276, 277; Jahn, FS I. Roxin, S. 591; Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 38. 185 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 16 ff.; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 24 ff.; ob Art. 103 Abs. 1 GG ein Akteneinsichtsrecht zwingend voraussetzt, wurde bei BVerfGE 63, 45, 60, ausdrücklich offengelassen; hierauf weist richtigerweise auch Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 16, hin. 186 So ausdrücklich LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 2. 187 Walischewski, Probleme, S. 19. 188 Siehe nur Dreier-GG/Schulze-Fielitz, Bd. 1, Art. 19 IV, Rn. 80 f. 189 Vgl. im Zshg. mit der Aktenvorlagepflicht an das Gericht i. R. e. verwaltungsrechtlichen Gerichtsverfahrens: BVerfGE 101, 106, 122 f.; eingehend Walischewski StV 2001, 243, 246 f.; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 259 f., 263 ff.; hiermit ist nicht die Rechtsschutz183

IV. Zwischenergebnis

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jedoch derart eng mit dem Gehörsanspruch aus Art. 103 Abs. 1 GG verzahnt,190 dass aus Art. 19 Abs. 4 GG keine hinsichtlich § 147 StPO relevanten, eigenständigen Ge- oder Verbote abzuleiten sind, die nicht schon aus Art. 103 Abs. 1 GG hervorgehen.191 Auch die inhaltlichen Vorgaben aus der Unschuldsvermutung, dem Recht auf effektive Verteidigung(-svorbereitung) und dem Beschleunigungsgebot gehen, als Ausprägung des verfassungsrechtlich geschützten Fairnessgebots, in dem zuvor dargestellten Anwendungsbereich ebendieses Gebots auf.192 Ebenso verhält es sich mit dem Schuldprinzip, woraus sich ebenfalls die Pflicht zur materiellen Wahrheitserforschung ableiten lässt; ebenjenes wird im Wesentlichen aus der Menschenwürdegarantie und dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet,193 sodass hiermit keine für diese Untersuchung inhaltlichen Neuerungen im Vergleich zu den Ausführungen zum Fairnessgebot verzeichnet werden können.194 Auf diese oder weitere verfassungsrechtliche Aspekte wird an späterer Stelle eingegangen, soweit diese von Bedeutung sind.

IV. Zwischenergebnis § 147 StPO ist eine Konkretisierung des Fairnessgebots, insbesondere in Gestalt des Waffengleichheitsgrundsatzes.195 Zudem findet die Vorschrift ihre verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 103 Abs. 1 GG als spezielle Ausprägung des Fairnessgebotes.196 Bei diesen Direktiven handelt es sich um parallel wirkende und jeweils eigenständige Kontrollmaßstäbe,197 sodass bestimmte Auslegungs-

möglichkeit gegen die Entscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht (§ 147 Abs. 5 StPO) gemeint, was jedoch ebenfalls auf Art. 19 Abs. 4 GG zurückzuführen ist. 190 Vgl. Meyer, Akteninformationsrecht, S. 259. 191 Mit v. Mangoldt/Klein/Starck-GG/Huber, Bd. 1, Art. 19, Rn. 363 f., wäre die Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG deshalb ohnehin verdrängt. 192 Zum aus dem Rechtsstaatsprinzip und der Menschenwürde abgeleiteten Postulat der Unschuldsvermutung, welches eine möglichst frühzeitige und vollständige Akteneinsicht erfordert: Meyer, Akteninformationsrecht, S. 47 f.; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 154 ff.; ähnlich Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 31 f.; zum aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Recht auf effektive Verteidigungsvorbereitung: Meyer, Akteninformationsrecht, S. 49 ff.; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 156 ff.; vgl. auch Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 32 f.; zur Relevanz des Beschleunigungsgebots als Ausprägung des Fairnessgebots: B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 152 f. 193 Siehe Landau NStZ 2011, 537, 538, 540 ff. m. w. N.; im Zshg. mit dem Untersuchungsgrundsatz: Pohlreich, Gehör, S. 73 ff. m. w. N. 194 Selbiges gilt für Art. 12 Abs. 1 GG, sofern man § 147 StPO mit LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 4, auch auf die Berufsfreiheit zurückführen wollte. 195 So etwa auch Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 127; siehe auch Eisenberg NJW 1991, 1257, 1258. 196 Siehe zum Vorstehenden i. E. auch Schröder, Akteneinsicht im Spannungsfeld, S. 125; Wu HRRS 2018, 108, 109; Stuckenberg StV 2010, 231, 231. 197 So ausdrücklich Tettinger, Fairneß, S. 12.

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A. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen

fragen- oder -ergebnisse grundsätzlich an den aufgezeigten Vorgaben beider Rechte zu messen sind.198 Soweit ein bestimmter Aspekt zu einer Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG führt, scheidet eine zusätzliche Verletzung des Fairnessgebots unter demselben Gesichtspunkt jedoch aus; insoweit ist von klassischer Spezialität des Art. 103 Abs. 1 GG auszugehen.199 Die Pflicht zur prozessualen Fürsorge im Kontext des Akteneinsichtsrechts zeigt sich in § 147 Abs. 6 S. 2 StPO. Weitere Verästelungen des Fairnessgebots oder auch die Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG können (wie auch sonst) prinzipiell immer bedeutend werden, weshalb hieraus erwachsene besondere Vorgaben gegebenenfalls gezielt an späterer Stelle aufgegriffen werden.

V. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung für Eingriffe Im Folgenden wird erörtert, wie sich Rechtsprechung und Literatur zu der Einschränkbarkeit der vorgestellten, aus der Verfassung abgeleiteten Verfahrensrechte verhalten und inwieweit den vorstehenden Verfahrensrechten Schranken gesetzt werden können.200 Sofern ein bestimmtes Begehren des Beschuldigten oder Verteidigers nicht schon aus dem Schutzbereich des jeweiligen Verfahrensgrundrechts herausfällt, stellte jede Nichtgewährung/Einschränkung einen Eingriff dar, der einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedarf. Sieht man das Fairnessgebot und den in Art. 103 Abs. 1 GG normierten Gehörsanspruch nicht als ein (Prozess-)Grundrecht an, in welches man verfassungsrechtlich gerechtfertigt eingreifen kann, sondern vielmehr als ein solches Verfassungsrecht, welches entweder verletzt ist oder eben nicht,201 sind die nachfolgenden Ausführungen ebenso relevant, um bestimmen zu können, ob das jeweilige Verfahrensrecht aufgrund entgegenstehender anderer Rechte betroffen ist. Der Interessenausgleich wäre dann auf der Ebene des Gewährleistungsumfanges zu finden.

198 Demgemäß BVerfGE 41, 246, 249; 52, 203, 206 f.; 57, 250, 274 f.; dem folgend Tettinger, Fairneß, S. 12; anders offenbar Dreier-GG/Schulze-Fielitz, Bd. 3, Art. 103 I, Rn. 85, der bei Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 103 Abs. 1 GG stets von Spezialität ausgeht; krit. zur Ansicht des BVerfG auch Dürig/Herzog/Scholz-GG/Remmert, Band 6, Art. 103 Abs. 1, Rn. 30 m. w. N. 199 Tettinger, Fairneß, S. 12; Jahn ZStW 127 (2015), 549, 565. 200 Das BVerfG prüft soweit ersichtlich in keiner Entscheidung, ob ein Eingriff in das Fairnessgebot im konkreten Fall verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Es wird lediglich geprüft, ob im jeweiligen Fall der Schutzbereich eröffnet ist und ein Eingriff hierin vorliegt, was bei Bejahung offenbar stets zur Verletzung führt. Verständlich ist dies jedenfalls dann nicht, wenn man beim Fairnessgebot von einem originären (Prozess-)Grundrecht ausgeht, weshalb hierauf im Folgenden auch überblicksartig eingegangen wird; vgl. hierzu auch schon Meinke, Verbindung, S. 78 f. 201 Dies wird bei manchen (Prozess-)Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten z. T. angenommen. Beispielhaft sei hier auf Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 103 Abs. 2 GG hingewiesen; vgl. hierzu Schroeder JA 2010, 167, 170, 173.

V. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung für Eingriffe

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Der Gehörsanspruch ist schrankenlos gewährleistet, sodass nur verfassungsimmanente Schranken als Einschränkungsgründe in Betracht kommen.202 Der Interessenkonflikt ist im Rahmen einer Güterabwägung zu lösen, wobei ein Ausgleich zwischen den beiden Positionen dergestalt herbeizuführen ist, sodass beide Interessen ihre Wirkung optimal entfalten können (sog. praktische Konkordanz).203

1. Einschränkbarkeit der relevanten Verfassungsvorgaben Es stellt sich die Frage, welches kollidierende Verfassungsrecht regelmäßig in Betracht zu ziehen ist. Die Einschränkbarkeit von Art. 103 Abs. 1 GG ist mit dem herrschenden, dem Folgenden zu Grunde liegenden Verständnis anerkannt.204 Die Frage, ob das Fairnessgebot einschränkbar ist, weist hingegen dogmatische Besonderheiten auf, die vorangestellt werden. a) Mitbegründung durch Art. 1 Abs. 1 GG Zunächst muss berücksichtigt werden, dass das Fairnessgebot mitunter aus Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet wird, dessen Schutzbereich nach herrschendem Verständnis nicht einschränkbar ist, die Menschenwürde gilt absolut.205 Es ist demnach zu fragen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen ein Eingriff in ein derart kombinatorisch zusammengesetztes Recht verfassungsrechtlich zu rechtfertigen ist. Zum einen gibt es Kombinations-Grundrechte, bei denen die Menschenwürdegarantie zur Verstärkung bestimmter Abwägungspositionen herangezogen wird.206 Solche Kombinationen dienen dazu, aufzuzeigen, „welches Schutzniveau dem Einzelnen im konkreten Fall definitiv zusteht“.207 Hierdurch werden die Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung zugunsten eines Abwägungslagers erhöht.208 Der Schutzbereich des „Haupt-“Grundrechts wird von dem zur Absteckung der definitiven Abwägungsgrenze hinzugezogenen Grundrechtes nicht betroffen.209 Demzufolge sind auch keine Modifikationen auf der Eingriffsebene oder hinsichtlich der Ausgestaltung der Schranken vorzunehmen. Am Beispiel des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) verdeutlicht, entfaltet das Würdeargument seine Wirkung etwa erst 202

B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 139. B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 160. 204 Vgl. Dreier-GG/Schulze-Fielitz, Bd. 3, Art. 103 I, Rn. 83 m. w. N.; bei anderer Sichtweise wäre der Gewährleistungsgehalt auf Schutzbereichsebene einzuschränken. 205 BVerfGE 75, 369, 380; eingehend Dürig/Herzog/Scholz-GG/Herdegen, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1, Rn. 73 m. w. N. auch zur Gegenauffassung. 206 Eingehend Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 131 ff. m. z. N. 207 Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 43. 208 Eingehend Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 133 ff. 209 Eingehend Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 43. 203

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A. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen

auf Rechtfertigungsebene, also zur „Einengung der Grundrechtschranken“,210 sodass das Grundrecht „im Hinblick auf das die zulässigen Grundrechtsschranken bestimmende Verhältnismäßigkeitsprinzip materiell verstärkt“211 wird.212 Andererseits hat das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG angeführt, dass der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit prinzipiell auch „[…] im Lichte des Art. 1 GG und der darin verbürgten Unantastbarkeit der Menschenwürde ausgelegt […]“ werden könne.213 Hierbei geht das Bundesverfassungsgericht offenbar davon aus, dass Art. 1 Abs. 1 GG kombinatorisch auch auf der Schutzbereichsebene seine Wirkung entfalten kann.214 Bei ersterer Fallgruppe wirkt das kombinatorisch hinzugezogene Grundrecht nur zur Verstärkung der Abwägungspositionen. Nur wenn der Menschenwürdegehalt seine Wirkung jedoch bereits auf den Schutzbereich des Fairnessgebots entfaltete, stellte sich folglich die Frage, ob das Fairnessgebot einschränkbar ist. Es fragt sich also zunächst, ob der Menschenwürdegehalt auf den Schutzbereich des Fairnessgebots einwirkt. Das Fairnessgebot wird allen voran deshalb auf Art. 1 Abs. 1 GG gestützt, weil der Beschuldigte davor geschützt werden soll, (nur) als Objekt und nicht als Subjekt des Strafverfahrens angesehen zu werden. Bei den Ausprägungen des Fairnessgebots geht es nach hiesiger Untersuchung im Kern letztlich immer wieder darum, einer solchen Person nicht die Würde abzusprechen und dementsprechend ehrenvoll mit ihr umzugehen – auch und insbesondere in einem Strafverfahren. Man würde solcher Art betroffene Personen zum Objekt des Strafverfahrens degradieren, wenn sie nicht mit diesen oder jenen (Verteidigungs-) Rechten ausgestattet wären. Die Menschenwürde ist beim Fairnessgebot demnach nicht nur als ein Abwägungsfaktor oder zur Grenzziehung eines definitiven Grundrechtsschutzes hinzuzuziehen, sondern der Menschenwürdeaspekt macht den Schutzbereich des Fairnessgebotes geradezu aus215 und wirkt folglich als Interpretationshilfe im Rahmen der Schutzbereichsauslegung.216 Die Ausgangsfrage stellt sich bei dem Fairnessgebot also in der Tat. Wie vollziehen sich Eingriffe und Schranken bei Kombinations-Grundrechten, bei denen 210 v. Mangoldt/Klein/Starck-GG/Starck, Bd. 1, Art. 2 Abs. 1, Rn. 57; Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 75. 211 v. Mangoldt/Klein/Starck-GG/Starck, Bd. 1, Art. 2 Abs. 1, Rn. 15. 212 Ein kombinatorisch hinzugezogenes Grundrecht kann sich sowohl auf Schutzbereichsebene als auch i. R. d. verfassungsrechtlichen Rechtfertigung auswirken, vgl. hierzu Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 75 f. m. w. N. 213 BVerfGE 56, 54, 74. 214 Eingehend Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 81. 215 Ob die Menschenwürde beim Fairnessgebot auch als Schranken-Schranke fungiert und demnach nicht nur auf Schutzbereichsebene, sondern auch i. R. d. Rechtfertigung gesondert zu berücksichtigen ist, ist an dieser Stelle nicht entscheidend. 216 So ausdrücklich auch Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 54, am Beispiel von Art. 14 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG.

V. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung für Eingriffe

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Art. 1 Abs. 1 GG (auch)217 der Verstärkung oder Erweiterung des Schutzbereichs dient, kurzum: Sind solche Grundrechte eingriffsresistent? Wirkt die Menschenwürdegarantie beim Fairnessgebot also auf Schutzbereichsebene, so liegt bei einem Eingriff in das Fairnessgebot ein Eingriff in die Menschenwürde nahe, obwohl die Menschenwürde nach herrschendem Verständnis als absolut geltend angesehen wird.218 Man kann das Fairnessgebot zwar nicht in dem Sinne einschränken, dass man bestimmte von dem Fairnessgebot umfasste Rechte gänzlich verwehrt. Anders ausgedrückt kann aus bestimmten verfassungsrechtlichen Erwägung keine Rechtfertigung dafür hergeleitet werden, dass ein Verfahren ausnahmsweise nicht fair, also unfair, geführt wird. Jedoch könnte es doch verfassungsrechtlich geboten sein, dem Beschuldigten einerseits ein bestimmtes, aus dem Fairnessgebot abgeleitetes, Verteidigungsrecht zwingend zuzusprechen, dieses Recht jedoch für gewisse Situationen (zeitweilig) zu beschränken. Im Falle einer Kombination eines Grundrechts mit der Menschenwürdegarantie wird eine solche Beschränkbarkeit einem Begründungsansatz zufolge im Allgemeinen für zulässig erachtet. In diesen Fällen sei die Funktion der Menschenwürdenorm als objektiv-rechtlicher Interpretationsmaßstab zu verstehen.219 Dieser Ansatz kann jedenfalls beim Fairnessgebot nicht überzeugen, da das Fairnessgebot seine Wirkungskraft oder seine Existenz primär aus der Subjektstellung des Beschuldigten ableitet, welche der Objektformel i. R. d. Menschenwürdegarantie entspringt. Zwar ist anerkannt, dass die Menschenwürde durch ihre Ausstrahlungswirkung „ihre Maßstabs- und Orientierungsfunktion entfaltet“220, „ohne als subjektives Grundrecht betroffen zu sein“221 und insofern eine objektiv-rechtliche Maßstabsfunktion innehat.222 Wollte man ein Grundrecht jedoch insbesondere mit der subjektiv-rechtlichen Komponente der Menschenwürdegarantie begründen, überzeugt es nicht, die Beschränkbarkeit auf die objektive Komponente der Menschenwürde zu stützen. Würde man im Falle eines Kombinations-Grundrechts die Menschenwürdenorm – wie hier – als subjektiv-wirkendes Grundrecht begreifen, müsste man 217 Schließlich kann es auch Kombinations-Grundrechte geben, bei denen Art. 1 Abs. 1 GG sowohl auf Schutzbereichs- als auch auf Rechtfertigungsebene wirkt bzw. wirken soll, vgl. hierzu Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 43. Wirkt der Menschenwürdegehalt auf Schutzbereichsebene, so wird er in der Regel jedoch auch mehr oder minder auf die Verhältnismäßigkeit ausstrahlen. 218 Statt aller Dürig/Herzog/Scholz-GG/Herdegen, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1, Rn. 73 m. w. N. auch zur Gegenansicht. 219 v. Mangoldt/Klein/Starck-GG/Starck, Bd. 1, Art. 2 Abs. 1, Rn. 57; weitere Nachweise bei Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 75, Fn. 146. 220 Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 73; siehe hierzu auch Stern, Staatsrecht, Bd. 4/1, S. 69; Stern, FS Badura, S. 584. 221 Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 73. 222 Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 92.

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A. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen

jedoch, so Breckwoldt, entweder das Kombinations-Grundrecht gänzlich als unbeschränkbar ansehen oder Art. 1 Abs. 1 GG würde an Absolutheit einbüßen.223 Von anderer Seite wird der Menschenwürde daher etwa für das allgemeine Persönlichkeitsrecht eine (erweiternde) Wirkung auf Schutzbereichsebene zugesprochen,224 ohne hierbei einen Konflikt mit der Absolutheit der Menschenwürde zu sehen.225 Dogmatisch begründet wird dies im Wesentlichen damit, dass der Schwerpunkt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auf Art. 2 Abs. 1 GG liege, was eine Einschränkbarkeit durch die dort normierten Schranken rechtfertige.226 Letzterer Begründungsansatz kann ebenfalls nicht auf das Fairnessgebot übertragen werden, da der Schwerpunkt des Fairnessgebotes nicht auf Art. 2 Abs. 1 GG liegt, sondern vielmehr die Sachnähe zur Menschenwürde besteht. Die „Entweder-Oder“-Sichtweise von Breckwoldt überzeugt jedoch jedenfalls in ihrer Pauschalität auch nicht. Man muss nämlich berücksichtigen, dass mit der Kombination aus Art. 20 Abs. 3, Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 (und Abs. 2 S. 2) GG ein eigenständiges verfassungsrechtliches Schutzgut existiert.227 Dienen bestimmte Verfassungsrechte der Modifikation des Schutzbereiches der einzelnen Verfassungsrechte, so wird der Schutzbereich verselbstständigt. Entsteht aus mehreren Einzelverfassungsrechten ein neues (kombiniertes) Verfassungsrecht, das selbstständig neben den anderen Einzelverfassungsrechten besteht, so bedarf es auch einer grundlegend selbstständigen Ausgestaltung dieses KombinationsGrundrechts.228 Die Frage der Einschränkbarkeit des Fairnessgebots hängt also damit zusammen, ob man die Ausgestaltungen anderer Grundrechte auf dieses Kombinations-Grundrecht übertragen kann. Einerseits trägt die Übertragung der Absolutheit von Art. 1 Abs. 1 GG auf das Fairnessgebot nicht, da zwar eine Sachnähe zum Menschenwürdeaspekt besteht, die vom Fairnessgebot geschützten Aspekte jedoch nicht in den Schutzbereich von Art. 1 Abs. 1 GG fallen, sodass die Absolutheit, die allenfalls bei Art. 1 Abs. 1 GG anzunehmen ist, nicht weiter ausgedehnt werden sollte. Andererseits überzeugt die Übertragung der Schranken aus Art. 2 Abs. 1 GG eben aufgrund der größeren Sachnähe des Fairnessgebots zum Menschenwürdegedanken nicht. Ohnehin ist nicht einzusehen, auch nur irgendeine Schrankenregelung auf das 223 Am Beispiel des allgemeinen Persönlichkeitsrechts: Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 75; zu weiteren kritischen Stimmen dies. a. a. O. S. 82 f.; ähnlich DreierGG/ders., Bd. 1, Art. 2 I, Rn. 69. 224 Beispielhaft Geddert-Steinacher, Menschenwürde, S. 137. 225 Geddert-Steinacher, Menschenwürde, S. 138; der Aspekt der Menschenwürde komme bei dem unantastbaren Kernbereich, also bei der Intimsphäre, zum Anklang, siehe hierzu Meinke, Verbindung, S. 57 ff. 226 Heß, Grundrechtskonkurrenzen, S. 129; Meinke, Verbindung, S. 57 ff. 227 Zum „Kombinations-Grundrecht“ Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 98 ff.; abl. allg. Stern, Staatsrecht Bd. 3/2, S. 56; weitere Nachweise zu kritischen Stimmen bei Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 98, Fn. 260. 228 Heß, Grundrechtskonkurrenzen, S. 84 f.; dies erkennt auch Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 61, 98 f., an.

V. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung für Eingriffe

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Fairnessgebot zu übertragen. Das Fairnessgebot, insbesondere vom Bundesverfassungsgericht als Prozessgrundrecht verstanden,229 kann schließlich nicht allein aus Art. 20 Abs. 3 GG hergeleitet werden, da es sich beim Rechtsstaatsprinzip um ein Staatsstrukturprinzip handelt und es wird auch nicht durch eine Nichtgewährung eines bestimmten Verteidigungsrechtes uno actu die Menschenwürde verletzt. Gleiches gilt für Art. 2 Abs. 1 bzw. Abs. 2 S. 2 GG. Es handelt sich bei dem Fairnessgebot folglich um ein völlig eigenständiges, zur erforderlichen Grundrechtswahrung notwendig kombinatorisch begründetes Recht. Das Fairnessgebot erhält folglich einen eigenständigen Schutzbereich und ist demzufolge von den Einzelgrundrechten und Art. 20 Abs. 3 GG dogmatisch „losgelöst“. Andererseits ist das Fairnessgebot dogmatisch verfestigt, sodass es auch einer eigenständigen Schrankenregelung bedarf.230 In der Literatur wird bei Kombinations-Grundrechten in diesem Sinne deshalb auch der Begriff der „Verschmelzung“ verwendet.231 Gegen die Übertragung einer vorbenannten Schrankenregelung spricht speziell beim Fairnessgebot weiter, dass Art. 103 Abs. 1 GG – als Ausprägung des Fairnessgebots – ebenfalls schrankenlos gewährleistet ist, andererseits aber auch nicht absolut gilt bzw. unantastbar ist.232 Bereits auf Schutzbereichsebene gilt der Gehörsanspruch nur „vor Gericht“. Diese Wertentscheidung des Verfassungsgebers würde bei der Übertragung einer Schrankenregelung also unterlaufen werden, was es zu vermeiden gilt. Das Fairnessgebot ist somit einerseits einschränkbar, wobei die Schranken nicht normiert sind, sodass es sich um ein sog. schrankenlos gewährleistetes Prozessgrundrecht handelt. Andererseits können Schranken anderer Grundrechte nicht übertragen werden, sodass ausschließlich verfassungsimmanente Schranken in Betracht kommen. Dies wird dem hohen Gewährleistungsgehalt des Fairnessgebots gerecht und lässt dabei trotzdem noch Raum für eine Einschränkung der Verteidigungsrechte. Gleichzeitig setzt sich so die Normstruktur des Art. 103 Abs. 1 GG fort, was eine einheitliche Anwendung ermöglicht. Umso näher ein bestimmter Eingriff in Verteidigungsrechte dem Menschenwürdegehalt kommt, desto höher werden dann jedoch die Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung.233

229

BVerfGE 57, 250, 275; weitere Nachweise bei Brunhöber ZIS 2010, 761, 762 Fn. 7. Vgl. hierzu Beyerbach, Unternehmensinformation, S. 250, 255 f.; Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 98, fordert dies (neben eigenständigem Schutzbereich und eigenständiger Schrankenregelung) für die Annahme eines sog. Kombinations-Grundrechtes. 231 Schmalz, Grundrechte, S. 140, Rn. 361; Beyerbach, Unternehmensinformation, S. 250; weitere Nachweise bei Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 98, Fn. 265. 232 Vgl. zu denkbaren Einschränkungen von Art. 103 Abs. 1 GG nur Dreier-GG/SchulzeFielitz, Bd. 3, Art. 103 I, Rn. 83 m. w. N. 233 Zum ähnlichen Ergebnis käme man bei einer Schrankenübertragung, vgl. hierzu Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 64 ff. 230

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A. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen

Hielte man ein Grundrecht, das unter anderem mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung gesetzt wird, für nicht einschränkbar, so müsste man die jeweiligen Weichenstellungen, wie auch sonst bei Art. 1 Abs. 1 GG, auf der Schutzbereichsebene vornehmen. Ein bestimmtes Verhalten des Staates würde dann entweder in den Schutzbereich des Fairnessgebots fallen oder eben nicht. Spricht man sich gänzlich gegen die Absolutheit der Menschenwürde aus, stellt sich das Problem der Einschränkbarkeit des Fairnessgebotes aufgrund der Mitbegründung durch Art. 1 Abs. 1 GG erst gar nicht. b) Kombination mit objektiven Verfassungsprinzipien Keine weiteren Besonderheiten ergeben sich dadurch, dass das Fairnessgebot mitunter auf das Rechtsstaatsprinzip als objektives Verfassungsprinzip zurückgeht. Durch die Verbindung eines oder mehrerer Grundrechte mit einem Verfassungsprinzip werden dessen inhaltliche Komponenten dem Grundrecht hinzugefügt,234 sodass die jeweilige Staatszielbestimmung in gewisser Weise subjektiviert wird.235 Der Gewährleistungsgehalt des Fairnessgebots wird also durch die Kombination mit Art. 20 Abs. 3 GG mit rechtsstaatlichen Erwägung „angereichert“. Ein Eingriff in das Fairnessgebot führt deshalb auch nicht zwingend zu der Annahme, das jeweilige Strafverfahren würde rechtstaatswidrig ausgestaltet worden sein. Vielmehr wird durch den Einfluss von Art. 20 Abs. 3 GG (auch) auf Schutzbereichsebene „die Herausbildung von Fallgruppen und einer bereichsspezifischen Dogmatik [ermöglicht]“,236 was gleichzeitig eine Auslegungsmaxime für die weiter in die Kombination eingebundenen Grundrechte bildet.237 Ein Eingriff in das Fairnessgebot führt folglich nicht umgehend zu einer Verletzung desselben. Modifikationen auf der Ebene des Eingriffes oder der Schranken gehen mit der Hinzuziehung von Art. 20 Abs. 3 GG nicht einher.

234 Siehe Meinke, Verbindung, S. 78; dem folgend Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 115. 235 Dies hat das BVerfG schon mit der Elfes-Konstruktion im Grundsatz anerkannt: BVerfGE 6, 32, 41; vgl. hierzu insgesamt Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 116 ff.; als vergleichbare Subjektivierung von Staatszielbestimmungen ist das in-Verbindung-Setzen des Sozialstaatsprinzips mit Grundrechten anzuführen, vgl. hierzu erneut Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 120 ff. 236 Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 118. 237 Zur objektiven Komponente bei der Kombination mit Art. 20 Abs. 3 GG: Breckwoldt, Grundrechtskombinationen, S. 119; dies. a. a. O. S. 118, und Meinke, Verbindung, S. 83, sehen den Hintergrund der Kombination von Grundrechten mit dem Rechtsstaatsprinzip insbesondere in der Ergänzung der vorhandenen Justizgrundrechte. Gemeint ist hiermit offenbar eine lückenschließende Funktion, die sich beim Fairnessgebot ebenfalls aufgetan hätte, wenn man mit der hier vertretenen Auffassung den Anwendungsbereich von Art. 103 Abs. 1 GG auf gerichtliche bzw. richterliche Verfahren beschränkt.

V. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung für Eingriffe

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c) Zwischenergebnis Der Grundsatz der Absolutheit der Menschenwürde gilt im Allgemeinen bei Kombinations-Grundrechten, die neben der Menschenwürdegarantie auf weiteres Verfassungsrecht zurückgeführt werden, nicht. Für das Fairnessgebot ergibt sich dies insbesondere schon aus der Existenz des bedingt geltenden Art. 103 Abs. 1 GG als spezieller Ausprägung der Verfahrensfairness. Die aus dem Fairnessgebot abgeleiteten Rechte können durch verfassungsimmanente Schranken beschränkt werden, wobei i. R. d. verfassungsrechtlichen Rechtfertigung zu prüfen ist, ob durch eine solche Einschränkung, also durch den jeweiligen Eingriff in den Schutzbereich des Fairnessgebots, das Verfahren nicht unfair geworden ist. Die Mitbegründung des Fairnessgebots auf Art. 20 Abs. 3 GG reichert den Schutzbereich mit weiteren Aspekten an, was an der Einschränkbarkeit nichts zu ändern vermag.

2. Kollidierende Verfassungsgüter Wenn das Fairnessgebot und der Gehörsanspruch einschränkbar sind, gilt es zu klären, welche gegenläufigen Interessen hierfür in Betracht kommen. Regelmäßig geht es hierbei um drei Aspekte. a) Die Funktionstüchtigkeit/-fähigkeit der Strafrechtspflege Als Schranke des Fairnessgebots ist zum einen das Verfassungsgut der Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen bzw. funktionsfähigen (Straf-)Rechtspflege zu nennen, welches durch Art. 20 Abs. 3 GG gewährleistet wird.238 Es besteht ein Bedürfnis für eine wirksame Strafverfolgung239 und ein öffentliches Interesse an einer idealerweise vollständigen Wahrheitsermittlung im Strafprozess.240 Ferner ist die Aufklärung von (schweren) Straftaten als wesentlicher Auftrag eines rechtsstaatlichen Gemeinwesens anzusehen.241 Dass die Verfahrensrechte des Beschuldigten dabei weitgehend zu wahren sind, die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege also kein „über allem“ stehendes Dogma ist,242 unterstreicht das Bundesverfassungsgericht durch relativierende Formulierungen, wie beispielsweise durch den Hinweis auf die „Rechtspflege […], deren Aufgabe es ist, […] die Durchsetzung von Gerechtigkeit zu ermöglichen […]“,243 oder indem es auf das „Erfordernis[…] einer an rechtsstaat-

238

BVerfGE 44, 353, 374; 46, 214, 222 f.; vgl. auch BVerfGE 80, 367, 375. BVerfGE 20, 144, 147; 44, 353, 374. 240 BVerfGE 32, 373, 381. 241 BVerfGE 29, 183, 194. 242 Eingehend hierzu Walischewski, Probleme, S. 61 ff.; vgl. auch Jörke, Akteneinsicht, S. 52 ff. 243 BVerfGE 77, 65, 76. 239

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A. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen

lichen Garantien ausgerichteten Rechtspflege“244 abstellt.245 Die wirksame Verteidigung darf aus Gründen der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege also nicht unmöglich werden;246 beide Forderungen stehen wechselwirkend zueinander.247 Andererseits vermag das Erfordernis einer funktionsfähigen Strafrechtspflege die Verfahrensgrundrechte des Beschuldigten/Verteidigers zu beschränken. Dies hat das Bundesverfassungsgericht auch im Zusammenhang mit einem Auskunftsbegehren des Beschuldigten gegenüber der Staatsanwaltschaft ausdrücklich klargestellt.248 Obgleich dieses Verfassungsprinzip in der Literatur kritisiert wird, etwa als „Gespenst […] der Verfassungsgerichtsbarkeit“,249 hat sich die Berechtigung eines solchen Verfassungsprinzips durchgesetzt;250 muss ein Rechtsstaat doch in der Lage sein können, dem materiellen Strafrecht zur Durchsetzung zu verhelfen.251 Eine Ausprägung des Gebotes, die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege zu wahren, ist zum einen das sog. Ermittlungsgeheimnis.252 Es soll den Strafverfolgungsbehörden möglich sein, grundsätzlich ungestört und weitgehend sicher vor Störungen und Manipulationen den konkreten Sachverhalt umfassend zu ermitteln.253 Vielfach wird betont, dass hiermit nicht ein völlig geheimes Ermittlungsverfahren einhergehen kann, da der Beschuldigte ansonsten seiner auch im Vorverfahren bestehenden Mitwirkungsrechte vollständig beraubt würde.254 Dies gilt namentlich für die aus dem Fairnessgebot hervorgehenden Beschuldigtenrechte. Für Art. 103 Abs. 1 GG ist dieser Aspekt grundsätzlich nicht von Belang, weil diese Norm nach hier vertretener Auffassung bei „rein staatsanwaltschaftlich“ geführten Ermittlungsverfahren nicht anwendbar ist.

244

BVerfGE 80, 367, 375. B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 164. 246 Jörke, Akteneinsicht, S. 14; dem folgend B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 172; Winter, Reform, S. 27 m. w. N. 247 Winter, Reform, S. 27; vgl. i. E. auch BVerfGE 46, 214, 222 f.; an dieser Stelle kommt die Janusköpfigkeit der Wahrheitsermittlungspflicht zum Vorschein; siehe hierzu im Zshg. mit dem Schuldprinzip: Pohlreich, Gehör, S. 75 ff. m. w. N. 248 BVerfG NJW 1984, 1451 f.; ähnlich i. E. BVerfGE 38, 312, 321; hierzu auch M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 32. 249 Hassemer StV 1982, 275; eingehend zu weiteren kritischen Stimmen: Walischewski, Probleme, S. 58 ff.; M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 33. 250 Hierzu und zum Vorstehenden: B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 161 ff.; siehe auch M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 34 m. w. N. 251 Eingehend B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 162 f.; Walischewski, Probleme, S. 61; M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 34. 252 Vgl. BVerfG NJW 1984, 1451 f.; BVerfG NStZ-RR 1998, 108, 109. 253 Siehe B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 165. 254 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 168; vgl. auch Meyer, Akteninformationsrecht, S. 60 ff.; Jörke, Akteneinsicht, S. 56 f. 245

V. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung für Eingriffe

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Zum zweiten gebietet die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege die Verfahrensbeschleunigung. Der Beschleunigungsgrundsatz wirkt nach mittlerweile wohl herrschender Auffassung sowohl zugunsten als auch zulasten des Beschuldigten.255 Dies wird damit begründet, dass eine Entscheidungsfindung in angemessener Zeit wichtiger Bestandteil einer dem Ziel der Wiederherstellung von Rechtsfrieden genügenden Strafrechtspflege sei.256 Als dritte Verästelung ist das Missbrauchsverbot zu nennen. Selbstredend darf beispielsweise ein Akteneinsichtsgesuch nicht wiederholt gestellt werden, um das Verfahren zu verzögern bzw. zu verschleppen oder sonst wie zu missbrauchen. In diesem Fall diente die Geltendmachung des Akteneinsichtsrechts nicht mehr der Wahrnehmung legitimer Verteidigungsinteressen.257 Zum Ausdruck kommen diese Leitgedanken i. R. v. § 147 StPO bei der Unterscheidung zwischen Verteidiger und Beschuldigten bzgl. der Art und Weise der Einsichtsgewährung (vgl. § 147 Abs. 1 und 4 StPO) und der in § 147 Abs. 2 StPO normierten Einschränkungsmöglichkeit. Aber auch die Akteneinsichtsgewährung kann der Sachverhaltsaufklärung dienen und das Verfahren hierdurch beschleunigen, sodass die Akteneinsicht auch für eine Steigerung der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege dienlich sein kann.258 b) Persönlichkeitsrechte Dritter Strafrechtlichen Akten können regelmäßig – und dies wird durch den technischen Fortschritt um ein Vielfaches zunehmen – Informationen von dritten Personen entnommen werden. Diese Personen haben ein aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gem. Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitetes Recht darauf, dass mit ihren personenbezogenen Daten respektvoll und vor allem schonend umgegangen wird. Dies umfasst das Recht eines jeden einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, ob und inwieweit persönliche Informationen verarbeitet werden.259 Eine Akte kann Informationen, die der Sozial- oder Privatsphäre, aber auch solche, die der Intimsphäre zuzuordnen sind, beinhalten. Zu denken ist beispielsweise an wirtschaftliche/berufliche oder ehrverletzende Informationen. Auch der Intimbereich dritter Personen könnte in vielen Fällen durch eine uneingeschränkte Akteneinsicht tangiert werden,260 wie etwa in Sexualstrafverfahren. 255 Eingehend SSW-StPO/Satzger, Art. 6 EMRK, Rn. 100 ff.; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 169 f.; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 64 f.; Tepperwien NStZ 2009, 1, 7, kritisiert die „Beschleunigung über alles“ als ein „Danaergeschenk“ für die Betroffenen. 256 M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 36 m. w. N.; siehe auch Jörke, Akteneinsicht, S. 57 m. w. N.; krit. zur Einschränkbarkeit von § 147 StPO durch den Beschleunigungsgrundsatz: Jörke a. a. O. S. 58 f.; ablehnend im Zshg. mit Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK: LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 334. 257 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 171. 258 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 173. 259 BVerfGE 65, 1, 43. 260 Zum Vorstehenden: B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 176.

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A. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen

Ein Großteil der Literatur spricht sich dafür aus, dass Rechte Dritter das Akteneinsichtsrecht und demnach die dahinterstehenden Verfahrensgrundrechte nicht einzuschränken vermögen,261 jedenfalls soweit dies zur Verteidigung erforderlich ist.262 In diese Richtung tendiert auch das Bundesverfassungsgericht, wenn es in der sog. Spurenakten-Entscheidung ausführt: „Ihre Entscheidungen sind also nicht dahin mißzuverstehen, daß es die Wahrung von Persönlichkeitsrechten Dritter rechtfertigen könne, für die Sachaufklärung möglicherweise bedeutsame Ermittlungsvorgänge zurückzuhalten. Es ist daher nicht zu besorgen, daß Landgericht und Bundesgerichtshof verkannt hätten, daß Persönlichkeitsrechte Dritter gegenüber der gebotenen Wahrheitsermittlung im Strafverfahren regelmäßig nachrangig sind […].“263

Dem ist mit Hinweis auf die Gewichtigkeit der mit dem Akteneinsichtsrecht zusammenhängenden Verfassungsgrundsätze im Ansatz zuzustimmen.264 Die zur Verteidigung erforderlichen Einsichtsrechte sind insofern auch angemessen i. S. d. Kasuistik zur verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeit. Dies kommt auch einfachgesetzlich in § 3 BDSG zum Ausdruck, nach dem die Verarbeitung von personenbezogenen Daten von staatlicher Seite stets zulässig ist, soweit sie zur jeweiligen Aufgabenerfüllung oder zur Ausübung der hoheitlichen Gewalt erforderlich ist. Hieran angelehnt gilt es jedoch noch herauszuarbeiten, was für ein Bestand an personenbezogenen Daten für die Verteidigung als generell erforderlich anzusehen ist. Dies hängt von den Aufgaben und der Funktion der Verteidigung ab. Ob Grundrechtspositionen, insbesondere das allgemeine Persönlichkeitsrecht, dritter Personen eine Beschränkung des Akteneinsichtsrecht gem. § 147 StPO per se nicht zu rechtfertigen vermögen, bedarf demzufolge einer gesonderten Überprüfung. c) Staatliche Geheimhaltungsgründe und Zeugenschutzinteressen Aus vielerlei Gründen kann der Staat schließlich ein Interesse an der Geheimhaltung bestimmter Informationen haben, was zur Einschränkung des Akteneinsichtsrechts führen bzw. einen Eingriff in die jeweiligen Verfahrensgrundrechte darstellen kann. In diese Rubrik fällt insbesondere die Geheimhaltung von Informationen zum Schutz gefährdeter Zeugen, Beamter oder verdeckt ermitteln-

261 Vgl. Meyer, Akteninformationsrecht, S. 69 f.; Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 70 f.; Jörke, Akteneinsicht, S. 65 f. 262 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 176. 263 BVerfGE 63, 45, 72 f.; in diesem Sinne wurde bei BGHSt 29, 99, 104, das Akteneinsichtsrecht und das hiermit verbundene Recht, die auf diesem Wege erlangten Informationen dem Mandanten weiterzugeben, über das Recht der Zeugen auf Geheimhaltung ihrer Zeugenaussage gestellt. 264 Vgl. auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 2, 4 f. m. w. N.

V. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung für Eingriffe

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der Personen. Auch kann die Akteneinsicht zum Bekanntwerden bestimmter Staatsgeheimnisse führen, was die Staatssicherheit gefährdet.265 Diese Belange können die Verfahrensgrundrechte bei Annahme eines Interessenüberhangs in rechtmäßiger Weise einschränken.266 Der Schutz von Staatsgeheimnissen ist, soweit er in einem Funktionszusammenhang zu staatlichen Aufgaben steht,267 als Gemeinwohlanliegen anerkannt268 und genießt insoweit auch verfassungsrechtlichen Schutz.269 Hinsichtlich behördlicher Sperrerklärungen zur Wahrung der Sicherheit der Bundesrepublik kann der Schutz von Staatsgeheimnissen verfassungsrechtlich auch auf den Gewaltenteilungsgrundsatz aus Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG270 und auf das Rechtsstaatsprinzip271 zurückgeführt werden. Auch Leib, Leben und Freiheit einer Person sind verfassungsrechtlich geschützt, Art. 2 Abs. 2 S. 1, 2 GG.272 Einfachgesetzlich konkretisiert sind vorstehende Aspekte insbesondere in § 96 StPO und § 110b Abs. 3 StPO.273

265 Eingehend und krit. zur (dauerhaften) Einschränkbarkeit des Akteneinsichtsrecht aufgrund staatlichen Geheimhaltungsinteresses: Meyer, Akteninformationsrecht, S. 67 f. 266 Eingehend B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 174 f.; vgl. auch M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 37 f.; krit. Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 66 ff.; nach BGH NJW 1963, 1462, 1462 f., ist der Interessenkonflikt i. d. R. dadurch zu lösen, dass die Akteneinsicht bzgl. geheimer Unterlagen an bestimmte Auflagen geknüpft wird, anstatt das Einsichtsrecht zu verweigern oder auf die Besichtigung am Orte der Verwahrung zu verweisen. 267 Benedikt, Geheimnisschutz, S. 21. 268 Siehe BVerfGE 101, 106, 127 f.: „Die Geheimhaltung […] ist ein legitimes Anliegen des Gemeinwohls.“; siehe hierzu Benedikt, Geheimnisschutz, S. 21. 269 BVerfGE 21, 239, 243 f.; 57, 250, 284; 101, 106, 127 f.; eingehend und hierauf bezugnehmend Benedikt, Geheimnisschutz, S. 21 m. w. N. 270 Siehe hierzu nur BGHSt 38, 237, 243 ff. 271 Vgl. BVerfGE 57, 250, 283: „Bewegt sich die Behörde bei ihrer Entscheidung im rechtsstaatlichen Rahmen […].“; verfassungsrechtlich basiert ein solches Interesse am Schutz von Staatgeheimnissen letztlich (auch) auf das schon dargestellte Gebot, eine funktionstüchtige (Straf-)Rechtspflege zu gewährleisten, vgl. hierzu erneut BVerfGE 57, 250, 284: „Die Wahrnehmung derartiger – in ihrer rechtlichen Gebundenheit nicht außerhalb des Rechtsstaats stehender – Aufgaben würde erheblich erschwert und in weiten Teilen unmöglich gemacht, wenn die Aufdeckung geheimhaltungsbedürftiger Vorgänge im Strafverfahren ausnahmslos geboten wäre.“; sofern das Geheimhaltungsinteresse auf den Schutz von Leib und Leben der geheim gehaltenen Person abzielt, ist ein solches Interesse zudem mit Art. 2 Abs. 2 S. 1, 2 GG begründbar, siehe BVerfGE 57, 250, 284 f. 272 Beispielhaft BVerfGE 57, 250, 284 f. 273 Wobei noch zu erörtern sein wird, ob durch §§ 96, 110b Abs. 3 StPO die Einsicht in die Akten beschränkt wird oder ein entsprechender Informationsträger erst gar nicht als Aktenbestandteil anzusehen ist; vgl. hierzu Jörke, Akteneinsicht, S. 62 ff.; hierzu und zur (Rechtmäßigkeit und Überprüfbarkeit einer) Sperrerklärung gem. § 96 StPO (analog) eingehend: Pohlreich, Gehör, S. 17 ff. m. z. N.

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A. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen

VI. Ergebnis Das Verfassungsrecht ist bei der Anwendung des Strafprozessrechts, insbesondere der verfassungskonkretisierenden Normen, zu berücksichtigen. Gegenläufige verfassungsrechtliche Aspekte sind gegebenenfalls in einen weitestgehend angemessenen Ausgleich zu bringen. Auf weitere Einschränkungsmöglichkeiten durch Verfassungsrecht wird nicht weiter eingegangen, es ist für die hiesige Fragestellung nicht von Bedeutung.274

274 Meyer, Akteninformationsrecht, S. 71 f., und Jörke, Akteneinsicht, S. 66 f., erwägen die potentielle Einschränkungsmöglichkeit aufgrund des Beschuldigtenschutzes.

B. Völkerrecht und das Recht der Europäischen Union

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Nach der Analyse des Verfassungsrechts soll eine systematische Analyse des Rechts der Europäischen Union und etwaiger völkerrechtlicher Verträge vorgenommen werden, die mit § 147 StPO zusammenhängen bzw. von denen ausgehend § 147 StPO auszulegen ist. Der Großteil der vorstehend aufgezeigten verfassungsrechtlichen Vorgaben gleicht sowohl den europäischen als auch den völkerrechtlichen Bestrebungen.2 Nur vereinzelt sind Besonderheiten oder hervorzuhebende Akzentuierungen auszumachen. Die Darstellung wird deshalb auch konzentrierter vorgenommen, als diejenige der verfassungsrechtlichen Vorgaben. Im Mittelpunkt steht hierbei die EMRK. Soweit für die hiesige Untersuchung relevant, wird auf europäisches Sekundärrecht ebenfalls Bezug genommen.

1 Die EMRK kann aktuell als europäisches Recht i. w. S. angesehen werden: so etwa die Bezeichnung in der rechten Tabellenspalte bei Ambos, Internationales Strafrecht, § 9, Rn. 18. Einerseits ist in Art. 6 Abs. 2 S. 1 EUV der Beitritt der Union zur EMRK vorgesehen und auch gelten die Grundrechte aus der EMRK gem. Art. 6 Abs. 3 EUV als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts. Zudem besitzt die EU gem. Art. 47 EUV eine eigene Rechtspersönlichkeit, sodass sie der EMRK beitreten kann. Jedoch ist die Union, in der vom Europarat entworfenen Form, der EMRK bislang noch nicht beigetreten. Die EMRK ist folglich noch nicht Teil der Unionsrechtsordnung im engeren Sinne (Recht der Europäischen Union), vgl. zum Ganzen eingehend: Ambos, Internationales Strafrecht, § 9, Rn. 18; § 10, Rn. 7 f. m. w. N.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 4, Rn. 2 ff.; zum Europarat und dem hierdurch vorbereiteten völkerrechtlichen Vertrag der EMRK: Klocke EuR 2015, 148, 150; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 1, Rn. 2 f.; somit ist es bislang treffender, differenzierend vom Recht der Europäischen Union und Völkerrecht (Europarat und EU) oder europäischen Vorgaben „i. w. S.“ zu sprechen; aus Gründen der völkerrechtlichen Bindung ist die EMRK für die ihr beigetreteten Mitgliedsstaaten, wie die BRD, verpflichtend. Eine innerstaatliche Berücksichtigungspflicht für Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht im Görgülü-Beschluss angenommen, vgl. grundlegend BVerfGE 111, 307, 316 ff.; fortgeführt in BVerfGE 128, 326, 366 ff. 2 Vgl. beispielhaft die Linie des EGMR zum Gehörsanspruch bei MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 295 ff. m. w. N. aus der Rechtsprechung, die starke Parallelen zu den Vorgaben des BVerfG aufweist; Ähnliches gilt für das Anwesenheitsrecht des Angeklagten in der Hauptverhandlung, siehe hierzu LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 657 ff.

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B. Völkerrecht und das Recht der Europäischen Union

I. Die Berücksichtigungspflicht der EMRK und sonstiger völkerrechtlicher Verträge3 Der EMRK als völkerrechtlichem Vertrag4 sind alle beigetretenen Staaten unmittelbar verpflichtet. Durch ihn haben sich die Vertragsstaaten hinsichtlich der in der EMRK normierten Menschenrechte einer transnationalen Rechtsinstanz unterworfen.5 Die in der Konvention enthaltenen Garantien sind gem. Art. 53 EMRK als Mindeststandards anzusehen und insoweit gem. Art. 19 S. 1 EMRK Prüfungsgegenstand des EGMR.6 Die Verpflichtungen aus der EMRK betreffen die Legislative, die Exekutive und die Judikative.7 Die EMRK wurde in Deutschland gem. Art. 59 Abs. 2 GG durch ein Zustimmungsgesetz in nationales Recht transformiert,8 weshalb die EMRK zunächst im Rang eines Bundesgesetzes steht.9 Dass die EMRK im nationalen (Strafverfahrens-)Recht zu beachten ist, ergibt sich demzufolge schon aus der Pflicht zur Wahrung von Gesetz und Recht gem. Art. 20 Abs. 3 GG.10 Zudem gebietet der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit, normativ in den Art. 23 bis 26 GG angelegt,11 eine konventionskonforme Auslegung der nationalen Normen,12 einschließlich des Grundgesetzes.13 Auch das Bundesverfassungsgericht kann folglich Normen bzw. die hierzu gewonnenen Auslegungsergebnisse auf deren Vereinbarkeit mit der EMRK prüfen.14 Die Prüfung der EMRK durch das Bundes-

3 Die nachfolgend begründete Berücksichtigungspflicht erstreckt sich nach der Rspr. des BVerfG – soweit ersichtlich bisher allerdings lediglich in einer Kammerentscheidung thematisiert – nicht nur auf die EMRK, sondern auch auf sonstige völkerrechtliche Verträge, siehe BVerfGK 9, 174, 186, 193. 4 Vgl. BVerfGE 111, 307, 316; MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 1 m. w. N. 5 MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 1 m. w. N. 6 Vgl. EGMR, Urt. v. 08.02.2011, No. 35863/10, Judge/GBR, Rn. 35 ff.; EGMR, Urt. v. 24.05.1991, No. 12744/87, Quaranta/CHE, Series A Nr. 20, Rn. 30 ff.; eingehend Jahn ZStW 127 (2015), 549, 586 m. z. N. 7 MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 18. 8 BGBl. 1952 II, 685. 9 Eingehend MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 6; SK-StPO/Meyer, Bd. 10, Einl., Rn. 122 m. w. N. 10 MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 6, 11. 11 Vgl. überdies auch die Präambel des GG; siehe zum Ganzen BVerfGE 111, 307, 318; z. T. führt das BVerfG zur Herleitung der Berücksichtigungspflicht der EMRK auch Art. 1 Abs. 2 GG an: BVerfGE 128, 326, 369; eingehend hierzu Payandeh JöR 2020, 1, 5 f. 12 Vgl. hierzu BVerfGE 128, 326, 367 ff., wenngleich auch hier missverständlich der Begriff „Auslegungshilfe“ verwendet wird; MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 7 m. w. N. Dies gilt grundsätzlich auch für die der EMRK zeitlich nachfolgenden Gesetze. Zur Nichtanwendbarkeit der lex-posteriori-Regel: BVerfGE 74, 358, 370; hierzu nochmals MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 7 m. w. N. 13 BVerfGE 128, 326, 367 ff.; MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 7; vgl. zum Vorstehenden auch M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 95 ff. 14 Anschaulich über Art. 20 Abs. 3 GG: BVerfGE 111, 307, 316.

I. Berücksichtigungspflicht völkerrechtlicher Verträge

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verfassungsgericht bleibt dabei eine mittelbare.15 Das Gericht zieht die EMRK nicht als eigenständigen Prüfungsmaßstab heran, sondern berücksichtigt sie vielmehr bei der Auslegung der Grundrechte und sonstigen verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Gewährleistungen.16 Es besteht nach der deutschen Verfassung keine unbedingte Pflicht, die sich aus der EMRK ergebenden Gewährleistungen im nationalen Recht im Sinne eines schematischen Gleichlaufs17 umzusetzen;18 im Ergebnis sind sie jedoch grundsätzlich zu berücksichtigen und in das nationale Recht einzupflegen.19 Die konventionskonforme Auslegung bzw. Berücksichtigungspflicht der EMRK20 ist folglich mehr als eine bloße (hermeneutische) Auslegungshilfe/-regel.21 Auf welche Art und Weise die Umsetzung dann erfolgt, bleibt hingegen der Bundesrepublik überlassen.22 Erst in dem Zeitpunkt, in dem die völkerrechts- bzw. konventionsfreundliche Auslegung nach den klassischen Methoden der Gesetzes- und Verfassungsauslegung nicht mehr vertretbar erscheint, endet nach deutschem Verständnis die Berücksichtigungspflicht bzw. das Gebot völkerrechtsfreundlicher Auslegung;23 eine weitere Schranke begründen tragende Grundsätze der Verfassung.24 Ferner kann die EMRK den nationalen Grundrechtsschutz nicht einschränken, Art. 53 EMRK.25 Es gelten folglich mindestens die nationalen verfassungsrechtlichen Gewährleistungen und, soweit die EMRK-Vorgaben nicht hinter dem deutschen 15

Siehe Viellechner, Berücksichtigungspflicht, S. 123 f. m. w. N. Grundlegend BVerfGE 111, 307, 317, 328 f.; vgl. auch BVerfGE 120, 180, 199 ff.; das Bundesverfassungsgericht hat sich soweit ersichtlich bislang noch nicht mit der Frage befasst, ob auch sonstiges Völkerrecht in entsprechender Art und Weise heranzuziehen ist, siehe Viellechner, Berücksichtigungspflicht, S. 124. 17 MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 7. 18 Vgl. SK-StPO/Meyer, Bd. 10, Einl., Rn. 126 m. w. N. 19 BVerfGE 128, 326, 367 ff.; vgl. auch MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 7, Fn. 13; Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 57. 20 Vgl. zur Rechtsnatur der innerstaatlichen Berücksichtigungspflicht von Völkerrecht allg. Viellechner, Berücksichtigungspflicht, S. 110 ff. m. w. N. 21 Siehe hierzu eingehend Viellechner, Berücksichtigungspflicht, S. 137 ff.; der auch bei BVerfGE 74, 358, 370, verwendete Begriff der „Auslegungshilfe“ scheint vor diesem Hintergrund leicht missverständlich, da der Begriff anmutet, dass an die EMRK-Vorgaben lediglich „gedacht“ werden müsse, ohne es unbedingt anzustreben, diese Vorgaben in das nationale Recht einzubinden; vgl. auch MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 7. 22 Siehe EGMR, Urt. v. 24.05.1991, No. 12744/87, Quaranta/CHE, Series A Nr. 205, Rn. 30 ff.; vgl. im Zshg. mit Jury-Prozessen: EGMR, Urt. v. 08.02.2011, No. 35863/10, Judge/GBR, Rn. 35 ff.; siehe auch Gaede StV 2012, 51, 54; Jahn ZStW 127 (2015), 549, 589; SKStPO/Meyer, Bd. 10, Einl., Rn. 172. 23 Siehe BVerfGE 128, 326, 371, 399 ff.; MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 8, 11. 24 Instruktiv BVerfGE 111, 307, 319; 148, 296, 355; eingehend Viellechner, Berücksichtigungspflicht, S. 146 f. 25 Siehe BVerfGE 128, 326, 371; eingehend MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 8. 16

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B. Völkerrecht und das Recht der Europäischen Union

Verfassungsrecht zurückbleiben und die Berücksichtigung methodisch vertretbar ist, gelten auch die Vorgaben aus der EMRK. Der Bedeutungsgehalt der jeweiligen in der EMRK normierten Rechte und Pflichten wird durch den EGMR konkretisiert;26 anders formuliert, spiegelt sich in der Rechtsprechung des EGMR der aktuelle Entwicklungsstand der EMRK wieder.27 Dies ist in Art. 32 Abs. 1 EMRK angelegt.28 Demnach ist die Rechtsprechung des EGMR inzident bei der Ausfüllung der jeweiligen Ge- und Verbote aus der EMRK zu berücksichtigen. Das so entstandene Richterrecht nimmt an der völkerrechtlichen Verbindlichkeit der Konvention folglich teil.29 Zwar wirken die Urteile des EGMR mit Blick auf Art. 46 EMRK zunächst einmal inter-partes.30 Jedoch ist anerkannt, dass sich auch die an einem bestimmten EGMR-Verfahren nicht beteiligten Mitgliedsstaaten an den Vorgaben des EGMR zu orientieren haben.31 Ferner ist die EGMR-Judikatur nicht nur in Fällen, die dem einer EGMR-Entscheidung konkret zugrunde gelegenen Lebenssachverhalt gleichen, sondern auch in vergleichbaren Fallgestaltungen zu berücksichtigen.32 Die Wirkung der EGMR-Rechtsprechung reicht also über die Verfahrensbeteiligten und den Streitgegenstand hinaus.33 Denn es soll nicht nur zu inhaltlich gleichen, sondern auch zu inhaltlich ähnlichen Verurteilungen anderer Mitgliedsstaaten gar nicht erst kommen.34 Demzufolge wirkt ein Urteil des EGMR zumindest faktisch präjudiziell35 bzw. hat jedenfalls faktisch Präzedenzwirkung.36 In diesem Sinne hat sich die Rechtsprechung des EGMR insbesondere 26

Vgl. BVerfGE 128, 326, 367 ff.; BVerfGE 74, 358, 370; Zehetgruber ZJS 2016, 52, 54. BVerfGE 111, 307, 319; NK-EMRK/Meyer-Ladewig/Brunozzi, Art. 46 EMRK, Rn. 16; SK-StPO/Meyer, Bd. 10, Einl., Rn. 125. 28 MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 11. 29 So ausdrücklich NK-EMRK/Meyer-Ladewig/Brunozzi, Art. 46 EMRK, Rn. 16; eingehend zur Berücksichtigungspflicht der EGMR-Rspr. auch Grabenwarter, FS Tomuschat, S. 195 ff. 30 Ausführlich hierzu Zehetgruber ZJS 2016, 52, 54 f. m. w. N.; MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 10. 31 Siehe BVerfGE 128, 326, 368: „[…] faktischen Orientierungs- und Leitfunktion […] über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus […].“; eingehend hierzu Zehetgruber ZJS 2016, 52, 56 ff. m. w. N.; MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 11 m. w. N. 32 BVerfGE 128, 326, 368; ähnlich BVerfGE 111, 307, 320; eingehend Payandeh JöR 2020, 1, 18 ff. m. w. N.; MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 10 f. 33 Payandeh JöR 2020, 1, 28. 34 BVerfGE 128, 326, 368 f.; eingehend Zehetgruber ZJS 2016, 52, 56 ff.; siehe auch MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 11: „[D]em case law [kommt] eine faktische Orientierungs- und Leitfunktion zu.“ 35 Eingehend hierzu Payandeh JöR 2020, 1, 26–34, der vielmehr von einer normativen, rechtlichen Präjudizienwirkung ausgeht; siehe hierzu auch Zehetgruber ZJS 2016, 52, 56, Fn. 54 m. w. N.; ähnlich Zehetgruber a. a. O. S. 56: „(Differenzierte) Erga-Omnes-Wirkung“; zur Orientierungs-/Appellfunktion i. S. e. „erga-omnes-intra-partes-Wirkung“: Ambos, Internationales Strafrecht, § 10, Rn. 14 m. w. N.; siehe auch M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 104 f. 36 BVerfGE 128, 326, 368 f. m. w. N.; so i. E. etwa auch Meyer-Mews, TKÜ, S. 14. 27

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zu Art. 6 EMRK nach Jahn zu einer „Rahmenstrafverfahrensordnung“37 und einem, so Jahn weiter, „gemeineuropäischen Prozessrechtsstandard […]“38 entwickelt. Dies vorausgeschickt sind nicht nur die Entscheidungen des EGMR, die die Bundesrepublik betreffen, in den Blick zu nehmen; vielmehr bedarf es einer vollständigen Auswertung der EGMR-Rechtsprechung, die im Zusammenhang mit den Verteidigungsrechten, insbesondere dem Akteneinsichtsrecht, steht. Auch ist der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) im nationalen Recht zu berücksichtigen.39 Deutschland hat die hierin enthaltenen Gewährleistungen mit den in Art. 1 des Zustimmungsgesetzes festgelegten Einschränkungen40 ratifiziert.41 Auf relevante europäische Verordnungen und Richtlinien wird nachfolgend ebenfalls eingegangen. Weitere europäische Vorgaben aus der GRCh bleiben bei nachstehender Analyse hingegen außer Betracht.42

II. EMRK Die in der Menschenrechtskonvention angelegten (Verteidigungs-)Rechte, die mit dem Akteneinsichtsrecht der Verteidigung zusammenspielen, sind ganz vordergründig in Art. 6 EMRK normiert. Die folgende Darstellung konzentriert sich demnach auf die durch Art. 6 EMRK gewährleisteten Freiheitsrechte.

1. Art. 6 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 EMRK Aus völkerrechtlicher Sicht ist zunächst Art. 6 EMRK anzuführen – the right to a fair trial.43 Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK gewährt den Beschuldigten ausdrücklich das Recht, dass „über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage […] in einem fairen Verfahren […] verhandelt wird“.44 Im zweiten Absatz ist die Unschulds-

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Jahn ZStW 127 (2015), 549, 586. Jahn ZStW 127 (2015), 549, 586 m. w. N. 39 Vgl. zur Berücksichtigungspflicht erneut BVerfGK 9, 174, 186, 193. 40 Siehe BGBl. 1973 II, 1533. 41 BGBl. 1973 II, 1533. 42 Die GRCh findet bei der Anwendung von § 147 StPO ohne „Durchführung des Rechts der Union“ gem. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh schließlich keine Anwendung: ausführlich hierzu Stern/Sachs-GRCh/Stern/Hamacher, Einführung A, Rn. 84 ff. Im Übrigen bestünden bei europarechtlich determinierten Sachverhalten durch die dann in Betracht zu ziehenden Art. 47 f. GrCH wegen Art. 52 Abs. 3 GrCH soweit ersichtlich keine Besonderheiten zu den EMRK-Vorgaben, vgl. hierzu LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 9; eingehend auch Jahn ZStW 127 (2015), 549, 605 ff. 43 EGMR, Urt. v. 21.02.1975, No. 4451/70, Golder/GB, Series A Nr. 18, Rn. 36. 44 Die englische und französische Sprachfassung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK lautet: „In the determination of his civil rights and obligations or of any criminal charge against him, 38

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B. Völkerrecht und das Recht der Europäischen Union

vermutung normiert und der dritte Absatz enthält fünf enumerativ kodifizierte Mindestgarantien der Verfahrensfairness. Das aus Art. 6 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 EMRK erwachsene Recht auf Verfahrensfairness wird dogmatisch ebenfalls aus der Menschenwürdegarantie abgeleitet; obgleich diese in der EMRK nicht ausdrücklich normiert ist, stellt sie den Ausgangspunkt der Konvention dar.45 Dementsprechend wird diesem Recht eine immense Bedeutung beigemessen. Paeffgen beschreibt das in Art. 6 EMRK normierte Fairnessgebot als „Mutter-Menschenrecht“46 und Lohse/Jakobs sprechen insoweit von der „,Magna Charta‘ der EMRK“.47 Zudem wird Art. 6 EMRK als „Ausprägung eines Rechtsstaatsprinzips europäischer Prägung“48 verstanden.49 a) Inhaltlicher Anwendungsbereich Im Folgenden soll zunächst herausgearbeitet werden, worauf das Fairnessgebot im Allgemeinen abzielt. aa) Im Allgemeinen Das Strafverfahren soll ergebnisoffen ausgestaltet sein; der Angeklagte soll die Möglichkeit haben, umfassend an der gerichtlichen Entscheidung mitzuwirken.50 Als Ausgangspunkt fordert der EGMR eine mündliche und adversatorisch ausgestaltete Verhandlung.51 Art. 6 EMRK sei insgesamt auf eine effektive bzw. wirksame Teilhabe der Verteidigung am Verfahren ausgelegt.52 Bei dieser allgeeveryone is entitled to a fair and public hearing within a reasonable time by an independent and impartial tribunal established by law.“ bzw. „Toute personne a droit a` ce que sa cause soit entendue e´quitablement, publiquement et dans un de´lai raisonnable, par un tribunal inde´pendant et impartial, e´tabli par la loi, qui de´cidera, soit des contestations sur ses droits et obligations de caracte`re civil, soit du bien-fonde´ de toute accusation en matie`re pe´nale dirige´e contre elle.“ 45 Vgl. EGMR, Urt. v. 29.04.2002, No. 2346/02, Pretty/GBR, Reports 2002-III, 155, Rn. 49: „The very essence of the Convention is respect for human dignity and human freedom.“; eingehend Jahn ZStW 127 (2015), 549, 585 m. w. N. 46 SK-StPO/Paeffgen4, Bd. 10, Art. 6 EMRK, Rn. 70. 47 KK-StPO/Lohse/Jakobs, Art. 6 EMRK, Rn. 1; eingehend Jahn ZStW 127 (2015), 549, 585 m. w. N. 48 EMRK/GG-Dörr/Grote/Marauhn/Grabenwarter/Pabel, Bd. 1, Kap. 14, Rn. 10. 49 Vgl. hierzu Jahn ZStW 127 (2015), 549, 585 m. w. N. 50 MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 2, 98 m. w. N. und Rn. 280; vgl. auch Jahn ZStW 127 (2015), 549, 590. 51 Beispielhaft EGMR, Urt. v. 06.12.1988, No. 10590/83, Barbera`, Messegue´ u. Jabardo/ESP, Series A Nr. 146, Rn. 78; EGMR, Urt. v. 20.11.1989, No. 11454/85, Kostovski/NLD, Series A Nr. 166, Rn. 41; EGMR, Urt. v. 19.12.1989, No. 9783/82, Kamasinski/AUT, Series A Nr. 168, Rn. 102; EGMR, Urt. v. 20.09.1993, No. 14647/89, Saidi/FRA, Series A Nr. 261-C, Rn. 43; EGMR, Urt. v. 17.07.2001, No. 29900/96 u. a., Sadak u. a./TUR I, Reports 2001-VIII, 267, Rn. 64; MüKoStPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 279. 52 EGMR [GK], Urt. v. 16.12.1999, No. 24724/94, T./GBR, Rn. 83: „The Court notes that Article 6, read as a whole, guarantees the right of an accused to participate effectively in his criminal trial […].“; hierzu MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 280.

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mein gehaltenen Formulierung ergeben sich zu den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Vorgaben keine inhaltlichen Unterschiede. Das völkerrechtliche Fairnessgebot wird vom EGMR autonom ausgelegt,53 weshalb in manchen Entscheidungen des EGMR die Ausprägungen der Verfahrensfairness im Vergleich zu den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entweder konkretisiert bzw. konkreter formuliert oder gar erweitert werden. Beispielsweise betont der EGMR die Möglichkeit der effektiven Teilhabe viel deutlicher als das Bundesverfassungsgericht: „The Court recalls that the Convention is intended to guarantee not rights that are theoretical or illusory but rights that are practical and effective; this is particularly so of the rights of the defence in view of the prominent place held in a democratic society by the right to a fair trial, from which they derive.“54

Auch ist das Recht auf ein faires Verfahren nach Auffassung des EGMR so bedeutsam, dass die Gewährleistung nicht restriktiv interpretiert werden dürfe.55 bb) Art. 6 Abs. 3 EMRK Die in Art. 6 Abs. 3 EMRK normierten Verteidigungsrechte sind Verästelungen des Fairnessgebots und somit für ein faires Verfahren konstitutiv.56 Als Grundgedanke hinter den in Absatz 3 normierten Konkretisierungen kann der Aspekt der Waffengleichheit, der Schutz vor gerichtlicher Willkür und ein effektiv ausgestaltetes Recht auf rechtliches Gehör angeführt werden.57 Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK gewährt den Beschuldigten ausdrücklich das Recht, „in allen Einzelheiten über Art und Grund der […] Beschuldigung unterrichtet zu werden“.58 53 EGMR, Urt. v. 18.05.2010, No. 26839/05, Kennedy/GBR, Rn. 179: „The concept of ,civil rights and obligations‘ cannot be interpreted solely by reference to the domestic law of the respondent State. […] this concept is ,autonomous‘, within the meaning of Article 6 § 1 of the Convention […].“; LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 29, Fn. 37 m. w. N.; so auch Jahn ZStW 127 (2015), 549, 587. 54 EGMR, Urt. v. 13.05.1980, No. 6694/74, Artico/ITA, Series A Nr. 37, Rn. 33. 55 EGMR, Urt. v. 17.01.1970, No. 2689/65, Delcourt/BEL, Series A Nr. 11, Rn. 25: „In a democratic society within the meaning of the Convention, the right to a fair administration of justice holds such a prominent place that a restrictive interpretation of Article 6 para. 1 (art. 6–1) would not correspond to the aim and the purpose of that provision.“; hierzu MüKoStPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 1 m. w. N.; zum Einfluss der vom EGMR betonten herausragenden Bedeutung von Art. 6 EMRK auf die Auslegungstendenz: Gaede, Fairness, S. 381 f. 56 EGMR, Urt. v. 20.11.1989, No. 11454/85, Kostovski/NLD, Series A Nr. 166, Rn. 39; dem folgend MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 140. 57 So ausdrücklich SSW-StPO/Satzger, Art. 6 EMRK, Rn. 35 m. w. N.; speziell zum Anwesenheitsrecht und Gehörsanspruch: ders. a. a. O. Rn. 37 ff. 58 Die englische und französische Sprachfassung von Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK lautet: „to be informed promptly, in a language which he understands and in detail, of the nature and cause of the accusation against him“ bzw. „eˆtre informe´, dans le plus court de´lai, dans une

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B. Völkerrecht und das Recht der Europäischen Union

Auf dieses Informationsrecht aufbauend59 gewährt Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK den Beschuldigten wiederum ausdrücklich das Recht, „ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben“.60 Gewährleistet wird hierdurch zudem der Gehörsanspruch61 und – offenbar mit stärkerer Konnotation – der Aspekt der Waffengleichheit.62 Neben Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK fußt das Akteneinsichtsrecht somit auch und gerade auf Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK.63 Im Zusammenhang mit dem Recht auf ausreichende Verteidigung, welches am deutlichsten im Wortlaut von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK zum Ausdruck kommt („sich selbst zu verteidigen“ oder „[…] verteidigen zu lassen“),64 betont der EGMR, dass die Verteidigung in ihrer Strategie selbstbestimmt und frei sein müsse.65 Welche Art der Verteidigung gewählt wird und auf welche Weise diese umgesetzt wird, soll demnach der Verteidigung überlassen bleiben. Das Recht auf Verteidigerbeistand solle bestehende rechtliche Nachteile des Angeklagten gegenüber den Strafverfolgungsbehörden ausgleichen und diene somit (auch) der Waffengleichheit.66 Insofern geht das Akteneinsichtsrecht auch auf Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK zurück.

langue qu’il comprend et d’une manie`re de´taille´e, de la nature et de la cause de l’accusation porte´e contre lui“. 59 MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 150. 60 Die englische und französische Sprachfassung von Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK lautet: „to have adequate time and facilities for the preparation of his defence“ bzw. „disposer du temps et des facilite´s ne´cessaires a` la pre´paration de sa de´fense“. 61 MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 150 m. w. N. 62 SSW-StPO/Satzger, Art. 6 EMRK, Rn. 40 f. 63 Vgl. EGMR, Urt. v. 12.03.2003, No. 46221/99, Öcalan/TUR I, Rn. 163: „The Court therefore holds that the fact that the applicant was not given appropriate access to any documents in the case file other than the indictment also served to compound the difficulties encountered in the preparation of his defence, in breach of the provisions of Article 6 § 1, taken together with Article 6 § 3 (b)“; dem folgend Gröger, Akteneinsichtsrecht, S. 22 m. w. N.; vgl. auch EGMR, Urt. v. 19.12.1989, No. 9783/82, Kamasinski/AUT, Series A Nr. 168, Rn. 87 f. 64 Die englische und französische Sprachfassung von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK lautet: „to defend himself in person or through legal assistance of his own choosing or, if he has not sufficient means to pay for legal assistance, to be given it free when the interests of justice so require“ bzw. „se de´fendre lui-meˆme ou avoir l’assistance d’un de´fenseur de son choix et, s’il n’a pas les moyens de re´mune´rer un de´fenseur, pouvoir eˆtre assiste´ gratuitement par un avocat d’office, lorsque les inte´reˆts de la justice l’exigent“. 65 EGMR, Urt. v. 22.02.1996, No. 17358/90, Bulut/AUT, Rn. 49: „It is a matter for the defence to assess whether a submission deserves a reaction“; eingehend MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 169. 66 Vgl. EGMR, Urt. v. 28.03.1990, No. 11932/86, Granger/GBR, Series A Nr. 174, Rn. 42 ff.; vgl. EGMR, Urt. v. 25.4.1983, No. 8398/78, Pakelli/DEU, Series A Nr. 64, Rn. 30 f., 39; ähnlich EGMR, Urt. v. 21.03.2002, No. 31611/96, Nikula/FIN, Reports 2002-II, 291, Rn. 49; hierzu MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 180.

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cc) Informationsanspruch des verteidigerlosen Beschuldigten Es war der EGMR, der es vorantrieb, dass in der Bundesrepublik auch ein verteidigerloser Beschuldigter grundsätzlich ein Recht auf Akteneinsicht, in Form von bzw. neben dem Recht auf Herausgabe von Aktenkopien,67 hat bzw. haben muss.68 In der Foucher-Entscheidung kam zum Ausdruck, dass es lediglich darauf ankäme, ob der Zugang zu den Akten für eine angemessen vorbereitete Verteidigung notwendig sei; hierbei sei ebenfalls der Aspekt der Waffengleichheit zu berücksichtigen.69 Grundsätzlich solle es aber genügen, wenn dem Verteidiger die Akteneinsicht gewährt werde,70 wobei dem Angeklagten zu den Beweismitteln ausreichend Zugang verschafft werden müsse.71 Hieraus ist nicht unbedingt zu schließen, dass mit „ausreichendem Zugang“ im vorbenannten Sinne ein eigenes Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten neben ebenjenem des Verteidigers besteht. Anders sei dies aber jedenfalls dann, wenn der Beschuldigte im konkreten Fall das Beweismaterial besser einschätzen könne als der Verteidiger,72 weil die In-

67 Insoweit unterscheidet sich der Urteilstext der Entscheidung EGMR, Urt. v. 18.03.1997, No. 22209/93, Foucher/FRA, Rn. 36, in der englischen und französischen Fassung. In den Entscheidungen wird jeweils a. a. O. einerseits von der „copy of the documents“, andererseits vom „acce´s a` son dossier“ gesprochen; siehe hierzu Gröger, Akteneinsichtsrecht, S. 28 f. 68 Der EGMR hat soweit ersichtlich erstmals im Jahr 1998 ein solches Informationsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten gefordert: EGMR, Urt. v. 18.03.1997, No. 22209/93, Foucher/FRA, Rn. 34 ff.; bei der erstmaligen Einfügung von § 147 Abs. 7 StPO a. F. (Auskunftsund Abschriftenerteilung) wurde zwar nicht ausdrücklich auf die Umsetzung von EMRKVorgaben hingewiesen, jedoch wurde die Umgestaltung von § 147 Abs. 7 S. 1 StPO a. F. als Anspruchsnorm mit der Umsetzung von EGMR-Rspr. begründet: vgl. BR-Drs. 829/08, 49; BT-Drs. 16/11644, 34; auch das mit § 147 Abs. 4 S. 1 StPO n. F. eingeführte eigene Akteneinsichts- und Beweisbesichtigungsrecht des Beschuldigten fußt auf der Umsetzung von EGMRRspr.: BT-Drs. 18/9416, 60; zur EGMR-Rspr.: EGMR, Urt. v. 18.03.1997, No. 22209/93, Foucher/FRA, Rn. 36: „[…] it was important for the applicant to have access to his case file […]“; MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 157 m. w. N. 69 EGMR, Urt. v. 18.03.1997, No. 22209/93, Foucher/FRA, Rn. 36; eingehend Gröger, Akteneinsichtsrecht, S. 41. 70 EGMR, Urt. v. 19.12.1989, No. 9783/82, Kamasinski/AUT, Series A Nr. 168, Rn. 87 f.; EGMR, Urt. v. 21.09.1993, No. 12350/86, Kremzow/AUT, Series A Nr. 268-B, Rn. 52; LRStPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 643 m. w. N. 71 EGMR [GK], Urt. v. 12.05.2005, No. 46221/99, Öcalan/TUR II, Reports 2005-IV, 131, Rn. 138 ff.; EGMR, Urt. v. 23.10.2001, No. 50720/99, Alvarez Sanchez/ESP, Reports 2011-XI, 349, Rn. 2: „Moreover, the ,facilities‘ that all defendants in criminal cases must have include the possibility, in order to prepare their defence, of familiarising themselves with the result of the investigations carried out throughout the proceedings“; vgl. EGMR, Urt. v. 12.03.2003, No. 46221/99, Öcalan/TUR I, Rn. 159 ff.; hierzu MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 158 m. w. N. 72 Vgl. EGMR, Urt. v. 12.03.2003, No. 46221/99, Öcalan/TUR I, Rn. 159, 161 ff.; EGMR [GK], Urt. v. 12.05.2005, No. 46221/99, Öcalan/TUR II, Reports 2005-IV, 131, Rn. 143; dem folgend MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 158 m. w. N.; krit. zur vergleichsweise nationalen Sichtweise vor der jüngsten Reform von § 147 StPO: SSW-StPO/Satzger,

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B. Völkerrecht und das Recht der Europäischen Union

kenntnissetzung über alle notwendigen Details durch den Verteidiger aufgrund des Aktenumfangs nicht möglich scheine und die Aushändigung von Aktenkopien diesen Umstand nicht kompensieren könne.73 dd) Spezielle Vorgaben zum Waffengleichheitsaspekt Neben den in Art. 6 Abs. 1 und 3 EMRK normierten Rechten ist anerkannt, dass Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK weitere unbenannte Rechte gewährleistet bzw. das Fairnessgebot durch weitere unbenannte Aspekte konkretisiert wird. Hierzu zählt beispielsweise die Selbstbelastungsfreiheit oder das allgemeine Recht auf rechtliches Gehör,74 wobei letzteres vom EGMR aus der zu fordernden kontradiktorischen Verhandlung abgeleitet wird.75 In diesem Sinne soll das Anwesenheitsrecht des Angeklagten gewährleisten, dass dieser am Verfahren substanziell und beeinflussend teilnehmen kann („right of an accused to effective participation“76).77 Der Aspekt der Waffengleichheit spielt für den EGMR ebenfalls eine bedeutende Rolle. Er kommt in Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK zum Ausdruck („Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen […], wie […] für Belastungszeugen“),78 wird jedoch als weiteres, (schon) aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK ergehendes Recht verstanden.79

Art. 6 EMRK, Rn. 43. Die Kritik Satzgers dürfte mit Blick auf die größtenteils immer noch geltenden Vorbehalte in § 147 Abs. 4 S. 1 StPO für ihn noch nicht erledigt sein. 73 Vgl. EGMR, Urt. v. 12.03.2003, No. 46221/99, Öcalan/TUR I, Rn. 166 ff.; dem folgend LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 643 m. w. N. 74 Eingehend MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 279. 75 EGMR, Urt. v. 19.12.1989, No. 9783/82, Kamasinski/AUT, Series A Nr. 168, Rn. 102; EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 29777/96, Fitt/GBR, Reports 2000-II, 387, Rn. 44; EGMR, Urt. v. 24.06.2003, No. 39482/98, Dowsett/GBR, Reports 2003-VII, 259, Rn. 43, vgl. MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 295. 76 EGMR, Urt. v. 15.06.2004, No. 60958/00, S.C./GBR, Reports 2004-IV, 281, Rn. 28; siehe nahezu wortgleich auch EGMR, Urt. v. 14.01.2003, No. 26891/95, Lagerblom/SWE, Rn. 49. 77 Hierzu MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 288 m. w. N. 78 Die englische und französische Sprachfassung von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK lautet: „to examine or have examined witnesses against him and to obtain the attendance and examination of witnesses on his behalf under the same conditions as witnesses against him“ bzw. „interroger ou faire interroger les te´moins a` charge et obtenir la convocation et l’interrogation des te´moins a` de´charge dans les meˆmes conditions que les te´moins a` charge“; dass der Waffengleichheitsaspekt hierin zum Ausdruck kommt, wird soweit ersichtlich auch nicht in Abrede gestellt, ähnlich etwa MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 233 m. w. N. 79 Vgl. nur MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 302 m. w. N.

II. EMRK

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b) Zeitlicher Anwendungsbereich Das Fairnessgebot bezieht sich ausweislich des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK auf die „strafrechtliche Anklage“. Dies ist jedoch nicht mit einer Anklageschrift i. S. v. § 200 StPO gleichzusetzen. Der Wortlaut von Art. 6 EMRK ist autonom und damit hinsichtlich des Anklagebegriffs weit auszulegen.80 Die Wortlautauslegung der EMRK ist dabei am Maßstab der Amtssprache, also der englischen und französischen Sprachfassung, vorzunehmen, vgl. Art. 33 Abs. 1 WVK.81 Die englische offizielle Sprachfassung des Vertragstextes von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK ist weiter gefasst und verdeutlicht den Telos der Vorschrift besser als die deutsche Sprachfassung („any criminal charge against him“);82 ähnlich verhält es sich mit der entsprechenden französischen Sprachfassung („accusation en matie`re pe`nale“).83 Im Übrigen ist die EMRK nicht streng am Wortlaut, sondern auch anhand des Regelungszwecks auszulegen, Art. 31 Abs. 1 WVK.84 Sinn und Zweck des Fairnessgebotes gebieten es schließlich, die Garantien aus Art. 6 EMRK bei einer strafrechtlichen Verfolgung schon so frühzeitig wie möglich zu gewährleisten.85 Insofern muss Art. 6 EMRK ab dem Ermittlungsverfahren Anwendung finden.86 Das Fairnessgebot erfasst demnach das gesamte Strafverfahren einschließlich der Rechtsmittel,87 wobei grundsätzlich die Kenntnis des Betroffenen von einem

80 Eingehend Gaede, Fairness, S. 192 ff. m. w. N.; siehe auch Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 58. 81 Die EMRK sieht hierbei die englische und französische Sprachfassung als authentisch an, siehe S. 1 der Schlussformel der EMRK in den beiden Sprachfassungen: „Done at Rome this 4th day of November 1950, in English and French, both texts being equally authentic […].“; „Fait a` Rome, le 4 novembre 1950, en franc¸ais et en anglais, les deux textes faisant e´galement foi […].“; siehe auch Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg/Kreicker, Europäisches Strafrecht, § 51, 12. Kap., Rn. 13. 82 Wobei es auch Stimmen gab, wonach der Wortlaut der englischen Sprachfassung gerade für eine Nichtanwendbarkeit im Ermittlungsverfahren angeführt wurde: siehe Gaede, Fairness, S. 191 f. m. w. N. 83 Über Art. 6 Abs. 1 EMRK ließe sich der zeitliche Anwendungsbereich von Art. 103 Abs. 1 GG jedoch nicht auf das Ermittlungsverfahren erstrecken, da dies die Wortlautgrenze von Art. 103 Abs. 1 GG überschreiten würde. Für diesen Verfahrenabschnitt sind die Vorgaben der EMRK zum Gehörsanspruch jedoch in methodisch vertretbarer Weise bei der Ausgestaltung des verfassungsrechtlichen Fairnessgebot aus Art. 20 Abs. 3, 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG hineinzulesen; so auch Pohlreich, Gehör, S. 9 m. w. N. 84 Eingehend Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg/Kreicker, Europäisches Strafrecht, § 51, 12. Kap., Rn. 13 m. w. N. 85 Vgl. hierzu nur MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 55 f. m. w. N. 86 Vgl. MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 55 f. und 61 f. m. w. N.; SSWStPO/Satzger, Art. 6 EMRK, Rn. 14; LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 178 m. w. N.; so i. E. auch Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 58. 87 MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 67 f.

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B. Völkerrecht und das Recht der Europäischen Union

gegen ihn laufenden Strafverfahren gefordert wird.88 Letzteres ist jedoch für jedes Teilhaberecht und jeden Einzelfall gesondert zu bestimmen.89 c) Einschränkbarkeit Im Allgemeinen sind die aus Art. 6 EMRK resultierenden Verteidigungsrechte in engen Grenzen aufgrund anderer wichtiger und durch die EMRK geschützter Rechte und Interessen („important public interest“)90 einschränkbar bzw. stecken den Schutzbereich des Fairnessgebots ab.91 Hiermit ist gemeint, dass die Einschränkbarkeit über Art. 6 Abs. 1 S. 2 EMRK hinaus durch konventionsimmanente Schranken grundsätzlich anerkannt ist, wobei diese nicht notwendig ausdrücklich in der EMRK normiert sein müssen.92 Erforderlich ist jedoch eine wesentliche Vergleichbarkeit zu den anderen in der EMRK normierten Rechten.93 Welche Interessen kommen aus völkerrechtlicher Sicht also in Betracht und wo zieht der EGMR die Grenze? Das wichtige öffentliche Interesse im vorbenannten Sinne ist weit zu verstehen. Hierunter fällt die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege und der Schutz Dritter, auch und gerade der Zeugenschutz.94 Weitere Aspekte können als Einschränkung in Betracht kommen, sofern sie sich mit den in der Konvention angelegten Einschränkungsmaßstäben messen lassen können.95 Als drittes wird der Schutz der nationalen Sicherheit angeführt.96 Die Einschränkung muss je88 Siehe nur EGMR, Urt. v. 15.07.1982, No. 8130/78, Eckle/DEU, Series A Nr. 51, Rn. 73; MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 58 m. z. N. 89 Vgl. MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 58, 63 a. E.; vgl. auch LRStPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 92 und 248 m. w. N. 90 EGMR, Urt. v. 24.06.2003, No. 39482/98, Dowsett/GBR, Reports 2003-VII, 259, Rn. 42; EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 29777/96, Fitt/GBR, Reports 2000-II, 387, Rn. 42; weitere Nachweise bei Gaede, Fairness, S. 687, Fn. 18. 91 Vgl. MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 29 und 31; vgl. auch EGMR, Urt. v. 24.06.2003, No. 39482/98, Dowsett/GBR, Reports 2003-VII, 259, Rn. 45 ff.; EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 29777/96, Fitt/GBR, Reports 2000-II, 387, Rn. 45; krit. Gaede, Fairness, S. 691 ff. 92 Statt vieler Gaede, Fairness, S. 699, der betont, dass der EMRK-Katalog nicht abschließend alle zu fordernden Rechte und Interessen normiert, weshalb eine Einschränkbarkeit auch durch nicht ausdrücklich normierte gegenläufige Interessen möglich sein müsse. 93 Gaede, Fairness, S. 699 f. 94 MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 30 f. m. w. N. 95 Vgl. Gaede, Fairness, S. 691; vgl. auch die jüngere EGMR-Judikatur, wonach ausnahmsweise auch das Persönlichkeitsrecht Dritter dem aus Art. 6 EMRK erwachsenen Einsichtsrecht der Akten in den eigenen Räumlichkeiten entgegenstehen könne: EGMR, Urt. v. 25.07.2019, No. 1586/15, Rook/DEU, Rn. 17 f., 54, 66; EGMR, Urt. v. 04.04.2017, No. 2742/12, Matanovic´/HRV, Rn. 164, 167, 169. 96 EGMR, Urt. v. 18.05.2010, No. 26839/05, Kennedy/GBR, Rn. 187: „In respect of the rules limiting disclosure, the Court recalls that the entitlement to disclosure of relevant evidence is not an absolute right. The interests of national security or the need to keep secret methods of investigation of crime must be weighed against the general right to adversarial proceedings […].“; LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 223.

II. EMRK

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doch in jedem Fall durch äquivalente Instrumente – im Sinne eines „Nachteilsausgleichs“97 – kompensiert werden; auf eine „strenge“ Verhältnismäßigkeit der Beschränkung legt der EGMR besonderen Wert.98 Prinzipiell unzulässig sollen jedenfalls solche Einschränkungen sein, durch die ein Teilhaberecht aus Art. 6 EMRK im Ergebnis entwertet99 bzw. wodurch der Wesensgehalt des Teilhaberechts aufgegeben würde.100 Demgemäß sind, vergleichbar der verfassungsgerichtlichen Linie, Einschränkungen etwaiger Teilhaberechte insbesondere zeitlich vor, aber auch zeitlich nach der förmlichen Anklage denkbar. Insofern kann festgestellt werden, dass der EGMR insbesondere wichtige Gründe des öffentlichen Interesses im engeren Sinne oder Schutzinteressen Dritter als Schranke des Fairnessgebots anerkennt. Hierbei prüft der EGMR jedoch, ob die Einschränkung unbedingt notwendig ist und die hierdurch entstehenden Beeinträchtigungen der Verteidigung adäquat ausgeglichen werden („sufficiently counterbalance“101).102 Zusammenfassend kommen aus der Sicht des EGMR dieselben Interessen als Einschränkung des Fairnessgebots in Betracht, wie sie sich auch aus verfassungsrechtlicher Sicht ergeben. Gleichzeitig kann aber auch insoweit festgehalten werden, dass eine Einschränkung der Verteidigungsrechte im Allgemeinen, wozu auch das Akteneinsichtsrecht zählt, nur ausnahmsweise und unter besonderer Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gerechtfertigt sein kann.

2. Weitere Konventionsvorgaben Aus den Art. 5, 7 oder auch 13 EMRK kann für die hiesige Untersuchung nichts Relevantes abgeleitet werden und die genannten Normen würden bei parallelen 97

Eingehend Gaede, Fairness, S. 727 ff. m. w. N. Beispielhaft EGMR, Urt. v. 24.06.2003, No. 39482/98, Dowsett/GBR, Reports 2003-VII, 259, Rn. 42 f.; EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 29777/96, Fitt/GBR, Reports 2000-II, 387, Rn. 45 ff.; weitere Nachweise bei Gaede, Fairness, S. 687, Fn. 18, Fn. 19; vgl. auch MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 30; anders kann dies möglicherweise im Falle eines öffentlichen Notstandes sein: vgl. hierzu erneut Gaede, Fairness, S. 736 f. 99 EGMR, Urt. v. 20.11.1989, No. 11454/85, Kostovski/NLD, Series A Nr. 166, Rn. 44; eingehend Gaede, Fairness, S. 687 m. w. N. 100 Gaede, Fairness, S. 723 ff. m. w. N. 101 Im Zshg. mit dem Recht auf Zugang zum Beweismaterial: LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 223; EGMR [GK], Urt. v. 27.10.2004, Nos. 39647/98, 40461/98, Edwards u. Lewis/GBR, Reports 2004-X, 61, Rn. 46; EGMR, Urt. v. 18.05.2010, No. 26839/05, Kennedy/GBR, Rn. 180, 184; eingehend Gaede, Fairness, S. 688 f. m. w. N. 102 Siehe EGMR, Urt. v. 24.06.2003, No. 39482/98, Dowsett/GBR, Reports 2003-VII, 259, Rn. 42, im Anschluss an: EGMR, Urt. v. 26.03.1996, No. 20524/92, Doorson/NLD, Rn. 70; EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 29777/96, Fitt/GBR, Reports 2000-II, 387, Rn. 45; EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 28901/95, Rowe u. Davis/GB, Reports 2000-II, 287, Rn. 61; hierzu und zu weiteren vom EGMR aufgestellten Kriterien: MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 162 f. m. w. N.; eingehend auch Gaede, Fairness, S. 715 ff. m. w. N. 98

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B. Völkerrecht und das Recht der Europäischen Union

Schutzgarantien von Art. 6 EMRK verdrängt werden.103 Sofern sich durch diese dennoch bestimmte aus Art. 6 EMRK abgeleitete Vorgaben bestätigen lassen, wird hierauf an passender Stelle gesondert Bezug genommen.

III. Sonstiges Völkerrecht Das in Art. 6 Abs. 1 EMRK normierte Fairnessgebot folgt ebenfalls aus Art. 14 Abs. 1 IPbpR, nach dem „in billiger Weise“ über die strafrechtliche Anklage zu verhandeln ist. Auch die in Art. 6 Abs. 3 EMRK normierten Konkretisierungen sind in Art. 14 Abs. 3 lit. a, b, d, e, f IPbpR aufgezählt, sodass sich der Regelungsgehalt weitgehend deckt.104

IV. Vorgaben des Rechts der Europäischen Union Weitere Gewährleistungen können sich aus dem Recht der Europäischen Union ergeben. Die DSGVO105 enthält in den Art. 12, 23 Abs. 1 und 35 DSGVO Bestimmungen, die für das strafprozessuale Informationsrecht fruchtbar gemacht werden könnten. Die DSGVO ist gem. Art. 2 Abs. 2d DSGVO für strafprozessuale Datenverarbeitungen jedoch nicht anwendbar.106 In der RL (EU) 2016/680107 wurden hingegen weitgehende Bestimmungen zugunsten der von der Datenverarbeitung im Strafverfahren Betroffenen normiert. Die Richtlinie umfasst Regelungen zur Datenverarbeitung im Strafverfahren und der Informationsgewährung zugunsten der von der Datenverarbeitung Be-

103 Ähnlich LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 4 m. w. N.; dies kann im Verhältnis zwischen Art. 6 und Art. 13 EMRK aber auch anders sein: siehe SKStPO/Meyer, Bd. 10, Art. 6 EMRK, Rn. 540 m. w. N. 104 Vgl. LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 11; siehe zu vereinzelten Unterschieden zwischen EMRK und IPbpR, die die hiesige Untersuchung nicht weiter betreffen, erneut ders. a. a. O. Rn. 23. 105 Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.04.2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung), ABl. 2016 L 119/1. 106 In Erwägungsgrund Nr. 19 der DSGVO wird insoweit vielmehr auf die Richtlinie (EU) 2016/680 verwiesen. 107 Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates, ABl. 2016 L 119/89; nachfolgend „RL (EU) 2016/680“ genannt.

IV. Vorgaben des Rechts der Europäischen Union

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troffenen, die nicht unbedingt zu den Verfahrensbeteiligten gehören müssen, vgl. Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 RL (EU) 2016/680. Dennoch ist die Richtlinie auch für die Reichweite des Akteneinsichtsrechts bedeutend. Schließlich wurde in den Erwägungsgründen der Richtlinie vorangestellt, dass in Strafverfahren geordnete Akten in den Anwendungsbereich der RL (EU) 2016/680 fallen.108 Die personenbezogenen Daten sollen gem. Art. 12 Abs. 1 RL (EU) 2016/680 „in präziser, verständlicher und leicht zugänglicher Form in einer klaren und einfachen Sprache“ übermittelt werden.109 Die Verarbeitung besonderer personenbezogener Daten unterliegt gem. Art. 10 RL (EU) 2016/680 engeren Voraussetzungen. Die Verarbeitung soll sich gem. Art. 4 Abs. 1 lit a. RL (EU) 2016/680 allgemein nach Treu und Glauben vollziehen. Weiter wurde eine DatenschutzFolgeabschätzung normiert, vgl. Art. 27 RL (EU) 2016/680.110 In dieser Richtlinie wird weiter darauf hingewiesen, dass die hierin normierten weiten Informationsrechte im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen aus der GRCh und des AEUV stünden; soweit diese durch die in der Richtlinie normierten Informationsrechte eingeschränkt würden, solle dies als erforderlich i. S. d. Art. 52 Abs. 1 GRCh anzusehen sein.111 Gleichzeitig wurde der Rahmenbeschluss 2008/977/JI v. 27.11.2008,112 worin der Schutz personenbezogener Daten aus Strafverfahren geregelt war, gem. Art. 59 Abs. 1 RL (EU) 2016/680 aufgehoben. Da die Gewährung der Akteneinsicht als Datenverarbeitung anzusehen ist, müssen hierbei auch die Bestimmungen aus dieser Richtlinie bedacht werden.

108

Vgl. Erwägungsgrund Nr. 18, S. 3 der RL (EU) 2016/680. Etwa in Form von Kopienherausgabe, vgl. Erwägungsgrund Nr. 43 der RL (EU) 2016/680. 110 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 58 der RL (EU) 2016/680. 111 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 104 der RL (EU) 2016/680. 112 Rahmenbeschluss 2008/977/JI des Rates vom 27. November 2008 über den Schutz personenbezogener Daten, die im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen verarbeitet werden, ABl. 2008 L 350/60. 109

Drittes Kapitel

„Akten“ und „Beweisstücke“ i. S. v. § 147 StPO

A. Meinungsstand Im Folgenden wird zunächst der Forschungsstand und die Rechtsprechung zum Aktenbegriff des § 147 StPO und den hierin normierten „Beweisstücken“ dargestellt.

I. Wissenschaftlicher Diskurs Im Schrifttum besteht hinsichtlich des geltenden Aktenbegriffs keine Einigkeit. Die jeweils zugrunde gelegte Begründung soll bereits an dieser Stelle dargestellt werden, um einen genauen Überblick zu erhalten, welche Rechtsauffassung auf welche Art begründet wird.

1. Monographien Bisweilen wird von einem relativ weiten Aktenbegriff ausgegangen, wobei ein solch weites Begriffsverständnis zum Teil als funktioneller, normativer oder materieller Aktenbegriff bezeichnet wird. Zunächst hat sich Jörke mit der Akteneinsicht beschäftigt. Er geht von einem Begriffsverständnis aus, nach dem der Beschuldigte „Kenntnis von allen, möglicherweise für die Abschlußverfügung der Ermittlungsbehörden im Vorverfahren bzw. des Gerichts im Hauptverfahren wichtigen Umstände erhält“,1 sodass „[d]ie Tatsachengrundlage von Staatsanwaltschaft bzw. Gericht keine andere sein [darf], als die des Beschuldigten“2 bzw. Verteidigers.3 Dies ergebe sich aus Art. 103 Abs. 1 GG.4 Auch das fair-trial-Prinzip sei i. R. d. Akteneinsichtsrechts bedeutend, wobei dieses eher bei der Einsichtsgewährung und der Schrankenausgestaltung relevant werde.5 Aus Gründen der Waffengleichheit und aufgrund des prägenden Charakters des Ermittlungsverfahrens müsse überprüft werden können, ob die Staatsanwaltschaft alle be- und entlastenden Umstände in gleicher Weise herangezogen und berücksichtigt habe, weshalb auch sog. Spurenakten zu

1

Jörke, Akteneinsicht, S. 33. Jörke, Akteneinsicht, S. 33. 3 Jörke, Akteneinsicht, S. 34. 4 Jörke, Akteneinsicht, S. 33 f. 5 Jörke, Akteneinsicht, S. 47.

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A. Meinungsstand

den vorzulegenden und einzusehenden Akten gehörten.6 Handakten und andere dienstliche Vorgänge könnten hingegen nicht eingesehen werden.7 Winter legt ebenfalls einen eher weiten Aktenbegriff zugrunde. Hierunter seien alle Vorgänge zu verstehen, „die bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht zur Verdachtsklärung angelegt worden sind.“8 Hierzu zähle „das gesamte, vom ersten Zugriff der Polizei an gesammelte für und gegen den Beschuldigten sprechende Material unter Einbeziehung sämtlicher Beiakten.“9 Hierzu könnten auch Akten betreffend Ermittlungsverfahren zu weiteren Taten des Beschuldigten zählen, auch sog. Spurenakten fielen unter den Aktenbegriff.10 Ob Letztere verfahrensrelevant seien, könne im Zeitpunkt der Anklageerhebung möglicherweise noch nicht eindeutig festgestellt werden; zudem sei der Verteidiger ein gegenüber den staatlichen Institutionen unabhängiger Verfahrensbeteiligter, der auch in der Wahl der Verteidigungsstrategie frei sei, sodass weder dem Gericht noch ihm sog. Spurenakten vorenthalten werden dürften.11 Ein etwaiges Geheimhaltungsinteresse Dritter oder die Befürchtung einer hiermit möglicherweise einhergehenden erheblichen Informationsfülle könne der Einordnung solcher Vorgänge als Aktenbestandteil nicht entgegengehalten werden, da diese für die Verdachtsfrage und die Überprüfung der Richtigkeit der gezogenen Rückschlüsse beachtlich seien.12 Beweisstücke seien zu besichtigen,13 wobei Winter insoweit nicht weiter ausführt, was als Beweisstück anzusehen ist. Hiebl meint, dass sich ein umfassender Aktenbegriff aus den einzelnen Regelungszwecken der §§ 163 Abs. 2 S. 1, 199 Abs. 2 S. 2, 147 StPO ergebe; er geht davon aus, dass das gesamte Informationsmaterial, das im Zuge der Tatermittlungen oder seit Anklageerhebung angefallen sei oder von der Staatsanwaltschaft bzw. dem Gericht angefertigt/beigezogen werde, unter den Aktenbegriff der §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO falle.14 Da der Maßstab hinsichtlich der Entscheidung, Anklageerhebung zu erheben, der gleiche sei, wie derjenige, das Verfahren zu eröffnen, müsse der Informationsstand von Staatsanwaltschaft und Gericht derselbe sein.15 Um ausreichend informiert zu sein, insbesondere zu den Vorwürfen substantiiert Stellung nehmen zu können, müsse der Verteidigung derselbe Informationsstand eingeräumt werden.16 Nach Hiebl seien mit Blick auf den Sinn und Zweck von § 147 StPO, einer zu fordernden Gleichbehandlung der angefallen Informationsträger und zur Her6

Jörke, Akteneinsicht, S. 73 ff. Jörke, Akteneinsicht, S. 73. 8 Winter, Reform, S. 32. 9 Winter, Reform, S. 31. 10 Winter, Reform, S. 31. 11 Winter, Reform, S. 32. 12 Winter, Reform, S. 32. 13 Winter, Reform, S. 33. 14 Hiebl, Probleme, S. 99 ff. 15 Hiebl, Probleme, S. 102. 16 Hiebl, Probleme, S. 102.

7

I. Wissenschaftlicher Diskurs

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stellung von Wissensgleichheit auch etwaige Spurenakten Bestandteil der Akten.17 Eine hiermit einhergehende Vorlage gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO von erheblichem Informationsumfang stünde dem nicht entgegen, da das Gericht nicht notwendig jedem Spurenvorgang nachgehen müsse.18 Selbst wenn die Staatsanwaltschaft oder das Gericht etwaiges Ermittlungsmaterial als völlig verfahrensirrelevant einordne, müsste dies dem Gericht vorgelegt und demgemäß der Einsicht der Verteidigung eröffnet werden.19 Hiebl subsumiert auch die sog. Handakten der Staatsanwaltschaft unter den Aktenbegriff in den §§ 199 Abs. 2 S. 2, 147 StPO, da sie ebenfalls verfahrensrelevante Informationen enthalten könnten.20 Zudem sei die Grenze zwischen rein innerdienstlichen Vorgängen und potentiell verfahrensrelevantem Ermittlungsmaterial praktisch schwer zu ziehen21 und im Übrigen dürfe man der Staatsanwaltschaft eben kein Auswahlermessen einräumen, was bei der Unterscheidung zwischen Verfahrensakte und Handakte faktisch jedoch gebilligt werde.22 Dies gebiete auch der Zweck von § 147 StPO, der in der Transparenzherstellung und Gegenkontrolle zu erblicken sei.23 Der Aktenbegriff gelte für jegliche Art von verkörperten Informationen, sodass auch Tonaufzeichnungen, Karten oder Bilder Aktenbestandteile darstellten.24 Dem Beschuldigten könnten zum Schutz der Aktenintegrität Kopien von den Originalakten ausgehändigt werden.25 In der Sache geht Hiebl also davon aus, dass etwaige Aufzeichnungen ebenfalls Aktenbestandteile seien und dabei auch im Original herauszugeben/vorzulegen seien. Ob er diese als Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO einordnet, wird dabei nicht deutlich. Er fasst seine Auffassung unter dem Stichwort des funktionellen Aktenbegriffs zusammen.26 Bahnsen fordert strengste Wissensparität zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft; die Akte müsse demzufolge die Ermittlungsvorgänge lückenlos darstellen.27 „Was für das Verfahren geschaffen worden ist, darf der Akteneinsicht nicht entzogen werden.“,28 sodass insbesondere auch sog. Spurenakten als Akten i. S. d. 147 StPO anzusehen seien.29 Dies gelte mit Blick auf eine herzustellende Chancengleichheit bzw. Verfahrensfairness unabhängig davon, ob ggfs. die Verfahren gegen mehrere Beschuldigte zusammen oder getrennt verhandelt würden.30 Eine solche Sicht ergebe sich bereits daraus, dass sog. Spurenakten im 17

Hiebl, Probleme, S. 119. Hiebl, Probleme, S. 119. 19 Hiebl, Probleme, S. 103. 20 Eingehend Hiebl, Probleme, S. 123 ff. m. w. N. 21 Hiebl, Probleme, S. 123. 22 Hiebl, Probleme, S. 124. 23 Hiebl, Probleme, S. 124 f. 24 Hiebl, Probleme, S. 103 f. 25 Hiebl, Probleme, S. 81 ff. 26 Hiebl, Probleme, S. 99. 27 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 52, 54. 28 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 54. 29 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 61 ff. 30 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 65 f. 18

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A. Meinungsstand

Laufe des in Rede stehenden Ermittlungsverfahrens angefallen seien und eine Auswahl der vorzulegenden Akten nicht der Staatsanwaltschaft obliegen dürfe.31 Nach Bahnsen gehörten zu den vorzulegenden/einzusehenden Akten auch außerstrafprozessual angelegte Informationsträger, wie Verwaltungs- oder Steuerakten.32 Begründen tut Bahnsen seine Rechtsauffassung mit dem Zweck von § 147 StPO und dem Gesamtzusammenhang, in dem die Norm stehe.33 Das Informationsbedürfnis sei Ausfluss des rechtlichen Gehörs; das Rechtsstaatsprinzip fordere ein faires und chancengleiches Verfahren, wozu es gehöre, dass der Wissensvorsprung der Staatsanwaltschaft zu einem gewissen Zeitpunkt harmonisiert werde, was für eine ausreichende Verteidigung erforderlich sei.34 Ferner trage ein umfassendes Akteneinsichtsrecht zur prozessualen Wahrheitsermittlung bei.35 Mündlich der Staatsanwaltschaft oder Polizei zugetragene Informationen seien aktenkundig zu machen; dies ergebe sich aus dem § 168b Abs. 1 StPO zu entnehmenden Grundsatz der Aktenvollständigkeit.36 Eine vollständige Aktenvorlagepflicht aus § 199 Abs. 2 S. 2 StPO sei erforderlich, damit das Gericht den hinreichenden Tatverdacht prüfen könne.37 Zudem sei „die prozessuale Stellung der Staatsanwaltschaft von einer wechselseitigen Abhängigkeit zum Gericht geprägt.“38 Das aus § 160 Abs. 2 StPO abzuleitende Objektivitätsgebot der Staatsanwaltschaft ändere nichts daran, dass ein Aussonderungsrecht der Staatsanwaltschaft möglicherweise zuungunsten des Beschuldigten vorgenommen werden würde, „sei es durch ,Nachlässigkeit und Betriebsblindheit‘, sei es einfach durch einen in der Natur der Strafverfolgungsaufgabe angelegten Subjektivismus.“39 Dessen ungeachtet lasse sich im Zeitpunkt der Anklageerhebung nicht mit ausreichender Sicherheit feststellen, welche Aktenbestandteile im Laufe der Hauptverhandlung Bedeutung erlangen könnten.40 Bahnsen zufolge seien Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO hingegen keine Aktenbestandteile i. e. S.; anders sei dies jedoch bei hiervon erstellten Kopien, die sodann auch überlassen werden könnten.41 Die Überlassung einer Beweisstückkopie sei dabei nur dann erforderlich, wenn eine Besichtigung in den Diensträumen der Strafverfolgungsbehörden nicht möglich oder zumutbar sei.42 Zumindest müsse aus den Akten die Existenz etwaiger Ton-/Videoaufzeichnungen her-

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Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 62. Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 55. 33 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 52. 34 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 52. 35 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 52. 36 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 52. 37 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 53. 38 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 53. 39 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 54. 40 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 54. 41 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 57 ff., 72 f., 77. 42 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 77. 32

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vorgehen; jedenfalls Tonaufzeichnungen könnten niedergeschrieben werden.43 Dass Aufzeichnungen als Beweisstücke grundsätzlich lediglich auf der Geschäftsstelle von Gericht oder Staatsanwaltschaft besichtigt werden könnten, sei mit dem Regelungszweck von § 147 StPO und den verfassungsrechtlichen Gewährleistungen vereinbar.44 Der Verteidiger könne sich vor Ort eine Kopie der Aufzeichnung erstellen.45 Sofern der Besichtigungsort für den Verteidiger weiter entfernt sei, müsse dem Verteidiger behördlicherseits eine Aufzeichnungskopie zugänglich gemacht werden.46 Soweit es bei den Beweismitteln auf den verkörperten Inhalt ankomme, handele es sich jedoch wiederum um Aktenbestandteile.47 Das Original einer Tonaufzeichnung müsste andererseits „als Beweisstück einzuordnen sein und nicht als normaler Bestandteil der Verfahrensakten.“48 Ein Aussonderungsrecht hinsichtlich der Beweisstücke, die besichtigt werden könnten, bestehe dabei ebenso wenig wie bei Aktenbestandteilen.49 Bahnsen geht ferner davon aus, dass sog. Handakten Informationsträger zu rein innerdienstlichen Vorgängen seien, die nicht unter den Aktenbegriff fielen;50 alles was für eine gerichtliche Entscheidung von Bedeutung sein könnte, könne deshalb nicht zu den Handakten gelegt werden, da es Aktenbestandteil sei und deshalb zur Akte gehöre.51 Unter Handakten könne man nur solche Informationsträger verstehen, deren Inhalt nur für den innerdienstlichen Bereich Bedeutung habe.52 Handakten seien für eine Chancengleichheit bzw. Wissensparität und der Gewährung rechtlichen Gehörs insofern nicht erforderlich.53 Vom Aktenbegriff ausgenommen seien zudem gerichtliche Protokollentwürfe und Senatshefte.54 Gleiches gelte für die von der Staatsanwaltschaft verwendeten Programme, wobei die Staatsanwaltschaft verpflichtet sei, eine Programmbeschreibung mitzuteilen.55 Von der Staatsanwaltschaft selbst erstellte Dateien seien jedoch im Wege der Akteneinsicht zugänglich zu machen,56 notfalls durch einen Ausdruck der Dateien.57 Daten und Programme könnten in den Diensträumen der Staatsanwaltschaft besichtigt werden, ausgedruckte Auswertungen seien hingegen mitzugebende Aktenbestandteile.58 Soweit die Staatsanwaltschaft ihrer 43

Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 71 f. Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 72. 45 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 72. 46 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 73. 47 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 57. 48 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 57. 49 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 58. 50 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 59 f. 51 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 59. 52 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 59. 53 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 59 f. 54 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 60. 55 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 75 ff. 56 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 75. 57 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 77. 58 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 77. 44

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Pflicht zur in diesem Sinne vollständigen Aktenvorlage aus § 199 Abs. 2 S. 2 StPO nicht nachkomme, verbleibe ein Einsichtsrecht der Verteidigung in die nicht vorgelegten Aktenbestandteile analog § 147 Abs. 1 StPO,59 da sich aus der Grundidee des Gesetzgebers, die in § 147 Abs. 2 StPO zum Ausdruck komme, ergebe, dass das Einsichtsrecht nach Anklageerhebung noch verstärkt und nicht abgeschwächt sein solle.60 Hierfür stritten auch die zu fordernde Wissensparität, der Gehörsanspruch und die Unschuldsvermutung.61 Das Bedürfnis für die Herleitung einer Analogie sieht Bahnsen in dem Wortlaut von § 147 Abs. 1 StPO, nach dem Einsicht nach Anklageerhebung lediglich in die dem Gericht vorliegenden Akten gewährt werde.62 Sofern während der Hauptverhandlung weiter gegen den Angeklagten ermittelt werde, sei das hierbei entstandene Informationsmaterial, wie etwa solches aus einer Telekommunikationsüberwachung, der Verteidigung ebenfalls zugänglich zu machen; aus Gründen der Verfahrensfairness und des Gehörsanspruches des Angeklagten sei das Gericht in der Pflicht, der Verteidigung diese Möglichkeit einzuräumen bzw. diese Informationsträger zu beschaffen.63 Bahnsen fasst seine Ausführungen unter dem Stichwort des funktionellen Akten- und Beweisstückbegriffs zusammen.64 Auch Spaetgens hat sich mit dem Akteneinsichtsrecht beschäftigt und vergleicht die Ausgestaltung des nationalen Einsichtsrechts mit der englischen Rechtslage.65 Hierbei geht er davon aus, dass der Aktenbegriff in § 147 StPO alle Unterlagen umfasst, die sich im Stadium der polizeilichen Ermittlungen angesammelt haben; weiter gehörten hierzu alle Informationen, die durch die Anklageerhebung verfahrensgegenständlich geworden seien,66 inkl. etwaiger Vorstrafenakten oder auch verfahrensrelevanter außerstrafprozessualer Vorgänge.67 Handakten zählten nicht hierzu, jedoch dürften hier nur rein innerdienstliche Vorgänge abgelegt werden.68 Der Streit um die dogmatische Einordnung der sog. Spurenakten könne dadurch gelöst werden, dass die Staatsanwaltschaft dazu verpflichtet werde, den Ermittlungsrichter über die Existenz etwaiger Spurenakten zu unterrichten; hierdurch würden Gericht und Verteidigung die Kenntnis vom Vorliegen weiterer Spurenvorgänge erhalten und somit die Möglichkeit erlangen, die Spurenakten einzusehen bzw. sich diese vorlegen zu lassen.69 Der Verteidiger könne zudem Einsicht in Kopien von Ton- und Videoaufzeichnungen 59

Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 62 ff. Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 63. 61 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 63 f. 62 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 62. 63 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 55. 64 Siehe Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 52, 58. 65 Siehe Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 12 ff. 66 Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 24. 67 Siehe Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 28. 68 Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 24. 69 Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 27. 60

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und weitere elektronisch gespeicherte Vorgänge begehren; die Einsicht sei dabei auf der Geschäftsstelle der Staatsanwaltschaft vorzunehmen, was sich aus § 189 Nr. 3 RiStBV (a. F.) ergebe.70 Ausdrucke von elektronischen Datenverarbeitungsvorgängen seien wiederum Aktenbestandteile; auch sei eine Versendung von digitalen Vorgängen möglich, wenn es sich um eine Kopie handele.71 Anwendungsprogramme seien hingegen jedenfalls deshalb nicht zu übersenden, weil dies nicht praktikabel sei.72 Aus dem Grundsatz der Aktenvollständigkeit ergebe sich zudem, dass die Verfahrensakten während des Verfahrensverlaufs aktualisiert werden müssten; der Beschuldigte habe einen Anspruch auf die Einsichtnahme in eine vollständige Akte.73 Nach Kettner ist das Akteneinsichtsrecht erforderlich, um eine effektive Verteidigung zu ermöglichen und der Subjektstellung des Beschuldigten zu genügen; das Einsichtsrecht stelle das Kernstück der Verteidigung dar.74 Ferner gebiete der Grundsatz der Aktenvollständigkeit einen weitreichenden Aktenbegriff.75 Zu den Akten zählten demnach sämtliche Schriftstücke, die sich seit dem ersten Zugriff der Strafverfolgungsbehörden bei diesen angesammelt haben.76 Ein Aussonderungsrecht stehe der Staatsanwaltschaft nicht zu, da die Entscheidung der Staatsanwaltschaft andernfalls nicht kontrolliert werden könne. Die Beurteilung, was von dem Ermittlungsmaterial für die Verteidigung relevant sei, sei im Übrigen ureigenste Aufgabe der Verteidigung.77 Zudem sei die Annahme, die Staatsanwaltschaft handele völlig objektiv, zweifelhaft.78 Insofern fielen unter den Aktenbegriff beispielsweise auch etwaige Spurenakten79 und Informationsträger eines (ursprünglich) gemeinsam angelegten Gesamtermittlungsverfahrens, die unmittelbar nur den (ehemals) Mitbeschuldigten beträfen.80 Handakten, worunter Aktenkopien und innerdienstliche Vorgänge zählten, seien hingegen keine Aktenbestandteile.81 Sofern innerdienstliche Vorgänge zu den Hauptakten gelegt wurden, seien sie mit Blick auf den Aktenvollständigkeitsgrundsatz hingegen Aktenbestandteil.82 Meyer beschäftigt sich in seiner Dissertation unter anderem ebenfalls mit dem Aktenbegriff. Auch er geht davon aus, dass zu den Akten i. S. d. §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO das gesamte im Ermittlungsverfahren angesammelte Informations70

Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 29 f. Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 30 f. 72 Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 31. 73 Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 32. 74 Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 71. 75 Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 77. 76 Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 75. 77 Zum Vorstehenden Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 75. 78 Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 81. 79 Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 80 ff. 80 Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 77. 81 Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 85. 82 Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 86.

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material zähle.83 Dies ergebe sich aus der Funktion des § 147 StPO einerseits und der Funktion der Staatsanwaltschaft und dem Zweck der §§ 160 Abs. 2, 163 Abs. 2 S. 1, 199 Abs. 2 S. 2, 203 StPO andererseits, weshalb er seine Rechtsauffassung ebenso wie Bahnsen und Hiebl mit dem Stichwort des funktionellen Aktenbegriffs umschreibt.84 Ein Aussonderungsrecht der Staatsanwaltschaft sei unter Berufung auf die bereits von Bahnsen angeführten Erwägungen nicht einzuräumen.85 Auch dem Gericht stünde keine Aussonderungshandhabe zu; was verteidigungsrelevant sei, könne nur die Verteidigung selbst beurteilen.86 Nach Meyer ist gemäß einem aus §§ 147, 168b StPO abzuleitenden Grundsatz der Aktenvollständigkeit vollständige Wissensparität zwischen Staatsanwaltschaft, Gericht und Verteidigung herzustellen,87 sodass – ebenso wie es bereits Bahnsen gefordert hatte – etwa auch Verwaltungs- und Steuerakten oder andere, mit dem Strafverfahren zusammenhängende Vorgänge Aktenbestandteile darstellten.88 Etwaige Spurenakten ordnet auch Meyer unter den Aktenbegriff ein.89 Auch er führt hierzu an, dass diese Vorgänge für die richterliche Untersuchung bedeutend seien, da sie mit dem Verfahren inhaltlich zusammenhängen würden; zudem seien solche Vorgänge für die Verteidigung relevant, da sie oftmals entlastend in die Beweiswürdigung einzubeziehen seien.90 Ein etwaiger immenser Umfang an vorzulegenden Akten sei – insoweit anlehnend an Hiebl – unbeachtlich.91 Zudem sei das Gericht bei unvollständiger Aktenvorlage nicht unabhängig gegenüber der Staatsanwaltschaft, was jedoch verfassungsrechtlich zu fordern sei.92 Die Ermöglichung einer diesbezüglichen Einsichtnahme durch die Verteidigung sei zur Herstellung von Chancen- und Waffengleichheit, mit Blick auf den Grundsatz der Aktenvollständigkeit und unter Berücksichtigung des Zwecks des § 147 StPO geboten.93 Die Objektivitätspflicht aus § 160 Abs. 2 StPO biete zudem keine ausreichende Gewähr für eine sorgsame oder fehlerfreie Amtsausübung.94 In der Sache folgt Meyer also der Ansicht Bahnsens auch insoweit, als hinsichtlich der pflichtwidrig nicht vorgelegten Akten ein Einsichtsrecht analog § 147 Abs. 1 StPO bestehe.95 Entsprechend den Ausführungen Bahnsens sei die Einordnung als Aktenbestandteil auch unabhängig davon zu treffen, ob die Verfahren gemeinsam oder getrennt verhandelt würden.96 Hinsichtlich der Handak83

Meyer, Akteninformationsrecht, S. 75 ff. Meyer, Akteninformationsrecht, S. 78 ff. 85 Meyer, Akteninformationsrecht, S. 77. 86 Meyer, Akteninformationsrecht, S. 77, 80. 87 Meyer, Akteninformationsrecht, S. 80 ff. 88 Meyer, Akteninformationsrecht, S. 81. 89 Meyer, Akteninformationsrecht, S. 95 ff. 90 Meyer, Akteninformationsrecht, S. 95. 91 Meyer, Akteninformationsrecht, S. 96. 92 Meyer, Akteninformationsrecht, S. 97. 93 Meyer, Akteninformationsrecht, S. 97, 99. 94 Siehe Meyer, Akteninformationsrecht, S. 98 f. 95 Meyer, Akteninformationsrecht, S. 82 ff. 96 Meyer, Akteninformationsrecht, S. 101.

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ten folgt Meyer letztlich ebenso den Ausführungen Bahnsens.97 Gleiches gilt für die Ausklammerung der Hauptverhandlungsprotokolle (bzw. deren Entwürfe) und der sog. Senatshefte aus dem Aktenbegriff98 oder der Forderung, mündlich erlangte Informationen aktenkundig zu machen.99 Soweit es bei den Beweisstücken auf den verkörperten Inhalt ankäme, seien solche Informationsträger – wiederum an Bahnsen angelehnt – Aktenbestandteile.100 Sofern der Bestand der Informationsträger nicht besonders schutzbedürftig sei, seien sie als Aktenbestandteile einzustufen.101 Auch hinsichtlich des Umganges mit von der Staatsanwaltschaft verwendeten Programmen und Auswertungsergebnissen vertritt Meyer letztlich dieselbe Auffassung wie Bahnsen.102 Beweisstückkopien seien ebenfalls Aktenbestandteile, die mangels Integritätsschutz auch überlassen werden könnten.103 Einerseits wird daher – allerdings ohne sich hierauf explizit zu berufen – ebenso wie von Bahnsen ein normativer Akten- und Beweismittelbegriff zugrunde gelegt,104 im Gegensatz zu Bahnsen gleichzeitig aber auch ein materieller Aktenbegriff angenommen.105 Unter anderem an Jörke, Hiebl und Bahnsen anlehnend legt M. Kuhn ebenfalls einen umfassenden Aktenbegriff zugrunde; zu den Akten gehörten alle vom ersten Zugriff i. S. v. § 163 StPO an gesammelten be- und entlastenden Schriftstücke sowie die nach Anklageerhebung entstandenen Informationsträger,106 inkl. etwaiger Handakten, Notizen, Nebenprotokolle und sog. Spurenakten.107 § 147 StPO impliziere einen umfassenden Aktenbegriff; zudem dürfe die Einordnung eines Informationsträgers als verteidigungsrelevant allein der Verteidigung obliegen.108 Die Einordnung von Handakten und Notizen als Aktenbestandteil ergebe sich aus dem Zweck von § 147 StPO,109 die Einbeziehung auch der Spurenakten erfordere Art. 103 Abs. 1 GG.110 Nach M. Kuhn kämen als Beweisstücke Urkunden und Ton-/Videoaufzeichnungen in Betracht.111 Hinsichtlich der Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO sei der Verteidigung ein Recht auf Fertigung und Überlassung einer Kopie zu gewähren.112 Dies folge aus einer prinzipiellen Gleichstellung des Besichtigungs- mit 97

Meyer, Akteninformationsrecht, S. 102 f. Meyer, Akteninformationsrecht, S. 104. 99 Meyer, Akteninformationsrecht, S. 80. 100 Meyer, Akteninformationsrecht, S. 87. 101 Meyer, Akteninformationsrecht, S. 88. 102 Vgl. Meyer, Akteninformationsrecht, S. 108 ff. 103 Meyer, Akteninformationsrecht, S. 88, 107 f. 104 Meyer, Akteninformationsrecht, S. 88. 105 Meyer, Akteninformationsrecht, S. 99. 106 M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 55. 107 M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 56 ff. 108 M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 54 f. 109 M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 56. 110 M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 58. 111 M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 60. 112 M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 61. 98

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dem Einsichtsrecht.113 Sofern Urkunden Beweisstückcharakter hätten, sei danach zu differenzieren, ob die Beweisstücke aufgrund ihrer Beschaffenheit oder ihres Inhaltes verfahrensrelevant seien; im letzteren Fall seien sie als Aktenbestandteile zu behandeln.114 B. Kuhn vertritt ebenfalls einen weiten Aktenbegriff, unter den grundsätzlich alle seit dem ersten Zugriff i. S. v. § 163 StPO angesammelten Informationsträger fielen; dies ergebe sich aus der Funktion der Akten und dem Grundsatz der Aktenvollständigkeit.115 Die Prüfungsgrundlage von Staatsanwaltschaft und Gericht müsse hinsichtlich des hinreichenden Tatverdachts dieselbe sein;116 der entsprechend umfassende Aktenbegriff in § 147 StPO sei wiederum aufgrund der Regelungsfunktion, der in einer lückenlosen Informationsgewährung zu erblicken sei, erforderlich; zudem diene das Akteneinsichtsrecht der Kontrolle der Strafverfolgungsbehörden und sei für eine effektive Verteidigung notwendig.117 Dies gebiete auch der Grundsatz der Aktenvollständigkeit und die Erforderlichkeit, Wissensparität herzustellen.118 Die Akten stellten dabei die Original-Informationsträger dar.119 B. Kuhn zufolge sei das Ermittlungsverfahren mit Blick auf § 168b StPO weitestgehend zu dokumentieren und die Subsumtion unter den Aktenbegriff sei unabhängig von der Konservierungsart.120 Ein Aussonderungsrecht hinsichtlich des angesammelten Ermittlungsmaterials räumt auch er der Staatsanwaltschaft grundsätzlich nicht ein.121 Er geht jedoch davon aus, dass zu den Akten nicht ausnahmslos alles zähle, was im Rahmen des Ermittlungsverfahrens an Informationsmaterial angelegt oder eingeholt worden sei.122 Beiakten etwa seien lediglich dann gem. § 147 StPO einzusehende Akten, wenn die Staatsanwaltschaft diese tatsächlich beiziehe, andernfalls sei die Staatsanwaltschaft lediglich verpflichtet, die Einholung der Beiakten in den Akten zu dokumentieren.123 Auch seien solche Vorgänge keine gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegenden Akten, auf die die Staatsanwaltschaft keinen Zugriff (genommen) habe.124 Vom Aktenbegriff nimmt auch B. Kuhn die staatsanwaltschaftlichen Handakten aus, wobei es sich bei deren Inhalt nur um rein innerdienstliche Vorgänge handeln dürfe, damit das Einsichtsrecht nicht aushöhlt werde; hierzu zählten etwa Doppelstücke

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M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 61. M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 61 f. 115 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 180 f. 116 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 180. 117 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 180. 118 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 181. 119 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 249. 120 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 182. 121 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 184 f. 122 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 194. 123 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 186. 124 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 183. 114

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von Aktenbestandteilen oder sonstige innerbehördliche Vorgänge.125 Habe die Verteidigung die Besorgnis, dass Aktenbestandteile fälschlicherweise zur Handakte genommen worden seien, habe die Verteidigung jedoch ein Einsichtsrecht in die Handakten analog § 147 Abs. 1 StPO.126 Auszüge aus etwaigen Registern unterlägen ebenfalls der Akteneinsicht.127 Das Bestehen eines Einsichtsrechts der Verteidigung in Akten von abgetrennten Verfahren hinge davon ab, ob zwischen den jeweiligen Verfahren ein sachlicher Zusammenhang i. S. v. § 3 StPO bestehe.128 Nach B. Kuhn seien auch die sog. Spurenakten nicht Aktenbestandteil; insoweit sei lediglich ein Spurenaktenverzeichnis zu erstellen, aus dem ersichtlich werde, welche Vorgänge nicht von der Staatsanwaltschaft vorgelegt worden seien, sodass die Verteidigung diese Vorgänge bei der Staatsanwaltschaft analog § 147 StPO einsehen könne.129 Lediglich die von der Staatsanwaltschaft als verfahrensrelevant angesehenen Spurenvorgänge seien vorzulegende Akten, wobei hier großzügig zu verfahren sei.130 Die Ausklammerung der Spurenakten von der Vorlagepflicht ergebe sich daraus, dass die Polizeibehörden gem. § 163 Abs. 2 S. 1 StPO nicht das gesamte Ermittlungsmaterial der Staatsanwaltschaft übersenden müsse; zudem habe die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsmaterial auch nicht ausnahmslos dem Gericht vorzulegen.131 Die Gerichte dürften nicht allzu sehr belastet werden, was aber gerade die Folge von einer Vorlagepflicht sämtlicher Spurenakten wäre.132 Den Beschuldigteninteressen könne in Anlehnung an die Spurenakten-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dadurch ausreichend Rechnung getragen werden, dass er über seinen Verteidiger ein eigenständiges Einsichtsrecht bei der Staatsanwaltschaft zugebilligt bekomme, wodurch die Verteidigung die Spurenakten zur Kenntnis nehmen und erforderlichenfalls einen Beweisantrag auf gerichtliche Beiziehung der Spurenakten stellen könne.133 Als Beweisstück i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO sei nach B. Kuhn etwa das Tatwerkzeug anzusehen.134 Einerseits wird angeführt, die Einordnung als Beweisstück müsse sich an der Funktion des Mitgabeverbots aus § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. orientieren, der in dem Substanzschutz zu erblicken sei.135 Andererseits sollen Beweisstücke jedoch Aktenbestandteile sein, soweit der in ihnen verkörperte Informationsgehalt verfahrensrelevant sei.136 Sofern es auf die Beschaffenheit des 125

B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 197 ff. B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 200. 127 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 205 f. 128 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 203 f. 129 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 195 f. 130 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 196. 131 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 194. 132 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 195 f. 133 Siehe B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 194 f. 134 So offenbar B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 219. 135 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 219, 221. 136 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 219 ff. 126

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Gegenstandes ankäme, sei von einem Beweisstück auszugehen.137 Diese Unterscheidung gelte auch bei digitalen Informationsträgern.138 Ausdrucke und Kopien seien ebenfalls Aktenbestandteile.139 Von Dateien seien Ausdrucke zur Wahrung der Aktenvollständigkeit zu erstellen und zu den Akten zu nehmen.140 Dateiprogramme seien hingegen generell nicht Aktenbestandteil.141 Ton- und Bildaufzeichnungen seien Beweisstücke, wohingegen Kopien von Aufzeichnungen nach § 58a StPO Aktenbestandteile und keine Beweisstücke seien.142 Sofern es nicht als ausreichend oder zumutbar anzusehen sei, die Beweisstücke lediglich in den Diensträumen zu gewähren, sei aufgrund verfassungskonformer Auslegung von § 147 Abs. 4 StPO (a. F.) die Fertigung einer Beweisstückkopie zu gestatten, die Aktenbestandteil sei.143 Mit dem Akteneinsichtsrecht beschäftigt sich auch Gröger. Der Schwerpunkt ihrer Untersuchung liegt auf den konventionsrechtlichen Gewährleistungen zum Akteneinsichtsrecht und einer rechtsvergleichenden Betrachtung der Ausgestaltung und Umsetzung der Akteneinsicht im französischen Strafverfahren.144 Hinsichtlich der Ausgestaltung in der deutschen Rechtsordnung legt sie den Fokus auf die Einschränkbarkeit des Akteneinsichtsrechts insbesondere durch § 147 Abs. 2 StPO und berücksichtigt hierbei die verfassungs- und konventionsrechtlichen Gewährleistungen, wie den Gehörsanspruch und den Waffengleichheitsgrundsatz.145 Zum Aktenbegriff des § 147 StPO heißt es: „Angesichts dieser Regelung [scil. § 147 Abs. 1 StPO] müssen alle Schriftstücke, Ton- oder Bildaufnahmen, Videoaufzeichnungen, aus denen sich schuldspruch- oder rechtsfolgenrelevante Umstände ergeben können, dem Verteidiger zur Verfügung gestellt werden. Was für das Verfahren geschaffen wurde, darf der Einsicht in die Akten nicht entzogen werden. Andernfalls wäre der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.“146

Lauterwein hat sich i. R. s. Dissertation im Schwerpunkt mit den §§ 406e, 475 StPO beschäftigt. Hierbei legt er ebenfalls einen weiten Aktenbegriff zugrunde, was auch für die §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO gelte.147 Zu den Akten zählte das gesamte während des Strafverfahrens entstandene Informationsmaterial mit Ausnahme der Beweisstücke und der staatsanwaltschaftlichen Handakten.148 Im Gegensatz zu B. Kuhn geht Lauterwein davon aus, dass die Polizei bei der Übersendung der Vorgänge an die Staatsanwaltschaft gem. § 163 Abs. 2 S. 1 StPO 137

B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 221. B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 222. 139 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 222 f. 140 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 223. 141 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 223 f. 142 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 224. 143 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 251. 144 Gröger, Akteneinsichtsrecht, S. 13–63, 109–165. 145 Siehe Gröger, Akteneinsichtsrecht, S. 65 ff. 146 Gröger, Akteneinsichtsrecht, S. 99 f. 147 Lauterwein, Akteneinsicht, S. 141. 148 Lauterwein, Akteneinsicht, S. 141 f. 138

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keine Informationen vorenthalten dürfe.149 Auch er hält den materiellen Aktenbegriff, nach dem insbesondere sog. Spurenakten vom Aktenbegriff umfasst seien, für vorzugswürdig.150 Etwaige Beiakten seien grundsätzlich ebenfalls gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegende Akten.151 Beweisstücke stellten insbesondere Originalurkunden dar, die vor der Überlassung der Akte herauszunehmen und durch Kopien zu ersetzen seien.152 Beweismittelordner, die lediglich Kopien enthielten, seien Aktenbestandteile.153 Ob Aufzeichnungen nach § 58a StPO oder zumindest deren Kopien Aktenbestandteile sind, lässt Lauterwein offen.154 Die jüngste (monographische) Untersuchung aus dem Jahr 2016, die sich mit dem Akteneinsichtsrecht beschäftigt, stammt von Bell und damit aus einer Zeit vor der Einführung der elektronischen Akte im Strafverfahren. Bell untersucht verschiedene (praxisrelevante) Fallkonstellationen im Zusammenhang mit der Beschlagnahme von und die Akteneinsicht bei elektronischen Medien.155 Hierbei geht sie zunächst davon aus, dass alle schriftlichen oder elektronischen Unterlagen, die seit Beginn des Ermittlungsverfahrens i. S. v. § 163 StPO von Polizei oder Staatsanwaltschaft erstellt wurden, Aktenbestandteile seien.156 Ein Aussonderungsrecht zulasten der Verteidigung billigt auch sie der Staatsanwaltschaft nicht zu.157 Beweisstücke seien alle nach den §§ 94 ff. StPO sichergestellten oder beschlagnahmten Gegenstände, die potentiell beweiserheblich seien, sowie die Augenscheinsobjekte.158 Bell stellt auch abweichende Auffassungen vor, nach denen Beweisstücke Aktenbestandteile seien, soweit es sich um Schriftstücke oder kleine Gegenstände handle, die physisch zur Akte gebracht worden seien.159 Nach Bell seien solche Beweisstücke jedoch keine Aktenbestandteile.160 Hierunter fielen etwa Datenträger und auch die hierauf gespeicherten Dateien (im Original161), die keine Aktenbestandteile seien und deshalb in den Diensträumen besichtigt werden müssten.162 Auch wenn die Verfahrensrelevanz eines Informationsträgers einzig in dem enthaltenen Informationsgehalt liege, sei ein Beweisstück und kein Aktenbestandteil anzunehmen, möge es sich auch um reproduzierbare Beweisstücke handeln; dies ergebe sich aus dem Zweck des Mitgabeverbotes.163 149

Lauterwein, Akteneinsicht, S. 141. Lauterwein, Akteneinsicht, S. 143. 151 Lauterwein, Akteneinsicht, S. 144. 152 Lauterwein, Akteneinsicht, S. 151. 153 Lauterwein, Akteneinsicht, S. 151. 154 Lauterwein, Akteneinsicht, S. 145. 155 Bell, Akteneinsicht, S. 1 ff. 156 Bell, Akteneinsicht, S. 13. 157 Bell, Akteneinsicht, S. 71. 158 Bell, Akteneinsicht, S. 13. 159 Bell, Akteneinsicht, S. 13. 160 Bell, Akteneinsicht, S. 13 f. 161 Bell, Akteneinsicht, S. 30. 162 Bell, Akteneinsicht, S. 14 f. 163 Bell, Akteneinsicht, S. 23 f. 150

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A. Meinungsstand

Da die Akteneinsicht und Beweisbesichtigung einer angemessenen Verteidigungsvorbereitung dienten, Wissensparität bzw. Waffengleichheit herzustellen sei und bei gewissen Beweisstücken eine Besichtigung in den Diensträumen viel Zeit in Anspruch nehmen könne, habe der Verteidiger nach Bell ebenso wie bei Aktenbestandteilen ein Recht auf eigenhändiges Anfertigen von Kopien der Beweisstücke, soweit sie reproduzierbar seien.164 Hierdurch werde auch dem hinter dem Mitgabeverbot von Beweisstücken stehenden Zweck entsprochen.165 Das Kopiergerät müsse erforderlichenfalls der Verteidiger besorgen.166 Weitere Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO seien die klassischen Tatwerkzeuge oder Tatprodukte.167 Mit einem Verwertungsverbot behaftete Beweisstücke seien, sofern dies bereits im Ermittlungsverfahren feststehe, aus staatlichem Gewahrsam herauszugeben und aus dem Strafverfahren zu lösen, sodass insoweit keine Einsicht möglich sei.168 Demgegenüber lehnt Bell einen Anspruch der Verteidigung, dass im Wege der Akteneinsicht eine Kopie von reproduzierbaren Beweisstücken staatlicherseits hergestellt und mitgegeben werden müsse, grundsätzlich ab.169 Denn dies ergebe sich weder aus dem Gesetz noch sei dies für eine effektive Verteidigungsvorbereitung erforderlich.170 Auch § 58a Abs. 2 S. 3 StPO spreche im Umkehrschluss gegen einen solchen Anspruch.171 Dass der Verteidiger eigenhändig die Beweisstücke kopieren und hierfür zum Gericht fahren müsse, sei dem Verteidiger zuzumuten, sodass eine ansonsten bestehende behördliche Belastung nicht angemessen sei; zudem könne der Verteidiger vor Ort die Beweisstücke danach mustern, was für ihn wirklich relevant sei.172 Anders sei dies in Fällen weiter Anfahrtszeit oder gedrängter gerichtlicher Terminlage; dann sei eine Anfertigung und Übersendung von Kopien durch die Behörden verhältnismäßig.173 Vorstehendes gilt nach Bell auch für Aktenbestandteile.174 Die behördlicherseits oder selbst erstellte Kopie sei dabei Aktenbestandteil.175 Dies ergebe sich aus dem Zweck des Mitgabeverbotes, der in dem Integritätsschutz des Beweisstückes zu erblicken sei, und bei Beweisstückkopien nicht tangiert werden könne.176 Anders sei dies wiederum in dem Fall, dass ein Original-Datenträger beschlagnahmt und bereits

164

Bell, Akteneinsicht, S. 21 f. Bell, Akteneinsicht, S. 22. 166 Bell, Akteneinsicht, S. 23. 167 Bell, Akteneinsicht, S. 19. 168 Bell, Akteneinsicht, S. 48. 169 Bell, Akteneinsicht, S. 26 170 Bell, Akteneinsicht, S. 26. 171 Bell, Akteneinsicht, S. 74. 172 Bell, Akteneinsicht, S. 26 f. 173 Siehe Bell, Akteneinsicht, S. 27. 174 Bell, Akteneinsicht, S. 73 f. 175 Bell, Akteneinsicht, S. 39, 67, 71. 176 Bell, Akteneinsicht, S. 67. 165

I. Wissenschaftlicher Diskurs

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während einer Durchsuchung hiervon eine Datenkopie erstellt werde; dann seien beide Informationsträger Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO.177

2. Weitere Literatur Auch in der übrigen Literatur hat man sich immer wieder mit §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO bzw. dem hierin normierten Akten- und Beweisstückbegriff beschäftigt. Nach einer Strömung ist § 147 StPO und § 199 Abs. 2 S. 2 StPO ein materieller Aktenbegriff zugrunde zu legen. Hierunter falle das gesamte seit dem ersten Zugriff der Polizei i. S. v. § 163 StPO angesammelte Informationsmaterial, unabhängig ob dieses seitens der Strafverfolgungsbehörde als verfahrensrelevant eingestuft würde oder nicht, sodass insbesondere auch sog. Spurenakten Aktenbestandteile seien.178 Was für das Verfahren geschaffen wurde, dürfe der Akteneinsicht nicht entzogen werden.179 Der Aktenbegriff beziehe sich dabei auf den durch die Tat konkretisierten Sachverhalt.180 Teilweise wird ein Aussonderungsrecht i. R. v. § 147 StPO abgelehnt, innerhalb von § 199 Abs. 2 S. 2 StPO jedoch für zulässig erachtet.181 Bei einem großen Umfang an Spurenakten sei es jedenfalls erforderlich, in den Akten die Existenz weiterer Spurenvorgänge und deren wesentlichen Inhalt in den vorzulegenden Akten zu dokumentieren.182 Zu den Akten zählten auch Vorgänge, die nicht von der Staatsanwaltschaft geführt würden, wie etwa Bundeszentralregisterauszüge, Berichte der Jugendgerichtshilfe oder Steuerakten.183 Gleiches gelte für vom Gericht herangezogene oder von der Staatsanwaltschaft nachgereichte Beiakten.184 Ob Verfahren gegen mehrere Beschuldigte zusammen oder getrennt verhandelt würden, sei ebenfalls nicht maßgebend.185 Auch die Frage, ob der Informationsträger einem Verwertungsverbot unterläge, sei nicht entscheidend.186 Von den Vertretern des materiellen Aktenbegriffs wird

177

Bell, Akteneinsicht, S. 155. MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 11, 20; SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 15; SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 24, 26, 38; Michalke NJW 2013, 2334, 2335; Burkhard DStR 2002, 1794, 1794 f., 1797; Dünnebier StV 1981, 504, 506 f.; Welp, FG Peters II, S. 310 f.; Lesch StraFo 2021, 496, 497 ff. 179 SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 18. 180 SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 27. 181 MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 13. 182 Siehe SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 38. 183 SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 16; MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 13, 22; SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 53; Marberth-Kubicki StraFo 2003, 366, 369 f.; Lesch StraFo 2021, 496, 499. 184 MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 15; SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 16; SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 29 ff. 185 SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 17; MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 14. 186 MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 23; SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 30; siehe für Beweisstücke auch SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 88. 178

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A. Meinungsstand

dabei zum Teil davon ausgegangen, dass die (zu übersendenden) Akten die Informationsträger im Original seien.187 Für die Einbeziehung der Spurenvorgänge in den Aktenbegriff der §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO wird angeführt, es sei nicht auszuschließen, dass die Staatsanwaltschaft in ihrer Objektivitätspflicht überfordert werde;188 die Strafverfolgungsbehörden könnten einem „Erfolgszwang“ unterliegen.189 Auf die Einschätzung der Staatsanwaltschaft könne mit Blick auf ihre Nachlässigkeit/Betriebsblindheit nicht abschließend vertraut werden.190 Nach Wölky gibt es nicht nur nachlässige oder betriebsblinde, sondern auch „verfolgungswütige“ und böswillige Staatsanwälte, was einem Aussonderungsrecht der Staatsanwaltschaft entgegenstehe.191 Zum Teil wird angeführt, dass sich der materielle Aktenbegriff bereits aus dem Wortlaut des § 147 Abs. 1 StPO ergebe.192 Hierfür streite auch der Zweck von § 147 StPO, der in der Herstellung von Waffengleichheit bestehe; weiter werden das Fairnessgebot aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, der Gehörsanspruch des Beschuldigten und der Grundsatz der Aktenvollständigkeit als Begründung angeführt.193 Auch wird darauf hingewiesen, dass das Gericht mit Blick auf denselben Beurteilungsmaßstab, den die §§ 170, 203 StPO zugrunde legten, die gleiche Informationsgrundlage haben müsse, wie sie die Staatsanwaltschaft habe.194 Der Verteidiger und auch das Gericht müssten über die Verfahrensrelevanz selbst entscheiden dürfen195 bzw. in der Lage sein, die Ermittlungsergebnisse eigenständig kontrollieren zu können.196 Nach einer weiteren Strömung ist §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO ein normativfunktionaler bzw. funktioneller Aktenbegriff zugrunde zu legen. Paeffgen versteht den Aktenbegriff in § 199 Abs. 2 S. 2 StPO als eine Ansammlung der Ermittlungsergebnisse und Beweismittel, „die nach einer normativierten funktionalen Beurteilung zur Entscheidung erforderlich sind“.197 Mit normativ-funktional ist – dies wird nicht ganz klar – offenbar gemeint, dass die Akten nach seiner Ansicht entsprechend der Funktion des § 199 Abs. 2 S. 2 StPO das gesamte angesammelte Ermittlungsmaterial umfassen müssen, das mit dem Prozessgegenstand respektive der prozessualen Tat zusammenhängt.198 Nach Jahn ist der Ak187

Siehe SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 70. Eisenberg NJW 1991, 1257, 1259. 189 Peters NStZ 1983, 275, 276. 190 SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 27. 191 Wölky StraFo 2013, 493, 494. 192 Burkhard DStR 2002, 1794, 1794. 193 SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 15, 18; MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 12 f.; SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 27; Wohlers/Schlegel NStZ 2010, 486, 490 f.; Schneider Jura 1995, 337, 338; Marberth-Kubicki StraFo 2003, 366, 368 f. 194 SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 27. 195 SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 27; siehe auch MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 20. 196 SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 38. 197 SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4, § 199, Rn. 4. 198 Vgl. SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4, § 199, Rn. 5. 188

I. Wissenschaftlicher Diskurs

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tenbegriff aus einem Gesamtzusammenhang der jeweiligen Vorschrift zu entwickeln, er geht daher von einem funktionellen bzw. normativ zu bestimmenden Aktenbegriff aus,199 der bei § 147 StPO und § 199 Abs. 2 S. 2 StPO identisch sei.200 In der Sache kommt das Meinungslager des normativ-funktionalen/funktionellen Aktenbegriffs i. R. v. §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO zumindest weitgehend zu denselben/ähnlichen Ergebnissen, wie die Vertreter des materiellen Aktenbegriffs, insbesondere werden die sog. Spurenakten als vorzulegende Akten angesehen.201 Zum Teil wird darauf hingewiesen, dass das Gericht hierdurch nicht verpflichtet werde, sämtlichen Spurenvorgängen nachzugehen; hilfsweise könnten die Ermittlungspersonen zu den Spurenvorgängen gehört werden, sodass die Spurenakten nicht bis in letzte Detail vom Gericht studiert werden müssten.202 Eine Aussonderungshandhabe der Staatsanwaltschaft lässt Jahn lediglich bei Vorgängen zu, die „offensichtlich völlig bedeutungslos“203 seien. Daten, deren Verwertung unzulässig sei, unterliegen nach Teilen dieses Meinungslagers nicht dem Aktenbegriff.204 Den umfassenden Aktenbegriff zu vertreten, geböten der Grundsatz der Aktenvollständigkeit und das Gebot von Wissensparität; auch impliziere der Aktenbegriff in § 147 StPO ein weitgehendes Begriffsverständnis.205 Von der Staatsanwaltschaft als belanglos eingeordnete Vorgänge müssten dem Gericht im Allgemeinen auch vorgelegt werden, da bei der Staatsanwaltschaft funktionsspezifisch verbreitet ein „Tunnelblick“ anzunehmen sei, sodass ihre Entscheidung nicht als präjudiziell maßgeblich angesehen werden könne.206 Das Objektivitätsgebot greife als Argument für einen engeren Aktenbegriff in § 147 StPO oder § 199 Abs. 2 S. 2 StPO demgegenüber nicht durch, da die in § 160 Abs. 2 StPO normierte Verhaltensanforderung eher theoretischer Natur sei; die Staatsanwaltschaft sei funktionell parteilich, auch im Ermittlungsverfahren.207 Sämtliche Spurenakten seien vorzulegende/einzusehende Aktenbestandteile, weil ansonsten die Kontrolle der staatsanwaltschaftlichen Verdachtseinschätzung vom hierfür zuständigen Gericht auf die Verteidigung verlagert werde,208 ohne dass zugleich die sonstigen parteiprozessualen Möglichkeiten eröffnet

199 LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 25 f., 49; ähnlich LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 5/2, § 199, Rn. 9. 200 LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 48. 201 Siehe SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4, § 199, Rn. 4 f., 7; LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 27, 45 ff., 51 ff., 58 ff., 65 f.; LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 5/2, § 199, Rn. 11 ff., 22 ff. 202 LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 5/2, § 199, Rn. 23. 203 LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 30. 204 SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4, § 199, Rn. 7; a. A. wiederum LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 27. 205 Siehe LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 4, 27 f., 50; ähnlich i. E. LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 5/2, § 199, Rn. 11. 206 SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4, § 199, Rn. 7. 207 LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 48. 208 Siehe LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 46.

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A. Meinungsstand

seien.209 Zudem eröffne die Staatsanwaltschaft das Prozessrechtsverhältnis, lege den Prozessgegenstand jedoch nicht (abschließend) fest, da dieser rein tatbezogen sei.210 Ferner sei die fälschliche Fixierung auf einen Beschuldigten eine in der Praxis häufiger aufkommende Fehlerquelle; überdies könnten Spurenakten für die Beweiskraft etwaiger Indizienbeweise Bedeutung erlangen.211 Außerdem bleibe im Falle der Ausklammerung von Spurenakten aus dem Aktenbegriff unklar, nach welchen Kriterien der Aktenbegriff bestimmt werden müsse, solange noch kein Tatverdächtiger ermittelt worden sei.212 Weiter wird für einen jeweils umfassenden Aktenbegriff in den §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO angeführt, dass der Zweck letzterer Norm darin liege, eine ausreichende Grundlage für die Entscheidung über die Verfahrenseröffnung zu schaffen und der Zweck ersterer Norm darin zu sehen sei, dem Beschuldigten eine ausreichende Gelegenheit zur Ausübung seines Gehörsanspruches gerichtet auf das gesamte Ermittlungsmaterial zu bieten.213 Dem materiellen (und normativ-funktionalen/funktionellen) Aktenbegriff steht der formelle Aktenbegriff gegenüber. Letzterer kommt insbesondere bei der Einordnung etwaiger Spurenakten zu einem anderen Ergebnis. Hiernach sind lediglich die Vorgänge Aktenbestandteil, die die Staatsanwaltschaft dem Gericht tatsächlich vorlegt; im Übrigen handelt es sich um verfahrensfremde Akten.214 Dabei wird zum Teil hervorgehoben, dass der Aktenbegriff in der StPO zwar nicht durchgehend begriffsidentisch sei, jedoch zumindest hinsichtlich § 147 StPO und § 199 Abs. 2 S. 2 StPO derselbe (formelle) Aktenbegriff gelten müsse.215 Dies ergebe sich aus dem Verweis in § 147 StPO auf § 199 Abs. 2 S. 2 StPO.216 Der Aktenbegriff umfasst hiernach dasjenige Informationsmaterial, das die angeklagte Tat und den Beschuldigten betrifft, sodass der Aktenbegriff durch die Tat und den Beschuldigten begrenzt wird.217 Dies habe – auch und insbesondere vor dem Hintergrund der Objektivitätspflicht der Staatsanwaltschaft und ihrer Stellung als „juristischer Filter“218 – zur Konsequenz, dass Spurenvorgänge nur dann Aktenbestandteile würden, wenn die Staatsanwaltschaft diese als für das jeweilige Strafverfahren relevant einstufe219 und zur Akte nehme.220 Somit sei nicht jeder Informationsträger, der im Zuge einer Ermittlung von der Staatsanwalt209

SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4, § 199, Rn. 4. SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4, § 199, Rn. 5. 211 SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4, § 199, Rn. 5 m. w. N.; LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 5/2, § 199, Rn. 22; ähnlich LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 47. 212 LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 5/2, § 199, Rn. 22. 213 LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 26; vgl. auch SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4, § 199, Rn. 5. 214 KK-StPO/Willnow, § 147, Rn. 7. 215 Siehe MüKo-StPO/Wenske, Bd. 2, § 199, Rn. 27. 216 MüKo-StPO/Wenske, Bd. 2, § 199, Rn. 27. 217 KK-StPO/Willnow, § 147, Rn. 7; MüKo-StPO/Wenske, Bd. 2, § 199, Rn. 29. 218 Meyer-Goßner NStZ 1982, 353, 356. 219 Meyer-Goßner NStZ 1982, 353, 354. 220 Meyer-Goßner NStZ 1982, 353, 356. 210

I. Wissenschaftlicher Diskurs

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schaft erlangt werde, Aktenbestandteil,221 obwohl – ebenso wie von Befürwortern des materiellen Aktenbegriffs angeführt – hiernach der Grundsatz der Aktenvollständigkeit gelte222 und der Beschuldigte einen Anspruch auf ein faires Verfahren habe.223 Nach den Vertretern des formellen Aktenbegriffs müssen größere Datenmengen, die etwa i. R. e. Telekommunikationsüberwachung angefallen sind, dem Gericht aus Gründen der Verfahrensübersichtlichkeit nur insoweit vorgelegt werden, wie sie die Staatsanwaltschaft für verfahrensrelevant hält.224 Im Übrigen seien nur diejenigen Vorgänge dem Gericht vorzulegen, die den Prozessgegenstand und den Beschuldigten beträfen;225 teilweise wird hinsichtlich der Spurenakten auch danach differenziert, ob sie für die Schuldfrage/Strafzumessung relevant sind.226 Im Übrigen deckt sich der formelle weitgehend mit dem materiellen Aktenbegriff.227 Weitere Verästelungen dieser Strömung gehen jedenfalls i. R. v. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO davon aus, dass dem Gericht aus Sicht der Staatsanwaltschaft bedeutungslose Vorgänge nicht vorgelegt werden müssten.228 Schließlich gehöre es auch zur Aufgabe der Staatsanwaltschaft, belanglose Vorgänge aus dem Ermittlungsmaterial auszusortieren, sodass das Gericht lediglich das verfahrensrelevante Material erhalte.229 Zum Teil wird gefordert, die Einordnung eines Vorganges als belangvoll aufgrund des Gehörsanspruches aus objektiver Sicht vorzunehmen.230 Dies wird zum Teil auch hinsichtlich etwaiger Beiakten vertreten.231 Zum Teil wird trotz der Zugrundelegung des formellen Aktenbegriffs davon ausgegangen, dass Vorgänge, die Verfahrensrelevanz haben könnten, dem Gericht im Übrigen (zweifelshalber) vorzulegen seien.232 Das Gericht kann sich nicht vorgelegte Spurenakten jedoch jederzeit nachreichen lassen,233 darauf wird zum Teil auch für die von der Staatsanwaltschaft ausgesonderten Vorgänge im Allgemeinen hingewiesen.234 Nach einigen Stimmen innerhalb dieser Strömung stellt dies auch deshalb 221

Meyer-Goßner NStZ 1982, 353, 354 f. Meyer-Goßner NStZ 1982, 353, 355. 223 Meyer-Goßner NStZ 1982, 353, 359. 224 MüKo-StPO/Wenske, Bd. 2, § 199, Rn. 29. 225 Siehe SSW-StPO/Rosenau, § 199, Rn. 8; MüKo-StPO/Wenske, Bd. 2, § 199, Rn. 34. 226 Graf-StPO/Wessing, § 147, Rn. 17; KK-StPO/Willnow, § 147, Rn. 7; BeckOKStPO/Wessing, § 147, Rn. 17; ähnlich Meyer-Goßner/Schmitt-StPO/Schmitt, § 147, Rn. 18. 227 Siehe KK-StPO/Willnow, § 147, Rn. 4 ff., 8 f.; KK-StPO/Schneider, § 199, Rn. 8 ff.; vgl. auch Graf-StPO/Wessing, § 147, Rn. 17; MüKo-StPO/Wenske, Bd. 2, § 199, Rn. 27 ff.; BeckOK-StPO/Wessing, § 147, Rn. 17 ff. 228 SSW-StPO/Rosenau, § 199, Rn. 8; Meyer-Goßner/Schmitt-StPO/Schmitt, § 199, Rn. 2; Warg NJW 2015, 3195, 3198; Schnarr ZRP 1996, 128, 130; Beulke, FS Dünnebier, S. 297. 229 Graf-StPO/Ritscher, § 199, Rn. 7; BeckOK-StPO/Ritscher, § 199, Rn. 7. 230 BeckOK-StPO/Ritscher, § 199, Rn. 7. 231 So offenbar BeckOK-StPO/Ritscher, § 199, Rn. 7. 232 KK-StPO/Schneider, § 199, Rn. 10, 15. 233 KK-StPO/Willnow, § 147, Rn. 7. 234 MüKo-StPO/Wenske, Bd. 2, § 199, Rn. 29; ähnlich BeckOK-StPO/Wessing, § 147, Rn. 17. 222

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A. Meinungsstand

keine unzulässige Beschränkung der Verteidigung dar, weil diese die nicht vorgelegten Vorgänge bei der Staatsanwaltschaft gesondert einsehen könne.235 Zum Teil wird angeführt, dass die Verteidigung zwar kein Recht zur Gegenkontrolle des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverlaufes habe,236 der Verteidigung, wenn sie die einzusehenden Spurenvorgänge eingrenze und das Einsichtsbegehren begründen könne, jedoch Einsicht in die Spurenvorgänge zu gewähren sei.237 Die Kognitionspflicht des Gerichts müsse hingegen überschaubar bzw. praktikabel bleiben.238 Die Vertreter des formellen Aktenbegriffs gehen teilweise ebenso wie die Vertreter des materiellen Aktenbegriffs von dem Grundsatz der Aktenvollständigkeit/-wahrheit239 und dem Gebot, die Informationsrechte waffengleich auszugestalten,240 aus. Zum Teil wird auch ein formeller Aktenbegriff zugrunde gelegt, obwohl davon ausgegangen wird, dass der Entscheidungsmaßstab in § 170 StPO einerseits und § 203 StPO andererseits weitgehend gleichlaufe.241 Zum Teil wird der formelle Aktenbegriff zugrunde gelegt und gleichzeitig bei Vorgängen betreffend OWi-Verfahren als Aktenbestandteil nicht nur das jeweilige Messprotokoll, sondern offenbar generell – also unabhängig von einer durch die Behörde angenommenen Verfahrensrelevanz – auch der Eichschein, Schulungsnachweise des Messbeamten, Bedienungsanleitung des Messgerätes und die diesbezügliche Lebensakte, sofern eine solche geführt wird, angesehen.242 Mit Blick auf das Fairnessgebot bzw. den Waffengleichheitsgrundsatz seien hierbei auch etwaige Rohmessdaten Aktenbestandteil.243 Schäfer unterscheidet mehr oder minder vermittelnd zwischen „geborenen“ und „gekorenen“ Aktenbestandteilen. Erstere würden Protokolle, Äußerungen des Beschuldigten, Zeugen oder Sachverständigen, Urkunden über gestellte Anträge oder ergangene Entscheidungen darstellen.244 Solche Informationsträger seien stets Aktenbestandteil.245 Sonstige Vorgänge seien erst dann Aktenbestandteile, wenn die Staatsanwaltschaft sie bewusst zur Akte genommen habe; die Staatsanwaltschaft „mache“ oder „erstelle“ mithin die Akte.246 Ausgenommen seien vom Aktenbegriff weitgehend etwaige Beiakten.247 Die hiernach als Akten 235

MüKo-StPO/Wenske, Bd. 2, § 199, Rn. 29; ähnlich BeckOK-StPO/Ritscher, § 199,

Rn. 7. 236

Meyer-Goßner NStZ 1982, 353, 357. Meyer-Goßner NStZ 1982, 353, 357 f. 238 Meyer-Goßner NStZ 1982, 353, 361. 239 Siehe Graf-StPO/Wessing, § 147, Rn. 17, 21; KK-StPO/Schneider, § 199, Rn. 10; BeckOK-StPO/Wessing, § 147, Rn. 17, 21. 240 BeckOK-StPO/Wessing, § 147, Rn. 22. 241 So offenbar MüKo-StPO/Wenske, Bd. 2, § 199, Rn. 27. 242 Siehe BeckOK-StPO/Wessing, § 147, Rn. 18. 243 Siehe BeckOK-StPO/Wessing, § 147, Rn. 18. 244 Schäfer NStZ 1984, 203, 205. 245 Schäfer NStZ 1984, 203, 205. 246 Schäfer NStZ 1984, 203, 205. 247 Schäfer NStZ 1984, 203, 206. 237

I. Wissenschaftlicher Diskurs

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einzuordnenden Informationsträger könnten von der Staatsanwaltschaft nicht ausgesondert werden; anders sei dies bei Beweisstücken, die die Staatsanwaltschaft bei angenommener Verfahrensirrelevanz aussortieren dürfe.248 Weitgehend Einigkeit innerhalb der dargestellten Meinungslager besteht darüber, dass Handakten lediglich innerdienstliche Vorgänge beinhalten können und keine Aktenbestandteile sind; dies wird zum Teil allerdings anders gesehen, wenn innerdienstliche Vorgänge zur Akte genommen wurden.249 Die Frage, was als „innerdienstlich“ gilt, wird wiederum nicht einheitlich beurteilt. Teilweise werden hierunter Duplikate von etwaigen Urkunden/Verfügungen, Berichte oder der Schriftverkehr mit anderen Behörden, soweit sie nicht verfahrensrelevant sein können, gefasst.250 Bisweilen wird eine äußerst restriktive Einordnung bestimmter Vorgänge als innerdienstlich gefordert, da die Abgrenzung zwischen „innerdienstlich“ und „schuldspruch-/rechtsfolgenrelevant“ schwierig zu ziehen sei und in manchen Fällen die Einordnung als „innerdienstlich“ auch nicht eindeutig vorgenommen werden könne.251 Teilweise wird davon ausgegangen, dass Handaktenbestandteile lediglich eine Abschrift der Anklageschrift und Notizen der Staatsanwaltschaft bzgl. des Hauptverhandlungsverlaufs oder des Plädoyers sein könnten, um zu verhindern, dass Staatsanwaltschaften in den Handakten verfahrensrelevante Unterlagen unterbrächten; in den Handakten dürften letztlich nur solche Informationsträger enthalten sein, die inhaltlich schon in den Hauptakten enthalten seien bzw. die sich inhaltlich auf etwas bezögen, das die Verfahrensbeteiligten selbst miterlebt hätten.252 Als rein innerdienstliche Vorgänge und damit nicht als Aktenbestandteile gelten überwiegend auch gerichtsinterne Aufzeichnungen jeglicher Art,253 wie insbesondere sog. Kammerhefte oder Senatshefte,254 Für Senatshefte, also Arbeitsunterlagen der Revisionssenate, oder sonstige gerichtsinterne Arbeitsnotizen/Mitschriften wird die Ausklammerung von dem Einsichtsrecht auch mit dem Beratungsgeheimnis begründet.255 Zur Erklärung, weshalb das Einsichtsbegehren der Verteidigung in Handakten zu verwehren sei, wird auch das „Binnenrecht der RiStBV“ angeführt; dem Gericht soll es jedoch möglich sein, die Handakten anzufordern.256

248

Schäfer NStZ 1984, 203, 207. MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 17; siehe für gerichtliche Notizen auch SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 33. 250 Schneider Jura 1995, 337, 339 f.; ähnlich Lehmann GA 164 (2017), 36, 37; MarberthKubicki StraFo 2003, 366, 368. 251 Eisenberg NJW 1991, 1257, 1259. 252 Burkhard DStR 2002, 1794, 1795. 253 Schneider Jura 1995, 337, 339; Rottländer NStZ 2014, 138, 138 f.; Fetzer StV 1991, 142, 143; Stuckenberg StV 2010, 231, 232 m. w. N. 254 Siehe LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 34; SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 33 f. m. w. N.; SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 14; SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 28, 32. 255 Siehe Lehmann GA 164 (2017), 36, 36; Fetzer StV 1991, 142, 143. 256 Lehmann GA 164 (2017), 36, 37 ff. 249

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A. Meinungsstand

Weiter ist im Schrifttum umstritten, wie sich Beweisstücke und Akten i. S. d. § 147 Abs. 1 StPO unterscheiden. Speziell mit den Beweisstücken i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO hat sich etwa Riess beschäftigt. Er skizziert die Entstehungsgeschichte von § 147 StPO und leitet hieraus zunächst ab, dass der Zweck des in § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. vorgesehenen Mitgabeverbotes der Substanzschutz der Beweismittel sei.257 An diesem Zweck ausgerichtet, seien Gegenstände, die aufgrund ihrer Beschaffenheit verfahrensrelevant seien, Beweisstücke; Informationsträger, die lediglich Informationen verkörperten, seien keine Beweisstücke, sondern „normale“ Aktenbestandteile.258 Klassisches Beweisstück sei etwa das Tatwerkzeug.259 Sofern es möglich erscheine, dass die Echtheit oder Unversehrtheit eines reinen Informationsträgers bedeutend werde, seien diese Informationsträger ebenfalls Beweisstücke.260 Beweisstücke können demnach Aktenbestandteile sein, müssen es jedoch nicht.261 Eine Ausnahme macht Riess bei Informationsträgern, die ganz vordergründig aufgrund ihres Informationsgehaltes verfahrensrelevant sind, deren Substanz jedoch ebenfalls zu schützen ist; er nennt sie „Urkunden mit subsidiärem Beweisstückcharakter“.262 Das Akteneinsichtsrecht wandele sich hierbei in einen Anspruch, von solchen Beweisstücken eine amtlich gefertigte Kopie zu erhalten.263 Vergleichbar werden von anderer Seite unter den Begriff des Beweisstücks nicht reproduzierbare Gegenstände gefasst, wozu sämtliche Augenscheinsobjekte gehören. In besonderen Fällen soll ein Anspruch auf Erstellung von Kopien bzw. Übersendung ebendieser Kopien bestehen.264 Jedenfalls von wesentlichen Beweisurkunden müsse dem Verteidiger die Möglichkeit einer Ablichtungsanfertigung zugestanden werden.265 Zum Teil wird gar davon ausgegangen, dass die Beweisstücke selbst an den Verteidiger übersendet werden können; es müsste nur für eine weitgehend sichere Übermittlung gesorgt werden.266 Vereinzelt wird eine Herausgabe von Beweisstücken, bei denen es sich auch um Flüssigkeitsproben handeln könne, auch dann befürwortet, wenn genügend restliches Beweismaterial vorhanden sei und der Informationsgehalt des Beweismaterials durch eine teilweise Herausgabe unverändert bleibe.267 Von anderer Seite wird angenommen, dass Beweisstücke in keinem Fall aus der amtlichen Obhut entlassen werden dürften.268 Zum Teil wird eine dingliche Zuordnung als Maßstab zugrunde gelegt: 257

Riess, FG Peters II, S. 115 ff. Riess, FG Peters II, S. 122. 259 Riess, FG Peters II, S. 125. 260 Riess, FG Peters II, S. 122. 261 Riess, FG Peters II, S. 120. 262 Riess, FG Peters II, S. 126. 263 Riess, FG Peters II, S. 127. 264 Schneider Jura 1995, 337, 341 f. 265 Schäfer NStZ 1985, 198, 199. 266 Eisenberg NJW 1991, 1257, 1260. 267 Schlag, FG Koch, S. 236. 268 Burkhard wistra 1996, 171, 172. 258

I. Wissenschaftlicher Diskurs

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der Unterschied zwischen Akten und Beweisstücken i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO sei darin zu sehen, dass Erstere der Justiz gehören und Letztere Dritten.269 Teilweise werden Beweisstücke ohne weitere Begründung generell als Aktenbestandteile eingeordnet.270 Hinsichtlich digitaler Informationsträger, insbesondere Ton-/Videoaufzeichnungen, hat sich unabhängig von dem zugrunde gelegten Aktenbegriff271 eine weitere Kontroverse herausgebildet. Teilweise wird vertreten, dass etwaige Aufzeichnungen272 (zumindest deren Kopie)273 ebenso Aktenbestandteile sind, wie etwaige Verschriftlichungen hiervon;274 auch insoweit werden der Gehörsanspruch und die Verfahrensfairness bzw. eine zu fordernde Wissensparität angeführt.275 Bisweilen wird auch zwischen Aufzeichnungen nach § 58a StPO und etwaigen Tonaufzeichnungen differenziert; erstere sind im Original Aktenbestandteile, letztere sind Beweisstücke.276 Für Videoaufzeichnungen von Zeugenvernehmungen und weiteren audiovisuellen Aufzeichnungen wird mitunter angenommen, dass deren Kopien keine Beweisstücke, sondern Aktenbestandteile seien.277 Auch wird sich dafür ausgesprochen, dass es erforderlich sein könne, die Beweisstücke entgegen eines grundsätzlich angenommenen Mitgabeverbotes zu übersenden;278 jedenfalls sei der Staatsanwaltschaft dies gestattet.279 Computerausdrucke oder Computerdateien sollen Aktenbestandteil sein, soweit sie auf dem Boden des formellen Aktenbegriffs als verfahrensrelevant eingestuft worden sind;280 auch Befürworter des materiellen Aktenbegriffs sehen Dateien als Aktenbestandteile an.281 Von Anhängern des funktionellen Aktenbegriffs werden Ton- und Bildaufzeichnungen als Aktenbestandteile eingeordnet, soweit der Anklagevorwurf auch auf sie gestützt wird,282 obwohl im Übrigen von einem umfassenden Akten269

Schäfer NStZ 1984, 203, 204. Lesch StraFo 2021, 496, 499 f. 271 Vgl. exemplarisch die gegensätzlichen Ausführungen von Willnow und Schneider, obwohl beidseits ein formeller Aktenbegriff zugrunde gelegt: KK-StPO/Willnow, § 147, Rn. 4, 10; KK-StPO/Schneider, § 199, Rn. 8, 15. 272 Siehe Fetzer StV 1991, 142, 142; Marberth-Kubicki StraFo 2003, 366, 368 f.; Burkhard DStR 2002, 1794, 1794 f. 273 Meyer-Goßner/Schmitt-StPO/Schmitt, § 147, Rn. 19c; BeckOK-StPO/Wessing, § 147, Rn. 26. 274 LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 5/2, § 199, Rn. 11; MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 11, 18, 23; dem folgend MüKo-StPO/Wenske, Bd. 2, § 199, Rn. 29; SSWStPO/Beulke, § 147, Rn. 16; Graf-StPO/Wessing, § 147, Rn. 17; ähnlich Meyer-Goßner/ Schmitt-StPO/Schmitt, § 147, Rn. 14, 15. 275 Fetzer StV 1991, 142, 142. 276 Siehe SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 73, 86. 277 Siehe LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 89. 278 LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 129. 279 LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 5/2, § 199, Rn. 13. 280 Siehe BeckOK-StPO/Wessing, § 147, Rn. 17. 281 SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 25, 74 m. w. N. 282 LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 29. 270

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A. Meinungsstand

begriff ausgegangen wird.283 Zum Teil werden Kopien von Beweisstücken generell als Aktenbestandteile angesehen.284 Eine Einordnung als Aktenbestandteil sei jedenfalls dann vorzunehmen, wenn es bei dem Informationsträger beweisrechtlich nicht auf die Beschaffenheit, sondern auf den Inhalt ankomme.285 Dabei wird mitunter der Schutzzweck des Mitgabeverbotes angeführt, der regelmäßig in dem Substandschutz der Beweisstücke gesehen wird,286 oder auf den Grundsatz der Aktenwahrheit/-vollständigkeit verwiesen.287 In diesem Zusammenhang wird auch das Fairnessgebot als Begründung herangezogen.288 Dem ganzen gegenüber wird davon ausgegangen, dass Beweisstücke nur bei Bedarf durch Kopien zu ersetzen sind; dies gelte u. U. auch für Videoaufzeichnungen oder Lichtbilder.289 Zum Teil werden auch Beiakten als Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO qualifiziert.290 In der jüngeren Literatur wird die Frage des Aktenbegriffs und des Einsichtsrechtes insbesondere hinsichtlich TKÜ-Aufzeichnungen diskutiert und sich mit der sogleich noch darzustellenden diesbezüglichen Rechtsprechung kritisch auseinandergesetzt. Es geht hierbei um die Informationsträger, auf denen die i. R. e. Telekommunikationsüberwachung gem. § 100a Abs. 1 S. 1 StPO erlangten Daten, insbesondere die Telefongespräche, gespeichert sind. Da Aktenbestandteile eingesehen werden können und diese Einsichtnahme in den eigenen Räumlichkeiten des Verteidigers möglich ist (vgl. §§ 147 Abs. 1, 32f Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 3 StPO), wohingegen Beweisstücke gem. § 147 Abs. 1 StPO lediglich besichtigt werden können, und die Anzahl an Maßnahmen nach § 100a Abs. 1 S. 1 StPO offenbar stetig steigt,291 hat dieser Streit immense praktische Bedeutung erlangt. Die Annahme, dass der Verteidiger die Aufzeichnungen zur Einsicht übersendet bekommen muss, ist ganz herrschende Meinung. Lediglich die Begründungen variieren. Zum Teil wird angenommen, dass TKÜ-Aufzeichnungen keine Beweisstücke, sondern Aktenbestandteile sind; solche Träger sind in Anlehnung an Riess aufgrund ihres Informationsgehaltes und nicht aufgrund ihrer Beschaffenheit verfahrensrelevant, zumal die Aufzeichnungen kopierfähig sind.292 Auf schriftliche Zusammenfassungen der TKÜ-Aufzeichnungen durch die Strafverfolgungsbehörden könne man sich jedenfalls nicht verlassen, da diese verzerrend, 283

Siehe LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 27 f., 45 ff. Graf-StPO/Wessing, § 147, Rn. 26; KK-StPO/Schneider, § 199, Rn. 8; BeckOKStPO/Wessing, § 147, Rn. 17. 285 SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 25; MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 23a; ähnlich LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 118. 286 SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 26; Graf-StPO/Wessing, § 147, Rn. 26; BeckOKStPO/Wessing, § 147, Rn. 26; siehe auch SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 86. 287 Meyer-Goßner/Schmitt-StPO/Schmitt, § 147, Rn. 14. 288 Siehe LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 89 f., 121 f. 289 KK-StPO/Willnow, § 147, Rn. 10. 290 Siehe diff. LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 66. 291 Vgl. hierzu etwa Schlothauer StV 2016, 607, 612; Meyer-Mews, TKÜ, S. 7, 46 ff. m. w. N. 292 Gercke StraFo 2014, 94, 98; Knauer/Pretsch NStZ 2016, 307, 308. 284

I. Wissenschaftlicher Diskurs

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unvollständig oder falsch sein könnten; zudem sei entlastendes Material aus der TKÜ für die Strafverfolgungsbehörden nicht immer erkennbar.293 Ferner sei eine Parität des Wissens herzustellen.294 Am Zweck des Mitgabeverbotes von § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. ausgerichtet, der lediglich in dem Substanzschutz des Beweismaterials liege, seien nach herrschendem Begründungsansatz die Kopien von TKÜ-Aufzeichnungen keine Beweisstücke, sondern vielmehr als Aktenbestandteile dem Verteidiger zu übersenden.295 TKÜ-Aufzeichnungen würden jedenfalls dann zu Aktenbestandteilen, wenn die Datenträger dem Gericht vorgelegt werden.296 Nach teilweise vertretener Auffassung ist (auch) der Original-Informationsträger der TKÜ-Aufzeichnungen Aktenbestandteil.297 Ferner wird angeführt, dass es aus Verteidigersicht oftmals erforderlich sei, etwaige digitale Aufzeichnungen dem Mandanten zugänglich zu machen und mit diesem anschließend zu erörtern.298 Nach teilweise vertretener Auffassung könnten TKÜ-Aufzeichnungen grundsätzlich nur auf der Geschäftsstelle angehört werden; einer Überlassung diesbezüglicher Kopien könne der Persönlichkeitsrechtsschutz entgegenstehen, was jedoch abgewogen werden müsse.299 Jedenfalls fremdsprachige Telefongespräche seien dem Gericht nur dann vorzulegen, wenn sie von der Staatsanwaltschaft ausgewertet oder zusammengefasst worden seien.300 Vorstehendes wird teilweise angenommen, obwohl auch die Beweisstücke als Aktenbestandteile angesehen werden.301 Der Beschränkung der Einsichtnahme der TKÜ-Aufzeichnungen in den Diensträumen wird entgegengehalten, in einer solchen Beschränkung sei ein inakzeptables Misstrauen gegen den Verteidiger als Rechtspflegeorgan zu erblicken.302 Aufzeichnungskopien zur Verfügung zu stellen, sei auch mit Blick auf den Waffengleichheitsgrundsatz geboten;303 jedenfalls, soweit die Datenmenge nicht 293

Gercke StraFo 2014, 94, 97 f. Siehe Gercke StraFo 2014, 94, 98. 295 Mosbacher JuS 2017, 127, 128; Meyer-Mews StraFo 2016, 133, 138; Basar jurisPRStrafR 14/2016, Anm. 1, S. 3; Beulke/Witzigmann StV 2013, 75, 76 f.; Wettley/Nöding NStZ 2016, 633, 634; Wu HRRS 2018, 108, 111; siehe auch Killinger StV 2016, 149, 150; Gercke StV 2015, 13, 14; Wesemann/Mehmeti StraFo 2015, 104, 105; Graf-StPO/Wessing, § 147, Rn. 26; KK-StPO/Schneider, § 199, Rn. 8; BeckOK-StPO/Wessing, § 147, Rn. 17, 27; so i. E. auch Meyer-Mews NJW 2012, 2743, 2743; Meyer-Mews, TKÜ, S. 50; v. Stetten ZRP 2015, 138, 139; so wohl auch Stuckenberg StV 2010, 231, 231; vgl. im Zshg. mit audiovisuellen Aufzeichnungen kinderpornographischen Inhaltes auch Ziemann StV 2014, 299, 300; Jahn, FS Beulke, S. 815 ff. 296 SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 25. 297 Wölky StraFo 2013, 493, 495 f.; so wohl auch Gercke StV 2015, 13, 14. 298 Schlothauer StV 2016, 607, 612. 299 KK-StPO/Willnow, § 147, Rn. 10. 300 MüKo-StPO/Wenske, Bd. 2, § 199, Rn. 35. 301 So offenbar KK-StPO/Willnow, § 147, Rn. 10. 302 BeckOK-StPO/Wessing, § 147, Rn. 27. 303 Reuker jurisPR-StrafR 1/2017, Anm. 2, S. 3; Petzold/Meyer confront 2017, 15, 20 f.; 294

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A. Meinungsstand

überschaubar sei.304 Jedenfalls, wenn der Kanzleisitz des Verteidigers von der Geschäftsstelle weiter entfernt sei, müssten ihm Beweisstückkopien übersendet werden.305 Nach teilweise vertretener Auffassung soll das Kriterium, ob die Informationsträger problemlos kopiert werden könnten, hierbei ebenfalls eine Rolle spielen.306 Teilweise wird dem Verteidiger zugestanden, amtlich hergestellte Kopien von etwaigen Tonaufzeichnungen mit Blick auf Art. 6 EMRK erhalten zu können, wenn Missbräuchlichkeiten des Verteidigers ausgeschlossen werden könnten (wovon grundsätzlich auszugehen sei)307 und die Übersendung der Aufzeichnungskopien im Einzelfall den Persönlichkeitsrechten der Drittbetroffenen vorgehe.308 Die Pflicht zur Übersendung der TKÜ-Aufzeichnungen ergebe sich auch aus dem Grundsatz der Aktenvollständigkeit.309 Ferner wird die Einordnung jedenfalls der Aufzeichnungskopien als Aktenbestandteile damit begründet, dass Akten generell eine Unterkategorie von Beweismitteln darstellten, die von den Beweisstücken abzugrenzen seien.310 Beweisstück sei lediglich der TKÜ-Server, nicht die Kopie dessen Inhaltes auf einem Datenträger.311 Zum Teil wird ohne weitere Begründung davon ausgegangen, dass digitale Informationsträger wie unter anderem solche, die TKÜ-Aufzeichnungen beinhalten, dem Verteidiger als Kopie überlassen werden müssten.312

Meyer-Mews NJW 2012, 2743, 2743 f.; Knauer/Pretsch NStZ 2016, 307, 308; ähnlich Basar jurisPR-StrafR 14/2016, Anm. 1, S. 3; auf das Fairnessgebot bzw. das Recht auf effektive Verteidigung abstellend: SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 25; Schulz-Merkel jurisPR-StrafR 8/2016, Anm. 5, S. 2. 304 Wu HRRS 2018, 108, 115; Meyer-Mews, TKÜ, S. 51; SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 29; MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 38; SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 86, 93; LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 121 f., 130 f.; so auch Graf-StPO/Wessing, § 147, Rn. 27, der ein Kopieübersendungsrecht bei TKÜ-Aufzeichnungen generell annimmt; ähnlich Meyer-Goßner/Schmitt-StPO/Schmitt, § 147, Rn. 19c. 305 MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 39 m. w. N. 306 SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 29. 307 So zurückhaltend letztlich auch Meyer-Goßner/Schmitt-StPO/Schmitt, § 147, Rn. 7, 19d. 308 SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 29. 309 Wesemann/Mehmeti StraFo 2015, 104, 104. 310 Albrecht jurisPR-ITR 1/2013, Anm. 4, S. 2. 311 Wettley/Nöding NStZ 2016, 633, 634; Wu HRRS 2018, 108, 111. 312 Michalke NJW 2013, 2334, 2335; Zipper StRR 2012, 466, 467.

II. Rechtsprechung

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II. Rechtsprechung Der Ausgangspunkt der Rechtsprechung ist ein formeller Aktenbegriff. Zunächst ist eine Entscheidung des dritten Senats beim BGH anzuführen. Hiernach hat das Gericht kein Aussonderungsrecht hinsichtlich der vorliegenden Akten inne, jedenfalls soweit es sich um Bestandteile der sog. Haftkontrollakte handelt.313 Die Beurteilung, was verteidigungs- und damit verfahrensrelevant sei, obliege der Verteidigung.314 Die hierbei in Rede stehenden Informationsträger lagen dem seinerzeitigen Tatsachengericht jedoch vor.315 In der zeitlich vorausgegangenen Spurenakten-Entscheidung des BGH wurde darüber entschieden, wie die Informationsträger, die nicht vom Gericht, sondern von der Staatsanwaltschaft aufgrund angenommener Irrelevanz für das Strafverfahren ausgesondert wurden, strafprozessual einzuordnen sind. In dem Verfahren verblieben Vorgänge zu weiteren Beschuldigten bzw. Spuren, die im Laufe des Ermittlungsverfahrens angefallen waren, bei der Staatsanwaltschaft und wurden dem Gericht nicht vorgelegt.316 Sie waren aus Sicht der Staatsanwaltschaft nicht weiter verfahrensrelevant bzw. aufschlussreich.317 Der erste Senat ordnete derartige Vorgänge nicht als Akten ein, die gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegen seien. Schließlich könne über die Vernehmung sämtlicher Zeugen durch Gericht oder Staatsanwaltschaft/Verteidigung erfragt werden, ob diese Zeugen im Laufe des Ermittlungsverfahrens (auch) andere Personen beschuldigt hätten, sodass bejahendenfalls diesbezügliche Spurenvorgänge vom Gericht angefordert werden könnten.318 Zu den gem. § 147 Abs. 1 StPO einzusehenden Akten gehörten jedoch die gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO tatsächlich vorgelegten, nach Anklageerhebung entstandenen und vom Gericht beigezogenen bzw. von der Staatsanwaltschaft nachgereichten Informationsträger.319 Der erste Senat prägte mit dieser Entscheidung den in der Rechtsprechung seither vertretenen (formellen) Aktenbegriff, nach dem zu den vorzulegenden Akten alle Informationsträger zählten, die sich seit dem ersten Zugriff i. S. v. § 163 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 StPO bei der Staatsanwaltschaft angesammelt hätten und den in Rede stehenden Geschehensablauf i. S. d. prozessualen Tatbegriffs und den jeweiligen Beschuldigten beträfen.320 Die Beurteilung, welche der angesammelten Informationsträger sich auf den durch die öffentliche Klage konkretisierten Geschehensablauf und den Beschuldigten bezögen, obliege der Staatsanwaltschaft,

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BGHSt 37, 204, 206. BGHSt 37, 204, 206. 315 Siehe BGHSt 37, 204, 206. 316 BGHSt 30, 131, 132 f. 317 Siehe BGHSt 30, 131, 132. 318 BGHSt 30, 131, 136 f. 319 BGHSt 30, 131, 138; siehe zur weiter gehenden Einordnung von Spurenakten unmittelbar vor der vorbenannten Spurenakten-Entscheidung: OLG Koblenz NJW 1981, 1570. 320 BGHSt 30, 131, 138 f. 314

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A. Meinungsstand

die sich hierbei an § 160 Abs. 2 StPO zu orientieren habe.321 Alle übrigen Vorgänge seien als Beiakten einzuordnen, die nur dann vorzulegen seien, wenn hieraus schuld- oder rechtsfolgenrelevante Umstände ableitbar sein könnten.322 Dass Spurenakten sich inhaltlich auf den in Rede stehenden Geschehensablauf bezögen, rechtfertige nicht, dass diese uneingeschränkt dem Gericht vorzulegen seien, denn die Verfahrensrelevanz sei von der Staatsanwaltschaft zu beurteilen.323 Ferner führt der Senat an, dass die Einsicht der Verteidigung nur dann die entgegenstehenden öffentlichen und privaten Interessen überwöge, wenn eine mögliche Verfahrensrelevanz der Informationsträger bestehe; zudem müsse die Aufklärungspflicht des Gerichts überschaubar und erfüllbar sein.324 Insbesondere bestehe kein Recht der Verteidigung auf Kontrolle der Staatsanwaltschaft bzw. ihrer Beurteilung hinsichtlich der Verfahrensrelevanz.325 Das Bundesverfassungsgericht hat in der nachfolgenden Spurenakten-Entscheidung die Rechtsauffassung dieses Senats für verfassungsgemäß befunden; der Verteidigung sei zur Überprüfung, ob die nicht vorgelegten Spurenakten unbeachtlich seien oder nicht, jedoch grundsätzlich ein selbstständiges Einsichtsrecht zuzusprechen.326 Zeitlich nach der vorgenannten Spurenakten-Entscheidung hob der fünfte Senat beim BGH ein Urteil auf, weil anhand der Urteilsgründe zu besorgen sei, dass das Schwurgericht verkannt habe, dass es nicht dem Angeklagten obliege, seine Unschuld zu beweisen. Jedenfalls seien dem Verteidiger vor Hauptverhandlungsbeginn die gesamten Spurenakten zur Einsicht vorzulegen.327 In einer späteren Entscheidung bemängelte der fünfte Senat: „Darüber hinaus wurde bei den Ermittlungen mehrfach gegen die Grundsätze der Aktenwahrheit und -vollständigkeit verstoßen. Der Einsatz ,M.s‘ blieb über mehrere Monate in den Akten völlig unerwähnt. Sein Erstkontakt mit dem Angekl. A. wurde zunächst lediglich in einem polizeiinternen Treffbericht festgehalten und erst nach Anklageerhebung aktenkundig. Dies gilt auch für den Umstand, dass für die Dauer eines Monats in Richtung des ,Cafes A.‘ eine Überwachungskamera installiert war. Deren Aufzeichnungen wurden ausgewertet, ohne dass hierüber ein Bericht angefertigt wurde. Zudem wurde das Videomaterial gelöscht, da es ,aus Sicht der Ermittler nicht ergiebig war‘. Ein solches Vorgehen ist in einem rechtsstaatlichen Verfahren nicht hinnehmbar. Es steht nicht im Belieben der Ermittlungsbehörden, ob sie strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen in den Akten vermerken und zu welchem Zeitpunkt sie dies tun. Das Tatgericht muss den Gang des Verfahrens ohne Abstriche nachvollziehen können. Dies ist kein Selbstzweck, sondern soll die ordnungsgemäße Vorbereitung der Hauptverhandlung durch das Gericht und die übrigen Verfahrensbeteiligten gewährleisten.“328

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BGHSt 30, 131, 138 f. BGHSt 30, 131, 139. 323 BGHSt 30, 131, 139. 324 BGHSt 30, 131, 140. 325 BGHSt 30, 131, 140. 326 BVerfGE 63, 45, 59 ff., 66. 327 Zum Vorstehenden BGH StV 1983, 186. 328 BGH NStZ 2014, 277, 281. 322

II. Rechtsprechung

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Der dritte Senat beim BGH sieht als von der Verteidigung einzusehende Akten lediglich diejenigen Vorgänge an, die nach Maßgabe der soeben dargestellten Spurenakten-Entscheidungen dem Gericht vorzulegen sind bzw. vorliegen.329 Ähnlich äußerte sich der vierte Senat beim BGH.330 Nach Ansicht des LG Hannover sind die gesamten Spurenvorgänge dem Gericht vorzulegen, wenn Zweifel aufkommen, dass die vorgelegten Akten alle potentiell verfahrensrelevanten Aktenteile beinhalten und sich der Umfang der Spurenakten in Grenzen hält.331 Das Einsichtsrecht der Verteidigung ergebe sich in solchen Fällen aus dem Waffengleichheitsgebot.332 Ähnliches vertrat das OLG Frankfurt, nach dem sich das Akteneinsichtsrecht lediglich auf diejenigen Informationsträger beziehe, die die Staatsanwaltschaft dem Gericht tatsächlich vorgelegt habe; wolle die Verteidigung weitere Vorgänge einsehen, müsse sie Anhaltspunkte benennen, aus denen sich eine etwaige Verfahrensrelevanz ergebe.333 Der Kartellsenat beim BGH ordnete im Jahr 2007 auch solche Vorgänge als gem. § 147 Abs. 1 StPO einzusehende Akten ein, die sich nicht direkt auf den Bußgeldbetroffenen bezögen, wobei es hierbei ebenfalls „nur“ um die Akten ginge, die dem Gericht tatsächlich vorlägen.334 Es wird wiederum angeführt, dass die Frage der Verfahrensrelevanz etwaiger Vorgänge für die Verteidigung allein ihr obliege.335 Im Zusammenhang mit Verfahren betreffend einen Untersuchungsausschuss wird im Vergleich zur strafrechtlichen Rechtsprechung ein weitergehender Aktenbegriff vertreten: „Der Aktenbegriff nach dieser Bestimmung ist umfassend zu verstehen […]. Es gilt ein materieller Aktenbegriff. Danach sind Akten alle willentlich zusammengeführten Unterlagen und elektronischen Dokumente, die eine bestimmte Angelegenheit betreffen und sich im Verfügungsbereich der Landesregierung befinden, unabhängig von der Art und dem Ort der Aufbewahrung und der Speicherung […].“336

Hierneben sind mehrere höchstrichterliche Entscheidungen zum Aktenbegriff im Kontext von TKÜ-Aufzeichnungen ergangen. Nach Auffassung des zweiten Senats beim BGH ist der Verteidigung die Gelegenheit zur Kenntnisnahme etwaiger Ermittlungsergebnisse zu geben, sofern diese außerhalb der Hauptverhandlung verfahrensbezogen ermittelt worden seien; dies ergebe sich aus § 147 StPO i. V. m. dem Fairnessgebot337 und gelte unabhängig davon, ob das Gericht oder die Staatsanwaltschaft in dem Ermitt329

BGH, Urt. v. 11.02.1987 – StB 1/87, Rn. 2, juris. BGH StV 1988, 193, 194. 331 LG Hannover StV 2015, 683, 684 f. 332 LG Hannover StV 2015, 683, 685. 333 Siehe etwa OLG Frankfurt NStZ 2003, 566, 566. 334 Siehe BGHSt 52, 58, 63 f. 335 BGHSt 52, 58, 64. 336 StGH Niedersachsen, Urt. v. 24.10.2014 – 7/13, Rn. 63, juris. 337 BGHSt 36, 305, 308. 330

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A. Meinungsstand

lungsmaterial be- oder entlastende Umstände sehe,338 da diese Beurteilung die Verteidigung selbst vornehmen müsse.339 Hierbei ordnet der Senat nicht nur etwaige Verschriftlichungen, sondern auch die TKÜ-Aufzeichnungen selbst als Aktenbestandteil ein.340 Der Rückgriff auf das Fairnessgebot basierte darauf, dass der Senat hieraus die Pflicht des Gerichts ableitete, die Verteidigung über die Existenz von solchem Informationsmaterial zu unterrichten, damit diese im Wege der Akteneinsicht die Gelegenheit der Kenntnisnahme erhält.341 In diesem Fall lagen dem Gericht die TKÜ-Aufzeichnungen jedoch vor.342 Ergänzend343 führt der dritte Senat beim BGH aus, dass zu den gem. § 147 Abs. 1 StPO einzusehen Akten diejenigen zählten, die gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorgelegt worden seien bzw. vorzulegen wären. Hierbei handele es sich auf der Grundlage des formellen Aktenbegriffs nur um diejenigen Informationsträger, die die Staatsanwaltschaft von den Vorgängen seit dem ersten Zugriff i. S. v. § 163 StPO nach objektiven Kriterien als verfahrensrelevant eingestuft habe und die durch die Tat und den Beschuldigten konkretisiert worden seien.344 Zu den vorzulegenden Akten zähle jedenfalls jegliches Informationsmaterial, das im Zuge der Ermittlungen gegen den in Rede stehenden Beschuldigten angefallen sei; hierbei angefallenes etwaiges Bild-/Tonaufnahmematerial sowie diesbezügliche Verschriftlichungen zählten ebenfalls hierzu.345 Ausgenommen seien lediglich rein innerdienstliche Vorgänge, wozu polizeiliche Arbeitsvermerke und Hilfs-/Arbeitsmittel fallen könnten.346 Weitere solche rein innerdienstlichen Vorgänge würden die staatsanwaltschaftlichen Handakten, Notizen von Gerichtsmitgliedern während der Hauptverhandlung oder sog. Senatshefte darstellen.347 In dem Verfahren war dem Tatsachengericht bekannt gewesen, dass Polizeiund Zollbeamte rund 82.500 Telefongespräche abgehört und aufgezeichnet hatten, wovon die Staatsanwaltschaft ca. 600 Aufzeichnungen für verfahrensrelevant hielt und diese deshalb mit (übersetzten) Verschriftlichungen bzw. Gesprächsprotokollen dem Gericht vorlegte. Von den restlichen ca. 81.900 Aufzeichnungen wurden inhaltliche Zusammenfassungen und Kurzübersetzungen

338

BGHSt 36, 305, 309, 312. BGHSt 36, 305, 312. 340 Siehe BGHSt 36, 305, 310. 341 BGHSt 36, 305, 310 ff. 342 BGHSt 36, 305, 307. 343 Der Senat hob das Urteil bereits auf eine Rüge nach § 338 Nr. 1 StPO auf: BGH StV 2010, 228, 229 m. Anm. Stuckenberg. 344 Zum Vorstehenden BGH StV 2010, 228, 229 m. Anm. Stuckenberg. 345 BGH StV 2010, 228, 229 m. Anm. Stuckenberg. 346 BGH StV 2010, 228, 229 m. Anm. Stuckenberg. 347 BGH StV 2010, 228, 229 m. Anm. Stuckenberg; siehe zur Ausklammerung der Senatshefte aus dem Aktenbegriff auch BGH, Beschl. v. 19.02.2014 – 2 ARs 207/13, Rn. 4, juris; BGH StraFo 2017, 192; siehe im Zshg. mit Arbeitsnotizen von Richtern auch OLG Hamm NStZ 2005, 226; siehe auch BGHSt 29, 394, 395, wonach das Hauptverhandlungsprotokoll erst bei Fertigstellung Bestandteil der Akte sei. 339

II. Rechtsprechung

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der ausländischen Gespräche gefertigt.348 Die Zusammenfassungen/Kurzübersetzungen befanden sich auf einem Computer des Landeskriminalamtes und wurden weder der Staatsanwaltschaft noch dem Gericht vorgelegt.349 Im Laufe der Hauptverhandlung hat das Gericht die gesamten rund 82.500 Aufzeichnungen beigezogen und diese der Verteidigung auf Datenträgern zur Verfügung gestellt.350 Der Senat ordnete die beim Landeskriminalamt gespeicherten und nicht vorgelegten Dateien als gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegende Aktenbestandteile ein, da sie schließlich in dem Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten angefallen seien.351 Es handele sich hierbei weder um Spurenakten noch um rein innerdienstliche Vorgänge, da es sich hierbei um Auswertungen und damit wiederum um selbstständiges Beweismaterial handele352 und nicht um Bewertungen, die sich an eine solche Auswertung als rein innerdienstlichen Vorgang anschlössen.353 Aus den dargestellten Entscheidungsgründen wird ersichtlich, dass der Senat die TKÜ-Aufzeichnungen unabhängig von einer gerichtlichen Beiziehung als vorzulegende und einzusehende Aktenbestandteile ansieht und von der Staatsanwaltschaft als unbeachtlich eingeordnete und demgemäß nicht vorgelegte Spurenvorgänge nicht zu den vorzulegenden Akten zählt. Diese Rechtsprechung hat der erste Senat in Teilen fortgeführt und hinsichtlich der TKÜ-Aufzeichnungen modifiziert. In dem zugrunde liegenden Ermittlungsverfahren gegen die Beschuldigten wurden ca. 45.000 Telefongespräche abgehört und aufgezeichnet; ferner wurden hierdurch ca. 34.000 weitere Datensätze (SMS, MMS etc.) gespeichert.354 In diesem Fall wurde die von der Verteidigung begehrte Überlassung der Tonaufzeichnungs-Datenträger von der Staatsanwaltschaft und dem Landgericht unter Hinweis auf die Persönlichkeitsschutzinteressen Dritter abgelehnt; es wurde lediglich gestattet, die TKÜ-Aufzeichnungen in den Räumlichkeiten der Kriminalpolizei abzuhören.355 Auf die Beschwerde der Verteidigung hin wurden sämtliche TKÜ-Aufzeichnungen auf ein Notebook aufgespielt, um das Abhören der Telefongespräche auch gemeinsam mit den inhaftierten Beschuldigten zu ermöglichen.356 Den zur Verfügung gestellten Dateien konnte dabei nicht entnommen werden, wer die Gesprächsteilnehmer waren, welche Rufnummer sie hatten und wie lange die Gespräche gingen.357 Der Senat legt ebenfalls den formellen Aktenbegriff zugrunde, ordnet die Tonaufzeichnungen jedoch als Beweisstücke ein, die grundsätzlich nur am Ort der

348

BGH StV 2010, 228, 229 m. Anm. Stuckenberg. BGH StV 2010, 228, 229 m. Anm. Stuckenberg. 350 BGH StV 2010, 228, 229 m. Anm. Stuckenberg. 351 BGH StV 2010, 228, 229 m. Anm. Stuckenberg. 352 BGH StV 2010, 228, 229 f. m. Anm. Stuckenberg. 353 BGH StV 2010, 228, 230 m. Anm. Stuckenberg. 354 BGH StV 2015, 10, 11 m. Anm. Gercke. 355 BGH StV 2015, 10, 11 m. Anm. Gercke. 356 BGH StV 2015, 10, 11 m. Anm. Gercke. 357 BGH StV 2015, 10, 11 m. Anm. Gercke.

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A. Meinungsstand

amtlichen Verwahrung von der Verteidigung besichtigt werden könnten.358 Allenfalls im Einzelfall könne zur Wahrung einer ausreichenden Verteidigung und einem fairen Verfahren möglicherweise – diese Frage lies der Senat offen – die Zurverfügungstellung von entsprechenden Datenträger-Kopien erforderlich sein, was in diesem Fall jedoch abzulehnen sei.359 Denn einerseits sei der Verteidigung zunächst das Abhören der Gespräche in den Räumlichkeiten der Kriminalpolizei gestattet worden; zum anderen sei der Verteidigung im weiteren Verlauf das Abhören der Telefongespräche auf einem Notebook, auch gemeinsam mit dem Beschuldigten, möglich gewesen.360 Weiter sei es unbeachtlich, dass den übermittelten Daten keine Informationen zu den Gesprächsteilnehmern, den Rufnummern und der Gesprächsdauer habe entnommen werden können, da kein Anspruch auf die Erstellung weiterer Aktenteile bestehe.361 Im Zusammenhang mit Chat-Kommunikation mittels sog. Kryptohandys des Anbieters EncroChat362 nahm der fünfte Senat jüngst eine aus Sicht der Verteidigung ebenfalls strengere Position ein. Der Revisionsführer rügte, dass der Verteidigung das beim Bundeskriminalamt befindliche und dort verbliebene Rohdatenmaterial entgegen § 147 Abs. 1 StPO nicht zur Verfügung gestellt worden sei.363 Der Senat hielt dem in einem obiter dictum entgegen: „Ein Verstoß gegen das Akteneinsichts- oder das Besichtigungsrecht von Beweisstücken nach § 147 Abs. 1 StPO liegt auf der Grundlage des Revisionsvorbringens nicht vor. Denn der Anspruch bezieht sich nur auf die dem Gericht tatsächlich vorliegenden Akten und auf die in diesem Verfahren verwahrten Beweisstücke […]. Diese Eigenschaft hätten die ,Originaldaten‘ aber erst durch ihre – von der Verteidigung indes erfolglos beantragte – Beiziehung erlangt. […] Soweit die Rüge auch mit der Stoßrichtung der Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK erhoben worden sein sollte, bliebe sie schon deshalb ohne Erfolg, weil der Beschwerdeführer ausweislich des Revisionsvorbringens nicht beim Bundeskriminalamt um Einsicht in die ,Rohdaten‘ ersucht hat.“364

Die zwischen den BGH-Senaten aufgezeigte Uneinigkeit hinsichtlich der Einordnung der TKÜ-Aufzeichnungen und des praktischen Umganges mit ihnen spiegelt sich auch in der OLG-Rechtsprechung wider. Zwischen den OLG-Senaten ist nahezu jeder Aspekt des Akteneinsichtsrechts umstritten, sobald es um TKÜAufzeichnungen geht. Ähnlich verhält es sich im Übrigen mit landgerichtlichen Entscheidungen. Manche OLG-Senate ordnen die TKÜ-Aufzeichnungen als Beweisstücke ein, die (grundsätzlich) nur am Verwahrungsort von der Verteidigung besichtigt werden können.365 Dies ergebe sich aus der Stellung der Staatsanwaltschaft als Herrin 358

BGH StV 2015, 10, 12 m. Anm. Gercke. BGH StV 2015, 10, 12 m. Anm. Gercke. 360 BGH StV 2015, 10, 12 m. Anm. Gercke. 361 BGH StV 2015, 10, 12 m. Anm. Gercke. 362 Siehe hierzu etwa BeckOK-StPO/Graf, § 100a, Rn. 99a f. 363 Siehe BGH, Beschl. v. 28.09.2022 – 5 StR 191/22, S. 1 f., juris. 364 BGH, Beschl. v. 28.09.2022 – 5 StR 191/22, S. 2, juris. 365 OLG Karlsruhe StV 2013, 74, 75 m. abl. Anm. Beulke/Witzigmann, abl. Anm. Albrecht 359

II. Rechtsprechung

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der Beweismittel.366 Das LG Hannover ordnet Ton- und Bildaufzeichnungen hingegen als Akten ein, die der Verteidigung im Wege der Akteneinsicht zugänglich zu machen sind.367 Hierzu tendiert auch der erste Senat am OLG Celle.368 Das LG Itzehoe hat in einer Entscheidung von vor rund drei Jahrzenten mit völligem Selbstverständnis formuliert: „Die StA hat die Tonbänder zu den Akten zu reichen. Es ist nicht auszuschließen, daß sich aus den Tonaufnahmen schuldspruch- oder rechtsfolgenrelevante Umstände ergeben könnten, deshalb erfordert der Grundsatz der Aktenvollständigkeit, daß diese Tonträger den Akten nicht ferngehalten werden dürfen […].“369

Zum Teil werden nur die Aufzeichnungskopien als herauszugebende Aktenbestandteile eingeordnet.370 Das Landgericht Essen spricht dem Verteidiger ohne weitere Einordnung in Beweisstück oder Aktenbestandteil ein Anspruch auf Zurverfügungstellung von Daten-CDs mit darauf gespeicherten SMS zu.371 Ebenso verfährt letztlich das LG Bremen, nach dem TKÜ-Aufzeichnungskopien zu fertigen und an die Verteidigung herauszugeben sind, da der Schutzzweck von § 147 Abs. 4 S. 1 StPO (a. F.) hierdurch nicht tangiert werde und das Fairnessgebot dies jedenfalls im Einzelfall erforderte.372 Auch in der Rechtsprechung wird hinsichtlich der Einordnung von Beweisstücken zum Teil danach unterschieden, ob die Beschaffenheit oder vielmehr der Inhalt des Informationsträgers verfahrensrelevant sei.373 Wieder andere OLG-Senate lassen die dogmatische Einordnung ebenfalls dahinstehen, da (nur) bestimmte Umstände, wie insbesondere ein überdurchschnittlicher Datenumfang, das Fairnessgebot bzw. der Beschleunigungsgrundsatz und die Gewährleistung einer effektiven Verteidigung eine Herstellung und Herausgabe der Aufzeichnungskopien geböten.374 Nach teilweise vertretener Auffassung sind der Verteidigung Aufzeichnungskopien zu übersenden, wenn der Kanzlei-/Wohnsitz von den Diensträumen überdurchschnittlich weit entfernt

jurisPR-ITR 1/2013, Anm. 4, abl. Anm. Zipper StRR 2012, 466; OLG Nürnberg StraFo 2015, 102, 103 m. abl. Anm. Wesemann/Mehmeti; OLG Frankfurt, Beschl. v. 13.09.2013 – 3 Ws 897/13, Rn. 6 ff., juris; KG NStZ 2016, 693, 694 f.; OLG Frankfurt StV 2016, 148, 149 m. Anm. Killinger und m. krit. Anm. Basar jurisPR-StrafR 14/2016, Anm. 1. 366 OLG Frankfurt NJW 2013, 1107, 1107 m. Anm. König. 367 LG Hannover StV 2013, 79, 79. 368 OLG Celle StV 2017, 158, 159. 369 LG Itzehoe StV 1991, 555, 555. 370 OLG Hamburg StV 2017, 160, 162; OLG Saarbrücken NStZ 2019, 362, 363; so im Zshg. mit Videoaufzeichnungen auch LG Augsburg StraFo 2020, 150, 150 f. 371 LG Essen StraFo 2012, 100, 100. 372 LG Bremen StV 2015, 682, 683 m. zust. Anm. Schulz-Merkel jurisPR-StrafR 8/2016, Anm. 5. 373 KG JR 1992, 123, 124. 374 Siehe OLG Celle NStZ-RR 2017, 48, 50; KG StV 2018, 75, 75 m. krit. Anm. El-Ghazi jurisPR-StrafR 21/2017, Anm. 1; LG Regensburg StraFo 2017, 451, 453 m. zust. Anm. Arnemann; ähnlich OLG Frankfurt StV 2001, 611, 612.

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A. Meinungsstand

liege.375 Nach Ansicht des OLG Stuttgart sind Datenträger mit TKÜ-Aufzeichnungen Beweisstücke, die mit Blick auf die sprachliche Fassung von § 147 Abs. 4 S. 1 StPO (a. F.) zugleich Akten seien, der Verteidigung jedoch nur ausnahmsweise in Kopie übersendet werden müssten.376 Teilweise wird eine relativ hohe Anzahl von Angeklagten/Verteidigern und eine Vielzahl aufgezeichneter Gespräche hingegen nicht als ausreichend dafür angesehen, der Verteidigung die TKÜ-Aufzeichnungen zugänglich zu machen.377 Mit dem Umfang steige schließlich auch die Schwere der drittbelastenden Grundrechtseingriffe, weshalb es einer Abwägung im Einzelfall bedürfe.378 Zum Teil wird die Einordnung der TKÜ-Aufzeichnungen (und etwaiger Kopien hiervon) aus einem anderen Grund offengelassen. Der Herausgabe solcher Datenträger stünden die Persönlichkeitsrechte der Gesprächsteilnehmer als unbeteiligte Dritte entgegen.379 Der Eingriff in die Persönlichkeitsrechte Dritter würde in rechtswidriger Weise vertieft.380 Andere Gerichte halten einen solchen Einwand wiederum für nicht tragfähig.381 Zuletzt ist noch die Rechtsprechung zum Akteneinsichtsrecht in Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren zu skizzieren.382 Zum Teil wird das Akteneinsichtsrecht in diesem Kontext weiter verstanden, zum Teil werden die Gedanken der aufgezeigten Spurenakten-Rechtsprechung fortgeführt. Auch in diesem Themenkomplex ist nahezu jeder Aspekt innerhalb der Rechtsprechung umstritten. Die Rechtsprechung lässt sich grob in zwei Meinungslager aufteilen. Einerseits geht bspw. das AG Jena davon aus, dass „[sich] das Einsichtsrecht dabei nicht nur auf sämtliche Unterlagen der Verwaltungsbehörde [erstreckt], die zu den Akten genommen worden sind, auf die der Vorwurf in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gestützt wird, sondern auch auf alle sonstigen verfahrens-

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So im Zshg. mit Videoaufzeichnungen BayObLG NStZ 1991, 190, 191. OLG Stuttgart NStZ-RR 2013, 217; eine ähnliche Einordnung der Beweisstücke trifft allg. offenbar KG StV 1989, 8, 9. 377 OLG Nürnberg StraFo 2015, 102, 103 f. m. abl. Anm. Wesemann/Mehmeti. 378 KG StV 2018, 75, 76 m. Anm. El-Ghazi jurisPR-StrafR 21/2017, Anm. 1. 379 OLG Celle NStZ 2016, 305, 306 m. abl. Anm. Knauer/Pretsch; OLG Nürnberg StraFo 2015, 102, 103 m. abl. Anm. Wesemann/Mehmeti; OLG Celle NStZ-RR 2017, 48, 49; OLG Hamburg NStZ 2016, 695, 696. 380 OLG Celle NStZ 2016, 305, 306 m. Anm. Knauer/Pretsch; OLG Karlsruhe StV 2013, 74, 75 m. abl. Anm. Beulke/Witzigmann und krit. Anm. Albrecht jurisPR-ITR 1/2013, Anm. 4; OLG Celle NStZ-RR 2017, 48, 50; OLG Hamburg NStZ 2016, 695, 696; OLG Frankfurt, Beschl. v. 13.09.2013 – 3 Ws 897/13, Rn. 10 f., juris; OLG Köln, Beschl. v. 30.06.2016 – 2 Ws 388/16, Rn. 18, juris. 381 OLG Zweibrücken StV 2017, 437, 438 m. Anm. Wölky; siehe bereits LG Itzehoe StV 1991, 555, 555: „Die vom Sitzungsvertreter der StA in der Hauptverhandlung geäußerte Meinung, […] es [sei] somit auch nicht gerechtfertigt, in die Rechte Dritter am Fernsprechverkehr Beteiligter durch Weitergabe der Tonbandaufnahmen zu den Akten einzugreifen, geht fehl.“ 382 Über § 46 Abs. 1 OWiG findet § 147 StPO entsprechende Anwendung; siehe zum Ganzen überblicksartig auch Leichthammer NJW 2018, 3760, 3760 ff. 376

II. Rechtsprechung

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bezogenen Vorgänge, die möglicherweise bedeutsam für das Verfahren sind. Dazu gehören insbesondere Auszüge aus dem Verkehrszentralregister, aber auch Ton- oder Bildaufnahmen, die ggf. auf eine vom Verteidiger einzusendende Leerkassette bzw. Diskette zu überspielen sind […]. Insofern möge der Verteidiger der Verwaltungsbehörde einen geeigneten Datenträger zur Verfügung stellen, damit diese ihm sodann – wie bereits angekündigt – das digitale Beweisbild im sbf-Format mit Schlüssel übersenden kann.“383

Zu den Akten gehörten auch Videoaufzeichnungen.384 Aus dem Gehörsanspruch erwachse die Pflicht, dem Verteidiger etwaige Messfotos,385 Messfilme386 oder Videoaufzeichnungen387 (in Kopie) zu überlassen. Aus Gründen der Aktenvollständigkeit und zur Wahrung des Gehörsanspruches seien etwaige Informationsträger, die mit dem Verfahren zusammenhängen, wie bspw. die Bedienungsanleitung eines Messgerätes, im Wege der Akteneinsicht zu übersenden; sofern diese Informationsträger dem Gericht nicht vorgelegt wurden, seien sie vom Gericht zur Akte zu nehmen.388 Auch die sog. Lebensakte des Messgerätes sei der Verteidigung zu übersenden.389 Jedenfalls der Verteidigung müsse im Vergleich zur Staatsanwaltschaft ein Wissensgleichstand gewährt werden.390 Der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz gab kürzlich einer Verfassungsbeschwerde statt, da dem Betroffenen keine Einsicht in die bei der Behörde verbliebenen Wartungsund Instandsetzungsunterlagen des Messgeräts gewährt wurde.391 Ein umfassendes Einsichtsrecht im Bußgeldverfahren entspricht auch einem kürzlich stattgebenden Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts.392 Ähnlich äußerte sich der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes;393 er sah in einer weiteren Entscheidung das Recht auf effektive Verteidigung als verletzt an, weil Rohmessdaten nicht gespeichert wurden, sodass der Verteidigung von vornherein die Möglichkeit genommen war, die Richtigkeit des Messergebnisses eigenhändig zu überprüfen.394 Dem steht das zweite Meinungslager gegenüber. Messdaten, die nicht den Betroffenen, sondern andere Verkehrsteilnehmer beträfen, unterlägen nicht dem 383 AG Jena, Beschl. v. 13.08.2018 – 3 OWi 1194/18, Rn. 2, juris; ähnlich AG Straubing, Beschl. v. 10.01.2006 – 2.1 AR 01/06, Rn. 7, 15, juris. 384 AG Peine, Beschl. v. 13.03.2008 – 2 OWi 2/08, Rn. 5, juris. 385 AG Bad Liebenwerda StraFo 2009, 384, 384. 386 Siehe AG Schleiden, Beschl. v. 23.10.2012 – 13 OWi 140/12 (b), Rn. 4 ff., juris. 387 AG Ludwigslust DAR 2004, 112, 112; siehe bereits OLG Koblenz, Beschl. v. 17.01.2000 – 2 Ss 4/00, Rn. 3, juris. 388 Siehe KG DAR 2013, 211, 212; OLG Naumburg DAR 2013, 37, 37; AG Cottbus StraFo 2012, 409, 410 f.; vgl. zur gewährten Einsichtnahme in die Bedienungsanleitung eines Atemalkoholgerätes bspw. AG Königs Wusterhausen StraFo 2012, 409. 389 OLG Jena NJW 2016, 1457, 1458 f. m. zust. Anm. Leitmeier; siehe zum Vorstehenden auch die Nachweise bei LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 193 f. 390 KG StraFo 2018, 383, 384. 391 VerfGH Rheinland-Pfalz NStZ 2022, 236, 237 f. m. Anm. Sandherr. 392 BVerfG NZV 2021, 41, 45 m. Anm. Krenberger. 393 VerfGH Saarland NZV 2018, 275, 279 ff. m. Anm. Krenberger. 394 VerfGH Saarland NJW 2019, 2456, 2457 ff. m. Anm. Krumm.

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A. Meinungsstand

Einsichtsrecht, solange diese nicht zur Verfahrensakte genommen worden seien.395 Ansonsten sei die Vielzahl an Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren praktisch nicht mehr zu bewältigen.396 Aus demselben Grund seien der Verteidigung grundsätzlich auch keine Kopien bspw. von der Bedienungsanleitung des Messgerätes zu übersenden.397 Von der Staatsanwaltschaft nicht vorgelegte Rohmessdaten seien nach diesem Meinungslager nicht Aktenbestandteil.398 Ein Einsichtsrecht in die dem Gericht und der Behörde nicht vorliegenden Informationsträger, wie ggfs. etwa eine sog. Lebensakte, worin Wartungen, Reparaturen etc. am Messgerät enthalten sind, scheide nach einigen Gerichten aus, da es sich bei hierauf gerichteten „Akteneinsichts-/-beiziehungsanträgen“ rechtstechnisch um Beweisermittlungsanträge oder Beweisanregungen handele.399 Nicht bei den Akten befindliche Informationsträger seien erst zur Akte zu nehmen, wenn eine Verfahrensrelevanz ebenjener ersichtlich werde400 oder das Gericht dies für erforderlich halte.401 Dies sei mit dem Fairnessgebot bzw. dem Waffengleichheitsgrundsatz und dem Gehörsanspruch vereinbar.402 Der Verteidiger habe im Einzelfall jedoch einen Anspruch auf Überlassung von etwaigen digitalen Datensatz-Kopien, wobei Persönlichkeitsrechte Dritter dem Einsichtsrecht nach umstrittener Auffassung nicht entgegenstünden.403 Zum Teil wird die Zurverfügungstellung von vorhandenen Messdateien generell abgelehnt – auch unter Berücksichtigung von Art. 6 EMRK.404 Schließlich gehe es nicht um strafrechtliche Sanktionen.405 Vom Verfassungsgerichtshof des Saarlandes wird eine solche Rechtsaufassung mit Blick auf das Fairnessgebot und den Gehörsanspruch für (landes-)verfassungswidrig gehalten,406 unabhängig davon, ob etwaige Messdaten dem Gericht vorliegen oder nicht.407 Ansonsten würde man dem Betroffenen 395 OLG Düsseldorf NZV 2016, 140, 140 f. m. krit. Anm. Fromm; OLG Koblenz, Beschl. v. 17.07.2018 – 1 OWi 6 SsBs 19/18, Rn. 34 ff., juris; ähnlich OLG Celle DAR 2012, 216, 217. 396 AG Siegen, Beschl. v. 09.08.2018 – 430 OWi 1508/18, Rn. 5, juris; krit. zu diesem Einwand: AG Bremervörde, Beschl. v. 06.09.2011 – 11 OWi 91/11, Rn. 8, juris. 397 AG Hamm, Beschl. v. 18.05.2011 – 12 OWi 283/11, Rn. 13 ff., juris. 398 OLG Celle StraFo 2017, 32, 34. 399 OLG Bamberg NStZ 2018, 235, 236 f.; vgl. hierzu auch OLG Celle NStZ-RR 2018, 59, 59. 400 AG München, Beschl. v. 16.08.2018 – 953 OWi 155/18, Rn. 2, juris; siehe im Zshg. mit der Bedienungsanleitung zum Messgerät bspw. auch OLG Frankfurt, Beschl. v. 12.04.2013 – 2 Ss-OWi 173/13, 2 Ss OWi 173/13, Rn. 6 ff., juris. 401 OLG Celle NStZ 2014, 525, 526. 402 Siehe OLG Bamberg NStZ 2018, 235, 236 ff.; OLG Celle DAR 2013, 283, 283 f.; AG Jena, Beschl. v. 13.08.2018 – 3 OWi 1194/18, Rn. 3 f., juris; OLG Düsseldorf NZV 2016, 140, 141 f. m. krit. Anm. Fromm. 403 LG Neubrandenburg, Beschl. v. 30.09.2015 – 82 Qs 112/15, Rn. 18, 26, juris; vgl. auch BayObLG NStZ 1991, 190, 191; a. A. OLG Koblenz, Beschl. v. 17.07.2018 – 1 OWi 6 SsBs 19/18, Rn. 36, juris. 404 AG Würzburg, Beschl. v. 21.07.2016 – 262 OWi 962 Js 11069/16, Rn. 4 ff., juris. 405 OLG Oldenburg, Beschl. v. 13.03.2017 – 2 Ss (OWi) 40/17, Rn. 12, juris. 406 VerfGH Saarland NZV 2018, 275, 279 ff. m. w. N. m. Anm. Krenberger. 407 VerfGH Saarland NZV 2018, 275, 280 m. Anm. Krenberger.

III. Zusammenfassung

133

eine Verteidigung gegen den Tatvorwurf nicht in ausreichender Weise ermöglichen.408

III. Zusammenfassung Innerhalb des Schrifttums und der Rechtsprechung ist einerseits umstritten, was zu den Akten i. S. v. § 147 StPO oder § 199 Abs. 2 S. 2 StPO zählt. Häufig und fortlaufend wird darüber diskutiert, ob oder inwieweit der Staatsanwaltschaft ein Aussonderungsrecht hinsichtlich des angefallenen Ermittlungsmaterials zusteht. Ferner wird uneinheitlich beurteilt, wie die in § 147 Abs. 1 StPO normierten Beweisstücke und wie Kopien von bestimmten Informationsträgern einzuordnen sind. In der Konsequenz besteht hinsichtlich vieler Informationsträger Unklarheit darüber, ob der Verteidiger diese in den eigenen Räumlichkeiten einsehen darf oder nur in den Diensträumen besichtigen kann. In den dargestellten monographischen Untersuchungen wird eher ein weiter Aktenbegriff sowohl zu § 147 StPO als auch zu § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vertreten. Das Einsichtsrecht des Verteidigers wird ebenfalls entsprechend weit verstanden. Die Auffassungen werden entweder mit dem Begriff des materiellen, des funktionellen oder des normativen Aktenbegriffs umschrieben. Vorzulegen bzw. einsehbar ist hiernach etwaig angefallenes Ermittlungsmaterial, unabhängig davon, ob bereits gegen den Beschuldigten ermittelt wurde oder nicht. Als Akten werden nach überwiegender Auffassung innerhalb der monographischen Untersuchungen demgemäß auch etwaige Spurenakten angesehen. Begründet wird dies im Wesentlichen mit den Gewährleistungen aus Art. 103 Abs. 1 GG, dem Fairnessgebot bzw. der Forderung nach Waffen/Chancengleichheit und einem Grundsatz der Aktenvollständigkeit. Vereinzelt wird sich aber auch für die Ausklammerung etwaiger Spurenakten von den vorzulegenden Akten ausgesprochen, obwohl von einem Grundsatz der Aktenvollständigkeit ausgegangen wird. Zur Begründung eines weiten Aktenbegriffs wird auch auf die Unabhängigkeit der Gerichte und Verteidiger gegenüber der Staatsanwaltschaft hingewiesen oder es werden die Regelungszwecke der §§ 160 Abs. 2, 163 Abs. 2 S. 1, 199 Abs. 2 S. 2, 147, 203 StPO angeführt. Ferner wird für ein weites Begriffsverständnis die Stellung der Staatsanwaltschaft angeführt; das in § 160 Abs. 2 StPO verankerte Objektivitätsgebot kann, wie zum Teil behauptet wird, an einer Nachlässigkeit, Betriebsblindheit oder einen in der Aufgabe der Staatsanwaltschaft angelegten Subjektivismus nichts ändern und soll deshalb unbeachtlich sein. Dieses Meinungslager geht davon aus, dass die Informationsgrundlage bei der Entscheidung über die Verfahrenseröffnung und der Vorbereitung der Verteidigung derjenigen der Staatsanwaltschaft bei der Entscheidung über die Anklageerhebung entsprechen muss. Insofern wird ein Aussonderungs-

408

VerfGH Saarland NZV 2018, 275, 279 m. Anm. Krenberger.

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A. Meinungsstand

recht der Staatsanwaltschaft (oder des Gerichts) nach vorherrschendem Verständnis nicht für zulässig erachtet und ein ggfs. größerer Umfang an Aktenteilen, den das Gericht studieren müsse, als unbeachtlich angesehen. Dem Gericht dennoch nicht vorgelegte Akten soll der Verteidiger zumindest nach § 147 Abs. 1 StPO analog einsehen können. Auch von der Staatsanwaltschaft herangezogene Beiakten werden überwiegend als vorzulegende/einzusehende Akten angesehen. Handakten bzw. rein innerdienstliche Vorgänge sind nach überwiegender Auffassung hingegen nicht vorzulegen bzw. einzusehen. Was hierzu zählt, bleibt jedoch eher nebulös und wird nicht ganz einheitlich beurteilt. Außerstrafprozessual angelegte Vorgänge, wie bspw. Verwaltungs- oder Steuerakten, werden überwiegend ebenfalls als vorzulegende/einzusehende Akten qualifiziert. Zum Teil werden eindeutig mit einem Verwertungsverbot behaftete Informationsträger nicht als vorzulegende/einzusehende Aktenteile angesehen. Ganz überwiegend werden grundsätzlich die Informationsträger im Original als die vorzulegenden/einzusehenden Aktenteile angesehen. Hinsichtlich digitaler Informationsträger und Beweisstücke besteht eine größere Uneinigkeit. Als Beweisstücke werden beispielsweise klassisches Tatwerkzeug oder etwaige Tatprodukte angesehen. Tonaufzeichnungen oder Bilder werden bisweilen als Aktenbestandteil eingeordnet, wobei dem Beschuldigten bzw. Verteidiger aus Integritätsschutzgründen auch lediglich Kopien herausgegeben werden können. Von anderer Seite werden etwa Aufzeichnungen als Beweisstücke angesehen, nur deren Kopien sollen Aktenbestandteil sein. Ein Anspruch auf die Herausgabe von staatlicherseits hergestellten Aufzeichnungskopien besteht, jedenfalls nach teilweise vertretener Auffassung, grundsätzlich nicht, was zum Teil aus § 58a Abs. 2 S. 3 StPO hergeleitet wird. Sofern es bei den jeweiligen Informationsträgern auf den Inhalt ankommt, so werden solche Informationsträger überwiegend jedoch als Aktenbestandteile qualifiziert. Die Überlassung der Beweisstückkopie soll jedenfalls dann zulässig bzw. erforderlich sein, wenn eine Besichtigung in den Diensträumen nicht als zumutbar anzusehen ist. In der übrigen Literatur wird überwiegend ein ebenfalls eher weiter Aktenbegriff und ein umfassenderes Einsichtsrecht vertreten, auch wenn im Vergleich zu den monographischen Ausarbeitungen noch etwas mehr Uneinigkeit besteht. Beispielsweise werden von Teilen des Schrifttums bei einem größeren Umfang an Spurenakten diese nicht notwendig als vorzulegende Akten angesehen; ausreichend soll in diesem Fall eine vorzulegende Zusammenfassung der Spurenakten sein. Die Begründungen zur Annahme eines weiten Aktenbegriffs entsprechen im Wesentlichen denjenigen, die in den dargestellten Monographien angeführt werden. Insbesondere wird für eine umfassende Vorlagepflicht und Einsichtsgewährung bzw. ein (grundsätzliches) Verbot der Aktenaussonderung durch die Staatsanwaltschaft ihre Stellung bzw. ihr „Naturell“ angeführt, die Begründung hierzu jedoch noch weiter ausgebaut. Aber auch auf den Grundsatz der Aktenvollständigkeit und Art. 6 EMRK wird zurückgegriffen. Wie mit unverwertbaren Aktenteilen umzugehen ist, ist auch im übrigen Schrifttum umstritten. Die Frage, was

III. Zusammenfassung

135

als rein innerdienstliche Vorgänge bzw. als Bestandteil einer sog. Handakte zu verstehen ist, die nicht Aktenbestandteil sein soll, wird auch in der übrigen Literatur uneinheitlich beurteilt. Die zum Aktenbegriff vertretenen Auffassungen werden mit dem Begriff des materiellen, des normativ-funktionalen oder des funktionellen Aktenbegriffs umschrieben. Diesem relativ weiten Begriffsverständnis steht der formelle Aktenbegriff gegenüber. Hiernach bestimmt sich die Einordnung eines Informationsträgers als vorzulegender Aktenbestandteil danach, ob er den jeweiligen Geschehensablauf und den konkreten Beschuldigten betrifft. Auf dieser Grundlage werden Spurenakten beispielsweise nicht als vorzulegende Akten angesehen, da sie sich schließlich auf Dritte und nicht direkt auf den Beschuldigten beziehen. Auch steht der Staatsanwaltschaft hiernach ein Auswahl- bzw. Aussonderungsermessen zu, welche Akten sie dem Gericht als verfahrensrelevante Vorgänge vorlegt. Hiernach muss die gerichtliche Aufklärung schließlich überschaubar bleiben. Zu den gem. § 147 StPO einzusehenden Akten zählen nach diesem Meinungslager grundsätzlich diejenigen, die die Staatsanwaltschaft dem Gericht tatsächlich vorlegt. Dies wird ebenfalls mit der Stellung der Staatsanwaltschaft bzw. der ihr zuteilwerdenden Aufgabe begründet. Teile dieser Strömung sprechen sich gegen ein Kontrollrecht der Verteidigung hinsichtlich des Ermittlungsverlaufs aus. Ein gesondertes Einsichtsrecht hinsichtlich der übrigen, nicht vorgelegten Aktenteile wird zugunsten der Verteidigung jedoch weitgehend anerkannt. Dabei erkennt auch diese Strömung den Grundsatz der Aktenvollständigkeit und den Fairnessgrundsatz bzw. das Gebot, Waffengleichheit herzustellen, an. Auch wird zwischen „geborenen“ und „gekorenen“ Aktenteilen unterschieden; erstere sollen stets Aktenbestandteil sein, letztere werden erst durch die Widmung der Staatsanwaltschaft zum Aktenbestandteil. Für mehr Diskussion sorgt im Schrifttum zum einen die Abgrenzung zwischen Beweisstücken und Aktenbestandteilen und zum anderen die Einordnung etwaiger digitaler Informationsträger. Die Abgrenzung bzw. Einordnung wird hierbei unabhängig von dem (im Übrigen) zugrunde gelegten Aktenbegriff vorgenommen. Beweisstücke sind nach überwiegender Auffassung nicht von der Staatsanwaltschaft an die Verteidiger herauszugeben. In manchen Fällen soll dem Verteidiger eine Kopie der Beweisstücke zur Verfügung zu stellen sein. Nach zum Teil vorgenommener Differenzierung kommt es für die Einordnung als Beweisstück grundsätzlich darauf an, worauf die Verfahrensrelevanz gestützt wird. Ist die Beschaffenheit eines Gegenstandes das für das Verfahren Relevante, soll es sich um ein Beweisstück handeln; kommt es hingegen auf den Inhalt an, ist es Aktenbestandteil. Auch wird nach den Eigentumsverhältnissen differenziert; Akten gehören der Justiz, Beweisstücke stehen im Eigentum Dritter. Insofern werden digitale Informationsträger, zumindest deren Kopien, nach teilweise vertretener Auffassung als Aktenbestandteile angesehen, die an die Verteidiger im Wege der Akteneinsicht herauszugeben sein sollen. Dies gilt hiernach jedenfalls für diejenigen Informationsträger, die die Staatsanwaltschaft verwertet wissen will.

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A. Meinungsstand

Der Fülle an hierzu ergangener Rechtsprechung und der praktischen Relevanz geschuldet, wird in aktuelleren Beiträgern insbesondere das Akteneinsichtsrecht in TKÜ-Aufzeichnungen kontrovers diskutiert. Die grundlegende Uneinigkeit hinsichtlich des Akten- und Beweisstückbegriffs wird auf den Themenkomplex TKÜ-Aufzeichnungen übertragen, sodass darüber diskutiert wird, ob es sich bei diesen Aufzeichnungen überhaupt um Akten handelt und inwieweit ein Einsichtsrecht in diese Aufzeichnungen besteht. Die Beiträge gelangen überwiegend zu der Auffassung, dass TKÜ-Aufzeichnungen der Verteidigung zur Verfügung zu stellen sind. Von einer Strömung wird davon ausgegangen, dass TKÜ-Aufzeichnungen grundsätzlich nur in den Diensträumen abgehört werden können. Denn einer Herausgabe an die Verteidiger stehen hiernach (oftmals) Persönlichkeitsrechte Dritter entgegen. Es soll deshalb eine Abwägung im Einzelfall vorzunehmen sein. Nach teilweise vertretener Auffassung wird jedenfalls in dem Fall, dass das Abhören in den Diensträumen nicht zumutbar erscheint, die Übersendung einer Aufzeichnungskopie an die Verteidiger für erforderlich erachtet. Die ganz überwiegende Auffassung geht demgegenüber davon aus, dass die TKÜ-Aufzeichnungen, jedenfalls die Aufzeichnungskopien, an die Verteidigung herauszugebende Aktenbestandteile sind. Hinsichtlich der Pflicht zur Herausgabe der TKÜ-Aufzeichnungskopien wird insbesondere der Zweck des Mitgabeverbotes aus § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. angeführt, der in dem Integritätsschutz liegen und bei der Herausgabe von Kopien nicht berührt werden soll. Beweisstück ist nach dem Verständnis von Teilen des Schrifttums lediglich die Aufzeichnung auf dem entsprechenden Server, nicht die anschließend hergestellten Datenträger mit dem Inhalt jener Aufzeichnungen. Im Übrigen wird darauf hingewiesen, dass die inhaltlichen Zusammenfassungen der Staatsanwaltschaft bzgl. der Erkenntnisse aus der TKÜ unvollständig sein können, sodass der Verteidigung die Gelegenheit gegeben werden muss, die Aufzeichnungen selbst anzuhören; insbesondere kann die Staatsanwaltschaft die Erkenntnisse aus der TKÜ nach verteidigungsrelevanten Gesichtspunkten nicht mit hinreichender Genauigkeit selektieren. Deshalb ist insoweit Wissensparität herzustellen. Zudem muss eine Erörterung der TKÜ-Aufzeichnungen gemeinsam mit dem Mandanten ermöglicht werden, was eine Herausgabe der Aufzeichnungen erfordert. Ferner werden erneut die Gesichtspunkte Aktenvollständigkeitsgebot und Fairnessgebot bzw. Waffengleichheitsgrundsatz zur Begründung einer Herausgabepflicht angeführt. In der Rechtsprechung herrscht hinsichtlich des Umfanges von §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO ebenfalls keine Einigkeit. Als Ausgangspunkt vertritt der BGH in ständiger Rechtsprechung den formellen Aktenbegriff. Lediglich der Kartellsenat des BGH hat in einem Kartellbußgeldverfahren den materiellen Aktenbegriff zugrunde gelegt. Der Umfang der Vorlagepflicht erstreckt sich nach höchstrichterlicher Rechtsprechung auf die Akten, die seit dem ersten Zugriff i. S. v. § 163 StPO angefallen sind, inhaltlich den angeklagten Geschehensablauf und den Beschuldigten betreffen und von der

III. Zusammenfassung

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Staatsanwaltschaft nach objektiven Kriterien als verfahrensrelevant erachtet werden. Spurenakten gehören hiernach demzufolge grundsätzlich nicht zu den vorzulegenden Akten. Der Einsicht gem. § 147 Abs. 1 StPO unterfallen dabei grundsätzlich nur die dem Gericht tatsächlichen vorliegenden Akten. Ein Recht der Verteidigung, die von der Staatsanwaltschaft vorgenommene Selektion zu kontrollieren, wird ihr von den BGH-Senaten grundsätzlich nicht zugestanden. Sofern es um die Frage geht, welche Akten der Verteidiger von den dem Gericht vorliegenden Akten einsehen kann, wird in manchen Entscheidungen demgegenüber angeführt, dass die Entscheidung, welche Akten verteidigungsrelevant sind, ausschließlich der Verteidigung obliegt. Ein Aussonderungsrecht wird insofern lediglich der Staatsanwaltschaft, nicht hingegen dem Gericht zugesprochen. In Einzelfällen wurde die vollständige Vorlage der Spurenakten gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO hingegen für erforderlich gehalten. Nach einer grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wird zur inhaltlichen Überprüfung der gesamten Spurenakten grundsätzlich auch ein weitgehendes Einsichtsrecht des Verteidigers in die nicht vorgelegten Akten anerkannt. Die höchstrichterliche Rechtsprechung zu § 147 StPO bei digitalen Informationsträgern ist hingegen uneinheitlich. Nach einer Entscheidung des zweiten Senats beim BGH sind TKÜ-Aufzeichnungen der Verteidigung zur Verfügung zu stellende Aktenbestandteile, wobei die betreffenden Aufzeichnungen dem Gericht vorlagen. Auch hierbei wird betont, dass die Entscheidung über die Relevanz etwaiger Aufzeichnungen für die Verteidigung von ihr selbst getroffen werden muss. Der dritte Senat beim BGH sieht Bild-/Tonaufzeichnungen ebenfalls als vorzulegende/einzusehende Aktenbestandteile an. Dem steht die im Zusammenhang mit der Akteneinsicht in TKÜ-Aufzeichnungen jüngste Entscheidung des ersten Senats beim BGH entgegen. Hiernach kann der Verteidiger die TKÜ-Aufzeichnungen grundsätzlich nur in den Diensträumen der Strafverfolgungsbehörden anhören, da es sich hierbei nicht um Akten, sondern um Beweisstücke handelt. Sofern die Übersendung von Aufzeichnungskopien für die Gewährleistung einer ausreichenden Verteidigung bzw. eines fairen Verfahrens ausnahmsweise als erforderlich anzusehen ist, soll sich möglicherweise etwas anderes ergeben können. Der Senat wollte diese Frage nicht abschließend entscheiden. Diese Entscheidung ist der Auslöser für die (konfuse) Rechtsprechungspraxis zahlreicher Land- und Oberlandesgerichte zur Akteneinsicht in TKÜ-Aufzeichnungen. Nach Ansicht des fünften Senats erstreckt sich das Einsichts- und Besichtigungsrecht aus § 147 Abs. 1 StPO nur dann auf das Rohdatenmaterial von Chat-Protokollen, wenn dieses Datenmaterial dem Gericht tatsächlich vorgelegt wird, wobei der Senat der Verteidigung mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 EMRK das Recht zuerkannt hat, das Rohdatenmaterial eigenständig bei den Strafverfolgungsbehörden einsehen zu können. Der Ansicht des ersten Senats beim BGH schließen sich in der Sache einige OLG-Senate an. Hiernach sind TKÜ-Aufzeichnungen als Beweisstücke am Ort ihrer Verwahrung anzuhören und nicht der Verteidigung zu übersenden.

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A. Meinungsstand

Nach anderer Auffassung sind TKÜ-Aufzeichnungen oder deren Kopien Aktenbestandteile und der Verteidigung herauszugegeben. Persönlichkeitsrechte Dritter stünden der Einsichtnahme des Verteidigers in den eigenen Räumlichkeiten nach diesem Meinungslager nicht entgegen. Teilweise wird eine Einordnung in Aktenbestandteil oder Beweisstück in der Rechtsprechung offengelassen. Die Verteidigung hat nach zum Teil vertretener Auffassung schließlich aus Gründen des Fairnessgebots einen Anspruch auf die Zurverfügungstellung der entsprechenden Datenträger. Nach Maßgabe einer anderen Auffassung kann die dogmatische Einordnung der TKÜ-Aufzeichnungen dahinstehen, weil der Übersendung von TKÜ-Aufzeichnungen die Persönlichkeitsrechte Dritter entgegenstehen. Die Erstellung einer Aufzeichnungskopie zur Überlassung an den Verteidiger ist, wie zum Teil angenommen wird, nur ausnahmsweise als zulässig anzusehen. Als einen solchen Ausnahmefall wird der Datenumfang oder die Entfernung zwischen Wohn-/Kanzleisitz des Verteidigers zu den Diensträumen in Betracht gezogen. Auch aus Fairnessgründen bzw. zur Gewährleistung einer effektiven Verteidigung oder zu Beschleunigungszwecken kann eine Übersendung hiernach ausnahmsweise erfolgen. Diese Unklarheit hinsichtlich des Umganges mit digitalen Informationsträgern setzt sich in Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren fort, wobei in diesem Kontext die überwiegende Auffassung ein weitgehendes Einsichtsrecht in sämtliche mit dem Bußgeldverfahren zusammenhängende Informationsträger gewährt – unabhängig davon, ob die Verwaltungsbehörde die Vorgänge zur Bußgeldakte genommen und damit für verfahrensrelevant erachtet hat. Dies soll überdies auch unabhängig davon gelten, ob es sich um papierne Informationsträger oder Ton-/Bildaufnahmen handelt. Von den digitalen Informationsträgern werden zwecks Übersendung Kopien angefertigt. Zur Begründung für ein weitgehendes Einsichtsrecht des Verteidigers wird der Gehörsanspruch, eine herzustellende Wissensparität und das Aktenvollständigkeitsgebot angeführt. Sofern dem Gericht nicht sämtliche Verwaltungsvorgänge vorgelegt wurden, sind diese vom Gericht anzufordern. Für ein weitgehendes Einsichtsrecht des Verteidigers in einem Bußgeldverfahren haben sich erst kürzlich das Bundesverfassungsgericht und der saarländische Verfassungsgerichtshof ausgesprochen und ein solches auch anerkannt. Demgegenüber wird entsprechend der strafrechtlichen Judikatur nach teilweise vertretener Auffassung nur das als Bestandteil der vorzulegenden Bußgeldakte angesehen, was die Verwaltungsbehörde als verfahrensrelevant erachtet und „zur Akte“ genommen hat. Das Einsichtsrecht erstreckt sich hiernach auf das dem Gericht tatsächlich vorliegende Aktenmaterial. Dies wird als vereinbar mit dem Fairnessgebot bzw. dem Waffengleichheitsgebot und dem Gehörsanspruch angesehen. Ein Anspruch des Verteidigers auf Überlassung von DatensatzKopien besteht nach jedenfalls zum Teil vertretener Auffassung allenfalls im Ausnahmefall.

B. Einfachgesetzliche Auslegung Zunächst soll einfachgesetzlich untersucht werden, was unter dem Begriff „Akte“ i. S. v. § 147 StPO zu verstehen ist. Zu untersuchen gilt, was überhaupt zur Akte gehört. Problematisch ist insbesondere, ob ein Informationsträger einer Akte bewusst zugeordnet werden muss, es sich bei den Aktenteilen um Originaldokumente oder um Kopien hiervon handelt und ob es Unterschiede zwischen papiernen und elektronischen Akten gibt. Weiter ist zu klären, wie sich „Akten“ von „Beweisstücken“ i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO unterscheiden. Diese und andere Aspekte sollen durch eine umfassende Auslegung von § 147 StPO bzw. des hierin normierten Aktenbegriffs beantwortet werden.

I. Wortlaut Zunächst soll hierfür der Wortlaut näher untersucht werden.

1. Allgemeiner Sprachgebrauch Mit dem Begriff der „Akte“ könnte man zunächst eine Ansammlung von Informationen, die in einer Pappmappe oder einem Aktenordner zusammengehalten werden, assoziieren. Die Sammlung mehrerer Akten wird „Aktei“ genannt.1 Ein einzelnes Aktenstück wird als ein Teil einer Akte bzw. eines Vorganges angesehen.2 Zur Unterscheidung erhalten Akten unterschiedliche Registerzeichen, die auch Aktenzeichen genannt werden.3 Fraglich ist, ob man grammatikalisch alles in solchen Zusammenführungen als Aktenbestandteil einordnet oder gegebenenfalls nur einen Teil hiervon. Ferner stellt sich die Frage, ob es nach dem allgemeinen Sprachempfinden überhaupt darauf ankommt, ob sich ein Informationsträger physisch in einer solchen Zusammenführung befindet. Der Begriff „Akte“ stammt aus dem Lateinischen. Als Nomen verstanden meint der lateinische Begriff „acta“ „das Verhandelte“, „die Ausführungen“4

1

Wissenschaftlicher Rat, Duden, Fremdwörterbuch, S. 66. Wissenschaftlicher Rat, Duden, Wörterbuch, Bd. 1, S. 154. 3 Weber, Rechtswörterbuch, S. 38, 1345. 4 Zum Vorstehenden: Wissenschaftlicher Rat, Duden, Wörterbuch, Bd. 1, S. 154.

2

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

oder auch „den Vorgang“5 bzw. „das Geschehene“.6 Als Verb meint der von „acta“ abstammende Begriff „agere“ handeln bzw. tätig sein.7 Der lateinische Begriff „acta“ bzw. der deutsche Begriff „Akte“ stammt vom Wortstamm „actus“ bzw. „Akt“ ab.8 „Actus“ meint u. a. eine Handlung oder eine Tat.9 Ebenso wie die grammatikalische Abstammung „Akte“ wird auch unter dem Begriff „Akt“ ein „Vorgang“ verstanden.10 Als „Akt“ wird neben einer (schöpferischen) Darbietung auch ein juristisches Verfahren oder ein Rechtsvorgang bezeichnet.11 Hieran anlehnend könnte man, je nachdem, worauf man die Betonung der jeweiligen Übersetzung legt, den Aktenbegriff weiter oder enger verstehen. Als Akte oder Aktenbestandteil werden der Schriftverkehr, Sammelwerke oder auch Niederschriften öffentlicher Verhandlungen verstanden.12 Allgemeiner formuliert meint „Akte“ (eine Sammlung von) „Unterlagen zu einem geschäftlichen od. gerichtlichen Vorgang“.13 Man könnte eine Akte auch als eine (geordnete) Sammlung etwaiger Schriftstücke, die thematisch zusammengehören, umschreiben.14 Alle schriftlichen Vorgänge, die ein bestimmtes Verfahren betreffen, bezeichnet man allgemein-sprachlich als „Akten“.15 Zum Teil werden hierbei (grundsätzlich) nur Originaldokumente als „Akte“ angesehen.16 Im digitalen Zeitalter wird unter der „Akte“ aber nicht nur die Ansammlung von Informationen in der herkömmlichen, physischen Papp- bzw. Papierakte – auch „Aktenmappe“ genannt17 – gezählt. Vielmehr werden unter dem Begriff „Akte“ mittlerweile auch elektronische Dokumente gefasst.18 Insoweit hat sich der Sprachgebrauch gewandelt. Ob ein bestimmter Vorgang bzw. eine Information nun als Fadenheftung, Lochheftung, Loseblattsammlung mit Schnur19 oder elektronisches Dokument aufbewahrt wird, ist jedenfalls nach dem allgemeinen Sprachempfinden nicht (mehr) maßgebend. 5

Wissenschaftlicher Rat, Duden, Fremdwörterbuch, S. 66. Köbler/Pohl, Deutsch-Deutsches Rechtswörterbuch, S. 10; siehe auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 24. 7 Wissenschaftlicher Rat, Duden, Wörterbuch, Bd. 1, S. 154; siehe auch Vismann, Akten, S. 25. 8 Vgl. Wissenschaftlicher Rat, Duden, Fremdwörterbuch, S. 65 f. 9 Wissenschaftlicher Rat, Duden, Wörterbuch, Bd. 1, S. 154; Lieberwirth, Latein, S. 20; vgl. auch Glare, Oxford Latin Dictionary, Vol. 1, S. 34. 10 Vgl. Wissenschaftlicher Rat, Duden, Fremdwörterbuch, S. 65. 11 Wissenschaftlicher Rat, Duden, Wörterbuch, Bd. 1, S. 154. 12 Lieberwirth, Latein, S. 13. 13 Wissenschaftlicher Rat, Duden, Wörterbuch, Bd. 1, S. 154. 14 Wissenschaftlicher Rat, Duden, Fremdwörterbuch, S. 66; vgl. auch Köbler/Pohl, Deutsch-Deutsches Rechtswörterbuch, S. 10; Weber, Rechtswörterbuch, S. 38; ähnlich B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 179; Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 23 f. 15 So auch Tilch/Arloth, Lexikon, Bd. 1, S. 108. 16 Siehe Tilch/Arloth, Lexikon, Bd. 1, S. 108. 17 Wissenschaftlicher Rat, Duden, Wörterbuch, Bd. 1, S. 154. 18 Weber, Rechtswörterbuch, S. 38; vgl. auch Alpmann/Krüger/Wüstenbecker, Lexikon S. 32. 19 Tilch/Arloth, Lexikon, Bd. 1, S. 108. 6

I. Wortlaut

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Es stellt sich jedoch die Frage, welche Informationen als Vorgänge zu verstehen sind bzw. welche Vorgänge im vorbenannten Sinne ein bestimmtes Verfahren noch „betreffen“, sodass sie als Akten i. S. v. § 147 StPO einzuordnen sind. Ob es sich hierbei lediglich um die Informationen handelt, die die Staatsanwaltschaft nach einer eigenverantwortlichen Sortierung/Aussonderung dem Gericht und/oder der Verteidigung aushändigt oder etwa um all diejenigen Informationen, die i. R. d. jeweiligen Strafverfahrens insgesamt angefallen sind, kann anhand des allgemeinen Sprachgebrauchs nicht hinreichend beantwortet werden. Ebenso könnte auch nur dasjenige Informationsmaterial als „Akte“ anzusehen sein, das sowohl für das Verfahren angesammelt wurde und zudem auch den jeweiligen Beschuldigten/Angeklagten betrifft. Ob der Aktenbegriff eng oder weiter zu verstehen ist, ergibt sich aus dem Wortlaut nicht eindeutig. Mit dem allgemeinen Sprachgebrauch ist ein enges und weites Verständnis gleichermaßen zu vereinbaren. Auch ist kein für die Strafprozessordnung besonderer Sprachgebrauch20 ersichtlich, der den Aktenbegriff konkretisiert. Das gibt Anlass, weiter reichende Erwägungen anzustellen.

2. Satzsemantik und Normtextanalyse Es soll untersucht werden, in welchem sprachlichen Kontext innerhalb von § 147 StPO der Begriff „Akte“ verwendet wird.21 Insofern werden auch die hierin normierten Sätze als Bedeutungsträger betrachtet.22 Methodologisch handelt es sich hierbei ebenfalls um die grammatikalische Auslegung, wenngleich auch binnensystematische Erwägungen angestellt werden.23 Daran zeigt sich, dass die Auslegungskriterien bzw. -methoden nicht losgelöst voneinander angewandt werden können, sondern vielmehr durch wechselseitige Abhängigkeiten geprägt sind.24 a) § 147 Abs. 1 StPO Im ersten Absatz des § 147 StPO wird zunächst zwischen dem Einsichtsrecht und dem Besichtigungsrecht – ebenso wie in der amtlichen Überschrift – unterschieden. Der Verteidiger ist hiernach befugt, Akten einzusehen und amtlich verwahrte Beweisstücke zu besichtigen. Wodurch sich die Einsicht von der Besichtigung unterscheiden soll, erschließt sich hieraus jedoch nicht. Insofern lassen sich für den Aktenbegriff keine Rückschlüsse ziehen. 20 Vgl. zur Auslegung anhand eines erkennbaren besonderen Sprachgebrauchs: Larenz, Methodenlehre, S. 320. 21 Vgl. zu dieser Auslegungsmethodik: Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 613. 22 Zu dieser als grammatikalische Auslegung oder Satzsemantik verstandenen Auslegungsmethodik: Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 613. 23 Siehe Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 613 f.; Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 132, 146 f. 24 Vgl. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 700 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 343 ff.; Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 146 f.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

Weiter bezieht sich die Einsicht expressis verbis auf „[…] die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der Anklage vorzulegen wären […].“ Die Formulierung „vorzulegen wären“ könnte andeuten, dass die Staatsanwaltschaft ein Entscheidungsrecht darüber hat, welche der bei ihr angesammelten Akten sie nun dem Gericht vorlegen möchte und somit dem Einsichtsrecht der Verteidigung zugänglich macht. Für dieses Verständnis ließe sich auch das Relativpronomen „die“ in dem Passus von § 147 Abs. 1 StPO „Akten, die“ anführen. Schließlich könnte man hieraus ableiten, dass ein Einsichtsrecht der Verteidigung nicht in alle Akten besteht, sondern nur in Teile hiervon, und zwar in diejenigen, „die dem Gericht vorliegen“. Zwar könnte man hieraus immer noch nicht ableiten, was nun zu den „Akten“ zählt. Jedoch könnte man hieran anknüpfend die These vertreten, dass ein Einsichtsrecht jedenfalls nicht in alle Akten, sondern eben nur in jene, die dem Gericht tatsächlich vorliegen, besteht. Die Staatsanwaltschaft könnte demgemäß darüber entscheiden, welche Akten sie dem Gericht, und daran möglicherweise anknüpfend der Verteidigung, zugänglich macht. Auf der anderen Seite könnte mit der Formulierung „vorzulegen wären“ lediglich zum Ausdruck gebracht worden sein, dass ein Akteneinsichtsrecht schon im Ermittlungsverfahren besteht. Dies liegt nahe, da es hierbei um die Akten geht, die „im Falle der Erhebung der Anklage“, also hypothetisch, „vorzulegen wären“. Ferner kann der Passus „Akten, die“ auch aus dem gesetzgeberischen Selbstverständnis hervorgehen, dass all diejenigen Vorgänge, die inhaltlich mit dem jeweiligen Strafverfahren zusammenhängen, bei Anklageerhebung dem Gericht vorgelegt werden. Demgemäß hätte man (verständlicherweise) kein Einsichtsrecht in „alle bei der Staatsanwaltschaft gelagerten Akten“, sondern eben nur in diejenigen, die dem Gericht das konkrete Verfahren betreffend vorgelegt werden. Die Formulierung „vorzulegen wären“ lässt jedenfalls anklingen, dass eine Vorlagepflicht besteht, was gegen eine ermessenshafte Ausübung spricht. Insofern sind die Passus „Akten, die“ und „vorzulegen wären“ ebenfalls nicht ergiebig. Im Wortlaut ist lediglich angelegt, dass die Akten, die dem Gericht vorliegen, mit denjenigen Akten, die dem Gericht im Falle der Anklageerhebung vorzulegen wären, in Zusammenhang gebracht werden. Insofern liegt es nahe, dass die Frage, was als „Akte“ anzusehen ist, unabhängig vom jeweiligen Verfahrensabschnitt (Vor-, Zwischen- oder Hauptverfahren) kongruent zu beantworten ist. Zwingend ist ein solcher Schluss jedoch ebenfalls nicht. b) § 147 Abs. 2 S. 1 StPO Nach § 147 Abs. 2 S. 1 StPO „kann dem Verteidiger die Einsicht in die Akten oder einzelne Aktenteile […] versagt werden, soweit dies den Untersuchungszweck gefährden kann“. Es wird in S. 1 zwischen Akten und (einzelnen) Aktenteilen unterschieden. Insofern deutet der Wortlaut an, dass eine „Akte“ eine Gesamtheit von bestimmten Informationsansammlungen sein soll und nicht lediglich ein

I. Wortlaut

143

Teil hiervon. Ansonsten hätte es einer solcher Unterscheidung nicht bedurft. Auch der Begriff „soweit“, anstatt beispielsweise „wenn“ oder „sofern“, deutet in diese Richtung, weil der Terminus „soweit“ im juristischen Sprachgebrauch gemeinhin auf eine Teilbarkeit hindeutet.25 Von welchem Informationsmaterial die Akte ein solches „Gesamtpaket“ darstellen soll, bleibt hingegen abermals unklar. Weiter fällt auf, dass der Begriff Akte im Plural verwendet wird, sodass sich die Frage aufdrängt, ob und, wenn ja, was alles zu „den Akten“ gehört. Auch in Abs. 1, Abs. 4 und Abs. 5 S. 1 wird die Akte im Plural genannt. c) § 147 Abs. 3 StPO Die Einsicht bezieht sich im ersten Absatz auf die Akten. Insofern kann dem dritten Absatz, in dem das nicht einschränkbare Einsichtsrecht normiert ist, lediglich entnommen werden, dass Akten oder Aktenteile jedenfalls Vernehmungsprotokolle, Protokolle über richterliche Untersuchungshandlungen, bei denen die Anwesenheit des Verteidigers gestattet wurde oder zu gestatten ist, und Sachverständigengutachten sind. Da insofern keine (abstufende) Einschränkung erfolgt, etwa dergestalt, dass die Staatsanwaltschaft die hierbei zu Tage getretenen Informationen für das jeweilige Strafverfahren als eher, weniger oder überhaupt relevant ansieht, stellt ein Indiz dafür dar, dass die Einordnung als „Akte“ hiervon nicht abhängt. Ob diese Annahme generalisierend für alle in dem jeweiligen Strafverfahren angesammelten Informationen gelten soll, wird hieraus wiederum nicht ersichtlich. Die Einordnung der vorbenannten Informationen als Akte soll zudem nicht nur im Vorverfahren gelten; ausweislich des Wortlautes darf die Einsicht insoweit „dem Verteidiger in keiner Lage des Verfahrens versagt werden“. Dies legt ebenfalls nahe, dass der Aktenbegriff in jedem Verfahrensstadium inhaltsgleich zu verstehen ist. d) § 147 Abs. 4 S. 2 StPO Der zweite Satz gestattet es bei papiernen Akten, dass an Stelle der Gewährung von Akteneinsicht Aktenkopien bereitgestellt werden. Im Umkehrschluss ist hieraus abzuleiten, dass das Gesetz bei Akten grundsätzlich von den Originaldokumenten ausgeht. Wollte man diesen Schluss nicht ziehen, wäre die Alternativgewährung im zweiten Satz kaum erklärbar. Man könnte allenfalls erwägen, dass hierdurch nicht ausgeschlossen ist, dass sich in der Akte ebenfalls Kopien befinden und dem Beschuldigten von diesen Kopien eine Kopie bereitgestellt werden kann. Da die mögliche Alternative nur bei papiernen Akten in Betracht kommt, soll hierdurch vermutlich jedoch eher dem Integritätsschutz der Originaldokumente Rechnung getragen werden. Der erste Satz könnte zum Ausdruck bringen, dass das Vertrauen zum zweckgemäßen Gebrauch der Akte, wel-

25

Vgl. etwa § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO oder Art. 72 Abs. 1 GG.

144

B. Einfachgesetzliche Auslegung

ches offenbar dem Verteidiger entgegengebracht wird, zugunsten des Beschuldigten/Angeschuldigten/Angeklagten zumindest nicht in demselben Maße besteht. Insgesamt trägt dieser Absatz für die Ausfüllung des Wortsinns somit lediglich insoweit bei, als dass die Akten vermutlich die originalen Informationsträger umfassen.

3. Zwischenergebnis Was in einem Strafverfahren nun jeweils die „Akte“ ist bzw. was unter diesen Begriff fällt, kann aus dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht eindeutig abgeleitet werden. Vom Wortlaut erfasst ist einerseits der Ansatz, nur diejenigen Informationen hierunter zu fassen, die die Staatsanwaltschaft in eigener Verantwortung dem Gericht tatsächlich vorlegt oder diesem im Falle der Anklageerhebung vorgelegt hätte. In diesem Fall bedarf es einer irgendwie gearteten Zuordnung bzw. Widmung durch die Staatsanwaltschaft. Aber auch die These, dass jegliche für das Verfahren angesammelten Informationen hierunter fallen, ist vom Wortlaut gedeckt. Der Wortlaut von § 147 Abs. 3 StPO setzt ein solches Verständnis jedoch nicht zwingend voraus. Ob die Akte – so wie es § 147 Abs. 4 S. 2 StPO andeutet – eine Ansammlung von den originalen Informationsträgern ist, bedarf ebenfalls einer genaueren Untersuchung. Gleiches gilt für die Frage, wie sich die Akte beispielsweise von den Beweisstücken unterscheidet. Eindeutiger scheint mit Blick auf den Wortlaut des § 147 Abs. 1 und 3 StPO lediglich, dass der Aktenbegriff in den jeweiligen Verfahrensabschnitten deckungsgleich ist, und auch § 147 Abs. 2 S. 1 StPO gibt eindeutig vor, dass die Akte die Gesamtheit einer Informationsansammlung darstellt.

II. Systematik Im Folgenden wird untersucht, im (Bedeutungs-)Zusammenhang mit welchen anderen Normen der Rechtsordnung der Aktenbegriff verwendet wird. § 147 StPO bzw. der hierin normierte Aktenbegriff wird nachfolgend einer systematischen Betrachtung zugeführt.26

1. Das Normgefüge im 11. Abschnitt der StPO Aufschlussreich kann zunächst eine Analyse der in demselben Abschnitt normierten Regelungen sein. § 147 StPO steht im elften Abschnitt der Strafprozessordnung „Verteidigung“. Wie die Überschrift des Abschnittes ausdrückt, sind hierin die wesentlichen Verteidigungsrechte normiert. 26

Eingehend allg. Larenz, Methodenlehre, S. 324 ff.

II. Systematik

145

a) Auswahl, Hinzuziehung und Ausschluss des Verteidigers Zu nennen ist zunächst das Recht des Beschuldigten gem. § 137 StPO, jederzeit einen Verteidiger hinzuzuziehen, und die Vorschriften, nach denen unter engen Voraussetzungen die Mitwirkung des Verteidigers im Verfahren ausgeschlossen werden kann. Gem. § 138a Abs. 1 und 2 StPO ist es möglich, einen Verteidiger auszuschließen, wenn der Verteidiger der Begehung bestimmter, im Einzelnen näher bezeichneter Straftaten verdächtig ist, wozu unter anderem die Datenhehlerei und weitere Anschlussdelikte zählen. Ansonsten kann der Verteidiger unter weiteren Umständen nur dann ausgeschlossen werden, wenn seine Mitwirkung eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik herbeiführen würde, vgl. § 138b StPO. § 138c StPO nimmt sodann auch ausdrücklich Bezug auf § 147 StPO. Die Norm regelt die Zuständigkeit für die Ausschließungsentscheidung. Während des Ausschließungsverfahrens, also bevor festgestellt wurde, ob die Voraussetzungen der Verteidigerausschließung überhaupt vorliegen, kann das Ruhen der Rechte des Verteidigers aus den §§ 147 f. StPO angeordnet werden, § 138c Abs. 3 S. 1 Hs. 1 StPO. Gem. dem zweiten Halbsatz des § 138c Abs. 3 S. 1 StPO kann das Ruhen ebenfalls hinsichtlich anderer Verfahren desselben Beschuldigten oder der Verteidigung anderer Beschuldigter in demselben Verfahren angeordnet werden. Die Wahrnehmung der ruhenden Rechte soll für die Dauer der Anordnung durch einen anderen zu bestellenden Verteidiger ausgeübt werden, § 138c Abs. 3 S. 4 StPO. Spätestens aus dem Verweis auf § 142 StPO in § 138c Abs. 3 S. 5 StPO ergeht, dass die diesbezügliche Verteidigerbestellung unabhängig davon gelten soll, ob die Verteidigung eine notwendige i. S. d. §§ 140 ff. StPO ist. Wird das Ausschließungsverfahren während der Hauptverhandlung angestrebt, so ist die Hauptverhandlung ab dem Zeitpunkt der Vorlage bis zur Entscheidung hierüber gleichzeitig zu unterbrechen oder auszusetzen, § 138c Abs. 4 S. 1 StPO. Insbesondere § 138c Abs. 3 S. 4 StPO macht demzufolge deutlich, dass die Informationsrechte aus § 147 StPO und das Kommunikationsrecht aus § 148 StPO einen hohen Stellenwert genießen. Demnach ist für die Dauer der Anordnung ein anderer Verteidiger zu bestellen, um dem Beschuldigten die Rechte aus den §§ 147 f. StPO zu sichern. Dies geht so weit, dass die Hauptverhandlung im Schwebezustand des Ausschließungsverfahrens nicht fortgeführt werden darf, obwohl hiermit nach zuvor Gesagtem nicht zwingend das Ruhen der Rechte des Verteidigers aus den §§ 147 f. StPO einhergeht und selbst im Falle einer solchen Anordnung zur Wahrung der ruhenden Rechte ein Verteidiger zu bestellen ist. § 138c Abs. 4 S. 1 StPO hebt die Bedeutsamkeit der Verteidigung und das Gewicht der §§ 147 f. StPO im Hauptverfahren mithin noch weiter hervor. Ähnlich verhält es sich mit dem Recht auf Zulassung von Ehegatten, Lebenspartnern oder gesetzlichen Vertretern als Verfahrensbeistand. Diese sind antragsgemäß als Beistand zuzulassen und in der Hauptverhandlung auf Verlangen des Angeklagten zwingend zu hören, § 149 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 StPO, wohingegen die

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

Zulassung solcher Beistände im Vorverfahren dem richterlichen Ermessen unterliegt, § 149 Abs. 3 StPO. Der Umstand, dass dem Recht, sich umfassend verteidigen zu können, ein erhebliches Gewicht beizumessen ist, zieht sich durch den gesamten Abschnitt: Dem Beschuldigten, der sich ersichtlich nicht selbst verteidigen kann, ist gem. § 140 Abs. 2 Var. 3 StPO ein Verteidiger zu bestellen. Die Entscheidung darüber, wer für die Rechte des Beschuldigten/Angeschuldigten/Angeklagten einstehen soll, trifft vordergründig der Beschuldigte/Angeschuldigte/Angeklagte selbst, § 142 Abs. 1 StPO. Hierdurch wird ebenfalls dem Umstand Rechnung getragen, dass der Beschuldigte/Angeschuldigte/Angeklagte idealerweise ein Vertrauensverhältnis zu dem Verteidiger hat oder jedenfalls tendenziell haben wird. Bietet der bestellte Verteidiger für die Wahrung der Verteidigungsrechte nicht die ausreichende Gewähr, so wird gem. § 145 Abs. 1 StPO ein neuer Verteidiger bestellt oder das Hauptverfahren ausgesetzt. Wird ein notwendiger Verteidiger erst im Laufe des Hauptverfahrens bestellt, kann das Gericht das Hauptverfahren gem. § 145 Abs. 1 StPO aussetzen; eine Unterbrechung oder Aussetzung ist dann zu beschließen, wenn der Verteidiger die Verteidigung in der erforderlichen Zeit nicht ausreichend vorbereiten kann, § 145 Abs. 3 StPO. Bei den vorstehenden Normen zeichnet sich ab, dass neben dem Vertrauensverhältnis insbesondere eine ausreichende Gelegenheit zur Vorbereitung der Hauptverhandlung sichergestellt werden soll, um eine angemessene Verteidigung zu ermöglichen. In das Gebot, eine ausreichende Verteidigung zu gewähren, reiht sich ebenfalls das in § 146 StPO normierte Verbot der Mehrfachverteidigung ein. b) Die konkreten Verteidigungsrechte Die vorstehenden Normen des elften Abschnittes konkretisieren einfachgesetzlich das verfassungs- und konventionsrechtlich verbürgte Recht auf Verteidigung im Allgemeinen. Bei genauem Hinsehen regeln die ersten fünfzehn Vorschriften zusammenfassend jedoch nur, dass man unter den Voraussetzungen der §§ 137 Abs. 1 S. 2, 138–139, 146 StPO jederzeit einen Verteidiger hinzuziehen kann und in bestimmten Fällen ein Verteidiger gem. der §§ 140 ff. StPO notwendigerweise zu bestellen ist. Auch § 149 StPO erweitert letztlich nur das Anwesenheitsrecht und den Gehörsanspruch auf Ehegatten, Lebenspartner und gesetzliche Vertreter. Welche Verteidigungsrechte aber konkret bestehen, wird in diesem Abschnitt nur in zwei Vorschriften normiert, nämlich in § 147 StPO (Akteneinsicht u. a.) und § 148 StPO (Kommunikation). Dass keine weiteren konkreten Verteidigungsrechte in diesem Abschnitt normiert sind, bringt die zentrale Bedeutung der Informations- und Kommunikationsrechte für das Verteidigungsrecht im Allgemeinen zum Ausdruck. Die ersten vier Absätze des § 147 StPO wurden im Zusammenhang mit der grammatikalischen Betrachtung bereits untersucht. Der zweite Absatz deutet unter systematischen Gesichtspunkten darüber hinaus an, dass die Einschrän-

II. Systematik

147

kungsmöglichkeit einer Akteneinsicht aufgrund der sonst drohenden Gefährdung des Untersuchungszwecks lediglich bis zum Vermerk über den Abschluss der Ermittlungen besteht. In der Konsequenz liegt es nahe, dass nach Vermerk des Ermittlungsabschlusses das Akteneinsichtsrecht ohne Einschränkungen besteht. Dies könnte für ein weites Aktenbegriffsverständnis sprechen, weil das Gesetz Einschränkungen offenbar eher auf der Ebene der Ausübung des Einsichtsrechts vornimmt und den Umfang der Akte selbst jedenfalls nicht ausdrücklich beschränkt. Zumindest ist eine Sortierung in Akten- und Nichtaktenbestandteilen in § 147 StPO nicht ausdrücklich vorgesehen. Weiter wird im zweiten Absatz erkennbar, dass dem Verteidiger durch die Akteneinsicht oder einer vergleichbaren Zurverfügungstellung wesentlicher Informationen eine angemessene Verteidigung ermöglicht werden soll und hierbei das Strafverfolgungsinteresse dem Akteneinsichtsrecht wechselseitig gegenübersteht bzw. hinter diesem zum Teil auch zurücktritt. Im vierten Absatz des § 147 StPO fällt weiter auf, dass das dem Beschuldigten/ Angeschuldigten/Angeklagten zustehende Akteneinsichtsrecht nur gewährt werden soll, soweit der Untersuchungszweck, auch in anderen Strafverfahren, nicht gefährdet werden kann und keine überwiegenden schützenswerten Interessen Dritter entgegenstehen. Diese beiden Einschränkungen finden in § 147 Abs. 1 StPO, dem Akteneinsichtsrecht des Verteidigers, demgegenüber keine Erwähnung und gehen über die vergleichbare Einschränkung des Einsichtsrechts des Verteidigers in § 147 Abs. 2 S. 1 StPO hinaus. Dies legt nahe, dass die Einschränkungen für das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers über § 147 Abs. 2 S. 1 StPO hinaus gerade nicht gelten sollte. Auch das Beweisstückbesichtigungsrecht wird, im Unterschied zum Normtext des § 147 Abs. 1 StPO, nur unter Aufsicht gewährt. Ob und, wenn ja, welche Auswirkungen dieser Aspekt für den Aktenbegriff hat, kann bis hierin jedoch ebenfalls nur gemutmaßt werden. Erkennbar wird nämlich lediglich die gehobene verfahrensrechtliche Stellung des Verteidigers im Vergleich zum Beschuldigten/Angeschuldigten/Angeklagten, was allerdings betreffend seine Akteneinsicht eher für ein weites Aktenbegriffsverständnis spricht. Der fünfte Absatz von § 147 StPO ist prima facie ergiebiger. Er regelt die Zuständigkeit und den Rechtsschutz bei Versagung von Akteneinsicht. Im zweiten Satz werden drei Situationen genannt, bei denen gerichtlicher Rechtsschutz garantiert ist: zum einen die Akteneinsichtsverweigerung nach Vermerk des Ermittlungsabschlusses, als zweites die Akteneinsichtsverweigerung bzgl. der gem. Absatz 3 uneingeschränkt zur Verfügung zu stellenden Protokolle und Gutachten sowie schließlich die Akteneinsichtsverweigerung im Falle einer freiheitsentziehenden Maßnahme. Die in Absatz 3 aufgeführten Dokumente sollen ausdrücklich uneingeschränkt im Wege der Akteneinsicht zugänglich sein. Im zweiten Absatz deutet sich an, dass das Akteneinsichtsrecht entsprechend auch nach Vermerk des Ermittlungsabschlusses nicht einschränkbar ist. Bei freiheitsentziehenden Maßnahmen soll das Akteneinsichtsrecht trotz der großen Bedeutung des Strafverfolgungsinteresses jedenfalls weitestgehend gewährt werden.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

Den drei Konstellationen in § 147 Abs. 5 S. 2 StPO wird einerseits also eine hervorgehobene Bedeutung beigemessen. Andererseits ergibt sich aus der Vorschrift, dass in dem Zeitraum, in dem die Staatsanwaltschaft über die Akteneinsichtsgewährung entscheidet, lediglich dann keine gerichtliche Entscheidung gem. § 147 Abs. 5 S. 2 StPO beantragt werden kann, wenn die Zurückhaltung bestimmter Akten oder Aktenteile auf § 147 Abs. 2 StPO gestützt wird. Es scheint damit so, als sei allenfalls der Schutz des Untersuchungszwecks ein vergleichsweise gleichwertiger Aspekt zur Einschränkung des Akteneinsichtsrecht. Ob sich diese Tendenz jedoch allenfalls auf den Umfang der Akteneinsichtsgewährung bezieht oder auf den Aktenbegriff selbst auszuweiten ist, bedarf jedoch ebenfalls weiterer Untersuchung. § 147 Abs. 6 S. 2 StPO legt der Staatsanwaltschaft zudem die Verpflichtung auf, entweder dem Verteidiger oder dem verteidigerlosen Beschuldigten mitzuteilen, wenn die Einschränkungsmöglichkeit aus § 147 Abs. 2 S. 1 StPO weggefallen ist – „soweit das Recht zur Akteneinsicht wieder uneingeschränkt besteht“. Gem. § 147 Abs. 6 S. 1 StPO ist die Anordnung der Akteneinsichtsversagung spätestens mit dem Ermittlungsabschluss aufzuheben. Der sechste Absatz bestätigt damit das, was schon in § 147 Abs. 2 S. 1 StPO angeklungen ist: nach Ermittlungsabschluss ist das Akteneinsichtsrecht endgültig nicht mehr einzuschränken. Auch an dieser Stelle zeigt sich die hohe Bedeutung des Akteneinsichtsrechts für die Verteidigung, was tendenziell ebenfalls eher für ein weiteres Begriffsverständnis spricht. Die Kommunikation zwischen Verteidiger und Beschuldigten/Angeschuldigten/Angeklagten ist gem. § 148 Abs. 1 StPO gestattet. Dies auch dann, wenn sich Letztere nicht auf freiem Fuß befinden. Insofern kann das Kommunikationsrecht auch durch etwaige Haftgründe, wie Flucht, Fluchtgefahr und Verdunkelungsgefahr (vgl. § 112 Abs. 2 StPO), und demnach durch das Interesse an der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs nicht beeinträchtigt werden. Nur in den engen Grenzen des § 148 Abs. 2 StPO – namentlich im Zusammenhang mit terroristischen Vereinigungen – kann der Besuch oder die Telekommunikation gerichtlich kontrolliert werden. Dies wird in § 119 Abs. 4 S. 1 StPO nochmals klargestellt. Auch an dieser Stelle zeigt sich letztlich der hohe Stellenwert, den das Gesetz dem Recht auf Verteidigung, hier konkret in Form des Rechts auf Kommunikation mit dem Verteidiger, beimisst. c) Zwischenergebnis Der elfte Abschnitt unterstreicht die Bedeutung des Verteidigungsrechts im Allgemeinen und die Informationsrechte aus § 147 StPO im Besonderen. Aspekte, wie der eines bestmöglichen Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Mandant sowie eine ausreichende Gelegenheit zur Hauptverhandlungsvorbereitung, sind erkennbar. Spätestens mit Ermittlungsabschluss soll das Akteneinsichtsrecht uneingeschränkt bestehen. Aufgrund der, mehrfach zum Ausdruck gekommenen, Gewichtigkeit des Akteneinsichtsrecht fügt sich ein weites Verständnis

II. Systematik

149

des Aktenbegriffes tendenziell harmonischer in das Normgefüge dieses Abschnittes ein. Der hohe Stellenwert des Verteidigungsrechts samt seinen Ausprägungen in § 147 StPO und § 148 StPO zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Abschnitt. Was dies konkret für den Aktenbegriff bedeutet, kann jedoch auf Grundlage der bisher gewonnenen Erkenntnisse nicht hinreichend beurteilt werden.

2. Normativ gleichwertige Rechte Wie die vorstehenden Ausführungen gezeigt haben, verdeutlicht der elfte Abschnitt der StPO den hohen Stellenwert von § 147 StPO. Aber auch an weiteren Stellen zeigt sich, dass der Gesetzgeber dem Akteneinsichtsrecht eine besondere Bedeutung beimisst. In der StPO wird das Akteneinsichtsrecht an mehreren Stellen mit anderen Rechten in Zusammenhang gebracht, die allesamt eine herausgehobene Stellung genießen. Zunächst ist der verhaftete Beschuldigte auf sein „eigenes“ Akteneinsichtsrecht und auch auf dasjenige des Verteidigers hinzuweisen, § 114b Abs. 2 S. 1 Nr. 7, S. 2 StPO. Das Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten und des Verteidigers wird in § 114b Abs. 2 S. 1 StPO mit einer Vielzahl von Schutzmechanismen zur Gewährleistung eines rechtsstaatlichen Verfahrens und einer ausreichenden Verteidigung in Zusammenhang gebracht. Hierzu zählt die Belehrung über die unverzügliche Vorführungspflicht, das Schweigerecht, das Beweisantragrecht, das Kommunikationsrecht mit dem Verteidiger und ggfs. die Möglichkeit, einen notwendigen Verteidiger zu bestellen, das Recht, sich von einem selbst ausgewählten Arzt untersuchen zu lassen, und das Recht, eine nahestehende Person zu benachrichtigen. Weiter ist der Beschuldigte auf die zulässigen Rechtsmittel und darauf, dass er erforderlichenfalls einen Dolmetscher unentgeltlich hinzuziehen kann, hinzuweisen. Das Akteneinsichtsrecht wird gemeinsam mit weiteren als erkennbar bedeutend angesehenen Rechten des Beschuldigten in gewisser Weise „zusammengebracht“ und mit diesen Beschuldigtenrechten ersichtlich „ebenbürtig gestellt“. Noch deutlicher wird das Gewicht des Akteneinsichtsrechts für die Verteidigung in § 304 Abs. 4 StPO. Der zweite Satz des § 304 Abs. 4 StPO normiert im ersten Halbsatz die grundsätzliche Unzulässigkeit der Beschwerde gegen Beschlüsse und Verfügungen der Oberlandesgerichte. Dies soll gem. § 304 Abs. 4 S. 2 Hs. 2 Nr. 4 StPO ausnahmsweise nicht gelten, wenn das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug zuständig ist und der angegriffene Beschluss oder die Verfügung die Akteneinsicht betreffen. Auch an dieser Stelle fällt auf, dass die neben dem Akteneinsichtsrecht in § 304 Abs. 4 S. 2 Hs. 2 StPO aufgeführten Ausnahmetatbestände eine hohe Bedeutung für die Verteidigung haben. Enumerativ werden beispielsweise auch Beschlüsse/ Verfügungen betreffend bestimmte freiheitsentziehende Maßnahmen, ausgewählte Ermittlungsmaßnahmen, die Nichteröffnung/Einstellung des Verfahrens, die Anordnung der Durchführung/Fortsetzung der Hauptverhandlung in Ab-

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

wesenheit des Angeklagten (§ 231a StPO), das Wiederaufnahmeverfahren und die Einziehung/Unbrauchbarmachung genannt. Auch die sofortige Beschwerde gegen die Entscheidung, durch die der Verteidiger vom Verfahren ausgeschlossen wurde oder die einen Fall des § 138b StPO betriff, bleibt ausnahmsweise zulässig, § 304 Abs. 4 S. 2 Hs. 3 StPO. Die aufgezählten Situationen betreffen, von der Vermögensabschöpfung abgesehen, daher zusammengefasst einerseits also die Durchsetzung des Strafverfolgungsinteresses auf Seiten des Staates und auf der anderen Seite das Recht auf Verteidigung. Dass hierbei ausdrücklich das Akteneinsichtsrecht hervorgehoben wird, zeigt wiederholt die hohe Bedeutung des Akteneinsichtsrecht für die Verteidigung. Der Vergleich zu den hierneben genannten Rechten und Pflichten macht dies erneut deutlich und spricht indiziell für einen eher weiten Aktenbegriff, da das Akteneinsichtsrecht neben den vorerwähnten, besonders sensiblen Materien zum Katalog der ausnahmsweise beschwerdefähig bleibenden Rechte zählt. Genauere Konturen können dem Aktenbegriff indes auch hiernach nicht gegeben werden.

3. Die §§ 32 ff. StPO Als nächstes soll das erste Buch, die allgemeinen Vorschriften der Strafprozessordnung, auf weitere Erkenntnisse für die Fragestellung hin untersucht werden. Seit der gesetzlichen Einführung der elektronischen Akte im Strafverfahren, worauf später noch genauer einzugehen sein wird, ist der vierte Abschnitt des ersten Buches neu gefasst worden. Dieser trägt nun die amtliche Überschrift „Aktenführung und Kommunikation im Verfahren“ und beinhaltet sieben Vorschriften. Zunächst hat der Gesetzgeber mit der Einführung dieses Abschnittes klargestellt, dass ein elektronisch geführter Informationsträger ebenfalls Akte oder Aktenbestandteil sein kann. „Die Akten können elektronisch geführt werden“, § 32 Abs. 1 S. 1 StPO. Der gewandelte Sprachgebrauch findet nunmehr auch in der StPO seinen unmissverständlichen Niederschlag. a) Elektronische Dokumente Es fällt auf, dass in den §§ 32a f. StPO, 32e Abs. 3 S. 1, 2 StPO und in 32f Abs. 4 S. 2 StPO ein neuer27 Begriff eingeführt wurde – das elektronische Dokument. Gem. § 32a Abs. 1 S. 1 kann ein solches elektronisches Dokument bei Strafverfolgungsbehörden und Gerichten unter nachfolgend genannten und gesetzlich normierten Voraussetzungen eingereicht werden. Hierfür muss das Dokument zunächst gem. § 32a Abs. 2 S. 1 StPO geeignet sein und ggfs. den Erfordernissen aus § 32a Abs. 3 StPO genügen. Als eingegangen wird das elektronische Dokument erst dann angesehen, „sobald es auf der für den Empfang bestimmten Ein27 Der Begriff wurde mit Einführung der §§ 32 ff. StPO ebenfalls in § 249 Abs. 1 S. 2 StPO eingefügt: BGBl. 2017 I, 2208, 2212.

II. Systematik

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richtung der Behörde oder des Gerichts gespeichert ist“, § 32a Abs. 5 S. 1 StPO. Bei Ungeeignetheit für die Bearbeitung gilt das Dokument als nicht eingegangen, § 32a Abs. 6 S. 1 StPO. Für elektronische Dokumente gelten weitere strenge Formerfordernisse. Gem. § 32b Abs. 1 S. 1 StPO ist zur Erstellung eines strafverfolgungsbehördlichen oder gerichtlichen Dokuments als elektronisches Dokument die Hinzufügung aller verantwortenden Personen erforderlich. Dies muss ggfs. unter dem weiteren Formerfordernis aus § 32b Abs. 1 S. 2 StPO geschehen. Wichtiger für die hiesige Untersuchung scheint § 32b Abs. 2 StPO. Hiernach ist ein elektronisches Dokument „zu den Akten gebracht, sobald es […] in der elektronischen Akte gespeichert ist“. Die Formulierung wird in ähnlicher Weise noch an weiteren Stellen in der StPO verwendet. Ob mit dieser Formulierung das Erfordernis eines etwaigen Zuführungs- oder Widmungsakts bzgl. eines Dokumentes zum Ausdruck kommt, wird deshalb im weiteren Verlauf gesondert untersucht. b) Ausgangsdokumente Ein weiterer neuer28 Begriff ist in § 32e StPO eingeführt – das Ausgangsdokument. Bezüglich dieses ergibt sich aus § 32e Abs. 1 StPO, dass zur Einhaltung der ursprünglichen Aktenform (papiern oder elektronisch) die Dokumente ggfs. in diese Form zu übertragen sind. Dokumente, die der ursprünglichen Form nicht entsprechen und deshalb zu übertragen sind, nennt das Gesetz „Ausgangsdokumente“. Handelt es sich bei diesen Ausgangsdokumenten um ein sichergestelltes Beweismittel, so kann dieses in die entsprechende Form, in der die Akte geführt wird, übertragen werden, § 32e Abs. 1 S. 2 StPO. Im Übrigen sind sie zu übertragen, § 32e Abs. 1 S. 1 StPO. Diese Ausgangsdokumente können zudem, sofern es sich nicht um sichergestellte Beweismittel handelt, unter denselben Voraussetzungen wie sichergestellte Beweisstücke besichtigt werden, § 32e Abs. 5 S. 1 StPO. Ob hiermit gemeint sein soll, dass die Ausgangsdokumente keine „Akten“ sein sollen, macht das Gesetz an dieser Stelle nicht deutlich. Dagegen spräche, dass im darauffolgenden Satz ausdrücklich Bezug zum Akteneinsichtsrecht genommen wird. Andererseits verwendet der Gesetzgeber bewusst die verschiedenen Begriffe „Akte“ und „Ausgangsdokument“. Möglich ist ebenfalls, dass es sich bei dem Ausgangsdokument um einen Teilbereich/Unterfall der „Akte“ handelt. Auch insofern bedarf es weitergehender Untersuchungen.

28 Der Begriff wurde mit Einführung der §§ 32 ff. StPO ebenfalls in § 244 Abs. 5 S. 3 StPO eingefügt: BGBl. 2017 I, 2208, 2212.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

c) Ein Zuführungsakt bei elektronischen Akten? § 32b Abs. 2 StPO bestimmt, wann ein elektronisches Dokument zu einer elektronischen Akte gebracht worden ist. Dies soll der Fall sein, sobald es von der verantwortenden Person oder auf deren Veranlassung in der elektronischen Akte gespeichert ist. Ob hierin das Erfordernis eines erforderlichen Zuführungsakts zum Ausdruck gebracht wird, soll gesondert und im Zusammenspiel mit weiteren Normen untersucht werden. d) § 32f StPO Zunächst wird in § 32f Abs. 5 S. 1 StPO zwischen Akten, Dokumenten, Ausdrucken und Abschriften unterschieden. Dies könnten abstufende Unterscheidungen sein. In Betracht zu ziehen ist auch, dass es sich bei der Akte im Verhältnis zu den weiter genannten Informationsträgern um ein Aliud handelt. Ähnliche Unterscheidungen fallen auch in anderen Normen der StPO auf, weshalb die Unterscheidung ebenfalls erst im weiteren Verlauf abschließend untersucht wird. Weiter regelt § 32f StPO unter anderem, wie die Akteneinsicht im Allgemeinen zu gewähren ist. Aus dem Umstand, dass die für den Beschuldigten geltenden Einschränkungen in § 147 Abs. 4 S. 1 StPO in § 147 Abs. 1 StPO keine Erwähnung finden und auch über die Einschränkung in § 147 Abs. 2 S. 1 StPO hinausgehen, lässt sich schließen, dass das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers im Übrigen nicht beschränkbar ist, jedenfalls nicht mehr ab dem Vermerk der Staatsanwaltschaft, dass die Ermittlungen abgeschlossen sind. Eine § 147 Abs. 4 S. 1 StPO vergleichbare Einschränkung findet sich jedoch wiederholt in § 32f StPO. In 32f Abs. 1 S. 4 StPO ist bzgl. einer elektronischen Akte und in § 32f Abs. 2 S. 2, S. 3 StPO bzgl. der papiernen Akte für die dort näher normierten Formen der Akteneinsichtsgewährung vorausgesetzt, dass der Akteneinsicht keine „wichtigen Gründe“ entgegenstehen. Der aus dem Vergleich zwischen § 147 Abs. 4 S. 1 StPO und §§ 147 Abs. 1, 2 S. 1 StPO abgeleitete Gedanke, dass die Stellung des Verteidigers gegenüber dem Beschuldigten auch i. R. d. Akteneinsichtsrecht höherrangig ist, wird hierdurch jedoch nicht erschüttert. Dass das Gesetz diese Wertung trifft, wird durch § 32f StPO vielmehr bestätigt. Die höherranginge Stellung des Verteidigers i. R. v. § 147 StPO wird daran erkennbar, dass sich bei Ersterem auch im Falle des Vorliegens wichtiger Gründe an der Informationsgewährung an sich nichts ändern soll; lediglich die Form der Einsichtsgewährung kann hiervon abhängen. Bei der elektronischen Akte führt das Entgegenstehen wichtiger Gründe lediglich dazu, dass anstelle der Bereitstellung der elektronischen Akte zum Abruf die Einsicht ausnahmsweise ohne besonderen Antrag durch Einsichtnahme in den Diensträumen oder durch Übermittlung eines entsprechenden Aktenausdrucks/Datenträgers gewährt wird, § 32f Abs. 1 S. 4 StPO. Auch die Einsicht in die papierne Akte ist bei Entgegenstehen wichtiger Gründe zumindest durch die Einsichtnahme der Akten in den Diensträumen zu gewähren.

II. Systematik

153

Das Gesetz unterscheidet demnach zwischen wichtigen Gründen und schutzwürdigen Interessen Dritter, sodass sich die Einschränkungsmöglichkeiten bei einem Verteidiger einerseits und den Beschuldigten andererseits unterscheiden bzw. sich dem Akteneinsichtsrecht gegenläufige Aspekte bei dem Akteneinsichtsrecht des Verteidigers nicht gleichermaßen auswirken wie bei dem des Beschuldigten. Ob dies Auswirkungen auf den Aktenbegriff hat, kann noch nicht abschließend beantwortet werden. Denkbar ist, dass dieser Aspekt lediglich im Zusammenhang mit dem Umfang des Einsichtsrechts, ohne Auswirkungen auf die Reichweite des Aktenbegriffs, relevant ist.

4. § 58a Abs. 2 S. 3 StPO Nimmt man die sich an die §§ 32 ff. StPO anschließenden Vorschriften der StPO in den Blick, so wird auf die Akteneinsicht als nächstes in § 58a StPO Bezug genommen. Die Norm regelt den Umgang mit audiovisuellen Aufzeichnungen, die zum Schutz bestimmter Zeugen(aussagen) gemacht wurden. Gem. § 58a Abs. 2 S. 3 StPO sind die §§ 147, 406e StPO mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass den Berechtigten Kopien der Aufzeichnungen überlassen werden können. Man könnte vermuten, dass der Gesetzgeber e contrario also davon ausgeht, dass die Aushändigung von Aufzeichnungskopien in den übrigen Fällen nicht stattzufinden hat, etwa deshalb, weil Aufzeichnungen oder deren Kopien grundsätzlich nicht zu den Akten gehören. Andernfalls stellt sich die Frage, warum es sonst der Regelung in § 58a Abs. 2 S. 3 StPO bedurfte. Eine Erklärung hierfür könnte sein, dass die Akten grundsätzlich die Informationsträger im Original, bei Aufzeichnungen also die Original- bzw. Rohdatei, sind und in den Fällen des § 58a StPO ausnahmsweise eine Einsicht „nur“ in die Kopien zu gewähren ist. § 58a Abs. 2 S. 3 StPO würde das grundsätzliche Einsichtsrecht in die Originalakten also gewissermaßen einschränken, indem in den Fällen audiovisueller Aufzeichnungen „nur“ Kopien herausgegeben werden. Dies würde die bisherige Vermutung, dass Akten möglicherweise die originalen Informationsträger umfassen, bestätigen. Ebenso könnte der Grund darin liegen, dass nach der Intention des historischen Gesetzgebers digitale Akten-/Beweismittelkopien – jedenfalls bei BildTon-Aufzeichnungen – generell nicht unter das Akteneinsichtsrecht i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO fallen; § 58a Abs. 2 S. 3 StPO würde § 147 StPO demnach erweitern. Bell geht etwa davon aus, dass aus § 58a Abs. 2 S. 3 StPO der Umkehrschluss zu ziehen sei, dass grundsätzlich kein Anspruch der Verteidigung auf Überlassung einer staatlich hergestellten Beweisstückkopie bestehe.29 Als dritte Möglichkeit könnte der Gesetzgeber davon ausgegangen sein, dass der Erhalt einer Aufzeichnungskopie schon von § 147 Abs. 1 StPO umfasst ist. Der Verweis in § 58a Abs. 2 S. 3 StPO wäre demzufolge lediglich aus Klarstellungsgründen eingeführt worden. 29

Bell, Akteneinsicht, S. 74.

154

B. Einfachgesetzliche Auslegung

Schließlich könnte der Gesetzgeber bei einer grundsätzlichen Behandlung von Akten-/Beweisstückkopien als Aktenbestandteile eine Herausgabe gem. § 147 Abs. 1 StPO in Fällen von Bild-Ton-Aufzeichnungen deshalb als unzulässig ansehen, weil regelmäßig wichtige Gründe entgegenstehen (vgl. § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. bzw. § 32f Abs. Abs. 1 S. 4, Abs. 2 S. 3 StPO); die Schaffung von § 58a Abs. 2 S. 3 StPO würde also eine Rückausnahme zu dem Ausschluss des ehemaligen § 147 Abs. 4 S. 1 StPO (jetzt § 32f Abs. 1 S. 4, Abs. 2 S. 3 StPO) darstellen. In der Konsequenz wären solche Aufzeichnungen jedoch als Aktenbestandteile anzusehen, deren Einsicht jedoch (grundsätzlich) nicht gestattet ist. Die Vorschrift setzt jedenfalls das Akteneinsichtsrecht zu Aufzeichnungen zeugenschaftlicher Vernehmungen in Bezug und regelt hierbei ein Herausgaberecht nur von Aufzeichnungskopien. Interessant für die weitere Analyse ist zum einen die Frage, ob Akten gemäß voriger Untersuchung die Originale oder doch nur die Kopien sind, und zum anderen, wie elektronische Daten, bspw. die durchaus vergleichbaren TKÜ-Aufzeichnungen, in den Kontext von § 147 StPO einzuordnen sind. § 58a Abs. 2 S. 3 StPO ist für die hiesige Untersuchung deshalb von essentieller Bedeutung.30 Die Norm soll im Folgenden einer genaueren Prüfung unterzogen werden, deren Ziel es ist, den Verweis in § 58a Abs. 2 S. 3 StPO auf gesicherter Grundlage auslegen zu können. Der so verstandene Verweis in § 58a Abs. 2 S. 3 StPO ist innerhalb der systematischen Auslegung des § 147 StPO zu berücksichtigen. a) Gesetzgeberische Intention und Normgenese von § 58a Abs. 2 S. 3 StPO Wie der Sinngehalt einer Norm zu verstehen ist, kann sich insbesondere aus der Normgenese und den Gesetzesmaterialien ergeben.31 aa) Entstehung der ersten Gesetzesfassung von § 58a Abs. 2 StPO § 58a StPO wurde am 1. Dezember 1998 in die StPO eingeführt.32 Der Verweis auf die §§ 147, 406e lautete in der ursprünglichen Fassung des § 58a Abs. 2 S. 2 StPO: „§ 100b Abs. 6, §§ 147, 406e finden entsprechende Anwendung“33

(1) Bundesratsentwurf Der erste hierzu relevante34 Gesetzesentwurf stammt vom Bundesrat.35 Im Rahmen dieses Gesetzesentwurfes sollte das Spannungsverhältnis zwischen der star30 Offen gelassen wurde die Einordnung der Aufzeichnungen gem. § 58a StPO als Aktenbestandteil bspw. von Lauterwein, Akteneinsicht, S. 145. 31 Vgl. hierzu nur Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 780 ff. 32 BGBl. 1998 I, 820. 33 BGBl. 1998 I, 820. 34 Zurückzuführen ist die Einführung von § 58a StPO, soweit ersichtlich, auf den Gesetzesentwurf BT-Drs. 13/3128, bei dem es jedoch primär um den „Opferanwalt“ ging. 35 BR-Drs. 175/96 (B).

II. Systematik

155

ken Vernehmungsbelastung von Kindern und Jugendlichen einerseits und der Wahrheitsfindung im Strafverfahren andererseits schonender ausgeglichen werden als bislang.36 Die Interessen der kindlichen und jugendlichen Zeugen sollten weiter in den Vordergrund gerückt werden.37 Ziel war unter anderem die Schaffung einer Rechtsgrundlage, die unter bestimmten Voraussetzungen – zur Aufweichung des Unmittelbarkeitsprinzips, nach dem ein Zeuge grundsätzlich in der Hauptverhandlung zu vernehmen ist38 – eine Bild-Ton-Übertragung kindlicher Zeugen in die Hauptverhandlung ermöglicht (sog. Mainzer-Modell).39 Nur der sich hieran anschließende Regelungsentwurf zum Umgang mit diesen Bild-TonAufzeichnungen soll hierbei näher betrachtet werden. Der Regelungsgehalt des später eingeführten § 58a StPO sollte zunächst in § 168e StPO-E normiert werden. § 168e Abs. 1 StPO-E sollte regeln, wann eine Zeugenaussage audiovisuell aufgezeichnet werden soll; in einem zweiten Absatz sollte hinsichtlich der wesentlichen Teile der Aufzeichnung eine Verschriftungspflicht eingeführt werden.40 Die Landesregierungen wollten in diesem Zusammenhang zunächst § 147 Abs. 5 StPO reformieren. Dieser sollte wie folgt lauten: „(5) Auf Bild-Ton-Aufzeichnungen nach § 168 e findet Abs. 4 keine Anwendung. Das Vervielfältigen solcher Aufzeichnungen ist nicht gestattet.“41

Zur Begründung wird ausgeführt, dass Bild-Ton-Aufzeichnungen zunächst in Bezug auf die Persönlichkeitsrechte, insbesondere die Intimsphäre, eingriffsintensiver seien als etwa Verschriftungen oder akustische Aufnahmen.42 Da der Bundesrat bei den Aufzeichnungen offenbar von einem Recht auf „Zugang zu den Akten“43 ausgeht und weiter annimmt, es stehe „grundsätzlich außer Zweifel, daß der Verteidiger in die Aufzeichnungen Einsicht erhalten muß, um die Verteidigung auf einer ausreichenden Informationsgrundlage führen zu können, und daß Abschriften der Verschriftung der Bild-Ton-Aufzeichnungen nicht ausreichen“,44

sollte durch § 147 Abs. 5 Satz 1 StPO-E als Ausnahme hierzu ein Mitgabeverbot geregelt werden. Mit dem Zugang zu den Akten und der Einsicht in diese Aufzeichnungen war auch das Akteneinsichtsrecht – und nicht etwa allgemein formuliert das „Einsichts- und Besichtigungsrecht aus § 147 StPO“ – gem. § 147 Abs. 1, 4 StPO a. F. gemeint, denn in der Begründung wird weiter ausgeführt: 36

BR-Drs. 175/96 (B), 1. BR-Drs. 175/96 (B) Anlage, S. 5. 38 BR-Drs. 175/96 (B) Anlage, S. 5. 39 BR-Drs. 175/96 (B), 2. 40 BR-Drs. 175/96 (B), Anlage, S. 2. 41 BR-Drs. 175/96 (B) Anlage, S. 1. 42 BR-Drs. 175/96 (B) Anlage, S. 7. 43 BR-Drs. 175/96 (B) Anlage, S. 7; BT-Drs. 13/4983, 5. 44 BR-Drs. 175/96 (B) Anlage, S. 7; BT-Drs. 13/4983, 5. 37

156

B. Einfachgesetzliche Auslegung

„Satz 1 stellt klar, daß der Verteidiger keinen Anspruch auf eine Mitgabe von Bild-TonAufzeichnungen nach § 168 e in seine Geschäftsräume oder seine Wohnung besitzt.“45

Der gesetzgeberische Wille könnte an dieser Stelle dahingehend gedeutet werden, dass eine Mitgabe von Bild- oder Tonaufzeichnungen grundsätzlich zulässig ist und nur in dem Fall einer audiovisuellen Aufzeichnung ausgeschlossen sein soll. Ein solcher Schluss ist jedoch nicht zwingend, wenn man die weitere Formulierung der Begründung berücksichtigt, in der es heißt: „Eigentlicher Regelungsgehalt ist Satz 2: Der Verteidiger wird darauf angewiesen sein, die Aufzeichnungen im Justizbereich anzusehen. Das Herstellen einer Kopie wird wegen der Schutzwürdigkeit der Aufzeichnungen untersagt.“46

Zum einen wird angeführt, dass der Satz 1 lediglich eine Klarstellungsfunktion habe, sodass die zu diesem Zeitpunkt geltende Rechtslage – kein Anspruch auf Mitgabe von Bild-Ton-Aufzeichnungen – möglicherweise nur deklaratorischen Charakter gehabt haben könnte. Weiter soll dem Satz 2 der eigentliche Regelungsgehalt zukommen und zwar insoweit, als dass das Anfertigen von Kopien untersagt werden soll. Diese Formulierungen deuten darauf hin, dass der Bundesrat davon ausging, dass ein Mitgaberecht i. S. v. § 147 Abs. 4 StPO a. F. bzgl. der Originalaufzeichnung grundsätzlich schon de lege lata nicht bestand, wohingegen das Recht der Verteidigung, Kopien herzustellen bzw. sich eine Aufzeichnungskopie übergeben zu lassen, offenbar als geltendes Recht angesehen wurde. Aus diesem Grund kommt insgesamt nicht eindeutig (genug) zum Ausdruck, ob die Kopien einer Aufzeichnung als Aktenbestandteile eingeordnet wurden oder ob lediglich ein Recht bestand, die Originalaufzeichnung als Beweisstück zu kopieren bzw. eine Kopie zu erhalten. Der Interessenkonflikt zwischen den Grundrechten der kindlichen Zeugen einerseits und dem Beschuldigten bzw. der Verteidigung andererseits sollte dadurch gelöst werden, dass in § 168e Abs. 2 StPO-E eine Verschriftungspflicht bzgl. der wesentlichen Teile der Aufzeichnung normiert werden sollte,47 wobei diese Verschriftung Akteninhalt sein sollte,48 sodass sich die Verteidigung diese Aktenbestandteile im Wege der Akteneinsicht gem. § 147 Abs. 1, 4 StPO a. F. hätte übersenden lassen können. Der Bundesrat hielt diese Verschriftungspflicht für die Herbeiführung von Waffengleichheit zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung für zwingend notwendig.49 Auch einer unzumutbaren Beeinträchtigung der Verteidigung werde auf diese Weise entgegengewirkt.50 Zusammenfassend geht der Bundesrat in diesem Entwurf also davon aus, dass die Schutzbedürftigkeit audiovisuell vernommener, kindlicher Zeugen sehr hoch 45

BR-Drs. 175/96 (B) Anlage, S. 8; BT-Drs. 13/4983, 5. BR-Drs. 175/96 (B) Anlage, S. 8; BT-Drs. 13/4983, 5. 47 BR-Drs. 175/96 (B) Anlage, S. 2; BT-Drs. 13/4983, 3. 48 Vgl. BR-Drs. 175/96 (B) Anlage, S. 9; BT-Drs. 13/4983, 5. 49 BR-Drs. 175/96 (B) Anlage, S. 9; BT-Drs. 13/4983, 5 f. 50 BR-Drs. 175/96 (B) Anlage, S. 8; BT-Drs. 13/4983, 5 f. 46

II. Systematik

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anzusiedeln sei und deshalb keine Vervielfältigung der Aufzeichnungen vorgenommen werden dürfe. Es wird zwar offenbar davon ausgegangen, dass die Einführung einer solchen Norm wie § 147 Abs. 5 StPO-E (insbesondere § 147 Abs. 5 S. 2 StPO-E) deshalb notwendig sei, weil ansonsten ein Recht, Kopien der BildTon-Aufzeichnung anzufertigen, bestünde. Ob diese Kopie dann aber als Aktenbestandteil oder etwa (möglicherweise ebenso wie die Originalaufzeichnung) nur als Beweisstück anzusehen sei, ergibt sich jedoch nicht hinreichend klar. Berücksichtigt man allerdings, dass der Schutz kindlicher Zeugen durch diesen Gesetzesentwurf weiter verstärkt werden sollte, „ohne dabei das unabdingbare Ziel einer rechtsstaatlichen Urteilsfindung im Strafprozeß außer Acht zu lassen“,51 kann die Möglichkeit, dass § 147 Abs. 5 StPO-E das Akteneinsichtsrecht einschränken sollte, jedoch nicht ausgeschlossen werden. Wenn in § 147 Abs. 4 StPO a. F. nur das Einsichtsrecht in die Akten konkretisiert wurde und § 147 Abs. 5 StPO-E auf den Absatz 4 ausdrücklich Bezug nimmt, liegt vielmehr die Einordnung solcher Aufzeichnungen als Aktenbestandteil nahe. Zwingend ist ein solcher Schluss aufgrund der unklaren Entwurfsbegründung jedoch nicht. (2) Stellungnahme der Bundesregierung Die Bundesregierung hat zum Gesetzesentwurf des Bundesrates Stellung bezogen und ausgeführt, dass es einer Reformierung von § 147 Abs. 5 S. 1 StPO nicht bedürfe. Die Bild-Ton-Aufzeichnung sei nämlich dann als Beweisstück anzusehen, wenn es der Verteidigung beispielsweise auf das Vernehmungsverhalten ankäme; für den Fall, dass die Verteidigung den Inhalt der Aufzeichnung nachvollziehen wolle, würde die Aufzeichnung zwar als Aktenbestandteil zu behandeln sein, jedoch würde die der Herausgabe innewohnende Gefahr der Beeinträchtigung von Rechten Dritter einen entgegenstehenden wichtigen Grund darstellen.52 Die Bundesregierung ging also zunächst davon aus, dass Aufzeichnungen sowohl Beweisstück als auch Aktenbestandteil sein könnten, je nachdem, welches Motiv die Verteidigung mit dem Gebrauch der Aufzeichnung verfolge. Bei der Abgrenzung zwischen Beweisstücken und Aktenbestandteilen wird (von Seiten der Bundesregierung) folglich ein subjektiver Maßstab angelegt. Einem generellen Vervielfältigungsverbot, wie es dem Bundesrat bei § 147 Abs. 5 S. 2 StPO-E vorschwebte, stand die Bundesregierung mit Blick auf die Interessen des Beschuldigten kritisch gegenüber.53 Die Bedenken hierzu werden jedoch nicht konkret benannt. In der vorstehend erwähnten Begründung der Bundesregierung wird demnach erklärt, dass Aufzeichnungen unter Umständen als Aktenbestandteile eingeordnet werden können. Lediglich in Bezug auf die Originalaufzeichnung und Kopien hiervon wurde nicht differenziert. 51

BR-Drs. 175/96 (B) Anlage, S. 5; BT-Drs. 13/4983, 4. Zum Vorstehenden BT-Drs. 13/4983, 9. 53 BT-Drs. 13/4983, 9. 52

158

B. Einfachgesetzliche Auslegung

(3) Weiterer Gesetzesentwurf Die Möglichkeit der audiovisuellen Aufzeichnung von Zeugenaussagen sollte nach einem Gesetzesentwurf zweier Bundestagsfraktionen nicht in § 168e Abs. 1 StPO-E, sondern in § 58a Abs. 1 StPO-E eingeführt werden. In 58a Abs. 2 S. 2 StPO-E sollte zudem ein Verweis auf die §§ 147 und 406e StPO normiert werden.54 In diesem Gesetzesentwurf zur Einführung von § 58a Abs. 2 S. 2 StPO-E heißt es zunächst, dass ein Vervielfältigungsverbot der Bild-Ton-Aufzeichnungen die Verteidigung in unzumutbarer Weise beeinträchtigen würde.55 Ferner sei die Verteidigung auf eine Kopie des Videobandes angewiesen, weil die Aufzeichnung „von der Aussage eines Zeugen – über den Wortlaut des Bekundeten hinausgehend – die unmittelbare Betroffenheit in einer Weise wieder[gibt], die stärker als jede schriftliche Fixierung oder auch akustische Aufnahme Persönlichkeit und Intimsphäre preisgibt“.56

Insoweit wird in inhaltlich nahezu identischer Weise das Argument des Bundesrates für ein Vervielfältigungsverbot in sein Gegenteil verkehrt. Genau diesen Aspekt stellte der Bundesrat schließlich in den Vordergrund, um die Reformierung von § 147 Abs. 5 StPO zu rechtfertigen.57 Der sich in der Bundesratsbegründung hieran anschließende Satz: „Deshalb sind solche Aufzeichnungen in besonderer Weise vor dem Zugriff anderer zu schützen.“,58 wird sodann durch den Satz: „Dies begründet ihre erhöhte Bedeutung für die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung.“,59 ersetzt. Dieser Vergleich zeigt, dass der Entwurf der Bundestagsfraktionen das gleiche Argument – das persönlichkeitsgetreue Abbild des Zeugen – für die Herausgabepflicht einer Kopie anführt. Hiernach hatte das Persönlichkeitsrecht des Zeugen im Vergleich zur Bedeutung der Aufzeichnung für die Beweisaufnahme einen geringeren Stellenwert. Gleichzeitig wird der zuvor eingebrachten Rechtsauffassung der Bundesregierung, nach der solche Aufzeichnungen aufgrund der Schutzinteressen Dritter ohnehin nicht herauszugeben seien, mit diesem Entwurf nicht gefolgt. Ferner wird angeführt, dass der Verteidigung nach damaliger Rechtslage unstreitig sogar für Tonbandaufnahmen ein Besichtigungsrecht und ggfs. ein Kopieanfertigungsrecht zustünde.60 Auch zu Zwecken der Überlassung der Videoaufzeichnung an andere Gerichte oder Staatsanwaltschaften müsse ein Kopieanfertigungsrecht eingeführt werden.61 Hierzu heißt es wörtlich:

54

BT-Drs. 13/7165, 3. BT-Drs. 13/7165, 7. 56 BT-Drs. 13/7165, 7. 57 Siehe BR-Drs. 175/96 (B) Anlage, S. 7. 58 BR-Drs. 175/96 (B) Anlage, S. 7. 59 BT-Drs. 13/7165, 7. 60 BT-Drs. 13/7165, 7. 61 BT-Drs. 13/7165, 8. 55

II. Systematik

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„Hintergrund dieser weitgehenden Rechte des Verteidigers ist, daß § 147 Abs. 4 StPO die Unversehrtheit der Beweismittel schützen will. Wird dieser Schutzzweck erreicht, können dem Verteidiger andere technische Maßnahmen zur Vorbereitung der Verteidigung (wie Fotoaufnahmen oder Kopien) nicht untersagt werden. Ein Kopierverbot würde die Vorbereitung der Verteidigung und damit die Waffengleichheit beeinträchtigen.“62

Aus der Entwurfsbegründung lässt sich zusammenfassend schließen, dass der Verweis in § 58a Abs. 2 S. 2 StPO-E auf § 147 StPO so gemeint war, dass der Verteidigung von den Bild-Ton-Aufzeichnungen eine Kopie erstellt werden kann. Es kommt insgesamt der Gedanke zum Ausdruck, dass durch die Schaffung des § 58a Abs. 2 S. 2 StPO-E ein Gleichlauf mit einem bereits geltenden Anfertigungsbzw. Übersendungsrecht von Kopien i. R. v. § 147 Abs. 1, 4 StPO a. F. in Bezug auf Tonbandaufzeichnungen geschaffen werden sollte. Ob eine derart erlangte Aufzeichnungskopie dann aber als Aktenbestandteil angesehen wurde oder eine solche Kopie zwar als Beweisstück einzuordnen wäre, aber lediglich mangels Schutzbedürfnis eine Herausgabepflicht bestünde, ergibt sich aus dieser Begründung freilich nicht. Ferner könnte davon ausgegangen worden sein, dass es sich bei der Kopie nicht um einen Aktenbestandteil, sondern eben um eine Kopie des Aktenbestandteiles handelt. (4) Vermittlungsausschuss Nachdem der Vermittlungsausschuss angerufen worden war,63 stimmte der Bundestag über die beschlossene Fassung ab und nahm die Beschlussempfehlung64 an.65 Hierbei wurde dem Vorschlag des Bundesrates, die Aushändigung von BildTon-Aufzeichnungen an den Strafverteidiger zu verbieten,66 nicht gefolgt.67 Vielmehr wurde das Akteneinsichtsrecht in der Weise berücksichtigt, dass gem. § 58a Abs. 2 S. 2 StPO die Norm des § 147 StPO entsprechende Anwendung finden soll.68 Somit wurde auch die Rechtsauffassung der Bundesregierung, nach der eine solche Regelung aufgrund der Schutzbedürftigkeit Dritter obsolet sei, ebenfalls nicht zugrunde gelegt. (5) Zwischenergebnis Der Gesetzgeber hatte mit § 58a Abs. 2 S. 2 StPO a. F. eine Norm geschaffen, auf deren Grundlage die Verteidigung Kopien der Bild-Ton-Aufzeichnungen erhal-

62

BT-Drs. 13/7165, 7 f. BR-Drs. 933/97 (B). 64 Siehe BT-Drs. 13/10001. 65 BT-Plenarprotokoll 13/221: Stenografischer Bericht der 221. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 04.03.1998, 20217A. 66 Siehe BR-Drs. 933/97 (B), 1, wonach § 147 Abs. 5 StPO so gefasst werden sollte, wie in BR-Drs. 175/96 (B) beschlossen. 67 BT-Drs. 13/10001, 2. 68 BGBl. 1998 I, 820. 63

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

ten durfte. Dies ergibt sich jedoch weniger aus dem Wortlaut der Norm selbst als vielmehr aus den Gesetzesmaterialien. Lediglich die dogmatische Einordnung dieser Aufzeichnungskopien wird bis zuletzt nicht hinreichend deutlich. Der Vergleich mit dem Besichtigungsrecht bei Tonbandaufnahmen spricht einerseits dafür, dass der Gesetzgeber auch bei den Kopien der Aufzeichnungen von einem Beweisstück i. S. v. § 147 Abs. 4 StPO a. F. ausging. Andererseits wird ausgeführt, dass durch § 147 Abs. 4 StPO a. F. die Unversehrtheit der Beweisstücke geschützt werden solle und es eines Integritätsschutzes bei den Aufzeichnungskopien nicht bedürfe. Ob hierfür aber eine „Umetikettierung“ von dem Beweisstück hin zum (möglicherweise: sonstigen) Aktenbestandteil vorzunehmen ist oder dies etwa ipso iure entsteht, bleibt unklar. Ebenso kann den Gesetzesmaterialien nicht eindeutig entnommen werden, ob Aufzeichnungskopien herauszugeben sind, weil sie Aktenbestandteile sind oder ob die Aufzeichnungskopien zwar ebenfalls Beweisstücke sind, aber mangels Schutzbedürfnis und aufgrund der herzustellenden Waffengleichheit ausnahmsweise und entgegen § 147 Abs. 1 StPO über die Besichtigung hinaus herausgegeben werden dürfen. Ebenfalls ist möglich, dass die Kopie überhaupt kein Aktenbestandteil sein sollte, sondern eben nur eine auszugsweise, davon zu unterscheidende, Aktenkopie. Wie die Originalaufzeichnung eingestuft wurde, bleibt schließlich ebenfalls offen. Fest steht bis hierhin also lediglich, dass der Gesetzgeber bei der Einführung von § 58a Abs. 2 S. 2 StPO davon ausging, dass ein Recht der Verteidigung auf Erhalt von Aufzeichnungskopien schon de lege lata bestand und dies deklaratorisch festgeschrieben werden sollte. Mit Einführung der Norm hat sich schließlich der Entwurf zweier Bundestagsfraktionen durchgesetzt, dessen Begründung für die Ermittlung der gesetzgeberischen Normvorstellung primäre Bedeutung erlangt.69 bb) Entstehung der zweiten Gesetzesfassung von § 58a Abs. 2 StPO Weiteren Aufschluss über die Einordnung der Aufzeichnungen und ihrer Kopien geben die Gesetzesmaterialien zur Reform von § 58a StPO. (1) Erster „Anlauf“ Weniger als ein Jahr nach Inkrafttreten des § 58a StPO a. F. formulierte die Landesregierung Hamburgs (der Senat) zur Stärkung der Verletztenrechte einen Gesetzesentwurf, den sie in den Bundesrat eingebracht hat.70 Ziel war unter anderem die Verstärkung des Persönlichkeitsrechtsschutzes der Zeugen. Dies sollte u. a. durch die Einführung eines Herausgabeverbotes von Bild-Ton-Aufzeichnungen gegen den Willen der betroffenen Zeugen geschehen.71 Der erfolglose Versuch zur 69

Eingehend hierzu allg. Larenz, Methodenlehre, S. 329 f. BR-Drs. 507/99. 71 Zum Vorstehenden: BR-Drs. 507/99, 1 f. 70

II. Systematik

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Einführung eines Herausgabeverbotes aus dem vorigen Gesetzgebungsverfahren wurde hiermit also erneut aufgegriffen. Zudem sollte ein eigenes Akteneinsichtsrecht für Verletzte eingeführt werden.72 Nach § 147 Abs. 4 S. 1 StPO sollte folgender Satz 2 eingefügt werden: „Aufzeichnungen auf Bild-Ton-Träger von der Vernehmung eines Zeugen, der durch die Straftat verletzt worden ist, sollen in einem geeigneten Raum der Geschäftsstelle vorgeführt werden.“73

Ausweislich der Begründung sollte das Akteneinsichtsrecht der Verteidigung bei Bild-Ton-Aufzeichnungen eingeschränkt werden.74 Weiter gingen die Entwurfsverfasser irrtümlicherweise davon aus, dass die Bundesregierung im vorigen Gesetzgebungsverfahren zur Einführung der ersten Fassung des § 58a StPO75 die Bild-Ton-Aufzeichnungen in jedem Fall als Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1, 4 StPO a. F. klassifizierte.76 Aus diesem Blickwinkel wäre eine Vorschrift zum Besichtigen der Aufzeichnung im Sinne des Hamburger Entwurfes mit Blick auf § 147 Abs. 1, 4 StPO a. F. gar nicht nötig gewesen. Die Bundesregierung differenzierte in ihrer Stellungnahme (i. R. d. Verfahrens nach Art. 76 Abs. 3 GG) zur Einführung von § 58a Abs. 2 S. 2 StPO a. F. jedoch vielmehr danach, welche Motivation die Verteidigung mit dem Ansehen der Aufzeichnung verfolgte.77 Jedenfalls aus den übrigen gesetzgeberischen Materialien musste die Intention des Gesetzgebers dahingehend gedeutet werden, dass den Verteidigern ein Recht auf Erhalt einer Aufzeichnungskopie zusteht.78 Die dogmatische Einordnung von Aufzeichnungen und ihrer Kopien blieb letztlich offen. Somit war eine entsprechende gesetzliche Normierung im Ergebnis also doch notwendig, um den Verteidigern die Aushändigung der Aufzeichnungskopien zu verwehren. Mit Verweis auf die sich zu der Zeit im Vordringen befindliche Literaturansicht, es handele sich jedenfalls bei Aufzeichnungskopien um herauszugebende Akten, sollte mit der Einführung eines solchen Verbots verhindert werden, dass sich die Gerichte dieser Literaturansicht fortan anschließen.79 In der Rechtsprechung sei zu der Zeit schon die Auffassung vertreten worden, dass Aufzeich-

72

BR-Drs. 507/99, 2. BR-Drs. 507/99, Anlage, S. 1. 74 Vgl. BR-Drs. 507/99, Anlage, S. 8. 75 Verwiesen wurde in der Begründung auf die Stellungnahme der Bundesregierung auf BT-Drs. 13/4983, 9. 76 BR-Drs. 507/99, Anlage, S. 8. 77 BT-Drs. 13/4983, 9. 78 Siehe S. 156 f.; auch in der Literatur wurde ein derzeit geltendes Recht, die Aufzeichnungskopien zu erhalten, angenommen, vgl. hierzu: Rieß NJW 1998, 3240, 3241; Leitner StraFo 1999, 45, 46; Weider/Staechelin StV 1999, 51, 52; Schlothauer StV 1999, 47, 48. 79 BR-Drs. 507/99, 8, mit Verweis auf die Veröffentlichungen von Rieß NJW 1998, 3240, 3241, und Schlothauer StV 1999, 47, 48. 73

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

nungskopien an die Verteidiger herauszugeben seien.80 Soweit ersichtlich gab es in dem Zeitraum zwischen Inkrafttreten des 58a StPO und dem Reformvorschlag jedoch keine gerichtliche Entscheidung über die Frage, ob Kopien von Bild-TonAufzeichnungen herauszugeben seien.81 Ob mit der genannten Feststellung auf nichtveröffentlichte Entscheidungen verwiesen werden sollte, ist zweifelhaft. Letztlich machte sich die Landesregierung die Literaturansichten jedenfalls zu eigen, sodass es nahe liegt, dass in diesem Entwurf davon ausgegangen wurde, Aufzeichnungskopien seien Aktenbestandteile oder zumindest als Aktenbestandteile zu behandeln. Dies würde auch die gewünschte Verortung in § 147 Abs. 4 StPO, anstatt beispielsweise in § 147 Abs. 1 StPO, erklären. Als Soll-Vorschrift sollte die Möglichkeit der Herausgabe einer Aufzeichnungskopie nur ausnahmsweise zulässig sein.82 Als Beispiel könne neben einen im Einzelfall erhöhten Stellenwert der Aufzeichnung auch der Grundsatz der Waffengleichheit zu einer Herausgabe der Kopien führen, wenn der aufgenommene Zeuge zur Vorbereitung der Nebenklage in die Einsicht durch Dritte83 eingewilligt habe.84 In diesen Gesetzesmaterialien deutet sich folglich an, dass die Landesregierung Hamburg davon ausging, dass Bild-Ton-Aufzeichnungskopien herauszugebende Aktenbestandteile sind oder zumindest wie Aktenbestandteile (als funktionales Äquivalent) zu behandeln und damit herauszugeben sind.85 Anschließend wurde nach Maßgabe der Ausschussempfehlungen86 im Bundesrat beschlossen, dass kein § 147 Abs. 4 S. 2 StPO einzufügen ist, sondern vielmehr der ursprüngliche § 58a Abs. 2 S. 2 StPO in modifizierter Form in einen neuen Satz 3 aufgenommen werden solle.87 Der Gesetzesentwurf lautete in Bezug auf § 58a Abs. 2 S. 2 und 3 StPO-E:

80 So wurde in einer BR-Plenarsitzung angeführt, dass der zu der Zeit schon gegenwärtigen Rechtsprechungspraxis – Herausgabe von Aufzeichnungskopien – entgegengewirkt werden solle, vgl. BR-Plenarprotokoll: Stenografischer Bericht der 742. Sitzung des Deutschen Bundesrates vom 24.09.1999, 360D (Anlage 23). 81 Soweit ersichtlich wurde diese Frage lediglich in der Literatur diskutiert und vielfach bejaht, vgl. hierzu: Rieß NJW 1998, 3240, 3241; Leitner StraFo 1999, 45, 46; Weider/Staechelin StV 1999, 51, 52; Schlothauer StV 1999, 47, 48. 82 Dies sollte nach § 406e Abs. 3 StPO-E ausdrücklich möglich sein, BR-Drs. 507/99, 3. 83 Demnach der eigene Rechtsanwalt des Zeugen oder Rechtsanwälte anderer Verletzter: BR-Drs. 507/99, Anlage, S. 14. 84 BR-Drs. 507/99, Anlage, S. 9. 85 Dies deutet sich auch in BR-Plenarprotokoll 754: Stenografischer Bericht der 754. Sitzung des Deutschen Bundesrates vom 29.09.2000, 362D-363A, an, wenn es dort heißt: „Wir wollen dafür sorgen, dass Videoaufzeichnungen […] nicht […] aus der Akte herausgegeben werden.“ 86 BR-Drs. 552/00, 6 f. 87 BR-Plenarprotokoll 754: Stenografischer Bericht der 754. Sitzung des Deutschen Bundesrates vom 29.09.2000, 363C.

II. Systematik

163

„§ 100b Abs. 6 und § 474 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 5 finden entsprechende Anwendung. §§ 147 und 406e finden mit der Maßgabe entsprechende Anwendung, dass Bild-TonAufzeichnungen wie Beweisstücke zu behandeln sind und nur mit Zustimmung des Zeugen wie Akten behandelt werden dürfen.“88

In der Entwurfsbegründung wird die Ansicht noch deutlicher, dass die originalen Bild-Ton-Aufzeichnungen grundsätzlich Aktenbestandteile sind und aufgrund des Persönlichkeitsschutzes der Zeugen nur ausnahmsweise wie Beweisstücke zu behandeln sein sollen. Es wird zunächst angemerkt, dass in § 58a Abs. 2 S. 2 StPO-E ein Verweis auf § 474 Abs. 1 i. V. m. Abs. 5 StPO eingefügt werden müsse; dies aus dem Grund, weil eine Änderung der §§ 474 ff. StPO durch das StVÄG 1999 erfolgt sei.89 Da im Rahmen des StVÄG 199990 die Vorschrift des § 58a StPO a. F. nicht geändert worden war, sollte vermieden werden, dass der Rechtsanwender hieraus schließe, dass das Akteneinsichtsrecht in den reformierten Vorschriften der §§ 474 ff. StPO keine Bild-Ton-Aufzeichnungen umfasse.91 Für den Fall, dass Gerichte, Staatsanwaltschaften oder auch andere Justizbehörden auf die Aufzeichnungen zugreifen wollten, sollte klargestellt werden, dass unter Beachtung der Beschränkung in § 58a Abs. 2 S. 1 StPO a. F. die Aufzeichnung angefordert werden könne.92 Hieraus alleine wird eine Einordnung der Aufzeichnungen als Aktenbestandteile zwar noch nicht hinreichend deutlich. Jedoch sollte in § 58a Abs. 2 S. 2 StPO-E auf § 474 Abs. 1 i. V. m. Abs. 5 StPO verwiesen werden. § 474 Abs. 1 und 5 StPO regelten i. d. F. des StVÄG 1999 ausschließlich das Akteneinsichtsrecht. Der erste Absatz lautete: „(1) Gerichte, Staatsanwaltschaften und andere Justizbehörden erhalten Akteneinsicht, wenn dies für Zwecke der Rechtspflege erforderlich ist.“93

§ 474 Abs. 5 StPO hatte i. d. F. des StVÄG 1999 folgenden Wortlaut: „(5) Akten können in den Fällen der Absätze 1 und 3 zur Einsichtnahme übersandt werden.“94

Im Gegensatz hierzu lautete § 474 Abs. 4 StPO i. d. F. des StVÄG 1999, auf den gerade nicht verwiesen wurde: „(4) Unter den Voraussetzungen der Absätze 1 oder 3 können amtlich verwahrte Beweisstücke besichtigt werden.“95

88

BR-Drs. 552/00 (B), Anlage, S. 1 f.; BT-Drs. 14/4661, 7. Zum Vorstehenden: BR-Drs. 552/00 (B), Anlage, S. 10; BT-Drs. 14/4661, 10. 90 BGBl. 2000 I, 1253. 91 Siehe BR-Drs. 552/00 (B), Anlage, S. 10; BT-Drs. 14/4661, 10 f. 92 BR-Drs. 552/00 (B), Anlage, S. 10; BT-Drs. 14/4661, 11. 93 BGBl. 2000 I, 1253, 1256. 94 BGBl. 2000 I, 1253, 1256. 95 BGBl. 2000 I, 1253, 1256. 89

164

B. Einfachgesetzliche Auslegung

Zwar könnte andererseits aus dem Bedürfnis, einen Verweis auf § 474 Abs. 1 i. V. m. Abs. 5 StPO in § 58a StPO aufzunehmen, wiederum geschlossen werden, dass Bild-Ton-Aufzeichnungen grundsätzlich gerade nicht unter das Akteneinsichtsrecht fallen sollten, weshalb es des Verweises bedurfte. Zudem heißt es in diesem Zusammenhang in der Entwurfsbegründung unter anderem, dass mit dem Verweis „[…] den Änderungen des in der StPO geregelten Akteneinsichtsrecht Rechnung getragen [wird], die durch das StVÄG 1999 erfolgt sind. Das StVÄG 1999 hat § 58a Abs. 2 S. 2 unverändert gelassen. Dies lässt den Schluss zu, dass die neuen Vorschriften zur Akteneinsicht (§§ 474 ff. i.d.F. des StVÄG 1999) keine Einsicht in Bild-Ton-Aufzeichnungen ermöglichen. Für die in § 474 Abs. 2, §§ 475, 476 genannten Stellen erscheint eine derartige Regelung durchaus sinnvoll […].“,96

und diese Feststellung, dass in bestimmten Bereichen die Einordnung von BildTon-Aufzeichnungen in Aktenbestandteile nicht wünschenswert sei, könnte dafür sprechen, dass hier nur ausnahmsweise die Einordnung der Aufzeichnungen als Aktenbestandteile vorgenommen wurde. Andererseits sollte klargestellt – und nicht etwa neu eingeführt – werden, dass die in § 474 Abs. 1 StPO genannten Stellen die Aufzeichnungen anfordern können, ohne eine Beschlagnahmeanordnung zu verfügen.97 Im Entwurf hätte auch auf das Beweisstückbesichtigungsrecht i. S. d. § 474 Abs. 4 StPO verwiesen werden können, ohne dass es einer Beschlagnahme bedurft hätte, zumal § 474 Abs. 4 und Abs. 5 StPO in der in Bezug genommenen Fassung die gleichen Voraussetzungen aufstellten. Die Beweisstücke hätten den anfordernden Stellen gem. §§ 58a Abs. 2 S. 2, 474 Abs. 1, 4 StPO dann zur Besichtigung zur Verfügung gestellt werden müssen; es wäre nur die Frage zu klären gewesen, ob die anfordernde Stelle die Aufzeichnungen oder hiervon erstellte Kopien hätte abholen müssen oder sie sich hätte übersenden lassen dürfen. Wäre der Gesetzgeber also davon ausgegangen, dass Aufzeichnungen in jedem Fall Beweisstücke und keine Aktenbestandteile sind, so hätte sich vielmehr angeboten, in § 58a Abs. 2 S. 2 StPO-E einen Verweis auf § 474 Abs. 1 i. V. m. 474 Abs. 4 StPO mit der Maßgabe einzufügen, dass den Stellen die Aufzeichnung (im Original oder als Kopie) auszuhändigen sind. Auch die Formulierung des Wortlautes selbst spricht für eine Deutung, dass entsprechende Aufzeichnungen als Aktenbestandteile anzusehen sein sollten. Wenn Bild-Ton-Aufzeichnungen nach der Vorstellung des Bundesrates sowohl im Original und auch als Kopie nicht dem Akteneinsichtsrecht (inkl. einem diesbezüglichen Übersendungsrecht) hätten unterliegen sollen, hätte es keiner Regelung bedurft, nach der die Aufzeichnungen wie Beweisstücke zu behandeln seien und nur dann als Aktenbestandteile gelten würden, wenn der Zeuge der Herausgabe zustimmt. Schon die Formulierung liest sich daher so, als sei nach 96 97

BR-Drs. 552/00 (B), Anlage, S. 10; BT-Drs. 14/4661, 10; Hervorhebung durch Verfasser. BR-Drs. 552/00 (B), Anlage, S. 10; BT-Drs. 14/4661, 11.

II. Systematik

165

Auffassung des Gesetzgebers der Grundsatz der, dass die Original-Aufzeichnungen Aktenbestandteile sind. Entscheidend kommt hinzu, dass das vom Zeugen abhängende Mitgabeverbot mit einer Stärkung des Persönlichkeitsschutzes der Zeugen begründet wurde.98 Die Herausgabe im Wege der Akteneinsicht sollte verhindert werden.99 Das Akteneinsichtsrecht sollte demnach eine Einschränkung erfahren. Hiermit kann nur gemeint sein, dass die Behandlung der Aufzeichnungen als Aktenbestandteile – mit der Folge der Herausgabepflicht gem. § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. – davon abhängen sollte, ob der Zeuge seine Einwilligung erteilt. Eine anderweitige Beschränkung des Akteneinsichtsrechts ist in dem Reformvorschlag nämlich nicht enthalten. Insofern ist anzunehmen, dass der Gesetzgeber an dieser Stelle eindeutig zum Ausdruck gebracht hat, dass Aufzeichnungen grundsätzlich Aktenbestandteile i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO bzw. § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. sein können. Ebenfalls erkennt der Bundesrat, dass der Verweis in dem damals geltenden § 58a Abs. 2 S. 2 StPO auf die §§ 147, 406e StPO insoweit problematisch ist, als die Einordnung der Aufzeichnungen als Aktenbestandteile oder Beweisstücke nicht hinreichend deutlich wird.100 Für den Fall, dass die Zustimmung des Zeugen zur Herausgabe der Aufzeichnung fehlt, sollte unmissverständlich geregelt werden, dass die Bild-Ton-Aufzeichnungen wie Beweisstücke zu behandeln sind.101 Die Entwurfsverfasser wollten diese Ausnahme ausweislich der Entwurfsbegründung folglich erstmalig regeln und nicht etwa klarstellen. Hierbei kann dem Bundesrat auch keine sprachliche Ungenauigkeit unterstellt werden, denn durch die Formulierung des darauffolgenden Satzes wird deutlich, dass der Bundesrat zwischen Sachverhalten, die geregelt werden müssen, und solchen, die keiner gesetzlichen Regelung bedürfen, unterscheidet. In Bezug darauf, wie die ausnahmsweise Gleichstellung der Aufzeichnungen mit Beweisstücken in praxi umgesetzt werden soll, führte der Bundesrat aus: „Die Vorführung an den Verteidiger oder Verletztenvertreter erfolgt zweckmäßigerweise in einem geeigneten Raum der Geschäftsstelle, ohne dass dies einer gesetzlichen Regelung bedürfte.“102

Die Verteidigungsmöglichkeit sei im Vergleich dazu, dass der Verteidiger in seiner Kanzlei eine Aufzeichnung bzw. eine Kopie hiervon zur Verfügung habe, nicht beeinträchtigt; schließlich könne er die Besichtigung der Aufzeichnung auf der Geschäftsstelle so oft wie für ihn erforderlich vornehmen.103

98

BR-Drs. 552/00 (B), Anlage, S. 2, 10; BT-Drs. 14/4661, 1, 11. So ausdrücklich BR-Drs. 552/00 (B), Anlage, S. 2; BT-Drs. 14/4661, 1. 100 BR-Drs. 552/00 (B), Anlage, S. 10 f.; BT-Drs. 14/4661, 11. 101 BR-Drs. 552/00 (B), Anlage, S. 11; BT-Drs. 14/4661, 11. 102 BR-Drs. 552/00 (B), Anlage, S. 11; BT-Drs. 14/4661, 11. 103 BR-Drs. 552/00 (B), Anlage, S. 11; BT-Drs. 14/4661, 11. 99

166

B. Einfachgesetzliche Auslegung

Insbesondere der Umstand, dass hier die Konsequenzen des Reformvorschlages mit der Situation verglichen werden, dass der Verteidiger eine Aufzeichnung(-skopie) in seinen Kanzleiräumen zur Verfügung hat, zeigt, dass der Gesetzgeber davon ausging, dass Aufzeichnungen oder Kopien hiervon im Allgemeinen grundsätzlich Aktenbestandteile sind. Bei diesem Beispiel wird insbesondere nicht davon ausgegangen worden sein, dass der Verteidiger nur deshalb die Aufzeichnungen in seiner Kanzlei zur Verfügung hat, weil er sich diese auf der Geschäftsstelle kopieren durfte. Der Kontext, indem diese Aussage getroffen wurde, macht deutlich, dass auf die Situation Bezug genommen wurde, dass die Verteidigung die Aufzeichnungen im Wege der Akteneinsicht zugeschickt bekommen hat. Zumindest wurde unmittelbar vor dieser Aussage ausdrücklich auf das Akteneinsichtsrecht verwiesen.104 Schon nach damaliger Gesetzeslage war es für den Verteidiger nur dann möglich, Verfahrensmaterial in seine Kanzleiräume zugeschickt zu bekommen, wenn es sich hierbei um Aktenbestandteile handelt. Das Regelungsgefüge des § 147 StPO war zu damaliger Zeit insoweit gleichermaßen wie zu heutiger Zeit durch § 32f Abs. 2 StPO ausgestaltet.105 Auch im vorigen Gesetzesantrag106 wurde davon ausgegangen, dass Aufzeichnungen im Wege der Akteneinsicht an den Verteidiger herauszugeben sind, weshalb auch die Einführung eines Ausnahmetatbestandes in § 147 Abs. 4 S. 2 StPO-E für notwendig erachtet wurde.107 Die Bundesratsbegründung kann deshalb entweder nur auf die nach ihrer Vorstellung geltende Rechtslage abgestellt haben oder auf den vorigen Entwurf verwiesen haben, der seinerseits auf die geltende Rechtslage Bezug nahm. Der Bundesrat hat seinerzeit also in jedem Fall einen Vergleich mit der aus seiner Sicht geltenden Rechtslage gezogen. Wenn dem aber so war, dann kann diese Bezugnahme nur so verstanden werden, dass eine Aufzeichnung, zumindest die Aufzeichnungskopie, hiernach grundsätzlich auch Aktenbestandteil sein kann. Der hiermit zusammenhängenden Möglichkeit einer Akteneinsicht in diese Aufzeichnungen sollte vor diesem Hintergrund entgegengewirkt werden. Zusammenfassend ergibt sich aus der Entwurfsbegründung folglich, dass der Bundesrat die Bild-Ton-Aufzeichnungen im Grundsatz als Aktenbestandteile einordnete. Weiter deutet sich an, dass zumindest die Aufzeichnungskopien als Aktenbestandteile angesehen wurden bzw. als solche zu behandeln und damit zu überlassen sind, wenn es heißt:

104

Vgl. BR-Drs. 552/00 (B), Anlage, S. 10; BT-Drs. 14/4661, 11. Der Entwurf auf BR-Drs. 552/00 (B), bzw. BT-Drs. 14/4661, datiert vom 29.09.2000 bzw. 16.11.2000. Zu dieser Zeit sah § 147 StPO Abs. 1, 4 StPO i. d. F. des 1. StVRG und StVÄG 1999 eine Einsichtnahme- und Verabfolgungsmöglichkeit der Akten vor, siehe BGBl. I, 1964, 1067, 1073; BGBl. 1974 I, 3393, 3397; BGBl. 2000 I, 1253, 1254 f. 106 Gemeint ist BR-Drs. 507/99. 107 BR-Drs. 507/99, Anlage, S. 1, 8. 105

II. Systematik

167

„Damit wird insbesondere die Verteidigungsmöglichkeit im Vergleich zu der Situation, dass der Verteidiger in der Kanzlei die Aufzeichnung (bzw. eine Kopie der Aufzeichnung) zur Verfügung hat, nicht beeinträchtigt.“108

Auch die dem in BR-Drs. 552/00 (B) veröffentlichten Entwurf vorausgegangene Begründung der Ausschussempfehlung, nach der das Vervielfältigungsverbot in § 147 Abs. 4 S. 2 StPO-E aus systematischen Gründen besser in § 58a StPO zu verorten sei,109 legt nahe, dass sich die gesetzgeberischen Gedanken zum Reformvorschlag betreffend § 147 Abs. 4 StPO-E in der Initiative der Landesregierung Hamburg fortgesetzt haben. In dem hierauf aufbauenden Entwurf des Bundesrates nach Maßgabe der Ausschussempfehlungen wurde offensichtlich von der Einordnung jedenfalls der Aufzeichnungskopien als Aktenbestandteile ausgegangen. Demzufolge sollte durch den im Bundesrat letztlich beschlossenen Reformvorschlag der status quo, dass Aufzeichnungen herauszugeben sind, verändert werden.110 Wäre der von allen 16 Bundesländern befürwortete111 Entwurf in die StPO eingeführt worden, müsste hiernach der Verweis auf und der Wortlaut des § 147 StPO so ausgelegt werden, dass die Original-Aufzeichnungen (zumindest die Aufzeichnungskopien) Aktenbestandteile sind, in Fällen audiovisueller Aufzeichnungen jedoch von dem grundsätzlich umfassenden Akteneinsichtsrecht (also inkl. dem Übersendungsrecht) eine Ausnahme zu machen ist. Ob das Original oder eine Kopie des Informationsträgers als herauszugebender Aktenbestandteil anzusehen ist (bzw. zumindest als solcher zu behandeln ist), hätte hiernach davon abhängig gemacht werden müssen, ob es sich um (audiovisuelle) Aufzeichnungen oder um sonstiges Informationsmaterial handelt. Das Gesetzgebungsverfahren hatte sich aber gem. § 125 GO BT erledigt, weil die Legislaturperiode endete.112 Der Gesetzesentwurf war somit gegenstandslos geworden. (2) Zweiter „Anlauf“ In der darauffolgenden 15. Wahlperiode wurde die Stärkung der Opferrechte erneut in Angriff genommen.

108

BR-Drs. 552/00 (B), Anlage, S. 11; BT-Drs. 14/4661, 11; Hervorhebung durch Verfas-

ser. 109 BR-Drs. 552/00, 7. Als zweiter Grund wurde hierin genannt, dass die Zielsetzung – ein generelles Herausgabeverbot – durch § 147 Abs. 4 S. 2 StPO-E nicht erreicht werden könne. Dies wohlmöglich deshalb, weil § 147 Abs. 4 S. 2 StPO-E als Soll-Vorschrift ausgestaltet war, siehe erneut: BR-Drs. 507/99, Anlage, S. 1. 110 So auch in BT-Plenarprotokoll 14/176: Stenografischer Bericht der 176. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 21.06.2001, 17358D-17359A, 17360B, angemerkt. 111 Vgl. BT-Plenarprotokoll 14/176: Stenografischer Bericht der 176. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 21.06.2001, 17358A. 112 Parlamentsarchiv Gesetzesdokumentation Signatur BT: XIV/1078, 6.

168

B. Einfachgesetzliche Auslegung

(a) Erster Gesetzesentwurf Eingebracht wurde ein Gesetzesentwurf der Bundestagsfraktion CDU/CSU zu einem 2. Opferschutzgesetz, durch das unter anderem ebenfalls die Herausgabe von Bild-Ton-Trägern verboten werden sollte.113 In Bezug auf § 58a Abs. 2 StPO-E orientierte sich der Gesetzesentwurf an demjenigen des Bundesrates aus der vorigen 14. Wahlperiode.114 § 58a Abs. 2 S. 3 StPO sollte lauten: „Die §§ 147 und 406e finden mit der Maßgabe entsprechende Anwendung, dass Bild-TonAufzeichnungen wie Beweisstücke zu behandeln sind und nur mit Zustimmung des Zeugen wie Akten behandelt werden dürfen.“115

Auch die Einzelbegründung hierzu ist nahezu inhaltsgleich mit den Ausführungen des Bundesrates aus der vorigen Wahlperiode.116 Hiernach wäre die gesetzgeberische Intention deshalb dahingehend zu deuten, dass Aufzeichnungen bzw. zumindest die Kopien hiervon grundsätzlich herauszugebende Aktenbestandteile sind bzw. jedenfalls als solche behandelt werden müssen und durch die Regelung lediglich eine Ausnahme von diesem Grundsatz statuiert werden sollte.117 Im Übrigen sollte in § 58a Abs. 2 S. 2 StPO-E wiederum auf § 474 Abs. 1 i. V. m. Abs. 5 StPO verwiesen werden und eben nicht auf § 474 Abs. 4 StPO. Auch hierdurch wird bestätigt, dass nach der gesetzgeberischen Intention Aufzeichnungen oder deren Kopien als Aktenbestandteile angesehen wurden. (b) Regierungsentwurf Die Bundesregierung hatte sodann einen Änderungsvorschlag eingebracht, nach dem § 58a Abs. 2 S. 3 StPO wie folgt gefasst werden sollte: „Die §§ 147, 406e sind entsprechend anzuwenden, mit der Maßgabe, dass den zur Akteneinsicht Berechtigten Kopien der Aufzeichnung überlassen werden können.“118

§ 58a Abs. 2 S. 4 StPO sollte wie folgt lauten: „Die Kopien dürfen weder vervielfältigt noch weitergegeben werden.“119

Zunächst fällt auf, dass ein Verweis auf § 474 Abs. 1 i. V. m. Abs. 5 StPO, durch den indiziell Rückschlüsse auf die gesetzgeberische Intention bzgl. der Klassifizierung der Aufzeichnungen gezogen werden konnten, fehlt. Hieraus lässt sich aber nicht zwangsläufig schließen, dass die Bundesregierung von der damaligen 113

BT-Drs. 15/814. Gemeint ist BR-Drs. 552/00 (B), 1 f.; vgl. hierzu S. 162 ff. 115 BT-Drs. 15/814, 4. 116 Lediglich an einer Stelle ist in der Vorgängerbegründung BR-Drs. 552/00 (B), Anlage, S. 10, der Zusatz „in der Fassung des StVÄG 1999“ erfolgt. Auch die oben genannte Ausführung zum Vollzugsaufwand ist identisch; vgl. zum Ganzen: BT-Drs. 15/814, 2 f., 7 f. 117 Siehe S. 160 ff. 118 BR-Drs. 829/03, 1. 119 BR-Drs. 829/03, 1. 114

II. Systematik

169

Einschätzung des Bundesrates hinsichtlich der Einordnung der Aufzeichnungen oder der Kopien hiervon als Aktenbestandteile abgerückt ist. In der Einzelbegründung zu diesem Vorschlag wird zunächst angeführt, dass das Anliegen des Bundesrates aus der vorigen Wahlperiode mit diesem Entwurf wieder aufgegriffen werden sollte.120 Dass das Akteneinsichtsrecht ausnahmslos von der Zustimmung des Zeugen abhängen sollte, wurde hingegen als zu weitreichend empfunden. Es sollte deshalb geregelt werden, dass einem beschränkten Personenkreis unabhängig von der Einwilligung des Zeugen Kopien auszuhändigen sind.121 Zu diesem Personenkreis zählten demnach die Verteidigung und der Verletztenbeistand. Ein Besichtigungsrecht in den Diensträumen der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte sei mangels ausreichender Räumlichkeiten nicht praktikabel.122 Zu solchen Besichtigungen würde es gemäß dem vorigen Vorschlag aber immer dann kommen, wenn der Zeuge seine Zustimmung zur Herausgabe der Aufzeichnung nicht erteilt. Missbräuchen könnte vielmehr durch ein Weitergabe- und Vervielfältigungsverbot ausreichend entgegengewirkt werden.123 Die Einschränkung, dass nur die aktenführende Stelle Kopien herstellen und weitergeben darf, schien deshalb notwendig, um einen genauen Überblick über Anzahl und Verbleib der Kopien zu erlangen.124 Der Persönlichkeitsschutz der Zeugen sollte in den Vordergrund gerückt werden, „ohne die Möglichkeit der Verteidigung oder die Rechte anderer Verfahrensbeteiligter unangemessen zu beeinträchtigen.“125 Eine Beeinträchtigung der Verteidigerinteressen könnte hier darin erblickt werden, dass lediglich die Kopien anstelle der Originalaufzeichnung auf Antrag herauszugeben seien. Die Beeinträchtigung könnte sich aber auch darauf beziehen, dass der Verteidigung bspw. durch das Weitergabe- und Vervielfältigungsverbot Rechte verwehrt würden. Schließlich durften die Verteidigung und auch der Verletztenbeistand nach damaliger Rechtslage die Aktenbestandteile eigenhändig kopieren und vorbehaltlich weniger Ausnahmen diese Aktenkopien an die Mandantschaft weitergeben.126 Aus der zuvor zitierten Begründung lassen sich in Bezug auf eine grundsätzliche Einordnung von Aufzeichnungen bzw. Aufzeichnungskopien in Aktenbestandteile folglich keine eindeutigen Schlüsse ziehen.

120 BR-Drs. 829/03, 20; verwiesen wurde in der Begründung ausdrücklich auf BTDrs. 14/4661, dessen Grundlage wiederum BR-Drs. 552/00 (B), war: siehe S. 162 ff. 121 Zum Vorstehenden: BR-Drs. 829/03, 20. 122 BR-Drs. 829/03, 20. 123 BR-Drs. 829/03, 20. 124 BR-Drs. 829/03, 20 f. 125 BR-Drs. 829/03, 21. 126 Die Herausgabepflicht gilt seit Inkrafttreten von § 50 BRAO grds. auch für die Handakten, vgl. BGBl. I, 1959, 565, 581.

170

B. Einfachgesetzliche Auslegung

Weiter betonte die Bundesregierung, dass zur Vermeidung von Missbräuchen ein Weitergabe- und Vervielfältigungsverbot erforderlich, aber auch ausreichend sei.127 Hieraus können aber ebenfalls keine zwingenden Rückschlüsse gezogen werden. Es ist zum einen möglich, dass an dieser Stelle von einem Einsichtsrecht auch in Aufzeichnungskopien ausgegangen worden ist, weshalb eine solche Beschränkung für erforderlich gehalten wurde. Ebenso ist jedoch denkbar, dass insoweit nur darauf Bezug genommen wurde, dass die Verteidigung/der Verletztenbeistand gerade über § 58a Abs. 2 S. 3 StPO-E in den Besitz der Aufzeichnungen gelangen sollte und als Ausgleich zu dieser Rechtsänderung ein Weitergabe/Vervielfältigungsverbot für erforderlich gehalten wurde. Ferner muss bedacht werden, dass die Bundesregierung den Regelungsentwurf des Bundesrates wieder aufgreifen wollte und lediglich mit Blick auf ein (bei Nichtzustimmung des Zeugen) ausnahmsloses Herausgabe- und Vervielfältigungsverbot eine Alternative vorgeschlagen hat.128 Es ist demnach davon auszugehen, dass sich die Bundesregierung die vorausgegangene Entwurfsbegründung des Bundesrates dem Grunde nach zu eigen gemacht und die seinerzeitige Sichtweise des Bundesrates in Bezug auf die Einordnung der Aufzeichnungen oder zumindest der Aufzeichnungskopien in (als solche zu behandelnde) Aktenbestandteile geteilt hat. Dies wird auch daran deutlich, dass die Bundesregierung als Alternativvorschlag ausdrücklich auf den vom Bundesrat zuvor eingebrachten Entwurf verweist, gegenüber dem der hiesige Entwurf lediglich ein umfassenderes Regelwerk insbesondere zum Adhäsionsverfahren enthielte.129 Der Bundesrat ging seinerzeit davon aus, dass Aufzeichnungen bzw. Aufzeichnungskopien grundsätzlich Aktenbestandteile seien, weshalb er es als regelungsbedürftig ansah, dass an diesem Grundsatz nur dann festgehalten werden könne, wenn der Zeuge seine Zustimmung erteile.130 Diese Intention war nicht nur aufgrund des gewünschten Verweises auf § 474 Abs. 1 i. V. m. Abs. 5 StPO und der Formulierung des Wortlautes naheliegend, sondern sie ist insbesondere durch den im Entwurf gezogenen Vergleich mit der Situation, dass die Verteidigung Aufzeichnungen oder Aufzeichnungskopien in den Kanzleiräumen zur Verfügung habe,131 eindeutig belegt. Die Aufzeichnungskopien wurden grundsätzlich also jedenfalls wie Akten behandelt. Dass mit dem Änderungsvorschlag eine (zur vorzeitigen Einordnung durch den Bundesrat) entgegengesetzte dogmatische Einordnung der Aufzeichnungen bzw. deren Kopien vorgenommen werden sollte, ergeht ebenfalls nicht aus den Materialien – weder explizit noch implizit.

127

BR-Drs. 829/03, 20. BR-Drs. 829/03, 20. 129 BR-Drs. 829/03, 2; verwiesen wurde an dieser Stelle auf BT-Drs. 15/814; bzgl. § 58a Abs. 2 StPO-E und dessen Begründung entspricht dieser Entwurf auf BT-Drs. 15/814 jedoch exakt dem vorausgegangenen Entwurf auf BR 552/00 (B), bzw. BT-Drs. 14/4661, vgl. hierzu BT-Drs. 15/814, 4, 7 f.; BR-Drs. 552/00 (B), Anlage, S. 1 f., 10 f.; BT-Drs. 14/4661, 7, 10 f. 130 Vgl. BR-Drs. 552/00 (B), Anlage, S. 11 (erster und zweiter Absatz a. E.). 131 BR-Drs. 552/00 (B), Anlage, S. 11; BT-Drs. 14/4661, 11. 128

II. Systematik

171

Im Verhältnis zu dem vorausgegangenen Bundesratsentwurf – und nicht etwa in Relation zur geltenden Rechtslage bei § 147 StPO – wollte die Bundesregierung offensichtlich eine Erweiterung der Verteidigerrechte herbeiführen. Nur aus diesem Grund dürfte die Bundesregierung einen anderen Wortlaut gewählt haben. Die Entwurfsbegründung legt in der Gesamtschau folglich nahe, dass auch die Bundesregierung davon ausging, dass – auch audiovisuelle – Aufzeichnungen grundsätzlich Aktenbestandteile sind, naheliegender Weise und einschränkend aber nur die Kopien hiervon herausgegeben werden müssen. Demgemäß ist § 58a Abs. 2 S. 3 StPO-E einerseits klarstellend und andererseits einschränkend zu lesen. Der Wortlaut ist lediglich unglücklich formuliert worden. Schließlich ist der Regierungsentwurf insgesamt von dem Gedanken geprägt, dass keine Erweiterung der Verteidigerinteressen normiert werden sollte, sondern im Gegenteil vielmehr zahlreiche Beschränkungen der Verteidigerinteressen eingeführt werden sollten, die in ein angemessenes Verhältnis zum Zeugenschutz gebracht werden sollten. In Bezug auf das Akteneinsichtsrecht wäre dies jedenfalls das Vervielfältigungs- und Weitergabeverbot in § 58a Abs. 2 S. 4 StPO-E, möglicherweise aber auch die Beschränkung auf die Herausgabe allenfalls der Aufzeichnungskopie. Insoweit wurden die sich widerstreitenden Grundrechtspositionen – insbesondere das Recht auf eine effektive Verteidigung des Beschuldigten und das Persönlichkeitsrecht des Zeugen – schonend miteinander in Ausgleich gebracht. Dies zeigt sich auch in dem allgemeinen Teil der Begründung, wenn es hierin auszugsweise heißt: „Mit dieser Reform werden die Interessen der Opfer noch stärker im Strafverfahren berücksichtigt, selbstverständlich unter Beachtung der Grenzen, die sich aus der Wahrung der Verteidigungsinteressen des Beschuldigten ergeben. Unter Beibehaltung der im System des Strafverfahrens grundsätzlich angelegten Rollenverteilung wird auf der bisherigen Gesetzgebung aufbauend die Rechtsposition des Verletzten deutlich gestärkt.“132

Als Unterpunkt hierzu wurde dann auch auf die Neukodifizierung von § 58a Abs. 2 StPO Bezug genommen.133 Die beabsichtigte Herstellung eines schonenden Ausgleichs stand folglich auch mit § 58a Abs. 2 StPO-E im Zusammenhang. Weiteres Indiz dafür, dass die Regierung hinsichtlich der Aufzeichnungsherausgabe die Verteidigerrechte nicht erweitern – sondern beschränken – wollte, ist die Zusammenfassung der finanziellen Auswirkungen des entworfenen Gesetzes nach Auffassung der Entwurfsverfasser. Es wird schließlich an keiner Stelle ein erhöhter Kostenaufwand erwähnt, der mit einer Pflicht zur Herausgabe von Aufzeichnungskopien einhergehen würde. Lediglich aus den erweiterten Informationspflichten gegenüber den Zeugen134 könnten sich nach der Entwurfsbegründung finanzielle Auswirkungen ergeben.135

132

BR-Drs. 829/03, 12. Vgl. hierzu BR-Drs. 829/03, 15 (unter Punkt 4). 134 Vgl. §§ 48, 202a, 214 Abs. 1, 406d, 406h StPO-E: BR-Drs. 829/03, 1 ff. 135 BR-Drs. 829/03, 18. 133

172

B. Einfachgesetzliche Auslegung

Auch in der Darstellung der Problemlage wird immer wieder betont, dass die Opferrechte gestärkt werden müssten.136 Zudem sollten offenbar die Vorgaben eines EU-Rahmenbeschlusses umgesetzt werden.137 Auch in diesem Rahmenbeschluss geht es grundlegend um die Stärkung der Opferrechte und nicht etwa um die gleichzeitige Erweiterung des Einsichtsrechts der Beschuldigten.138 In der besonderen Begründung zu § 58a Abs. 2 StPO-E wird auch der Gedanke der praktischen Konkordanz erkennbar: „Die neue Vorschrift soll die Persönlichkeitsrechte des Zeugen schützen, ohne die Möglichkeiten der Verteidigung oder die Rechte anderer Verfahrensbeteiligter unangemessen zu beeinträchtigen.“139

Wenn die Verteidigerinteressen aber an keiner Stelle erweitert werden sollten, sondern lediglich nach einem Weg gesucht wurde, bei der Erweiterung der Zeugenrechte die Beschuldigtenrechte so wenig wie möglich zu beschränken, dann waren entweder die Originalaufzeichnungen nach dem Willen des Gesetzgebers schon de lege lata Aktenbestandteile oder aber § 58a Abs. 2 S. 3 StPO-E sollte die Verwirrung über die Einordnung der Aufzeichnungen auflösen, also klarstellend eingeführt werden, sodass das Akteneinsichtsrecht lediglich durch das Vervielfältigungs-/Weitergabeverbot beschränkt werden sollte. Da der Bundesrat in der vorausgegangenen Gesetzesbegründung schon angemerkt hatte, dass der seinerzeit geltende Verweis in § 58a Abs. 2 S. 2 a. F. auf die §§ 147, 406e StPO insoweit unklar sei, als dass nicht hinreichend deutlich werde, ob auf das Akteneinsichts- oder Beweisstückbesichtigungsrecht verwiesen werde,140 aber andererseits der damalige Reformvorschlag – Bild-Ton-Aufzeichnungen sind wie Beweisstücke und nur mit Zustimmung des Zeugen wie Aktenbestandteile zu behandeln – als zu weitgehend angesehen wurde,141 hat die Bundesregierung hier eine klarstellende Regelung und gleichzeitig einen Kompromiss zu dem Gegenvorschlag einführen wollen. Klarstellend sollte in § 58a Abs. 2 S. 3 StPO normiert werden, dass Aufzeichnungen grundsätzlich herauszugeben seien, und ein Kompromiss142 sollte offenbar durch die Sätze 4 bis 6 des § 58a Abs. 2 StPO-E geschaffen werden, die wie folgt lauteten: „Die Kopien dürfen weder vervielfältigt noch weitergegeben werden. Sie sind an die Staatsanwaltschaft herauszugeben, sobald kein berechtigtes Interesse an der weiteren Verwen-

136

BR-Drs. 829/03, 1. BR-Drs. 829/03, 1. 138 Vgl. hierzu insbesondere die Erwägungsgründe 4, 5, 6, 8 und die Artt. 2, 3 S. 2, 4 Abs. 1 lit. d, lit. e, 8 Abs. 3 S. 1, Abs. 4, 15 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses des Rates vom 15.03.2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren (2001/220/JI), ABl. 2001 L 82/1. 139 BR-Drs. 829/03, 21. 140 BR-Drs. 552/00 (B), Anlage, S. 10 f. 141 BR-Drs. 829/03, 20. 142 Dies deutet sich in BR-Drs. 829/03, 21, an. 137

II. Systematik

173

dung besteht. Die Überlassung der Aufzeichnung oder die Herausgabe von Kopien an andere als die vorbezeichneten Stellen bedarf der Einwilligung des Betroffenen.“143

Der Entwurf der Bundesregierung könnte an anderer Stelle indes auch darauf hindeuten, dass in Bezug auf die Einordnung der digitalen Aufzeichnungen als Aktenbestandteile doch keine Klarheit bestand. Dies könnte sich in der Einzelbegründung zu § 273 Abs. 2 StPO-E, der durch den Gesetzesentwurf ebenfalls umgesetzt werden sollte, hinsichtlich Tonträgerdateien zeigen, in der es auszugsweise heißt: „Die Aufzeichnungen werden zum Bestandteil der Akten und sind deshalb mit ihnen aufzubewahren, um gegebenenfalls auch im Falle eines Wiederaufnahmeverfahrens zur Verfügung zu stehen; […] Der Verweis auf § 58a Abs. 2 Satz 1 und 3 bis 6 StPO sichert das Einsichtsrecht in diese Aktenteile und den Datenschutz.“144

Schließlich wird an dieser Stelle einerseits angeführt, dass Aufzeichnungen Aktenbestandteile seien. Hieraus kann freilich nicht geschlossen werden, dass sich die gesetzgeberische Ansicht bestätigt, Aufzeichnungen oder deren Kopien seien im Allgemeinen Aktenbestandteile. Denn in § 273 Abs. 2 S. 2 StPO-E sollte gerade ausdrücklich normiert werden, dass der Tonträger zu den Akten zu nehmen ist.145 Insoweit wird lediglich der Normtext des Entwurfs zusammengefasst. Andererseits sollte nach der soeben zitierten Begründung gesichert werden, dass ein Einsichtsrecht in die (Ton-)Aufzeichnungen besteht. Fraglich erscheint, was mit „sichern“ gemeint war. Die Aufzeichnung der Zeugenvernehmung auf Tonträger sollte als Äquivalent zu dem Hauptverhandlungsprotokoll dienen. In diesem Zusammenhang ist somit davon auszugehen, dass der Gesetzgeber hier Rechtsklarheit schaffen wollte. Denn auch zu damaliger Zeit wurde darüber diskutiert, ob die Prozessbeteiligten ein Einsichtsrecht in die Hauptverhandlungsprotokolle haben, was von der Rechtsprechung bis zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung abgelehnt wurde. Das noch nicht vollständige Hauptverhandlungsprotokoll fiel sowohl nach damaliger als auch nach heutiger Ansicht der Rechtsprechung nicht unter das Akteneinsichtsrecht des § 147 StPO.146 Ohne Verweis in § 273 Abs. 2 StPO-E auf § 58a Abs. 2 StPO-E hätte darüber befunden werden müssen, ob § 58a StPO (direkt oder analog) auf die Aufzeichnung als Äquivalent zum Protokoll Anwendung finden kann. Weiter hätte geklärt werden müssen, ab welchem Zeitpunkt ein mögliches Einsichtsrecht in diese Aufzeichnungen besteht. Durch die Aufnahme des Verweises in § 273 Abs. 2 S. 4 StPO-E auf § 58a Abs. 2 S. 1, 3 bis 6 StPO-E wurde daher klarstellend eine Ausnahme von § 58a StPO normiert und das Einsichtsrecht somit im vorbenannten Sinne gesichert. 143

BR-Drs. 829/03, 1. BR-Drs. 829/03, 27. 145 BR-Drs. 829/03, 3. 146 Zu der Zeit vor der Entwurfsbegründung: BGH NJW 1981, 411; OLG Koblenz NStZ 1988, 42; BGH NStZ 1993, 141, jeweils m. w. N.; aus der jüngeren Rechtsprechung: BGH NStZ 2014, 284, 285 m. Anm. Kudlich. 144

174

B. Einfachgesetzliche Auslegung

Weiter wird im Zusammenhang mit § 273 Abs. 2 StPO-E die Begrenzung der Möglichkeit einer Tonträger-Aufzeichnung auf amtsgerichtliche Verfahren unter anderem damit begründet, dass das Revisionsgericht ansonsten insbesondere mit Blick auf Verfahrensrügen wegen Verstoßes gegen § 261 StPO unter Umständen die gesamten Tonbandaufnahmen einsehen müsste.147 „[D]enn die Aufzeichnungen sind stets Teil der Akten und werden somit für die Beurteilung der Frage herangezogen, ob Verfahrensfehler oder materielle Fehler vorliegen (Albrecht a.a.O. S. 494; Diemer, NStZ 2002, 19).“148

Auch hieraus lässt sich die Einordnung der Aufzeichnungen nach der Vorstellung der Bundesregierung eindeutig ableiten, wobei wiederum unklar bleibt, ob hierbei die originalen Aufzeichnungen oder lediglich die Aufzeichnungskopien angesprochen wurden.149 Zwar verweist der Entwurf der Bundesregierung auf einen Aufsatz von Diemer, in dem auf der zitierten Seite ausgeführt wird, dass es i. R. d. Bedeutung der Videoaufzeichnung im Revisionsverfahren auf die rechtliche Einordnung ebendieser als Beweisstücke nicht ankomme.150 Jedoch wird die Videoaufzeichnung an zahlreichen Stellen – mitunter ebenfalls auf der zitierten Seite – in Zusammenhang mit dem Akteninhalt gebracht.151 Insofern ist auch nicht davon auszugehen, dass die Bundesregierung durch den Verweis klarstellen wollte, dass es sich bei den Videoaufzeichnungen und deren Kopien nicht um Aktenbestandteile, sondern nur um Beweisstücke handle. Vor diesem Hintergrund fragt sich, wie die Norm des § 58a Abs. 2 S. 3 StPO-E letztlich zu lesen ist. Ein Vorschlag wäre der folgende: „Die §§ 147, 406e sind entsprechend anzuwenden, mit der Maßgabe, dass den zur Akteneinsicht Berechtigten nur Kopien der Aufzeichnung überlassen werden können.“

Durch die gedankliche Einfügung des Wortes „nur“ käme die gesetzgeberische Intention – die Verkürzung der Verteidigungs- und Verletztenbeistandsrechte in einem angemessenen Maß152 – zwar zum Ausdruck. Andererseits hätte eine sol147

BR-Drs. 829/03, 27 f. BR-Drs. 829/03, 29. 149 Wenn auch angemerkt sei, dass das Rechtsmittel der Revision auch gegen ein amtsgerichtliches Urteil statthaft war und ist, § 335 Abs. 1 StPO. Insofern wäre dieses gesetzgeberische Ziel nicht vollständig zu realisieren gewesen. Dies wurde in der späteren Diskussion auch erkannt: BR-Drs. 829/03 (B), 10; BT-Drs. 15/1976, 13. 150 Diemer NStZ 2002, 16, 19 (Punkt IV). 151 Vgl. beispielhaft Diemer NStZ 2002, 16, 17: „[…] aktenkundigen Videoaufzeichnung […]“; siehe auch: ders. a. a. O. S. 19: „Entscheidendes Kriterium für die revisionsrechtliche Relevanz von Aktenbestandteilen ist somit, ob […].“; ders. a. a. O. S. 20: „Damit zieht die bisherige Rechtsprechung des BGH zur Zulässigkeit des Rückgriffs auf Akteninhalt bei Vorliegen einer zulässigen Videoaufzeichnung eine deutlich weiter gehende revisionsrechtliche Prüfung nach sich, weil Verfahrens- und sachliche Fehler zu einem bedeutsamen Teil ohne Rekonstruktion der Hauptverhandlung mit den Mitteln des Revisionsrechts allein aufgrund des Akteninhalts bewiesen werden können.“ 152 BR-Drs. 829/03, 21. 148

II. Systematik

175

che Formulierung nur dann Sinn, wenn nach dem Willen des Gesetzgebers die Originalaufzeichnungen dem Grunde nach als herauszugebende Aktenbestandteile einzuordnen wären. Die Intention des Bundesrates aus voriger Wahlperiode, an die sich die darauffolgenden Gesetzgebungsverfahren anlehnten, ist insoweit jedoch nicht eindeutig. Dem Bundesrat schwebte möglicherweise auch vor, dass lediglich die Aufzeichnungskopien in die Kanzleiräume zu übersenden seien.153 Auch in der Begründung des Regierungsentwurfes wird nicht deutlich, ob grundsätzlich (auch) die originalen Aufzeichnungen als Aktenbestandteile anzusehen sind. Wenn man annehmen wollte, dass durch die Reform lediglich Einschränkungen bzgl. des Vervielfältigungs-/Weitergabeverbots eingeführt werden sollten, hieße dies, dass der Regierungsentwurf zugrunde legt, dass ohnehin allenfalls die Aufzeichnungskopien Aktenbestandteile sein können oder jedenfalls als solche zu behandeln und deshalb herauszugeben sind. Hiernach wäre der Wortlaut von § 58a Abs. 2 S. 3 bis 6 StPO-E „gedanklich“ um einen Satz zu kürzen und wie folgt zu lesen: „Die §§ 147, 406e finden mit der Maßgabe Anwendung, dass die herauszugebenden Kopien weder vervielfältigt noch weitergegeben werden können. Sie sind an die Staatsanwaltschaft herauszugeben, sobald kein berechtigtes Interesse an der weiteren Verwendung besteht. Die Überlassung der Aufzeichnung oder die Herausgabe von Kopien an andere als die vorbezeichneten Stellen bedarf der Einwilligung des Betroffenen.“

Gesichert ist bis hierhin lediglich die Erkenntnis, dass der Gesetzgeber davon ausging, dass Aufzeichnungen im Wege der Akteneinsicht herauszugeben sein können. Im Übrigen kann es sein, dass der Gesetzgeber hierbei die Aufzeichnungen im Original oder aber deren Kopie als Aktenbestandteil angesehen hat. Ebenso kann es sein, dass der Gesetzgeber Aufzeichnungskopien zwar nicht als Aktenbestandteile eingeordnet hat, diese in Ausnahmefällen jedoch als solche behandelt wissen möchte, sodass diese – wie grundsätzlich möglicherweise die Original-Aktenbestandteile – herauszugeben sind. Wie der Gesetzgeber die Originalaufzeichnungen einordnete, ergibt sich insofern nicht eindeutig aus dem Gesetzgebungsverfahren, auch nicht unter Einbeziehung des vorausgegangenen Bundesratsentwurfs.154 Zusammenfassend ging die gesetzgeberische Intention der Bundesregierung bei § 58a Abs. 2 S. 3 StPO-E dahin, dass von einem grundsätzlichen Einsichtsrecht jedenfalls in digitale Aufzeichnungskopien ausgegangen wurde. Ob eine Aufzeichnungskopie hierbei generell als Aktenbestandteil angesehen wurde oder lediglich zwecks Herausgabe erstellt und wie ein Aktenbestandteil behandelt werden sollte, geht aus den Materialien nicht eindeutig hervor. Ein Akteneinsichtsrecht hinsichtlich der Aufzeichnungen wurde im Ergebnis jedenfalls nicht kon-

153

Siehe hierzu BR-Drs. 552/00 (B), Anlage, S. 11; siehe hierzu S. 165 ff. Gemeint ist BR-Drs. 552/00 (B), bzw. BT-Drs. 14/4661, dem der Entwurf auf BTDrs. 15/814, entspricht. 154

176

B. Einfachgesetzliche Auslegung

stitutiv, sondern rein deklaratorisch normiert. Der Verweis auf die §§ 147, 406e StPO diente letztlich also der Klarstellung. Weiter sollte das Akteneinsichtsrecht durch das Weitergabe- und Vervielfältigungsverbot (§ 58a Abs. 2 S. 4 StPO-E), die Herausgabepflicht an die Staatsanwaltschaft bei Interessenfortfall (§ 58a Abs. 2 S. 5 StPO-E) und den Einwilligungsvorbehalt (§ 58a Abs. 2 S. 6 StPO-E) eine Beschränkung erfahren. Ob die Einsicht allenfalls in die Aufzeichnungskopie eine weitere Einschränkung des Akteneinsichtsrecht ist, kann den Gesetzesmaterialien nicht eindeutig entnommen werden. (c) Fraktionsentwurf Der im Anschluss an den Regierungsentwurf eingebrachte Entwurf einer anderen Bundestagsfraktion hielt hinsichtlich § 58a StPO-E sowohl vom Gesetzestext als auch von der Begründung an dem Entwurf der Bundesregierung fest.155 (d) Rechtsausschuss Der Rechtsausschuss empfahl dem Bundesrat hingegen, den Gesetzentwurf des Bundesrates aus voriger Wahlperiode156 zu übernehmen.157 Die Aufzeichnungen sollten hiernach also wieder nur dann wie Aktenbestandteile behandelt werden, wenn der Zeuge seine Zustimmung zur Herausgabe der Aufzeichnung erteilt. Obgleich an der Begründung der Vorgängerentwürfe zu diesem Entwurf im Wesentlichen festgehalten wird, führen die Ausschüsse darüber hinaus aus: „Bei einer grundsätzlichen Behandlung dieser Aufzeichnungen wie Akten könnte nicht ausgeschlossen werden, dass die im Wege der Akteneinsicht erstellten Kopien solcher Aufzeichnungen unkontrolliert weiter vervielfältigt und in Umlauf gesetzt werden.“158

Hierbei wird jedoch nicht hinreichend ersichtlich, ob der Rechtsausschuss auf die allgemein geltende Rechtslage abstellte oder ob auf die Rechtslage abgestellt wurde, die bei Umsetzung des Regierungsentwurfs eintreten würde. Ebenso unklar bleibt, ob hierbei die erstellten Kopien lediglich wie Akten behandelt und deshalb übersendet werden sollten, Aufzeichnungskopien als Aktenbestandteile angesehen wurden oder (auch) die originalen Aufzeichnungen Aktenbestandteile sein sollten. Stattdessen wurde angeführt, dass die Rechte der Betroffenen mit einem generellen Zustimmungsvorbehalt am besten gewahrt würden und ein Vervielfältigungsverbot mangels sicherer Umsetzungsmöglichkeiten zur Begegnung von Missbrauch kein gleich geeignetes Mittel sei.159 Ferner wurde kritisiert:

155

BT-Drs. 15/1976, 3, 10; dies gilt auch für § 273 Abs. 2 StPO-E: BT-Drs. 15/1976, 3, 12 f. Gemeint ist BT-Drs. 14/4661. 157 BR-Drs. 829/1/03, 3 f. 158 BR-Drs. 829/1/03, 3. 159 BR-Drs. 829/1/03, 3 f. 156

II. Systematik

177

„Für die Wahrung der Rechte der zur Akteneinsicht Berechtigten ist es ausreichend, wenn die Aufzeichnungen wie sonstige Beweisstücke bei Gericht bzw. bei der Staatsanwaltschaft (gegebenenfalls mehrfach) vorgespielt werden können. Dementsprechend sollten Aufzeichnungen von audiovisuellen Vernehmungen […] nur bei Zustimmung des Zeugen wie Akten behandelt werden (vgl. BT-Drs. 14/4661).“160

Insbesondere aus dem zweiten Satz könnte man zwar ableiten, dass von einer Einordnung der Aufzeichnungskopien in die Kategorie Aktenbestandteile ausgegangen wird. Andererseits könnte auch auf den Reformvorschlag selbst Bezug genommen worden sein. Die vorgestellten Auszüge könnten schließlich so verstanden werden, dass verhindert werden sollte, dass durch die Kodifizierung nach Maßgabe der vorigen Entwürfe die Aufzeichnungskopien als Aktenbestandteile anzusehen sein wären. Im Gegenteil könnte die Formulierung „wie sonstige Beweisstücke“ schließlich dafür sprechen, dass hiernach die Aufzeichnungen insgesamt als Beweisstücke angesehen wurden. Andererseits könnte – insbesondere unter Einbindung des zweiten Satzes – hiermit ebenso gemeint sein, dass mit den Aufzeichnungen so umzugehen sei, als wären sie Beweisstücke, die nicht dupliziert werden könnten. Darüber hinaus sollte in § 58a Abs. 2 S. 2 StPO aber wieder ein Verweis auf § 474 Abs. 1 i. V. m. Abs. 5 StPO eingeführt werden. Wäre der Rechtsausschuss also davon ausgegangen, dass Aufzeichnungen nach derzeit geltender Rechtslage Beweisstücke seien, wäre – entsprechend den vorigen Ausführungen161 zum Entwurf aus BT-Drs. 14/4661, 7, – wiederum ein Verweis auf § 474 Abs. 1 i. V. m. Abs. 4 StPO konsequent gewesen. Mithin ging offenbar auch der Rechtsausschuss davon aus, dass Aufzeichnungskopien grundsätzlich herauszugebende Aktenbestandteile seien, und er wollte den entsprechenden Konsequenzen durch die Neukodifizierung von § 58a Abs. 2 StPO entgegenwirken. Jedenfalls wurden die Aufzeichnungskopien grundsätzlich wie Aktenbestandteile behandelt, sodass nach dem Entwurf Einsicht in die Aufzeichnungskopien genommen werden konnte und sie überlassen werden konnten. Hierauf kommt es für die Einordnung jedoch nicht entscheidend an, weshalb eine sichere Zuordnung der Aufzeichnungen im Entwurf nicht erfolgen kann. (e) Ausschussfassung Obwohl die Ausschussempfehlung zu § 58a Abs. 2 StPO im ersten Durchgang mit Mehrheit befürwortet wurde162 und der Bundesrat in seiner Stellungnahme an der Ausschussempfehlung sowohl vom Gesetzestext als auch von der Begründung her festhielt,163 blieb die Bundesregierung bei ihrem ursprünglichen Gesetzesent160

BR-Drs. 829/1/03, 4. Siehe S. 163 f. 162 So der Anschein in BR-Plenarprotokoll 795: Stenografischer Bericht der 795. Sitzung des Deutschen Bundesrates vom 19.12.2003, 494A. 163 BR-Drs. 829/03 (B), 3. 161

178

B. Einfachgesetzliche Auslegung

wurf.164 Der anderslautende Entwurf des Bundesrates sollte von der Bundesregierung zunächst noch geprüft werden.165 Nach abschließender Beratung und Beschlussfassung durch den Rechtsausschuss wurde dann empfohlen, den Gesetzesentwurf in der Fassung des Regierungsentwurfs anzunehmen.166 Der Gesetzesentwurf in der Ausschussfassung wurde sodann angenommen,167 sodass der Begründung zu dieser Beschlussempfehlung erhebliche Bedeutung im Rahmen der historischen Auslegung des § 58a StPO zukommt. Aus dieser lässt sich Folgendes ableiten: Es wurde ausdrücklich auf die Begründungen der BT-Drucksachen 15/2536 und 15/1976, S. 9 ff., verwiesen.168 Die BT-Drucksache 15/2536 betraf den Gesetzesentwurf der Bundesregierung, denn in dieser wurde vollständig auf die Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundestagsfraktion in BT-Drucksache 15/1976 weiterverwiesen.169 Dieser letztere Entwurf in BT-Drucksache 15/1976 orientierte sich in Bezug auf § 58a StPO-E inhaltsgleich am ersten Gesetzesentwurf der Bundesregierung vom 07.11.2003 in BR-Drucksache 829/03.170 Durch den Regierungsentwurf in BR-Drucksache 829/03 sollte das damalige Anliegen des Bundesrates im Wesentlichen wieder angegriffen werden, sodass die Intention dieses Gesetzesentwurfes dahingehend zu verstehen war, dass – in Anlehnung an die Sichtweise des Bundesrats der Wahlperiode zuvor171 – Aufzeichnungen oder zumindest die Aufzeichnungskopien Aktenbestandteile bzw. die Kopien zumindest als Aktenbestandteile zu behandeln seien sollten. Lediglich in Bezug auf das (bei Nichtzustimmung des Zeugen) ausnahmslose Herausgabeund Vervielfältigungsverbot wurde von der Bundesregierung eine Abweichung vorgeschlagen.172 Aufzeichnungen wurden im Zusammenhang mit § 58a StPO somit nicht ausnahmsweise wie Akten behandelt, da zumindest die Kopien zu der Zeit bereits generell als herauszugebende Akten angesehen wurden oder zumindest wie solche behandelt wurden – so jedenfalls der gesetzgeberische Wille.173 164

BT-Drs. 15/2536, 5. BT-Drs. 15/2536, 14. 166 BT-Drs. 15/2609, 4, 13. 167 BT-Plenarprotokoll 15/94: Stenografischer Bericht der 94. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 04.03.2004, 8409C. 168 BT-Drs. 15/2609, 14. 169 BT-Drs. 15/2536, 5; der Verweis auf BT-Drs. 15/1976 war für die Begründung zu § 58a Abs. 2 StPO-E demnach nicht notwendig. Im Übrigen wurde dieser Entwurf für erledigt erklärt: BT-Plenarprotokoll 15/94: Stenografischer Bericht der 94. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 04.03.2004, 8409C. 170 Vgl. BT-Drs. 15/1976, 3, 7 ff.; BR-Drs. 829/03, 1, 12 ff. 171 Gemeint ist der Entwurf auf BT-Drs. 14/4661; hierin ließ sich die Intention ableiten, dass eine Aufzeichnung als Aktenbestandteil unter das Akteneinsichtsrecht fällt. Eine Differenzierung zwischen der Originalaufzeichnung und einer Kopie hiervon wurde zu der Zeit nach zuvor Gesagtem noch nicht vorgenommen; siehe S. 163 ff. 172 BR-Drs. 829/03, 1; So offenbar auch das Verständnis von Schönbohm in der ersten Bundesrats-Plenarsitzung, siehe BR-Plenarprotokoll 795: Stenografischer Bericht der 795. Sitzung des Deutschen Bundesrates vom 19.12.2003, 511B, Anlage 6. 173 Siehe S. 160. 165

II. Systematik

179

(f) 2. Beratung In der 2. Beratung zur Reform des § 58a Abs. 2 StPO bekräftigte zunächst die CDU/CSU-Fraktion, dass Videoprotokolle nicht dem Verteidiger ausgehändigt werden dürften.174 Vor diesem Hintergrund bestätigt sich die vorige Annahme, dass diese Fraktion bei ihrem ursprünglichen Entwurf aus BT-Drucksache 15/814 davon ausging, Aufzeichnungen bzw. die Kopien hiervon fielen als (solche zu behandelnde) Aktenbestandteile grundsätzlich unter das Akteneinsichtsrecht.175 Weiter wurde betont, dass die Video-Aufzeichnungen als Beweismittel nur bei der Staatsanwaltschaft eingesehen werden dürften.176 Aus dem letzten Satz ist aber nicht abzuleiten, dass die CDU/CSU-Fraktion davon ausging, dass Aufzeichnungen immer als Beweismittel-/stücke einzustufen seien. Denn der Redner Kauder bezog sich auf deren eigenen Standpunkt und somit auf den Gesetzesentwurf in BT-Drucksache 15/814.177 Dass die Originalaufzeichnung als Beweismittel einzustufen sei, wurde im Laufe dieser Gesetzgebungsdebatte andererseits aber auch von keinem mitwirkenden Organ bestritten. Explizit bestätigt wurde dies aus anderen Lagern jedoch ebenfalls nicht. Zum Teil hatte man sich lediglich dafür ausgesprochen, dass die Kopien von digitalen Aufzeichnungen, worunter dann auch die Videoaufzeichnungs-Kopien fallen würden, als Aktenbestandteile den zur Akteneinsicht Berechtigten herauszugeben seien.178 Noll von der CDU/CSU-Fraktion gab an, dass es bei der Diskussion um die rechtliche Handhabung der Aufzeichnungen lediglich um Kopien gehe. Hierbei nahm sie auch auf ihren Vorredner Kauder Bezug.179 Durch die Reform sollte verhindert werden, dass Videoaufzeichnungskopien als Aktenbestandteile herausgegeben werden.180 Die Aussage von Kauder ist vor diesem Hintergrund so zu verstehen, dass die CDU/CSU-Fraktion aufgrund des starken Eingriffs in die Persönlichkeitsrechte der Zeugen auch die Videoaufzeichnungskopie ausnahmsweise als Beweisstück behandelt wissen wollte. Auch gibt Kauder an, dass die Fraktion in diesem Punkt von den Entwürfen der Bundesregierung und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abweiche.181 174 BT-Plenarprotokoll 15/94: Stenografischer Bericht der 94. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 04.03.2004, 8402A. 175 Siehe S. 168. 176 BT-Plenarprotokoll 15/94: Stenografischer Bericht der 94. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 04.03.2004, 8402A-B. 177 BT-Plenarprotokoll 15/94: Stenografischer Bericht der 94. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 04.03.2004, 8402A: „Wir waren der Auffassung […].“ 178 BT-Plenarprotokoll 15/94: Stenografischer Bericht der 94. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 04.03.2004, 8403A. 179 Zum Vorstehenden: BT-Plenarprotokoll 15/94: Stenografischer Bericht der 94. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 04.03.2004, 8407B. 180 BT-Plenarprotokoll 15/94: Stenografischer Bericht der 94. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 04.03.2004, 8407B. 181 BT-Plenarprotokoll 15/94: Stenografischer Bericht der 94. Sitzung des Deutschen Bun-

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hielt dem entgegen, dass ein Weitergabeund Vervielfältigungsverbot als Einschränkung ausreichend sei, um das Allgemeine Persönlichkeitsrecht zu schützen.182 Der Gesetzesentwurf der CDU/CSUFraktion wurde sodann mehrheitlich abgelehnt und der Gesetzesentwurf der Ausschussfassung in zweiter und dritter Beratung angenommen.183 Insofern können die Ausführungen aus dem Lager der CDU/CSU-Fraktion hinsichtlich der Einordnung der Original-Aufzeichnungen als Beweisstücke zwar nicht als maßgebend angesehen werden. Dass diese Rechtsauffassung andererseits aber auch nicht in Abrede gestellt wurde, spricht indiziell dafür, dass dies im Ergebnis auch der Normvorstellung des Gesetzgebers entspricht. Dies steht schließlich auch nicht in Widerspruch zu den vorigen Entwurfsbegründungen, da hierin wiederholt auf Aufzeichnungen und Aufzeichnungskopien Bezug genommen wurde. (g) Vermittlungsausschuss Nachdem der von der Bundesregierung eingebrachte Gesetzesentwurf im Bundestag angenommen wurde,184 empfahl der Rechtsausschuss dem Bundesrat auch in Bezug auf § 58a Abs. 2 StPO-E die Anrufung des Vermittlungsausschusses.185 Die im Wege der Akteneinsicht erstellten Aufzeichnungskopien könnten theoretisch vervielfältigt werden; ein Herausgabe- und Vervielfältigungsverbot sei zur Vermeidung eines solchen Missbrauchs deshalb nicht ausreichend.186 In dem zweiten Durchgang der Bundesrats-Plenarsitzung wurde der Wunsch auf eine rasche Entscheidung des Vermittlungsausschusses ausgesprochen. In Bezug auf die angenommene Fassung des § 58a Abs. 2 StPO-E hieß es dann: „Mir liegt insbesondere die geplante Änderung der Vorschriften zur Herausgabe von audiovisuellen Aufzeichnungskopien von Zeugenvernehmungen am Herzen. Um die Möglichkeit eines Missbrauchs zu verhindern, ist es meines Erachtens unverzichtbar, eine Regelung einzuführen, nach der die Aufzeichnungen wie Beweisstücke ausschließlich in den Räumen der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts einzusehen sind.“187

destages vom 04.03.2004, 8402B: Verwiesen wurde auf das Opferrechtsreformgesetz, womit aber die Entwürfe auf den Drucksachen BT-Drs. 15/2536, und BT-Drs. 15/1976, gemeint sind, vgl. BT-Plenarprotokoll 15/94: Stenografischer Bericht der 94. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 04.03.2004, 8400A. 182 BT-Plenarprotokoll 15/94: Stenografischer Bericht der 94. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 04.03.2004, 8403A. 183 BT-Plenarprotokoll 15/94: Stenografischer Bericht der 94. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 04.03.2004, 8409B-C. 184 BR-Drs. 197/04, 1. 185 BR-Drs. 197/1/04, 1. 186 BR-Drs. 197/1/04, 3 f. 187 BR-Plenarprotokoll 798: Stenografischer Bericht der 798. Sitzung des Deutschen Bundesrates vom 02.04.2004, 137D-138A; die Hervorhebung des ersten Satzes im Original wurde nicht übernommen.

II. Systematik

181

Die Entwurfsgegner ordneten die Aufzeichnungen bzw. die Aufzeichnungskopien i. R. v. § 58a Abs. 2 StPO-E ersichtlich als Aktenbestandteile ein. Jedenfalls sind Aufzeichnungskopien hiernach grundsätzlich herauszugeben. Die Mehrheit stimmte für die Anrufung des Vermittlungsausschusses hinsichtlich § 58a Abs. 2 StPO-E.188 Gleichwohl blieb der Vermittlungsausschuss in Bezug auf § 58a Abs. 2 StPO-E bei dem Gesetzesbeschluss; lediglich das Wort „Betroffenen“ in § 58a Abs. 2 S. 6 StPO-E sollte durch das Wort „Zeugen“ ersetzt werden.189 Nach dem Gesetzesbeschluss müssten die Aufzeichnungskopien an die Verteidigung und den Verletztenbeistand unabhängig davon ausgehändigt werden, ob der Zeuge hierzu seine Zustimmung erteilt. An dieser Stelle macht der Vermittlungsausschuss einen Kompromiss zugunsten des Zeugen. Es sollte nach dem zweiten Absatz folgender Absatz 3 angefügt werden: „Widerspricht der Zeuge der Überlassung einer Kopie der Aufzeichnung seiner Vernehmung nach Absatz 2 Satz 3, so tritt an deren Stelle die Überlassung einer Übertragung der Aufzeichnung in ein schriftliches Protokoll an die zur Akteneinsicht Berechtigten nach Maßgabe der §§ 147, 406e. Wer die Übertragung hergestellt hat, versieht die eigene Unterschrift mit dem Zusatz, dass die Richtigkeit der Übertragung bestätigt wird. Das Recht zur Besichtigung der Aufzeichnung nach Maßgabe der §§ 147, 406e bleibt unberührt. Der Zeuge ist auf sein Widerspruchsrecht nach Satz 1 hinzuweisen.“190

Hierbei fällt zunächst auf, dass in dem ersten Satz in Bezug auf die Aufzeichnungskopien und die Verschriftung als funktionales Äquivalent hierzu von den „zur Akteneinsicht Berechtigten“ gesprochen wird. Die zuvor ermittelte Auffassung des Gesetzgebers, nach der Aufzeichnungskopien generell Akten sind oder zumindest als solche zu behandeln und deshalb im Wege der Akteneinsicht herauszugeben sind,191 ist hiermit auch dem Wortlaut des § 58a Abs. 3 S. 1 StPO-E zu entnehmen. Sowohl die Aufzeichnungskopie als auch ein ggfs. anzufertigendes Verschriftungsprotokoll ist demnach entweder Bestandteil der Akte oder zumindest als Aktenbestandteil zu behandeln und somit im Wege der Akteneinsicht herauszugeben. Diese Annahme wird auch dadurch bestätigt, dass sich der Gesetzgeber an dieser Stelle zudem über die Differenzierung zwischen dem Akteneinsichtsrecht und dem Beweisstückbesichtigungsrecht im Klaren war. Denn im dritten Satz wird normiert, dass das Besichtigungsrecht der Aufzeichnung unberührt bleibt. Es wird also einerseits zwischen Akteneinsicht und Beweisstückbesichtigung unterschieden und andererseits zwischen der Aufzeichnungskopie/dem Verschriftungsprotokoll und der Aufzeichnung selbst. Mit der „Aufzeichnung“ in § 58a

188 BR-Plenarprotokoll 798: Stenografischer Bericht der 798. Sitzung des Deutschen Bundesrates vom 02.04.2004, 139A. 189 BT-Drs. 15/3062, 2. 190 BT-Drs. 15/3062, 2. 191 Siehe S. 160.

182

B. Einfachgesetzliche Auslegung

Abs. 3 S. 3 StPO-E kann somit nur die Originalaufzeichnung gemeint sein. Die Original-Aufzeichnung ist hiernach also als Beweisstück zu qualifizieren. Der Vermittlungsausschuss hat sich mit dieser Erweiterung der Befürchtung, dass die im Wege der Akteneinsicht grundsätzlich herauszugebenden Aufzeichnungskopien missbraucht werden, angenommen und die Herausgabe der Aufzeichnungskopien generell – also auch für die Verteidigung und den Verletztenbeistand – unter den Widerrufsvorbehalt des § 58a Abs. 3 S. 1 StPO-E gestellt. Diese Beschlussempfehlung wurde im Bundestag sodann einstimmig angenommen.192 Die vorige Stellungnahme des Bundesrates, in der ebenfalls die Einordnung der Aufzeichnungskopien als (jedenfalls als solche zu behandelnde) Aktenbestandteile zum Ausdruck kam, ist durch die Hinzufügung des § 58a Abs. 3 StPO-E als Kompromiss weitgehend umgesetzt worden.193 Aus diesem Grund hat der Bundesrat gegen das Gesetz auch keinen Einspruch eingelegt.194 Durch das beschlossene Opferrechtsreformgesetz wurde § 58a Abs. 2 StPO somit reformiert und ein dritter Absatz angefügt.195 Zusammengefasst lässt sich aus der Reform des § 58a Abs. 2 StPO und den diesbezüglichen Gesetzesmaterialien Folgendes ableiten: Das beschlossene Gesetz fand seinen Ursprung in Bezug auf § 58a Abs. 2 StPO im Regierungsentwurf. Dieser Regierungsentwurf führte die Leitgedanken des Bundesratsentwurfs aus der vorigen Wahlperiode fort und verzichtete hierbei lediglich auf das ausnahmslose Herausgabe- und Vervielfältigungsverbot. Die in der vorigen Wahlperiode zum Ausdruck gekommene Ansicht des Bundesrates, nach der zumindest die Aufzeichnungskopien dem Akteneinsichtsrecht unterliegen (könnten), machte sich die Bundesregierung mit ihrem Entwurf in der darauffolgenden Periode zu eigen. Ob die Aufzeichnungskopie Aktenbestandteil sein sollte oder lediglich wie ein Aktenbestandteil zu behandeln und somit herauszugeben/zu überlassen sein sollte, kann anhand der Materialien nicht eindeutig festgestellt werden. Der reformierte § 58a Abs. 2 StPO ist aus historischer Sicht jedenfalls so zu verstehen, dass § 58a Abs. 2 S. 3 StPO ausschließlich klarstellende Funktion hat, da der Gesetzgeber davon ausging, dass jedenfalls Aufzeichnungskopien herauszugebende Informationsträger (entweder als Aktenbestandteil oder eben als Aktenbestandteils-„Ersatz“) seien. Ob er zudem davon ausging, dass grundsätzlich (auch) die Original-Aufzeichnungen herauszugebende Akten seien, sodass § 58a Abs. 2 S. 3 StPO das Akteneinsichtsrecht auch insoweit ein-

192 BT-Plenarprotokoll 15/108: Stenografischer Bericht der 108. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 06.05.2004, 9770D. 193 Vgl. BR-Plenarprotokoll 799: Stenografischer Bericht der 799. Sitzung des Deutschen Bundesrates vom 14.05.2004, 181A; angespielt wurde offensichtlich auf die Begründung bei BR-Drs. 829/03 (B), 3. 194 BR-Plenarprotokoll 799: Stenografischer Bericht der 799. Sitzung des Deutschen Bundesrates vom 14.05.2004, 181B. 195 BGBl. 2004 I, 1354.

II. Systematik

183

schränkt, geht aus der Gesetzeshistorie gleichermaßen nicht eindeutig hervor. Jedenfalls die sich an § 58a Abs. 2 S. 3 StPO anschließenden Sätze 4 bis 6 schränken allerdings die Verteidigungsrechte zur Stärkung der Zeugeninteressen ein. Insbesondere der Einfügung des § 58a Abs. 3 StPO durch den Vermittlungsausschuss und der hierin zum Ausdruck kommenden Unterscheidung zwischen Aufzeichnungskopien und den zur Akteneinsicht Berechtigten einerseits und der Aufzeichnung und dem Besichtigungsrecht andererseits ist zu entnehmen, dass der Gesetzgeber die Aufzeichnungskopien als (solche zu behandelnde) Aktenbestandteile eingeordnet hat. Weiter geht hieraus hervor, dass die Original-Aufzeichnung als Beweisstück anzusehen ist, da in den §§ 147 Abs. 1, 406e Abs. 1 S. 1 StPO lediglich für Beweisstücke ein Besichtigungsrecht normiert ist. Der vom Ausschuss formulierte dritte Absatz und die hierin vorgenommene Unterscheidung wird zwar nicht näher begründet. Der Wortlaut in § 58a Abs. 3 S. 1, 3 StPO und der vorausgegangene Gesetzgebungsverlauf – es wurde zuvor an mehreren Stellen zwischen Aufzeichnungen und Aufzeichnungskopien unterschieden, die jeweils für sich jedoch keine klare Normvorstellung erkennen ließen; zudem wurde die in der Plenardebatte geäußerte Rechtsauffassung der CDU/CSUFraktion nicht in Abrede gestellt – lässt jedoch nur den Schluss zu, dass die Einordnung der Aufzeichnungen als Beweisstücke und deren Kopien jedenfalls als im Wege der Akteneinsicht herauszugebende Informationsträger der Vorstellung des Gesetzgebers entspricht. Ob die originalen Aufzeichnungen (ebenfalls) Akten sind – dies würde bedeuten, dass die Beweisstücke grundsätzlich auch Aktenbestandteile sind –, ergibt sich weder aus dem Normtext von § 58a StPO noch aus der Gesetzeshistorie bzw. den Gesetzesmaterialien. Die Einordnung der Aufzeichnungskopien als Aktenbestandteile oder zumindest als im Wege der Akteneinsicht herauszugebende Informationsträger ergibt sich zudem daraus, dass in dem Gegenentwurf des Bundesrates aus der vorigen Wahlperiode und hieran angelehnt auch in dem darauffolgenden Gesetzgebungsverfahren davon ausgegangen wurde, dass die Aufzeichnungskopien generell herauszugeben sind. Aus diesem Grunde wurde ein vom Zeugen abhängendes Vervielfältigungsverbot gefordert. Auch diese Gedanken haben sich durch die Einfügung des dritten Absatzes verdichtet. Insgesamt ist § 58a Abs. 2 S. 3 StPO bis zu diesem Zeitpunkt historisch also derart auszulegen, dass die Norm zumindest hinsichtlich der Einordnung einer hilfsweisen Aufzeichnungskopie als im Wege der Akteneinsicht herauszugebender Informationsträger aus Klarstellungsgründen eingeführt wurde. Die Annahme Bells, dass aus § 58a Abs. 2 S. 3 StPO und insbesondere der mit dem Opferrechtsreformgesetz in Kraft getretenen Ergänzung, dass explizit Aufzeichnungskopien herausgegeben werden könnten, folge, dass ein solches Recht ohne § 58a StPO nicht bestehe,196 überzeugt insofern nicht.

196

So Bell, Akteneinsicht, S. 74.

184

B. Einfachgesetzliche Auslegung

cc) Weitere Reformen Die Fassung des § 58a Abs. 2 und 3 StPO hat sich seit Inkrafttreten des Opferrechtsreformgesetzes nicht mehr verändert. In der darauffolgenden 16. Wahlperiode wurde 58a Abs. 1 S. 2 StPO reformiert197 und nachfolgend § 58a Abs. 1 StPO ein dritter Satz angefügt,198 was auf die vorgenommene Einordnung jedenfalls der Aufzeichnungskopien als herauszugebende Aktenbestandteile bzw. als solche zu behandelnde Informationsträger keine Auswirkungen hat. Jüngst wurde zudem § 58a Abs. 3 StPO reformiert. Es wurde unter anderem § 58a Abs. 3 S. 2 StPO a. F. gestrichen, sodass § 58a Abs. 3 S. 3 StPO a. F. nunmehr in § 58a Abs. 3 S. 2 StPO n. F. normiert ist.199 In den diesbezüglichen Gesetzesmaterialien wird bestätigt, dass der Gesetzgeber von einer grundsätzlichen Herausgabepflicht jedenfalls der Aufzeichnungskopien ausgeht.200 Weitere Erkenntnisse lassen sich hieraus nicht ableiten.201 b) Fazit zu § 58a Abs. 2 S. 3 StPO Der Gesetzgeber ging bei der Schaffung des § 58a Abs. 2 S. 3 StPO in der auch heute noch geltenden Fassung davon aus, dass die Originalaufzeichnungen als Beweisstücke, aber jedenfalls deren Kopien als Aktenbestandteile i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO einzuordnen oder zumindest als solche zu behandeln sind. Aufzeichnungskopien sollten also im Wege der Akteneinsicht herauszugeben sein. Ob es sich nach Auffassung des Gesetzgebers bei den Kopien (ebenfalls) um Aktenbestandteile handelt oder diese nur einen Akten-„Ersatz“ darstellen sollten, der im Wege der Akteneinsicht herauszugeben ist, wird nicht deutlich. Jedenfalls dient der Verweis in § 58a Abs. 2 S. 3 StPO auf die §§ 147, 406e StPO lediglich der Klarstellung. 197

BGBl. 2009 I, 2280. BGBl. 2019 I, 2121. 199 BGBl. 2021 I, 2099, 2100. 200 BT-Drs. 19/27654, 94: „Da es sich bei Ton- oder Bild-Ton-Aufzeichnungen einer Vernehmung nicht um Dokumente im Sinn des § 32b der Strafprozessordnung, sondern um Dateien handelt, die nicht zur Wiedergabe in körperlicher Form geeignet sind, unterliegen sie zwar dem Akteneinsichts- beziehungsweise Besichtigungsrecht, können aber unter Umständen, insbesondere aufgrund ihres Umfangs, nicht zusammen mit der Akte übermittelt werden. In diesem Fällen muss die Einsicht durch ein Zugriffs- und Abrufrecht auf die Aufzeichnungen ermöglicht werden. Das gilt entsprechend für Aufzeichnungen, die ursprünglich bei der Polizei erstellt und dort auf einem Server gespeichert wurden. […] Satz 4 bestimmt schließlich, dass es künftig verpflichtend sein soll, die Art der Aufbewahrung oder Speicherung (einschließlich des Aufbewahrungs- oder Speicherorts sowie gegebenenfalls der Bezeichnung des Speichermediums oder der betreffenden Dateien) aktenkundig zu machen. Dies erleichtert es den zur Akteneinsicht berechtigten Personen, ihr Akteneinsichts- beziehungsweise Besichtigungsrecht, das auch bei einer Aufbewahrung der Aufzeichnung außerhalb der Akten besteht, auf diese Aufzeichnungen zu erstrecken.“; auf diese Begründung zu § 168a StPO-E wurde bzgl. § 58a StPO-E ausdrücklich Bezug genommen: BT-Drs. 19/27654, 58. 201 Siehe BT-Drs. 19/27654, 58, 89 ff. 198

II. Systematik

185

Für die Auslegung von § 147 StPO kann zusammenfassend festgehalten werden, dass nach Auffassung des Gesetzgebers bestimmte Informationsträger sowohl Beweisstück als auch (nur) Aktenbestandteil (bzw. als solcher zu behandelnder Informationsträger) sein können, je nachdem, ob es sich um das Original oder um eine Kopie handelt. Mit der gesetzgeberischen Intention vereinbar wäre jedoch ebenfalls ein Verständnis, nach dem die Akte als Oberbegriff auch die Beweisstücke umfasst. Demnach wäre die Originalaufzeichnung nicht nur Beweisstück, sondern gleichzeitig Aktenbestandteil. Lediglich zur Wahrung des Integritätsschutzes könnte es dann angebracht sein, die Original-Aufzeichnung als nicht vom Übersendungsrecht umfasst anzusehen, sodass lediglich hilfsweise eine Aufzeichnungskopie herzustellen ist, welche sodann ebenfalls Aktenbestandteil oder zumindest wie ein solcher zu behandeln wäre. Diese Aufzeichnungskopie könnte mangels Integritätsschutzes im Wege der Akteneinsicht überlassen werden.

5. Einordnung von Original-Informationsträgern Es soll im Folgenden deshalb untersucht werden, ob die Aktenbestandteile die originalen Informationsträger beinhalten oder lediglich die Kopien hiervon. Aus der Normgenese von § 58a StPO und dem Wortlaut von § 58a Abs. 3 S. 1, 2 StPO kann lediglich abgeleitet werden, dass jedenfalls die Kopien der audiovisuellen Aufzeichnungen herauszugebender Aktenbestandteil sein sollen bzw. als solche zu behandeln sind. Ob die Original-Aufzeichnungen darüber hinaus (auch) Aktenbestandteile sind, kann aus § 58a StPO nicht eindeutig abgeleitet werden. Möglicherweise hat sich die Normvorstellung des Gesetzgebers hinsichtlich der Einordnung dieser Aufzeichnungen als Beweisstücke im Laufe der Zeit auch gewandelt. Ob oder inwieweit die Original-Aufzeichnungen bzw. originalen Informationsträger im Allgemeinen (nicht nur) Beweisstücke oder (bzw.: sondern auch) Aktenbestandteile sind, ist Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung. Ebenfalls soll herausgearbeitet werden, ob erstellte (Aufzeichnungs-)Kopien Aktenbestandteile sind oder ob sie lediglich wie herauszugebende Akten behandelt werden können. a) Die Abstufungen In der StPO zeigt sich, dass die Akte den Archetypus eines Informationsträgers darstellt. § 32f Abs. 5 S. 1 StPO macht deutlich, dass die StPO neben der Akteneinsicht auch noch die Überlassung von Dokumenten, Ausdrucken oder Abschriften kennt, welche im Vergleich zur Akte kein Aliud, sondern ein Minus darstellen.202 Auch in § 32f Abs. 1 S. 3 StPO ist die Möglichkeit vorgesehen, die elektronische Akte unter anderem durch einen Aktenausdruck als Äquivalent zu

202

Ähnlich i. E. offenbar LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 179.

186

B. Einfachgesetzliche Auslegung

überlassen. Die StPO kennt zudem die Möglichkeit, eine Aktenkopie zu überlassen. In den §§ 32 Abs. 1 S. 1, 2, 3, Abs. 3 S. 1, 32b Abs. 2, 3 S. 1, 32e Abs. 1 S. 1, Abs. 3 S. 3, Abs. 5 S. 2, 32f Abs. 1 S. 1, 2, 3, Abs. 2, Abs. 4 S. 2, Abs. 5 S. 1, Abs. 6 S. 1, 68 Abs. 4 S. 4, Abs. 5 S. 2, 80 Abs. 2, 96, 101 Abs. 2 S. 2, 114b Abs. 2 S. 1 Nr. 7, 121 Abs. 3 S. 1, 3, 122 Abs. 1, 141 Abs. 2 S. 3, 145a Abs. 1, Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 2 Hs. 1, 147 Abs. 1, Abs. 2 S. 1, Abs. 4, Abs. 5 S. 2, 168a Abs. 6 S. 2, 169a, 199 Abs. 2 S. 2, 209 Abs. 2, 225a Abs. 1 S. 1 Hs. 1, Abs. 2 S. 1, 267 Abs. 1 S. 3, 273 Abs. 2 S. 2, 275 Abs. 1 S. 1, 5, 275a Abs. 1 S. 1, 2, 3, 5, 319 Abs. 2 S. 2 Hs. 1, 320 S. 1, 321, 323 Abs. 2 S. 2, 338 Nr. 7, 346 Abs. 2 S. 2 Hs. 1, 347 Abs. 2, 348 Abs. 1, 3, 377 Abs. 1 S. 2, 385 Abs. 3 S. 1, 2, 3, 390 Abs. 3 S. 1, 406e Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1, 3, Abs. 3, 408 Abs. 1 S. 2, 459a Abs. 3 S. 1, 474 Abs. 2 S. 1, Abs. 5, 475 Abs. 1 S. 1, Abs. 4, 476 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 3, 478, 479 Abs. 4, 480 Abs. 2 S. 1 Hs. 1, 487 Abs. 2 S. 1, 496 Abs. 1, 3, 497 Abs. 1, Abs. 2 S. 1, 498 StPO wird der Begriff „Akte“ verwendet. Demgegenüber gewährt die StPO in Ausnahmefällen anstelle der Einsicht in die Akte „nur“ die Überlassung einer Aktenkopie. Nicht nur in § 58a Abs. 2 S. 3, S. 4 und 6, Abs. 3 S. 1 StPO sowie § 147 Abs. 4 S. 2 StPO ist die Überlassung der Aktenkopie normiert, sondern auch § 136 Abs. 4 S. 3 StPO sieht die Überlassung einer Kopie der audiovisuellen Aufzeichnung der Beschuldigtenvernehmung gem. § 136 Abs. 4 S. 1, 2 StPO vor und verweist aus diesem Grund auf (unter anderem) § 58a Abs. 2 S. 3 StPO. Ebenso verhält es sich gem. § 168e S. 4 StPO mit audiovisuellen Aufzeichnungen von getrennten Zeugenvernehmungen im Ermittlungsverfahren bzw. mit entsprechenden Aufzeichnungen im Hauptverfahren, 247a Abs. 1 S. 5 StPO. Für Tonaufzeichnungen ist ebenfalls ein entsprechender Verweis normiert, § 273 Abs. 2 S. 3 StPO. Auch § 32f Abs. 2 S. 2 Var. 3 StPO sieht anstelle der Einsicht in die papierne Akte alternativ das Bereitstellen einer Aktenkopie zur Mitnahme vor. Ebenso wie dem verteidigerlosen Beschuldigten kann auch dem Privatkläger, der nicht durch einen Rechtsanwalt vertreten wird, die Akteneinsicht in Form der Herausgabe von Aktenkopien gestattet werden, § 385 Abs. 3 S. 3 StPO. Ebenso verhält es sich mit dem das Akteneinsichtsrecht selbst ausübenden Verletzten, § 406e Abs. 3 S. 2 StPO. Die Überlassung von Aktenkopien ist auch in 478 StPO vorgesehen. In § 496 Abs. 1, Abs. 3 StPO und in § 498 StPO wird weiter zwischen elektronischen Akten und elektronischen Aktenkopien unterschieden. § 499 StPO ordnet darüber hinaus an, dass elektronische Aktenkopien unverzüglich zu löschen sind, wenn sie nicht mehr benötigt werden. Als weitere Abstufung ist die Überlassung eines schriftlichen Protokolls vorgesehen. § 58a Abs. 3 S. 1 StPO ordnet an, dass die audiovisuelle Aufzeichnung in ein schriftliches Protokoll zu übertragen und anstelle der Einsicht in die Aufzeichnungskopie zu überlassen ist, wenn der Zeuge der Überlassung der Aufzeichnungskopie widerspricht. Insgesamt wird deutlich, dass die Informationsgewährung grundsätzlich durch Einsicht in die Akte vorzunehmen ist. Als Ausnahme und Minus hiervon

II. Systematik

187

ist es im Einzelfall auch möglich, dem Berechtigten „nur“ eine Kopie zu überlassen. Als zweite gesetzliche Abstufung kann im Ausnahmefall auch nur die Überlassung einer schriftlichen Protokollierung des Informationsträgerinhaltes gestattet sein. Im Umkehrschluss ist mit dem Begriff der Akte also weder eine Kopie noch die Übertragung eines Informationsträgers in ein schriftliches Protokoll gemeint. Systematisch betrachtet muss die Akte demzufolge eine Ansammlung von Informationsträgern im Original sein. Dieses Verständnis liegt auch § 19 Abs. 1 S. 1 BORA zugrunde, in dem es hinsichtlich der Berufspflichten der Rechtsanwälte gegenüber Gerichten und Behörden heißt: „Wer Originalunterlagen von Gerichten und Behörden zur Einsichtnahme erhält, darf sie nur an Mitarbeiter aushändigen.“

Da es sich bei der BORA nicht um ein (Bundes-)Gesetz handelt, sondern die BORA eine von den Vertretern der Rechtsanwaltschaft selbst erlassene Berufsordnung für die Ausübung des Rechtsanwaltsberufes unter Berücksichtigung der beruflichen Pflichten darstellt, die auf der Grundlage von §§ 59b, 191a Abs. 2 BRAO als Satzung ergangen ist, kann § 19 Abs. 1 S. 1 BORA innerhalb der systematischen Auslegung von § 147 StPO zwar nicht berücksichtigt werden. Denn nach den Grundsätzen der rangkonformen Auslegung203 bzw. der Stufenaufbaulehre204 handelt es sich bei den Regelungen in der BORA gegenüber dem Bundesgesetz der StPO, und damit auch gegenüber § 147 StPO, schließlich um rangniederes Recht.205 Dass § 19 BORA innerhalb der systematischen Auslegung von § 147 StPO nicht herangezogen werden kann, folgt auch aus dem Umstand, dass die BORA auf der Grundlage der §§ 59b, 191a Abs. 2 BRAO erlassen wurde, die hierin normierte Satzungsermächtigung jedoch nur „die Ausübung des Rechtsanwaltsberufes unter Berücksichtigung der beruflichen Pflichten und nach Maßgabe des § 59b BRAO“ – und eben nicht die Reichweite des Aktenbegriffs – betrifft. Jedoch lässt sich sagen, dass das bis hierhin gefundene Auslegungsergebnis, nach dem Akten grundsätzlich Informationsträger in Originalform darstellen, ausweislich des § 19 Abs. 1 S. 1 BORA der Rechtsauffassung der Bundesrechtsanwaltskammer entspricht. Auch aus § 19 Abs. 1 S. 4, Abs. 2 S. 1 BORA lässt sich ableiten, dass die Bundesrechtsanwaltskammer davon ausgeht, dass Ablichtungen und Vervielfältigungen ein Minus zu Aktenbestandteilen darstellen. Ebenso wird aus § 32f Abs. 5 S. 1 StPO deutlich: Akten sind keine Dokumente, Ausdrucke oder Abschriften im strafprozessrechtlichen Sinne, wenngleich eine Akte regelmäßig Dokumente, Ausdrucke oder Abschriften enthalten wird. Be203

Eingehend allg. Wank, Juristische Methodenlehre, S. 255 ff. m. w. N. Wank, Juristische Methodenlehre, S. 58 ff. m. w. N.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 307 ff.; Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 53 ff. m. w. N. auch zu abl. a. A. 205 Siehe hierzu allg. Wank, Juristische Methodenlehre, S. 60, 81; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 273; Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 55. 204

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

stimmte Aktenbestandteile können im Ausnahmefall jedoch durch Kopien ersetzt werden. Ebenfalls kann es geboten erscheinen, auch keine Aktenkopie zu übersenden, sondern ersatzweise den Inhalt eines Informationsträgers in ein schriftliches Protokoll zu übertragen und dieses zu überlassen. Vorstehendes vorausgeschickt, könnte der Verweis in § 58a Abs. 2 S. 3 StPO nicht deklaratorisch, sondern konstitutiv zu verstehen sein; ohne diese Regelung wäre möglicherweise nämlich grundsätzlich die audiovisuelle Aufzeichnung im Original herauszugeben gewesen; jedenfalls wäre die Original-Aufzeichnung als Aktenbestandteil einzuordnen. Im Folgenden muss deshalb untersucht werden, welche Bedeutung dem Begriff „Beweisstück“ in den Akteneinsichtsvorschriften, insbesondere in § 147 Abs. 1 StPO, beizumessen ist. b) Beweisstücke Da der Gesetzgeber, wie es bereits in § 58a Abs. 2 S. 3, Abs. 3 S. 2 StPO anklingt, bei der Reform von § 58a StPO davon ausging, dass die audiovisuellen Aufzeichnungen im Original als Beweisstücke anzusehen seien, und die vorstehenden Ausführungen nun nahelegen, dass die Akten die papiernen und elektronischen Informationsträger im Original umfassen, stellt sich die Frage, ob die Beweisstücke ebenfalls Aktenbestandteile sind. aa) Wortlaut Als Beweisstück wird eine Sache umschrieben, „auf die sich ein Beweis stützt“.206 Solche Sachen oder Mittel werden unter anderem auch Beweismittel genannt.207 Der Begriff des Beweises wird im allgemeinen Sprachgebrauch als Synonym für den Nachweis der Richtigkeit einer bestimmten Tatsache verstanden.208 Dasjenige Material, das zu einem solchen Beweis beiträgt, wird auch Beweismaterial genannt.209 Als Beweismittel werden daher unter anderem auch Urkunden angesehen.210 Wenn man unter einer Akte die Sammlung geschäftlicher oder gerichtlicher Vorgänge versteht,211 könnten Beweisstücke ebenfalls Aktenbestandteile sein. Aus dem allgemeinen Sprachgebrauch bzw. dem Wortlaut von § 147 Abs. 1 StPO lässt sich der Begriffsgehalt daher nicht eindeutig ableiten.

206

Wissenschaftlicher Rat, Duden, Wörterbuch, Bd. 2, S. 583. Wissenschaftlicher Rat, Duden, Wörterbuch, Bd. 2, S. 583; Köbler/Pohl, DeutschDeutsches Rechtswörterbuch, S. 81. 208 Wissenschaftlicher Rat, Duden, Wörterbuch, Bd. 2, S. 582; Köbler/Pohl, DeutschDeutsches Rechtswörterbuch, S. 80. 209 Wissenschaftlicher Rat, Duden, Wörterbuch, Bd. 2, S. 583. 210 Alpmann/Krüger/Wüstenbecker, Lexikon S. 222. 211 Siehe Wissenschaftlicher Rat, Duden, Wörterbuch, Bd. 1, S. 154. 207

II. Systematik

189

bb) Systematik Der Begriff „Beweisstück“ wird in der StPO viel seltener verwendet als der Aktenbegriff. Aus § 32e Abs. 5 S. 1 StPO kann zunächst abgeleitet werden, dass der Integritätsschutz von Beweisstücken demjenigen von sog. Ausgangsdokumenten, die nicht als Beweismittel sichergestellt sind, entspricht. Aus § 32e Abs. 5 S. 1 StPO ergibt sich, dass zur Besichtigung solcher Ausgangsdokumente berechtigt sein soll, wer zur Akteneinsicht befugt ist. In § 32e Abs. 5 StPO deutet sich folglich an, dass die Besichtigung solcher Ausgangsdokumente, die Besichtigung von Beweisstücken und die Einsicht der Akten in einem engen Zusammenhang miteinander stehen. Ob Ausgangsdokumente oder Beweisstücke ebenfalls Akten sind, ergibt sich aus Vorstehendem jedoch nicht. Auch aus weiteren Vorschriften, die die Besichtigung von Beweisstücken normieren, geht lediglich hervor, dass zur (beaufsichtigten) Beweisstückbesichtigung lediglich derjenige berechtigt ist, der zur Akteneinsicht befugt ist, vgl. §§ 114b Abs. 2 S. 1 Nr. 7, 147 Abs. 1, Abs. 4 S. 1, 385 Abs. 3 S. 1, 2, 406e Abs. 1 S. 1, Abs. 3 S. 1, 474 Abs. 4, 475 Abs. 3 StPO. Die Beweisstücke können ausweislich der vorbenannten Normen amtlicher Verwahrung unterliegen. Das Recht zur Besichtigung von Beweisstücken hängt nach der Ausgestaltung der StPO dabei ausnahmslos davon ab, ob man zur Akteneinsicht berechtigt ist oder nicht. Auch in den amtlichen Überschriften der Normen, die ein Beweisstückbesichtigungsrecht beinhalten, steht wiederholt „Akteneinsicht“, wie etwa in den §§ 385, 406e und 474 f. StPO. Zudem wird weder in der amtlichen Überschrift von § 32f StPO noch im Normtext zwischen dem Akteneinsichtsrecht und dem Beweisstückbesichtigungsrecht unterschieden. In der amtlichen Überschrift von § 147 StPO steht unter anderem „Akteneinsichtsrecht, Besichtigungsrecht“. Das Besichtigungsrecht der Beweisstücke bezieht sich zumindest sprachlich ebenfalls auf die Akten; das Besichtigungsrecht wird schließlich nicht explizit zu einem anderen Nomen als den „Akten“ in Beziehung gesetzt. Wenn das Gesetz bzw. der Gesetzgeber Beweisstücke nicht als Aktenbestandteile ansehen würde, hätte es näher gelegen, die Norm unter anderem mit „Akteneinsichtsrecht, Beweisstückbesichtigungsrecht“ zu überschreiben. Ob das Vorstehende damit zusammenhängt, dass Beweisstücke einen Unterfall zu den Akten darstellen bzw. ebenfalls Aktenbestandteile sind, ergibt sich hieraus jedoch nicht eindeutig. Die amtliche Überschrift des ersten Abschnittes des achten Buches verdeutlicht lediglich, dass es sich bei Datenträgern um Aktenbestandteile handelt („Erteilung von Auskünften und Akteneinsicht, sonstige Verwendung von Daten […]“). In der StPO werden zudem zwei weitere begriffsverwandte Termini verwendet, die Beweismittel und die Beweisgegenstände. Die Begriffe „Beweisstück“ und „Beweisgegenstand“ werden dabei in der StPO synonym verwendet, wie sich aus § 147 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 StPO ergibt. Der in § 147 Abs. 2 S. 1 StPO verwendete Begriff „Beweisgegenstände“ bezieht sich inhaltlich nämlich offensichtlich auf die „amtlich verwahrten Beweisstücke“

190

B. Einfachgesetzliche Auslegung

i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO. Dies entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers.212 Insofern lässt sich aus dem Begriff „Beweisgegenstand“ für die hiesige Untersuchung nichts Weiteres ableiten. Der Begriff „Beweismittel“ wird in der StPO häufiger als die zwei weiteren vorbenannten Begriffe (Beweisstück bzw. Beweisgegenstand) verwendet. Beweismittel können der amtlichen Sicherstellung bzw. Beschlagnahme unterliegen. Dies betrifft sog. Ausgangsdokumente, vgl. § 32e Abs. 1 S. 2, Abs. 4 S. 1, 3, Abs. 5 S. 1 StPO, und sonstige Gegenstände, die als Beweismittel für die Untersuchung bedeutend sein können, vgl. §§ 94 Abs. 1, 111 Abs. 1 S. 1 StPO. Die als Beweismittel dienenden Gegenstände werden von der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht zur Vorbereitung der Hauptverhandlung herbeigeschafft, § 214 Abs. 4 StPO. Auch die Herbeischaffung weiterer als Beweismittel dienender Gegenstände kann der Vorsitzende hierzu anfordern, § 221 StPO. Beweismittel werden also herbeigeschafft oder beigebracht, wie sich auch aus den §§ 243 Abs. 1 S. 2, 245 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1, 373a Abs. 1 StPO ergibt; Beweisstücke werden hingegen besichtigt. § 245 Abs. 2 S. 1 StPO verdeutlicht, dass der Begriff des Beweismittels unter anderem auch Zeugen und Sachverständige umfasst. Beweise können jedoch auch auf Informationsträgern abgebildet sein und diese können sich bei den Akten befinden. Dies ergibt sich aus § 267 Abs. 1 S. 3 StPO, der den Verweis in den Urteilsgründen auf bei den Akten befindliche Abbildungen gestattet und sich inhaltlich auf den vorigen Satz bezieht, in dem die nötige Angabe der entsprechenden Beweise im Urteil normiert ist. Wenn der Wortlaut des § 267 Abs. 1 S. 3 StPO also nahelegt, dass Beweismittel auch Aktenbestandteile sein können, fragt sich, welche Beweismittel hierfür in Betracht kommen und inwieweit hieraus Rückschlüsse auf die Einordnung der Beweisstücke gezogen werden können. Als Beweismittel im Strafverfahren gelten nach der Ausgestaltung der StPO die förmlichen Beweismittel des Strengbeweisverfahrens, neben dem Zeugen(§§ 48 ff. StPO) und Sachverständigenbeweis (§§ 72 ff. StPO) also der Urkunden(§§ 249 ff. StPO) und Augenscheinsbeweis (§ 86 StPO).213 Zeugen und Sachverständige stellen persönliche Beweismittel dar, Urkunden und Augenscheinsobjekte sind sachliche Beweismittel.214 Persönliche Beweismittel als Beweisstück oder als vom Aktenbegriff umfasst anzusehen, widerspräche bereits dem allgemeinen Sprachverständnis. Es liegt nahe, dass es sich bei Beweismitteln oder Beweisstücken lediglich dann um Aktenbestandteile handeln kann, sofern es sich um einen Informationsträger handelt, wie es auch der Wortlaut von § 267 Abs. 1

212

Vgl. BT-Drs. 16/11644, 34. KK-StPO/Schmidt, § 359, Rn. 23; siehe zum numerus clausus der Beweismittel: MüKoStPO/Trüg/Habetha, Bd. 2, § 244, Rn. 35; hierneben auch den Beschuldigten als „Beweismittel“ anzusehen, wird diskutiert, wobei aufgrund seiner Subjektstellung allenfalls seine Aussage als Beweismittel i. w. S. angesehen werden kann, siehe zum Ganzen MüKo-StPO/Kudlich, Bd. 1, Einl., Rn. 415 ff. 214 MüKo-StPO/Kudlich, Bd. 1, Einl., Rn. 415 m. w. N. 213

II. Systematik

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S. 3 StPO andeutet. Urkunden und sonstige Informationsträger könnten somit vom Aktenbegriff umfasst sein, persönliche Beweismittel nicht. Der strafprozessuale Urkundenbegriff bezieht sich auf Gedankenerklärungen, die verlesbar sind, also aus Schriftzeichen bestehen,215 wohingegen die Wahrnehmung nicht verlesbarer Informationsträger (sog. Beweiszeichen) in Augenschein genommen werden.216 Sofern es zum Beweis auf den Träger der Gedankenerklärung selbst ankommt, so ist dieser mangels Verlesbarkeit Augenscheinsobjekt;217 kommt es auf den gedanklichen Inhalt bzw. Wortlaut der Urkunde an, ist der Beweis dieses Inhaltes als Urkundenbeweis zu führen.218 Urkunden im strafprozessualen Sinne sind etwa Briefe oder Vernehmungsprotokolle.219 Von Augenscheinsobjekten machen sich das Gericht und die übrigen Verfahrensbeteiligten einen sinnlichen Eindruck, wie etwa bei der Inaugenscheinnahme der vermeintlichen Tatwaffe, von Tonbandaufzeichnungen oder etwaigen grafischen Elementen.220 Die sinnliche Wahrnehmung kann dabei nicht nur visuell oder auditiv, sondern auch taktil oder olfaktorisch sein.221 Urkunden können mithin durch Urkunden-, aber auch durch Augenscheinsbeweis in die Hauptverhandlung eingeführt werden; als Informationsträger kommen wiederum Urkunden im strafprozessualen Sinne, aber auch reine Augenscheinsobjekte in Betracht. Ein Beweisstück kann demzufolge über die sachlichen Beweismittel des Urkunden- und/oder Augenscheinsbeweises in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Ob es sich dabei auch um Aktenbestandteile handeln kann, lässt sich hieraus indes nicht ableiten. An dieser Stelle kann lediglich festgehalten werden, dass allenfalls die sachlichen Beweismittel Aktenbestandteile sein können. Jedenfalls muss ein Beweisstück gleichzeitig ein sachliches Beweismittel sein, da die StPO neben persönlichen Beweismitteln – deren Einordnung als Beweisstück von vornherein fernliegt – keine weiteren Beweismittelkategorien kennt.222 Weiter muss die Einordnung sachlicher Beweismittel als Aktenbestandteile jedenfalls für bestimmte Informationsträger angenommen werden, da sich ansonsten die Regelung in § 267 Abs. 1 S. 3 StPO nicht erklären ließe. Andererseits legen die §§ 214 Abs. 4, 221 StPO nahe, dass nicht jedes sachliche Beweismittel Aktenbestandteil sein kann. Denn die persönlichen Beweismittel werden gem. § 214 Abs. 1 StPO „geladen“, die (übrigen) Beweismittel werden ausweislich von § 214 Abs. 4, 221 StPO „herbeigeschafft“, sodass § 214 Abs. 4

215 Insoweit ist der strafprozessuale Urkundenbegriff enger als der materiellrechtliche: MüKo-StPO/Kudlich, Bd. 1, Einl., Rn. 423. 216 MüKo-StPO/Kudlich, Bd. 1, Einl., Rn. 423; MüKo-StPO/Kreicker, Bd. 2, § 249, Rn. 5. 217 MüKo-StPO/Trüg/Habetha, Bd. 2, § 244, Rn. 38. 218 MüKo-StPO/Kreicker, Bd. 2, § 249, Rn. 6. 219 MüKo-StPO/Kreicker, Bd. 2, § 249, Rn. 13. 220 MüKo-StPO/Kudlich, Bd. 1, Einl., Rn. 424 f.; näher hierzu MüKo-StPO/Trüg/Habetha, Bd. 2, § 244, Rn. 39 m. w. N.; MüKo-StPO/Kreicker, Bd. 2, § 249, Rn. 12. 221 MüKo-StPO/Kudlich, Bd. 1, Einl., Rn. 425. 222 So i. E. wohl auch Schlag, FG Koch, S. 230.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

StPO zwingend zumindest die sachlichen Beweismittel erfasst. Wenn die Staatsanwaltschaft mit der Anklageschrift gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO die Akten vorzulegen hat und die Herbeischaffung von Beweismitteln gem. §§ 214 Abs. 4, 221 StPO von der Staatsanwaltschaft bzw. dem Vorsitzenden bewirkt wird, dann können sachliche Beweismittel zumindest nicht ausnahmslos Aktenbestandteile sein. Denn anderenfalls hätte § 214 Abs. 4 StPO keinen eigenständigen Anwendungsbereich. Wovon die Einordnung eines sachlichen Beweismittels als Aktenbestandteil nun abhängen soll, ergibt sich möglicherweise aus den Gesetzesmaterialien zu den vorbenannten Normen. § 267 Abs. 1 S. 3 StPO besteht in bis heute unveränderter Form seit Inkrafttreten des StVÄG 1979 vom 05.10.1978.223 „Zur Vereinfachung der schriftlichen Urteilsgründe und zur Verringerung des Schreibwerks“224 wurde der in § 267 Abs. 1 S. 1 StPO normierte Grundsatz mit der Einführung von Satz 3 aufgeweicht.225 Der Gesetzgeber ging bei der Schaffung dieser Norm davon aus, dass Urkunden im prozessualen Sinne, also neben Urkunden im materiellrechtlichen Sinne auch sonstige Schriftstücke, und etwaige Augenscheinsobjekte Aktenbestandteile sein können. Wörtlich heißt es in der Gesetzesbegründung: „Der geltende § 267 erlaubt keine Bezugnahme in den schriftlichen Urteilsgründen auf andere Schriftstücke oder auf Abbildungen, in denen der Tatbestand einer strafbaren Handlung gefunden wird oder die sonst für die Tatsachenfeststellung von Bedeutung sind. So müssen etwa beleidigende oder pornographische Darstellungen oder durch Lichtbilder oder Skizzen zutreffend verdeutlichte Örtlichkeiten für die Urteilsgründe auch dann in Worten beschrieben werden, wenn die Abbildungen in der Hauptverhandlung in Augenschein genommen waren. Dies gilt auch dann, wenn die in der Akte befindlichen bildlichen Darstellungen die Feststellungen wesentlich exakter zu veranschaulichen vermögen. […] Eine Verweisung in den Urteilsgründen würde dagegen den Urteilsverfasser dazu zwingen, daneben auch noch den wesentlichen Inhalt der Urkunde in eigenen Worten zusammenzufassen und damit bei diesem eher zu einer Mehrarbeit führen. Wird Revision eingelegt, so müßten die Revisionsführer und die Revisionsrichter Einsicht in die Akten nehmen, um den vollen Wortlaut der Urkunden zu erfahren, auf die verwiesen worden ist.“226

Hiernach können sich sowohl verlesbare Gedankenerklärungen als auch visuell wahrnehmbare Augenscheinsobjekte als Aktenbestandteile explizit in den Akten befinden.227 Folglich können sachliche Beweismittel, denen ein Informationsgehalt durch das Verlesen von Schriftzeichen oder durch die Inaugenscheinnahme etwaiger Beweiszeichen entnommen werden kann, nach dem gesetzgeberischen Willen Bestandteile der Akten sein. Wonach sich diese Einordnung als

223

BGBl. 1978 I, 1645, 1648. BT-Drs. 8/976, 24. 225 Siehe hierzu auch MüKo-StPO/Wenske, Bd. 2, § 267, Rn. 135. 226 BT-Drs. 8/976, 55. 227 Einschränkend zum Anwendungsbereich des § 267 Abs. 1 S. 3 StPO: Saarländisches OLG Saarbrücken, Beschl. v. 11.03.2013 – Ss 88/2012 (57/12), Rn. 9 f., juris. 224

II. Systematik

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Aktenbestandteil richtet und ob diese für jedwede Informationsträger gelten soll, ergibt sich wiederum nicht eindeutig aus der Begründung. Welche Art von sachlichen Beweismitteln als „Beweisstücke“ anzusehen sind, ergibt sich hieraus ebenfalls nicht. Zudem kann den Gesetzesmaterialien zur Einführung von § 214 Abs. 4 StPO und zu dessen Reformen nicht entnommen werden, welche Sachbeweise der Gesetzgeber unter § 214 Abs. 4 StPO (über die Aktenvorlage hinaus) subsumiert und inwieweit sich diese von den Beweisstücken im vorbenannten Sinne unterscheiden sollen. So verhält es sich auch mit den Gesetzesmaterialien zu den vorbenannten Normen, in denen der Begriff „Beweismittel“ verwendet wird, namentlich den §§ 94 Abs. 1, 111 Abs. 1 S. 1, 221, 243 Abs. 1 S. 2, 245 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1, 373a Abs. 1 StPO. Aus § 32e Abs. 1 S. 2 StPO folgt allerdings, dass sog. Ausgangsdokumente als Beweismittel sichergestellt werden können; dies ist jedoch nicht in jedem Fall anzunehmen, wie sich § 32e Abs. 4, 5 StPO entnehmen lässt. Aus § 32e Abs. 1 StPO ergibt sich weiter, dass diese Ausgangsdokumente – also ausweislich von § 32e Abs. 1 S. 1 StPO solche, „die nicht der Form entsprechen, in der die Akte geführt wird“ – in die entsprechende Form zu übertragen sind, wohingegen diese Übertragungspflicht gem. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO nicht für solche Ausgangsdokumente bestehen soll, die als Beweismittel sichergestellt worden sind. Ob diese Ausgangsdokumente ebenfalls Aktenbestandteile sind oder nur der in die entsprechende Form übertragene Informationsträger, lässt sich dem Wortlaut des § 32e Abs. 1 StPO nicht entnehmen; auch wird aus dem Wortlaut der Norm nicht ersichtlich, ob die Ausgangsdokumente, die gleichzeitig als Beweismittel sichergestellt worden sind und dabei nicht in die entsprechende Aktenform übertragen werden, Aktenbestandteile darstellen. cc) Historie sowie Sinn und Zweck Zur Ausfüllung des Begriffs „Beweisstück“, mit dem auch die Klärung des Regelungsgehaltes von § 32e StPO einhergeht, bedarf es an dieser Stelle einer historischen Untersuchung dieses Begriffes. Den Gesetzesmaterialien zu § 32e StPO kann zunächst entnommen werden, dass als Beweismittel sichergestellte Ausgangsdokumente als „Beweisdokumente“ angesehen werden, für die eine Übertragungspflicht in die entsprechende Aktenform nicht bestehen soll.228 Die Kann-Vorschrift in § 32e Abs. 1 S. 2 StPO ist vom Gesetzgeber mithin bewusst formuliert. Dabei könnten diese als Beweismittel sichergestellten Ausgangsdokumente zusätzlich in die entsprechende Aktenform übertragen werden „oder nur im ,Original‘ getrennt von der Akte als Beweismittel in amtlicher Verwahrung gehalten werden“.229 Jedenfalls bei größeren Mengen sollten die als Beweismittel sichergestellten Ausgangsdokumente 228 229

BT-Drs. 18/9416, 52 f. BT-Drs. 18/9416, 53.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

jedoch in einen elektronischen Beweismittelordner umgewandelt werden.230 Ob diese sachlichen Beweismittel, falls sie gleichzeitig sog. Ausgangsdokumente i. S. v. § 32e Abs. 1 S. 1 StPO darstellen, nur getrennt von der Akte verwahrt werden können oder darüber hinaus bei Unterbleiben der Übertragung in die entsprechende Aktenform auch materiell nicht Aktenbestandteil sein sollen,231 ergibt sich hieraus jedoch nicht eindeutig, weil dies im Gesetzgebungsverfahren nicht klargestellt wurde.232 Zumindest die in die entsprechende Aktenform umgewandelten Ausgangsdokumente, die nicht als Beweismittel sichergestellt worden sind, sollen jedoch ausdrücklich „als solche nicht Teil der Akte werden“,233 und dementsprechend auch nicht mit der Anklageschrift vorgelegt werden.234 Nach dem gesetzgeberischen Willen bei der Einführung von § 32e StPO sind Ausgangsdokumente also jedenfalls dann nicht (herauszugebende) Aktenbestandteile, wenn sie nicht als Beweismittel sichergestellt worden sind und gem. § 32e Abs. 1 S. 1 StPO in die entsprechende Aktenform übertragen worden sind. In diesem Fall sollen lediglich die umgewandelten Dokumente herauszugebende Bestandteile der Akten sein. Als Beweismittel sichergestellte Ausgangsdokumente können in die entsprechende Aktenform übertragen oder getrennt von der Akte amtlich verwahrt werden. Dies stellt jedoch nur einen Ausnahmetatbestand für Beweismittel dar, bei denen es sich gleichzeitig um Ausgangsdokumente handelt. Dass Beweisstücke bzw. Informationsträger, die als Beweismittel sichergestellt worden sind, generell Aktenbestandteile sind, ergibt sich aus Folgendem: (1) Der ursprüngliche gesetzgeberische Wille Mit der Einführung der §§ 32 ff. StPO im Jahr 2018, insbesondere des § 32f StPO, sollte der Regelungsgehalt des zu der Zeit noch geltenden § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. ausdrücklich übernommen werden.235 Insofern ist zunächst herauszuarbeiten, welches gesetzgeberische Begriffsverständnis hinter § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. stand. Der Wortlaut von § 147 Abs. 4 S. 1 StPO lautete zu der Zeit: „Auf Antrag sollen dem Verteidiger, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, die Akten mit Ausnahme der Beweisstücke zur Einsichtnahme in seine Geschäftsräume oder in seine Wohnung mitgegeben werden.“236

230

BT-Drs. 18/9416, 53. So – wenngleich kritisch – i. E. offenbar das Verständnis von Baum, e-Akte im Strafverfahren, S. 112. 232 Vgl. auch die Kritik bei BT-Plenarprotokoll 18/234: Stenografischer Bericht der 234. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 18.05.2017, 23791A: „Aus Praktikersicht muss unbedingt geklärt werden, wie Beweisdokumente übermittelt werden müssen […].“ 233 BT-Drs. 18/9416, 54; die Begründung bezieht sich schließlich auf § 32e Abs. 4 StPO-E. 234 BT-Drs. 18/9416, 55; die Begründung bezieht sich auf § 32e Abs. 4 StPO und damit auf Ausgangsdokumente, die nicht als Beweismittel sichergestellt worden sind. 235 BT-Drs. 18/9416, 57. 236 BGBl. I, 1964, 1073. 231

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Schon der damalige Wortlaut legte also nahe, dass Beweisstücke auch zu den Akten gehören („Akten mit Ausnahme der Beweisstücke“). Der Normtext geht auf § 147 Abs. 4 RStPO, in Kraft getreten im Jahr 1879, zurück, in dem es hieß: „Nach dem Ermessen des Vorsitzenden können die Akten, mit Ausnahme der Ueberführungsstücke, dem Vertheidiger in seine Wohnung verabfolgt werden.“237

Aus den Gesetzesmaterialien zur Einführung von § 147 RStPO ergibt sich, dass der historische Gesetzgeber den Wortlaut bewusst so formuliert hat. Als „Ueberführungsstücke“ wurden Beweise enthaltende Dokumente und Ähnliches angesehen. Wörtlich heißt es hierzu: „Denn in den Akten befänden sich häufig die wichtigsten Ueberführungsstücke, z. B. gefälschte Dokumente und dergl., die man dem Vertheidiger, schon um den Schein des Mißbrauchs zu verhüten, nicht mit nach Hause geben könne.“238

Weiter wurde angemerkt, dass „bei unbeschränkter Ueberlassung der Akten an jeden Vertheidiger die in den Akten liegenden Ueberführungsstücke leicht beseitigt bezw. verändert werden könnten.“239 Der sich hierauf beziehende Entwurfsantrag, nach dem ein Ermessen des Gerichtsvorstandes hinsichtlich der Verabfolgung der „Akten mit Ausnahme der Ueberführungsstücke“240 bestand, wurde im Anschluss an diese Debatte angenommen.241 Auch im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens wurde davon ausgegangen, dass Beweisstücke, die seinerzeit noch Ueberführungsstücke genannt wurden, Aktenbestandteile seien. An weiterer Stelle heißt es zur Verteidigung des geplanten Verabfolgungsrechts in § 147 Abs. 4 RStPO-E: „Er glaube, daß mit dem Ermessen des Gerichtsvorstandes die genügende Gewähr gegen Mißbräuche gegeben sei. Manchmal sei an den Untersuchungsakten gar nicht soviel gelegen, um dieselben so ängstlich hinter Schloß und Riegel zu nehmen. Nur da, wo Ueber-

237

Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 2417. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 965. 239 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 966; siehe weiter bei Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 966: „Kein Mensch verlange Aushändigung der Akten, geschweige denn der Ueberführungsgegenstände an den Vertheidiger.“ 240 So auszugsweise der Antrag von Dr. Grimm: Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 967. 241 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 968; die Diskussion wurde durch den ursprünglichen Antrag von Struckmann „ad 2c“ in Gang gesetzt, wonach der Norm ein Absatz mit folgendem Inhalt hinzugefügt werden sollte, siehe Hahn/Stegemann a. a. O. S. 964: „Nach Einreichung der Anklageschrift sind, wenn nicht erhebliche Gründe entgegenstehen, die Akten dem Vertheidiger auf dessen Antrag in seine Wohnung oder in sein Geschäftslokal zur Einsicht zu verabfolgen.“; dieser Antrag nach Struckmann wurde im Laufe der Debatte zurückgenommen (siehe Hahn/Stegemann a. a. O. S. 966), welcher sodann von Dr. Grimm wieder aufgegriffen wurde, der hierbei beantragte, folgenden Normtext hinzuzufügen: „Dem Ermessen des Gerichtsvorstandes ist anheim gegeben, die Akten mit Ausnahme der Ueberführungsstücke, dem Vertheidiger, wenn er ein Anwalt ist, in seine Wohnung zu verabfolgen.“, abgedruckt bei Hahn/Stegemann a. a. O. S. 967. 238

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

führungsmittel in den Akten sich befinden, werde es geboten sein, die letzteren nicht aus der Gerichtskanzlei zu entfernen.“242

Der Normtext im vierten Absatz wurde im weiteren Verlauf umformuliert, ohne dass hierbei ein abweichendes Begriffsverständnis hinsichtlich der Akten und der „Ueberführungsstücke“ geregelt werden sollte. Es sollte lediglich der Vorsitzende das Ermessen der Aktenverabfolgung innehaben und nicht der Gerichtsvorstand.243 Der Entwurf der Reichstagskommission orientierte sich an den zu den „Ueberführungsstücken“ erklärten Ausführungen im bisherigen Gesetzgebungsverfahren.244 Der Kommissionsbeschluss mit den letztgenannten Änderungen wurde angenommen245 und § 147 RStPO-E wurde ohne weitere Änderungen sodann auch in der dritten Lesung ohne Änderungen beschlossen.246 Während des gesamten Gesetzgebungsverfahrens wurde mithin davon ausgegangen, dass die Überführungsstücke Aktenbestandteile seien, wobei es sich bei diesen Überführungsstücken nach den vorstehenden Materialien um gefälschte Dokumente und Ähnliches, letztlich also um verlesbare Urkunden und wohl auch um wahrnehmbare Augenscheinsobjekte, handeln sollte, sofern sie Informationsträger darstellten. Weitere Überführungs- bzw. Beweisstücke, wie etwa eine vermeintliche Tatwaffe, sind in diesen Gesetzesmaterialien nicht explizit aufgegriffen worden. Diese Sichtweise hat der Gesetzgeber erneut der Reform 1965 zugrunde gelegt, durch die der Begriff „Überführungsstücke“ durch „Beweisstücke“ ersetzt wurde. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich, dass der Gesetzgeber lediglich die staatsanwaltschaftlichen Handakten und andere dienstliche Vorgänge nicht als Aktenbestandteile angesehen hat.247 Insbesondere wurden hierbei Beweisstücke als Aktenbestandteile angesehen.248 Wenn der Gesetzgeber vor der Einführung der §§ 32 ff. StPO Beweisstücke als Aktenbestandteile angesehen hat und andererseits an diesem Begriffsverständnis ausweislich der Begründung von § 32f StPO festgehalten werden sollte, dann wirkt der gesetzgeberische Wille also fort.

242

Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1299 f. Vgl. zum Vorstehenden Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1558. 244 Vgl. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1558: „Was die besonderen Rechte des Vertheidigers betrifft, so hat die Kommission in § 130 (G. § 147) in Uebereinstimmung mit dem Entwurfe die Befugniß zur Akteneinsicht so geordnet, daß vielfache, gerade in diesem Punkte laut gewordene Beschwerden ihre Erledigung finden werden.“ 245 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1845. 246 Siehe Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 2092. 247 BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 31. 248 BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 18: „Während es bisher eine reine Ermessensentscheidung ist, ob die Akten – ohne die Beweisstücke – dem Verteidiger auf Antrag in seine Geschäftsräume oder in seine Wohnung zur Einsichtnahme mitgegeben werden, sieht der Entwurf vor, daß einem solchen Antrag entsprochen werden soll.“ 243

II. Systematik

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(2) Fortwirkung des ursprünglichen gesetzgeberischen Willens Es zeigt sich auch an weiteren Stellen der Gesetzesbegründung zur Reform 2018, dass der Gesetzgeber sachliche Beweismittel, die zugleich Informationsträger darstellen – mithin „Beweisstücke“ i. S. d. ursprünglichen Kasuistik und i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO, der durch die jüngste Reform 2018 unverändert blieb –, weiterhin als Aktenbestandteile eingeordnet hat. Dies wird zum einen darin deutlich, dass auch Telekommunikationsverbindungsdaten der gerichtlichen Auswertung unterliegen sollten.249 Informationsträger solchen Inhaltes sind sachliche Beweismittel, die der Gesetzgeber offenbar zugleich als dem Gericht vorzulegende Aktenbestandteile angesehen hat. Jedenfalls können sich Beweisstücke ausweislich der Gesetzesbegründung zu § 32f StPO explizit in den Akten befinden und damit Aktenbestandteil sein,250 wobei „je nach Akteninhalt auch eine Tonwiedergabe erforderlich sein kann.“251 Hierbei wird nicht danach differenziert, ob solche als Beweismittel anzusehende Augenscheinsobjekte der jeweiligen Aktenform entsprechen oder nach § 32e Abs. 1 StPO übertragen wurden. Zum anderen ging der Gesetzgeber bei der Einführung der e-Akte davon aus, dass die Akte eine Ansammlung von originalen Informationsträgern ist.252 Von den originalen Informationsträgern sollten ausweislich der Begründung zu § 32e StPO lediglich die Beweismittel getrennt von der Akte aufbewahrt, also nicht herausgegeben, werden.253 Nach dem Willen des Gesetzgebers, der insoweit der Begründung zu § 32f StPO-E und § 147 StPO-E entnommen werden kann, sind zur Wahrung des Integritätsschutzes die Beweismittel, die zugleich Informationsträger darstellen, durch herauszugebende Kopien zu ersetzen.254 In diesem Sinne sind auch die Formulierungen in der Gesetzesbegründung zu § 32 StPO zu lesen, nach der Beweismittel als solche kein Aktenbestandteil seien.255 Schließlich wird in der Begründung zu § 32f StPO noch darauf hingewiesen, dass es des Einschubes im seinerzeit noch geltenden § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. („mit Ausnahme der Beweisstücke“) nicht bedürfe; sofern sich die Beweisstücke nämlich in amtlicher Verwahrung befänden, dürften diese bereits deshalb nicht übersandt werden, „[b]efinden sich Beweisstücke in Papierform in den Akten, sind diese bei Bedarf vor Übergabe oder Übersendung durch – entsprechend auch als solche kenntlich zu machende – Kopien zu ersetzen.“256

249

BT-Drs. 18/9416, 32. BT-Drs. 18/9416, 57. 251 BT-Drs. 18/9416, 56. 252 Siehe BT-Drs. 18/9416, 57, 60, 66, 105. 253 Siehe BT-Drs. 18/9416, 55. 254 BT-Drs. 18/9416, 57; vgl. auch BT-Drs. 18/9416, 60. 255 Siehe BT-Drs. 18/9416, 42. 256 BT-Drs. 18/9416, 57. 250

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

Diese Sichtweise bestätigt sich auch an weiteren Stellen der Gesetzesmaterialien. Die im Regierungsentwurf noch in § 32f Abs. 2 S. 2 StPO-E vorgesehene Möglichkeit, sich die papiernen Akten übersenden zu lassen, stand mit § 32f Abs. 2 S. 3 StPO-E unter dem Vorbehalt, dass dem keine wichtigen Gründe entgegenstehen. Sofern solche Gründe entgegenstünden, sollten gem. § 32f Abs. 2 S. 3 StPO-E jedoch zumindest Aktenkopien übermittelt werden.257 Als Anwendungsbeispiel wird in diesem Zusammenhang insbesondere angeführt, dass sich in den Akten Beweisstücke befänden, sodass insoweit nur Kopien zu übermitteln seien.258 Hieran sollte sich durch die Fassung des Rechtsausschusses nichts ändert.259 Auch sog. Verschlusssachen oder besonders schutzbedürftige Dokumente sind nach Auffassung des Gesetzgebers Aktenbestandteil.260 Der Gesetzgeber geht insoweit davon aus, dass die Erstellung einer Kopie der Beweisstücke ohne weitere Schwierigkeiten vorgenommen werden könne.261 Zudem soll die Kopie als eine solche gekennzeichnet werden.262 Der Gesetzgeber geht bei der Reform 2018 folglich davon aus, dass Informationsträger im Original Aktenbestandteile darstellen und im Falle von Beweisstücken zum Zwecke der Akteneinsicht ersatzweise eine Kopie zu erstellen ist, die dann im Wege der Akteneinsicht überlassen wird. Die Kopie soll demnach also kein Aktenbestandteil, sondern lediglich ein Aktenbestandteils-Ersatz sein.263 Eingesehen werden demgemäß grundsätzlich die Original-Akten; Überlassen werden in Ansehung von Beweisstücken jedoch lediglich die zu diesem Zweck zu erstellenden Aktenkopien. Dies kommt auch in den §§ 32f Abs. 2 S. 2, 58a Abs. 2 S. 3, Abs. 3 S. 1, 147 Abs. 4 S. 2, 385 Abs. 3 S. 3, 406e Abs. 3 S. 2, 478 StPO zum Ausdruck.264 Zudem würde jede erstellte Beweisstückkopie Aktenbe-

257

Siehe zum Vorstehenden BT-Drs. 18/9416, 14. BT-Drs. 18/9416, 57: „Satz 3 gilt für die gesamten Akten, aber auch für einzelne Seiten, etwa wenn Beweisstücke in Papierform zur Akte statt in Verwahrung genommen worden sind.“ 259 Siehe BT-Drs. 18/12203, 73 f. 260 BT-Drs. 18/12203, 73. 261 Vgl. BT-Drs. 18/9416, 60: „Da die elektronische Aktenführung das Bereitstellen einer Leseversion oder -kopie ohne Manipulationsgefahr ermöglicht und deren Erstellung zudem mit einem verhältnismäßig geringeren Aufwand verbunden ist, erscheinen solche Beschränkungen des Akteneinsichtsrechts nicht mehr gerechtfertigt. Soweit damit auch die Einsichtnahme in Papierakten ermöglicht wird, können dem Beschuldigten nach dem Ermessen der zuständigen Stelle zur Wahrung der Aktenintegrität anstelle der Gewährung von Einsicht in die Akten auch Abschriften aus den Akten erteilt werden.“ 262 BT-Drs. 18/9416, 57. 263 Vergleichbar geht Bell, Akteneinsicht, S. 161, davon aus, dass es sich bei Informationsträgern, die eine Kopie eines beschlagnahmten Datenträgers darstellen und dem von der Beschlagnahme Betroffenen zurückgeschickt werden, weder um Aktenbestandteile noch um Beweisstücke handelt. 264 Anders Bell, Akteneinsicht, S. 21: „Eine systematische Auslegung bringt keine weiteren Erkenntnisse hinsichtlich der Frage, ob ein Recht auf Kopieanfertigung von Beweisstücken besteht.“ 258

II. Systematik

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standteil sein, wenn man Aktenkopien ebenfalls als Aktenbestandteile ansehen würde. Bei mehreren Verteidigern, für die jeweils eine Beweisstückkopie anzufertigen wäre, würde der Inhalt des Beweisstücks in wiederholter Form zur Akte gehören. Dies war sicherlich nicht die Intention des Gesetzgebers. Insofern sollten entgegen den Andeutungen in den Gesetzesmaterialien zur Einführung und Reform von § 58a StPO Beweisstückkopien also keine Aktenbestandteile sein, sondern lediglich im Wege der Akteneinsicht ersatzweise überlassen werden, sodass Beweisstückkopien lediglich wie Aktenbestandteile zu behandeln sein sollen. Diesem Begriffsverständnis steht § 32e Abs. 1 S. 2 StPO und die diesbezügliche Begründung nicht entgegen. Ausgangsdokumente, die als Beweismittel sichergestellt sind, müssten nach der zuvor dargestellten Auslegung des Akten- bzw. Beweisstückbegriffs ebenfalls als durch Kopien zu ersetzende Beweisstücke anzusehen sein. Gegen die Annahme, der Gesetzgeber würde Ausgangsdokumente, die als Beweismittel sichergestellt sind, nur dann als Aktenbestandteile ansehen, wenn von dem Ermessen aus § 32e Abs. 1 S. 2 StPO Gebrauch gemacht wurde,265 sprechen zudem die Regelungen in § 32e Abs. 4, 5 StPO. Gem. § 32e Abs. 5 StPO können lediglich diejenigen Ausgangsdokumente, die nicht als Beweismittel sichergestellt sind, wie sichergestellte Beweisstücke – also i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO266 – besichtigt werden. Wenn Ausgangsdokumente, die als Beweismittel sichergestellt sind, vom Gesetzgeber nicht gleichzeitig als Beweisstücke (und demzufolge als Aktenbestandteil) angesehen worden wären, die zwecks Überlassung durch Kopien zu ersetzen sind, hätte sich ein Besichtigungsrecht zumindest hinsichtlich der Ausgangsdokumente, die als Beweismittel sichergestellt sind und nicht gem. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO übertragen worden sind, aufgedrängt.267 Es bestünde kein Besichtigungsrecht hinsichtlich der als Beweismittel sichergestellten und nicht übertragenen Ausgangsdokumente, obwohl ein solches für die übrigen Ausgangsdokumente (§ 32e Abs. 5 StPO) und für Beweisstücke (§ 147 Abs. 1 StPO) vorgesehen ist. Ein solcher Wertungswiderspruch dürfte wohl kaum im Sinne des Gesetzgebers gewesen sein. Hinzu kommt, dass lediglich hinsichtlich der Ausgangsdokumente, die nicht als Beweismittel sichergestellt sind, in § 32e Abs. 4 StPO Aufbewahrungs- und Speicherungsfristen normiert wurden. Die Fristen für die Aufbewahrung und Speicherung von Akten richtet sich grundsätzlich nach dem JAktAG (i. V. m. den Aufbewahrungsverordnungen auf der Grundlage von § 2 JAktAG). Wenn für die Ausgangsdokumente, die nicht als Beweismittel sichergestellt sind, in § 32e Abs. 4 StPO spezielle Fristenregelungen normiert sind, bestätigt dies die in den Materialien zum Ausdruck gebrachte Sichtweise, nach der im Falle der Übertragung das Ausgangsdokument nicht als (herauszugebender) Aktenbestandteil anzuse-

265

So etwa v. Stetten ZRP 2015, 138, 138; Kassebohm StraFo 2017, 393, 398. BT-Drs. 18/9416, 55. 267 Die diesbezügliche Begründung auf BT-Drs. 18/9416, 55, ist insoweit unergiebig. 266

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hen ist. Vor diesem Hintergrund wäre das JAktAG insoweit nicht anwendbar, da hierin lediglich die Aufbewahrungs-/Speicherungsfristen von grundsätzlich herauszugebenden Akten normiert ist. Gleichzeitig bestätigt dies, dass der Gesetzgeber die als Beweismittel sichergestellten Ausgangsdokumente zumindest bis zur Übertragung als Aktenbestandteile angesehen hat. Denn andernfalls wäre das JAktAG auch insoweit nicht einschlägig, sodass die Aufbewahrungs-/Speicherungsfrist für die als Beweismittel sichergestellten Ausgangsdokumente ebenfalls hätte geregelt werden müssen.268 Der gesetzgeberische Wille, dass Ausgangsdokumente lediglich im Falle der Übertragung nicht Aktenbestandteile, zumindest nicht herauszugebende Aktenbestandteile, sein sollen, hat neben den Andeutungen in den zuvor aufgezeigten Materialien demnach auch in § 32e Abs. 4, 5 StPO seinen Ausdruck gefunden.269 dd) Schlussfolgerung Die vorstehenden Ausführungen zu der Einordnung von „Beweisstücken“ i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO sollen zu einem Definitionsansatz für die Einordnung von Informationsmaterial als Aktenbestandteil abstrahiert werden. Anschließend wird untersucht, welche Folgen hiermit für das Verständnis von § 32e Abs. 1 StPO und §§ 214 Abs. 4, 199 Abs. 2 S. 2 StPO einhergehen. (1) Definitionsansatz Zunächst sollen solche abstrakten Vorgaben für die Einordnung eines Gegenstandes als Beweisstück entwickelt werden, die dem herausgearbeiteten gesetzgeberischen Willen nahekommen und gleichzeitig die Gesetzessystematik ausreichend berücksichtigen.270 Hierdurch soll die gesetzgeberische Konzeption gewissermaßen „zu Ende“ gedacht werden.271 Bei der Einführung von § 147 RStPO ging der Gesetzgeber davon aus, dass Beweisstücke Aktenbestandteile sind. Als Beweisstücke wurden Überführungsstücke, wie gefälschte Dokumente und Ähnliches, verstanden. Es wird deutlich, dass es sich bei den Überführungsstücken jedenfalls um solche Informationsträger handeln sollte, die sich auch physisch in den Akten befinden konnten. Aus Gründen des Integritätsschutzes und der Verhinderung von Beweismittelverlust sollten diese Aktenbestandteile nicht überlassen werden können. Auch in den Materialien zur Reform 1965 wird deutlich, dass der Gesetzgeber Beweisstücke 268

Auch die diesbezügliche Begründung auf BT-Drs. 18/9416, 54 f., ist insoweit unergiebig. Siehe hierzu allg. Sauer, Juristische Methodenlehre, S. 297. 270 Die Systematik ist bereits bei der Ermittlung des gesetzgeberischen Willens miteinzubeziehen, jdfs. bzgl. derjenigen Normen, die zum Ztpkt. des in Rede stehenden Normerlasses schon bestanden. Insofern sind die nachfolgenden systematischen Erwägungen, da sie dem aus den Gesetzesmaterialien ersichtlichen gesetzgeberischen Willen nicht zuwiderlaufen, als vom gesetzgeberischen Willen mitumfasst anzusehen, siehe zum Ganzen nur Wank, Juristische Methodenlehre, S. 243, 285 f. 271 Eingehend Larenz, Methodenlehre, S. 332. 269

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als Aktenbestandteile ansah. Hieran orientierte sich der Gesetzgeber auch bei der jüngsten Reform 2018. Aus den diesbezüglichen Materialien ergibt sich weiter, dass Telekommunikationsverbindungsdaten der gerichtlichen Auswertung unterliegen (und damit offenbar Aktenbestandteil sind), jedenfalls aber Tonaufzeichnungen Aktenbestandteile sein können. Dass auch audiovisuelle Aufzeichnungen Aktenbestandteile sein können, belegt § 58a Abs. 2 S. 3, Abs. 3 S. 1, 2 StPO, für Tonaufzeichnungen lässt sich dies aus den §§ 273 Abs. 2 S. 2, 323 Abs. 2 S. 2 StPO ableiten. Aus der Gesetzesbegründung zu § 267 Abs. 1 S. 3 StPO wird deutlich, dass sich bei den Akten befindende Beweismittel (also wiederum Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO) Urkunden, sonstige Schriftstücke, Abbildungen, Darstellungen, Lichtbilder und Skizzen sein können. In der Gesetzesbegründung zu § 273 Abs. 2 S. 2, 3, 4 StPO a. F. (jetzt § 273 Abs. 2 S. 2, 3 StPO) ging der Gesetzgeber davon aus, dass Aufzeichnungen generell Aktenbestandteil seien.272 Weiter ist die Akte nach den Materialien zur Reform 2018 und anhand der erkennbaren Ausgestaltung der StPO eine Ansammlung von Informationsträgern im Original, weshalb sich bei den Akten befindende sachliche Beweismittel, mithin „Beweisstücke“ i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO, zwecks Überlassung durch als solche kenntlich zu machende Kopien zu ersetzen sind. Hierdurch sollte dem Einsichtsbegehren und gleichzeitig dem Integritätsschutz Rechnung getragen werden. Auch bei der Einführung von § 58a StPO hat der Gesetzgeber diesen Interessenausgleich zugrunde gelegt.273 Demgemäß geht die StPO bei Aufzeichnungen – von den Fällen der §§ 58a Abs. 3 S. 1, 168e S. 4 StPO abgesehen – ausnahmslos von einem Kopieüberlassungsrecht aus, vgl. §§ 58a Abs. 2 S. 3, 136 Abs. 4 S. 3, 247a Abs. 1 S. 5, 273 Abs. 2 S. 3 StPO. Mit dem Original-Informationsträger ist in den Materialien zur Reform 2018 auf denjenigen Informationsträger abgestellt worden, der im Laufe des Ermittlungsverfahrens den ursprünglich erstellten oder erlangten Informationsträger darstellt. Dieses Verständnis legt der Gesetzgeber der Begründung zu § 32e StPO ausdrücklich zugrunde.274 Es muss sich also nicht um einen „originalen“ Informationsträger im alltagssprachlichen Sinne handeln, sodass ein „Original-Informationsträger“ auch eine Kopie sein kann, wenn von vornherein lediglich eine Kopie sichergestellt oder in sonstiger Weise von den Strafverfolgungsbehörden erlangt wurde. 272 Siehe erneut BR-Drs. 829/03, 29: „[D]enn die Aufzeichnungen sind stets Teil der Akten und werden somit für die Beurteilung der Frage herangezogen, ob Verfahrensfehler oder materielle Fehler vorliegen […].“ 273 Siehe BT-Drs. 13/7165, 7 f. 274 Vgl. BT-Drs. 18/9416, 52: „Der Entwurf hat sich bewusst dafür entschieden, für ein Dokument, das aufgrund seiner nicht der Akte entsprechenden Form umgewandelt werden musste, nicht auf den vorgefundenen, aber zu stark mit dem Medium Papier verbunden Begriff der ,Urschrift‘ […] zurückzugreifen und auch den Begriff des ,Originals‘ nicht zu bemühen, weil es sich bei einem eingereichten Dokument nicht um ein ,Original‘ im hergebrachten Verständnis handeln muss und die Konturen dieses Begriffs in der elektronischen Welt zudem in Auflösung geraten sind.“

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Andererseits zeigt sich auch, dass ein Aktenbestandteil nicht unbedingt der jeweilige Informationsträger sein muss, sondern unter Umständen auch die hierauf gespeicherten Dateien bzw. Daten selbst Aktenbestandteile sein können. Zum einen sollen nach dem Willen des Gesetzgebers auch elektronische Dokumente i. S. v. §§ 32a f. StPO Aktenbestandteile darstellen, wobei der Gesetzgeber auf das Dokument selbst – und nicht auf den Datenträger, wie die Festplatte oder den Server, auf dem das Dokument bei Gericht oder den Strafverfolgungsbehörden gespeichert worden ist – abstellt.275 Demgemäß wird im Wortlaut von § 32b Abs. 2, Abs. 3 S. 1 StPO ebenfalls ausschließlich auf das Dokument selbst – und nicht etwa auf den Datenträger, auf dem das Dokument ursprünglich abgespeichert worden ist – abgestellt. Auch bei den Aufzeichnungen, die nach dem Willen des Gesetzgebers Aktenbestandteile darstellen sollen, ging es um die Aufzeichnungsdateien selbst.276 Weiter wird in § 58a Abs. 2 S. 3 und Abs. 3 S. 1, 2 StPO ebenfalls auf die konkrete Aufzeichnung selbst abgestellt. Ebenso verhält es sich bei den §§ 273 Abs. 2 S. 2, 323 Abs. 2 S. 2 StPO. Um den gesetzgeberischen Willen, wie er in den gesamten Materialien und den aufgezeigten Normen zum Ausdruck kommt, zu berücksichtigen und gleichzeitig § 214 Abs. 4 StPO einen eigenständigen Anwendungsbereich zu belassen, muss es sich – so wie die untersuchten Materialien bereits andeuten – bei den Akten im Allgemeinen und bei zu den Akten zählenden Beweisstücken im Besonderen um Informations- bzw. Datenträger handeln, wobei in bestimmten Fällen auch die Dateien bzw. Daten selbst Aktenbestandteil oder Beweisstück sein können. Die nachfolgende Definition von Beweisstücken determiniert also in gewisser Weise, was alles Aktenbestandteil sein kann.

275 BT-Drs. 18/9416, 45: „Die Vorschrift regelt die Einreichung elektronischer Dokumente an Gerichte oder Staatsanwaltschaften durch die übrigen Verfahrensbeteiligten.“; BTDrs. 18/9416, 47: „Soweit sich der Übermittlungsweg aus dem zur Akte gelangten elektronischen Dokument […].“; BT-Drs. 18/9416, 49: „Dem Zeitpunkt, zu dem ein Dokument ,zu den Akten‘ gebracht ist […]. Absatz 2 bestimmt hierfür den Zeitpunkt der Speicherung in der betreffenden elektronischen Akte. Ein solches ,Zu-den-Akten-Bringen‘ erfordert ein bewusstes und gewolltes Einfügen des Dokuments an den im jeweiligen elektronischen Aktensystem vorgegebenen logischen Speicherort und stellt insoweit mehr als das Auslösen eines rein physischen Speicherungsakts dar. […] Das Dokument ist in diesem Fall – gegebenenfalls durch Beauftragung von Schreibkräften oder durch Umwandlung gemäß § 32e StPO – in eine der Akte entsprechende elektronische Form zu übertragen und anschließend in der beschriebenen Art und Weise in der elektronischen Akte zu speichern. […] Wenn Akten elektronisch geführt werden, soll auch die Übermittlung von Dokumenten zwischen den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten grundsätzlich elektronisch erfolgen.“ 276 Siehe zu § 273 Abs. 2 S. 2, 3 StPO: BR-Drs. 829/03, 29; vgl. zur Einführung der e-Akte im Strafverfahren im Allgemeinen und zu § 32f StPO: BT-Drs. 18/9416, 32, 56.

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(a) Informations- bzw. Datenträger und Dateien bzw. Daten Erforderlich für die Einordnung eines Gegenstandes als Aktenbestandteil im Allgemeinen und als Beweisstück im Besonderen muss zunächst sein, dass dieser ein (analoges oder digitales) Medium darstellt, das zur Wahrnehmung von Informationen bzw. Daten geeignet ist. Darüber hinaus können auch Dateien bzw. Daten selbst Aktenbestandteile sein. Denn jeder Informations- bzw. Datenträger, auf den in den Gesetzesmaterialien sowohl hinsichtlich der Aktenbestandteile als auch hinsichtlich der besonderen Einordnung als Beweisstück Bezug genommen wird, stellt entweder ein schriftlich, digital oder sonst durch Beweiszeichen wahrnehmbares Medium dar, dem Informationen bzw. Daten entnommen werden können. Ebenso verhält es sich mit den Datenträgern bzw. Dateien/ Daten selbst, die sich ausweislich der StPO und den aufgezeigten Gesetzesmaterialien bei den Akten befinden können. Es muss sich bei Akten also insgesamt um Informations- bzw. Datenträger oder um die entsprechenden Dateien selbst handeln. Bei Datenträgern kommt es lediglich darauf an, ob hierauf Daten gespeichert werden können,277 nicht darauf, ob sie originär als Trägermedium dienen oder ihnen ein Informationsgehalt tatsächlich zu entnehmen ist. Jedes Material, das Informationen bzw. Daten aufnehmen kann, ist ein Datenträger.278 Als Datenträger gelten demnach nicht nur elektronische – wie bspw. ein USB-Stick, Tonband, eine CD oder Festplatte –, sondern auch papierne – wie jegliche Formen von Printmedien bzw. schriftliche/bildliche Unterlagen oder bspw. Karteien – Trägermedien.279 Dass es sich bei Akten um Datenträger und die Daten selbst handelt, lässt sich auch aus der amtlichen Überschrift des ersten Abschnittes des achten Buches der StPO ableiten, die lautet: „Erteilung von Auskünften und Akteneinsicht, sonstige Verwendung von Daten für verfahrensübergreifende Zwecke“. Wenn sich aus der Überschrift weiter ergibt, dass Auskunftserteilung und Akteneinsicht besondere Formen einer Datenverwendung darstellen, muss es sich sowohl bei einem Aktenbestandteil im Allgemeinen als auch bei einem Beweisstück im Besonderen um Dateien bzw. Daten oder um ein Informationsmedium, also einen Informationsbzw. Datenträger, handeln. Es wäre auch deshalb zu eng, unter Beweisstücke nur diejenigen Gegenstände zu fassen, die tatsächlich als Informationsträger dienen, da bestimmten Darstellungen oder Skizzen nicht notwendig ein erkennbarer Informationsgehalt entnommen werden kann, sondern der diesbezügliche Informationsträger lediglich ein Informationsmedium darstellt, dem theoretisch irgendein Informationsgehalt entnommen werden kann und der Gesetzgeber Letzteres bei der Einfüh-

277

Wissenschaftlicher Rat, Duden, Wörterbuch, Bd. 2, S. 755. Dudenredaktion, Duden, S. 405; eingehend auch Bell, Akteneinsicht, S. 11 ff. 279 Däubler/Wedde/Weichert/Sommer-EU-DSGVO/BDSG/Weichert, Art. 4 DSGVO, Rn. 26; siehe hierzu auch Bell, Akteneinsicht, S. 8 ff. 278

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rung von § 267 Abs. 1 S. 3 StPO ebenfalls als Aktenbestandteile angesehen hat.280 Das Trägermedium muss zur Wahrnehmung bestimmter Informationen also lediglich geeignet sein.281 Als Akten und Beweisstücke kommen demzufolge sämtliche Schriftstücke und sonstige Speichermedien in Betracht. (b) Transportierbarkeit Da die Akten gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegen sind bzw. gem. § 32f Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 3 StPO mitgegeben/übermittelt werden können, muss es sich bei Akten im Allgemeinen und Beweisstücken im Besonderen um bewegliche Informations- bzw. Datenträger handeln. Dateien bzw. Daten sind über entsprechende Datenträger ebenfalls transportierbar. (c) Kopierfähigkeit Die Gesetzesmaterialien zur Einführung von § 147 Abs. 4 RStPO legen zunächst nahe, dass es sich bei Aktenbestandteilen im Allgemeinen und bei den Beweisstücken im Besonderen um Informationsträger handeln muss, die sich physisch in einer Akte befinden können.282 Der Gesetzgeber geht in den Materialien zur Reform 2018 zudem davon aus, dass die Beweisstücke283 – ebenso wie Aktenbestandteile im Allgemeinen284 – auch tatsächlich kopiert werden können. Zudem 280

Siehe BT-Drs. 8/976, 55. Eine ähnliche Definition für Trägermedien findet sich in § 1 Abs. 2 S. 1 JuSchG. 282 Siehe erneut Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 965 f.; Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1299 f. 283 Siehe insb. BT-Drs. 18/9416, 57: „Befinden sich Beweisstücke in Papierform in den Akten, sind diese bei Bedarf vor Übergabe oder Übersendung durch – entsprechend auch als solche kenntlich zu machende – Kopien zu ersetzen. […] Satz 3 gilt für die gesamten Akten, aber auch für einzelne Seiten, etwa wenn Beweisstücke in Papierform zur Akte statt in Verwahrung genommen worden sind.“ 284 Siehe insb. BT-Drs. 18/9416, 42: „Für sogenannte elektronische Zweitakten (,elektronische Aktenkopien‘ im Sinne des StPO-E) […]. Elektronische Zweitakten oder Aktenkopien sind Kopien der führenden elektronischen oder in herkömmlicher Form geführten Akte.“; a. a. O. S. 54: „Zwar können derartige Überprüfungsergebnisse grundsätzlich wichtige Informationen darstellen, die sich dem übertragenen Dokument in der führenden elektronischen Akte nicht mehr oder nicht mehr ohne Weiteres entnehmen lassen. Jedoch ist die Entscheidung zwischen ,Original‘ und ,Nichtoriginal‘ bei Papierdokumenten vom Vermerkenden in vielen Fällen schon unter Berücksichtigung des derzeitigen Stands der Kopiertechnik nicht mehr mit der für das weitere Verfahren erforderlichen Zuverlässigkeit zu treffen.“; a. a. O. S. 57: „Stehen wichtige Gründe einer Einsichtnahme in Form des Satzes 1 oder 2 entgegen, wird Akteneinsicht nach Satz 3 durch Übermittlung von Kopien gewährt, wobei Kopien auch elektronisch erstellt und übermittelt werden können. Satz 3 gilt für die gesamten Akten […]. […] Denn dem berechtigten Interesse an effektiver Akteneinsicht wird grundsätzlich auch durch Übermittlung von Kopien der Akten genügt.“; a. a. O. S. 60: „Hinsichtlich des Umfangs der erteilten Abschriften darf der Beschuldigte nicht schlechtergestellt werden als wenn er die Akte selbst einsieht. Die Abschriften müssen daher den gesamten vom Beschuldigten einzusehenden Umfang der Akte umfassen.“; a. a. O. S. 70: „Dies gilt in gleicher 281

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wird in § 478 StPO davon ausgegangen, dass Auskünfte nach den §§ 474 bis 476 StPO auch durch die Überlassung von Aktenkopien erfolgen können. § 474 StPO sieht (abgesehen von § 474 Abs. 2 S. 2 StPO) in jedem Absatz eine Rechtsgrundlage für die Akteneinsicht vor, in § 474 Abs. 4 StPO ist zudem ein Beweisstückbesichtigungsrecht normiert. Ähnlich verhält es sich mit § 475 StPO. Da § 478 StPO die in den §§ 474 f. StPO geregelten Auskünfte umfassend durch die Überlassung von Kopien gestattet, muss es sich bei Aktenbestandteilen inkl. der Beweisstücke um kopierfähige Dateien/Daten und um Informations- bzw. Datenträger handeln. Auch in den §§ 32f Abs. 2 S. 2, 147 Abs. 4 S. 2, 385 Abs. 3 S. 3, 406e Abs. 3 S. 2 StPO wird von einer Kopierfähigkeit der Aktenbestandteile ausgegangen. Insofern ist als weitere Einschränkung zu fordern, dass das Informationsmaterial auch kopierfähig ist. Ferner wird in den Materialien zur Reform 2018 angedeutet, dass das Informationsmaterial komplikationslos und inhaltlich originalgetreu kopierfähig sein muss. Denn Kopien sind nach dem Willen des Gesetzgebers als solche zu kennzeichnen,285 damit die Kopie in keinem Fall mit dem Original-Informationsträger verwechselt werden kann.286 Ferner können ausweislich der Begründung zur Einführung von § 147 RStPO auch gefälschte Dokumente und Ähnliches, und damit etwa auch ein gefälschter Ausweis o. Ä. ein Beweisstück darstellen.287 Insofern muss der Informationsträger inhaltlich (nicht optisch, da dies bei einer Kopie etwa eines gefälschten Ausweises nicht möglich wäre) originalgetreu kopierfähig sein. Zum anderen wird das eingeführte Recht des verteidigerlosen Beschuldigten, jedenfalls Aktenkopien überlassen zu bekommen (§ 147 Abs. 4 S. 2 StPO n. F.), unter anderem mit dem dafür geringen Aufwand begründet,288 sodass ein Kopiervorgang problemlos möglich sein muss. Hinzu kommt, dass nahezu jedes sachliche Beweismittel abfotografiert werden könnte, sodass ohne die Einschränkung, dass die Beschaffenheit eine inhaltWeise für elektronische Kopien aus Akten, also die Kopien von Aktenteilen […]. […] Die Vorschrift erfasst auch solche Fälle, in denen bei elektronischer Aktenführung anders als bei der papierbasierten Aktenführung aus technischen Gründen eine Kopie der Akte zurückbleibt.“; a. a. O. S. 105: „[…] mit der Folge, dass dem unverteidigten Beschuldigten bereits heute zur sachgerechten Verteidigung regelmäßig eine vollständige Aktenkopie zu überlassen ist […].“ 285 BT-Drs. 18/9416, 57: „Befinden sich Beweisstücke in Papierform in den Akten, sind diese bei Bedarf vor Übergabe oder Übersendung durch – entsprechend auch als solche kenntlich zu machende – Kopien zu ersetzen.“ 286 Siehe BT-Drs. 18/9416, 54: „Jedoch ist die Entscheidung zwischen ,Original‘ und ,Nichtoriginal‘ bei Papierdokumenten vom Vermerkenden in vielen Fällen schon unter Berücksichtigung des derzeitigen Stands der Kopiertechnik nicht mehr mit der für das weitere Verfahren erforderlichen Zuverlässigkeit zu treffen.“ 287 Siehe erneut Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 965. 288 BT-Drs. 18/9416, 60: „Da die elektronische Aktenführung das Bereitstellen einer Leseversion oder -kopie ohne Manipulationsgefahr ermöglicht und deren Erstellung zudem mit einem verhältnismäßig geringeren Aufwand verbunden ist, erscheinen solche Beschränkungen des Akteneinsichtsrechts nicht mehr gerechtfertigt.“

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lich originalgetreue und zudem komplikationslose Kopierfähigkeit ermöglicht, wiederum der Anwendungsbereich von § 214 Abs. 4 StPO nahezu vollumfänglich leerliefe. Zudem wird in §§ 214 Abs. 4 S. 1, 221 StPO auf die „als Beweismittel dienenden Gegenstände“ abgestellt, wohingegen es sich bei Aktenbestandteilen inkl. den Beweisstücken um Informationsträger bzw. Dateien/Daten handelt. Auch in den §§ 94 Abs. 1 und 2, 95 Abs. 1, 95a Abs. 1, Abs. 3 S. 1, 97 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 S. 2, Abs. 4 S. 1, 2, 98 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 Hs. 2, 103 Abs. 1 S. 1, 108 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 und 3, 109, 111 m Abs. 1 S. 1, 111p Abs. 1 S. 1 StPO wird auf die als Beweismittel dienenen „Gegenstände“ Bezug genommen. Ähnlich wird in §§ 94 Abs. 4, 111c Abs. 1 S. 1, 111d Abs. 2 S. 1, 111j Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 2, 111k Abs. 1 S. 4, 111l Abs. 2, 111n Abs. 1 StPO auf die als Beweismittel dienenden „beweglichen Sachen“ abgestellt. Die StPO unterscheidet damit zwischen „Beweisstücken“ und als Beweismittel dienenden „Gegenständen“ bzw. „Sachen“. Aus § 111n Abs. 1 StPO und § 111o Abs. 1 StPO ergibt sich weiter, dass die StPO sachliche Beweismittel kennt, die bereits im Ermittlungsverfahren – und damit gem. § 147 Abs. 2 S. 1 StPO zu einem Zeitpunkt, zu dem das Akteneinsichtsrecht noch nicht uneingeschränkt besteht – an eine Person herausgegeben werden können. Auch vor diesem Hintergrund können nicht jegliche sachliche Beweismittel „Beweisstücke“ bzw. Aktenbestandteile i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO darstellen, da bei einer solchen Sichtweise die Staatsanwaltschaft auf der Grundlage von §§ 111n Abs. 1, 111o Abs. 1 StPO Aktenbestandteile an dritte Personen herausgeben dürfte, bevor die Verteidigung diese Aktenbestandteile einsehen konnte. Als Unterscheidungskriterium zwischen derartigen als Beweismittel dienenden Gegenständen/Sachen und „Beweisstücken“ i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO bietet sich ausschließlich die inhaltlich originalgetreue und komplikationslose Kopierfähigkeit an. Aus diesen Gründen ist eine inhaltlich originalgetreue und problemlose Kopierfähigkeit ebenfalls als Eigenschaft eines Beweisstückes vorauszusetzen. Wenn ein Datenträger aufgrund seiner Beschaffenheit nicht ohne Weiteres inhaltlich originalgetreu kopiert werden, sondern lediglich umständlich/inhaltlich nicht originalgetreu kopiert oder nur abfotografiert werden kann, ist es kein taugliches Beweisstück und kommt damit auch als Aktenbestandteil nicht in Betracht. Sowohl ein Aktenbestandteil im Allgemeinen als auch ein Beweisstück im Besonderen muss deshalb eine Urkunde im prozessualen Sinne oder im Wege des Augenscheins wahrnehmbar sein bzw. bei Daten wahrnehmbar gemacht werden können, wobei das Informationsmaterial problemlos inhaltlich originalgetreu kopiert werden können muss.289 289 Ähnlich i. E. SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 29; a. A.: Bell, Akteneinsicht, S. 19, wonach auch Tatwerkzeuge oder Tatprodukte Beweisstücke seien; ähnlich Riess, FG Peters II, S. 125; LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 116: „alle körperlichen Gegenstände (§ 90 BGB)“; bei Kopierfähigkeit des Informationsträgers wird z. T. (lediglich) ein Anspruch auf Erhalt einer entsprechenden Kopie zugestanden, siehe statt vieler SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 25, 29 m. w. N.

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(d) Drohender Beweismittelverlust Die drei vorbenannten Eigenschaften sind für die Qualifikation von Informationsträgern (bzw. schlichtem Informationsmaterial in Form von Datenmaterial) als Aktenbestandteile notwendige Voraussetzung. Im Gegensatz zu Aktenbestandteilen im Allgemeinen muss für die Einordnung als Beweisstück nach dem gesetzgeberischen Willen überdies die Gefahr bestehen, dass bei Verlust oder Beschädigung Beweismittelverlust droht, weshalb die Integrität von Beweisstücken besonders zu schützen ist. Der Integritätsschutz war schließlich der einzige gesetzgeberische Zweck, die Überlassung der Beweisstücke auszuschließen.290 Falls die Integrität des Informationsmaterials bei einer Überlassung nicht gefährdet wird, handelt es sich nach dem gesetzgeberischen Willen zwar möglicherweise um Aktenbestandteile, jedoch läge nicht zugleich ein Beweisstück vor, welches ausnahmsweise nicht herauszugeben wäre. Somit ist für die besondere Einordnung eines Aktenbestandteils als Beweisstück der drohende Beweismittelverlust als vierte Voraussetzung zu fordern. Die Ansicht Bells, nach der für die Einordnung eines Beweisstückes neben einem Schutzbedürfnis am Informationsträger erforderlich sei, dass dieser auch beschlagnahmt wurde,291 findet weder im Gesetz noch in den aufgezeigten Materialien eine (ausreichende) Stütze.292 (e) Veranschaulichung des Definitionsansatzes Die Definition bestehend aus den vier vorbenannten Kernelementen kommt dem gesetzgeberischen Willen, wie er in den untersuchten Materialien zum Ausdruck kommt,293 am nächsten. Gleichzeitig verbleibt § 214 Abs. 4 StPO ein eigenständiger Anwendungsbereich, da mit dem Definitionsansatz von Aktenbestandteilen bzw. Beweisstücken sachliche Beweismittel verbleiben, die keine Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO darstellen und deshalb keine gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegenden Aktenbestandteile sind, sondern gem. § 214 Abs. 4 StPO herbeigeschafft werden. Zudem können hierdurch die „Beweisstücke“ und die sonstigen als Beweismittel dienenden Gegenstände/Sachen, auf die in der StPO Bezug genommen wird, voneinander abgegrenzt werden. Der angeführte Definitionsansatz soll anhand der nachfolgenden Beispiele veranschaulicht werden. Als Informationsträger sind jegliche Urkunden i. S. v. § 249 Abs. 1 StPO anzusehen. Urkunden sind schriftliche und seit Einführung der e-Akte gem. § 249 Abs. 1 S. 2 StPO n. F. auch elektronische Dokumente, jeweils soweit sie verlesen werden können.294 Auf ihre Authentizität und Integrität soll es nach dem Willen 290 Siehe erneut Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 965 f.; Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1299 f. 291 Bell, Akteneinsicht, S. 70. 292 So i. E. auch MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 23; LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 117; Riess, FG Peters II, S. 123. 293 Siehe S. 194 ff. 294 Eingehend zum Begriffsgehalt von § 249 Abs. 1 S. 2 StPO n. F.: Weiß wistra 2018, 245, 245 ff.

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des Gesetzgebers nicht ankommen,295 sodass dieser Gesichtspunkt für die Einordnung als Beweisstück nicht entscheidend sein kann. Ob die Urkunde fremdsprachig ist oder in Kurz-/Geheimschrift verfasst wurde, ist nach der zugrunde gelegten Definition für die Einordnung eines Gegenstandes als Beweisstück – im Gegensatz zu der Frage, ob eine solche Urkunde verlesen werden kann296 – ebenfalls nicht maßgeblich. Wenn ein Informationsträger von vornherein lediglich als Kopie von den Strafverfolgungsbehörden sichergestellt oder in sonstiger Weise erlangt worden ist, wäre dieser Informationsträger – sofern bei Abhandenkommen oder Integritätsschaden ein Beweismittelverlust zu besorgen wäre – ebenfalls ein Beweisstück, sodass im Falle einer beantragten Übersendung eine entsprechende Kopie zu erstellen wäre. In den untersuchten Materialien zur Einführung von § 267 Abs. 1 S. 3 StPO werden Abbildungen, Skizzen und Ähnliches schließlich pauschalisierend als mögliche Aktenbestandteile angeführt. Insofern wären etwa ein deutsches oder fremdsprachiges Ausbildungszeugnis, ein lesbarer oder unlesbarer Notizzettel oder auch eine Festplatte, auf der Quittungen gespeichert sind, Informationsbzw. Datenträger und damit in Betracht kommende Aktenbestandteile. Da sie darüber hinaus transportierbar sind, ohne Weiteres inhaltlich originalgetreu kopiert werden können und bei Verlust/Beschädigung dieser Original-Informationsträger ein Beweismittelverlust drohen würde, wären sie nicht herauszugebende Beweisstücke, die durch eine – als solche kenntlich zu machende – Kopie zu ersetzen wären. Die Original-Informationsträger wären Aktenbestandteil und zugleich Beweisstück, zu überlassen wäre ausnahmsweise jedoch nur die hierzu jeweils erstellte bzw. zu erstellende Kopie. Als Beweisstücke zählen nach dem gesetzgeberischen Willen und der hieran orientierten Definition auch Augenscheinsobjekte, jedoch nur solche, die wiederum bestimmte Informationen verkörpern können. Dies ist etwa bei Datenträgern, auf denen Tonband-/Videoaufzeichnungen, Fotos oder sonstige Abbildungen gespeichert sind, anzunehmen. Eine problemlose und inhaltlich originalgetreue Kopierfähigkeit im vorbenannten Sinne ist bei Printmedien auch unabhängig von der Formatgröße anzunehmen, solange der Datenträger zumindest stückweise problemlos kopiert werden kann, etwa ein DIN A00-Druck, deren gesamter Inhalt originalgetreu und problemlos auf 16 DIN A4-Kopien abgebildet werden kann. Denn auf eine exakte Entsprechung der Kopie kommt es nach der zugrunde gelegten Definition nicht an, ausreichend, aber auch erforderlich ist, dass der Informationsträger inhaltlich originalgetreu kopierfähig ist. Eine Urkunde oder ein Augenscheinsobjekt mit (möglichem) Informationsgehalt stellt jedoch fast jedes erdenkliche Trägermedium dar. So käme als Informations- bzw. Datenträger auch etwaiges Einbruchswerkzeug oder eine Schuss295

BT-Drs. 18/9416, 63. Dies ist für fremdsprachige Urkunden mit Blick auf § 184 GVG grds. abzulehnen, siehe hierzu MüKo-StPO/Kreicker, Bd. 2, § 249, Rn. 15 ff.; siehe zur (Nicht-)Verlesbarkeit von Kurz-/Geheimschriften ders. a. a. O. Rn. 20. 296

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waffe in Betracht. Denn einer Schusswaffe können ebenfalls Informationen, wie etwa der Marken-/Herstellername entnommen werden. Gegebenenfalls können einer Schusswaffe Initialen oder Spurenträger, wie beispielsweise Fingerabdrücke oder DNA-Material, und damit weitere Informationen entnommen werden. Die Schusswaffe ist zur Aufnahme von Informationen generell geeignet i. S. d. ersten Elementes des Definitionsansatzes („Informations- bzw. Datenträger“). Dass eine Schusswaffe nicht als Informationsträger dient, ist nach der herausgearbeiteten Definition zwar unschädlich, auch ist sie transportierbar und es drohte bei einer Überlassung der Schusswaffe an den Verteidiger oder Rechtsanwalt Beweismittelverlust, da diese abhandenkommen könnte. Eine Schusswaffe kann im Gegensatz etwa zu Tonband-/Videoaufzeichnungen oder Fotos jedoch nicht ohne Weiteres inhaltlich originalgetreu kopiert, sondern lediglich abfotografiert werden. Ebenso verhält es sich etwa mit einer Brechstange oder anderem Einbruchswerkzeug. In dieselbe Kategorie fällt Körpergewebe, welches Träger von genetischen Daten sein kann.297 Wenn man solche Datenträger dem Körper entnimmt, wären sie beweglich. Weiter wird man hierbei regelmäßig jedenfalls die abstrakte Gefahr eines Beweismittelverlustes annehmen müssen, wenn solche Datenträger der amtlichen Verwahrung entzogen würden. Solche Datenträger sind jedoch ebenfalls nicht kopierfähig, jedenfalls nicht mit herkömmlichen Methoden, sodass sie keine Aktenbestandteile und folglich auch keine Beweisstücke darstellen. In den letztgenannten Fällen würde es also jeweils an der dritten Voraussetzung der herausgearbeiteten Definition, der Kopierfähigkeit, fehlen, sodass insoweit ein sachliches Beweismittel, aber kein Beweisstück i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO vorläge. Solche Gegenstände sind demzufolge nicht Aktenbestandteil; sie stellen diejenigen sachlichen Beweismittel dar, die (neben der Aktenvorlage aus § 199 Abs. 2 S. 2 StPO) gem. § 214 Abs. 4 StPO herbeizuschaffen sind. Sofern ein Foto sowohl im Original als auch in Kopie sichergestellt wird und sich jeweils in den Akten befände, wäre bei einer Übersendung der Akte i. d. R. nur hinsichtlich des Original-Fotos eine Beweismittelverlustgefahr anzunehmen, sodass beide Abbildungen als Trägermedium zwar Aktenbestandteil sein könnten, regelmäßig aber nur das Original-Foto darüber hinaus ein Beweisstück wäre, welches durch eine als solche zu kennzeichnende inhaltlich originalgetreue Kopie zwecks Übersendung zu ersetzen wäre.298 Sofern ein Original-Datenträger zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit nicht beschlagnahmt, sondern lediglich eine

297 Siehe hierzu Däubler/Wedde/Weichert/Sommer-EU-DSGVO/BDSG/Weichert, Art. 4 DSGVO, Rn. 26 m. w. N.; a. A. i. E. Schlag, FG Koch, S. 236. 298 Ähnlich i. E. Meyer, Akteninformationsrecht, S. 88; Bell, Akteneinsicht, S. 155, unterscheidet hierbei, ob die Kopie bereits während einer Durchsuchung von Seiten der Staatsanwaltschaft erstellt wurde oder dies erst im Anschluss an die Beschlagnahme des OriginalDatenträgers geschehe. Im ersteren Fall sei ihrer Auffassung nach trotz Ablehnung einer Beweismittelverlustgefahr von einem Beweisstück auszugehen. Dies geht am Schutzzweck der Norm indes vorbei.

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inhaltsgleiche Kopie erstellt und sodann in Verwahrung genommen wird, sodass der Gewahrsamsinhaber auf seine Datenträger nicht gänzlich verzichten muss,299 könnte diese Kopie wiederum nicht übersendet werden, ohne das zugleich Beweismittelverlust drohte. Die Kopie wäre mithin Beweisstück,300 sodass von der Kopie eine weitere Kopie zwecks Überlassung zu erstellen wäre. Da es nach der entwickelten Definition nicht darauf ankommt, ob der Gegenstand der Verkörperung von Informationen dient, sondern ausreichend ist, dass der Gegenstand – wie die meisten – zur Aufnahme von Informationen geeignet ist, stellt beispielsweise auch eine Briefmarkensammlung ein in Betracht kommendes Trägermedium dar. Dieses könnte problemlos und inhaltlich originalgetreu kopiert werden, wenn die Briefmarken ausreichend fest in sog. Einsteckblättern/Einstecktafeln einsortiert wären. Wenn die Briefmarken jedoch lose in ein Buch hineingelegt wären, könnte man diese Briefmarkensammlung nicht ohne Weiteres inhaltlich originalgetreu kopieren, da man bei einem Kopiervorgang nicht gewährleisten könnte, dass es sich bei der Kopie um ein inhaltlich originalgetreues Abbild der Briefmarkensammlung handelt. Dies wäre erst möglich, wenn man die Briefmarken eigenhändig auf den Buchseiten befestigen würde. Eine inhaltlich originalgetreue Kopierfähigkeit bestünde hierbei somit nicht naturgemäß. Wird eine solche Briefmarkensammlung sichergestellt, so wäre sie demzufolge weder Beweisstück i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO noch Aktenbestandteil, da die komplikationslose und inhaltlich originalgetreue Kopierfähigkeit nach zugrunde gelegter Definition eine allgemeine Voraussetzung für Aktenbestandteile ist. Sofern ein Informationsträger Aktenbestandteil ist, hat die darüberhinausgehende Einordnung dieses Informationsträgers als Beweisstück lediglich Auswirkungen darauf, ob dieser Informations- bzw. Datenträger ohne Weiteres überlassen werden kann oder ob aus Gründen des Integritätsschutzes bzw. zur Beweissicherung lediglich eine originalgetreue und als solche zu kennzeichnende Kopie hiervon zu übersenden ist. Wenn ein Informations- bzw. Datenträger nicht problemlos und inhaltlich originalgetreu kopierfähig ist, handelt es sich nicht um ein Beweisstück i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO, sondern um ein gem. § 214 Abs. 4 StPO herbeizuschaffendes Beweismittel. (2) Auswirkungen auf § 32e Abs. 1 StPO Handelt es sich bei den Informationsträgern um sog. Ausgangsdokumente, sollen diese bei entsprechender Übertragung gem. § 32e Abs. 1 StPO grundsätzlich nicht (herauszugebender) Aktenbestandteil sein.301 Für eine Herausgabe gibt es

299

Eingehend hierzu Bell, Akteneinsicht, S. 99 ff. So auch Bell, Akteneinsicht, S. 146. 301 Siehe BT-Drs. 18/9416, 54; in der Begründung zur StrafAktEinV wird dies – abgesehen davon, dass hierdurch mangels Komptenz nicht der Umfang des Akteneinsichtsrecht und damit der Aktenbegriff geregelt werden sollte bzw. konnte – missverständlich pauschalisie300

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auch kein Bedürfnis, wenn sich der Informationsgehalt durch die Dokumentenübertragung originalgetreu in den Akten befindet und auf dem übertragenen Dokument ein die bildliche und inhaltliche Übereinstimmung mit dem Ausgangsdokument bestätigender Übertragungsnachweis vermerkt ist (§ 32e Abs. 2, 3 StPO). Es stellt sich nun die Frage, ob sich der Grundgedanke des § 32e Abs. 1 StPO – die Vermeidung hybrider Akten – auch auf die als Beweismittel sichergestellten Ausgangsdokumente erstreckt. Bejahendenfalls müssten in dem Fall, dass von der Übertragungsmöglichkeit der sichergestellten Beweismittel, die gleichzeitig Ausgangsdokumente darstellen, kein Gebrauch gemacht wird, diese Beweismittel bzw. Beweisstücke zumindest abgelichtet und eine Kopie hiervon zur Akte gebracht werden. Denn nach dem gesetzgeberischen Willen handelt es sich sowohl bei Beweisstücken als auch bei sachlichen Beweismitteln um Gedankenerklärungen oder Augenscheinsobjekte. Der Begriff „Beweismittel“ ist nach der gesetzlichen Ausgestaltung lediglich ein Oberbegriff für die vier im Strengbeweisverfahren zulässigen Beweismöglichkeiten. Wenn es sich bei Beweisstücken nach dem gesetzgeberischen Willen (und dem hieran orientierten Definitionsansatz) um transportierbare und problemlos, inhaltlich originalgetreu kopierfähige Informations- bzw. Datenträger in Form einer Urkunde im prozessualen Sinne oder eines Augenscheinsobjektes sowie um Dateien/Daten handelt, welche zwar Aktenbestandteil sind, bei denen im Falle des Verlustes oder bei Integritätseinbußen jedoch ein Beweisverlust droht bzw. eintritt, weshalb sie ausnahmsweise nicht übersendet werden sollen, dann handelt es sich bei Beweisstücken im vorbenannten Sinne in jedem Fall gleichzeitig um sachliche Beweismittel. Da es aber auch sachliche Beweismittel gibt, die zwar verlesbare Schriftzeichen oder wahrnehmbare Beweiszeichen enthalten (können), jedoch nicht ohne Weiteres kopierfähig sind – wie etwa die vermeintliche Tatwaffe – und solche Beweismittel nach hiesiger Untersuchung keine Beweisstücke sein sollen, geht der Begriff „Beweismittel“ weiter als der Begriff „Beweisstück“.302 Beweismittel sind darüber hinaus auch Zeugen- und Sachverständige, die ebenfalls keine Beweisstücke im vorbenannten Sinne darstellen. Bei Ausgangsdokumenten i. S. v. § 32e Abs. 1 StPO handelt es sich nun aber ebenfalls um transportierbare und inhaltlich originalgetreu und problemlos kopierfähige Urkunden oder Augenscheinsobjekte, vornehmlich in Originalform.303 rend formuliert, wenn es auf BR-Drs. 635/19, 8, heißt: „An die Stelle elektronischer Medien wie Video- oder Audiodateien, sofern sie nicht ohnehin Beweismittel und damit nicht Aktenbestandteil sind, treten Ersatzbelege oder Vermerke.“ 302 Nach a. A. sind die Begriffe kongruent zu verstehen: SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 25; LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 116, 118; SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 85; Basar, FS Wessing, S. 641, Fn. 38; so wohl auch Bell, Akteneinsicht, S. 18 ff.; Riess, FG Peters II, S. 125. 303 Bei dem eingereichten Ausgangsdokument muss es sich jedoch nicht notwendig um ein „Original-Dokument“ handeln, auch Kopien können eingereicht/erlangt werden und wären in dem Fall, dass die Akte in einer anderen Form geführt wird, ebenfalls Ausgangsdokumente, siehe erneut BT-Drs. 18/9416, 52.

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Wenn ein als Beweismittel sichergestelltes Ausgangsdokument demzufolge in jedem Fall ein beweglicher und inhaltlich originalgetreu und problemlos kopierfähiger Informations-/Datenträger ist, dann stellt dies aufgrund der bei Herausgabe drohenden Beweismittelverlustgefahr nach dem gesetzgeberischen Willen gleichzeitig aber auch ein Beweisstück im strafprozessualen Sinne dar. Beweisstücke sind nach dem gesetzgeberischen Willen jedoch durch als solche zu kennzeichnende Kopien zu ersetzen. Zudem beschränkt der Gesetzgeber diese Sichtweise nicht nur auf den Fall, dass das Beweismittel (zufällig) auch der entsprechenden Aktenform entspricht.304 Dies kommt auch an einer weiteren Stelle in der Gesetzesbegründung zu § 32f StPO zum Ausdruck.305 Für die Kann-Vorschrift des § 32e Abs. 1 S. 2 StPO verbleiben lediglich zwei mögliche Auslegungsergebnisse. Entweder ist § 32e Abs. 1 S. 2 StPO so zu verstehen, dass Ermessen lediglich dahingehend besteht, ob das als Beweismittel sichergestellte Ausgangsdokument (und damit das Beweisstück) in die entsprechende Aktenform übertragen wird und hierbei mit einem Übertragungsnachweis gem. § 32e Abs. 3 StPO versehen wird – dann ist nach dem gesetzgeberischen Willen das übertragene Dokument (herauszugebender) Aktenbestandteil – oder ob eine Übertragung des als Beweismittel sichergestellten Ausgangsdokumentes unterbleibt und dieses Beweisstück in Gestalt eines Informations-/Datenträgers zum Zwecke einer künftigen Übersendung durch eine inhaltlich originalgetreue Kopie ersetzt wird. Denkbar ist allerdings auch, § 32e Abs. 1 S. 2 StPO so auszulegen, dass Ermessen lediglich dahingehend besteht, ob die als Beweismittel sichergestellten Ausgangsdokumente neben der Anfertigung von Kopien für die Einsichtsberechtigten in die entsprechende Aktenform übertragen werden. Die Einordnung eines als Beweismittel sichergestellten Dokumentes als Aktenbestandteil davon abhängig zu machen, ob dieses Dokument zufällig der entsprechenden Aktenform entspricht, sodass § 32e StPO und insbesondere die Ermessensvorgabe in § 32e Abs. 1 S. 2 StPO nicht anwendbar ist, widerspräche dem Willen des Gesetzgebers bei der Einführung und den Reformen von § 147 StPO. Von seinem ursprünglichen gesetzgeberischen Willen hat sich der Gesetzgeber bei der letzten Reform von § 147 StPO und der Einführung der §§ 32e f. StPO nicht gelöst, sondern sich hieran ausdrücklich orientiert.306 Aus den Gesetzesmaterialien zu § 32e StPO ergibt sich zur Einordnung von Dokumenten als Aktenbestandteile lediglich, dass der Gesetzgeber Ausgangsdokumente grundsätzlich nur dann nicht als vorzulegende/zu übersendende Aktenbestandteile ansieht, wenn diese gem. § 32e Abs. 1 StPO in die entsprechende Aktenform übertragen worden sind. Dies wird in der Gesetzesbegründung dabei jedoch gerade nicht pauschalisiert und damit auch nicht ausdrücklich auf Ausgangsdokumente erstreckt, die 304

Vgl. erneut BT-Drs. 18/9416, 57, 60. Siehe BT-Drs. 18/9416, 57: „Satz 3 gilt für die gesamten Akten, aber auch für einzelne Seiten, etwa wenn Beweisstücke in Papierform zur Akte statt in Verwahrung genommen worden sind.“ 306 Siehe erneut BT-Drs. 18/9416, 57. 305

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als Beweismittel sichergestellt und nicht entsprechend übertragen worden sind.307 Der in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck gebrachte gesetzgeberische Wille, nach dem Ausgangsdokumente nicht mit der Anklageschrift vorzulegen seien, betraf lediglich diejenigen Ausgangsdokumente, die nicht als Beweismittel sichergestellt sind und deshalb der Übertragungspflicht aus § 32e Abs. 1 S. 1 StPO unterliegen;308 die Ausklammerung von den vorzulegenden Akten wurde lediglich i. R. d. Einzelbegründung zu § 32e Abs. 4 StPO-E erklärt und bezog sich damit nur auf die zwingend zu übertragenen Ausgangsdokumente.309 Dass der Gesetzgeber i. R. v. § 32e StPO lediglich die übertragenen Ausgangsdokumente nicht als (herauszugebende) Aktenbestandteile angesehen hat und sich an der Eigenschaft von Beweisstücken als Aktenbestandteile – die zwar ebenfalls nicht herauszugeben, jedoch in Kopie zu überlassen sind – mit § 32e Abs. 1 StPO nichts ändern sollte, kommt auch in § 32e Abs. 4, 5 StPO zum Ausdruck. Andererseits steht insbesondere hinter § 32e Abs. 1 StPO die gesetzgeberische Intention, dass die Strafakte eine einheitliche Form haben soll; eine hybride Aktenführung sollte ausdrücklich ausgeschlossen sein.310 Der Gesetzgeber ging bei der Begründung zu § 32 StPO zudem davon aus, dass Beweismittel nicht als solche Aktenbestandteil sind.311 Dies entspricht i. E. einerseits jedoch dem ursprünglichen gesetzgeberischen Willen, nach dem Beweisstücke als solche zu kennzeichnen und hiervon lediglich Kopien herauszugeben seien, und erklärt auch, weshalb als Beweismittel sichergestellte Ausgangsdokumente gem. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO in die entsprechende Aktenform übertragen werden können und nicht übertragen werden müssen. Denn zu den herauszugebenden Akten müssen Beweisstücke nach Auffassung des Gesetzgebers lediglich in Kopie gelangen; die Beweisstücke selber können sich entweder in den Akten befinden und man ersetzt diesen Aktenteil lediglich zum Zweck der Einsichtsgewährung durch Kopien oder man ersetzt sie von vornherein durch Kopien und nimmt die originalen Beweisstücke gesondert in amtliche Verwahrung. Nach dem zuvor ermittelten gesetzgeberischen Willen stellen Beweisstücke jedoch in jedem Fall Aktenbestandteile dar.312 Der Gesetzgeber hat die Formulierung, dass ein Datenträger als solcher nicht Aktenbestandteil sein soll, auch bei den zu übertragenen Ausgangsdokumenten verwendet,313 das übertragene Ausgangsdokument andererseits jedoch als (ursprünglichen) Aktenbestandteil angesehen.314 Dass Beweismittel nicht als solche Aktenbestandteil sein 307

Vgl. erneut BT-Drs. 18/9416, 54. Vgl. erneut BT-Drs. 18/9416, 55. 309 Siehe erneut BT-Drs. 18/9416, 54 f. 310 BT-Drs. 18/9416, 42, 52, 54. 311 BT-Drs. 18/9416, 42. 312 Siehe S. 194 ff. 313 BT-Drs. 18/9416, 54. 314 Vgl. BT-Drs. 18/9416, 52: „Eine sogenannte hybride Aktenführung, in der Dokumente in ihrer jeweiligen Ausgangsform Aktenbestandteil bleiben, […].“; Hervorhebung durch Verfasser. 308

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sollen, ist also dahingehend zu verstehen, dass das Beweismittel als originaler Informationsträger zwar nicht zu der Akte gelegt werden muss und insbesondere nicht herauszugeben ist, zumindest jedoch eine inhaltsgleiche Kopie zu fertigen und herauszugeben ist. Der Gesetzgeber bezeichnet einerseits Informationsträger, die bei einem Integritätsschaden oder Abhandenkommen zu einem Beweisverlust führen können, als Beweisstücke und gleichzeitig stellen sie sachliche Beweismittel dar. Diese Beweisstücke sollen nach dem Willen des Gesetzgebers als solche gekennzeichnet und von ihnen sollen nur Kopien ausgehändigt werden. Andererseits soll ein als Beweismittel sichergestelltes Ausgangsdokument nicht unbedingt in die entsprechende Aktenform übertragen werden müssen und auch soll es keine hybride Aktenführung geben. Möchte man all diesen gesetzgeberischen Vorstellungen gerecht werden, dann müsste § 32e Abs. 1 S. 2 StPO so gelesen werden, dass entweder das als Beweismittel sichergestellte Ausgangsdokument in die entsprechende Aktenform übertragen wird oder dieses Ausgangsdokument kopiert wird und diese Kopie in die entsprechende Aktenform übertragen wird. Falls von dem Ausgangsdokument im Ermittlungsverfahren aus Gründen des Integritätsschutzes bereits eine Kopie erstellt wurde, so wäre dieses Ausgangsdokument schließlich kein als Beweismittel sichergestelltes Ausgangsdokument i. S. v. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO, sodass dieses der Übertragungspflicht aus § 32e Abs. 1 S. 1 StPO unterliegen würde. Das Problem ist bei einem solchen Verständnis von § 32e Abs. 1 S. 2 StPO, dass der hierin bewusst normierte Ermessensspielraum bei dieser Lesart unterlaufen würde, da nach zuvor Gesagtem jedenfalls eine Kopie des als Beweismittel sichergestellten Ausgangsdokumentes in die entsprechende Aktenform übertragen werden müsste. Würde man § 32e Abs. 1 S. 2 StPO demnach also so auslegen, dass die aktenführende Stelle lediglich ein Wahlrecht hat, ob es das als Beweismittel sichergestellte Ausgangsdokument im Original in die entsprechende Aktenform überträgt oder ob sie eine Kopie hiervon in die entsprechende Aktenform überträgt, würde § 32e Abs. 1 S. 2 StPO entgegen der Intention des Gesetzgebers faktisch auf eine gebundene Entscheidung hinauslaufen. Möchte man der hinter § 32e Abs. 1 S. 2 StPO stehenden Intention Geltung verschaffen und gleichzeitig berücksichtigen, dass der Gesetzgeber Beweisstücke (und damit auch als Beweismittel sichergestellte Ausgangsdokumente) als Aktenbestandteile ansieht, die den Einsichtsberechtigten in Form einer Kopie zu übersenden sind, verbleibt lediglich die zweite, eingangs in den Raum gestellte Auslegungsvariante. Diese Auslegung ist indes nur dann in Betracht zu ziehen, wenn man die gesetzgeberische Intention auf der Grundlage der Gesetzesmaterialien und den Wortlaut von § 32e Abs. 1 StPO auch dahingehend deuten kann, dass eine hybride Aktenführung zwar in der Regel, aber eben nicht ausnahmslos ausgeschlossen werden sollte. Da Beweisstücke Aktenbestandteile sind, läge schließlich keine einheitliche Aktenform vor, wenn die aktenführende Stelle von ihrem durch § 32e Abs. 1 S. 2 StPO eingeräumten Ermessen Gebrauch macht und die Beweisstücke nicht in die entsprechende Aktenform überträgt.

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Bei genauer Betrachtung der Gesetzesmaterialien wird tatsächlich deutlich, dass eine hybride Aktenform in der Tat nur grundsätzlich und nicht ausnahmslos verhindert werden sollte. Der in der Gesetzesbegründung angeführte Aspekt der Verhinderung einer hybriden Aktenführung bezog sich schließlich nur auf die Ausgangsdokumente, die gem. § 32e Abs. 1 S. 1 StPO zwingend zu übertragen sind. In der Begründung zu § 32e Abs. 1 StPO heißt es: „Absatz 1 verpflichtet die Behörde oder das Gericht zur Umwandlung aller nicht der Aktenform entsprechenden Dokumente zu Aktenführungszwecken (Umwandlungspflicht). Zur effektiven Bearbeitung, Schonung von Ressourcen und Erleichterung der Wahrnehmung von Akteneinsichtsrechten soll die ,führende‘ Strafakte in einer einheitlichen Form dem Strafverfahren zugrunde gelegt werden. Eine sogenannte hybride Aktenführung, in der Dokumente in ihrer jeweiligen Ausgangsform Aktenbestandteil bleiben, soll hierdurch ausgeschlossen werden (siehe oben § 32 StPO-E).“315

Zu § 32e Abs. 1 S. 2 StPO heißt es sodann: „Satz 2 schränkt den in Satz 1 definierten Grundsatz für solche Ausgangsdokumente ein, die Beweismittel sind, insbesondere also für solche Dokumente, die beim Beschuldigten oder bei Dritten sichergestellt wurden. Solche Beweisdokumente können, müssen aber nicht in die Form übertragen werden, in der die Akten geführt werden. Es wird hinsichtlich solcher Dokumente somit keine Pflicht geschaffen, sondern es bleibt der Entscheidung des Staatsanwalts oder Richters überlassen, ob und in welchem Umfang solche Dokumente zusätzlich in umgewandelter Form zur Verfügung stehen oder nur im ,Original‘ getrennt von der Akte als Beweismittel in amtlicher Verwahrung gehalten werden sollen.“316

Insbesondere in Fällen, in denen die als Beweismittel sichergestellten Ausgangsdokumente einen überdurchschnittlichen Umfang haben, bietet sich eine Übertragung in die entsprechende Aktenform nach Auffassung des Gesetzgebers an. Auch die für die Anklageerhebung als wesentlich erachteten Ausgangsdokumente können in die entsprechende Aktenform übertragen werden.317 Hieran gemessen ist § 32e Abs. 1 S. 2 StPO so zu verstehen, dass Ausgangsdokumente, die als Beweismittel sichergestellt sind und somit Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO darstellen, nicht in die entsprechende Form übertragen werden müssen und lediglich eine Kopie im Wege der Akteneinsicht zu überlassen ist. Denn jedenfalls geht der Gesetzgeber nach den zuvor untersuchten Gesetzesmaterialien davon aus, dass Beweisstücke kopiert und im Wege der Akteneinsicht

315

BT-Drs. 18/9416, 52; Hervorhebung durch Verfasser. BT-Drs. 18/9416, 52 f. 317 BT-Drs. 18/9416, 53: „Ein wichtiger Anwendungsfall der vorgeschlagenen Regelung werden Verfahren sein, in denen große Mengen beweiserheblicher Papierdokumente vorliegen. Hier kann es sinnvoll sein, einen elektronischen Beweismittelordner anzulegen. In einem solchen könnte entweder die Gesamtheit der sichergestellten Dokumente nach Umwandlung in die elektronische Form abgelegt werden, um deren technische Vorteile (insbesondere Suchfunktionen) nutzen zu können, oder es könnten nur die letztlich beweiserheblichen oder als beweiserheblich erachteten Dokumente aufgenommen werden, etwa diejenigen, die in der Anklage als Beweismittel benannt worden sind.“ 316

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ersatzweise überlassen werden müssen. Durch § 32e Abs. 1 S. 2 StPO wird demnach nicht die Zuführung des Beweisstückinhaltes zu den Akten in das Ermessen der Strafverfolgungsbehörde gelegt, sondern lediglich der Grundsatz der einheitlichen Aktenform aus § 32e Abs. 1 S. 1 StPO durchbrochen. Das Ermessen in § 32e Abs. 1 S. 2 StPO geht letztlich also lediglich dahin zu entscheiden, ob die als Beweismittel sichergestellten Ausgangsdokumente den Einsichtsberechtigten lediglich in Kopie überlassen werden oder ob der Inhalt der als Beweismittel sichergestellten Ausgangsdokumente in die entsprechende Aktenform übertragen wird, sodass dessen Inhalt den Einsichtsberechtigten letztlich in jedem Fall zur Verfügung steht. (3) Auswirkungen auf § 214 Abs. 4 StPO und § 199 Abs. 2 S. 2 StPO Da Beweisstücke nach hiesiger Untersuchung ebenfalls sachliche Beweismittel darstellen318 und die Herbeischaffung sachlicher Beweismittel gem. § 214 Abs. 4 StPO von der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht bewirkt werden, stellt sich insoweit die Frage, ob sich die Herbeischaffungspflicht aus § 214 Abs. 4 StPO auch auf diejenigen sachlichen Beweismittel erstreckt, deren Inhalt als Beweisstückkopie bereits im Wege der Akteneinsicht überlassen wurde. Dagegen spricht, dass Beweisstücke nach hiesiger Untersuchung eben Aktenbestandteile darstellen, die von den gem. § 214 Abs. 4 StPO herbeizuschaffenden Beweismitteln zu unterscheiden sind. Bei Beweisstücken handelt es sich um problemlos und inhaltlich originalgetreu kopierfähige Informationsträger oder um die entsprechenden Dateien/Daten selbst. Falls das Informationsmaterial diese Eigenschaft nicht aufweist, ist es kein Aktenbestandteil, sondern ein als Beweismittel dienender Gegenstand i. S. d. §§ 214 Abs. 4, 221 StPO. Sofern es sich bei den Beweismitteln um Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO handelt, stellen sie Aktenbestandteile dar. Diese sind gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO dem Gericht mit der Anklageschrift vorzulegen.319 Es fragt sich deshalb abschließend, ob diese Beweisstücke dem Gericht ebenfalls nur in Kopie oder als gem. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO übertragenes Dokument zu überlassen sind oder ob insoweit der Original-Informationsträger vorzulegen ist. Ausweislich des Wortlautes von § 199 Abs. 2 S. 2 StPO werden „die Akten“ vorgelegt. Der Gesetzgeber bzw. das Gesetz320 versteht unter Aktenbestandteilen dabei die Informationsträger im Original. Nach dem gesetzgeberischen Willen sind von den Beweisstücken lediglich zum Zwecke von Einsichtsgesuchen Kopien zu erstellen, da bei einer Übersendung der Beweisstücke an die Verfahrens-

318

Siehe S. 191 ff. Anders bspw. LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 5/2, § 199, Rn. 26, wonach Beweisstücke (vorerst) auch bei der Staatsanwaltschaft bzw. in ihrer Asservatenkammer verbleiben könnten. 320 I. S. d. sog. Vereinigungstheorie, wonach zur Ermittlung des Sinngehaltes einer Norm subjektive (historische) und objektive (teleologische) Erwägungen anzustellen sind, siehe hierzu allg. nur Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 240 m. w. N. 319

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beteiligten in jedem Fall die abstrakte Gefahr eines Beweismittelverlustes drohen würde. Auf die gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegenden Akten haben sich die Ausführungen in der Gesetzesbegründung zur Reform 2018 hinsichtlich der Pflicht, Kopien zu erstellen, nicht erstreckt. Soweit in der Gesetzesbegründung zur Reform 2018 deutlich gemacht wird, dass von den Beweisstücken Kopien zu erstellen und zu überlassen sind, bezog sich dies ausschließlich auf die Zurverfügungstellung des Beweisstückinhaltes an die Akteneinsichtsberechtigten.321 Auch die Vorschriften der StPO, in denen ein Recht, Kopien zu überlassen, normiert ist, beziehen sich ausschließlich auf Akteneinsichtsberechtigte, vgl. §§ 32f Abs. 2 S. 2, 58a Abs. 2 S. 3, 147 Abs. 4 S. 2, 385 Abs. 3 S. 3, 406e Abs. 3 S. 2, 478 StPO. Die Beweisstücke liegen in den Fällen des §§ 58a, 168e, 247a, 273 Abs. 2 S. 2 StPO ebenfalls dem Gericht im Original vor, wohingegen den Einsichtsberechtigten jeweils nur eine Aufzeichnungskopie überlassen wird. Zudem demonstrieren die §§ 214 Abs. 4, 221 StPO, dass eine mit dem Transport der Beweismittel zum Gericht einhergehende abstrakte Gefahr des Beweismittelverlustes im Zwischen- und Hauptverfahren vom Gesetz bzw. Gesetzgeber hingenommen wird. Der Grund mag darin liegen, dass an der Herbeischaffung der als Beweismittel dienenden Gegenstände im Gegensatz zu einer Übersendung der Aktenbestandteile an die Einsichtsberechtigten weitgehend verbeamtete Justizpersonen mitwirken. Zudem ist der Transportweg regelmäßig kürzer und auch sicherer, da sich die Aufbewahrungsorte i. d. R. örtlich nicht weit entfernt von den Richterzimmern befinden. Hinzu kommt, dass in den Vorschriften zur Akteneinsicht der Verfahrensbeteiligten jeweils die Einsicht in die Akten und die Besichtigung der Beweisstücke vorgesehen ist. Eine solche Unterscheidung hinsichtlich der Form der Informationsgewährung – die Beweisstückbesichtigung des Gerichts müsste dabei unter Anwesenheit der restlichen Verfahrensbeteiligten und öffentlich stattfinden – sieht § 199 Abs. 2 S. 2 StPO jedoch nicht vor. Der Grund dafür liegt darin, dass die Verfahrensherrschaft mit Beginn des Zwischenverfahrens jedenfalls hinsichtlich des Ermittlungsmaterials vollständig auf das Gericht übergeht, vgl. §§ 147 Abs. 5 S. 1, 480 Abs. 1 S. 1 StPO. Hiermit geht einher, dass von nun an das Gericht die Verantwortung für den Erhalt bzw. die Integrität der Aktenbestandteile (inkl. der Beweisstücke) und der gem. §§ 214 Abs. 4, 221 StPO herbeigeschafften Beweisgegenstände trägt. Demzufolge wäre es also auch systemwidrig, wenn die Beweisstücke im Original bei der Staatsanwaltschaft verbleiben würden. Für Beweisstücke, die zugleich Ausgangsdokumente darstellen, gilt nichts anderes. Unabhängig davon, ob die als Beweismittel sichergestellten Ausgangsdokumente gem. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO in die entsprechende Aktenform übertragen wurden, stellen sie Beweisstücke dar, die gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegen sind. Sie verlieren ihre Eigenschaft als Aktenbestandteil durch eine Übertragung gem. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO nicht. Dies ergibt sich aus der Gesetzesbegründung, wenn es in dieser heißt: 321

Siehe BT-Drs. 18/9416, 33, 57 f., 60, 64 f.

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„Es wird hinsichtlich solcher Dokumente [scil. die Ausgangsdokumente, die Beweismittel sind] somit keine Pflicht geschaffen, sondern es bleibt der Entscheidung des Staatsanwalts oder Richters überlassen, ob und in welchem Umfang solche Dokumente zusätzlich in umgewandelter Form zur Verfügung stehen oder nur im ,Original‘ getrennt von der Akte als Beweismittel in amtlicher Verwahrung gehalten werden sollen.“322

Lediglich in dem Fall, dass nicht ein Informations- bzw. Datenträger, sondern die hierauf gespeicherten Dateien/Daten selbst die Aktenbestandteile bzw. Beweisstücke darstellen, kann es vorkommen, dass der originale Aktenbestandteil bei der Staatsanwaltschaft verbleibt. Denn wenn die Staatsanwaltschaft diese Dateien oder Daten dem Gericht vorlegt, in dem sie diese etwa gem. § 32e Abs. 1 StPO in die entsprechende Aktenform überträgt oder auf einem gesonderten Datenträger abspeichert und diesen Informationsträger sodann dem Gericht vorlegt, würde es sich hierbei streng genommen um eine Kopie handeln – auch wenn es technisch realisierbar ist, dass sich die digitalen Kopien von der ursprünglichen Datei bzw. den Daten inhaltlich letztlich nicht unterscheiden.323 Die Beweisstücke sind dem Gericht demnach grundsätzlich im Original gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegen. Sie können im Vorfeld jedoch in die entsprechende Aktenform gem. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO übertragen werden. Ein Aktenbestandteils-Ersatz wird lediglich für die Übersendung an die übrigen Verfahrensbeteiligten erstellt. Sofern nicht der Informationsträger, sondern die hierauf gespeicherten Dateien/Daten selbst die Aktenbestandteile darstellen, ist dem Gericht ausnahmsweise nur eine hiervon erstellte digitale Kopie vorzulegen. c) Zwischenfazit Nach der gesetzlichen Ausgestaltung sind Akten Informationsträger oder Dateien/Daten im „Original“. Dies wird bereits daran deutlich, dass die StPO in zahlreichen Vorschriften den Begriff „Akte“ verwendet, in Ausnahmefällen jedoch die Überlassung einer Aktenkopie normiert ist. Dass die Akteneinsicht die (grundsätzliche) Einsichtnahme in Originalunterlagen meint, spiegelt sich zudem in § 19 Abs. 1 S. 1 und S. 4, Abs. 2 S. 1 BORA wieder, wenngleich aus der gegenüber § 147 StPO rangniederen BORA, in der lediglich die Berufspflichten der Rechtsanwaltschaft geregelt werden sollen, keine systematischen Rückschlüsse gezogen werden dürfen. In den Materialien zur Reform 2018 bestätigt der Gesetzgeber diese Sichtweise explizit. Mit Original-Informationsträgern sind dabei diejenigen gemeint, die ursprünglich sichergestellt oder in sonstiger Weise erlangt wurden. Sofern im weiteren Verlauf der Untersuchung auf Original-Informationsträger Bezug genommen wird, sind die ursprünglich erlangten/erstellten Informationsträger gemeint. Dass zu den Akten auch die Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO und § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. zählen, deutet sich in den aufgezeigten Vorschriften, die die 322 323

BT-Drs. 18/9416, 52 f.; Hervorhebung durch Verfasser. Hierauf wird auf den S. 482 ff. gesondert eingegangen.

II. Systematik

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Beweisstückbesichtigung normieren, und den jeweiligen amtlichen Überschriften zwar an. Eindeutig ergibt sich dies hieraus jedoch nicht. Der Begriff „Beweisgegenstand“ wird in der StPO lediglich synonym zu den Beweisstücken verwendet. Deshalb wurde sich dem Begriffsgehalt von „Beweisstücken“ zunächst über die in der StPO normierten „Beweismittel“ zu nähern versucht. Die Begriffe „Beweisstück“ und „Beweismittel“ sind begriffsverwandt, aber nicht deckungsgleich. Die StPO versteht unter Beweismitteln die persönlichen (Zeugen und Sachverständige) und die sachlichen Beweismittel (Urkunden im prozessualen Sinne und Augenscheinsobjekte). Unter Beweisstücke oder gar Aktenbestandteile Zeugen oder Sachverständige zu subsumieren, widerspräche bereits dem allgemeinen Sprachgebrauch. Die StPO formuliert für persönliche Beweismittel, dass diese „geladen“ werden, vgl. § 214 Abs. 1 bis 3 StPO, wohingegen sachliche Beweismittel „herbeigeschafft“ werden, vgl. §§ 214 Abs. 4, 221 StPO. Zu den Beweisstücken können damit – von vornherein – ausschließlich sachliche Beweismittel zählen. In § 267 Abs. 1 S. 3 StPO wird bewusst davon ausgegangen, dass Beweismittel Aktenbestandteile sein können, weshalb es zumindest eine Schnittmenge zwischen sachlichen Beweismitteln und Aktenbestandteilen geben muss. Dass Beweisstücke zugleich Aktenbestandteile sind, geht hiermit jedoch nicht zwingend einher. Denn Beweisstücke könnten schließlich gerade außerhalb dieser Schnittmenge anzusiedeln sein. Jedenfalls kann nicht jedes sachliche Beweismittel zugleich Aktenbestandteil sein. Dies ergibt sich im Umkehrschluss aus § 214 Abs. 4 StPO, nach dem die Staatsanwaltschaft (neben der Aktenvorlagepflicht aus § 199 Abs. 2 S. 2 StPO) die Herbeischaffung der Beweismittel bewirkt. Wenn jedes sachliche Beweismittel auch Aktenbestandteil wäre, würde § 214 Abs. 4 StPO, nach dem die Herbeischaffung der Beweismittel zu bewirken ist, wegen § 199 Abs. 2 S. 2 StPO, nach dem bereits mit Anklageerhebung die Akten vorzulegen sind, praktisch leerlaufen. Welche sachlichen Beweismittel als Aktenbestandteile in Betracht kommen, ergibt sich erst aus den Gesetzesmaterialien. Zugleich wird aus diesen ersichtlich, dass die Beweisstücke i. S. v § 147 Abs. 1 StPO die Schnittmenge von sachlichen Beweismitteln und Aktenbestandteilen darstellen, diese mithin Aktenbestandteile sind. Zunächst ergibt sich aus der Gesetzesbegründung zu § 267 Abs. 1 S. 3 StPO, dass Urkunden im prozessualen Sinne und Augenscheinsobjekte Aktenbestandteile sein können. § 267 Abs. 1 S. 3 StPO intendiert die Erleichterung der Urteilsabfassung, in dem auf Einzelheiten von bei den Akten befindlichen Urkunden und Abbildungen verwiesen werden kann. Es wird deutlich, dass es sich bei den in den Akten befindlichen Beweismitteln jedenfalls um bestimmte Informationsträger handeln muss. Die Materialien zur Einführung von § 147 RStPO belegen, dass die seinerzeit noch Ueberführungsstücke genannten Beweisstücke nach dem gesetzgeberischen Willen Aktenbestandteile sind. Hierunter wurden explizit gefälschte Dokumente und Ähnliches verstanden. Zur Aufrechterhaltung des Integritätsschutzes sollte insoweit keine Verabfolgung bzw. Übersendung gestattet sein. Die Einbeziehung von Ueberführungsstücken bzw. später Beweisstücken in

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

den Begriff des Aktenbestandteils fand auch im Wortlaut von § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. seinen Niederschlag (Akten mit Ausnahme der Ueberführungsstücke bzw. Beweisstücke). Dieses Begriffsverständnis wurde auch bei der Reform von § 147 StPO im Jahr 1965 zugrunde gelegt, welches der Gesetzgeber bei der Einführung der §§ 32 ff. StPO und der Reform von § 147 StPO n. F. übernommen hat. In der Gesetzesbegründung zur Reform 2018 wird erneut davon ausgegangen, dass sich Beweisstücke bei den Akten befinden und damit Aktenbestandteile sind. Insbesondere Tonaufzeichnungen und offenbar auch Telekommunikationsverbindungsdaten können nach dem Willen des Gesetzgebers Aktenbestandteile sein. Informationsträger, die als Beweismittel eingeführt werden können – also Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO –, sind nach dem Willen des Gesetzgebers zur Wahrung des Integritätsschutzes durch Kopien zu ersetzen und Letztere im Wege der Akteneinsicht zu übersenden. Hierbei differenziert der Gesetzgeber auch nicht danach, ob es sich bei diesen Beweisstücken um sog. Ausgangsdokumente i. S. v. § 32e Abs. 1 StPO handelt oder nicht. Aus der Gesetzesbegründung zu § 32e StPO ergibt sich lediglich, dass Ausgangsdokumente jedenfalls dann nicht (herauszugebende) Aktenbestandteile sein sollen, wenn sie gem. § 32e Abs. 1 S. 1 StPO übertragen worden sind. Dies sollte jedoch nicht für Ausgangsdokumentes gelten, die als Beweismittel sichergestellt worden sind – unabhängig davon, ob sie gem. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO übertragen worden sind oder nicht. Dieses Begriffsverständnis lässt sich der Gesetzesbegründung zur Reform 2018 entnehmen und wird auch an § 32e Abs. 4, 5 StPO deutlich. Nach den Gesetzesbegründungen zur Einführung von § 147 RStPO, der Reform 1965, der Reform 2018 und der Begründung zu § 267 Abs. 1 S. 3 StPO sind Beweisstücke zum einen Informationsträger, die durch Urkunden- oder Augenscheinsbeweis in die Hauptverhandlung eingeführt werden können, und zum anderen im Einzelfall auch die Dateien bzw. Daten selbst. Genannt werden in den Begründungen zusammengefasst gefälschte Dokumente und Ähnliches, Urkunden, sonstige Schriftstücke, Abbildungen, Darstellungen, Lichtbilder, Skizzen, Telekommunikationsverbindungsdaten und Tonaufzeichnungen. Aus § 32b Abs. 2, Abs. 3 S. 1 StPO und der Gesetzesbegründung zur Reform des Akteneinsichtsrechts 2018 und zur Reform von § 58a StPO lässt sich ableiten, dass im Einzelfall auch einzelne Dokumente bzw. Dateien oder Daten selbst einen Aktenbestandteil und ggfs. das Beweisstück darstellen können. Dies ergibt sich auch aus den §§ 58a Abs. 2 S. 3, Abs. 3 S. 1, 2, 273 Abs. 2 S. 2, 323 Abs. 2 S. 2 StPO und der amtlichen Überschrift des ersten Abschnittes des achten Buches. Der gemeinsame Nenner ist bei der vorstehenden Aufzählung, dass es sich jeweils um Informations- bzw. Datenträger oder um hierauf gespeicherte Dateien/Daten handelt. Gegenstände, die als Beweismittel dienen, jedoch nicht Träger von Informationen/Daten darstellen sollen, werden vom Gesetzgeber in den jeweiligen Materialien nicht als Beweisstücke im vorbenannten Sinne und auch nicht als bei den Akten befindliche Beweismittel angesehen. Dies spricht zwar nicht zwingend dafür, dass der Gesetzgeber etwa die vermeintliche Tatwaffe nicht

II. Systematik

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als Beweisstück bzw. als Aktenbestandteil ansieht. Der Gesetzgeber hat seine Sichtweise hinsichtlich der Einordnung der Beweisstücke als Aktenbestandteil jedoch mehrfach zum Ausdruck gebracht, obwohl mit § 214 Abs. 4 StPO belegt wird, dass nicht jedes sachliche Beweismittel Aktenbestandteil sein soll. Der gesetzgeberische Wille, so wie er in den ausgewerteten Materialien und mehreren Vorschriften zum Ausdruck kommt, sowie die Gesetzessystematik, insbesondere § 214 Abs. 4 StPO, wurde zu einer Definition zusammengeführt. Hierbei wurde dem gesetzgeberischen Willen Rechnung getragen und der Herbeischaffungspflicht des § 214 Abs. 4 StPO ein klarer und abgrenzbarer Anwendungsbereich belassen. Zudem können hierdurch die „Beweisstücke“ von den als Beweismittel dienenden „Gegenständen“ oder „Sachen“ abgegrenzt werden. Die erste Voraussetzung sowohl für die Einordnung als Aktenbestandteil als auch für die Einordnung als Beweisstück ist das Vorliegen eines Informationsbzw. Datenträgers oder zumindest einer Datei oder eines Datums. Erfasst werden von den Informationsträgern sämtliche Trägermedien, also solche, die zur Wahrnehmung von Informationen geeignet sind. Hierdurch werden in der Sache nur persönliche Beweismittel vom Aktenbegriff ausgenommen, weshalb es schon mit Blick auf § 214 Abs. 4 StPO weiterer Einschränkungen bedarf. Als zweite Voraussetzung muss das Informationsmaterial transportierbar sein, ansonsten könnte der Aktenteil bzw. das Beweisstück nicht vorgelegt oder überlassen werden. Die dritte Voraussetzung ergibt sich aus mehreren StPO-Normen und den Materialien zur Reform 2018. Der Informations- bzw. Datenträger muss nach seiner Beschaffenheit ohne Weiteres, also problemlos, kopierfähig sein; bei Dateien oder Daten ist dies naturgemäß der Fall. Die Kopie muss dabei ein inhaltlich originalgetreues Abbild des Aktenbestandteils darstellen können. Die Beweisstücke unterscheiden sich von denjenigen Beweismitteln, die nicht Aktenbestandteile sein können, sondern als Beweismittel dienende Gegenstände gem. §§ 214 Abs. 4, 221 StPO herbeigeschafft werden können, in den meisten Fällen mit Blick auf diese dritte Voraussetzung. Bis hierhin entsprechen sich die Eigenschaften von Aktenbestandteilen im Allgemeinen und Beweisstücken im Besonderen also. Bei Letzteren kommt nach dem Willen des Gesetzgebers jedoch als vierte Eigenschaft hinzu, dass bei einer Mitgabe des Informations- bzw. Datenträgers die abstrakte Gefahr des Beweismittelverlustes besteht. Im weiteren Verlauf der hiesigen Untersuchung werden inhaltlich originalgetreu kopierfähige und transportierbare Informations-/Datenträger bzw. Trägermedien der Einfachheit halber „Informationsträger“ genannt. Da bis hierhin noch nicht abschließend geklärt ist, in welchem Fall nicht der Informationsträger, sondern lediglich die hierauf gespeicherten Dateien/Daten als Aktenbestandteil anzusehen sind, obwohl diese unweigerlich auf einem Informationsträger gespeichert sind, wird im weiteren Verlauf auch insoweit zunächst von Informationsträgern gesprochen. Vor diesem Hintergrund ist § 32e Abs. 1 StPO wie folgt auszulegen: Ausgangsdokumente sind gem. § 32e Abs. 1 S. 1 StPO grundsätzlich in die entsprechende Aktenform zu übertragen. Vorzulegen bzw. zu übersenden soll nach dem Willen

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

des Gesetzgebers insoweit nur das übertragene Dokument als Aktenbestandteil sein. Ob das nicht als Beweismittel sichergestellte Ausgangsdokument im Falle der Übertragung Aktenbestandteil bleibt, wird i. R. d. historischen Auslegung gesondert untersucht.324 Handelt es sich bei dem Ausgangsdokument um ein sichergestelltes Beweismittel, so muss dieses als Beweisstück und Aktenbestandteil anzusehende Dokument gem. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO nicht notwendig in die entsprechende Aktenform übertragen werden. Das Ermessen geht dabei lediglich dahin zu entscheiden, ob das als Beweismittel sichergestellte Ausgangsdokument lediglich in Kopie den Einsichtsberechtigten zur Verfügung gestellt und bei Anklageerhebung im Original dem Gericht vorgelegt wird oder ob dieses Ausgangsdokument darüber hinaus in die entsprechende Aktenform übertragen wird. Ist das als Beweismittel sichergestellte Ausgangsdokument gem. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO übertragen worden, stellt das übertragene Dokument einen Aktenbestandteil dar. Ist von der Übertragungsmöglichkeit nach § 32e Abs. 1 S. 2 StPO kein Gebrauch gemacht worden, sind diese Beweismittel – da die als Beweismittel dienenden Ausgangsdokumente zugleich Beweisstücke darstellen – durch eine Kopie zu ersetzen. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO räumt also kein Ermessen dahingehend ein, ob der Inhalt des als Beweismittel sichergestellten Ausgangsdokumentes den Einsichtsberechtigten und im Falle der Anklageerhebung dem Gericht zur Verfügung steht. Durch die Untersuchung des Begriffs „Beweisstück“ ist belegt, dass die in § 58a Abs. 2 S. 3 StPO normierte Überlassung der Aufzeichnungskopie deklaratorischen Charakter hat.325 Denn Aktenbestandteile sind – von den Fällen, in denen nur die Daten selbst den Aktenbestandteil darstellen, abgesehen – generell die Original-Informationsträger. Sofern es sich hierbei um Informationsträger handelt, die inhaltlich originalgetreu kopierfähig sind, transportiert werden können und bei Verlust/Integritätsschaden zu einem Beweismittelverlust führen können, handelt es sich um Beweisstücke, die ebenfalls Aktenbestandteile sind, jedoch nicht übersendet werden. Zum Zwecke der Gewährung von Akteneinsicht ist von diesen Beweisstücken eine Kopie zu fertigen. Sofern eine Kopie bereits gefertigt und zur späteren Überlassung zu den Akten gelegt wurde, bedarf es insoweit keiner erneuten Erstellung einer Kopie. Die Kopie ist dann jedoch nicht Aktenbestandteil, sondern eben nur Kopie des Aktenbestandteils; sie wird also lediglich wie der Aktenbestandteil behandelt und im Wege der Akteneinsicht überlassen. Insofern sind die Informationsträger, auf denen audiovisuelle Aufzeichnungen gespeichert sind, (in aller Regel) Beweisstücke. Von solchen Informationsträgern ist zur Beweissicherung ohnehin nur eine entsprechende Kopie zu überlassen. Dieses Begriffsverständnis klingt auch in den §§ 32f Abs. 2 S. 2, 58a Abs. 2 S. 3, Abs. 3 S. 1, 147 Abs. 4 S. 2, 385 Abs. 3 S. 3, 406e Abs. 3 S. 2, 478 StPO an, in denen jeweils normiert ist, dass die Aktenkopien nicht eingesehen werden,

324 325

Siehe S. 359 f. So i. E. bspw. auch OLG Stuttgart StV 2003, 17, 17.

II. Systematik

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sondern diese ersatzweise lediglich mitgegeben/überlassen/übermittelt/bereitgestellt werden. Der herausgearbeitete gesetzgeberische Wille deutet sich bereits in den Gesetzesmaterialien zur Einführung von § 58a StPO an. In dieser Vorschrift wird mit Blick auf die Beweismittelverlustgefahr ebenfalls davon ausgegangen, dass die Verteidigung ein Recht auf Erhalt einer Aufzeichnungskopie hat. Lediglich die vom Gesetzgeber zugrunde gelegte dogmatische Einordnung der Original-Aufzeichnung und der Kopie kam hierin nicht eindeutig zum Vorschein. Die Materialien zur Reform des § 58a Abs. 2 S. 3 StPO belegen jedoch, dass der Gesetzgeber auch im Rahmen dieser Norm zwischen Akten und Beweisstücken differenziert und jedenfalls die Aufzeichnungskopien als grundsätzlich herauszugebende Aktenbestandteile oder zumindest als solche zu behandelnde Informationsträger angesehen hat. Der Gesetzgebungsverlauf zeigt weiter, dass die Original-Aufzeichnungen als Beweisstücke und die Aufzeichnungskopien als herauszugebende Informationsträger angesehen wurden. Diese gesetzgeberische Wertung kommt in § 58a Abs. 3 S. 1, 2 StPO zum Ausdruck. Lediglich die Frage, ob Beweisstücke einen Unterfall der Akten darstellen und Aktenkopien ebenfalls Aktenbestandteile sind, konnte anhand der maßgeblichen Materialien nicht eindeutig beantwortet werden. In Anbetracht der umfassenden Ermittlung des gesetzgeberischen Willens, der in der StPO und in verschiedenen Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommt, ist Ersteres (Beweisstück als Unterfall der Akten) zu bejahen und Letzteres (Aktenkopien sind Aktenbestandteile) zu verneinen, sodass § 58a Abs. 2 S. 3 und S. 4 StPO gedanklich in einem Satz und zwar wie folgt zu lesen ist: „Die §§ 147, 406e finden mit der Maßgabe Anwendung, dass die herauszugebenden Kopien über § 32f Abs. 5 StPO hinaus weder vervielfältigt noch weitergegeben werden können.“ § 58a Abs. 2 S. 3 StPO kann also nur dann konstitutiv zu verstehen sein, wenn man davon ausgeht, dass schutzwürdige Interessen des von der Aufzeichnung Betroffenen der Überlassung einer Aufzeichnungskopie entgegenstehen könnten. Dies wird i. R. d. Einsichtsrechts gesondert untersucht.326 Der Wortlaut von § 199 Abs. 2 S. 2 StPO, die Gesetzesbegründung zur Reform 2018 und die Gesetzessystematik belegen zudem, dass dem Gericht mit der Anklageschrift die Beweisstücke im Original vorzulegen sind. Sofern Aktenbestandteil nicht der Informationsträger, sondern lediglich die hierauf gespeicherten Dateien/Daten sind, sind diese dem Gericht durch Übertragung in die entsprechende Aktenform oder auf einem gesonderten Informationsträger vorzulegen, sodass lediglich in diesem Fall dem Gericht streng genommen eine Kopie des Aktenbestandteils vorliegt. Wie noch aufzuzeigen sein wird,327 ist es heutzutage jedoch möglich, Datenmaterial auf eine Weise zu kopieren, dass die Kopie 1:1 dem Original ent-

326 327

Siehe S. 568 ff. Siehe S. 482 ff.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

spricht und dem Gericht auf diese Weise mit der Übersendung von Datenkopien faktisch das Original-Datenmaterial vorgelegt werden kann.

6. Erfordernis eines Zuführungsaktes? In vereinzelten Vorschriften wird für bestimmte Situationen normiert, dass Informationen erst zu einem späteren Zeitpunkt „zu den Akten zu nehmen/bringen“ sind. Dies könnte Ausdruck davon sein, dass in einem Strafverfahren angesammelte Informationen nicht automatisch „Akte“ oder „Aktenbestandteil“ sind, sondern es hierfür erst ihrer (willentlichen) Zuführung zu den Akten bedarf. Der Begriff der Akte wird auch in § 68 Abs. 4 S. 4 StPO verwendet. Ein erforderlicher Zuführungsakt deutet sich hierin an. § 68 StPO enthält unter anderem Vorkehrungen zum Zeugenschutz. § 68 Abs. 4 S. 3 StPO normiert, dass Unterlagen, aus denen der Wohnort oder die Identität eines gefährdeten Zeugen ersichtlich ist, bei der Staatsanwaltschaft verwahrt werden. § 68 Abs. 4 S. 4 StPO gibt vor, dass diese Unterlagen erst bei Wegfall der Besorgnis der Gefahr zu den Akten zu nehmen sind. An dieser Stelle könnte zum Ausdruck gebracht worden sein, dass ein Informationsträger, der in einem Strafverfahren angesammelt wurde, nicht automatisch Aktenbestandteil ist, zumindest nicht in jedem Fall. Soweit die Gefahr von Rechtsgutsbeeinträchtigungen des Zeugen oder anderer Personen (vgl. § 68 Abs. 2 S. 1 StPO), namentlich Leben, Leib oder Freiheit (vgl. § 68 Abs. 3 S. 1 StPO), zu besorgen ist, könnten diese Unterlagen hiernach noch nicht zu den Akten genommen werden und deshalb möglicherweise noch nicht Aktenbestandteil sein. Im Umkehrschluss wird aus § 68 Abs. 4 S. 4 StPO jedoch deutlich, dass die Trennung des Ermittlungsmaterials von der Akte die Ausnahme darstellen soll. Zum einen deutet sich an, dass zeugengefährdende Unterlagen zumindest grundsätzlich Aktenbestandteil wären oder sogar trotzdem sind, wobei nicht klar wird, ob es hierfür dem Grunde nach ebenfalls eines Zuführungsaktes der Staatsanwaltschaft bedürfte oder dies nur in diesem Ausnahmefall der Fall ist. Sofern gem. § 68 Abs. 5 S. 2 StPO sicherzustellen ist, dass bei Akteneinsichtnahmen die geheim zuhaltenden Zeugendaten nicht bekannt werden, deutet das jedenfalls darauf hin, dass es grundsätzlich keines Zuführungsaktes bedarf. Zwingend ist ein solcher Schluss jedoch nicht. Hiermit könnte der Gesetzgeber schlicht auch nur in den Blick genommen haben, dass diese Information – obwohl sie (noch) nicht Aktenbestandteil ist – bei Einsichtnahmen tatsächlich trotzdem preisgegeben werden könnten, was (zunächst) vermieden werden sollte. Aber auch die These, dass in einem Strafverfahren angesammelte Informationsträger automatisch zur Akte gehören, ist mit § 68 Abs. 4 S. 3, 4 StPO vereinbar – mit diesem Verständnis wären die den Zeugen gefährdenden und bei der Staatsanwaltschaft zu verwahrenden Unterlagen schon von Beginn an Aktenbestandteil und nur ausnahmsweise und temporär von der Akte zu trennen; § 68 Abs. 4 S. 4 StPO könnte insoweit also nur das Einsichtsrecht in diese Aktenteile

II. Systematik

225

einschränken, ohne an der Charakterisierung dieser Unterlagen als Aktenbestandteile etwas zu ändern. Hierfür spricht auch die Formulierung „erst“ in § 68 Abs. 4 S. 4 StPO, die auf eine rein temporäre Fernhaltung dieser Unterlagen hindeutet, wobei dies ebenfalls nicht zwingend ist. Demnach würde § 68 Abs. 4 S. 3, 4 StPO lediglich eine Grundlage für eine befristete Aktenunvollständigkeit darstellen. Ein zur Klassifizierung als Akte erforderlicher Zuführungsakt in diesem Ausnahmefall oder gar im Allgemeinen kann der Norm folglich nicht entnommen werden. Vergleichbar normiert § 101 Abs. 2 S. 1 StPO, dass Entscheidungen und sonstige Unterlagen über bestimmte verdeckte Maßnahmen bei der Staatsanwaltschaft verwahrt werden. Gem. § 101 Abs. 2 S. 1 i. V. m. Abs. 5 S. 1 StPO sind auch diese Unterlagen erst zu einem späteren Zeitpunkt zu den Akten zu nehmen, nämlich dann, wenn dies ohne Gefährdung des Untersuchungszwecks, des Lebens, des Leibs, der Freiheit und ohne Gefährdung von Sachen mit bedeutenden Vermögenswerten möglich ist. Ebenso verhält es sich mit § 168a Abs. 6 S. 2 StPO, nach dem zusammenfassende Aufzeichnungen zwecks Vorbereitung des Untersuchungshandlungsprotokolls bei der Geschäftsstelle mit den Akten aufzubewahren, „zu den Akten zu nehmen“ oder in sonstiger Weise zu speichern sind. Erstere Alternative deutet an, dass es keines Zuführungsaktes bedarf, weil die vorläufigen Aufzeichnungen hilfsweise mit den Akten aufzubewahren sind und demnach offenbar ebenfalls als Akten zu qualifizieren sind. Der Passus in § 168a Abs. 6 S. 2 StPO wäre gedanklich so zu lesen, dass die nicht zu den Akten genommenen Aufzeichnungen „bei der Geschäftsstelle mit den anderen Akten(-bestandteilen) aufzubewahren“ sind. Wenn die Alternativen des § 168a Abs. 6 S. 2 StPO in Beziehung zueinander gesetzt werden, liegt es nahe, dass an dieser Stelle die Formulierung „zu den Akten nehmen“ nicht auf einen Zuführungsakt anspielt. Andererseits könnte der Passus auch so zu verstehen sein, dass diese nicht zu den Akten genommenen Aufzeichnungen gerade nicht Akten bzw. Aktenbestandteile und deshalb „mit den Akten aufzubewahren“ sind. Ob mit der formelhaften Wendung „zu den Akten nehmen“ ein zur Klassifizierung als Akte notwendiger Zuführungsakt zum Ausdruck gebracht wird, kann den vorigen Normen mithin nicht eindeutig entnommen werden. Gegen das Erfordernis eines Zuführungsaktes spricht jedenfalls § 275 Abs. 1 S. 1 StPO. Hierin ist vergleichbar normiert, dass das Urteil „zu den Akten zu bringen“ ist. Das Urteil, welches regelmäßig selbstständig abgefasst wird, jedoch ebenfalls in das Protokoll aufgenommen werden kann, ist notwendigerweise Aktenbestandteil. Wird ein Urteil als elementares Dokument in einem Strafverfahren fertig gestellt, kann es bei späterer Aktenversendung nicht darauf ankommen, ob das Urteil physisch (bewusst) „zu den Akten gebracht wurde“. Auch sind keine Gründe ersichtlich, weshalb der Begriff „zu den Akten bringen/nehmen“ in den vorbenannten Vorschriften und in § 275 Abs. 1 S. 1 StPO unterschiedlich ausgelegt werden sollte.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

Dies vorausgeschickt, bliebe allenfalls Raum dafür, dass es zur Einordnung eines Informationsträgers als Akte zwar keines physischen Zuführungsaktes, aber vielleicht eines irgendwie gearteten Widmungsaktes bedarf, sodass die von der Staatsanwaltschaft angesammelten Informationen nur mit ihrem Willen Akte werden (können). Dieser Widmungsakt könnte sich im Einzelfall auch stillschweigend manifestieren; bei dem Urteil könnte dies bspw. in der Fertigstellung/ Zustellung erblickt werden. Letzteres müsste grundsätzlich auch für dieselbe Formulierung in § 32b Abs. 2 StPO gelten. Die Vorschrift normiert nicht nur ein Zu-den-Akten-Bringen, sondern im Gegensatz zu den vorbenannten Normen darüber hinaus, wann etwas als „zu den Akten gebracht“ anzusehen ist. Dies ist gem. § 32b Abs. 2 StPO der Fall, „sobald es von einer verantwortenden Person oder auf deren Veranlassung in der elektronischen Akte gespeichert ist“. Hierin kommt ein erforderlicher Zuführungs- oder Widmungsakt also deutlicher zum Ausdruck, was möglicherweise damit zusammenhängen mag, dass die Staatsanwaltschaft einen Informationsträger generell erst bewusst „zur Akte nehmen“ muss, um jenen als Akte(-nbestandteil) einordnen zu können. § 32b Abs. 2 StPO ist im Lichte des vierten Abschnittes der StPO, insbesondere der §§ 32a, b, e StPO, auszulegen. Gem. §§ 32a Abs. 2 S. 1, Abs. 3 StPO muss ein eingereichtes elektronisches Dokument für die behördliche/gerichtliche Bearbeitung geeignet sein, unter Umständen mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen oder signiert werden und auf sicherem Übertragungsweg eingereicht werden. Ist das elektronische Dokument für die behördliche/gerichtliche Bearbeitung nicht geeignet, gilt das Dokument gem. § 32a Abs. 6 S. 1 StPO als nicht eingegangen. Darüber hinaus gilt ein elektronisches Dokument erst dann als eingegangen, wenn es auf der hierfür vorgesehenen behördlichen/gerichtlichen Einrichtung gespeichert ist, § 32a Abs. 5 S. 1 StPO. Erstellt eine Strafverfolgungsbehörde oder ein Gericht ein elektronisches Dokument, sind die Namen von allen verantwortenden Personen hinzuzufügen und das Dokument unter Umständen mit einer qualifizierten elektronischen Signatur all dieser Personen zu versehen, § 32b Abs. 1 StPO. § 32e StPO regelt die Übertragung von Dokumenten zu Aktenführungszwecken und stellt über die §§ 32a f. StPO hinaus strenge Formerfordernisse auf. § 32e Abs. 2 StPO regelt, dass bei der Übertragung eines Dokumentes in die Ursprungsform der Akte (vgl. § 32e Abs. 1 StPO) die bildliche und inhaltliche Übereinstimmung sicherzustellen ist. Wird hierdurch ein elektronisches Dokument erstellt, ist ein Übertragungsnachweis zu führen; ein ursprünglich handschriftlich unterzeichnetes Dokument ist mit einer qualifizierten elektronischen Signatur eines Urkundsbeamten der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts zu versehen, § 32e Abs. 3 S. 1, 2 StPO. Im umgekehrten Fall – die Einreichung eines elektronischen Dokumentes bei Führung einer papiernen Akte – ist Authentizität und Integrität des elektronischen Dokumentes zu prüfen und das Ergebnis aktenkundig zu machen, sofern das Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen oder auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht wurde, § 32e Abs. 3 S. 3 StPO.

II. Systematik

227

In den §§ 32a ff. StPO sind eine Reihe von formellen Voraussetzungen normiert, die ausschließlich im Zusammenspiel mit elektronischen Informationsträgern relevant werden. Insbesondere die Einreichung und die Übertragung von papiernen Dokumenten sind im Falle einer (ansonsten) elektronisch geführten Akte an strenge Formalien geknüpft. Die Vorschriften sollen den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten letztlich also den Umgang hiermit erleichtern. Insofern könnte die in § 32b Abs. 2 StPO verwendete Formulierung „zu den Akten gebracht“ in der Tat vorgeben, dass die Aktenbestandteile auch physisch zu der Akte gelegt werden. Gem. § 32a Abs. 5 S. 1 StPO „[ist] ein elektronisches Dokument eingegangen, sobald es […] gespeichert ist“. Gem. § 32b Abs. 2 StPO „[ist] ein elektronisches Dokument zu den Akten gebracht, sobald es von einer verantwortenden Person oder auf deren Veranlassung […] gespeichert ist“. Ein Dokument, das in den Machtbereich der Strafverfolgungsbehörde oder des Gerichts gelangt, muss hiernach also zunächst entsprechend gespeichert werden (§ 32a Abs. 5 S. 1 StPO), es soll hierdurch jedoch nicht automatisch „zu den Akten gebracht“ sein, sondern erst, wenn die verantwortende Person dieses Dokument speichert bzw. dessen Speicherung veranlasst, § 32b Abs. 2 StPO. Der Vergleich von § 32b Abs. 2 StPO mit § 32a Abs. 5 S. 1 StPO deutet insofern an, dass die Speicherung bewusst von einem ausgewählten Personenkreis vorgenommen werden soll und es damit eines Zuführungs- bzw. Widmungsaktes bedarf – jedenfalls bei elektronischen Dokumenten. Auch insoweit lässt der Wortlaut beider Vorschriften jedoch weitere Auslegungsmöglichkeiten zu. Die Vorschriften lassen sich auch so lesen, dass hierdurch lediglich geregelt wurde, wann ein elektronisches Dokument als eingegangen anzusehen ist (und nicht, wann es tatsächlich einging) bzw. wann ein elektronisches Dokument als zu der Akte gebracht anzusehen ist (und nicht, in welchem Fall ein solches Dokument Aktenbestandteil ist). Mit letzterer Lesart hätten die §§ 32a Abs. 5 S. 1, 32b Abs. 2 StPO ihre Funktion hauptsächlich im Zusammenhang von Fristenregelungen. Um nur ein Beispiel zu nennen, würde sich die Einhaltung der Urteilsabsetzungsfrist aus § 275 Abs. 1 S. 2 StPO bei einem elektronisch erstellten Urteil danach richten, ob dieses fristgemäß nach Maßgabe von § 32b Abs. 2 StPO zu den Akten gebracht wurde. Gegen die These eines erforderlichen Zuführungs- oder Widmungsaktes spricht ferner, dass § 32a StPO größtenteils Bestimmungen für den elektronischen Rechtsverkehr beinhaltet und § 32b StPO demgemäß im Wesentlichen die Erstellung und Übermittlung elektronischer Dokumente regelt. In den §§ 32a f. StPO geht es vordergründig um formelle Anforderungen an den Umgang mit elektronischen Dokumenten. Eine materielle Vorschrift, die die Charakterisierung eines Informationsträgers als Aktenbestandteil wesentlich bestimmt, hätte sich thematisch bzw. systematisch viel besser in § 32f StPO eingefügt. Hierin ist unter anderem die Form der Akteneinsichtsgewährung normiert – im ersten Absatz hinsichtlich der elektronischen Akte, im zweiten Absatz hinsichtlich der papiernen Akte. In § 32f StPO, beispielsweise im dritten Absatz, hätte sich eine Regelung, die bestimmt, was es zur Einordnung eines Informationsträgers als

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

Aktenbestandteil bedarf, viel eher angeboten. Zumindest wäre eine solche Vorschrift in § 32e StPO, in dem die Übertragung von Dokumenten zu Aktenführungszwecken geregelt ist, zu verorten gewesen. Ob die Fassung von § 32b Abs. 2 StPO, wohlmöglich auch die von § 32a Abs. 5 S. 1 StPO, darauf zurückzuführen ist, dass es zur Einordnung eines Informationsträgers als Aktenbestandteil ganz allgemein eines irgendwie gearteten Zuführungs- oder Widmungsaktes bedarf, ergibt sich aus der Norm folglich nicht eindeutig. Wie innerhalb der historischen Auslegung noch im Detail aufgearbeitet wird, sprechen auch die Gesetzesmaterialien zu § 32b StPO bzw. den §§ 32 ff. StPO nicht (zwingend) hierfür.328 Hinzu kommt, dass sowohl § 32b Abs. 2 StPO als auch § 32a Abs. 5 S. 1 StPO nicht wie eine klassische, Auswahlermessen einräumende Bestimmung formuliert ist. Es deutet sich mit der Formulierung „sobald“ vielmehr an, dass es lediglich eine zeitliche Frage sein soll, wann ein zulässig eingereichtes bzw. hierin übertragenes elektronisches Dokument als „eingegangen“ anzusehen ist oder „zu den Akten gebracht“ ist. Ein anderes Verständnis hätte nahegelegt, anstelle des verwendeten Begriffes „sobald“ die Formulierung „sofern“, „falls“ oder etwa „wenn“ zu wählen. Eine solche Formulierung trifft der Gesetzgeber – sogar im ähnlichen Zusammenhang – beispielsweise in § 68 Abs. 4 S. 4 StPO: „Zu den Akten sind sie erst zu nehmen, wenn die Besorgnis der Gefährdung entfällt.“ Und selbst diese Formulierung bringt nicht zwingend zum Ausdruck, dass die Staatsanwaltschaft durch Vornahme bzw. Nichtvornahme eines Zuführungsaktes entscheiden kann, ob ein Informationsträger Aktenbestandteil wird oder nicht. Nach oben Gesagtem ist dies mit Blick auf die nahezu gleiche Formulierung in § 275 Abs. 1 S. 1 StPO schließlich fernliegend. Auch für § 32b Abs. 2 StPO stellte sich sonst die Frage, weshalb die dortige Formulierung unterschiedlich zu derjenigen in § 275 Abs. 1 S. 1 StPO ausgelegt werden sollte. Ferner ist es fernliegend, dass eine derartig wesentliche Voraussetzung nur i. R. d. elektronischen Aktenführung geregelt wurde, obwohl die §§ 147, 32f StPO ausdrücken, dass der Umfang der Akteneinsicht nicht davon abhängen soll, welche Form die Akte hat. Dass es keines Zuführungs- oder Widmungsaktes für die Einordnung als Aktenbestandteil bedarf, wird auch durch § 273 Abs. 2 S. 2 StPO gestützt. Hiernach kann anstelle der Protokollierung der wesentlichen Vernehmungsergebnisse eine Vernehmung auch als Tonaufzeichnung „zur Akte genommen werden“. In Zusammenschau mit dem nächsten Satz wird deutlich, dass die Tonaufzeichnung unabhängig davon, ob diese Tonaufzeichnung nun zu der Akte gelegt bzw. dieser zugeführt wurde, Aktenbestandteil ist. Denn in § 273 Abs. 2 S. 3 StPO wird unter anderem auf § 58a Abs. 2 S. 3 StPO verwiesen, sodass in jedem Fall ein Akteneinsichtsrecht in Form der Herausgabe der Aufzeichnungskopie besteht. § 58a Abs. 2 S. 3 StPO setzt einen solchen Zuführungsakt jedoch gerade nicht voraus.

328

Siehe S. 346 ff.

II. Systematik

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Schlussendlich wird in § 480 Abs. 2 StPO ein irgendwie gearteter Zuführungsbzw. Widmungsakt hinsichtlich Beiakten angedeutet. Nach § 480 Abs. 2 StPO soll es Beiakten geben, die Aktenbestandteil sind, und solche, die es nicht sind. Dies spricht dafür, dass über die Beiziehung einer Akte hinaus ein Umstand erforderlich ist, der die beigezogene Akte, möglicherweise auch nur eine Kopie hiervon, zum Aktenbestandteil einer ursprünglich anderen Akte macht. Dies entspricht auch dem nachfolgend vorzustellenden gesetzgeberischen Willen, wobei hieraus aus nachfolgenden Gründen keine verallgemeinerungsfähigen Aussagen getroffen werden können: Mit der Einführung der §§ 474 ff. StPO sollte insbesondere den Vorgaben des Volkszählungsurteils329 entsprochen und es sollten ausreichende Rechtsgrundlagen für persönlichkeitsrechtsrelevante Vorgänge geschaffen werden.330 Dabei sollten Akteneinsicht gewährende Vorschriften, wie etwa § 147 StPO, den §§ 474 ff. StPO als lex specialis ausdrücklich vorgehen.331 § 474 StPO normiert nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers die Informationsübermittlung zu verfahrensexternen Zwecken,332 gleiches gilt für § 479 StPO und § 481 StPO.333 § 476 StPO regelt die Auskunftserteilung und Akteneinsichtsgewährung zu Forschungszwecken und somit ebenfalls verfahrensübergreifende Sachverhalte. Dieser Gedanke zieht sich durch den gesamten Abschnitt der §§ 474 ff. StPO.334 Insofern sind Rückschlüsse aus diesem Abschnitt für Informationsgewährungsnormen zu verfahrensinternen Zwecken ohnehin schwer zu ziehen. Mit § 480 Abs. 2 StPO sollte die Zuständigkeit für die Auskunftserteilung/ Einsichtsgewährung bei beigezogenen Akten geregelt werden. Aus welchem Grund eine beigezogene Akte als Aktenbestandteil gelten bzw. nicht gelten kann, kann der Gesetzesbegründung entnommen werden: „Werden etwa Verfahren miteinander verbunden oder aus herangezogenen Akten Fotokopien gefertigt und diese dann zu den Akten des Strafverfahrens genommen, ist eine Zustimmung nicht erforderlich. Die nach Absatz 1 zuständige Stelle trägt dann jedoch die Verantwortung für die Entscheidung auch bzgl. der Aktenbestandteil gewordenen Informationen. Sie hat insbesondere zu prüfen, ob der Informationsübermittlung aus diesen Aktenteilen besondere spezialgesetzliche Verwendungsregelungen, die etwa mit der ursprünglichen Informationserhebung zu anderen Zwecken zusammenhängen, z.B. nach der AO oder dem SGB, entgegenstehen. Meint die nach Absatz 1 entscheidungsbefugte Stelle,

329

BVerfGE 65, 1. BT-Drs. 14/1484, 1; BT-Plenarprotokoll 14/61: Stenografischer Bericht der 61. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 07.10.1999, 5400C, 5403D-5404A, 5417B; BR-Plenarprotokoll 748: Stenografischer Bericht der 748. Sitzung des Deutschen Bundesrates vom 25.02.2000, 44D-45B; BT-Plenarprotokoll 14/108: Stenografischer Bericht der 108. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 08.06.2000, 10173C; BR-Plenarprotokoll 752: Stenografischer Bericht der 752. Sitzung des Deutschen Bundesrates vom 09.06.2000, 213B. 331 BT-Drs. 14/1484, 17, 26. 332 BT-Drs. 14/1484, 25. 333 BT-Drs. 14/1484, 30 f. 334 Vgl. BT-Drs. 14/1484, 31 ff. 330

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

dies nicht hinreichend beurteilen zu können, so ist es ihr unbenommen, die Entscheidung von einer Zustimmung der Stelle abhängig zu machen, aus deren Akten diese Aktenteile stammen.“335

Hiernach ist mit der beigezogenen Akte eine Akte bzgl. eines anderen Verfahrens gemeint. Insofern ist § 480 Abs. 2 StPO für die Frage eines allgemein notwendigen Zuführungs-/Widmungsakts nicht ergiebig. Es macht einen wesentlichen Unterschied, ob ein etwaiger Informationsträger originär zu einem bestimmten Verfahren gehört und dennoch erst der Akte zugeführt oder gewidmet werden muss oder ob ein Informationsträger einem gänzlich anderen Verfahren entspringt und nun einer weiteren Aktenansammlung zugeführt werden soll. Bei einem Informationsträger, der einem anderen Verfahren zuzuordnen ist, könnte es sich nach dem zugrundeliegenden Gedanken schlicht um eine andere Akte handeln, welche durch die Beiziehung nicht automatisch mit der „Hauptakte“ im Rechtssinne verbunden werden soll. Aktenteile aus einer verfahrensfremden Akte können nach Auffassung des Gesetzgebers bspw. als Fotokopie zum Aktenbestandteil der Verfahrensakte bzw. „Hauptakte“ werden. Ein gesetzgeberisches Verständnis, nach dem es per se eines Zuführungsaktes bedarf, ging mit der Schaffung von § 480 Abs. 2 StPO folglich nicht einher. § 480 Abs. 2 StPO stellt zudem eine bereichsspezifische Ausnahme dar, woraus sich ein allgemeines Erfordernis eines Zuführungs-/Widmungsakts nicht herleiten lässt. Dennoch kann der Norm und der diesbezüglichen Gesetzesbegründung entnommen werden, dass es sich bei einer Verfahrensakte um eine Ansammlung von verfahrensbezogenen Informationsträgern handeln soll. Ob ein Informationsträger automatisch zu einer solchen Akte gehören kann oder ob es hierfür grundsätzlich oder zumindest ausnahmsweise eines irgendwie gearteten Zuführungsoder Widmungsaktes bedarf, ist nach dem zuvor Gesagtem tendenziell abzulehnen, kann jedoch an dieser Stelle noch nicht abschließend beurteilt werden.

7. Aussonderungsbefugnis der Staatsanwaltschaft Einen Widmungsakt könnte die StPO aber in der Form voraussetzen, dass es der Staatsanwaltschaft gestattet ist, bestimmtes Informationsmaterial zum Zwecke der Vorlage auszusondern. Diese Möglichkeit könnte in § 147 Abs. 1 StPO angelegt sein, nach dem mit dem Begriff der Akten nicht alle, sondern nur diejenigen gemeint sind, „die dem Gericht […] vorzulegen wären“. Der Passus in § 147 Abs. 1 StPO „Akten, die dem Gericht […] vorzulegen wären“ findet sich ebenso in § 385 Abs. 3 S. 1 StPO. Für den Privatkläger ist der vertretende Rechtsanwalt gem. § 385 Abs. 3 S. 1 StPO zur Einsicht in die „Akten, die dem Gericht vorliegen oder von der Staatsanwaltschaft im Falle der Erhebung der Anklage vorzulegen wären“, berechtigt. 335

BT-Drs. 14/1484, 30.

II. Systematik

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Durch § 385 Abs. 3 S. 1 StPO kann jedoch nicht zum Ausdruck gebracht worden sein, dass sich das Einsichtsrecht nur auf die Akten bezieht, die dem Gericht vorliegen oder von der Staatsanwaltschaft in eigener Verantwortung „für das Gericht und die Verteidigung“ ausgesondert wurden. An dieser Stelle kommt nur eine rein zeitlich-hypothetische Formulierung in Betracht, die in keinerlei Zusammenhang mit einem Recht der Staatsanwaltschaft steht, von den Akten nach (ermessensfehlerfreiem) Belieben bestimmte Bestandteile aussondern zu dürfen. Denn die Norm regelt das Akteneinsichtsrecht des Privatklägers, wobei die Staatsanwaltschaft im Privatklageverfahren gem. § 377 Abs. 1 S. 1 StPO zur Mitwirkung weder berechtigt noch verpflichtet ist. Zwar ist die Staatsanwaltschaft für die Gewährung von Akteneinsicht im Ermittlungsverfahren gem. § 385 Abs. 3 S. 4 i. V. m. § 406e Abs. 4 S. 1 StPO auch im Privatklageverfahren zuständig. Dies vermag an zuvor Gesagtem jedoch nichts zu ändern. Denn hierdurch kann lediglich geregelt worden sein, ob der Privatkläger das Einsichtsgesuch bei der Staatsanwaltschaft oder bei dem Gericht zu stellen hat, es geht mithin um die sachliche Zuständigkeit. Schließlich entscheidet der Privatkläger in eigener Verantwortung, welche Taten angeklagt werden; er muss die Anklage durch seinen Rechtsanwalt selbst erheben, § 381 StPO. Deshalb können Privatklagedelikte gem. § 374 Abs. 1 StPO auch ohne vorgängige Anrufung der Staatsanwaltschaft verfolgt werden. Die Staatsanwaltschaft erlangt regelmäßig also keine Kenntnis davon, welche Tat nun konkret angeklagt wird, geschweige auf welches Informationsmaterial die Anklage konkret gestützt werden soll. Sie erlangt i. d. R. also lediglich Kenntnis davon, dass möglicherweise ein Privatklageverfahren anhängig gemacht wird, wenn bei ihr ein Einsichtsgesuch gestellt und dieses auf § 385 Abs. 3 StPO gestützt wird. Von dem (sich hieran anschließenden) Privatklageverfahren erfährt die Staatsanwaltschaft i. d. R. allenfalls dann, wenn das Gericht die Übernahme der staatsanwaltschaftlichen Verfolgung für geboten hält (§ 377 Abs. 1 S. 2 StPO). Wirkt die Staatsanwaltschaft jedoch weder an der Anklageerhebung noch sonst im Privatklageverfahren mit, kann ihr ein Auswahlrecht darüber, welcher Teil von dem gesammelten Informationsmaterial als Akte eingesehen werden kann, nicht zustehen. Der Staatsanwaltschaft würde die Grundlage für die Auswahl fehlen, da sie nicht hinreichend genug beurteilen könnte, was für den Anklagevorwurf relevant ist. Die Formulierung in § 385 Abs. 3 S. 1 StPO entspricht nahezu wörtlich derjenigen in § 147 Abs. 1 StPO. Es ist nicht ersichtlich, wieso die Formulierung in § 385 Abs. 3 S. 1 StPO abweichend hiervon verstanden werden sollte. Nichts anderes kann dann mit der – nahezu gleichen – Formulierung in § 406e Abs. 1 S. 1 StPO oder § 475 Abs. 1 S. 1 StPO gemeint sein. Die Formulierungen unterscheiden sich lediglich darin, dass in § 147 Abs. 1 StPO hypothetisch auf die „Erhebung der Anklage“ Bezug genommen wird, während in § 385 Abs. 3 S. 1 StPO die Formulierung „von der Staatsanwaltschaft im Falle der Erhebung einer Anklage“ bzw. in den §§ 406e Abs. 1 S. 1, 475 Abs. 1 S. 1 StPO „Erhebung der öffentlichen Klage“ gewählt wird. Die sprachlichen Unterschiede fallen nicht ins Ge-

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

wicht, sodass hieraus keine differenzierten Maßstäbe abgeleitet werden können. Auch wenn dieser Ansatz noch weiter überprüft wird, erscheint schon an dieser Stelle zweifelhaft, dass die Staatsanwaltschaft nur in den übrigen Strafverfahren ein Aussonderungsrecht innehat, obwohl dies dem Wesen des Privatklageverfahrens widerspricht und die Normen im Wesentlichen genau so formuliert sind wie § 385 Abs. 3 S. 1 StPO. Demzufolge ist die Formulierung in § 147 Abs. 1 StPO jedenfalls rein zeitlichhypothetisch zu verstehen und sinngemäß wie bspw. die Formulierung in § 146a Abs. 1 S. 3 StPO zu lesen („bei dem das Verfahren anhängig ist oder das für das Hauptverfahren zuständig wäre“).

8. Die Einordnung beigezogener Akten Die sog. Beiakte ist in der StPO nur an einer Stelle erwähnt. In § 480 Abs. 2 StPO wird zwischen beigezogenen Akten, die Aktenbestandteil, und solchen, die nicht Aktenbestandteil sind, unterschieden. Für Letztere darf hiernach Auskunft oder Einsicht nur gewährt werden, wenn der Antragsteller auch eine Zustimmung von der aktenführenden Stelle bzgl. der Beiakten einholt. Ursprünglich verfahrensfremde Akten „verschmelzen“ durch die Beiziehung hiernach nicht automatisch mit der Hauptakte. Dass vom Gericht beigezogene Akten deshalb nicht als „Akten, die dem Gericht vorliegen“ i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO anzusehen sind, geht hiermit jedoch nicht zwingend einher. § 147 Abs. 1 StPO nimmt auf Akten – mithin einen im Plural gefassten Begriff – Bezug, sodass hiervon die dem jeweiligen Verfahren ohnehin zugehörige Akte und daneben eine beigezogene Akte umfasst sein könnte. § 480 Abs. 2 StPO stünde einem solchen Verständnis nicht entgegen. Hieran anlehnend würde eine in einem Verfahren beigezogene Akte durch diese Beiziehung nicht zur Verfahrensakte werden, sondern weiterhin als sog. Beiakte anzusehen sein. Ob eine solche Akte dem – im Plural gefassten – Aktenbegriff in § 147 Abs. 1 StPO unterfällt, bedarf ebenfalls weiterer Untersuchung. Aus § 480 Abs. 2 StPO lassen sich keine weiteren Schlüsse ziehen.

9. Die Tonaufzeichnung als Äquivalent zum Hauptverhandlungsprotokoll Der Begriff „Akte“ taucht ebenfalls im Zusammenhang mit Tonaufzeichnungen, die anstelle von Vernehmungsprotokollierungen verwendet werden können, auf. Diese können gem. § 273 Abs. 2 S. 2 StPO ersatzweise „zur Akte genommen werden“. In § 273 Abs. 2 S. 3 StPO wird sodann auf § 58a Abs. 2 S. 1, 3 bis 6 StPO verwiesen. Da ein Verweis in § 273 Abs. 2 S. 3 StPO auf § 58a Abs. 3 StPO fehlt, könnte auch ein Widerspruch des Zeugen an der Herausgabe einer Aufzeichnungskopie nichts ändern. Dies deutet zum einen darauf hin, dass der Gesetzgeber Tonaufzeichnungen nicht als ebenso schützenswert ansieht wie audiovisuelle Aufzeich-

II. Systematik

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nungen. Weiter wird durch § 273 Abs. 2 S. 3 StPO deutlich, dass zumindest ein Übersendungsrecht hinsichtlich eines Aktenbestandteils bei Aufzeichnungen generell nur dergestalt besteht, dass Kopien hiervon herauszugeben sind. Insofern bestätigt sich die hergeleitete gesetzgeberische Intention zu § 58a Abs. 2 S. 3 StPO und die Auslegung des Begriffs „Beweisstück“ i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO. Demzufolge lassen sich Rückschlüsse für einen engeren oder weiteren Aktenbegriff aus § 273 Abs. 2 S. 2, 3 StPO nicht ziehen.

10. Die Vorlage(-pflicht) der „Akten“ gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO Im Zwischenverfahren regelt § 199 Abs. 2 StPO, welchen Antrag die Anklageschrift zu enthalten hat und dass mit ihr die Akten dem Gericht vorgelegt werden. Das Gericht soll im Zwischenverfahren auf Grundlage „der Akten“ gem. § 199 Abs. 1 StPO darüber entscheiden können, ob das Hauptverfahren eröffnet werden soll oder das Verfahren etwa (vorläufig) einzustellen ist. Das Akteneinsichtsrecht zum Zwecke der Verteidigung bezieht sich ausweislich von § 147 Abs. 1 StPO auf die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Anklageerhebung vorzulegen wären und somit auf die Akten i. S. v. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO. Welche Akten mit der Anklageschrift vorzulegen sind, ergibt sich aus § 199 Abs. 2 S. 2 StPO wiederum nicht. Insofern stellen sich hierbei ähnliche Auslegungsfragen wie bei § 147 StPO. Dies gilt gleichsam für die §§ 209 Abs. 2, 225a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 StPO, nach denen „die Akten“ ebenfalls vorzulegen sind. Zur Ausfüllung des Aktenbegriffes hilft der Wortlaut des § 199 Abs. 2 S. 2 StPO nicht weiter. Da § 199 StPO für die Untersuchung des Aktenbegriffs aufgrund der ausdrücklichen Bezugnahme in § 147 Abs. 1 StPO von wesentlicher Bedeutung ist, soll die Gesetzeshistorie auch dieser Vorschrift umfassend beleuchtet werden. a) Gesetzgeberische Intention Historisch betrachtet, ist § 199 Abs. 2 StPO auf die §§ 195 Abs. 1, 196 Abs. 2 S. 1 RStPO zurückzuführen,336 aufgrund der heute nicht mehr bestehenden gerichtlichen Voruntersuchung337 insbesondere aber auch auf 197 RStPO. § 197 RStPO war ursprünglich als § 164 RStPO-E vorgesehen,338 der nach der ersten Lesung zunächst lautete:

336 § 195 Abs. 1 RStPO hatte folgenden Wortlaut: „Erachtet der Untersuchungsrichter den Zwck der Voruntersuchung für erreicht, so übersendet er die Akten der Staatsanwaltschaft zur Stellung ihrer Anträge.“; § 196 Abs. 2 S. 1 RStPO lautete: „Die Staatsanwaltschaft legt zu diesem Zwecke die Akten mit ihrem Antrage dem Gericht vor.“; abgedruckt bei Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 2424. 337 Die sog. gerichtliche Voruntersuchung wurde durch Art. 1, Nr. 57 des 1. StVRG v. 09.12.1974 abgeschafft, siehe BGBl. 1974 I, 3393. 338 Vgl. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 2230.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

„Erhebt die Staatsanwaltschaft, ohne daß eine Voruntersuchung stattgefunden, die Anklage, so ist die Anklageschrift mit den Akten, wenn die Sache zur Zuständigkeit des Schöffengerichts gehört, bei dem Amtsrichter, anderenfalls bei dem Landgerichte einzureichen.“339

In den Motiven zu dem Entwurf wird angemerkt, dass die Gerichte eine unbeschränkte Prüfung der Anklage vorzunehmen haben,340 was für ein weites Begriffsverständnis spricht, da mit einer umfassenden Prüfung der Anklage notwendig eine umfassende Aktenkenntnis einhergeht. Der gesetzgeberische Wille zu § 164 RStPO-E bzw. § 197 RStPO könnte sich daher möglicherweise in der Nachfolgevorschrift § 199 StPO niedergeschlagen haben. Im Folgenden soll untersucht werden, wie weit dieses Begriffsverständnis nach Auffassung des historischen Gesetzgebers nun genau reichen sollte. aa) Hinweise für ein Aussonderungsrecht der Staatsanwaltschaft Zunächst wird nun analysiert, ob die gerichtliche Überprüfung bzgl. der Verfahrenseröffnung auf der Grundlage einer von der Staatsanwaltschaft hierfür sortierten Informationsansammlung – und nicht unbedingt auf dem gesamten Untersuchungsmaterial – basieren sollte. An mehreren Stellen im Gesetzgebungsverfahren gibt es hierfür Anhaltspunkte. Zunächst fällt eine Passage aus den Protokollen des Reichstags auf, nach der der Sachverhalt den Gerichten nur beschränkt mitgeteilt werden solle: „Also nach dem Willen des Staatsanwalts wird mit einem vereinzelten Akt der Untersuchung ein Richter betraut, der keine Kenntnis der gesamten Sachlage hat, der ein begrenztes Thema mitgetheilt erhält, um auf Grund desselben in einer bestimmt vorgeschriebenen Weise zu verhandeln. Die ersuchten Amtsrichter wissen überhaupt nicht, wohin der Plan geht, außer, was der Staatsanwalt ihnen zuschreibt.“341

339

Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 2230. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 168: „Sowohl die Nothwendigkeit als die Zweckmäßigkeit einer unbeschränkten Prüfung der Anklage durch das Gericht ist vielfach bestritten worden. […] Indem der Entwurf sich gleichwohl für die unbeschränkte Prüfung der Anklage durch das Gericht entschied, verkannte er nicht, daß bei dem vorliegenden Gegenstande Gründe und Gegengründe sich nahezu das Gleichgewicht halten. Die so geringe Zahl der Zurückweisungen von Anklagen scheint allerdings gegen die Nothwendigkeit einer gerichtlichen Prüfung zu sprechen. Indeß darf dabei nicht übersehen werden, daß schon das Vorhandensein des richterlichen Prüfungsrechts für die Staatsanwaltschaft eine Veranlassung mehr ist, bei der Entschließung über die Erhebung der Anklage mit Sorgfalt vorzugehen. Auch kommt in Betracht, daß schon die Thatsache, auf der Anklagebank erscheinen und sich in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung über eine Anschuldigung verantworten zu müssen, für den Angeklagten als ein Uebel zu betrachten ist, und daß es nicht angemessen erscheinen konnte, die Verhängung dieses Uebels über eine vielleicht bisher unbescholtene Person der alleinigen Entschließung der Staatsanwaltschaft zu überlassen.“ 341 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 532. 340

II. Systematik

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Die Passage fiel jedoch im Zusammenhang mit dem Ermittlungsverfahren und dem hierbei ggfs. angerufenen Ermittlungsrichter342 und hing inhaltlich nicht mit der Aktenübersendung nach dem Ermittlungsabschluss zusammen. Die Äußerung ist für den Aktenbegriff schon deshalb nicht ergiebig. Weiter lässt sich folgende Passage anführen: „Die Eröffnung einer richterlichen Untersuchung wird bedingt durch Erhebung einer Klage […]. Nur auf die in der Klage bezeichnete That und nur auf die in der Klage beschuldigte Person darf die gerichtliche Untersuchung und Entscheidung sich erstrecken. Dies der Inhalt des Entwurfs. Bekannt sind die Bedenken gegen die Uebertragung der Initiative der Strafverfolgung […] an die Staatsanwaltschaft […]. Diese Bedenken werden wohl einigermaßen gemindert werden, wenn neben der Offizialmaxime aufgestellt wird das sogenannte Legalitätsprinzip als bestimmend für die Berufsthätigkeit der Staatsanwaltschaft […]. […] Immerhin bleibt es das Ermessen und zwar, wie nicht bestritten werden kann, ein mehr oder minder subjektives Ermessen der Beamten der Staatsanwaltschaft, wovon die Eröffnung einer gerichtlichen Untersuchung abhängt.“343

Hierin wird zwar angedeutet, dass die später in § 197 RStPO normierte Vorschrift nur die Informationsträger als „Akte“ umfassen sollte, die die Staatsanwaltschaft in eigenem Ermessen und vor dem Hintergrund des Legalitätsprinzips als solche eingeordnet hat. Genau genommen soll sich hiernach jedoch die gerichtliche Überprüfung auf die angeklagte Tat und Person erstrecken. Ob hiermit einhergeht, dass auch nur Informationsmaterial, welches sich kumulativ auf die jeweilige prozessuale Tat und den Beschuldigten unmittelbar bezieht, unter den Aktenbegriff fallen sollte, ergibt sich hieraus jedoch nicht. Auch wird – ohne nähere Ausfüllung dieser Begriffe – zwischen der sog. Anklageakte und den sog. Untersuchungsakten begrifflich unterschieden. Insofern deutet sich an, dass sich die Akten, die mit der Anklage zu übersenden sind, von den Untersuchungsakten materiell unterscheiden sollten: „[…] Auch als Informationsschriftstück für den Vorsitzenden sei die Anklageakte wünschenswert. […] Versäumten der Präsident und der Vertheidiger, sich aus den Untersuchungsakten zu informieren, und schöpften sie ihre Information lediglich aus der Anklageschrift, so sei das ein Mangel an Pflichteifer […].“344

Rückschlüsse können jedoch auch aus dieser Passage nicht gezogen werden. Hierbei handelt es sich um die Begriffswahl zweier verschiedener Personen, die sich hintereinander mit dem Aktenbegriff auseinandersetzten. Aus verschiedenen Formulierungen unterschiedlicher Urheber kann sich letztlich kein sicherer Anhaltspunkt für den historischen gesetzgeberischen Willen ergeben.

342 Dies ergeht schon aus dem darauffolgenden Satz, wonach die derartige Herangehensweise zeitlich vor der Anklageerhebung geschehen sollte: Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 532. 343 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 499. 344 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 807.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

An späterer Stelle im Gesetzgebungsverfahren werden die „Akten der Staatsanwaltschaft“ mit den „Akten einer gerichtlichen Voruntersuchung“ verglichen345 oder es wird begrifflich zwischen der sog. „Voruntersuchungsakte“ und den sog. „Untersuchungsakten“ unterschieden.346 Inwieweit sich eine „Staatsanwaltschaftsakte“ bzw. „Voruntersuchungsakte“ von der oben genannten „Untersuchungsakte“ unterscheiden sollte, lässt sich jedoch nicht feststellen. Da die verschiedenen Begrifflichkeiten hierbei nicht konkretisiert werden, ist von einer synonymen Verwendung dieser Begrifflichkeiten auszugehen. Hierfür spricht eine weitere Passage, die die sog. „Staatsanwaltschaftsakten“ und die sog. „Voruntersuchungsakten“ offenbar kongruent versteht: „[…] In dem preußischen Verfahren wurde allerdings der Verweisungsbeschluss nur gefaßt auf Grund der Staatsanwaltschaftsakten beziehentlich der Voruntersuchungsakten.“347

Vorbenannte Passagen sind deshalb ebenfalls nicht ergiebig, Rückschlüsse auf den gesetzgeberischen Willen zu ziehen. In den Gesetzesmaterialien zu § 197 RStPO wurden sprachlich zwar unterschiedliche Aktenbegriffe verwendet. Dass die Staatsanwaltschaft dem Gericht das gesamte Informationsmaterial, das sich im Zuge des Ermittlungsverfahrens angesammelt hat, nicht übersenden sollte, kann aus den dargelegten Passagen indes nicht hergeleitet werden. bb) Belege für ein umfassendes Aktenbegriffsverständnis Dass sich aus den Gesetzesmaterialien keine ergiebigen Rückschlüsse für ein Aussonderungsrecht der Staatsanwaltschaft herleiten lassen, liegt daran, dass der historische Gesetzgeber von diesem Begriffsverständnis gar nicht ausging. Wie sogleich aufgezeigt wird, wird an anderer Stelle im Gesetzgebungsverfahren darüber diskutiert und der Gesetzgeber hat sich dafür entschieden, dass zum einen die Staatsanwaltschaft der Verteidigung ihr gesamtes Informationsmaterial im Wege der Akteneinsicht zur Verfügung stellen muss und zum anderen das Gericht auf denselben Kenntnisstand zu bringen ist. Die Diskussion hierüber erfolgt jedoch nicht innerhalb der Materialien zu § 164 RStPO-E bzw. § 197 RStPO, sondern im Zusammenhang mit der Fassung des späteren § 147 RStPO. Die spätere Vorschrift § 147 RStPO entspricht im ursprünglichen Entwurf § 130 RStPO-E. Die Vorschrift hatte zwei Absätze und lautete wie folgt:

345 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1718: „Sie hören die Relation, den Vortrag eines Kollegen, des Berichterstatters, gegründet auf Akten einer gerichtlichen Voruntersuchung oder, wo eine solche nicht statthatte, auf Akten der Staatsanwaltschaft.“ 346 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1719: „Die hauptsächlichste Gefahr der Voruntersuchungsakte finde ich in Wirklichkeit nicht darin, daß Richter, die im erkennenden Gerichte fungiren, vorher auf Grund der Untersuchungsakten befunden haben darüber, ob das Verfahren fortzusetzen, ob das Hauptverfahren zu eröffnen sei, […].“ 347 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1722.

II. Systematik

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„[1] Der Vertheidiger ist nach dem Schlusse der Voruntersuchung und, wenn eine solche nicht stattgefunden hat, nach Einreichung der Anklageschrift bei dem Gerichte zur Einsicht der Untersuchungsakten befugt. [2] Schon vor diesem Zeitpunkte ist ihm die Einsicht der gerichtlichen Untersuchungsakten zu gestatten, falls dies ohne Gefährdung des Untersuchungszweckes geschehen kann.“348

Der Abgeordnete Hauck beantragte diesbezüglich, den Begriff „Untersuchungsakten“ im ersten Absatz zu ersetzen durch „der dem Gerichte vorliegenden Akten“.349 Er hielt seinen Antrag für lediglich redaktionell und fragte bei der Gelegenheit an, „ob unter den ,Untersuchungsakten‘ im Sinne des Entwurfs auch die staatsanwaltschaftlichen Akten mitbegriffen seien“.350 Ferner beantragte der Abgeordnete Struckmann unter anderem, dem ersten Absatz einen zweiten Satz beizufügen, der lauten sollte: „Mit der Anklageschrift sind die Akten des vorbereitenden Verfahrens von der Staatsanwaltschaft dem Gerichte zu übergeben.“351 Die beantragte Einfügung entspricht im Wesentlichen der Vorschrift § 197 RStPO. Hiermit wollte er die „bei einzelnen Staatsanwaltschaften herrschenden Uebung steuern, daß die Staatsanwaltschaft mit der Anklageschrift blos einzelne Akten des vorbereitenden Verfahrens vorlege. Da das vorbereitende Verfahren die Voruntersuchung ersetzen sollte, müßten auch die Akten desselben ebenso wie die der Voruntersuchung dem Gerichte zur Benutzung vorgelegt werden“.352

Bis hierhin ist noch nicht klar erkennbar, welcher Begriffsinhalt den jeweiligen Aktenbegriffen zugesprochen wurde. Der Direktor im Reichskanzleramt von Amsberg nahm sodann zu beiden Anträgen Stellung. Er war der Auffassung, dass zu den Untersuchungsakten die Akten zählen würden, die dem Gericht nach Übersendung durch die Staatsanwaltschaft vorlägen.353 Dem oben in Bezug genommenen Antrag Struckmanns stand er ablehnend gegenüber und führte zur Begründung aus, dass eine Pflicht der Staatsanwaltschaft zur Vorlage all ihrer Akten praktisch nicht durchführbar sei.354 Die Staatsanwaltschaft müsse dem Gericht lediglich dasjenige Informationsmaterial vorlegen, das zur Begründung der Anklage erforderlich sei.355 In den Akten, die bei der Staatsanwaltschaft verwahrt würden, könnten auch Ermittlungsansätze gegen Dritte enthalten sein, auf die sich die Anklageschrift

348 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 20; Einfügung der Absatznummerierungen [1] bis [2] durch Verfasser. 349 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 964. 350 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 964. 351 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 964. 352 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 964. 353 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 964. 354 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 964. 355 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 964.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

nicht erstrecke.356 Hierdurch sprach er sich also gegen Struckmann und damit gegen einen weiten Aktenbegriff aus. Der Antrag von Struckmann samt seiner Begründung sah sich zunächst weiterer Kritik im Gesetzgebungsverfahren ausgesetzt. Man könne die Gerichtspolizei nicht zur Vorlage all ihrer Akten verpflichten;357 auch könne man dem Verteidiger die polizeilichen bzw. staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen nicht vollständig offenlegen, da Ermittlungen im Bereich der organisierten Kriminalität zum Teil in unlauterer Weise vorgenommen werden würden.358 Dass die Staatsanwaltschaft das gesamte ihr zugegangene Material ohne Weiteres vorlegen müsse, gehe deshalb zu weit.359 Auch sei die Regelung praktisch wertlos, da die Staatsanwaltschaft die Akten beliebig zusammenstellen könne und somit faktisch immer noch bestimmte Informationen aussondern könne.360 Zudem sei ein Einsichtsrecht des Verteidigers in alle Untersuchungsakten mit dem zwischenzeitlich beschlossenen Entwurfsteil, nach dem bei Genehmigung des Gerichts jedermann als Verteidiger auftreten könne, nicht vereinbar.361 Von anderer Seite – dem Abgeordneten Klotz – wurde die Auffassung Struckmanns demgegenüber befürwortet: „[…] die Vorakten des Staatsanwalts seien integrierende Theile der Untersuchungsakten und enthielten oft wichtiges Vertheidigungsmaterial, namentlich in Bezug auf die Glaubwürdigkeit der Zeugen.“362

Zwei von drei seiner gestellten Anträge363 zog Struckmann zurück; den oben genannten Antrag, den er mit der Forderung nach einem weiten Aktenbegriff begründete, hielt er jedoch aufrecht, „denn er wünsche nicht, daß der Staatsanwalt unter seinen Akten, die doch auch ein Konvolut bilden müßten, eine Auswahl treffe und nur ein Theil derselben dem Gerichte übergebe, wodurch übrigens nicht ausgeschlossen sei, daß geheime Aktenstücke, die zu der Untersuchung nur in entferntem Zusammenhange stehen, vom Staatsanwalt gar nicht zum Theil seiner vorbereitenden Akten gemacht würden“.364

Der Antragsteller Struckmann sprach sich insofern ausdrücklich für ein Begriffsverständnis aus, das keinen Raum für Aussonderungsmaßnahmen der Staatsanwaltschaft bieten sollte, wenngleich ihm bewusst war, dass die Staatsanwaltschaft faktisch in der Lage bleiben würde, Aktenteile auszusortieren. 356

Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 964. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 965. 358 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 965. 359 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 965. 360 Vgl. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 965. 361 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 966. 362 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 965. 363 Die anderen beiden Anträge zielten darauf ab, den Begriff „Untersuchungsakten“ konkreter zu normieren und ein Verabfolgungsrecht des Verteidigers einzuführen, vgl. hierzu Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 964. 364 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 966. 357

II. Systematik

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Im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens fand der (aufrechterhaltene) Antrag Struckmanns weiteren Anklang. Er wurde von dem weiteren Abgeordneten Gneist letztlich unterstützt, der mit dem Aspekt der sog. „Parteiöffentlichkeit“ argumentierte: „[…] Wenn aber die Parteiöffentlichkeit der Voruntersuchung irgend einen Sinn haben solle, so könne sie doch wohl nichts anderes heißen als: Offenlegung des im Besitze des Gerichts befindlichen Untersuchungsmaterials für den Vertheidiger; und wenn man das nicht wolle, daß diese Mitwirkung geschehe, dann solle man nicht von ,Parteiöffentlichkeit‘ und Erweiterung der Befugnisse des Vertheidigers sprechen. Dies seien eben die Fälle, in welchen die Vertheidigung ein Interesse an den Akten habe.“365

Hiernach sollte das gesamte Untersuchungsmaterial, das sich im Falle einer gerichtlichen Voruntersuchung – also, wenn der Voruntersuchungsrichter inquirierte – dem Aktenbegriff unterfallen und somit der Verteidigung zugänglich gemacht werden. Wenn – umgekehrt – die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen geführt hat, sollte, der Antragsbegründung Struckmanns zufolge, das Gericht eine vollständige Überprüfung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen bzw. der von der Staatsanwaltschaft daraus abgeleiteten Verdachtsannahme vornehmen. Der Aktenbegriff wurde hierbei also beidseits weit verstanden. Mit Parteiöffentlichkeit war zu dieser Zeit der Grundsatz gemeint, dass die richterliche Untersuchung unter Beiziehung der Verteidigung und des Staatsanwaltes in gleicher Weise zu geschehen habe.366 Der (aufrechterhaltene) Antrag Struckmanns wurde sodann angenommen.367 In zweiter Lesung sollte der Begriff „Untersuchungsakten“ durch „Akten“ ersetzt werden.368 In selbiger Lesung wurde ausgeführt, dass es „lediglich eine Konsequenz redaktioneller Art sei, wenn unter den Abs. 1 des § 130 auch die den Gerichtsakten einverleibten Protokolle und sonstigen Aktenstücke der Staatsanwaltschaft subsumiert werden“.369

Zwar erging die soeben genannte Äußerung im Zusammenhang mit weiteren Änderungsanträgen zu § 130 RStPO.370 Trotzdem bestätigt sich hierdurch, dass die Entwicklung des Begriffs „Untersuchungsakten“ hin zu „Akten“ eine rein redaktionelle Änderung sein sollte.371

365

Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 967. Vgl. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1573: „Anders ist die Frage zu behandeln, ob und in wieweit bei einzelnen Arten der Voruntersuchung eine Zuziehung des Staatsanwalts und des Angeklagten geboten oder zulässig sei. (Partei-Öffentlichkeit).“ 367 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 969. 368 Vgl. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1229. 369 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1299. 370 Vgl. hierzu Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1228. 371 Dies bestätigt sich auch in einer in diesem Zusammenhang getätigten Äußerung bei Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1233: „Die Beschlüsse der ersten Lesung hätten den Zweck, die Parität zwischen Staatsanwaltschaft und Vertheidigung herzustellen […].“ 366

240

B. Einfachgesetzliche Auslegung

Schließlich muss berücksichtigt werden, dass nach dem damaligen Regelungsgefüge auch das Gericht Voruntersuchungen vornehmen konnte (vgl. §§ 176–195 RStPO372), wodurch in gleicher Weise Informationsmaterial entstand, welches der Verteidigung zur Verfügung zu stellen war. Im Gesetzgebungsverfahren wurde ebenfalls die Voruntersuchungsakte einerseits und die Untersuchungsakte andererseits angesprochen, je nachdem, ob zunächst das Gericht oder die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen führte.373 Insofern hätte man genau genommen neben der Einsicht in die Untersuchungsakten ausdrücklich auch die Einsicht in die Voruntersuchungsakten in den Wortlaut aufnehmen müssen. Weil sich die an dem Gesetzgebungsverfahren Beteiligten (letztlich) jedoch einig darüber waren, dass die Staatsanwaltschaft dem Gericht ohnehin das gesamte Material, das sich im Laufe der Ermittlungen insgesamt angesammelt hat, übersenden und sich hierauf das Akteneinsichtsrecht der Verteidigung beziehen sollte, bot sich offenbar die verallgemeinernde Formulierung „Akten“ an. Die oben dargelegte Antragsbegründung Struckmanns, nach der die Akten dem Gericht derart vorzulegen seien, als wenn das Gericht die Voruntersuchung – also die Ermittlungen – vorgenommen hatte, bestätigt diese Sichtweise. Struckmann nahm in zweiter Lesung erneut zu § 130 RStPO-E Stellung und fasste die Reichstagskommissionsbeschlüsse wie folgt zusammen: „Nach den Beschlüssen der Kommission gebe es keinen Parteiprozeß in der Voruntersuchung, keine staatsanwaltschaftlichen Sonderakten neben den Untersuchungsakten, die letzteren enthalten vielmehr das gesammte Anschuldigungsmaterial.“374

Auch an dieser Stelle wird deutlich, dass der Staatsanwaltschaft keine Aussonderungshandhabe zugestanden werden sollte. Demgemäß brachte die Reichstagskommission zum Ausdruck, dass die Verteidigung die für den Angeschuldigten günstigen Momente erforschen solle und die Gesetzgebung der Verteidigung die Mittel an die Hand geben wolle, dieser Funktion bestmöglich gerecht werden zu können.375 Verteidigung und Staatsanwaltschaft verfolgten schließlich widerstreitende Interessen, die auf diesem Wege harmonisiert werden könnten.376 Staatsanwaltschaft und Verteidigung sollten im

372

Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 2421 ff. Vgl. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1719: „Die hauptsächliche Gefahr der Voruntersuchungsakte finde ich in Wirklichkeit nicht darin, daß Richter, die im erkennenden Gericht fungieren, vorher auf Grund der Untersuchungsakten befunden haben darüber, ob das Verfahren fortzusetzen, ob das Hauptverfahren zu eröffnen sei, sondern ich finde die größte Gefahr der Voruntersuchungsakte darin, wenn ein Vorsitzender des erkennenden Strafgerichts, der entfernt nicht etwa in der Anklagekammer fungiert hat, sich von dem Eindruck der Voruntersuchungsakten, die er natürlich studirt hat, nicht frei zu halten weiß, wenn er die Hauptverhandlung immer wieder an die Voruntersuchungsakten bindet, anstatt die Hauptverhandlung sich frei und selbstständig entwickeln und entfalten zu lassen.“ 374 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1229. 375 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1555. 376 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1555. 373

II. Systematik

241

Hauptverfahren die „volle Gleichberechtigung“ erlangen,377 was, wie es schien, nur mit der vollständigen Vorlage des gesamten Informationsmaterials an das Gericht zu bewerkstelligen wäre. Wie einleitend dargelegt,378 wurde auch in den Entwurfsmotiven zu § 164 RStPO-E bzw. § 197 RStPO darauf hingewiesen, dass das Gericht die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen vollständig überprüfen sollte.379 Das Gericht sollte auf derselben Tatsachengrundlage, wie die Staatsanwaltschaft den hinreichenden Tatverdacht prüfen. Der Prüfungsmaßstab sollte letztlich demjenigen Maßstab, der im dem Fall, dass das Gericht die Voruntersuchung und damit die Ermittlungen selbst geführt hat, entsprechen.380 Insofern sollte auch die Bearbeitungslast, die mit einer vollständigen Überprüfung der Anklage einhergeht, unbeachtlich bleiben.381 Bezweckt wurde mit der umfassenden Prüfpflicht des Gerichts insbesondere, dass Fehler der Staatsanwaltschaft bei der Erhebung der Anklage erkannt und behoben werden.382 Der Entwurf wurde ohne weitere Diskussion angenommen und letztlich in § 197 RStPO umgesetzt.383 377

Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1556. Siehe S. 233 ff. 379 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 168. 380 Vgl. auch Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 166: „Für die Fälle nun, in denen eine Voruntersuchung nicht stattgefunden hat, bleibt noch die Frage zu regeln, in welcher Weise das erkennende Gericht mit der Sache befaßt und die Hauptverhandlung vor demselben herbeigeführt werden soll. Man kann die Entscheidung darüber, ob zur Hauptverhandlung zu streiten sei, der Staatsanwaltschaft allein übertragen, so daß die unmittelbare Erhebung der Anklage die mündliche Verhandlung zur nothwendigen Folge hat, oder man überträgt jene Entscheidung einer richterlichen Behörde, so daß diese zur Prüfung der Anklage berufen und für berechtigt erklärt wird, die letztere zurückzuweisen, somit aber einen Beschluss zu erlassen, der dem Einstellungsbeschluss nach geführter Voruntersuchung im Wesentlichen gleichkommt.“ 381 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 168: „Sowohl die Nothwendigkeit als die Zweckmäßigkeit einer unbeschränkten Prüfung der Anklage durch das Gericht ist vielfach bestritten worden. Man hat auf die, den statistischen Nachweisungen zufolge außerordentlich geringe Zahl der Zurückweisungen von Anklagen hingewiesen, und geltend gemacht, daß die durch die gerichtliche Prüfung der Anklage gewonnenen Vortheile in einem großem Missverhältniß zu der durch sie herbeigeführten Vermehrung der gerichtlichen Geschäftslast stehen, daß der durch jene Prüfung dem Angeklagten gewährte, sich nur in seltenen Fällen wirksam zeigende Schutz durch die Nachtheile aufgewogen werde, die in zahlreichen Fällen gerade für den Angeklagten aus der durch das gerichtliche Anklageverfahren bedingten Verzögerung des Urtheils und Verlängerung der Haft erwachsen, sowie endlich, daß gerade die Staatsanwaltschaft das zur Prüfung und Sichtung der polizeilichen Verhandlungen geeignetste Organ sei, die Prüfung derselben durch das Gericht aber immer eine mehr oder weniger oberflächliche bleiben werde. Indem der Entwurf sich gleichwohl für die unbeschränkte Prüfung der Anklage durch das Gericht entschied, verkannte er nicht, daß bei dem vorliegenden Gegenstande Gründe und Gegengründe sich nahezu das Gleichgewicht halten.“ 382 Vgl. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 168: „[…] Indeß darf dabei nicht übersehen werden, daß schon das Vorhandensein des richterlichen Prüfungsrechts für die Staatsanwaltschaft eine Veranlassung mehr ist, bei der Entschließung über die Erhebung der Anklage mit Sorgfalt vorzugehen.“ 383 Vgl. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 802; Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1341, 1886, 2104. 378

242

B. Einfachgesetzliche Auslegung

Aus den Gesetzesmaterialien hinsichtlich des § 196 Abs. 2 S. 1 RStPO, in dem die Aktenübersendung an das Gericht nach stattgefundener Voruntersuchung geregelt ist, ergeben sich keine relevanten Anhaltspunkte.384 Entsprechendes gilt gleichermaßen für § 195 Abs. 1 RStPO, nach dem im Anschluss an die Voruntersuchung die Akten – insoweit umgekehrt – an die Staatsanwaltschaft zu übersenden sind,385 oder auch insgesamt für die restlichen Vorschriften des dritten (§§ 176–195 RStPO) und vierten (§§ 196–211 RStPO) Abschnittes des zweiten Buches der RStPO. Der Gesetzgeber fasste nach Vorstehendem unter die vorzulegenden und einzusehenden Akten diejenigen Informationsträger, die sich bei der konkreten Anklagebehörde – und nicht etwa bei der Staatsanwaltschaft im Allgemeinen oder bei anderen Behörden – angesammelt hatten. Bei der Befürwortung eines umfassenden Aktenbegriffs ging es schließlich um die Akten, die der konkreten Anklagebehörde vorlagen.386 Es ging um „die Vorakten des Staatsanwalts“,387 mithin der konkret anklagenden Staatsanwaltschaft. Dem Gericht sollten diejenigen Informationsträger vorliegen, die diesem vorlägen, wenn es die konkreten Ermittlungen selbst durchgeführt hätte und eine Abschlussentscheidung hätte treffen müssen.388 Auch in dem umgekehrten Fall – also wenn das Gericht i. R. d. Voruntersuchung ermittelt hatte – ging es um diejenigen Informationsträger, die sich bei dem konkret ermittelnden Voruntersuchungsgericht angesammelt hatten.389 Der Antrag Struckmanns einschließlich seiner Begründung sollte ebenso wie die Ausführungen der Reichstagskommission in ihren Berichten bei der Auslegung des Aktenbegriffs Berücksichtigung finden. Zum einen wurde der Antrag Struckmanns angenommen und ist somit auf mehrheitliche Zustimmung gestoßen. Seine Motive haben sich im Gesetzgebungsverfahren mithin durchgesetzt,390 384

Vgl. insbesondere Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 164–166, 799–802. Vgl. insbesondere Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 163, 794–799. 386 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 964: „[…] daß die Staatsanwaltschaft mit der Anklageschrift blos einzelne Akten des vorbereitenden Verfahrens vorlege.“ 387 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 965. 388 Siehe Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 166: „Für die Fälle nun, in denen eine Voruntersuchung nicht stattgefunden hat, bleibt noch die Frage zu regeln, in welcher Weise das erkennende Gericht mit der Sache befaßt und die Hauptverhandlung vor demselben herbeigeführt werden soll. Man kann die Entscheidung darüber, ob zur Hauptverhandlung zu streiten sei, der Staatsanwaltschaft allein übertragen, so daß die unmittelbare Erhebung der Anklage die mündliche Verhandlung zur nothwendigen Folge hat, oder man überträgt jene Entscheidung einer richterlichen Behörde, so daß diese zur Prüfung der Anklage berufen und für berechtigt erklärt wird, die letztere zurückzuweisen, somit aber einen Beschluss zu erlassen, der dem Einstellungsbeschluss nach geführter Voruntersuchung im Wesentlichen gleichkommt.“ 389 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 967: „Wenn aber die Parteiöffentlichkeit der Voruntersuchung irgend einen Sinn haben solle, so könne sie doch wohl nichts anderes heißen als: Offenlegung des im Besitze des Gerichts befindlichen Untersuchungsmaterials für den Vertheidiger […].“ 390 Siehe hierzu allg. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 790. 385

II. Systematik

243

sodass die Ausführungen Struckmanns einer Gesetzesbegründung ähneln und demnach in besonderem Maße bei der Auslegung zu berücksichtigen sind.391 Zum anderen kann den Ausführungen der Reichstagskommission die Grundabsicht des historischen Gesetzgebers zugunsten eines umfassenden Aktenbegriffs eindeutig entnommen werden, an der sich die historische Auslegung zu orientieren hat.392 Dass diese Ausführungen nicht (nochmals) i. R. d. § 197 RStPO wiederholt wurden, ist nicht von Belang, da sich diese unter anderem ausdrücklich auf diejenigen Unterlagen bezogen haben, die die Staatsanwaltschaft dem Gericht vorzulegen hat. Es lassen sich zudem weitere Stellen im Gesetzgebungsverfahren nennen, die zur Ermittlung des historischen gesetzgeberischen Willens angeführt werden könnten. Zum Teil sprechen diese für die damalige Annahme eines umfassenden Aktenbegriffs,393 zum Teil – ähnlich den vorigen Ausführungen – für die damalige Annahme eines Aussonderungsrechts der Staatsanwaltschaft.394 Bei diesen wei391

Siehe hierzu allg. Larenz, Methodenlehre, S. 329 f. Larenz, Methodenlehre, S. 329. 393 Vgl. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 2105: „Es ist unzweifelhaft, daß dem Gerichtshof in dem Augenblick, wo die Staatsanwaltschaft die Voruntersuchungsakten einreicht […].“; dies. a. a. O. S. 1722: „Meine Herren, der Herr Bundesrathsbevollmächtigte hat sodann gesagt, es liege ein Bedenken noch in der Rücksicht vor, daß, wenn so die erkennenden Richter zum Theil zugleich verweisende seien, die beiden an dem Erkenntniß teilnehmenden, verweisenden Richter zuvörderst das gesammte Aktenmaterial kennen gelernt haben und also nicht in voller Frische die mündliche Verhandlung auf sich wirken lassen, vielmehr im Eindruck immer unter der Lektüre des Aktenmaterials stehen.“; dies. a. a. O. S. 1718: „Das ganze Material, welches diesen Richtern bei der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens vorliegt, ist noch mehr oder weniger ein fragmentarisches, ein provisorisches, ein noch nicht zusammengefügtes, und auf Grund dieses Materials geben sie einen Spruch eben nur dahin ab, daß der Beschuldigte hinreichend verdächtig sei, eine strafbare Handlung begangen zu haben.“; dies. a. a. O. S. 1535: „Ein gerichtliches Strafverfahren ist nur denkbar, wenn dem Angeschuldigten gleichfalls die vollste Möglichkeit gewährt ist, die zu seiner Entlastung, wie zur milderen Beurtheilung seiner Schuld dienlichen Thatsachen dem richterlichen Urtheile vorzulegen. […] Die Kommission will weder eine Bevorzugung des Entlastungsbeweises, durch welche der Untersuchungszweck gefährdet wird, noch eine Bevorzugung der Anklage, durch welche die Ermittlung und Feststellung der vollen Wahrheit, auch wenn sie zu Gunsten des Angeklagten gereicht, beschränkt und die Wahrheit verdunkelt wird.“ 394 Im Kontext mit der Beibehaltung der Berufungsinstanz: Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1600 f.: „Der Vortrag eines Mitglieds aus den schriftlichen Akten, auf Grund dessen von dem Gerichte das Erkenntniß gefällt wird, hat dem letzteren das Aktenmaterial weder vollständig noch ohne Beeinflussung durch die Ansicht des Referenten vorführen können; immerhin bestand der Vortrag in einem Auszuge aus dem Akteninhalte, welchen der Referent angefertigt und in welchem er nur dasjenige aufgenommen hatte, was er für die von dem Gerichte zu fällende Entscheidung für wichtig und erheblich erachtet hat. Hier hat die Aufstellung mehrerer Instanzen, in denen verschiedene Referenten successive den verschiedenen Gerichten über dasselbe Aktenmaterial Bericht erstatten, eine Gewähr darüber bieten sollen, daß durch die wiederholte Prüfung desselben Materials durch verschiedene Richter eine volle Uebersicht gewonnen werde und daß etwas Erhebliches nicht übersehen worden sei.“; dies. 392

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

teren Stellen im Gesetzgebungsverfahren handelt es sich jedoch um Auszüge der Plenardebatte, die – im Gegensatz zu dem Antrag Struckmanns oder den Entwurfsmotiven bzgl. § 164 RStPO-E bzw. § 197 RStPO – nicht den Charakter einer Gesetzesbegründung aufweisen und deshalb im Zweifelsfall ohnehin nicht berücksichtigungsfähig sind; Äußerungen aus einer Plenardebatte können eine Entwurfs- bzw. Gesetzesbegründung grundsätzlich nicht überlagern bzw. verdrängen.395 Es bleibt mithin dabei, dass die dargestellten Ausführungen zu § 130 RStPO-E bei der Auslegung des Aktenbegriffs maßgebend sind. cc) Zusammenfassung Es bestätigt sich durch die Gesetzesmaterialien sowohl zu § 130 RStPO-E als auch zu § 197 RStPO, der dem heutigen § 199 Abs. 2 S. 2 StPO entspricht, dass von einer Pflicht zur Übersendung des vollständigen Ermittlungsmaterials ausgegangen wurde. Der Aktenbegriff umfasste nach dem historischen Gesetzgeberwillen das gesamte Material, das sich im Zuge des Ermittlungsverfahrens angesammelt hat und mit dem zugrundeliegenden Ermittlungsgegenstand inhaltlich zusammenhängt. Es sollte so umfassend sein, dass das Gericht einen derartigen Informationsstand hat, als wenn es die konkreten Ermittlungen der anklagenden Staatsanwaltschaft selbst vorgenommen hätte. Eine Aussonderungsmöglichkeit der Staatsanwaltschaft sollte in keinerlei Hinsicht gegeben sein. Als zu übersendender Aktenbestandteil wurde nicht nur das Informationsmaterial angesehen, das sich im Zuge des Ermittlungsverfahrens gegen einen bestimmten Beschuldigten angesammelt hat, sondern auch dasjenige, welches während der Ermittlungen des jeweiligen Verfahrensgegenstandes aufgekommen ist. Der gesetzgeberische Wille sah als Aktenbestandteil also nicht nur das gesamte Informationsmaterial an, das sich auf das jeweilige Ermittlungsverfahren und den in Rede stehenden Beschuldigten unmittelbar bezieht, sondern unabhängig von einem Zusammenhang mit einem Beschuldigten all jenes Informationsmaterial, das im Zusammenhang mit einem Ermittlungsverfahren angefallen ist, wie es i. E. auch auf sog. Spurenakten zutrifft. In dieser Hinsicht ist der gesetzgeberische Wille als eindeutig belegt anzusehen. Dies ergibt sich insbesondere aus den Ausführungen Struckmanns, die sich schlussendlich durchgesetzt haben.

a. a. O. S. 1601: „Denn auch die Untersuchungsprotokolle enthalten immerhin nicht das gesammte, sondern nur dasjenige Beweismaterial, welches von dem Untersuchungsrichter nach seinem Ermessen für erheblich erachtet und in die Protokolle ist.“ 395 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 330; Sauer, Juristische Methodenlehre, S. 297; dies kann im Einzelfall jedoch auch anders sein, bspw. zur Darlegung eines vorgeschobenen Gesetzeszwecks, vgl. hierzu Meglalu JR 2018, 223, 226 ff.

II. Systematik

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dd) Fortentwicklung von § 197 RStPO Der heutige § 199 Abs. 2 S. 2 StPO wurde durch das Vereinheitlichungsgesetz vom 12.09.1950 eingeführt,396 jedoch nicht weiter begründet.397 Dies gilt auch für nachfolgende Änderungen des § 199 StPO.398 Insofern ist davon auszugehen, dass die gesetzgeberischen Motive bei der Fortentwicklung von § 147 RStPO und der Einführung von § 197 RStPO bei § 199 Abs. 2 S. 2 StPO erhalten geblieben sind. Historisch betrachtet sollte dem Gericht nach Übersendung der Akten mit der Anklageschrift das gesamte Informationsmaterial zur Verfügung stehen, welches sich bei der anklagenden Staatsanwaltschaft im Zuge der gesamten Ermittlungen, die mit dem jeweiligen Ermittlungsgegenstand thematisch in Zusammenhang stehen, angesammelt hat. b) Systematische und teleologische Betrachtung des § 199 Abs. 2 S. 2 StPO Nun gilt es zu klären, ob der i. R. d. historischen Auslegung aufgekommene gesetzgeberische Wille auch mit dem Regelungsgefüge zum Zwischenverfahren und der übrigen Systematik der StPO in Einklang steht. Es ist davon auszugehen, dass sich der gesetzgeberische Wille, der der Einführung des § 197 RStPO zugrunde lag, bis heute hält, sofern dieser nicht zu einem späteren Zeitpunkt – auch im Kontext anderer Normen – ersichtlich aufgegeben wurde oder mit den aktuellen Gegebenheiten unvereinbar ist.399 Insbesondere können andere Normen oder entsprechende Gesetzesmaterialien Anhaltspunkte für die Aufgabe des historischen Gesetzgeberwillens beinhalten. Im Folgenden werden zu § 199 Abs. 2 S. 2 StPO teleologische und systematische Erwägungen angestellt. Zunächst sah der Gesetzgeber bei späteren Reformvorhaben des Zwischenverfahrens den Zweck ebenjenes in der gerichtlichen Überprüfung des hinreichenden Tatverdachts,400 ohne hierbei die Grundlage für eine vorgezogene nicht-

396

BGBl. 1950 I, 488. Das Gesetzesvorhaben geht auf die Entwurfsbegründung BT-Drs. 1/530, zurück, worin § 199 StPO a. F. gestrichen werden sollte. Eine ähnliche Vorschrift gab es mit § 198 Abs. 2 StPO-E, wozu jedoch ebenfalls keine Begründung angeführt wurde; vgl. hierzu BTDrs. 1/530, Anlage 1, S. 44, Anlage 1a, S. 43. 398 Vgl. BT-Drs. 7/551, Anlage 1, S. 78, wonach mit der Änderung des § 199 Abs. 1 StPO a. F. ausschließlich der Abschaffung des sog. Voruntersuchungsrichters Rechnung getragen werden sollte. Im Fortgang wurde lediglich eine amtliche Überschrift eingeführt: BGBl. 2015 I, 1332 (Art. 1 Nr. 13 i.V.m. S. 1341). 399 Siehe zur methodischen Überprüfungspflicht, ob der historische Wille im Anwendungszeitpunkt noch als aktuell bzw. verbindlich angesehen werden kann: Rüthers/Fischer/ Birk, Rechtstheorie, Rn. 730d, 788 m. w. N.; Sauer, Juristische Methodenlehre, S. 297 f.; Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 162 f. 400 BT-Drs. 15/1976, 11. Der Gesetzesentwurf ist zwar für erledigt erklärt worden, siehe BT-Plenarprotokoll 15/94: Stenografischer Bericht der 94. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 04.03.2004, 8409C; jedoch hat man sich hieran auf BT-Drs. 15/2536, Anlage 1, ausdrücklich orientiert. 397

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

öffentliche Quasi-Hauptverhandlung schaffen zu wollen.401 Rückschlüsse auf einen Wandel des gesetzgeberischen Willens lassen sich hieraus jedoch nicht ziehen. Mit einer umfassenden Aktenvorlage geht eine nichtöffentliche Quasi-Hauptverhandlung nicht einher. In der Gesetzesbegründung zur Einführung des auch heute noch geltenden § 408 Abs. 2 StPO, nach dem der Erlass eines Strafbefehls ebenfalls der Feststellung eines hinreichenden Tatverdachts bedarf, wurde zwar ausgeführt: „Die Formulierung ,hinreichend verdächtig‘ (vgl. § 203) umfaßt nicht nur die Verurteilungswahrscheinlichkeit in tatsächlicher Hinsicht, sondern ist umfassend zu verstehen.“402 Aus dieser Aussage kann jedoch keine eindeutige Bestätigung eines umfassenden Aktenbegriffs durch den Gesetzgeber herausgelesen werden. Aus der Normgenese der §§ 198–211 StPO bzw. den diesbezüglichen Gesetzesmaterialien lassen sich ebenfalls keine weiteren Anhaltspunkte gewinnen, die in diese Richtung deuten. Eine Bezugnahme auf den Aktenbegriff (auch oder gerade im Zusammenhang mit der Sicht des historischen Gesetzgebers) hätte sich insbesondere bei der Schaffung bzw. Reform der §§ 200 Abs. 2, 201 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, 202, 206, 207 Abs. 2, 211 StPO angeboten. Ein Wandel des gesetzgeberischen Willens lässt sich mithin auch den Gesetzesmaterialien weiterer Normen des Zwischenverfahrens nicht entnehmen. Aus der Vorschrift des § 203 StPO lässt sich ableiten, dass das Zwischenverfahren der Verdachtsüberprüfung dient.403 § 202 S. 1 StPO gewährt dem Gericht zur besseren Sachverhaltsaufklärung die Möglichkeit, einzelne Beweiserhebungen anzuordnen.404 Auch kann das Verfahrensthema im Zwischenverfahren modifiziert werden, § 207 Abs. 2 StPO.405 Ferner hat das Gericht im Zwischenverfahren die Zuständigkeit zu überprüfen, §§ 207 Abs. 1, 209 StPO.406 Dass das Zwischenverfahren ebenfalls der Gewährleistung von Verteidigungsinteressen dient, zeigt § 201 Abs. 1 S. 1 StPO.407 Insgesamt lassen die Vorschriften folglich erkennen, dass der Zweck des Zwischenverfahrens in der eigenständigen und von den getroffenen Schlussfolgerungen der Staatsanwaltschaft unabhängigen, gerichtlichen Überprüfung der Anklageschrift, insbesondere des hinreichenden Tatverdachts, liegt. Lediglich die Reichweite dieser gerichtlichen Überprüfung lässt sich den Vorschriften nicht eindeutig entnehmen.

401 Vgl. im Kontext mit der Einführung eines Anhörungstermins gem. § 202a StPO-E: BTDrs. 15/2536, 8; die Vorschrift wurde jedoch erst mit Einführung der Verständigungsvorschriften in die StPO aufgenommen, BGBl. 2009 I, 2353, wobei zur Begründung lediglich die Verfahrensverkürzung angeführt wurde, vgl. BT-Drs. 16/12310, 9. 402 BT-Drs. 10/1313, 35. 403 Siehe Heghmanns, Zwischenverfahren, S. 57; eingehend zur Verdachtskontrolle ders. a. a. O. S. 62 ff. 404 Siehe hierzu Heghmanns, Zwischenverfahren, S. 58 f. 405 Eingehend Heghmanns, Zwischenverfahren, S. 58. 406 Eingehend Heghmanns, Zwischenverfahren, S. 58, 112 ff. 407 Siehe auch Heghmanns, Zwischenverfahren, S. 59, 100 ff.

II. Systematik

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aa) Überprüfungs-/Kontrollmöglichkeit des gesamten Ermittlungsverfahrens als zwingende Grenze? In der Literatur wird teilweise angeführt, dass der Maßstab gerichtlicher Überprüfung im Zwischenverfahren zwar insbesondere das Vorliegen des hinreichenden Tatverdachtes umfasse, dies jedoch nicht zu einer Überprüfung des Ermittlungsablaufs408 führen dürfe.409 Ein weites Aktenbegriffsverständnis zugrunde gelegt, könnte das Gericht das Ermittlungsverfahren genauestens nachzeichnen und somit den hinreichenden Tatverdacht nicht nur überprüfen, sondern den Ermittlungsablauf einer umfassenden Kontrolle unterziehen, was über den Zweck von § 199 Abs. 2 S. 2 StPO (in der heute geltenden Fassung) bzw. des gesamten Regelungsabschnitts hinausschießen könnte. Diese Überlegung trägt jedoch schon aus nachfolgenden Gründen nicht. Das Zwischenverfahren umfasst eine Überprüfung der Verdachtsfrage und bezweckt nicht eine Überprüfung oder Kontrolle des Ermittlungsablaufs bzw. der Tätigkeit der Strafverfolgungsbehörden, wie etwa eine Beweismittelkontrolle410 oder ein Klageerzwingungsverfahren.411 Andererseits führt das Zwischenverfahren faktisch und regelmäßig dazu, die Richtigkeit des Abschlussvermerks der Staatsanwaltschaft bzw. den angenommenen Verdacht anhand der übersendeten Akten aus gerichtlicher Sicht zu überprüfen und die staatsanwaltschaftliche Bewertung einer so verstandenen Kontrolle zu unterziehen.412 Insofern ist es dem Gericht durch die Übersendung des gesamten Ermittlungsstoffes zwar möglich, die Qualität der strafverfolgungsbehördlichen Arbeitsweise zu kontrollieren oder zu überprüfen. Diese Möglichkeit des Gerichts ist jedoch nur mittelbare bzw. reflexhafte Folge und zwingend mit einer eigenständigen Überprüfung des hinreichendes Tatverdachtes durch das Gericht verbunden.413 Letztlich zielt die Pflicht, das vollständige Ermittlungsmaterial zu übersenden, darauf ab, die Frage des hinreichenden Tatverdachtes ebenso wie durch die Staatsanwaltschaft durch ein Gericht prüfen zu lassen.414 Und diese vollstände Überprüfungspflicht widerspricht dem Zweck des Zwischenverfahrens und § 199 Abs. 2 S. 2 StPO auch aus heutiger Sicht nicht. Die Überprüfung des hinreichendes Tatverdachtes kann schließlich nur dann umfassend vorgenommen werden, wenn dem Gericht mit der Anklageschrift der gesamte, ungefilterte Ermittlungsstoff vorgelegt wird.415 Ansonsten würde sich die 408 Für eine sog. Ermittlungskontrolle im Zwischenverfahren: Fezer, GS Schröder, S. 420 ff.; ähnlich Gössel, FS Kleinknecht, S. 140 ff. 409 Vgl. Heghmanns, Zwischenverfahren, S. 60 f., 96 ff. m. w. N. 410 Eine Beweismittelprüfung im Zwischenverfahren befürwortet etwa Gössel, FS Kleinknecht, S. 140 f. 411 Vgl. SK-StPO/Weßlau/Deiters, Bd. 3, Vor §§ 151 ff., Rn. 32. 412 Vgl. zum Zweck der Anklagekontrolle: Dengler, Kontrolle, S. 111 m. w. N. 413 Dies gesteht offenbar auch Heghmanns, Zwischenverfahren, S. 60, ein. 414 So auch Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 53; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 75 f.; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 184 f. 415 In diesem Sinne BVerfG StV 2017, 361, 362: „Da das Ermittlungsverfahren ein schrift-

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

gerichtliche Überprüfung darauf beziehen, ob die von der Staatsanwaltschaft vorgetragenen Verdachtsmomente für die Verfahrenseröffnung unabhängig von ggfs. weiteren heranziehbaren Umständen ausreichten, was auf eine verengte Negativkontrolle oder bloße Schlüssigkeitsprüfung416 hinausliefe. Um ein Wahrscheinlichkeitsurteil darüber abzugeben, ob eine Person eher verurteilt als freigesprochen wird und damit hinreichend verdächtig ist,417 kann man sich jedoch nicht einseitig auf die Prüfung beschränken, ob die von der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellten Aspekte für eine Verurteilung – auf die die Anklageschrift schließlich in jedem Fall abzielt – ausreichten. Die Prüfung würde dann nicht dahingehen, ob nach den gesamten Ermittlungen ein hinreichender Tatverdacht anzunehmen ist, sondern dahin, ob der Schluss, den die Staatsanwaltschaft gezogen hat, anhand der übermittelten Informationen tragfähig ist. Der Prüfungsgegenstand wäre demnach nicht das gesamte Ermittlungsverfahren, sondern der von der Staatsanwaltschaft zusammengefasste Teil des Ermittlungsverfahrens. Zu untersuchen bleibt insofern, ob Anhaltspunkte im Regelungsgefüge bzw. mit Blick auf den Zweck des Zwischenverfahrens auszumachen sind, die eine solche Sichtweise (zwingend) gebieten. In der Literatur wird vorgebracht, dass das Gericht im Zwischenverfahren ebenfalls zu prüfen habe, ob die Ermittlungen für die Entscheidung ausreichend und damit vollständig seien.418 Dies kann jedoch nur dann beurteilt werden, wenn der gesamte Ermittlungsstoff von der Staatsanwaltschaft vorgelegt wird. Für diese Sichtweise könnte die Existenz von § 202 S. 1 StPO angeführt werden. Zudem ist die gerichtliche Untersuchung innerhalb der (Tat-)Grenze aus §§ 155 Abs. 1, 264 Abs. 1 StPO (sowohl im Zwischenals auch im Hauptverfahren) nicht von den Feststellungen der Staatsanwaltschaft abhängig, §§ 155 Abs. 2, 207 Abs. 2 StPO.419 Andererseits konkretisiert die Staatsanwaltschaft mit der Anklageschrift das Verfahrensthema und damit, von liches Verfahren ist, muss jedes mit der Sache befasste Ermittlungsorgan, auch das Gericht, wenn es im Vorverfahren oder im gerichtlichen Verfahren tätig wird, das bisherige Ergebnis des Verfahrens und seine Entwicklung erkennen können […]. Es steht dabei nicht im Belieben der Ermittlungsbehörden, ob sie strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen in den Akten vermerken und zu welchem Zeitpunkt sie dies tun. Das Gericht muss den Gang des Verfahrens […] ohne Abstriche nachvollziehen können […]. […] Es muss in einem rechtsstaatlichen Verfahren jedenfalls schon der bloße Anschein vermieden werden, die Ermittlungsbehörden wollten etwas verbergen […].“; ähnlich die Formulierung bei Heghmanns, Zwischenverfahren, S. 96 f., wobei sich ders. a. a. O. S. 124, offenbar gegen eine ungefilterte Aktenübersendung ausspricht. 416 So auch Heghmanns, Zwischenverfahren, S. 82. 417 Zur Frage des hinreichenden Tatverdachtes gehört es zu prüfen, ob ein Sachverhalt sich wahrscheinlich zugetragen hat, der strafbar ist und voraussichtlich mit vorhandenen und zulässigen Beweismitteln nachweisbar ist; siehe aus Sicht der Staatsanwaltschaft eingehend Heghmanns/Herrmann, Arbeitsgebiet, S. 87 ff. 418 Vgl. Heghmanns, Zwischenverfahrens, S. 76, 95; krit. SK-StPO/Weßlau/Deiters, Bd. 3, Vor §§ 151 ff., Rn. 34. 419 Vgl. MüKo-StPO/Kölbel, Bd. 2, § 160, Rn. 68.

II. Systematik

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den Fällen des § 207 Abs. 2 StPO abgesehen, gem. § 155 Abs. 1 StPO in gewisser Weise wiederum auch den Umfang der Kognitionspflicht aus § 264 StPO.420 Letzteres gebietet es bereits aus den folgenden Gründen jedoch nicht, dem Gericht lediglich einen Ausschnitt des Ermittlungsmaterials vorlegen zu müssen. Neben der Überprüfung des hinreichenden Tatverdachtes stehen auch noch weitere Zwecke hinter dem Zwischenverfahren. Das Zwischenverfahren dient anerkanntermaßen schließlich dem Schutze des Angeschuldigten vor ungerechtfertigten Anklagen, da eine grundsätzlich öffentlich geführte Hauptverhandlung mit Belastungen für den Angeklagten einhergeht.421 Zudem soll durch die Durchführung des Zwischenverfahrens eine auf das Wesentliche beschränkte Hauptverhandlung vorbereitet werden, sofern ein hinreichender Tatverdacht angenommen wird.422 Das Hauptverfahren soll ggfs. gestrafft und gleichzeitig der Gefahr von Unterbrechungen oder Aussetzungen vorgebeugt werden.423 Das Zwischenverfahren hat somit eine Filterfunktion mit zweifacher Schutzrichtung inne: das Zwischenverfahren soll sowohl die Gerichte als auch die Beschuldigten abschirmen.424 Zudem dient das Zwischenverfahren der endgültigen (vgl. § 156 StPO) Festlegung des Verfahrensthemas und der Gewährung rechtlichen Gehörs.425 Seinen gesetzlichen Niederschlag findet Vorstehendes in den schon zuvor benannten Normen §§ 201 Abs. 1 S. 1, 202 S. 1, 207 Abs. 2 StPO. Wenngleich die Staatsanwaltschaft die Anklageschrift auf einen Teil der angestellten Ermittlungen beschränken kann, so kann die Abschirmung des Gerichts, insbesondere aber die des späteren Angeklagten, nur dann angemessen vorgenommen werden, wenn die Anklageschrift und der hierin angenommene hinreichende Tatverdacht im Lichte des gesamten Ermittlungsstoffes überprüft wird.426 Zudem kann künftigen Unterbrechungen oder Aussetzungen nur dann wirksam entgegengewirkt werden, wenn das Gericht Kenntnis über das vollständige Ermittlungsmaterial hat. Im Übrigen beinhaltet die Entscheidung des Gerichts über die Verfahrenseröffnung keine Schlüssigkeitsprüfung, sondern es „entscheidet über die Eröffnung des Verfahrens“, § 202 S. 1 StPO. Eine Schlüssigkeitsprüfung, wie es etwa § 331 Abs. 2 ZPO für ein Versäumnisurteil vorsieht, steht mit der im Zivilverfahrensrecht geltenden Beibringungsmaxime (vgl. §§ 138, 282 ZPO) im Einklang. Im strafgerichtlichen Zwischenverfahren ist die Entscheidung über die Verfahrenseröffnung demgegenüber jedoch von Amts wegen vorzunehmen. Eine be-

420

MüKo-StPO/Wenske, Bd. 2, § 199, Rn. 3. MüKo-StPO/Wenske, Bd. 2, § 199, Rn. 4 m. w. N. 422 MüKo-StPO/Wenske, Bd. 2, § 199, Rn. 4. 423 LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 5/2, Vor § 198, Rn. 12 m. w. N. 424 Eingehend SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4, Vor §§ 198 ff., Rn. 5, 7a f. m. w. N.; vgl. auch LRStPO/Stuckenberg, Bd. 5/2, Vor § 198, Rn. 12 m. w. N. 425 SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4, Vor §§ 198 ff., Rn. 5 m. w. N.; hierzu und zu weiteren Zielen des Zwischenverfahrens eingehend auch Heghmanns, Zwischenverfahren, S. 57 ff. 426 Dies gilt freilich auch für die Überprüfung des hinreichendes Tatverdachtes, vgl. Heghmanns, Zwischenverfahren, S. 76. 421

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

schränkte Aktenvorlagepflicht wäre mithin systemwidrig, was sich ebenfalls an dem unterschiedlichen Wortlaut von § 202 S. 1 StPO und § 331 Abs. 2 ZPO zeigt („Bevor das Gericht […] entscheidet“, einerseits; „Soweit es den Klageantrag rechtfertigt, ist nach dem Antrag zu erkennen; soweit dies nicht der Fall ist, ist die Klage abzuweisen“, andererseits). Das Regelungsgefüge des Zwischenverfahrens steht nach alledem einem weiten Aktenbegriffsverständnis folglich nicht entgegen, sondern streitet vielmehr für ein solches. bb) Das Akkusationsprinzip Auch der Zweck des Akkusationsprinzips spricht für das bisherige Auslegungsergebnis zur Vorlagepflicht aus § 199 Abs. 2 S. 2 StPO. Eine den Inquisitionsprozess ablösende, wesentliche Errungenschaft des sog. reformierten Strafprozesses stellt das Akkusationsprinzip bzw. der Anklagegrundsatz dar.427 Jede auf Aburteilung gerichtete gerichtliche Tätigkeit setzt die Erhebung einer Anklage voraus.428 Diese Maxime429 findet in § 151 StPO ihre ausdrückliche Erwähnung und kommt weiter in § 152 Abs. 1 StPO zum Ausdruck.430 Dem Hauptverfahren sollte nicht nur formell ein Anklageverfahren vorausgehen, wonach es schlicht auf eine Anklageerhebung ankäme; andererseits sollte das Anklageverfahren auch nicht materiell in der Form verstanden werden, dass über die Anklageberechtigung oder den Strafanspruch zu urteilen wäre.431 Zwischen diesen Extremen wurde ein Kompromiss geschaffen,432 nach dem einerseits die Staatsanwaltschaft das Anklagemonopol innehat, gleichzeitig neben der Staatsanwaltschaft aber auch das Gericht dem Amtsermittlungsgrundsatz unterliegt und dem Anklageprinzip somit inquisitorische Elemente anhaften.433 Der Anklagegrundsatz wird von einem verfahrensfunktionell-machtbegrenzenden Aspekt getragen.434 Die ratio dieses Prozessmodells besteht darin, die auf Seiten des Gerichts bestehende Verfahrensmacht zu reduzieren. Würde man der Staatsanwaltschaft für einen Teilbereich eine unbegrenzte Verfahrensmacht zusprechen, hätte man die gerichtliche Macht zwar verkürzt, die Entstehung von Machtkonzentration bei einer anderen staatlichen Institution jedoch erheblich gestärkt. Das staatliche Machtpotential hätte man also nur verlagert, ohne es insgesamt verringert zu haben. Der Staatsanwaltschaft würde eine unbefristete Verfahrensmacht gewährt werden, verbliebe bei ihr ein vom Gericht nicht (per se)435 einsehbarer Teil an Ermittlungsmaterial. 427

SK-StPO/Weßlau/Deiters, Bd. 3, Vor §§ 151 ff., Rn. 1 f. SK-StPO/Weßlau/Deiters, Bd. 3, § 151, Rn. 1. 429 Siehe SK-StPO/Weßlau/Deiters, Bd. 3, Vor §§ 151 ff., Rn. 1. 430 Vgl. MüKo-StPO/Peters, Bd. 2, § 152, Rn. 19. 431 SK-StPO/Weßlau/Deiters, Bd. 3, Vor §§ 151 ff., Rn. 2. 432 Eingehend SK-StPO/Weßlau/Deiters, Bd. 3, Vor §§ 151 ff., Rn. 2, § 151, Rn. 3. 433 SK-StPO/Weßlau/Deiters, Bd. 3, § 151, Rn. 3. 434 SK-StPO/Weßlau/Deiters, Bd. 3, § 151, Rn. 2; MüKo-StPO/Peters, Bd. 2, § 151, Rn. 1. 435 Als Rechtsgrundlage für eine derartige Rechts- und Amtshilfe von Gerichten und Be428

II. Systematik

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Zudem geht mit der Klageerhebung die Verfahrensherrschaft auf das Gericht über,436 sodass die Staatsanwaltschaft diese vor der Eröffnung des Hauptverfahrens nur noch durch eine Klagerücknahme an sich ziehen kann, vgl. § 156 StPO.437 Die Staatsanwaltschaft sollte nur „Herrin des Ermittlungsverfahrens“,438 und gerade keine Herrin des gesamten Strafverfahrens, sein. Deshalb muss auch die „Aktenherrschaft“ im Zwischenverfahren auf das Gericht (inkl. der gerichtlichen Geschäftsstelle) übergehen und dort bis zum Abschluss des Hauptverfahrens verbleiben,439 was in § 480 Abs. 1 S. 1 StPO auch so zum Ausdruck kommt. Das Akkusationsprinzip sollte gewährleisten, dass eine dem Gericht gleichgeordnete Behörde im Verfahren mitwirkt und keine dem Gericht (partiell) übergeordnete Institution. Eine beschränkte Vorlagepflicht würde den Übergang der Verfahrensherrschaft auf das Gericht folglich nicht in umfassender Weise berücksichtigen und im Übrigen auch der Funktion des Anklagegrundsatzes – Entgegenwirken von Machtkonzentrationen – widersprechen. cc) Gegenstand des Ermittlungsverfahrens Auch Funktion und Gegenstand des Ermittlungsverfahrens streiten für ein weites Aktenbegriffsverständnis. Die staatsanwaltschaftliche Sachaufklärung hat mit Blick auf § 152 Abs. 2 StPO zwar einerseits von Amts wegen zu erfolgen,440 sodass eine nachdrückliche Sachverhaltsaufklärung angezeigt scheint.441 Ferner klingt in § 160 Abs. 2 StPO die Pflicht zur umfassenden Sachverhaltsermittlung an. Die Staatsanwaltschaft

hörden dient zunächst Art. 35 Abs. 1 GG, worauf nachfolgend noch genauer eingegangen wird; einfachgesetzlich lässt sich eine solche prozessuale Handhabe aus §§ 202, 244 Abs. 2 StPO (flankiert durch § 168 GVG) herleiten. Auch wenn das Gericht i. R. seiner Amtsermittlungspflicht oder im Wege der Amtshilfe weitere Akten von der Staatsanwaltschaft einfordern und beiziehen kann, ändert dies nichts daran, dass das Gericht faktisch Anhaltspunkte benötigt, um eine Aktenbeiziehung in Erwägung zu ziehen. In der Sache liefe dies also darauf hinaus, dass das Gericht über Art. 35 Abs. 1 GG bzw. § 244 Abs. 2 StPO eine der Ermittlungsbefugnis der Staatsanwaltschaft (§ 161 Abs. 1 StPO) entsprechende Handhabe hat, diese jedoch – ebenso wie dies etwa für die Verteidigung gelten würde – ins Leere ginge, wenn keine Anhaltspunkte über möglichweise weitere verfahrensbedeutsame Informationen bestehen; siehe bzgl. des sonst drohenden faktisch unüberprüfbaren Entscheidungsspielraumes: Beulke, FS Dünnebier, S. 291. 436 Hierzu im Einzelnen MüKo-StPO/Peters, Bd. 2, § 151, Rn. 4 f.; LR-StPO/Mavany, Bd. 5/1, § 151, Rn. 10; Lindemann, Ermittlungsrechte, S. 28; siehe auch Zehetgruber, Strafverfahrensrecht, S. 328: „[…] Strafrichter als ,Herren des Hauptverfahrens‘ […]“; für eine auf § 160 StPO analog gestützte Nachermittlungsbefugnis der Staatsanwaltschaft trotz mittlerweile gerichtlicher Verfahrensherrschaft spricht sich Lindemann, Ermittlungsrechte, S. 165 ff., aus. 437 SK-StPO/Weßlau/Deiters, Bd. 3, § 151, Rn. 5. 438 Siehe hierzu LR-StPO/Mavany, Bd. 5/1, § 152, Rn. 2. 439 Artkämper/Herrmann/Jakobs/Kruse, Aufgabenfelder, Rn. 9. 440 Vgl. SSW-StPO/Ziegler, § 160, Rn. 1. 441 LR-StPO/Erb, Bd. 5/2, § 160, Rn. 36; MüKo-StPO/Kölbel, Bd. 2, § 160, Rn. 73.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

hat i. R. d. Ermittlungsverfahrens den Sachverhalt jedoch nur mit Blick darauf aufzuklären, „ob die öffentliche Klage zu erheben ist“, § 160 Abs. 1 StPO. Die §§ 152 Abs. 2, 160 Abs. 2 StPO sind im Lichte von § 160 Abs. 1 StPO zu lesen. Ziel des Ermittlungsverfahrens ist mithin nicht die Sachverhalts-, sondern die Verdachtsklärung; zur entsprechenden Überzeugung muss im Anschluss hieran das Gericht gelangen.442 Die Sachverhaltsermittlung hat folglich nicht vollständig und lückenlos detailliert zu erfolgen; die Ermittlungspflicht endet vielmehr, sobald ein hinreichender Tatverdacht festgestellt bzw. verneint wird, als nicht erreichbar angesehen wird oder sich Gründe zur Verfahrenseinstellung aus Opportunitätsgründen zeigen.443 Bei einem regelmäßig nur vorläufigen und lückenhaften Ermittlungsergebnis ist es umso bedeutsamer, dem Gericht das gesamte Ermittlungsmaterial zur Verfügung zu stellen. Insofern spricht auch der Gegenstand des Ermittlungsverfahrens für ein weites Aktenbegriffsverständnis. dd) Aktenwahrheit bzw. -vollständigkeit Neben der Gewichtigkeit des Rechts auf Akteneinsicht wird an weiteren Stellen in der StPO deutlich, dass die als Akte bezeichnete Informationssammlung im Allgemeinen – und damit sowohl für die Verteidigung als auch für das Gericht – vollständig und realitätsgetreu sein soll. § 168b Abs. 1 StPO bringt dies auf den Punkt, nach dem „[d]as Ergebnis der Untersuchungshandlungen der Ermittlungsbehörden aktenkundig zu machen [ist]“. Im zweiten und dritten Absatz wird die Protokollierung/Dokumentation der Vernehmung bzw. Belehrung aufgeführt und damit der erste Absatz konkretisiert. Die Vorschrift steht im zweiten Abschnitt des zweiten Buches der StPO und somit im Gefüge der Klagevorbereitung. Normadressat sind alle mit strafrechtlichen Ermittlungen befassten Behörden, wie Staatsanwaltschaft und Polizei, aber auch die Finanzbehörde und die Zollverwaltungen.444 Der Wortlaut von § 168b Abs. 1 StPO ist objektivierend formuliert und weiter sind hinsichtlich der aktenkundig zu machenden Untersuchungshandlungen keine Einschränkungen normiert. Da demgegenüber eine Einschränkung für die Vernehmungsprotokollierung in § 168b Abs. 2 S. 1 StPO enthalten ist, liegt es nahe, dass eine Ermittlungsakte grundsätzlich das Ermittlungsverfahren ohne Einschränkungen und damit vollständig bzw. realitätsgetreu und in diesem Sinne wahr abbilden soll. Diese Sichtweise bestätigt § 163 Abs. 2 S. 1 StPO, nach dem Polizeibehörden/-beamte ihre Verhandlungen unverzüglich der Staatsanwaltschaft zu übersenden haben. Die Staatsanwaltschaft hat, sofern Klageerhebung

442 Eingehend LR-StPO/Erb, Bd. 5/2, § 160, Rn. 11; MüKo-StPO/Kölbel, Bd. 2, § 160, Rn. 2; vgl. auch SK-StPO/Wohlers/Deiters, Bd. 3, § 160, Rn. 16. 443 Heghmanns/Herrmann, Arbeitsgebiet, S. 86, Rn. 324. 444 Siehe BT-Drs. 17/12578, 17; demgemäß SK-StPO/Wohlers/Albrecht, Bd. 3, § 168b, Rn. 2; LR-StPO/Erb, Bd. 5/2, 168b, Rn. 2; MüKo-StPO/Kölbel, Bd. 2, § 168b, Rn. 1.

II. Systematik

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erwogen wird, wiederum einen Abschlussvermerk zur Akte zu nehmen, § 169a StPO.445 Es überzeugt demnach mit der heute ganz herrschenden Auffassung sowohl in Schrifttum446 als auch in Rechtsprechung447 von einem strafprozessualen Grundsatz der Aktenvollständigkeit und Aktenwahrheit auszugehen.448 Der Grundsatz kommt neben den vorbenannten Vorschriften auch in den §§ 32b Abs. 2, 32e Abs. 3 S. 3, 41 S. 3, 68b Abs. 3 S. 2, 100e Abs. 6 Nr. 2 S. 4, 100g Abs. 4 S. 4, 100j Abs. 3 S. 5, Abs. 4 S. 4, 101 Abs. 5 S. 2, Abs. 8 S. 2, 101a Abs. 4 S. 2, S. 4, 154a Abs. 1 Nr. 2 S. 3, 160a Abs. 1 S. 4, 160b S. 2, 168a Abs. 2 S. 1, 202a S. 2, 275 Abs. 1 S. 5, 406f Abs. 2 S. 3, 406g Abs. 4 S. 3, 421 Abs. 3 S. 2, 459a Abs. 3 S. 1, 479 Abs. 3 S. 3, 480 Abs. 4 StPO zum Ausdruck.449 Der Grundsatz der Aktenvollständigkeit/-wahrheit verlangt, dass die Akte ein lückenloses Abbild davon darstellt, was Ermittlungsanlass war, welche Ermittlungsmaßnahmen getroffen wurden, welche Erkenntnisse hierbei zu Tage getreten sind, wer die Ermittlungsmaßnahmen angeordnet hatte und mit welchem Ergebnis die Ermittlungen letztlich abgeschlossen worden sind.450 Hierzu zählt etwa das Einholen von schriftlichen Auskünften gem. § 161 Abs. 1 S. 1 StPO, informatorische Befragungen, Observationen, kriminaltechnische Untersuchun-

445 Vgl. zum Vorstehenden etwa LR-StPO/Erb, Bd. 5/2, § 160, Rn. 65; vgl. BVerfG StV 2017, 361, 362. 446 KK-StPO/Fischer, Einl., Rn. 228; im Zshg. mit § 168b Abs. 1 StPO als gesetzliche Ausprägung: LR-StPO/Erb, Bd. 5/2, § 168b, Rn. 1 m. w. N.; MüKo-StPO/Kölbel, Bd. 2, § 168b, Rn. 1; im Zshg. mit legendierten Kontrollen: Lenk StV 2017, 692, 699; Albrecht HRRS 2017, 446, 456 f.; Löffelmann JR 2017, 588, 602; Brodowski JZ 2017, 1124, 1128; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 80 ff. m. w. N. 447 BVerfG HRRS 2019, Nr. 729, Rn. 2; BVerfG StV 2017, 361, 362 f. m. w. N.; prägnant BGHSt 62, 123, 142 f., und BVerfG StV 2017, 361, 362: „[S]chon der bloße Anschein, die Ermittlungsbehörden wollten etwas verbergen [, muss vermieden werden].“; OLG Frankfurt NStZ 2021, 382, 383 m. Anm. Fröba; vgl. im ausländerrechtlichen Kontext auch BVerfG NJW 1983, 2135, 2135 f.; siehe auch OLG Köln StV 2015, 677: „Was für das Verfahren geschaffen worden ist, darf der Akteneinsicht nicht entzogen werden […].“; BGH Ermittlungsrichter StV-S 2021, 128, 129. 448 Z. T. wird noch das Prinzip der Aktenklarheit angeführt: vgl. etwa Heghmanns/Scheffler/Jahn, Handbuch, Kap. II, Rn. 18; Hilger, FS Meyer-Goßner, S. 759; Lesch StraFo 2021, 496, 498. 449 Soweit bei BVerfG StV 2017, 361, 362, oder von Heghmanns/Scheffler/Jahn, Handbuch, Kap. II, Rn. 18, als gesetzliche Ausprägung dieses Grundsatzes § 199 Abs. 2 S. 2 StPO angeführt wird, scheint dies eine petitio principii darzustellen. Denn die Frage, was zu den Akten i. S. v. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO gehört, ergeht nicht aus der Norm selbst; vielmehr dient der Grundsatz der Aktenvollständigkeit/-wahrheit zur Ausfüllung des Aktenbegriffs. 450 LR-StPO/Erb, Bd. 5/2, § 160, Rn. 66; MüKo-StPO/Kölbel, Bd. 2, § 160, Rn. 49; Lesch StraFo 2021, 496, 498; vgl. auch BVerfG StV 2017, 361, 362 m. w. N.; OLG Karlsruhe NJW 1992, 642, 644; ob der Grundsatz der Aktenvollständigkeit/-wahrheit sog. Spurenakten umfasst, ist auch in diesem Zusammenhang umstritten; vgl. einerseits LR-StPO/Erb a. a. O. und andererseits Heghmanns/Scheffler/Jahn, Handbuch, Kap. II, Rn. 19.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

gen, Tatortbesichtigungen oder die Leichenschau/-öffnung i. S. d. § 87 StPO.451 Vorgänge, (Rechts-)Überlegungen oder auch Entwürfe, die allein dem internen Dienstbetrieb der Staatsanwaltschaft zuzuordnen sind, sollen nicht dem Grundsatz der Aktenvollständigkeit bzw. § 168b Abs. 1 StPO unterfallen.452 Als Beispiel für einen rein innerdienstlichen Vorgang dient etwa eine telefonische Anfrage eines Polizeibeamten an den sachbearbeitenden Staatsanwalt, mit welchem Programm ein bestimmter Tonträger abgespielt werden kann, oder die gedankliche Überlegung, ob ein bestimmter Vorgang mit Blick auf andere Ermittlungsverfahren nach § 154 StPO eingestellt werden soll oder eben der Entwurf einer staatsanwaltschaftlichen Verfügung, der jedoch verworfen oder umformuliert wird. Diese Vorgänge müssen zur Wahrung der Aktenwahrheit/-vollständigkeit nicht (notwendig) in Form eines Berichts, Vermerks o. Ä. aktenkundig gemacht werden. Demgegenüber müsste die vorzulegende Akte all diejenigen Verhandlungen umfassen, die die Behörden und Beamten des Polizeidienstes der Staatsanwaltschaft gem. § 163 Abs. 2 S. 1 StPO übersenden, da diese naturgemäß nicht ausschließlich dem internen Dienstbetrieb zuzuordnen sind. Die Untersuchungshandlungen sind, soweit sie physisch vorhanden sind, in der jeweiligen Form zu der Akte zu nehmen; im Übrigen soll es ausreichen, einen die Untersuchungshandlung zusammenfassenden Vermerk/Bericht zu den Akten zu nehmen.453 In jedem Fall sind die Untersuchungshandlungen (und ggfs. ihr Ergebnis) zeitnah aktenkundig zu machen,454 was sich schon aus einem Umkehrschluss zu den sogleich vorzustellenden Ausnahme-Vorschriften hinsichtlich der Dokumentationsverzögerung herleiten lässt. In der Konsequenz kann es aus Gründen des Aktenvollständigkeitsgebot auch nicht darauf ankommen, zu welcher Zeit das Ermittlungsmaterial entstanden ist. Entscheidend kann nach zuvor Gesagten nur sein, ob das Informationsmaterial mit dem Ermittlungsverfahren gegen den jeweiligen Beschuldigten in einem inhaltlichen Zusammenhang steht. Die Forderung nach Aktenwahrheit und Aktenvollständigkeit gebietet es mithin, auch als Spurenakten bezeichnete Vorgänge, also solche, durch die ein Ermittlungsverfahren gegen einen späteren Beschuldigten erst eingeleitet wurde bzw. die zwar den jeweiligen Geschehensablauf, aber nicht (direkt) den Beschuldigten betreffen, als Aktenbestandteil einzuordnen.455 451 Im Zshg. mit § 168b Abs. 1 S. 1 StPO: LR-StPO/Erb, Bd. 5/2, § 168b, Rn. 3; MüKoStPO/Kölbel, Bd. 2, § 168b, Rn. 2. 452 LR-StPO/Erb, Bd. 5/2, § 168b, Rn. 5 m. w. N.; MüKo-StPO/Kölbel, Bd. 2, § 168b, Rn. 3. 453 Eingehend im Zshg. mit § 168b Abs. 1 S. 1 StPO: LR-StPO/Erb, Bd. 5/2, § 168b, Rn. 8 m. w. N.; siehe auch MüKo-StPO/Kölbel, Bd. 2, § 168b, Rn. 2; LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 28; Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 52. 454 MüKo-StPO/Kölbel, Bd. 2, § 168b, Rn. 2 m. w. N.; so auch B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 181; im Zshg. mit legendierten Kontrollen: BVerfG HRRS 2019, Nr. 729, Rn. 2; Albrecht HRRS 2017, 446, 458, 457. 455 Dies schlussfolgert i. E. auch LR-StPO/Erb, Bd. 5/2, § 160, Rn. 66.

II. Systematik

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Soll die Akte den Verfahrensverlauf wahrheitsgetreu bzw. vollständig abbilden, kann es für die Einordnung eines Informationsträgers als Aktenbestandteil ferner nicht darauf ankommen, ob der Informationsträger rechtmäßig erlangt wurde bzw. die erlangten Informationen oder die hierauf fußenden Beweismittel einem Verwertungsverbot unterliegen. Auch mit einem Verwertungsverbot behaftete Beweismittel müssten demzufolge zur Akte genommen bzw. aktenkundig gemacht werden.456 Dies ergibt sich neben dem Gebot einer vollständigen Aktenführung auch aus dem Wesen und den Wirkungen (mithin der Zielrichtung) von Beweisverwertungsverboten.457 Ausgehend von der sog. Mühlenteichtheorie,458 die sich zu Recht in der Literatur weitgehend durchgesetzt hat459 und auch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt ist,460 sind Beweisverwertungsverbote generell und damit unabhängig von einer diesbezüglichen Disposition(-sbefugnis)461 reine Belastungsverbote.462 Hiernach müssten entlastende Anhaltspunkte aus einem unverwertbaren Beweismittel zumindest dann zugunsten des Angeklagten berücksichtigt werden, wenn das Gericht ansonsten von der Täterschaft überzeugt ist.463 Da dies weder im Ermittlungs- noch im Zwischenverfahren auch nur im Ansatz absehbar ist, kann es für die Einordnung eines Informationsträgers als einzusehender oder vorzulegender Aktenbestandteil auch vor diesem Hintergrund nicht maßgebend sein, ob dieses einem Verwertungsverbot unterliegt.

456 Heghmanns/Scheffler/Jahn, Handbuch, Kap. II, Rn. 18; SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 30 m. w. N.; a. A. MüKo-StPO/Kölbel, Bd. 2, § 160, Rn. 50. 457 Siehe allg. Roxin/Schäfer/Widmaier, FS Strauda, S. 443 f.; Roxin/Schäfer/Widmaier StV 2006, 655, 659 f. 458 Grundlegend Roxin/Schäfer/Widmaier, FS Strauda, S. 435 ff., passim; Roxin/Schäfer/ Widmaier StV 2006, 655; siehe hierzu bereits Amelung StraFo 1999, 181, 183 ff. 459 Eingehend Dautert, Beweisverwertungsverbote, S. 138 ff. m. w. N. auch zu Gegenauffassungen; befürwortend etwa auch Jahn JuS 2008, 1121, 1122. 460 Die selektive Verwerbarkeit eines einem Verwertungsverbot unterliegenden Beweismittels als Entlastungsindiz wurde bereits in BGHSt 42, 191, 194 f., anerkannt; in BGHSt 50, 206, 215 f., wurde diese Rechtsauffassung unter dem Stichwort Rosinentheorie fortgeführt; seit BGH, Urt. v. 03.04.2019 – 5 StR 499/18, Rn. 5, juris, wird sich explizit der sog. Mühlenteichtheorie angeschlossen; offen gelassen bei BGH StV 2009, 113 m. Anm. Roxin.; eingehend hierzu Roxin/Schäfer/Widmaier, FS Strauda, S. 435 f., 440; Roxin/Schäfer/Widmaier StV 2006, 655, 656, 658; Dautert, Beweisverwertungsverbote, S. 141 ff. 461 Roxin/Schäfer/Widmaier, FS Strauda, S. 440 ff.; Roxin/Schäfer/Widmaier StV 2006, 655, 658 f.; eingehend auch Roxin StV 2009, 113, 115. 462 Roxin/Schäfer/Widmaier, FS Strauda, S. 436 f., 446; Roxin/Schäfer/Widmaier StV 2006, 655, 656, 660; Roxin NStZ 2007, 616, 618; dies gilt auch und gerade in Fällen verbotener Vernehmungsmethoden, der Wortlaut des § 136a Abs. 3 StPO lässt es zu, die Verwertung lediglich zulasten des Beschuldigten als indisponibel anzusehen, so auch Roxin StV 2009, 113, 114. 463 So die von Roxin/Schäfer/Widmaier, FS Strauda, S. 441 f., 444, vorgeschlagene Staffelung; Roxin/Schäfer/Widmaier StV 2006, 655, 658 ff.; eingehend Roxin StV 2009, 113, 115.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

Weiter steht § 168b StPO im Abschnitt zum Ermittlungsverfahren. Der Grundsatz der Aktenwahrheit/-vollständigkeit untersteht normativ auch keinen Unterscheidungen bzgl. der Verfahrensstadien. Insofern ist der Aktenbegriff sowohl im Ermittlungsverfahren als auch im gerichtlichen Zwischen- und Hauptverfahren in gleicher Weise weit zu verstehen. Das weite Aktenbegriffsverständnis hat weiter zur Folge, dass sämtliche Informationsträger, die den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten i. R. d. Ermittlungsverfahrens oder auch während des Zwischen- oder Hauptverfahrens zugeleitet wurden, Aktenbestandteil sein müssen. Nur so kann gewährleistet werden, dass die Akte ein lückenloses Abbild des Verfahrensverlaufs darstellt.464 Insofern müssen auch elektronische Dokumente, die von Gerichten oder Strafverfolgungsbehörden (§ 32b StPO) oder anderen Personen (§ 32a StPO) eingereicht bzw. erstellt wurden, unabhängig davon, ob die in den §§ 32a f. StPO aufgestellten Formvorgaben gewahrt wurden, zu den Aktenbestandteilen zählen. Dies muss ebenso für sog. Ausgangsdokumente i. S. v. § 32e Abs. 1 StPO gelten, jedenfalls solange sie nicht in die entsprechende Aktenform übertragen wurden. Ab der Übertragung des Ausgangsdokumentes, die mit einem entsprechenden Übertragungsnachweis kenntlich zu machen ist (§ 32e Abs. 3 StPO), wäre jedenfalls der Inhalt des Ausgangsdokumentes aktenkundig, sodass es ab der Übertragung aus Gründen der Aktenwahrheit/-vollständigkeit nicht mehr notwendig der Einordnung des Ausgangsdokumentes als Aktenbestandteil bedarf. Welche gesetzgeberische Intention hinter den §§ 32a f., 32e StPO steht, wird innerhalb der historischen Auslegung gesondert untersucht.465 Da der Grundsatz der Aktenwahrheit/-vollständigkeit nach obigen Ausführungen eben auch ein lückenloses Abbild davon darstellen soll, welche Erkenntnisse i. R. d. Ermittlungsverfahrens zu Tage getreten sind, kann der herausgearbeiteten Unterscheidung zwischen Informationsträgern, die als Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO und damit als Aktenbestandteile anzusehen sind, und Beweisgegenständen, die gem. §§ 214 Abs. 4, 221 StPO herbeizuschaffen sind, keine große praktische Bedeutung beigemessen werden. Denn auch die sachlichen Beweismittel, die keine Aktenbestandteile darstellen und damit nicht der Akteneinsicht und der Vorlagepflicht aus § 199 Abs. 2 S. 2 StPO unterliegen, müssen zur Wahrung der Aktenwahrheit und -vollständigkeit abfotografiert und diese Fotografie zu den Akten genommen werden. Denn andernfalls würde die Akte entgegen der vorstehenden Grundsätze kein lückenlos nachvollziehbares Abbild des Ermittlungsverfahrens darstellen. Insofern sind Informationsträger bzw. Gegenstände, die keine Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO, sondern die übrigen sachlichen Beweismittel darstellen, der Akte nicht gänzlich entzogen. Sie sind der Akte in Form von Fotografien zu entnehmen. Vergleichen kann man dies etwa mit polizeilichen Zeugenaussagen. Das Beweismittel für zeugenschaft-

464 465

Siehe hierzu allg. auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 28. Siehe S. 348 ff.

II. Systematik

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liche Bekundungen zu etwaigen Tatsachen stellt nach der Ausgestaltung der StPO bzw. dem Unmittelbarkeitsgrundsatz primär das persönliche Beweismittel „Zeuge“ dar, § 250 StPO.466 Möglichenfalls werden zeugenschaftliche Bekundungen mithin durch persönliche Vernehmung in der Hauptverhandlung eingeführt. Dennoch muss sich eine etwaige Protokollierung der zeugenschaftlichen Vernehmung als Aktenbestandteil in den Akten befinden, um (neben der Schaffung von Beweismaterial) wiederum den Ermittlungsverlauf lückenlos darzustellen. Dass sich das Vernehmungsprotokoll trotz des Vorrangs des Personalbeweises ebenfalls in den Akten befinden muss, zeigt sich zudem an den §§ 251 ff. StPO. Etwaige Fotografien von sachlichen Beweismitteln stellen in gleicher Weise wiederum Informationsträger dar, die mit dem jeweiligen Strafverfahren inhaltlich zusammenhängen. Sieht man die Funktion von Ermittlungsakten insbesondere darin, im späteren Verlauf die Informationsgrundlage für eine nicht auf einer mündlichen Verhandlung beruhenden Entscheidung (etwa über die Anklageerhebung) oder zur Vorbereitung der Hauptverhandlung darzustellen,467 so ließe sich der Grundsatz der Aktenvollständigkeit bzw. -wahrheit schon aus dem Gesamtzusammenhang der §§ 158 ff. StPO, den Vorschriften zum Ermittlungsverfahren, ableiten.468 Dieser Grundsatz begegnet in der StPO allerdings auch Einschränkungen,469 namentlich in § 68 Abs. 4 S. 3, 4 StPO und § 101 Abs. 2 StPO, nach denen bestimmte Unterlagen erst zu einem späteren als dem frühest möglichen Zeitpunkt zu den Akten zu nehmen sind, bzw. § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG, nach dem die Zeugenschutzakten nicht Bestandteil der Ermittlungsakte sein sollen.470 § 101 Abs. 2 StPO bezweckt, die jeweiligen verdeckten Maßnahmen nicht zu gefährden und damit den Schutz der effektiven Strafverfolgung, im Übrigen entspringen die Ausnahmen offensichtlich dem Bedürfnis nach Zeugenschutz. Weiter schränkt § 96 StPO das Aktenvollständigkeitsgebot ein, nach dem Aktenteile und sonstige 466 Siehe zu dem in § 250 StPO normierten Unmittelbarkeitsgrundsatz bzw. Vorrang des Personalbeweises: MüKo-StPO/Kreicker, Bd. 2, § 250, Rn. 1 ff. m. w. N. 467 So etwa LR-StPO/Erb, Bd. 5/2, § 160, Rn. 65; siehe auch BVerfG StV 2017, 361, 362: zur Sicherstellung „[…] einer eigenverantwortlichen […]“ und „ordnungemäße[n] Prüfung durch den Richter […].“; ähnlich Hilger, FS Meyer-Goßner, S. 759; MüKo-StPO/Kölbel, Bd. 2, § 160, Rn. 48; vgl. auch Kleinknecht, FS Dreher, S. 722 f. 468 Vgl. LR-StPO/Erb, Bd. 5/2, § 160, Rn. 65 f.; mitunter auf das Recht auf effektiven Rechtschutz zurückführend: Albrecht HRRS 2017, 446, 458, 457; auf den „verfassungsrechtlich geschützten Anspruch auf angemessene Behandlung seiner Angelegenheit“ zurückführend: BVerfG NJW 1983, 2135, 2135; ähnlich BVerfG StV 2017, 361, 362 m. w. N. 469 Die Einschränkung könnte (von dem eng gefassten Wortlaut des § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG abgesehen) auch dergestalt verstanden werden, dass in den nachfolgenden Fällen die Informationsträger zwar zur Akte gehören, insoweit jedoch keine Einsicht zu gewähren ist. Bei diesem Verständnis würde der Grundsatz der Aktenvollständigkeit/-wahrheit ausnahmslos gelten und nur das Einsichtsrecht Beschränkungen unterliegen. In Literatur und Rspr. wird hierauf soweit ersichtlich jedoch nicht eingegangen. 470 Siehe LR-StPO/Erb, Bd. 5/2, § 160, Rn. 67; wie der Wortlaut von § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG zu interpretieren ist, wird an späterer Stelle gesondert untersucht.

258

B. Einfachgesetzliche Auslegung

Schriftstücke nicht herauszugeben sind, wenn hierdurch dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereitet würden. Der Schutz von Zeugen, der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege und sonstiger Staatswohlbelange kann es demnach gebieten, dass die Akten ausnahmsweise nicht vollständig sind.471 Als weitere Einschränkung des Vollständigkeitsgebots wird in der Literatur auf die in der StPO normierten Vernichtungsvorschriften wie §§ 81a Abs. 3 Hs. 2, 81c Abs. 5 S. 2, 81g Abs. 2 S. 1 Hs. 2, 81h Abs. 3 S. 2, 100d Abs. 2 S. 2, 101 Abs. 8 S. 1, 160a Abs. 1 S. 3, 163c Abs. 3, 163d Abs. 4 S. 2 StPO Bezug genommen472 oder implizit auf § 110b Abs. 3 S. 3 StPO hingewiesen.473 Weiter ließen sich diesbezüglich die §§ 98b Abs. 3 S. 2, 100d Abs. 3 S. 2, 100e Abs. 6 Nr. 2 S. 3, 100g Abs. 4 S. 3, 100i Abs. 2 S. 2, 101a Abs. 4 S. 3, 155 Abs. 4 S. S. 1, 163c Abs. 3, 463a Abs. 4 S. 5, S. 7, 479 Abs. 3 S. 2, 488 Abs. 3 S. 5, 489, 492 Abs. 4a S. 2, S. 3, 493 Abs. 3 S. 4, 494 Abs. 2, 499 StPO anführen. Eine Ausnahme vom Grundsatz der Aktenwahrheit in Gestalt von Hinzufügungen falscher Akteninhalte, etwa derart, dass über oder durch Akteninhalte getäuscht werden darf, ist in der StPO hingegen nicht angelegt.474 Zusammenfassend spricht daher auch der Grundsatz der Aktenvollständigkeit und -wahrheit dafür, die Vorlagepflicht aus § 199 Abs. 2 S. 2 StPO auf das gesamte Ermittlungsmaterial zu erstrecken. Nach dem Vorstehenden kann hiervon lediglich in den eng begrenzten Ausnahmefällen (und dort dann nur als ultima-ratio)475 abgewichen werden. Für den Aktenbegriff in § 147 StPO muss dies bereits deshalb in gleicher Weise gelten, weil sich das Akteneinsichtsrecht in § 147 Abs. 1 StPO explizit auf diesen Aktenumfang bezieht. ee) Die Stellung der Staatsanwaltschaft Gegen das vom historischen Gesetzgeber geforderte weite Aktenbegriffsverständnis könnten weiter Stellung und Funktion der Staatsanwaltschaft, insbesondere die in § 160 Abs. 1, 2 StPO normierte Objektivitätspflicht der Staatsanwaltschaft, flankiert durch das in § 152 Abs. 1 StPO normierte Offizialprinzip,

471

Eingehend Nowrousian NStZ 2018, 254, 258; so bspw. auch SSW-StPO/Rosenau, § 199,

Rn. 8. 472 Vgl. LR-StPO/Erb, Bd. 5/2, § 160, Rn. 67, Fn. 207; MüKo-StPO/Kölbel, Bd. 2, § 160, Rn. 50; krit. zu den Vernichtungsregelungen im Allgemeinen: Hilger NStZ 1997, 371, 373 f. 473 Vgl. Nowrousian NStZ 2018, 254, 258. 474 Die ganz h. M. sieht die Täuschung durch unvollständige/unrichtige Akteninhalte demgemäß als rechtswidrig an: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO/Schmitt, § 147, Rn. 14a, 25a; LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 31; BGH NStZ 2010, 294; BGHSt 62, 123, 142 f.; für eine Ausweitung der Ausnahmen vom Grundsatz der Aktenvollständigkeit spricht sich im Zshg. mit legendierten Kontrollen, soweit ersichtlich ohne Befürworter, etwa Nowrousian NStZ 2018, 254, 258 f., aus. 475 Eingehend zu prozessualen Sicherheitsvorkehrungen, die etwa einer Sperrung eines Zeugen möglichenfalls vorzuziehen sind: Pohlreich, Gehör, S. 24 f. m. w. N. Auf diesen Aspekt wird auf der Ebene der Einsichtsgewährung noch im Detail eingegangen.

II. Systematik

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sprechen. Im Folgenden ist deshalb zu klären, ob der Gesetzgeber bzw. das Gesetz (mittlerweile) von einer derart objektiv, i. S. v. gleichermaßen be- wie entlastend ermittelnd, agierenden Strafverfolgungsbehörde ausgeht, sodass es einer vollständigen Sichtung des Ermittlungsmaterials möglicherweise nicht (mehr) bedarf. Zunächst reicht der Tätigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft weit. Zu den Aufgabenfeldern der Staatsanwaltschaft gehört neben der Führung des Ermittlungsverfahrens (§§ 160, 161 StPO) einschließlich der Mitwirkung im internationalen Rechtshilfeverkehr (vgl. bspw. § 13 Abs. 2 IRG) zum einen die Entscheidung über die Erhebung der Anklage (§ 170 StPO), die Vertretung der Anklage in der Hauptverhandlung (vgl. § 226 Abs. 1 StPO),476 das Einlegen von Rechtsmitteln (§ 296 StPO), die Beantragung eines Wiederaufnahmeverfahrens (§§ 365, 296 StPO), die Durchführung der Strafvollstreckung (§ 451 StPO),477 die Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit nach erhobenem Einspruch (§ 69 Abs. 3, 4 OWiG) und das Einlegen von Anträgen bzw. Rechtsmitteln bei Verfahren zur Todeserklärung (§§ 16 Abs. 2 lit. a, 30 Abs. 1 VerschG). Weiter vertritt die jeweilige (General-) Staatsanwaltschaft in ausgewählten Bereichen ein Bundesland in Zivilgerichtsverfahren (vgl. für Bayern etwa § 5 Abs. 1 Nr. 1, 2 BayVertV478) und die Generalstaatsanwaltschaft oder der Leitende Oberstaatsanwalt ist als Gnadenbehörde des jeweiligen Bundeslandes zur Gnadenentscheidung befugt oder jedenfalls am Gnadenverfahren beteiligt (vgl. für Bremen etwa § 1 Abs. 1 Nr. 2, 3 i. V. m. § 5 Abs. 1 BrGnO479).480 Schließlich ist die Staatsanwaltschaft zu der Führung, Heftung und Bearbeitung strafrechtlicher Akten bis zum Abschluss des Ermittlungsverfahrens und nach Beendigung der gerichtlichen Zuständigkeit befugt und entscheidet in diesem Zeitraum über die Erteilung von Auskünften oder über die Gewährung von Akteneinsicht (vgl. §§ 147 Abs. 5 S. 1, 168b, 480 Abs. 1 StPO und

476 Die Vertretung in der Hauptverhandlung (sog. Sitzungsdienst) wird bspw. in Bayern durch die Behördenleitung geregelt, siehe Nr. 19 Abs. 1 S. 1 der Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz über die Anordnung über Organisation und Dienstbetrieb der Staatsanwaltschaften (OrgStA) vom 16. März 2011 (JMBl. 2011, 53). 477 Wobei die Vollstreckung gem. § 31 Abs. 2 S. 1 RPflG grds. dem Rechtspfleger zu übertragen ist, vgl. hierzu Artkämper/Herrmann/Jakobs/Kruse, Aufgabenfelder, Rn. 712, 850 f. 478 Verordnung über die gerichtliche Vertretung des Freistaates Bayern (Vertretungsverordnung – VertrV) vom 26. Oktober 2021 (GVBl. 2021, 610, BayRS 600-1-F). 479 Allgemeine Verfügung des Senators für Rechtspflege und Strafvollzug über das Verfahren in Gnadensachen (Bremische Gnadenordnung) vom 6. November 1984 (ABl. 1984, 385); zu beteiligen ist die Staatsanwaltschaft etwa gem. § 12 Abs. 1b GnO NW vom 26. November 1975 (GV. NW. 1976, 16), zuletzt geändert am 24. Juni 1987 (JMBl. NW. S. 169). 480 Zu dem vorstehend dargestellten Aufgabenfeld: Heghmanns/Herrmann, Arbeitsgebiet, S. 1 f., Rn. 1–3; Kunigk, Tätigkeit, S. 19; Zehetgruber, Strafverfahrensrecht, S. 99.

260

B. Einfachgesetzliche Auslegung

für Bayern etwa i. V. m. §§ 52 lit. a, c, 47 BayAktO481).482 Die für die Auslegung von § 199 Abs. 2 S. 2 StPO relevanten Vorschriften aus dem Bundesrecht483 belegen für sich genommen zwar, dass das Gesetz der Staatsanwaltschaft ein weitreichendes Vertrauen entgegenbringt. Zwingende Rückschlüsse auf ein Aussonderungsrecht der Staatsanwaltschaft bzw. gegen ein weites Begriffsverständnis, wie es dem historischen Gesetzgeber vorschwebte, kann den vorstehenden Normen, insbesondere § 480 Abs. 1 StPO, indes nicht entnommen werden. Es bedarf folglich einer genaueren Auseinandersetzung mit der Stellung und Funktion der Staatsanwaltschaft. Gemäß dem Offizialprinzip kommt der Staatsanwaltschaft das grundsätzliche484 Anklagemonopol zu, sie bestimmt den Verfahrensgegenstand, § 155 Abs. 1 StPO.485 Insofern könnte sie auch ein Entscheidungsrecht darüber haben, welcher Teil des Ermittlungsmaterials dem Gericht zu übersenden ist. Ferner ist die Staatsanwaltschaft als sog. Gesetzeshüterin486 – und nicht als Verfahrenspartei487 – zur Ermittlung der be- und entlastenden Umstände und in diesem Sinne zur objektiven Ermittlung als objektives Strafverfolgungsorgan verpflichtet,488 § 160 481 Aktenordnung (AktO) für die Geschäftsstellen der Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Staatsanwaltschaften (AktO) – Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz über die Aktenordnung (AktO) für die Geschäftsstellen der Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Staatsanwaltschaften vom 13. Dezember 1983 (JMBl. 1984, 13), zuletzt geändert durch Bekanntmachung vom 18. Dezember 2019 (BayMBl. 2020 Nr. 25). 482 Vgl. Heghmanns/Herrmann, Arbeitsgebiet, S. 17 ff., Rn. 58 ff.; zur Arbeitstechnik bzgl. der Akten eingehend: dies. a. a. O. S. 16 ff.; Artkämper/Herrmann/Jakobs/Kruse, Aufgabenfelder, Rn. 36 ff. 483 Vgl. zu dieser für die Rechtsanwendung verbindlichen Normen-/Rechtsquellenhierarchie bzw. dem geltenden Stufenaufbau: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 272 ff. 484 Zur Durchbrechung des positiven Anklagemonopols in Steuerstrafsachen oder bei Privatklagedelikten: LR-StPO/Mavany, Bd. 5/1, § 152, Rn. 6 ff. 485 MüKo-StPO/Peters, Bd. 2, § 152, Rn. 18 f., 21; zum Legalitätsprinzip als notwendiges Korrelat zum Anklagemonopol und weiteren Legitimationsansätzen: LR-StPO/Mavany, Bd. 5/1, § 152, Rn. 15. 486 MüKo-StPO/Kölbel, Bd. 2, § 160, Rn. 17; vgl. auch BVerfGE 133, 168, 219 ff. 487 Statt vieler Lindemann, Ermittlungsrechte, S. 122 f. m. w. N.; krit. vor dem Hintergrund des Auftretens der Staatsanwaltschaft in der Praxis und des Umstandes, dass in der Hauptverhandlung seitens der Staatsanwaltschaft von einem hinreichenden Tatverdacht ausgegangen wird: Zehetgruber, Strafverfahrensrecht, S. 298 m. w. N. 488 Dennoch geht die verbreitete Einordnung der Staatsanwaltschaft als die „objektivste Behörde der Welt“ offenbar auf eine verfälscht übernommene Redewendung von Franz von Liszt zurück, mit der er ironischerweise genau das Gegenteil zum Ausdruck brachte; zur Rede beim Berliner Anwaltsverein am 23.03.1901: v. Liszt DJZ 1901, 179, 180: „[…] die Parteistellung der Staatsanwaltschaft ist allerdings durch unsere Prozeßordnung besonders verdunkelt worden. Durch die Aufstellung des Legalitätsprinzips, durch die dem Staatsanwalt auferlegte Verpflichtung, in gleicher Weise Entlastungs- wie Belastungsmomente zu prüfen, durch das ihm eingeräumte Recht, Rechtsmittel zu Gunsten des Beschuldigten einzulegen, u.s.w. könnte ein bloßer Civiljurist zu der Annahme verleitet werden, als wäre die Staatsanwaltschaft nicht Partei, sondern die objektivste Behörde der Welt. Ein Blick in das Gesetz

II. Systematik

261

Abs. 1, 2 StPO.489 Diese gesetzgeberische Wertung oder der ihr hiermit zugeschriebene „Vertrauensvorschuss“ könnte unterlaufen werden, wenn man der Staatsanwaltschaft aufbürden würde, das gesamte Ermittlungsmaterial dem Gericht offenzulegen. Auch die Befugnis der Staatsanwaltschaft zur Leitung der Ermittlungen gem. §§ 161 Abs. 1, 160 Abs. 1 StPO,490 also die Ermittlungsherrschaft der Staatsanwaltschaft als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“,491 könnte einer vollständigen Aktenvorlagepflicht entgegenstehen, insbesondere mit Blick auf die gem. § 150 GVG geltende Unabhängigkeit gegenüber den Gerichten.492 Andererseits ist das Ermittlungsverfahren für die späteren Verfahrensabschnitte prägend493 und nach langjähriger Fehlurteilsforschung entstammt ein Großteil der Fehlerquellen diesem Verfahrensabschnitt,494 sodass die Sichtung des Ermittlungsmaterials eine hohe Bedeutung hat. Zudem unterliegen die Staatsanwaltschaften bzw. die dort beschäftigten Staatsanwälte gem. den §§ 146 f. GVG einem internen und externen Weisungsrecht,495 sodass sie ihre Entscheidungen nicht völlig frei treffen können, wie dies etwa für Richter gilt, Art. 97 Abs. 1 GG, § 25 DRiG.496 Dies beeinträchtigt in gewisser Weise die Objektivität,497 reicht aber aus, um diese Entgleisung als solche zu erkennen. Es genügt der Hinweis auf § 147 GVG.: ,Die Beamten der Staatsanwaltschaft sind verpflichtet, den dienstlichen Anweisungen ihrer Vorgesetzten nachzukommen.‘ Auf Anweisung hin hat der StA. auf Verurteilung zu plädieren, auch wenn er von der Unschuld des Angeklagten überzeugt ist, und umgekehrt. […]“; siehe hierzu Püschel StraFo 2015, 269, 276; dem folgend auch Zehetgruber, Strafverfahrensrecht, S. 137; die Redewendung gebrauchen etwa: Artkämper/Herrmann/Jakobs/ Kruse, Aufgabenfelder, S. V, Rn. 3; Lindemann, Ermittlungsrechte, S. 121 m. w. N. 489 Eingehend Combe´, Staatsanwaltschaft, S. 51 f. 490 Siehe hierzu SK-StPO/Wohlers/Deiters, Bd. 3, § 160, Rn. 2 ff. 491 Lindemann, Ermittlungsrechte, S. 47 m. w. N.; vgl. LR-StPO/Mavany, Bd. 5/1, § 152, Rn. 2; vgl. auch Heghmanns/Herrmann, Arbeitsgebiet, S. 93, Rn. 356, die synonymartig von der „Herrin des Vorverfahrens“ sprechen. 492 Vgl. Combe´, Staatsanwaltschaft, S. 52. 493 Reinhardt, Der Ausschluß, S. 22 m. w. N.; Combe´, Staatsanwaltschaft, S. 95 f. m. w. N.; Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 7 ff.; eingehend auch Schlothauer StV 2016, 607, 608 f. m. w. N. 494 Eingehend Püschel StraFo 2015, 269 m. w. N.; eingehend zu konkreten Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren: ders. a. a. O. passim. 495 LR-StPO/Krauß, Bd. 11, § 146 GVG, Rn. 1. 496 Vgl. eingehend Zehetgruber, Strafverfahrensrecht, S. 96 ff. m. w. N.; Die Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft war auch schon Gegenstand der Entwurfsberatung zur Einführung der RStPO im Jahr 1876, vgl. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1869: „Wir haben die Staatsanwaltschaft in Uebereinstimmung mit der Auffassung der Bundesregierung als ein den Befehlen der vorgesetzten Staatsbehörden unbedingt gehorchendes Institut hingestellt, und festgestellt, daß jeder Beamte der Staatsanwaltschaft den Anordnungen seines Vorgesetzten unbedingt Folge leisten muß. Dieser Unselbstständigkeit der Staatsanwaltschaft gegenüber ist, wenn wir das Loyalitätsprinzip, d.h. den Grundsatz, daß jedes Verbrechen verfolgt werden und zur Aburtheilung durch das Gericht gelangen muß, durchführen wollen, das einzige Gegengewicht in der Beschwerde an das Gericht zu finden.“ 497 Zu den dienstlichen Anweisungen zählen bspw. Weisungen betreffend die Sachbehandlung oder Rechtsanwendung im Einzelfall, wie bspw. die Einlegung/Zurücknahme von

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

was für die Stellung der deutschen Staatsanwaltschaft kürzlich auch der EuGH betonte.498 Unabhängig hiervon, kann das heutige Verständnis der Staatsanwaltschaft von einem „den Zielen der Wahrheitsfindung und Gerechtigkeit verpflichtetes Organ der Strafrechtspflege“499 nicht für die Annahme eines mittlerweile gesetzlichen oder gesetzgeberischen Wandels herangezogen werden, der den historischen Gesetzgeberwillen zu verdrängen vermag. Denn der historische Gesetzgeber forderte bei Einführung der RStPO ein weites Aktenbegriffsverständnis, obwohl der Staatsanwaltschaft auch schon zu dieser Zeit die Objektivitätsverpflichtung auferlegt wurde; § 158 Abs. 2 RStPO lautete: „Die Staatsanwaltschaft hat nicht blos die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln und für die Erhebung derjenigen Beweise Sorge zu tragen, deren Verlust zu besorgen steht.“500 Die Vorschrift weicht sprachlich nur geringfügig von der heutigen Vorschrift des § 160 Abs. 2 StPO ab.501 Gleiches gilt für die Ermittlungsleitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft, welche auch schon in den §§ 158 Abs. 1, 159 RStPO vorgesehen war.502 Gleichwohl gehen Stimmen aus der Literatur, die der Staatsanwaltschaft ein naturgemäß beschuldigtenunfreundliches Vorgehen unterstellen,503 an der gesetzgeberischen Konzeption seit Einführung der RStPO vorbei.504 Auch das der StPO zugrundeliegende Verständnis von Haltung, Zielsetzung und Verantwortungsbewusstsein der Staatsanwaltschaft pauschalisierend als eine „in die Rechtsord-

Rechtsmitteln: LR-StPO/Krauß, Bd. 11, § 146 GVG, Rn. 5; eingehend, auch zur Umsetzung einer in gewisser Weise „vollkommen“ objektiven Staatsanwaltschaft: Combe´, Staatsanwaltschaft, S. 58 ff., 149 ff. 498 EuGH [GK], Urt. v. 27.05.2019, C-508/18, C-82/19 PPU, OG und PI, ECLI:EU: C:2019:456, Rn. 80 ff.; hierzu Schubert NJW 2019, 2150, 2150. 499 SK-StPO/Wohlers/Deiters, Bd. 3, § 160, Rn. 31 m. w. N. 500 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 2419. 501 Hierzu auch SK-StPO/Wohlers/Deiters, Bd. 3, § 160, Rn. 1. 502 § 158 Abs. 1 RStPO lautete: „Sobald die Staatsanwaltschaft durch eine Anzeige oder auf anderem Wege von dem Verdacht einer strafbaren Handlung Kenntniß erhält, hat sie behufs ihrer Entschließung darüber, ob die öffentliche Klage zu erheben sei, den Sachverhalt zu erforschen.“; § 159 RStPO lautete: „Zu dem im vorstehenden Paragraphen bezeichneten Zwecke kann die Staatsanwaltschaft von öffentlichen Behörden Auskunft verlangen und Ermittlungen jeder Art, mit Ausschluß eidlicher Vernehmungen, entweder selbst vornehmen oder durch die Behörden und Beamten des Polizei- und Sicherheitsdienstes vornehmen lassen. Die Behörden und Beamten des Polizei- und Sicherheitsdienstes sind verpflichtet, dem Ersuchen oder Auftrage der Staatsanwaltschaft zu genügen.“; abgedruckt jeweils bei Hahn/ Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 2419. 503 Vgl. beispielhaft Kroneder ZStW 7 (1887), 395, 416: „Es ist irrig, anzunehmen, daß der Staatsanwalt, um unbegründete Anklagen zu vermeiden, den Entlastungsbeweis in ausreichender Weise berücksichtigen werde; die Natur der Sache führt dazu, daß der Staatsanwalt als Anklagebehörde auch das Interesse der Anklage besonders wahrnimmt und Verteidigungsbeweise besonders dann beiseite läßt, wenn ihm die Sache bereits aufgeklärt erscheint.“ 504 Vgl. Combe´, Staatsanwaltschaft, S. 6, 51 ff.

II. Systematik

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nung verpflanzte ,Lebenslüge‘“ zu beschreiben,505 entspricht nicht der Ausgestaltung der StPO und wird sicherlich auch der Praxis der Staatsanwaltschaften nicht gerecht. Weiter stellt die Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft zwar einen wesentlichen Unterschied zur Judikative dar, jedoch könnte eine „weisungsfreie Objektivität“ für ein Entscheidungsmonopol über den zu übersendenden Akteninhalt nicht zwingend erforderlich sein, sind Staatsanwaltschaft und Anweisende doch ebenso wie ein Gericht der Wahrung des Rechts verpflichtet.506 Dass das Gericht bei vollständiger Einsicht in das Informationsmaterial betreffend den jeweiligen Verfahrensgegenstand den Verlauf der staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit umfassend überprüfen oder kontrollieren könnte, obwohl das Gesetz der Staatsanwaltschaft in gewisser Hinsicht Objektivität attestiert bzw. vorschreibt, kann aus nachfolgenden Gründen dennoch nicht als Argument gegen ein weites Begriffsverständnis dienen. Zunächst ist die Assoziation der Staatsanwaltschaft mit dem Bedürfnis nach Kontrolle so alt wie die Existenz der Staatsanwaltschaft selbst.507 Hatte die Staatsanwaltschaft ursprünglich die Aufgabe, die Gerichte zu kontrollieren,508 wandelte sich die Funktion im Laufe der Zeit vom Kontrollorgan zum kontrollierten Organ.509 Insbesondere die Gewaltenteilung basiert auf dem Gedanken, dass staatliche Organe oder Institutionen fehlbar sind und die Entscheidung eines Organs der Kontrollmöglichkeit eines anderen Organs unterliegen muss.510 Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft der Überprüfung oder Kontrolle eines Gerichts zuzuführen, stünde folglich jedenfalls mit dem Aspekt der Gewaltenteilung, hier besser: der Funktionentrennung,511 im Einklang.512 505 So ausdrücklich Leß JR 1951, 193, 195; hierauf bezugnehmend Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 17. 506 Eingehend LR-StPO/Krauß, Bd. 11, § 146 GVG, Rn. 8, 13 ff. 507 Dengler, Kontrolle, S. 51, 71; eingehend zu den Gründen für die Einführung und der geschichtlichen Entwicklung der Staatsanwaltschaft: Wohlers, Entstehung, S. 43 ff. m. z. N. 508 Eingehend Dengler, Kontrolle, S. 51 ff. m. w. N.; Zehetgruber, Strafverfahrensrecht, S. 95 m. w. N.; vgl. auch Heghmanns/Herrmann, Arbeitsgebiet, S. 2, Rn. 4; Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 13 f. 509 Dengler, Kontrolle, S. 55 ff. m. w. N. 510 Dengler, Kontrolle, S. 67; siehe auch BVerfGE 3, 225, 247; 7, 183, 188; 9, 268, 279 f.; 22, 106, 111. 511 Da die Stellung der Staatsanwaltschaft immer noch umstritten und nach einer Auffassung (mehr oder minder) der Judikative zuzuordnen ist, würde es sich hiernach um dieselbe Gewalt handeln, weshalb der Begriff der Funktionentrennung mit allen hierzu ergangenen Auffassungen vereinbar ist; vgl. allg. zum Begriff der Funktionentrennung: Stern, Staatsrecht, Bd. 2, S. 530; ders., Staatsrecht Bd. 1, S. 795 f.; Sachs-GG/ders., Art. 20, Rn. 90 f.; zum Meinungsstand über die Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft: Wohlers, Entstehung, S. 23 ff. m. w. N.; Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 16 ff. m. w. N. 512 Zur indirekten Kontrolle der Strafverfolgungstätigkeit bzgl. möglicher unberechtigter Einstellung bzw. Verfolgung: SK-StPO/Weßlau/Deiters, Bd. 3, Vor §§ 151 ff., Rn. 37; zur behördeninternen Kontrolle über § 146 GVG und zur indirekten Kontrolle über § 258a StGB einerseits und §§ 164, 344 StGB andererseits: dies. a. a. O. Rn. 38 f.

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Hinzu kommt, dass das Objektivitätspostulat auf Art. 20 Abs. 3 GG zurück geht513 und folglich ebenso die Gerichte bindet;514 Letzteres konkretisiert § 244 Abs. 2 StPO einfachgesetzlich.515 Dennoch soll die Staatsanwaltschaft nach dem Leitbild der StPO an den gerichtlichen Entscheidungen weitestgehend mitwirken können und umgekehrt. Die Objektivitätspflicht vermag an einer Überprüfbarkeit des jeweiligen Handelns prinzipiell also nichts zu ändern. So befürwortet die StPO im Allgemeinen eine gegenseitige Kontrolle von Gericht und Staatsanwaltschaft. Dies wird zum einen an den in §§ 81 Abs. 1, 81a Abs. 2 S. 1, 81c Abs. 3 S. 3, 5 S. 1 Hs. 1, 6 S. 2, 81f Abs. 1 S. 1, 81g Abs. 3 S. 1, 2, 81h Abs. 2 S. 1, 87 Abs. 4 S. 1 Hs. 1, 98 Abs. 1, 98b Abs. 1 S. 1, Abs. 2, 100 Abs. 1, Abs. 3 S. 1, 100e Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1, 100j Abs. 3 S. 1, 101a Abs. 6 S. 2, 105 Abs. 1 S. 1, S. 2 Hs. 1, 111 Abs. 2 Hs. 1, 111a Abs. 1 S. 1, 111j Abs. 1 S. 1, 111q Abs. 4 S. 1, 114 Abs. 1, 127b Abs. 3, 131c Abs. 1 S. 1, 132 Abs. 2, 148a Abs. 1 S. 1, 161a Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 2, 163 Abs. 3 S. 3, Abs. 4 S. 1 Nr. 4 Hs. 2, 163d Abs. 2 S. 1, 443 Abs. 2 S. 1, 163e Abs. 4 S. 1, 163f Abs. 3 S. 1 StPO normierten Richterbzw. Gerichtsvorbehalten516 deutlich. Andererseits sind in den §§ 13 Abs. 2, 24 Abs. 3 S. 1, 33 Abs. 1, 2, 74 Abs. 2 S. 1, 100e Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1, 100j Abs. 3 S. 1, 110b Abs. 1 S. 1, 118a Abs. 1, 122 Abs. 1, 124 Abs. 2 S. 3, 126 Abs. 2 S. 4 Hs. 1, 138d Abs. 2 S. 3, 141 Abs. 3 S. 3, 4, 153 Abs. 2 S. 1, 154a Abs. 3 S. 2, 154b Abs. 4 S. 1, 159 Abs. 2, 168c Abs. 1, 2, 168d Abs. 1 S. 1, 174 Abs. 1, 213 Abs. 2, 214 Abs. 3, 219 Abs. 2, 222 Abs. 1 S. 1, 222a Abs. 2, 224 Abs. 1 S. 1 Hs. 1, S. 3, 225, 226 Abs. 1, 233 Abs. 3 S. 1 Hs. 1, 240 Abs. 2 S. 1, 245 Abs. 1 S. 2, 246 Abs. 3, 248 S. 2, 249 Abs. 2 S. 2, 251 Abs. 1 Nr. 1, 2, Abs. 2 Nr. 3, 255, 257 Abs. 2, 257c Abs. 3 S. 4, 258 Abs. 1, 2 Hs. 1, 273 Abs. 3 S. 1, 296 Abs. 1, 323 Abs. 2 S. 4, 324 Abs. 1 S. 2 Hs. 2, 325 Hs. 2, 326 S. 1, 347 Abs. 1 S. 1, 349 Abs. 2, 351 Abs. 2 S. 1, 354 Abs. 1, 1a S. 2, 369 Abs. 3 S. 1, Abs. 4, 371 Abs. 2, 377 Abs. 2 S. 1, 389 Abs. 2, 396 Abs. 2 S. 1, 406h Abs. 1 S. 3 Hs. 1, 407 Abs. 1 S. 1, 408 Abs. 1 S. 1 Hs. 2, 411 Abs. 1 S. 3 Hs. 1, 415 Abs. 2 S. 2, 418 Abs. 1 S. 1, 420 Abs. 3, 421 Abs. 1, 2 S. 2, 3 S. 1, 423 Abs. 4 S. 2, 433 Abs. 5, 434 Abs. 3 S. 1 Hs. 1, 435 Abs. 1 S. 1, 453 Abs. 1 S. 2, 454 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 3, S. 4, Abs. 3 S. 2, 462 Abs. 2 S. 1, 3 S. 2 StPO Anwesenheits-, Mitwirkungs- oder Benachrichtigungsrechte der Staatsanwaltschaft vorgesehen, wodurch wiederum die Kontrolle durch die Staatsanwaltschaft gewährleistet werden soll.517 513 Vgl. MüKo-StPO/Kölbel, Bd. 2, § 160, Rn. 79: „[…] infolge ihrer Rechtsbindung […].“; vgl. auch LR-StPO/Erb, Bd. 5/2, § 160, Rn. 1, 36, 51, 53. 514 BVerfG StV 2017, 361, 362. 515 Vgl. MüKo-StPO/Kölbel, Bd. 2, § 160, Rn. 2 m. w. N. 516 Wenngleich sich Stimmen mehren, wonach der Kontrollqualität des Richtervorbehaltes strukturelle Probleme in der praktischen Umsetzung/Handhabung anhaften, vgl. hierzu eingehend: Hüls, Ermittlungstätigkeit, S. 288 ff. m. w. N.; vgl. auch Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 15 f., der die Existenz von Richtervorbehalten für die Annahme anführt, das Gesetz gehe davon aus, dass die Staatsanwaltschaft zumindest nicht in jedem Fall eine ausreichende Objektivität gewährleisten könne. 517 Auf einzelne hier (un)benannte Vorschriften bezugnehmend: Dengler, Kontrolle, S. 68 f.; zu den einzelnen Kontrollmechanismen: ders. a. a. O. S. 72 ff.

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Weiter kann das Verhalten bzw. die Entscheidung der Staatsanwaltschaft in vielerlei Konstellationen zur gerichtlichen Überprüfung gestellt werden, vgl. §§ 101 Abs. 7 S. 2, 111j Abs. 2 S. 3, 111k Abs. 3, 111 m Abs. 2, 111o Abs. 2, 111p Abs. 5 S. 1, 147 Abs. 5 S. 2, 161a Abs. 3 S. 1, 2, 163 Abs. 5 S. 1, 163a Abs. 3 S. 3, 172 Abs. 2 S. 1, 406e Abs. 4 S. 2 StPO. Der Staatsanwaltschaft steht wiederum vermehrt die Möglichkeit zu, ein richterliches oder gerichtliches Verhalten von anderer Stelle gerichtlich überprüfen zu lassen, vgl. §§ 46 Abs. 3, 138d Abs. 6 S. 1, 310 Abs. 1, 423 Abs. 3 S. 2, 434 Abs. 2, 453 Abs. 2, 454 Abs. 3, 462 Abs. 3, 464 Abs. 3 S. 1 StPO. Der Gedanke der Funktionentrennung kommt auch in weiteren Normen zum Ausdruck. Beispielsweise muss die Staatsanwaltschaft kernbereichsrelevante Daten, die durch Maßnahmen nach § 100b StPO erlangt wurden, entweder unverzüglich löschen oder dem anordnenden Gericht zur Entscheidung über die Verwertbarkeit vorlegen, 100d Abs. 3 S. 2 StPO; dieser Gedanke findet ebenfalls in § 100d Abs. 4 S. 4 Hs. 1, S. 5 StPO seinen Niederschlag. Zudem muss die Staatsanwaltschaft für eine Benachrichtigungszurückstellung nach dem Ablauf von zwölf Monaten eine gerichtliche Zustimmung einholen, § 101 Abs. 6 S. 1 StPO. Für den Einsatz eines verdeckten Ermittlers gilt unter Umständen auch ein Zustimmungserfordernis des Gerichts, § 110b Abs. 2 S. 1 StPO. Genauso wie die Staatsanwaltschaft kann auch das Gericht verlangen, dass die Identität eines verdeckten Ermittlers offenbart wird, 110b Abs. 3 S. 2 StPO. Erkenntnisse, die durch den Untersuchungshaftvollzug erlangt wurden, werden von der Vollzugsanstalt sowohl der Staatsanwaltschaft als auch dem Gericht von Amts wegen übermittelt, § 114e S. 1 StPO. Von der strafrechtlichen Verfolgung kann die Staatsanwaltschaft grundsätzlich nur dann (vorläufig) absehen, wenn unter anderem auch das Gericht zustimmt, §§ 153 Abs. 1 S. 1, 153a Abs. 1 S. 1, 153e Abs. 1 S. 1 StPO. Nach Klageerhebung bedarf eine vom Gericht begehrte vorläufige Verfahrenseinstellung wiederum unter anderem der Zustimmung der Staatsanwaltschaft, § 153a Abs. 2 S. 1 StPO. Von der Erhebung der öffentlichen Klage kann die Staatsanwaltschaft unter bestimmten Voraussetzungen nur mit der Zustimmung des Gerichts absehen, § 153b Abs. 1 StPO. Eine gegenseitige Kontrolle ist auch bei der (vorläufigen) Einstellung des Verfahrens nach Klageerhebung vorgesehen, §§ 153b Abs. 2, 154 Abs. 2, 154b Abs. 4 S. 1 StPO. Ähnliches ergibt sich für die Vornahme bestimmter Beschränkungen nach Einreichung der Anklageschrift, § 154a Abs. 2 StPO. Gegen den modifizierten Eröffnungsbeschluss oder den Ablehnungsbeschluss steht der Staatsanwaltschaft die sofortige Beschwerde zu, § 210 Abs. 2 StPO. Die Staatsanwaltschaft kann im Laufe der Beweisaufnahme Beweisanträge stellen, vgl. § 244 Abs. 3 bis 6 StPO. Um die Rechtsfolgen einer Tat durch schriftlichen Strafbefehl ohne Hauptverhandlung festzusetzen, bedarf es ebenfalls einer willentlichen Entscheidung der Staatsanwaltschaft, vgl. § 407 Abs. 1 S. 1 StPO. Die Anrechnung einer im Ausland erlittenen Freiheitsentziehung unter bestimmten Voraussetzungen zu unterlassen, bedarf ebenfalls eines Antrages der Staatsanwaltschaft, 450a Abs. 3 S. 1 StPO.

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Alle vorbenannten Vorschriften sind darauf ausgelegt, dass das Gericht das Verhalten bzw. die Entscheidung der Staatsanwaltschaft und die Staatsanwaltschaft nahezu spiegelbildlich das Gericht kontrolliert bzw. überprüft, mag auch die Rechtspraxis insbesondere der Judikative in den letzten Jahren eine faktisch nahezu unkontrollierbare Opportunitäts-„Macht“ der Staatsanwaltschaft durch Informalisierung geschaffen bzw. gefördert haben.518 Diese Kontrolle oder Überprüfung ist für den jeweiligen Regelungsgegenstand auch vollständig bzw. umfassend vorgesehen. Nach Velten „[soll] [d]er Anklagegrundsatz durch die Verfahrensgestaltung, durch die Trennung von Anklage und Urteil, dazu beitragen, dass das gerichtliche Verfahren die Struktur einer Triade erhält.“519 Obgleich das Zwischenverfahren nicht den Zweck verfolgt, die Staatsanwaltschaft zu kontrollieren, kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass zumindest die Bewertung der Staatsanwaltschaft, dass das Ermittlungsverfahren den hinreichenden Tatverdacht einer Person ergeben hat, einer gerichtlichen Kontrolle i. S. e. „Vier-Augen-Prinzips“ unterzogen werden soll.520 Die Stellung und Funktion der Staatsanwaltschaft kann einer umfassenden Vorlagepflicht auch aus einem weiteren Grund nicht entgegenstehen. Dass das inquirierende Organ das Hauptverfahren eröffnet und über sein eigenes Ermittlungsergebnis urteilt, gehört schließlich längst und zu Recht der Vergangenheit an. Diese wesentliche Veränderung war gerade der Hintergrund für die Einführung eines öffentlichen Anklägers.521 Aus dem gesamten Ermittlungsmaterial die (vermeintlich) wesentlichen von den unwesentlichen Informationen i. R. e. schriftlichen, nichtöffentlichen Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft zu trennen, sodass diese nun ihr eigens gesammeltes Ermittlungsmaterial zu bewerten hat, kommt dem Ablauf des reinen Inquisitionsprozesses gleich. Die Kritik an der Heimlichkeit des Verfahrens (etwa bezeichnet als „ein Grundübel des Inquisitionsprozesses“)522 würde bei engerem Aktenbegriffsverständnis heutzutage ebenso berechtigt sein wie zu damaliger Zeit.523 Entgegen dem Führerprinzip aus dem Dritten Reich,524 welches glücklicherweise ebenfalls überwunden ist, soll jedwede staatliche Macht – dazu muss auch 518

Eingehend Hüls, Ermittlungstätigkeit, S. 214 ff. m. w. N. SK-StPO/Velten, Bd. 5, § 264, Rn. 16. 520 Siehe hierzu im Zshg. mit der Schuldfeststellung: SK-StPO/Velten, Bd. 5, § 264, Rn. 16; ähnlich offenbar Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 53. 521 Eingehend Hackner, Staatsanwalt, S. 6 ff.; Lindemann, Ermittlungsrechte, S. 116 ff., 159 ff. m. w. N. 522 Hüls, Ermittlungstätigkeit, S. 223. 523 Eingehend zur im Zusammenhang mit der staatsanwaltschaftlichen Praxis stehenden und zu befürchtenden Rückentwicklung des Strafprozesses hin zum Inquisitionsprozess: Hüls, Ermittlungstätigkeit, S. 221 ff. m. w. N. 524 Anstatt des Eröffnungsbeschlusses wurde gem. dem geänderten § 198 S. 2 RStPO lediglich die Anordnung durch den Vorsitzenden gefordert, sodass die Hauptverhandlung unter vereinfachten Voraussetzungen durchgeführt werden konnte, vgl. die Verordnung über die Beseitigung des Eröffnungsbeschlusses im Strafverfahren vom 13.08.1942, RGBl. 1942 I, 512; siehe auch den Führererlaß vom 21.03.1942, RGBl. 1942 I, 139, umgesetzt durch Art. 1 der 519

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diejenige gehören, zu entscheiden, was aus dem Ermittlungsmaterial dem Zwischenverfahren zugeführt wird und somit die Prüfungsgrundlage für die Verdachtsfrage sein soll – nicht bei einem Organ oder einer Institution konzentriert sein.525 Die StPO normiert an den vorbenannten Stellen ein Misstrauen gegen staatliche Organe und Institutionen,526 welches bei der Auslegung der strafprozessualen Überprüfungsvorschriften zu berücksichtigen ist. Die Gewalten- oder Funktionentrennung soll garantieren, dass jedes Organ oder eine Organgruppe ihre Funktion in einer Weise wahrnimmt, dass über den Kernbereich einer Funktion nicht ein anderes Organ allein verfügen kann.527 Die Überprüfung, ob die Ermittlungen einen hinreichenden Tatverdacht begründen, stellt ebendiese Kernfunktion des Zwischenverfahrens dar, die nicht zur Disposition der Staatsanwaltschaft steht. (Kern-)Kompetenzzuordnungen, wie etwa § 160 Abs. 1 StPO und letztlich auch § 199 Abs. 2 S. 2 StPO, sind demzufolge „im Lichte von Machtbegrenzung und Machtkontrolle“528 zu lesen.529 Positiv formuliert, kann man die erkennbare gesetzgeberische Wertung mit Wagner auch wie folgt zusammenfassen: „So zeigt sich schon an Hand dieser wenigen Beispiele eine so enge Verpflechtung [sic] und Verknüpfung, daß die Durchführung eines Strafverfahrens ohne die gemeinsame, Hand in Hand arbeitende Tätigkeit beider Teile gar nicht möglich ist. Der Richter ist auf den Staatsanwalt, dieser auf den Richter angewiesen, und unbeschadet ihrer gegenseitigen Unabhängigkeit (§ 206 StPO, § 150 GVG) ergänzen sich beide Teile doch fortwährend wie die Zahnräder eines Uhrwerks. Der Staatsanwalt ist nicht der Gegenspieler, sondern der Streitgenosse des Richters im Kampf um das Recht, dem beide viribus unitis dienen, und er hat seinen Anteil an der richterlichen Jurisdiktion.“530

Die StPO lässt dieses elementare Leitprinzip eindeutig erkennen, unabhängig davon, ob der Machtmonopolarisierung531 im konkreten Fall durch Überprüfung, Kontrolle oder Korrektur entgegengewirkt werden soll. Das Gericht soll die Entscheidung der Staatsanwaltschaft i. R. d. Zwischenverfahrens eigenstän-

Verordnung zur weiteren Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 13.08.1942, RGBl. 1942 I, 508; eingehend hierzu: SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4, Vor §§ 198 ff., Rn. 1d; LRStPO/Stuckenberg, Bd. 5/2, Vor § 198, unter „Entstehungsgeschichte“. 525 Eingehend zur Gewaltenteilung und Funktionentrennung/-hemmung: Stern, Staatsrecht Bd. 1, S. 792 ff. m. z. N.; Dengler, Kontrolle, S. 67 m. w. N. 526 Eingehend Dengler, Kontrolle, S. 67 ff. 527 Stern, Staatsrecht, Bd. 1, S. 795; siehe auch BVerfGE 9, 268, 279, und wortgleich BVerfGE 22, 106, 111: „[…] keine Gewalt darf ein von der Verfassung nicht vorgesehenes Übergewicht über die andere Gewalt erhalten, und keine Gewalt darf der für die Erfüllung ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben erforderlichen Zuständigkeiten beraubt werden“. 528 Stern, Staatsrecht, Bd. 2, S. 530. 529 Ähnlich im Zshg. mit Spurenakten und § 199 Abs. 2 S. 2 StPO: Dünnebier StV 1981, 504, 506; Peters NStZ 1983, 275, 276. 530 Wagner NJW 1963, 8, 9; hierauf z. T., wenn auch unter Angabe einer Sekundärquelle, bezugnehmend: Dengler, Kontrolle, S. 68. 531 Eingehend hierzu Dengler, Kontrolle, S. 67 m. w. N.

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dig überprüfen, wobei gegen eine vom Antrag der Staatsanwaltschaft abweichende Entscheidung des Gerichts wiederum sofortige Beschwerde eingelegt werden kann, vgl. §§ 199 Abs. 1, 210 Abs. 2 StPO. Dem Gericht nur einen ausgewählten Teil des Ermittlungsmaterials zukommen zu lassen, hieße, einem staatlichen Organ entgegen der gesetzlichen Konzeption eine Monopolstellung in einem bestimmten Bereich zu belassen und der Staatsanwaltschaft die Verfügung über einen Teil des Kernbereichs der Zwischenverfahrensfunktion zu gestatten.532 Beides gilt es nach zuvor Gesagtem zu vermeiden. Es wäre mithin auch vor diesem Hintergrund systemwidrig, die Verdachtsfrage anhand des Ermittlungsstoffes nicht einer vollständigen, sondern nur einer teilweisen Überprüfung zu unterziehen. Insofern vermag auch das Offizialprinzip, die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft gegenüber dem Gericht oder § 155 Abs. 1 StPO letztlich nichts an dem bisherigen Auslegungsergebnis zu ändern. ff) Die Zuständigkeit zur Aktenführung als Differenzierungskriterium Wenn nun herausgearbeitet wurde, dass die Staatsanwaltschaft dem Gericht aus historischen und systematischen bzw. teleologischen Gründen das gesamte im Zusammenhang mit einem Ermittlungsverfahren entstandene oder angesammelte Informationsmaterial vorlegen muss, fragt sich, was zu diesem „gesamten Material“ zählt. Es wurde bereits herausgearbeitet, dass es hierzu nicht notwendig eines Zuführungsaktes bedarf. Insofern kann bis hierhin festgestellt werden, dass vorbehaltlich der weiteren Untersuchung jedenfalls all die Informationsträger als Aktenbestandteile anzusehen sind, die sich bei den Strafverfolgungsbehörden angesammelt haben. Der weite Aktenbegriff bezog sich nach dem Willen des historischen Gesetzgebers dabei auf diejenigen Informationsträger, die sich bei der im konkreten Fall anklagenden Staatsanwaltschaft angesammelt haben. Wie sich nachfolgend zeigen wird, gibt es jedoch auch weitere Vorgänge, die mit einem Strafverfahren in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen können, jedoch nicht von der anklagenden oder einer anderen Staatsanwaltschaft, sondern von sonstigen Behörden geführt werden. Es gilt deshalb zu untersuchen, ob solche außerstrafprozessualen Vorgänge ebenfalls als Bestandteil einer Strafakte oder zumindest zu den einzusehenden/vorzulegenden „Akten“ angesehen werden können. Die Staatsanwaltschaft ist grundsätzlich für die Vorgänge, die mit dem Strafverfahren im Zusammenhang stehen, die aktenführende Stelle, vgl. §§ 147 Abs. 5 S. 1, 480 Abs. 1 StPO. Die Staatsanwaltschaft kann nicht nur kraft ihres Direktionsrechts aus § 161 Abs. 1 S. 2 StPO um Auskunft über etwaige repressive Vorgänge der Polizeibe532 Ähnlich Meyer, Akteninformationsrecht, S. 76; auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 51, führt in diesem Zshg. den Aspekt der gegenseitigen Kontrolle an.

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hörden ersuchen. Auch rein auf die Gefahrenabwehr gestützte Vorgänge kann sich die Staatsanwaltschaft von den Polizeibehörden vorlegen lassen, § 161 Abs. 1 S. 1 StPO.533 Für solche Vorgänge stellt § 161 Abs. 1 S. 1 StPO die Abrufregelung i. S. d. sog. Doppeltürenmodells dar; zudem bedarf es hiernach einer Öffnungsklausel in dem jeweiligen Erhebungsgesetz, aus dem sich Beschränkungen für die Befugnis zur Weitergabe ergeben können.534 Aus diesen Erhebungsgesetzen und weiteren Normen lassen sich möglichweise weitere Anhaltspunkte für den Aktenbegriff herleiten. Denkbar ist etwa, dass ein Informationsträger nur dann als Aktenbestandteil einzuordnen ist, sofern die Staatsanwaltschaft die aktenführende Stelle ist. Wenn es für die Einordnung eines Vorganges als Strafaktenbestandteil hingegen nicht notwendig darauf ankommen sollte, ob diese Vorgänge von der Staatsanwaltschaft geführt werden, sondern darauf, ob sie ihr zur Verfügung standen, so fragt sich, ob es hierbei ausreicht, dass die Staatsanwaltschaft aus Rechtsgründen eine Verfügungsmöglichkeit über diese Vorgänge hatte oder ob ihr die Vorgänge auch tatsächlich zur Verfügung gestanden haben müssen. (1) Vorgänge der Zeugenschutzdienststelle Als Beispiel für einen außerstrafprozessualen Vorgang dient zunächst § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG, nach dem für die Führung von Vorgängen, die den Zeugenschutz betreffen, nicht die Staatsanwaltschaft, sondern die Zeugenschutzdienststelle zuständig ist, § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG. Der Wortlaut der Norm hierzu lautet, dass diese „Akten […] nicht Bestandteil der Ermittlungsakte [sind]“. Der Wortlaut scheint prima facie eindeutig zu sein. § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG gibt bei näherem Hinsehen gleichwohl Anlass zu der Frage, ob von der Zeugenschutzdienststelle geführte Vorgänge vom Anwendungsbereich des § 147 StPO bzw. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO erfasst sind. Der Wortlaut von § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG lässt zunächst (noch) die Auslegung zu, dass hierdurch lediglich mit Blick auf den Zeugenschutz „informationell“ bzw. rein formell zwischen der ermittelnden und der zeugenschützenden Polizeitätigkeit unterschieden werden soll, sodass hierdurch geregelt sein könnte, dass die Vorgänge lediglich physisch getrennt voneinander abgelegt werden sollen.535 Hierfür spricht zum einen, dass die Zeugenschutzdienststelle formal die aktenführende Stelle ist, § 2 Abs. 3 S. 2 StPO. Dass die i. R. d. zeugenschützenden Tätigkeit einer solchen Polizeibehörde entstehenden Informationsträger ebenso 533

Zum Vorstehenden MüKo-StPO/Kölbel, Bd. 2, § 161, Rn. 25. Eingehend hierzu MüKo-StPO/Kölbel, Bd. 2, § 161, Rn. 28 m. w. N.; das sog. Doppeltürenmodell besagt, dass sowohl die staatliche Übermittlung als auch die staatliche Abfrage personenbezogener Daten einen Grundrechtseingriff darstellt, weshalb sich die auskunftsuchende und auskunftserteilende Stelle jeweils auf eine Rechtsgrundlage berufen können muss, hierzu grundlegend BVerfGE 130, 151, 184. 535 Ähnlich MüKo-StPO/Roggan, Bd. 3/2, § 2 ZSHG, Rn. 9; Roggan GA 159 (2012), 434, 448 f. 534

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

zu behandeln sein können, wie Informationsträger der Strafverfolgungsbehörden, legt zum anderen § 2 Abs. 3 S. 3 ZSHG nahe, nach dem die den Zeugenschutz betreffenden Vorgänge ausdrücklich „der Staatsanwaltschaft auf Anforderung zugänglich zu machen sind“. Ein Recht der zeugenschützenden Polizeibehörde, der Staatsanwaltschaft die Einsicht hierin zu verwehren, ist hierbei nicht vorgesehen. Die ermittelnde Strafverfolgungsbehörde hat damit ein umfassendes Akteneinsichtsrecht in diese Vorgänge, womit die Möglichkeit, Kopien anzufertigen, einhergeht.536 Die formale bzw. physische Trennung dieser Vorgänge ändert zudem nichts daran, dass Vorgänge der zeugenschützenden Polizeibehörde naturgemäß im Zusammenhang mit einem Strafverfahren stehen. Ansonsten wäre das ZSHG überhaupt nicht anwendbar, § 1 Abs. 1 ZSHG. Materielle Auswirkungen auf den Aktenbegriff hat § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG damit nicht zwingend, zumal sich das Einsichtsrecht aus § 147 Abs. 1 StPO und die Vorlagepflicht aus § 199 Abs. 2 S. 2 StPO nicht auf die (Ermittlungs-)Akte, sondern auf „die Akten“, und damit möglicherweise auch auf Vorgänge, für welche die Staatsanwaltschaft nicht die aktenführende Stelle ist, bezieht. Ferner können die Vorgänge, die bei der Zeugenschutzdienststelle abgelegt werden, zur Wahrheitserforschung im Strafverfahren eine außerordentlich gewichtige Bedeutung gewinnen. Zu denken sei nur an hieraus ableitbaren Anhaltspunkten für oder gegen die Glaubwürdigkeit des geschützten Zeugen und die Glaubhaftigkeit seiner in dem Strafverfahren bekundeten Angaben. Dafür, dass solche außerstrafprozessualen Vorgänge mit den Informationsträgern, die von der Staatsanwaltschaft geführt werden, jedenfalls unter bestimmten Voraussetzungen gleichzustellen sind, spricht zudem ein systematischer Vergleich. Die Aufgabe der Zeugenschutzdienststelle ist präventiv-polizeilicher Natur. In dieser Hinsicht sieht die StPO jedoch auch an anderer Stelle Regelungen vor. Für Vorgänge, die bei präventiv handelnden Polizeibehörden oder auch bei „nicht-polizeilichen“ Behörden geführt werden,537 eröffnet § 96 StPO die Möglichkeit, „[d]ie Vorlegung oder Auslieferung von Akten und anderen in amtlicher Verwahrung befindlichen Schriftstücken“ bei entsprechender Sperrerklärung zu verweigern. Wenn die Herausgabepflicht einer repressiv handelnden Polizeibehörde einerseits bereits in § 163 Abs. 2 StPO normiert ist,538 sodass Adressat von § 96 S. 1 StPO unter anderem präventiv-polizeiliche Behörden sind539 und auch nach dem gesetzgeberischen Willen sein sollen,540 und andererseits im Wort-

536

Siehe nur MüKo-StPO/Roggan, Bd. 3/2, § 2 ZSHG, Rn. 9 ff. Siehe hierzu nur MüKo-StPO/Hauschild, Bd. 1, § 96, Rn. 10 f. m. w. N. 538 Vgl. hierzu MüKo-StPO/Hauschild, Bd. 1, § 96, Rn. 11. 539 Siehe zum Adressatenkreis von § 96 S. 1 StPO MüKo-StPO/Hauschild, Bd. 1, § 96, Rn. 11 m. w. N. 540 § 96 S. 1 StPO besteht nahezu unverändert seit Inkrafttreten der RStPO v. 1877 im Jahr 1879. In den Gesetzesmaterialien u. a. zu § 96 RStPO wird deutlich, dass Adressat von § 96 RStPO auch präventiv-handelnde Polizeibehörden sein sollten, vgl. Hahn/Stegemann, Ma537

II. Systematik

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laut von § 96 S. 1 StPO weiter der Begriff „Akten“ gewählt wird, legt dies nahe, dass die Einordnung eines Informationsträgers als Bestandteil der einzusehenden/vorzulegenden Akten nicht notwendig davon abhängen soll, ob die Staatsanwaltschaft insoweit die aktenführende Stelle ist. § 96 S. 1 StPO verdeutlicht vielmehr, dass die Einordnung entweder als „Akten“ oder als „andere in amtlicher Verwahrung befindliche Schriftstücke“ davon abhängt, ob die Informationsträger im Zusammenhang mit einem Strafverfahren stehen. Es lässt sich nämlich kein anderes Differenzierungskriterium ausmachen, von dem abhängen soll, wann solche außerstrafprozessualen Vorgänge entweder als Akten oder als andere amtlich verwahrte Schriftstücke i. S. v. § 96 S. 1 StPO einzuordnen sind. Für die Annahme, dass jedenfalls die Vorgänge der Zeugenschutzdienststelle als einzusehende/vorzulegende Akten einzuordnen sein können, sprechen auch die Gesetzesmaterialien zum ZSHG. Es wird deutlich, dass durch § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG lediglich das Einsichtsrecht in diese Zeugenschutzvorgänge verwehrt werden sollte, soweit die Gefährdungslage dies erfordert. In der Gesetzesbegründung zu § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG wird ausgeführt, dass die im Zuge der ZeugenschutzMaßnahmen entstehenden Akten ausnahmsweise von der Zeugenschutzdienststelle geführt werden sollen, um der besonderen Geheimhaltungsbedürftigkeit besonders Rechnung tragen zu können.541 Zwar wird auch in der Begründung ausgeführt, dass diese Vorgänge nicht Bestandteil der Ermittlungsakte sein sollen.542 Andererseits sollte trotz der Zuständigkeit der Zeugenschutzdienststelle „[ü]ber die Aufnahme oder Beendigung des Zeugenschutzes stets Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft hergestellt werden“.543 „Soweit es im Hinblick auf das Strafverfahren erforderlich ist, sind der Staatsanwaltschaft die Akten auf Anforderung zugänglich zu machen.“544

Weiter war im ursprünglichen Gesetzesentwurf in § 12 Abs. 2 S. 1 ZSHG-E vorgesehen, dass die Vorgänge der Zeugenschutzdienststelle bei Wegfall der Gefähr-

terialien, Abt. 2, S. 1792 f.: „Nach der Regierungsvorlage würden alle Polizei- und Sicherheitsbeamten die betreffenden Anordnungen treffen können, nach dem Vorschlage der Kommission nur diejenigen, welche als Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft den Anordnungen derselben Folge zu leisten haben. […] Zur Verhütung solcher Ausschreitungen ist ein doppeltes nöthig: erstens, daß dem Publikum klar und bestimmt vergegenwärtigt wird, welche Leute zur Staatsanwaltschaft gehören und welche gehören zur gewöhnlichen Polizei […]. […] Dort ist gesagt worden, daß die Beamten des Polizei- und Sicherheitsdienstes Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft und in dieser Eigenschaft verpflichtet sind, den Anordnungen der Staatsanwälte […] Folge zu leisten.“. Bei darauffolgenden Reformen von § 96 RStPO ist nichts dafür ersichtlich, dass der Gesetzgeber diese Sichtweise aufgegeben hat. 541 § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG war zunächst in § 6 Abs. 3 S. 2 ZSHG-E vorgesehen; zur Begründung: BT-Drs. 14/638, 14. 542 BT-Drs. 14/638, 14. 543 So die Begründung zu § 4 Abs. 3 ZSHG-E, dessen Regelungsgehalt nachfolgend im Wesentlichen in § 2 Abs. 4 ZSHG eingeführt wurde: BT-Drs. 14/638, 13; vgl. diesbzgl. auch BT-Drs. 14/6467, 10. 544 BT-Drs. 14/6467, 10.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

dungslage „zu den Ermittlungsakten zu nehmen sind“.545 Ausgenommen sollten hiervon gem. § 12 Abs. 2 S. 3 ZSHG-E lediglich solche Unterlagen sein, die Rückschlüsse auf die gegenwärtigen (Tarn-)Personalien zulassen.546 Umgesetzt wurde die ursprünglich in § 12 Abs. 2 ZSHG-E vorgesehene Regelung in nahezu inhaltsgleicher Weise sodann in § 10 Abs. 2 ZSHG, nach dem „Urkunden und sonstige Unterlagen, die Rückschlüsse auf eine Tarnidentität oder den Wohn- oder Aufenthaltsort einer geschützten Person zulassen, nur insoweit zu den Verfahrensakten zu nehmen [sind], als Zwecke des Zeugenschutzes dem nicht entgegenstehen“.547 Der Wortlaut dieser Vorschrift demonstriert, dass der Gesetzgeber durch § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG gerade keine Ausklammerung solcher Vorgänge als einzusehende/vorzulegende Akten vornehmen wollte. Der Gesetzgeber verfolgte lediglich den Zweck, hierdurch den dauerhaften Zeugenschutz sicherzustellen.548 Schließlich heißt es in der Gesetzesbegründung zu § 10 Abs. 2 ZSHG weiter: „Absatz 2 legt den Zeitpunkt fest, zu welchem Unterlagen, die Rückschlüsse auf den Wohnoder Aufenthaltsort des Zeugen zulassen, zu den Verfahrens- oder Ermittlungsakten genommen werden können. Dies ist erst dann möglich, wenn die Gefährdung nicht mehr besteht“.549

In diesem Sinne wird im Hinblick auf § 9 Abs. 1 S. 1 ZSHG, nach dem Ansprüche gegen Dritte durch Maßnahmen nach dem ZSHG unberührt bleiben sollen, in der Plenardebatte klargestellt: „Dabei ist nicht nur an Dritte zu denken, die durch Zeugenschutzmaßnahmen an der Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche, wie Unterhalts- oder Schadensersatzansprüchen, gehindert werden können, sondern auch an Beschuldigte in Strafverfahren, für die und für deren Verteidigung im Strafverfahren Zeugenschutzmaßnahmen eine Belastung und Behinderung sein können. Dem Beschuldigten soll es möglich sein, die Schutzmaßnahmen für den Zeugen gerichtlich überprüfen zu lassen, soweit dadurch seine Verteidigungsrechte betroffen sind.“550

Dass mit dem Wortlaut von § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG der gesetzgeberische Wille zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass solche Vorgänge materiell per se nicht als Akten im strafprozessualen Sinne anzusehen sind, ergibt sich aus der Gesetzesbegründung und den übrigen Gesetzesmaterialien damit nicht. Im Gegenteil verdeutlichen die Gesetzesmaterialien, dass lediglich das Einsichtsrecht in diese Vorgänge beschränkt werden sollte und zwar solange, wie die Gefährdung des Zeugen dies erfordert. Ferner ergibt sich aus § 10 Abs. 2 ZSHG und der diesbezüglichen Gesetzesbegründung, dass Vorgänge der Zeugenschutzdienststelle den Be-

545

BT-Drs. 14/638, 7. BT-Drs. 14/638, 7. 547 BGBl. 2001 I, 3510, 3512. 548 Vgl. BT-Drs. 14/638, 16. 549 BT-Drs. 14/6467, 13; Hervorhebung durch Verfasser. 550 BT-Plenarprotokoll 14/180: Stenografischer Bericht der 180. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 29.06.2001, 17791A. 546

II. Systematik

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hörden der Staatsanwaltschaft nach Möglichkeit zur Verfügung zu stellen und in diesem Fall zur Ermittlungs- bzw. Strafverfahrensakte zu nehmen sind. Demgemäß sollte hinsichtlich der Aufnahme und der Beendigung des Zeugenschutzes ausweislich der später in § 2 Abs. 4 ZSHG normierten Regelung und der zugrundeliegenden Gesetzesbegründung stets Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft hergestellt werden. Jedenfalls für Vorgänge der Zeugenschutzdienststelle ist es demnach nicht von Belang, dass die Staatsanwaltschaft insoweit überhaupt nicht sachleitungsbefugt ist. Bei Berücksichtigung der Gesetzeshistorie zeichnet sich ab, dass der Gesetzgeber durch die Formulierung von § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG lediglich den Geheimnisschutz stärken wollte. Die systematische Betrachtung sowie die Gesetzesmaterialien legen demzufolge nahe, § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG gedanklich so zu lesen, dass die „(möglicherweise einschränkend: der Staatsanwaltschaft vorgelegenen) Akten […] zur Legitimation einer rein physischen Aktentrennung untechnisch nicht als Bestandteil der einzusehenden/vorzulegenden Akten anzusehen sind, solange eine Gefährdung des Zeugen anzunehmen ist“. Der Wortlaut von § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG lässt diese Auslegung zu. (2) Vorgänge weiterer Behörden Nun ist mit der Untersuchung von § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG noch nicht allgemein verbunden, ob Vorgänge anderer Behörden ebenfalls als Aktenbestandteile angesehen werden können, soweit sie mit einem Strafverfahren inhaltlich zusammenhängen. Aus den vorgenannten Gesetzesmaterialien ergibt sich lediglich, dass die von der Zeugenschutzdienststelle angelegten Vorgänge strafprozessuale Aktenbestandteile sind, sobald diese Vorgänge der Staatsanwaltschaft tatsächlich vorgelegt wurden. Im Folgenden soll untersucht werden, ob die Ausführungen zu den Vorgängen einer Zeugenschutzdienststelle verallgemeinerungsfähig sind. Hierzu sollen zunächst weitere Sondergesetze untersucht werden, um hieraus Rückschlüsse auf eine abstrakte Definition des Aktenbegriffs herzuleiten, der unter Umständen die Einbeziehung außerstrafprozessualer Vorgänge im Allgemeinen oder jedenfalls unter bestimmten Voraussetzungen gebietet. (a) Nachrichtendienstliche Behörden Zunächst sollen die Regelungen zum Umgang mit nachrichtendienstlich verwalteten Vorgängen in den Blick genommen werden. Als weitere Behörde, die ebenfalls personenbezogene Vorgänge anlegt, gilt das Bundesamt für Verfassungsschutz. Es ist eine Bundesoberbehörde, § 2 Abs. 1 S. 1 BVerfSchG. § 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BVerfSchG sieht im Gegensatz zur Zurverfügungstellungspflicht aus § 2 Abs. 3 S. 3 ZSHG lediglich vor, dass den Staatsanwaltschaften Auskunft über die angesammelten Daten gegeben werden „darf“, „soweit dies erforderlich ist zur Verfolgung von Straftaten von erheblicher Bedeutung“.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

Zwar normiert § 20 Abs. 1 S. 1 BVerfSchG unter anderem, dass die Verfassungsschutzbehörden „von sich aus“ Informationen an die Staatsanwaltschaften übermitteln, wenn dies zur Verfolgung von Staatsschutzdelikten erforderlich ist. Im Unterschied zu § 2 Abs. 3 S. 3 ZSHG kann die Staatsanwaltschaft eine Informationsübermittlung jedoch nicht eigenständig anfordern; dies ist zum Zwecke der Gefahrenabwehr in Staatsschutzangelegenheiten lediglich für Polizeibehörden und den Bundesnachrichtendienst vorgesehen, § 20 Abs. 2 BVerfSchG. Weiter sieht § 22a Abs. 1 S. 1 BVerfSchG die Möglichkeit vor, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz für eine befristete projektbezogene Zusammenarbeit mit anderen Behörden eine gemeinsame Datei errichten kann. In diesem Rahmen kann (und soll) ein Austausch und die gemeinsame Auswertung der zusammengetragenen Erkenntnisse erfolgen, § 22a Abs. 1 S. 2 BVerfSchG. Zu den Behörden, für die die Möglichkeit einer solchen projektbezogenen Zusammenarbeit vorgesehen ist, zählen jedoch nicht die Staatsanwaltschaften, sondern ausweislich § 22a Abs. 1 S. 1 BVerfSchG lediglich die Landesbehörden für Verfassungsschutz, der Militärische Abschirmdienst, der Bundesnachrichtendienst, die Polizeibehörden und das Zollkriminalamt. Die Regelungssystematik macht demzufolge deutlich, dass die Gewährung von Informationen an die Staatsanwaltschaft nur in Ausnahmefällen vorgesehen ist. Zwar ist das Aufgabenfeld der Verfassungsschutzbehörden, ebenso wie Maßnahmen einer Zeugenschutzdienststelle, auf Gefahrenabwehr angelegt, vgl. § 3 BVerfSchG. Im Unterschied zu den Maßnahmen nach dem ZSHG hängen die bei den Verfassungsschutzbehörden angesammelten Vorgänge jedoch regelmäßig nicht mit einem Strafverfahren zusammen, sondern sind rein präventiver Natur. Maßnahmen nach dem BVerfSchG zielen in erster Linie darauf ab, Straftaten zu verhüten. Als entscheidender Unterschied zu den i. R. d. ZSHG angelegten Vorgängen kommt hinzu, dass für die Mitarbeiter der Verfassungsschutzbehörden eine besondere Sicherheitsüberprüfung nach dem SÜG vorgesehen ist, §§ 3 Abs. 2 BVerfSchG, 3 Abs. 3 SÜG. Für die Verfassungsschutzbehörden ist im Gegensatz zu Zeugenschutzdienststellen mithin die Sicherstellung einer besonderen Geheimhaltung vorgesehen. Ihre Erkenntnisse sollen demzufolge nur in Ausnahmefällen, unter engen Voraussetzungen und an einen sehr beschränkten Behördenkreis zur Verfügung gestellt werden können. Das BVerfSchG legt mithin ein informationelles Trennungsprinzip zugrunde.551 Nun könnte man das BVerfSchG in Anlehnung an die Ausführungen zum ZSHG auch so auslegen, dass die Vorgänge, die mit einem Strafverfahren zusammenhängen (und ggfs. der Staatsanwaltschaft vorgelegt wurden), als Bestandteile der Strafakte oder jedenfalls als Bestandteil der „Akten“ i. S. v. §§ 147 Abs. 1, 199 Abs. 2 S. 2 StPO anzusehen sind, sodass die Voraussetzungen einer Offenlegung dieser nachrichtendienstlichen Erkenntnisse (erst) bei der Frage der Einsichtsgewährung zu prüfen wären. Wenn die Übermittlung von Informationen an die

551

Allgemein MüKo-StPO/Kölbel, Bd. 2, § 161, Rn. 37.

II. Systematik

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Staatsanwaltschaft aber grundsätzlich gerade nicht vorgesehen ist, sondern lediglich in bestimmten Ausnahmefällen und unter engen Voraussetzungen erfolgen „darf“, verdeutlicht das Gesetz damit, dass solche Vorgänge eben nicht zur der Strafakte „gehören“ und lediglich in vereinzelten Ausnahmen kraft Zurverfügungstellung an die Staatsanwaltschaft zum Bestandteil „der Akten“ gemacht werden „dürfen“. Erst zum Zeitpunkt, in dem die nachrichtendienstlichen Erkenntnisse tatsächlich zur Verfügung gestellt werden, kann sich die Frage stellen, ob anderen Verfahrensbeteiligten in diese (aufgrund des Aktenvollständigkeitsgebots nunmehr als Aktenbestandteile anzusehenden) Vorgänge Einsicht gewährt werden darf. Informationsansammlungen der Verfassungsschutzbehörden per se als Bestandteile von inhaltlich hiermit zusammenhängenden Strafverfahrensakten anzusehen, widerspräche folglich dem Gesetzeszweck, wie er in dem Regelungsgefüge des BVerfSchG vielerorts zum Ausdruck kommt. Im Folgenden soll untersucht werden, ob sich dieser Befund auch für weitere Sondergesetze treffen lässt. Dazu sollen zunächst die Rechtsgrundlagen der Tätigkeit des militärischen Abschirmdienstes in den Blick genommen werden. Der Militärische Abschirmdienst untersteht dem Bundesministerium der Verteidigung und sein Aufgabenbereich ist – wie auch der, der Verfassungsschutzbehörden – präventiv ausgestaltet, vgl. § 1 MADG. Der Militärische Abschirmdienst arbeitet mit den Verfassungsschutzbehörden zusammen, § 3 MADG. Die beim Militärischen Abschirmdienst angelegten Informationen dürfen jedoch ebenfalls nur in dem Umfang, wie es für die Verfassungsschutzbehörden vorgesehen ist, an Staatsanwaltschaften übermittelt werden, §§ 11 f. MADG. Auch die beim Militärischen Abschirmdienst tätigen Personen werden nach Maßgabe des SÜG überprüft, §§ 1 Abs. 3 MADG, 3 Abs. 3 SÜG. Insofern gilt soeben Gesagtes entsprechend. Solche Vorgänge sind grundsätzlich nicht Bestandteile der Strafverfahrensakten. Gleiches gilt für den (ebenso) präventiv handelnden Bundesnachrichtendienst. Eine Kooperation in Form eines Informationsaustausches ist nach dem BNDG nur mit ausländischen, öffentlichen Stellen, die ebenfalls nachrichtendienstlich tätig sind, vorgesehen, §§ 13 ff. BNDG. Gewonnene Informationen können zwar ebenfalls an Staatsanwaltschaften übermittelt werden. Dies bemisst sich jedoch nach den Vorgaben, die für die Informationsgewährung durch die Verfassungsschutzbehörden vorgesehen sind, § 24 Abs. 1 BNDG. Auch ist eine befristete projektbezogene Zusammenarbeit – parallel zu § 22a Abs. 1 S. 1 BVerfSchG – nur mit Verfassungsschutzbehörden, Polizeibehörden, dem Militärischen Abschirmdienst und dem Zollkriminalamt vorgesehen, § 25 Abs. 1 S. 1 BNDG. Auch für die Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes ist eine Sicherheitsüberprüfung vorgesehen, § 3 Abs. 3 SÜG. Insofern können die vom Bundesnachrichtendienst verwalteten Informationsträger ebenso wenig wie die Vorgänge der zuvor benannten Bundesoberbehörden als Bestandteile der Strafverfahrensakten angesehen werden.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

(b) Sonstige Behörden Aus vorstehender Analyse wird erkennbar, dass es Vorgänge zu präventiven Zwecken gibt, die zumindest i. d. R. als Bestandteil von Strafverfahrensakten anzusehen sind, und solche, die aufgrund ihrer besonderen Regelungsmaterie grundsätzlich nicht als Strafverfahrensaktenbestandteile klassifiziert werden können. Im Folgenden sollen diese Erkenntnisse zusammengezogen werden und es soll unter Berücksichtigung weiterer Normen ein allgemeingültiger Maßstab herausgearbeitet werden. Dass es für die Einordnung eines Vorganges als Bestandteil von vorzulegenden/einzusehenden Akten im Allgemeinen nicht darauf ankommen kann, ob die Staatsanwaltschaft die aktenführende Stelle ist, legt neben dem im Zusammenhang mit § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG angesprochenen § 96 S. 1 StPO auch § 480 Abs. 1 S. 1 StPO nahe. Hieraus folgt, dass die Staatsanwaltschaft nur im Ermittlungsverfahren und nach rechtskräftigem Verfahrensabschluss die aktenführende Stelle ist; im Übrigen ist der Vorsitzende des mit der Sache befassten Gerichts aktenführende Stelle. Die Vorgänge, die die Staatsanwaltschaft mit der Anklageschrift dem Gericht vorgelegt hat, verschmelzen jedoch mit denjenigen Vorgängen, die das Gericht im weiteren Verfahrensverlauf anlegt. Die Vorgänge teilen sich hierbei gerade nicht in eine „Staatsanwaltschaftsakte“ und eine „Gerichtsakte“ auf; vielmehr stellt die Gesamtheit der zum Verfahren gehörenden Vorgänge die Strafverfahrensakten dar. Eine derartige Aufspaltung der dem Verfahren zugrundeliegenden Akten sieht die StPO nicht vor. Es soll nun untersucht werden, ob diese Annahme durch weitere Normen bestätigt bzw. an weiteren Normen festgemacht werden kann. Als präventiv handelnde Behörden, die Akten führen, sind die Behörden der Bundespolizei zu nennen. Die i. R. d. polizeilichen Tätigkeit entstehenden Informationsträger – mögen sie im Rahmen einer repressiven oder einer präventiven Maßnahme entstanden sein, vgl. §§ 1 Abs. 5, 12 Abs. 1 BPolG – sind der Staatsanwaltschaft bei entsprechendem Ersuchen zur Verfügung zu stellen. Diese Mitteilungspflicht ist jedenfalls nach den Abrufregelungen § 161 Abs. 1 S. 1, 2 StPO an keine weiteren Voraussetzungen geknüpft. Die Öffnungsklausel i. S. d. sog. Doppeltürenmodells ist für Bundespolizeien in § 33 Abs. 1 S. 2, 3 BPolG normiert, in dem es heißt: „Erfolgt die Übermittlung auf Grund eines Ersuchens einer öffentlichen Stelle der Bundesrepublik Deutschland, trägt diese [scil. die Bundespolizei] die Verantwortung. In diesem Fall prüft die Bundespolizei nur, ob das Ersuchen im Rahmen der Aufgaben des Empfängers liegt, es sei denn, daß besonderer Anlaß zur Prüfung der Zulässigkeit der Übermittlung besteht.“ In aller Regel steht der Staatsanwaltschaft demzufolge ein unbeschränktes Auskunftsrecht hinsichtlich der präventiv-polizeilichen Vorgänge zu. Wenn für die Staatsanwaltschaft ein solches Auskunftsrecht kraft Gesetzes vorgesehen ist und die präventiv-polizeilichen Vorgänge in einen thematischen Zusammenhang mit einem Strafverfahren stehen, dann könnten diese Vorgänge

II. Systematik

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aus nachfolgenden Gründen Bestandteile der vorzulegenden/einzusehenden Strafverfahrensakten darstellen. Ein Strafverfahren verfolgt naturgemäß sowohl präventive als auch repressive Zwecke, wie etwa § 81b Var. 2 StPO verdeutlicht – eine trennscharfe Abgrenzung ist nicht möglich. Insofern steht einer Einordnung präventiv-polizeilicher Vorgänge als Strafverfahrensaktenbestandteil nicht notwendig entgegen, dass diese Vorgänge nicht von der Staatsanwaltschaft, sondern (in dem hier gewählten Beispiel) originär von der Bundespolizei geführt werden (vgl. § 1 Abs. 1 S. 1 BPolG). Zudem veranschaulichen § 161 Abs. 3 S. 1 StPO und § 100e Abs. 6 Nr. 3 StPO, dass Vorgänge sowohl von präventiv handelnden Behörden als auch von Strafverfolgungsbehörden angelegt werden können und die inhaltlich zusammenhängenden Vorgänge in ihrer Gesamtheit die Grundlage des Strafverfahrens darstellen sollen. Denn § 161 Abs. 3 S. 1 StPO setzt bereits voraus, dass die Staatsanwaltschaft und im Anschluss das Gericht über außerstrafprozessuale Vorgänge, die mit einem Strafverfahren inhaltlich zusammenhängen, verfügt und regelt hierzu lediglich, inwieweit solche Vorgänge bei Katalogstraftaten zu Beweiszwecken verwendet werden dürfen.552 Dieses Verständnis hat der Gesetzgeber auch in seiner Gesetzesbegründung zu § 161 Abs. 2 S. 1 StPO a. F., dessen Regelung inhaltsgleich nunmehr in § 161 Abs. 3 S. 1 StPO normiert ist, zugrunde gelegt.553 Dass die Strafgerichte von präventiv-polizeilichen Vorgängen, die mit dem jeweiligen Strafverfahren thematisch zusammenhängen, Kenntnis haben, ist für den Gesetzgeber hierbei selbstverständlich.554 Demgemäß setzt § 100e Abs. 6 Nr. 3 StPO die Zur-

552

Siehe hierzu MüKo-StPO/Kölbel, Bd. 2, § 161, Rn. 46 f. Die ursprünglich in § 161 Abs. 2 S. 1 StPO a. F. vorgesehene Regelung sollte lediglich einer Umgehung der Voraussetzung aus den StPO-Rechtsgrundlagen entgegenwirken. In diesem Zusammenhang wird gar nicht erst die Frage aufgeworfen, unter welchen Voraussetzungen die Strafgerichte Kenntnis von den außerstrafprozessual erhobenen Daten erlangen, welche im Anschluss ggfs. zu Beweiszwecken in die Hauptverhandlung eingeführt werden sollen. Für eine Verwendung von präventiv-polizeilichen Daten, die nicht Beweiszwecken, sondern etwa als Ermittlungsansatz dienen, sollte die Verwendungsbeschränkung ausdrücklich nicht Anwendung finden; siehe BT-Drs. 16/5846, 64: „Sofern die Erhebung von Daten durch strafprozessuale Maßnahmen nur bei Verdacht bestimmter Straftaten zulässig ist und personenbezogene Daten, die durch entsprechende Maßnahmen nach anderen Gesetzen erlangt wurden, in Strafverfahren verwendet werden sollen, ist diese Verwendung zu Beweiszwecken nur zulässig, wenn sie zur Aufklärung einer Straftat dient, aufgrund derer eine solche Maßnahme nach der Strafprozessordnung angeordnet werden dürfte. […] Wird die Zulässigkeit einer Ermittlungshandlung durch eine gesetzgeberische Wertung vom Vorliegen des Verdachts bestimmter Straftaten abhängig gemacht, so erlauben solche Befugnisse regelmäßig schwerwiegende Eingriffe in grundrechtlich geschützte Positionen, insbesondere in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. […] Soweit die Verwendung der Daten im Strafverfahren nicht zu Beweiszwecken, sondern etwa als weiterer Ermittlungsansatz (Spurenansatz) oder zur Ermittlung des Aufenthaltsortes eines Beschuldigten erfolgen soll, greifen diese Beschränkungen allerdings nicht.“ 554 Vgl. BT-Drs. 16/5846, 22: „Er [scil. der Gesetzgeber] hat bei dieser Abwägung die Er553

278

B. Einfachgesetzliche Auslegung

verfügungstellung solcher präventiv-polizeilicher Vorgänge ebenfalls gedanklich voraus. Durch die vorbenannten Normen bestätigt sich dabei, weshalb in § 96 S. 1 StPO der Aktenbegriff verwendet wird, obwohl es sich hierbei regelmäßig um außerstrafprozessuale Vorgänge handelt. Zudem bettet sich diese Sichtweise in die Einordnung der außerstrafprozessual angelegten Zeugenschutzvorgänge ein, die nach der herausgearbeiteten gesetzgeberischen Vorstellung als Strafverfahrensaktenbestandteile qualifiziert werden können. Die Einordnung außerstrafprozessualer Vorgänge in den strafverfahrensrechtlichen Aktenbegriff muss jedoch nur in dem Fall, dass der Staatsanwaltschaft derartige Vorgänge während des Ermittlungsverfahrens tatsächlich zur Verfügung standen, angenommen werden. Denn die Strafgerichte können von außerstrafprozessualen Vorgängen auch durch etwaige Aktenbeiziehungen des Gerichts selbst Kenntnis erlangen. Insofern müssen derartige Vorgänge nicht notwendig von der Staatsanwaltschaft vorgelegt werden, sondern können erforderlichenfalls auch mit Beginn des Zwischenverfahrens vom Gericht beigezogen werden. Zudem würde ein Aktenbegriffsverständnis, nach dem jeder bei einer Behörde angelegte Vorgang, der mit einem Strafverfahren in einem inhaltlichen Zusammenhang steht, zu den vorzulegenden Akten zählt, praktisch schwer umsetzbar sein. Die Staatsanwaltschaft müsste dann nämlich vor jeder Aktenübersendung Auskünfte von jeder hierfür in Betracht kommenden Behörde einholen, ob dort Vorgänge existieren, die mit dem konkreten Strafverfahren inhaltlich zusammenhängen. Ein solches Begriffsverständnis wäre zudem in datenschutzrechtlicher Hinsicht problematisch, da bei einer solchen Anfrage den Behörden unter Umständen anlasslos offenbart werden müsste, dass gegen den Beschuldigten Ermittlungen geführt werden. Insofern kann der in den Gesetzesmaterialien ersichtliche gesetzgeberische Wille zu § 161 Abs. 3 S. 1 StPO auch dahingehend verstanden werden, dass mit einem Strafverfahren inhaltlich zusammenhängende Vorgänge zu berücksichtigen sind, sie dem Gericht mit der Anklageschrift jedoch nur insoweit vorgelegt werden müssen, wie sie der Staatsanwaltschaft während des Ermittlungsverfahrens tatsächlich zur Verfügung standen. Jedenfalls können (nicht müssen) außerstrafprozessuale Vorgänge nach der ratio von § 161 Abs. 3 S. 1 StPO als Bestandteile der vorzulegenden Akten angesehen werden, sofern ein inhaltlicher Zusammenhang zu dem jeweiligen Strafverfahren besteht und der Staatsanwaltschaft ein Auskunfts-/Einsichtsrecht eingeräumt ist. Wie bereits ausgeführt, ist ein solcher Zusammenhang jedenfalls dann anzunehmen, wenn eine tatsächliche Zurverfügungstellung an die Staatsanwaltschaft stattgefunden hat.555 Ebenso kann es sich etwa mit präventiv-polifordernisse einer rechtsstaatlichen Rechtspflege zu berücksichtigen, deren Aufgabe es ist, in den ihr gesetzten Grenzen Gerechtigkeit und Rechtsfrieden zu schaffen. Beides ist ohne Kenntnis der maßgeblichen Tatsachen nicht denkbar […]. Insoweit ist den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafrechtspflege Rechnung zu tragen und die möglichst umfassende Wahrheitsermittlung ein wesentliches Ziel des Strafverfahrens.“ 555 So i. E. auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 54 f.

II. Systematik

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zeilichen Vorgängen verhalten, die von den Behörden des Zollfahndungsdienstes auf der Grundlage des ZollVG oder vom Bundeskriminalamt auf der Grundlage des BKAG angelegt werden. Die Übermittlungspflicht an die Staatsanwaltschaften ergibt sich hierbei aus § 12 ZollVG bzw. § 25 Abs. 2 BKAG.556 Der vorgenannte Ansatz lässt sich auch auf die Vorgänge, die das Gericht ab Beginn des Zwischenverfahrens anlegt bzw. die dem Gericht im Zusammenhang mit dem Strafverfahren zugeleitet werden, übertragen. Hierbei handelt es sich ebenfalls um Vorgänge, die schon alleine deshalb mit dem Strafverfahren in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen, weil das mit der Sache betraute Gericht diese Vorgänge in diesem Kontext angelegt hat oder sie dem Gericht in sonstiger Weise zugeleitet wurden. Ein an keine weiteren Voraussetzungen gebundenes Einsichtsrecht der Staatsanwaltschaft in die Akten, für die in diesem Zeitraum das Gericht die aktenführende Stelle ist, ließe sich als Pendant zu § 147 StPO aus den allgemeinen Amtshilfegrundsätzen des Art. 35 Abs. 1 GG557 und des § 161 Abs. 1 S. 1 StPO (analog) deduzieren.558

556 Jedenfalls für Ermittlungsvorgänge anderer Behörden wird dies explizit in der Begründung zur StrafAktEinV aufgegriffen, vgl. BR-Drs. 635/19, 7 f.: „Sie findet somit keine Anwendung auf strafrechtliche Ermittlungsvorgänge übriger Ermittlungsbehörden, etwa der Polizei, Steuer- oder Zollfahndungsbehörden. Dementsprechend finden die Regelungen dieser Verordnung auch keine Anwendung, wenn sich eine von der Staatsanwaltschaft oder Finanzbehörde in einem Verfahren nach § 386 Absatz 2 AO oder § 14 SchwarzArbG bereits angelegte Akte bei einer nicht-aktenführenden Ermittlungsbehörde (Polizei, Steuer- oder Zollfahndungsbehörde) befindet.“ 557 Aktenübersendungen/Auskunftserteilungen zur staatlichen Aufgabenwahrnehmung stellen eine Form der Amtshilfe dar: OLG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 20.04.2016 – 6 VA 1/16, Rn. 11, juris; zu den Behörden i. S. v. Art. 35 Abs. 1 GG zählen auch Gerichte: Dürig/Herzog/ Scholz-GG/Dederer, Bd. 4, Art. 35, Rn. 37 m. w. N.; Art. 35 Abs. 1 GG ist eine sog. Rahmenvorschrift, sodass ein hieraus abgeleiteter Gewährleistungsgehalt der Konkretisierung durch die einschlägigen einfachgesetzlichen Amtshilfebestimmungen bedarf; Art. 35 Abs. 1 GG können Angaben über Inhalt und Umfang der Amtshilfe nicht ohne Weiteres entnommen werden: BVerwG NJW 2014, 2808, 2809; VGH Bayern, Urt. v. 25.04.2017 – 4 BV 16.346, Rn. 37, juris. Konkretisiert wird Art. 35 Abs. 1 GG nach allgA einfachgesetzlich insb. durch die §§ 4 ff. VwVfG: BVerwG NJW 2014, 2808, 2809 f. m. w. N.; aus den einfachgesetzlichen Bestimmungen zur behördlichen Amtshilfe aus den §§ 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 Nr. 4 VwVfG und e contrario § 5 Abs. 2 S. 2 VwVfG ergibt sich eine grds. Pflicht zur Überlassung von Akten und Auskunftserteilung zur Amtshilfe; diese Grundsätze können, obwohl sie das einfache Recht betreffen, jdfs. Rückschlüsse auf den verfassungsrechtl. Gewährleistungsgehalt von Art. 35 Abs. 1 GG zulassen. Dem steht auch nicht entgegen, dass das VwVfG bzw. die entsprechenden Verfahrensgesetze der Länder im Strafverfahren nicht anwendbar sind, § 2 Abs. 2 Nr. 2 VwVfG. Die §§ 4 f. VwVfG dienen in diesem Fall schließlich lediglich als Auslegungshilfe zur Konkretisierung von Art. 35 Abs. 1 GG und können als allgemeiner Rechtsgedanke, der der StPO nicht fremd ist (§ 161 Abs. 1 StPO) deshalb auch zur Auslegung des normativen Gehalts von Art. 35 Abs. 1 GG im Strafverfahren herangezogen werden; zur aus Art. 35 Abs. 1 GG abgeleiteten behördlichen Auskunfts-/Akteneinsichtsrechten auch Dreier-GG/Bauer, Bd. 2, Art. 35, Rn. 14 m. w. N. 558 Vgl. hierzu allg. MüKo-StPO/Kölbel, Bd. 2, § 161, Rn. 23.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

Da die vom Gericht erstellten/erlangten Vorgänge mit dem Strafverfahren zusammenhängen und der Staatsanwaltschaft hierzu ein Einsichtsrecht eingeräumt wird, würde der sich herauskristallisierende Ansatz, nach dem es für die Einordnung außerstrafprozessualer Vorgänge als Strafaktenbestandteil darauf ankommen könnte, ob ein inhaltlicher Zusammenhang zu dem jeweiligen Strafverfahren besteht und der Staatsanwaltschaft ein Auskunfts-/Einsichtsrecht eingeräumt wird, auch hier passen: Unabhängig davon, ob die Staatsanwaltschaft in dem Zeitraum, zu dem sie nicht die aktenführende Stelle ist, Einsicht verlangt und sie die Aktenteile besitzt, wären diese Vorgänge als Aktenbestandteile anzusehen. Denn entscheidend ist lediglich, dass diese Vorgänge dem Gericht als aktenführende Stelle tatsächlich zur Verfügung standen. Übertragen auf den Aktenbegriff aus den §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO bestätigt sich also jedenfalls, dass es für die Einordnung eines außerstrafprozessualen Vorganges als Strafverfahrensaktenbestandteil auf zweierlei ankommt: erstens müssen die Vorgänge in einem inhaltlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Strafverfahren stehen und zweitens muss die Staatsanwaltschaft über diese Vorgänge verfügen oder verfügt haben. Ob für Letzteres ausreichend ist, dass der Staatsanwaltschaft aufgrund eines originären und nahezu unbedingten Auskunfts-/Einsichtsrechts eine Kenntnisnahme von derartigen Vorgängen lediglich möglich ist oder sie diese tatsächlich besessen haben muss, lässt sich aus den vorstehenden Gesichtspunkten nicht abschließend beantworten. (3) Zwischenergebnis Bei Vorgängen, die aufgrund des außerstrafprozessualen Charakters nicht von der Staatsanwaltschaft verwaltet bzw. geführt werden, muss hinsichtlich der Einordnung als Bestandteil der Strafverfahrensakten möglicherweise differenziert werden. Vorbehaltlich der weiteren Untersuchung könnte sich eine solche Unterscheidung wie folgt gestalten: Behördlich verwaltete Vorgänge, für die gesetzlich ein (nahezu unbedingtes) Auskunfts- oder Einsichtsrecht der Staatsanwaltschaften vorgesehen ist und die gleichzeitig in Zusammenhang zu einem Strafverfahren stehen, sind als Aktenbestandteile dieses Strafverfahrens anzusehen.559 Dies gilt jedoch nur insoweit, wie diese Vorgänge der Staatsanwaltschaft tatsächlich zur Verfügung standen, ihr mithin vorlagen. Dies legen die Ausgestaltungen der entsprechenden Erhebungsgesetze nahe, und zwar unabhängig davon, ob die Staatsanwaltschaft diese Vorgänge tatsächlich studiert hat. Ferner spricht für die Einordnung solcher Vorgänge als Strafverfahrensaktenbestandteile § 161 Abs. 3 S. 1 StPO, der ein in diese Richtung tendierendes Verständnis voraussetzt. Die Gesetzesbegründung lässt insoweit ausreichend Spielraum für die Annahme, dass außerstrafprozessuale Vorgänge lediglich dann gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegen sind, wenn sie von der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren – unabhängig von einem 559

Ähnlich i. E. OLG Rostock NStZ 2016, 371, 372 f.

II. Systematik

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Einsichts-/Auskunftsrecht – beigezogen wurden bzw. ihr zur Verfügung standen. § 96 S. 1 StPO verdeutlicht jedenfalls, dass es für die Einordnung eines Vorganges als Aktenbestandteil nicht darauf ankommen kann, ob die Staatsanwaltschaft insoweit die aktenführende Stelle ist. Auch wenn man den Wechsel der Zuständigkeit zur Aktenführung zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht gedanklich durchspielt, zeigt sich, dass es für die Einordnung eines Vorganges als Strafverfahrensaktenbestandteil nicht darauf ankommen kann, ob ausschließlich die Staatsanwaltschaft diese Vorgänge führt. Gegen die These, dass außerstrafprozessuale, mit einem Strafverfahren inhaltlich zusammenhängende Vorgänge ohne Weiteres Bestandteile der gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegenden Akten sind, spricht jedoch, dass die – nach dem gesetzgeberischen Willen zu § 161 Abs. 3 S. 1 StPO: erforderliche – Kenntnisnahme der Strafgerichte von außerstrafprozessualen, mit dem Strafverfahren inhaltlich zusammenhängenden Vorgängen auch durch etwaige Aktenbeiziehungen geschehen kann. Insofern müssen derartige Vorgänge nicht notwendig von der Staatsanwaltschaft vorgelegt werden, sondern nur dann, wenn sie der Staatsanwaltschaft im Zuge des Ermittlungsverfahrens zugesendet wurden. Ein Aktenbegriffsverständnis, nach dem alle der bei einer Behörde angelegten Vorgänge, die mit einem Strafverfahren in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen, zu den vorzulegenden Akten zählen, wäre im Übrigen auch schwer umsetzbar. Denn die Staatsanwaltschaft müsste dann vor jeder Aktenübersendung bei jeder hierfür in Betracht kommenden Behörde anfragen, ob dort Vorgänge angelegt sind, die mit dem konkreten Strafverfahren inhaltlich zusammenhängen. Ein solches Aktenbegriffsverständnis wäre darüber hinaus auch datenschutzrechtlich problematisch. Als Beispiel für einen außerstrafprozessualen Vorgang, der innerhalb eines Strafverfahrens relevant sein würde und demnach zu den Strafverfahrensakten zählen könnte, ist etwa ein Vorgang einzuordnen, der nach einer längerfristigen Observation gem. § 28 Abs. 2 Nr. 1 BPolG zur Gefahrenabwehr angelegt wurde und (wie sich später herausstellt) inhaltlich mit einer späteren Straftat des Observierten zusammenhängt. Standen die Vorgänge ursprünglich nicht im Zusammenhang mit einem Strafverfahren bzw. ist eine Auskunftserteilung an die Staatsanwaltschaft (grundsätzlich) nicht vorgesehen, so kann den speziellen Erhebungsgesetzen entnommen werden, dass die Vorgänge nicht zu den gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegenden Akten zählen sollen. Nur in dem Fall, dass sie dennoch einer Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellt werden, wird durch diese Informationsgewährung ein Zusammenhang mit dem Strafverfahren hergestellt, sodass diese Vorgänge kraft der Zurverfügungstellung möglicherweise Bestandteil der Strafverfahrensakten werden. Dies folgt dann aus dem Grundsatz der Aktenwahrheit und -vollständigkeit und muss schon mit Blick auf die Gewährleistungen dieses Grundsatzes unabhängig davon gelten, ob der Staatsanwaltschaft diese Vorgänge rechtmäßig oder rechtswidrig zugeleitet wurden.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

Bestandteile der Strafverfahrensakten können demzufolge präventiv-polizeiliche Vorgänge auf Grundlage etwa des ZSHG oder des BPolG darstellen, die mit dem Strafverfahren inhaltlich zusammenhängen. Vorgänge, die bei den Nachrichtendiensten angesammelt und von diesen geführt werden, unterliegen demgegenüber grundsätzlich nicht dem strafprozessualen Aktenbegriff. Etwas anderes kann sich für letztere Vorgänge wiederum nur daraus ergeben, dass diese Vorgänge der Staatsanwaltschaft ausnahmsweise zur Verfügung gestellt worden sind. Nach dieser Maßgabe könnten als Strafverfahrensaktenbestandteile weiter auch (vereinzelte) Vorgänge von Steuerbehörden, öffentlich-rechtlichen Kreditinstituten oder Leistungsträgern in Betracht kommen.560 Insofern bleibt festzuhalten, dass zunächst alle Informationsträger, die von den Strafverfolgungsbehörden geführt werden, als Strafverfahrensaktenbestandteile einzuordnen sind. Vorgänge, die von einer anderen Behörde angelegt und verwaltet werden, sind nicht notwendig deshalb als Bestandteile der gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegenden Akten anzusehen, weil sie in einem inhaltlichen Zusammenhang zu dem jeweiligen Strafverfahren stehen und der Staatsanwaltschaft von Gesetzes wegen die (nahezu unbedingte) Möglichkeit eingeräumt wird, Einsicht in diese Vorgänge zu erhalten. Letzteres ließe sich zwar theoretisch dem Gesetz oder zumindest durch entsprechende Auslegung entnehmen.561 Jedoch kann den aufgezeigten Regelungsmaterien tatsächlich nicht entnommen werden, dass solche außerstrafprozessualen Vorgänge auch dann dem Gericht vorzulegen sind, wenn sie der Staatsanwaltschaft im Zuge des Ermittlungsverfahrens von der aktenführenden Stelle nicht übersandt worden sind. In diesem Fall ist es nach den vorstehenden Ausführungen auch denkbar, dass diese Vorgänge nur durch eine Aktenbeiziehung zum Verfahrensstoff gemacht werden können. Der ursprüngliche gesetzgeberische Wille zu § 199 Abs. 2 S. 2 StPO, nach dem sämtliche Vorgänge, die der anklagenden Staatsanwaltschaft im Laufe des Ermittlungsverfahrens zur Verfügung standen und mit dem Strafverfahren inhaltlich zusammenhängen, dem Gericht vorzulegen sind, gilt insofern auch für außerstrafprozessual angelegte Vorgänge. gg) Die Tat als Konkretisierung des inhaltlichen/thematischen Zusammenhanges Es fragt sich, ob dem einfachen Recht weitere Anhaltspunkte zur Konkretisierung des inhaltlichen bzw. thematischen Zusammenhangs entnommen werden können. Als normativer Anknüpfungspunkt bietet sich § 264 StPO bzw. bieten sich die Kriterien zur Umschreibung der prozessualen Tat an. Eine Orientierung hieran scheint jedenfalls auf den ersten Blick sachgerecht, da Gegenstand der

560

Hierzu und zu weiteren Beispielen: MüKo-StPO/Kölbel, Bd. 2, § 161, Rn. 34 ff. Siehe hierzu MüKo-StPO/Kölbel, Bd. 2, § 161, Rn. 29; die Auslegung müsste sich hierbei insbesondere an den allgemeinen Amtshilfegrundsätzen aus Art. 35 Abs. 1 GG messen lassen. 561

II. Systematik

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Kognition bzw. Urteilsfindung gem. §§ 155 Abs. 1, 264 Abs. 1 StPO die angeklagte Tat ist, sodass der Umfang der Aktenvorlagepflicht mit der prozessualen Tat verzahnt ist. Der prozessuale Tatbegriff soll deshalb näher untersucht werden. (1) Die Rahmenvorgaben zur prozessualen Tat Von der Staatsanwaltschaft wird eine Tat (oder werden mehrere Taten, vgl. § 207 Abs. 2 Nr. 1 StPO,) im prozessualen Sinne angeklagt. Aus §§ 155 Abs. 1, 264 Abs. 1 StPO ergibt sich, dass die prozessuale Tat den Verfahrensgegenstand markiert.562 Sie ist Gegenstand der Urteilsfindung, sodass die Kognitionspflicht auf einzelne materiellrechtliche Taten bzw. Handlungen, die in der Anklageschrift aufgegriffen werden, nicht notwendig beschränkt ist. Ob eine Handlung explizit in der Anklageschrift bezeichnet wird, ist nicht entscheidend.563 Die gerichtliche Aufklärungspflicht erstreckt sich vielmehr anerkanntermaßen564 auf den im Anklagesatz i. S. v. § 200 Abs. 1 S. 1 StPO zugrunde gelegten Lebensvorgang bzw. auf die angeklagten Lebensvorgänge. Vom Gericht sind all jene materiellrechtlichen Taten umfassend und erschöpfend aufzuklären, soweit sie von dem angeklagten Lebenssachverhalt umfasst sind, vgl. §§ 155 Abs. 2, 202, 244 Abs. 2, 265, 266 StPO.565 Die vorstehenden Grundsätze konkretisieren den verfassungsrechtlichen Strafklageverbrauch aus Art. 103 Abs. 3 GG.566 Zur prozessualen Tat zählt nach Auffassung der Rechtsprechung „der vom Eröffnungsbeschluss betroffene geschichtliche Vorgang in seiner Gesamtheit […] ,einschließlich aller damit zusammenhängenden und darauf bezüglichen Vorkommnisse und tatsächlichen Umstände‘, die nach der Auffassung des Lebens eine natürliche Einheit bilden.“567

Weite Teile der Literatur folgen diesem Ansatz.568 Zwischen mehreren Handlungen muss ein sog. „innerer Zusammenhang“ bestehen.569 Kriterien der Tatidentität sind die zeitliche oder örtliche Nähe einer vermeintlichen Handlung zum angeklagten Geschehensablauf, die Identität des vermeintlich verletzten Rechts-

562 Verfahrensgegenstand und prozessuale Tat sind dabei jedoch nicht deckungsgleich, siehe hierzu MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, § 264, Rn. 8. 563 MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, § 264, Rn. 16 m. z. N. 564 Statt aller MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, § 264, Rn. 5, 7 m. w. N. 565 Eingehend zum Vorstehenden MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, § 264, Rn. 1 ff.; siehe hierzu auch LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 7, § 264, Rn. 1, 37. 566 Eingehend MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, § 264, Rn. 6; die hinter der Kognitionspflicht stehenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen werden i. R. d. verfassungskonformen Auslegung gesondert aufgezeigt. 567 BGHSt 13, 320, 321; st. Rspr.; eingehend MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, § 264, Rn. 10 m. w. N.; zu Gegenpositionen aus der Literatur MüKo-StPO/Norouzi a. a. O. Rn. 13 m. w. N. 568 Siehe die Nachweise bei SK-StPO/Velten, Bd. 5, § 264, Rn. 27. 569 Siehe hierzu MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, § 264, Rn. 16 f. m. w. N.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

guts oder Tatobjekts, ein vermeintlich ähnliches Täterverhalten, eine vermeintlich gleichartige Begehungsweise, eine vermeintlich einheitliche Tatsituation oder Motivationslage und die Gleichzeitigkeit bzw. Identität der vermeintlichen Vorbereitungshandlungen.570 Das Kriterium des zeitlichen und örtlichen Zusammenhanges findet in § 200 Abs. 1 S. 1 StPO („Zeit und Ort ihrer Begehung“) Erwähnung, wobei auch die übrigen Kriterien hierin normativ angelegt sind. Welche Handlungen einen einheitlichen Lebensvorgang darstellen, ist zwar unabhängig von der Konkurrenzlehre zu bestimmen.571 Die Bestimmung der prozessualen Tat orientiert sich jedoch hieran; es sind Überschneidungen des prozessualen Tatbegriffs mit dem der materiellrechtlichen Handlung auszumachen.572 Eine inhaltliche Übereinstimmung zwischen der sachlich-rechtlichen Konkurrenzenbestimmung und der prozessualen Tat besteht i. d. R. bei Tateinheit, insbesondere bei natürlicher und tatbestandlicher Handlungseinheit (bzw. Bewertungseinheit) und zumeist573 auch bei Verklammerung.574 Bei sachlichrechtlicher Tatmehrheit liegen zumindest im Grundsatz auch mehrere prozessuale Taten vor.575 Ausnahmsweise können in Tatmehrheit zueinander stehende Handlungen jedoch eine prozessuale Tat darstellen, sofern eine „getrennte Würdigung und Aburteilung als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs empfunden würde.“576 Der Kognition unterliegt demzufolge die angeklagte Tat. Sofern die Anklageschrift beiläufig Geschehensabläufe einer weiteren prozessualen Tat erwähnt, etwa colorandi causa oder zur Beweisuntermauerung hinsichtlich der angeklagten Tat, erstreckt sich die Kognition auf diese weitere Tat nur dann, wenn ersichtlich wird, dass auch diese vom Verfolgungswillen der Staatsanwaltschaft umfasst ist.577 Dies ist notfalls durch Auslegung der Anklageschrift zu ermitteln.578 (2) Schlussfolgerungen für den Aktenbegriff Es stellt sich nun die Frage, ob die vorbenannten Kriterien zur prozessualen Tat für die hiesige Untersuchung fruchtbar gemacht werden können.

570 LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 7, § 264, Rn. 17, 19 m. w. N.; krit. MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, § 264, Rn. 17. 571 LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 7, § 264, Rn. 8. 572 LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 7, § 264, Rn. 8, 58 ff. 573 Eingehend LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 7, § 264, Rn. 83 ff. m. w. N. 574 Siehe MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, § 264, Rn. 20 ff.; LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 7, § 264, Rn. 59 ff. 575 MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, § 264, Rn. 32; LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 7, § 264, Rn. 87. 576 BGH NStZ 2014, 102, 103; eingehend hierzu auch MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, § 264, Rn. 33 f. m. w. N.; LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 7, § 264, Rn. 88 ff. m. w. N. 577 LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 7, § 264, Rn. 35 f., 55 m. w. N. 578 LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 7, § 264, Rn. 35 m. w. N.

II. Systematik

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(a) Der geschichtliche Lebensvorgang als (Mindest-)Vorlagegegenstand Nach zuvor Gesagtem bezieht sich die Kognitionspflicht auf einen einheitlichen Lebenssachverhalt. Dies streitet dafür, dass die Staatsanwaltschaft dem Gericht zumindest die gesamten Vorgänge betreffend aller Ermittlungsverfahren vorlegen muss, die mit dem angeklagten Lebenssachverhalt eine natürliche Lebenseinheit im vorbenannten Sinne bilden. Dies muss unabhängig davon gelten, ob bestimmte materiellrechtliche Taten bzw. Handlungen dem Angeschuldigten/ Angeklagten mit der Anklageschrift explizit zur Last gelegt werden. Die Vorlagepflicht der Akten ist deshalb nicht zwingend auf Handlungen beschränkt, die in der Anklageschrift bezeichnet sind. Sofern Aktenteile zu weiteren materiellrechtlichen Taten existieren, die zur angeklagten prozessualen Tat zählen, können diese nicht mit dem Hinweis auf die fehlende Bezeichnung im Anklagesatz aus der Vorlagepflicht ausgeklammert werden. Dies wäre mit der soeben umrissenen Kognitionspflicht, die sich auf den gesamten (geschichtlichen) Lebenssachverhalt erstreckt, nicht in Einklang zu bringen. Bei den Informationsträgern, die Handlungen des angeklagten Geschehensablaufs betreffen, kann es sich jedoch nur um das Mindestmaß der vorzulegenden Akten handeln. Aus der mit dem Tatbegriff zusammenhängenden Sachstruktur wird nämlich ersichtlich, dass sich der Umfang des Aktenbegriffs nicht zwangsläufig mit demjenigen des Tatbegriffs deckt, sondern regelmäßig über ihn hinausgehen muss. Dies ergibt sich zunächst aus Folgendem: Werden verschiedene Beschuldigte auf der Grundlage desselben Lebenssachverhaltes angeklagt, so handelt es sich nämlich nicht um insgesamt eine Tat, sondern um mehrere prozessuale Taten. Dies folgt im Umkehrschluss aus § 3 StPO.579 Eine prozessuale Tat bezieht sich mithin auf einen Beschuldigten,580 sodass es mindestens so viele Taten wie Beschuldigte gibt.581 Wollte man dies auf den Aktenbegriff übertragen, hieße dies, dass dem Gericht nur solche Vorgänge vorzulegen wären, die sich unmittelbar auf den Angeschuldigten beziehen. Ein solches Verständnis wäre bereits deshalb systemwidrig, weil Ermittlungsvorgänge sich in aller Regel nicht ausschließlich auf einen Beschuldigten beziehen können. Selbst wenn keine weiteren Beschuldigten in dem Ermittlungsverfahren eine Rolle spielen, wird sich ein Ermittlungsverfahren personell nie ausschließlich um die Person des Beschuldigten drehen, mag er auch im Mittelpunkt „seines“ Ermittlungsverfahrens stehen. Zudem gebietet die Funktion der §§ 244, 264 StPO gerade eine umfassende gerichtliche Aufklärung der angeklagten Tat, was voraussetzt, dass das Gericht auch über etwaige mit dem Verfahrensgegenstand zusammenhängende Vorgänge weiterer Beschuldigter Kenntnis hat – unabhängig davon, ob solche zusammenhängenden Vorgänge gem. § 2 Abs. 1 i. V. m. § 3 StPO verbunden werden.582 Wenn 579

Siehe hierzu nur MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, § 264, Rn. 4. Siehe zum Vorstehenden MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, § 264, Rn. 4. 581 MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, § 264, Rn. 17; LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 7, § 264, Rn. 18. 582 Siehe zur Verbindung allg. LR-StPO/Erb, Bd. 1, § 2, Rn. 14 ff.

580

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

aus den §§ 2 f. StPO ein Rückschluss auf den Aktenbegriff gezogen werden kann, dann der, dass Vorgänge verschiedene Beschuldigte betreffend, die derselben Tat beschuldigt werden oder waren, inhaltlich miteinander zusammenhängen. Dies ergibt sich aus der eindeutigen Überschrift und dem eindeutigen Wortlaut von § 3 StPO. Insofern kann es für den inhaltlichen bzw. thematischen Zusammenhang eines Informationsträgers zu einem Strafverfahren nicht darauf ankommen, wer zu der Zeit, als der Informationsträger entstanden ist oder der Staatsanwaltschaft zugeleitet wurde, als Beschuldigter geführt wurde. Hinzu kommt, dass der historische Gesetzgeber sich für eine weite Aktenvorlagepflicht, ursprünglich aus § 197 RStPO, aussprach, obwohl auch zu der Zeit der Tatbegriff in § 263 RStPO bewusst unbestimmt normiert war.583 Die §§ 3, 2 Abs. 1 StPO, aus denen sich ergibt, dass der Tatbegriff auf einen Beschuldigten begrenzt ist, wurden ebenfalls nahezu inhaltsgleich bereits in §§ 3, 2 Abs. 1 RStPO normiert.584 Der Gesetzgeber ging bei der Einführung der heutigen §§ 264, 2 f. StPO also von einem unbestimmten prozessualen Tatbegriff aus, wobei sich eine Tat jedenfalls nur auf einen Beschuldigten bezog; dennoch ging der historische Gesetzgeber von einem umfassenden Aktenbegriff in § 197 RStPO als Vorgängernorm zu § 199 Abs. 2 S. 2 StPO aus. Da die Normen in nahezu gleicher Weise immer noch in der StPO implementiert sind und sich der Gesetzgeber von seiner Sichtweise nie explizit gelöst hat, widerspräche eine Übertragung der Grundsätze zum Tatbegriff auf den Aktenbegriff, was die Begrenzung auf den Beschuldigten anbelangt, dem gesetzgeberischen Willen. Insofern lässt sich aus dem Vorstehenden ableiten, dass die gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegenden Akten nicht unbedingt nur Informationsträger aus einem Ermittlungsverfahren umfassen, sondern sich die Vorlagepflicht auch auf weitere Vorgänge beziehen kann, die den angeklagten Geschehensablauf betreffen. Die Grundsätze zur prozessualen Tat können jedenfalls hinsichtlich der Begrenzung auf den Beschuldigten nicht auf den Aktenbegriff übertragen werden. (b) Ableitung des vollständigen Aktenumfanges Auch wenn nun als Mindest-Vorlagegegenstand die Vorgänge zum angeklagten Geschehensablauf festgestellt worden sind und festgehalten werden kann, dass auch Vorgänge zu Ermittlungsverfahren gegen anderweitige Beschuldigte vorzulegende Aktenbestandteile sein können, wird hierdurch immer noch nicht die abstrakte Frage beantwortet, welche Vorgänge für welches Strafverfahren die gesamten Aktenbestandteile darstellen.

583 Vgl. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 205: „Darüber freilich, unter welchen Voraussetzungen diese Identität auch dann als vorhanden anzunehmen sei, wenn nach dem Ergebnisse der Hauptverhandlung die That sich in einer anderen Gestaltung, als nach der Anklage, darstellt, lassen sich allgemeine Vorschriften nicht geben; vielmehr muss die Frage immer nach der Beschaffenheit des einzelnen Falles beurtheilt werden.“ 584 Siehe Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 2394 f.

II. Systematik

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Dies hängt damit zusammen, dass der prozessuale Tatbegriff, was in der Literatur vermehrt kritisiert wird,585 nicht trennscharf definiert ist. Daraus folgt, dass bei der Bestimmung des „inneren Zusammenhanges“ i. R. d. prozessualen Tat die oben dargestellten Kriterien je nach Einzelfall verschieden gewichtet und i. S. e. Gesamtbetrachtung herangezogen werden.586 Eine solches Vorgehen587 kann auf den Umfang der Aktenvorlagepflicht ebenfalls nicht schematisch übertragen werden. Denn dies liefe darauf hinaus, dass die Staatsanwaltschaft bei der Prüfung des Vorlageumfanges eigenständig bewerten müsste, welche Vorgänge den angeklagten Geschehensablauf in der Gesamtschau (noch) betreffen und welche eben nicht. Dem stehen die nachfolgenden Gründe entgegen. Zunächst kann die Kognitionspflicht schon aufgrund der unter anderem hinter § 264 Abs. 1 StPO stehenden ratio – die unabhängige und umfassende Kognition – nicht davon abhängen, ob die Staatsanwaltschaft anhand der Maßstäbe zur prozessualen Tat einen Vorgang als innerlich mit den anderen Informationsträgern zusammenhängend einordnet. Hierdurch liefe man Gefahr, dass dem Gericht nicht vorgelegte Vorgänge aufgrund einer fehlerhaften Bewertung des Tatumfangs durch die Staatsanwaltschaft nachfolgend wegen Art. 103 Abs. 3 GG nicht mehr abgeurteilt werden könnten. Die Kognitionspflicht zielt jedoch gerade darauf ab, den Unrechtsgehalt einer Tat weitestgehend auszuschöpfen.588 Eine Auslegung des Aktenbegriffs, der sich auf die Vorgänge zu Handlungen beschränkt, die die Staatsanwaltschaft als der prozessualen Tat zugehörig einordnet oder (begriffsenger) in der Anklageschrift explizit benannt hat, führte – die vorstehenden Ausführungen zur Kognitionspflicht vorausgeschickt – zu einem Systembruch. Dies muss erst recht gelten, wenn man zur Auslegung der Anklageschrift dahingehend, auf welche prozessuale(n) Tat(en) sich der Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft erstreckt, neben dem Anklagesatz und dem wesentlichen Ermittlungsergebnis (vgl. § 200 Abs. 2 S. 1 StPO)589 auch die Heranziehung des sonstigen Akteninhalts für zulässig erachtet.590 Wie soeben erwähnt, soll nach dem herausgearbeiteten Willen des historischen Gesetzgebers – der sich i. E. mit der systematischen und teleologischen Betrachtung von § 199 Abs. 2 S. 2 StPO deckt – die Staatsanwaltschaft zudem gerade keine Bewertung vornehmen dürfen, welche der angesammelten Vorgänge für das Strafverfahren relevant sind. Eben dies wäre jedoch die Konse585 Eingehend hierzu MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, § 264, Rn. 11 f. m. z. N.; LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 7, § 264, Rn. 22 ff. m. w. N. 586 Siehe nur LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 7, § 264, Rn. 17, 19, 95 ff. 587 Krit. hierzu etwa MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, § 264, Rn. 16 f. 588 BGH NStZ-RR 2012, 355, 357; LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 7, § 264, Rn. 37 m. w. N.; vgl. auch MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, § 264, Rn. 6, 35. 589 Siehe hierzu zurückhaltend MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, § 264, Rn. 9 m. w. N. aus der Rspr; insoweit zust. wohl SK-StPO/Velten, Bd. 5, § 264, Rn. 56. 590 So wurde noch bei BGH NJW 2000, 154, 157 verfahren; demgemäß auch LRStPO/Stuckenberg, Bd. 7, § 264, Rn. 35 m. w. N.; a. A. BGHSt 46, 130, 134; SK-StPO/Velten, Bd. 5, § 264, Rn. 56.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

quenz, wenn man die Kriterien zur prozessualen Tatidentität schablonenhaft auf den Aktenbegriff, und damit auf den Umfang der vorzulegenden Akten, übertragen würde. Die Kasuistik zum prozessualen Tatbegriff lässt sich demnach allenfalls in modifizierter Form übertragen. Nun kann ein Lebensvorgang mit Blick auf die hohe Bedeutung der Kognitionspflicht, Gerechtigkeitserwägungen und die sich an die Bewertung des prozessualen Zusammenhanges anknüpfenden Folgen – hierzu könnte man auch den Umfang der Aktenvorlagepflicht zählen – im Zweifel als Teil der prozessualen Tat angesehen werden.591 Insofern wäre es nur konsequent, dass die Staatsanwaltschaft im Zweifel einen Vorgang als von dem angeklagten geschichtlichen Lebenssachverhalt umfasst anzusehen und demgemäß die diesbezüglichen Informationsträger dem Gericht vorzulegen hat. Ob solche Grenzfälle von der Staatsanwaltschaft zutreffend als von der angeklagten Tat umfasst bewertet wurden, mithin zwischen den einzelnen Handlungen ein „innerer Zusammenhang“ tatsächlich besteht, wird schließlich das Gericht entscheiden (müssen), und zwar gem. der §§ 261, 264 Abs. 1 StPO nach dem Ergebnis bzw. aus dem Inbegriff der Verhandlung.592 Die Modifikation könnte hier dadurch geschehen, dass bereits das Vorliegen eines der oben beschriebenen Kriterien zur Tatidentität die Vorlagepflicht aus § 199 Abs. 2 S. 2 StPO auslöst. Auch hierdurch kann der Aktenbegriff jedoch nicht (trennscharf) konkretisiert werden. Eine Ausdehnung auf Zweifels- bzw. Grenzfälle ändert nichts daran, dass die vorigen Ausführungen zur prozessualen Tat lediglich das Problem beschreiben, für einen inhaltlichen Zusammenhang abstrakte Vorgaben zu finden, ohne es wirklich zu lösen.593 Die Frage, ob ein Vorgang mit dem geschichtlichen Vorgang eindeutig zusammenhängt, dies zweifelhaft ist oder eben offensichtlich zu negieren ist, kann ebenfalls nur mittels einer Wertung beantwortet werden. Die Umschreibung der prozessualen Tat bzw. die hierzu herausgebildeten Kriterien werden in einer Gesamtschau bewertet, um einen prozessualen Zusammenhang dieser Vorgänge zu bejahen oder eben zu verneinen. Wollte man eine eigenständige Bewertung der Staatsanwaltschaft mit Auswirkungen auf die dem Gericht vorzulegenden Akten gänzlich vermeiden, müssten alle erdenklichen im Besitz der Staatsanwaltschaft befindlichen Informationsträger dem Gericht vorgelegt werden. Durch die Annahme, den vorzulegenden Aktenumfang auf Vorgänge zu beschränken, die möglicherweise zur prozessualen Tat gehören, lässt sich der Aktenbegriff indes nicht konkretisieren. Im Gegenteil würde der Aktenbegriff hierdurch noch konturenloser. Insofern hilft die zur prozessualen Tat herausgebildete Kasuistik weder 591 Ähnlich BGHSt 35, 14, 19; vgl. auch MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, § 264, Rn. 11 m. w. N. 592 Vgl. instruktiv BGH NStZ 1996, 243, 243; siehe auch BGH, Urt. v. 17.10.2019 – 3 StR 170/19, Rn. 13, juris. 593 Siehe zur Kritik an dem Tatbegriff der Rspr.: MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, § 264, Rn. 11 ff. m. w. N.; LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 7, § 264, Rn. 22 ff. m. w. N.

II. Systematik

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entsprechend noch modifiziert dazu, den thematischen/inhaltlichen Zusammenhang verschiedener Informationsträger zu einem Strafverfahren weiter zu konkretisieren. Die Problematik, zu der eine modifizierte Übertragung der Kriterien zur Bewertung der Tatidentität auf den Aktenbegriff führen würde, soll an folgendem Beispiel verdeutlicht werden: Dem A wird mit der Anklageschrift Handeltreiben mit unerlaubten Betäubungsmitteln zur Last gelegt. Er soll in der Silvesternacht von sich zu Hause aus Kokain an Dritte veräußert haben. Wenn nun eine weitere Person B ebenfalls in Verdacht steht, am selben Silvesterabend mit Kokain Handel getrieben zu haben, und auch B in Verdacht steht, das Kokain von zu Hause aus veräußert zu haben, und nur eine Straße von A entfernt wohnt, wären nahezu alle der oben dargestellten Kriterien zur prozessualen Tat erfüllt. Es bestünde – abgesehen davon, dass es sich um verschiedene Beschuldigte handelt, sodass prozessual zwei Taten vorlägen – zwischen den vermeintlichen sachlich-rechtlichen Taten von A und B eine „zeitliche Nähe“, eine „örtliche Nähe“, die erforderliche „Identität der verletzten Rechtsgüter“, eine „gleichartige Begehungsweise“, ein „ähnliches Täterverhalten“ und auch eine „einheitliche Motivationslage“. Sind die Vorgänge aus dem Ermittlungsverfahren gegen B nun automatisch mit der Anklageschrift betreffend A dem Gericht vorzulegen? Falls ja, müssten etwa in Betäubungsmittelverfahren jegliche Ermittlungsakten verschiedenster Personen dem Gericht vorgelegt werden, die zeitlich oder örtlich in irgendeiner Weise Parallelen aufweisen, auch wenn offensichtlich ist, dass die verschiedenen Ermittlungsverfahren in keiner Weise miteinander zusammenhängen bzw. die Gemeinsamkeit offensichtlich reiner Zufall ist. Falls nein, setzte dies wiederum eine vorausgegangene Bewertung der Verfahrensrelevanz durch die Staatsanwaltschaft voraus. Selbst wenn man eine solche Bewertung durch die Staatsanwaltschaft in diesen engen Grenzen zulassen wollte, könnte der Aktenbegriff anhand der Kriterien zur Tatidentität nicht eindeutig ausgefüllt werden. Dass die Vorgänge aus dem Ermittlungsverfahren gegen B mit der Anklageschrift betreffend A dem Gericht zwecks Kognition ebenfalls vorzulegen wären, weil sie möglicherweise mit dem angeklagten Geschehensablauf zusammenhängen, müsste nämlich jedenfalls dann anzunehmen sein, wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, dass zwischen den Handlungen von A und B ein innerer Zusammenhang besteht und eines der Kriterien nicht nur rein zufällig übereinstimmt, sodass die Vorgänge zumindest zweifelshalber vorzulegen wären. Ob dies tatsächlich anzunehmen ist, müsste nach vorigen Ausführungen schließlich das Gericht feststellen. Einen solchen Zweifels- bzw. Grenzfall könnte man in dem obigen Beispielsfall wohl dann annehmen, wenn es aufgrund der jeweils beschlagnahmten Betäubungsmittel Hinweise dazu gäbe, dass A und B die Betäubungsmittel von demselben Lieferanten beziehen; ein Anhaltspunkt für einen inneren Zusammenhang könnte sich beispielweise auch dadurch ergeben, dass bei A sog. „Kokaintütchen“ aufgefunden wurden, die Fingerabdrücke aufwiesen und A und B zugeordnet werden konnten.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

Wie wäre der innere Zusammenhang jedoch zu beurteilen, wenn sich als Anhaltspunkt lediglich herausstellt, dass A und B in der Vergangenheit gemeinsam strafrechtlich in Erscheinung getreten sind? Würde dies einen solchen Grenzfall darstellen, sodass die Ermittlungsvorgänge betreffend B von der Staatsanwaltschaft zweifelshalber auch mit der Anklageschrift bzgl. A vorzulegen wären? Müsste man einen solchen Grenzfall etwa auch dann annehmen, wenn ein vermeintlicher Käufer des A in einer Vernehmung angibt, das Kokain nur deshalb bei A gekauft zu haben, weil sein eigentlicher Dealer B (zufällig) nicht anzutreffen war? Jedenfalls für die letztgenannten Varianten wird man die Frage des inneren Zusammenhanges eindeutig und sicher weder mit Ja noch mit Nein beantworten können. Ob es sich zumindest zweifelshalber um einen einheitlichen Lebensvorgang handelt, ist und bleibt eine reine Wertungsfrage. Insofern lässt sich der von der Staatsanwaltschaft gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegende Aktenumfang nicht anhand der Kriterien zur Bestimmung der prozessualen Tat konkretisieren. (c) Der Verfolgungswille als Orientierungsmaßstab Der Aktenumfang kann sich auch nicht generell am Verfolgungswillen der Staatsanwaltschaft orientieren. Denn von der Aktenvorlage gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO müssen auch die Vorgänge zu materiellrechtlichen Taten umfasst sein, die gem. § 154a Abs. 1 StPO nicht mit der Anklageschrift verfolgt werden sollen. Dies ergibt sich daraus, dass solche von der Verfolgung ausgenommenen Tatteile das Schicksal des restlichen Tatteils teilen; die Beschränkung ändert aufgrund der Unteilbarkeit der prozessualen Tat nichts an der Anhängigkeit des ausgenommenen Tatteils.594 Insofern betreffen die Vorgänge des ausgenommenen Tatteils die angeklagte Tat und hängen schon deshalb inhaltlich mit ihr zusammen. Zudem muss es dem Gericht in jeder Lage des Verfahrens möglich sein, gem. § 154a Abs. 1 StPO von der Verfolgung ausgenommene Teile der prozessualen Tat wieder in das Verfahren einzubeziehen, § 154a Abs. 3 S. 1 StPO. Dies setzt voraus, dass das Gericht Kenntnis von den zunächst ausgeschiedenen Tatteilen oder Gesetzesverletzungen hat. Dessen ungeachtet, kann die Vorlagepflicht aber auch im Allgemeinen nicht notwendig auf Vorgänge beschränkt sein, die vom Verfolgungswillen der Staatsanwaltschaft umfasst sind. Bei selbstständigen und bereits eingestellten Taten, etwa nach § 154 Abs. 1 Nr. 1 StPO, umfasst der Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft bei der Anklage einer anderen Tat zwar nicht die eingestellte Tat, sodass eine Aburteilung insoweit ausgeschlossen ist.595 Ein inhaltlicher Zusam-

594

MüKo-StPO/Teßmer, Bd. 2, § 154a, Rn. 3; vgl. auch MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, § 264,

Rn. 9. 595 Siehe nur SK-StPO/Velten, Bd. 5, § 264, Rn. 54; eine Aburteilung ist prozessual lediglich durch die Wiederaufnahme nach § 154 Abs. 4 StPO gepaart mit einer (Nachtrags-)Anklage möglich, siehe SK-StPO/Weßlau/Deiters, Bd. 3, § 154, Rn. 29.

II. Systematik

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menhang ist hierbei aber jedenfalls dann anzunehmen, wenn diese weitere Tat aufgrund der angeklagten Tat als die Bezugssanktion596 (vorläufig) eingestellt wurde. Dessen ungeachtet betrifft die vom Verfolgungswillen getragene prozessuale Tat nur den Gegenstand der Urteilsfindung bzw. Kognition (§§ 155 Abs. 1, 264 Abs. 1 StPO), der von dem Umfang der gerichtlichen Aufklärung (§ 244 Abs. 2 StPO) zu unterscheiden ist.597 Die Kognition orientiert sich an der prozessualen Tat; die gerichtliche Aufklärung geht jedoch hierüber hinaus, denn das Gericht muss die der Kognition unterliegende Tat erschöpfend und umfassend aufklären, wozu (etwa zur Beweiswürdigung oder für Strafzumessungserwägungen) erwiesenenfalls auch Umstände verwertet werden können, die außerhalb der angeklagten Tat liegen.598 Insofern können auch Vorgänge zu Taten, die im Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft gem. der §§ 153 ff. StPO (vorläufig) eingestellt worden sind,599 mit der prozessualen Tat inhaltlich zusammenhängen oder in sonstiger Weise für das Verfahren bedeutend sein.600 Auch vor diesem Hintergrund kann sich die Vorlagepflicht aus § 199 Abs. 2 S. 2 StPO nicht zwingend an dem Verfolgungswillen der Staatsanwaltschaft orientieren. (3) Zwischenergebnis Aus dem prozessualen Tatbegriff und der Kognitionspflicht kann zunächst die Schlussfolgerung gezogen werden, dass sich die Vorlagepflicht nicht auf Vorgänge zu einzelnen Handlungen im sachlich-rechtlichen Sinne oder einzelnen Ermittlungsverfahren beschränkt; § 199 Abs. 2 S. 2 StPO umfasst die Vorgänge zur angeklagten Tat in ihrer Gesamtheit. Ob zur Tat zählende Handlungen im Anklagesatz ausdrücklich benannt werden, kann mit Blick auf den Gegenstand der Kognition ebenfalls nicht maßgebend für die Vorlagepflicht sein. Hierbei kann es sich jedoch lediglich um den Mindestumfang der vorzulegenden Akten handeln. Dies ergibt sich aus einem Vergleich von § 3 StPO mit der Funktion der §§ 244, 264 StPO. Aus den §§ 2 f. StPO ergibt sich des Weiteren, dass Vorgänge zu Ermittlungsverfahren gegen andere Beschuldigte, die derselben Tat beschuldigt werden oder wurden, inhaltlich miteinander zusammenhängen. Hieraus lässt sich nicht nur ableiten, dass der Aktenbegriff inhaltlich weiter gehen muss als der Tatbegriff. Insbesondere zeigen die §§ 2 f. StPO, dass Vorgänge, die weitere Beschuldigte betreffen, mit einem Strafverfahren eines anderen Beschuldigten inhaltlich zusammenhängen können; jedenfalls Vorgänge zu ver596

Siehe SK-StPO/Weßlau/Deiters, Bd. 3, § 154, Rn. 13. Eingehend SK-StPO/Velten, Bd. 5, § 264, Rn. 5, 51. 598 Eingehend SK-StPO/Velten, Bd. 5, § 264, Rn. 5, 51 m. w. N.; LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 7, § 264, Rn. 44 ff.; siehe auch MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, § 264, Rn. 35, 41 f. 599 Dies muss entsprechend bei Einstellungen des Generalbundesanwaltes gem. § 153c Abs. 5, 153d Abs. 1, 153e Abs. 1 StPO gelten. 600 Vgl. für vorläufig nach § 154 StPO eingestellte Taten: SK-StPO/Weßlau/Deiters, Bd. 3, § 154, Rn. 55 ff. 597

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

meintlichen Alternativtätern müssten hiernach der Vorlagepflicht aus § 199 Abs. 2 S. 2 StPO unterliegen. Ob die Staatsanwaltschaft die Verfahren zu solchen weiteren prozessualen Taten im Ermittlungsverfahren oder mit der Anklageerhebung gem. § 2 Abs. 1 i. V. m. § 3 StPO verbunden hat, kann hierbei nicht maßgebend sein. Insofern kann ein inhaltlicher Zusammenhang unabhängig davon bestehen, ob zu der Zeit, als die Informationsträger erzeugt oder der Staatsanwaltschaft zugeleitet wurden, der Angeschuldigte bereits als Beschuldigter geführt wurde. Dieses Ergebnis deckt sich mit der bisherigen Untersuchung zu § 199 Abs. 2 S. 2 StPO. Weitere Rückschlüsse lassen sich aus dem Tatbegriff bzw. der Sachstruktur von § 264 StPO nicht gewinnen. Insbesondere eignen sich zur Ausfüllung des Aktenbegriffs die Kriterien zur Bestimmung der Tatidentität nicht. Die bei der Staatsanwaltschaft angesammelten Informationsträger anhand dieser Kriterien für die Vorlage gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO zu sortieren, steht der Hintergrund der Kognitionspflicht und der gesetzgeberische Wille zur Aktenvorlagepflicht entgegen. Weiter kann die Vorlagepflicht – zugunsten einer Minimalisierung des Bewertungsspielraums der Staatsanwaltschaft – auch nicht auf Vorgänge begrenzt werden, die zumindest möglicherweise i. S. d. Kasuistik zur Tatidentität mit der Tat „innerlich zusammenhängen“. Zum einen verbliebe hierdurch entgegen der gesetzgeberischen Zielvorstellung immer noch ein Bewertungsspielraum der Staatsanwaltschaft, zum anderen (oder eben deshalb) kann durch eine solche Modifikation der Tatkriterien nicht abstrahiert werden, was zu den vorzulegenden Akten zählt. Eine Orientierung des Aktenbegriffs am Verfolgungswillen der Staatsanwaltschaft kann ebenfalls nicht überzeugen. Dies belegt für von der Verfolgung ausgenommene Tatteile bereits § 154a Abs. 1, Abs. 3 S. 1 StPO. Ist die angeklagte Tat die sog. Bezugssanktion i. R. v. § 154 Abs. 1 Nr. 1 StPO, ist allein hierdurch ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen dem eingestellten Vorgang und der angeklagten Tat hergestellt. Dies stellt wiederum lediglich den Mindest-Vorlageumfang dar. Darüber hinaus lassen sich hieraus keine weiteren abstrakten Vorgaben herleiten. Da zwischen dem Gegenstand der Kognition und dem Umfang der gerichtlichen Aufklärung zu unterscheiden ist, sind von der Vorlagepflicht weitere selbstständige und (vorläufig) eingestellte Taten nicht notwendig vom Aktenbegriff auszuklammern. c) Zwischenfazit zur Auslegung von § 199 Abs. 2 S. 2 StPO Die Sichtweise des historischen Gesetzgebers bei Einführung des § 197 RStPO, nach der das gesamte bei der Anklagebehörde angesammelte Ermittlungsmaterial dem Gericht vorzulegen ist, hat sich im Laufe der Zeit nicht gewandelt. Die aufgezeigten teleologischen und systematischen Erwägungen sprechen insgesamt ebenfalls dafür, § 199 Abs. 2 S. 2 StPO einen umfassenden Aktenbegriff zugrunde zu legen.

II. Systematik

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Hierzu zählt neben dem gesamten Ermittlungsmaterial, das seit Beginn des Ermittlungsverfahrens gegen den Beschuldigten entstanden ist, auch das Informationsmaterial, das sich im Zuge von Ermittlungsverfahren gegen andere Beschuldigte angesammelt hat. Letzteres setzt voraus, dass dieses Informationsmaterial mit dem Ermittlungsverfahren eines anderen Beschuldigten inhaltlich zusammenhängt. Dies ist etwa bei den sog. Spurenakten anzunehmen. Das Zusammenspiel des ZSHG und des BPolG einerseits und der §§ 96 S. 1, 161 Abs. 1 S. 1, 2, Abs. 3 S. 1, 100e Abs. 6 Nr. 3, 480 Abs. 1 S. 1 StPO andererseits haben darüber hinaus gezeigt, dass es für die Einordnung als vorzulegende Akten(-bestandteile) noch nicht einmal entscheidend darauf ankommt, ob die Staatsanwaltschaft hierfür die aktenführende Stelle ist. Jedenfalls, wenn außerstrafprozessuale Vorgänge der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellt werden, sind sie zum Bestandteil der vorzulegenden Akten geworden. Ob unter bestimmten Voraussetzungen der Verteidigung die Einsicht in diese Informationsträger verwehrt werden kann, wird auf der Ebene des Einsichtsrechts einer genaueren Untersuchung zugeführt.601 Der inhaltliche Zusammenhang eines Informationsträgers mit einem (bestimmten) Strafverfahren lässt sich an dieser Stelle zumindest insoweit konkretisieren, als dass Bezugspunkt des Aktenumfangs nicht notwendig ein etwaiges Ermittlungsverfahren oder eine sachlich-rechtliche Handlung ist, sondern der zugrundeliegende Geschehensablauf i. S. e. Tat im prozessualen Sinne. Neben dem Aktenwahrheits-/vollständigkeitsgebot ergibt sich auch aus den § 2 f. StPO, dass sog. Spurenakten dem Aktenbegriff unterliegen. Auch Vorgänge zu gem. § 154a Abs. 1 S. 1 StPO ausgenommenen Tatteilen müssen zu den vorzulegenden Akten zählen. Gleiches gilt für Vorgänge zu weiteren gem. §§ 153 ff. StPO (vorläufig) eingestellten Taten jedenfalls dann, wenn die angeklagte Tat die Bezugssanktion ist oder die Taten aus anderen Gründen mit der angeklagten Tat in Verbindung stehen. Im Übrigen lässt sich die Dogmatik zur prozessualen Tat nicht für den Aktenbegriff fruchtbar machen. Durch die Untersuchung der außerstrafprozessualen Vorgänge und des prozessualen Tatbegriffs konnte der inhaltliche Zusammenhang zwischen den Vorgängen, die sich bei der Anklagebehörde angesammelt haben, nicht weiter konkretisiert werden. Wenngleich das Zwischenverfahren nicht die Kontrolle der staatsanwaltschaftlichen Vorgehensweise bezweckt, so ist dem Zwischenverfahren de lege lata immanent, die Richtigkeit der Abschlussentscheidung der Staatsanwaltschaft bzw. die in der Anklageschrift dargelegte Verdachtsthese anhand der übersendeten Akten aus gerichtlicher Sicht zu überprüfen und die staatsanwaltschaftliche Bewertung in diesem Sinne zu „kontrollieren“. Hierbei geht es lediglich darum, dem Gericht ebenso wie der Staatsanwaltschaft die Gelegenheit einer umfassenden Verdachtsprüfung zu ermöglichen. Die §§ 155 Abs. 1, 264 StPO sprechen nicht zwingend gegen eine solche Sichtweise. Dass der Prüfungsgegen-

601

Siehe S. 553 ff.

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stand im Zwischenverfahren das gesamte Ermittlungsverfahren und nicht lediglich ein zusammengefasster Ausschnitt hiervon zu sein hat, legen schließlich die hinter den §§ 201 Abs. 1 S. 1, 202 S. 1, 207 Abs. 2 StPO stehenden Rechtsgedanken – insbesondere die eigenständige gerichtliche Überprüfung der Anklageschrift und die Vorbeugung möglicher Verfahrensunterbrechungen/-aussetzungen – nahe. Die mit der vollständigen Vorlagepflicht einhergehende Kontrollmöglichkeit ist insoweit also zunächst nur ein Normreflex. Das Verständnis des historischen Gesetzgebers von einer Vorlagepflicht des gesamten Ermittlungsstoffes ist folglich auch vor dem Kontroll-/Überprüfungsaspekt mit der Funktion und dem Zweck des Zwischenverfahrens vereinbar. Der hinter dem Akkusationsprinzip stehende Gedanke der Machtverringerung und der Übergang der Verfahrensherrschaft auf das Gericht mit der Anklageerhebung sprechen ebenfalls für eine umfassende Vorlagepflicht. Der Wechsel der Verfahrensherrschaft ist in § 480 Abs. 1 S. 1 StPO ausdrücklich normiert. Die §§ 152 Abs. 2, 160 Abs. 2 StPO sprechen mit Blick auf § 160 Abs. 1 StPO und der dort zum Ausdruck kommenden Funktion des Ermittlungsverfahrens ebenfalls nicht gegen ein weites Aktenbegriffsverständnis. Der in der StPO vermehrt zum Ausdruck kommende Grundsatz der Aktenwahrheit/-vollständigkeit verlangt vielmehr eine grundsätzlich umfassende Dokumentation des Ermittlungsverfahrens und demzufolge die Vorlage des vollständigen Ermittlungsmaterials. Darauf, dass die Informationsträger rechtmäßig erlangt wurden bzw. die hierin enthaltenen Informationen sich auf Beweismittel beziehen, die einem Verwertungsverbot unterliegen, kann es aus Gründen einer notwendigen Aktenvollständigkeit ebenfalls nicht ankommen. Weiter ist schon aufgrund der §§ 146 f. GVG (im Gegensatz zu Art. 97 Abs. 1 GG, § 25 DRiG) fragwürdig, wie weit das Objektivitätsgebot aus §§ 160 Abs. 1, 2 StPO reicht bzw. tatsächlich reichen kann. Das Objektivitätsgebot kann bei der Frage, inwieweit das Ermittlungsmaterial vorzulegen ist, jedoch völlig losgelöst von dem Norminhalt und der praktischen Umsetzbarkeit keine Relevanz haben. Denn einerseits ging der historische Gesetzgeber von einem weiten Aktenbegriff aus, obwohl die RStPO diese Objektivitätspflicht ebenfalls beinhaltete. Im Übrigen ist die StPO andererseits auf eine gegenseitige Kontrolle oder Überprüfung durch Gericht und Staatsanwaltschaft geradezu ausgelegt. Hierbei wird auch ein grundsätzliches Misstrauen des Gesetzgebers gegenüber staatlichen Organen erkennbar. Die Konsequenz einer umfassenden Vorlagepflicht ist der StPO somit nicht fremd. Die Pflicht zur Vorlage des umfassenden Ermittlungsmaterials steht insofern auch nicht zur Stellung der Staatsanwaltschaft im Widerspruch, sondern folgt vielmehr aus ihr.

11. Die Stellung des Verteidigers Das Akteneinsichtsrecht zu Verteidigungszwecken ist ein Recht, welches (vordergründig) durch den Verteidiger ausgeübt wird. Zudem dient das Akteneinsichtsrecht in besonderer Weise der Verteidigung. Insofern ist die Rechtsstellung des Verteidigers in den Blick zu nehmen.

II. Systematik

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Die herrschende Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum geht von einer Doppelrolle des Verteidigers aus.602 Er ist Beistand des Beschuldigten und Organ der Rechtspflege.603 In der Regel besitzt der Beschuldigte nicht die ausreichende juristische Fachkenntnis; auch kann ihm die für eine effektive Verteidigung erforderliche Intelligenz oder emotionale Ausgeglichenheit fehlen.604 Die Funktion des Verteidigers besteht darin, dieses Gefälle auszugleichen. Letztlich dient ein Verteidiger also der Herstellung von Waffengleichheit.605 Wenngleich die Staatsanwaltschaft nach Maßgabe des § 160 Abs. 1, 2 StPO bzw. das Gericht gem. der §§ 155 Abs. 2, 202, 244 Abs. 2 StPO den Sachverhalt objektiv zu erforschen hat,606 reicht dies als Verteidigung anerkanntermaßen607 nicht aus.608 Dem Modell eines schriftlichen, geheimen Inquisitionsprozesses – unter Zurückdrängung des Verteidigungsrechts und aus dem Blickwinkel, das Gericht berücksichtige doch schon die Umstände zugunsten des Beschuldigten609 – folgt die Strafprozessordnung ganz bewusst nicht. Zunächst ist der Verteidiger Berater des Beschuldigten610 und dafür zuständig, die Belange des Beschuldigten in geeigneter Weise dem Gericht nahezubringen.611 Hierzu entwickelt er eine Verteidigungskonzeption.612 Darüber hinaus vertritt der Verteidiger den Beschuldigten, etwa weil dem Beschuldigten die Rechtsmacht fehlt oder er schlicht nicht anwesend ist.613 Die Grundlage hierfür soll ein völliges Vertrauensverhältnis darstellen.614 Wenn Gericht und Staatsanwaltschaft zur Objektivität verpflichtet sind, zielt die Funktion des Verteidigers insbesondere darauf ab, die bisher von Gericht und Staatsanwaltschaft unbeachteten, für den Beschuldigten günstigen Momente zu betonen oder in das Verfahren einzuführen.615 Im Allgemeinen soll der Verteidiger im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft jedoch nur zugunsten des Beschuldigten agieren dürfen.616 Er ist einseitiger617 und unabhängiger Beistand des Beschuldigten; unabhängig ist er dabei sowohl gegenüber dem Beschuldigten als auch ge-

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Beulke, Verteidiger, S. 19, 168 ff. Beulke, Verteidiger, S. 19, 164 ff. m. z. N.; siehe auch Jörke, Akteneinsicht, S. 112 ff. m. w. N. 604 Beulke, Verteidiger, S. 35. 605 So auch Beulke, Verteidiger, S. 40. 606 Vgl. Beulke, Verteidiger, S. 35. 607 Beulke, Verteidiger, S. 36. 608 Beulke, Verteidiger, S. 35. 609 Beulke, Verteidiger, S. 28 m. w. N. 610 Eingehend Beulke, Verteidiger, S. 41. 611 Eingehend Beulke, Verteidiger, S. 42 f.; vgl. auch Barton, Mindeststandards, S. 332. 612 Eingehend Barton, Mindeststandards, S. 344 ff. m. w. N. 613 Beulke, Verteidiger, S. 43. 614 Beulke, Verteidiger, S. 45. 615 Beulke, Verteidiger, S. 36. 616 Beulke, Verteidiger, S. 36. 617 Beulke, Verteidiger, S. 40. 603

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genüber dem Gericht bzw. der Staatsanwaltschaft.618 Demgemäß soll der Verteidiger „die Anklage des Staatsanwalts vorbehaltlos in Frage stellen und jede schwache Stelle kenntlich machen, die zugunsten seines Mandanten spricht“.619 Jeden Aspekt, der den Beschuldigten mit Blick auf das materielle und formelle Recht begünstigen könnte, soll der Verteidiger zur Diskussion stellen.620 Hierzu sind die Beweisinhalte, insbesondere die aus bestimmten Beweismitteln gezogenen inhaltlichen Schlüsse,621 auf Logik und Plausibilität zu prüfen.622 Die Funktion des Verteidigers ist folglich auf Kontradiktion geradezu ausgerichtet.623 Dem Verteidiger kommt also auch und gerade eine Aufklärungsfunktion zu. Die Existenz dieses Verfahrensbeteiligten ist deshalb als so bedeutend anzusehen, weil die Objektivitätsverpflichtung der Staatsanwaltschaft zumindest nicht als gleicher Garant dafür anzusehen ist, dass die den Beschuldigten begünstigenden Umstände in gleicher Weise berücksichtigt werden wie belastende Aspekte.624 Dieser Gedanke kam schon in den Reichstagskommissionsprotokollen zur Einführung der Reichsstrafprozessordnung zum Ausdruck. Hierin hieß es im Zusammenhang mit der nicht gänzlich ausschließbaren Unvoreingenommenheit ermittelnder Personen zulasten von Beschuldigten: „Der Staatsanwalt sei zufolge seiner Stellung genöthigt, die Anklage zu verfolgen, der Untersuchungsrichter, der die Voruntersuchung geführt, werde die Sache ebenfalls nicht leichter fallen lassen. Wenn also beide doch mehr oder minder zu Ungunsten der Einstellung präokkupierten Theile über die Einstellung einverstanden seien, so sei mit der größten Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß diese Entscheidung die richtige sei.“625

Auf die Feststellung des Sachverhalts soll der Verteidiger effektiv und bestimmend einwirken können.626 Als Ausdruck dieses Gedankens dient beispielhaft das Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei der Beschuldigtenvernehmung (§§ 163a Abs. 3 S. 2 bzw. Abs. 4 S. 3 i. V. m. 168c Abs. 1 S. 1 StPO) oder ganz

618 Beulke, Verteidiger, S. 85, 106 ff., 201; zum Ausdruck kommt dieser Aspekt bspw. in §§ 1, 3 Abs. 1 BRAO. Selbstredend spielen Beschuldigteninteressen eine Rolle, wobei ein Interessenkonflikt mit dem Interesse an der Effektivität der Verteidigung zumeist Vorrang zukommt, eingehend hierzu wiederum ders. a. a. O. S. 114 ff. m. w. N. 619 Beulke, Verteidiger, S. 40. 620 Beulke, Verteidiger, S. 45. 621 Barton, Mindeststandards, S. 332. 622 Barton, Mindeststandards, S. 330. 623 Vgl. Beulke, Verteidiger, S. 40. 624 Beulke, Verteidiger, S. 43; Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 54; ähnlich Jörke, Akteneinsicht, S. 96 f.; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 98. 625 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 798; vgl. auch den Kommissionsbericht zum Entwurf der Reichsstrafprozessordnung, abgedruckt in: Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1577: „Die Kommission erachtet es nämlich umsomehr für bedenklich, eine Ausnahme zuzulassen, als die Gefahr nicht ausgeschlossen ist, daß der Untersuchungsrichter in Folge seiner längeren Beschäftigung mit der Sache nicht völlig unbefangen in seinem Urtheile über die Ergebnisse sei.“ 626 Beulke, Verteidiger, S. 43.

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allgemein das Recht des Verteidigers, eigene Ermittlungen anzustellen.627 Hierfür ist dem Verteidiger ausreichend Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung zu geben, was insbesondere in § 265 Abs. 3, 4 StPO und § 246 Abs. 2 StPO oder auch § 145 Abs. 3 StPO zum Ausdruck kommt.628 Im Zusammenhang mit der auswechselnden Bestellung eines Verteidigers im Laufe der Hauptverhandlung führte der Bundesgerichtshof bereits früh aus: „Die besondere Aufgabe des Verteidigers im Strafprozeß ist es, dem Schutze des Beschuldigten zu dienen und dadurch zur Findung eines gerechten Urteils beizutragen. Er hat diese Aufgabe unter eigener Verantwortung und unabhängig vom Angeklagten zu erfüllen. Dieser kann er aber nur gerecht werden, wenn er den Sachverhalt ausreichend kennt, wenn er genügend darüber unterrichtet ist, wie sich der Angeklagte zur Anklage verhält, und wenn er ein klares Bild von den Möglichkeiten gewonnen hat, die für eine sachgemäße Verteidigung bestehen […]. Nur ein Verteidiger, der den Stoff ausreichend beherrscht, kann die Verteidigung mit der Sicherheit führen, die das Gesetz verlangt […].“629

Ein wesentliches Aufgabenfeld i. R. d. Aufklärungsfunktion stellt die Vorbereitung der Hauptverhandlung dar.630 Eine gerichtliche und staatsanwaltschaftliche Kontrolle der Verteidigungsstrategie ist hierbei zu vermeiden.631 Als „Mindeststandard“ anerkannt ist die ausschöpfende Ermittlung des Informationsstandes, wofür als Erkenntnisquelle die Strafverfahrensakte(n), der Beschuldigte, das Beiwohnen bei einer Untersuchungshandlung oder eigene Ermittlungen des Verteidigers dienen.632 Das Aktenstudium steht hierbei im Mittelpunkt.633 Barton geht von einer hiermit einhergehenden Pflicht des Verteidigers aus, alle bei der Staatsanwaltschaft mit dem Verfahren in Berührung kommenden Informationen einzuholen und (kritisch634) durchzuarbeiten, namentlich durch Einsicht in alle in Betracht kommenden Straf- und Beiakten, aber ggfs. auch in Sonder-, Spurenoder Vorstrafakten; er müsse sich an dem Informationsstand der Staatsanwaltschaft messen lassen.635 Aber auch Vorgänge besonderer Polizeibehörden, wie einer Zeugenschutzdienststelle, können für die Verteidigung relevant sein und müssen, soweit bestimmte Gründe einer Einsicht nicht entgegenstehen, vom Verteidiger studiert werden. Ferner wahrt der Verteidiger insbesondere die Einhaltung des Verfahrensrechts, genauer: die Justizförmigkeit des Verfahrens. Der Verteidiger ist „Anwalt des prozessualen Rechts“,636 er hat also auch eine Kontrollfunktion inne. Eine 627 Beulke, Verteidiger, S. 43 f. m. w. N.; eingehend auch Winter, Reform, S. 130 ff. m. w. N. 628 Eingehend Barton, Mindeststandards, S. 106 ff. 629 BGHSt 13, 337, 343 f.; hierauf nimmt auch Barton, Mindeststandards, S. 107 f., Bezug. 630 In diesem Sinne Barton, Mindeststandards, S. 324 f. m. w. N., S. 344 f. 631 Vgl. Beulke, Verteidiger, S. 196. 632 Eingehend Barton, Mindeststandards, S. 326 ff. m. w. N. 633 Barton, Mindeststandards, S. 327 m. w. N. 634 Barton, Mindeststandards, S. 329 f. 635 Barton, Mindeststandards, S. 327. 636 Vgl. Beulke, Verteidiger, S. 41.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

Wahrheitsermittlung „um jeden Preis“ soll mit Hilfe des Verteidigers verhindert werden.637 Der Verteidiger ist Garant für die Effektivität der Verteidigung.638 Hierbei wird er im Vergleich zur Staatsanwaltschaft als gleichberechtigtes Rechtspflegeorgan angesehen, sodass seine Befugnisse gleichwertig ausgestaltet sein müssen.639 Diese Funktionen rühren aus der Stellung als Rechtspflegeorgan her, da mit der Verteidigung öffentliche Interessen verfolgt werden.640 Als unabhängiges Rechtspflegeorgan (vgl. §§ 1, 3 Abs. 1 BRAO)641 hat der Verteidiger zudem die Effektivität der Strafrechtspflege, insbesondere dessen Kernbereich, zu wahren bzw. zu respektieren,642 weshalb bestimmte Einschränkungen der Verteidigerbefugnisse im Ermittlungsverfahren eher in Betracht kommen als nach Ermittlungsabschluss,643 wohingegen im Hauptverfahren der Abwehrfunktion des Verteidigers im Vergleich eine (noch) höhere Bedeutung beizumessen ist.644 Abgesehen von der Wahrheitspflicht,645 dem Missbrauchsverbot646 und dem Gebot, die Rechtsfindung nicht bewusst und unlauter zu erschweren,647 tritt der Aspekt der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege im Verhältnis zu den Rechten des Verteidigers im Hauptverfahren demgemäß auch eher in den Hintergrund als im Ermittlungsverfahren.648 Die Stellung des Verteidigers als Rechtspflegeorgan führt bisweilen zu der Einräumung weiter reichender Befugnisse im Vergleich zum Beschuldigten;649 von dem Verteidiger wird ein „zurückhaltenderes Vorgehen“ bei der Verteidigung erwartet, insoweit genießt er einen Vertrauensvorsprung;650 dies nicht zuletzt deshalb, weil Verfehlungen des Verteidigers im Einzelfall straf- und berufsrechtlich verfolgt werden können, §§ 145d, 164, 258 StGB, §§ 113 ff. BRAO,651 sitzungspolizeiliche Konsequenzen haben können, §§ 176 ff. GVG652 oder zum Verteidigerausschluss gem. der §§ 138a ff. StPO führen können.653

637

Beulke, Verteidiger, S. 63 f. m. w. N. Beulke, Verteidiger, S. 81; vgl. auch Dornach, Strafverteidiger, S. 94 f. 639 Beulke, Verteidiger, S. 201. 640 Beulke, Verteidiger, S. 51 f. und S. 81 ff. m. w. N. 641 Bezugnehmend BGHSt 25, 272, 275; hierzu auch Beulke, Verteidiger, S. 139. 642 Beulke, Verteidiger, S. 146. 643 Eingehend Beulke, Verteidiger, S. 147 ff. 644 Beulke, Verteidiger, S. 149. 645 Beulke, Verteidiger, S. 153. 646 Beulke, Verteidiger, S. 153 f. und S. 156. 647 Beulke, Verteidiger, S. 19, 170, 174. 648 Vgl. Beulke, Verteidiger, S. 149. 649 Eingehend, auch zur Theorie von der besonderen Inpflichtnahme: Beulke, Verteidiger, S. 88 ff. m. w. N. 650 Vgl. Beulke, Verteidiger, S. 93. 651 Vgl. Beulke, Verteidiger, S. 217 ff. m. w. N.; Jörke, Akteneinsicht, S. 120 ff. 652 Beulke, Verteidiger, S. 221, der die §§ 177 f. GVG jedoch nicht auf den Verteidiger erstreckt wissen will. 653 Hierauf weist auch Beulke, Verteidiger, S. 221, hin. 638

II. Systematik

299

Auf Grundlage des herrschenden Verständnisses von Rechtsstellung und Funktion des Verteidigers sind seine gesetzlich anerkannten Rechte weit auszulegen. Ein Entscheidungsrecht der Staatsanwaltschaft dergestalt, welche von den für den Ermittlungs-/Anklagegegenstand angesammelten Informationen dem Verteidiger zugänglich gemacht werden, ist mit der Funktion des Verteidigers, die Ermittlungen und die hieraus gezogenen Schlüsse kontrollieren zu können bzw. zu sollen, schwerlich in Einklang zu bringen. Zum einen soll die Verteidigungsstrategie unkontrolliert bleiben, zum anderen hat der Verteidiger verglichen mit der Staatsanwaltschaft verfahrensrechtlich eine gleichrangige Position inne, weshalb seine Rechte den Befugnissen der Strafverfolgungsbehörde zumindest sehr nahekommen müssen. Dies spricht dafür, dass der Verteidiger in gleicher Weise die Informationen, die der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestanden haben oder stehen, danach beurteilen können muss, ob sie aus Sicht der Verteidigung relevant sind. Die Verteidigungsstrategie ist der Staatsanwaltschaft i. d. R. jedenfalls in allen Einzelheiten nicht bekannt, sodass die Relevanz einer Information für die Verteidigung von der Staatsanwaltschaft im Übrigen auch nicht mit der ausreichenden Sicherheit eingeschätzt werden kann.654 Zudem entwickelte sich das Bedürfnis für die Existenz eines Verteidigers aus der Prämisse, dass die Staatsanwaltschaft gerade kein gleichrangiger Garant für die Wahrung der Beschuldigteninteressen ist. Die Überprüfung der Relevanz der Informationsträger für die Verteidigung der Staatsanwaltschaft zu überlassen, liefe auf die (partielle) Akzeptanz eines geheimen inquisitorischen Verfahrens hinaus, was es nach zuvor Gesagtem zu vermeiden gilt. Ferner muss beachtet werden, dass der Verteidiger gegenüber dem Gericht und der Staatsanwaltschaft unabhängig ist und er frei sowie effektiv den Beschuldigten verteidigen soll. Das Recht, eigene Ermittlungen anstellen zu können, besteht erst dann in vollen Zügen, wenn der Verteidiger den vollständigen Informationsbestand erhält. Weiter streitet für ein weites Aktenbegriffsverständnis, dass eine wesentliche Funktion des Verteidigers insbesondere die Einführung der von Gericht und Staatsanwaltschaft bislang unbeachteten Aspekte in das Verfahren ist, wenn er sie für diskussionswürdig hält. Die bereits in Rede stehenden Aspekte werden von Gericht und Staatsanwaltschaft schließlich ohnehin auf (weitgehend) objektiver Grundlage berücksichtigt und gewürdigt. Selbst wenn Informationen, die die Staatsanwaltschaft nicht als verfahrensrelevant einordnet, in der Folge dem Gericht vorenthalten blieben, weil man sie nicht als gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorlagepflichtige Aktenbestandteile einordnen wollte, stellten diese Vorgänge gerade den Teil dar, den der Verteidiger zu überprüfen und anhand dessen er die Anklage umfassend und kritisch zu hinterfragen hätte. Genau hierin können sich

654 So i. E. auch OLG Frankfurt NStZ 2021, 382, 383 m. zust. Anm. Fröba; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 185; ähnlich Meyer, Akteninformationsrecht, S. 77, 79.

300

B. Einfachgesetzliche Auslegung

Informationen befinden, die der Verteidiger im Rahmen seiner (kontradiktorischen) Aufklärung und der Überprüfung der Beweisinhalte auf Plausibilität und Logik hin in das Verfahren einführt. Unterscheidungen bei dem Akteneinsichtsrecht des Verteidigers und demjenigen des Beschuldigten entspringen letztlich der Stellung des Verteidigers als Rechtspflegeorgan. Die Einschränkung des Akteneinsichtsrechts in § 147 Abs. 2 S. 1 StPO ist mit der Stellung des Verteidigers ebenfalls vereinbar; der Interessenvorsprung der Strafrechtspflege im Vergleich zu den Funktionen des Verteidigers egalisiert sich im Zwischen- und Hauptverfahren. In Bezug auf die Stellung des Verteidigers gibt es kritische Stimmen aus der Literatur, die sich im Grunde lediglich gegen das Organelement aussprechen.655 Hiernach wäre dem Verteidiger aus Sicht des Beschuldigten sogar eine noch weiter reichende Position zuzugestehen.656 Weiter gelten die vorstehenden Aspekte aus nachfolgenden Gründen im Ermittlungsverfahren in gleicher Weise wie im Zwischen- oder Hauptverfahren. Zunächst lässt sich ein sachlicher Grund, den Aktenbegriff vom Verfahrensstadium abhängig zu machen, nicht anführen. Vielmehr besteht aus Sicht der Verteidigung schon von Beginn des Ermittlungsverfahrens an das Bedürfnis, auf weitgehender Informationsgrundlage an dem Verfahrensverlauf zu partizipieren. Zudem kann die Aussonderung von Informationsträgern nach ihrer zu bewertenden Verfahrensrelevanz während des Ermittlungsverfahrens noch unsicherer getroffen werden als nach dem Ermittlungsabschluss. Im Zwischen- oder Hauptverfahren einen engeren Aktenbegriff zugrunde zu legen, ließe wiederum unberücksichtigt, dass Einschränkungen des Verteidigungsrechts eher im Ermittlungsverfahren zulässig sein sollten, sodass ein weites Begriffsverständnis erst recht in den darauffolgenden Verfahrensstadien zugrunde gelegt werden muss. Auch das Zusammenspiel von § 147 Abs. 1 und Abs. 2 StPO verdeutlicht dies, nach dem das Einsichtsrecht nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens nicht verkürzt ist, sondern sich vielmehr (spätestens jetzt) voll entfaltet.657 Ein umfassender Aktenbegriff auch im Ermittlungsverfahren bzw. die Unbeachtlichkeit des Verfahrensabschnittes für den Aktenbegriff ergibt sich zudem aus Folgendem: Die vorangegangene Untersuchung von § 199 Abs. 2 S. 2 StPO hat ergeben, dass zu den Vorgängen, die dem Gericht vorzulegen sind, zumindest die gesamten Informationsträger zählen, die der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestanden haben oder stehen und die mit der angeklagten Tat inhaltlich zusammenhängen. Im Wortlaut von § 147 Abs. 1 StPO wird hierauf eindeutig Bezug genommen. Ein divergierendes Aktenbegriffsverständnis würde zudem 655

Vgl. Beulke, Verteidiger, S. 19, 176 ff. m. w. N. Diese Mindermeinung geht an der gesetzlichen Konzeption und dem verfassungsrechtlichen Verständnis von der Funktion des Verteidigers vorbei. Insofern braucht auf diesen Meinungsstreit nicht weiter eingegangen werden; vgl. hierzu Beulke, Verteidiger, S. 19, 176 ff., insb. S. 181 f. 657 So auch Beulke, FS Dünnebier, S. 289. 656

II. Systematik

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voraussetzen, dass der Gegenstand des Ermittlungsverfahrens enger ist als der Anklagegegenstand. Das ist er jedoch nicht. Die StPO bezieht sich durchweg – wenn nicht der Begriff „Handlung“ verwendet wird, wie etwa in § 138a Abs. 1 Nr. 3 StPO – auf die Tat im prozessualen Sinne. Die StPO unterscheidet hierbei begrifflich zwischen „Tat“ und „Straftat“, versteht die Begriffe jedoch synonym. Von der Unteilbarkeit der prozessualen Tat ausgehend, ergibt sich dies bereits aus § 153c Abs. 1 S. 1 StPO, nach dem ggfs. „von der Verfolgung von Straftaten ab[ge]sehen“ werden kann. Diesen Begriff so zu verstehen, wie er vordergründig im StGB verwendet wird (i. S. v. Straftatbeständen), steht bereits entgegen, dass diese nicht „verfolgt“ werden können. Ein weiterer Vergleich mit § 153c Abs. 1 S. 2, Abs. 2, 3, 5 StPO und den §§ 153d ff. StPO bestätigt, dass die Begriffe „Tat“ und „Straftat“ in der StPO synonym verwendet werden. Auch § 3 StPO demonstriert, dass „Straftat“ und „Tat“ in der StPO gleichbedeutend verwendet werden.658 Die Sachverhaltsaufklärung bzw. -erforschung bezieht sich gem. § 160 Abs. 1 StPO nun ebenfalls auf die „Straftat“. Demzufolge ist der Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens nicht unbedingt nur eine sachlich-rechtliche Handlung oder die Verdachtsklärung hinsichtlich der Verwirklichung eines Straftatbestandes, sondern der geschichtliche Lebensvorgang i. S. d. prozessualen Tatbegriffs. Insofern muss sich der Aktenbegriff – die Ausführungen zu § 199 Abs. 2 S. 2 StPO zugrunde gelegt, ergibt sich dies im Übrigen aus der hypothetischen Bezugnahme in § 147 Abs. 1 StPO – auch im Ermittlungsverfahren zumindest auf den geschichtlichen Lebensvorgang als Ermittlungsgegenstand erstrecken. Die Ausführungen zur Konkretisierung des inhaltlichen Zusammenhanges von Informationsträgern zu einem Strafverfahren durch die Sachstruktur der prozessualen Tat gelten im Ermittlungsverfahren demzufolge entsprechend. Bei einem von den Verfahrensstadien unabhängigen Aktenbegriff wäre es treffender, den Passus „oder“ in § 147 Abs. 1 StPO gedanklich durch „bzw.“ zu ersetzen.

12. Weitere Rechtsnormen außerhalb der StPO Der Aktenbegriff ist Gegenstand zahlreicher weiterer Vorschriften anderer Gesetze. Das GVG kennt den Terminus „aktenkundig“659 bzw. das „Zu-den-Aktennehmen/reichen“660 ebenfalls. Rückschlüsse lassen sich hieraus jedoch keine zie-

658 Vorstehendes steht im Einklang mit dem gesetzgeberischen Willen. Dieser wurde in der Gesetzesbegründung zur Einführung der im Wesentlichen auch heute noch geltenden Regelung in § 3 StPO klargestellt, siehe BT-Drs. 7/550, 289: „Im übrigen soll durch die vorgeschlagene Fassung die Streitfrage, ob bei der Anwendung der Vorschrift auf die ,Tat’ im Sinne des § 264 StPO oder auf die materiell-rechtliche Straftat abzustellen ist (vgl. BGHSt. 11, 130) in Übereinstimmung mit § 38 OWiG im ersteren Sinne entschieden werden.“ 659 Vgl. § 54 Abs. 3 S. 2 GVG. 660 Vgl. §§ 169 Abs. 2 S. 3, 191a Abs. 2 GVG.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

hen. Gleiches gilt für die ZPO661 oder das EGZPO; die dem § 147 StPO entsprechende Vorschrift stellt im zivilgerichtlichen Verfahren § 299 ZPO dar, wobei auch hierin keine relevanten Aspekte auszumachen sind. Das Äquivalent im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, die §§ 99 f. VwGO, ist ebenfalls nicht ertragreich. Zwar wird in § 100 Abs. 1 S. 1 VwGO wiederum zwischen den „Gerichtsakten“ und den „dem Gericht vorgelegten Akten“ unterschieden. Was nun zu den der Einsicht unterliegenden Akten zählen soll, ergibt sich hieraus jedoch nicht. Anders verhält es sich hingegen mit der verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschrift zur Akteneinsicht. § 29 Abs. 1 S. 1 VwVfG normiert, dass „[d]ie Behörde den Beteiligten Einsicht in die das Verfahren betreffenden Akten zu gestatten [hat], soweit deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung ihrer rechtlichen Interessen erforderlich ist“. Einen solchen auch für die Akteneinsicht zu Verteidigungszwecken vorgesehenen Vorbehalt sieht § 147 StPO hingegen nicht vor, was e contrario für ein umfassendes Einsichtsrecht im Strafverfahren und demgemäß einen weiten strafprozessualen Aktenbegriff spricht. Die Formulierung des § 29 Abs. 1 S. 1 VwVfG findet sich schließlich auch in § 25 Abs. 1 S. 1 SGB X. § 29 Abs. 1 S. 2 VwVfG deutet darauf hin, dass auch Entwürfe, die nicht in den endgültigen Informationsträgern „aufgehen“, im Verwaltungsverfahren zu den Akten gehören. Dies könnte insofern erst recht für strafprozessual angelegte Vorgänge gelten, da ein weitgehendes Informationsbedürfnis im Strafverfahren zumindest ebenso anzunehmen ist wie im Verwaltungsverfahren. Dass § 147 StPO weiter reicht als § 29 VwVfG, deutet sich auch in § 29 Abs. 3 VwVfG an, nach dem ein Übersendungsrecht, im Gegensatz zu § 32f Abs. 2 S. 3 StPO, nicht vorgesehen ist. Aus § 29 Abs. 1 S. 3 VwVfG und § 72 Abs. 1 Hs. 2 VwVfG ergibt sich des Weiteren, dass das Akteneinsichtsrecht in Form eines originären Anspruchs konzipiert ist. In § 29 Abs. 2 VwVfG werden zudem Ausnahmen von der Einsichtsgewährung statuiert, die mit Blick auf die Gewichtigkeit der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege im Grunde auch für § 147 StPO in Betracht zu ziehen sind. Das Verwaltungsverfahren lässt sich mit dem Strafverfahren insoweit also auch vergleichen, sodass hieraus Rückschlüsse für die Auslegung von § 147 StPO gezogen werden können. Weiter definiert § 2 Nr. 1 S. 1 IFG entsprechend § 32f Abs. 1, 2 StPO, dass eine amtliche Information „jede amtlichen Zwecken dienende Aufzeichnung [ist], unabhängig von der Art ihrer Speicherung“. Hiervon ausgeschlossen sind gem. § 2 Nr. 1 S. 2 IFG solche Entwürfe und Notizen, die nicht Bestandteil des entsprechenden Vorgangs werden sollen. Ein solcher, falls man dies in den Passus hineinlesen wollte, Widmungsakt ist in der StPO hingegen nicht normiert. Hätte der 661 Vgl. einerseits § 80 S. 1 ZPO, andererseits § 139 Abs. 4 S. 1 ZPO; aus § 298 Abs. 1 S. 1 ZPO ergeht, dass von einem elektronischen Dokument ein Ausdruck für die Akten zu fertigen ist, wenn die Akte in Papierform geführt wird. Der Vereinheitlichungsgedanke findet zwar ebenso wie in § 32e StPO seinen gesetzlichen Niederschlag, ist insoweit aber ebenfalls nicht ergiebig.

II. Systematik

303

Gesetzgeber einen Widmungsakt im strafprozessualen Kontext ebenfalls für notwendig erachtet, hätte sich eine entsprechende Formulierung in § 147 StPO durchaus aufgedrängt, zumal der Regelungsgehalt des IFG, ebenso wie § 147 StPO, der Informationszugang ist (vgl. § 1 Abs. 1, 2 IFG) und auch ein weiteres Mal in § 46 Abs. 2 S. 2 BDSG a. F. verwendet wurde.662 § 46 Abs. 2 BDSG a. F. definierte soweit ersichtlich als einzige Norm den Aktenbegriff. Eine Akte wurde in § 46 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 BDSG a. F. legaldefiniert als „jede amtlichen oder dienstlichen Zwecken dienende Unterlage, die nicht dem Dateibegriff des Absatzes 1 unterfällt“. Hierzu sollten gem. dem zweiten Halbsatz auch Bild- und Tonträger zählen. Ausgeschlossen sollten gem. § 46 Abs. 2 S. 2 BDSG a. F. wiederum Vorentwürfe und Notizen sein, die nicht Bestandteil des entsprechenden Vorgangs werden sollten. § 46 Abs. 2 BDSG a. F. ähnelt insofern inhaltlich § 2 Nr. 1 IFG, wobei in § 46 Abs. 2 S. 2 BDSG a. F. von Vorentwürfen gesprochen wurde. Näheres zu der Legaldefinition lässt sich der Gesetzesbegründung nicht entnehmen.663 Das BDSG (und damit auch § 46 BDSG a. F.) wurde im Jahr 2018 neu gefasst.664 Die in § 46 Abs. 2 BDSG a. F. normierte Legaldefinition wurde in das neue BDSG nicht übernommen. In den entsprechenden Gesetzesmaterialien wird dies nicht ausdrücklich begründet.665 Die Veränderung mag damit zusammenhängen, dass die Richtlinie RL (EU) 2016/680666 Bestimmungen zum Umgang mit personenbezogenen Daten in Strafverfahren aufstellt (vgl. Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 RL [EU] 2016/680) und hierbei in Art. 12 Abs. 1 ein umfassendes Transparenz-/Klarheitsgebot667 aufgestellt wurde. Dies stand der seinerzeitigen (in ge662 Zu §§ 2 Nr. 1 S. 2 IFG, 46 Abs. 2 S. 2 BDSG a. F. im Zshg. mit dem strafprozessualen Aktenbegriff: Warg NJW 2015, 3195, 3197 f. 663 Vgl. BT-Drs. 14/4329, 47, woraus lediglich hervorgeht, dass die in § 46 BDSG a. F. definierten Begriffe für das bereichsspezifische Datenschutzrecht gelten sollten. 664 BGBl. 2017 I, 2097. 665 Die Fassung von § 46 BDSG-E wird lediglich damit begründet, hiermit RL (EU) 2016/680 umzusetzen und gleichzeitig den Einwilligungsbegriff aus der VO (EU) 2016/679 zu übernehmen: BT-Drs. 18/11325, 111. 666 Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates, ABl. 2016 L 119/89; nachfolgend RL (EU) 2016/680 genannt. 667 Art. 12 Abs. 1 RL (EU) 2016/680: „Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass der Verantwortliche alle angemessenen Maßnahmen trifft, um der betroffenen Person alle Informationen gemäß Artikel 13 sowie alle Mitteilungen gemäß den Artikeln 11, 14 bis 18 und 31, die sich auf die Verarbeitung beziehen, in präziser, verständlicher und leicht zugänglicher Form in einer klaren und einfachen Sprache zu übermitteln. Die Übermittlung der Informationen erfolgt in einer beliebigen geeigneten Form, wozu auch die elektronische Übermittlung zählt. Grundsätzlich übermittelt der Verantwortliche die Informationen in derselben Form, in der er den Antrag erhalten hat.“; siehe hierzu auch Nr. 26 S. 1 der Erwägungsgründe der RL (EU) 2016/680.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

wisser Weise das Informationsrecht beschränkenden) Legaldefinition aus Sicht des Gesetzgebers möglicherweise entgegen.668 Die Neufassung des BDSG im Jahr 2018 galt unter anderem, wie schon der Titel des Regelungsabschnittes der §§ 45 ff. BDSG zeigt, schließlich auch der Umsetzung der vorbenannten Richtlinie.669 Die StPO orientiert sich seit dem Inkrafttreten des Umsetzungsgesetzes v. 20.11.2019670 mit der Einfügung von § 500 Abs. 1 StPO auch ausdrücklich am BDSG, sodass die datenschutzrechtlichen Wertungen, die insbesondere auf die RL (EU) 2016/680 zurückgehen, auch bei der Auslegung der StPO zu berücksichtigen sind. § 500 Abs. 1 StPO erklärt den dritten Teil des BDSG, die §§ 45 ff. BDSG, für anwendbar, soweit durch öffentliche Stellen der Länder personenbezogene Daten zu Strafverfahrenszwecken verarbeitet werden.671 Aus Vorstehendem wird ersichtlich, dass der Gesetzgeber davon ausgeht, den betroffenen Personen noch weitergehende Informationsrechte einräumen zu müssen, wobei dieser Leitgedanke über § 500 Abs. 1 StPO auch auf § 147 StPO zu übertragen ist. Weitere Gesetze, wie EGGVG, StGB oder EGStGB, sind für den Aktenbegriff bzw. das Aktenbegriffsverständnis nicht ergiebig, unabhängig davon, inwieweit ein Rückschluss hieraus überhaupt tragfähig wäre. Selbiges gilt für das Justizaktenaufbewahrungsgesetz.672 Die RiStBV regelt demgegenüber in Nr. 111 Abs. 5 RiStBV gleich zwei hier interessierende Aspekte. Zum einen soll nach Nr. 111 Abs. 5 RiStBV offenbar ein Auswahlrecht der Staatsanwaltschaft dahingehend bestehen, welche Informationsträger zu den „Akten“ zählen sollen; zum anderen kommt andeutungsweise zum Ausdruck, dass der Verteidiger lediglich in die derart dem Gericht zur Verfügung gestellten Akten Einsicht nehmen kann. Es kann dahinstehen, ob die soeben dargestellte Lesart – wofür jedenfalls der Wortlaut spricht – zutrifft, da die RiStBV innerhalb der systematischen Gesetzesauslegung nicht zu berücksichtigen ist. Die inneradministrativ wirkenden Verwaltungsvorschriften der RiStBV,673 die eine Ansammlung von Einzelweisungen/Hinweisen zuvörderst an 668 So andeutungsweise bei BT-Plenarprotokoll 18/231: Stenografischer Bericht der 231. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 27. April 2017, 23300A, begründet: „Mit diesem Gesetzesentwurf halten wir uns eins zu eins an die europarechtlichen Vorgaben.“; zwar erscheint es auch möglich, dass die Streichung von § 46 Abs. 2 BDSG a. F. mit den mit diesem Gesetz eingefügten Verweisen in weiteren Gesetzen, namentlich in §§ 27 Nr. 2 BVerfSchG, 13 Nr. 2 MADG, 32a Nr. 2 BNDG, 36 Abs. 1 Nr. 2 SÜG, zusammenhängt, vgl. BGBl. 2017 I, 2128 ff. Wollte man die bisherige Legaldefinition nicht in vorbenannten Bereichen angewendet wissen, so hätte dies jedoch schlicht damit realisiert werden können, die entsprechende Regelung von den Verweisungen auszunehmen. 669 Siehe BT-Drs. 18/11325, 1 (unter „A. Problem und Ziel“), 69, 73. 670 BGBl. 2019 I, 1724. 671 Hierdurch wurde u. a. auch § 9 Abs. 1 ZStVBetrV geändert, wonach sich der Informationsanspruch bzgl. des zentralen staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregisters nach § 57 BDSG richtet, siehe BGBl. 2019 I, 1734. 672 BGBl. 2017 I, 2208. 673 Vgl. Schaefer NJW 1977, 21.

II. Systematik

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die Staatsanwaltschaft darstellen,674 bindet den Rechtsanwender mangels Rechtsnormqualität bei der Gesetzesauslegung nicht.675 Dies trifft im Ergebnis auch auf die MiStra676 zu. Die Generalaktenverfügung der Landesjustizverwaltungen und der Bundesminister der Justiz (GenAktVfg)677 ist – genauso wie einzelne Landesaktenordnungen678 oder Schriftgutaufbewahrungsverordnungen einzelner Länder679 – unergiebig und als gegenüber der bundesgesetzlichen Regelung in § 147 StPO rangniederes Recht im Kollisionsfall systematisch ohnehin nicht berücksichtigungsfähig.680 Weitere Anhaltspunkte ergeben sich auch nicht aus der jüngst in Kraft getretenen StrafAktEinV.681 Hierdurch sollten auf der gesetzlichen Grundlage von

674

Vgl. die „Einführung“ der RiStBV; eingehend Schaefer NJW 1977, 21, 22. Genau genommen stellen Verwaltungsvorschriften zwar Rechtssätze, aber keine Rechtsnormen i. S. v. sog. Außenrechtssätzen dar: Maurer/Waldhoff, Verwaltungsrecht, § 24, Rn. 3; jedenfalls bei Organisations- und Dienstvorschriften, wie die RiStBV, kommt eine auch nur mittelbare Außenwirkung nicht in Betracht und kann deshalb auch nicht i. R. e. systematischen Gesetzesauslegung relevant werden, vgl. zur Bindungswirkung von Verwaltungsvorschriften: dies., a. a. O. Rn. 2 ff.; Ehlers/Pünder, Verwaltungsrecht, § 2, Rn. 58 ff.; vgl. zur für die Rechtsanwendung verbindlichen Normen-/Rechtsquellenhierarchie auch Rüthers/ Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 272 ff.; so i. E. auch BVerwG NVwZ 2015, 827, 830; LRStPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 54. 676 Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen (MiStra), zuletzt geändert durch Bekanntmachung vom 13.07.2022 (BAnz AT 20.07.2022 B1). 677 Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz über die Anweisung für die Verwaltung des Schriftguts in Justizverwaltungsangelegenheiten (Generalaktenverfügung – GenAktVfg) vom 20. Juni 1974 (JMBl. S. 137), zuletzt geändert durch Bekanntmachung vom 29. Mai 2017 (JMBl. S. 74). 678 Beispielhaft die bayerische Aktenordnung: Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz über die Aktenordnung (AktO) für die Geschäftsstellen der Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Staatsanwaltschaften vom 13. Dezember 1983 (JMBl. 1984 S. 13), zuletzt geändert durch Bekanntmachung vom 18. Dezember 2019 (BayMBl. 2020 Nr. 25). 679 Beispielhaft die bremische Verordnung über die Aufbewahrung von Schriftgut in der Justiz und Justizverwaltung des Landes Bremen (AufbewahrungsV) vom 26. September 2016 (Brem.GBl. S. 672). 680 Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 53 f.; siehe auch Wank, Juristische Methodenlehre, S. 60, 81. Da der GenAktVfg und den Landesaktenordnungen hinsichtlich des Aktenbegriffs oder der Reichweite des Einsichtsrechts ein einheitlicher Wille aller Bundesländer nicht entnommen werden kann, bedarf es auch keiner weiteren Erörterung, ob ein dergestalt vereinheitlichter Wille aller Bundesländer in irgendeiner Form – aus Sicht des Verfassers wegen der Normen-/Rechtsquellenhierarchie methodisch jedoch zweifelhaft, da es sich bei den landesrechtlichen Bestimmungen um rangniedere Normen handelt – zur Auslegung(-shilfe) der Bundesnorm § 147 StPO herangezogen werden kann. Siehe zur für die Rechtsanwendung verbindlichen Normen-/Rechtsquellenhierarchie erneut Rüthers/Fischer/ Birk, Rechtstheorie, Rn. 272 ff. 681 Verordnung über die Standards für die Einsicht in elektronische Akten im Strafverfahren vom 24.02.2020, BGBl. I, 2020, 242. 675

306

B. Einfachgesetzliche Auslegung

§ 32f Abs. 6 S. 1 StPO bundesweit einheitliche Regelungen zur technischen und organisatorischen Ausgestaltung der Einsichtsgewährung in die elektronische Akte, insbesondere durch ein bundeseinheitliches Akteneinsichtsportal, normiert werden.682 Die hierzu wesentlichen Vorschriften sind in den §§ 2 bis 5 StrafAktEinV geregelt. Der Verordnungsbegründung ist bezüglich des Aktenbegriffs zu entnehmen, dass auch hierbei von einem einzuhaltenden Grundsatz der Aktenklarheit, -wahrheit und -vollständigkeit auszugehen ist.683 Zudem wird in der Verordnungsbegründung davon ausgegangen, dass „[a]n die Stelle elektronischer Medien wie Video- oder Audiodateien, sofern sie nicht ohnehin Beweismittel und damit nicht Aktenbestandteil sind, Ersatzbelege oder Vermerke [treten]“. Zum einen bleibt jedoch unklar, ob jegliche elektronischen Beweismittel angesprochen werden oder lediglich solche, die gem. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO in die entsprechende Aktenform übertragen wurden; jedenfalls in diesem Fall ging der Gesetzgeber bei Einführung von § 32e StPO, wie bereits die Regelung in § 32e Abs. 1 S. 2 StPO selbst ausdrückt, schließlich davon aus, dass das übertragene Dokument Aktenbestandteil ist.684 Nach hiesiger Untersuchung ist § 32e Abs. 1 S. 2 StPO dahingehend auszulegen, dass das als Beweismittel sichergestellte Ausgangsdokument – da es zugleich ein Beweisstück i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO darstellt – entweder gem. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO zu übertragen oder der Verteidigung hiervon eine Kopie zur Verfügung zu stellen ist. Zum anderen ist Regelungsgegenstand der StrafAktEinV lediglich die Vereinheitlichung der technischen Rahmenbedingungen bei der Einsichtsgewährung in elektronische Akten.685 Der Umfang der Akteneinsicht bzw. die Reichweite des Aktenbegriffs konnte mangels diesbezüglicher Verordnungsermächtigung also nicht wirksam durch die StrafAktEinV geregelt werden und sollte hierdurch auch überhaupt nicht geregelt werden. Die StrafAktEinV und ihre Begründung ist also ebenso wenig ergiebig. So verhält es sich auch mit weiteren, kürzlich in Kraft getretenen Verordnungen im Zusammenhang mit der elektronischen Strafakte, namentlich die auf der Grundlage von § 32 Abs. 2 S. 1 StPO in Kraft getretene BStrafAktFV,686 die auf der Grundlage von § 32 Abs. 3 S. 1 StPO687 in Kraft getretene StrafAktÜbV,688 die auf der Grundlage von § 32b Abs. 5 S. 1 StPO689 in Kraft getretene DokErstÜbV690 682

Siehe BR-Drs. 635/19, 1, 4. Siehe BR-Drs. 635/19, 8. 684 Vgl. BT-Drs. 18/9416, 53. BT-Drs. 18/9416, 53. 685 Siehe BR-Drs. 635/19, 1 f. 686 Verordnung über die technischen und organisatorischen Rahmenbedingungen für die elektronische Aktenführung im Strafverfahren vom 09.12.2019, BGBl. I, 2019, 2140. 687 Siehe BR-Drs. 633/19, 2, 4. 688 Verordnung über die Standards für die Übermittlung elektronischer Akten zwischen Strafverfolgungsbehörden und Gerichten im Strafverfahren vom 14.04.2020, BGBl. I, 2020, 799. 689 Siehe BR-Drs. 634/19, 2, 5. 690 Verordnung über die Standards für die Erstellung elektronischer Dokumente und für 683

II. Systematik

307

und die auf der Grundlage von § 110a Abs. 3 S. 1 StVollzG691 in Kraft getretene StVollzGerAktÜbV.692 Dessen ungeachtet, sind die vorbenannten Verordnungen i. R. d. systematischen Auslegung der bundesgesetzlichen Regelungen der §§ 147, 32f StPO im Kollisionsfall ebenfalls nicht berücksichtigungsfähig. Rechtsverordnungen, seien sie auf Bundes- oder auf Landesebene erlassen, sind nach den Grundsätzen der rangkonformen Auslegung693 bzw. der Stufenaufbaulehre694 gegenüber Bundesgesetzen schließlich rangniederes Recht.695 Soweit solches Recht ranghöherem Recht widerspricht, ist es rechtsunwirksam bzw. nichtig,696 denn „lex superior derogat legi inferiori“.697 Dies folgt für die vorbenannten Verordnungen auch aus dem Umstand, dass diese auf der Grundlage der §§ 32 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1, 32b Abs. 5 S. 1, 32f Abs. 6 S. 1 StPO, 110a Abs. 3 S. 1 StVollzG erlassen wurden, die hierin normierten Verordnungsermächtigungen jedoch nur organisatorische und technische Rahmenbedingungen betreffen. Sofern man aus den vorstehenden Verordnungen Aspekte hinsichtlich des Aktenbegriffs oder der Reichweite des Einsichtsrechts entnehmen wollte oder könnte, wäre dies demzufolge auch nicht mehr von den gesetzlichen Ermächtigungsnormen umfasst.698 Der Umfang des Akteneinsichtsrechts ist bundesgesetzlich bereits in §§ 147, 32f StPO geregelt, sodass kollidierendes Landesrecht mit Blick auf Art. 70, 72 Abs. 1, 74 Abs. 1 Nr. 1 Var. 4 GG auch kompetenzwidrig wäre.

deren Übermittlung zwischen Strafverfolgungsbehörden und Gerichten vom 28.02.2020 (BGBl. I, 2020, 244), zuletzt geändert durch Art. 10 des Gesetzes zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 25. Juni 2021 (BGBl. 2021 I, 2099). 691 Siehe BR-Drs. 665/19, 2, 5. 692 Verordnung über die Standards für die Übermittlung elektronischer Akten zwischen Behörden und Gerichten in gerichtlichen Verfahren nach dem Strafvollzugsgesetz vom 03.03.2020 (BGBl. 2020 I, 410); siehe zu dem Großteil der vorbenannten Verordnungen auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 226. 693 Eingehend allg. Wank, Juristische Methodenlehre, S. 255 ff. m. w. N. 694 Wank, Juristische Methodenlehre, S. 58 ff. m. w. N.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 307 ff.; Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 53 ff. m. w. N. auch zu abl. a. A. 695 Wank, Juristische Methodenlehre, S. 60, 81; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 273; Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 55. 696 Siehe Wank, Juristische Methodenlehre, S. 60, 65; jdfs. genießt das ranghöhere Recht Anwendungsvorrang: Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 54. 697 Wank, Juristische Methodenlehre, S. 60, 81; im Verhältnis zwischen Bundes- und Landesrecht lässt sich dies bereits aus Art. 31, 72 Abs. 3 S. 3 GG ableiten: Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 55. 698 Vgl. allg. Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 54; vgl. am Beispiel der StVO auch Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 305 f.

308

B. Einfachgesetzliche Auslegung

III. Teleologie Die Ausführungen zur Funktion des Verteidigers können im Wesentlichen auch aus objektiv-teleologischer Sicht699 getroffen werden. Der Telos von § 147 StPO ist vor dem Hintergrund des gesamten Abschnittes (Verteidigung) und der Funktion des Verteidigers bzw. des Rechts auf Verteidigung zu bestimmen. Die Funktion von § 147 StPO besteht objektiv-teleologisch darin, dem Beschuldigten und ggfs. seinem Verteidiger eine möglichst weitreichende Informationsquelle zu verschaffen, um die Gelegenheit für eine vollumfängliche und insbesondere effektive Verteidigung gegen die strafrechtlichen Vorwürfe zu eröffnen. Dies hat, von der Beschränkungsmöglichkeit des Einsichtsrechts im Ermittlungsverfahren gem. § 147 Abs. 2 S. 1 StPO abgesehen, in jedem Verfahrensstadium gleichfalls zu gelten. Der Aktenbegriff muss demzufolge in jedem Verfahrensstadium dasselbe Informationsmaterial umfassen. Nur in dem Fall, dass das Gericht weitere, verfahrensfremde Akten beizieht, umfasst das Einsichtsrecht der Verteidigung im Vergleich zum Ermittlungsverfahren einen erweiterten Informationsstoff.

IV. Historie Wie bereits festgestellt wurde, besteht das Akteneinsichtsrecht aus § 147 StPO bereits seit Einführung der RStPO, und zwar in § 147 RStPO. Der gesetzgeberische Wille bei der Einführung von § 147 RStPO und der mittlerweile in § 199 Abs. 2 S. 2 StPO normierten Regelung – die Herstellung weitreichender Wissensparität – wurde bereits i. R. d. historischen Auslegung von § 199 Abs. 2 S. 2 StPO aufgegriffen. Im Folgenden soll untersucht werden, inwieweit der Wille des historischen Gesetzgebers bei den anschließenden Reformen erneut zu Tage getreten ist oder ob dieser Wille zu späterer Zeit aufgegeben wurde. Hierbei sollen auch nicht umgesetzte Reformvorhaben in den Blick genommen werden, um das Akteneinsichtsrecht vollständig in den historischen Kontext einordnen zu können.

1. Gesetzgeberischer Wille zur Einsicht in die papierne Akte a) § 147 RStPO i. d. F. vom 01.10.1879 Zunächst wurde schon bei der Einführung von § 147 RStPO ein weiter Aktenbegriff zugrunde gelegt. Dies gilt nicht nur für die gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegenden Akten, sondern auch für diejenigen, in die die Verteidigung Einsicht erhalten sollte.

699

Eingehend allg. Larenz, Methodenlehre, S. 333 ff.

IV. Historie

309

aa) Kein Aussonderungsrecht Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahren wurde darüber diskutiert, ob die Staatsanwaltschaft verpflichtet werden soll, alle Ermittlungsakten aus dem Vorverfahren dem Gericht zu übergeben, sodass der Verteidigung alle Akten aus dem Vorverfahren zugänglich gemacht werden können.700 Gegen ein solches Modell spräche jedoch, dass in diesen Akten auch Informationen von dritten Personen enthalten sein könnten, auf welche sich die Anklage nicht erstrecke; zudem solle die Staatsanwaltschaft nur das Informationsmaterial herausgeben, welches zur Begründung der jeweiligen Anklageschrift notwendig sei.701 Weiter wurde gegen eine solche Regelung angeführt, dass man keinen vollständigen Einblick in die polizeiliche Ermittlungstätigkeit erlangen sollte; ohnehin wäre es der Staatsanwaltschaft problemlos möglich, bestimmte Teile aus den Akten herauszunehmen, wenn sie diese dem Gericht nicht vorlegen wollte, sodass eine derart weitgehende Regelung letztlich unnötig sei.702 Für eine Verpflichtung der Staatsanwaltschaft, dem Gericht alle Ermittlungsakten aus dem Vorverfahren zu übergeben, wurde hingegen angeführt, dass schließlich alle Ermittlungsakten zu den Untersuchungsakten gehörten und sich durch die Herausgabe all dieser Akten oftmals wichtiges Verteidigungsmaterial erschließen lasse.703 Mit dem entsprechenden Antrag des Abgeordneten Struckmann, nach dem dem Gericht das gesamte Untersuchungsmaterial zu übersenden sei und sich hierauf auch das Akteneinsichtsrecht der Verteidigung beziehen solle, sollte der angenommenen gelegentlichen Übung, dass die Staatsanwaltschaft manche Informationen zurückhalte, ausdrücklich entgegengewirkt werden.704 Auch sei in dem Fall, dass ein Voruntersuchungsrichter inquiriere und hierdurch Informationsmaterial entstehe, das gesamte Untersuchungsmaterial sowohl der Verteidigung als auch der Staatsanwaltschaft (vgl. § 162 Abs. 1 RStPO-E bzw. § 196 RStPO705) auszuhändigen; es sei eine sog. Parteiöffentlichkeit herzustellen.706 Hierbei wurde demnach nicht nur zugunsten der Gerichte, sondern ausdrücklich auch zugunsten der Verteidigung ein umfassender Aktenbegriff von Struckmann gefordert.

700

Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 964. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 964. 702 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 965. 703 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 965. 704 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 964: „Sein Antrag ad 2a. sei nur von redaktioneller Bedeutung. Der Antrag ad 2b. wolle der bei den einzelnen Staatsanwaltschaften herrschenden Uebung steuern, daß die Staatsanwaltschaft mit der Anklageschrift blos einzelne Akten des vorbereitenden Verfahrens vorlege. Da das vorbereitende Verfahren die Voruntersuchung ersetzen sollte, müßten auch die Akten desselben ebenso wie die der Voruntersuchung dem Gerichte zur Benutzung vorgelegt werden. […]“; vgl. auch die Begründung zur Aufrechterhaltung eines seiner Anträge a. a. O. S. 966. 705 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 2230 f. 706 Vgl. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 967. 701

310

B. Einfachgesetzliche Auslegung

Der Antrag wurde trotz der oben genannten Kritik – Schutz der Persönlichkeitsrechte Dritter, Begrenzung des Informationsbedürfnisses auf das Material zur Begründung der Anklageschrift, Verhinderung eines umfassenden Einblicks in die Ermittlungstätigkeit und fehlender praktischer Nutzen eines umfassenden Aktenbegriffs – letztlich angenommen.707 Spätere Änderungsanträge wirkten sich inhaltlich nicht auf den angenommenen Antrag Struckmanns aus.708 An dem ursprünglichen Entwurf, „Der Vertheidiger ist […] zur Einsicht der Untersuchungsakten befugt.“,709 wurde die Änderung vorgenommen, dass der Verteidiger zur Einsicht „der dem Gericht vorliegenden Akten“ befugt ist.710 Eine den Inhalt betreffende Änderung sollte hiermit nicht einhergehen: Zum einen wird ausgeführt, dass die Untersuchungsakten die dem Gericht vorliegenden Akten darstellen sollten,711 wobei Erstere auf der Grundlage des angenommenen Antrags von Struckmann gerade das gesamte Ermittlungsmaterial darstellen sollten. Weiter wird angemerkt, dass die Änderung lediglich aus redaktionellen Gründen geschehen sollte.712 Dass mit der sprachlichen Änderung des Wortlauts keine Änderung an dem beabsichtigten, weiten Aktenbegriff einhergehen sollte, wird durch weitere den Gesetzesentwurf zusammenfassende Ausführungen Struckmanns bestätigt, nach denen es neben den Untersuchungsakten keinerlei staatsanwaltschaftliche Sonderakten geben solle, sondern unter dem zugrunde gelegten Aktenbegriff das gesamte Anschuldigungsmaterial falle.713 bb) Die „Ueberführungsstücke“ i. S. v. § 147 Abs. 4 RStPO als Aktenbestandteil Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich weiter, dass auch die in § 147 Abs. 4 RStPO normierten „Ueberführungsstücke“ als Aktenbestandteil angesehen wurden.

707 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 969, zwei weitere seiner Anträge zog Struckmann zurück, wobei der Antrag, auf den sich die Diskussion um den Umfang des Aktenbegriffs bezog, jedoch aufrechterhalten wurde, siehe Hahn/Stegemann a. a. O. S. 964, 966. 708 Vgl. die anschließende Diskussion bei Hahn/Stegemann, Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1298 ff. 709 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 20. 710 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 2206. 711 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 964: „Die Anfrage des Abgeordneten Hauck beantworte er dahin, daß der Entwurf unter den Untersuchungsakten die dem Gerichte vorliegenden Akten verstehe. Soweit die staatsanwaltschaftlichen Akten dem Gerichte vorlägen, gehören sie zu den Untersuchungsakten.“ 712 Vgl. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1299: „Konstatiren wolle er noch, daß es seiner Ansicht nach lediglich eine Konsequenz redaktioneller Art sei, wenn unter den Abs. 1 des § 130 auch die den Gerichtsakten einverleibten Protokolle und sonstigen Aktenstücke der Staatsanwaltschaft subsumiert werden.“; diese Äußerung fiel zwar im Zusammenhang mit weiteren Änderungsanträgen zu § 130 RStPO. Gleichwohl wird erkennbar, dass die Änderung des Wortlautes insoweit rein redaktioneller Art war. 713 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1229.

IV. Historie

311

Gegen die Möglichkeit des Verteidigers, sich die Akten zu gegebenen Zeitpunkt in seine Wohnung/Kanzlei verabfolgen bzw. übersenden zu lassen, wurde zunächst proklamiert, dass sich in den Akten auch wichtige Überführungsstücke befänden, die – schon wegen der Verhütung des Anscheins eines Missbrauchs – nicht in die Wohnung des Verteidigers mitgegeben werden dürften.714 Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass nach dem gegenständlichen Gesetzesentwurf mit Zustimmung des Gerichts jedermann als Verteidiger auftreten könne.715 Zudem könnten bei unbeschränkter Aktenüberlassung die „Ueberführungsstücke leicht beseitigt bezw. verändert werden […]“.716 Soweit der erste diesbezügliche Antrag von Struckmann zurück genommen wurde,717 stellte der Abgeordnete Grimm einen nahezu inhaltsgleichen Antrag mit der Einschränkung, dass die Verabfolgung der Akten nicht für die Überführungsstücke gelten solle.718 Für eine grundsätzliche Verabfolgung in die Wohnung des Verteidigers wurde insbesondere angeführt, dass die Mitgabe der Akten eine beträchtliche Erleichterung für die Verteidigung darstelle.719 Der Antrag von Grimm, dem die vorstehende Diskussion zugrunde lag, wurde sodann angenommen.720 Neben der mit der Verabfolgung einhergehenden Arbeitserleichterung wurde der Gedanke der Verfahrensbeschleunigung als Grund angeführt, die Möglichkeit der Mitgabe der Akten in die Wohnung/Kanzlei des Verteidigers einzuführen.721 Es wurde mithin davon ausgegangen, dass die „Ueberführungsstücke“ Aktenbestandteile sind. Dies zeigt sich auch im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens.722 Der Verbleib der Akten beim Gericht sei nur in Bezug auf die Überführungsmittel angezeigt.723 Hierunter sollten jedoch nur solche Überführungsstücke fallen, die sich zum einen bei den Akten befinden konnten, und weiter wurden hierunter ausdrücklich Dokumente und Ähnliches verstanden.724 Die Reichstagskommission nahm im weiteren Verlauf Änderungen am Normtext vor, wobei sie sich inhaltlich an der vorausgegangenen Diskussion orientierte.725 Aus den vorbenannten Materialien wird ersichtlich, dass das ein weitgehendes Informationsbedürfnis zugrunde legende Akteneinsichtsmodell als für die Strafverteidigung wesentlich angesehen wurde. Laut dem Gesetzesentwurf von Grimm sollte eine Verabfolgung nur erfolgen, wenn der Verteidiger auch Rechtsanwalt 714

Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 965. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 966. 716 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 966. 717 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 966. 718 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 967. 719 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 968. 720 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 968. 721 Vgl. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1300. 722 Siehe Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1299 f. 723 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1299 f. 724 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 965. 725 Vgl. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1558.

715

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

sei.726 Diese Einschränkung wurde in zweiter Lesung jedoch ersatzlos gestrichen.727 cc) Funktionen und Stellung der Verfahrensbeteiligten Der zugrunde gelegte umfassende Aktenbegriff und das auch umfassende Einsichtsrecht steht im Einklang mit den Leitgedanken des historischen Gesetzgebers zur Ausgestaltung des Strafverfahrensrechts. In einem späteren Bericht der Reichstagskommission zum zehnten Abschnitt (Verteidigung) wurde schließlich hervorgehoben, dass „[e]ine verständige Vertheidigung, welche als ihre Aufgabe das Bestreben verfolgt, die dem Angeschuldigten günstigen Thatsachen zu erforschen […]stets als ein willkommener Beistand zur Feststellung der materiellen Wahrheit eine wichtige und dankbare Funktion im Strafverfahren ausüben [wird], und die Gesetzgebung ihre Aufgabe sicherer erfüllen [wird], wenn sie der Vertheidigung die Mittel gewährt, um diese Funktion allseitig durchzuführen“.728

Diesem Verständnis hätte die Annahme eines eingeschränkten Aktenbegriffs entgegengestanden. Ferner lag bereits der RStPO der Waffengleichheitsaspekt zugrunde.729 Es wurde davon ausgegangen, dass sich Staatsanwaltschaft und Verteidigung in vergleichbarer Weise wie Zivilprozessparteien gegenüberstehen.730 Sie würden schließlich widerstreitende Interessen verfolgen.731 Demgemäß wurde an weiteren Stellen im Gesetzgebungsverfahren erneut hervorgehoben, dass die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung dieselben Einflussmöglichkeiten auf das Verfahren haben sollten.732 Sie sollten jedenfalls im Hauptverfahren völlig gleichberechtigt sein.733 726

Siehe Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 967. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1298. 728 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1555. 729 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1970: „[…] wenn den Angeklagten ein solches Recht eingeräumt werden soll, muß es auch dem Staatsanwalt eingeräumt werden, die Waffen müssen gleich sein.“ 730 Vgl. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1598: „Wie bereits mehrmals bemerkt, kann betreffs der Hauptverhandlung die Stellung der Anklage und der Vertheidigung formalistisch mit der Stellung der Parteien im Zivilprozesse einigermaßen verglichen werden; materiell ist jedoch eine solche Parteistellung überhaupt im Strafprozesse nicht anzuerkennen und insbesondere mit der Aufgabe der Staatsanwaltschaft nicht verträglich.“ 731 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1555. 732 Im Zusammenhang mit den §§ 161–163 RStPO-E bzw. später §§ 194–196 RStPO heißt es: „Der Entwurf habe in einseitiger Weise nur das Interesse der Staatsanwaltschaft im Auge gehabt und die Interessen der Defension untergeordnet. Unter diesen Umständen sei es Pflicht der Kommission, die Parteigleichheit formell überall herzustellen, dafür Sorge zu tragen, daß der Angeschuldigte ebenso vorbereitet, wie der Staatsanwalt, in ein Hauptverfahren eintrete, welches in der Hauptsache beinahe endgültig entscheide.“, abgedruckt bei Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 792; in diesem Sinne wurde a. a. O. S. 533, weiter angeführt: „[…] sobald der Richter angerufen wird, müssen beide Seiten vorbereitet und 727

IV. Historie

313

dd) Zwischenfazit Wie bereits bei der Herausarbeitung des gesetzgeberischen Willens zu § 197 RStPO ausgeführt wurde, sind die Ausführungen Struckmanns maßgeblich, um den Willen des historischen Gesetzgebers zu ermitteln.734 Die Reichstagskommission hat das Verfahrensrecht zudem in einer Weise ausgestalten wollen, die eine weitreichende Verteidigungsmöglichkeit gewährt. Bei der Schaffung von § 147 RStPO ist der Gesetzgeber von einem umfassenden Aktenbegriff ausgegangen, nach dem jedes im Ermittlungsverfahren angesammelte Informationsmaterial unter den Aktenbegriff fiel, das mit dem Verfahrensgegenstand inhaltlich zusammenhängt. Dies sollte unabhängig davon gelten, ob die Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft oder den Voruntersuchungsrichter durchgeführt wurden. Unter den Passus „dem Gericht vorliegenden Akten“ verstand der historische Gesetzgeber das gesamte Untersuchungsmaterial der Staatsanwaltschaft. Für die Gerichte, die die Akten von der Staatsanwaltschaft übersendet bekommen, sollte nichts anderes gelten. Die Verteidigung sollte weitreichende Mittel an die Hand bekommen, um die dem Beschuldigten günstigen Tatsachen aufzudecken. Der Waffengleichheitsaspekt wurde auch schon bei einzelnen Diskussionen zur Einführung der RStPO berücksichtigt. Hiermit ging nach dem Willen des historischen Gesetzgebers offenbar auch eine Parität des Wissens zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung einher. Spätestens im Hauptverfahren sollten sich Verteidigung und Staatsanwaltschaft gleichberechtigt und waffengleich „gegenüberstehen“. Unter den Aktenbegriff sollten ausdrücklich auch die in § 147 Abs. 4 RStPO normierten „Ueberführungsstücke“ fallen, wobei es sich hierbei um Dokumente und ähnliche Beweisstücke handeln sollte. Dem historischen Gesetzgeber ging es hierbei ganz offensichtlich um Informationsträger und nicht etwa um das corpus delicti im klassischen Sinne. Die Diskussion um die Einordnung der „Ueberführungsstücke“ wurden in dem Antrag von Grimm letztlich aufgegriffen, sodass sie ebenfalls den Charakter einer Gesetzesbegründung erlangt. Auch im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens wurden die „Ueberführungsstücke“ als Aktenbestandteil eingeordnet. An keiner Stelle im Gesetzgebungsverfahren wurde eine andere Einordnung auch nur in Erwägung gezogen bzw. diskutiert. zugelassen sein, den Angriff zu führen und die Vertheidigung ebenso zu führen und Alles, was nach der einen oder anderen Richtung hin als Mittel dienen soll, völlig unparteiisch und sachgemäß prüfen zu lassen.“; vgl. hierzu auch Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1887: „Ich erinnere Sie, daß die Kommissionsvorschläge jenen ganzen Zwiespalt unseres Verfahrens, der zwischen einer geheimen schriftlichen Voruntersuchung und der Oeffentlichkeit des Hauptverfahrens liegt, einfach haben bestehen lassen, also die besonderen Garantien, die wir für die Gleichberechtigung der Parteien und für die volle Wirksamkeit der Vertheidigung in der Oeffentlichkeit des Verfahrens finden, diese Garantien sind uns nach wie vor in der Hauptsache in der Voruntersuchung versagt.“ 733 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1556. 734 Siehe S. 242 f.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

Wie eingangs dargestellt,735 schlussfolgerte ein Teil der damaligen Literatur aus dem Wortlaut des vierten Absatzes in § 147 RStPO, dass unter den Aktenbegriff auch die Beweisgegenstände fielen. Dies kann den maßgeblichen Gesetzesmaterialien insoweit entnommen werden, wie bereits i. R. d. Untersuchung des Begriffs „Beweisstück“ ausgeführt worden ist.736 Das Übersenden der Akten stellte nach Ansicht des historischen Gesetzgebers jedenfalls das Mittel zur bestmöglichen Gewährung der Akteneinsicht dar. Die Möglichkeit der Verabfolgung der Akten in die Wohnung des Verteidigers gem. § 147 Abs. 4 RStPO sollte zu einer Arbeitserleichterung der Verteidigung führen und dem Gedanken der Verfahrensbeschleunigung Rechnung tragen. Die Auffassung der damaligen Literatur, nach der sich die Einschränkung im vierten Absatz ausschließlich auf das Beweismaterial, welches bei einer Herausgabe oder bei einem Transport verändert oder vernichtet werden und damit zu einem Beweismittelverlust führen könnte, beziehe,737 findet in der Gesetzesbegründung ebenfalls Anklang. Durch diese Einschränkung sollte lediglich die Integrität der Beweismittel geschützt werden.738 In der Diskussion um die Verabfolgung der „Ueberführungsstücke“ deutet sich an, dass mit den Akten im Allgemeinen die Originaldokumente gemeint waren. b) Der Entwurf 1908 Das Akteneinsichtsrecht sollte auch fortan in § 147 RStPO kodifiziert werden. Erste Reformbemühungen des Akteneinsichtsrechts kamen im Jahr 1908739 auf.740 § 147 Abs. 1 S. 1 RStPO-E sollte lauten: „Der Verteidiger ist befugt, die gerichtlichen Akten, einschließlich der auf Grund richterlicher Anordnung beigefügten anderen Akten, sowie die amtlich verwahrten Beweisstücke einzusehen.“741

Der ehemalige § 147 Abs. 4 RStPO sollte im dritten Absatz eingefügt werden und wie folgt lauten: „Dem Verteidiger können auf Antrag Aktenstücke zur Einsicht in die Wohnung gegeben werden.“742 Der Wortlaut des ersten, aber auch derjenige des dritten Absatzes deuten zwar nicht mehr an, dass der Aktenbegriff auch die Beweisstücke umfasst bzw. die

735

Siehe S. 27. Siehe S. 195 f. 737 Siehe S. 27 f. 738 Dies ist auch die Erkenntnis von Riess, FG Peters II, S. 120. 739 Der Entwurf wurde 1908 veröffentlicht und 1909 dem Reichstag vorgelegt, vgl. hierzu den Nachdruck bei Schubert, Entwürfe, S. 3 ff., S. 243 ff.; siehe hierzu auch Winter, Reform, S. 41 f. 740 Zu den Reformbestrebungen seit Inkrafttreten der RStPO bis zum hiesigen Entwurf: Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 12, Abschn. 2, S. 5 ff. 741 Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 12, Abschn. 1, S. 53. 742 Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 12, Abschn. 1, S. 53. 736

IV. Historie

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„Überführungsstücke“ als Teilmenge der Akten lediglich einer Verabfolgung in die Wohnung/Geschäftsräume des Verteidigers entzogen waren. Im Gegenteil spricht die Unterscheidung im ersten Absatz eher gegen ein solches Begriffsverständnis. Die Entwurfsverfasser wollten mit der Neufassung des ersten Absatzes jedoch insbesondere klarstellen, dass sich das Akteneinsichtsrecht von Beginn an auf alles erstreckt, „was wegen seiner Bedeutung für die Untersuchung entweder den Akten einverleibt oder auf Grund richterlicher Anordnung den Akten beigefügt ist“.743 Hiernach sollte all das unter den Aktenbegriff fallen, was entweder „zu den Akten gelegt“ wurde oder durch richterliche Anordnung den Hauptakten beigezogen wurde. Jedenfalls an der Unterscheidung zwischen Akten und Überführungsstücken (hiernach jetzt erstmals: „Beweisstücke“) sollte sich wohl nichts ändern. Nach Auffassung der Entwurfsverfasser sollte demgegenüber die Erweiterung des Einsichtsrechts in Absatz 1 auch für die Beweisstücke konstituierend wirken. § 147 RStPO weise insoweit schließlich eine Regelungslücke auf.744 Auch das Recht des Verteidigers, sich die Akten in die Wohnung verabfolgen zu lassen, sollte schon vor Einreichung der Anklageschrift möglich sein. Aus diesem Grunde sollte das Wort „Vorsitzenden“ gestrichen werden.745 Im Übrigen orientiert sich der Entwurf dann aber an der Vorgängernorm aus der RStPO i. d. F. vom 01.10.1879. Es ist somit naheliegend, dass der Gesetzgeber mit „Beweisstücke“ i. S. v. § 147 Abs. 1 RStPO-E auch nur die Beweismittel erfassen wollte, die bei Herausgabe/Transport irreversibel beschädigt oder zerstört werden könnten, sodass ein Beweismittelverlust droht. Dies entsprach schließlich auch dem Verständnis des Gesetzgebers bei Einführung von § 147 RStPO i. d. F. vom 01.10.1879 hinsichtlich des dort verwendeten Begriffs „Überführungsstücke“. Ferner sollte das Akteneinsichtsrecht nicht nur ermessensfehlerfrei zu gewähren sein; vielmehr sollte der Verteidiger einen Anspruch auf Akteneinsicht haben.746 Im Rahmen der Verhandlungen der diesbezüglich eingesetzten Reichstagskommission wurde an § 147 Abs. 2 RStPO-E unter anderem kritisiert, dass es bei der Frage, welche Beiakten dem Akteneinsichtsrecht unterlägen, nicht entscheidend darauf ankommen könne, ob eine Akte kraft richterlicher Anordnung beigefügt worden sei oder nicht. Anderenfalls könne das Gericht schließlich durch bloßes Absehen von einer solchen Anordnung gewisse Beiakten der Einsichtnahme entziehen.747 Weiter wurde von den Regierungsvertretern klargestellt, dass von der Befugnis gem. § 147 Abs. 3 RStPO-E, „dem Verteidiger auf Antrag Aktenstücke zur Einsicht in die Wohnung zu geben, tunlichst Gebrauch zu machen sei, wenn nicht 743

Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 12, Abschn. 2, S. 120. Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 12, Abschn. 2, S. 120. 745 Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 12, Abschn. 2, S. 121. 746 Siehe Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 12, Abschn. 2, S. 25. 747 Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 13, S. 3249. 744

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

im einzelnen Falle Bedenken bestehen […]“.748 Dies verstehe sich von selbst.749 Der Begriff „Wohnung“ sei weit zu verstehen, sodass hierunter jeder Ort außerhalb der Geschäftsstelle, mithin auch die Geschäftsräume des Verteidigers, gemeint seien.750 Die Regierungsvertreter lehnten einen Änderungsantrag bzgl. des Erteilens von Abschriften ab und stellten hierbei klar: „Das Gericht sei nach dem Entwurfe wie schon nach dem geltenden Rechte befugt, dem Verteidiger auf dessen Kosten Abschriften aus den Akten zu erteilen. Darüber hinaus dem Verteidiger einen Anspruch auf Erteilung beliebiger Abschriften einzuräumen, könne nicht zugestanden werden; dadurch entstehe die Gefahr, daß formularmäßig die Erteilung von Abschriften sämtlicher Aktenstücke beantragt werde; eine unerträgliche Vermehrung des Schreibwerks und dementsprechend auch eine empfindliche Verzögerung des Verfahrens könne die Folge sein.“751

Der Aktenbegriff in § 147 RStPO i. d. F. vom 01.10.1879, aber auch derjenige in der Entwurfsvorlage 1908, sollte demnach keine Aktenabschriften, sondern offenbar die originalen Informationsträger erfassen. In zweiter Lesung wurde sodann beschlossen, dass ein neuer zweiter Absatz eingefügt werden sollte, nach dem ab Erhebung der Anklageschrift ausnahmslos alle Aktenstücke vom Verteidiger eingesehen werden dürften.752 Verabschiedet wurde dieser „Reformversuch“ letztlich aber nicht.753 c) Darauffolgende Reformbemühungen bis zur sog. Lex Emminger Im Jahr 1919 fertigte der Reichsrat einen weiteren Entwurf zur Reform strafverfahrensrechtlicher Vorschriften (sog. Goldschmidt-Entwurf),754 wobei im Wortlaut ebenso eindeutig zwischen dem Einsichtsrecht einerseits und dem Verabfolgungs- bzw. Übersendungsrecht andererseits unterschieden wurde. § 172 Abs. 1 RStPO-E lautete: „Der Verteidiger ist befugt, die Ermittlungsakten einschließlich der ihnen beigefügten anderen Akten sowie die in amtlicher Verwahrung befindlichen Beweisstücke an der Amtsstelle einzusehen, ohne daß er dazu einer besonderen Erlaubnis bedarf.“

748

Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 13, S. 3250. Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 13, S. 3250. 750 Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 13, S. 3250. 751 Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 13, S. 3250. 752 Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 13, S. 3251. 753 Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 14, Abschn. 2, S. 1 f.; vgl. auch Bumke/Koffka, Verordnung, S. 3. 754 Siehe hierzu nur Schubert/Regge/Rieß/Schmid, Quellen, Abt. 1, Band 4, S. XIII m. w. N.; siehe zur vorausgegangenen Anordnung des preußischen Justizministers v. 30.12.1918 Winter, Reform, S. 42 f. m. w. N.; eingehend zum darauffolgenden Goldschmidt-Entwurf: Winter, Reform, S. 43 ff. 749

IV. Historie

317

In Absatz 5 sollte eingeführt werden: „Auf Antrag des Verteidigers sollen ihm Aktenstücke zur Einsicht in die Wohnung oder in die Geschäftsräume verabfolgt werden, soweit dadurch das Verfahren nicht verzögert wird.“755

Der Wegfall der gerichtlichen (inquisitorischen) Voruntersuchung mache es erforderlich, dem Verteidiger von vornherein Einsicht in die staatsanwaltlichen Ermittlungsakten zu gewähren.756 Auch ein vertrauenswürdiger Beschuldigter757 sollte gem. § 34 RStPO-E in eigener Person, zwar unter Aufsicht aber dennoch, Akten und Beweismittel einsehen dürfen.758 Auch dieser Entwurf wurde jedoch nicht verabschiedet.759 Nur vereinzelte Gedanken, nicht jedoch zum Akteneinsichtsrecht,760 gingen dann in der sog. Lex Emminger vom 04.01.1924 auf.761 d) Entwürfe aus 1936 bis 1939 In einem Entwurf einer Strafverfahrensordnung im Jahr 1936 wurde das Akteneinsichtsrecht und Beweisstückbesichtigungsrecht in § 140 RStPO-E normiert.762 Innerhalb der Plenardebatte763 wurde klargestellt, dass unter den Akten, die eingesehen werden können, „[…] zunächst alle Akten fallen, die bei der Staatsanwaltschaft erwachsen sind. […] Die Handakten der Staatsanwaltschaft sind von der Regelung auszunehmen.“764

Weiter wurde im Zusammenhang mit der Einsichtnahme in Beiakten herausgestellt, dass es

755

Zum Vorstehenden: Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 14, Abschn. 1, S. 47. Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 14, Abschn. 2, S. 49. 757 Schubert/Regge/Rieß/Schmid, Quellen, Abt. 1, Band 4, S. 181, 294. 758 Schubert/Regge/Rieß/Schmid, Quellen, Abt. 1, Band 4, S. 57. 759 Siehe Schubert/Regge/Rieß/Schmid, Quellen, Abt. 1, Band 4, S. 541; siehe hierzu auch Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 17 f. 760 In § 147 Abs. 3 StPO i. d. F. vom 01.10.1879 wurden lediglich redaktionelle Änderungen vorgenommen („die gerichtlichen“ anstatt „diejenigen gerichtlichen“; „Verteidiger“ anstatt „Vertheidiger“; „Zeitpunkt“ anstatt „Zeitpunkte“; „Untersuchungszwecks“ anstatt „Untersuchungszweckes“; „Überführungsstücke“ anstatt „Ueberführungsstücke“): vgl. RGBl. I, 1924, 337. 761 RGBl. I, 1924, 15, 299 ff.; Zur Entstehungsgeschichte der Rechtsverordnung der sog. Lex Emminger: Schubert/Regge/Rieß/Schmid, Quellen, Abt. 1, Band 4, passim; eingehend auch Vormbaum, Lex Emminger, S. 48. 762 Schubert/Regge/Rieß/Schmid, Quellen, Abt. 3, Band 1, S. 38. 763 Es wird davon ausgegangen, dass es sich um die Plenardebatte zu dem genannten Entwurf handelte, weil es soweit ersichtlich keinen anderen Entwurf in diesem Zeitraum gab, der das Akteneinsichtsrecht in § 140 normieren wollte. 764 Schubert/Regge/Rieß/Schmid, Quellen, Abt. 3, Band 2.1, S. 369; vgl. auch dies. a. a. O. S. 370. 756

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

„[…] keine Akten mehr geben [sollte], die dem Verteidiger gegenüber geheim zu halten sind; wenn der Verteidiger sie nicht sehen darf, dann dürfen sie für die Urteilsfindung des Gerichts überhaupt nicht verwendet werden.“765

Einigkeit bestand darin, dass § 139 RStPO-E (Vorschrift über den Verkehr des Verteidigers mit dem Mandanten) und § 140 RStPO-E den gleichen Grundgedanken hätten, nämlich, dass der Verteidiger grundsätzlich in seinen Rechten unbeschränkt sei.766 Einschränkungen seien lediglich möglich, wenn dies zur Sicherstellung der Wahrheitserforschung notwendig sei; dieses Regel-AusnahmeVerhältnis käme bei der Norm zum Akteneinsichtsrecht noch nicht klar genug zum Ausdruck.767 Abgesehen davon, dass nach dem soeben benannten Entwurf kein Übersendungsrecht in die Wohnung/Geschäftsräume des Verteidigers vorgesehen war, sind Neuerungen im Normtext jedoch erst mit einem weiteren Entwurf aus dem Jahr 1936/1937768 zu verzeichnen. § 135 Abs. 1 S. 1 des Entwurfs lautete: „Der Verteidiger darf die Akten, die zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden sollen, einsehen sowie amtlich verwahrte Beweisstücke besichtigen.“769 Der Wortlaut wurde nach den Vorschlägen der Unterkommission der Großen Strafprozesskommission umformuliert in: „Der Verteidiger darf die Akten, die dem Gericht vorgelegt werden sollen oder vorliegen, einsehen, sowie amtlich verwahrte Beweisstücke besichtigen.“770 Der Entwurf einer Strafverfahrensordnung vom 01.05.1939771 hielt an dem vorerwähnten Vorschlag in § 146 des Entwurfes inhaltlich fest.772 Die Formulierung „die dem Gericht vorgelegt werden sollen oder vorliegen“ sollte absichern, dass der Verteidiger auch Einsicht in die Akten des Vorverfahrens erhält.773 Dies sollte auch für die von der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht beigezogenen Akten gelten.774 Einsicht in die Handakten der Staatsanwaltschaft gewähre die Vorschrift, wie auch nach dem bis dato geltenden Rechtsverständnis, jedoch nicht.775

765

Schubert/Regge/Rieß/Schmid, Quellen, Abt. 3, Band 2.1, S. 369. Schubert/Regge/Rieß/Schmid, Quellen, Abt. 3, Band 2.1, S. 370. 767 Schubert/Regge/Rieß/Schmid, Quellen, Abt. 3, Band 2.1, S. 370. 768 Das Datum des Entwurfes ergeht aus den Nachdrucksmaterialien nicht eindeutig. Es kann lediglich entnommen werden, dass die erste diesbezügliche Lesung im Jahr 1936/1937 stattfand, sodass davon ausgegangen wird, dass der Entwurf i. R. d. Lesung 1936/1937 entworfen wurde; zum Entwurf: Schubert/Regge/Rieß/Schmid, Quellen, Abt. 3, Band 1, S. 103. 769 Schubert/Regge/Rieß/Schmid, Quellen, Abt. 3, Band 1, S. 123. 770 Schubert/Regge/Rieß/Schmid, Quellen, Abt. 3, Band 1, S. 195. An diesem Wortlaut hielt die Kommission dann auch in zweiter Lesung fest: siehe dies. a. a. O. S. 242. 771 Schubert/Regge/Rieß/Schmid, Quellen, Abt. 3, Band 1, S. 297 ff. 772 Schubert/Regge/Rieß/Schmid, Quellen, Abt. 3, Band 1, S. 318; siehe hierzu auch Winter, Reform, S. 45 f. 773 Schubert/Regge/Rieß/Schmid, Quellen, Abt. 3, Band 1, S. 452. 774 Schubert/Regge/Rieß/Schmid, Quellen, Abt. 3, Band 1, S. 452 f. 775 Schubert/Regge/Rieß/Schmid, Quellen, Abt. 3, Band 1, S. 453. 766

IV. Historie

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Mit dem Abschluss der Ermittlungen sollte das Einsichtsrecht dem Verteidiger nicht versagt werden dürfen,776 um ungenügend vorbereitete oder unrichtige Anklagen zu verhüten.777 Ferner entscheide „[d]arüber, an welchem Ort und für welche Zeit die Akten zur Einsichtnahme zur Verfügung gehalten oder zur Einsicht überlassen werden, […] der Staatsanwalt oder der Vorsitzer nach pflichtgemäßen Ermessen“.778

Mit „Einsehen“ war offenbar (in Abgrenzung zur bloßen Besichtigung) gemeint, dass dem Verteidiger die Akten zur Durchsicht übergeben oder für eine bestimmte Zeit überlassen werden. Dass mit „Besichtigen“ eine schwächere Rechtsposition eingeräumt werden sollte, ist offensichtlich; was unter diesen Begriff fällt, wird jedoch nicht deutlich. Dem Verteidiger die Akten zur Durchsicht mit in seine Wohnung oder seine Kanzlei mitzugeben, war laut der Entwurfsbegründung somit möglich, aber nicht zwingend. Alle drei Entwürfe wurden jedoch nicht umgesetzt.779 e) Die Reform 1950 Die nächste Reform erfolgte im Jahr 1950. Vorausgegangen war ein Regierungsentwurf.780 Wesentliches Ziel war zum einen die Widerherstellung der seit 1945 verloren gegangenen Rechtseinheit im Verfahrensrecht781 und zum anderen die Bereinigung des Gesetzes von nationalsozialistischen Gedankengängen.782 „Es ist eine vordringliche Aufgabe für den Bund, auf den Gebieten, in denen bereits seit den großen Justizgesetzen des Endes der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Rechtseinheit herrschte, diese zu wahren und wiederherzustellen.“783

Der Entwurf lehnt sich damit an die RStPO i. d. F. vom 01.10.1879 an. Daran anknüpfend sowie vor dem Hintergrund, dass – um den grundgesetzlichen Anforderungen zu entsprechen784 – vielerlei Änderungen beabsichtigt waren,785 bei dem Akteneinsichtsrecht jedoch lediglich die Anpassung eingefügt wurde, dass der Verteidiger in einem beschleunigten Verfahren die Akten ab

776

Schubert/Regge/Rieß/Schmid, Quellen, Abt. 3, Band 1, S. 453. Schubert/Regge/Rieß/Schmid, Quellen, Abt. 3, Band 1, S. 389. 778 Schubert/Regge/Rieß/Schmid, Quellen, Abt. 3, Band 1, S. 453. 779 Vgl. später im Jahr 1950 die Klarstellung in BT-Drs. 1/510, Begründung, 87: „Der Wortlaut […] der Strafprozeßordnung ist zuletzt am 22. März 1924 bekannt gemacht worden (RGBl. I S. 299, 322).“ 780 BT-Drs. 1/530, S. 41 (Art. 3, Nr. 49). 781 BT-Drs. 1/530, Anlage 1a, S. 3, 33. 782 Auch sollten kriegsbedingte Vereinfachungen beseitigt werden; zu beiden Motiven: BTDrs. 1/530, Anlage 1a, S. 33. 783 BT-Drs. 1/530, Anlage 1a, S. 33. 784 BT-Drs. 1/530, Anlage 1a, S. 33. 785 Vgl. zum einen die hervorgehobenen Aspekte bei BT-Drs. 1/530, Anlage 1a, S. 33 f., und weiter die Begründungen zu den einzelnen Normen BT-Drs. 1/530, Anlage 1a, S. 34–56. 777

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

Antragstellung der Staatsanwaltschaft auf Aburteilung im beschleunigten Verfahren einsehen dürfe,786 ist davon auszugehen, dass dem Entwurf im Übrigen die Leitgedanken zu § 147 RStPO zugrunde lagen.787 Der vierte Absatz des § 147 StPO sollte fortan die Befugnis zur Mitnahme der Akten sowohl in die Wohnung als auch in die Geschäftsräume des Verteidigers ermöglichen. § 147 Abs. 4 StPO hatte seit Inkrafttreten des Reformgesetzes am 01.10.1950788 den Wortlaut: „Nach dem Ermessen des Vorsitzenden können die Akten mit Ausnahme der Überführungsstücke dem Verteidiger zur Mitnahme in seine Wohnung oder in seine Geschäftsräume übergeben werden.“789

Die Entwurfsbegründung zum Reformgesetz 1950 legt also nahe, dass die Reichsstrafprozessordnung i. d. F. vom 01.10.1879 – mit einigen Modifikationen – wiedereingeführt werden sollte. Insofern ist davon auszugehen, dass die Gedanken zur Einführung der RStPO, jedenfalls soweit die zuvor gegoltenen Normen übernommen wurden, fortgalten. Dass sich das Übersendungsrecht sowohl auf die Wohnung als auch auf die Geschäftsräume des Verteidigers bezieht, wurde 1950 erstmals ausdrücklich in den Wortlaut des § 147 StPO aufgenommen. Von der Regelung über die Akteneinsicht bei beschleunigten Verfahren abgesehen, wurde der Wortlaut des § 147 RStPO nahezu inhaltsgleich in § 147 StPO übernommen. Lediglich die Einschränkung, dass die Akten grundsätzlich „bei dem Gerichte“ einzusehen seien, wurde aus dem Wortlaut des ersten Absatzes gestrichen. Die Aspekte der Arbeitserleichterung, der Verfahrensbeschleunigung und der Integritätsschutz der Beweismittel als Gründe für die Fassung des vierten Absatzes stehen folglich auch hinter § 147 Abs. 4 StPO i. d. F. vom 01.10.1950. Die jeweilige gesetzgeberische Auffassung im Rahmen der gescheiterten Reformversuche stimmt mit dem Rechtsverständnis des Gesetzgebers bei der letzten Reform in weiteren Teilen überein: Dass sich der Aktenbegriff auch auf etwaige Beiakten bezieht, wird – in Anlehnung an das weite Begriffsverständnis des Reichsgesetzgebers – auch die gesetzgeberische Auffassung zu § 147 StPO i. d. F. vom 01.10.1950 gewesen sein. Die in den vorausgegangenen Reformversuchen geäußerte Einschränkung, nach der hinsichtlich der Handakten der Staatsanwaltschaft kein Einsichtsrecht besteht, weshalb diese demnach nicht unter den Aktenbegriff fallen sollten, hat der Gesetzgeber dieser Reform nicht ausdrücklich zugrunde gelegt. Selbiges gilt für weitere Überlegungen, die innerhalb der vorausgegangenen Reformversuche zum Ausdruck kamen. 786 BT-Drs. 1/530, Anlage 1, S. 41 (Art. 3, Nr. 49). Der Entwurf beabsichtigte fälschlicherweise die Einfügung von 2 Sätzen, wobei nur ein Satz eingefügt werden sollte, vgl. BTDrs. 1/530, Anlage 2, S. 16; siehe auch BT-Drs. 1/530, Anlage 3, S. 17, und BT-Drs. 1/1138, 49. 787 Auch die Begründung zu § 147 StPO-E bei BT-Drs. 1/530, Anlage 1a, S. 40, gibt nichts Gegenteiliges an. 788 BGBl. 1950 I, 505 (Art. 8 Nr. 1). 789 BGBl. 1950 I, 646.

IV. Historie

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Eine Erklärung, was nach dem gesetzgeberischen Willen unter Einsicht und Besichtigung zu verstehen ist, ist den Materialien der Reform 1950 nicht zu entnehmen. Dass die Unterscheidung, die in den Gesetzesmaterialien zum Entwurf des Jahres 1939 zum Ausdruck gekommen ist, zugrunde gelegt wurde, ist zwar möglich, aber keinesfalls zwingend. Auch zu der Frage, inwieweit Aktenabschriften zu gewähren seien, fanden sich weder im Wortlaut noch in den Gesetzesmaterialien Hinweise. Ob das (ablehnende) Rechtsverständnis, welches im Jahr 1908 geäußert wurde, nach Auffassung des Reformgesetzgebers fortbestehen sollte, kann folglich ebenso wenig beantwortet werden. Der Forderung aus dem sog. Goldschmidt-Entwurf, nach dem die Mitgabe der Akten davon abhängen sollte, ob hiermit eine Verfahrensverzögerung einhergehe, wurde dem reformierten § 147 Abs. 4 StPO jedenfalls nicht zugrunde gelegt. f) Die Reform 1965 In den 1960er Jahren kam das Bedürfnis auf, die Strafprozessordnung in weiten Teilen zu reformieren und den seinerzeitigen Gegebenheiten und Bedürfnissen anzupassen.790 Hierbei sollten letztlich jedoch nur die aus Sicht der Legislative dringendsten Reformanliegen in den Blick genommen werden. Hierzu zählten die Regelungen zur Untersuchungshaft, der Rechtsstellung des Beschuldigten und des Verteidigers sowie die Vorschriften zum Vor-, Zwischen- und Hauptverfahren.791 Der in voriger Legislaturperiode nicht verabschiedete Entwurf einer StPO-Reform wurde in der vierten Wahlperiode als im Wesentlichen unveränderter Entwurf von der Bundesregierung eingebracht.792 Hiernach sollte in § 147 Abs. 1 StPO-E der – auch heute noch geltende – Grundsatz eingeführt werden, dass der Verteidiger zur Einsicht der Akten und zur Besichtigung amtlich verwahrter Beweisstücke befugt ist.793 Bisher wurde ausweislich des Wortlautes eine uneingeschränkte Einsicht erst nach dem Schluss der Voruntersuchung bzw. ab Anklageerhebung gewährt. Das Zusammenspiel mit dem bislang geltenden Absatz 2 des § 147 StPO zeigte jedoch schon, dass im Vorverfahren im Einzelfall teilweise, nach Abschluss des Vorverfahrens dann aber in jedem Fall vollständige Akteneinsicht zu gewähren war. Der Entwurf veränderte durch die Neufassung des Absatz 1 dieses RegelAusnahme-Verhältnis. Der Verteidiger sollte hiernach grundsätzlich zur vollständigen Akteneinsicht befugt sein. Nur im Ausnahmefall sollte gemäß dem zweiten Absatz die Einsicht verweigert werden können, wenn hiermit eine Ge-

790 BT-Plenarprotokoll 03/56: Stenografischer Bericht der 56. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 22.01.1959, 3060A-3061A; vgl. später die kritischen Überlegungen zahlreicher Strafrechtler bei Dahs AnwBl. 1959, 171, 171 ff., und v. Stackelberg AnwBl 1959, 190, 190 ff. 791 Vertiefende Hinweise zur Entstehungsgeschichte bei Kleinknecht JZ 1965, 113. 792 BT-Drs. IV/178; vgl. hierzu auch BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 15. 793 BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 8.

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fährdung des Untersuchungszwecks einherging. Das Akteneinsichtsrecht wurde hierdurch erstmalig als unbeschränkter Grundsatz formuliert.794 Der Entwurfsbegründung lag der Gedanke zugrunde, dass die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft bislang nicht unter das Akteneinsichtsrecht fielen, was geändert und im Wortlaut des ersten Absatzes hervorgehoben werden sollte.795 Alle Akten, in die nach damaliger Rechtslage über Nr. 172 RiStV Einsicht gewährt werden konnte, sollten von § 147 Abs. 1 StPO-E umfasst sein.796 Nr. 172 Abs. 1 RiStV regelte das Akteneinsichtsrecht im vorbereitenden Verfahren.797 Diese Rechtsauffassung äußerte der Gesetzgeber jedoch auch schon bei den vorigen Fassungen, sodass die Erstreckung des Aktenbegriffs auch auf die Akten des Ermittlungsverfahrens aus retrospektiver Sicht mit diesem Entwurf – von dem damaligen Absatz 2 abgesehen – jedenfalls zum ersten Mal eine ausdrückliche Erwähnung im Gesetz finden sollte. Denn der seit Einführung von § 147 Abs. 1 RStPO enthaltene Passus „der dem Gerichte vorliegenden Akten“ ist darauf zurückzuführen, dass grundsätzlich von einem umfassenden Aktenbegriff ausgegangen wurde. Letzteres sollte hierbei das gesamte Untersuchungsmaterial darstellen. Der Wortlaut des ersten Absatzes sollte von „[…] der dem Gerichte vorliegenden Akten[…]“ geändert werden in „[…] Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der Anklage vorzulegen wären […].“798 „Ausgenommen von der Akteneinsicht bleiben nur die Handakten des Staatsanwalts und andere dienstliche Vorgänge, die in dem gerichtlichen Verfahren nicht verwertet werden sollen.“799

Bei der Erweiterung des Wortlautes in § 147 Abs. 1 StPO auf die Akten, „die dem Gericht vorzulegen wären“, wollte der Gesetzgeber also einerseits bestätigen, dass zu den Akten, die eingesehen werden können, auch die Akten des Ermittlungsverfahrens zählen. Zum anderen kommt in dieser Erweiterung der vom Gesetzgeber weit verstandene Aktenbegriff verstärkt zum Ausdruck. Eine völlige Neuerung, die nicht schon aus der bislang ausgestalteten Systematik abzuleiten oder in den vorgestellten Gesetzesmaterialien auszumachen war, brachte jedenfalls die erstmalige Einführung eines Beweisstückbesichtigungsrechts im ersten Absatz. Die auch schon bislang im zweiten Absatz kodifizierte Ausnahme, dass die Akteneinsicht vor Abschluss der Ermittlungen versagt werden könne, sofern hierdurch der Untersuchungszweck gefährdet würde, wurde umgestaltet. Sobald

794 Der Gesetzgeber ging insoweit von einer Neuerung aus: BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 17; so auch Meyer, Akteninformationsrecht, S. 18; ähnlich Winter, Reform, S. 40. 795 BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 31. 796 BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 31. 797 Schwarz/Kleinknecht, StPO, Nr. 172 RiSTV; siehe zur Rechtsnatur/Bindungswirkung der RiStBV: S. 304 f. 798 BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 8. 799 BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 31.

IV. Historie

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der Aktenvermerk über den Abschluss der Ermittlungen eingetragen wird, sollte eine Beschränkung auch bei späterer Wiederaufnahme von Ermittlungen nicht mehr möglich sein.800 Der dritte Absatz wurde lediglich umformuliert.801 Ferner sollten inhaltliche Änderungen im vierten Absatz vorgenommen werden. Zum einen sollte das vormals als reine Ermessensvorschrift (Kann-Vorschrift) ausgestaltete Übersendungsrecht in eine Vorschrift mit intendiertem Ermessen (Soll-Vorschrift) umgestaltet werden, wobei eine Überlassung nur „soweit tunlich“ zu gestatten sei. Weiter fällt auf, dass das Wort „Vorsitzenden“ in § 147 Abs. 4 StPO fehlt, sodass ein solches Übersendungsrecht auch schon vor Anklageerhebung bestehen konnte. Zudem sollte in einem zweiten Satz eine Anfechtungssperre normiert werden. Der vierte Absatz sollte lauten: „Auf Antrag sollen dem Verteidiger, soweit tunlich, die Akten mit Ausnahme der Beweisstücke zur Einsichtnahme in seine Geschäftsräume oder in seine Wohnung mitgegeben werden. Die Entscheidung ist unanfechtbar.“802

In der Begründung heißt es hierzu: „Nur besondere Umstände, die nicht in der Person des Verteidigers zu liegen brauchen, werden in Zukunft die Herausgabe der Akten an den Verteidiger als untunlich erscheinen lassen und daher die Ablehnung eines derartigen Antrags rechtfertigen können. Die richterliche Entscheidung über einen Antrag nach Absatz 4 soll nicht mit der Beschwerde (§ 304) angefochten werden können. Hat der Staatsanwalt im vorbereitenden Verfahren entschieden, so wird die Möglichkeit, dagegen Dienstaufsichtsbeschwerde einzulegen, durch Absatz 4 Satz 2 nicht eingeschränkt.“803

Es wird deutlich, dass unter „Einsicht“ nicht die Herausgabe fallen sollte; die Herausgabe stellte das „Mitgeben“ zur Einsichtnahme dar. Welche konkreten Umstände nun aber zum Ausschluss der Überlassung bzw. Herausgabe der Akten führen sollte, bleibt hingegen unerwähnt. An anderer Stelle heißt es hierzu: „Die Einschränkung ,soweit tunlich‘ ist allerdings notwendig; denn es können sich – insbesondere im Vorverfahren – Umstände verschiedener Art ergeben, die es geboten erscheinen lassen, von der Regel abzuweichen.“804

Der Umstand, dass durch die Reform die Beschuldigten- und Verteidigerinteressen weitreichend gestärkt werden sollten,805 lässt lediglich vermuten, dass es sich hierbei um äußerst gewichtige Gründe handeln sollte. 800

Meyer, Akteninformationsrecht, S. 18, geht insoweit von einer wesentlichen Neuerung

aus. 801

Zum Vorstehenden: BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 31. BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 31. 803 BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 32. 804 BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 32. 805 Dies wird an zahlreichen Stellen der Entwurfsbegründung deutlich: vgl. hierzu BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 15–20. Insbesondere der Abschnitt „Verteidigung“ sollte in mehrfacher Hinsicht zugunsten des Beschuldigten/Verteidigers reformiert werden: BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 30–32. 802

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

Zudem wurde beabsichtigt, einen fünften Absatz anzufügen, in dem die Entscheidungskompetenz über die Einsicht/Besichtigung geregelt werden sollte.806 In der Begründung wird bestätigt, dass durch das Vereinheitlichungsgesetz vom 12.09.1950807 im Wesentlichen der Zustand wiederhergestellt werden sollte, der vor den Notverordnungen der Jahre 1930–1932 bestanden hatte.808 Demzufolge sollte der bislang geltende § 147 StPO die gesetzgeberischen Leitgedanken bei Einführung von § 147 RStPO i. d. F. vom 01.10.1879 fortführen. Dies war (mit vereinzelten redaktionellen Anpassungen durch die Lex Emminger) schließlich die StPO-Norm zum Akteneinsichtsrecht, die vor den Notverordnungen der Jahre 1930–1932 bestand. Weiter bestätigt sich die zuvor herausgearbeitete gesetzgeberische Auffassung, dass der Aktenbegriff auch die „Überführungsstücke“ i. S. d. bisherigen vierten Absatzes bzw. die „Beweisstücke“ i. S. d. hiesigen Entwurfes umfassen sollte: „Während es bisher eine reine Ermessensentscheidung ist, ob die Akten – ohne die Beweisstücke – dem Verteidiger auf Antrag in seine Geschäftsräume oder in seine Wohnung zur Einsichtnahme mitgegeben werden, sieht der Entwurf vor, daß einem solchen Antrag entsprochen werden soll.“809

In zweiter Beratung wurden am zweiten und vierten Absatz lediglich sprachliche Änderungen vorgenommen.810 Der Begriff „tunlich“ im vierten Absatz wurde ersetzt durch „nicht wichtige Gründe entgegenstehen“.811 Es zeigt sich, dass die vormals positiv formulierte Voraussetzung („soweit tunlich“) nunmehr durch eine negativ formulierte Voraussetzung ersetzt wurde, was für eine Beweislastumkehr sprechen könnte. Ob eine solche normiert werden sollte, ergibt sich aus den Materialien jedoch nicht. Die Wichtigkeit des Einsichts- und Besichtigungsrechts wurde darüber hinaus noch unterstrichen, indem ein sechster Absatz angefügt wurde. Hiernach sollte eine Beschränkungsanordnung nach Absatz 2 (Untersuchungszweckgefährdung) spätestens mit dem Abschluss der Ermittlungen bzw. der Voruntersuchung aufgehoben werden.812 Der Vermittlungsausschuss wurde wegen einer Vielzahl an Änderungsvorschlägen, nicht jedoch zu § 147 StPO-E, angerufen.813 Mit den vom Vermittlungsausschuss vorgeschlagenen Änderungen814 wurde das Gesetz sodann verabschiedet.815 Das Reformgesetz trat am 01.04.1965 in Kraft.816 806

BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 8. BGBl. 1950 I, 455. 808 BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 15. 809 BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 18; Hervorhebung durch Verfasser. 810 Vgl. BT-Drs. IV/2378, 36, 38. 811 BT-Drs. IV/2378, 38. 812 BT-Drs. IV/2378, 39; vgl. zum Vorstehenden auch die Übersicht bei BT-Drs. IV/1020, 807

18. 813

BT-Drs. IV/2459, 2. BT-Drs. IV/2699. 815 BGBl. 1964 I, 1067. 816 BGBl. 1964 I, 1082 (Art. 18 Abs. 1). 814

IV. Historie

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Zusammengefasst lässt sich aus der Reform 1965 und den diesbezüglichen Gesetzesmaterialien Folgendes ableiten: Für die Schlussfolgerung aus dem Wortlaut der ersten beiden Absätze der Fassung der Reform 1965, dass ein Einsichtsrecht in staatsanwaltschaftliche Akten nicht besteht („der dem Gerichte vorliegenden Akten“, „gerichtlichen Untersuchungsakten“), war spätestens mit der Neufassung der ersten beiden Absätze kein Raum mehr. Ebenso hat der Gesetzgeber im Wortlaut deutlich zum Ausdruck gebracht, dass im Grundsatz ein unbeschränktes Recht auf Akteneinsicht, auch schon im Vorverfahren, bestehen sollte. Dies entspricht weitgehend den Forderungen der Entwurfsbegründung aus dem Jahr 1908. Nur soweit der Untersuchungszweck durch die Einsicht gefährdet würde, war bis zum Vermerk über den Abschluss der Ermittlung/Voruntersuchung eine Beschränkung in zeitlicher Hinsicht möglich. Die Forderung, die sich bereits 1919 andeutete und 1936 sowie 1939 ausdrücklich erhoben wurde, ist insoweit umgesetzt worden. Ein eigenes Einsichts- und Besichtigungsrecht des Beschuldigten, wie es im Jahr 1919 vorgeschlagen wurde, führte der Gesetzgeber durch die Reform 1965 jedoch noch nicht ein. Dass in § 147 Abs. 1 StPO nunmehr eingeführte Recht auf Besichtigung der amtlich verwahrten Beweisstücke sah auch schon der Entwurf aus dem Jahr 1908 vor. Auch die Streichung des Wortes „Vorsitzenden“ im vierten Absatz entspricht den Bestrebungen des Jahres 1908. Eine weitere Parallele zum Entwurf des Jahres 1908 zeigt sich darin, dass davon ausgegangen wurde, dass von einer Verabfolgung der Akten nur in extremen Ausnahmefällen abgesehen werden soll. Die Forderung dieses damaligen Entwurfes, dem Verteidiger einen umfassenden Anspruch auf Einsicht zu gewähren, kommt dem reformierten § 147 StPO mit der Soll-Vorschrift hinsichtlich der Aktenverabfolgung jedenfalls schon sehr nahe. Die im Entwurf des Jahres 1939 angedeutete Unterscheidung zwischen Einsicht und Besichtigung könnte auch der Reformgesetzgeber seiner Entscheidung zugrunde gelegt haben. Mit Einsicht war hiernach die Durchsicht oder die nicht näher bestimmte zeitweise Überlassung gemeint; was mit Besichtigen gemeint sein sollte, blieb indes offen. Klargestellt wurde jedenfalls, dass neben den Handakten nur andere dienstliche Vorgänge, die der Verwertung im gerichtlichen Verfahren entzogen waren, nicht dem Aktenbegriff unterfallen sollten. In der Begründung deutet sich an, dass Handakten ein Beispiel für einen innerdienstlichen Vorgang darstellen sollten. Dies kam in den Entwurfsbegründungen 1936 und 1939 ebenfalls zum Ausdruck. In der Plenardebatte zum Entwurf des Jahres 1936 wurde kritisiert, dass das Regel-Ausnahmeverhältnis noch nicht klar genug zum Ausdruck käme. Auch dies hat der Reformgesetzgeber umgesetzt. In der Gesetzesbegründung bestätigt sich, dass „Beweisstücke“ ebenfalls Aktenbestandteile sind, Aktenbestandteile also den Oberbegriff darstellen. Aus den Gesetzesmaterialien konnte insofern abgeleitet werden, dass der damals verwendete Begriff „Überführungsstücke“ nur den Teil der Beweisstücke umfasste, der bei Herausgabe/Transport beschädigt bzw. zerstört werden könnte, wodurch Beweismittelverlust drohte. Dass der Reformgesetzgeber an diesem Begriffsver-

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

ständnis etwas ändern wollte, ist nicht ersichtlich. Im Gegenteil sollten durch die Reform die Verteidiger- und Beschuldigteninteressen gestärkt und nicht geschwächt werden. Aus den Materialien zur Reform 1965 kann demnach geschlossen werden, dass mit dem Begriff der „Beweisstücke“ i. S. d. reformierten § 147 StPO nur diejenigen Beweismittel gemeint sein sollten, die bei der Herausgabe aus der amtlichen Verwahrung beschädigt oder zerstört werden können und (in Ansehung derer) somit Beweismittelverlust zu besorgen ist. Es ging dem Gesetzgeber auch bei dieser Reform lediglich darum, dass durch die Übersendung der Akten ein Beweismittel nicht in der Integrität beeinträchtigt wird bzw. werden kann. Welche Art von Beweismitteln als Beweisstücke i. S. d. § 147 StPO angesehen wurden, wurde dabei jedoch nicht konkretisiert. Mehr im Wortlaut selbst als in der Gesetzesbegründung deutet sich an, dass unter „Einsicht“ i. S. d. § 147 Abs. 1 StPO nicht die Herausgabe der Akten fallen sollte. Eine Herausgabe sollte erst in der Überlassung der Akten unter den Voraussetzunten des § 147 Abs. 4 S. 1 StPO liegen. Die Übersendung der Akten war demnach eher als „Mittel zum Zweck“ normiert worden. Die Einschränkung „soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen“ sollte besondere Umstände erfassen, welche in der Person des Verteidigers liegen können, aber nicht müssen. Solche Umstände kämen ausweislich der Materialien insbesondere im Vorverfahren in Betracht. An welche konkreten Szenarien der Gesetzgeber hierbei gedacht hat, wird jedoch nicht hinreichend deutlich. In dem Entwurf des Jahres 1936 kam zum Ausdruck, dass das Einsichtsrecht nur zur Sicherstellung der Wahrheitserforschung einschränkbar sei. Ob sich die Einschränkung im vierten Absatz nur auf solche Umstände beziehen sollte, legt die Begründung nahe, ist jedoch nicht zwingend. In der Begründung zum Entwurf des Jahres 1936 wurde weiter hervorgehoben, dass Akten, die der Verteidiger nicht einsehen darf, nicht mehr zum Gegenstand der Urteilsfindung gemacht werden dürfen. Hierzu hat der Reformgesetzgeber zwar nicht im Wortlaut, dafür aber in der Gesetzesbegründung Stellung bezogen. Der Reformgesetzgeber bestätigt, dass sich nach seiner Auffassung die Akteneinsicht, und demnach auch der Aktenbegriff, auf alle seit dem Ermittlungsverfahren angefallenen Informationen erstreckt. Lediglich die Handakten der Staatsanwaltschaft und innerdienstliche Vorgänge sollten vom Aktenbegriff und demnach von der Akteneinsicht ausgenommen werden. Der Passus im ersten Absatz, der die Beschränkung der Einsicht auf die dem Gericht vorgelegten Akten zum Ausdruck bringen sollte, wurde gleichwohl beibehalten. In § 147 Abs. 4 S. 2 StPO wurde eine Nichtanfechtbarkeitsklausel eingefügt, wobei nicht deutlich wurde, welche Fälle hiervon umfasst sein sollten. Im vorbereitenden Verfahren verblieb jedenfalls die Möglichkeit, Dienstaufsichtsbeschwerde einzulegen.

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g) Die Reform 1975 Mit dem Ersten Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrecht (1. StVRG) vom 09.12.1974817 wurden viele Bereiche der StPO reformiert, ebenso § 147 StPO. Das Hauptanliegen der Reform war es, das strafrechtliche Verfahren insgesamt zu beschleunigen und zu straffen.818 In der Begründung zum Regierungsentwurf wird unter anderem darauf hingewiesen, dass durch das Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes (StPÄG) vom 19.12.1964 das Akteneinsichtsrecht gestärkt wurde.819 „Er [scil. der Entwurf] sieht seine Aufgabe nicht darin, eine wirksamere Verbrechensbekämpfung sowie ein schnelleres und gestraffteres Verfahren um jeden Preis zu ermöglichen. Maßnahmen, welche die den Beschuldigten schützende Funktion des Strafverfahrensrechts nennenswert beeinträchtigen, konnten selbst dann nicht in Betracht gezogen werden, wenn von ihnen eine wesentliche Verfahrensbeschleunigung oder eine wesentliche Verbesserung der Verbrechensbekämpfung zu erwarten gewesen wäre.“820

Dies zugrunde gelegt, sollten Aspekte der Verfahrensbeschleunigung und Verbrechensbekämpfung bei all jenen Vorschriften der StPO zur Wahrung der Beschuldigtenrechte außer Acht bleiben, die nach dem Entwurf nicht zulasten des Beschuldigten reformiert werden sollten. In diesem Zusammenhang heißt es weiter: „Den Unschuldigen vor Verurteilung zu bewahren, die Menschenwürde und die Rechte auch des Schuldigen auf ein faires Verfahren zu gewährleisten, ihm eine Einwirkung auf die Wahrheitsfindung und den Gang des Verfahrens zu ermöglichen, auch seine Interessen bestmöglich zu wahren und sein Vertrauen in die Objektivität des Gerichts sicherzustellen, diese Aufgaben des Verfahrensrechts läßt der Entwurf unangetastet.“821

All die aufgezählten Aspekte können, wenn man diese Passage so verstehen wollte, jedenfalls auch auf das Recht der Akteneinsicht bezogen werden. Ob der Gesetzgeber hier konkret auch § 147 StPO angesprochen hat, wird jedoch nicht hinreichend deutlich. Vereinzelte Änderungsvorschläge würden sich letztlich zulasten des Beschuldigten bzw. der Verteidigung insgesamt auswirken, namentlich die Einschränkungen von Schlussanhörung und Schlussgehör,822 die Beschränkung der Pflicht

817

BGBl. 1974 I, 3393 (berichtigt durch BGBl. 1974 I, 3533). BT-Drs. 7/551, Anlage 1, S. 31, 34 f.; siehe auch BT-Drs. 7/551, Anlage 1, S. 36: „Den Einzelregelungen des Entwurfs liegt durchgängig der Gedanke zugrunde, daß es eine Verpflichtung aller Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte ist, in jeder Lage das Verfahren so zu fördern, daß kein vermeidbarer Zeitverlust entsteht.“ 819 BT-Drs. 7/551, Anlage 1, S. 32. 820 BT-Drs. 7/551, Anlage 1, S. 36. 821 BT-Drs. 7/551, Anlage 1, S. 36. 822 BT-Drs. 7/551, Anlage 1, S. 8 (Art. 1, Nr. 54, 55); zur Begründung: BT-Drs. 7/551, Anlage 1, S. 41–43. 818

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zur Aufnahme des wesentlichen Inhalts der Vernehmungen auf die Verfahren vor dem Einzelrichter und dem Schöffengericht823 oder die Erweiterung des Anwendungsbereichs der Vorschriften über die Verwerfung der Berufung bei Nichtanwesenheit des Beschuldigten.824 In Bezug auf das Akteneinsichtsrecht sollte jedoch keine Änderung zulasten des Beschuldigten eingeführt werden. Vor dem Hintergrund der zuvor zitierten Passagen ist demnach davon auszugehen, dass dieses Verteidigungsrecht als derart wesentlich angesehen wurde, dass Aspekte der Verfahrensbeschleunigung oder Verbrechensbekämpfung – über die bislang schon geltenden Einschränkungen in § 147 StPO hinaus – das Einsichts- und Besichtigungsrecht nach Auffassung der Bundesregierung (grundsätzlich) nicht einzuschränken vermögen. Denn das Akteneinsichtsrecht sollte trotz des Anliegens, das Verfahren weitgehend zu beschleunigen, nicht beschränkt werden. Zudem wird davon ausgegangen, dass zur Verfahrensbeschleunigung all diejenigen Aspekte nicht beschränkt werden sollten, die für den Beschuldigten wesentlich sind. Bedeutsam ist weiter, dass durch den Entwurf die Regelungen zum Akteneinsichtsrecht vom materiellen Gehalt insgesamt sogar erweitert werden sollten. Da mit dem Entwurf unter anderem die gerichtliche Voruntersuchung abgeschafft werden sollte,825 wurde zum einen gefordert, im vorbereitenden Verfahren die Entscheidungskompetenz über die Akteneinsichtsgewährung der Staatsanwaltschaft aufzuerlegen.826 Eine Erweiterung sollte dabei durch die Änderung des sechsten Absatzes von § 147 StPO stattfinden. Hiernach sollte Akteneinsicht gemäß dem geltenden Absatz 2 spätestens mit dem Abschluss der Ermittlungen nicht mehr versagt werden können. Dem Verteidiger sollte zudem mitgeteilt werden, sobald das Akteneinsichtsrecht unbeschränkt besteht.827 Das Gesetz trat am 01.01.1975 in Kraft.828 h) Die Reform 2000 Der Gesetzgeber beabsichtigte, unter anderem Rechtsgrundlagen für die Erteilung von Aktenauskünften und Akteneinsicht für Gerichte, Staatsanwaltschaften, Behörden und Privatpersonen einzuführen. § 147 StPO sollte an diese Regelungen angepasst werden.829 823 BT-Drs. 7/551, Anlage 1, S. 10 (Art. 1, Nr. 82); zur Begründung: BT-Drs. 7/551, Anlage 1, S. 83 f. 824 BT-Drs. 7/551, Anlage 1, S. 11 (Art. 1, Nr. 91); zur Begründung: BT-Drs. 7/551, Anlage 1, S. 86–88; gleiches sollte für die Behandlung des Einspruchs gegen einen Strafbefehl eingeführt, vgl. hierzu BT-Drs. 7/551, Anlage 1, S. 14 (Art. 1, Nr. 111). 825 Vgl. hierzu BT-Drs. 7/551, Anlage 1, S. 38 f. 826 BT-Drs. 7/551, Anlage 1, S. 5 (Art. 1, Nr. 37); zur Begründung: BT-Drs. 7/551, Anlage 1, S. 69. 827 BT-Drs. 7/2600, 6, 26; diese Fassung wurde dann auch umgesetzt, vgl. BGBl. 1974 I, 3397 (Art. 1). 828 BGBl. 1974 I, 3415 (Art. 15). 829 BR-Drs. 65/99, Teil 1, S. 2 (unter Punkt „B. Lösung“, Nr. 5); BT-Drs. 14/1484, 2 (Nr. 5);

IV. Historie

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Im fünften Absatz von § 147 StPO sollte zunächst folgende Änderung vorgenommen werden: Die Staatsanwaltschaft sollte nicht nur, wie bislang, während des vorbereitenden Verfahrens, sondern auch nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über die Gewährung der Akteneinsicht entscheiden. Zudem sollte in Absatz 5 ein zweiter Satz angefügt werden, nach dem bei Versagung der Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft nach dem Vermerk über den Ermittlungsabschluss oder bei der Versagung der Akteneinsicht in den Fällen des Absatzes 3 gerichtliche Entscheidung beantragt werden kann. Nach § 147 Abs. 5 S. 3 StPO-E sollten die gerichtlichen Entscheidungen nicht mit Gründen versehen werden, soweit durch deren Offenlegung der Untersuchungszweck gefährdet werden könnte.830 Außerdem sollte ein siebter Absatz angefügt werden, der wie folgt lautete: „Dem Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat, können Auskünfte und Abschriften aus den Akten erteilt werden, soweit nicht der Untersuchungszweck gefährdet werden könnte und nicht überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter entgegenstehen. Absatz 5 und § 477 Abs. 5 gelten entsprechend.“831

In § 477 Abs. 5 StPO-E sollte wiederum der Zweckbindungsgrundsatz normiert werden, nach dem die erlangten personenbezogenen Informationen grundsätzlich nur zu dem Zweck verwendet werden dürfen, für den die Auskunft bzw. Akteneinsicht gewährt wurde.832 Zur Begründung, weshalb Absatz 5 zu ändern ist, wurde ausgeführt, dass der Verteidiger bei Verweigerung von Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft nach derzeit herrschendem Verständnis keine Möglichkeit habe, gerichtlichen Rechtsschutz zu beantragen.833 Dies steht im Einklang mit der Gesetzesbegründung zur Einführung des § 147 Abs. 4 S. 2 StPO, nach der bei Verweigerung der Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft insbesondere der (informelle) Rechtsbehelf der Dienstaufsichtsbeschwerde statthaft sein sollte. Manche Gerichte erachteten bei Verweigerung der Akteneinsicht in Fällen des Absatzes 3 seinerzeit den Rechtsbehelf nach § 23 EGGVG als statthaft.834 „Es erscheint fraglich, ob die Akteneinsicht als Voraussetzung einer wirksamen Verteidigung, die im Einzelfall bereits auf den Gang der Ermittlungen des Staatsanwalts oder der Polizei Einfluß zu nehmen suchen muß, allein von der Rechtsanwendung durch die Staatsanwaltschaft abhängen darf.“835

dieser Regierungsentwurf geht in vielen Teilen, hinsichtlich § 147 StPO-E sogar fast vollständig, auf den Regierungsentwurf BT-Drs. 13/9718 (StVÄG-E 1996), der der Diskontinuität unterfallen ist, zurück. 830 BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 6. 831 BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 6. 832 BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 9. 833 BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 21. 834 BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 21. 835 BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 22; diese Passage wird (von der Anpassung an die neue Rechtschreibung abgesehen) inhaltsgleich bei BR-Drs. 65/99, Teil 2, S. 43, wiedergegeben.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

Es wurde folglich als nicht tragfähig angesehen, dass die Entscheidung über das „Ob“ und „Wie“ der Gewährung von Akteneinsicht (bis zum Ermittlungsabschluss) ausschließlich von der Rechtsauffassung bzw. Rechtsanwendung der Staatsanwaltschaft abhängen soll. Wenn in der Gesetzesbegründung zur Reform aus dem Jahr 1965 davon ausgegangen wurde, dass sich der Aktenbegriff und auch die Akteneinsicht auf alle Informationsträger, die seit dem Ermittlungsverfahren aufgekommen sind, mit Ausnahme der Handakten der Staatsanwaltschaft und innerdienstlicher Vorgänge, erstreckt, ist diese gesetzgeberische Auffassung nur konsequent. Hinsichtlich der Subsumtion des gesamten Ermittlungsmaterials unter den Aktenbegriff deckt sich die Gesetzesbegründung zur Reform 2000 insofern mit den aufgezeigten Leitgedanken des Reichsgesetzgebers.836 Wiederum wurde betont, dass § 147 StPO eine essentielle Grundlage wirksamer Strafverteidigung darstelle.837 Zudem werde bislang auch dem Anwalt des Verletzten und künftig auch dem Anwalt einer Privatperson gerichtlicher Rechtsschutz gewährt, sodass dieser Rechtsbehelf auch der Verteidigung zugestanden werden müsse.838 Insofern fand auch der Gleichbehandlungsaspekt Eingang in den Entwurf. Zur vorgeschlagenen Einfügung des siebten Absatzes wurde angeführt, dass „[d]er Beschuldigte selbst […] nach geltendem Recht keinen Anspruch [hat], ohne Einschaltung eines Verteidigers Einsicht in die Akten seines Verfahrens zu nehmen oder Auskünfte daraus zu erhalten.“839

Es sei derzeit lediglich gem. Nummer 185 Abs. 4 RiStBV840 möglich, dem nicht von einem Anwalt vertretenen Beschuldigten weitgehende Auskunft aus den Akten zu gewähren, was im Einzelfall einer vollständigen Akteneinsicht gleichkommen könnte. Weil durch eine solche Auskunftserteilung oftmals Angaben Dritter an den Beschuldigten weitergegeben würden und somit deren informationelles Selbstbestimmungsrecht beeinträchtigt würde, könnten Auskünfte auf der bisherigen Rechtsgrundlage möglicherweise nicht mehr erteilt werden.841 Dem sollte der Entwurf mit der angestrebten Änderung entgegenwirken.842 Es ist folglich 836

Siehe S. 308 ff. BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 22. 838 BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 22. 839 BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 22. 840 Nummer 185 Abs. 4 RiStBV i. d. F. vom 01.07.1998 hatte folgenden Wortlaut: „Privatpersonen und privaten Einrichtungen wird die Akteneinsicht grundsätzlich versagt. Einfach und schnell zu erledigende Auskünfte können – in Ausnahmefällen gegebenenfalls durch Übersendung von Abschriften oder Ablichtungen – Privatpersonen oder privaten Einrichtungen erteilt werden, wenn ein berechtigtes Interesse an der Auskunftserteilung dargelegt ist und wenn sonst Bedenken nicht bestehen.“, abgedruckt bei Kleinknecht/Meyer-GoßnerStPO/Meyer-Goßner, S. 1864. 841 Zum Vorstehenden: BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 22. 842 Vgl. BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 22: „Entsprechend der unmittelbaren Informationsgewährung an den Verletzten (§ 406e Abs. 5) bzw. an Dritte (§ 475 Abs. 4) ist daher die Informationsgewährung in einer Befugnisnorm als Kann-Vorschrift gesetzlich zu verankern […].“ 837

IV. Historie

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davon auszugehen, dass das eigenständige Recht des Beschuldigten auf Erteilung von Auskunft bzw. Abschrift grundsätzlich nicht daran scheitern sollte, dass durch dieses Recht personenbezogene Informationen Dritter übermittelt werden könnten. In Bezug auf die Einschränkung in § 147 Abs. 7 S. 1 StPO-E wurde ausgeführt: „Die Auskunft ist ausgeschlossen bei Gefährdung des Untersuchungszwecks und soweit überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter entgegenstehen. Hier ist insbesondere an die Wahrung der Intimsphäre Dritter, an den Schutz gefährdeter Zeugen und an den Schutz von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen zu denken.“843

In diesem Zitat kommt zum Ausdruck, dass betreffend die Versagung der Erteilung von Auskünften oder Abschriften an den verteidigerlosen Beschuldigten als „überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter“ nicht jegliche Rechte von Dritten, die bspw. aus dem informationellen Selbstbestimmungsrecht abgeleitet werden könnten, ausreichen sollten. Die bewusste Beschränkung auf die Intimsphäre legt vielmehr nahe, dass ein Eingriff in die Sozialsphäre oder Privatsphäre eines Dritten im Vergleich zur Wahrung der Verteidigungsinteressen als verhältnismäßig und somit rechtfertigungsfähig angesehen wurde. Der Bundesregierung dürfte bewusst gewesen sein, dass bei den Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung eines Eingriffes in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zwischen der Privat- und der Intimsphäre zu unterscheiden ist.844 Viel entscheidender wirkt sich aber aus, dass mit dem Entwurf die Vorgaben aus dem sog. Volkszählungsurteil Eingang ins Gesetz finden sollten,845 wobei das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung die von der Bundesregierung und vereinzelten Landesregierungen im Rahmen ihres Stellungnahmsrechts geäußerte Unterscheidung zwischen Privat- und Intimsphäre wiedergegeben hat.846 Hinzu kommt, dass Angaben Dritter gerade nicht ohne Weiteres zur Einschränkung des Rechts des Beschuldigten auf Auskunft-/Abschriftenerteilung führen sollten, weshalb schließlich der derzeitige, freilich innenrechtliche, status quo (Nr. 185 Abs. 4 RiStBV a. F.) geändert werden sollte. Mit „überwiegende schutzwürdige“ sollte demnach bewusst ein eng begrenzter Anwendungsbereich normiert werden, sodass insbesondere ein sonst drohender Eingriff in die Intimsphäre, in Leib und Leben sowie in die Berufsfreiheit als verfassungsrechtlich hochwertige Grundrechte ausnahmsweise eine Einschränkung des Auskunfts-/Abschriftenerteilungsrechts rechtfertigen. Im Zusammenhang mit der Einfügung des Zweckbindungsgrundsatzes durch den Verweis auf § 477 Abs. 5 StPO-E in § 147 Abs. 7 S. 2 StPO-E wird ferner das Vertrauen des Gesetzgebers in die Strafverteidiger und gleichzeitig die gewünschte Umgangsweise der Verteidiger mit den Akten hervorgehoben: 843

BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 22. Dies entsprach schließlich schon der derzeit st. Rspr., siehe nur BVerfGE 54, 148, 153 f. m. w. N. 845 BT-Drs. 14/1484, 1 (unter Punkt „A. Zielsetzung“). 846 BVerfGE 65, 1, 25. 844

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

„Für die Akteneinsicht durch den Verteidiger erübrigt sich eine solche Regelung zur Zweckbindung. Sie ergibt sich aus der Aufgabe der Verteidigung und der besonderen Stellung des anwaltlichen Verteidigers, eines Organs der Rechtspflege, im Verfahren und orientiert sich in ihrem Inhalt an diesen Kriterien.“847

Es galt offenbar als selbstverständlich, dass die Verteidiger die Akten bzw. die Informationen, die sich hieraus ergeben, lediglich zur Verteidigung des Beschuldigten verwenden dürfen. Das entsprechende Vertrauen bringt der Gesetzgeber den Verteidigern ausdrücklich entgegen. Letztlich wird im Zusammenhang mit § 475 Abs. 3 S. 2 StPO-E (Übersendungsrecht eines Rechtsanwalt bei Akteneinsichtsbegehren einer Privatperson) „[…] klargestellt, daß eine Mitgabe von Akten ein Recht auf Akteneinsicht (nicht nur auf Auskunft) voraussetzt, weil die Mitgabe von Akten stets die Möglichkeit einer umfassenden Einsichtnahme eröffnet“.848

Zum einen soll das Recht auf Akteneinsicht also weiter als die bloße Auskunftserteilung reichen und zum anderen wird deutlich, dass zur vollständigen, unbeschränkten Gewährung von Akteneinsicht wohl das eigenhändige Studieren der Akten an einem für den Verteidiger beliebigen Ort gehört. Die Übersendung selbst bleibt hierbei, wie schon zuvor herausgearbeitet, das „Mittel zum Zweck“. Der Rechtsausschuss regte an, dass gerichtlicher Rechtsschutz gem. § 147 Abs. 5 S. 2 StPO-E auch bei Versagung der Akteneinsicht möglich sein sollte, wenn sich der Beschuldigte nicht auf freiem Fuß befinde.849 Behördlich verwahrte Personen hätten ein besonderes Interesse daran, dass ihrem Verteidiger Akteneinsicht gewährt werde.850 Mit dieser Änderung wurde der Entwurf im ersten Durchgang in zweiter und dritter Beratung angenommen.851 Der Bundesrat rief den Vermittlungsausschuss an,852 der allerdings an der geforderten Einfügung zugunsten des sich nicht auf freiem Fuß befindlichen Beschuldigten festhielt.853 Die Beschlussempfehlung wurde sodann angenommen.854 Die reformierte Fassung von § 147 StPO trat am 01.11.2000 in Kraft.855

847

BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 22. BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 27; diese Passage wird (von der Anpassung an die neue Rechtschreibung abgesehen) inhaltsgleich bei BR-Drs. 65/99, Teil 2, S. 54, wiedergegeben. 849 BT-Drs. 14/2595, 6. 850 BT-Drs. 14/2595, 28. 851 Angenommen wurde folglich die BT-Drs. 14/1484 i. d. F. der BT-Drs. 14/2595: BTPlenarprotokoll 14/84 (neu): Stenografischer Bericht der 84. Sitzung des Deutschen Bundestags vom 27.01.2000, 7813B-7813C. 852 BR-Drs. 64/00 (B), 5. 853 BT-Drs. 14/3525. 854 BT-Plenarprotokoll 14/108: Stenografischer Bericht der 108. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 08.06.2000, 10175A; BR-Plenarprotokoll 752: Stenografischer Bericht der 752. Sitzung des Deutschen Bundesrates vom 09.06.2000, 214C. 855 BGBl. 2000 I, 1262 (Art. 14 S. 2). 848

IV. Historie

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Mit der Reform aus dem Jahr 2000 sollte zum einen also erreicht werden, dass die Akteneinsicht nicht (allein) von der Rechtsanwendung durch die Staatsanwaltschaft abhängt. Aus diesem Grund wurde der gerichtliche Rechtsschutz für die Verteidigung in § 147 Abs. 5 S. 2 StPO – verglichen mit der bisherigen Rechtslage – erweitert. Zum anderen sollten unter den Begriff „überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter“ im neu eingefügten siebten Absatz von § 147 StPO, wie der Wortlaut schon nahelegt, nur Rechtsgüter mit hohem verfassungsrechtlichen Rang fallen. In den Blick nahm der Gesetzgeber hierbei die Intimsphäre, offenbar den Schutz von Leib und Leben und schließlich Geschäfts- bzw. Betriebsgeheimnisse als Ausfluss von Art. 12 GG. Dass der Gesetzgeber bei der Reform insbesondere die Vorgaben aus dem Volkszählungsurteil856 umsetzen wollte und – zwar lediglich in der Wiedergabe der Stellungnahmen der Bundesregierung und derjenigen vereinzelter Landesregierungen, aber gleichwohl in der Entscheidung ausgewiesen – hierin zwischen Privat- und Intimsphäre unterschieden wurde, lässt vermuten, dass lediglich der Kernbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung zur Einschränkung des Rechts auf Erteilung von Auskunft und Abschriften berechtigen sollte. Eindeutig erkennbar wird diese Intention dann bei dem geäußerten Vergleich mit Nr. 185 Abs. 4 RiStBV a. F., bei der es sich allerdings um Innenrecht handelt. Der Gesetzgeber ging zudem davon aus, dass Verteidiger kraft ihrer Stellung als Organ der Rechtspflege (entsprechend § 1 BRAO) die sich aus den Akten ergebenden Daten lediglich zweckgebunden – zur Verteidigung – verwenden. Das besondere Vertrauen, welches der Gesetzgeber den Verteidigern ausdrücklich entgegenbrachte, dürfte der Grund gewesen sein, weshalb das Einsichtsrecht des Verteidigers gerade nicht dem entsprechenden Vorbehalt im eingefügten § 147 Abs. 7 S. 1 StPO unterstellt wurde. Aus dem durch die Reform eingeführten § 147 Abs. 7 S. 1 StPO konnte nunmehr abgeleitet werden, dass die Erteilung von Aktenauskünften oder Aktenabschriften ein Minus zum Akteneinsichtsrecht darstellt. Schon im Jahr 1908 wurde angemerkt, dass dem Verteidiger auf eigene Kosten solche Abschriften zu erteilen sind. i) Die Reform 2009 Durch die Reform 2009 wurde die StPO wie folgt geändert. In § 161a Abs. 3 S. 1, 2 StPO sollte künftig auf § 162 verwiesen werden.857 Demgemäß sollte der Verweis im bislang geltenden § 147 Abs. 5 S. 2 auf § 161a Abs. 3 S. 2 bis 4 StPO durch einen Verweis auf § 162 StPO ersetzt werden.858

856

BVerfGE 65, 1. BT-Drs. 16/12098, 5. 858 BT-Drs. 16/12098, 21. 857

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

Weiter sollte in § 147 Abs. 5 StPO ein neuer Satz 3 eingefügt werden. Hierin sollte auf die §§ 297 bis 300, 302, 306 bis 309, 311a und 473a verwiesen werden.859 Weil mit dem Entwurf unter anderem nicht mehr auf § 161a Abs. 3 S. 4 StPO verwiesen werden sollte, wäre die gerichtliche Entscheidung nicht mehr unanfechtbar, sodass es geboten erschien, die genannten Verfahrensvorschriften für entsprechend anwendbar zu erklären.860 Abgesehen davon, dass von einem Beschwerderecht der Verteidigung gem. den §§ 304 ff. StPO bei Versagung der Akteneinsicht durch das Gericht ausgegangen wird,861 ergeben der reformierte Normtext und die Begründung des Entwurfs hinsichtlich § 147 StPO jedoch keine neuen Erkenntnisse. Das 2. Opferrechtsreformgesetz vom 29.07.2009862 trat am 01.10.2009 in Kraft.863 j) Die Reform 2010 Mit dem Regierungsentwurf vom 07.11.2008 sollten die Vorgaben des EGMR zur Informationsgewährung bei (beantragter) Freiheitsentziehung in § 147 StPO eingepflegt werden.864 Hierzu sollte dem zweiten Absatz ein neuer Satz 2 angefügt werden: „Liegen die Voraussetzungen von Satz 1 vor und befindet sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft oder ist diese im Fall der vorläufigen Festnahme beantragt, sind dem Verteidiger die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung wesentlichen Informationen in geeigneter Weise zugänglich zu machen.“865

Im ersten Satz sollte der Begriff „Aktenstücke“ in „Aktenteile“ und der Begriff „Beweisstücke“ in „Beweisgegenstände“ abgeändert werden,866 ohne dass hierdurch an dem Begriffsinhalt etwas geändert werden sollte.867 Im siebten Absatz sollte das Recht auf Erteilung von Auskunft bzw. Abschriften als Anspruch i. S. e. gebundenen Entscheidung normiert werden („sind […] zu erteilen“). Dieses Beschuldigtenrecht sollte jedoch nur gelten, soweit es zur angemessenen Verteidigung erforderlich ist und hierdurch der Untersuchungszweck, auch in einem anderen Strafverfahren, nicht gefährdet würde. Ferner sollte in § 147 Abs. 7 S. 2 StPO auf den neu eingefügten Abs. 2 S. 2 verwiesen werden, sodass auch dem Beschuldigten das „Untersuchungshaftprivileg“ zukommen sollte.868 859

BT-Drs. 16/12098, 5. Vgl. BT-Drs. 16/12098, 21. 861 BT-Drs. 16/12098, 36. 862 BGBl. 2009 I, 2280. 863 BGBl. 2009 I, 2285 (Art. 8). 864 BT-Drs. 16/11644, 1 (unter Punkt „A. Problem und Ziel“), vgl. auch BT-Drs. 16/11644, 2, 13, 33 f. 865 BT-Drs. 16/11644, 9. 866 BT-Drs. 16/11644, 9. 867 Vgl. BT-Drs. 16/11644, 34: „§ 147 Abs. 2 Satz 1 StPO-E wurde sprachlich überarbeitet.“ 868 Zum Vorstehenden: BT-Drs. 16/11644, 9. 860

IV. Historie

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Die Vorgaben des EGMR, nach denen dem Beschuldigten bzw. seinem Verteidiger die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung wesentlichen Informationen in geeigneter Weise zugänglich zu machen sind, sollten mit der Neufassung umgesetzt werden.869 Auch die Ausgestaltung des siebten Absatzes von § 147 StPO als Anspruchsnorm basiert auf Vorgaben des EGMR.870 Ein generelles Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten sei nach Auffassung des Gesetzgebers aus Gründen der Missbrauchsgefahr hingegen nach wie vor abzulehnen, zumal bei schwierigen Fällen oftmals ohnehin die Bestellung eines Verteidigers gem. § 140 Abs. 2 StPO in Betracht käme.871 Der Rechtsausschuss regte an, dass § 147 Abs. 2 S. 2 StPO-E ein zweiter Halbsatz angefügt werden sollte, nach dem die „Zugänglichmachung in geeigneter Weise“ in der Regel als eine Gewährung von Akteneinsicht ausgestaltet werden sollte. Im siebten Absatz sollte dann lediglich auf § 147 Abs. 2 S. 2 StPO-E erster Halbsatz verwiesen werden.872 Die vormals in § 147 Abs. 2 S. 1 StPO normierte Einschränkung („soweit dies den Untersuchungszweck […] gefährdet“) sollte sich nur auf das jeweils betreffende und nicht, wie im ursprünglichen Entwurf gefordert, auch auf andere Strafverfahren beziehen; der entsprechende Einschub „auch in einem anderen Verfahren“ in § 147 Abs. 2 S. 2 StPO-E873 sollte also wieder gestrichen werden.874 Mit diesen Änderungen wurde der Entwurf in zweiter und dritter Beratung angenommen.875 Das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.07.2009 wurde parallel zum zuvor dargestellten 2. Opferrechtsreformgesetz bekannt gemacht, trat jedoch erst am 01.01.2010 in Kraft.876 Zusammengefasst lassen sich aus der Reform 2010 und den diesbezüglichen Gesetzesmaterialien folgende Erkenntnisse gewinnen: Auch durch die Reform im Jahr 2010 wird deutlich, dass der Gesetzgeber hinsichtlich der Informations-Mitteilung zwischen dem Strafverteidiger und dem Beschuldigten differenziert. Es kommt wiederholt zum Ausdruck, dass eine Missbrauchsgefahr bei der Ausübung des Akteneinsichtsrechts lediglich bei dem Beschuldigten zu besorgen sein soll. Bei (beantragter) Untersuchungshaft ist dem Verteidiger im Regelfall nunmehr Akteneinsicht zu gewähren, um die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung(-sanordnung) beurteilen zu können. Dem ver869 BT-Drs. 16/11644, 2, 13, 33 f., mit Hinweis auf die EGMR-Entscheidungen in Sachen Mooren, Lietzow und Garcia Alva (vgl. die jeweiligen Fundstellen bei BT-Drs. 16/11644, 33). 870 BT-Drs. 16/11644, 34, mit Hinweis auf EGMR NStZ 1998, 429 (Foucher). 871 BT-Drs. 16/11644, 34; die sonst drohende Missbrauchsgefahr wird auch bei BT-Plenarprotokoll 16/205: Stenografischer Bericht der 205. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 12.02.2009, 22200B, betont. 872 Zum Vorstehenden: BT-Drs. 16/13097, 10. 873 BT-Drs. 16/11644, 9. 874 BT-Drs. 16/13097, 19. 875 BT-Plenarprotokoll 16/224: Stenografischer Bericht der 224. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 28.05.2009, 24571D. 876 BGBl. 2009 I, 2274, 2279 (Art. 8 Abs. 1).

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teidigerlosen Beschuldigten stand auch nach dieser Reform allenfalls ein Recht auf Erteilung von Auskunft bzw. Aktenabschrift zu. Eine Stärkung haben die Rechte des Beschuldigten dadurch erfahren, dass sein Recht auf Erteilung von Auskunft bzw. Abschrift als Anspruch und nicht lediglich als Ermessensvorschrift ausgestaltet wurde. Die Änderung der Begriffe in „Aktenteile“ und „Beweisgegenstände“ war für den Gesetzgeber redaktioneller Art gewesen. § 147 Abs. 2 S. 1 StPO sollte lediglich sprachlich angepasst werden. Von seiner bisherigen Rechtsauffassung hinsichtlich des Aktenbegriffs, nach der die Beweisstücke eine Teilmenge der Akten sein sollten, hat sich der Gesetzgeber mit dieser Reform daher nicht gelöst und auch nicht lösen wollen. k) Zwischenfazit der historischen Untersuchung Im Anschluss an die letztgenannte Reform wurde die amtliche Überschrift von § 147 StPO geändert; den diesbezüglichen Gesetzesmaterialien kann nichts für die hiesige Untersuchung Relevantes entnommen werden. Die Normgenese und die Gesetzesmaterialien zur Einführung und den übrigen Reformen des § 147 StPO vor Einführung der e-Akte bringen jedoch in weiten Teilen Klarheit. Unter den Aktenbegriff sollte jedwede, das Strafverfahren betreffende Information, offenbar im Original, fallen, wozu auch die staatsanwaltlichen (Ermittlungs-)Akten zählten. Schon in der Begründung zur Einführung von § 147 RStPO wird deutlich, dass zu den Akten das gesamte Informationsmaterial zählen sollte, welches sich im Laufe der ermittelnden Tätigkeit – sei es durch den Voruntersuchungsrichter, sei es durch die Staatsanwaltschaft – angesammelt hat und mit dem Verfahrensgegenstand inhaltlich zusammenhängt. Dies wurde bereits mit dem nicht verabschiedeten Entwurf 1908 gefordert. In den Gesetzesmaterialien zur Reform des Jahres 1965 hat der Gesetzgeber weiter klargestellt, dass von den „Akten, die dem Gericht vorliegen oder […] vorzulegen wären“ lediglich die Handakten der Staatsanwaltschaft und andere dienstliche Vorgänge, die in dem gerichtlichen Verfahren nicht verwertet werden sollen, ausgenommen sein sollten. Der Gesetzgeber konkretisierte letztlich also nur das, was schon aus der Gesetzesbegründung zur Einführung von § 147 RStPO abgeleitet werden konnte. Auch wenn dies nicht das vordergründige Motiv bei der Erweiterung des Einsichtsrechts in die Akten, „die dem Gericht vorzulegen wären“, war, findet dieses weite Begriffsverständnis im Wortlaut „vorzulegen wären“ ebenfalls seinen Ausdruck. Dies war vom Gesetzgeber auch so intendiert. Schließlich erging die entsprechende Reform des Jahres 1965 vor dem Hintergrund, dass ein grundsätzlich vollständiges Einsichtsrecht auch schon im Ermittlungsverfahren bestehen sollte. Dieses Begriffsverständnis wurde bereits in dem (nicht verabschiedeten) Entwurf des Jahres 1936 und hinsichtlich der Ausklammerung der Handakten vom Aktenbegriff auch in dem (nicht verabschiedeten) Entwurf des Jahres 1939 ausdrücklich zugrunde gelegt. Nach der Analyse der verschiedenen Gesetzesbegründungen und Leitmotive zeichnet sich

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ab, dass die Staatsanwaltschaft allenfalls dasjenige Informationsmaterial für sich behalten dürfen sollte, was sie innerdienstlich und aus Organisationsgründen selbst gefertigt hat. Dass der Gesetzgeber einen weiten Aktenbegriff zugunsten der Verteidigung voraussetzt, zeigt sich auch in den Materialien zur Reform von § 147 Abs. 5 S. 2 StPO, die mit Wirkung zum 01.11.2000 in Kraft trat. In diesen wurde schließlich betont, dass die Akteneinsicht als Voraussetzung einer wirksamen Verteidigung nicht allein von der Rechtsanwendung der Staatsanwaltschaft abhängen dürfe. Bereits in den Materialien zur Einführung der RStPO wurde Waffengleichheit zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft gefordert, die spätestens im Hauptverfahren zur vollen Geltung kommen sollte. Weiter sollte es nach Auffassung des Gesetzgebers offenbar auch nicht darauf ankommen, dass das Informationsmaterial eine bestimmte Beschaffenheit aufweist. Zumindest dasjenige Beweismaterial, das ein Dokument oder einen ähnlichen Informationsträger darstellt, sollte unter den Aktenbegriff fallen. Seinen Niederschlag fand diese Annahme ebenfalls im Wortlaut des ursprünglichen § 147 Abs. 4 RStPO („Akten, mit Ausnahme der Ueberführungsstücke“). Die in der Norm in Bezug genommenen Überführungsstücke sollten Beweismaterial darstellen, das erstens bei der Herausgabe oder dem Transport verändert oder zerstört werden könnte und zweitens hierdurch die Gefahr eines Beweismittelverlustes bestünde. Das Übersendungsrecht sollte lediglich aus Gründen des Integritätsschutzes auf die restlichen Akten beschränkt werden. Vorstehendes ergibt sich aus den Gesetzesbegründungen zur Einführung des § 147 RStPO, an denen sich der Gesetzgeber ebenfalls bei der Reform des Jahres 1950 orientiert hat, und denjenigen zur Reform aus dem Jahr 1965, durch die der Begriff „Überführungsstücke“ in „Beweisstücke“ geändert wurde, wobei sich der Gesetzgeber letztlich auch hierbei an dem vorherigen Rechtszustand orientierte. Bei der Änderung des Begriffs „Beweisstücke“ in § 147 Abs. 2 S. 1 StPO a. F. durch den Begriff „Beweisgegenstände“ hat sich der Gesetzgeber ebenfalls nicht von seiner ursprünglichen Rechtsauffassung gelöst. In den Gesetzesmaterialien zur Einführung von § 147 RStPO deutet sich in der Gesamtschau an, dass die Akten die Informationsträger im Original darstellen sollten. Ausdrücklich wird dies jedoch nicht klargestellt. Auch die Einführung des eigenständigen Rechts des Beschuldigten auf Erteilung von Auskünften und Abschriften nahm der Gesetzgeber nicht zum Anlass, in der Gesetzesbegründung ausdrücklich klarzustellen, dass die Akten eine Ansammlung von Informationsträgern im Original darstellen sollen. Weniger den Aktenbegriff als das Einsichtsrecht der Verteidigung betreffend, ergibt sich Folgendes: Aus den Gesetzesmaterialien zur Einführung des § 147 RStPO geht hervor, dass die Verabfolgung bzw. Übersendung der Verfahrensbeschleunigung und der Arbeitserleichterung für die Verteidiger dienen sollte. Weiter war die Reform des Jahres 1975 von dem Leitgedanken der Verfahrensbeschleunigung geprägt, wobei deutlich wird, dass dieser Aspekt nicht zur Einschränkung des Einsichtsrechts

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

führen sollte. Durch diese Reform wurde § 147 StPO trotz des Willens, das Verfahrensrecht zur Verfahrensbeschleunigung weitgehend zu reformieren, noch beschuldigten- bzw. verteidigungsfreundlicher ausgestaltet. Dieser Gedanke findet sich auch in der Gesetzesbegründung zur Reform aus dem Jahr 2000 wieder, in der zum Ausdruck gebracht wird, dass § 147 StPO für eine ausreichende Verteidigung essentiell ist. Die Forderung aus dem nicht verabschiedeten sog. Goldschmidt-Entwurf, nach dem die Verabfolgung der Akten davon abhängen sollte, ob hierdurch das Verfahren verzögert wird, ist zu keiner Zeit geltendes Recht geworden. Ein eigenes Einsichts- und Besichtigungsrecht des Beschuldigten normierte der Gesetzgeber in der Zeit, als die StPO lediglich die papierne Akte kannte, nicht. Lediglich Verteidigern und Rechtsanwälten sollte das Akteneinsichtsrecht zugestanden werden, weil diesen Personen als Organen der Rechtspflege das notwendige Vertrauen – im Gegensatz zu Privatpersonen – zugesprochen wurde. Der Beschuldigte konnte sich gem. der Anspruchsnorm des § 147 Abs. 7 S. 1 StPO bislang lediglich Auskünfte und Aktenabschriften erteilen lassen, was jedoch aus drei Gründen verwehrt werden konnte: entweder, weil dies zur Verteidigung nicht erforderlich ist, der Untersuchungszweck in irgendeinem den Beschuldigten betreffenden Strafverfahren gefährdet werden würde oder weil überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter entgegenstehen. Bis hierhin ist die Reform des Jahres 2010 die einzige, durch die die in § 147 StPO enthaltenen Rechte beschränkt wurden. Durch sie wurden die Verweigerungsgründe auf die Untersuchungszweckgefährdung hinsichtlich anderer Strafverfahren erweitert und weiter dem Vorbehalt unterstellt, dass die Rechteausübung zur angemessenen Verteidigung erforderlich ist. Die Reform von § 147 Abs. 2 S. 2, 7 S. 1 StPO im Jahr 2010 sollte dabei der Umsetzung von EGMR-Rechtsprechung dienen. In der Gesetzesbegründung zur Reform des Jahres 2000 wird deutlich, welche Schutzgüter der Gesetzgeber als „überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter“ angesehen hat: die Intimsphäre als Kernbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, Leib und Leben sowie den Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen. Eine Beschränkung des Akteninformationsrechts aus Gründen des Schutzes von Persönlichkeitsrechten Dritter sollte beim eigenständigen Abschriften-/Auskunftserteilungsrecht des Beschuldigten im Übrigen hingegen ausscheiden. In der Gesetzesbegründung bestätigt sich also, dass nach dem Willen des Gesetzgebers die Privatsphäre – jedenfalls bis zur Grenze der Intimsphäre – eines Dritten das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers (erst recht) nicht einzuschränken vermag. Auch die Einschränkung aufgrund einer Untersuchungszweckgefährdung hinsichtlich anderer Strafverfahren ist vom Gesetzgeber bewusst nicht auf das Einsichtsrecht des Verteidigers übertragen worden. Andererseits wird in den Materialien zur Reform des Jahres 1965 betont, dass der Übersendung der Akten „entgegenstehende wichtige Gründe“ in der Person des Verteidigers liegen könnten, insbesondere aber im Vorverfahren auftreten könnten. Konkreter wurde der Gesetzgeber in den Materialien nicht. Aus den Gesetzesmaterialien zur

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Einführung des § 147 RStPO und zur Reform des Jahres 1965 ergibt sich jedoch, dass das Einsichtsrecht grundsätzlich von Beginn des Ermittlungsverfahrens besteht. Mit der Reform des Jahres 1965 hat der Gesetzgeber verdeutlicht, dass das Einsichtsrecht auch im Ermittlungsverfahren grundsätzlich unbeschränkt besteht, jedenfalls aber nach dem Ermittlungsabschluss i. d. R. keinen weiteren Beschränkungen mehr unterliegen soll. Auch dies wurde bereits in dem Entwurf des Jahres 1939 gefordert. Dass das Akteneinsichtsrecht, wie im Entwurf des Jahres 1939 gefordert, hinsichtlich des Ortes der Einsichtsgewährung im Ermessen der Staatsanwaltschaft oder des Vorsitzenden stand, übernahm der Gesetzgeber hingegen nicht. In der Begründung zum nicht verabschiedeten Entwurf des Jahres 1939 zeichnete sich ab, dass unter Einsichtnahme die kurzweilige Übergabe dieser Akten zur selbstständigen Durchsicht verstanden wurde. Die Besichtigung der Beweisstücke wurde nicht näher konkretisiert. Was der Gesetzgeber unter Einsicht und Besichtigung versteht, wird noch zu untersuchen sein.877 Das Einsichts- und Besichtigungsrecht der Verteidigung ist jedenfalls als Anspruchsnorm ausgestaltet. Gem. § 147 Abs. 1 StPO ist der Verteidiger hierzu befugt. Das früher in § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. normierte Übersendungsrecht, nach dem dem Verteidiger die Akten in seine alleinige Gewahrsamssphäre überlassen werden sollten, näherte sich als Soll-Vorschrift dem Wortlaut von § 147 Abs. 1 StPO deutlich an.

2. Gesetzgeberischer Wille bei der Reform des Akteneinsichtsrechts im Jahr 2018 Im Folgenden wird herausgearbeitet, was sich an den Akteninformationsrechten durch das Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs v. 05.07.2017878 geändert hat bzw. nach Auffassung des Gesetzgebers ändern sollte und welcher Bereich unverändert geblieben ist. Hierzu werden die Gesetzesmaterialien zu der Reform umfassend untersucht. Vorausgegangen war dieser Reform der Regierungsentwurf vom 06.05. 2016.879 Für die elektronische Aktenführung sollten Rechtsgrundlagen eingeführt und ausgestaltet werden. Bis zum 31.12.2025 soll die elektronische Aktenführung eine Option darstellen; ab dem 01.01.2026 sollen neu anzulegende Akten ausschließlich elektronisch geführt werden.880

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Siehe S. 521 ff. BGBl. I, 2017, 2208. 879 BT-Drs. 18/9416, 9 ff. 880 BT-Drs. 18/9416 (unter Punkt „B. Lösung“); § 13 EGStPO-E sah jedoch eine Länderöffnungsklausel vor, wonach es den Ländern möglich war, die elektronische Aktenführung bis zum 01.01.2020 zurückzustellen: BT-Drs. 18/9416, 20. 878

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

a) Die Anspruchsnorm – § 147 StPO n. F. § 147 StPO wurde in wesentlichen Bereichen umgestaltet. Durch die jüngste Reform wurden Regelungen zu Inhalt und Umfang der Akteninformationsrechte in einen allgemeinen Teil verlagert (§§ 32 ff. StPO).881 Es sollte im dritten Absatz des § 147 StPO zunächst das Wort „Niederschriften“ durch das Wort „Protokolle“ ersetzt werden.882 Das vormals im vierten Absatz geregelte Übersendungsrecht des Verteidigers und der Anfechtungsausschluss wurden in den allgemeinen Teil verlagert (§ 32f Abs. 1–3 StPO). In § 147 Abs. 4 S. 1 StPO wurde sodann ein eigenes Einsichts- und Besichtigungsrecht des Beschuldigten eingefügt, wobei die bislang geltende Einschränkung „soweit dies zu einer angemessenen Verteidigung erforderlich ist“ (so die Vorgängernorm § 147 Abs. 7 S. 1 StPO a. F.) in der Entwurfsfassung ersatzlos gestrichen wurde. Entsprechend wurde in § 147 Abs. 6 S. 2 StPO die Mitteilungspflicht auf den verteidigerlosen Beschuldigten erweitert. Der siebte Absatz, in dem bislang das Recht des Beschuldigten auf Erteilung von Auskunft und Abschriften geregelt war, konnte durch das Aufrücken der Regelung in den Absatz 4 gestrichen werden.883 Gem. § 147 Abs. 4 S. 2 StPO können dem Beschuldigten bei nicht-elektronischen Akten an Stelle der Einsichtnahme in die Akten Kopien aus den Akten übermittelt werden. Nähere Ausführungen zum ehemals in § 147 Abs. 4 S. 1 StPO normierten Übersendungsrecht des Verteidigers sind in § 32f Abs. 1, 2 StPO normiert, auf den an späterer Stelle noch genauer eingegangen wird.884 Dass dem Beschuldigten ein unmittelbares Einsichts- und Besichtigungsrecht einzuräumen ist, wird mit der durch die Einführung der elektronischen Akte künftig entfallenden Manipulationsgefahr begründet.885 Ferner sei die Erstellung einer Leseversion bzw. -kopie für den Beschuldigten mit einem verhältnismäßig geringen Aufwand verbunden, weshalb das Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten als Ausfluss von Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK886 nicht mehr den bis dato geltenden Beschränkungen – einerseits reine Auskunfts- und Abschriftenerteilung und an881 Siehe zur Entwurfsfassung der § 32 ff. StPO-E: BT-Drs. 18/9416, 11–14; zu § 147 StPO-E: BT-Drs. 18/9416, 15. 882 Hierdurch sollte veranschaulicht werden, dass „Niederschriften“ nicht nur in Papierform, sondern auch in elektronischer Aktenführung erstellt werden können: BTDrs. 18/9416, 59 (Begründung zu Nr. 11 StPO-E). Dass bzgl. der Begründung bei BTDrs. 18/9416, 60, auf die Begründung zu § 114d StPO-E (Nr. 10 StPO-E) verwiesen wurde, scheint ein Redaktionsversehen gewesen zu sein, gemeint müsste Nr. 11 StPO-E gewesen sein, worin dieselbe Änderung vorgenommen wurde. 883 Zum Vorstehenden: BT-Drs. 18/9416, 15. 884 Siehe S. 521 ff. 885 BT-Drs. 18/9416, 60. 886 In der Begründung wird auf Art. 6 Abs. 1 und 6 EMRK abgestellt. Da Art. 6 EMRK nur 3 Absätze enthält und das Fairnessgebot durch Art. 6 Abs. 1 und 3 EMRK konkretisiert wird, dazu später, ist davon auszugehen, dass Abs. 3 gemeint war. Auch in dem in Bezug genommen EGMR-Urteil (EGMR NStZ 1998, 429) wurde auf Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK rekurriert.

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dererseits der Vorbehalt, dass die Auskunft/Abschriftenerteilung zur angemessenen Verteidigung erforderlich ist – unterliegen dürfe.887 Sofern die vom Beschuldigten einzusehenden Akten noch in Papierform vorlägen, könnten dem Beschuldigten anstelle der Gewährung der Akteneinsicht auch Abschriften erteilt werden, um die Aktenintegrität nicht zu gefährden.888 Die Abschriften müssten dann aber in jedem Fall den gesamten Umfang der Akten umfassen.889 Der Vorbehalt aus dem ursprünglichen § 147 Abs. 7 S. 1 StPO, nach dem das Gewähren des Informationsrechts eines Beschuldigten davon abhängen sollte, ob es für eine angemessene Verteidigung erforderlich ist, sollte nicht übernommen werden. „Die Beurteilung der Erforderlichkeit für eine angemessene Verteidigung soll künftig allein derjenigen Person obliegen, die sich verteidigt.“890 Im Übrigen sollten „[d]ie zum Schutz des Verfahrens und der übrigen Verfahrensbeteiligten bestehenden Einschränkungsmöglichkeiten […] erhalten bleiben.“891 Schon in der Problembeschreibung des Gesetzentwurfs wird die Konsequenz des herausgearbeiteten gesetzgeberischen Begriffsverständnisses deutlich. Es bestätigt sich die gesetzgeberische Auffassung, die schon in den Materialien zu § 58a StPO aufgekommen ist und im Grunde auch aus dem gesetzgeberischen Willen zur Einführung von § 147 RStPO abgeleitet werden kann, nämlich, dass beispielsweise auch elektronische Datenträger (die zur Papierakte gehören) unter den Aktenbegriff fallen. In den Materialien zur jüngsten Reform heißt es: „[…] Strafakten sind dagegen bislang noch in Papierform zu führen, obwohl die Mehrzahl der darin befindlichen Dokumente bereits mittels elektronischer Datenverarbeitung erstellt wurde und zunehmend auch elektronisch übermittelt werden wird. Damit ist die elektronische Arbeitsweise heute bereits Realität, auch wenn aufgrund gesetzlicher Regelungen am Ende ein Papierdokument stehen muss. Daher soll auch im Strafverfahren eine gesetzliche Grundlage für die Einführung einer elektronischen Akte als Voraussetzung für einen Medienwechsel geschaffen werden, der den technischen Fortschritt nachvollziehen und die Strafjustiz modernisieren wird. […]“892 An anderer Stelle heißt es: „Aber auch Ermittlungsbehörden und Gerichte sichten bereits heute große digitalisierte Aktenbestände am Bildschirm. Selbst die Papierakte besteht aus einer Vielzahl von Dokumenten, die auch elektronisch vorliegen, wie beispielsweise der Mailverkehr oder Vernehmungsprotokolle.“893

Innerhalb der späteren Plenardebatte zum Gesetzesvorhaben des Jahres 2018 wird ferner hervorgehoben, dass der vormalige strafprozessuale Aktenbegriff durch den „Medienwechsel“ nicht etwa verkürzt werden sollte, sondern der Aspekt der Arbeitserleicherung/-beschleunigung im Vordergrund stand: 887

Vgl. BT-Drs. 18/9416, 60. BT-Drs. 18/9416, 60. 889 BT-Drs. 18/9416, 60. 890 BT-Drs. 18/9416, 60. 891 BT-Drs. 18/9416, 33. 892 BT-Drs. 18/9416, 1 (unter Punkt „A. Problem und Ziel“); Hervorhebung durch Verfasser. 893 BT-Plenarprotokoll 18/234: Stenografischer Bericht der 234. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 18.05.2017, 23789A; Hervorhebung durch Verfasser. 888

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

„Was genau versteht man unter einer ,e-Akte‘? Sie wird beschrieben als ,ein definiertes System elektronisch gespeicherter Daten‘. […] Die elektronische Akte ist deutlich mehr als die Papierakte. Die mit einer elektronischen Aktenführung einhergehende automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten ermöglicht im Vergleich zur papierbasierten Aktenführung eine wesentlich einfachere und schnellere Recherche, Filterung oder Verknüpfung von Daten.“894

Ungeachtet dessen, dass die Passage nicht Teil der primär heranzuziehenden Gesetzesbegründung ist, kann aus der Formulierung „mehr als die Papierakte“ nicht (eindeutig) geschlossen werden, dass der Aktenbegriff erweitert werden sollte. Im Gegenteil liegt es näher, dass hiernach die Verfahrensbeteiligten ein „Mehr“ offenbar dadurch erhalten sollten, dass die Arbeitsweise erleichtert werden sollte. Anders formuliert, ging es hiernach offenbar darum, durch die e-Akte ein „Mehr an Komfort“ zu schaffen. Dass der Gesetzgeber an dem Aktenbegriff nichts ändern wollte, wird auch daran deutlich, dass als Alternative zum Gesetzesentwurf vorgeschlagen wurde, dauerhaft eine optionale elektronische Aktenführung vorzusehen.895 Denn es erscheint abwegig und wäre vor dem Hintergrund zur immer wieder in den Vordergrund gestellten Bedeutung des Akteneinsichtsrecht auch inkonsequent, wenn der Gesetzgeber bei dem Akteninhalt oder dem Umfang der Akteneinsicht nun danach unterscheiden würde, ob die Akte in Papierform oder elektronisch geführt wird. Im Übrigen wäre hierfür eine entsprechende Erwähnung in der 51 Seiten langen Entwurfsbegründung896 naheliegend gewesen, woran es jedoch gänzlich fehlt.897 Dem Entwurf lag vielmehr die schlichte Überlegung zugrunde, dass die Einführung der elektronischen Strafakte viele Vorzüge böte. Genannt wurde beispielsweise, dass die Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten bzw. die Übermittlung der Akten beschleunigt, die Verfügbarkeit gesteigert und die Aktenbearbeitung ortsunabhängig ausgestaltet würde. Insbesondere in umfangreichen Strafverfahren könnte der Akteninhalt besser ausgewertet werden.898 Ferner wird das Bedürfnis zur Einführung der elektronischen Strafakte mit Daten aus Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen in Zusammenhang gebracht: „In der Folgezeit hat sich jedoch gezeigt, dass in der Praxis ein tatsächlicher Bedarf an einer elektronischen Aktenführung auch im Strafverfahren besteht. Insbesondere in umfangreichen Strafverfahren hat sich die Menge der zu erhebenden Daten stetig erhöht. Eine Darstellung und Auswertung in Papierform gestaltet sich zunehmend schwieriger. Ermittlungen erfolgen heutzutage (beispielsweise in Verfahren im Zusammenhang mit Telekom-

894 BT-Plenarprotokoll 18/234: Stenografischer Bericht der 234. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 18.05.2017, 23788C. 895 BT-Drs. 18/9416, 2 (unter Punkt „C. Alternativen“), 35. 896 Vgl. BT-Drs. 18/9416, 31–81. 897 So i. E. auch Kassebohm StraFo 2017, 393, 394. 898 Zum Vorstehenden: BT-Drs. 18/9416, 31.

IV. Historie

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munikationsverbindungsdaten) zunehmend elektronisch. Die Möglichkeiten der digitalen Auswertung bleiben jedoch – auf Seiten der Staatsanwaltschaft und Gerichte – vielfach ungenutzt.“899

Es wird mithin davon ausgegangen, dass es auch dem Gericht rechtlich möglich ist, erhobene Verkehrsdaten (vgl. §§ 3 Nr. 30 TKG, 100g StPO) auszuwerten, diese Möglichkeit in der Praxis tatsächlich jedoch kaum genutzt wird. Insofern wird der Gesetzgeber auch erhobene Inhaltsdaten, also etwa die (Quellen-)Überwachung eines Telefongesprächs nach § 100a Abs. 1 StPO, als dem Gericht zugänglich zu machende Informationen angesehen haben. Diese sind für die gerichtliche Aufklärung der jeweiligen Taten i. d. R. schließlich viel bedeutsamer. Der Bundesrat sprach sich demgegenüber gegen ein eigenes Einsichts- und Besichtigungsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten gem. § 147 Abs. 4 StPO-E aus. Die Strafakten enthielten höchst sensible personenbezogene Daten, die zum Missbrauch geradezu einladen würden; hieran ändere auch die Normierung eines Verbreitungsverbotes in § 32f Abs. 4 StPO-E nichts.900 Andererseits sei es mit unverhältnismäßigem Aufwand verbunden, der Missbrauchsgefahr durch Herausnahme bzw. Unkenntlichmachung solch höchst sensibler Daten entgegenzuwirken. Die im Regierungsentwurf enthaltene Begründung, nach der dem verteidigerlosen Beschuldigten ein eigenes Einsichts- und Besichtigungsrecht wegen der künftig entfallenden Manipulationsgefahr zu gewähren sei, überzeuge aufgrund der durch § 32e Abs. 5 StPO-E immer noch bestehenden Manipulationsgefahr nicht.901 Weiter wird in Aussicht gestellt, dass ein solch weitreichendes Beschuldigtenrecht in erheblichem Maße in Anspruch genommen würde und dies mit einer Vielzahl von querulatorischen Eingaben und Dienstaufsichtsbeschwerden enden würde, was zu vermeiden sei.902 Die Filterfunktion durch das Einräumen solcher Rechte ausschließlich an Verteidiger und Rechtsanwälte als Organe der Rechtspflege sei zwingend aufrechtzuerhalten.903 Auch der Schutz von Persönlichkeitsrechten, der Wahrheitserforschung und die Arbeitsfähigkeit der Staatsanwaltschaft sowie Gerichte geböten bei Privatpersonen eine Beschränkung der Erteilung von Auskünften bzw. Abschriften.904 Im Ergebnis kann der Kritik des Bundesrates entnommen werden, dass weder von einer Manipulations- noch von einer Missbrauchsgefahr durch einen Verteidiger ausgegangen wird. Dies bestätigt die insbesondere in den Gesetzesmaterialien zur Einführung von § 147 RStPO und zur Reform in den Jahren 1965, 1975 sowie 2000 zum Ausdruck kommende Einstellung des Gesetzgebers zur Verteidigung, auch und gerade im Kontext von Akteninformationsrechten. Weiter wird davon ausgegangen, dass der Gesetzgeber die Pflicht, die Wahrheit zu 899

BT-Drs. 18/9416, 32. BT-Drs. 18/9416, 92. 901 Zum Vorstehenden: BT-Drs. 18/9416, 92. 902 BT-Drs. 18/9416, 92. 903 BT-Drs. 18/9416, 92. 904 BT-Drs. 18/9416, 93. 900

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

erforschen, sowie die Persönlichkeitsrechte Dritter bei der Akteneinsicht durch Verteidiger grundsätzlich, das heißt vorbehaltlich (verfassungsrechtlich) zu rechtfertigender Einschränkungen, als gewährleistet ansieht. Die Bundesregierung hielt dem zum einen entgegen, dass die Neuregelung in § 147 StPO-E darauf abziele, dem verteidigerlosen Beschuldigen nach wie vor lediglich solche Auskünfte und Abschriften zu erteilen, die zur Verteidigung notwendig seien. Schon nach geltendem Recht sei aufgrund menschenrechtskonformer Auslegung (Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK) hierzu regelmäßig eine vollständige Aktenkopie zu überlassen oder zumindest Einsicht in die Akte unter Aufsicht zu gewähren.905 Ein eigenes Einsichts- und Besichtigungsrecht sei europarechtlich (Art. 7 RL [EU] 2012/13), konventionsrechtlich (Art. 6 EMRK) und verfassungsrechtlich (Art. 103 GG) insbesondere deshalb geboten, weil der maßgebliche Aspekt der Manipulationsgefahr der Originalakte mit der Einführung der elektronischen Akte entfalle.906 Zum anderen komme dem ins Feld geführten Aspekt der Mehrbelastung von Staatsanwaltschaft oder Gericht kein Gewicht zu.907 Auch die Frage, „[o]b der Untersuchungszweck oder die Rechte Dritter (hier insbesondere Opferrechte) durch die Akteneinsicht gefährdet wären, muss ohnehin bei jeder Akteneinsicht – und gerade auch bei Dokumenten, die für die Verteidigung von (erheblicher) Bedeutung sind – geprüft werden.“908

Die vorgenannten Ausführungen würden für Privatkläger und Verletzte ebenso gelten.909 Der Stellungnahme zu der Kritik des Bundesrates kann entnommen werden, dass der Aspekt der Manipulationsgefahr mit der Einführung der e-Akte grundlegend an Bedeutung verliert und lediglich der Missbrauchsgefahr weiterhin Relevanz zukommt; Letzteres sollte nach dem soeben angeführten Auszug der Gesetzesbegründung dabei zuvörderst bei der Gewährung von Einsicht an den verteidigerlosen Beschuldigten in Betracht kommen. Auch wird wiederholt davon ausgegangen, dass die Akte grundsätzlich eine Ansammlung von Informationsträgern im Original ist.910 Der Rechtsausschuss empfahl, in § 147 Abs. 4 S. 2 StPO-E das Wort „übermittelt“ durch das Wort „bereitgestellt“ zu ersetzen.911 Hierdurch sollte klargestellt werden, dass das Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten in jedem Fall nur die Bereitstellung der Akten und somit keine unentgeltliche Übersendung von Akten oder Aktenkopien umfasst.912 Weitere Änderungen des § 147 StPO-E seien nicht erforderlich, da insbesondere die normierten Beschränkungen in Fällen der 905

Zum Vorstehenden: BT-Drs. 18/9416, 105. BT-Drs. 18/9416, 105. 907 BT-Drs. 18/9416, 105. 908 BT-Drs. 18/9416, 105. 909 BT-Drs. 18/9416, 105. 910 Siehe BT-Drs. 18/9416, 57, 60, 66, 105. 911 BT-Drs. 18/12203, 16. 912 BT-Drs. 18/12203, 74. 906

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„Gefährdung des Untersuchungszwecks“ und zum Erhalt „schutzwürdiger Interessen Dritter“ in ausreichendem Maße sicherstellten, dass der Beschuldigte ein beschränktes Akteneinsichtsrecht erhält; nur der Verteidiger sollte ein uneingeschränktes Akteneinsichtsrecht innehaben.913 Diese Fassung ist in zweiter und dritter Beratung angenommen worden.914 Die Neufassung von § 147 StPO trat am 01.01.2018 in Kraft.915 Der Reform des § 147 StPO n. F. und den diesbezüglichen Gesetzesmaterialien ist Folgendes zu entnehmen: Mit der Einführung eines eigenen Einsichts- und Besichtigungsrechts des Beschuldigten in § 147 Abs. 4 StPO kam der Gesetzgeber einer im sog. GoldschmidtEntwurf vor rund 100 Jahren geäußerten Forderung916 nach. Anlass hierzu gab die entfallende Manipulationsgefahr durch die Einführung der e-Akte. Eine Papierakte kann dem Beschuldigten in Kopie ausgehändigt werden, um wiederum dem Integritätsschutz der Akten Rechnung zu tragen. Die bislang geltenden Einschränkungsmöglichkeiten zum Schutz des Verfahrens und anderer Verfahrensbeteiligter wurden beibehalten. Der durch die Reform 2010 eingeführte Vorbehalt, dass das Erlangen von Informationen des verteidigerlosen Beschuldigten für eine angemessene Verteidigung erforderlich ist, wurde ebenfalls gestrichen. Ein Übersendungsrecht wurde dem Beschuldigten jedenfalls in § 147 StPO nicht explizit eingeräumt. Weiter hat der Gesetzgeber die Interessenabwägung zwischen den Persönlichkeitsrechten Dritter auf der einen Seite und dem Einsichts- und Besichtigungsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten auf der anderen Seite bewusst zugunsten des Letzteren vorgenommen. Dass unter den Begriff „Akte“ jede im konkreten Strafverfahren verkörperte Information (mit Ausnahme der Handakten und der innerdienstlichen Vorgänge der Staatsanwaltschaft) zu subsumieren ist, unabhängig davon, in welchem Stadium des Verfahrens die Information aufgekommen ist bzw. auf welchem Medium diese Information verkörpert ist, bestätigt sich letztlich auch in der Gesetzesbegründung zur jüngsten Reform aus dem Jahr 2018. In der Begründung zur Einführung eines Akteneinsichtsrechts des verteidigerlosen Beschuldigten geht der Gesetzgeber ferner eindeutig davon aus, dass es sich bei der Akte um Informationsträger im Original handelt. Auch nimmt er an, dass Telekommunikationsverbindungsdaten nicht nur durch die Staatsanwaltschaft, sondern auch durch die Gerichte ausgewertet werden könnten und dass solches Informationsmaterial offenbar ebenfalls Aktenbestandteil ist. Weiter bestätigt sich die Auffassung des Gesetzgebers, dass Aspekte der Manipulationsgefahr und Missbrauchsgefahr nicht bei Verteidigern relevant sein 913

BT-Drs. 18/12203, 74. BT-Plenarprotokoll 18/234: Stenografischer Bericht der 234. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 18.05.2017, 23747A-B. 915 BGBl. 2017 I, 2208, 2228 (Art. 33 Abs. 1). 916 Siehe S. 317; so schon von Jörke, Akteneinsicht, S. 100 ff., de lege ferenda gefordert. 914

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sollen, sondern lediglich beim Einsichts- und Besichtigungsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten beachtet werden können. Der Gesetzgeber erachtet mögliche Beeinträchtigungen der Persönlichkeitsrechte Dritter durch die Akteneinsicht des Verteidigers ebenfalls (bzw. erst recht) als angemessen. Im Gegensatz zum Akteneinsichtsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten soll dasjenige des Verteidigers nach dem Willen des Gesetzgebers möglichst ohne Einschränkungen gewährleistet sein. b) §§ 32 ff. StPO Mit der Reform 2018 sollte darüber hinaus § 32 StPO mit einem anderen Regelungsgehalt wieder eingeführt917 werden. Weitere Vorschriften zur Akte sollten nunmehr in einem allgemeinen Teil im ersten Buch der StPO normiert werden, § 32a bis § 32f StPO.918 Alle Normen sollten in den vierten Abschnitt eingefügt werden, der umbenannt werden sollte in: „Aktenführung und Kommunikation im Verfahren“.919 Zum Teil wurde i. R. d. systematischen Auslegung bereits auf die §§ 32 ff. StPO eingegangen. Nachfolgend wird der vom Gesetzgeber hierbei verfolgte Zweck untersucht. aa) § 32 StPO Normiert werden sollte zunächst die Möglichkeit der elektronischen Aktenführung und Verordnungsermächtigungen der Bundes- und Landesregierung(en), insbesondere zur Regelung des Zeitpunktes der Einführung, des Umfangs, der organisatorischen und (dem Stand der Technik entsprechenden)920 technischen Rahmenbedingungen und der für die Übermittlung zwischen Strafverfolgungsbehörden und Gerichten geltenden Standards. Der Rechtsausschuss regte an, § 32 Abs. 1 S. 3 StPO-E einen zweiten Halbsatz anzufügen, wodurch die Verordnungsermächtigung erweitert werden sollte.921 Der Begründung könnte prima facie entnommen werden, dass das sich aus den früheren Gesetzesmaterialien und dem Wortlaut des § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. ergebende Begriffsverständnis, dass unter den Begriff der Akten auch die Beweisstücke fallen, dem Entwurf zumindest im Grundsatz nicht mehr zugrunde gelegt wurde: Akten seien demnach ein

917

Diese Norm war seit BGBl. 1950 I, 455, 480 (Art. 3, Nr. I 13), weggefallen. BT-Drs. 18/9416, 9. 919 BT-Drs. 18/9416, 9. 920 So eingefügt durch die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses: BT-Drs. 18/12203, 7. 921 BT-Drs. 18/12203, 7; in § 32 Abs. 2 und 3 StPO-E sind weitere Verordnungsermächtigungen vorgesehen, vgl. die Gegenüberstellung zur Ausschussfassung bei BT-Drs. 18/12203, 7 f. 918

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„definiertes System elektronisch gespeicherter Daten. […] Wie bei der herkömmlichen Aktenführung definiert die Strafprozessordnung den Begriff der Akte dabei nicht, sondern setzt ihn voraus. Wie schon bisher wird auch künftig zwischen Bestandteilen der Akte und Beweismitteln zu unterscheiden sein. Beweismittel sind als solche nicht Aktenbestandteil, es sei denn, sie wurden, etwa aufgrund einer entsprechenden Anordnung oder Verfügung, zu den Akten genommen.“922

Gegen das Verständnis des Gesetzgebers, Beweisstücke nicht als Akten zu qualifizieren, spricht jedoch, dass in derselben Gesetzesbegründung, i. R. d. einzuführenden Akteneinsichtsrechts des verteidigerlosen Beschuldigten, gerade davon ausgegangen wird, dass auch Gerichte Telekommunikationsverbindungsdaten auswerten könnten.923 Das deutet darauf hin, dass solche Daten (und wohl auch TKÜ-Aufzeichnungen) dem Gericht vorzulegende Aktenbestandteile darstellen. Weiter wurde in der Begründung zu § 147 Abs. 4 StPO davon ausgegangen, dass der Aspekt der Manipulations- oder Missbrauchsgefahr bei der Akteneinsicht durch einen Verteidiger eben nicht beachtlich sein sollte.924 Der Gefahr von Integritätsschäden sollte nach Auffassung des Gesetzgebers soweit möglich vielmehr durch die Bereitstellung einer Aktenkopie entgegengewirkt werden; dies sollte (sogar) beim Einsichtsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten gelten.925 Hierzu würde das Ausklammern jeglicher sachlicher Beweismittel aus dem Aktenbegriff in Widerspruch stehen. Mit der vorbenannten Formulierung „Beweismittel sind als solche“ kann also nur gemeint sein, dass die Beweismittel im Original lediglich nicht herauszugebende Aktenbestandteile sein sollten und mit Blick auf den durch den Transport drohenden Beweismittelverlust lediglich Kopien hiervon herauszugeben sind. Dies entspricht auch dem ursprünglichen gesetzgeberischen Willen. Zudem soll der vormals zugrunde gelegte Aktenbegriff nach der vorstehenden Begründungspassage auch nicht verändert werden, was an weiterer Stelle ebenfalls zum Ausdruck kommt, wenn herausgestellt wird, dass grundliegendes Anliegen des Gesetzesvorhabens die Schaffung der Grundlage für die Einführung der elektronischen Strafakte darstellt.926 Rückschlüsse lassen sich aus der soeben zitierten Passage, wie bereits i. R. d. vorweg untersuchten Begriffs „Beweisstücke“ herausgearbeitet wurde,927 demnach nicht eindeutig ziehen.

922

BT-Drs. 18/9416, 42. BT-Drs. 18/9416, 32. 924 Siehe BT-Drs. 18/9416, 92. 925 Vgl. BT-Drs. 18/9416, 60. 926 BT-Drs. 18/9416, 1. 927 Siehe S. 213 f. 923

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

bb) § 32a StPO Gem. § 32a Abs. 1 StPO können elektronische Dokumente bei Strafverfolgungsbehörden und Gerichten eingereicht werden. § 32a Abs. 2 StPO bestimmt hierbei, dass das elektronische Dokument für die Bearbeitung durch diese Stellen geeignet sein muss, wobei die für die Übermittlung und Bearbeitung geltenden Rahmenbedingungen durch Rechtsverordnung bestimmt werden.928 Absatz 2 soll klarstellen, dass Strafverfolgungsbehörden nicht jedes Dateiformat akzeptieren müssen.929 In 32a Abs. 3 StPO wird festgelegt, dass ein elektronisches Dokument bei eigentlichem Schriftformerfordernis mit einer qualifizierten elektronischen Signatur zu versehen ist. Gleiches gilt für Dokumente, die zu unterschreiben oder zu unterzeichnen sind. Alternativ kann die verantwortende Person ein solches Dokument signieren und auf einem sicheren (i. S. v. „funktionssicheren“)930 Übermittlungsweg einreichen.931 Der sichere Übermittlungsweg wird in § 32a Abs. 4 StPO legaldefiniert. Hierzu zählt erstens der Postfach- und Versanddienst eines De-Mail-Kontos, sofern der Versand sicher i. S. v. § 4 Abs. 1 S. 2 De-Mail-Gesetz ist und die sichere Anmeldung gem. § 5 Abs. 5 De-Mail-Gesetz bestätigt wurde. Zweitens zählt hierzu die Verbindung zwischen dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach nach § 31a BRAO (oder eines entsprechenden Postfaches auf gesetzlicher Grundlage) und der elektronischen Poststelle einer Behörde bzw. eines Gerichts. Drittens wird der Übermittlungsweg zwischen einem nach Durchführung eines Identifizierungsverfahrens eingerichteten Postfachs einer Behörde oder einer juristischen Person des öffentlichen Rechts und der elektronischen Poststelle des Gerichts als sicherer Übermittlungsweg definiert. Viertens zählen hierzu sonstige bundeseinheitliche Übermittlungswege, die durch gesonderte Rechtsverordnung festgelegt werden, sofern die Authentizität und Integrität der Daten und die Barrierefreiheit gewährleistet ist.932 § 32a Abs. 5 StPO regelt den allgemeinen Eingang von elektronischen Dokumenten bei den Behörden oder beim Gericht. Maßgebend ist hiernach der Zeitpunkt, zu dem das Dokument auf der jeweiligen Einrichtung des Empfängers (bspw. auf einem hierfür vorgesehenen Posteingangsserver)933 gespeichert wird. Dem Absender ist der Eingangszeitpunkt mitzuteilen.934 Gem. § 32a Abs. 6 S. 1 StPO ist dem Absender unter Hinweis auf die Unwirksamkeit des Eingangs und die geltenden technischen Rahmenbedingungen unverzüglich Mitteilung zu ma-

928

Zum Vorstehenden: BT-Drs. 18/9416, 11. BT-Drs. 18/9416, 45. 930 BT-Drs. 18/9416, 45. 931 Zum Vorstehenden: BT-Drs. 18/9416, 11. 932 Zum Vorstehenden: BT-Drs. 18/9416, 11 f. 933 BT-Drs. 18/9416, 47. 934 Zum Vorstehenden: BT-Drs. 18/9416, 12. 929

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chen, falls das übersendete elektronische Dokument für die Bearbeitung nicht geeignet ist. Gem. § 32a Abs. 6 S. 2 StPO gilt ein derart zurückgewiesenes Dokument als zum Zeitpunkt seiner vorigen Einreichung als eingegangen, wenn der Absender das Dokument in einer für die Bearbeitung geeigneten Form unverzüglich nachreicht und glaubhaft macht, dass sich das vorige sowie das nachgereichte Dokument inhaltlich entsprechen.935 Zu klären bleibt, ob elektronische Dokumente nach dem Willen des Gesetzgebers ebenfalls Aktenbestandteile sein sollen bzw. ob dies von der Einhaltung der in § 32a StPO normierten Formerfordernisse abhängen sollte. Auf der Grundlage der ursprünglichen Rechtsauffassung des Gesetzgebers wäre Ersteres zu bejahen und Letzteres zu verneinen, da es sich um Informationsträger handelt, die mit dem jeweiligen Strafverfahren in inhaltlichem Zusammenhang stehen. Der Gesetzgeber ging seit Einführung von § 147 RStPO schließlich von einem umfassenden Aktenbegriff aus. Hieran sollte sich für elektronische Dokumente nichts ändern. Mit dem Begriff des elektronischen Dokuments ist „jegliche Form von elektronischer Information (z. B. Text-, Tabellen-, Bilddatei)“936 gemeint, „die ein Schriftstück beziehungsweise eine körperliche Urkunde ersetzen soll und grundsätzlich zur Wiedergabe in verkörperter Form (z. B. durch Ausdruck) geeignet ist. Reine Audiound Videodateien sowie sonstige Informationen, die nicht zur Wiedergabe in verkörperter Form geeignet sind, gelten nicht als elektronische Dokumente im Sinne der Vorschrift.“937 Der Grund für die in § 32a Abs. 2 S. 1 StPO normierte Regelung, nach der das elektronische Dokument zur Bearbeitung geeignet sein muss, war, dass Gerichte und Strafverfolgungsbehörden nicht über alle vorstellbaren Programme verfügen müssen, um jedes erdenkliche Dateiformat wahrnehmbar machen zu können.938 Wie bereits herausgearbeitet wurde, kommt in der Gesetzesbegründung zu den §§ 32a f. StPO zum Ausdruck, dass die elektronischen Dokumente selbst die Aktenbestandteile darstellen – und nicht der jeweilige Informationsträger, auf dem das Dokument bei Gericht oder den Strafverfolgungsbehörden abgespeichert worden ist.939 Die Regelungen in § 32a StPO dienen insgesamt auch nicht dazu, elektronische Dokumente nur dann als Aktenbestandteile anzusehen, wenn sie den Vorgaben aus § 32a StPO entsprechen. § 32a StPO stellt für elektronische Dokumente lediglich spezielle Formerfordernisse auf. Dies kommt in der Begründung zu § 32a StPO eindeutig zum Ausdruck940 und wird auch daran deutlich, dass die Formerfordernisse für elektronische Dokumente mit etwaigen

935

Zum Vorstehenden: BT-Drs. 18/9416, 12. BT-Drs. 18/9416, 45. 937 BT-Drs. 18/9416, 45. 938 BT-Drs. 18/9416, 45. 939 Siehe BT-Drs. 18/9416, 45, 47, 49. 940 Siehe BT-Drs. 18/9416, 45: „Gegenstand der Regelungen sind dabei ausschließlich prozessuale Formerfordernisse, nicht die Gewährleistung einer vertraulichen Kommunikation.“ 936

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

Formerfordernissen für papierne Dokumente verglichen werden,941 wobei es für papierne Dokumente nach dem bisherigen gesetzgeberischen Verständnis ebenfalls nicht darauf ankam, ob das mit dem Papierdokument bezweckte Anliegen gewissen Formerfordernissen unterliegt und diese eingehalten wurden. Aus der Begründung zu § 32a StPO ergibt sich nicht, dass sich die Unbeachtlichkeit der Einhaltung von Formvorgaben für die Qualifizierung als Aktenbestandteil bei elektronischen Dokumenten ändern sollte. Im Gegenteil kann der Begründung zu § 32a Abs. 5 StPO entnommen werden, dass elektronische Dokumente zur Akte gelangen müssen; hierbei wird darauf hingewiesen, dass aus Gründen der Aktenvollständigkeit zum einen der Übermittlungsweg zwecks nachträglicher Überprüfung der Einhaltung der Formerfordernisse aktenkundig zu machen ist und zum anderen „auch die Nachricht zur Akte zu nehmen [ist], als deren Anlage das elektronische Dokument übermittelt wurde.“942 Dem entspricht auch die Begründung zu § 32b Abs. 1 StPO, in dem ebenfalls das Erstellen eines elektronischen Dokumentes – hierbei umgekehrt von Seiten der Gerichte und Strafverfolgungsbehörden – und die hierzu erforderlichen Formerfordernisse vorgesehen sind. In der Begründung zu § 32b Abs. 1 StPO wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Rechtsfolgen der Nichteinhaltung der Formerfordernisse den entsprechenden Rechtsfolgen bei der Formunwirksamkeit papierner Dokumente entsprechen.943 Das Nichteinhalten der normierten Formerfordernisse hat mithin lediglich die Unwirksamkeit des elektronischen Dokumentes zur Folge und führt nicht dazu, dass das Dokument nicht mehr dem Aktenbegriff unterfällt, wie es im Übrigen auch in § 32a Abs. 6 StPO deutlich wird. An § 32b Abs. 3 StPO wird ebenso erkennbar, dass bei elektronischer Aktenführung auch eingereichte Informationsträger, die den Anforderungen an ein elektronisches Dokument nicht entsprechen, als Aktenbestandteile zu qualifizieren sind. Denn nach § 32b Abs. 3 S. 3 Hs. 1 StPO ändert das Nichteinhalten der Formerfordernisse in den dort geregelten Ausnahmefällen noch nicht einmal etwas an der Wirksamkeit des übermittelten Dokumentes. Zudem verdeutlicht § 32e StPO, insbesondere § 32e Abs. 1, 3 S. 1 StPO, dass ein nicht der Aktenform entsprechender Informationsträger – gleich, ob es sich um einen papiernen oder elektronischen Informationsträger handelt – in die entsprechende Form zu übertragen ist. Wenn ein elektronisches Dokument nur dann als Aktenbestandteil oder als in die entsprechende Aktenform zu übertragener Informationsträger angesehen werden sollte, sofern das Dokument den Formvorgaben aus §§ 32a f. StPO gerecht wird, hätte es einer

941 Siehe BT-Drs. 18/9416, 46: „Zur Bezeichnung weitergehender Formerfordernisse verwendet die Strafprozessordnung derzeit für Papierdokumente die Begriffe ,schriftlich‘, ,unterschreiben‘ und ,unterzeichnen‘. Dabei handelt es sich nicht um eine redundante Verwendung, sondern um unterschiedliche förmliche Anforderungen, die bei elektronischen Dokumenten nicht nachvollzogen werden sollen.“ 942 BT-Drs. 18/9416, 47. 943 BT-Drs. 18/9416, 49.

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entsprechenden Regelung in § 32e StPO bedurft, woran es jedoch fehlt. Demgemäß wird auch in § 32f Abs. 4 S. 2 StPO davon ausgegangen, dass Einsicht auch in die übermittelten elektronischen Dokumente zu gewähren ist, ohne dies von der Einhaltung der Formerfordernisse der §§ 32a f. StPO abhängig zu machen. In der Begründung zu § 32f Abs. 4 S. 2 StPO deutet sich ebenfalls an, dass elektronische Dokumente (jedenfalls grundsätzlich) als Aktenbestandteile gelten.944 Insofern sollte ein elektronisches Dokument nach dem Willen des Gesetzgebers in jedem Fall (zumindest ursprünglich) Aktenbestandteil sein. Lediglich die Frage, inwieweit das elektronische Dokument Rechtswirkungen entfaltet, soll von der Einhaltung der vorgegebenen Formerfordernisse abhängen. Der Eingangszeitpunkt des elektronischen Dokumentes bemisst sich gem. § 32a Abs. 5 S. 1 StPO dabei nach der Zeit der Speicherung des elektronischen Dokumentes. cc) § 32b StPO § 32b Abs. 1 S. 1 StPO bestimmt, dass bei der (originären)945 Erstellung eines strafverfolgungsbehördlichen oder gerichtlichen Dokuments als elektronisches Dokument die Namen aller verantwortenden Personen hinzugefügt werden müssen. Eine einfache elektronische Signatur, die den Nachnamen oder ein hierauf hinweisendes Namenskürzel abbildet, reiche hierbei grundsätzlich aus.946 § 32b Abs. 1 S. 2 StPO soll jede verantwortende Person verpflichten, das elektronische Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur zu versehen, wenn das Dokument schriftlich zu verfassen, zu unterschreiben oder zu unterzeichnen ist.947 Im Gegensatz zu § 32a Abs. 3 StPO soll es demnach nicht ausreichend sein, wenn das Dokument signiert und auf einem sicheren Übertragungsweg eingereicht wird. In § 32b Abs. 2 StPO wird bestimmt, wann ein elektronisches Dokument zu den Akten gebracht ist. Dies ist der Fall, sobald die verantwortende Person das Dokument in der elektronischen Akte speichert bzw. eine dritte Person hierzu veranlasst.948 Erforderlich soll darüber hinaus ein entsprechender Widmungsakt sein, durch den die verantwortende Person das jeweilige Dokument bewusst und gewollt an dem hierfür vorgesehenen Speicherort im elektronischen Aktensystem einfügt.949

944 Siehe die Begründung zur zunächst in § 32f Abs. 3 S. 2 StPO-E vorgesehen Regelung auf BT-Drs. 18/9416, 58: „Satz 2 verlangt, dass der Name derjenigen Person, der Akteneinsicht gewährt wird, als ,Wasserzeichen in abgerufenen Akten oder auf übermittelten elektronischen Dokumenten dauerhaft erkennbar gemacht werden soll. So wird eine Hemmschwelle davor aufgebaut, die Akten unberechtigt weiterzugeben oder zu veröffentlichen.“ 945 BT-Drs. 18/9416, 48. 946 BT-Drs. 18/9416, 48. 947 BT-Drs. 18/9416, 12. 948 BT-Drs. 18/9416, 12. 949 BT-Drs. 18/9416, 49.

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Ob der Gesetzgeber hiermit zum Ausdruck bringen wollte, dass er seine Sichtweise von einem ursprünglichen weiten und von einem etwaigen Widmungsakt der Staatsanwaltschaft unabhängigen Aktenbegriff hin zu einem gewissermaßen formellen Aktenbegriff geändert hat, erscheint fraglich. In der Begründung wird einerseits darauf verwiesen, dass hierdurch der maßgebende Zeitpunkt für etwaige Fristen festgelegt werden sollte.950 Der Widmungsakt wird hierbei ausschließlich mit dem Fristbeginn bzw. der Fristwahrung in Zusammenhang gebracht. Dies spricht dafür, dass durch § 32b Abs. 2 StPO lediglich eine zeitliche Vorgabe normiert werden sollte, ab welchem Zeitpunkt die Dokumente als „zu den Akten gebracht“ angesehen werden sollen, unabhängig davon, ob diese Informationsträger materiell schon als Aktenbestandteile anzusehen sind. Dies legt auch der Wortlaut von § 32b Abs. 2 StPO nahe („sobald“). Andererseits könnte hiermit auch klargestellt worden sein, dass alle Informationsträger seit dem Ermittlungsverfahren (mit Ausnahme der Handakten der Staatsanwaltschaft und der innerdienstlichen Vorgänge) jedenfalls bei der elektronischen Akte erst dann zum Aktenbestandteil werden, wenn diese Dokumente bewusst und gewollt in der entsprechenden Aktendatei gespeichert werden. Der Wortlaut des § 32b Abs. 2 StPO ist ebenso wie die diesbezügliche Begründung nicht eindeutig. Gegen die These, dass der Gesetzgeber nunmehr einen in gewisser Weise formellen Aktenbegriff zugrunde legt, spricht jedoch, dass der Gesetzgeber eine solche wesentliche Abkehr von der ursprünglichen Rechtsauffassung, an der er sich nach vorstehenden Ausführungen ausdrücklich orientiert hat, (näher) begründet haben dürfte. Im Übrigen wäre eine solche Lesart schwer mit der Grundhaltung des Gesetzgebers i. R. d. § 32a StPO in Einklang zu bringen, nach der das Nichteinhalten der Formerfordernisse an der Einordnung des Dokumentes als Aktenbestandteil nichts ändern sollte. Ob der Gesetzgeber mit § 32b Abs. 2 StPO einen Widmungsakt zum Ausdruck bringen wollte, wird deshalb anhand der §§ 32c ff. StPO und den einschlägigen Materialien weiter untersucht. Gem. § 32b Abs. 3 StPO ist bei der Pflicht, ob Dokumente elektronisch zwischen Strafverfolgungsbehörden und Gerichten zu übermitteln sind, zu differenzieren: Werden die Akten elektronisch geführt, „soll“ die Übermittlung elektronischer Dokumente vorgenommen werden. Die Anklageschrift, der Antrag auf Erlass eines Strafbefehls außerhalb der Hauptverhandlung, die Berufung und

950 Vgl. BT-Drs. 18/9416, 49: „Dem Zeitpunkt, zu dem ein Dokument ,zu den Akten‘ gebracht ist, kommt erhebliche Bedeutung zu, etwa wenn sich in einem Revisionsverfahren die Frage stellt, ob die Urteilsabsetzungsfrist des § 275 Absatz 1 Satz 2 StPO eingehalten worden ist. Absatz 2 bestimmt hierfür den Zeitpunkt der Speicherung in der betreffenden elektronischen Akte. […] Der Eingang eines schriftlich abgefassten Urteils auf der Geschäftsstelle vermag die Frist des § 275 Absatz 1 Satz 2 StPO demgegenüber nicht mehr zu wahren. In dem voraussichtlich selten auftretenden Fall, dass die verantwortende Person durch vorübergehende technische Gründe (z. B. Ausfall des elektronischen Systems) an einer Wahrung der Frist gehindert wird, ist eine Überschreitung der Absetzungsfrist um den entsprechenden Zeitraum regelmäßig nach § 275 Absatz 1 Satz 4 StPO gerechtfertigt.“

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ihre Begründung, die Revision, ihre Begründung sowie die Gegenerklärung und als elektronisches Dokument erstellte gerichtliche Entscheidungen „sind“ als elektronisches Dokument zu übermitteln. Nur wenn eine solche Übertragung technisch nicht möglich ist, ist die Übertragung in Papierform ausnahmsweise zulässig, wobei auf Anforderung ein elektronisches Dokument nachzureichen ist.951 § 32b Abs. 4 S. 1 StPO sieht vor, dass (auch beglaubigte) Abschriften in Papierform oder als elektronisches Dokument erteilt werden können. Eine beglaubigte Abschrift ist, wenn sie elektronisch erteilt worden ist, gem. § 32b Abs. 4 S. 2 StPO mit einer (elektronischen)952 qualifizierten Signatur der beglaubigenden Person zu versehen; bei der Erstellung der beglaubigten Abschrift in Papierform durch Übertragung eines elektronischen Dokuments, welches mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen ist oder auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht wurde, muss das Ergebnis der Authentizitäts- und Integritätsprüfung im Vergleich mit dem Ausgangsdokument vermerkt sein, § 32b Abs. 4 S. 3 StPO.953 Der Rechtsausschuss regte an, den Begriff „Ausgangsdokuments“ im dritten Satz durch „elektronischen Dokuments“ zu ersetzen.954 In Absatz 5 des Entwurfes ist eine Verordnungsermächtigung hinsichtlich der geltenden Standards für die Erstellung elektronischer Dokumente und deren Übermittlung zwischen Strafverfolgungsbehörden und Gerichten normiert.955 dd) § 32c StPO In § 32c StPO wurde insbesondere die Möglichkeit für die Bundesregierung vorgesehen, durch Rechtsverordnung elektronische Formulare einzuführen. Es soll ihr offenstehen, zu regeln, dass diese Formulare ganz oder teilweise in strukturierter maschinenlesbarer Form zu übermitteln sind. Es ist dabei jedoch sicherzustellen, dass eine zu bestimmende (kostenlose)956 Kommunikationsplattform im Internet bereitgestellt wird. Auch die Möglichkeit einer Identifikation mittels elektronischen Identitätsnachweises kann hiernach durch Rechtsverordnung bestimmt werden.957 Rückschlüsse auf den zugrunde gelegten Aktenbegriff lassen sich aus dieser Norm und der entsprechenden Gesetzesbegründung nicht ziehen.

951

Zum Vorstehenden: BT-Drs. 18/9416, 12. So die Einfügung durch die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses: BTDrs. 18/12203, 10. 953 Zum Vorstehenden: BT-Drs. 18/9416, 12. 954 BT-Drs. 18/12203, 10. 955 BT-Drs. 18/9416, 12. 956 BT-Drs. 18/9416, 50. 957 Zum Vorstehenden: BT-Drs. 18/9416, 13. 952

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

ee) § 32d StPO Insbesondere in § 32d StPO kommt zum Ausdruck, dass mit dem Gesetzesentwurf ein zügiger Medienwechsel von der in Papierform geführten zur elektronischen Akte beabsichtigt war. Mit § 32d S. 1 StPO war offenbar eine Regelung intendiert, die dazu führt, dass es in absehbarer Zeit kaum noch Akten in Papierform geben wird. Gem. Satz 2 wird den Verteidigern und Rechtsanwälten sogar die Pflicht auferlegt, die Berufung und ihre Begründung, die Revision, ihre Begründung sowie ihre Gegenerklärung, die Privatklage und die Anschlusserklärung bei der Nebenklage als elektronisches Dokument zu übermitteln. Das Nichtbeachten soll zur Unwirksamkeit der Erklärung führen.958 Nur bei vorübergehender technischer Unmöglichkeit ist ausnahmsweise das Übermitteln in Papierform zulässig und zwar unabhängig davon, ob die Ursache in der Sphäre des Gerichts oder in derjenigen des Einreichenden liegt.959 Beim Einreichen in Papierform bzw. unverzüglich hiernach ist die vorübergehende Unmöglichkeit des Einreichens in elektronischer Form (ebenso die technische Unmöglichkeit)960 glaubhaft zu machen, wobei das elektronische Dokument auf Anforderung nachzureichen ist.961 Die Vorschrift deckt sich demnach mit der entsprechenden Vorschrift bzgl. Strafverfolgungsbehörden und Gerichte, § 32b Abs. 3 S. 2, 3 StPO. Schriftsätze (einschließlich deren Anlagen) und schriftlich einzureichende Anträge sowie Erklärungen sollen den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten gem. § 32d S. 1 StPO als elektronisches Dokument übermittelt werden. Sofern solche Verfahrenserklärungen nicht elektronisch eingereicht werden, sind diese vom Gericht gem. § 32e StPO in die elektronische Form umzuwandeln.962 Aus den Materialien zu § 32d StPO ergibt sich für die Auslegung des Aktenbegriffs ebenfalls nichts Sachdienliches. ff) § 32e StPO In § 32e StPO werden zunächst Begrifflichkeiten eingeführt, die innerhalb der Vorschriften zu den Akteninformationsrechten neu sind. Die Vorschrift soll dem Umstand Rechnung tragen, dass die Kommunikation der Verfahrensbeteiligten auch künftig nicht nur elektronisch erfolgen wird.963 Die Norm wurde bereits mit Blick auf den Begriff „Beweisstücke“ aufgegriffen.964 Nachfolgend wird die diesbezügliche Gesetzesbegründung umfassend untersucht.

958

BT-Drs. 18/9416, 51. BT-Drs. 18/9416, 51. 960 BT-Drs. 18/9416, 51. 961 Zum Vorstehenden: BT-Drs. 18/9416, 13. 962 BT-Drs. 18/9416, 51. 963 BT-Drs. 18/9416, 51. 964 Siehe S. 210 ff. 959

IV. Historie

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Gem. § 32e Abs. 1 S. 1 StPO werden Dokumente, die nicht der konkreten Aktenform entsprechen, als Ausgangsdokumente legaldefiniert. Dies ist in drei Fällen denkbar: entweder die „führende“ Akte ist papiern und das eingereichte Dokument ist elektronisch, die „führende“ Akte ist elektronisch und das eingereichte Dokument ist papiern oder die „führende“ Akte ist elektronisch und das eingereichte elektronische Dokument entspricht nicht dem durch die Rechtsverordnung i. S. d. § 32 Abs. 2 S. 1 StPO bestimmten Format.965 Ausgangsdokumente sind gem. S. 1 grundsätzlich in die jeweilige Aktenform zu übertragen. Sind diese Ausgangsdokumente jedoch als Beweismittel sichergestellt, so können sie gem. dem Satz 2 in die entsprechende Form übertragen werden.966 Die „führende“ Akte sollte hierdurch in eine einheitliche Form gebracht werden.967 Wörtlich heißt es in der Gesetzesbegründung hierzu weiter: „Eine sogenannte hybride Aktenführung, in der Dokumente in ihrer jeweiligen Ausgangsform Aktenbestandteil bleiben, soll hierdurch ausgeschlossen werden […].“968

Dabei kommt zum Ausdruck, dass ein das konkrete Strafverfahren betreffendes Dokument zunächst – wie auch nach bisherigem gesetzgeberischen Begriffsverständnis – Aktenbestandteil ist; für den Fall, dass dieses Dokument nicht der konkreten Form der „führenden“ Akte entspricht und übertragen wird, sollte das Ausgangsdokument jedenfalls kein herauszugebender Aktenbestandteil sein, was auch dadurch bestätigt wird, dass es an weiterer Stelle zu § 32e Abs. 1 StPO heißt: „Der Zeitpunkt der Umwandlung ist für die Wirksamkeit von Prozesshandlungen nicht von Bedeutung […].“969 Auch mit dieser Begründung wäre die zuvor i. R. v. § 32b StPO aufgeworfene These, nach der es für die Klassifizierung als aktenzugehörig nach § 32b Abs. 2 StPO nunmehr eines Widmungsaktes bedürfe, schwer in Einklang zu bringen. Denn wenn der Zeitpunkt der Umwandlung nicht für die Wirksamkeit von Prozesshandlungen maßgebend sein sollte, ist anzunehmen, dass dies für die Einordnung als Aktenbestandteil ebenfalls irrelevant sein muss. In der Begründung zum vierten Absatz des § 32e StPO heißt es sodann: „Der Grundsatz des Absatzes 1, dass alle nicht der Form der Akte entsprechenden Dokumente umzuwandeln sind, hat zur Folge, dass neben den in der Akte gespeicherten elektronischen Dokumenten noch die Ausgangsdokumente vorhanden sind, die als solche nicht Teil der Akte werden (und damit nicht zum Vorliegen einer ,hybriden Akte‘ führen).“970

Insofern sollte das in die konkrete Aktenform übertragene Dokument dann jedenfalls einen Aktenbestandteil darstellen, das Ausgangsdokument sollte zumin965

BT-Drs. 18/9416, 52. BT-Drs. 18/9416, 13. 967 BT-Drs. 18/9416, 52. 968 BT-Drs. 18/9416, 52; Hervorhebung durch Verfasser. 969 BT-Drs. 18/9416, 53. 970 BT-Drs. 18/9416, 54. 966

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

dest nicht herauszugebender Aktenbestandteil sein. Die Umwandlungspflicht sollte mithin zu Aktenführungszwecken bestehen.971 Im Zusammenhang mit der Möglichkeit, die sichergestellten Beweismittel gem. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO in die jeweilige Aktenform zu übertragen, wird in der Gesetzesbegründung klargestellt, dass es der Staatsanwaltschaft bzw. dem Gericht in Fällen von sichergestellten Beweismitteln obliegen könne, zu entscheiden, welche Beweismittel durch Übertragung möglicherweise (aufgrund der gewidmeten Speicherung in § 32b Abs. 2 StPO) zum Aktenbestandteil werden sollten: „Satz 2 schränkt den in Satz 1 definierten Grundsatz für solche Ausgangsdokumente ein, die Beweismittel sind, insbesondere also für solche Dokumente, die beim Beschuldigten oder bei Dritten sichergestellt wurden. Solche Beweisdokumente können, müssen aber nicht in die Form übertragen werden, in der die Akten geführt werden. Es wird hinsichtlich solcher Dokumente somit keine Pflicht geschaffen, sondern es bleibt der Entscheidung des Staatsanwalts oder Richters überlassen, ob und in welchem Umfang solche Dokumente zusätzlich in umgewandelter Form zur Verfügung stehen oder nur im ,Original‘ getrennt von der Akte als Beweismittel in amtlicher Verwahrung gehalten werden sollen. Ein wichtiger Anwendungsfall der vorgeschlagenen Regelung werden Verfahren sein, in denen große Mengen beweiserheblicher Papierdokumente vorliegen. Hier kann es sinnvoll sein, einen elektronischen Beweismittelordner anzulegen. In einem solchen könnte entweder die Gesamtheit der sichergestellten Dokumente nach Umwandlung in die elektronische Form abgelegt werden, um deren technische Vorteile (insbesondere Suchfunktionen) nutzen zu können, oder es könnten nur die letztlich beweiserheblichen oder als beweiserheblich erachteten Dokumente aufgenommen werden, etwa diejenigen, die in der Anklage als Beweismittel benannt worden sind.“972

Weiter ist für den Fall, dass das Ausgangsdokument papiern ist und in ein elektronisches Dokument übertragen wird, gem. § 32e Abs. 3 S. 1 StPO-E in den Akten zu vermerken, welches Übertragungsverfahren angewendet worden ist.973 Der Rechtsausschuss änderte den Entwurf noch insofern, als dass das elektronische Dokument mit einem Übertragungsnachweis zu versehen sein sollte, durch den das angewendete Übertragungsverfahren und die bildliche/inhaltliche Übereinstimmung dokumentiert wird.974 Weiter sollte bei der Übertragung eines handschriftlich unterzeichneten strafverfolgungsbehördlichen oder gerichtlichen Schriftstücks in ein elektronisches Dokument der Übertragungsnachweis mit einer qualifizierten elektronischen Signatur des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle versehen werden.975 Ist das elektronische Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen oder auf einem sicheren Übertragungsweg eingereicht, muss in den Akten das (automatisierte)976 Prüfungsergebnis hinsichtlich Authentizität 971

BT-Drs. 18/9416, 52. BT-Drs. 18/9416, 52 f. 973 BT-Drs. 18/9416, 13. 974 BT-Drs. 18/12203, 12. 975 BT-Drs. 18/12203, 12. 976 BT-Drs. 18/9416, 54. 972

IV. Historie

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und Integrität des Ausgangsdokuments vermerkt werden, § 32e Abs. 3 S. 2 StPO-E. In der Ausschussfassung ist dieser Satz inhaltlich übereinstimmend in § 32e Abs. 3 S. 3 Ausschuss-E aufgenommen worden.977 Dies entspricht der Regelung zum Beglaubigungsvermerk bei der Übertragung einer beglaubigten Abschrift in ein elektronisches Dokument (§ 32b Abs. 4 S. 3 StPO). Dass Ausgangsdokumente, die nicht als Beweismittel sichergestellt sind, gem. § 32e Abs. 1 S. 1 StPO in die entsprechende Form zu übertragen sind, machte eine Regelung zur Aufbewahrungsfrist bzgl. der Ausgangsdokumente erforderlich. § 32e Abs. 4 S. 1 StPO bestimmt hierzu, dass solche Ausgangsdokumente während des laufenden Verfahrens mindestens sechs Monate ab dem Übertragungsvorgang gespeichert bzw. aufbewahrt werden müssen. Die Höchstfrist sollte gem. § 32e Abs. 4 S. 2 StPO grundsätzlich mit dem Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Verjährung des jeweiligen Delikts eingetreten ist, enden. Sofern das Verfahren abgeschlossen ist, ist der Ablauf des auf den Verfahrensabschluss folgenden Kalenderjahres maßgebend, § 32e Abs. 4 S. 3 StPO. Mit Verfahrensabschluss ist der Zeitpunkt gemeint, zu dem ein Urteil oder Strafbefehl rechtskräftig geworden ist.978 Die Höchstfrist aus der letztlich in Kraft getretenen Vorschrift § 32e Abs. 4 S. 2, 3 StPO a. F. wurde im weiteren Verlauf mit § 32e Abs. 4 S. 2 StPO n. F. auf den Ablauf des übernächsten Kalenderjahres erweitert.979 Der fünfte Absatz des § 32e StPO beinhaltet ebenfalls den Begriff der „nicht als Beweismittel sichergestellten Ausgangsdokumente“, der bei den Vorschriften zu den Akteninformationsrechten bislang nicht enthalten war. § 32e Abs. 5 S. 1 StPO bestimmt, dass nicht als Beweismittel sichergestellte Ausgangsdokumente unter denselben Voraussetzungen wie sichergestellte Beweisstücke besichtigt werden können. In § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. wurde zu der Zeit lediglich der Begriff „Beweisstücke“ normiert. Im darauffolgenden Satz wird klargestellt, dass zur Besichtigung diejenigen Personen berechtigt sind, die zur Akteneinsicht befugt sind. In der Begründung hierzu heißt es: „Satz 1 sieht vor, dass Ausgangsdokumente besichtigt werden können. Die Vorschrift bezieht sich sowohl auf ,aufbewahrte‘ Dokumente in Papierform als auch auf zu ,speichernde‘ elektronische Dokumente im Fall der herkömmlichen Papieraktenführung. Ein solches Besichtigungsrecht kennt die Strafprozessordnung bislang nur für amtlich verwahrte Beweisstücke (vgl. § 147 Absatz 1 Halbsatz 2 StPO). Anders als bei Beweisstücken ist bei Ausgangsdokumenten allerdings grundsätzlich keine amtliche Verwahrung, sondern lediglich eine Aufbewahrung erforderlich. Nach Satz 2 entspricht der Kreis der Besichtigungsberechtigten dem der Akteneinsichtsberechtigten.“980

Wie bereits i. R. d. Untersuchung des Begriffs „Beweisstück“ herausgearbeitet wurde,981 kann aus der zitierten Passage der Gesetzesbegründung zu § 32e Abs. 1 977

BT-Drs. 18/12203, 12. BT-Drs. 18/9416, 55. 979 BGBl. I, 2021, 2100. 980 BT-Drs. 18/9416, 55. 981 Siehe S. 212 f. 978

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

S. 2 StPO nicht gefolgert werden, dass der Gesetzgeber beabsichtigt hat, Ausgangsdokumente, die zugleich als sachliche Beweismittel sichergestellt wurden, vom Aktenbegriff auszuklammern. In den Gesetzesmaterialien wird lediglich deutlich, dass im Fall einer Umwandlung das nicht als Beweismittel sichergestellte Ausgangsdokument nicht vorzulegender Aktenbestandteil sein soll.982 Bei der Übertragung des Ausgangsdokumentes in die entsprechende Form der „führenden“ Akte ist (soweit technisch möglich) sicherzustellen, dass das übertragene Dokument dem Ausgangsdokument bildlich und inhaltlich entspricht, § 32e Abs. 2 StPO.983 Die Untersuchung der gesamten Materialien zur Einführung der §§ 32 ff. StPO hat im Zusammenspiel mit der historischen Auslegung des Begriffs „Beweisstück“ offenbart, dass sachliche Beweismittel, die zugleich transportierbare und ohne Weiteres inhaltlich originalgetreu kopierfähige Informationsträger sind, Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO darstellen und diese wiederum als Aktenbestandteile zu qualifizieren sind.984 Da es sich bei Ausgangsdokumenten um kopierfähige und transportierbare Informationsträger handeln muss, ist bei einem solchen Dokument, das zudem als Beweismittel sichergestellt ist, Beweismittelverlust zu besorgen, wenn es aus amtlicher Obhut gegeben werden würde. Nach hiesiger Untersuchung handelt es sich bei solchen Informationsträgern um Beweisstücke.985 Beweisstücke sind ausweislich der sogleich näher zu untersuchenden Begründung zu § 32f StPO jedoch durch als solche zu kennzeichnende Kopien zu ersetzen.986 Wie bereits herausgearbeitet wurde, sah der Gesetzgeber vor der jüngsten Reform 2018 Beweisstücke als Aktenbestandteile an.987 An der ursprünglichen Rechtsauffassung sollte dabei explizit festgehalten werden.988 Wie ebenfalls dargelegt wurde,989 demonstriert der Gesetzgeber mit § 32e Abs. 4, 5 StPO, dass er lediglich die übertragenen Ausgangsdokumente, die nicht als Beweismittel sichergestellt worden sind, nicht als (herauszugebende) Aktenbestandteile ansieht. Da der Gesetzgeber nach zuvor Gesagtem eine hybride Aktenführung nur hinsichtlich der zwingend zu übertragenen Ausgangsdokumente ausschließen wollte,990 wird der Staatsanwaltschaft durch § 32e Abs. 1 S. 2 StPO nur die Möglichkeit eröffnet, alternativ zur Zurverfügungstellung einer Kopie an die Einsichtsberechtigten bzw. neben der Vorlage des originalen Ausgangsdokumentes an das Gericht eine Übertragung in die entsprechende Aktenform vorzunehmen. Ein weitergehendes Ermessen räumt § 32e Abs. 1 S. 2 StPO nach hiesiger Untersuchung991 nicht ein. 982

BT-Drs. 18/9416, 52, 54 f. BT-Drs. 18/9416, 13. 984 Siehe S. 193 ff. 985 Siehe S. 193 ff., 207 ff. 986 Vgl. erneut BT-Drs. 18/9416, 57, 60. 987 Siehe S. 194 ff. 988 Siehe erneut BT-Drs. 18/9416, 57. 989 Siehe S. 199 f. 990 Siehe erneut BT-Drs. 18/9416, 52 f. 991 Siehe S. 215 f. 983

IV. Historie

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Dass der Gesetzgeber ausweislich der Begründung zu § 32 StPO Beweismittel als solche nicht als Aktenbestandteil angesehen hat,992 ist dahingehend zu verstehen, dass Beweismittel keine herauszugebenden Aktenbestandteile sein sollten. Denn eine solche Formulierung, nach der ein Informationsträger als solcher kein Aktenbestandteil sein soll, wurde ebenfalls bei den übertragenen Ausgangsdokumenten gewählt,993 obwohl die Ausgangsdokumente als (ursprüngliche) Aktenbestandteile angesehen wurden.994 Es bleibt deshalb nur noch die bislang offengelassene Frage zu klären, ob Ausgangsdokumente im Falle der Übertragung Aktenbestandteil bleiben sollten und lediglich nicht eingesehen/herausgegeben werden sollten oder ob Ausgangsdokumente ihre Eigenschaft als Aktenbestandteil mit der Übertragung verlieren sollten. Gegen die Annahme, dass die Ausgangsdokumente nach der Übertragung Aktenbestandteil bleiben sollten, spricht zunächst die Gesetzesbegründung zu § 32e StPO. Wie soeben dargelegt wurde, wollte der Gesetzgeber einerseits eine hybride Aktenführung ausschließen und deutet hierbei an, dass die Ausgangsdokumente im Fall der Übertragung nicht Aktenbestandteil bleiben sollten.995 Die Umwandlung sollte gerade zu Aktenführungszwecken erfolgen.996 Zudem wird zwischen Beweisstücken – die nach dem gesetzgeberischen Willen Aktenbestandteile darstellen, jedoch lediglich besichtigt werden können – und Ausgangsdokumenten ausdrücklich unterschieden, weshalb der Gesetzgeber die Regelung in § 32e Abs. 5 S. 1 StPO für erforderlich hielt.997 Hinzu kommt, dass die zwingend zu übertragenen Ausgangsdokumente dem Gericht ausdrücklich nicht vorgelegt werden sollten.998 Wenn mit der Anklageschrift „die Akten“ vorzulegen sind, worunter der Gesetzgeber ursprünglich das gesamte in einem Ermittlungsverfahren angesammelte Informationsmaterial verstanden hat,999 in der Begründung zu § 32e StPO andererseits aber auch nicht ersichtlich wird, dass § 199 Abs. 2 S. 2 StPO insoweit eine Einschränkung erfahren sollte, ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die zwingend zu übertragenen Ausgangsdokumente ab der Übertragung nicht mehr als Aktenbestandteile ansehen wollte. Entscheidend zeigt sich die gesetzgeberische Vorstellung an dem eingeführten § 32e Abs. 4 StPO. Hierin ist die Speicherungs-/Aufbewahrungsfrist für nicht als Beweismittel sichergestellte Ausgangsdokumente normiert. Nicht als Beweismittel sichergestellte Ausgangsdokumente sind jedoch zwingend gem. § 32e Abs. 1 S. 1 StPO zu übertragen. Wenn der Gesetzgeber entgegen den Andeutungen in

992

Siehe erneut BT-Drs. 18/9416, 42. BT-Drs. 18/9416, 54. 994 Vgl. BT-Drs. 18/9416, 52. 995 BT-Drs. 18/9416, 42, 52, 54. 996 BT-Drs. 18/9416, 52. 997 BT-Drs. 18/9416, 55. 998 Siehe BT-Drs. 18/9416, 55. 999 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 964 ff.; Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1229. 993

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

der Gesetzesbegründung die zwingend zu übertragenen Ausgangsdokumente auch im Fall der Übertragung weiterhin als Aktenbestandteile angesehen hätte und insoweit lediglich eine Einsicht verwehren wollte, wären die Regelungen in § 32e Abs. 4 StPO nicht erforderlich gewesen. Die Fristen für die Aufbewahrung und Speicherung von Akten richten sich schließlich nach dem JAktAG (i. V. m. den Aufbewahrungsverordnungen auf der Grundlage von § 2 JAktAG). Wenn in die übertragenen Ausgangsdokumente lediglich keine Einsicht gewährt und diese dem Gericht nicht vorgelegt werden sollten, hätte es zwar immer noch der Regelung in § 32e Abs. 5 StPO bedurft, um zu verdeutlichen, dass die übertragenen Ausgangsdokumente lediglich besichtigt werden können. Die Regelung in § 32e Abs. 4 StPO wäre hingegen obsolet. Bei § 32e Abs. 4 StPO sollte es sich auch nicht lediglich um eine Spezialregelung im Verhältnis zum JAktAG handeln. Denn gem. § 32e Abs. 4 S. 2 StPO dürfen die übertragenen Ausgangsdokumente mindestens bis zum Verfahrensabschluss gespeichert/aufbewahrt werden, was der in § 1 S. 1 JAktAG vorgesehenen Aufbewahrungs-/Speicherungsfrist im Wesentlichen entspricht. Dass übertragene Ausgangsdokumente keine Aktenbestandteile darstellen, wird in der Begründung zu § 32e Abs. 3 StPO ebenfalls deutlich. Danach kann ein Ausgangsdokument im Zweifelsfalle beigezogen und zum Vergleich herangezogen werden,1000 was sich nur damit erklären lässt, dass das Ausgangsdokument ab der Übertragung nicht mehr als Aktenbestandteil anzusehen ist. Die entsprechenden Passagen in der Gesetzesbegründung zu § 32e StPO, nach denen die Ausgangsdokumente im Falle der Übertragung nicht mehr Aktenbestandteil sein sollen, bezogen sich auf die zwingend zu übertragenen Ausgangsdokumente1001 und demnach gerade nicht auf die Beweisstücke. Auch § 32e Abs. 4 StPO, an dem festgemacht werden kann, dass die Ausgangsdokumente im Falle der Übertragung nicht mehr Aktenbestandteile sind, bezieht sich nicht auf die Beweisstücke. Wie bereits i. R. d. Untersuchung des Begriffs „Beweisstück“ dargelegt wurde, bestätigt sich durch die Gesetzessystematik, dass ein Beweisstück seine Eigenschaft als Aktenbestandteil durch die Übertragung nicht verliert.1002 Da elektronische Dokumente ebenfalls Ausgangsdokumente darstellen können, sollen sie nach dem Willen des Gesetzgebers ebenfalls der Übertragungspflicht unterliegen. Insofern verliert konsequenterweise auch ein elektronisches Dokument seine Eigenschaft als Aktenbestandteil, sobald es übertragen worden ist – außer es handelt sich wiederum gleichzeitig um ein Beweisstück.

1000

BT-Drs. 18/9416, 54. Siehe BT-Drs. 18/9416, 52, 54. 1002 Siehe S. 212 f. 1001

IV. Historie

361

gg) § 32f StPO In § 32f StPO sind unter anderem Regelungen zum Umfang bzw. zur Form der Gewährung von Akteneinsicht enthalten. Ebenso ist das in § 147 Abs. 4 StPO nicht mehr enthaltene Übersendungsrecht des Verteidigers in diese Vorschrift verlagert worden. Insbesondere der hinter § 32f StPO stehende gesetzgeberische Gedanke ist deshalb für die weitere Untersuchung bedeutsam. § 32f StPO in der Fassung des Regierungsentwurfes (StPO-E) unterscheidet sich an mehreren Stellen von der Ausschussfassung (Ausschuss-E). Aus diesem Grunde wird zunächst die Begründung des Regierungsentwurfes dargestellt, bevor analysiert wird, inwieweit mit der Ausschussfassung an dem herausgearbeiteten Begriffsverständnis festgehalten werden sollte. (1) Der Regierungsentwurf (StPO-E) § 32f Abs. 1 StPO-E betrifft die elektronischen und § 32f Abs. 2 StPO-E die papiernen Akten.1003 In § 32f Abs. 1 StPO sollte somit erstmals ausdrücklich klargestellt werden, dass die Frage, ob eine ein Strafverfahren betreffende verkörperte Information unter den Aktenbegriff fällt, nicht davon abhängt, ob diese in Papierform oder elektronisch vorliegt. In Satz 1 des ersten Absatzes wird der Grundsatz bestimmt, dass die Einsicht in elektronische Akten durch das Bereitstellen des Akteninhalts zum Abruf gewährt wird.1004 Der Regierungsentwurf geht aber auch im Allgemeinen davon aus, dass die Einsicht künftig im Grundsatz durch den Aktenabruf auf elektronischem Weg gewährt werden soll.1005 Hierdurch werde der berechtigten Person jedoch nicht Akteneinsicht „in Echtzeit“ gewährt; vielmehr erhalte die jeweilige Person grundsätzlich nur die Möglichkeit, die Akten auf dem Stand der Einsichtsgewährung online durchzusehen bzw. herunterzuladen.1006 Satz 2 legt sodann fest, dass auf besonderen Antrag hin Akteneinsicht durch Einsichtnahme in die elektronischen Akten in Diensträumen gewährt wird.1007 „Diensträume“ seien Räumlichkeiten, die zumindest zeitweise dem öffentlichen Dienst zur Ausübung dienstlicher Tätigkeiten dienen und über die ein Träger öffentlicher Gewalt das Hausrecht ausübe.1008 Dass über den Dienstraum die aktenführende Strafverfolgungsbehörde oder das Gericht das Hausrecht ausübt, soll es dabei nicht ankommen.1009

1003

BT-Drs. 18/9416, 14. Dass bei elektronischen Akten diese Form der Einsichtsgewährung den Regelfall darstellen soll, wird auch in der Begründung ausdrücklich klargestellt: BT-Drs. 18/9416, 33, 56. 1005 BT-Drs. 18/9416, 36. 1006 BT-Drs. 18/9416, 56. 1007 BT-Drs. 18/9416, 14. 1008 BT-Drs. 18/9416, 56. 1009 BT-Drs. 18/9416, 56. 1004

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

Bedeutsam ist weiter ein Auszug aus der Begründung zu § 32f Abs. 1 S. 2 StPO-E, aus der hervorgeht, dass hinsichtlich der Art und Weise, wie eine bestimmte verkörperte Information zur Kenntnis genommen wird, zwischen Akteneinsichtsberechtigten und Strafverfolgungsbehörden/Gerichten nicht unterschieden werden darf. Weiter ergibt sich aus dieser Begründung, dass beispielsweise Tonbandaufzeichnungen auch fortan als Aktenbestandteile zu klassifizieren sein sollen: „Eine elektronische Wiedergabe erfolgt dadurch, dass dem Antragsteller die elektronische Akte auf einem hierfür geeigneten Gerät so wahrnehmbar gemacht wird, wie diese auch für die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte wahrnehmbar ist. Nicht nur sprachlich geht diese Form der Akteneinsicht über eine ,Wiedergabe auf einem Bildschirm‘ hinaus, da je nach Akteninhalt auch eine Tonwiedergabe erforderlich sein kann.“1010

Mit der Formulierung „besonderen Antrag“ i. S. v. § 32f Abs. 1 S. 2 StPO-E ist lediglich gemeint, dass die berechtigte Person schlicht einen solchen Antrag stellt, der jedoch an keine weiteren Voraussetzungen geknüpft werden soll.1011 Es bedarf hiernach also insbesondere keiner Begründung. Satz 2 sollte ausdrücklich eine Alternative zu Satz 1 und gleichzeitig das (elektronische) Äquivalent zu dem Regelfall bei der Papierakte (§ 32f Abs. 2 S. 1 StPO-E) darstellen.1012 Ferner heißt es: „[Satz 2 verlangt] ebenso wenig die Einsichtsmöglichkeit über diejenigen Fachsysteme, die zur Aufbereitung des Akteninhalts justizintern im Einsatz sind.“1013 Dabei wird deutlich, dass die schon herausgearbeitete gesetzgeberische Auffassung, dass vom Aktenbegriff allgemein keine innerdienstlichen Vorgänge umfasst sind,1014 aufrechterhalten werden sollte. Gleichzeitig wird erstmals erkennbar, dass die Akteninhalte den Einsichtsberechtigten jedoch aufbereitet zur Verfügung zu stellen sind. Das in § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. normierte Übersendungsrecht der Akten sollte bei elektronischen Akten die Ausnahme darstellen. Gem. § 32f Abs. 1 S. 3 StPO-E wird ein Aktenausdruck oder ein Datenträger mit dem Inhalt der elektronischen Akte auf besonders zu begründenden Antrag übermittelt, wenn der Antragsteller ein berechtigtes Interesse vorweisen kann.1015 Voraussetzung für die hilfsweise Übermittlung sollte demnach die Antragstellung und das Vorliegen eines berechtigten Interesses sein, welches nach den allgemeinen Darlegungsgrundsätzen in der Begründung des Antrages darzulegen ist. Die Gewohnheit des Lesens von Aktenausdrucken reiche hierbei nicht aus; hingegen sei ein solches berechtigtes Interesse möglicherweise dann anzunehmen, wenn die technischen Voraussetzungen zur Wiedergabe der elektronischen Dokumente nicht vorhan-

1010

BT-Drs. 18/9416, 56. BT-Drs. 18/9416, 56. 1012 BT-Drs. 18/9416, 56. 1013 BT-Drs. 18/9416, 57. 1014 Siehe S. 325. 1015 BT-Drs. 18/9416, 14. 1011

IV. Historie

363

den seien und es zudem unzumutbar erscheine, die elektronischen Akten in den Diensträumen einzusehen.1016 Eine Entscheidung hierüber sollte gem. § 32f Abs. 1 S. 4 StPO-E nicht anfechtbar sein,1017 was dem Wortlaut des § 147 Abs. 4 S. 2 StPO a. F. weitgehend entspricht. Da die papiern geführte Akte erst ab dem 01.01.2026 verbindlich abgeschafft werden sollte, musste auch die Form der Einsicht in die Papierakte geregelt werden. Diesem Umstand trägt § 32f Abs. 2 StPO-E Rechnung. Nach dem Satz 1 ist – ebenso wie bei der elektronischen Akte – die Einsicht durch Bereitstellen des Akteninhalts zum Abruf zu gewähren. Hinzu kommt jedoch, dass die Einsicht alternativ auch durch Einsichtnahme in den Diensträumen gewährt werden kann.1018 Wie in eine Papierakte durch Abruf eingesehen werden sollte, wird erst in der Begründung deutlich: „Dies ermöglicht es den Gerichten und Staatsanwaltschaften, im jeweiligen Einzelfall zu entscheiden, ob zum Zweck der Akteneinsicht eine elektronische Fassung der Papierakten hergestellt und zum Abruf bereitgehalten werden soll, oder ob die Akteneinsicht, wie im geltenden Recht, durch Einsichtnahme in die Originalakte erfolgt.“1019

Hierdurch sollte für die berechtigte Person also entweder eine elektronische Fassung der Papierakte hergestellt werden, die sie dann in gleicher Weise wie eine elektronische Akte durch Abruf des bereitgestellten Akteninhaltes einsehen kann, oder die Einsicht sollte im Einklang mit dem geltenden Recht (§ 147 Abs. 1 Var. 1 StPO) in den Diensträumen stattfinden. Die für die erste Variante erstellte elektronische Datei würde dann bei konsequenter Betrachtung nicht die „Akte“, sondern lediglich eine Aktenkopie darstellen, denn die Papierakte wäre immer noch und für jeden anderen Verfahrensbeteiligten als die „Akte“ verfügbar. Weiter bestätigt sich die Auffassung, dass die einzusehende „Akte“ nach Auffassung des Gesetzgebers das Informationsmaterial im Original darstellt. Die Gewährung der Einsicht in ein „Aktendoppel“ sei hingegen nur ausreichend, wenn die berechtigte Person hiermit einverstanden sei.1020 Die Gewährung der Einsicht durch Aushändigung einer Aktenkopie wäre im Gegensatz zur „Umwandlungsvariante“ des § 32f Abs. 2 S. 1 Var. 1 StPO-E also nur mit dem Einverständnis der berechtigten Person ausreichend. Die Einsichtnahme durch Abruf und die durch Einsicht in den Diensträumen wurden im Übrigen zunächst – und im Gegensatz zu § 32f Abs. 1 S. 1 und 2 StPO-E – sprachlich gleichgestellt. Der darauffolgende Satz relativiert diese Gleichstellung jedoch. Denn gem. § 32f Abs. 2 S. 2 StPO-E wird einem Verteidiger oder Rechtsanwalt Akteneinsicht durch Übergabe der Akten zur Mitnahme oder durch Übersendung dieser Akten in seine Geschäftsräume gewährt.1021 Schon nach dem Wortlaut wird die Parallele 1016

Zum Vorstehenden: BT-Drs. 18/9416, 57. BT-Drs. 18/9416, 14. 1018 Zum Vorstehenden: BT-Drs. 18/9416, 14. 1019 BT-Drs. 18/9416, 57. 1020 BT-Drs. 18/9416, 57. 1021 BT-Drs. 18/9416, 14. 1017

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

zu den seinerzeit geltenden Regelungen in § 147 Abs. 1 und 4 StPO deutlich. Hierdurch wurde an dem geltenden status quo, dass dem Verteidiger ein Übersendungsrecht zusteht, festgehalten. Der Regierungsentwurf erstreckte dieses Übersendungsrecht jedoch nicht mehr auf die Wohnung, sondern ausschließlich auf die Geschäftsräume.1022 Bedeutsam ist weiterhin, dass die in § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. normierte Einschränkung „mit Ausnahme der Beweisstücke“ in der entsprechenden Vorschrift des § 32f Abs. 2 S. 2 StPO-E fehlt. Hierzu heißt es: „Sofern sich Beweisstücke in amtlicher Verwahrung befinden, dürfen sie schon deshalb nicht mit übersandt werden. Befinden sich Beweisstücke in Papierform in den Akten, sind diese bei Bedarf vor Übergabe oder Übersendung durch – entsprechend auch als solche kenntlich zu machende – Kopien zu ersetzen.“1023

Es wurde demnach als selbstverständlich angesehen, dass ein sachliches, kopierfähiges Beweismittel, welches bei Herausgabe oder Transport beschädigt werden könnte – also nach hiesiger Untersuchung gleichzeitig ein Beweisstück i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO und § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. –, nicht aus der amtlichen Obhut entlassen werden darf und somit (obwohl es Aktenbestandteil ist) nicht dem Übersendungsrecht unterliegt. Wie bereits innerhalb der Untersuchung des Begriffs „Beweisstück“ angemerkt wurde, ergibt sich aus der Begründung zur Reform des Jahres 2018, dass in den Akten befindliche Beweisstücke im Allgemeinen durch Kopien zu ersetzen sind.1024 In dem soeben zitierten Begründungsauszug1025 fällt der Begriff „bei Bedarf“ auf. Fraglich ist, ob hiermit an dem herausgearbeiteten Begriffsverständnis, dass zu den „Beweisstücken“ diejenigen Beweismittel zählen, die bei Herausgabe oder Transport beschädigt/zerstört werden könnten, nicht mehr festgehalten werden sollte. Eine Abkehr vom ursprünglichen Akten- bzw. Beweisstückbegriffsverständnis ist allerdings nicht anzunehmen. Die Formulierung „bei Bedarf“ im Sinne der zuvor zitierten Begründung kann nur „für den Fall einer beantragten Übersendung“ in den Entwurf aufgenommen worden sein. Denn zum einen sollte an dem vormaligen Begriffsverständnis des Begriffs der Akte nichts geändert werden1026 und zum anderen bezieht sich die Begründung lediglich auf die papierne Akte und nicht auch auf die elektronische Akte, bei welcher ein Integritätsverlust von vornherein ausscheidet, weshalb sich dieses Problem bei der elektronischen Akte nicht stellt. Dies wird auch daran deutlich, dass für den Fall, dass sich Beweisstücke in der papiernen Akte befinden, insbesondere der Anwendungsbereich von § 32f Abs. 2 S. 3 StPO-E eröffnet sein sollte, sodass dieser Teil in Kopie her-

1022

BT-Drs. 18/9416, 14; zur Begründung: BT-Drs. 18/9416, 57. BT-Drs. 18/9416, 57. 1024 Siehe S. 197 ff. 1025 BT-Drs. 18/9416, 57. 1026 BT-Drs. 18/9416, 57: „Wie im geltenden Recht soll nach Satz 2 […]“. 1023

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auszugeben ist, weil dies einen wichtigen Grund darstellen würde.1027 Von einem geänderten Begriffsverständnis kann aufgrund der formulierten Begründung folglich nicht ausgegangen werden. Aufschlussreich für die weitere Untersuchung ist zudem § 32f Abs. 2 S. 3 StPO-E. Hiernach wird Akteneinsicht durch das Übermitteln von Kopien gewährt, wenn wichtige Gründe einer Einsichtnahme nach S. 1 oder 2 – also Einsichtnahme durch Bereitstellen zum Abruf, durch Einsicht in den Diensträumen oder durch Übergabe bzw. Übersendung der Akten – entgegenstehen.1028 Ausreichend soll hierbei auch das Erstellen und Übermitteln von elektronischen Kopien sein.1029 Schon die vorgeschriebene Alternativgewährung der Übermittlung von Kopien legt nahe, dass mit den „wichtigen Gründen“ jedenfalls vordergründig organisatorische Aspekte in den Blick genommen wurden. Anwendungsbereich dieses Ausnahmetatbestandes sei beispielsweise der zuvor beschriebene Fall, dass sich Beweisstücke in den papiernen Akten befinden oder der verteidigerlose Beschuldigte bei Einsicht in die Originalakte die Möglichkeit erhalten würde, den Akteninhalt zu verändern.1030 „Wichtige Gründe“ auf Seiten der Akteneinsichtsberechtigten seien ebenfalls denkbar.1031 Die Entscheidung darüber, ob ein solcher „wichtiger Grund“ vorliegt, sollte gem. § 32f Abs. 2 S. 4 StPO-E insgesamt nicht anfechtbar sein, da ein Anspruch auf eine bestimmte Form der Einsicht nicht bestehe, sofern eine effektive Verteidigung hierdurch gesichert bliebe.1032 Ferner wurde in der Gesetzesbegründung betont, dass die Anforderungen für die Annahme des Merkmals „wichtiger Gründe“ nicht überspannt werden sollen, weil die Aushändigung von Aktenkopien den Interessen der Akteneinsicht begehrenden Personen regelmäßig genügen würde.1033 Andererseits legt schon die Alternative der Übermittlung von Kopien nahe, dass Schutzinteressen Dritter insoweit gänzlich oder zumindest i. d. R. unbeachtlich sein sollten. Jedenfalls die Beeinträchtigung von Persönlichkeitsrechten Dritter durch das Gewähren von Einsicht ist dem Willen des Gesetzgebers zufolge grundsätzlich unbedeutend. Die im Wortlaut zum Ausdruck kommende, zwingende Übermittlung von Aktenkopien als Alternative wäre sonst schwer erklärbar. Bestätigt wird diese Annahme dadurch, dass der Entwurf i. R. v. § 32f StPO nicht auf die Persönlichkeitsrechte Dritter eingeht, obwohl an anderer Stelle der Entwurfsbegründung eine eingehende Auseinandersetzung mit den Schutzinteressen Dritter, insbeson-

1027 BT-Drs. 18/9416, 57: „Satz 3 gilt für die gesamten Akten, aber auch für einzelne Seiten, etwa wenn Beweisstücke in Papierform zur Akte statt in Verwahrung genommen worden sind.“ 1028 BT-Drs. 18/9416, 14. 1029 BT-Drs. 18/9416, 57. 1030 Vgl. BT-Drs. 18/9416, 57. 1031 BT-Drs. 18/9416, 57. 1032 BT-Drs. 18/9416, 57. 1033 BT-Drs. 18/9416, 57.

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dere mit personenbezogenen Daten des Beschuldigten, der Zeugen, der Opfer sowie anderen gänzlich unbeteiligten Dritten erfolgt.1034 Es ist somit davon auszugehen, dass der Anwendungsbereich der Pflicht, nur hilfsweise Einsicht in Aktenkopien zu gewähren, insgesamt zwar erweitert werden sollte, Schutzinteressen Dritter jedoch gänzlich oder zumindest weitgehend aus dem Anwendungsbereich dieser Ausnahmeregelung herausfallen sollten. Der Grund dafür, dass Schutzinteressen Dritter nunmehr zumindest i. d. R. keinen „wichtigen Grund“ mehr darstellen sollten, wird zum Teil auch in § 32f Abs. 3 StPO-E begründet liegen. Gem. § 32f Abs. 3 S. 1 StPO ist schließlich durch technische und organisatorische Maßnahmen zu gewährleisten, dass Dritte von dem Akteninhalt keine Kenntnis erlangen können.1035 Adressat der Vorschrift soll sowohl der Einsichtsgewährende als auch der Einsichtnehmende sein.1036 Hinzu kommt, dass gem. § 32f Abs. 3 S. 2 StPO der Name der Person, der Akteneinsicht gewährt wird, in abgerufenen Akten und auf übermittelten elektronischen Dokumenten dauerhaft sichtbar gemacht werden soll.1037 Dies sei durch die Einfügung eines „Wasserzeichens“ umzusetzen.1038 Bei elektronischen Akten ist die Kenntnisnahme des Akteninhalts durch Dritte nur bei der Akteneinsicht in Form der Bereitstellung zum Abruf und durch Aktenübermittlung möglich, sodass auch nur für diese Fälle eine Schutzvorschrift normiert zu werden brauchte. Weitere Schutzmechanismen sieht der Entwurf mit § 32f Abs. 4 StPO-E vor. Die Vorschrift bezieht sich nicht nur auf die Gewährung von Einsicht in elektronische Akten, sondern fordert in Satz 1 im Allgemeinen, dass Akten, Dokumente, Ausdrucke oder Abschriften, die jemandem nach § 32f Abs. 1 oder 2 StPO-E überlassen worden sind, weder öffentlich verbreitet noch Dritten (zu verfahrensfremden Zwecken) übermittelt oder sonst wie zugänglich gemacht werden dürfen. In Satz 2 soll der Zweckbindungsgrundsatz geregelt werden, wobei gem. Satz 3 die Datenverwendung zu anderen Zwecken nur gestattet sein soll, sofern hierfür Auskunft oder Akteneinsicht gewährt werden dürfte. Satz 4 soll die Akteneinsicht gewährende Stelle verpflichten, dass diese die jeweiligen Personen auf den Zweckbindungsgrundsatz hinweist.1039 Dass auch der Verteidiger nunmehr auf den Zweckbindungsgrundsatz hingewiesen werden soll, was bisher aufgrund der Stellung des Verteidigers als Organ der Rechtspflege nicht für notwendig erachtet wurde, ist aus datenschutzrechtlicher Sicht nachvollziehbar. § 32f Abs. 5 StPO-E sieht sodann eine Verordnungsermächtigung zur Regelung der für die Einsicht in elektronische Akten geltenden Standards vor.1040 Dies beziehe sich auf die Einzelheiten des Aktenabrufs und der Einsichtnahme.1041 1034

BT-Drs. 18/9416, 67. BT-Drs. 18/9416, 14. 1036 BT-Drs. 18/9416, 58. 1037 BT-Drs. 18/9416, 14. 1038 BT-Drs. 18/9416, 58. 1039 Zum Vorstehenden: BT-Drs. 18/9416, 14. 1040 BT-Drs. 18/9416, 14. 1041 BT-Drs. 18/9416, 58. 1035

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Die später in Kraft getretene Vorschrift des § 32f StPO basiert in weiten Teilen auf dem Regierungsentwurf. Wäre dieser Regierungsentwurf verabschiedet worden, hätten sich in Bezug auf § 32f StPO wortlautbasiert und gesetzeshistorisch betrachtet folgende Schlüsse ziehen lassen: Zunächst zeigt schon der Wortlaut des § 32f Abs. 1 StPO-E, dass Akten nicht nur Informationen auf einem Papiermedium, sondern insbesondere auch solche auf elektronischen Datenträgern sein können. Mit „Diensträume“ sollten solche Räume gemeint sein, die dem öffentlichen Dienst zumindest zeitweise zur Ausübung dienstlicher Tätigkeiten dienen und über die ein öffentlicher Hoheitsträger das Hausrecht ausübt – dies sollte also nicht zwingend ein Raum in dem Dienstgebäude der aktenführenden Stelle sein. Das „Abrufen der bereitgestellten Aktendatei“ sollte neben der Online-Einsicht, welche grundsätzlich nicht in Echtzeit gewährt werden sollte, auch das Herunterladen der entsprechenden Datei umfassen. Das für einen ausnahmsweise zu übermittelnden Aktenausdruck bzw. einen die Aktendatei enthaltenen Datenträger erforderliche „berechtigte Interesse“ (§ 32f Abs. 1 S. 3 StPO-E) bezog sich auf technische Unwägbarkeiten. Die ursprüngliche gesetzgeberische Auffassung, nach der Schutzinteressen Dritter vom Gesetzgeber grundsätzlich nicht als „wichtige Gründe“ i. S. v. § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. angesehen wurden, sollte sich mit § 32f StPO-E offenbar nicht ändern. Dies kommt insbesondere im Wortlaut von § 32f Abs. 2 S. 3 StPO-E zum Ausdruck, nach dem bei Vorliegen wichtiger Gründe jedenfalls eine Aktenkopie zu übermitteln ist. Weiter wurden mit § 32f Abs. 3 und 4 StPO-E Schutzmechanismen vorgesehen, die gerade in Hinblick auf die Persönlichkeitsrechte Dritter eingefügt wurden. Im Übrigen wurde in der Entwurfsbegründung auf Schutzinteressen Dritter, im Gegensatz zu anderen Einzelbegründungen des Entwurfes, nicht Bezug genommen, was ebenfalls dafür spricht, dass der Regierungsentwurf solchen Interessen keine bedeutende Rolle hinsichtlich des Akteneinsichtsrechts beigemessen hat. Hinsichtlich des Aktenbegriffs wird in der Entwurfsbegründung wiederholt davon ausgegangen, dass die Akte eine Ansammlung von Informationsträgern im Original darstellt. Beweismittel sollten hiernach ebenfalls Aktenbestandteile sein, sofern sie Informationsträger sind bzw. Beweisstücke darstellen. Weiter liegt dem Entwurf wiederholt die Annahme zugrunde, dass Beweisstücke, obwohl sie Aktenbestandteile sind, nicht herauszugeben, sondern hilfsweise durch eine Kopie zu ersetzen sind. Justizinterne Fachsysteme sind ausweislich der Materialien demgegenüber rein innerdienstliche Vorgänge und (offenbar mangels Eigenschaft als Aktenbestandteil) nicht der Einsicht zugänglich. Weiter macht der Gesetzgeber deutlich, dass der Akteninhalt von der aktenführenden Stelle ausreichend aufbereitet werden soll.

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(2) Die Ausschussfassung (Ausschuss-E) Zu prüfen ist, inwieweit das in dem Regierungsentwurf (StPO-E) zum Ausdruck gebrachte gesetzgeberische Verständnis vor dem Hintergrund des Änderungsvorschlags des Rechtsausschusses (Ausschuss-E)1042 noch Bestand haben kann. Der Rechtsausschuss regte an, als Grundsatz in § 32f Abs. 2 S. 1 Ausschuss-E nur die Einsichtnahme der Akten in Diensträumen zu normieren. Die Einsichtnahme durch Bereitstellen des Akteninhalts zum Abruf sollte in den zweiten Satz eingefügt werden. Hiernach sollte die Akteneinsicht auch durch Bereitstellen der Akten zum Abruf oder durch Bereitstellen einer Aktenkopie zur Mitnahme gewährt werden können – dies jedoch nur, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen.1043 Hierdurch wurde die in der vorigen Entwurfsfassung noch nicht bestehende Gleichstellung der Einsichtnahme durch Bereitstellen einer Abrufdatei als Aktenkopie einerseits und einer solchen Aktenkopie in Papierform andererseits bewirkt. Letztlich wurden die beiden im Regierungsentwurf ursprünglich im ersten Satz normierten Einsichtsformen in der Ausschussfassung auf die ersten beiden Sätze aufgeteilt, wobei im zweiten Satz die Variante „Bereitstellen einer Aktenkopie zur Mitnahme“ hinzugefügt wurde.1044 Das vormals im zweiten Satz der Entwurfsfassung normierte Übersendungsrecht wurde in den dritten Satz verschoben. Der Rechtsausschuss nahm hieran zwei Änderungen vor. Zum einen sollte das Übersendungsrecht (wieder) auf die Wohnung erweitert werden. Zum anderen wurde die im Regierungsentwurf vorgesehene Wahl darüber, ob die Akten zur Mitnahme übergeben oder unmittelbar übersendet werden, in der Ausschussfassung – entsprechend § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. – auf Ersteres beschränkt.1045 Weiter sollte § 32f Abs. 1 S. 4 StPO-E ersetzt werden durch: „Stehen der Akteneinsicht in der nach Satz 1 vorgesehenen Form wichtige Gründe entgegen, kann die Akteneinsicht in der nach den Sätzen 2 und 3 vorgesehenen Form auch ohne Antrag gewährt werden.“1046

Im Einzelfall sollte es mit § 32f Abs. 1 S. 4 Ausschuss-E möglich sein, von Amts wegen die Einsichtnahme durch Einsicht in den Diensträumen oder durch Übermittlung von Aktenausdrucken oder eines entsprechenden Datenträgers zu gewähren.1047 Als Beispiele wurden technische Gründe sowie die auch sonst i. R. v. § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. relevanten Aspekte, wie Verschlusssachen oder besonders schützenswerte Akteninhalte, aufgeführt.1048 Der im Regierungsentwurf zuvor an dieser Stelle enthaltene Anfechtungsausschluss hinsichtlich der Ent1042

BT-Drs. 18/12203, 12 ff. Zum Vorstehenden: BT-Drs. 18/12203, 13. 1044 BT-Drs. 18/12203, 13. 1045 Zum Vorstehenden: BT-Drs. 18/12203, 13. 1046 BT-Drs. 18/12203, 13. 1047 BT-Drs. 18/12203, 73. 1048 BT-Drs. 18/12203, 73. 1043

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scheidung über die Form der Einsichtsgewährung sollte in § 32f Abs. 3 StPO-E eingefügt werden.1049 Im Regierungsentwurf war nicht vorgesehen, dass das Vorliegen „wichtiger Gründe“ die Verweigerung der Einsicht rechtfertigt oder das Einsichtsrecht in elektronische Akten abschwächt. Eine Einschränkung des Akteneinsichtsrechts etwa derart, dass beim Vorliegen „wichtiger Gründe“ Aktenkopien zu übermitteln sind, sah der Regierungsentwurf lediglich für papierene Akten in § 32f Abs. 2 S. 3 StPO-E vor. Zum einen rückte der Rechtsausschuss folglich davon ab, eine solche Einschränkbarkeit nur für die papierne Akte vorzusehen. Zum anderen sollte aber auch der Umstand, dass der einsichtsberechtigten Person bei papiernen Akten als „Notlösung“ zumindest eine Aktenkopie zu übermitteln war, wegfallen. Denn § 32f Abs. 2 S. 3 StPO-E wurde ersetzt.1050 Weil in § 32f Abs. 2 S. 1 Ausschuss-E (im Gegensatz zu den übrigen in § 32f Abs. 2 Ausschuss-E vorgesehenen Einsichtsformen) nicht die Einschränkung des „Entgegenstehens wichtiger Gründe“ eingefügt wurde, sollte eine Einsichtnahme in die papiernen Akten jedoch zumindest in den Diensträumen zu gewähren sein. Die ohne Einschränkungen zu gewährende Einsichtsform sollte mithin nicht mehr die Übermittlung einer Aktenkopie, sondern die Einsichtnahme in den Diensträumen darstellen. Bevor der Vorbehalt des Entgegenstehens wichtiger Gründe in § 32f Abs. 2 S. 2, 3 Ausschuss-E eingefügt wurde, erfolgte eine Stellungnahme des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI).1051 Es stellt sich deshalb die Frage, ob die Stellungnahme Beweggrund dafür gewesen ist, den Vorbehalt einzufügen. In der in Bezug genommenen Stellungnahme des BfDI wurde zunächst gefordert, bei der elektronischen Aktenführung im Strafverfahren die sog. JI-Richtlinie1052 zu beachten.1053 Speziell in Bezug auf § 32f StPO-E wurde jedoch lediglich die mangelnde Umsetzung des Datenschutzes in technischer Hinsicht kritisiert, zumal insbesondere die elektronischen Akten ein relativ hohes Verbreitungsrisiko hätten.1054 So sei es in der Vergangenheit schon

1049

BT-Drs. 18/12203, 13. Vgl. BT-Drs. 18/12203, 13. 1051 Vgl. allg. zur Berücksichtigung: BT-Drs. 18/12203, 72. 1052 Gemeint ist die Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates, ABl. 2016 L 119/89. 1053 Voßhoff, Aktualisierte Stellungnahme der Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit zum erweiterten Berichterstattungsgespräch des Rechtsausschusses, am 17. Januar 2017 zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs, BTDrs. 18/9416, 16.01.2017, 2 f. (nicht veröffentlicht, in Kopie erhalten); nachfolgend „Voßhoff, Stellungnahme“ genannt. 1054 Voßhoff, Stellungnahme, 7. 1050

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bei papiernen Akten vorgekommen, dass diese an unberechtigte Dritte weitergegeben oder im Internet veröffentlicht wurden.1055 Gefordert wurden insoweit jedoch ausschließlich technisch-organisatorische Vorgaben.1056 Hieraus kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass § 32f StPO-E lediglich Schutzmechanismen aufstellen sollte, um sensible Daten vor einer unberechtigten Verwendung zu schützen. Die in Bezug genommene Richtlinie, deren Regelungsgegenstand der Schutz personenbezogener Daten im Strafverfahren ist (vgl. Art. 1 f. RL [EU] 2016/680), wurde im Übrigen offenbar als ausreichend berücksichtigt angesehen. Auch bezog sich die Kritik des BfDI nicht auf bestimmte Verfahrensbeteiligte. Inwieweit das Persönlichkeitsrecht Dritter der Einsicht entgegenstehen kann, wird im Rahmen des Einsichtsrechts gesondert untersucht.1057 Weiteren Aufschluss zur Ausgestaltung der Akteneinsicht gibt die Begründung des Rechtsausschusses: „Die Regelung in Absatz 2 soll neu gefasst werden, um klarzustellen, dass die Form der Gewährung von Akteneinsicht bei herkömmlicher Aktenführung wie im geltenden Recht insgesamt im Ermessen der aktenführenden Stelle steht.“1058

Es deutet sich hiermit an, dass unter „Akteneinsicht“ nicht das Übersendungsrecht fallen sollte, denn es heißt, dass die Einsichtsform insgesamt in das Ermessen der aktenführenden Stelle gestellt werden sollte, andererseits das Übersendungsrecht gem. § 32f Abs. 2 S. 3 Ausschuss-E jedoch auch weiterhin als Anspruchsnorm („Auf besonderen Antrag werden […] die Akten […] mitgegeben.“) ausgestaltet blieb.1059 Letztlich wird, abgesehen davon, dass § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. noch als Soll-Vorschrift ausgestaltet war und die Beweisstücke von der Übersendung explizit ausgenommen waren, mit der Ausschussfassung somit vollständig auf die Terminologie des § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. zurückgegriffen. Ferner wurde § 32f Abs. 2 S. 4 StPO des Regierungsentwurfes in den dritten Absatz verschoben, sodass sich die ursprünglichen Absätze drei bis fünf entsprechend gleichermaßen verschoben haben.1060 Zuvor bezog sich der Anfechtungsausschluss gem. § 32f Abs. 1 S. 3 StPO-E (Übermittlung eines Aktenausdrucks/Datenträgers bei elektronischer Aktenführung) ausdrücklich auf die Entscheidung über den besonders zu begründenden Antrag. Nunmehr sollte sich der Anfechtungsausschluss allgemein auf Entscheidungen über die Form der Gewährung von Akteneinsicht in den Fällen des § 32f Abs. 1 und 2 StPO-E beziehen. Hintergrund dieses Änderungsvorschlages war es, einen bislang nicht vorgesehenen Anfechtungsausschluss auch bei derartigen Entscheidungen im Fall der

1055

Voßhoff, Stellungnahme, 7. Vgl. Voßhoff, Stellungnahme, 7, mit Verweis auf die Begründung zu § 32 StPO-E, BTDrs. 18/9416, 3–5. 1057 Siehe S. 570 ff. 1058 BT-Drs. 18/12203, 73 f. 1059 Vgl. BT-Drs. 18/12203, 13. 1060 BT-Drs. 18/12203, 13. 1056

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Papierakte einzuführen.1061 Es sollte also nur vermieden werden, den Normtext nochmals im zweiten Absatz einfügen zu müssen. Da im Fall der elektronischen Akte eine Entscheidungskompetenz für die Form der Einsichtsgewährung nur für den Fall vorgesehen ist, dass die Übermittlung eines Aktenausdruckes bzw. eines Datenträgers beantragt wird (§ 32f Abs. 1 S. 3 StPO-E), kann sich der in § 32f Abs. 3 Ausschuss-E normierte Anfechtungsausschluss für die elektronische Aktenführung nur hierauf beziehen. Fraglich erscheint hingegen, auf welche Form der Akteneinsichtsgewährung sich der Anfechtungsausschluss im Fall der papiernen Akte beziehen sollte. In der Begründung wird hierzu angeführt, dass der vormals in Abs. 1 S. 4 geregelte Anfechtungsausschluss „[…] gleichermaßen in den Fällen des Absatzes 2 gelten [soll][…].“1062 § 32f Abs. 2 Ausschuss-E beinhaltet grundsätzlich nur einen Fall, bei welchem über die Form der Akteneinsicht zu entscheiden ist. Gem. Satz 2 kann Akteneinsicht durch Bereitstellen des Akteninhalts zum Abruf bzw. zur Mitnahme gewährt werden, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen. Insofern könnte sich der Anfechtungsausschluss lediglich hierauf beziehen. Es stellt sich demnach die Frage, ob sich der Anfechtungsausschluss auch auf das Übersendungsrecht in § 32f Abs. 2 S. 3 Ausschuss-E beziehen sollte. Diese Form der Akteneinsicht wird aber nicht auf besonders zu begründenden, sondern lediglich auf besonderen Antrag, gewährt (soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen). Eine Variante, nach der auf besonderen Antrag hin eine bestimmte Form der Akteneinsicht zu gewähren ist, sah auch schon der Regierungsentwurf in § 32f Abs. 1 S. 2 StPO-E vor.1063 Der dortige Anfechtungsausschuss in § 32f Abs. 1 S. 4 StPO-E bezog sich ausweislich des Wortlautes jedoch nur auf eine Entscheidung nach Satz 3 (also auf den Fall eines besonders zu begründenden Antrags).1064 Dass in § 32f Abs. 2 Ausschuss-E nicht die Gewährung von Akteneinsicht in bestimmter Form normiert wurde, welche besonders zu begründen ist, spricht dafür, dass sich der Anfechtungsausschluss auf das Übersendungsrecht, welches gem. § 32f Abs. 2 S. 3 Ausschuss-E auf besonderen Antrag (soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen) gewährt wird, nicht beziehen sollte. Andererseits beinhaltet § 32f Abs. 1 S. 3 StPO-E den Fall, dass ein Aktenausdruck oder ein Datenträger mit dem Akteninhalt übermittelt wird, was Ähnlichkeiten mit dem Fall aufweist, dass der berechtigten Person die Akten zur Einsichtnahme in die Geschäftsräume/Wohnung mitgegeben werden (§ 32f Abs. 2 S. 3 Ausschuss-E).1065 Dass sich der Anfechtungsausschluss ausweislich der Begründung „gleichermaßen“ auf die papierne Akte beziehen sollte, kann demzufolge auch bedeuten, dass sich der Anfechtungsausschluss auch auf das Übersendungsrecht in § 32f Abs. 2 S. 3 Ausschuss-E beziehen sollte, da dieser Fall der 1061

BT-Drs. 18/12203, 74. BT-Drs. 18/12203, 74; Hervorhebung durch Verfasser. 1063 BT-Drs. 18/9416, 14. 1064 BT-Drs. 18/9416, 14. 1065 BT-Drs. 18/12203, 13. 1062

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„Übermittlungsvariante“ in § 32f Abs. 1 S. 3 StPO-E ähnelt. Dies wird dadurch gestützt, dass auch bei dem Regierungsentwurf davon ausgegangen wurde, dass sich der Anfechtungsausschluss auch auf die Entscheidung darüber, ob ein „wichtiger Grund“ im Einzelfall vorliegt, beziehen sollte.1066 Es kann demzufolge davon ausgegangen werden, dass sich der Anfechtungsausschluss in § 32f Abs. 3 Ausschuss-E sowohl auf die Entscheidung, ob Einsicht gem. § 32f Abs. 2 S. 2 Ausschuss-E gewährt wird, als auch auf die Frage, ob ein „wichtiger Grund“ i. S. v. § 32f Abs. 2 S. 3 Ausschuss-E gegeben ist, bezieht. Der dritte Absatz wurde mit der Ausschussfassung in den vierten Absatz verschoben.1067 In § 32f Abs. 4 S. 2 Ausschuss-E wurde eingefügt, dass der Name auf den abgerufenen oder übermittelten elektronischen Akten nach dem Stand der Technik dauerhaft erkennbar gemacht werden soll.1068 Die ursprünglichen Absätze 4 und 5 wurden ebenfalls entsprechend verschoben.1069 Der Gesetzesentwurf in der Ausschussfassung ist in zweiter und dritter Beratung angenommen und letztlich beschlossen worden.1070 § 147 StPO n. F. sowie die §§ 32 ff. StPO traten mit Ausnahme von § 32d StPO1071 am 01.01.2018 in Kraft.1072 Aus den soeben dargestellten Gesetzesmaterialien ergibt sich, dass der Ausschuss von der Rechtsauffassung, die dem Regierungsentwurf hinsichtlich des Aktenbegriffs zugrunde lag, nicht abgerückt ist. Die angenommenen Änderungen in § 32f Ausschuss-E betrafen lediglich Modalitäten des Einsichtsrechts und des Anfechtungsausschlusses. c) Zwischenfazit zur Reform des Akteneinsichtsrechts im Jahr 2018 Die umfassende Analyse der Materialien zur Reform des Jahres 2018 belegt, dass das Akteneinsichtsrecht durch diese Reform nicht beschränkt werden sollte. Der Gesetzgeber hat seine ursprüngliche Rechtsauffassung hinsichtlich des Aktenbegriffs ebenfalls nicht geändert. Durch die Einführung der e-Akte sollten die Beteiligten ein „Mehr an Komfort“ erhalten. An entscheidenden Punkten bestätigt der Gesetzgeber ein Begriffsverständnis, welches zuvor lediglich andeutungsweise in den Gesetzesmaterialien angeklungen war. Die Reform und die Materialien können im Wesentlichen wie folgt zusammengefasst werden:

1066 Vgl. BT-Drs. 18/9416, 57, wonach sich der Anfechtungsausschluss zwar nur auf die Art und Weise der Akteneinsicht, in diesem Bereich offenbar dann jedoch in Gänze, beziehen sollte. 1067 Vgl. BT-Drs. 18/12203, 13. 1068 Diese Einfügung forderte der Rechtsausschuss: BT-Drs. 18/12203, 13. 1069 Vgl. BT-Drs. 18/12203, 13 f. 1070 BT-Plenarprotokoll 18/234: Stenografischer Bericht der 234. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 18.05.2017, 23747A-B. 1071 Diese Norm trat am 01.01.2022 in Kraft: BGBl. 2017 I, 2208, 2229 (Art. 33 Abs. 4 Nr. 1). 1072 BGBl. 2017 I, 2208, 2228 (Art. 33 Abs. 1).

IV. Historie

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Zunächst geht der Gesetzgeber in der Begründung zu § 147 StPO n. F. von einem Begriffsverständnis aus, nach dem elektronische Dokumente auch im Fall von papiernen Akten Aktenbestandteile sind. Auch geht der Gesetzgeber in der Begründung zu § 147 StPO n. F. davon aus, dass Gerichte Telekommunikationsverbindungsdaten digital auswerten könnten. Nach Auffassung des Gesetzgebers sind also nach § 100g StPO erhobene Daten der gerichtlichen Auswertung zugänglich. Nach dem Willen des Gesetzgebers muss dies ebenfalls oder erst recht für nach § 100a Abs. 1 StPO erhobene Daten gelten, da diese regelmäßig die für die Sachverhaltsaufklärung noch relevanteren Daten darstellen. Jedenfalls die allgemeine Einordnung von Tonaufzeichnungen als Aktenbestandteile kommt in den Materialien zum Ausdruck. Denn in der Begründung zu § 32f StPO-E wird zum einen deutlich, dass die Einsichtnahme in die Akte durch den Verteidiger in einer Weise erfolgen muss, die derjenigen von Gericht und Staatsanwaltschaft entspricht; zum anderen geht der Gesetzgeber hierbei davon aus, dass auch Tonaufzeichnungen Aktenbestandteile sind. Weiter belegen die Materialien zu § 147 StPO n. F., dass der Gesetzgeber die Akte als eine Ansammlung von Informationsträgern im Original ansieht. Diese Sichtweise wiederholt der Gesetzgeber in der Begründung zu § 32f StPO-E. In den Materialien zu § 147 StPO n. F. und § 32f StPO geht der Gesetzgeber explizit und wiederholt davon aus, dass sich Beweisstücke entweder in amtlicher Verwahrung oder bei den Akten befinden. Es wird deutlich, dass der Gesetzgeber die Beweisstücke dabei als Aktenbestandteile ansieht. Der Gesetzgeber spricht hierbei wiederholt papierne Beweisstücke an, wodurch sich bestätigt, dass Beweisstücke Aktenbestandteile sein können, sofern es sich bei den sachlichen Beweismitteln um Informationsträger handelt. Aus den Materialien ergibt sich weiter, dass das corpus delicti im klassischen Sinn (etwa eine Tatwaffe) zwar ein Beweismittel, aber kein Beweisstück i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO darstellt. Bei Beweisstücken ist der originale Informationsträger trotz der Eigenschaft als Aktenbestandteil nicht herauszugeben, sondern durch eine Kopie zu ersetzen, die als solche kenntlich zu machen ist. Es wird an mehreren Stellen in der Begründung zu § 32f StPO-E deutlich, dass der Gesetzgeber hilfsweise die Herausgabe einer Aktenkopie fordert. In der Gesetzesbegründung zu § 32 StPO deutet sich an, dass sachliche Beweismittel jedenfalls keine herauszugebenden Aktenbestandteile sind. Vor dem Hintergrund der Begründung zu § 32f StPO kann die entsprechende Begründungspassage zu § 32 StPO nur so verstanden werden, dass Beweisstücke, bei denen es sich um kopierfähige Informationsträger handelt, zwar Aktenbestandteile sind, hiervon aufgrund des Integritätsschutzes jedoch nur eine Kopie herauszugeben ist. Der Begriff „Beweisstück“ wurde im Vorhinein bereits umfassend ausgelegt. Weiter setzt § 32b Abs. 2 StPO einen Widmungsakt voraus. Bereits der Wortlaut lässt vermuten, dass dies jedoch nicht für die Einordnung eines Informationsträgers als Aktenbestandteil relevant sein soll. Nach dem Wortlaut ist das bewusste Speichern eines Informationsträgers in der e-Akte schließlich lediglich dafür maßgebend, wann dieser als „zu den Akten gebracht“ anzusehen ist. Dies

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

kann aus der Formulierung „sobald“ in § 32b Abs. 2 StPO herausgelesen werden. Bestätigt wird dies durch die diesbezügliche Begründung. Aus dieser ergibt sich, dass es dem Gesetzgeber hierbei um die Festsetzung des maßgeblichen Zeitpunktes für etwaige Fristen gegangen ist. Dass es für die Einordnung eines Informationsträgers als Aktenbestandteil bei elektronischer Aktenführung nunmehr eines entsprechenden Widmungsaktes bedürfen soll, ergibt sich aus der Begründung demgegenüber nicht. Wenn mit § 32b Abs. 2 StPO bezweckt worden wäre, dass ein Informationsträger erst durch einen entsprechenden Widmungsakt Aktenbestandteil werden kann, würde die Dogmatik des Aktenbegriffs an ganz entscheidender Stelle zwischen elektronischen und papiernen Akten divergieren. Da es äußerst naheliegt, dass eine solche Differenzierung in der Gesetzesbegründung jedenfalls Erwähnung gefunden hätte, wird der maßgebliche Zeitpunkt für etwaige Fristen der einzige von § 32b Abs. 2 StPO bezweckte Regelungsgehalt sein. Weitere von § 32b StPO verfolgte Regelungszwecke sind der Norm selbst, den Materialien zur Reform des Jahres 2018 und dem Regelungsgefüge der §§ 32 ff. StPO nicht zu entnehmen, sodass davon auszugehen ist, dass § 32b StPO nur die Festlegung des Fristenbeginns (vergleichbar § 130a Abs. 5 S. 1 ZPO) als Regelungszweck hat.1073 Entsprechendes gilt i. E. für das Verständnis von § 32a StPO. Hierin ist normiert, welchen Formvorgaben ein von den übrigen Personen eingereichtes elektronisches Dokument entsprechen muss. Der Begründung kann entnommen werden, dass es dem Gesetzgeber hierbei um die Wirksamkeit entsprechender Dokumente ging. Durch § 32a StPO sollten die Gerichte und Strafverfolgungsbehörden davor bewahrt werden, sich nahezu jedes verfügbare Programm beschaffen zu müssen, um alle Dateiformate wahrnehmbar machen zu können. Dass nur die formgerecht eingereichten elektronischen Dokumente als Aktenbestandteile anzusehen sind, ergibt sich weder aus dem Wortlaut von § 32a StPO noch aus den Materialien zur Reform des Jahres 2018 insgesamt. Im Gegenteil geht der Gesetzgeber in der Begründung zu § 32a StPO davon aus, dass elektronische Dokumente zur Akte zu nehmen sind. Aus Gründen der Aktenvollständigkeit soll dabei auch der Übermittlungsweg aktenkundig gemacht und die entsprechende Nachricht, mit der das elektronische Dokument eingereicht wurde, zu den Akten genommen werden und folglich Aktenbestandteil sein. Dieses Begriffsverständnis kommt auch in den §§ 32a Abs. 6, 32b Abs. 3, 32e Abs. 1, 3 S. 1, 32f Abs. 4 S. 2 StPO und der Begründung zu § 32f Abs. 4 S. 2 StPO zum Ausdruck. Eine näher in den Blick zu nehmende Vorschrift ist zudem § 32e StPO. Durch § 32e Abs. 1 S. 1 StPO sollte eine hybride Aktenführung ausdrücklich ausgeschlossen werden. Weiter ergibt sich aus der diesbezüglichen Begründung explizit, dass Ausgangsdokumente im Falle der entsprechenden Übertragung jedenfalls nicht herauszugebender Aktenbestandteil sein sollten. Dass als Beweismittel

1073

Siehe hierzu eingehend allg. Larenz, Methodenlehre, S. 331 f.

IV. Historie

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sichergestellte Ausgangsdokumente in die entsprechende Aktenform übertragen werden können (§ 32e Abs. 1 S. 2 StPO), ist eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers. Wenn nun eine hybride Aktenführung vom Gesetzgeber nicht intendiert war, hieße dies, dass die nicht übertragenen Beweismittel auch kein Aktenbestandteil sein sollten. Dies war jedoch ebenfalls nicht vom Gesetzgeber beabsichtigt. Zum einen wird deutlich, dass Ausgangsdokumente bis zu ihrer Übertragung herauszugebende Aktenbestandteile bleiben sollten. Zum anderen stellen Ausgangsdokumente, die zugleich als Beweismittel sichergestellt sind, Beweisstücke dar. Diese waren nach ursprünglicher Rechtsauffassung Aktenbestandteile, wovon aus Gründen des Integritätsschutzes ausnahmsweise nur Kopien herauszugeben sind. An diesem Begriffsverständnis sollte ausweislich der Materialien festgehalten werden, was sich auch an den in Kraft getretenen Regelungen in § 32e Abs. 4, 5 StPO zeigt. Lediglich die Ausgangsdokumente, die nicht als Beweismittel sichergestellt sind, sollten im Falle der Übertragung nicht mehr Aktenbestandteil sein. Dies ergibt sich bereits aus der Gesetzesbegründung zu § 32e StPO und lässt sich darüber hinaus eindeutig an § 32e Abs. 4 StPO festmachen. Da Ausgangsdokumente, die als Beweismittel sichergestellt worden sind, zugleich Beweisstücke darstellen und diese Beweisstücke Aktenbestandteile sind und mangels entgegenstehender Ausführungen in der Gesetzesbegründung auch im Falle der Übertragung Aktenbestandteil bleiben sollen, sind Ausgangsdokumente, die als Beweismittel sichergestellt sind, durchweg Aktenbestandteile. Die sonstigen Ausgangsdokumente sind demgegenüber lediglich bis zur Übertragung Aktenbestandteil. Entsprechendes muss für die von Gericht oder Strafverfolgungsbehörde erstellten elektronischen Dokumente (§ 32b StPO) und für die von sonstigen Personen eingereichten elektronischen Dokumente (§ 32a StPO) gelten. Sofern sie keine Ausgangsdokumente darstellen, sind sie unabhängig von ihrer (Form-)Wirksamkeit Aktenbestandteile; stellen sie Ausgangsdokumente dar, sind sie gem. § 32e Abs. 1 S. 1 StPO ebenfalls zu übertragen, sodass von diesem Zeitpunkt an nur noch das übertragene Dokument Aktenbestandteil ist. Die Übertragungspflicht bezieht sich ausweislich der Begründung schließlich ebenfalls auf elektronische Dokumente, sofern sie nicht dem elektronischen Aktenformat entsprechen oder die Akte papiern geführt wird. Elektronische Ausgangsdokumente bleiben wiederum auch nach der Übertragung Aktenbestandteil, sofern es sich hierbei um Beweisstücke handelt. Weiter hält der Gesetzgeber in der Begründung zu § 32f StPO-E an seiner Rechtsauffassung fest, nach der innerdienstliche Vorgänge nicht als Aktenbestandteile anzusehen sind. Dies soll insbesondere für justizinterne Fachsysteme gelten. Weiter verdeutlicht der Gesetzgeber in der Begründung zu § 32f StPO, dass die Akte von der aktenführenden Stelle bestmöglich aufzubereiten bzw. zu sortieren ist. Mit der jüngsten Reform von § 147 StPO wurden zudem die eigenständigen Informationsrechte des Beschuldigten erweitert. Einerseits besteht mit § 147 Abs. 4 StPO n. F. nunmehr ein eigenes Akteneinsichts- und Besichtigungsrecht

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

des (verteidigerlosen) Beschuldigten. Bei der elektronischen Akte steht dem eine etwaige Manipulationsgefahr nicht mehr entgegen, bei papiernen Akten wurde mit Blick auf Art. 6 EMRK ausweislich der Begründung zu § 147 StPO n. F. jedenfalls das Bereitstellen einer Aktenkopie für erforderlich gehalten. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich weiter, dass der zuvor eingefügte Vorbehalt, nach dem das Informationsrecht des Beschuldigten nur insoweit bestand, wie dessen Gewähren für eine angemessene Verteidigung erforderlich ist, bewusst nicht übernommen wurde. Aus der Begründung folgt zudem, dass Opferrechte, die in den Gesetzesmaterialien jedoch nicht näher konkretisiert wurden, der Einsicht im Einzelfall entgegenstehen können. Diese Aussage erging jedoch lediglich hinsichtlich des Einsichtsrechts des verteidigerlosen Beschuldigten; angedeutet wurden implizit „überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter“ i. S. v. § 147 Abs. 4 S. 1 StPO n. F. Die Persönlichkeitsrechte Dritter vermögen nach Auffassung des Gesetzgebers das Einsichtsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten hingegen nicht zu verkürzen. Es bestätigt sich in der Begründung zu § 147 StPO n. F. weiter, dass auch in der letzten Reform eine Manipulations- oder Missbrauchsgefahr durch das Gewähren von Einsicht an die Verteidiger grundsätzlich verneint wird. Auch die Wahrheitserforschungspflicht und die Persönlichkeitsrechte Dritter sind nach dem gesetzgeberischen Willen durch das Gewähren von umfassender Akteneinsicht an den Verteidiger nicht verletzt. Das Einsichtsrecht des Verteidigers soll nach der in der Gesetzesbegründung zu § 147 StPO n. F. zum Ausdruck gebrachten gesetzgeberischen Intention weitgehend uneingeschränkt gelten. § 32f StPO-E lag ausweislich der Materialien offenbar zunächst der Gedanke zugrunde, dass Schutzinteressen Dritter dem Gewähren von Einsicht grundsätzlich nicht entgegenstehen. Aus den Materialien zur (letztlich auch verabschiedeten) Ausschussfassung ergibt sich, dass der Einsicht entgegenstehende wichtige Gründe technische Hindernisse sein können; in Verschlusssachen oder sonstige besonders schutzbedürftige Akteninhalte soll jedoch ebenfalls keine Einsicht, zumindest nicht in den eigenen Räumlichkeiten, gewährt werden (können). Im Umkehrschluss ändert die Zugehörigkeit eines Informationsträgers zu einer Verschlusssache oder die Einordnung als besonders schützenswert nach Auffassung des Gesetzgebers folglich nichts daran, dass es sich hierbei um Aktenbestandteile handelt. Im Übrigen wird aus den Materialien zu den §§ 32 ff. StPO deutlich, dass der Regelungsgehalt dieses Abschnittes vordergründig in der technischen/organisatorischen Umstellung durch die Einführung der e-Akte zu sehen ist. Eine Änderung des zugrunde gelegten Aktenbegriffs ging hiermit nicht einher.

IV. Historie

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3. Die Reform des Jahres 2021 Jüngst wurden die allgemeinen Vorschriften zur elektronischen Aktenführung an ausgewählten Stellen reformiert. Dies betraf die §§ 32b Abs. 1 S. 2, 32e Abs. 3 S. 2, Abs. 4, 32f Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 2 StPO.1074 Aus den einschlägigen Gesetzesmaterialien lassen sich hinsichtlich des Aktenbegriffs jedoch keine weiteren Erkenntnisse gewinnen.1075

4. Fazit der historischen Auslegung Insgesamt lässt sich aus der historischen Untersuchung für den zugrunde gelegten Aktenbegriff Folgendes gewinnen: Der Gesetzgeber ging seit der Einführung von § 147 RStPO von einem umfassenden Aktenbegriff aus, der sich mit dem Aktenbegriff des § 199 Abs. 2 S. 2 StPO deckt. Mit der Einführung der § 32 ff. StPO demonstriert der Gesetzgeber, dass der strafprozessuale Aktenbegriff einheitlich weit zu verstehen ist. Auch in den gesamten Gesetzesmaterialien wird hinsichtlich des Aktenbegriffs nicht zwischen den jeweiligen Einsichtsberechtigten bzw. Anspruchsnormen unterschieden. Die Materialien zur Einführung des § 147 RStPO und des § 197 RStPO (als Vorgängernorm des § 199 Abs. 2 S. 2 StPO) verdeutlichen ein Aktenbegriffsverständnis, nach dem jedwedes Informationsmaterial, welches sich im Laufe des Ermittlungsverfahrens bei der Anklagebehörde angesammelt hat und mit dem Strafverfahren in einem thematischen Zusammenhang steht, Aktenbestandteil sein soll. Ein Aussonderungsrecht der Staatsanwaltschaft, das es erlaubt, von dem Ermittlungsmaterial nur einen ausgewählten Teil zu offenbaren, wurde vom Gesetzgeber in jeglicher Hinsicht abgelehnt. Die Verteidigung und auch das Gericht sollten zumindest denselben Informationsstand haben wie die Staatsanwaltschaft. Von der Akteneinsicht (und damit auch vom Aktenbegriff) ausgenommen sollten ausweislich der Gesetzesbegründung zur Reform des Jahres 1965 lediglich die Handakten der Staatsanwaltschaft und andere innerdienstliche Vorgänge sein. Justizinterne Fachsysteme unterliegen ausweislich der Gesetzesbegründung zu § 32f StPO ausdrücklich nicht der Akteneinsicht und werden vom Gesetzgeber damit auch nicht als Aktenbestandteile angesehen. Nach dem Willen des Gesetzgebers handelt es sich bei Akten um Informationsträger, wobei in bestimmten Fällen lediglich die Datei bzw. die Daten selbst den Aktenbestandteil darstellen sollen; justizinterne Fachsysteme dienen hingegen lediglich dazu, das jeweilige Informationsmaterial wahrnehmbar zu machen. Dass es sich bei Akten allgemein um Informationsträger im Original handelt, deutete sich bereits in den Materialien zur Einführung der RStPO an. Klarheit

1074 1075

BGBl. I, 2021, 2100. Vgl. insb. BT-Drs. 19/27654, 55 ff.

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

verschaffen – von der Ausgestaltung der StPO abgesehen – insoweit jedoch erst die Materialien zur Reform des Jahres 2018. Unter den Aktenbegriff fallen nach Auffassung des Gesetzgebers auch Beweisstücke i. S. d. § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. und § 147 Abs. 1 StPO. Insoweit sollte lediglich keine Übersendung stattfinden, wie es bis zur letzten Reform des Jahres 2018 auch in § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. geregelt war. Dieses Verständnis hinsichtlich des Beweisstückbegriffs legte der Gesetzgeber bei der Einführung von § 147 RStPO im Jahr 1879 zugrunde und bestätigt dies in der Begründung zum Reformgesetz des Jahres 1965. Hiervon hat sich der Gesetzgeber auch bei der Reform des Jahres 2018 nicht gelöst. Welche Informationsträger als Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO anzusehen sind, wurde anhand der Gesetzesmaterialien bereits innerhalb der systematischen Auslegung untersucht. Von Ausgangsdokumenten, die als Beweismittel sichergestellt worden sind, ist hilfsweise eine Kopie zu fertigen. Sofern diese Ausgangsdokumente gem. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO in die entsprechende Aktenform übertragen wurden, wird dem Recht, eine Beweisstückkopie zur Verfügung gestellt zu bekommen, jedoch durch die Einsicht in die Akte (samt des übertragenen Beweisstücks) ausreichend Rechnung getragen. Ausgangsdokumente sollen ausweislich der Gesetzesmaterialien zur Reform des Jahres 2018 unabhängig davon, ob sie als Beweismittel sichergestellt sind, im Falle der Übertragung „als solche“ nicht Aktenbestandteil sein; eine Analyse der gesamten Materialien zur Reform des Jahres 2018 und der Regelungssystematik in § 32e StPO verdeutlicht, dass der Gesetzgeber hiermit meint, dass Ausgangsdokumente, die nicht als Beweismittel sichergestellt sind, im Falle der Übertragung keine Aktenbestandteile mehr darstellen. Sofern das Ausgangsdokument hingegen als Beweismittel sichergestellt worden ist und damit zugleich ein Beweisstück i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO darstellt, bleibt das Ausgangsdokument nach entsprechender Übertragung Aktenbestandteil. Dies ist auch sinnvoll, da die als Beweismittel sichergestellten Ausgangsdokumente beoder entlastende Umstände enthalten werden, da sie ansonsten regelmäßig nicht als Beweismittel sichergestellt worden wären. Solche Dokumente müssen zu Beweisführungszwecken weiter zur Verfügung stehen. Dies gilt auch für entsprechende elektronische Dokumente, die nach den §§ 32a f. StPO eingereicht bzw. erstellt werden, unabhängig davon, ob das Dokument den dort normierten Formvorgaben genügt oder nicht. Dass der Gesetzgeber dem Recht der Verteidigung auf Akteneinsicht eine hohe Bedeutung beimisst, lässt sich den Materialien zur Einführung des § 147 RStPO, der Reform des Jahres 1975 und der Reform des Jahres 2000 entnehmen. Ferner kann den Materialien zu § 147 RStPO sowie zur Reform des Jahres 2000 entnommen werden, dass die Staatsanwaltschaft nach Auffassung des Gesetzgebers hinsichtlich dem Gewähren von Akteneinsicht nicht bzw. nicht abschließend alleine entscheiden können darf. Hinsichtlich des im Jahr 2000 eingeführten Rechts auf Erteilung von Auskünften bzw. Abschriften des verteidigerlosen Beschuldigten wurde davon ausgegangen, dass diesem Recht nicht nur eine Gefährdung des Untersuchungszwecks, sondern auch die Intimsphäre Dritter, der

V. Zusammenfassung der einfachgesetzlichen Untersuchung und Zwischenfazit 379

Schutz gefährdeter Zeugen sowie Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse als „überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter“ entgegenstehen können. Den Verteidigern als Rechtspflegeorganen bringt der Gesetzgeber ausdrücklich ein weitreichendes Vertrauen entgegen. Dass sich den Akten regelmäßig (und mitunter sensible) personenbezogene Daten Dritter entnehmen lassen können, soll ausweislich der Materialien zur Reform des Jahres 2018 auch dem eigenen Einsichtsund Besichtigungsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten nicht entgegenstehen. Insgesamt lässt sich demzufolge feststellen, dass der Gesetzgeber von einem strafprozessualen Aktenbegriff ausgeht, der jedenfalls das gesamte, im Zuge der Ermittlungen bei der Anklagebehörde angefallene Informationsmaterial umfasst. Lediglich bei der Frage, inwieweit den Rechteinhabern hierin Einsicht zu gewähren ist, können mit dem Einsichtsrecht kollidierende Gesichtspunkte Bedeutung gewinnen.

V. Zusammenfassung der einfachgesetzlichen Untersuchung und Zwischenfazit § 147 StPO bzw. der dieser Vorschrift zugrunde liegende Aktenbegriff wurde anhand des Wortlautes, der Systematik, der Teleologie und der Historie ausgelegt. Der Wortlaut von § 147 StPO lässt mehrere Deutungsvarianten zu. Die Regelungsabsicht des Gesetzgebers betreffend § 199 Abs. 2 S. 2 StPO, die bei objektivteleologischer bzw. systematischer Betrachtung auch heute noch Geltung beansprucht, gebietet einen umfassenden bzw. weitreichenden Aktenbegriff. Gleiches gilt für § 147 StPO. Im Rahmen der objektiv-teleologischen Betrachtung und der systematischen Auslegung des § 199 Abs. 2 S. 2 StPO und des § 147 StPO wurden unter anderem die Sachstrukturen der Normbereiche und die der StPO zugrundeliegenden Rechtsprinzipien aufgezeigt,1076 die ebenfalls für einen jeweils umfassenden Aktenbegriff streiten. Dem historisch ermittelten Gesetzeszweck der §§ 147 Abs. 1, 199 Abs. 2 S. 2 StPO den Vorzug zu gewähren, stehen die weiteren Auslegungskriterien folglich nicht entgegen,1077 im Gegenteil bestätigen sie die Annahme eines umfassenden Aktenbegriffs. Hierzu im Einzelnen: Zunächst wird zum Teil davon ausgegangen, dass der allgemeine Sprachgebrauch unter dem Begriff der Akten die originalen Informationsträger versteht, was bereits in § 147 Abs. 4 S. 2 StPO zum Ausdruck kommt. Der Sprachgebrauch hat sich über die Zeit insoweit gewandelt, als dass unter den Begriff der Akten heute auch digitale Informationsträger fallen können. Jeder Ansatz der eingangs dargestellten Auffassungen zum Aktenbegriff1078 ist dabei aber sowohl vom allgemeinen Sprachgebrauch als auch vom Wortlaut des § 147 StPO erfasst. In § 147

1076

Siehe hierzu allg. Larenz, Methodenlehre, S. 344. Eingehend hierzu allg. Larenz, Methodenlehre, S. 344. 1078 Siehe S. 97 ff.

1077

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

Abs. 1, Abs. 2 S. 1, Abs. 3 StPO deutet sich schon ohne weitere Erwägungen an, dass allen Verfahrensstadien ein gleicher Aktenbegriff zugrunde liegt. Innerhalb der systematischen Auslegung wurde zunächst der Abschnitt, in dem § 147 StPO normiert ist, näher untersucht. Hierbei wurde deutlich, dass dem Verteidigungsrecht im Allgemeinen und den §§ 147 f. StPO im Besonderen ein hoher Bedeutungsgehalt durch die StPO beigemessen wird. Dies zeigt sich auch an § 147 Abs. 2 S. 1, Abs. 6 StPO, aus dem der Grundsatz des – spätestens nach dem Ermittlungsabschluss geltenden – uneingeschränkten Akteneinsichtsrechts abgeleitet werden kann. Die Bedeutung des Akteneinsichtsrechts kommt auch in den §§ 114b Abs. 2 S. 1, 304 Abs. 4 StPO und insbesondere in den Materialien zu den Reformen der Jahre 1975 und 2000 zum Ausdruck. Ein Vergleich der §§ 147 Abs. 1, 32f Abs. 1, 2 StPO mit § 147 Abs. 4 StPO lässt erkennen, dass das Gesetz dem Verteidiger ein im Vergleich zum Beschuldigten weiterreichendes Akteneinsichtsrecht gewährt, woraus sich für den Umfang des Aktenbegriffs jedoch keine eindeutigen Rückschlüsse gewinnen lassen. § 58a Abs. 2 S. 3 StPO bestätigt, dass im Ausnahmefall auch Kopien als Aktenbestandteile gelten bzw. als solche behandelt werden können. Die Normgenese von § 58a StPO hat dieses Verständnis ebenfalls bestätigt, wobei nach dem gesetzgeberischen Willen die Original-Aufzeichnungen als Beweisstücke anzusehen sind. Welche Auswirkungen dieses Verständnis für den Aktenbegriff hat oder nach der gesetzgeberischen Normvorstellung haben soll, konnte aus den einschlägigen Gesetzesmaterialien nicht eindeutig ermittelt werden. Aus den §§ 32f Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 2, Abs. 5 S. 1, 58a Abs. 2 S. 3, S. 4, S. 6, Abs. 3 S. 1, 147 Abs. 4 S. 2, 385 Abs. 3 S. 3, 406e Abs. 3 S. 2, 478, 496 Abs. 1, 3, 498, 499 StPO und zahlreichen weiteren StPO-Normen lässt sich jedoch der Umkehrschluss ziehen, dass die Original-Informationsträger als Akten(-bestandteile) eingeordnet werden. Widerspiegeln tut sich dies – auch wenn die BORA innerhalb der Auslegung von § 147 StPO nicht berücksichtigungsfähig ist – ferner in § 19 Abs. 1 S. 1 und S. 4, Abs. 2 S. 1 BORA, aus dem sich ergibt, dass auch die Bundesrechtsanwaltskammer die originalen Informationsträger als Aktenbestandteile einordnet und Ablichtungen/Vervielfältigungen als Minus zur Akte ansieht. Der Gesetzgeber hat diese Rechtsauffassung in den Materialien zur Reform des Jahres 2018 ausdrücklich bestätigt. In der StPO wird folglich bewusst zum Ausdruck gebracht, dass die Akte eine Ansammlung von Informationsträgern bzw. Dateien/Daten im Original darstellt. Hierunter fallen auch die Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO. Dies deutet sich bereits in den jeweiligen Normen an, die ein Einsichts- und Besichtigungsrecht vorsehen. Eindeutig ergibt sich dies jedoch erst aus den Gesetzesbegründungen zur Einführung des § 147 RStPO, der Reform des Jahres 1965 und der jüngsten Reform aus dem Jahr 2018. Bestätigt wird dieses Begriffsverständnis auch durch eine Zusammenschau der §§ 58a Abs. 2 S. 3, Abs. 3 S. 1, 2, 136 Abs. 4 S. 3, 168e S. 4, 267 Abs. 1 S. 3, 247a Abs. 1 S. 5, 273 Abs. 2 S. 2, 3, 323 Abs. 2 S. 2 StPO und teilweise auch durch die diesbezüglichen Gesetzesmaterialien. Dass in bestimmten Konstellationen ausnahmsweise nicht der originale Informations-

V. Zusammenfassung der einfachgesetzlichen Untersuchung und Zwischenfazit 381

träger, sondern die Dateien oder Daten selbst Aktenbestandteile sein können, ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien zur Einführung der elektronischen Akte im Allgemeinen und zu den §§ 32a f., 32f, 273 Abs. 2 S. 2, 3 StPO im Speziellen und kommt auch im Wortlaut der §§ 32b Abs. 2, 3 S. 1, 58a Abs. 2 S. 3, Abs. 3 S. 1, 2, 273 Abs. 2 S. 2, 323 Abs. 2 S. 2 StPO und zudem in der amtlichen Überschrift des ersten Abschnittes des achten Buches der StPO zum Ausdruck. Beweismittel, die über die §§ 48 ff., 72 ff., 86, 249 ff. StPO in die Hauptverhandlung eingeführt werden können, stellen den Oberbegriff für Beweismittel des Strengbeweisverfahrens dar. Eine Beweismittelkategorie sind dabei die sachlichen Beweismittel, wovon die Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO wiederum eine Unterkategorie i. S. e. Teilmenge bilden. Sofern ein sachliches Beweismittel nach der herausgearbeiteten Definition nicht Beweisstück i. S. v. § 147 StPO ist, handelt es sich um die gem. § 214 Abs. 4 StPO herbeizuschaffenden Beweismittel. Die Materialien zur Reform des Jahres 2018, die Materialien zur Einführung und Reform des § 58a StPO, die §§ 273 Abs. 2 S. 2, 323 Abs. 2 S. 2 StPO und die Gesetzesbegründung zu den mittlerweile in § 273 Abs. 2 S. 2, 3 StPO normierten Regelungen verdeutlichen, dass jegliche Art von Aufzeichnungen Aktenbestandteile sein können. Aus Gründen des Integritätsschutzes ist Einsicht in eine hierfür zu erstellende oder ggfs. bereits erstellte Kopie zu gewähren, §§ 58a Abs. 2 S. 3, 136 Abs. 4 S. 3, 168e S. 4, 247a Abs. 1 S. 5, 273 Abs. 2 S. 3 StPO. Nach dem Willen des Gesetzgebers ist die Kopie der Aufzeichnung (oder eines sonstigen Beweisstücks) als eine solche kenntlich zu machen. Die Aktenkopie ist nach dem gesetzgeberischen Willen, wie er in den Materialien zur Reform des Jahres 2018 zum Ausdruck kommt und sich bereits in den Materialien zur Einführung und Reform von § 58a StPO in den Jahren 1998 und 2004 angedeutet hat, nicht Aktenbestandteil, sondern wird im Fall von Beweisstücken aus Gründen des Integritätsschutzes erstellt und lediglich wie ein Aktenbestandteil behandelt. Die Aktenkopie wird demzufolge im Wege der Akteneinsicht übersendet bzw. überlassen, wenngleich es sich nur um einen Aktenbestandteils-Ersatz handelt. Die StPO bringt dieses Begriffsverständnis auch in den §§ 32f Abs. 2 S. 2, 58a Abs. 2 S. 3, Abs. 3 S. 1, 147 Abs. 4 S. 2, 385 Abs. 3 S. 3, 406e Abs. 3 S. 2, 478 StPO zum Ausdruck. Hinsichtlich des Umganges mit den Beweisstücken unterscheidet sich § 199 Abs. 2 S. 2 StPO von den Akteneinsichtsrechten der Verfahrensbeteiligten dahingehend, dass dem Gericht die Beweisstücke im Original vorzulegen sind. Dies wird bereits deutlich, wenn man den Wortlaut des § 199 Abs. 2 S. 2 StPO mit den Vorschriften des Akteneinsichtsrechts vergleicht. Für die Beweisstücke ist in § 199 Abs. 2 S. 2 StPO eben keine Sonderregelung vorgesehen. Wie die §§ 214 Abs. 4, 221, 147 Abs. 5 S. 1, 480 Abs. 1 S. 1 StPO verdeutlichen, geht mit Beginn des Zwischenverfahrens die Verfahrensherrschaft und damit auch die Verantwortung für die Integrität der Akten (einschließlich der Beweisstücke) sowie Beweisgegenstände auf das Gericht über. Sofern das Überlassen von Beweisstücken in der StPO und den Gesetzesmaterialien zur Reform des Jahres 2018 auf den Aktenbestandteils-Ersatz beschränkt wurde und hinsichtlich des Original-Informa-

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

tionsträgers lediglich ein Besichtigungsrecht in den Diensträumen zu gewähren ist, betrifft dies nicht das Gericht, sondern die übrigen Verfahrensbeteiligten. Demzufolge sind die Beweisstücke auch nicht gem. § 214 Abs. 4 StPO herbeizuschaffen, da sie bereits gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegen sind. Eine Ausnahme ergibt sich bei genauer Betrachtung lediglich für diejenigen Dateien oder Daten, bei denen nicht der jeweilige Datenträger, sondern das Informationsmaterial selbst den Aktenbestandteil darstellt. Dieses Datenmaterial wird auf einen Datenträger oder in die entsprechende Aktenform (§ 32e Abs. 1 StPO) übertragen und hierüber dem Gericht zur Verfügung gestellt; hierbei würde die ursprüngliche Datei bzw. würden die ursprünglichen Daten jedoch im Original auf dem jeweiligen Server der Strafverfolgungsbehörde verbleiben, sodass es sich bei den dem Gericht vorgelegten Aktenbestandteilen streng genommen um eine Kopie handelt. Die schriftliche Protokollierung und deren Überlassung ist als weiteres Minus zur Überlassung der Akte und deren Einsicht/Überlassung anzusehen und nur im Ausnahmefall, wie etwa in § 58a Abs. 3 S. 1 StPO, vorgesehen. Die gesetzliche Ausgestaltung und die untersuchten Gesetzesmaterialien wurden zu einer abstrakten Definition zusammengeführt, was theoretisch Aktenbestandteil sein kann und inwieweit sich Beweisstücke von den übrigen Aktenbestandteilen unterscheiden. Nach hiesiger Untersuchung handelt es sich bei den in der StPO normierten Beweisstücken um Informationsträger, wobei es nur darauf ankommt, dass diese zur Wahrnehmung von Informationen oder Daten geeignet sind. In bestimmten Fällen sind auch die Dateien oder Daten selbst die Aktenbestandteile. Zudem muss das Informationsmaterial transportierbar und problemlos, inhaltlich originalgetreu kopierfähig sein. Im Gegensatz zu Aktenbestandteilen im Allgemeinen zeichnen sich Beweisstücke dadurch aus, dass im Falle eines Verlustes oder einer Beschädigung des Informationsmaterials Beweismittelverlust droht. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO steht dieser Definition für sog. Ausgangsdokumente nicht entgegen. Nach hiesiger Untersuchung eröffnet § 32e Abs. 1 S. 2 StPO lediglich dahingehend ein Ermessen, dass Ausgangsdokumente, die als Beweismittel sichergestellt worden sind – und damit Beweisstücke im vorbenannten Sinne darstellen –, alternativ zur Übersendung von Kopien an die Einsichtsberechtigten bzw. neben der Originalvorlage an das Gericht in die entsprechende Aktenform übertragen werden können. Denn ein Aussonderungsrecht, nach dem die Zuführung des im Zuge des Ermittlungsverfahrens angesammelten Informationsmaterials zur Akte in das staatsanwaltschaftliche Ermessen gestellt wird, widerspräche dem vermehrt in den untersuchten Gesetzesmaterialien und der StPO zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Willen. Dass ein eigenständiges Aussonderungsrecht der gesetzgeberischen Rechtsauffassung widerspricht, wird insbesondere in der Begründung zur Einführung des § 147 RStPO sowie zur Reform des Jahres 2000 deutlich. Die Begründung zu § 32e StPO bestätigt diese Sichtweise. Eine extensive Auslegung des § 32e Abs. 1 S. 2 StPO wäre für die dem Gericht vorzulegenden Akten auch nicht mit dem geltenden Grundsatz der Aktenwahrheit und -vollständigkeit, dem hinter dem Akku-

V. Zusammenfassung der einfachgesetzlichen Untersuchung und Zwischenfazit 383

sationsprinzip stehenden Gedanken, der im Wesentlichen in der Machtverringerung liegt, dem Gegenstand des Ermittlungsverfahrens – die vorläufige Verdachtsklärung – und dem Grundsatz der gegenseitigen staatlichen Überprüfung zu vereinbaren. Für die der Verteidigung offenzulegenden Akten widerspräche die ein weitergehendes Ermessen einräumende Lesart des § 32e Abs. 1 S. 2 StPO zudem der Funktion und Stellung des Verteidigers im Strafverfahren bzw. dem Zweck des § 147 StPO. Ausgangsdokumente stellen – da sie im Zuge des Ermittlungsverfahrens angesammeltes transportierbares, problemlos und inhaltlich originalgetreu kopierfähiges Informationsmaterial darstellen – im Lichte des Aktenvollständigkeitsgrundsatzes nach alledem ebenso Aktenbestandteile dar wie Beweisstücke. Die Ausgangsdokumente, die nicht als Beweismittel sichergestellt sind, sollen nach dem Willen des Gesetzgebers ab dem Zeitpunkt der Übertragung nicht mehr Aktenbestandteil sein. Ab dem Zeitpunkt der Übertragung stellen sie die einzigen Informationsmaterialien dar, die trotz der Eigenschaft als Original-Informationsmaterial nicht Aktenbestandteil sind. Entsprechendes gilt nach dem Willen des Gesetzgebers für elektronische Dokumente die gem. § 32a StPO eingereicht bzw. nach § 32b StPO erstellt worden sind. Bis zu ihrer Übertragung gelten elektronische Dokumente unabhängig von ihrer Formwirksamkeit als Aktenbestandteile. Die Übertragung gem. § 32e Abs. 1 StPO ändert an der Eigenschaft als Aktenbestandteil lediglich bei denjenigen Ausgangsdokumenten nichts, die als Beweismittel sichergestellt sind und damit zugleich Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO darstellen. Da der Gesetzgeber die übertragenen Dokumente als Aktenbestandteile ansieht, ist der Inhalt der Beweisstücke ab der Übertragung ebenfalls Aktenbestandteil. Entsprechendes gilt wiederum für Beweisstücke in Form von elektronischen Dokumenten i. S. d. §§ 32a f. StPO. Wenn ein Beweisstück gem. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO übertragen wurde, bleibt das Beweisstück also ebenso wie das übertragene Dokument Aktenbestandteil; die Einsicht erstreckt sich dabei auf das übertragene Dokument, wohingegen das Beweisstück lediglich besichtigt werden kann. Ist das Beweisstück nicht übertragen worden, ist hiervon eine Kopie zu fertigen, die sodann den Einsichtsberechtigten zur Verfügung zu stellen ist. In diesem Fall bleibt das Beweisstück wiederum Aktenbestandteil, lediglich die Beweisstückkopie wäre nicht Aktenbestandteil. Eine Überlassung der Beweisstückkopie wäre in dem Fall nicht erforderlich, wenn sich der Inhalt des Beweisstücks nach der Übertragung des Beweisstücks in den Akten befindet. Die vom Gesetzgeber vorgenommene Differenzierung ist mit dem Aktenvollständigkeitsgebot und der übrigen Ausgestaltung der StPO, insbesondere dem Telos der §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO, vereinbar. Bei Bedarf können die Original-Informationsträger, gleich ob nicht als Beweismittel sichergestelltes Ausgangsdokument oder als Beweisstück, besichtigt oder verlesen (§ 244 Abs. 5 S. 3 StPO) werden. Das Recht zur Besichtigung von nicht als Beweismittel sichergestellten Ausgangsdokumenten ergibt sich aus § 32e Abs. 5 StPO; das Besichtigungsrecht von als Beweismittel sichergestellten Ausgangsdokumenten bzw. Beweisstücken ergibt sich aus § 147 Abs. 1 StPO.

384

B. Einfachgesetzliche Auslegung

Aufgrund des im Strafverfahrensrecht geltenden Grundsatzes der Aktenwahrheit und -vollständigkeit hat die Unterscheidung zwischen Beweisstücken, die Aktenbestandteile sind und es auch bei entsprechender Übertragung nach § 32e Abs. 1 S. 2 StPO bleiben, und den übrigen sachlichen Beweismitteln, die nicht Aktenbestandteil sind und deshalb gem. § 214 Abs. 4 StPO herbeizuschaffen sind, keine große praktische Bedeutung. Jedenfalls bleiben den Akten die übrigen sachlichen Beweismittel nicht gänzlich entzogen. Denn der Grundsatz der Aktenwahrheit/-vollständigkeit erfordert es, durch die Aktenführung ein lückenloses Abbild unter anderem davon herzustellen, wie das Ermittlungsverfahren verlaufen ist. Insofern sind die übrigen sachlichen Beweismittel aus Transparenzgründen abzufotografieren, was den Strafverfolgungsbehörden regelmäßig möglich ist. Was die Frage eines Zuführungsaktes als Voraussetzung für die Einordnung als Aktenbestandteil betrifft, bieten die §§ 68, 101 Abs. 2 S. 1, Abs. 5 S. 1 StPO ebenso viel Auslegungsspielraum wie § 168a Abs. 6 S. 2 StPO. Auch § 32b StPO gibt eine solche Voraussetzung nicht eindeutig her. Denn mit § 32b StPO soll die Einordnung als Aktenbestandteil nicht von einem Widmungs-/Zuführungsakt abhängig gemacht werden; mit der Regelung sollte lediglich der Zeitpunkt für etwaige Fristenregelungen festgelegt werden, wie sich auch dem Wortlaut entnehmen lässt („sobald“). Nr. 111 Abs. 5 RiStBV, nach der für die Einordnung als Aktenbestandteil ein Widmungsakt der Staatsanwaltschaft erforderlich ist, kann als rein inneradministrativ wirkende Verwaltungsvorschrift i. R. d. systematischen Auslegung nicht berücksichtigt werden. Die Akten betreffenden Verordnungen, die insbesondere im Kontext der elektronischen Strafakte erlassen wurden, sind hinsichtlich des Aktenbegriffs einerseits nicht ausreichend aufschlussreich und andererseits innerhalb der Auslegung von § 147 StPO ebenfalls nicht berücksichtigungsfähig. Gegen die Voraussetzung eines etwaigen Zuführungsaktes spricht demgegenüber ein Vergleich mit § 275 Abs. 1 S. 1 StPO und § 273 Abs. 2 S. 2, S. 3 StPO. Zudem sprechen der Wille des historischen Gesetzesgebers bei der Entwicklung und Einführung des § 197 RStPO als Vorgängernorm zu § 199 Abs. 2 S. 2 StPO und die Begründung zur Einführung des § 147 RStPO gegen ein solches Begriffsverständnis. Der Gesetzgeber geht von einem einheitlichen Aktenbegriff aus, der seit der Einführung des § 147 RStPO bis heute jedenfalls das gesamte Informationsmaterial umfasst, das sich im Ermittlungsverfahren bei der anklagenden Staatsanwaltschaft angesammelt hat. Lediglich die staatsanwaltschaftlichen Handakten und innerdienstliche Vorgänge, zu denen nach dem Willen des Gesetzgebers explizit justizinterne Fachsysteme zählen sollen, werden vom Gesetzgeber nicht als Aktenbestandteile angesehen. Bei Handaktenbestandteilen handelt es sich jedenfalls in der Regel lediglich um Kopien bzw. Abschriften der Aktenbestandteile zur innerdienstlichen Vorbereitung des weiteren Verfahrensverlaufs, da nach dem gesetzgeberischen Willen zum herausgearbeiteten Aktenbegriff Aktenbestandteile die Informationsträger im Original sind. Auch stellen etwa justizinterne Fachsysteme nicht die im Zuge des Ermittlungsverfahrens an-

V. Zusammenfassung der einfachgesetzlichen Untersuchung und Zwischenfazit 385

gesammelten Informationsträger dar, sondern sie dienen lediglich zur Wahrnehmung ebenjener. Die einzige Ausnahme besteht seit der Einführung der elektronischen Akte im Strafverfahren für Ausgangsdokumente, die nicht als Beweismittel sichergestellt sind, sobald sie gem. § 32e Abs. 1 S. 1 StPO übertragen worden sind. Wie bereits erwähnt, kann sich eine weitere Ausnahme im Zusammenhang mit Dateien oder Daten ergeben, sofern lediglich das Datenmaterial selbst – und nicht der Datenträger – als Aktenbestandteil anzusehen ist. Neben dem Grundsatz der Aktenwahrheit/-vollständigkeit lassen auch die Ausführungen zu den Strafaktenbestandteilen, die originär nicht von der Staatsanwaltschaft geführt werden, für einen Zuführungsakt keinen Raum. Jedenfalls bei § 2 Nr. 1 S. 2 IFG oder § 46 Abs. 2 S. 2 BDSG a. F. zeigt sich, dass der Gesetzgeber in den §§ 147, 32f StPO und § 199 Abs. 2 S. 2 StPO bei der Notwendigkeit eines Zuführungsaktes für die Qualifikation als Aktenbestandteil eine andere Formulierung gewählt hätte. Weiter ergibt sich aus der vergleichbaren Formulierung in § 385 Abs. 3 S. 1 StPO, dass der Passus „vorzulegen wären“ in § 147 Abs. 1 StPO lediglich zeitlich-hypothetisch zu verstehen ist. In diese Formulierung ein Aussonderungsrecht der Staatsanwaltschaft hineinzulesen, wäre mit dem Regelungsgefüge des Privatklageverfahrens nicht zu vereinbaren. Nur bzgl. der sog. Beiakten legt § 480 Abs. 2 StPO nahe, dass es für die Qualifikation als Aktenbestandteil eines Zuführungs- bzw. Widmungsaktes bedarf; jedenfalls sollen durch die Beiziehung verfahrensfremder Akten diese nicht automatisch mit den Verfahrensakten „verschmelzen“. Insofern ist jeder Informationsträger, der mit dem Strafverfahren inhaltlich zusammenhängt, Bestandteil der vorzulegenden bzw. einzusehenden Akten. Beweisstücke werden jedoch nur in Kopie überlassen und Ausgangsdokumente werden ab der Übertragung lediglich in Form des übertragenen Dokumentes zur Akteneinsicht bereitgestellt. Auch kann es aus Gründen der Aktenwahrheit/-vollständigkeit für die Einordnung von Informationsträgern als Aktenbestandteil nicht maßgebend darauf ankommen, ob die Akten von der Staatsanwaltschaft oder einer besonderen (Polizei-)Behörde, wie etwa einer Zeugenschutzdienststelle, geführt werden. § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG steht dem nicht entgegen. Die Auslegung dieser Norm legt vielmehr nahe, dass auch Vorgänge eines Zeugenschutzprogrammes als vorzulegende/einzusehende Aktenbestandteile angesehen werden können und lediglich bei der Frage der Einsichtsgewährung zu prüfen ist, inwieweit in diese Akten eingesehen werden kann. Ebenso kann es sich mit Vorgängen verhalten, die gem. § 96 StPO gesperrt wurden. Entscheidend ist für die Einordnung außerstrafprozessualer Vorgänge als Strafverfahrensaktenbestandteil in jedem Fall, ob ein Zusammenhang mit dem Strafverfahren besteht und der Staatsanwaltschaft diese Vorgänge tatsächlich vorgelegt wurden. Die in hiesiger Untersuchung immer wieder als „inhaltlicher“ oder „thematischer“ Zusammenhang beschriebene Zugehörigkeit eines Informationsträgers zu einem Strafverfahren sollte anschließend anhand des einfachen Rechts näher konkretisiert werden. Anhaltspunkte lassen sich den Gesetzesmaterialien insbesondere zur Einführung von § 147 RStPO und dem Grundsatz der Aktenwahr-

386

B. Einfachgesetzliche Auslegung

heit/-vollständigkeit entnehmen. Erstere gebieten eine Beschränkung des Aktenbegriffs auf diejenigen Informationsträger, die der konkret anklagenden Behörde vorliegen oder vorlagen. Der inhaltliche Zusammenhang wurde anhand der außerstrafprozessualen Vorgänge und der Dogmatik zur prozessualen Tat zu konkretisieren versucht, woraus sich jedoch nur partielle Rückschlüsse gewinnen lassen. Als Mindestumfang der Vorlagepflicht zählt hiernach das gesamte Informationsmaterial zum verfahrensgegenständlichen Geschehensablauf i. S. d. prozessualen Tat. Dies bedeutet, dass sog. Spurenakten und die Vorgänge zu gem. § 154a Abs. 1 S. 1 StPO herausbeschränkten Tatteilen unter den in § 199 Abs. 2 S. 2 StPO normierten Aktenbegriff zu subsumieren sind. Gem. § 154 Abs. 1 S. 1 StPO eingestellte Taten stehen zu dem Strafverfahren jedenfalls dann in einem inhaltlichen Zusammenhang, wenn die angeklagte Tat die Bezugssanktion darstellt. Gem. §§ 153 ff. StPO (vorläufig) eingestellte Taten können zu einem anderen Strafverfahren theoretisch ebenfalls in thematischem Zusammenhang stehen. Die Objektivitätspflicht von Gericht und Staatsanwaltschaft ist als Argument für ein engeres Aktenbegriffsverständnis nicht tragfähig. Hieraus könnte zwar abgeleitet werden, dass man der Staatsanwaltschaft hinsichtlich der Aussonderung ein gewisses Vertrauen entgegenbringen sollte. Bereits der Umstand, dass es dennoch ein Recht gibt, jederzeit einen Verteidiger hinzuzuziehen, was das Gesetz unter Umständen sogar als notwendig ansieht, verdeutlicht, dass die Verteidigung bedeutend ist, um die für den Beschuldigten günstigen Aspekte geltend zu machen oder zu akzentuieren. Das Gesetz geht zwar von einer Objektivitätspflicht der Staatsanwaltschaft aus, jedoch kann hiermit keine Einschränkung des Rechts auf eigenständige und einseitige Verteidigung einhergehen, da das Hinzuziehen eines Verteidigers ansonsten überflüssig wäre bzw. seinen wesentlichen Zweck verlöre. Im Übrigen wird die Staatsanwaltschaft seit Einführung der RStPO jedenfalls nicht als äquivalenter Garant dafür angesehen, entlastende Umstände zu beachten und geltend zu machen. Im Übrigen hat die teleologische und systematische Auslegung des § 199 Abs. 2 S. 2 StPO ergeben, dass die StPO im Allgemeinen und der Regelungsabschnitt zum Zwischenverfahren im Besonderen gebietet, dem Gericht trotz der gehobenen Stellung der Staatsanwaltschaft das gesamte Ermittlungsmaterial mit der Anklageerhebung zu übersenden. Ein umfassender Aktenbegriff in § 199 Abs. 2 S. 2 StPO deutet sich nicht nur im Vergleich zu der Formulierung in den §§ 29 Abs. 1 S. 1 VwVfG, 25 Abs. 1 S. 1 SGB X an. Insbesondere der hinter dem Akkusationsprinzip stehende Gedanke der Machtverringerung, der Gegenstand des Ermittlungsverfahrens – die vorläufige Verdachtsklärung –, der Grundsatz der Aktenwahrheit/-vollständigkeit und der sich durch die StPO „wie ein roter Faden ziehende“ Grundsatz der gegenseitigen staatlichen Überprüfung/Kontrolle streiten für einen umfassenden Aktenbegriff. Zu einer den Ermittlungsverlauf lückenlos nachzeichnenden Akte müssen demzufolge auch Informationsträger, die einem Beweisverwertungsverbot unterliegen bzw. die sich auf unverwertbare Beweismittel inhaltlich beziehen, gehören. Im Übrigen können solche Informationsträger vom Gericht entlastend berücksichtigt werden und von der

V. Zusammenfassung der einfachgesetzlichen Untersuchung und Zwischenfazit 387

Verteidigung als Ansatz oder Untermauerung ihrer Verteidigungsstrategie bzw. ihres Vorbringens genutzt werden. Auf dieses Informationsmaterial bezieht sich der Aktenbegriff mit Blick auf die Verteidigung in § 147 Abs. 1 StPO ausdrücklich. Ein gespaltenes Aktenbegriffsverständnis hinsichtlich § 199 Abs. 2 S. 2 StPO einerseits und § 147 StPO andererseits findet weder in den entsprechenden Gesetzesmaterialien noch im jeweiligen Wortlaut Anhaltspunkte. Im Gegenteil belegen die Materialien zur Einführung des § 147 RStPO und den anschließenden Reformen, dass der Gesetzgeber jeweils einen umfassenden Aktenbegriff zugrunde legte. Der einzige Unterschied zwischen dem Informationsmaterial, das dem Gericht gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegen ist, und demjenigen, das gem. § 147 Abs. 1 StPO eingesehen werden kann, besteht darin, dass die Beweisstücke dem Gericht als Original-Informationsträger vorzulegen sind, wohingegen den Akteneinsichtsberechtigten aus Gründen des Integritätsschutzes lediglich eine inhaltsgleiche Kopie des Beweisstücks überlassen werden kann. Jedenfalls inhaltlich entspricht nach hiesiger Untersuchung jedoch das Informationsmaterial, das dem Gericht vorzulegen ist, demjenigen Informationsmaterial, welches der Einsicht der Verteidigung unterliegt. Dies ist mit dem Wortlaut des § 147 Abs. 1 StPO, nach dem der Verteidigung „die Akten, die dem Gericht vorliegen oder […] vorzulegen wären“, zu offenbaren sind, vereinbar. Denn jedenfalls inhaltlich entsprechen die Informationsträger, die der Einsicht der Verteidigung unterliegen, denjenigen, die dem Gericht vorliegen bzw. vorzulegen wären. Eine Ausnahme stellen Dateien oder Daten dar, die selbst Aktenbestandteile darstellen; diese werden auch dem Gericht lediglich in Kopie zur Verfügung gestellt. Gleichzeitig kann festgestellt werden, dass der Gesetzgeber bei der Einführung und Fortschreibung des § 147 StPO sowie des § 199 Abs. 2 S. 2 StPO in Bezug auf den Aktenbegriff nicht zwischen den Verfahrensstadien unterschieden hat. Jedenfalls die Funktion und Stellung des Verteidigers bzw. der Telos des § 147 StPO und der Grundsatz der Aktenwahrheit/-vollständigkeit gebieten es, den Aktenbegriff in allen Verfahrensstadien inhaltsgleich zu verstehen. Zudem bezieht sich § 147 Abs. 1 StPO auf die Akten, die der Vorlagepflicht des § 199 Abs. 2 S. 2 StPO unterliegen bzw. unterliegen würden. Ferner bezieht sich der Ermittlungsgegenstand i. S. v. § 160 StPO ebenfalls auf die Tat im prozessualen Sinne. Lediglich das Einsichtsrecht der Verteidigung unterscheidet sich bis zum Abschlussvermerk regelmäßig und richtigerweise im Vergleich zu den darauffolgenden Verfahrensstadien. Demzufolge umfasst der Aktenbegriff des § 147 StPO das gesamte Ermittlungsmaterial. Das Einsichtsrecht der Verteidigung bezieht sich expressis verbis auf die Akten, die dem Gericht vorliegen bzw. diesem vorzulegen wären. Dies soll nach der gesetzlichen Konzeption und dem gesetzgeberischen Willen das gesamte bei der Anklagebehörde angesammelte Ermittlungsmaterial umfassen, das mit der prozessualen Tat zusammenhängt, wobei von den Beweisstücken und bestimmten Dateien/Daten zum Zwecke der Einsichtsgewährung eine Kopie als Aktenbestandteils-Ersatz zu erstellen ist und Ausgangsdokumente im Übrigen

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B. Einfachgesetzliche Auslegung

ihre Eigenschaft als Aktenbestandteil verlieren, sobald sie übertragen worden sind. Vorgänge zu weiteren prozessualen Taten und außerstrafprozessuale Vorgänge können nach vorbenannter Maßgabe ebenfalls Strafverfahrensaktenbestandteile sein. Auch etwaige vom Gericht beigezogene Akten, die hiermit dem Gericht vorlägen, könnten vom Einsichtsrecht der Verteidigung umfasst sein. Insoweit bedarf es jedoch noch weiterer Untersuchung. Das vom Gesetzgeber geforderte weite Begriffsverständnis war möglicherweise auch der Grund, weshalb § 46 Abs. 2 BDSG a. F. nicht in das neue BDSG übernommen wurde. Aus datenschutzrechtlicher Sicht sind den Betroffenen weitgehende Informationsrechte zu gewähren, deren Wertung über § 500 Abs. 1 StPO auch auf § 147 StPO übertragen werden sollte. Die objektiv-teleologische Betrachtung entspricht im Wesentlichen den Ausführungen zur Funktion des Verteidigers und der im elften Abschnitt der StPO zum Ausdruck kommenden Bedeutung des Rechts auf Verteidigung bzw. Akteneinsicht. Auch deckt sie sich mit der historischen Auslegung des § 147 StPO anhand der jeweiligen Gesetzesmaterialien und der Ausgestaltung der StPO. Dem in § 147 StPO normierten Aktenbegriff das vollständige Ermittlungsmaterial zuzuschreiben, ergibt sich zum einen also aus der umfassenden Vorlagepflicht gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO und dem hierauf bezugnehmenden Wortlaut des § 147 Abs. 1 StPO; von § 199 Abs. 2 S. 2 StPO abgesehen, ergibt sich ein für die Verteidigung geltender weiter Aktenbegriff auch aus der übrigen Systematik, der Teleologie und der Historie des § 147 StPO.

C. Gewährleistungen aus der Verfassung und dem Völkerrecht sowie europarechtliche Vorgaben I. Verfassungsrecht Zu Beginn wurde der verfassungsrechtliche Rahmen, in dem sich § 147 StPO bewegt, im Allgemeinen herausgearbeitet. Hierauf aufbauend soll im Folgenden analysiert werden, inwieweit sich die bisherigen Erkenntnisse auch aus verfassungsrechtlicher Sicht bestätigen oder eben nicht. Gleichzeitig werden die zum Aktenbegriff vertretenen Auffassungen auf ihre Verfassungskonformität untersucht.

1. Das Fairnessgebot im Allgemeinen und die Rechtsschutzgarantie im Besonderen Wie bereits dargelegt, gewährleistet das Fairnessgebot, auch in der Ausprägung als Gehörsanspruch,1 im Kern die ausreichende Verteidigungsmöglichkeit gegen das Belastungsmaterial.2 Das Strafverfahren soll gerecht verlaufen, was voraussetzt, dass dem Beschuldigten die Gelegenheit gegeben werden muss, die Belastungspunkte auf fairer und kritischer Weise zu analysieren.3 Es soll gewährleistet sein, dass sich der Beschuldigte gegen das Belastungsmaterial ausreichend verteidigen und hierdurch auf den Verfahrensgang und das -ergebnis in effektiver Weise Einfluss nehmen kann.4 Die Wahrheit soll im Strafverfahren weitestgehend aufgeklärt werden, wozu das Bundesverfassungsgericht vermehrt aufgerufen hat.5 Beitragen soll hierzu auch die Einordnung des Beschuldigten als Subjekt des Strafverfahrens.6

1 2

Vgl. hierzu nur BVerfGE 38, 105, 111. Vgl. Mahler, Konfrontative Befragung, S. 1 ff.; BVerfGE 133, 168, 200; Oswald, JR 1979,

99 f. 3

Roxin/Schünemann, StPO, § 11, Rn. 7. Vgl. BVerfG NJW 1978, 151; BVerfGE 133, 168, 200; Mahler, Konfrontative Befragung, S. 1 ff.; Oswald JR 1979, 99 f. 5 Siehe nur BVerfGE 74, 358, 372; vgl. auch BVerfGE 38, 105, 111. 6 Eingehend BVerfGE 57, 250, 275; 63, 45, 61; 46, 202, 210. 4

390

C. Verfassungs-, Völker- und Europarecht

Zu dem den Beschuldigten an die Hand gegebenen „Mindestbestand an Mitwirkungsrechten“7 zählt auch das Recht auf Informationszugang.8 Dem Beschuldigten sind die jeweiligen Mitwirkungsrechte dann aber – sofern sie als zu diesem „Mindestbestand“ gehörig angesehen werden – weitgehend einzuräumen. Aus diesem Grund ist dem Beschuldigten bzw. seinem Verteidiger das gesamte verfahrensbezogene Tatsachen- und Beweismaterial zugänglich zu machen, das sich im Zuge eines Ermittlungsverfahrens angesammelt hat (bzw. noch im Fortgang ansammelt), sodass die Gelegenheit für eine ausreichende Ausübung der gesetzlich vorgeschriebenen Verteidigungsbefugnisse besteht.9 Da sowohl der Ermittlungs- als auch der Anklagegegenstand nach einfachem Recht die Tat im prozessualen Sinne ist, muss sich diese Pflicht sowohl (grundsätzlich) im Ermittlungsverfahren als auch im Zwischen-/Hauptverfahren zumindest auf alle Informationsträger erstrecken, die mit dem jeweiligen geschichtlichen Lebensvorgang inhaltlich zusammenhängen. Welcher Teil des Ermittlungsmaterials für die Ausübung der Verteidigungsrechte dienlich ist, kann nur die Verteidigung selbst beurteilen10 und als Verfahrenssubjekt muss auch nur sie darüber entscheiden dürfen. Ein irgendwie geartetes Aussonderungsrecht der Staatsanwaltschaft würde auch der Vorgabe aus dem Fairnessgebot, die Verteidigungsrechte möglichst ungestört zu gewähren,11 nicht gerecht werden. Insofern schließt das Gebot der Verfahrensfairness – soweit ersichtlich wird dieser Aspekt in diesem Zusammenhang noch nicht explizit angeführt12 – auch die Forderung ein, dass die Strafverfolgungsbehörden den Ermittlungsverlauf wahrheitsgetreu und vollständig in den Akten abbilden, etwa durch Aktenvermerke und Berichte.13 Der Grundsatz der Aktenwahrheit/-vollständigkeit ist mithin auch aus verfassungsrechtlicher Sicht einzuhalten, um ein faires Strafverfahren gewährleisten zu können. Der Verteidigung sind mithin die der Strafverfolgungsbehörde und im weiteren Verlauf dem Gericht vorliegenden Informationsträger zugänglich zu machen, soweit sie wiederum mit dem Strafverfahren inhaltlich zusammenhängen. Weiter ist von Verfassungswegen zu fordern, von sachlichen Beweismitteln entweder Kopien oder – sofern dies nicht möglich ist – zumindest Fotografieren zu erstellen, um diese der Verteidigung zugänglich zu machen.

7

Siehe BVerfG NJW 2004, 209, 211; BVerfGK 10, 125, 126. Hierzu BVerfGK 10, 125, 126; BVerfG NJW 2007, 204, 205; Mahler, Konfrontative Befragung, S. 1. 9 Vgl. auch BGHSt 36, 305, 309. 10 So auch Welp, FG Peters II, S. 310. 11 Siehe nur LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 108. 12 Soweit ersichtlich wird das Gebot der Aktenvollständigkeit bislang lediglich als Ausfluss des verfassungsrechtlichen Gehörsanspruchs angesehen, siehe bspw. Eisenberg NJW 1991, 1257, 1259. 13 Schneider Jura 1995, 337, 338 f. 8

I. Verfassungsrecht

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Unbeachtlich muss für die Annahme der entsprechenden Pflicht, der Verteidigung die Akten zur Verfügung zu stellen, ebenfalls sein, ob die aktenführende Stelle die Staatsanwaltschaft ist oder ob eine präventiv-polizeiliche oder gar eine „nicht-polizeilich“ handelnde Behörde die Vorgänge ablegt. Zu denken ist insbesondere an Akten gem. § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG oder Vorgänge anderer Behörden, für die gem. § 96 S. 1 StPO eine Verweigerung der Aktenvorlage erklärt werden kann. Es kann für die Pflicht, diese Vorgänge der Verteidigung zur Verfügung zu stellen, lediglich darauf ankommen, ob die Vorgänge in einem inhaltlichen Zusammenhang mit dem Strafverfahren stehen und der Staatsanwaltschaft diese Informationsträger tatsächlich zur Verfügung standen. Ansonsten hätte die Verteidigung nicht die Gelegenheit, sich gegen das Belastungsmaterial effektiv im vorbenannten Sinne zu verteidigen. Etwaige Informationsträger, die mit einem Strafverfahren inhaltlich zusammenhängen, der Staatsanwaltschaft während des Ermittlungsverfahrens jedoch nicht vorlagen, unterliegen aus verfassungsrechtlicher Sicht – unabhängig davon, ob es sich um strafprozessual oder außerstrafprozessual angelegte Vorgänge handelt – hingegen nicht der Einsicht bzw. dem Aktenbegriff aus § 147 StPO. Insoweit ist vielmehr der Aspekt einer unzureichenden Ermittlungstätigkeit der Staatsanwaltschaft betroffen. Falls etwaige außerstrafprozessuale Vorgänge ursprünglich keinen inhaltlichen Zusammenhang zum Strafverfahren aufgewiesen haben, der Staatsanwaltschaft im Zuge des Ermittlungsverfahrens aber dennoch zugeleitet wurden, gebietet es der Aktenvollständigkeitsgrundsatz aus verfassungsrechtlicher Sicht wiederum, nunmehr auch diese Vorgänge der Verteidigung zur Verfügung zu stellen. Bei der Frage, ob der Verteidigung in solche Vorgänge auch eine Einsicht gewährt werden kann, können Zeugenschutz- oder Staatswohlbelange ausnahmsweise jedoch bedeutend werden. Nur die Sichtung des vollständigen Informationsmaterials, das mit dem Ermittlungs-/Anklagegegenstand inhaltlich zusammenhängt, „[bietet] die größte Gewähr für die […] bestmögliche Verteidigung des Angeklagten und damit für ein gerechtes Urteil.“14 Auf die Verwertbarkeit etwaiger Informationsträger zulasten des Beschuldigten kann es für die Frage der Zugänglichmachung auch aus verfassungsrechtlicher Sicht mithin nicht ankommen. Zudem stehen die vorstehenden aus dem Fairnessgebot abgeleiteten Aspekte einer Beschränkung etwa auf den Ermittlungsstoff, der dem Gericht tatsächlich vorgelegt wurde oder der sich auf das jeweilige Verfahren und den Beschuldigten unmittelbar bezieht, entgegen. Gleiches hat für elektronische Dokumente i. S. d. §§ 32a f. StPO zu gelten. Das Ergebnis der hiesigen Untersuchung, nach dem die §§ 32a f. StPO dahingehend auszulegen sind, dass elektronische Dokumente unabhängig von den dort normierten Formvorgaben einzusehende Informationsträger darstellen, ist i. E. auch aus verfassungsrechtlicher Sicht erforderlich. Weiter geht mit den vorstehenden Gewährleistungen einher, dass die Verteidigung von Beweisstücken i. S.

14

BVerfGE 74, 358, 372.

392

C. Verfassungs-, Völker- und Europarecht

v. § 147 Abs. 1 StPO zumindest eine Kopie erhalten muss; auch für den Fall, dass es sich um sog. Ausgangsdokumente i. S. v. § 32e Abs. 1 StPO handelt. Die einfachgesetzliche Auslegung ist i. E. auch nach den allgemeinen Gewährleistungen des Fairnessgebots zwingend nötig. Ausgangsdokumente auch im Falle der Übertragung entgegen dem gesetzgeberischen Willen weiterhin als gleichrangige Informationsträger anzusehen, erfordern die allgemeinen Fairnessvorgaben indes nicht. Die Original-Informationsträger, auf denen neben den mit dem jeweiligen Strafverfahren inhaltlich zusammenhängenden Dateien oder Daten auch weiteres Informationsmaterial gespeichert ist, müssen aus verfassungsrechtlicher Sicht ebenfalls nicht vollständig als Aktenbestandteil angesehen werden. Mithin gebieten es schon die Vorgaben, die aus dem Fairnessgebot im Allgemeinen resultieren, eine Pflicht zur umfassenden Zurverfügungstellung des mit dem jeweiligen Strafverfahren thematisch zusammenhängenden und der Staatsanwaltschaft zur Verfügung stehenden Tatsachen- und Beweismaterials. Notwendig ist es nach den soeben dargelegten Maßstäben jedoch nicht, dem Gericht in jedem Fall das gesamte Ermittlungsmaterial vorzulegen; nachgerade kommt es zunächst nur darauf an, der Verteidigung dieses Informationsmaterial zur Verfügung zu stellen. Mit den vorstehenden verfassungsrechtlichen Forderungen vereinbar wäre demzufolge etwa auch ein gespaltenes Aktenbegriffsverständnis, nach dem der Aktenbegriff in § 147 StPO entsprechend weit und derjenige in den übrigen Vorschriften, etwa in § 199 Abs. 2 S. 2 StPO, enger interpretiert wird. Da Art. 19 Abs. 4 GG jedoch gewährleistet, dass das Gericht seiner Amtsaufklärungspflicht aufgrund einer umfassenden bzw. vollständigen Tatsachengrundlage nachkommt,15 ohne hierbei an die Bewertungen und Feststellungen eines Exekutivorgans gebunden zu sein,16 ist eine entsprechend umfassende Zurverfügungstellung des Informationsmaterials aber auch zugunsten der Gerichte verfassungsrechtlich angezeigt. Die Unabhängigkeit der Gerichte ist in Art. 97 Abs. 1 GG ausdrücklich normiert. Eine solche Unabhängigkeit wäre nicht gewährleistet, wenn das dem Gericht vorliegende Aktenmaterial von der Staatsanwaltschaft nach Verfahrensrelevanz selektiert würde. Insofern geht die Kognitionspflicht zudem auf Art. 97 GG zurück.17 Zwar schöpft das Strafgericht seine Überzeugung gem. § 261 StPO aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung, jedoch basiert die Beweisaufnahme letztlich auf den Erkenntnissen aus dem zur Verfügung gestellten Informationsmaterial.18 Im Übrigen entscheidet das Gericht zumindest im Zwischenverfahren zuvörderst auf der alleinigen Grundlage des von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Informationsmaterials.19 Da der Gegen15 Siehe hierzu nur v. Mangoldt/Klein/Starck-GG/Huber, Bd. 1, Art. 19, Rn. 508 m. w. N.; vgl. im Zshg. mit zurückgehaltenen Akten in einem Verwaltungsgerichtsverfahren: BVerfGE 101, 106, 121 ff. 16 Dreier-GG/Schulze-Fielitz, Bd. 1, Art. 19 IV, Rn. 116 m. w. N. 17 Eingehend MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, § 264, Rn. 35. 18 Eisenberg NJW 1991, 1257, 1259. 19 Siehe hierzu nur Rieß NStZ 1983, 247, 247: „Die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens (§§ 199 I 1, 203, 204 StPO) ist eine Entscheidung nach Lage der Akten.“

I. Verfassungsrecht

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stand der Urteilsfindung nach einfachem Recht die prozessuale Tat ist, muss sich hierauf auch die Gewährleistung aus Art. 19 Abs. 4 GG erstrecken. Insofern kann es auch für die Zurverfügungstellung des Informationsmaterials an das Gericht auf die Verwertbarkeit etwaiger Informationsträger nicht ankommen. Verteidigung und Gericht müssen etwaige Informationsträger – auch wenn sie zulasten des Beschuldigten nicht verwertet werden können oder sich inhaltlich auf zulasten des Beschuldigten unverwertbare Beweismittel beziehen – zur Kenntnis nehmen können. Die Verteidigung muss aus Fairnessgründen die Gelegenheit erhalten, aus unverwertbaren Beweismitteln entlastende Indizien fruchtbar zu machen. Um dem Gericht die Möglichkeit zu eröffnen, etwaige Beweismittel zumindest zugunsten des Angeklagten zu berücksichtigen, müssen auch dem Gericht derartige Informationsträger zugänglich gemacht werden. Die Erwägungen der dargestellten und vorzugswürdigen sog. Mühlenteichtheorie sind letztlich verfassungsrechtlicher Natur.20 Mit den vorstehenden Ausführungen wäre es im Ergebnis ebenfalls vereinbar, bestimmte Informationsträger nicht nur unter den Aktenbegriff, auf den sich das grundsätzliche Recht zum Aktenstudium in den eigenen Räumlichkeiten (vgl. §§ 147 Abs. 1, 32f Abs. 1, Abs. 2 S. 2 Var. 1, S. 3 StPO) bezieht, zu subsumieren, sondern sie zugleich auch als Beweisstück i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO anzusehen. Da dies jedoch voraussetzen würde, dass durch den Zugang zu dem Beweisstück eine ausreichende Verteidigung ermöglicht wird, könnte man zu dem verfassungsrechtlich zu fordernden Ergebnis nur dadurch gelangen, dass man das Besichtigungsrecht dieser Beweisstücke entsprechend weit versteht. Wie sich im weiteren Verlauf zeigen wird, sind die Vorgaben – unabhängig davon, dass Beweisstücke nach einfachgesetzlicher Auslegung ebenfalls Aktenbestandteile darstellen – jedoch zwingend bei der Auslegung des Aktenbegriffs zu berücksichtigen.

2. Das Waffengleichheitspostulat Weiter soll der Aktenbegriff zu dem verfassungsrechtlichen Waffengleichheitsgrundsatz in Beziehung gesetzt werden. Konkret lassen sich aus dem Waffengleichheitspostulat als besondere Ausprägung des Fairnessgebots folgende Gewährleistungen ableiten. Wie bereits erläutert, setzt eine weitgehende Wahrheitserforschung aus verfassungsrechtlicher Sicht ein weitestgehend kontradiktorisch ausgestaltetes Strafverfahren voraus.21 Dem wird das deutsche Strafverfahrensmodell bzw. die Struktur der StPO gerecht; das deutsche Strafverfahrensrecht zeugt von ausrei20 Auch Roxin/Schäfer/Widmaier, FS Strauda, S. 436, 440 f., 443 ff., begründen die Mühlenteichtheorie verfassungsrechtlich im Wesentlichen mit dem Fairnessgebot und dem Schuldund Rechtsstaatsprinzip; siehe auch Roxin StV 2009, 113, 114 f. 21 Vgl. Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 29; vgl. zur dialektischen Wahrheitsfindung und einer erforderlichen kontradiktorischen Prüfung: Beulke, Verteidiger, S. 40; in diesem Sinne wohl auch Safferling NStZ 2004, 181, 187.

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chend adversatorischen Elementen.22 Der Forderung nach ausreichender Kontradiktion steht die Objektivitätspflicht der Strafverfolgungsbehörde nicht entgegen, sondern sie mitbegründet die Forderung nach einem kontradiktorischen Strafverfahren vielmehr.23 Rein faktisch legt die StPO ein parteiliches Strafverfahren zugrunde.24 Die prozessualen Waffen der Verteidigung sind denjenigen der Anklagebehörde weitestgehend anzugleichen.25 Abweichungen können sich nur aus grundlegenden strukturellen Unterschieden beider Verfahrensbeteiligter, die eine Ungleichstellung erfordern, ergeben.26 Überträgt man diese verfassungsrechtliche Gewährleistung auf das zur Verfügung zu stellende Informationsmaterial, so ergibt sich Folgendes: Der Ermittlungsstoff und auch die außerstrafprozessualen, mit dem Strafverfahren inhaltlich zusammenhängenden, Vorgänge, genau genommen die Verfügbarkeit ebenjener, ist die prozessuale Waffe der Strafverfolgungsbehörde, um auf eine Eröffnung des Verfahrens und sodann auf die Verurteilung des Beschuldigten hinzuwirken. Spiegelbildlich können diese Informationsträger aber auch dazu dienen, den Verdacht zu entkräften oder zumindest abzuschwächen. Wollte man das Einsichtsrecht der Verteidigung bzw. den Aktenbegriff enger verstehen als nach dem bisherigen Untersuchungsergebnis der einfachgesetzlichen Auslegung von § 147 StPO, so würde dies mit einer Waffenungleichheit einhergehen, die sich nicht mit der Notwendigkeit der Ungleichstellung begründen lässt und damit aus verfassungsrechtlicher Sicht zu vermeiden ist. Der Staatsanwaltschaft obliegt im Gegensatz zum Beschuldigten bzw. Verteidiger die Verdachtsklärung; dieser strukturelle Unterschied rechtfertigt eine Ungleichstellung also grundsätzlich allenfalls im Ermittlungsverfahren, worauf bei der Frage der Einsichtsgewährung noch genauer einzugehen sein wird.27 Demgemäß ist es mit dem Waffengleichheitsgrundsatz ebenfalls unvereinbar, wenn die Verteidigung bestimmte Informationsträger nicht in eigenen Räumlichkeiten und unbeaufsichtigt analysieren kann, obwohl die Strafverfolgungsbehörde genau hierzu in der Lage ist oder war. Weiter muss aus Gründen der Waffengleichheit sämtliches Informationsmaterial, das der Strafverfolgungsbehörde in dem jeweiligen Ermittlungsverfahren zur Verfügung gestanden hat, notfalls als Duplikat, der Verteidigung in der soeben beschriebenen Weise zur Verfügung 22 Deutlich wird dies insb. bei den normierten „Gegnerschaften“, wie bspw. in §§ 246 Abs. 2, 303 S. 1, 368 Abs. 2 StPO. 23 Siehe eingehend Meyer, Dialektik, S. 50 ff.; Artkämper/Herrmann/Jakobs/Kruse, Aufgabenfelder, Rn. 24. 24 Vgl. Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 29 f., 54 f.; Meyer, Dialektik, S. 30, 43–45; Beulke, Verteidiger, S. 40. 25 Siehe BVerfGE 122, 248, 272, 275; vgl. auch BVerfGE 38, 105, 111; 63, 45, 61; LRStPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 117. 26 Vgl. BVerfGE 122, 248, 272, 275; 133, 168, 200; SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 107; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 145; Winter, Reform, S. 25 m. w. N. 27 Siehe S. 534 ff.

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gestellt werden.28 Der Waffengleichheitsgrundsatz erfordert wiederum nur die Einsicht in diejenigen Informationsträger, die der ermittelnden bzw. im weiteren Verlauf anklagenden Strafverfolgungsbehörde konkret zur Verfügung stehen oder standen. Das Auslegungsergebnis zu den §§ 32a f. StPO, nach dem bei der Strafverfolgungsbehörde eingereichte elektronische Dokumente unabhängig von ihrer Formwirksamkeit als einzusehende Informationsträger anzusehen sind, ist i. E. also auch zur Wahrung von Waffengleichheit angezeigt. Dass Ausgangsdokumente nach einfachgesetzlicher Auslegung im Falle der Übertragung gem. § 32e Abs. 1 StPO – mit Ausnahme der Beweisstücke – nicht mehr die einzusehenden Informationsträger darstellen, sondern an deren Stelle das übertragene Dokument tritt, ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Die allgemeinen Gewährleistungen aus dem Fairnessgebot und der Waffengleichheitsgrundsatz fordern lediglich, der Verteidigung einen umfassenden (und insbesondere denjenigen der Staatsanwaltschaft entsprechenden) Informationsumfang zu gewähren. Ob die Informationsträger bzw. die Dateien oder Daten das OriginalInformationsmaterial, eine originalgetreue Kopie oder ein originalgetreu übertragenes Dokument darstellen, ist insoweit nicht maßgebend. Die Auslegung von § 32e Abs. 1 S. 2 StPO, nach der als Beweismittel sichergestellte Ausgangsdokumente und damit Beweisstücke entweder in die entsprechende Aktenform zu übertragen sind oder zumindest eine Kopie hiervon zur Verfügung zu stellen ist, ist i. E. aus verfassungsrechtlicher Sicht jedoch zwingend notwendig. Wenn der in § 32e Abs. 1 S. 2 StPO normierte Ermessensspielraum dahingehend ausgelegt würde, dass die Staatsanwaltschaft entscheiden dürfte, ob der Inhalt der als Beweismittel sichergestellten Ausgangsdokumente in irgendeiner Form überhaupt der Einsicht der Verteidigung zugänglich gemacht wird, entstünde eine nach vorigen Ausführungen unberechtigte Waffenungleichheit. Wenn der Wortlaut von § 32e Abs. 1 S. 2 StPO und die Gesetzesbegründung keinen Auslegungsspielraum für die nach hiesiger Auffassung vorzugswürdige Lesart29 eingeräumt hätten, müsste § 32e Abs. 1 S. 2 StPO als verfassungswidrig angesehen werden.30 Ferner ist Ausdruck der Verfahrensfairness das Recht, sich eines Verteidigers zu bedienen.31 Konkret geht dieses Recht auf das Waffengleichheitspostulat zurück. 28 Siehe hierzu aus österreichischer verfassungsrechtlicher Sicht im Zshg. mit Bild-/Tonaufzeichnungen auch Zehetgruber JSt 2013, 110, 112 f., wonach neben dem Fairnessgebot auch der Gleichheitssatz eine Gleichbehandlung von digitalen Datenträgern und „konventionellen“ Aktenbestandteilen gebiete. 29 Siehe S. 212 ff. 30 In diesem Sinne wohl auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 232 a. E. 31 BVerfGE 66, 313, 318 f.; 68, 237, 255; vgl. auch BVerfGE 110, 226, 253 f.; siehe hierzu LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 137, Rn. 2 f. m. w. N.; z. T. wird dieses Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG abgeleitet, siehe hierzu die Nachweise bei Jahn a. a. O. Rn. 2; MüKo-StPO/Kämpfer/ Travers, Bd. 1, § 137, Rn. 4.

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„Die Mitwirkung eines Strafverteidigers, der dem Beschuldigten beratend zur Seite steht und für diesen die ihn entlastenden Umstände zu Gehör bringt, ist für die Herstellung von ,Waffengleichheit‘, abgesehen von einfach gelagerten Situationen, unentbehrlich […].“32

Durch den Verteidigerbeistand soll dem Beschuldigten eine größere Einflussmöglichkeit auf das Strafverfahren gesichert werden,33 die unabhängig von der Wahrung der Beschuldigtenrechte durch Gericht und Staatsanwaltschaft bestehen soll.34 Das Recht, sich eines Verteidigers zu bedienen, gehört nach Auffassung der höchstrichterlichen Rechtsprechung „zu den fundamentalen Attributen menschlicher Würde und zu den grundlegenden Prinzipien des Rechtsstaats.“35 Die herausgearbeitete Stellung und die Funktion des Verteidigers im Strafverfahren sind somit auch verfassungsrechtlich verankert. Die Funktionen des Verteidigers sind im Wesentlichen kontradiktorischer Natur. Sie beinhalten unter anderem, dass der Verteidiger gerade die von Gericht und Staatsanwaltschaft bislang unberücksichtigt gelassenen Entlastungsmomente zur Geltung bringen soll.36 Das Erfordernis eines Verteidigerbeistandes rührt aus der Annahme, dass die Objektivitätspflicht von Gericht und Staatsanwaltschaft zur Verteidigung des Beschuldigten nicht ausreicht bzw. kein gleich geeigneter Garant zur Berücksichtigung der entlastenden Aspekte ist. Die Befugnisse und Möglichkeiten zur Einflussnahme des Verteidigers müssen im Vergleich zur Staatsanwaltschaft deshalb gleichwertig ausgestaltet sein. Die Rechte des Verteidigers sind demgemäß weit auszulegen. Hiermit geht ein umfassender Informationsanspruch denknotwendig einher. Schließlich besteht die Aufgabe des Verteidigers ebenfalls darin, die Anklageschrift grundlegend in Frage zu stellen und die aus etwaigen Beweismitteln gezogenen inhaltlichen Schlüsse umfassend zu überprüfen, um hierdurch die angeklagte Tat (mit)aufzuklären. Hierzu kann der Verteidiger auch eigene Ermittlungen anstellen. Essentiell ist hierfür nicht nur ein klares Bild von dem gesamten Ermittlungsverlauf, sondern vielmehr eine erschöpfende Analyse des Informationsmaterials, das der anklagenden Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestanden hat und das mit dem jeweiligen Ermittlungsverfahren zusammenhängt.37 Nach Barton gehört es hierbei zur Pflicht des Verteidigers, die mit dem Strafverfahren inhaltlich zusammenhängenden Informationsträger kritisch zu studieren.38 Vor diesem Hintergrund können auch Informationsträger zu weiteren Taten im prozessualen Sinne der Zurverfügungstellungspflicht unterliegen, sofern sie mit einer anderen Tat inhaltlich zusammenhängen. 32

BVerfGE 110, 226, 253. Eingehend MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 137, Rn. 4. 34 Siehe BVerfGE 38, 105, 111; eingehend MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 137, Rn. 4. 35 BGH NJW 2007, 3010, 3012; siehe hierzu MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 137, Rn. 4 m. w. N. 36 So auch VerfGH Saarland NJW 2019, 2456, 2458 m. Anm. Krumm. 37 Siehe zum Vorstehenden S. 295 ff. 38 Siehe Barton, Mindeststandards, S. 327, 329 f. 33

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Hieraus folgt weiter, dass das einem anderen Strafverfahren entstammende Ermittlungsmaterial, aus dem sich erst ein Ermittlungsverfahren gegen einen anderen, neuen Beschuldigten ergeben hat oder Ermittlungsmaterial zu Ermittlungshandlungen, durch die sich der Verdacht einer Tatbegehung gegen andere Personen nicht erhärten ließ, aber nunmehr dem anderen, neuen Beschuldigen ebenjene Tatbegehung vorgeworfen wird, ebenfalls der Verteidigung zugänglich gemacht werden muss. Ein umfassendes Einsichtsrecht in solche sog. Spurenakten ergibt sich nicht nur aus dem auch aus dem Verfassungsrecht zu fordernden Gebot der Aktenwahrheit und -vollständigkeit oder den verfassungsrechtlich verbürgten Funktionen des Verteidigers.39 Ausschlaggebend ist aus dem Blickwinkel des Waffengleichheitspostulats vielmehr, dass die Staatsanwaltschaft letztlich das gesamte Informationsmaterial aus einem vorangegangenen Ermittlungsverfahren (bspw. gegen „A“) und dem Ermittlungsverfahren gegen bspw. „B“ bei der Abschlussentscheidung gem. § 170 StPO hinsichtlich des Ermittlungsverfahrens gegen „B“ dafür hätte verwenden können, eine Eröffnung des Verfahrens und eine Verurteilung gegen diesen zu erwirken. Umgekehrt könnte die Verteidigung des „B“ potentiell sowohl den Ermittlungsstoff, der ausschließlich in dem Ermittlungsverfahren gegen „B“ zu diesem Geschehensablauf entstanden ist, als auch das Informationsmaterial aus dem Ermittlungsverfahren gegen „A“ zur Verteidigung heranziehen, etwa durch das Aufzeigen von Alternativtätern.40 Insofern müssen aus Gründen der verfassungsrechtlich gewährleisteten Waffengleichheit auch solche Informationsträger zur Verfügung gestellt werden, die sich zwar nicht direkt auf den Beschuldigten beziehen, aber zumindest mittelbar durch die Identität des konkreten Ermittlungsgegenstandes (der prozessualen Tat) oder durch die Verfahrenshistorie mit dem Ermittlungsverfahren des Beschuldigten in einem sachlichen Konnex stehen. Insofern besteht auch ein verfassungsrechtliches Erfordernis dafür, sog. Spurenakten der Verteidigung zur Verfügung zu stellen,41 die der ermittelnden bzw. anklagenden Staatsanwaltschaft ebenfalls zur Verfügung standen. Weiter darf es auch aus Gründen der Waffengleichheit und den soeben aufgezeigten Funktionen des Verteidigers nicht darauf ankommen, welche Behörde die aktenführende Stelle ist, soweit der Staatsanwaltschaft diese Vorgänge zur Verfügung standen und sie inhaltlich mit dem jeweiligen Strafverfahren zusammenhängen. So kann es sich etwa mit den soeben bereits angesprochenen Vorgängen von Zeugenschutzdienststellen verhalten. Ob einer Einsichtnahme durch die Ver-

39 Siehe auch Wohlers/Schlegel NStZ 2010, 486, 489 ff.; vgl. auch Wasserburg NJW 1980, 2440, 2442 f. 40 So i. E. auch Beulke, FS Dünnebier, S. 291; eingehend zur in der Praxis zu beobachtenden vorschnellen Konzentrierung der Strafverfolgungsbehörden auf einen Verdächtigen und zum sog. Inertia-Effekt: Schlothauer StV 2016, 607, 608 m. w. N.; vgl. hierzu eingehend auch Gerson StraFo 2017, 402, 405 m. w. N. 41 So bspw. auch Wasserburg NJW 1980, 2440, 2442; vgl. i. E. auch Peters NStZ 1983, 275, 275 f.; Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 84.

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teidigung höherrangige Gründe entgegenstehen können, wird gesondert zu untersuchen sein.42 Nach Auffassung des ersten Strafsenats beim BGH gebietet es der Grundsatz der Waffengleichheit beispielsweise, dass die Verteidigung einen Sachverständigen zur Erstellung eines Gegengutachtens nicht nur beauftragen kann, sondern dieser Sachverständige dieselbe Möglichkeit haben muss, ein ausreichendes Gutachten zu erstatten, wie es der von der Staatsanwaltschaft bestellte Sachverständige hatte.43 Der dritte Strafsenat beim BGH stellte im Zusammenhang mit § 147 StPO heraus, dass die Rechte und Einflussmöglichkeiten der Verteidigung denen der Staatsanwaltschaft annähernd anzugleichen sind.44 Dem ist aus Gründen der Fairness und des hohen Stellenwerts des Waffengleichheitsgrundsatzes zuzustimmen. § 147 StPO ist eine einfachgesetzliche Ausprägung dieses Fairnessprinzips, insbesondere in Gestalt des Waffengleichheitspostulats, wodurch die gebotene „Parität des Wissens“45 zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft hergestellt werden soll.46 Der zweite Strafsenat beim BGH folgert hieraus, dass die Verteidigung auch über solches Tatsachenmaterial in Kenntnis gesetzt werden soll und ihr Zugang hierzu zu verschaffen ist, welches vom Tatgericht weder in be- noch in entlastendem Sinne als entscheidungserheblich angesehen worden ist.47 Es müsse dem Angeklagten und seinem Verteidiger überlassen bleiben, selbst einzuschätzen, ob das Material verteidigungsrelevant sei.48 Dem Senat kam es also darauf an, zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft weitgehende Waffengleichheit zu erzeugen. § 160 Abs. 2 StPO, nach dem die Staatsanwaltschaft zur Ermittlung aller be- und entlastenden Umstände verpflichtet ist, vermag hiernach an einem eigenen „Rechercherecht“ der Verteidigung richtigerweise nichts zu ändern. Es ist Parität von Wissen und Können herzustellen.49 Ein Gedanke, der durch den verfassungsrechtlichen Hintergrund des Verteidiger-Erfordernisses gestützt wird, denn trotz des Willens zur Objektivität können Entlastungsmomente über-

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Siehe S. 553 ff. Vgl. BGHSt 43, 171, 176. 44 BGHSt 18, 369, 371. 45 Diesen Begriff prägte in der Rechtswissenschaft soweit ersichtlich Welp, FG Peters II, S. 309; angesprochen wurde dieser Aspekt bereits im Gesetzgebungsverfahren zur Einführung der RStPO v. 1877: Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1233: „Die Beschlüsse der ersten Lesung hätten den Zweck, die Parität zwischen Staatsanwaltschaft und Vertheidigung herzustellen […].“ 46 BGHSt 36, 305, 309; Wohlers/Schlegel NStZ 2010, 486, 487; Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 21; LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 4; jeweils mit Verweis auf Welp, FG Peters II, S. 309. 47 BGHSt 36, 305, 309. 48 BGHSt 36, 305, 312; in diesem Sinne hinsichtl. § 100 VwGO auch schon BVerwGE 13, 187, 190; Marczak StraFo 2004, 373, 375, leitet dieses Informationsrecht aus der Fürsorgepflicht, als spezielle Ausprägung des Fairnessgebots, ab. 49 So auch Rzepka, Fairness, S. 455. 43

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sehen oder zumindest kann ihre Tragweite verkannt werden, sodass es der Möglichkeit eines kontrollierenden Verfahrensbeteiligten bedarf.50 Speziell zum Telekommunikationsüberwachungsmaterial sei der Verteidigung das gesamte Material derart zugänglich zu machen, sodass diese eine ausreichende Gelegenheit zur Verteidigung gegen den Schuldvorwurf erhalte.51 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts erfordert die Waffengleichheit ebenfalls, dass die Verteidigung ihre Rechte wirkungsvoll wahrnehmen kann.52 Der Verteidigung ist mithin auch vor diesem Hintergrund die gleiche Einwirkungschance einzuräumen, wie sie die Staatsanwaltschaft innehat oder innegehabt hat. Waffengleichgleichheit meint damit also letztlich Chancengleichheit.53 Das Gebot der Waffengleichheit kann in gewissen Bereichen sogar dazu führen, dass der Beschuldigte in der Hauptverhandlung im Vergleich zur Staatsanwaltschaft bessergestellt ist. Beispielsweise soll das Akteneinsichtsrecht der Verteidigung mit dem Abschluss der Ermittlungen grundsätzlich uneingeschränkt und unbeschränkbar gelten (§ 147 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 StPO),54 um der Verteidigung dieselben Einwirkungsmöglichkeiten zu eröffnen wie der Staatsanwaltschaft; die Verteidigung kann ihre Entlastungsbeweise demgegenüber auch erst im Laufe der Hauptverhandlung vorbringen und ist insoweit besser gestellt als die Staatsanwaltschaft.55 Bei dieser Auslegung der jeweiligen Bestimmungen zu den Verteidigerrechten, insbesondere von § 147 StPO, wird auch die eingangs dargestellte Bedingung berücksichtigt, nach der eine Waffengleichheit nur insoweit herzustellen ist, wie die Ungleichstellung der sich „gegenüberstehenden“ Verfahrensbeteiligten unterschiedliche Befugnisse nicht erfordert. Denn eine solche Erforderlichkeit kann sich zumindest im Grundsatz nur im Ermittlungsverfahren ergeben, da ein Informationsvorsprung der Strafverfolgungsbehörde in diesem Zeitraum mit Blick auf die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege in Gestalt des sog. Ermittlungsgeheimnisses verfassungsrechtlich geboten sein kann.56 Verfassungsrechtlich zu-

50 Siehe hierzu auch Roxin/Schünemann, StPO, § 19, Rn. 1; Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 29; vgl. auch Meyer, Akteninformationsrecht, S. 54; Winter, Reform, S. 20. 51 Vgl. BGHSt 36, 305, 311. 52 BVerfGE 110, 226, 253. 53 SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 107 m. w. N.; Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 25 m. w. N., relativiert das Erfordernis der Waffengleichheit durch das Postulat der Chancengleichheit; ähnlich Walischewski, Probleme, S. 23. 54 So beispielhaft auch BVerfGE 62, 338, 343. Auf diesen Aspekt wird an späterer Stelle noch gesondert eingegangen. 55 Zu diesem Beispiel: Roxin/Schünemann, StPO, § 11, Rn. 7; vgl. auch Beulke, Verteidiger, S. 38, mit weiterem Beispiel. 56 Vgl. Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 25 f.; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 39 ff.; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 148; Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 22; SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 109; M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 29 f.; vgl. zum Ermittlungsgeheimnis: BVerfG NJW 1984, 1451 f.; BVerfG NStZ-RR 1998, 108, 109.

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lässig wäre es nach zuvor Gesagtem also etwa, im Ermittlungsverfahren, soweit erforderlich, einen engeren Aktenbegriff und spätestens nach Ermittlungsabschluss einen entsprechend umfassenden Aktenbegriff zugrunde zu legen. Wie bereits angedeutet, wird sich noch zeigen, dass entgegenstehende Aspekte auch aus verfassungsrechtlicher Sicht erst bei der Frage der Einsichtsgewährung relevant werden können. Das Beschleunigungsgebot kann den Anspruch auf Zugang zu dem Ermittlungsmaterial aufgrund des hohen Gewichts von Fairnessgebot bzw. Waffengleichheitsgebot nur ausnahmsweise und lediglich zeitweilig beschränken. Grundrechtspositionen Dritter vermögen den verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf Zugang zu dem gesamten Ermittlungsmaterial mit Blick auf die Erforderlichkeit für eine wirksame und effektive Verteidigung hingegen grundsätzlich nicht einzuschränken.57 Eine extensiv ausgestaltete Beschränkungsmöglichkeit der Akteneinsicht wäre mit der verfassungsrechtlich verankerten Funktion der Verteidigung und der Stellung des Verteidigers im Strafverfahren nicht vereinbar. Um der Gewichtigkeit der eingangs in Bezug genommenen staatlichen Geheimhaltungsinteressen, dem Schutz von Leib und Leben und (ausnahmsweise) dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht Dritter gerecht zu werden, ist hiervon im Wege der praktischen Konkordanz allenfalls für den Fall, dass eine Alternative nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden kann, um diese Interessen zu schützen, eine Ausnahme zu machen. Inwieweit solche Einschränkungen rechtlich zulässig sind, wird im Zusammenhang mit der Einsichtsgewährung gesondert untersucht. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der Grundsatz der Waffengleichheit nur aus Sicht der Verteidigung und in Bezug auf das Informationsmaterial, das der Strafverfolgungsbehörde in dem Verfahren zur Verfügung gestanden hat, Anwendung findet – das Waffengleichheitspostulat gilt nicht im Verhältnis von Verteidigung und Gericht.58 Mit dem Gedanken der Waffengleichheit lässt sich ein weiter Aktenbegriff also allenfalls für § 147 Abs. 1 StPO begründen. Aus den allgemeinen Fairnessvorgaben, zu denen insbesondere eine vollständige und wahrheitsgetreue Sammlung der Informationsträger und das Recht auf eine effektive Teilhabe am Strafverfahren zählen, ergibt sich jedoch, dass etwaige vom Gericht erstellte oder dem Gericht zugeleitete Informationsträger ebenfalls der Verteidigung zur Verfügung zu stellen sind.

3. Der Gehörsanspruch aus Art. 103 Abs. 1 GG Nachfolgend werden die speziellen Forderungen aus Art. 103 Abs. 1 GG aufgezeigt, dessen Gewährleistungsgehalt sich gleichsam aus dem allgemeinen Fairnessgebot herleiten lässt. 57 Inwieweit hiervon Ausnahmen geboten sind, wird i. R. d. Einsichtsgewährung gesondert untersucht. 58 BVerfGE 122, 248, 275.

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Vom Bundesverfassungsgericht als „prozessuale[s] Urrecht des Menschen“59 beschrieben, wird das verfassungsrechtliche Gewicht des Gehörsanspruchs durch die ausdrückliche Erwähnung in Art. 103 Abs. 1 GG unterstrichen. Diesem hohen Stellenwert wird ein eingeschränkter Informationszugang im gerichtlichen/richterlichen Verfahren nicht gerecht. Lediglich im Ermittlungsverfahren stünde Art. 103 Abs. 1 GG mangels Anwendbarkeit einem eingeschränkten Informationszugang nicht entgegen, hierbei jedoch nur solange, wie ein Ermittlungsrichter in das Verfahren nicht eingebunden wird. Da der Gehörsanspruch jedoch in gleicher Weise auch aus dem Gebot der Verfahrensfairness folgt,60 ist eine fragmentarische Informationsgewährung auch im „rein staatsanwaltschaftlich“ geführten Ermittlungsverfahren mit den Vorwirkungen des Äußerungsrechts bzw. des Gehörsanspruchs (von der Zurückhaltung insbesondere aufgrund anzunehmender Untersuchungszweckgefährdung abgesehen) nicht vereinbar. Die Wirkkraft des Gehörsanspruchs setzt einen Informationszugang also notwendig voraus.61 Hierbei handelt es sich um eine „Vorwirkung“ von Art. 103 Abs. 1 GG.62 Die Beweisaufnahme im Hauptverfahren orientiert sich (zumindest auch) an dem Aktenstoff, wenngleich das Gericht das Ergebnis der Beweisaufnahme gem. § 261 StPO aus dem Inbegriff der Verhandlung schöpft.63 Um auf den Gang des gerichtlichen Verfahrens selbstbestimmt Einfluss nehmen zu können, muss der Verteidigung das gesamte Ermittlungsmaterial zur Verfügung gestellt werden. Ansonsten leidet der Kern von Art. 103 Abs. 1 GG, das Äußerungsrecht vor Gericht,64 an der unzureichenden Möglichkeit zur Vorbereitung.65 Insofern sind zunächst alle dem Gericht vorliegenden Informationsträger der Verteidigung zugänglich zu machen. Aber auch unabhängig von dem Informationsstand des Gerichts sind der Verteidigung jegliche Informationsträger zugänglich zu machen, die mit dem Strafverfahren inhaltlich zusammenhängen und der anklagenden Staatsanwaltschaft vorlagen. Ansonsten wären die Einflussmöglichkeiten der Verteidigung fremdund nicht selbstbestimmt im vorbenannten Sinne, was dem hohen Gewährleis-

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BVerfGE 55, 1, 6; BVerfGK 7, 205, 210. Ähnlich Dahs, Gehör, S. 70 f.; vgl. auch Rieß, FS Rebmann, S. 395. 61 Siehe BVerfGK 3, 197, 204; vgl. auch SK-StPO/Wohlers, Bd. 1, Einl., Rn. 65 m. w. N. 62 Siehe MüKo-StPO/Kudlich, Bd. 1, Einl., Rn. 70; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 21 f.; vgl. auch B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 131; Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 15. 63 Eingehend Hamm, FG Peters, S. 169 f. 64 Vgl. Meyer, Akteninformationsrecht, S. 22; vgl. auch B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 133. 65 Ähnlich Kempf StraFo 2004, 299, 302: „Voraussetzung für seine Stellungnahme ist […] Information über den Tatvorwurf und Kenntnis der Beweismittel, die von der einen Seite zur Sachverhaltskonstruktion herangezogen werden. Eben darin liegt der materielle Gehalt des Grundsatzes audiatur et altera pars.“ 60

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tungsgehalt des Gehörsanspruches nicht gerecht werden würde.66 Insofern gebietet es auch Art. 103 Abs. 1 GG, dem Verteidiger insbesondere etwaige sog. Spurenakten zur Verfügung zu stellen.67 Aus dem Gehörsanspruch lässt sich ferner ableiten, dass von Beweisstücken i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO hilfsweise Kopien zu übersenden sind. Schließlich handelt es sich hierbei ebenfalls um Ermittlungsmaterial, das die Verteidigung zur Vorbereitung auf die Einflussnahme auf das Verfahren verwenden kann. Ebenso wie aus dem Fairnessgrundsatz folgen auch aus Art. 103 Abs. 1 GG insoweit keine konkreten Vorgaben zur Art und Weise der Informations- bzw. Gehörsgewährung.68

II. Einfluss der verfassungsrechtlichen Vorgaben auf das einfache Recht Da es aus verfassungsrechtlicher Sicht lediglich darauf ankommt, ob den Verfassungsvorgaben im Ergebnis entsprochen wird, ist zu erörtern, auf welche Weise die Gewährleistungen ins einfache Recht einfließen können. § 147 StPO stellt nicht nur das Kernstück des Rechts auf Verteidigung dar.69 § 147 StPO ist darüber hinaus als einfachgesetzliche Ausprägung des Anspruchs des Beschuldigten auf materielle Beweisteilhabe zu verstehen, der wiederum aus der Subjektstellung des Beschuldigten folgt.70 Da das deutsche Strafverfahrensrecht einen Informationszugang zu Verteidigungszwecken lediglich in Form der Akteneinsicht gewährt und ihm andere Institute zum Zwecke des Informationszuganges fremd sind, könnte eine ausreichende Verteidigungsvorbereitung über eine entsprechende Auslegung von § 147 StPO gewährleistet werden. Es fragt sich nun, an welchem dogmatischen Anknüpfungspunkt die aufgezeigten verfassungsrechtlichen Vorgaben festgemacht werden könnten bzw. ob diese auch aus verfassungsrechtlicher Sicht notwendig über eine verfassungskonforme Auslegung des Aktenbegriffs umzusetzen sind.

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So auch Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 81; siehe auch Beulke, FS Dünnebier, S. 293 f. So auch Wasserburg NJW 1980, 2440, 2441 f. 68 Siehe BVerfGE 6, 19, 20; 31, 364, 370; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 130. 69 So auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 1 m. z. N.; Schneider Jura 1995, 337, 337; Schröder, Akteneinsicht im Spannungsfeld, S. 125; Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 71. 70 Siehe hierzu BVerfGK 10, 125, 126; BVerfG NJW 2007, 204, 205; siehe auch LRStPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 4; ähnlich Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 19; Schröder, Akteneinsicht im Spannungsfeld, S. 146. 67

II. Einfluss der verfassungsrechtlichen Vorgaben auf das einfache Recht

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1. Die Spurenakten-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als Ausgangspunkt Wie bereits ausgeführt, geht ein Teil im Schrifttum unter Hinweis auf die Spurenakten-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts davon aus, dass ein aus Art. 103 Abs. 1 GG abgeleitetes Informationsrecht sich nicht auf solche Informationen erstrecke, die dem Gericht nicht vorlägen.71 In der Konsequenz wird dies in der Literatur auch unter Berücksichtigung des Fairnessgebots vertreten.72 Richtig ist hierbei, dass das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung eine sich aus Art. 103 Abs. 1 GG ergebende gerichtliche Pflicht, sich und den übrigen Verfahrensbeteiligten die dem Gericht nicht vorliegenden Informationen zu verschaffen, verneint hat73 und demgemäß keinen Anspruch auf Erweiterung des dem Gericht vorliegenden Aktenbestandes aus Art. 103 Abs. 1 GG ableiten wollte.74 Diese Rechtsauffassung vertritt das Bundesverfassungsgericht auch in nachfolgenden Entscheidungen.75 Nichts anderes ergebe sich nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in der Spurenakten-Entscheidung aus dem Fairnessgebot.76 En bloc kann dem zunächst auch nicht widersprochen werden, da eine Erweiterung des gerichtlichen Aktenbestandes nach zuvor Gesagtem lediglich im Zuge der Wahrheitsermittlungspflicht verfassungsrechtlich geboten sein kann (Art. 19 Abs. 4, 97 GG, einfachgesetzlich konkretisiert in § 244 Abs. 2 StPO) und eine Pflicht zur Beiziehung weiterer Akten jedenfalls nicht ohne Weiteres aus dem Fairnessgebot abzuleiten ist. Art. 103 Abs. 1 GG gebietet nach hiesiger Auffassung eine umfassende Informationsgewährung wiederum lediglich zugunsten der Verteidigung. Entgegen der soeben in Bezug genommenen Auffassungen in der Literatur muss allerdings konstatiert werden, dass, wie sogleich dargelegt wird, in der in Bezug genommenen Spurenakten-Entscheidung zum Ausdruck gebracht wird, dass alles gegen den Beschuldigten für das jeweilige Verfahren gesammelte Material grundsätzlich dem Einsichtsrecht der Verteidigung unterliegt. Das Bundesverfassungsgericht bringt in dieser Entscheidung zum Ausdruck, dass außerhalb des Ermittlungsverfahrens gegen den Beschuldigten, aber mit dem Verfahrensgegenstand zusammenhängendes, angesammeltes Ermittlungsmaterial dem Beschuldigten bzw. seinem Verteidiger im Grundsatz sehr wohl zugänglich gemacht werden muss. 71 Siehe SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 91; MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 1; v. Mangoldt/Klein/Starck-GG/Nolte/Aust, Bd. 3, Art. 103, Rn. 32, verweisen neben der sog. Spurenakten-Entscheidung des BVerfG zudem auf BVerfGE 109, 13, 38. 72 Siehe etwa MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 1; siehe i. E. auch B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 194 f. 73 BVerfGE 63, 45, 59 f. 74 BVerfGE 63, 45, 60. 75 Vgl. zuletzt BVerfG NZV 2021, 41, 45 m. Anm. Krenberger; siehe auch BVerfGE 109, 13, 38; BVerfG, Beschl. v. 11.01.2002 – 2 BvR 1328/00, juris; vgl. i. E. auch schon BVerfGE 18, 399, 405 f. 76 BVerfGE 63, 45, 60 ff.

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Die Einschränkung, dass nur diejenigen Akten, die dem Gericht tatsächlich vorgelegt wurden, als Akten i. S. v. § 147 StPO anzusehen seien, bezog sich zunächst lediglich auf sog. Spurenakten. Diese sog. Spurenakten wurden zwar für den verfahrensgegenständlichen geschichtlichen Lebensvorgang, jedoch nicht im Verfahren gegen den Beschuldigten, sondern eben in einem gegen Dritte tatbezogen geführt.77 Nur in Bezug auf solches Informationsmaterial erachtet das Bundesverfassungsgericht es aus verfassungsrechtlicher Sicht grundsätzlich als ausreichend, dass diese Informationen lediglich dann als Akten anzusehen sind, wenn diese dem Gericht tatsächlich vorliegen. In der Entscheidung heißt es: „Das Recht auf Akteneinsicht umschließt die vollständigen Akten, die dem Gericht vorliegen oder ihm im Falle der Erhebung der Anklage nach § 199 Abs. 2 S. 2 StPO von der Staatsanwaltschaft vorzulegen wären. […] Akten in diesem Sinne umfassen nach der den angegriffenen Entscheidungen zugrunde liegenden Ansicht von Landgericht und Bundesgerichtshof sämtliche vom ersten Zugriff der Polizei (§ 163 StPO) an gesammelten be- und entlastenden Vorgänge, die im Rahmen der Ermittlungen gegen den Beschuldigten entstanden sind, sowie herangezogene Beiakten. Spurenakten, in denen tatbezogene Untersuchungen gegen Dritte und deren Ergebnisse festgehalten wurden, gehören danach nicht notwendig zu den Hauptakten, weil sie außerhalb der Ermittlungen gegen den Beschuldigten entstanden sind; sie müssen dem Gericht nur dann vorgelegt und damit der Einsicht des Verteidigers zugänglich gemacht werden, wenn ihr Inhalt für die Feststellung der dem Beschuldigten vorgeworfenen Tat und für etwaige gegen ihn zu verhängende Rechtsfolgen von irgendeiner Bedeutung sein kann.“78

Den Hintergrund dieses Begriffsverständnisses bringt das Bundesverfassungsgericht ebenfalls zum Ausdruck. Es rechtfertigt sein Begriffsverständnis nämlich damit, dass der Verteidigung die Stellung eines Beweisantrages, hilfsweise eines Beweisermittlungsantrages oder einer Beweisanregung, möglich ist, um hierdurch anzuregen, dass das Gericht die bislang von der Staatsanwaltschaft nicht vorgelegten Spurenakten von der Staatsanwaltschaft anfordert, sodass diese Informationsträger auch der Akteneinsicht der Verteidigung zugänglich werden (können).79 Hierbei weist das Gericht explizit auf die §§ 219 Abs. 1 S. 1, 244 Abs. 3 StPO hin.80 Im Übrigen könne der Beschuldigte respektive sein Verteidiger Einsicht in die dem Gericht nicht vorliegenden Spurenakten bei der Staatsanwaltschaft selbstständig (und losgelöst von § 147 StPO)81 beantragen und bei Verweigerung seitens der Staatsanwaltschaft die Herausgabe gem. §§ 23 ff. EGGVG im Klagewege begehren.82 Hierbei reiche die bloße Geltendmachung, dass der Beschuldigte die von Staatsanwaltschaft oder Gericht angenommene Verfahrens-

77

Vgl. BVerfGE 63, 45, 62. BVerfGE 63, 45, 62; insoweit wird die Lesart des der Verfassungsbeschwerde zugrundeliegenden BGH-Entscheidung bestätigt, vgl. BGHSt 30, 131, 138 f. 79 BVerfGE 63, 45, 65 f. 80 BVerfGE 63, 45, 68. 81 Vgl. BVerfGE 63, 45, 62. 82 BVerfGE 63, 45, 66. 78

II. Einfluss der verfassungsrechtlichen Vorgaben auf das einfache Recht

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unbeachtlichkeit überprüfen wolle, aus, sodass ihm die Einsicht in die Spurenakten regelmäßig nicht versagt werden könne.83 Hierdurch könne einerseits den Verteidigungsinteressen ausreichend Rechnung getragen werden und andererseits sei gewährleistet, „daß der Ablauf des gerichtlichen Verfahrens nicht durch eine sachlich nicht gebotene Ausweitung der Verfahrensakten unverhältnismäßig erschwert oder sogar nachhaltig gefährdet wird“.84

Das Bundesverfassungsgericht gesteht der Verteidigung somit zunächst eine Kontrollmöglichkeit der Staatsanwaltschaft zu,85 beabsichtigt dies jedoch nicht (notwendig) über eine entsprechende Auslegung des Aktenbegriffs in §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO zu lösen.86 Die soeben dargestellte Auffassung von Teilen der Literatur, nach der das Bundesverfassungsgericht den auf dem rechtlichen Gehör und dem Fairnessgebot basierenden Informationsanspruch nur auf die dem Gericht bekannten Informationen erstreckt, greift zunächst also zu kurz. Das Bundesverfassungsgericht sieht es aus verfassungsrechtlicher Sicht nur deshalb als nicht zwingend geboten an, unter den Aktenbegriff das gesamte der Staatsanwaltschaft bekannte Ermittlungsmaterial samt der sog. Spurenakten zu subsumieren, weil zur Erzwingung einer Einsichtnahme durch die Verteidigung theoretisch andere prozessuale Instrumente in Betracht kämen. Insoweit ist aus verfassungsrechtlicher Sicht richtigerweise nämlich nur entscheidend, dass die Verteidigung eine rechtlich gewährleistete Möglichkeit hat, das gesamte Ermittlungsmaterial (waffengleich) einsehen zu können. Auf welchem Weg dies zu geschehen hat, bleibt grundsätzlich dem einfachen Gesetzgeber überlassen.87 Da weder Art. 103 Abs. 1 GG noch das Fairnessgebot (unmittelbar) zugunsten der Gerichte wirken, gebieten die hieraus abgeleiteten Verteidigungsrechte einen weiten Aktenbegriff zugunsten der Gerichte nicht. Insofern ist die bisherige Untersuchung zu § 147 StPO im Ergebnis – mithin die unbeschränkte Zurverfügungstellung des mit dem Verfahrensgegenstand inhaltlich zusammenhängenden Informationsmaterials an die Verteidigung – nicht nur verfassungsrechtlich geboten, sondern steht auch nicht im Widerspruch zu den soeben dargestellten grundsätzlichen Ausführungen der Spurenakten-Entscheidung. Problematisch ist jedoch, dass das Bundesverfassungsgericht das zugebilligte Einsichtsrecht in diese Spurenakten nicht ausnahmslos gewährleistet wissen

83

BVerfGE 63, 45, 66. BVerfGE 63, 45, 67. 85 So auch Amelung StV 1983, 181, 181; der BGH hatte dies in dieser Sache noch ausdrücklich abgelehnt: BGHSt 30, 131, 140. 86 Vgl. hierzu auch Meyer, Akteninformationsrecht, S. 96. 87 Es kommt lediglich auf die Umsetzung bzw. methodengerechte Umsetzbarkeit der Verfassungsvorgaben an, eingehend hierzu v. Mangoldt/Klein/Starck-GG/Voßkuhle, Bd. 3, Art. 93, Rn. 52 m. w. N.; siehe auch BVerfGE 32, 373, 383 f.; st. Rspr. 84

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will.88 Zudem ist es aus verfassungsrechtlicher Sicht nur auf den ersten Blick unbedenklich, dass die Verfassungsvorgaben nicht unbedingt über einen weiten Aktenbegriff – nicht nur i. R. v. § 147 StPO, sondern auch hinsichtlich § 199 Abs. 2 S. 2 StPO – zu berücksichtigen sein sollen. Auch wurde eine gerichtliche Pflicht zur Aktenbeiziehung/-vorlage entgegen den hiesigen Ausführungen zu den Art. 19 Abs. 4, 97 GG auch im Falle der sog. Spurenakten negiert. Die Entscheidungsgründe sollen im Folgenden deshalb einer kritischen Analyse unterzogen werden.

2. Analyse der Spurenakten-Entscheidung Das Akteneinsichtsrecht aus § 147 StPO fußt neben den Fairnessvorgaben und Art. 103 Abs. 1 GG89 auf Art. 19 Abs. 4 GG, der verfassungsrechtlich verbürgten Unschuldsvermutung und auf dem materiellen Schuldprinzip. Es überzeugt schon in dogmatischer Hinsicht nicht, die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 103 Abs. 1 GG bzw. des Fairnessgebots – wie es das Bundesverfassungsgericht in der vorbenannten Spurenakten-Entscheidung vertreten hat – allein über das Beweisantragsrecht und die §§ 23 ff. EGGVG abzusichern. Denn zum einen hat der Gehörsanspruch auch die Funktion, der Subjektqualität des Beschuldigten mehr Wirkkraft zu verleihen,90 was im deutschen Strafverfahrensrecht nicht zuletzt vom „Ob“ und „Wie“ des Akteneinsichtsrechts abhängt. Zum anderen gehen Art. 19 Abs. 4 GG, der Kern des Fairnessgebots samt nahezu aller hieraus ableitbaren Ausprägungen, das Schuldprinzip und auch Art. 103 Abs. 1 GG in § 147 StPO auf, weshalb das verfassungsrechtlich geforderte Recht auf Zugang zu dem gesamten Ermittlungsmaterial auch durch eine entsprechende Ausfüllung des Aktenbegriffs zu lösen sein sollte. Entscheidend streiten für die Verortung der Verfassungsvorgaben im Aktenbegriff der §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO entgegen der Spurenakten-Entscheidung jedoch fünf Aspekte. a) Der Gewährleistungsgehalt der Rechtsschutzgarantie Zum einen setzt sich das Bundesverfassungsgericht in der Spurenakten-Entscheidung über den Gewährleistungsgehalt von Art. 19 Abs. 4 GG hinweg. Wie bereits ausgeführt wurde, zielt die Rechtsschutzgarantie gerade darauf ab, dass das Gericht seiner Amtsaufklärungspflicht auf der Grundlage einer umfassenden Tatsachenbasis nachkommt. Hierbei soll das Gericht an die Bewertungen und Feststellungen eines Exekutivorgans in keiner Weise gebunden sein. Insofern ist es erforderlich, dass dem Gericht über § 199 Abs. 2 S. 2 StPO das gesamte Informationsmaterial, das mit dem Strafverfahren respektive dem angeklagten Ge88

BVerfGE 63, 45, 66. So auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 2, 4 f. 90 Eingehend Pohlreich, Gehör, S. 6 f. 89

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schehensablauf inhaltlich zusammenhängt, vorgelegt wird.91 Da nach der Regelungssystematik der StPO die Staatsanwaltschaft mit der Anklageschrift gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO lediglich die Akten vorzulegen hat, ist schließlich kein anderer dogmatischer Weg ersichtlich, als die Gewährleistung von Art. 19 Abs. 4 GG in den Aktenbegriff aus § 199 Abs. 2 S. 2 StPO hineinzulesen. Zwar kann das Gericht im Zwischenverfahren gem. § 202 S. 1 StPO weitere Beweiserhebungen anordnen. Auch könnte es sich über Art. 35 Abs. 1 GG etwa die bislang nicht vorgelegten Spurenakten vorlegen lassen.92 Ob der Staatsanwaltschaft weitere Aktenteile zur Verfügung stehen, die bislang nicht vorgelegt wurden, müsste von Seiten des Gerichts jedoch zunächst in Erfahrung gebracht werden, anschließend müsste es die Aktenvorlage anordnen bzw. beschließen. Sobald die Staatsanwaltschaft von dem Vorlageersuchen Kenntnis erlangt hat, müsste sie diese nun vorlegen und erst im Anschluss hätte das Gericht eine vollständige Tatsachengrundlage. Die Umsetzung der Vorgaben aus der Rechtsschutzgarantie über diesen Lösungsweg würde mithin unweigerlich zu einer Verfahrensverzögerung führen.93 Die Verzögerung wäre vermeidbar, weil sie bereits durch eine entsprechende Auslegung des Aktenbegriffs in § 199 Abs. 2 S. 2 StPO zu beseitigen wäre, und somit unangemessen.94 Die Umsetzung der Rechtsschutzgarantie über Art. 35 Abs. 1 GG oder § 202 S. 1 StPO würde mithin zu einem Verstoß gegen den allgemeinen Beschleunigungsgrundsatz in Strafsachen führen, welcher auch im Zwischenverfahren gilt.95 Abseits dieser verfassungsrechtlichen Gesichtspunkte wäre der Lösungsweg des Bundesverfassungsgerichts auch nicht methodengerecht, da § 199 Abs. 2 S. 2 StPO nach dem Wortlaut, der Entstehungsgeschichte und der Systematik gegenüber den vorbenannten Rechtsgrundlagen als lex specialis anzusehen ist und diese somit derogiert.96 Dies vorausgeschickt, müssen wiederum die aufgezeigten Fairnessvorgaben aus verfassungsrechtlicher Sicht schon deshalb über eine entsprechende Auslegung des in § 147 Abs. 1 StPO normierten Aktenbegriffs umgesetzt werden, weil ansonsten der insoweit eindeutige Wortlaut von § 147 Abs. 1 StPO überschritten wäre („die dem Gericht vorliegen oder […] vorzulegen wären“).

91 In diesem Sinne auch BVerfG StV 2017, 361, 362; so auch Meyer, Akteninformationsrecht, S. 97; Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 84; vgl. auch Peters NStZ 1983, 275, 276. 92 Siehe zu aus Art. 35 Abs. 1 GG abgeleiteten behördlichen Auskunfts-/Akteneinsichtsrechten erneut: Dreier-GG/Bauer, Bd. 2, Art. 35, Rn. 14 m. w. N. 93 Dies wendet i. E. auch Hiebl, Probleme, S. 118, ein. 94 Eingehend Liebhart NStZ 2017, 254, 254 ff. m. w. N.; siehe im Zshg. mit Art. 6 EMRK allg. MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 363 m. w. N. 95 BVerfG NJW 2018, 2948, 2949. 96 Siehe hierzu allg. nur Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 771.

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b) Die Folgen der Beweisantragsrechtslösung Auch kann die vom Bundesverfassungsgericht angeführte Lösung über einen entsprechenden Beweis(-ermittlungs-)antrag bzw. den Rechtsschutz über die §§ 23 ff. EGGVG nicht als angemessene Alternative zu einer entsprechenden Auslegung des Aktenbegriffs in § 199 Abs. 2 S. 2 StPO betrachtet werden. Wie auch in der Spurenakten-Entscheidung angeführt wird,97 bedarf es für einen Beweisantrag gem. § 244 Abs. 3 S. 1 StPO bzw. gem. § 219 Abs. 1 S. 1 StPO i. V. m. § 244 Abs. 3 S. 1 StPO98 der Darlegung einer konkreten Beweistatsache99 und weiter müsste ein konkretes Beweismittel100 angeführt werden.101 Darüber hinaus muss die Konnexität dargelegt werden.102 Beweistatsache und Beweismittel müssen der Verteidigung mithin bekannt sein, um einen zulässigen Beweisantrag stellen zu können. Diesen Anforderungen kann ein Antrag der Verteidigung, der auf ein gerichtliches Vorlageersuchen bzgl. der Spurenakten abzielt, nicht gerecht werden. Die Verteidigung wird regelmäßig gar nicht wissen, welche Sachverhalte die bislang nicht vorgelegten Aktenteile offenbaren werden.103 Beantragt die Verteidigung 97

BVerfGE 63, 45, 68. Die Vrss. von § 244 Abs. 3 S. 1 StPO gelten auch für den Beweisantrag nach § 219 Abs. 1 S. 1 StPO, siehe MüKo-StPO/Arnoldi, Bd. 2, § 219, Rn. 4; LR-StPO/Jäger, Bd. 6, § 219, Rn. 11. 99 Beispielhaft: „Person B hat die angeklagte Tat zulasten des Tatopfers O begangen und nicht der Beschuldigte A. Person B war zur Tatzeit am […] um […] Uhr am Tatort. Er wurde am Tattag um […] Uhr in der Straße […] aufgegriffen. Person B hat auch ein Tatmotiv, denn das Tatopfer O ist mit Person B seit längerer Zeit verstritten und wurde in der Vergangenheit, an den Tagen […] und […] wiederholt von Person B bedroht, indem Person B an beiden Tagen zu O sagte: ,[…]‘.“ 100 Beispielhaft: „Dies ergibt sich aus dem/der von der Staatsanwaltschaft […] geführten Hauptaktenband/Sonderband/Fallakte zum Aktenzeichen […] (ggfs. unter Angabe des Teiloder Sonderbandes bzw. der Fallaktennummer) auf den Seiten […]., woraus hervorgeht, dass […]. Die Beweistatsache ist für das vorliegende Verfahren von Bedeutung, da sich hieraus die Beteiligung der an der Körperverletzung zulasten des Tatopfers O, und damit die Nichtbeteiligung des Beschuldigten A, ergibt.“; sofern hierbei bestimmte Einträge/Schriftstücke der Spurenakte angegeben werden, würde es sich auch um einen Beweisantrag – und nicht um einen Beweisermittlungsantrag, gerichtet auf die „Beiziehung der Akten“ – handeln, siehe hierzu MüKo-StPO/Trüg/Habetha, Bd. 2, § 244, Rn. 124; LR-StPO/Becker, Bd. 6, § 244, Rn. 104 ff. 101 Siehe zum Ganzen MüKo-StPO/Trüg/Habetha, Bd. 2, § 244, Rn. 98 ff., 114 ff.; LRStPO/Becker, Bd. 6, § 244, Rn. 96 ff. 102 Beispielhaft: „Auf der Grundlage der Ermittlungsansätze aus den zuvor benannten Spurenaktenteilen ist das Tatopfer O und Person B zu laden und zu vernehmen. Das Tatopfer O wird die schlechte Beziehung zu Person B aus eigener Wahrnehmung bestätigen und Person B wird, soweit er sich nicht auf § 55 StPO beruft, die Vortatgeschehnisse und die Tatbeteiligung zulasten des Tatopfers O aus eigener Wahrnehmung ebenfalls bestätigen, sodass der Verdacht der Tatbeteiligung des Beschuldigten A ausgeräumt wird.“; eingehend und krit. hierzu MüKo-StPO/Trüg/Habetha, Bd. 2, § 244, Rn. 134, 136 ff. m. w. N.; LR-StPO/Becker, Bd. 6, § 244, Rn. 113 f. 103 So auch der Einwand von Schneider Jura 1995, 337, 341; Kettner, Akteneinsichtsrecht, 98

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ohne vorheriges Studium der Spurenakten eine gerichtliche Beiziehung, kann es sich mangels Benennung einer konkretisierten Beweistatsache und eines konkretisierten Beweismittels damit nur um einen Beweisantrag – bzw. nach bislang wohl herrschender Auffassung um einen Beweisermittlungsantrag104 – „ins Blaue hinein“ bzw. „aufs Geratewohl“ handeln.105 Dieser kann nach bislang herrschender und vorzugswürdiger Auffassung106 bereits am Maßstab des § 244 Abs. 2 StPO (und nicht am engeren Maßstab von § 244 Abs. 3 S. 2, 3 StPO) gemessen und in der Folge abgelehnt werden.107 Das Gericht wird sich von der Staatsanwaltschaft auf den Antrag der Verteidigung hin damit regelmäßig nicht die restlichen Aktenteile vorlegen lassen (müssen), da das Gericht anhand der dürftigen Antragsbegründung innerhalb der Grenzen einer zulässigen antizipierten Beweiswürdigung108 regelmäßig nicht davon ausgehen wird, dass die Spurenakten i. S. v. § 244 Abs. 2 StPO „für die Entscheidung von Bedeutung sind“.109 Das Rechtsinstitut der sog. Beweisanregung kann entgegen der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts110 aus demselben Grund keine angemessene Alternative zu der Subsumtion der Spurenakten unter den Aktenbegriff darstellen. Durch ein Beweiserbieten bzw. eine Beweisanregung wird dem Gericht lediglich anheimgestellt, der angeregten Beweismöglichkeit – hier der Beiziehung der Spurenakten – nachzugehen, wobei mangels Beweisantragsqualität auch hier Prüfungsmaßstab (lediglich) § 244 Abs. 2 StPO ist.111 Das Bundesverfassungsgericht geht in der S. 81; siehe auch Krawczyk StV 2021, 396, 397 f.; siehe auch Beulke, FS Dünnebier, S. 295, wonach über den Beweisantrag ohnehin nur Akten zu anderen Strafverfahren oder Behördenakten beigezogen werden könnten. 104 Eingehend und (bereits mit Blick auf die Existenz des § 244 Abs. 6 S. 2 StPO zu Recht) krit. MüKo-StPO/Trüg/Habetha, Bd. 2, § 244, Rn. 126, 129 ff. m. w. N.; allg. zu Beweisermittlungsanträgen dies. a. a. O. Rn. 171 m. w. N.; LR-StPO/Becker, Bd. 6, § 244, Rn. 162 ff. 105 MüKo-StPO/Trüg/Habetha, Bd. 2, § 244, Rn. 129 f. m. w. N.; LR-StPO/Becker, Bd. 6, § 244, Rn. 109 ff. 106 Krit. hierzu etwa MüKo-StPO/Trüg/Habetha, Bd. 2, § 244, Rn. 131 ff. m. w. N. auch zur bislang h. M. 107 Teilweise wird es sogar als zulässig erachtet, solche Beweis(-ermittlungs)-anträge noch nicht einmal am Maßstab von § 244 Abs. 2 StPO ablehnen zu können, siehe hierzu die Nachweise bei MüKo-StPO/Trüg/Habetha, Bd. 2, § 244, Rn. 129; allg. zum Prüfungsmaßstab dies. a. a. O. Rn. 172; LR-StPO/Becker, Bd. 6, § 244, Rn. 163; vgl. zum Hintergrund, weshalb die Ablehnungsgründe aus § 244 Abs. 3 S. 2, 3 StPO höhere Vrss. an die Antragsablehnung aufstellen als § 244 Abs. 2 StPO: LR-StPO/Becker, Bd. 6, § 244, Rn. 182 ff.; MüKo-StPO/Trüg/ Habetha, Bd. 2, § 244, Rn. 11 ff., 205. 108 Siehe hierzu nur LR-StPO/Becker, Bd. 6, § 244, Rn. 163 m. w. N. 109 Siehe auch Krawczyk StV 2021, 396, 397 f.; ähnlich Schneider Jura 1995, 337, 341; aus nachfolgenden Gründen macht es in der Sache auch keinen Unterschied, wenn man mit MüKo-StPO/Trüg/Habetha, Bd. 2, § 244, Rn. 131, solche Anträge nicht als Beweisermittlungsanträge, sondern als Beweisanträge i. S. v. § 244 Abs. 3 S. 1 StPO ansähe, die nur in den engen Grenzen des § 244 Abs. 3 bis 5 StPO abgelehnt werden können. 110 BVerfGE 63, 45, 68. 111 MüKo-StPO/Trüg/Habetha, Bd. 2, § 244, Rn. 175; LR-StPO/Becker, Bd. 6, § 244, Rn. 168 ff.

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Spurenakten-Entscheidung ebenfalls davon aus, dass es die gerichtliche Aufklärungspflicht aus § 244 Abs. 2 StPO nicht gebietet, etwaige Spurenakten von der Staatsanwaltschaft anzufordern, wenn aus der Begründung des Beweisantrages nicht hervorgehe, welcher Sachverhalt durch die Einsicht der beizuziehenden Akten aufgeklärt werden soll.112 Über die Stellung eines Beweis(-ermittlungs-)antrages zur Erlangung der Spurenakten kann den Gewährleistungen des Art. 19 Abs. 4 GG, namentlich der von den Bewertungen der Staatsanwaltschaft unabhängigen und umfassenden Amtsaufklärungspflicht, in der oben beschriebenen Weise folglich nicht entsprochen werden. Dem Weg, die Kenntnisnahme des Spurenakteninhalts durch das Gericht über einen Beweis(-ermittlungs-)antrag oder eine Beweisanregung zu erzwingen, wird regelmäßig § 244 Abs. 2 StPO entgegenstehen. In der Spurenakten-Entscheidung versucht das Bundesverfassungsgericht dieses Problem dadurch zu lösen, dass es der Verteidigung die Möglichkeit zugesteht, die Offenlegung direkt (und losgelöst von § 147 StPO)113 bei der aktenführenden Staatsanwaltschaft zu beantragen und die Akten herauszuverlangen.114 Da die Offenlegung dieser Spurenakten der Verteidigung grundsätzlich nicht verwehrt werden könne, habe die Verteidigung damit die genaue Kenntnis der Akteninhalte und könne nunmehr einen ausreichend begründeten Beweisantrag an das Gericht richten, sodass die strengen Voraussetzungen des Beweisantragsrechts der Wahrung der Verteidigungsinteressen insgesamt nicht entgegenstünden.115 Aber auch hierdurch können die herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht angemessen umgesetzt werden. Das Bundesverfassungsgericht lässt zunächst unberücksichtigt, dass das Gericht bereits im Zwischenverfahren auf einer umfassenden Tatsachengrundlage über die Verfahrenseröffnung zu entscheiden hat,116 Beweisanträge gem. § 219 Abs. 1 S. 1 StPO ausweislich des Wortlautes und der systematischen Stellung jedoch erst im Hauptverfahren (vor Beginn der Hauptverhandlung) und Beweisanträge gem. § 244 Abs. 3 S. 1 StPO erst während der Hauptverhandlung gestellt werden können.117 Zwar sieht § 201 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 StPO auch ein Beweisantragsrecht des Angeschuldigten im Zwischenverfahren vor. Die umfassende 112

BVerfGE 63, 45, 67 f. Vgl. BVerfGE 63, 45, 62: „Diese Auslegung der §§ 199 Abs. 2 S. 2, 147 StPO, die tatbezogene Spurenakten nicht notwendig als Teil der Hauptakten begreift und ihre Beiziehung zu den Strafakten nur unter der Voraussetzung gebietet, daß ihr Inhalt für die anhängige Strafsache aus irgendeinem Grunde erheblich sein kann, steht nicht in Widerspruch mit aus rechtsstaatlicher Sicht schützenswerten Verteidigungsinteressen des Beschuldigten […]“. 114 BVerfGE 63, 45, 68. 115 BVerfGE 63, 45, 69 f.; dies lässt bspw. auch MüKo-StPO/Wenske, Bd. 2, § 199, Rn. 20, genügen. 116 In diesem Sinne offenbar auch BVerfG StV 2017, 361, 362. 117 Vgl. MüKo-StPO/Arnoldi, Bd. 2, § 219, Rn. 3; siehe auch LR-StPO/Jäger, Bd. 6, § 219, Rn. 1 f. 113

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und von den staatsanwaltschaftlichen Feststellungen und Bewertungen unabhängige Überprüfungspflicht des Gerichts darf mit Blick auf das hohe verfassungsrechtliche Gewicht von Art. 19 Abs. 4 GG indes nicht von einem Tätigwerden des Verteidigers abhängig gemacht werden.118 Das deutsche Strafverfahrensrecht legt in allen Verfahrensstadien keine Dispositionsmaxime, sondern eine Instruktionsmaxime – eine gerichtliche Kognitionspflicht – zugrunde, wie an zahlreichen Vorschriften, z. B. den §§ 155 Abs. 2, 202, 244 Abs. 2, 264 StPO, deutlich wird.119 Die Lösung über das Beweisantragsrecht ist mit dem überwiegend inquisitorischen Charakter des deutschen Strafverfahrens und dem daraus resultierenden Amtsermittlungsgrundsatz mithin nicht in Einklang zu bringen. Das vom Gericht vorgeschlagene Lösungsmodell läuft dem Anspruch des Beschuldigten auf eine umfassende gerichtliche Sachverhaltsaufklärung120 zuwider, der neben der Rechtsschutzgarantie sowohl aus dem Fairnessgebot als auch aus dem materiellen Schuldprinzip folgt und damit Verfassungsrang hat.121 Dieser Anspruch „[verpflichtet] die Strafgerichte zur bestmöglichen Klärung des Sachverhalts […]. Zentrales Anliegen des Strafprozesses ist die Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den das materielle Schuldprinzip sich nicht verwirklichen lässt […]“.122 Es ist demnach „die Pflicht des Gerichts, unabhängig vom Verhalten der Verfahrensbeteiligten alles zu tun, was zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist […]“.123

Dies muss jedenfalls für den Umfang des dem Gericht von Beginn an zur Verfügung gestellten Aktenmaterials gelten. Denn das Aktenmaterial stellt gerade im Zwischenverfahren die wesentliche Entscheidungsgrundlage dar.124 Während der Hauptverhandlung orientiert sich die vom Gericht geführte Beweisaufnahme zumindest hieran.125 Insofern kann das Beweisantragsrecht auch dann nicht als angemessene Alternative zu der Einordnung solcher Spurenakten als Aktenbestandteile i. S. v. §§ 199 Abs. 2 S. 2 StPO angesehen werden, wenn man die an sich strengen Anforderungen an einen zulässigen Beweisantrag – selbst dies ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts aber nicht geboten126 – aus verfassungsrechtlichen Gründen absenken und damit eine Ablehnung nur auf Grundlage von § 244 Abs. 3 S. 3, Abs. 6 S. 1 StPO erlauben oder aufgrund verfassungskonformer Auslegung einen solchen Beweisantrag gar ablehnungsfest ausgestalten würde. 118

So letztlich aber bspw. Meyer-Goßner NStZ 1982, 353, 360. Siehe LR-StPO/Kühne, Bd. 1, Einl. Abschn. I, Rn. 30 ff. m. w. N.; zur Kognitionspflicht: MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, § 264, Rn. 35. 120 Statt aller MüKo-StPO/Trüg/Habetha, Bd. 2, § 244, Rn. 50 m. w. N. 121 BVerfGE 57, 250, 275; 118, 212, 231; eingehend MüKo-StPO/Trüg/Habetha, Bd. 2, § 244, Rn. 4 m. w. N. 122 BVerfGE 118, 212, 231. 123 LR-StPO/Becker, Bd. 6, § 244, Rn. 39. 124 Lesch StraFo 2021, 496, 498 f. 125 So auch Krawczyk StV 2021, 396, 397; Eisenberg NJW 1991, 1257, 1259. 126 BVerfGE 63, 45, 69. 119

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Über das Beweisantragsrecht können die herausgearbeiteten Vorgaben aus dem Fairnessgebot, dem materiellen Schuldprinzip und der Rechtsschutzgarantie unter keinem Gesichtspunkt hinreichend umgesetzt werden. Das Lösungsmodell stellt auch vor diesem Hintergrund keine angemessene Alternative zu einer verfassungskonformen Auslegung des Aktenbegriffs in § 199 Abs. 2 S. 2 StPO dar. Hiervon abgesehen, muss auch insoweit angemerkt werden, dass § 199 Abs. 2 S. 2 StPO für die Aktenvorlage an das Gericht nach dem Wortlaut, der Entstehungsgeschichte und der Regelungssystematik gegenüber den alternativ vorgeschlagenen Normen (wie bspw. §§ 201, 244 Abs. 3 StPO) lex specialis ist. c) Das von § 147 StPO losgelöste Einsichtsrecht Der Lösungsansatz des Bundesverfassungsgerichts stellt auch keine sachgerechte Alternative zum einfachgesetzlichen Auslegungsergebnis betreffend den Aktenbegriff in § 147 StPO dar. Ein von § 147 StPO losgelöstes Einsichtsrecht wird den verfassungsrechtlichen Gewährleistungen mit Blick auf die zugebilligten Einschränkungsmöglichkeiten jedenfalls in dem vom Gericht abgesteckten Rahmen nicht ausreichend gerecht. Ab dem Zwischenverfahren gewährt gem. § 147 Abs. 5 S. 1 StPO der Vorsitzende des mit der Sache befassten Gerichts die beantragte Akteneinsicht. Der unbedingte Anspruch auf Akteneinsicht ist ab dem Zwischenverfahren verfahrensrechtlich „abgesichert“, da eine vom Gericht verweigerte Akteneinsicht eine Unterbrechung, Aussetzung oder unter Umständen sogar eine Einstellung des Verfahrens zur Folge haben würde; sofern sich das Gericht auch hierüber hinwegsetzt, wäre ein solcher Verfahrensablauf revisibel.127 Entsprechende prozessuale „Druckmittel“ bestehen hingegen nicht bei einem von § 147 StPO losgelösten Einsichtsrecht gegenüber der Staatsanwaltschaft. Sofern diese die Akteneinsicht verweigert, muss die Verteidigung eine gerichtliche Entscheidung beantragen, wobei sich der Rechtsweg nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nach den §§ 23 ff. EGGVG bestimmt.128 Problematisch ist hierbei aus verfassungsrechtlicher Sicht, dass die wesentlichen Ausprägungen des Fairnessgebots, auf denen § 147 StPO basiert, an keine – von dem Akteneinsichtsantrag abgesehen – weiteren Prozesshandlungen geknüpft sind. Zudem verpflichtet das Waffengleichheitspostulat zur Herstellung einer Parität der Vorbereitungsbedingungen. Das Strafverfahren wäre – wiederum entgegen der Annahme des Bundesverfassungsgerichts129 – jedoch gerade nicht waffengleich ausgestaltet, wenn die Staatsanwaltschaft auf die bei ihr verbliebenen Aktenteile ohne Weiteres zugreifen könnte, wohingegen die Verteidigung zunächst bei der Staatsanwaltschaft um Einsicht der Spurenakten ersuchen

127 Eingehend LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 217 ff. m. w. N.; MüKo-StPO/Kämpfer/ Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 53; SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, 147, Rn. 121 ff. 128 BVerfGE 63, 45, 66. 129 BVerfGE 63, 45, 67.

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müsste, um bei einer Einsichtsverwehrung den zuständigen Strafsenat des jeweiligen Oberlandesgerichtes anzurufen. Um die Spurenakten einsehen zu können, müsste die Verteidigung also auch nach Ermittlungsabschluss ggfs. erst auf Herausgabe der Spurenakten klagen, obwohl es sich um inhaltlich mit dem Ermittlungs-/Anklagegegenstand zusammenhängende Vorgänge handelt und die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens durch die Einsicht nicht gefährdet wird. Die Einräumung eines „außerhalb“ des Strafverfahrens geltenden Einsichtsrechts widerspricht mithin den Fairness- und den Schrankenvorgaben, nach denen die grundlegenden Verteidigungsinteressen zuvörderst im Ermittlungsverfahren (zugunsten der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege) einschränkbar sind und spätestens im Hauptverfahren ihre volle Wirkkraft entfalten können sollen. Aspekte, die das Einsichtsrecht ultima ratio auch im weiteren Verlauf einschränken können, namentlich Staatswohlbelange und Rechte Dritter, sind bei der Vorlage der Spurenakten ebenfalls nicht (mehr als sonst) betroffen. Zudem wird ein von § 147 StPO losgelöstes Einsichtsrecht, das parallel zu dem klassischen Akteneinsichtsrecht gem. § 147 StPO und neben dem laufenden Strafverfahren bei der Staatsanwaltschaft geltend gemacht werden soll, der Stellung und Funktion des Verteidigers nicht gerecht, wenn das vorgebrachte Einsichtsrecht unter weitere Bedingungen gestellt wird. Das Bundesverfassungsgericht hat hinsichtlich des zugestandenen Einsichtsrechts der Verteidigung bzgl. der bei der Staatsanwaltschaft verbliebenen Spurenvorgänge ausgeführt, dass „beispielsweise die Gefährdung des Untersuchungszwecks in laufenden anderen Ermittlungsverfahren oder die konkrete Gefahr einer nachhaltigen Bloßstellung Dritter die Zurückhaltung solcher Akten rechtfertigen“130 kann. Sofern mit der „Bloßstellung Dritter“ das allgemeine Persönlichkeitsrecht gemeint ist, muss konstatiert werden, dass dieser Aspekt das Akteneinsichtsrecht mit Blick auf die Funktion des Verteidigers grundsätzlich nicht zu beschränken vermag – dies hat das Gericht in dieser Entscheidung im Kontext der vorgelegten Akten i. E. ebenfalls betont.131 Mit der Untersuchungszweckgefährdung bzgl. anderer Ermittlungsverfahren muss das Bundesverfassungsgericht etwaige Ermittlungsverfahren gegen andere Beschuldigte gemeint haben. Weitere Ermittlungsverfahren, die denselben Beschuldigten betreffen und gleichzeitig auf Vorgängen basieren, die für die bereits angeklagte Tat ebenfalls tatbezogene Vorgänge darstellen – dies ist das Charakteristikum von Spurenakten132 – wären spätestens mit rechtskräftigem Sachurteil der bereits angeklagten Tat qua Strafklageverbrauch schließlich nicht mehr wei130

BVerfGE 63, 45, 66. Siehe BVerfGE 63, 45, 72 f.; abl. in diesem Zshg. auch Jörke, Akteneinsicht, S. 75; auf die Einschränkbarkeit aufgrund Persönlichkeitsrechte Dritter wird im weiteren Verlauf noch gesondert eingegangen. 132 Siehe hierzu BVerfGE 63, 45, 62; LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 36 m. w. N.; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 187 f.; Meyer-Goßner NStZ 1982, 353, 353. 131

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ter verfolgbar, Art. 103 Abs. 3 GG.133 Insofern bestünde bereits kein weiteres Ermittlungsbedürfnis, dessen Untersuchungserfolg durch die Offenlegung der Spurenakten gefährdet werden könnte. Zudem stellt das sog. Ermittlungsgeheimnis zwar eine (berechtigte) Schranke des Fairnessgebots bzw. des Akteneinsichtsrechts dar. Nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens muss dieser Aspekt jedoch unberücksichtigt bleiben, da nunmehr das Gericht die Wahrheit hinsichtlich der angeklagten Tat zu erforschen hat. Das Strafverfahren läuft von nun an völlig offen und transparent und eben nicht mehr für den Beschuldigten heimlich. Wenn dem Bundesverfassungsgericht also vorschwebte, dass die Einsicht in die Spurenakten Belastungsmaterial gegen anderweitig verfolgte Beschuldigte offenbaren können und dies der Einsicht entgegenstehen können soll, verfängt dies ebenfalls nicht. Wie bereits herausgearbeitet wurde,134 erstreckt sich das aus der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege abgeleitete sog. Ermittlungsgeheimnis als Schranke des Offenlegungsanspruches nicht auf die Untersuchungen gegen andere Beschuldigte. Denn durch die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege soll eine effektive Verteidigung nicht unmöglich gemacht werden, diese Interessen stehen sich wechselwirkend gegenüber.135 Insofern ist der Aspekt des sog. Ermittlungsgeheimnisses auf das in Rede stehende Strafverfahren zu beschränken136 und hat nach Ermittlungsabschluss hinter den Verteidigungsinteressen zurückzutreten. Zum anderen kann das Anerkennen eines solchen der Einsicht entgegenstehenden Aspekts mit den Funktionen des Verteidigers nicht in Einklang gebracht werden. Wie ebenfalls herausgearbeitet wurde, hat der Beschuldigte einen verfassungsrechtlich abgesicherten Anspruch auf die Hinzuziehung eines Verteidigers, um nicht von der Wahrung der Beschuldigtenrechte durch Gericht und Staatsanwaltschaft abhängig zu sein und somit auf das Strafverfahren einen größeren Einfluss zu haben. Die Funktionen des Verteidigers werden hierdurch verfassungsrechtlich gewährleistet. Nach hiesiger Untersuchung soll der Verteidiger gerade die von Gericht und Staatsanwaltschaft bislang unberücksichtigt gelassenen Entlastungsmomente zur Geltung bringen. Das Erfordernis eines Verteidigerbeistandes rührt aus der Annahme, dass die Objektivitätspflicht von Gericht und Staatsanwaltschaft zur Verteidigung des Beschuldigten nicht ausreicht bzw. kein äquivalenter Garant für die umfassende Berücksichtigung der entlastenden Aspekte ist.137 Die vom Gericht eröffnete Einschränkungsmöglichkeit dieses eigenständigen Einsichtsrechts verwundert dabei schon deshalb, weil das Bundesverfassungsgericht ebenfalls einräumt, dass nicht auszuschließen ist, dass sich in Spurenakten Entlas133

Siehe nur v. Mangoldt/Klein/Starck-GG/Nolte/Aust, Bd. 3, Art. 103, Rn. 217. Siehe S. 73 f. 135 Siehe hierzu B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 172; Jörke, Akteneinsicht, S. 14; Winter, Reform, S. 27 m. w. N.; vgl. i. E. auch BVerfGE 46, 214, 222 f. 136 In diesem Sinne auch BVerfGE 109, 279, 366 f., 369. 137 Ähnlich Meyer, Akteninformationsrecht, S. 97 f. 134

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tungsmomente finden lassen.138 Darüber hinaus belegt gerade der der Spurenakten-Entscheidung vorausgegangene Verfahrensverlauf die Bedeutsamkeit der Spurenakten-Sichtung: Aus den zunächst nicht vorgelegten Spurenakten trat in der vorausgegangenen Tatsacheninstanz erhebliches Entlastungsmaterial zu Tage, welches von der Staatsanwaltschaft dem Gericht erst vorgelegt wurde, als sich zufällig herausstellte, dass die Staatsanwaltschaft entlastende und mit dem Verfahren inhaltlich zusammenhängende (Spuren-)Vorgänge dem Gericht nicht vorgelegt hatte.139 Ferner besteht die Aufgabe des Verteidigers nach hiesigem Verständnis darin, die Anklageschrift grundlegend in Frage zu stellen und die aus etwaigen Beweismitteln gezogenen inhaltlichen Schlüsse umfassend zu überprüfen, um hierdurch die angeklagte Tat (mit-)aufzuklären. Hierzu kann der Verteidiger auch eigene Ermittlungen anstellen. Essentiell ist hierfür ein klares Bild von dem gesamten Ermittlungsverlauf bzw. eine erschöpfende Ermittlung des Informationsmaterials, das den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung gestanden hat und das mit dem Verfahrensgegenstand inhaltlich zusammenhängt.140 Die Befugnisse und Einflussnahmemöglichkeiten des Verteidigers müssen im Vergleich zur Staatsanwaltschaft deshalb gleichwertig ausgestaltet sein, sodass die Rechte des Verteidigers weit auszulegen sind. Das grundlegende Verteidigungsrecht der Akteneinsicht gilt aus Gründen der Untersuchungszweckgefähr138

BVerfGE 63, 45, 67. Die Entlastungsmaterial beinhaltenden Spurenvorgänge wurden erst nach der gerichtlichen Vernehmung einer Zeugin, wodurch sich zufällig herausstellte, dass diese Zeugin den Angeklagten letztlich entlastende Wahrnehmungen bekundet hatte, vorgelegt, siehe BGHSt 30, 131, 136 f.; vgl. auch BVerfGE 63, 45, 72: „Nachdem sich herausgestellt hatte, daß die Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit der ,wichtigtuerischen Zeugin‘ versehentlich zunächst einen für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Zeugin erheblichen Spurenvorgang nicht zu den gerichtlichen Verfahrensakten gegeben hatte, hat das Landgericht gleichwohl davon abgesehen, von der Staatsanwaltschaft eine nochmalige Durchsicht der Spurenakten und eine Prüfung zu verlangen, ob sie Hinweise über in der Hauptverhandlung vernommene Zeugen enthalten, und gegebenenfalls die Vorlage solcher Vorgänge zu verlangen.“; ein ähnlicher Sachverhalt hat sich in dem Verfahren, das der Entscheidung BGH NStZ 2003, 666, 667, zugrunde lag, ereignet: Hiernach brachte erst die Vernehmung eines Polizeibeamten zu Tage, dass ein Zeuge im Ermittlungsverfahren den Angeklagten letztlich entlastende Angaben gemacht hatte, da nach diesen Ausführungen auch eine dritte Person die Tat begangen haben konnte. Das Vernehmungsprotokoll befand sich, da sich dies auf die Belastung eines Dritten bezog, nicht in den vorgelegten Akten, sondern wurde als nicht vorzulegender Spurenvorgang abgelegt. Die Spurenakten wurden sodann dem Gericht vorgelegt; als weiteres Bsp. für nicht vorgelegte Spurenvorgänge, die unstreitig verfahrensrelevant waren, dient LG Hannover StV 2015, 683, 684 f., wonach die seinerzeit ermittelnde Polizeidienststelle der Staatsanwaltschaft drei Aktenbände Spurenakten entgegen § 163 Abs. 2 S. 1 StPO erst nach der Anklageerhebung vorlegte. Die Staatsanwaltschaft ordnete ausgewählte Aktenteile als verfahrensrelevant ein und legte sie sodann dem Gericht vor. Dieses forderte aufgrund aufkommender Zweifel an der Vorlage aller potentiell verfahrensrelevanten Vorgänge jedoch die gesamten drei Spurenakten-Bände an. 140 So auch Meyer, Akteninformationsrecht, S. 97 f. 139

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dung lediglich bis zum Abschluss des Ermittlungsverfahrens als beschränkbar. Auch der Grundsatz der Aktenwahrheit und insbesondere -vollständigkeit ist Ausfluss des Fairnessgebots und gebietet ein umfassendes Einsichtsrecht, das alle Informationsträger umfasst, die mit dem jeweiligen Geschehensablauf inhaltlich zusammenhängen und der Anklagebehörde zur Verfügung standen. Ein umfassendes Einsichtsrecht in solche sog. Spurenakten ergibt sich jedoch nicht nur aus dem verfassungsrechtlich verbürgten Gebot der Aktenwahrheit und -vollständigkeit oder den verfassungsrechtlich geschützten Funktionen des Verteidigers. Im Wesentlichen streitet für ein umfassendes Einsichtsrecht der Verteidigung in solche Spurenakten, dass die Verfügung über solche Vorgänge von der Staatsanwaltschaft dafür genutzt werden konnte, Belastungspunkte aufzufinden und hiermit den Tatverdacht (mit) zu begründen. Diese „Waffe“ der Staatsanwaltschaft muss in gleicher Weise der Verteidigung zugestanden werden. Ausschlaggebend ist somit schon nach den allgemeinen Grundsätzen des Waffengleichheitspostulats, dass die Staatsanwaltschaft letztlich das gesamte Informationsmaterial aus einem vorangegangenen Ermittlungsverfahren (bspw. gegen „A“) und dem (inhaltlich hiermit zusammenhängenden) Ermittlungsverfahren gegen bspw. „B“ bei der Abschlussentscheidung gem. § 170 StPO hinsichtlich des Ermittlungsverfahrens gegen „B“ dafür hätte verwenden können, eine Eröffnung des Verfahrens und eine Verurteilung gegen diesen zu erwirken. Umgekehrt könnte die Verteidigung des „B“ potentiell sowohl den Ermittlungsstoff, der ausschließlich in dem Ermittlungsverfahren gegen „B“ zu diesem Geschehensablauf entstanden ist, als auch das Informationsmaterial aus dem Ermittlungsverfahren gegen „A“ zur Verteidigung heranziehen, etwa durch das Aufzeigen von Alternativtätern.141 Der vom Gericht zuerkannte Vorbehalt der Untersuchungszweckgefährdung betreffend andere Ermittlungsverfahren führte also dazu, dass es vom Zufall abhinge, ob der Verteidigung eine waffengleich ausgestaltete Informationsgewährung zugebilligt wird. In einem Verfahren mit Spurenvorgängen wird die Verteidigung den Tatverdacht manches Mal durch Anhaltspunkte in den eingesehenen Spurenakten schwächen oder erschüttern können und manches Mal eben nicht – abhängig im Wesentlichen davon, ob gegen etwaige Alternativtäter noch ermittelt wird und der Untersuchungszweck insoweit als gefährdet angesehen wird. Der hohe Bedeutungsgrad des Waffengleichheitsgrundsatzes, der verfassungsrechtlich auf die Menschenwürdegarantie und das Rechtsstaatsgebot zurückgeht, verbietet es, die Herstellung von Wissensparität von solchen Zufallsmomenten abhängig zu machen. Insofern überzeugt die vom Bundesverfassungsgericht in den Raum gestellte Einschränkungsmöglichkeit der Untersuchungszweckgefährdung nicht. Gleiches gilt für die aufgegriffene „nachhaltige Bloßstellung Dritter“ – einmal ganz davon abgesehen, was damit gemeint sein mag.142 141 142

Siehe hierzu i. E. auch Meyer, Akteninformationsrecht, S. 95 m. w. N. So i. E. auch MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 4, 20.

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Selbst wenn man ein von § 147 StPO losgelöstes Einsichtsrecht als noch verfassungskonform ansehen wollte, etwa mit der Begründung, dass die Verteidigung hierdurch schließlich die Einsicht in die Spurenvorgänge erhielte und der Rechtsweg über die §§ 23 ff. EGGVG und die hiermit einhergehende Erschwernis der Verteidigungsvorbereitung nicht berücksichtigt werden könnte, da von einer dieses Einsichtsrecht respektierenden und wohlwollenden Haltung der Staatsanwaltschaften ausgegangen werden müsste, ist der Weg des Gerichts nicht überzeugend. Es ließe sich für diesen zwar anführen, dass die prozessualen Folgen der gerichtlichen Einsichtsverweigerung, wie Verfahrensunterbrechung, -aussetzung oder gar -einstellung auch auf die Nichtgewährung der Spurenakteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft Anwendung finden könnten. Das eingangs angesprochene prozessuale „Druckmittel“ ließe sich demzufolge ebenso auf solche Spurenakten, die auf dem vom Bundesverfassungsgericht vorgeschlagenen Weg eingesehen werden könnten, erstrecken. Als verfassungskonform verbliebe nach zuvor Gesagtem jedoch allenfalls die vom Gericht eröffnete Möglichkeit eines von § 147 StPO losgelösten Einsichtsrechts in die Spurenakten, da die vom Gericht anerkannten Einschränkungsmöglichkeiten den Fairnessvorgaben aus vorbenannten Gründen zuwiderlaufen. Sofern man also annähme, dass sich die verfassungsrechtlichen Vorgaben zumindest mit einem vorbehaltlos geltenden, selbstständigen Einsichtsrecht der Verteidigung ebenso umsetzen ließen wie mit einer entsprechenden Auslegung von § 147 StPO, lägen jedenfalls die methodologischen Voraussetzungen für eine solche richterliche Rechtsfortbildung nicht vor. Bevor ein nicht explizit normierter eigenständiger Rechtsbehelf unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet wird, ist das bestehende Regelungsgefüge – soweit Wortlaut und gesetzgeberischer Wille (zu) einer Norm dem nicht entgegenstehen – verfassungskonform auszulegen.143 Eine richterliche Rechtsfortbildung kommt nur insoweit in Betracht, wie der Wortlaut einer Norm eine entsprechende Auslegung nicht mehr zulässt.144 Das vom Bundesverfassungsgericht postulierte selbstständige Einsichtsrecht kann aus methodischer Sicht folglich nur ein subsidiärer Lösungsansatz sein. Eines entsprechenden Rechtsbehelfs – dessen Grundlage nicht in der StPO liegt – bedarf es aber gerade nicht, weil der Wortlaut und der Regelungszweck von § 147 StPO eine Subsumtion von Spurenakten unter den Aktenbegriff zulassen.145

143 BVerfG NJW 2004, 1305, 1311; siehe auch BVerfGE 128, 193, 210; 132, 99, 127 f.; 134, 204, 238; eingehend Wank, Juristische Methodenlehre, S. 278 f. m. w. N.; Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 418 ff. m. w. N.; siehe hierzu und zum Vorrang der verfassungskonformen Gesetzesauslegung auch Larenz, Methodenlehre, S. 339 f. 144 Eingehend Larenz, Methodenlehre, S. 366 ff. 145 Hiebl, Probleme, S. 113 ff., führt als weiteres Argument gegen ein von § 147 StPO losgelöstes Einsichtsrecht an, dass es für einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Betroffenen einer gesetzlichen Grundlage bedürfe, sodass bereits deshalb der Weg über § 147 StPO notwendig sei.

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Die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen können ebenso wenig über das bereits im Ermittlungsverfahren geltende Beweisantragsrecht des Beschuldigten (vgl. § 163a Abs. 2 StPO) umgesetzt werden. Einerseits derogiert § 147 StPO nach dem Wortlaut, der Entstehungsgeschichte und der Systematik als lex specialis auch das Beweisantragsrecht, andererseits ist hierfür die Darlegung einer gewissen Verfahrensrelevanz erforderlich, wie etwa § 163a Abs. 2 StPO explizit vorgibt. Das Akteneinsichtsrecht kann aus verfassungsrechtlicher Sicht hiervon jedoch nicht abhängen. d) Folgenbetrachtung Im Folgenden sollen die geäußerten Bedenken, die das Bundesverfassungsgericht von der Einordnung der Spurenvorgänge als Akten i. S. v. §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO abgehalten hat, untersucht und hierbei eine weitere Folgenbetrachtung unternommen werden. Das Bundesverfassungsgericht konstatiert, dass durch die Umsetzung der verfassungsrechtlichen Vorgaben über das Beweisantragsrecht – flankiert durch die Einräumung eines von § 147 StPO losgelösten Einsichtsrechts und den gerichtlichen Rechtsschutz über die §§ 23 ff. EGGVG – der Verfahrensablauf im Vergleich zu einer vollständigen Vorlage an das Gericht nicht unverhältnismäßig erschwert und auch nicht nachhaltig gefährdet werde.146 Die Argumentation vermag allerdings nicht zu überzeugen. Zunächst wird das Verfahren im Vergleich mindestens genauso erschwert und darüber hinaus auch gestört und damit gefährdet, wenn außerhalb des Verfahrensganges bei der Staatsanwaltschaft Einsicht in die nicht vorgelegten Spurenvorgänge beantragt werden müsste.147 Denn der Verteidiger müsste parallel zum Strafverfahren die eingesehenen Akten zunächst studieren und anschließend einen Beweisantrag formulieren, um die Spurenakten in das Verfahren einführen zu können. Erforderlichenfalls müsste die Hauptverhandlung unterbrochen werden.148 In jedem Fall müsste der Vorsitzende gem. § 238 Abs. 1 StPO die Vorlage der Spurenakten anordnen; bei Beanstandung der Anordnung etwa durch die Staatsanwaltschaft gem. § 238 Abs. 2 StPO oder bei einer Ablehnung des Beweisantrages gem. § 244 Abs. 6 S. 1 StPO müsste das Gericht über den Beweisantrag beschließen.149 Sofern dem Verteidiger die Einsicht in die Spurenvorgänge nur teilweise gewährt wurde, müsste das Gericht den der Verteidigung bislang unbekannten Teil der Spurenakten sodann der Verteidigung zugänglich machen. Wie bereits angesprochen, geht mit der Lösung über das Beweisantragsrecht im Übrigen eine Verfahrensverzögerung einher, da sich das Gericht mit den in

146

BVerfGE 63, 45, 67. Siehe hierzu auch Hiebl, Probleme, S. 118 ff.; krit. zu diesem von der Rspr. eingewandten Argument auch Beulke, FS Dünnebier, S. 298 f. 148 Ähnlich Hiebl, Probleme, S. 118. 149 Siehe zum Ganzen MüKo-StPO/Trüg/Habetha, Bd. 2, § 244, Rn. 178 f. 147

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den Beweisantrag eingebetteten oder als Anlage beigefügten Spurenakten(-auszügen) unausweichlich auseinandersetzen und eine dem Beweisantrag stattgebende Entscheidung richterlich angeordnet werden müsste. Bis der vom Gericht angeordneten Spurenaktenvorlage von Seiten der Staatsanwaltschaft nachgekommen wird, verzögerte sich das Zwischenverfahren. Dies gilt ebenso im Hauptverfahren: selbst wenn das Gericht bis zur Aktenvorlage die Verhandlung nicht unterbricht, wird sich das Hauptverhandlungsprogramm regelmäßig verlagern, da das Gericht die Spurenakten bei Gerichtseingang zunächst durchsehen müsste, um den weiteren Verfahrensverlauf ggfs. hieran auszurichten.150 Bei gerichtlicher Durchsicht der Spurenakten zur Entscheidung über die Verfahrenseröffnung käme es zu einer solchen Verfahrensverzögerung nicht.151 Einfacher, komplikationsloser und vor allem zügiger verläuft das Verfahren demzufolge, wenn auch die Spurenakten von vornherein dem Gericht vorliegen. Eine durch die Beweisantragsrechtslösung notwendig entstehende Verfahrensverzögerung ist unangemessen, weil sie ohne Weiteres durch eine entsprechende Auslegung des Aktenbegriffs in § 199 Abs. 2 S. 2 StPO zu beseitigen wäre und sich somit als vermeidbar erweist. Ebenso verhält es sich mit dem zugestandenen Einsichtsrecht der Verteidigung. Sofern die Staatsanwaltschaft die Einsicht in die Spurenakten gänzlich verwehrt, würde sich die Einsichtsgewährung bis zur gerichtlichen Entscheidung des oberlandesgerichtlichen Strafsenats verzögern. Wird nur in einen Teil der von der Staatsanwaltschaft nicht vorgelegten Vorgänge Einsicht gewährt, müssten diese studiert und anschließend in einen Beweisantrag eingebettet oder hinsichtlich der restlichen Spurenvorgänge der Strafsenat angerufen werden. Bis der Verteidiger hierdurch Einsicht in die restlichen Spurenakten erhalten kann, müsste wiederum abgewartet werden, bis der Strafsenat entscheidet bzw. bis der Vorsitzende des mit der Sache befassten Gerichts die Spurenaktenvorlage anordnet oder das Gericht hierüber ggfs. beschließt. In jedem Fall verginge weitere Zeit, bis die Staatsanwaltschaft nach Entscheidung des Strafsenats der Verteidigung die Spurenvorgänge zugänglich macht bzw. bis nach der Anordnung des Vorsitzenden/dem Gerichtsbeschluss dem Gericht die Spurenakten tatsächlich vorliegen, um im Anschluss der Verteidigung Einsicht zu gewähren.152 Selbst wenn man – umgekehrt – annehmen wollte, dass durch die vollständige Aktenvorlage gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO im Vergleich zur Nichtvorlage der Spurenakten eine Verfahrensverzögerung eintreten würde, könnte dies nicht für den Lösungsweg des Bundesverfassungsgerichts streiten. Denn die vollumfängliche Tatsachenkenntnis des Gerichts ist aufgrund der umfassenden und unab150 Vgl. exemplarisch die durch die spätere Vorlage der Spurenakten ausgelösten Komplikationen bzw. Verzögerungen bei BGH NStZ 2003, 666, 667; siehe für ein weiteres Bspw. dafür, welche prozessualen Folgen durch nicht vorgelegte elektronische Aktenteile ausgelöst werden können: Hamm, FS Schlothauer, S. 106 ff. 151 Ähnlich Wasserburg NJW 1980, 2440, 2442; Peters NStZ 1983, 275, 276. 152 Dies wird auch von Hiebl, Probleme, S. 118, eingewendet.

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hängigen Überprüfungspflicht der staatsanwaltschaftlichen Ausführungen und Bewertungen gem. Art. 19 Abs. 4 GG,153 des Fairnessgrundsatzes und des materiellen Schuldprinzips154 erforderlich. Damit wäre eine hiermit einhergehende Verfahrensverzögerung nicht vermeidbar, nicht unnötig bzw. gerechtfertigt i. S. d. Kasuistik zum Beschleunigungsgebot,155 sodass hierdurch jedenfalls keine unangemessene bzw. unbegründete Verfahrensverzögerung entstünde,156 sondern vielmehr der gerichtlichen Verfahrensherrschaft und Kognitionspflicht Rechnung getragen wird.157 Geht mit der Vorlage etwaiger mit der angeklagten Tat inhaltlich zusammenhängender Vorgänge eine Verfahrensverzögerung einher, wäre dies mithin rechtlich unbedeutend. Im Übrigen ist das Gericht auch bei der Zugrundelegung eines formellen Aktenbegriffs nicht vor einem größeren Informationsumfang „geschützt“; denn auch hiernach könnte die Staatsanwaltschaft sämtliche Informationsträger dem Gericht vorlegen, wenn sie diese für entscheidungserheblich hielte.158 Insofern kann der diesbezüglichen Ausführung Beckers nur zugestimmt werden, wenn er ausführt: „Ihm [scil. dem Wahrheitserforschungsgrundsatz] muss der Richter auch dann – und gerade dann – gehorchen, wenn äußere Schwierigkeiten seine Befolgung erschweren. Er muss diese bewältigen, gleichgültig, ob sie durch die Unzulänglichkeit der Vorermittlungen, die Beschränktheit oder Lügenhaftigkeit der Zeugen, ungenügende Sachkunde der Gutachter, Obstruktionen Verfahrensbeteiligter, die Eilbedürftigkeit der Sache, die Zeitnot aufgrund eines Übermaßes anderer Geschäfte oder sonstige Umstände hervorgerufen sind.“159

e) Das Gebot willkürfreier Gesetzesauslegung Hinzu kommt, dass die einfachgesetzliche Auslegung des § 199 Abs. 2 S. 2 StPO und des § 147 StPO jeweils für sich eindeutig dafür spricht, den Aktenbegriff (und grundsätzlich auch das Einsichtsrecht) auf das gesamte Informationsmaterial zu erstrecken, das der ermittelnden/anklagenden Staatsanwaltschaft zur Verfügung steht oder gestanden hat und mit dem Ermittlungs-/Anklagegegenstand inhaltlich zusammenhängt. Dieses Auslegungsergebnis ist derart eindeutig, dass eine 153 v. Mangoldt/Klein/Starck-GG/Huber, Bd. 1, Art. 19, Rn. 508 m. w. N.; vgl. im Zshg. mit zurückgehaltenen Akten in einem Verwaltungsgerichtsverfahren: BVerfGE 101, 106, 121 ff.; Dreier-GG/Schulze-Fielitz, Bd. 1, Art. 19 IV, Rn. 116 m. w. N. 154 BVerfGE 57, 250, 275; 118, 212, 231; siehe auch MüKo-StPO/Trüg/Habetha, Bd. 2, § 244, Rn. 4 m. w. N. 155 Siehe hierzu allg. BVerfGE 122, 248, 273. 156 So auch Peters NStZ 1983, 275, 276; siehe im Zshg. mit Art. 6 EMRK allgemein: MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 363 m. w. N. 157 Vgl. etwa auch BVerfGE 57, 250, 283: „Vor der Verfassung hat eine derartige Auswirkung des Verhaltens der Exekutive auf das Strafverfahren nur Bestand, wenn die Einwirkungsmöglichkeiten […] der eigenen Beurteilung durch das Gericht nicht weiter entzogen werden, als dies zur Wahrung verfassungsrechtlich geschützter Belange unumgänglich ist.“ 158 Dies wendet auch Hiebl, Probleme, S. 118, ein. 159 LR-StPO/Becker, Bd. 6, § 244, Rn. 39.

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andere Auslegung gegen das Willkürverbot verstieße. Das Bundesverfassungsgericht sprach sich konsequent hiergegen aus.160 aa) Einfachgesetzliche Ausgangslage Zunächst wurde i. R. d. hiesigen Untersuchung die Vorlagepflicht des § 199 Abs. 2 S. 2 StPO ausgelegt. Der Wortlaut ist ebenso unergiebig wie derjenige des § 147 Abs. 1 StPO. Sowohl die historische als auch die systematische und die teleologische Auslegung streiten jedoch für ein umfassendes Aktenbegriffsverständnis. Zusammengefasst ergab die Auslegung von § 199 Abs. 2 S. 2 StPO nach hiesiger Untersuchung Folgendes: Der Gesetzgeber ging bei der Vorgängernorm, dem § 197 RStPO, von einem umfassenden Aktenbegriff aus. Dem Gericht sollte all das Informationsmaterial übersendet werden, was angefallen wäre, wenn das Gericht die Ermittlungen geführt hätte. Der Gesetzgeber ordnete damit implizit etwa auch Spurenakten als vorzulegende Aktenbestandteile ein. Ein engeres Aktenbegriffsverständnis liefe zudem auf eine bloße Schlüssigkeitsprüfung des Gerichts hinaus, die mit dem Regelungsgefüge zum Zwischenverfahren nicht in Einklang zu bringen ist. Dass die Verfahrensherrschaft mit der Anklageerhebung auf das Gericht übergeht, spricht ebenfalls für einen umfassenden Aktenbegriff. Bestätigt wird dieses Verständnis durch die Funktion des Anklagegrundsatzes und ferner durch den Gegenstand des Ermittlungsverfahrens, der lediglich in der (vorläufigen) Verdachtsklärung liegt. Die Stellung und Funktion der Staatsanwaltschaft, insbesondere die in § 160 Abs. 1, 2 StPO normierte Objektivitätspflicht, und das Offizialprinzip stehen einem umfassenden Aktenbegriff dabei nicht entgegen, sondern gebieten ebenfalls eine umfassende Vorlagepflicht. Dies ergibt sich zum einen aus dem geschichtlichen Hintergrund der Staatsanwaltschaft als Ermittlungs-/Anklagebehörde und dem sich in der StPO fortlaufenden Grundsatz der gegenseitigen staatlichen Kontroll-/Überprüfungsmöglichkeit. Zum anderen kann die Staatsanwaltschaft über die Kernfunktion einer anderen staatlichen Institution nicht verfügen. Das Objektivitätsgebot soll nach dem Leitbild der StPO bzw. dem Grundsatz der Funktionentrennung an dem gerichtlichen Überprüfungsumfang folglich nichts ändern können. Unbeachtlich ist für die Einordnung als Strafaktenbestandteil weiter, ob die Staatsanwaltschaft diesbezüglich die aktenführende Stelle ist. Inhaltlich mit einem Strafverfahren zusammenhängende Vorgänge, die der Staatsanwaltschaft zur Verfügung standen, sind ebenso als Aktenbestandteile einzuordnen. Dies hat die Auslegung von § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG gezeigt und wird insbesondere in § 161 Abs. 3 S. 1 StPO deutlich. Auch in der Gesetzesbegründung zur ursprünglichen Einführung dieser Regelung in § 161 Abs. 2 S. 1 StPO a. F. geht der Gesetzgeber von diesem Verständnis aus. Bestätigt wird diese Annahme auch in weiteren 160

BVerfGE 63, 45, 71.

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Sondergesetzen, wie etwa dem BPolG. Durch § 96 S. 1 StPO und eine Folgenbetrachtung zu § 480 Abs. 1 S. 1 StPO bestätigt sich ebenfalls, dass solche außerstrafprozessualen Vorgänge Strafverfahrensaktenbestandteile sein können. Die StPO verdeutlicht an zahlreichen Stellen den geltenden Grundsatz der Aktenwahrheit/-vollständigkeit. Dieser gebietet für Gericht und Verteidigung ebenfalls einen umfassenden Aktenbegriff. Aus der Akte muss hiernach hervorgehen, was der Ermittlungsanlass war, wer die Ermittlungshandlungen angeordnet hat, welche Erkenntnisse hieraus hervorgegangen sind und mit welchem Ergebnis die Ermittlungen letztlich abgeschlossen wurden. Unbeachtlich soll für die Einordnung als Aktenbestandteil hierbei sein, ob die Informationsträger mit einem Verwertungsverbot behaftet sind. Die gebotene Aktenvollständigkeit erstreckt sich dabei zumindest auf die gesamte Tat im prozessualen Sinne, auch soweit von der Verfolgung abtrennbarer Teile dieser Tat gem. § 154a Abs. 1 S. 1 StPO abgesehen wurde. Dass hierzu auch Spurenvorgänge zählen, ergibt sich hierneben auch aus den §§ 2 f. StPO. Selbst Vorgänge zu weiteren Taten können mit der angeklagten Tat inhaltlich zusammenhängen und demzufolge der Vorlagepflicht unterliegen. Ebenso zählen nach hiesiger Untersuchung die sog. elektronischen Dokumente i. S. d. §§ 32a f. StPO zu den Aktenbestandteilen und zwar unabhängig von ihrer Formwirksamkeit. Lediglich im Fall der Übertragung eines Dokumentes gem. § 32e Abs. 1 StPO ist das Ausgangsdokument nicht mehr Aktenbestandteil, sofern es sich hierbei nicht um ein Beweisstück i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO handelt. Entscheidend ist in jedem Fall gemäß dem gesetzgeberischen Willen, dass der ermittelnden/anklagenden Staatsanwaltschaft diese Vorgänge zur Verfügung standen. Ein umfassender Aktenbegriff ist in gleicher Weise in § 147 StPO zugrunde zu legen. Der Grundsatz der Aktenwahrheit/-vollständigkeit gilt im Allgemeinen und erstreckt sich damit auch auf die Akteneinsicht zu Verteidigungszwecken. Gleiches gilt für die Ausführungen zu den außerstrafprozessualen Vorgängen, die als Aktenbestandteile eingeordnet werden können. Darüber hinaus bezieht sich der Aktenbegriff in § 147 StPO explizit auf die gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegenden Akten, § 147 Abs. 1 StPO. Bereits die §§ 3, 153c ff. StPO belegen, dass der Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens i. S. v. 160 StPO ebenfalls eine Tat im prozessualen Sinne ist. Die einfachgesetzliche Auslegung des in § 147 StPO normierten Aktenbegriffs hat hinsichtlich des Informationsumfanges zudem Folgendes ergeben: Zunächst ging der historische Gesetzgeber bei der Einführung des § 147 RStPO ebenfalls von einem umfassenden Aktenbegriff aus. Diese Sichtweise hat der Gesetzgeber bis heute nicht aufgegeben. Für die Verteidigung ergibt sich ein umfassendes Begriffsverständnis zudem aus einer weiteren systematischen Analyse. Der Regelungsabschnitt, in dem § 147 StPO normiert ist, veranschaulicht das hohe Gewicht des Verteidigungsrechtes im Allgemeinen und auch des Akteneinsichtsrechts im Besonderen. Der Bedeutungsgehalt des Akteneinsichtsrecht zeigt sich auch in § 147 Abs. 2 S. 1, Abs. 6 StPO und den §§ 114b Abs. 2 S. 1, 304 Abs. 4 StPO.

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Zudem bedarf es zur Klassifizierung eines Informationsträgers als Aktenbestandteil keines Zuführungsaktes von Seiten der Staatsanwaltschaft. Hierfür spricht ein Vergleich mit § 275 Abs. 1 S. 1 StPO und § 273 Abs. 2 S. 2, S. 3 StPO. Auch der Wille des historischen Gesetzesgebers bei der Einführung des § 197 RStPO und des § 147 RStPO spricht gegen ein solches Begriffsverständnis. Neben dem Grundsatz der Aktenwahrheit/-vollständigkeit lässt auch die Untersuchung der außerstrafprozessualen Vorgänge für einen Zuführungsakt keinen Raum. Spätestens an § 2 Nr. 1 S. 2 IFG oder § 46 Abs. 2 S. 2 BDSG a. F. wird erkennbar, dass der Gesetzgeber in den §§ 147, 32f StPO und § 199 Abs. 2 S. 2 StPO ansonsten eine andere Formulierung gewählt hätte. Demgemäß verdeutlicht die vergleichbare Formulierung in § 385 Abs. 3 S. 1 StPO, dass der Passus „vorzulegen wären“ in § 147 Abs. 1 StPO lediglich zeitlich-hypothetisch zu verstehen ist. In diese Formulierung ein Aussonderungsrecht der Staatsanwaltschaft hineinzulesen, wäre bereits mit dem Regelungsgefüge des Privatklageverfahrens nicht vereinbar. Bestätigend deutet sich ein aussonderungsfestes Begriffsverständnis ferner im Vergleich zu den Formulierungen in den §§ 29 Abs. 1 S. 1 VwVfG, 25 Abs. 1 S. 1 SGB X an. Die Objektivitätspflicht der Staatsanwaltschaft ist als Argument für ein engeres Begriffsverständnis betreffend § 147 StPO jedoch auch aus teleologischer Sicht nicht tragfähig. Die Funktion und Stellung des Verteidigers bzw. der Regelungszweck des § 147 StPO und auch der Grundsatz der Aktenwahrheit/vollständigkeit bedingen eine umfassende Akteneinsicht des Verteidigers und damit auch einen umfassenden Aktenbegriff. Auch aus datenschutzrechtlicher Sicht sind den Betroffenen weitgehende Informationsrechte zu gewähren, deren ratio über § 500 Abs. 1 StPO auch auf § 147 StPO übertragbar ist. Dem in § 147 StPO normierten Aktenbegriff das vollständige Ermittlungsmaterial (mindestens betreffend die jeweilige prozessuale Tat) samt ggfs. einzubeziehender außerstrafprozessualer Vorgänge zuzuschreiben, ergibt sich zum einen also aus der umfassenden Vorlagepflicht des § 199 Abs. 2 S. 2 StPO und dem hierauf bezugnehmenden Wortlaut von § 147 Abs. 1 StPO. Von § 199 Abs. 2 S. 2 StPO abgesehen, ergibt sich ein für die Verteidigung geltender weiter Aktenbegriff wiederum aus der inneren und äußeren Systematik, der Teleologie und der Historie des § 147 StPO. Wie ebenfalls herausgearbeitet wurde, sind Aktenbestandteile dabei die Informationsträger im Original, wozu generell auch die Beweisstücke beispielsweise i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO zählen, von denen der Verteidigung zwecks Integritätsschutzes jedoch nur eine originalgetreue Kopie zu überlassen ist, was im Einzelfall auch für etwaige Dateien oder Daten gelten kann. bb) Maßstab des Willkürverbots Daran anknüpfend lässt sich die Pflicht, einen weiten Aktenbegriff zugrunde zu legen, verfassungsrechtlich auch aus Art. 3 Abs. 1 GG (i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip)161 herleiten. Zwar ist das Bundesverfassungsgericht keine „Superrevisi161

Lang ZJS 2015, 39 f. m. w. N.

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onsinstanz“, es überprüft grundsätzlich nicht die schlichte Falschanwendung des Rechts.162 Jedoch kann die Auslegung einer Norm deren Bedeutungsgehalt derart missdeuten bzw. sich als methodisch schlechterdings nicht mehr vertretbar erweisen, sodass ausnahmsweise die Grenze zur Willkür erreicht wird.163 Dies ist in der Spurenakten-Entscheidung mit der Zugrundelegung des eingeschränkten Aktenbegriffs geschehen. Als Beispiel aus der bundesverfassungsrechtlichen Judikatur, welches ebenfalls die Gesetzesauslegung im Strafverfahrensrecht zum Gegenstand hatte, dient der stattgebende Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Negativmitteilungspflicht. Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage der Auslegung des § 243 Abs. 4 S. 1 StPO betreffend ein vom 5. Strafsenat beim BGH vertretenes Auslegungsergebnis für willkürlich und damit verfassungswidrig erklärt. Kern des Beschwerdeverfahrens war die Frage, ob § 243 Abs. 4 S. 1 StPO eine Negativmitteilungspflicht – also die Mitteilungspflicht auch in dem Fall, dass Verständigungsgespräche nicht stattgefunden haben – normiert.164 In der Entscheidung wurde vorangestellt, dass der Wortlaut von § 243 Abs. 4 S. 1 StPO mehrere Deutungsvarianten zulässt, die Gesetzessystematik, der gesetzgeberische Wille – wie er in den Gesetzesmaterialien zu verschiedenen Normen zum Ausdruck gebracht worden ist und auch durch die Entstehungsgeschichte ersichtlich wird – und der objektive Regelungszweck jedoch für eine Negativmitteilungspflicht streiten.165 Das Auslegungsergebnis betreffend den Aktenbegriff in den §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO ist ebenso wie bei § 243 Abs. 4 S. 1 StPO eindeutig. Die subjektiv- bzw. entstehungszeitlich-historische, die objektiv- bzw. geltungszeitlich-teleologische und die systematische Auslegung166 erfordern, einen umfassenden Aktenbegriff sowohl in § 199 Abs. 2 S. 2 StPO als auch in § 147 StPO anzunehmen. Im Zuge der einfachgesetzlichen Auslegung wurden alle erdenklichen Bedeutungsvarianten erschöpfend untersucht. Dabei spricht keine der Auslegungskriterien für einen eingeschränkten Aktenbegriff. Nach alledem handelt es sich bei dem jeweils zugrunde gelegten umfassenden Aktenbegriff um ein methodisch gesichertes Auslegungsergebnis.167 Da der Wortlaut diese Bedeutungsvariante zulässt, bleibt für andere Auslegungen schlicht kein Raum mehr. Auch die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen gebieten jeweils einen entsprechend umfassenden Aktenbe162

Siehe nur BVerfGE 80, 48, 51; st. Rspr. BVerfGE 70, 93, 98; v. Mangoldt/Klein/Starck-GG/Wollenschläger, Bd. 1, Art. 3, Rn. 216 f. m. w. N.; Lang ZJS 2015, 40 f. 164 BVerfG NStZ 2014, 592, 593 m. Anm. Hunsmann. 165 Vgl. BVerfG NStZ 2014, 592, 593 f. m. Anm. Hunsmann; auch in BVerfGE 62, 338, 342 ff., wurde eine Auslegung des Strafprozessrechts (dort im Zshg. mit § 147 StPO) als Verstoß gegen das Willkürverbot angesehen; siehe bspw. auch die Auslegung von § 274 StPO unter tiefgründiger Aufarbeitung des gesetzgeberischen Willens im Sondervotum von Voßkuhle, Osterloh und Di Fabio in BVerfGE 122, 248, 282 ff. 166 Siehe hierzu allg. Larenz, Methodenlehre, S. 344; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 744 ff.; Wank, Juristische Methodenlehre, S. 283 ff. 167 Eingehend allg. Larenz, Methodenlehre, S. 344. 163

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griff. §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO können – mangels angemessener Alternativen im einfachen Recht – ebenfalls nur bei der Zugrundelegung eines umfassenden Aktenbegriffs verfassungsrechtlich Bestand haben.168 Würde der Aktenbegriff abweichend von der hier vertretenen Bedeutungsvariante verstanden, so wäre eine solche Gesetzesauslegung „unter keinem denkbaren Aspekt mehr rechtlich vertretbar“,169 sodass sich „der Schluss aufdrängt, dass die Entscheidung auf sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen beruht.“170 Eine abweichende Gesetzesauslegung verstößt bei diesem eindeutigen Auslegungsergebnis, insbesondere mit Blick auf den verobjektivierten gesetzgeberischen Willen zu den §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO, gegen das Willkürverbot.171 Gegen die Spurenakten-Entscheidung spricht mithin als weiterer Aspekt, dass der eingeschränkte Aktenbegriff auf Grundlage der hiesigen Untersuchung gegen das verfassungsrechtliche Willkürverbot verstößt. Zudem verbietet sich eine Auslegung des Aktenbegriffs in den §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO, nach dem die Spurenakten ausgeklammert werden, auch unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung, da hierdurch der insoweit eindeutige gesetzgeberische Wille missachtet werden würde.172

3. Zwischenfazit Die bislang unbeantwortet gelassene Frage, ob es auch aus verfassungsrechtlicher Sicht erforderlich ist, den aufgezeigten Gewährleistungen über eine verfassungskonforme Auslegung des Aktenbegriffs in § 147 StPO und § 199 Abs. 2 S. 2 StPO gerecht zu werden, ist nach der Analyse der Spurenakten-Entscheidung mit „Ja“ zu beantworten. Gegen die Umsetzung der verfassungsrechtlichen Vorgaben über ein (wie auch immer ausgestaltetes) Beweisantragsrecht spricht generell die Rechtsschutzgarantie. Selbst mit dem flankierten Einsichtsrecht, das neben § 147 StPO gelten solle, können die Verfassungsvorgaben durch die Beweisantragsrechtslösung nicht hinreichend umgesetzt werden. Einer Lösung auf Grundlage des Beweisantragsrechts stehen neben dem Gewährleistungsgehalt des Art. 19 Abs. 4 GG schließlich die ebenfalls verfassungsrechtlich determinierte Instruktionsmaxime und das Fairnessgebot entgegen. Die hieraus erwachsenen Gewährleistungen lassen sich auch nicht über andere prozessuale Instrumente umsetzen. Eine Lösung über Art. 35 Abs. 1 GG oder § 202 S. 1 StPO führte zu einer unangemessenen Verfahrensverzögerung und wäre im Übrigen auch nicht methodengerecht. In168

Siehe hierzu allg. Larenz, Methodenlehre, S. 344. BVerfG NStZ 2014, 592, 593 m. Anm. Hunsmann; siehe auch BVerfGE 86, 59, 63; st. Rspr. 170 BVerfG NStZ 2014, 592, 593 m. Anm. Hunsmann; siehe auch BVerfGE 86, 59, 63; st. Rspr. 171 Siehe hierzu allg. BVerfG NStZ 2014, 592, 593 m. Anm. Hunsmann. 172 So allg. bspw. auch BVerfGE 9, 89, 102. 169

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sofern verbleibt zur Umsetzung der verfassungsrechtlichen Gewährleistungen lediglich eine entsprechende Auslegung von § 199 Abs. 2 S. 2 StPO. Demzufolge ergibt sich die Pflicht zur Umsetzung der verfassungsrechtlichen Vorgaben, die § 147 StPO einfachgesetzlich ausfüllt, aus dessen eindeutigem Wortlaut, in dem auf die dem Gericht vorliegenden/vorzulegenden Akten Bezug genommen wird, und der durch eine entsprechende Auslegung des Aktenbegriffs in § 147 Abs. 1 StPO Rechnung zu tragen ist. Unabhängig hiervon, bringt das der Verteidigung zuerkannte Einsichtsrecht in die Spurenakten, das nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts losgelöst von § 147 StPO besteht, die Gewährleistungen aus dem Waffengleichheitspostulats nicht hinreichend zur Geltung. Jedenfalls ist der vom Gericht angenommene Vorbehalt, nach dem die Einsicht nicht zu einer Untersuchungszweckgefährdung betreffend Ermittlungsverfahren gegen anderweitig verfolgte Beschuldigte oder zu einer nachhaltigen Bloßstellung Dritter führen dürfe, mit dem Gebot der Aktenwahrheit/-vollständigkeit, den allgemeinen Gewährleistungen des Waffengleichheitsgebots und der verfassungsrechtlich verbürgten Funktion des Verteidigers unvereinbar. Die Untersuchungszweckgefährdung kann lediglich in dem jeweiligen Ermittlungsverfahren Geltung erlangen. Ein etwaiges allgemeines Persönlichkeitsrecht eines Dritten ist ebenfalls nicht gewichtig genug, um den verfassungsrechtlich garantierten Offenlegungsanspruch zu beschränken.173 Ein vorbehaltloses Einsichtsrecht im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung trotz der Existenz des § 147 StPO anzunehmen, wäre methodisch nicht haltbar. Das Beweisantragsrecht stellt ebenfalls keine angemessene Alternative zur Umsetzung der Verfassungsvorgaben über § 147 StPO dar. Soweit vom Bundesverfassungsgericht angenommen wird, dass durch die gewählte Auslegungsvariante das Strafverfahren nicht unverhältnismäßig erschwert oder nachhaltig gefährdet werde, vermag auch dies nicht zu überzeugen. Zum einen wird das Strafverfahren durch die vom Gericht gewählte Lösung bei näherer Betrachtung nämlich mindestens genauso erschwert und gefährdet. Darüber hinaus geht mit der vom Gericht vertretenen Lösung eine Verfahrensverzögerung einher, die schlicht durch eine entsprechende Auslegung des § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vermieden werden kann, was deshalb auch zur Unangemessenheit einer solchen Verfahrensverzögerung führt. Auch die Gewährung der Akteneinsicht an die Verteidigung würde in unbegründeter Weise verzögert werden, wenn die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen nicht durch eine entsprechende Auslegung der §§ 147 Abs. 1, 32f StPO umgesetzt werden. Zudem ist das i. R. d. hiesigen Untersuchung dargelegte Auslegungsergebnis vom Wortsinn des Aktenbegriffs gedeckt. Die weiteren Auslegungskriterien sprechen jeweils eindeutig für einen umfassenden Aktenbegriff in §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO. Eine einschränkende Begriffsdeutung verbietet sich demzufolge auch mit Blick auf das verfassungsrechtliche Willkürverbot. Die Spurenvorgänge, die im Zuge der Ermittlungen eines im Raum stehenden Geschenensablaufes ange173

Siehe eingehend S. 570 ff.

III. Konventionsrecht

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fallen sind, aus dem Aktenbegriff der §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO auszuklammern, obwohl dem jeweiligen Beschuldigten (nunmehr) ebendieser Geschehensablauf angelastet wird, widerspricht auch dem insoweit eindeutigen gesetzgeberischen Willen. Spurenvorgänge aus dem Aktenbegriff auszunehmen, verstößt mithin auch gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz. Insofern sind die verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht nur i. R. d. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO, sondern zwingend auch bei der Zugrundelegung des in § 147 Abs. 1 StPO normierten Aktenbegriffs ins einfache Recht umzusetzen. Der durch die einfachgesetzliche Auslegung herausgearbeitete Aktenumfang ist auch aus verfassungsrechtlicher Sicht geboten. Der Aktenbegriff erstreckt sich mit Blick auf den Gegenstand des Ermittlungsverfahrens und die gerichtliche Kognitionspflicht dabei auch aus verfassungsrechtlicher Sicht zumindest auf die gesamten Vorgänge der jeweils verfahrensgegenständlichen prozessualen Tat.

III. Konventionsrecht Wie sich im Nachfolgenden zeigen wird, ist ein umfassendes Aktenbegriffsverständnis auch aus völkerrechtlicher Sicht notwendig. Die Vorgaben aus der EMRK, die durch die Rechtsprechung des EGMR konkretisiert werden,174 gebieten dies. Die EMRK ist bei der Auslegung des nationalen Strafverfahrensrechts – soweit dies methodisch vertretbar ist,175 der Grundrechtsschutz hierdurch nicht eingeschränkt würde,176 insbesondere das Konventionsrecht nicht gegen tragende Verfassungsgrundsätze verstößt177 – zu berücksichtigen, vgl. Art. 59 Abs. 2, 20 Abs. 3 GG.178 Auch der in den Art. 23 bis 26 GG angelegte Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit erfordert eine konventionskonforme Auslegung der nationalen Normen einschließlich des Grundgesetzes,179 die sich wiederum an der Rechtsprechung des EGMR zu orientieren hat. Die Rechtsprechung des EGMR ist über die Verfahrensbeteiligten und den Streitgegenstand der jeweiligen Entscheidung hinaus von allen Mitgliedsstaaten zu berücksichtigen und entfaltet in diesem Sinne zumindest faktisch eine Präzedenz-180 bzw. präjudizielle Wirkung.181 174 BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 319; 128, 326, 367 ff.; Zehetgruber ZJS 2016, 52, 54; siehe auch NK-EMRK/Meyer-Ladewig/Brunozzi, Art. 46 EMRK, Rn. 16; SK-StPO/Meyer, Bd. 10, Einl., Rn. 125. 175 Siehe nur BVerfGE 128, 326, 371, 399 ff. 176 BVerfGE 128, 326, 371. 177 Siehe BVerfGE 111, 307, 319; eingehend Viellechner, Berücksichtigungspflicht, S. 146 f. 178 Vgl. MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 6, 11; BVerfGE 111, 307, 316. 179 MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 7 m. w. N.; BVerfGE 128, 326, 367 ff. 180 BVerfGE 128, 326, 368 f. m. w. N.; siehe auch BVerfGE 111, 307, 324. 181 Siehe hierzu erneut Payandeh JöR 2020, 1, 26–34; MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 10 f. m. w. N.; Zehetgruber ZJS 2016, 52, 56 ff. m. w. N.; Ambos, Internationales Strafrecht, § 10, Rn. 14 m. w. N.

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C. Verfassungs-, Völker- und Europarecht

Art. 6 EMRK, aber auch Art. 5 EMRK, steht bei dem Akteneinsichtsrecht thematisch im Mittelpunkt und ist im Wege einer völkerrechtskonformen bzw. völkerrechtsfreundlichen Auslegung der §§ 147, 32 ff., 199 Abs. 2 S. 2 StPO zu beachten.

1. Die Vorgaben des Art. 6 EMRK im Allgemeinen Zunächst ist bei der Bestimmung des Umfanges der Akteneinsicht zu Verteidigungszwecken Art. 6 Abs. 1 EMRK samt seinen Ausprägungen im dritten Absatz zu berücksichtigen. Soll der Angeklagte die Möglichkeit haben, umfassend an der gerichtlichen Entscheidung mitzuwirken,182 so geht hiermit ein umfassendes Aktenbegriffsverständnis im Sinne der vorausgegangenen Untersuchung einher. Den Ausgangspunkt der Verfahrensfairness stellt die Forderung nach einer mündlichen und vor allem adversatorisch ausgestalteten Verhandlung dar.183 Art. 6 EMRK ist insgesamt auf eine effektive und wirksame Teilhabe der Verteidigung am Verfahren ausgelegt.184 Durch Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK soll Beschuldigten demgemäß insbesondere eine möglichst umfassende185 Information gewährt werden, um eine wirksame Verteidigung zu ermöglichen.186 Letztlich geht dieser Informationsanspruch so weit, wie ein zu forderndes Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten respektive Verteidigers.187 Insofern sind nicht nur die Informationsträger, die ursprünglich von der Staatsanwaltschaft erstellt oder bei ihr angelegt worden sind, der Verteidigung zur Verfügung zu stellen; das Fairnessgebot erfordert auch eine Zugänglichma182 MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 2, 98 m. w. N. und Rn. 280; vgl. auch Jahn ZStW 127 (2015), 549, 590. 183 EGMR, Urt. v. 06.12.1988, No. 10590/83, Barbera`, Messegue´ u. Jabardo/ESP, Series A Nr. 146, Rn. 78; EGMR, Urt. v. 20.11.1989, No. 11454/85, Kostovski/NLD, Series A Nr. 166, Rn. 41; EGMR, Urt. v. 19.12.1989, No. 9783/82, Kamasinski/AUT, Series A Nr. 168, Rn. 102; EGMR, Urt. v. 20.09.1993, No. 14647/89, Saidi/FRA, Series A Nr. 261-C, Rn. 43; EGMR, Urt. v. 17.07.2001, No. 29900/96 u. a., Sadak u. a./TUR I, Reports 2001-VIII, 267, Rn. 64; MüKoStPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 279. 184 EGMR [GK], Urt. v. 16.12.1999, No. 24724/94, T./GBR, Rn. 83: „The Court notes that Article 6, read as a whole, guarantees the right of an accused to participate effectively in his criminal trial […].“; hierzu MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 280. 185 EGMR [GK], Urt. v. 25.03.1999, No. 25444/94, Pe´lissier u. Sassi/FRA, Reports 1999-II, 279, Rn. 51: „information should […] be detailed.“; MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 141. 186 Vgl. EGMR, Urt. v. 21.10.1996, No. 21625/93, De Salvador Torres/ESP, Rn. 28; EGMR [GK], Urt. v. 25.03.1999, No. 25444/94, Pe´lissier u. Sassi/FRA, Reports 1999-II, 279, Rn. 52, 54; EGMR, Urt. v. 25.07.2000, No. 23969/94, Mattoccia/ITA, Reports 2000-IX, 89, Rn. 59 ff.; MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 141. 187 So i. E. auch SSW-StPO/Satzger, Art. 6 EMRK, Rn. 43, mit Verweis auf EGMR, Urt. v. 12.03.2003, No. 46221/99, Öcalan/TUR I, Rn. 158 ff., wobei eher Rn. 159 ff. treffend sind.

III. Konventionsrecht

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chung desjenigen Informationsmaterials, das sich im weiteren Verlauf beim Gericht ansammelt oder vom Gericht erstellt wurde. Insofern sind bspw. auch etwaige vom Gericht erstellte oder beim Gericht eingereichte elektronische Dokumente i. S. d. §§ 32a f. StPO als einzusehende Informationsträger anzusehen. Auf die Formwirksamkeit kann es hierbei ebenfalls nicht ankommen, da die allgemeinen Fairnessvorgaben auf ein umfassendes Mitwirkungsrecht an der gerichtlichen Entscheidung abzielen. Auch aus konventionsrechtlicher Sicht kann es für die Zugänglichmachung von Ermittlungsmaterial nicht darauf ankommen, ob der Informationsträger selbst oder das dem Informationsträger zugrundeliegende Beweismittel zulasten des Beschuldigten verwertbar ist. Vorstehendes liegt in der Sache auch einer Entscheidung des schweizerischen Bundesgerichts zugrunde, um hier ein Rechtsprechungsbeispiel eines anderen Staates zu nennen, der die EMRK ratifiziert hat: „Das Akteneinsichtsrecht soll sicherstellen, dass der Angeklagte als Verfahrenspartei von den Entscheidgrundlagen Kenntnis nehmen und sich wirksam und sachbezogen verteidigen kann […]. Die effektive Wahrnehmung dieses Anspruchs setzt notwendig voraus, dass die Akten vollständig sind […]. In einem Strafverfahren bedeutet dies, dass die Beweismittel, jedenfalls soweit sie nicht unmittelbar an der gerichtlichen Hauptverhandlung erhoben werden, in den Untersuchungsakten vorhanden sein müssen und dass aktenmässig belegt sein muss, wie sie produziert wurden, damit der Angeklagte in der Lage ist zu prüfen, ob sie inhaltliche oder formelle Mängel aufweisen und gegebenenfalls Einwände gegen deren Verwertbarkeit erheben kann. Dies ist Voraussetzung dafür, dass er seine Verteidigungsrechte überhaupt wahrnehmen kann.“188

Der Informationsanspruch geht ferner auf Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK zurück.189 Nach Auffassung des EGMR ist das Beweismaterial weitestgehend offenzulegen, da ansonsten der Gehörsanspruch beeinträchtigt wäre, was zu vermeiden sei.190 Auch gebiete eine ausreichende Gelegenheit zur Verteidigungsvorbereitung, dass jede Verfahrenspartei die Beweismittel unter solchen Bedingungen in das Verfahren einbringen und präsentieren könne, nach denen im Vergleich zur anderen

188 Schweizerisches Bundesgericht BGE 129 I 85, 88 f.; hierzu MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 159. 189 Vgl. nur EGMR, Urt. v. 12.03.2003, No. 46221/99, Öcalan/TUR I, Rn. 163: „The Court therefore holds that the fact that the applicant was not given appropriate access to any documents in the case file other than the indictment also served to compound the difficulties encountered in the preparation of his defence, in breach of the provisions of Article 6 § 1, taken together with Article 6 § 3 (b).“ 190 EGMR, Urt. v. 16.12.1992, No. 13071/87, Edwards/GBR, Series A Nr. 247-B, Rn. 36: „The Court considers that it Is a requirement of fairness […], that the prosecution authorities disclose to the defence all material evidence for or against the accused […].“; vgl. auch EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 28901/95, Rowe u. Davis/GB, Reports 2000-II, 287, Rn. 60; vgl. EGMR [GK], Urt. v. 27.10.2004, Nos. 39647/98, 40461/98, Edwards u. Lewis/GBR, Reports 2004-X, 61, Rn. 46; ähnlich EGMR, Urt. v. 25.09.2001, No. 44787/98, P.G. u. J.H./GBR, Reports 2001-IX, 195, Rn. 67 f.; MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 150 und 156.

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C. Verfassungs-, Völker- und Europarecht

(„gegenüberstehenden“) Verfahrenspartei keine nachteilige Situation entstehe.191 Es ist letztlich also Parität der Bedingungen zur Vorbereitung seines Standpunktes zu schaffen.192 Noch deutlicher als das Bundesverfassungsgericht fordert der EGMR also, dass der Verteidigung nicht nur das vollständige Informationsmaterial der Staatsanwaltschaft zugänglich gemacht werden muss, sondern darüber hinaus, dass auch die Bedingungen, unter denen mit Hilfe des Aktenstudiums die Geltendmachung der Verteidigungsaspekte vorbereitet werden, denen der Staatsanwaltschaft entsprechen müssen. Insofern müssten Informationsträger, die aus Integritätsgründen nicht herausgegeben werden, der Verteidigung hilfsweise in Kopie ausgehändigt werden und die Verteidigung dürfte nicht etwa auf die Einsicht oder Besichtigung in etwaigen Diensträumen verwiesen werden. Nur so wäre der Verteidigung der Informationsstand der Staatsanwaltschaft unter gleichartigen Bedingungen zugänglich gemacht worden. Schon die vorbenannten Leitsätze des EGMR gebieten es folglich, der Verteidigung von Informationsträgern, die als Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO angesehen werden, Einsicht hilfsweise in eine Kopie zu gewähren, wenn man einfachgesetzlich das Beweisstückbesichtigungsrecht aus § 147 Abs. 1 StPO nicht i. S. e. gleichartigen Übersendungsrechts verstehen wollte. In jedem Fall ist hiermit Folgendes aus völkerrechtlicher Sicht vorgegeben: Die Staatsanwaltschaft oder im weiteren Verlauf das Gericht muss der Verteidigung Beweisstücke zumindest in Form einer Kopie zur Verfügung stellen und dies in einer Weise, nach der die Begleitumstände bei der Auseinandersetzung mit diesem Beweisstück denen der Staatsanwaltschaft weitestgehend entsprechen. Zu denken ist in diesem Zusammenhang insbesondere an Datenträger mit TKÜ-Aufzeichnungen, wenn der Zurverfügungstellung solcher Informationsträger andere Gründe nicht entgegenstehen. Dies wird im weiteren Verlauf gesondert untersucht.193 Die einfachgesetzliche Auslegung des Begriffs „Beweisstück“ und die gesetzgeberische Vorstellung, nach der diese als Aktenbestandteile anzusehenden Informationsträger zwecks Überlassung zu kopieren sind, ist völkerrechtlich zwin191 Vgl. Im Zshg. mit u. a. Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK: EGMR, Urt. v. 12.03.2003, No. 46221/99, Öcalan/TUR I, Rn. 166: „The principle of equality of arms is only one feature of the wider concept of a fair trial, which also includes the fundamental right that criminal proceedings should be adversarial. The right to an adversarial trial means, in a criminal case, that both prosecution and defence must be given the opportunity to have knowledge of and comment on the observations filed and the evidence aduced by the other party.“; siehe im Zshg. Mit Art. 6 Abs. 1 EMRK: EGMR, Urt. v. 27.10.1993, No. 14448/88, Dombo Beheer B.V./NLD, Series A Nr. 274, Rn. 33: „[…] ,equality of arms‘ implies that each party must be afforded a reasonable opportunity to present his case – including his evidence – under conditions that do not place him at a substantial disadvantage vis- a`-vis his opponent.“; eingehend SSW-StPO/Satzger, Art. 6 EMRK, Rn. 40. 192 Vgl. EGMR, Urt. v. 20.01.2005, No. 63378/00, Mayzit/RUS, Rn. 78 f.; dem folgend SSW-StPO/Satzger, Art. 6 EMRK, Rn. 41; dies fordert im Zshg. mit § 147 StPO etwa auch Bell, Akteneinsicht, S. 47 f. 193 Siehe S. 570 ff.

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gend. Vorstehendes vorausgeschickt, verstieße auch eine Auslegung des § 32e Abs. 1 S. 2 StPO, die ein im Vergleich zur hiesigen Untersuchung weitergehendes Ermessen in Form eines echten Aussonderungsermessens normiert, gegen das völkerrechtliche Fairnessgebot. Ob das Informationsmaterial der Verteidigung als Original, als originalgetreue Kopie oder als originalgetreu übertragenes Dokument überlassen wird, ist auch aus Sicht der EMRK unbeachtlich. Denn entscheidend ist insoweit nur, dass das Informationsmaterial der Verteidigung inhaltlich zumindest originalgetreu zur Verfügung gestellt wird. In diesem Sinne hat der österreichische Verfassungsgerichtshof § 52 Abs. 1 öStPO a. F. für teilweise verfassungswidrig erklärt.194 Der Wortlaut der Norm, der zur Diskussion stand, lautete: „Soweit dem Beschuldigten Akteneinsicht zusteht, sind ihm auf Antrag und gegen Gebühr Kopien (Ablichtungen oder andere Wiedergaben des Akteninhalts) auszufolgen oder herstellen zu lassen; dieses Recht bezieht sich jedoch nicht auf Ton- oder Bildaufnahmen […].“195

Gem. dem seinerzeit bereits in Kraft gewesenen § 51 Abs. 1 S. 2 öStPO hatte der Beschuldigte – vergleichbar dem in § 147 Abs. 1 StPO normierten Besichtigungsrecht – zudem das Recht, Beweisgegenstände in Augenschein zu nehmen.196 Bei dem eindeutigen Wortlaut des § 52 Abs. 1 öStPO (a. F.) sei eine völkerrechts- bzw. verfassungskonforme Auslegung nicht möglich; das aus Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. b EMRK abzuleitende Waffengleichheitsgebot gebiete es jedoch, der Verteidigung den Zugang zu Ton-/Bildaufnahmen unter gleichartigen Bedingungen zu gewähren. Der Staatsanwaltschaft stünden etwaige Aufzeichnungen jedoch uneingeschränkt zur Verfügung, sie könne die Aufzeichnungen oder zumindest Kopien hiervon zu ihren Unterlagen nehmen, diese wiederholt und ohne zeitliche Beschränkungen abhören/besichtigen, sie könne Details auswerten und diese Aufzeichnungen oder Ausschnitte hiervon zur Untermauerung der Anklage verwenden. Bei vorstehender Rechtslage könne die Verteidigung die Ton-/Bildaufzeichnungen hingegen lediglich zeitlich beschränkt in den Diensträumen der Staatsanwaltschaft in Augenschein nehmen. Hierdurch werde der Beschuldigte gegenüber der Staatsanwaltschaft grundsätzlich und nachhaltig schlechter gestellt. Eine ersatzweise Verschriftlichung bzw. ein Ausdruck des Aufzeichnungsinhaltes komme ebenfalls nicht in Betracht; zudem sei die Erstellung und Zurverfügungstellung von entsprechenden Datenträgern in jedem Fall verhältnismäßig.197 Seit dem Inkrafttreten des reformierten § 52 Abs. 1 öStPO wird im Wortlaut hinsichtlich des Einsichtsrechts (im Wesentlichen) nicht mehr zwischen der Beschaffenheit der Aktenbestandteile unterschieden.198 194

VfGH JBl 2013, 100, 105 f. m. zust. Anm. Zehetgruber JSt 2013, 110 ff. BGBl. I 19/2004, S. 21; ergänzt durch BGBl. I Nr. 52/2009, S. 20. 196 BGBl. I 19/2004, S. 21. 197 Siehe zum Vorstehenden VfGH JBl 2013, 100, 105 f. m. Anm. Zehetgruber JSt 2013, 110 ff. 198 BGBl. I 27/2013, S. 1; seit BGBl. I 195/2013, S. 2, ist eine Zurverfügungstellung von 195

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C. Verfassungs-, Völker- und Europarecht

Ein umfassendes Aktenbegriffsverständnis ergibt sich auch aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK. Hierzu stellt der EGMR fest, dass die Verteidigung in ihrer Strategie selbstbestimmt und frei sein muss.199 Ein Begriffsverständnis, nach dem die Staatsanwaltschaft ein Aussonderungsrecht hinsichtlich der Verfahrensrelevanz betreffend die Verteidigung innehat, ist hiernach ebenso wenig zulässig wie aus verfassungsrechtlicher Sicht. Elektronische Dokumente müssen demnach unabhängig von der Einhaltung der Formvorgaben der §§ 32a f. StPO der Verteidigung ebenso zugänglich gemacht werden, wie der Staatsanwaltschaft die Wahrnehmung möglich war. Soweit derartige Dokumente lediglich im Besitz des Gerichts sind, müssen diese aufgrund des Art. 6 Abs. 3 lit. b, c EMRK jedenfalls in irgendeiner Form auch der Verteidigung zugänglich gemacht werden. Das Recht auf die Hinzuziehung eines Verteidigers und die Funktionen des Verteidigers erlangen über Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK zudem auch konventionsrechtlichen Schutz.200 Das Recht auf Verteidigerbeistand soll bestehende rechtliche Nachteile des Beschuldigten gegenüber den Strafverfolgungsbehörden ausgleichen und dient folglich (ebenso wie aus verfassungsrechtlicher Sicht) der Waffengleichheit.201 Durch die Beiziehung eines Verteidigers soll garantiert werden, dass die Verteidigung mit derselben Effektivität wie die Strafverfolgungsbehörde gehört wird,202 sodass die Rechte des Angeklagten voll entfaltet werden können („watchdog of procedural regularity“).203 Die staatliche Institution der Staatsanwaltschaft ist dem Beschuldigten unter anderem in dem Punkt überlegen, dass ihr ein größeres Vertrauen zum prozessordnungsgemäßen Verhalten zugeschrieben wird204 und sie aufgrund ihrer überlegenen Fachkenntnisse und ihrer Rechtsstellung deutlich bessere Einflussmöglichkeiten auf das Strafverfahren hat als der Beschuldigte. Wenn der Verteidigerbeistand diese rechtlichen Nachteile nun

Ton-/Bildaufzeichnungskopien lediglich zu versagen, soweit deren Besitz allgemein verboten ist oder der auch sonst der Einsicht entgegenstehende Grund des Lebensschutzes Dritter (§ 52 Abs. 1 S. 1 öStPO) einschlägig ist. 199 Siehe im Zshg. mit Art. 6 Abs. 1 EMRK: EGMR, Urt. v. 22.02.1996, No. 17358/90, Bulut/AUT, Rn. 49: „It is a matter for the defence to assess whether a submission deserves a reaction.“; eingehend MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 169. 200 Siehe nur EGMR, Urt. v. 13.05.1980, No. 6694/74, Artico/ITA, Series A Nr. 37, Rn. 33. 201 Vgl. EGMR, Urt. v. 28.03.1990, No. 11932/86, Granger/GBR, Series A Nr. 174, Rn. 42 ff.; EGMR, Urt. v. 25.04.1983, No. 8398/78, Pakelli/DEU, Sereis A Nr. 64, Rn. Rn. 30 f., 39; ähnlich EGMR, Urt. v. 21.03.2002, No. 31611/96, Nikula/FIN, Reports 2002-II, 291, Rn. 49; hierzu MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 180. 202 EGMR, Urt. v. 28.03.1990, No. 11932/86, Granger/GBR, Series A Nr. 174, Rn. 47: „[…] benefit of hearing […] expert legal argument from both sides on a complex issue.“; vgl. zur fundamentalen Bedeutung: EGMR, Urt. v. 13.05.1980, No. 6694/74, Artico/ITA, Series A Nr. 37, Rn. 33; EGMR [GK], Urt. v. 21.01.1999, No. 26103/95, Van Geyseghem/BEL, Reports 1999-I, 127, Rn. 34: „The right […] to be effectively defended by a lawyer is one of the basic features of a fair trial.“; eingehend hierzu MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 180 m. w. N. 203 MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 180 m. w. N. 204 Einfachgesetzlich kommt dieser Aspekt etwa in § 147 Abs. 4 S. 1 StPO zum Ausdruck.

III. Konventionsrecht

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kompensieren können soll, muss ihm eine umfassende Akteneinsicht auch vor diesem Hintergrund gewährt werden. Die vorstehenden Ausführungen entsprechen im Wesentlichen also denjenigen, die sich einfachgesetzlich und verfassungsrechtlich aus der Stellung und Funktion des Verteidigers im Strafverfahren ableiten lassen. Insofern wäre ein Begriffsverständnis, nach dem der Strafverfolgungsbehörde mehr Informationsmaterial zur Vorbereitung des Verfahrens zur Verfügung stehen darf als der Verteidigung, schon nach den bis hierhin dargestellten Vorgaben des EGMR als mit Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK nicht vereinbar anzusehen. Darüber hinaus fordert der EGMR – i. E. entsprechend den Ausführungen zu Art. 19 Abs. 4 GG, den diesbezüglichen Ausprägungen des verfassungsrechtlichen Fairnessgrundsatzes und dem materiellen Schuldprinzip –, dass die Mitgliedsstaaten den Bürgern einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gewähren. Hierzu gehöre es, dass das zuständige Gericht die streitgegenständliche Angelegenheit auf einer umfassenden Tatsachengrundlage überprüfe.205 Dem ist zuzustimmen. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK fordert ausdrücklich, dass über die strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen, unparteiischen und auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren verhandelt wird.206 Die Norm bringt zum Ausdruck, dass das Gericht durch seine Verfahrensweise bei den Bürgern dahingehend Vertrauen schaffen soll, dass die Anklageschrift völlig neutral und völlig unabhängig von den Ausführungen und Bewertungen unter anderem der Exekutive207 vom Gericht überprüft wird.208 Eine gerichtliche Verhandlung der An205 Siehe EGMR, Urt. v. 17.12.1996, No. 20641/92, Terra Woningen B.V./NLD, Reports 1996-VI, Rn. 52: „The Court recalls that for the determination of civil rights and obligations by a ,tribunal‘ to satisfy Article 6 para. 1 (art. 6–1), it is required that the ,tribunal‘ in question have jurisdiction to examine all questions of fact and law relevant to the dispute before it […].“ 206 Die englische und französische Sprachfassung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK lautet: „In the determination of his civil rights and obligations or of any criminal charge against him, everyone is entitled to a fair and public hearing within a reasonable time by an independent and impartial tribunal established by law.“ bzw. „Toute personne a droit a` ce que sa cause soit entendue e´quitablement, publiquement et dans un de´lai raisonnable, par un tribunal inde´pendant et impartial, e´tabli par la loi, qui de´cidera, soit des contestations sur ses droits et obligations de caracte`re civil, soit du bien-fonde´ de toute accusation en matie`re pe´nale dirige´e contre elle.“ 207 Vgl. EGMR, Urt. v. 17.12.1996, No. 20641/92, Terra Woningen B.V./NLD, Reports 1996-VI, Rn. 53 ff. 208 Ein effektiver Schutz der Beschuldigten-/Verteidigungsrechte vor Gericht ergeht damit aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK und nicht aus Art. 13 EMRK. Der Regelungszweck von Art. 13 EMRK umfasst, wie bereits der Wortlaut nahelegt, lediglich die Sicherstellung einer wirksamen innerstaatlichen Beschwerdemöglichkeit betreffend Konventionsrechtsverletzungen, um diese bereits auf nationaler Ebene gerichtlich überprüfen zu können, bevor der EGMR nach vollständiger Rechtswegserschöpfung angerufen wird. Aus Art. 13 EMRK ergeht somit lediglich die Pflicht, einen innerstaatlichen effektiven Rechtsschutz zu ermöglichen, wodurch die behauptete Konventionsverletzung durch einen Staatsakt überprüft wird (vgl. etwa §§ 97a ff. BVerfGG, 198 ff. GVG). Die Verfahrensgarantie eines effektiven Rechtsschutzes im Allgemeinen ergeht aus Art. 13 EMRK damit nicht, jdfs. wäre Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK insoweit

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C. Verfassungs-, Völker- und Europarecht

klageschrift setzt – am vertrauensbildenden Zweck von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK ausgerichtet209 – deshalb voraus, dass dem zuständigen Strafgericht eine umfassende Kognitionsbefugnis und -pflicht nicht nur in rechtlicher, sondern auch in tatsächlicher Hinsicht eingeräumt bzw. auferlegt wird („judicial body that has full jurisdiction“210).211 Damit ein nationales Strafgericht als Gericht i. S. v. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK angesehen werden kann, muss es in der Lage sein, die mit dem Strafverfahren inhaltlich zusammenhängenden Gesichtspunkte „point by point“212 zu überprüfen.213 Dies betrifft bei der nationalen Ausgestaltung des Kognitionsgegenstandes zumindest die angeklagte Tat. Weiter kann ein Strafgericht nur dann als unabhängig und unparteiisch i. S. d. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK angesehen werden, wenn es nicht nur persönlich, sondern auch sachlich völlige Unabhängigkeit gegenüber sonstigen staatlichen Institutionen genießt. Ein Gericht muss deshalb vor jeglichen äußeren Einflussnahmen, insbesondere vor solchen von anderen staatlichen Einrichtungen, geschützt werden.214 Eine solche Unabhängigkeit läge jedoch nicht vor, wenn die Informationsgrundlage des Gerichts davon abhinge, welche Informationsträger die Staatsanwaltschaft als verfahrensrelevant einordnet und aussondert, um sie dem Gericht vorzulegen.215 Aus den vorbenannten Ausprägungen des Fairnessgrundsatzes ergibt sich folglich, dass Informationsträger zu weiteren prozessualen Taten, die mit der angeklagten Tat inhaltlich in irgendeiner Weise zusammenhängen, ebenfalls in die gerichtliche Ausklärungspflicht einzubeziehen sind – mögen die diesbezüglichen Taten auch nicht Gegenstand der Kognition sein. Ein echtes Aussonderungsermessen in § 32e Abs. 1 S. 2 StPO hineinzulesen, widerspräche auch vor diesem Hintergrund den Vorgaben aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK. lex specialis, siehe zum Ganzen Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 196 ff. m. w. N.; MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 13 EMRK, Rn. 1 f., 12 m. w. N. 209 Zur vertrauensbildenden Funktion von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK: Gaede, Fairness, S. 215 f. m. w. N.; MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 103 m. w. N. 210 Beispielhaft EGMR, Urt. v. 23.10.1995, No. 15963/90, Gradinger/AUT, Series A Nr. 328-C, Rn. 44. 211 Vgl. EGMR, Urt. v. 23.06.1981, Nos. 6878/75, 7238/75, Le Compte u. a./BEL, Series A Nr. 43, Rn. 51; EGMR, Urt. v. 29.04.1988, No. 10328/83, Belilos/SWE, Series A Nr. 132, Rn. 70; EGMR, Urt. v. 10.02.1983, Nos. 7299/75, 7496/76, Albert u. Le Compte/BEL, Series A Nr. 58, Rn. 29; dies soll nach Auffassung des EGMR auch bei der gerichtlichen Überprüfung einer behördlichen Ermessensentscheidung gelten, siehe etwa EGMR, Urt. v. 28.06.1990, No. 11761/85, Obermeier/AUT, Series A Nr. 179, Rn. 70; siehe zum Ganzen Gaede, Fairness, S. 217 m. w. N.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 30 m. w. N.; Karpenstein/Mayer-EMRK/Meyer, Art. 6, Rn. 61 m. w. N. 212 EGMR, Urt. v. 21.07.2011, Nos. 32181/04, 35122/05, Sigma Radio Television Ltd./ CYP, Rn. 156. 213 Siehe Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 30 m. w. N.; Karpenstein/Mayer-EMRK/ Meyer, Art. 6, Rn. 61 m. w. N. 214 Siehe hierzu MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 107 m. w. N.; Gaede, Fairness, S. 218 m.w.N.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 30 m. w. N. 215 So letztlich aber bspw. Meyer-Goßner NStZ 1982, 353, 362.

III. Konventionsrecht

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Es fragt sich nun, inwieweit dies Auswirkungen auf die Auslegung von § 199 Abs. 2 S. 2 StPO hat. Da es aus konventionsrechtlicher Sicht lediglich darauf ankommt, ob die Konventionsvorgaben im Ergebnis umgesetzt werden und die Art und Weise der Umsetzung vielmehr den Mitgliedsstaaten vorbehalten ist,216 ist zu prüfen, ob die Anforderungen an ein neutrales und unabhängiges Gericht auch über einen anderen Weg methodisch umgesetzt werden könnten als über die Auslegung des Aktenbegriffs in § 199 Abs. 2 S. 2 StPO. Dem Gericht kann eine umfassende Kognitionsbefugnis auch dadurch ermöglicht werden, dass man etwaige von der Staatsanwaltschaft als verfahrensirrelevant eingeordnete Informationsträger zwar nicht als Aktenbestandteil i. S. v. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO ansieht, aber ihm die ausgesonderten Aktenbestandteile auf anderem Wege zugänglich macht. Das einfache Recht und das Verfassungsrecht eröffnen diese Möglichkeit über Art. 35 Abs. 1 GG bzw. über die §§ 202, 244 Abs. 2 StPO. Das Konventionsrecht lässt sich auf diese Weise jedoch – ebenso wie dies aus verfassungsrechtlicher Sicht gilt – nicht vollständig umsetzen. Da Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK nach zuvor Gesagtem gebietet, dass das Gericht auch im Zwischenverfahren die staatsanwaltschaftlichen Ausführungen und Bewertungen point by point überprüft, ohne hierbei in irgendeiner Weise von der Staatsanwaltschaft abhängig zu sein, müsste das Gericht vor jeder Entscheidung über die Hauptverfahrenseröffnung die Staatsanwaltschaft um Vorlage aller Vorgänge ersuchen, die mit der angeklagten Tat inhaltlich zusammenhängen. Sobald dieses Vorlageersuchen der Staatsanwaltschaft zugegangen und von ihr zur Kenntnis genommen ist, müssten diese Vorgänge herausgesucht, ggfs. erst noch von anderen Behörden an- bzw. zurückgefordert und im Anschluss dem Gericht zugesandt werden. Sobald nun das ersuchende Gericht von der Vorlage der angeforderten Akten Kenntnis erlangt und diese in seinen Überlegungen berücksichtigt, könnte das Gericht im Zwischenverfahren den Anforderungen an Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK gerecht werden. Die Umsetzung über diese prozessualen Instrumente zu suchen, ginge demzufolge mit einer Verfahrensverzögerung einher, die nicht verhältnismäßig wäre. Das ebenfalls aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 StPO abzuleitende allgemeine Beschleunigungsgebot in Strafsachen gebietet es, vermeidbare Verzögerungen des Strafverfahrens zu verhindern und den Beschuldigten vor unangemessenen bzw. unbegründeten Verfahrensverzögerungen zu bewahren.217 Das Beschleunigungsgebot gilt nicht erst im Hauptverfahren, sondern auch in den vorigen Verfahrensabschnitten.218

216 Siehe BVerfGE 128, 326, 367 ff.; EGMR, Urt. v. 24.05.1991, No. 12744/87, Quaranta/ CHE, Series A Nr. 205, Rn. 30 ff.; EGMR, Urt. v. 08.02.2011, No. 35863/10, Judge/GBR, Rn. 35 ff.; Jahn ZStW 127 (2015), 549, 589; SK-StPO/Meyer, Bd. 10, Einl., Rn. 172. 217 MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 361 f. m. w. N.; Liebhart NStZ 2017, 254, 255 ff. m. w. N. 218 Eingehend MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 368 f. m. w. N.

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C. Verfassungs-, Völker- und Europarecht

Die Verzögerung, die mit einem solchen Vorlagegesuch in die Informationsträger, die nicht bereits mit der Übersendung der Anklageschrift erfolgt ist, einherginge, wäre in diesem Fall weder erforderlich, da die gleichzeitige Vorlage des gesamten Informationsmaterials über § 199 Abs. 2 S. 2 StPO ein gleich-geeignetes milderes Mittel wäre, noch wäre sie angemessen, da die vollständige Informationsgrundlage des Strafgerichts und das Gebot der Verfahrensbeschleunigung höher wiegen als etwa das Persönlichkeitsrecht der von der Aktenvorlage Betroffenen; dies nicht zuletzt deshalb, da das Persönlichkeitsrecht Drittbetroffener durch eine spätere Vorlage des Informationsmaterials, die nach zuvor Gesagtem in jedem Fall stattfinden müsste, ohnehin beeinträchtigt werden würde. Das Beschleunigungsgebot steht umgekehrt einer vollständigen Vorlage des Informationsmaterials schon deshalb nicht entgegen, da die umfassende Tatsachenkenntnis des Gerichts aufgrund der umfassenden Überprüfungspflicht der staatsanwaltschaftlichen Ausführungen und Bewertungen unvermeidbar bzw. gerechtfertigt ist, sodass hierdurch keine unangemessene bzw. unbegründete Verfahrensverzögerung im vorbenannten Sinne entsteht.219 Die Konventionsvorgaben hinsichtlich der umfassenden Kognitionsbefugnis über Art. 35 Abs. 1 GG bzw. über die §§ 202, 244 Abs. 2 StPO in nationales Verfahrensrecht umzusetzen, ginge demzufolge mit einer Verletzung des allgemeinen Beschleunigungsgebots in Strafsachen einher. Dass die Verfahrensverzögerung durch das Vorlageersuchen des Gerichts und die anschließende Übersendung der Staatsanwaltschaft vergleichsweise gering ausfallen wird, ändert hieran nichts. Denn eine Verletzung des konventionsrechtlichen Beschleunigungsgebotes ist nicht erst ab einer bestimmten (Mindest-)Verzögerungszeit anzunehmen;220 ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot liegt vor, wenn die eingetretene Verfahrensverzögerung unabhängig von der Verzögerungslänge vermeidbar und unangemessen war oder wenn die dem Staat zurechenbare Verfahrensverzögerung unter Berücksichtigung der Einzelfallumstände als erheblich anzusehen ist und im Nachhinein nicht hinreichend kompensiert wurde.221 Ersteres ist dann anzunehmen, wenn Lücken in der Verfahrensführung, auch in einzelnen Verfahrensabschnitten, auszumachen sind, die nicht nötig bzw. nicht nachvollziehbar und damit unbegründet sind.222 Insofern kann die aufgezeigte Verfahrensverzögerung auch nicht als derart bagatellhafte Verzögerung angesehen werden, die der Annahme eines Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot entgegenstehen würde, denn dieser Gesichtspunkt kann lediglich bei Verfahrensverzögerungen Berücksichtigung finden, die gerade auf der Verfahrensdauer und einer unzureichenden Kompensation basieren und nicht – 219

Allgemein MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 363 m. w. N. Siehe nur MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 400 m. w. N. 221 Eingehend MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 373 ff. m. w. N. 222 Siehe MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 381 ff. m. w. N.; zu den Aspekten, die im Einzelfall eine besondere Bedeutung für oder gegen die Annahme eines Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot erlangen können: ders. a. a. O. Rn. 389 ff. m. w. N. 220

III. Konventionsrecht

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wie hier – auf dem Umstand, dass die Verzögerung ohne Weiteres vermeidbar und damit unangemessen war.223 Weitere einfachgesetzliche Alternativen, durch die den Konventionsvorgaben in gleicher Weise wie durch eine konventionskonforme Auslegung des Aktenbegriffs in § 199 Abs. 2 S. 2 StPO Rechnung getragen werden kann, sind nicht ersichtlich. Das Zusammenspiel der Anforderungen an ein neutrales und unabhängiges Gericht einerseits und das ebenfalls aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK folgende allgemeine Beschleunigungsgebot in Strafsachen andererseits lassen de lege lata nur die Umsetzung der Konventionsvorgaben über eine entsprechende völkerrechtskonforme Auslegung von § 199 Abs. 2 S. 2 StPO zu.

2. Die Vorgaben speziell zur Waffengleichheit Der EGMR wird in zahlreichen Entscheidungen noch konkreter. Zunächst fordert der EGMR ein Recht auf rechtliches Gehör,224 welches durch die zu fordernde kontradiktorische Verhandlung gewährt wird.225 Auch das Anwesenheitsrecht des Angeklagten soll gewährleisten, dass dieser am gerichtlichen Verfahren substanziell und beeinflussend teilnehmen kann („right of an accused to effective participation“226).227 Der Aspekt der Waffengleichheit ist für den EGMR in besonderem Maße bedeutend. Der Grundsatz findet in Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK quasi seine ausdrückliche Erwähnung („Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen […], wie […] für Belastungszeugen“),228 wird jedoch auch als weiteres unbenanntes, aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK abgeleitetes Recht verstanden.229 Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insoweit entsprechend soll der Beschuldigte bzw. die Verteidigung gegenüber der Strafverfolgungsbehörde verfahrensrechtlich prinzipiell gleichgestellt sein („principle of ,equality of

223

Vgl. allg. etwa MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 401. Siehe die Nachweise bei MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 295 ff. 225 EGMR, Urt. v. 19.12.1989, No. 9783/82, Kamasinski/AUT, Series A Nr. 168, Rn. 102; EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 29777/96, Fitt/GBR, Reports 2000-II, 387, Rn. 44; EGMR, Urt. v. 24.06.2003, No. 39482/98, Dowsett/GBR, Reports 2003-VII, 259, Rn. 43; vgl. MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 295. 226 EGMR, Urt. v. 15.06.2004, No. 60958/00, S.C./GBR, Reports 2004-IV, 281, Rn. 28; siehe nahezu wortgleich auch EGMR, Urt. v. 14.01.2003, No. 26891/95, Lagerblom/SWE, Rn. 49. 227 Hierzu MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 288 m. w. N. 228 Dementsprechend ist auch die englische und französische offizielle Sprachfassung des Vertragstextes zu Art. 6 Abs. 1 lit. d EMRK formuliert: „[…] under the same conditions as witnesses against him“ bzw. „[…] dans les meˆmes conditions que les te´moins a` charge“; dass der Waffengleichheitsaspekt hierin zum Ausdruck kommt, wird soweit ersichtlich auch nicht in Abrede gestellt: ähnlich etwa MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 233 m. w. N. 229 Vgl. MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 302. 224

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C. Verfassungs-, Völker- und Europarecht

arms‘“230).231 Eine Akzentuierung dieses, auch vom Bundesverfassungsgericht verfolgten, Gedankens nimmt der EGMR unter drei Gesichtspunkten vor: Als erstes wird betont, dass die Befugnisse der sich gegenüberstehenden Parteien entweder gleich oder zumindest hinsichtlich ihrer Effektivität gleichwertig sein müssen,232 wozu es insbesondere gehört, dass die eine „Partei“ in gleich effektiver Weise Beweise anbieten (und somit entgegenstehenden Auffassungen Einhalt gebieten233) können muss wie es auch der „gegenüberstehenden“ Verfahrenspartei möglich ist.234 Es wird hierbei auf die bereits dargestellte EGMRRechtsprechung im Zusammenhang mit Art. 6 Abs. 3 lit. a, b, c EMRK nahtlos aufgebaut. In diesem Sinne ist nach Auffassung des EGMR die Bedingung an den Verteidiger, den in Untersuchungshaft gefangenen Beschuldigten nur mit einer jeweiligen Besuchserlaubnis aufsuchen zu können, mit dem Waffengleichheitsgebot unvereinbar, wenn die Anklagevertretung jederzeit uneingeschränkt Zugang zum Beschuldigten gehabt hat.235 Die vorbenannten Forderungen stünden einem eingeschränkten Aktenbegriff also ebenfalls entgegen. Als zweites leitet der EGMR aus dem Waffengleichheitsgebot ein gehaltsvolles Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren ab: „[…] the principle of equality of arms is another feature of the wider concept of a fair trial, which also includes the fundamental right that criminal proceedings should be adversarial.“236 „The right to an adversarial trial“,237 so der EGMR weiter, „means, in a criminal 230 EGMR, Urt. v. 27.06.1968, No. 1936/63, Neumeister/AUT, Series A Nr. 281-C, Rn. 22; ähnlich EGMR, Urt. v. 17.01.1970, No. 2689/65, Delcourt/BEL, Series A Nr. 11, Rn. 29: „[…] full equality of treatment[…].“; vgl. auch EGMR, Urt. v. 17.05.1990, No. 12005/86, Borgers/BEL, Series A Nr. 214-A, Rn. 24, 28; EGMR, Urt. v. 22.02.1996, No. 17358/90, Bulut/AUT, Rn. 46 ff.; EGMR, Urt. v. 31.01.2002, No. 24430/94, Lanz/AUT, Rn. 57 ff.; EGMR, Urt. v. 06.09.2005, No. 65518/01, Salov/UKR, Reports 2005-VIII, 143, Rn. 87 ff.; EGMR, Urt. v. 09.10.2008, No. 62936/00, Moiseyev/RUS, Rn. 208 ff., 212; EGMR, Urt. v. 31.02.2009, No. 21022/04, Natunen/FIN, Rn. 39 ff. 231 Hierzu MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 302 m. w. N. 232 Vgl. EGMR, Urt. v. 20.04.2010, Nos. 12315/04, 17605/04, Laska u. Lika/ALB, Rn. 60: „the principle of equality of arms requires ,a fair balance between the parties‘, each party must be given a reasonable opportunity to present his case under conditions that do not place him at a substantial disadvantage vis-a`-vis his opponent […].“; dem folgend LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 202; ähnlich EGMR, Urt. v. 06.09.2005, No. 65518/01, Salov/UKR, Reports 2005-VIII, 143, Rn. 87. 233 So ausdrücklich LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 202 m. w. N. 234 EGMR, Urt. v. 27.10.1993, No. 14448/88, Dombo Beheer B.V./NLD, Series A Nr. 274, Rn. 33; LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 202. 235 In dem Fall gehörte die Anklagevertretung der gleichen Behörde an, die die Untersuchungshaftanstalt leitete: EGMR, Urt. v. 09.10.2008, No. 62936/00, Moiseyev/RUS, Rn. 202–207; siehe hierzu LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 205. 236 EGMR, Urt. v. 12.02.2009, No. 3891/03, Samokhvalov/RUS, Rn. 46; nahezu wortgetreu auch schon EGMR, Urt. v. 12.03.2003, No. 46221/99, Öcalan/TUR I, Rn. 166; EGMR [GK], Urt. v. 12.05.2005, No. 46221/99, Öcalan/TUR II, Reports 2005-IV, 131, Rn. 146; ähnlich EGMR, Urt. v. 23.04.2009, No. 32165/02, Sibgatullin/RUS, Rn. 37; EGMR, Urt.

III. Konventionsrecht

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case, that both prosecution and defence must be given the opportunity to have knowledge of and comment on the observations made and the evidence adduced by the other party.“238

Der EGMR fordert hierbei, dem Strafverfahren ausreichend adversatorische Elemente beizufügen. Demgemäß prüft der EGMR im Einzelfall, ob die benannten Verfahrensbeteiligten dieselben Einflussmöglichkeiten hatten, um hierdurch dem Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren Rechnung zu tragen („disadvantage vis-a`-vis his opponent“239).240 Ein engeres Aktenbegriffsverständnis würde den Vorgaben des EGMR und demnach denjenigen aus Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK auch vor diesem Hintergrund nicht gerecht werden. Insbesondere bestätigt sich an den vorgenannten Ausführungen des EGMR, dass der Verteidigung eine Beweisstückkopie zur Wahrung von Waffengleichheit möglichenfalls zwingend zur Verfügung zu stellen ist. Der EGMR würde nach Vorstehendem sowohl eine entsprechende Überprüfung vornehmen als auch bei einer engeren Auslegung des Aktenbegriffs i. R. v. § 147 StPO ein nicht ausreichend adversatorisch bzw. kontradiktorisch ausgestaltetes Strafverfahren feststellen. Dem ist durch eine entsprechende völkerrechtskonforme Auslegung des Aktenbegriffs in § 147 StPO entgegenzuwirken. Der EGMR verleiht seiner Sichtweise im Vergleich zum Bundesverfassungsgericht aber auch ein weiteres Mal mehr Bedeutung. Als drittes hat der EGMR im Zusammenhang mit der Offenlegungspflicht von Informationen241 schließlich zum Ausdruck gebracht, dass an der grundsätzlichen Objektivität einer Strafverfolgungsbehörde zwar nicht zu zweifeln ist, die Auffassung ebenjener andererseits aber auch in keiner Weise als neutral gewertet werden könne.242 Die Ent-

v. 06.09.2005, No. 65518/01, Salov/UKR, Reports 2005-VIII, 143, Rn. 87; EGMR, Urt. v. 08.04.2010, No. 11994/03, Sabayev/RUS, Rn. 35; eingehend LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 219 ff. 237 EGMR, Urt. v. 12.02.2009, No. 3891/03, Samokhvalov/RUS, Rn. 46. 238 EGMR, Urt. v. 12.02.2009, No. 3891/03, Samokhvalov/RUS, Rn. 46; nahezu wortgetreu auch schon EGMR, Urt. v. 12.03.2003, No. 46221/99, Öcalan/TUR I, Rn. 166; EGMR [GK], Urt. v. 12.05.2005, No. 46221/99, Öcalan/TUR II, Reports 2005-IV, 131, Rn. 146. 239 EGMR [GK], Urt. v. 12.05.2005, No. 46221/99, Öcalan/TUR II, Reports 2005-IV, 131, Rn. 140. 240 Eingehend LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 220. 241 EGMR, Urt. v. 17.05.1990, No. 12005/86, Borgers/BEL, Series A Nr. 214-A, Rn. 27: „At no time could the latter reply to those submissions: before hearing them, he was unaware of their contents because they had not been communicated to him in advance; thereafter he was prevented from doing so by statute.“ 242 Vgl. im Zshg. mit dem procureur ge´ne´ral: EGMR, Urt. v. 17.05.1990, No. 12005/86, Borgers/BEL, Series A Nr. 214-A, Rn. 26: „No one questions the objectivity with which the procureur ge´ne´ral’s department at the Court of Cassation discharges its functions. This is shown by the consensus which has existed in Belgium in relation to it since its inception and by its approval by Parliament on various occasions. Nevertheless the opinion of the procureur ge´ne´ral’s department cannot be regarded as neutral from the point of view of the parties to the cassation proceedings. By recommending that an accused’s appeal be allowed or dismissed, the official of the procureur ge´ne´ral’s department becomes objectively speaking his ally or his

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C. Verfassungs-, Völker- und Europarecht

scheidung erging im Zusammenhang mit dem belgischen procureur ge´ne´ral, der grundsätzlich nicht als Anklagebehörde tätig ist, sondern als Organ des Kassationsgerichts – court of cassation – fungiert;243 er teilt den entscheidenden Richtern grundsätzlich nur eine Stellungnahme bzgl. des Rechtsmittelbegehrens mit.244 Somit ist er in das Hauptverfahren noch weniger eingebunden als die deutsche Anklagebehörde; er gehört keinem klassischen Strafverfolgungsorgan an.245 Insofern kann man ihn auch noch weniger als der Verteidigung „gegenüberstehend“ ansehen, als man es bei den klassischen Strafverfolgungsbehörden könnte. Gleichwohl wurde auch dieser als nicht neutral und damit nicht objektiv (genug) eingestuft, weil er auch zu Ungunsten des Antragstellers Stellung nehmen könne, sodass der Verteidigung die Stellungnahme des procureurs vor dem sog. hearing zugehen und ihr die Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden müsse.246 Dies ist ein ganz entscheidender Gesichtspunkt. Nach Ansicht des EGMR ist es für die Gewährleistungen aus Art. 6 EMRK also völlig unbedeutend, ob man die jeweilige Staatsanwaltschaft aus Sicht der Verteidigung etwa als „Gegenspieler“, „gegenüberstehende“ Partei, „gegenüberstehende“ Strafverfolgungsbehörde oder als Anklagebehörde mit dem grundsätzlichen Willen, die Anklage zu vertreten, versteht bzw. ob man sie entsprechend § 160 Abs. 1, 2 StPO als eine staatliche Institution begreift, die einen Sachverhalt nach rein objektiven Kriterien erforscht und damit als völlig neutral, objektiv oder etwa „rechtlich korrekt handelnd“ ansieht. Der EGMR lässt es nach der vorbenannten Entscheidung gegen Belgien für die Einordnung eines Verfahrensbeteiligten als nicht ausreichend neutral bereits genügen, wenn hierdurch nur die abstrakte Gefahr besteht, dass auf das Gericht in für den Beschuldigten negativer Weise eingewirkt wird. Dieses Verständnis reiht sich in die Ausführungen zur Stellung der Staatsanwaltschaft nach der deutschen Rechtsordnung und zu den weiteren systematischen Erwägungen zu § 199 Abs. 2 S. 2 StPO ein. Weiter zeigt der EGMR hierbei erneut, dass er es mit den Vorgaben aus Art. 6 Abs. 1 EMRK als nicht vereinbar ansehen würde, wenn die Staatsanwaltschaft alleine darüber zu entscheiden hätte, was von dem angesammelten Informationsmaterial für die Verteidigung

opponent. In the latter event, Article 6 para. 1 (art. 6–1) requires that the rights of the defence and the principle of equality of arms be respected.“; ähnlich im Zshg. mit dem public prosecutor: EGMR, Urt. v. 24.11.1997, No. 138/1996/757/956, Werner/AUT, Series A Nr. 282, Rn. 67; eingehend Gröger, Akteneinsichtsrecht, S. 59 f. m. w. N. 243 EGMR, Urt. v. 17.05.1990, No. 12005/86, Borgers/BEL, Series A Nr. 214-A, Rn. 16. 244 Siehe EGMR, Urt. v. 17.05.1990, No. 12005/86, Borgers/BEL, Series A Nr. 214-A, Rn. 16: „Even in criminal proceedings, the procureur ge´ne´ral at the court cannot be regarded as a party; his role is only to make submissions (conclusions), except where he has himself appealed.“ 245 Vgl. EGMR, Urt. v. 17.05.1990, No. 12005/86, Borgers/BEL, Series A Nr. 214-A, Rn. 16 f. 246 Vgl. EGMR, Urt. v. 17.05.1990, No. 12005/86, Borgers/BEL, Series A Nr. 214-A, Rn. 22 f., 26 f.

III. Konventionsrecht

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gegen das Ermittlungsverfahren bzw. später die Anklage relevant sein könnte. Schließlich würde bei einer solchen Verfahrensausgestaltung ebenfalls die abstrakte Gefahr bestehen, dass verteidigungsrelevante Aspekte unberücksichtigt blieben. Auch vor diesem Hintergrund wäre ein in § 32e Abs. 1 S. 2 StPO hineingelesenes echtes Aussonderungsermessen nicht völkerrechtskonform. Weiter kann angenommen werden, dass nach Maßgabe des Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK der Aktenbegriff für die Verteidigung auch vor diesem Hintergrund in allen Verfahrensstadien weit zu verstehen ist.

3. Die Vorgaben speziell zur Offenlegung von bzw. Einsichtnahme in Akten In der Edwards-Entscheidung stellte der EGMR zunächst fest, dass zu den Akten jedenfalls das Ermittlungsmaterial gehört, das als wesentliche Information einzuordnen sei, wozu wiederum alle be- und entlastenden Umstände gehörten.247 Dies würde hinter den verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Verfahrensfairness und dem einfachgesetzlich herausgearbeiteten Auslegungsergebnis zurückbleiben. Der EGMR erweiterte seine Sichtweise in der nachfolgenden Zeit jedoch. Im Fortgang wurde herausgestellt, dass zu dem Beweismaterial, welches offenzulegen sei, all das Material gehöre, was für die Anklage bzw. die Verteidigung von Bedeutung sein könnte – dies unabhängig davon, ob eine Verfahrensrelevanz der begehrten Informationen dargelegt werde.248 Es solle lediglich darauf ankommen, ob die Informationen mit dem Strafverfahren im Zusammenhang stünden.249 Dies deckt sich mit der herausgearbeiteten Forderung, der Verteidigung all das Informationsmaterial zugänglich zu machen, welches der Staatsanwaltschaft 247

EGMR, Urt. v. 16.12.1992, No. 13071/87, Edwards/GBR, Series A Nr. 247-B, Rn. 36. In der Dowsett-Entscheidung hatte der EGMR noch auf die Beweismittel abgestellt, die verfahrensrelevant sind und nicht sein könnten, verwehrte der Staatsanwaltschaft gleichzeitig aber ein Aussonderungsrecht: EGMR, Urt. v. 24.06.2003, No. 39482/98, Dowsett/GBR, Reports 2003-VII, 259, Rn. 42 ff.; hierbei blieb der EGMR nicht stehen und erweitere bzw. formulierte seine Linie konkreter, vgl. jeweils im Zshg. mit Art. 5 Abs. 4 EMRK: EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 24479/94, Lietzow/DEU, Reports 2001-I, 353, Rn. 44: „This requires that the accused be given a sufficient opportunity to take cognisance of statements and other pieces of evidence underlying them, such as the results of the police and other investigations, irrespective of whether the accused is able to provide any indication as to the relevance for his defence of the pieces of evidence to which he seeks to be given access.“; ebenso EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 25116/94, Schöps/DEU, Reports 2001-I, 391, Rn. 50; hierzu Gröger, Akteneinsichtsrecht, S. 31 und 50. 249 Vgl. EGMR [GK], Urt. v. 27.10.2004, Nos. 39647/98, 40461/98, Edwards u. Lewis/GBR, Reports 2004-X, 61, Rn. 46; vgl. EGMR, Urt. v. 19.06.2001, No. 36533/97, Atlan/GBR, Rn. 40 ff., 45 f.; vgl. auch schon EKMR, 21.10.1998, No. 36986/97, Du Bois/NLD, S. 5 ff.; Trechsel, FS Druey, S. 1001 f., fordert zur Auflösung des in der Edwards-Entscheidung aufgekommenen Problems die Zwischenschaltung eines unbeteiligten Dritten, der als außenstehender Sachverständige fungieren soll; vgl. hierzu MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 157. 248

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im Zusammenhang mit dem Ermittlungsverfahren bzw. dem angeklagten Geschehensablauf – auch losgelöst von der Identität des Beschuldigten – zur Verfügung stand und steht. Insbesondere die Einordnung der Spurenakten als Aktenbestandteil ist auch vor diesem Hintergrund völkerrechtlich angezeigt. Die Beweismittel und auch die Dokumentation der jeweiligen Ermittlungsmaßnahmen, die möglicherweise entlastende Umstände enthalten könnten, müssen nach Auffassung des EGMR bis zum rechtskräftigen Verfahrensabschluss aufbewahrt und für eine Herausgabe der Verteidigung bereitgehalten werden.250 Die EKMR hatte die Auffassung vertreten, dass sich der Anspruch auf Offenlegung nicht nur auf das Beweismaterial, das die Strafverfolgungsbehörden angefordert haben, sondern sogar auf ebenjenes, das die Strafverfolgungsbehörden hätten anfordern oder dokumentieren können, erstrecke.251 Der EGMR hat eine derart weitgehende Forderung jedoch zu keiner Zeit übernommen.252 Die Auffassung der EKMR ist für den Rechtsanwender nicht verbindlich253 und im Übrigen auch nicht überzeugend. Die Frage, welches Informationsmaterial noch hätte angefordert werden können (oder müssen), weil es der Staatsanwaltschaft nicht bereits zur Verfügung steht, betrifft vielmehr die Frage der ausreichenden Ermittlungstätigkeit der Staatsanwaltschaft bzw. im Fortgang die Pflicht des Gerichts zur ausreichenden Sachverhaltsaufklärung. Dass darüber, ob sich bei der Anklagebehörde befindendes Informationsmaterial für die Verteidigung zugänglich gemacht wird, nicht von der Anklagebehörde entschieden werden darf, ist für den EGMR selbstverständlich. Er führt wörtlich aus: „[…] Such a procedure, whereby the prosecution itself attempts to assess the importance of concealed information to the defence and weigh this against the public interest in keeping the information secret, cannot comply with the above-mentioned requirements of Article 6 § 1.“254 250 EGMR, Urt. v. 31.03.2009, No. 21022/04, Natunen/FIN, Rn. 48 ff.; MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 159 m. w. N. 251 EKMR, 14.12.1981, No. 8403/78, Jespers/BEL, Rn. 56, 58, 69 ff.; hierzu MüKoStPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 159. 252 Dies zeigt sich insb. bei EGMR, Urt. v. 05.04.2012, No. 11663/04, Chambaz/CHE, Rn. 61: „La Cour rappelle que le droit a` un proce`s pe´nal e´quitable implique que la de´fense puisse avoir acce`s a` l’ensemble des preuves entre les mains de l’accusation, qu’elles soient en de´faveur, ou en faveur, de l’accuse´ […].“ 253 Die Auffassung der EKMR war nur hinsichtlich der Frage der Beschwerdezulässigkeit bindend. Der Bericht der EKMR stellte bzgl. der Beschwerdebegründetheit eine rein gutachterliche Stellungnahme bzw. einen Bericht dar. Auch wenn das Ministerkomitee den Entscheidungsvorschlag der EKMR regelmäßig übernahm, wodurch der Bericht der EKMR oftmals ein „Quasi-Urteil“ darstellte, entschied über eine Konventionsverletzung lediglich das Ministerkomitee oder der EGMR: eingehend hierzu Schlette ZaöRV 1996, 905, 909 f., 922 m. w. N. Davon abgesehen wurde die EKMR durch das Inkraftreteten des 11. Zusatzprotokolls v. 11.05.1994 am 01.11.1998 aufgelöst. Für eine Menschenrechtsbeschwerde ist seither ausschließlich der EGMR zuständig: Esser, Strafrecht, § 9, Rn. 6. 254 EGMR, Urt. v. 24.06.2003, No. 39482/98, Dowsett/GBR, Reports 2003-VII, 259, Rn. 44; hierzu Gaede HRRS 2004, 44, 47.

III. Konventionsrecht

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Diese Ansicht wiederholte der EGMR zunächst in einer gegen Deutschland ergangenen Entscheidung in der Rechtssache Falk255 und bestätigte diese Sichtweise in einer jüngeren Entscheidung gegen Kroatien.256 Hinsichtlich des zur Verfügung zu stellenden Informationsmaterials darf die Anklagebehörde eine für die Verteidigung nachteilige Entscheidung nach Auffassung des EGMR demzufolge nicht selbst treffen.257 Anders formuliert, soll es nicht von der Beurteilung der Strafverfolgungsbehörden abhängig sein können, welche Teile des im Zuge des gesamten Strafverfahrens angesammelten Informationsmaterials für die Verteidigung(-svorbereitung) nutzbar gemacht werden (können).258 In einer weiteren, erst kürzlich ergangenen Entscheidungen gegen Deutschland in der Rechtssache Rook bestätigt der EGMR seine Sichtweise erneut und wird hierbei noch deutlicher: „The right to an adversarial trial, quite apart from the opportunity to have knowledge of and comment on the observations filed and the evidence adduced by the other party […], also requires, in a criminal case, that the prosecution authorities disclose to the defence all material evidence in their possession for or against the accused […]. The term material evidence cannot be construed narrowly in the sense that it cannot be confined to evidence considered as relevant by the prosecution. Rather, it covers all material in the possession of the authorities with potential relevance, also if not at all considered, or not considered as relevant […]. Failure to disclose to the defence material evidence, which contains such particulars which could enable the accused to exonerate himself or have his sentence reduced would constitute a refusal of facilities necessary for the preparation of the defence […].“259

Die Leitlinie des EGMR, nach der i. E. elektronische Dokumente und sonstige Informationsträger grundsätzlich zumindest in Kopie oder als übertragenes Dokument der Einsicht der Verteidigung in den eigenen Räumlichkeiten unterliegen müssen, bestätigt sich auch an den vorgenannten Entscheidungen.260 255 Siehe im Zshg. mit Art. 5 Abs. 4 EMRK: EGMR, Entsch. v. 11.03.2008, No. 41077/04, Falk/DEU, S. 5: „[…] and the prosecution should not be the authority to decide on the relevance of the material.“ 256 EGMR, Urt. v. 04.04.2017, No. 2742/12, Matanovic´/HRV, Rn. 158: „In any case, however, in systems where the prosecuting authorities are obliged by law to take into consideration both the facts for and against the suspect, a procedure whereby the prosecuting authorities themselves attempt to assess what may or may not be relevant to the case, without any further procedural safeguards for the rights of the defence, cannot comply with the requirements of Article 6 § 1 […].“ 257 Diesen Schluss zieht auch Gaede HRRS 2004, 44, 50; so i. E. auch Lesch StraFo 2021, 496, 500 f. 258 Eingehend LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 636. 259 EGMR, Urt. v. 25.07.2019, No. 1586/15, Rook/DEU, Rn. 58; Hervorhebung durch Verfasser. 260 In der Rechtssache Rook hielt der EGMR die Beschränkung der Einsichtnahme von digitalem Ermittlungsmaterial in den Diensträumen zwar für insgesamt noch konventionskonform. Jedoch lag dies in diesem Einzelfall an dem Umstand, dass die Verweigerung der Übersendung/Herausgabe von Datenträger-Kopien mit dem Persönlichkeitsrechtsschutz, insb. dem Kernbereichsschutz, und der einfachgesetzlichen Ausgestaltung, die einer Heraus-

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C. Verfassungs-, Völker- und Europarecht

Die Entscheidung über die Herausgabe von Informationsträgern darf demgemäß auch dann nicht von der Strafverfolgungsbehörde getroffen werden, wenn diese bestimmte Informationen aufgrund angenommener entgegenstehender öffentlicher Interessen (namentlich etwaige Sicherheits-, Geheimhaltungs- oder Zeugenschutzinteressen)261 zurückhalten möchte.262 Vielmehr ist hierüber in einem gerichtlichen Verfahren zu entscheiden.263 Ein gerichtliches Verfahren, in dem über eine behördlicherseits begehrte Aktenzurückhaltung entschieden wird, sieht die StPO indes nicht vor. Ob es sich hierbei um eine völkerrechtswidrige Gesetzeslage handelt, gehört thematisch zur Frage der Einschränkbarkeit des Einsichtsrechts und betrifft die Ausfüllung des Aktenbegriffs nicht,264 sodass dieses Problemfeld an späterer Stelle265 genauer untersucht wird. Der EGMR äußert sich zum Akteneinsichtsrecht auch in weiteren Entscheidungen und ergänzt hiermit seine bisherige Rechtsprechung. Der Anspruch auf Offenlegung bzw. Akteneinsicht beziehe sich auf all das Material, das den Strafgabe von Aufzeichnungskopien zwingend entgegenstehe, begründet wurde, worauf die Bundesrepublik in dem Beschwerdeverfahren ausdrücklich Bezug nahm und dem der Beschwerdeführer im Wesentlichen nicht widersprochen hatte: EGMR, Urt. v. 25.07.2019, No. 1586/15, Rook/DEU, Rn. 17 f., 54, 66; auch in einer weiteren Ausnahmekonstellation ging der EGMR von einer konventionskonformen Nichtherausgabe von digitalem Ermittlungsmaterial zum Schutz des Persönlichkeitsrecht Dritter aus, siehe EGMR, Urt. v. 04.04.2017, No. 2742/12, Matanovic´/HRV, Rn. 164, 167, 169. Hierauf wird i. R. d. Einsichtsrechts, auf S. 592 ff., noch genauer eingegangen. 261 Siehe LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 639. 262 EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 28901/95, Rowe u. Davis/GBR, Reports 2000-II, 287, Rn. 63: „During the applicants’ trial at first instance the prosecution decided, without notifying the judge, to withhold certain relevant evidence on grounds of public interest. Such a procedure, whereby the prosecution itself attempts to assess the importance of concealed information to the defence and weigh this against the public interest in keeping the information secret, cannot comply with the above-mentioned requirements of Article 6 § 1.“; MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 163. 263 EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 28901/95, Rowe u. Davis/GBR, Reports 2000-II, 287, Rn. 65 f.; EGMR [GK], Urt. v. 27.10.2004, Nos. 39647/98, 40461/98, Edwards u. Lewis/GBR, Reports 2004-X, 61, Rn. 46; jüngst hat der EGMR hierauf nicht Bezug genommen, was jedoch damit zusammenhängen mag, dass in dem zugrundeliegenden Verfahren Einsicht zumindest in den Diensträumen gewährt wurde und der Beschwerdeführer dem Umstand, dass es dieser Beschränkung zum Schutz von Schutzinteressen Dritter, insb. von kernbereichsrelevanten Daten, bedurfte, im Wesentlichen nicht widersprochen hatte: EGMR, Urt. v. 25.07.2019, No. 1586/15, Rook/DEU, Rn. 65 f. 264 Sog. „important public interests“ können nach dem herausgearbeiten einfachgesetzlichen Regelungsgefüge (wovon auch der EGMR ausgeht) schließlich nicht bei der Bestimmung des Aktenbegriffs, sondern erst bei der Frage der Einschränkbarkeit des Einsichtsrechts zum Zuge kommen, vgl. hierzu EGMR, Urt. v. 27.04.2007, No. 38184/03, Matyjek/PL, Rn. 63; EGMR, Urt. v. 15.01.2008, No. 37469/05, Luboch/PL, Rn. 68; EGMR, Urt. v. 26.11.2009, No. 25282/06, Dolenec/HRV, Rn. 218; EGMR, Urt. v. 09.10.2008, No. 62936/00, Moiseyev/RUS, Rn. 217. 265 Siehe S. 556 ff.

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verfolgungsbehörden zur Verfügung stehe und mit dem in Rede stehenden Strafverfahren zusammenhänge.266 Dass die Informationen in einem Verfahren angesammelt worden sind, das sich unmittelbar gegen den nunmehr Akteneinsicht Begehrenden gerichtet hat, ist für den EGMR bei der Frage des inhaltlichen Zusammenhanges nicht unbedingt entscheidend,267 selbst in verwaltungsrechtlichen Verfahren hielt er diesen Aspekt für unbedeutend.268 Die Verteidigung müsse in der Lage sein, die für sie relevanten Argumente zu sammeln und vorzutragen und demgemäß auf den Gang des Verfahrens Einfluss nehmen zu können.269 Soweit erforderlich sei dem Betroffenen die Möglichkeit einzuräumen, eine Kopie etwaiger Aktenbestandteile zu erhalten.270 Dies entspricht i. E. der einfachgesetzlichen Auslegung des Aktenbegriffs und dem erforderlichen Umgang mit Beweisstücken i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO nach hiesiger Untersuchung. Auch vor diesem Hintergrund müssten der Verteidigung beispielsweise Datenträger mit TKÜ-Aufzeichnungen zumindest in Kopie zum Studium in den eigenen Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt werden, sofern dem speziell bei TKÜ-Aufzeichnungen keine Aspekte entgegenstehen, was gesondert zu untersuchen sein wird.271 An die soeben dargestellte EGMR-Judikatur anknüpfend kann es auch nicht darauf ankommen, ob die Akten formell von der Staatsanwaltschaft oder einer anderen Behörde geführt werden. Die Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 1, 3 lit. a, b, c EMRK beziehen sich auf Vorgänge, die auch den Strafverfolgungsbehörden zugänglich waren,272 was nach hiesiger Auffassung im Einzelfall etwa für Vor266 Siehe EGMR, Urt. v. 04.04.2017, No. 2742/12, Matanovic´/HRV, Rn. 151; EGMR, Urt. v. 25.07.2019, No. 1586/15, Rook/DEU, Rn. 58; vgl. auch EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 28901/95, Rowe u. Davis/GBR, Reports 2000-II, 287, Rn. 60; EGMR, Urt. v. 09.05.2003, No. 59506/00, Georgios Papageorgiou/GRC, Rn. 36; eingehend auch Gaede HRRS 2004, 44, 46 ff. 267 Siehe EGMR, Urt. v. 04.04.2017, No. 2742/12, Matanovic´/HRV, Rn. 160 f., 178 ff.; siehe auch EGMR, Urt. v. 05.04.2012, No. 11663/04, Chambaz/CHE, Rn. 61: „La Cour rappelle que le droit a` un proce`s pe´nal e´quitable implique que la de´fense puisse avoir acce`s a` l’ensemble des preuves entre les mains de l’accusation, qu’elles soient en de´faveur, ou en faveur, de l’accuse´ […].“ 268 Siehe EGMR, Urt. v. 05.04.2012, No. 11663/04, Chambaz/CHE, Rn. 63: „S’agissant, plus particulie`rement, d’une proce´dure devant les juridictions administratives dans une affaire fiscale a` caracte`re pe´nal, la Cour a de´ja` eu l’occasion d’indiquer qu’elle n’excluait pas que la notion de proce`s e´quitable puisse quand meˆme comporter l’obligation, pour le fisc, de consentir a` fournir au justiciable certaines pie`ces quand bien meˆme celles-ci n’e´taient pas spe´cifiquement invoque´es par l’administration contre le reque´rant […].“ 269 EGMR, Urt. v. 08.12.2009, No. 28552/05, Janatuinen/FIN, Rn. 44: „[T]he substantive defence activity on his behalf may comprise everything which is ,necessary‘ to prepare the main trial.“; hierzu MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 150. 270 EGMR, Urt. v. 18.03.1997, No. 22209/93, Foucher/FRA, Rn. 36; EGMR, Urt. v. 27.04.2007, No. 38184/03, Matyjek/PL, Rn. 59; EGMR, Urt. v. 15.01.2008, No. 37469/05, Luboch/PL, Rn. 64; EGMR, Urt. v. 26.11.2009, No. 25282/06, Dolenec/HRV, Rn. 218; EGMR, Urt. v. 09.10.2008, No. 62936/00, Moiseyev/RUS, Rn. 217; EGMR, Urt. v. 04.04.2017, No. 2742/12, Matanovic´/HRV, Rn. 159. 271 Siehe S. 570 ff. 272 Weiter als hier etwa Krawczyk StV 2021, 396, 399 f., wonach auch bei anderen Behör-

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gänge der Zeugenschutzdienststelle oder Bundespolizei anzunehmen ist. Hierdurch wird zwischen Verteidigung und Strafverfolgungsbehörde auch die geforderte Parität von Wissen und Können hergestellt. Demgegenüber sind bspw. nachrichtendienstliche Vorgänge auch aus konventionsrechtlicher Sicht nicht als Bestandteile von Strafverfahrensakten einzuordnen.273 Denn durch die Ausklammerung solcher Vorgänge aus dem Aktenbegriff entsteht der Verteidigung im Vergleich zur Strafverfolgungsbehörde – und dies ist aus konventionsrechtlicher Sicht entscheidend – kein „disadvantage vis-a`-vis his opponent“ im vorbenannten Sinne, wenn auch die Staatsanwaltschaft über diese außerstrafprozessualen Vorgänge nicht verfügt hat. Erforderlich aber auch ausreichend ist aus konventionsrechtlicher Sicht die Offenlegung des gesamten Informationsmaterials, das den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung gestanden hat oder steht und das den Ermittlungs- bzw. Anklagegegenstand – also jeweils die Tat im (nationalen) prozessualen Sinne – inhaltlich betrifft. Verbleibenden Informationslücken kann strafprozessual insbesondere bei der Beweiswürdigung Rechnung getragen werden, worauf innerhalb der Ausführungen zur Einsichtsgewährung eingegangen wird. Zur ausreichenden Gelegenheit der Ausübung von Einfluss auf das Verfahren gehört es weiter, eigene Ermittlungen der Verteidigung zu ermöglichen.274 Da diese Forderung auch auf die Gleichstellung der Verteidigung mit den Strafverfolgungsbehörden abzielt, überschneidet sich dieser Aspekt teilweise mit dem Gebot der strafprozessualen Waffengleichheit275 und der hierzu bereits dargestellten Rechtsprechung des EGMR. Ferner ergibt sich aus den vorbenannten Entscheidungen, dass das Recht zur effektiven Einflussnahme auf das Strafverfahren aus konventionsrechtlicher Sicht zu den zentralen Bestandteilen des Akteneinsichtsrechts zählt. Unter der besonderen Berücksichtigung des Waffengleichheitsaspekts muss zu dem herauszugebenden Informationsmaterial aus völkerrechtlicher Sicht konsequenterweise auch all das Material gehören, das sich sowohl im Vorfeld des eingeleiteten Ermittlungsverfahrens – also etwa sämtliche Spurenakten – als auch im Zuge des Strafverfahrens bei der jeweiligen Strafverfolgungsbehörde befand, wie bspw. von der Staatsanwaltschaft eingeholte verfahrensfremde Akten, die den geführte Akten, die einen inhaltlichen Bezug zum konkreten Strafverfahren hätten, aus Gründen der Verfahrensfairness der Verteidigung zugänglich gemacht werden müssten. 273 Soweit ersichtlich hat sich der EGMR mit dieser Frage bislang noch nicht beschäftigt. Die Entscheidungen im Zusammenhang mit der Verweigerung der Aktenherausgabe aufgrund staatlicher Geheimhaltungsinteressen betrafen soweit ersichtlich lediglich Sperrerklärungen bzgl. Strafaktenbestandteile, die im Besitz der Staatsanwaltschaft waren und von ihr zurückgehalten wurden: EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 28901/95, Rowe u. Davis/GBR, Reports 2000-II, 287, Rn. 65; EGMR [GK], Urt. v. 27.10.2004, Nos. 39647/98, 40461/98, Edwards u. Lewis/GBR, Reports 2004-X, 61, Rn. 46. 274 Siehe MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 154 m. w. N. 275 Siehe EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 28901/95, Rowe u. Davis/GBR, Reports 2000-II, 287, Rn. 60; vgl. auch MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 150 m. w. N.

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der aktenführenden Stelle nach Durchsicht zurückgesandt wurden. Dass Art. 6 EMRK und die daraus folgenden Teilhaberechte, wie eingangs festgestellt wurde, grundsätzlich erst ab dem Ermittlungsverfahren gelten, steht einem Recht auf Offenlegung auch der Informationen, die der Strafverfolgungsbehörde vor dem Ermittlungsverfahren gegen den (weiteren) Beschuldigten zur Verfügung standen, nicht entgegen. Aus dem zeitlichen Anwendungsbereich ergibt sich nur, dass das Offenlegungsrecht im Grundsatz frühestens ab dem Ermittlungsverfahren entsteht; worauf sich diese Offenlegungspflicht dabei bezieht, ist eine hiervon zu trennende Frage. Gleichzeitig erschließt sich aus dem zeitlichen Anwendungsbereich des Fairnessgebots im Allgemeinen und des Waffengleichheitsgrundsatzes im Besonderen, dass sich ein von den Verfahrensstadien unabhängiger Aktenbegriff auch aus Art. 6 Abs. 1 EMRK samt seinen Ausprägungen im dritten Absatz ergibt.

4. Weitere Vorgaben aus Art. 5 Abs. 4 EMRK Auch im Zusammenhang mit Art. 5 Abs. 4 EMRK hat sich der EGMR mit der Akteneinsicht beschäftigt. In diesem Zusammenhang nimmt der Gedanke der prozessualen Waffengleichheit ebenfalls eine tragende Rolle ein. Die zuvor dargestellten Leitgedanken des EGMR finden sich in den entsprechenden Entscheidungen wieder. Der Waffengleichheitsgedanke soll nach Auffassung des EGMR insbesondere in einem gerichtlichen Verfahren, in dem über die Aufrechterhaltung einer freiheitsentziehenden Maßnahme entschieden wird, gelten. In der Lamy-Entscheidung führte der EGMR aus, dass die Verweigerung der Akteneinsicht bzgl. der für die Anfechtung der freiheitsentziehenden Anordnung erforderlichen Akteninhalte zum Verstoß gegen Art. 5 Abs. 4 EMRK führen würde.276 Eine genaue Aktenkenntnis auf Seiten der Anklage einerseits und die Unkenntnis der Akteninhalte auf Seiten der Verteidigung andererseits nähme der Verteidigung die Möglichkeit, die Gründe zur Aufrechterhaltung der Haft effektiv zu bekämpfen.277 Habe die Verteidigung nicht in gleicher Weise Gelegenheit zur Kenntnisnahme der Akten, wie es die Staatsanwaltschaft gehabt hatte,278 so sei das Strafverfahren nicht ausreichend kontradiktorisch ausgestaltet, was allerdings zwingend sei.279 276 Vgl. EGMR, Urt. v. 30.03.1989, No. 10444/83, Lamy/BEL, Series A Nr. 151, Rn. 29; vgl. auch EGMR, Urt. v. 25.03.1999, No. 31195/96, Nikolova/BGR, Reports 1999-II, 203, Rn. 58. 277 Vgl. EGMR, Urt. v. 30.03.1989, No. 0444/83, Lamy/BEL, Series A Nr. 151, Rn. 29; hierzu auch Walischewski, Probleme, S. 79; Börner MRM 2010, 97, 98 f. 278 Siehe EGMR, Urt. v. 30.03.1989, No. 10444/83, Lamy/BEL, Series A Nr. 151, Rn. 29: „The applicant’s counsel did not have the opportunity of effectively challenging the statements or views which the prosecution based on these documents.“ 279 Vgl. EGMR, Urt. v. 30.03.1989, No. 10444/83, Lamy/BEL, Series A Nr. 151, Rn. 29: „[…] the procedure was not truly adversarial.“

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Der Hintergrund auch dieser Entscheidung ist neben dem Gedanken der Waffengleichheit das Recht auf ein kontradiktorisches (Haftprüfungs-)Verfahren.280 Der Sache nach bestätigt der EGMR seine Sichtweise, nach der die Objektivitätspflicht der Staatsanwaltschaft die Akteneinsicht durch die Verteidigung nicht kompensieren könne.281 Die Entscheidung selbst und die hierhinter stehenden Gedanken gelten gleichsam für die Ausgestaltung des in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK normierten Fairnessgebots; sind die Vorgaben des EGMR hinsichtlich Art. 5 Abs. 4 EMRK doch aus dem Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren abgeleitet, welches dem Fairnessgebot entspringt.282 Der EGMR nimmt im Kontext mit dem Untersuchungshaftrecht neben Art. 5 Abs. 4 EMRK ausdrücklich auch auf Art. 6 EMRK Bezug.283 Insofern kann die Forderung nach der Ausgestaltung eines streng adversatorischen bzw. kontradiktorischen Verfahrens auch vor diesem Hintergrund als ständige Rechtsauffassung des EGMR bezeichnet werden. Zudem wird das weite Begriffsverständnis der in der EMRK normierten Verteidigungsrechte auch an der Lamy-Entscheidung deutlich, wenn Art. 5 Abs. 4 EMRK seinem Wortlaut nach lediglich gewährleistet, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und bei festgestellter Rechtwidrigkeit die Entlassung anzuordnen hat.284 Die am Regelungszweck ausgerichteten Vorgaben des EGMR gehen auch hierbei über den Wortlaut weit hinaus. Weiter hat der EGMR in der sog. „Dreifachverurteilung“ Deutschlands im Februar 2001 das anzuerkennende Bedürfnis der Verteidigung zum Ausdruck gebracht, die Entscheidungen und Einschätzungen der Strafverfolgungsbehörde überprüfen zu können. In den drei Verfahren ging es jeweils um eine beanstandete Beschränkung/Verweigerung der Akteneinsicht, wobei sich der Beschuldigte jeweils in Untersuchungshaft befand.285 Zur Entscheidung stand, ob die im Haftbefehl enthaltenen Informationen286 bzw. die durch den Haftrichter mündlich 280 Eingehend Gröger, Akteneinsichtsrecht, S. 48 m. w. N.; Walischewski, Probleme, S. 75 m. w. N. 281 Vgl. i. E. EGMR, Urt. v. 17.05.1990, No. 12005/86, Borgers/BEL, Series A Nr. 214-A, Rn. 26; EGMR, Urt. v. 24.06.2003, No. 39482/98, Dowsett/GBR, Reports 2003-VII, 259, Rn. 44; diesen Schluss zieht auch Walischewski, Probleme, S. 79. 282 So auch Börner MRM 2010, 97, 100. 283 Siehe nur EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 25116/94, Schöps/DEU, Reports 2001-I, 391, Rn. 44; siehe hierzu auch Kempf StraFo 2004, 299, 301. 284 Die jeweils englische und französische Sprachfassung lautet: „Everyone who is deprived of his liberty by arrest or detention shall be entitled to take proceedings by which the lawfulness of his detention shall be decided speedily by a court and his release ordered if the detention is not lawful.“ bzw. „Toute personne prive´e de sa liberte´ par arrestation ou de´tention a le droit d’introduire un recours devant un tribunal, afin qu’il statue a` bref de´lai sur la le´galite´ de sa de´tention et ordonne sa libe´ration si la de´tention est ille´gale.“ 285 EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 23541/94, Garcia Alva/DEU, Reports 2001-VI, 487, Rn. 39; EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 24479/94, Lietzow/DEU, Reports 2001-I, 353, Rn. 44; EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 25116/94, Schöps/DEU, Reports 2001-I, 391, Rn. 44. 286 Vgl. EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 23541/94, Garcia Alva/DEU, Reports 2001-VI,

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erteilten Angaben287 zur Verteidigung ausreichten, was der EGMR als mit Art. 5 Abs. 4 EMRK nicht vereinbar ansah. Zur Begründung führte der EGMR aus, dass es sich jeweils um eine Zusammenfassung/Schlussfolgerung von bzw. aus Informationen handeln würde, die auf die Ermittlungsakte der Strafverfolgungsbehörde zurückgingen, deren Überprüfbarkeit durch die Verteidigung zu gewährleisten sei und in den drei Entscheidungen nicht ausreichend gewahrt wurde.288 Der EGMR setzt in den Entscheidungen also voraus, dass der Verteidigung die Ermittlungsinhalte (in ausreichender Weise) zugänglich zu machen sind, und zwar unabhängig davon, ob für die Strafverfolgungsbehörde etwaiges Verteidigungsmaterial ersichtlich ist.289 Kurzum: der EGMR bringt in diesen Entscheidungen erneut zum Ausdruck, dass die Verteidigung in die Lage versetzt werden muss, den Ermittlungsverlauf und das von den Strafverfolgungsbehörden angegebene Ermittlungsergebnis umfassend und eigenständig überprüfen zu können.290 Die Dreifachverurteilung reiht sich insbesondere in die Lamy-Entscheidung und in die Borgers-Entscheidung ein.291 Wie noch im Detail darzulegen sein wird,292 stellt insbesondere der Ausschluss der Gefährdung des Untersuchungszwecks ein der Akteneinsichtsgewährung potentiell entgegenstehendes Rechtsgut dar. Dennoch soll dieser Aspekt im Rahmen einer Verhandlung über die Anordnung oder die Fortdauer von Untersuchungshaft nach Auffassung des EGMR hinter den Verteidigungsrechten vollständig zurücktreten;293 jedenfalls soweit es sich um die Informationen, die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer freiheitsentziehenden Maßnahme wesentlich sind, handelt.294 Auch in einer

487, Rn. 40, wonach die Verdachtsgründe, Beweise und Haftgründe mündlich mitgeteilt wurden und an die Verteidigung eine Kopie lediglich bzgl. des Vernehmungs- und Durchsuchungsprotokolls und des Haftbefehls herausgegeben wurde; so auch EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 24479/94, Lietzow/DEU, Reports 2001-I, 353, Rn. 45 f. 287 So im Fall Schöps: EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 25116/94, Schöps/DEU, Reports 2001-I, 391, Rn. 45; siehe später auch EGMR [GK], Urt. v. 09.07.2009, No. 11364/03, Mooren/DEU, Rn. 121. 288 EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 23541/94, Garcia Alva/DEU, Reports 2001-VI, 487, Rn. 43; EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 24479/94, Lietzow/DEU, Reports 2001-I, 353, Rn. 48; EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 25116/94, Schöps/DEU, Reports 2001-I, 391, Rn. 55; eingehend zur vorstehend erläuterten „Dreifachverurteilung“: Gröger, Akteneinsichtsrecht, S. 48 ff.; Börner MRM 2010, 97, 99. 289 Ähnlich auch die Schlussfolgerung von Börner MRM 2010, 97, 101. 290 Vgl. auch Pohlreich, Gehör, S. 51. 291 Siehe EGMR, Urt. v. 30.03.1989, No. 10444/83, Lamy/BEL, Series A Nr. 151, Rn. 29; EGMR, Urt. v. 17.05.1990, No. 12005/86, Borgers/BEL, Series A Nr. 214-A, Rn. 26 f. 292 Siehe S. 534 ff. 293 Eingehend M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 111, 114; die ähnliche Konsequenz zieht Meyer, Akteninformationsrecht, S. 255, der jedoch auf die Akteninhalte, die dem Ermittlungsrichter vorgelegt wurden, abstellt. 294 EGMR, Urt. v. 25.03.1999, No. 31195/96, Nikolova/BGR, Reports 1999-II, 203, Rn. 58; siehe auch EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 24479/94, Lietzow/DEU, Reports 2001-I,

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C. Verfassungs-, Völker- und Europarecht

weiteren gegen Deutschland ergangenen Entscheidung wird besonders betont, dass die Strafverfolgungsbehörde eben nicht entscheiden dürfe, was von dem angesammelten Ermittlungsmaterial für die Verteidigung relevant sei.295 Die zu damaliger Zeit vertretene Auffassung sowohl des Bundesgerichtshofs als auch des Bundesverfassungsgerichts, nach der die mündliche Haftprüfung grundsätzlich ohne die Gewährung von Akteneinsicht als rechtsstaatlich angesehen wurde und nur ausnahmsweise dann etwas anderes gelte, wenn und soweit die mündliche Mitteilung nicht ausreichend erscheine (namentlich weil die mündlichen Informationen zu umfangreich seien),296 wurde mittlerweile aufgegeben.297 Hierbei wird auch auf die Rechtsauffassung des EGMR Bezug genommen.298

5. Einschränkbarkeit Die vorstehenden Vorgaben sind bei der Ausgestaltung und der Auslegung des deutschen Strafverfahrensrechts zu berücksichtigen. Wie bereits angedeutet wurde, sind völkerrechtlich Ausnahmen zugelassen, was für das (völkerrechtliche) Fairnessgebot im Allgemeinen ebenso gilt wie für den hieraus erwachsenen Anspruch auf Zurverfügungstellung des gesamten Ermittlungsmaterials, der Akteneinsicht, im Speziellen. Diese Ausnahmen beziehen sich im speziellen Fall des Akteneinsichtsrechts jedoch nicht darauf, aufgrund gewisser Umstände einen anderen Aktenbegriff zugrunde zulegen, sondern gebieten es, zugunsten ebenfalls gewichtiger Rechtsgüter oder Interessen das Einsichtsrecht in die Akten zu beschränken. Dies ergibt sich zunächst aus der Rechtsprechung des EGMR selbst,299 die bei der Ausfüllung von Art. 6 EMRK maßgebend ist und der insoweit zu folgen ist.300 353, Rn. 44; im Zweifel sei jedoch das gesamte Ermittlungsmaterial herauszugeben, siehe EGMR, Entsch. v. 11.03.2008, No. 41077/04, Falk/DEU, S. 5 f.; krit. zu dieser Beschränkung Beulke/Witzigmann NStZ 2011, 254, 258 f. 295 EGMR, Entsch. v. 11.03.2008, No. 41077/04, Falk/DEU, S. 5: „[…] and the prosecution should not be the authority to decide on the relevance of the material.“ 296 So noch BVerfG NJW 1994, 573; NJW 1994, 3219, 3220; siehe auch BGH NJW 1996, 734, 734 f.; weitere Nachweise bei Börner MRM 2010, 97, 103 Fn. 42. 297 BVerfGK 3, 197, 206; siehe auch – wenngleich es sich nur um eine Entscheidung des Ermittlungsrichters handelt – BGH Ermittlungsrichter StV 2012, 321, 322 f. m. Anm. Tsambikakis; eingehend auch Börner MRM 2010, 97, 103 f. 298 BGH Ermittlungsrichter StV 2012, 321, 322 m. Anm. Tsambikakis; BVerfGK 3, 197, 206; eingehend Börner MRM 2010, 97, 105. 299 Vgl. erneut EGMR, Urt. v. 27.04.2007, No. 38184/03, Matyjek/PL, Rn. 63; EGMR, Urt. v. 15.01.2008, No. 37469/05, Luboch/PL, Rn. 68; EGMR, Urt. v. 26.11.2009, No. 25282/06, Dolenec/HRV, Rn. 218; EGMR, Urt. v. 09.10.2008, No. 62936/00, Moiseyev/RUS, Rn. 217; EGMR, Urt. v. 25.07.2019, No. 1586/15, Rook/DEU, Rn. 17 f., 54, 66; EGMR, Urt. v. 04.04.2017, No. 2742/12, Matanovic´/HRV, Rn. 164, 167, 169. 300 BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 319 f.; 128, 326, 367 ff.; Zehetgruber ZJS 2016, 52, 54, 56 ff. m. w. N.; siehe auch NK-EMRK/Meyer-Ladewig/Brunozzi, Art. 46 EMRK, Rn. 16; SK-StPO/Meyer, Bd. 10, Einl., Rn. 125; MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 10.

III. Konventionsrecht

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Selbst wenn der EGMR dies anders sähe oder man Art. 6 EMRK anders auslegen würde, könnte sich hieraus nichts anderes ergeben. Schließlich kann die EMRK den nationalen Grundrechtsschutz anerkanntermaßen nicht einschränken, Art. 53 EMRK.301 Wie sogleich genauer dargelegt wird, ist es Sache des nationalen Gesetzgebers, wie er die konventionsrechtlichen Vorgaben im einfachen Recht umsetzt. Wenn gegenläufige Interessen bereits beim Aktenbegriff zugrunde gelegt würden, stellte sich die Frage, ob bei Abwägung der widerstreitenden Interessen eine (eingeschränkte) Einsicht in diese Informationsträger besteht, von vornherein nicht. Insofern können der Einsicht entgegenstehende Gesichtspunkte nur auf der Ebene der Einsichtsgewährung Eingang finden. Zudem kann bei geltender Gesetzeslage den dargestellten verfassungsrechtlichen Vorgaben aus dem Fairnessgebot und aus Art. 103 Abs. 1 GG nur durch einen umfassenden Aktenbegriff Rechnung getragen werden. Auch die einfachgesetzliche Auslegung von § 147 StPO, insbesondere die eindeutige Vorgabe des § 147 Abs. 1, 2 StPO, lässt eindeutig erkennen, dass allenfalls das Einsichtsrecht in die umfassenden Ermittlungsvorgänge eingeschränkt werden kann. Insofern gebietet es auch das aus Art. 3 Abs. 1 GG folgende Willkürverbot, nach dem ein eindeutiges Auslegungsergebnis nicht umgangen werden darf, Beschränkungen der Akteneinsicht lediglich auf Ebene des Einsichtsrechts zuzulassen. Mit Blick auf das einfachgesetzliche Auslegungsergebnis sprechen zudem die allgemeinen Grundsätze zur Umsetzung von Konventionsrecht für eine Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter/Interessen lediglich auf Ebene des Einsichtsrechts. Die völkerrechtlichen Vorgaben sind schließlich weitestgehend im Strafverfahrensrecht zu berücksichtigen, was andererseits jedoch unter dem Vorbehalt steht, dass dies methodisch vertretbar ist.302 Um einerseits der aus Art. 23 ff., 59 Abs. 2, 20 Abs. 3 GG folgenden Pflicht, die völkerrechtlichen Vorgaben zu berücksichtigen, nachzukommen und andererseits die Grenzen des methodisch Vertretbaren zu wahren, müssen (und können) etwaige entgegenstehende Interessen (wie bspw. staatliche Geheimhaltungsgründe) auf der Ebene des Einsichtsrechts – aber auch nur dort – Berücksichtigung finden. Auf die Einschränkungen des Akteneinsichtsrechts im Einzelnen wird an anderer Stelle noch näher einzugehen sein.303

6. Übertragbarkeit und Umsetzung Die aufgezeigten Vorgaben aus Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK, die auch in der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 5 Abs. 4 EMRK zum Ausdruck gebracht wurden, sind auf das deutsche Strafverfahrensrecht übertragbar und demzufolge durch

301

Siehe BVerfGE 128, 326, 371; eingehend MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK,

Rn. 8. 302 303

Vgl. MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 6, 11; BVerfGE 111, 307, 316. Siehe S. 534 ff.

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C. Verfassungs-, Völker- und Europarecht

die Einführung entsprechender Regelungen oder eine entsprechende Auslegung bestehender Verfahrensvorschriften umzusetzen. Auch wenn den Staaten ein gewisser Umsetzungsspielraum, insbesondere unter Berücksichtigung des gewählten Prozessmodells,304 eingeräumt wird,305 steht es nicht im Belieben des Staates, zu entscheiden, ob er der Verteidigung eigene Rechte einräumt oder die Verteidigung von Staats wegen vorgenommen wird.306 Ein klassisches oder in irgendeiner Form modifiziertes Inquisitionsmodell vermag an der Berücksichtigungspflicht der EMRK-Vorgaben folglich nichts zu ändern,307 sodass auch das deutsche Strafverfahrensmodell dem Waffengleichheitsgebot der EMRK, konkretisiert durch die hierzu ergangene Rechtsprechung des EGMR, unterliegt. In diese Richtung tendierend fordert Gaede, dass bei inquisitorisch ausgestalteten Strafverhandlungen einer Enteignung der vorgesehenen Teilhaberechte nur dadurch begegnet werden könne, indem neben der gerichtlichen Inquisition zusätzlich die vom EGMR geforderten Beteiligtenrechte eingeräumt werden, sodass der Beschuldigte letztlich (nahezu) „doppelt“ verteidigt werde.308 Hierauf läuft im Ergebnis auch das umfassende Aktenbegriffsverständnis in § 199 Abs. 2 S. 2 StPO und in den §§ 147, 32f StPO hinaus. Weiter ist bei der Frage, ob oder inwieweit EMRK-Maßstäbe ins nationale Recht einzubetten sind, zwar eine prozesssystematische Analyse erforderlich.309 Gleichwohl ist die Zielvorstellung, die dem EGMR bei den jeweiligen Entscheidungen vorschwebte, in jedem Fall umzusetzen.310 Lediglich über die Art und Weise der Umsetzung (dem „Wie“) besteht für die beigetretenen Mitgliedsstaaten

304 Vgl. im Zshg. mit Jury-Prozessen: EGMR, Urt. v. 08.02.2011, No. 35863/10, Judge/GBR, Rn. 35 ff.; eingehend Gaede StV 2012, 51, 54. 305 EGMR, Urt. v. 24.05.1991, No. 12744/87, Quaranta/CHE, Series A Nr. 20, Rn. 30 ff.; zum nationalstaatlichen Beurteilungsspielraum (sog. margin of appreciation): Jahn ZStW 127 (2015), 549, 589; eingehend und kit. zur sog. margin of appreciation im Allgemeinen: Asche, Die Margin of Appreciation, passim. 306 Vgl. EGMR, Urt. v. 27.04.2000, No. 27752/95, Kuopila /FIN, Rn. 38: „In the instant case, the prosecutor had expressed his opinion on the relevance of the report to the Court of Appeal, thereby intending to influence the court’s judgment. The Court considers that procedural fairness required that the applicant too should have been given an opportunity to assess the relevance and weight of the supplementary police report and to formulate any such comment as she deemed appropriate. It is also noted that the applicant had requested a supplementary investigation and that throughout the proceedings she had considered it to be important. In the light of these considerations, the Court finds that the procedure did not enable the applicant to participate properly and in conformity with the principle of equality of arms in the proceedings before the Court of Appeal.“; Gaede StV 2012, 51, 54. 307 Siehe MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 302. 308 Siehe Gaede StV 2012, 51, 54. 309 Statt vieler Gaede HRRS 2004, 44, 51. 310 Vgl. EGMR, Urt. v. 13.05.1980, No. 6694/74, Artico/ITA, Series A Nr. 37, Rn. 32 ff.; vgl. EGMR, Urt. v. 24.05.1991, No. 12744/87, Quaranta/CHE, Series A Nr. 205, Rn. 30 ff.; dem folgend Gaede HRRS 2004, 44, 51 m. w. N.

III. Konventionsrecht

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ein Umsetzungsspielraum.311 Beim Akteneinsichtsrecht wird die Rechtmäßigkeit der Art und Weise des Aktenzuganges allen voran von der (ausreichenden) Effektivität der Verteidigung abhängen.312 Diese Bindungswirkung darf ein betreffender Staat nicht durch ein bestimmtes Regelungssystem, durch das die Vorgaben leerlaufen bzw. umgangen würden, konterkarieren.313 In der Literatur wird vorgebracht, dass die Verteidigung nicht auf die Wahrnehmung der Verteidigungsrechte durch die Staatsanwaltschaft – auch mit Blick auf die Objektivitätspflicht – verwiesen werden könne: die Verteidigungsrechte würden doch vielmehr gewährleisten, dass man die Auffassung und Sichtweise der Strafverfolgungsbehörde nicht teilen müsse und kontradiktorisch am Verfahren mitwirken könne.314 Diese Auffassung teilt der EGMR letztlich nicht nur in den bereits zahlreich besprochenen Entscheidungen. Das Gebot der Waffengleichheit hängt nach seinem Verständnis gerade nicht vom Vorliegen eines rein parteiisch ausgestalteten Strafverfahrens ab, sondern fußt auf der Prämisse, dass primäre Aufgabe der Strafverfolgungsbehörde die Vertretung der Anklage (jedenfalls partiell „gegen“ die Verteidigung315) sei.316 Auch die Vorgaben aus der EMRK zugrunde gelegt, besteht schon aus psychologischen und prozesssystematischen Gründen ein wesentlicher Unterschied in der Herangehensweise und Zielsetzung von Strafverfolgungsbehörde und Verteidigung.317 Notwendig und ausreichend für eine Übertragungspflicht der EMRK-Gewährleistungen, und damit der überzeugenden EGMR-Rechtsprechung folgend, ist deshalb nicht eine formelle, sondern eine tatsächliche/faktische „Gegnerstellung“ von Strafverfolgungsbehörde und Verteidigung.318 Dass dies auf die deutsche Strafverfolgungsbehörde zutrifft, wurde ausgiebig erörtert.319 Auf die Bundesrepublik bezogen, dürfen die Vorgaben des EGMR auch nicht dadurch um-

311 Gaede HRRS 2004, 44, 51; siehe zum Vorstehenden auch MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 23 f. m. w. N. 312 So auch LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 645. 313 Eingehend Gaede HRRS 2004, 44, 52 m. w. N. 314 Vgl. hierzu Gaede HRRS 2004, 44, 51. 315 So der die Auffassung des EGMR deutende Einschub von Gaede HRRS 2004, 44, 51; vgl. hierzu i. E. auch Jörke, Akteneinsicht, S. 96 f. 316 Vgl. im Zshg. mit dem procureur ge´ne´ral: EGMR, Urt. v. 17.05.1990, No. 12005/86, Borgers/BEL, Series A Nr. 214-A, Rn. 24 ff.; andeutungsweise lässt sich dieser Leitgedanke auch aus EGMR, Urt. v. 25.04.1983, No. 8398/78, Pakelli/DEU, Sereis A Nr. 64, Rn. 29 ff., herauslesen; eingehend MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 302 m. w. N. 317 Eingehend MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 302. 318 Vgl. EGMR, Urt. v. 17.05.1990, No. 12005/86, Borgers/BEL, Series A Nr. 214-A, Rn. 26: „By recommending that an accused’s appeal be allowed or dismissed, the official of the procureur ge´ne´ral’s department becomes objectively speaking his ally or his opponent. In the latter event, Article 6 para. 1 […] requires that the rights of the defence and the principle of equality of arms be respected“; siehe auch EGMR, Urt. v. 25.06.1997, No. 20122/92, Van Orshoven/BEL, Rn. 38 f.; dem folgend MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 307. 319 Siehe S. 51 f.

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C. Verfassungs-, Völker- und Europarecht

gangen werden, dass man eine solche faktische „Gegnerstellung“ für das deutsche Strafverfahren(-srecht) grundlegend verneint.320 Denn ein beigetretener Mitgliedsstaat soll die aus Art. 6 EMRK erwachsenen Rechte schließlich nicht durch Verweis auf sein gewähltes Strafverfahrensmodell verringern können.321 Eine solche Ausweichmöglichkeit würde die Ratifizierung der konventionsrechtlichen Vorgaben ad absurdum führen. Differenzierungen bei den prozessualen Befugnissen könnten im Einzelfall zwar mit der Verschiedenartigkeit und der Verfahrensstellung der jeweiligen Verfahrensbeteiligten begründet werden.322 Jedoch kann hiermit allenfalls gerechtfertigt werden, dass die Befugnisgleichheit nicht in allen Verfahrensabschnitten besteht.323 Spätestens ab der Übertragung der Verfahrensherrschaft auf das Gericht muss das Gebot prozessualer Befugnisgleichheit (samt der hierzu anerkannten Einschränkungsvorgaben) wiederaufleben.324 Dem wird § 147 Abs. 1, 2 S. 1 StPO gerecht, insbesondere unter Berücksichtigung von § 147 Abs. 6 StPO. Die Rechtsauffassung, dass die Befugnis der Verteidigung zur Einsicht in die Akten nicht an den Maßstäben der möglichen Akteneinsichtnahme durch die Strafverfolgungsbehörden zu messen sei, weil zwischen beiden Verfahrensbeteiligten noch gewisse Unterschiede bestünden,325 steht insbesondere zu den in der Lamy-Entscheidung zum Ausdruck gekommenen Vorgaben hinsichtlich der ausreichend kontradiktorischen Verfahrensausgestaltung326 in Widerspruch. Dass das weitgehende, von dem gewählten Verfahrensmodell letztlich unabhängige Begriffsverständnis für den EGMR nicht nur in Haftfällen bzw. i. R. d. Art. 5 Abs. 4 EMRK zu gelten hat, sondern eine effektive Teilhabe an der Wahrheitsfindung und ein ausreichend adversatorisch geführtes Verfahren im Strafverfahren auch in sonstigen Fällen zu fordern ist, legt der EGMR seiner Sichtweise in ständiger Rechtsprechung zugrunde. Erwähnt seien exemplarisch und insbeson-

320 Auch bei vom EGMR festgestellter „strengster Objektivität“ einer behördlichen Institution bleibt der Schutzumfang von Art. 6 EMRK erhalten, siehe nur EGMR, Urt. v. 25.06.1997, No. 20122/92, Van Orshoven/BEL, Rn. 38 f. 321 Vgl. EGMR, Urt. v. 02.10.2003, No. 41444/98, Hennig/AUT, Rn. 38; vgl. auch EGMR, Urt. v. 12.02.1985, No. 9024/80, Colozza u. a./IT, Series A Nr. 89, Rn. 30; eingehend Gaede StV 2012, 51, 54. 322 Namentlich im Verhältnis von Staatsanwaltschaft und Verteidiger/Angeklagten: LRStPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 209 m. w. N. 323 So auch LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 209, mit Hinweis auf Schweizerisches Bundesgericht EuGRZ 1979, 296, wobei es hierbei nicht direkt um die Befugniseinschränkung in einem speziellen Verfahrensabschnitt ging, sondern vielmehr um die Einschränkung des in Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK normierten Konfrontationsrechts im Allgemeinen. 324 Eingehend auch LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 210. 325 In diesem Sinne wohl Meyer-Goßner NStZ 1982, 353, 354, 356; OLG Frankfurt NJW 2013, 1107, 1107 m. Anm. König. 326 Siehe EGMR, Urt. v. 30.03.1989, No. 10444/83, Lamy/BEL, Series A Nr. 151, Rn. 29.

III. Konventionsrecht

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dere die Entscheidungen Samokhvalov ./. Russland,327 Laska u. Lika ./. Albanien,328 Borgers ./. Belgien,329 Falk ./. Deutschland330 und Rook ./. Deutschland.331 Der in § 147 StPO normierte Aktenbegriff kann in methodisch vertretbarer Weise weit ausgelegt werden. Zudem wird durch eine völkerrechtskonforme Auslegung der herausgearbeitete Grundrechtsschutz nicht beschränkt oder gegen tragende Verfassungsgrundsätze verstoßen. Für die Umsetzung kommt es weiter nicht darauf an, ob das jeweilige Verfahrensrecht ein parteiisch ausgestaltetes Verfahren vorsieht. Insofern kann den konventionsrechtlichen Vorgaben nur durch eine entsprechend weite Auslegung des Aktenbegriffs i. R. d. § 147 StPO genüge getan werden. Dies gilt aufgrund der aus der Konvention folgenden Rechtsschutzgarantie und der Forderung nach einem unabhängigen und unparteiischen Gericht, nach der die Gerichte aufgrund einer umfassenden Tatsachengrundlage die Schuldfrage weitestgehend aufzuklären haben, in gleicher Weise für den Aktenbegriff in § 199 Abs. 2 S. 2 StPO.

7. Maßstab für die Feststellung einer Konventionsverletzung Mit Blick auf das Gebot der völkerrechtsfreundlichen Auslegung des nationalen Rechts sind die völkerrechtlichen Vorgaben der EMRK bei der Auslegung des Aktenbegriffs zu berücksichtigen. Dies gilt nach zuvor Gesagtem ausnahmslos. Der Vollständigkeit halber soll jedoch noch herausgearbeitet werden, ob die jeweilige Nichtberücksichtigung in jedem Fall zu einer Konventionsverletzung aus völkerrechtlicher Sicht führt oder ob dies von weiteren Umständen abhängt. Wurde eine aus Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK bzw. Art. 5 Abs. 4 EMRK erwachsene Garantie nicht eingehalten, ist dies noch nicht gleichbedeutend mit einem Verstoß gegen das Fairnessgebot. Das Verfahren wird erst dann konventionswidrig, wenn es im Rahmen einer Gesamtbetrachtung als insgesamt nicht mehr fair anzusehen ist.332 Wie bereits herausgearbeitet wurde, besteht hinsichtlich des Grundmodells des Strafverfahrens – inquisitorisch oder kontradiktorisch – ebenso Wahlfreiheit für die Konventionsstaaten wie hinsichtlich der den Prozessbeteiligten gewährten prozessualen Instrumente. Ferner wird von der EMRK (konkretisiert durch die Rechtsprechung des EGMR) ein bestimmtes Ergebnis vorgezeichnet, nicht jedoch, auf welche Art und Weise dieses Ergebnis zu erzielen ist.333 Andererseits sind insbesondere die in 327

Siehe EGMR, Urt. v. 12.02.2009, No. 3891/03, Samokhvalov/RUS, Rn. 46. Siehe EGMR, Urt. v. 20.04.2010, Nos. 12315/04, 17605/04, Laska u. Lika/ALB, Rn. 60. 329 Siehe EGMR, Urt. v. 17.05.1990, No. 12005/86, Borgers/BEL, Series A Nr. 214-A, Rn. 26 f. 330 Siehe EGMR, Entsch. v. 11.03.2008, No. 41077/04, Falk/DEU, S. 5. 331 Siehe EGMR, Urt. v. 25.07.2019, No. 1586/15, Rook/DEU, Rn. 58. 332 Eingehend MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 22 ff.; vgl. auch LRStPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 245 m. z. N.; Jahn ZStW 127 (2015), 549, 591. 333 MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 23 f. m. w. N. 328

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C. Verfassungs-, Völker- und Europarecht

Art. 6 Abs. 3 EMRK normierten Rechte bzw. Konkretisierungen des Fairnessgrundsatzes keine bloßen Vorschläge, sondern sie stellen originäre Garantien dar, wie es auch der Wortlaut („Rechte“, „rights“ bzw. „droit“) nahelegt. Wenn der EGMR trotz Abkehr von bestimmten Garantien das Verfahren als insgesamt „noch fair“ eingestuft hat, dann lediglich deshalb, weil die jeweiligen Gewährleistungen unter dem Vorbehalt bestimmter Einschränkungen gewährt wurden und eine solche dann in bestimmten Fällen angenommen und als angemessen angesehen wurde.334 Um eine Verletzung etwa von Art. 6 EMRK festzustellen, bedarf es demnach einer Analyse des Eingriffs in Art. 6 EMRK im konkreten Einzelfall.335 Hält man sich bei der Ausgestaltung und Auslegung der §§ 147, 32f, 199 Abs. 2 S. 2 StPO nicht an die vorstehend erläuterten Vorgaben, wird der EGMR eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK aus nachfolgenden Gründen jedoch auch positiv feststellen müssen und dies grundsätzlich unabhängig von weiteren Gesamtumständen. Aus völkerrechtlicher Sicht kommt es zwar nur darauf an, ob die aufgestellten Forderungen insgesamt verwirklicht werden.336 Liegt kein aus völkerrechtlicher Sicht zwingender Grund für den Verstoß gegen Art. 6 EMRK vor, so stellt dies nach der Auffassung des EGMR jedoch bereits ein starkes Indiz für eine Verletzung von Art. 6 EMRK dar.337 Zudem sind die Einschränkungen des völkerrechtlichen Offenlegungsanspruches auf wenige Ausnahmefälle beschränkt und können das Einsichtsrecht bei weitestgehender Aufrechterhaltung eines adversatorischen Verfahrens nur in eng begrenzten Fällen beschränken. Nur wenn sich die jeweilige Einschränkung an dem vorgegebenen Konventionsmaßstab messen lassen kann, wird Raum für die Negierung einer Konventionsverletzung sein. Die hierzu bestehende Kasuistik wird im Rahmen des Einsichtsrechts gesondert untersucht. Die Verletzung des Fairnessgebots setzt dabei auch nicht den Nachweis voraus, dass das Verfahrensergebnis ohne die Nichteinhaltung der EMRK-Vorgaben i. S. e. Beruhensprüfung anders ausgefallen wäre; die Darlegung, dass die Verteidigung auf irgendeine Art und Weise behindert wurde, reicht hierbei aus.338

334

Eingehend MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 27 m. w. N. Vgl. Jahn ZStW 127 (2015), 549, 592 m. w. N. 336 Eingehend zum Vorstehenden: MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 23 m. z. N. 337 Vgl. EGMR [GK], Urt. v. 13.09.2016, No. 50541/08 u. a., Ibrahim u. a./GBR, Rn. 257 ff.; vgl. im Zshg. mit Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK auch SSW-StPO/Satzger, Art. 6 EMRK, Rn. 56. 338 EGMR, Urt. v. 15.11.1996, No. 15943/90, Domenichini/ITA, Rn. 39; EGMR, Urt. v. 13.05.1980, No. 6694/74, Artico/ITA, EGMR-E 1, 480, Rn. 35; EGMR, Urt. v. 19.02.1991, No. 11910/85, Alimena/ITA, Series A Nr. 195-D, Rn. 18 ff.; EGMR [GK], Urt. v. 28.11.1991, Nos. 12629/87, 13965/88, S./CHE, Series A Nr. 220, Rn. 50; vgl. hierzu MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 155,173 m. z. N.; Tendenzen einer Beruhensprüfung, wonach es der Feststellung bedarf, dass das beeinträchtigte Teilhaberecht für die Verteidigung „wesentlich“ gewesen ist, nimmt der EGMR nur vereinzelt und allenfalls im Zshg. mit Einschrän335

IV. Die RL (EU) 2016/680

457

In Bezug auf das Akteneinsichtsrecht wird man diesen Nachweis in jedem Strafverfahren führen können, indem man darlegt, dass die Strafverfolgungsbehörde über Informationsmaterial aus dem Ermittlungsverfahren verfügte, welches der Verteidigung nicht in gleicher Weise zugänglich gemacht wurde und ein vom EGMR anerkannter Einschränkungsgrund nicht vorlag. Weiter ist zu berücksichtigen, dass der EGMR in seiner ständigen Rechtsprechung als Voraussetzung für ein faires Verfahren insbesondere ein adversatorisch bzw. kontradiktorisch und damit ausreichend waffengleich geführtes Strafverfahren fordert und auch im Allgemeinen die Gewichtigkeit der aus Art. 6 EMRK erwachsenen Rechte zur effektiven Teilhabe bei nahezu jeder Gelegenheit betont. Einen Aktenbegriff, der nicht das gesamte Informationsmaterial umfasst, das der Staatsanwaltschaft betreffend den Ermittlungs-/Anklagegegenstand zur Verfügung gestanden hat, wird der EGMR als Verletzung von Art. 6 Abs. 1, 3 lit. a, b, c EMRK ansehen müssen, soweit er – wofür es keine Anhaltspunkte gibt – seine Rechtsprechung nicht ändert. Nur in den für das Einsichtsrecht bereits angedeuteten Ausnahmefällen ist im Einzelfall Raum für eine Einschränkung des Einsichtsrechts. Die Notwendigkeit eines ausnahmslos umfassenden Aktenbegriffs bleibt hiervon jedoch unberührt.

IV. Die RL (EU) 2016/680 Bei der Ausgestaltung der strafprozessualen Vorschriften, die mit der Informationsverarbeitung zusammenhängen, wie etwa die Vorschrift zur Akteneinsicht, ist auch die RL (EU) 2016/680339 zu berücksichtigen. Bei der Frage, wie weit das Informationsrecht aus § 147 StPO reicht, kann es relevant sein, welche Informationsrechte (sogar) die von der Datenverarbeitung Betroffenen haben. Hierauf wird im Folgenden näher eingegangen. Die Richtlinie beinhaltet im Wesentlichen folgende Bestimmungen: Die personenbezogenen Daten sind gem. Art. 12 Abs. 1 RL (EU) 2016/680 „in präziser, verständlicher und leicht zugänglicher Form in einer klaren und einfachen Sprache“ zu übermitteln.340

kungen im Ermittlungsverfahren vor, vgl. etwa EGMR, Entsch. v. 11.03.2008, No. 41077/04, Falk/DEU, S. 5. 339 Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates, ABl. 2016 L 119/89; nachfolgend RL (EU) 2016/680 genannt. 340 Etwa in Form von Kopienherausgabe, vgl. Erwägungsgrund Nr. 43 der RL (EU) 2016/680.

458

C. Verfassungs-, Völker- und Europarecht

Die Betroffenen haben hiernach das Recht, ein klares Bild von der sie betreffenden Datenverarbeitung zu erlangen, sodass die Informationsgewährung insoweit umfassend sein muss; dies unabhängig vom Datenumfang und (grundsätzlich) unabhängig davon, auf welcher Ebene des Persönlichkeitsrechtsschutzes i. S. d. Sphärengedankens diese Daten zuzuordnen wären. Die Verarbeitung besonderer personenbezogener Daten unterliegt dabei gem. Art. 10 RL (EU) 2016/680 zwar engeren Voraussetzungen. Die Verarbeitung soll gem. Art. 4 Abs. 1 lit a. RL (EU) 2016/680 jedoch allgemein nach Treu und Glauben erfolgen, wonach es als richtlinienwidrig anzusehen sein müsste, den Betroffenen über etwaige rechtswidrig erhobene Daten nicht zu informieren. Ferner müsste man etwa ein Verständnis, nach dem Informationsmaterial, das einem Beweisverwertungsverbot unterliegt, aufgrund der Unverwertbarkeit nicht zu den Akten gelegt wird, als ebenso treuwidrig einordnen. Dies gilt nicht zuletzt deshalb, weil die Richtlinie auch eine Datenschutz-Folgeabschätzung normiert, vgl. Art. 27 RL (EU) 2016/680.341 Wird eine solche Prognose bei der Informationsansammlung im Ermittlungsverfahren nicht (ausreichend) vorgenommen, darf den Betroffenen hierdurch ebenfalls kein Nachteil erwachsen. Auch in dem Fall, dass die Unverwertbarkeit nicht abschätzbar war, muss dies gelten. In der Richtlinie wird ebenfalls darauf hingewiesen, dass die darin normierten weiten Informationsrechte im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen aus der GrCH und dem AEUV stehen; soweit diese durch die hierin normierten Informationsrechte eingeschränkt werden, so soll dies als gem. Art. 52 Abs. 1 GrCH erforderlich anzusehen sein.342 Auch hieran zeigt sich der übergeordnete Gewährleistungsgehalt des Offenlegungsanspruches. Die in der Richtlinie normierten Einschränkungen der Informationsrechte kommen den bereits herausgearbeiteten Maßstäben zur Einschränkbarkeit des Fairnessgebots aus verfassungs- und konventionsrechtlicher Sicht nahezu gleich.343 Die Gewichtigkeit des Informations- bzw. Datenaustauschs im Kontext von Strafverfahren demonstriert mithin auch die vorbenannte Richtlinie. Der Leitgedanke der vorbenannten Richtlinie, den Betroffenen weitreichende und verständliche Informationsrechte zu gewähren, ist bei dem Akteneinsichtsrecht der Verteidigung ebenfalls zu berücksichtigen. Wenn die vorbenannten Forderungen für von der Datenverarbeitung Betroffene, die nicht notwendig Verfahrensbeteiligte sein müssen, gilt, so muss dies für den Beschuldigten und den Verteidiger als im Mittelpunkt des Strafverfahrens stehende Verfahrensbeteiligte erst recht gelten. Auch wenn die Richtlinie nicht unmittelbar auf das Akteneinsichtsrecht der Verteidigung abzielt bzw. ein solches nicht zwingend fordert, können zumindest die Wertungen auf den Aktenbegriff übertragen werden. Schließ341

Vgl. Erwägungsgrund Nr. 58 der RL (EU) 2016/680. Vgl. Erwägungsgrund Nr. 104 der RL (EU) 2016/680. 343 Hierzu soll letztlich die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege, der Schutz der öffentlichen Sicherheit und die Rechte Dritter gehören, vgl. Art. 13 Abs. 3, 15, 16 Abs. 4 der RL (EU) 2016/680. 342

V. Zusammenfassung und Auswirkungen auf §§ 147, 32 ff., 199 StPO

459

lich fließen die Vorgaben der Richtlinie über § 500 Abs. 1 StPO (mit Verweis auch auf § 57 BDSG) in das Strafverfahrensrecht ein und strahlen damit auch auf § 147 StPO aus. Insbesondere regelt § 500 StPO den Schutz personenbezogener Daten bei der Datenverarbeitung durch öffentliche Stellen im Zuge des Strafverfahrens, sodass § 500 StPO in unmittelbarem Zusammenhang mit § 147 StPO steht. Zudem ist die Auslegung des gesamten Strafverfahrensrechts am Richtlinienziel auszurichten, weshalb das angesammelte Informationsmaterial mit Blick auf ggfs. von den Betroffenen geltend gemachte Informationsrechte vollständig zu erhalten ist.344

V. Zusammenfassung und Auswirkungen der verfassungs-/konventionsrechtlichen Gewährleistungen sowie der europarechtlichen Aspekte auf die §§ 147, 32 ff., 199 Abs. 2 S. 2 StPO 1. Verfassungsrecht Der Verteidigung das gesamte Informationsmaterial zur Verfügung zu stellen, welches inhaltlich mit dem Ermittlungs-/Anklagegegenstand zusammenhängt, folgt schon aus dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Fairnessgebot in Form des Rechts auf eine ausreichende und effektive Verteidigungsmöglichkeit. Ob der Informationsträger oder das Beweismittel, auf das in etwaigen Informationsträgern Bezug genommen wird, zulasten des Beschuldigten verwertbar ist, kann es auch aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht ankommen. Die Verteidigungsrechte sind hiernach möglichst ungestört zu gewähren. Die Gelegenheit zu einer effektiven Verteidigung ist nur möglich, wenn das Strafverfahren waffengleich ausgestaltet ist, was auch bei dem deutschen Strafverfahrensmodell zu berücksichtigen ist. Die Waffe der Verteidigung namens „Zugriffsmöglichkeit auf das vollständige Informationsmaterial“ muss ebenso wirkungsvoll sein, wie diejenige der Staatsanwaltschaft. Aus verfassungsrechtlicher Sicht muss insoweit strengste Parität von Wissen und Können hergestellt werden. Für ein Einsichtsrecht in sämtliche mit dem Verfahren inhaltlich zusammenhängende Informationsträger streiten auch die (verfassungsrechtlichen) Funktionen des Verteidigers. Der Reichsgesetzgeber hat dieses Rechtsverständnis bereits bei der Einführung von § 147 RStPO, mithin weit vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes, zugrunde gelegt.

344 Die aus Art. 288 Abs. 3, 4 Abs. 3 AEUV abzuleitende Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung verlangt nicht nur eine entsprechende Auslegung des der Umsetzung dienenden Gesetzes, sondern auch eine am Richtlinienziel orientierte Auslegung der nationalen Vorschriften in ihrer Gesamtheit, um das Richtlinienziel nicht zu gefährden, eingehend Calliess/ Ruffert-EUV/AEUV/Ruffert, Art. 288 AEUV, Rn. 78 ff. m. z. N.

460

C. Verfassungs-, Völker- und Europarecht

Der Spurenakten-Entscheidung kann weder hinsichtlich der Begründung noch im Ergebnis zugestimmt werden. Begrüßenswert ist an der Entscheidung vor dem Hintergrund der herausgearbeiteten verfassungs- und konventionsrechtlichen Gewährleistungen allerdings, dass das Bundesverfassungsgericht der Verteidigung ein Einsichtsrecht in sämtliche Spurenakten zumindest im Grundsatz zuerkennt. Die Auffassung, dass die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen nicht notwendig über eine entsprechende Auslegung des Aktenbegriffs in §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO Eingang ins einfache Recht finden müssten, sondern ebenso über das Beweisantragsrecht, gepaart mit einem eigenständigen Einsichtsrecht und subsidiärem Rechtsschutz über die §§ 23 ff. EGGVG, realisiert werden könnten, überzeugt weder in dogmatischer bzw. methodischer Hinsicht noch ist der Weg des Gerichts nach allgemeinen Grundsätzen verfassungsgemäß. Einerseits erfordert das Verfassungsrecht eine gerichtliche Kognition und eine verfahrensrechtliche Ausgestaltung anhand der Instruktionsmaxime, andererseits führte die einfachgesetzliche Umsetzung über andere prozessuale Instrumente zu einer unangemessenen Verfahrensverzögerung. Zur allseitigen Berücksichtigung der Verfassungsvorgaben bietet sich einzig die Umsetzung über eine entsprechend umfassende Auslegung des Aktenbegriffs in § 199 Abs. 2 S. 2 StPO an. Zudem kann das geltende Verfassungsrecht über das vom Gericht zuerkannte eigenständige Einsichtsrecht ebenfalls nicht hinreichend zur Geltung gelangen. Schließlich werden durch diese Konstruktion ungleiche Bedingungen zur Verteidigungsvorbereitung geschaffen, die sich verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen lassen. Im Übrigen ist dem Gericht eine Rechtsfortbildung versperrt, sofern das einfache Recht es zulässt, dem Verfassungsrecht auf andere Weise Rechnung zu tragen. Für Rechtsfortbildungen aus verfassungsrechtlichen Gründen ergibt sich dies bereits aus dem Vorrang der verfassungskonformen Gesetzesauslegung. Dass das zuerkannte Einsichtsrecht darüber hinaus unter dem Vorbehalt stehen soll, dass der Untersuchungszweck von Ermittlungsverfahren gegen anderweitig Verfolgte gefährdet wird und durch die Einsicht keine „nachhaltige Bloßstellung Dritter“ entsteht, ist mit den Gewährleistungen aus dem Fairnessgebot, insbesondere dem Grundsatz der Aktenwahrheit/-vollständigkeit, dem Waffengleichheitspostulat und den verfassungsrechtlichen Funktionen des Verteidigers, nicht in Einklang zu bringen. Auch widerspricht ein solcher Vorbehalt der Schrankenausgestaltung des Fairnessgebots. Die vom Gericht vorgebrachte Begründung dieser Beweisantragsrechtslösung lässt unberücksichtigt, dass doch gerade dieser Ansatz den Ablauf des Strafverfahrens unverhältnismäßig erschwert und das Strafverfahren, insbesondere den Ablauf und die Wahrheitserforschung, nachhaltig gefährdet. Zudem lässt das Gericht unberücksichtigt, dass die Lösung über das Beweisantragsrecht zu einer Verfahrensverzögerung führt. Durch das vorgebrachte eigenständige Einsichtsrecht wird die Durchsetzung des Offenlegungsanspruchs der Verteidigung ebenfalls verzögert. Die Verfahrensverzögerungen sind jeweils vermeidbar und damit unangemessen. Insofern können die hinter § 147 StPO stehenden verfassungs-

V. Zusammenfassung und Auswirkungen auf §§ 147, 32 ff., 199 StPO

461

rechtlichen Gewährleistungen lediglich über eine entsprechende Auslegung des hierin normierten Aktenbegriffs umgesetzt werden. Eine weite Auslegung des Aktenbegriffs in § 147 StPO und § 199 Abs. 2 S. 2 StPO ist in der Gesamtbetrachtung das einzig (methodisch und verfassungsrechtlich) überzeugende Ergebnis. Eine Pflicht zur Umsetzung der Verfassungsvorgaben durch eine entsprechende Auslegung der §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO ergibt sich mithin auch aus dem verfassungsrechtlichen Verbot willkürlicher Gesetzesauslegung. Vorgänge, die im Rahmen der Ermittlungen eines Geschehensablaufes angefallen sind, im Nachhinein aus den Akten auszusondern, widerspricht auch dem gesetzgeberischen Willen, der insoweit eindeutig ermittelbar ist. Eine jeweils entsprechend weite Auslegung ist mithin auch aus Gründen der Gewaltenteilung erforderlich. Sowohl die allgemeinen Fairnessvorgaben als auch der Waffengleichheitsgrundsatz gebieten es nicht nur, der Verteidigung das gesamte in dem jeweiligen Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten angesammelte Informationsmaterial zur Verfügung zu stellen. Entstand das Ermittlungsverfahren aus einem vorangegangenen Verfahren gegen einen anderen Beschuldigten betreffend desselben Ermittlungsgegenstandes, müssen solche Spurenakten ebenfalls dem Aktenbegriff und damit dem originären Einsichtsrecht des § 147 StPO unterliegen. Ansonsten läge Waffenungleichheit vor. Gleiches ergibt sich aus Art. 103 Abs. 1 GG. Ein Aussonderungsrecht der Strafverfolgungsbehörde, das auch gegenüber der Verteidigung gelten soll, wäre mithin verfassungswidrig. Dies muss mit Blick auf den Gewährleistungsgehalt von Art. 19 Abs. 4 GG, den diesbezüglichen Fairnessgrundsätzen und das materielle Schuldprinzip auch für den Aktenbegriff in § 199 Abs. 2 S. 2 StPO gelten. Insofern sind auch etwaige elektronische Dokumente i. S. d. §§ 32a f. StPO oder als Beweismittel sichergestellte Ausgangsdokumente i. S. d. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO aus verfassungsrechtlicher Sicht zumindest als Kopie bzw. als übertragenes Dokument dem Gericht vorzulegen und der Verteidigung zugänglich zu machen. Auf welche Weise die Informationsträger erlangt wurden oder ob sie sich auf zulasten des Beschuldigten unverwertbare Beweismittel beziehen, kann es hierbei ebenfalls nicht ankommen. Hinsichtlich der Informationsträger, die von der Staatsanwaltschaft erstellt wurden oder sich bei ihr angesammelt haben, und derjenigen Informationsträger, die für das Strafverfahren (bislang) ausschließlich dem Gericht vorliegen, bestehen aus verfassungsrechtlicher Sicht letztlich keine gravierenden Unterschiede. Dass Letztere der Verteidigung zugänglich zu machen sind, ergibt sich schließlich aus den allgemeinen Fairnessvorgaben. Dass im Verhältnis von Verteidigung und Gericht keine Waffengleichheit herzustellen ist, hat i. E. also keine Auswirkungen auf das zugänglich zu machende Informationsmaterial. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass letztere Informationsträger der Verteidigung nicht in (waffen-)gleicher Weise zugänglich gemacht werden müssen. Da das einfache Recht hierüber hinausgeht, indem § 147 Abs. 1 StPO hinsichtlich des Einsichtsrechts nicht zwischen den allein dem Gericht vorliegenden Akten und den auch im Besitz der Staatsanwaltschaft gewesenen Akten unterscheidet, hat dies jedoch keine Auswirkungen auf die Auslegung von § 147 StPO bzw. den

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C. Verfassungs-, Völker- und Europarecht

hierin normierten Aktenbegriff. Im gerichtlichen Verfahren ergibt sich eine Pflicht zur Zugänglichmachung der vom Gericht erstellten oder ihm vorliegenden Informationsträger zudem aus Art. 103 Abs. 1 GG. Da der Gehörsanspruch einen selbstbestimmten Einfluss auf das gerichtliche Verfahren gewährt, ist der hieraus resultierende Informationsanspruch nicht zwingend auf die dem Gericht tatsächlich vorliegenden Akten beschränkt. Sofern weiteres Informationsmaterial mit dem gerichtlichen Verfahren zusammenhängt, ist dieses der Verteidigung unabhängig davon zugänglich zu machen, ob diese Informationsträger auch dem Gericht vorliegen. Zudem gebietet es der Waffengleichheitsgrundsatz, das Informationsmaterial unter denselben Bedingungen, wie es der Staatsanwaltschaft möglich war – völlig ungestörtes Studium des Ermittlungsmaterials in den eigenen Räumlichkeiten –, einsehen zu können. Nur auf diese Weise ist die Wahrheitsfindung bestmöglich zu erreichen. Der Informationszugang muss notfalls durch die Zurverfügungstellung von entsprechenden Duplikaten gewährleistet werden. Eine Gleichbehandlung von digitalen Datenträgern, wie Ton- oder Bildaufzeichnungen, mit sonstigen Informationsträgern könnte zwar auch aus dem allgemeinen Gleichheitssatz abgeleitet werden, sofern die Aufzeichnungen ebenso kopierfähig sind wie die übrigen Informationsträger.345 Gegenüber Art. 3 Abs. 1 GG ist das verfassungsrechtliche Fairnessgebot in Ausgestaltung des Waffengleichheitsgrundsatzes jedoch als lex specialis anzusehen.346 Der gesetzgeberische Wille bei der Reform des Jahres 2018, nach dem Beweisstücke der Verteidigung lediglich in Kopie zugänglich zu machen sind, ist mithin verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Gleiches gilt für die vom Gesetzgeber beabsichtigte Einordnung von Ausgangsdokumenten nach einer Übertragung gem. § 32e Abs. 1 S. 1 StPO oder für bestimmte Dateien/Daten, die selbst Aktenbestandteile darstellen. Auch das Gebot der Aktenwahrheit/-vollständigkeit lässt sich aus dem Verfassungsrecht ableiten, sodass mit dem Ermittlungs-/Anklagegegenstand inhaltlich zusammenhängende Vorgänge, die von anderen Behörden geführt werden, die der Staatsanwaltschaft jedoch zur Verfügung standen, ebenfalls als Bestandteil der Strafverfahrensakten gelten müssen. Hierfür streitet auch das Waffengleichheitsgebot. Die Subsumtion solch außerstrafprozessualer Vorgänge unter den Aktenbegriff ergibt sich für § 147 StPO zudem aus der verfas-

345 So aus österreichischer verfassungsrechtlicher Sicht etwa Zehetgruber JSt 2013, 110, 112 f.; in diesem Sinne wohl auch SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 106. 346 Schließlich ist dem Fairnessgebot, insbesondere in Ausprägung des Waffengleichheitsgrundsatzes, der Gleichbehandlungsaspekt aus Art. 3 Abs. 1 GG (buchstäblich) immanent: vgl. Dreier-GG/Heun, Bd. 1, Art. 3, Rn. 96; siehe aus konventionsrechtlicher Sicht: Gaede, Fairness, S. 649, 652 ff.; soweit Justizgrundrechte auf eine Gleichbehandlung gerichtet sind, wird Art. 3 Abs. 1 GG von diesen allgemein verdrängt, siehe v. Mangoldt/Klein/StarckGG/Nolte/Aust, Bd. 3, Art. 103 Abs. 1, Rn. 92 m. w. N.; v. Mangoldt/Klein/Starck-GG/Wollenschläger, Bd. 1, Art. 3 Abs. 1, Rn. 332. Letzteres muss im Verhältnis zum Fairnessgebot entsprechend gelten.

V. Zusammenfassung und Auswirkungen auf §§ 147, 32 ff., 199 StPO

463

sungsrechtlichen Stellung des Verteidigers und seinen Funktionen. Entscheidend ist aus verfassungsrechtlicher Sicht generell – gemäß dem einfachgesetzlich gefundenen Auslegungsergebnis – der Umfang, der der konkret ermittelnden bzw. später der anklagenden Strafverfolgungsbehörde zur Verfügung steht bzw. stand. Das Gebot prozessualer Fürsorgepflicht spielt im Zusammenhang mit § 147 StPO eine untergeordnete Rolle. Die Gewährleistungen aus Art. 103 Abs. 1 GG sehen ebenfalls einen vollständigen Informationszugang vor. Insofern kann das Erfordernis, von etwaigen Beweisstücken hilfsweise eine Kopie zu erhalten, auch aus Art. 103 Abs. 1 GG abgeleitet werden. Der Gehörsanspruch stellt eine Ausprägung des allgemeinen Fairnessgebots dar, sodass die hieraus erwachsenen Rechte über die zeitliche Anwendbarkeit des Art. 103 Abs. 1 GG hinaus i. E. auch im Ermittlungsverfahren zu berücksichtigen sind. Einschränkungen sind grundsätzlich nur im Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten verfassungsrechtlich unbedenklich. In engen Ausnahmefällen können Schutzinteressen des Staates oder Dritter eine Beschränkung gebieten, die auch zeitlich über das Ermittlungsverfahren hinausgeht. Hierneben kann im Einzelfall und auch nur zeitweise allenfalls noch der Beschleunigungsgrundsatz das Einsichtsrecht beschränken. Da die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen zugunsten der Verteidigung jedoch notwendig bei der Auslegung des Aktenbegriffs Berücksichtigung finden müssen und sich Einschränkungen erst auf der Ebene des Einsichtsrechts ergeben können, vermögen der Akteneinsicht entgegenstehende Aspekte an der Ausfüllung des Aktenbegriffs nichts zu ändern.

2. Völkerrecht und sekundäres Europarecht Auch die EMRK gebietet es, den Aktenbegriff des § 147 StPO und des § 199 Abs. 2 S. 2 StPO entsprechend weit zu verstehen. Die umfassenden Vorgaben aus der EMRK werden nachfolgend zusammengefasst und zur Übersichtlichkeit thematisch gegliedert. a) Der Offenlegungsanspruch zur Herstellung von Waffengleichheit Die Forderung nach einem nationalen Verfahrensrecht, nach dem der Verteidigung das gesamte Informationsmaterial, das der jeweiligen Staatsanwaltschaft vor oder während des jeweiligen Ermittlungsverfahrens hinsichtlich des Ermittlungsgegenstandes zur Verfügung gestanden hat oder steht, zugänglich zu machen ist, kann im Grunde aus nur einer Entscheidung des EGMR entnommen werden. In der Sache Borgers ./. Belgien347 machte der EGMR deutlich, dass die Auffassung des EGMR und die Konzeption des belgischen Strafverfahrensrechts, nach denen die Strafverfolgungsbehörde als objektiv handelnd angesehen

347

EGMR, Urt. v. 17.05.1990, No. 12005/86, Borgers/BEL, Series A Nr. 214-A, Rn. 26.

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C. Verfassungs-, Völker- und Europarecht

wird, nichts daran ändert, dass sie nicht als ausreichend neutral angesehen werden kann. Die Entscheidung erging im Zusammenhang mit der Offenlegung von Informationen. Vergleichbar entschied der EGMR auch in Sachen Werner ./. Österreich.348 Diese Argumentationsstruktur fußt auf folgender, überzeugender Rechtsprechungslinie: Im Mittelpunkt zu den zahlreichen EMRK-Gewährleistungen steht für den EGMR das „principle of ,equality of arms‘“349 und die hiermit zusammenhängende ständige Forderung nach einem adversatorisch bzw. kontradiktorisch ausgestalteten Strafverfahren. Die hieraus erwachsenen Vorgaben lassen sich im Grunde auch aus dem Grundgesetz herleiten. Der EGMR geht über die bislang ergangene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedoch hinaus. Zum Ausdruck kommt dies zunächst in den Entscheidungen Barbera`, Messegue´ und Jabardo ./. Spanien,350 Kostovski ./. Niederlande,351 Kamasinski ./. Österreich,352 Saidi ./. Frankreich,353 Sadak u. a. ./. Türkei I354 und T. ./. Großbritannien355. Es geht hierbei im Kern darum, der Verteidigung ein umfassendes und gehaltvolles Recht zur Teilhabe am Strafverfahren einzuräumen und eine Verteidigung „auf Augenhöhe“ zu ermöglichen. Deshalb betonte der EGMR mehrfach in Entscheidungen gegen Russland und die Ukraine, dass ein Strafverfahren umfassender Waffengleichheit und Kontradiktion bedarf.356 Auch in der Laska u. Lika-Entscheidung357 prüfte der EGMR eingehend, ob die Vorbereitungsbedingungen der Verteidigung hinter denen der Strafverfolgungsbehörde zurückgeblieben sind. In diesem Sinne betont der EGMR in der Bulut-Entscheidung, dass die Verteidigung in der Wahl ihrer Strategie frei sein müsse.358 Dies steht im Einklang mit den herausgearbeiteten Funktionen des Verteidigers, die über Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK auch konventionsrechtlichen Schutz genießen.

348 EGMR, Urt. v. 24.11.1997, No. 138/1996/757/956, Werner/AUT, Series A Nr. 282, Rn. 67. 349 Beispielhaft EGMR, Urt. v. 27.06.1968, No. 1936/63, Neumeister/AUT, Series A Nr. 281-C, Rn. 22. 350 EGMR, Urt. v. 06.12.1988, No. 10590/83, Barbera`, Messegue´ u. Jabardo/ESP, Series A Nr. 146, Rn. 78. 351 EGMR, Urt. v. 20.11.1989, No. 11454/85, Kostovski/NLD, Series A Nr. 166, Rn. 41. 352 EGMR, Urt. v. 19.12.1989, No. 9783/82, Kamasinski/AUT, Series A Nr. 168, Rn. 102. 353 EGMR, Urt. v. 20.09.1993, No. 14647/89, Saidi/FRA, Series A Nr. 261-C, Rn. 43. 354 EGMR, Urt. v. 17.07.2001, No. 29900/96 u. a., Sadak u. a./TUR I, Reports 2001-VIII, 267, Rn. 64. 355 EGMR [GK], Urt. v. 16.12.1999, No. 24724/94, T./GBR, Rn. 83. 356 Vgl. EGMR, Urt. v. 12.02.2009, No. 3891/03, Samokhvalov/RUS, Rn. 46; ähnlich EGMR, Urt. v. 23.04.2009, No. 32165/02, Sibgatullin/RUS, Rn. 37; EGMR, Urt. v. 08.04.2010, No. 11994/03, Sabayev/RUS, Rn. 35; EGMR, Urt. v. 06.09.2005, No. 65518/01, Salov/UKR, Reports 2005-VIII, 143, Rn. 87. 357 Vgl. EGMR, Urt. v. 20.04.2010, Nos. 12315/04, 17605/04, Laska u. Lika/ALB, Rn. 60. 358 EGMR, Urt. v. 22.02.1996, No. 17358/90, Bulut/AUT, Rn. 49.

V. Zusammenfassung und Auswirkungen auf §§ 147, 32 ff., 199 StPO

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Weiter hat sich der EGMR vermehrt mit der Offenlegung von Informationen der Strafverfolgungsbehörden auseinandergesetzt. Immer wieder wird strengstens überprüft, ob eine ausreichende Waffengleichheit hergestellt wurde. In der Edwards-Entscheidung359 bekannte der EGMR noch nicht ausdrücklich Farbe und ließ die Frage der Reichweite der Offenlegungspflicht teilweise offen. In der Dowsett-Entscheidung erstreckte der EGMR die Offenlegungspflicht zunächst auf die verfahrensrelevanten Beweismittel,360 sprach sich gleichzeitig aber auch gegen ein Aussonderungsrecht der Strafverfolgungsbehörden aus.361 Diese Grundsätze legte der EGMR bereits der Lamy-Entscheidung zugrunde.362 Konkreter formuliert der EGMR seine Ansicht in der gegen Deutschland ergangenen Lietzow-Entscheidung,363 nach der der Verteidigung ein umfassendes Offenlegungsrecht zusteht, das unabhängig von einer staatsanwaltschaftlich festgestellten Verfahrensrelevanz der Informationsträger gelten soll. Diese Rechtsauffassung legte der EGMR letztlich auch den zwei weiteren Verurteilungen Deutschlands in Sachen Garcia Alva364 und Schöps365 zugrunde. Die Überprüfbarkeit der staatsanwaltschaftlichen Schlussfolgerung aus den (bisherigen) Ermittlungen war die Kernforderung der sog. Dreifachverurteilung Deutschlands. Entsprechend verfuhr der EGMR auch in den Verfahren Edwards u. Lewis ./. Großbritannien366 und Atlan ./. Großbritannien367. Dass es dem EGMR hinsichtlich der Offenlegungspflicht nicht auf eine von der Strafverfolgungsbehörde festgestellte Verfahrensrelevanz ankommt, verdeutlicht er letztlich auch in der Sache Janatuinen ./. Finnland.368 Diese Rechtsauffassung wiederholte der EGMR zudem in einer weiteren gegen Deutschland ergangenen Entscheidung.369 In der Sache Rowe u. Davis ./. Großbritannien erteilte der EGMR einem Aussonderungsrecht der Strafverfolgungsbehörde trotz angenommener staatlicher Geheimhaltungsgründe eine Absage.370 Ein umfassendes Informationsrecht der Verteidigung wird auch in den Verfahren Pe´lissier u. Sassi ./. Frankreich371 und P.G. u. J.H 359

EGMR, Urt. v. 16.12.1992, No. 13071/87, Edwards/GBR, Series A Nr. 247-B, Rn. 36. EGMR, Urt. v. 24.06.2003, No. 39482/98, Dowsett/GBR, Reports 2003-VII, 259, Rn. 42 ff. 361 EGMR, Urt. v. 24.06.2003, No. 39482/98, Dowsett/GBR, Reports 2003-VII, 259, Rn. 44. 362 Vgl. EGMR, Urt. v. 30.03.1989, No. 10444/83, Lamy/BEL, Series A Nr. 151, Rn. 29. 363 EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 24479/94, Lietzow/DEU, Reports 2001-I, 353, Rn. 44. 364 EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 23541/94, Garcia Alva/DEU, Reports 2001-VI, 487, Rn. 43. 365 EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 25116/94, Schöps/DEU, Reports 2001-I, 391, Rn. 50, 55. 366 Vgl. EGMR [GK], Urt. v. 27.10.2004, Nos. 39647/98, 40461/98, Edwards u. Lewis/GBR, Reports 2004-X, 61, Rn. 46. 367 EGMR, Urt. v. 19.06.2001, No. 36533/97, Atlan/GBR, Rn. 40 ff., 45 f. 368 EGMR, Urt. v. 08.12.2009, No. 28552/05, Janatuinen/FIN, Rn. 44. 369 EGMR, Entsch. v. 11.03.2008, No. 41077/04, Falk/DEU, S. 5. 370 EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 28901/95, Rowe u. Davis/GBR, Reports 2000-II, 287, Rn. 63. 371 EGMR [GK], Urt. v. 25.03.1999, No. 25444/94, Pe´lissier u. Sassi/FRA, Reports 1999-II, 279, Rn. 51. 360

466

C. Verfassungs-, Völker- und Europarecht

./. Großbritannien372 gefordert. Sehr deutlich wurde der EGMR diesbezüglich in der jüngst ergangenen Entscheidung in Sachen Rook ./. Deutschland.373 Der EGMR verdeutlicht in den Sachen Georgios Papageorgiou ./. Griechenland,374 Matanovic´ ./. Kroatien,375 Rowe u. Davis ./. Großbritannien,376 und Rook ./. Deutschland,377 dass es für die Einordnung von Informationsmaterial als offenzulegender Aktenbestandteil lediglich darauf ankommt, ob die Informationsträger mit dem jeweiligen Strafverfahren in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen. Dem EGMR kommt es dabei aber nicht nur darauf an, dass die Verteidigung den gleichen Informationsstand wie die Strafverfolgungsbehörde bekommen können soll. Darüber hinaus sollen auch die Umstände, unter denen sich die Verteidigung informieren kann, denen der Strafverfolgungsbehörde entsprechen. Im Zusammenhang mit der Vorlage von Beweismitteln wird in Sachen Dombo Beheer B.V. ./. Niederlande eine Parität der Vorbereitungsbedingungen gefordert.378 Entsprechend drückt sich der EGMR in den Verfahren Mayzit ./. Russland379 und Moiseyev ./. Russland380 aus. Als wesentlichen Bezugspunkt des inhaltlichen Zusammenhanges den Geschehensablauf anzusehen, der den Ermittlungs-/Anklagegegenstand darstellt, ist aus konventionsrechtlicher Sicht unbedenklich. Auch erfordern die Fairnessvorgaben es lediglich, der Verteidigung dasjenige Informationsmaterial zugänglich zu machen, das der konkret ermittelnden/anklagenden Staatsanwaltschaft tatsächlich zur Verfügung steht bzw. stand. Den Offenlegungsanspruch zumindest auf die gesamte(n) prozessuale(n) Tat(en) zu erstrecken, ist zur Wahrung von ausreichender Waffengleichheit jedoch erforderlich. Dass der EGMR im Detail zur Überprüfung stellt, ob das umfassende Akteneinsichtsrecht in ausreichender Weise gewahrt wurde, demonstriert der EGMR in zwei Entscheidungen gegen die Türkei. Der EGMR stellte in der First Section in Sachen Öcalan ./. Türkei381 eine Verletzung des Fairnessgebots fest, weil der Beschwerdeführer nicht in gleicher Weise Kenntnis von dem das Strafverfahren betreffende Informationsmaterial gehabt hat. Die Sache wurde auf Antrag des Beschwerdeführers und der Regierung der Grand Chamber vorgelegt.382 Diese 372 EGMR, Urt. v. 25.09.2001, No. 44787/98, P.G. u. J.H./GBR, Reports 2001-IX, 195, Rn. 67 f. 373 EGMR, Urt. v. 25.07.2019, No. 1586/15, Rook/DEU, Rn. 58. 374 Vgl. EGMR, Urt. v. 09.05.2003, No. 59506/00, Georgios Papageorgiou/GRC, Rn. 36. 375 Siehe EGMR, Urt. v. 04.04.2017, No. 2742/12, Matanovic´/HRV, Rn. 151. 376 Vgl. EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 28901/95, Rowe u. Davis/GBR, Reports 2000-II, 287, Rn. 60. 377 EGMR, Urt. v. 25.07.2019, No. 1586/15, Rook/DEU, Rn. 58. 378 EGMR, Urt. v. 27.10.1993, No. 14448/88, Dombo Beheer B.V./NLD, Series A Nr. 274, Rn. 33. 379 Vgl. EGMR, Urt. v. 20.01.2005, No. 63378/00, Mayzit /RUS, Rn. 78 f. 380 EGMR, Urt. v. 09.10.2008, No. 62936/00, Moiseyev/RUS, Rn. 202–207. 381 EGMR, Urt. v. 12.03.2003, No. 46221/99, Öcalan/TUR I, Rn. 166, 169. 382 EGMR [GK], Urt. v. 12.05.2005, No. 46221/99, Öcalan/TUR II, Reports 2005-IV, 131, Rn. 9.

V. Zusammenfassung und Auswirkungen auf §§ 147, 32 ff., 199 StPO

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bemängelte im Übrigen, dass die Verfahrensakten der Verteidigung auch nicht rechtzeitig zugestellt worden seien und bewertete dies ebenfalls als Konventionsverletzung.383 Die Grand Chamber fasste den Aspekt der unzureichenden Informationsgrundlage dabei unter dem Stichwort „disadvantage vis-a`-vis his opponent“ zusammen.384 Der Waffengleichheitsgrundsatz wird vom EGMR – ebenso wie aus verfassungsrechtlicher Sicht – regelmäßig im Verhältnis zu den Strafverfolgungsbehörden angeführt. Da es nach den allgemeinen Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 lit. a, b, c EMRK unabhängig vom Waffengleichheitspostulat ebenfalls einer vollständigen Informationsgrundlage der Verteidigung bedarf, ist das Zugänglichmachen von Informationsträgern, die bisher lediglich dem Gericht zur Verfügung stehen, ebenfalls erforderlich. Insofern kann es aus völkerrechtlicher Sicht ebenso wenig wie aus verfassungsrechtlicher Sicht darauf ankommen, ob bspw. elektronische Dokumente i. S. d. §§ 32a f. StPO von der Strafverfolgungsbehörde oder dem Gericht erstellt bzw. bei ihr/ihm eingereicht wurden. Differenziert werden kann auch aus konventionsrechtlicher Sicht lediglich dahingehend, dass die ausschließlich dem Gericht vorliegenden Informationsträger nicht notwendig unter gleichen Bedingungen der Verteidigung zugänglich gemacht werden müssen. Da § 147 StPO hierbei nicht differenziert, geht die nationale einfache Gesetzeslage über den völkerrechtlichen Mindeststandard i. S. d. Art. 53 EMRK hinaus. Die Verwertbarkeit etwaiger Beweismittel zulasten des Beschuldigten kann mit Blick auf den herausgearbeiteten Gewährleistungsgehalt des Art. 6 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 lit. a, b, c EMRK für die Frage der Zugänglichmachung diesbezüglicher Informationsträger ebenfalls nicht beachtlich sein. Die Gewichtigkeit des Waffengleichheitsgrundsatzes, insbesondere die Forderung eines ausreichendend adversatorisch ausgestalteten Strafverfahrens, spiegelt sich in der ausdrücklichen Erwähnung einzelner Teilhaberechte in Art. 6 Abs. 3 EMRK wider. Speziell das Akteneinsichtsrecht geht auf Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. a, b, c EMRK zurück, was den Stellenwert des Fairnessgebots für den Aktenbegriff hervorhebt. Die Vorgaben des EGMR entsprechen insgesamt auch dem Telos des Fairnessgebots, wie er in Art. 6 Abs. 3 EMRK zum Ausdruck kommt. Ebenso räumt der EGMR mit seiner ständigen Rechtsauffassung der Verteidigung die Möglichkeit ein, eigene Ermittlungen anzustellen. Insofern stellt die Rechtsprechung des EGMR zum Offenlegungsanspruch des Verteidigers aus völkerrechtlicher Sicht nicht nur „well-established case-law“385 dar, sodass ihr besondere Bedeutung zukommt;386 sie verdient inhaltlich auch Zuspruch.

383 EGMR [GK], Urt. v. 12.05.2005, No. 46221/99, Öcalan/TUR II, Reports 2005-IV, 131, Rn. 148. 384 EGMR [GK], Urt. v. 12.05.2005, No. 46221/99, Öcalan/TUR II, Reports 2005-IV, 131, Rn. 140. 385 Payandeh JöR 2020, 1, 30. 386 Payandeh JöR 2020, 1, 30 m. w. N.

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C. Verfassungs-, Völker- und Europarecht

b) Die Umsetzungspflicht Die aus dem allgemeinen Fairnessgebot und dem Waffengleichheitspostulat abgeleiteten Verfahrensrechte und -grundsätze sind in das nationale Verfahrensrechtsgefüge zu implementieren. Dem nationalen Gesetzgeber und Rechtsanwender steht es zwar frei, über welchen Weg er den völkerrechtlichen Maßstab methodisch umsetzt. Ob das Strafverfahren nach Maßgabe der vorstehenden Vorgaben waffengleich und kontradiktorisch auszugestalten ist, steht hingegen nicht zur Disposition eines Mitgliedstaates und bedarf deshalb zwingend der Umsetzung. Dass das deutsche Strafverfahrensmodell keinen Parteienprozess zugrunde legt, ist für die Umsetzungspflicht nicht entscheidend. Der EGMR wird zwar in jedem Fall darüber zu befinden haben, ob das Strafverfahren trotz der Missachtung der dargestellten EMRK-Vorgaben als insgesamt fair anzusehen ist. In diese Gesamtbetrachtung wird der EGMR jedoch lediglich einbeziehen, ob der Einschränkungsmaßstab, der sich zum Akteneinsichtsrecht herausgebildet hat, eingehalten wurde. Auf weitere Gesamtumstände kommt es dem EGMR im speziellen Fall des Offenlegungsanspruches richtigerweise nicht an. Das Einsichtsrecht in die Akten kann dabei sowohl vor als auch nach der förmlichen Anklage aufgrund entgegenstehender „important public interest[s]“387 ausnahmsweise eingeschränkt werden. Hierzu zählen die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege, die nationale Sicherheit sowie Schutzinteressen Dritter, wobei Letztere grundsätzlich auf den Lebens-, Freiheits- und Sicherheitsschutzes zu beschränken sind. Eine Einschränkung ist in jedem Fall jedoch mit Zurückhaltung und mit „sufficiently counterbalance“388 vorzunehmen. Der EGMR berücksichtigt solche entgegenstehenden Aspekte bei Bestimmungen entsprechend §§ 147, 32f StPO ebenfalls nicht bei der Umschreibung des Aktenbegriffs, sondern bei der Frage der Einsichtsgewährung,389 wobei es aus völkerrechtlicher Sicht ohnehin nur darauf ankommt, dass die EMRK-Vorgaben bei der Ausgestaltung des nationalen Rechts im Ergebnis Berücksichtigung finden. Auf die Ausfüllung des Aktenbegriffs haben entgegenstehende Aspekte damit keinen Einfluss. Die Gewährleistungen aus dem Fairnessgebot können in methodisch vertretbarer Weise lediglich bei der Auslegung des Aktenbegriffs in § 147 StPO berücksichtigt werden. Zudem wird durch die Umsetzung der EMRK-Vorgaben der Grundrechtsschutz nicht eingeschränkt und es wird hierbei auch nicht gegen 387 Siehe nur EGMR, Urt. v. 24.6.2003, No. 39482/98, Dowsett/GBR, Reports 2003-VII, 259, Rn. 42. 388 LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 223; EGMR [GK], Urt. v. 27.10.2004, Nos. 39647/98, 40461/98, Edwards u. Lewis/GBR, Reports 2004-X, 61, Rn. 46; EGMR, Urt. v. 18.05.2010, No. 26839/05, Kennedy/GBR, Rn. 180, 184; eingehend Gaede, Fairness, S. 688 f. m. w. N. 389 Vgl. EGMR, Urt. v. 27.04.2007, No. 38184/03, Matyjek/PL, Rn. 63; EGMR, Urt. v. 15.01.2008, No. 37469/05, Luboch/PL, Rn. 68; EGMR, Urt. v. 26.11.2009, No. 25282/06, Dolenec/HRV, Rn. 218; EGMR, Urt. v. 09.10.2008, No. 62936/00, Moiseyev/RUS, Rn. 217.

V. Zusammenfassung und Auswirkungen auf §§ 147, 32 ff., 199 StPO

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tragende Verfassungsgrundsätze verstoßen. Damit besteht die Pflicht zur Umsetzung der einschlägigen Gewährleistungen des Art. 6 EMRK in Form einer völkerrechtskonformen Auslegung der §§ 147, 32f StPO. Der Aktenbegriff ist hierbei weit, die Einschränkungen des Einsichtsrechts sind eng auszulegen. Konkret ergibt sich für das nationale Strafverfahrensrecht daher Folgendes: c) Folgen für den nationalen Aktenbegriff im Allgemeinen und die Einordnung sog. Spurenakten Möchte man dem Verständnis vom Verteidiger als „watchdog of procedural regularity“390 weitreichende Geltung verleihen und möchte man der ständigen Forderung nach Waffengleichheit hinsichtlich des Informationsstandes und der Verteidigungsbedingungen gerecht werden, so muss sich der Aktenbegriff auf das gesamte seit Beginn des jeweiligen Ermittlungsverfahrens angesammelte Informationsmaterial beziehen. Zu den einzusehenden Informationsträgern müssen demzufolge auch aus konventionsrechtlicher Sicht jegliche elektronischen Dokumente i. S. d. §§ 32a f. StPO zählen, unabhängig von der Einhaltung der Formvorgaben. Hat sich dieses Ermittlungsverfahren aus Informationen betreffend ein anderes Strafverfahren herauskristallisiert, so müssten bspw. solche sog. Spurenakten ebenfalls als Aktenbestandteil angesehen werden. Nur insoweit kann dem Verteidiger der gesamte Ermittlungsverlauf, der der Staatsanwaltschaft schließlich ebenfalls bekannt ist, im Detail aufgezeigt werden. Ein Gebot der Aktenwahrheit und -vollständigkeit ist mithin auch Art. 6 EMRK immanent. Insofern ist aus konventionsrechtlicher Sicht ein weites Begriffsverständnis in allen Verfahrensstadien zu fordern. Dass zu dem Zeitpunkt, als die Informationsträger in anderen Ermittlungsverfahren angesammelt wurden bzw. entstanden sind, noch nicht gegen den späteren Beschuldigten ermittelt wurde und er denknotwendig auch keine Kenntnis von einem Ermittlungsverfahren gegen ihn hatte, steht einer Anwendung der Fairnessvorgaben auf dieses Informationsmaterial nicht entgegen. Die Rechte aus Art. 6 EMRK entstehen zeitlich zwar erst mit Beginn des Ermittlungsverfahrens und setzen grundsätzlich und denknotwendig auch die Kenntnis des Betroffenen voraus. Hierauf kann es bei der Frage, was das offenzulegende Informationsmaterial ist, jedoch nicht ankommen. Der zeitliche Anwendungsbereich wird hierdurch nicht übergangen; welches Ermittlungsmaterial der Verteidigung zur Verfügung zu stellen ist, kann nicht davon abhängen, ob der Betroffene zu diesem Zeitpunkt wissentlich als Beschuldigter geführt wurde. Ansonsten würde dem Gewährleistungsgehalt des Art. 6 EMRK, wie er durch die zahlreichen Entscheidungen des EGMR konkretisiert wurde, nicht ausreichend Rechnung getragen. Bei anderer Sichtweise wäre etwa eine Einsicht in Informationsträger betreffend eine klassische heimliche Ermittlungsmethode zu verwehren, da der Beschuldigte zum Zeitpunkt der Informationsansammlung ebenfalls keine 390

MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 180 m. w. N.

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C. Verfassungs-, Völker- und Europarecht

Kenntnis von dem gegen ihn gerichteten Ermittlungsverfahren gehabt hat. Eine solche Ansicht führte folglich zu absurden Ergebnissen. Zudem muss berücksichtigt werden, dass ansonsten ein wesentlicher Informationsvorteil der Strafverfolgungsbehörde – insbesondere zu möglichen Alternativtätern – entstünde, obwohl die Gewährleistungen des Art. 6 EMRK ausdrücklich nicht restriktiv ausgelegt werden sollen. Insofern muss jedes Informationsmaterial der Akteneinsicht unterliegen, das mit dem jeweiligen Strafverfahren inhaltlich zusammenhängt – unabhängig davon, ob dieses Material zu einer Zeit entstand, als schon gegen den nunmehr um Akteneinsicht Ersuchenden ermittelt wurde oder eine andere Person in Verdacht stand oder gar noch ohne einen konkreten Beschuldigten ermittelt wurde. d) Folgen für den Umgang mit Aktenkopien und den sog. Ausgangsdokumenten Weiter gebietet es Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK, dass sämtliche Informationsträger überlassen werden müssen, damit sich die Verteidigung ebenso wie die Staatsanwaltschaft in eigenen, unbeaufsichtigten Räumlichkeiten auf die Teilhabe an dem Strafverfahren, insbesondere durch das Einbringen von Beweismitteln oder Beweisanträgen, vorbereiten kann. Sofern man etwaige Original-Informationsträger, bei denen ein Abhandenkommen einen Beweisverlust bedeuten würde, nachvollziehbarer Weise nicht der Verteidigung überlassen wollte, müsste auch aus Sicht der EMRK ersatzweise die Übersendung einer Kopie gestattet werden. In diesem Fall wäre die Herausgabe einer Kopie – entgegen bspw. der Auffassung von Bell391 – schließlich erforderlich i. S. d. Rechtsprechung des EGMR zur hilfsweisen Herausgabepflicht von Aktenkopien.392 Andernfalls wäre auch keine ausreichende Parität der Bedingungen geschaffen. Im Übrigen würde ansonsten dem Gebot, eine Einschränkung des Fairnessgebots aus Gründen der sog. important public interests in streng angemessener und die Fairness-Gewährleistungen weitestgehend erhaltender Weise auszugleichen, nicht entsprochen. Da der EGMR die Verhältnismäßigkeit bzw. die angemessene Kompensation einer Einschränkung in besonderer Weise überprüft, besteht auch aus Gründen der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes bei Gefahr eines Beweismittelverlustes die Pflicht zur Erstellung und anschließenden Übersendung einer Kopie. Rechtstechnisch bedeutete dies, dass die Kopie/Abschrift eines Informationsträgers zumindest als Aktenbestandteil zu behandeln und überlassen ist.

391 Vgl. Bell, Akteneinsicht, S. 26 ff., 46 ff., wonach Beweisstücke, wie etwa TKÜ-Aufzeichnungen, lediglich in den Diensträumen abgehört und eigenständig Kopien hiervon gefertigt werden könnten. Ihre Auffassung kommt dem Ergebnis der hiesigen Untersuchung insofern jedoch schon nahe. 392 Siehe EGMR, Urt. v. 27.04.2007, No. 38184/03, Matyjek/PL, Rn. 59; EGMR, Urt. v. 15.01.2008, No. 37469/05, Luboch/PL, Rn. 64; EGMR, Urt. v. 26.11.2009, No. 25282/06, Dolenec/HRV, Rn. 218; EGMR, Urt. v. 09.10.2008, No. 62936/00, Moiseyev/RUS, Rn. 217.

V. Zusammenfassung und Auswirkungen auf §§ 147, 32 ff., 199 StPO

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Ebenso wie aus verfassungsrechtlicher Sicht sind der Verteidigung zur Wahrung des konventionsrechtlichen Fairnessgebots die Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO oder sonstige etwaige Dateien oder Daten mithin jedenfalls in Kopie zu überlassen. Die einfachgesetzliche Ausgestaltung der §§ 147, 32f StPO wird dem nach hiesiger Untersuchung gerecht. Die nach hiesiger Untersuchung vorzugswürdige Lesart von § 32e Abs. 1 S. 2 StPO ist ebenfalls konventionskonform; ein staatsanwaltschaftliches Aussonderungsermessen wäre jedenfalls als konventionswidrig anzusehen. Die vom Gesetzgeber beabsichtigte Ausklammerung der Ausgangsdokumente aus den herauszugebenden Akten ab dem Zeitpunkt ihrer Übertragung gem. § 32e Abs. 1 S. 1 StPO ist mit den Konventionsvorgaben ebenfalls vereinbar. e) Folgen für die Einordnung außerstrafprozessualer Vorgänge In der Konsequenz kann es aus konventionsrechtlicher Sicht auch nicht darauf ankommen, ob die Akten formell von der Staatsanwaltschaft oder einer anderen Behörde geführt werden. Die Gewährleistungen aus Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK beziehen sich auf Vorgänge, die den jeweiligen Strafverfolgungsbehörden zugänglich waren und mit dem jeweiligen Strafverfahren in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen. Dies ist nach hiesiger Untersuchung nicht nur für die strafprozessual geführten Vorgänge, sondern etwa auch für Vorgänge der Zeugenschutzdienststelle oder Bundespolizei anzunehmen. Im Übrigen entspricht die Offenlegungspflicht auch solcher Vorgänge der additiven Begründungsstruktur der ausgewerteten EGMR-Judikatur zu Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK im Allgemeinen und dem hieraus erwachsenen Offenlegungsanspruch im Besonderen. f) Die Gesamtbetrachtungsdoktrin Setzte man sich über die vorgenannten Gewährleistungen hinweg, so ginge hiermit grundsätzlich auch eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1, 3 lit. a, b, c EMRK einher. Nur im Falle der anerkannten und anzuerkennenden Gründe ist eine Einschränkung des Einsichtsrechts völkerrechtlich zulässig. Eine darüberhinausgehende Gesamtbetrachtung des Verfahrens(-ablaufs), insbesondere eine Kausalverknüpfung von Missachtung der Fairnessvorgaben und des Verfahrensausgangs, ist keine Bedingung für die Feststellung, dass eine den EMRK-Vorgaben widersprechende Auslegung des § 147 StPO zu einer Verletzung von Art. 6 EMRK führte. Eine positive Beruhensprüfung wäre hierbei ebenfalls nicht erforderlich, da es im Falle einer unzureichenden Akteneinsichtsgewährung ansonsten in den wenigsten Fällen möglich wäre, einen Fairnessverstoß erfolgreich zu rügen. Insofern stellt eine Nichtbeachtung der herausgearbeiteten Aspekte zum Aktenbegriff und dem Einsichtsrecht ohne Weiteres einen Völkerrechtsverstoß dar.

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C. Verfassungs-, Völker- und Europarecht

g) Weiteres Völkerrecht und sekundäres Europarecht Das in Art. 6 Abs. 1 EMRK normierte Fairnessgebot ergibt sich ebenfalls aus Art. 14 Abs. 1 IPbpR. Auch die in Art. 6 Abs. 3 EMRK normierten Konkretisierungen sind in Art. 14 Abs. 3 lit. a, b, d, e, f IPbpR enthalten, sodass sich der Regelungsgehalt weitgehend deckt. Insofern ergeben sich keine Besonderheiten. Weiter steht das herausgearbeitete Konventionsrecht mit themenverwandten europarechtlichen Vorgaben in Einklang. Eine engere Auslegung von § 147 StPO würde im Übrigen schließlich auch zu Wertungswidersprüchen mit §§ 500 Abs. 1 StPO, 57 BDSG i. V. m. RL (EU) 2016/680 führen. Die EU-Richtlinie betrifft die Datenschutzrechte der Betroffenen und gewährt ihnen weitreichende Informationsansprüche. Die ratio der EU-Richtlinie ist zumindest mittelbar bei der Auslegung des Aktenbegriffs des § 147 StPO zu berücksichtigen, auch wenn sie nicht unmittelbar die Informationsrechte der Verteidigung regelt. Die richtlinienkonforme Auslegung erstreckt sich zur Wahrung des Richtlinienziels auch auf die nationale Gesamtrechtsordnung, sodass die Akten mit Blick auf das potentielle Geltendmachen von Informationsrechten durch etwaige Betroffene ohnehin vollständig zu führen und zu erhalten sind. Insofern spricht sekundäres Europarecht mittelbar und indiziell ebenfalls für einen umfassenden Aktenbegriff in § 147 StPO. h) Folgen für den Aktenbegriff des § 199 Abs. 2 S. 2 StPO Damit über die Anklageschrift vor einem Gericht i. S. v. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK verhandelt wird und eine ausreichende gerichtliche Neutralität und Unabhängigkeit geschaffen ist, muss das Strafgericht die Möglichkeit haben, zur Überprüfung der strafrechtlichen Anklage auf das gesamte mit dem Anklagegegenstand inhaltlich zusammenhängende Tatsachenmaterial zuzugreifen – unabhängig davon, ob es etwaige Beweismittel gibt, die zulasten des Beschuldigten unverwertbar sind. Die Umsetzung dieser Konventionsvorgaben, die nicht über eine entsprechende Auslegung des Aktenbegriffs in § 199 Abs. 2 S. 2 StPO erfolgt, würde zu einer unangemessenen und damit konventionswidrigen Verzögerung des Strafverfahrens führen. Insofern kann diesen beiden Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK nur Rechnung getragen werden, wenn eine vollständige Aktenvorlage an das Gericht bereits mit Übersendung der Anklageschrift geschieht. Bei der nationalen Ausgestaltung der StPO können die konventionsrechtlichen Vorgaben damit nur über einen entsprechend umfassenden Aktenbegriff in § 199 Abs. 2 S. 2 StPO umgesetzt werden. Auch insoweit wird hierdurch weder etwaiger Grundrechtsschutz herabgesetzt noch gegen tragende Verfassungsgrundsätze verstoßen. Mit Blick auf den dem Gericht vorliegenden Informationsumfang wäre es nach Maßgabe der Konventionsvorgaben ausreichend gewesen, wenn dem Gericht mit der Anklageschrift ebenfalls nur Beweisstückkopien vorgelegt werden. Schließlich könnte das Gericht jederzeit den originalen Informationsträger des Beweisstückes herbeischaffen (lassen). Dass das nationale Recht nach hiesiger Untersu-

V. Zusammenfassung und Auswirkungen auf §§ 147, 32 ff., 199 StPO

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chung – mit Ausnahme von Dateien/Daten im Einzelfall – hierüber hinausgeht, ist aus konventionsrechtlicher Sicht jedoch unbeachtlich. i) Zwischenfazit Ein umfassender Aktenbegriff i. R. d. §§ 147, 32f, 199 Abs. 2 S. 2 StPO ist aus völkerrechtlicher Sicht zwingend. Aus der umfassenden Untersuchung der mit dem Akteneinsichtsrecht zusammenhängenden EGMR-Rechtsprechung hat sich zudem ergeben, dass es dem EGMR für die Anwendung der speziellen Gewährleistungen aus dem Waffengleichheitsgebot nicht auf ein bestimmtes Strafverfahrensmodell ankommt. Ein ausreichend kontradiktorisches Strafverfahren muss in der Bundesrepublik und anderen Konventionsstaaten ebenso gewährleistet werden, wie es für solche Konventionsstaaten gilt, die das Strafverfahren nach dem Vorbild des anglo-amerikanischen Rechtssystems als originären Parteienprozess ausgestalten.

D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs I. Zusammenfassung der Untersuchung des Aktenbegriffs Im Folgenden soll die Auslegung des Aktenbegriffs zusammengefasst werden, um, hierauf aufbauend, eine Definition des Aktenbegriffs i. S. d. §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO zu entwickeln.

1. Eigenschaften a) Grundsätzliches Akten sind nach der hiesigen Untersuchung (grundsätzlich) die Informationsträger im Original. Dies ergibt sich zunächst aus der Systematik der StPO. Die StPO unterscheidet eindeutig zwischen der „Akte“ einerseits sowie Aktenkopien, -ausdrucken bzw. -abschriften oder schriftlich protokollierten Zusammenfassungen andererseits. Der gesetzgeberische Wille hat diese Sichtweise in den Materialien zur jüngsten Reform des § 147 StPO und der Einführung der §§ 32, 32e, 32f StPO im Jahr 2018 bestätigt,1 wobei unter „Original“ der ursprüngliche Informationsträger zu verstehen ist, der von der Strafverfolgungsbehörde oder dem Gericht erstellt/erlangt worden ist.2 Dem gesetzgeberischen Willen und der Ausgestaltung der StPO entspricht es am ehesten, Akten (grundsätzlich) als eine Ansammlung von (analogen oder digitalen) Medien anzusehen, welche zur Wahrnehmung von Informationen bzw. Daten geeignet sind. Es handelt sich bei Aktenbestandteilen mithin i. d. R. um Informationsträger. Ferner ergibt sich aus den §§ 32f Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 3, 199 Abs. 2 S. 2 StPO, dass diese Informationsträger transportierbar sein müssen. Aus den Gesetzesmaterialien zur Reform des § 147 StPO und der Einführung der §§ 32e f. StPO im Jahr 20183 sowie der Gesetzessystematik lässt sich zudem ableiten, dass Akten komplikationslos und inhaltlich originalgetreu kopierfähig

1 Siehe BT-Drs. 18/9416, 42, 54, 57, 60, 105; vgl. auch die Begründung zu § 499 StPO bzw. den §§ 496 ff. StPO: BT-Drs. 18/9416, 66, 70. 2 Vgl. BT-Drs. 18/9416, 52. 3 Siehe BT-Drs. 18/9416, 57, 60.

I. Zusammenfassung der Untersuchung des Aktenbegriffs

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sein müssen. In bestimmten Fällen ergeben sich für erlangte/erstellte Dateien bzw. Daten ausnahmsweise Besonderheiten, worauf sogleich eingegangen wird.4 b) Beweisstücke Zu den Akten zählen ferner Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO. Entscheidend spricht hierfür der ursprüngliche gesetzgeberische Wille,5 der bei der Einführung der §§ 32 ff. StPO und der jüngsten Reform des § 147 StPO fortgelten sollte.6 Die Beweisstücke sind der Verteidigung nach dem Willen des Gesetzgebers in Kopie, und als solche gekennzeichnet,7 zur Verfügung zu stellen,8 was auch an den §§ 58a Abs. 2 S. 3, 136 Abs. 4 S. 3, 247a Abs. 1 S. 5, 273 Abs. 2 S. 3 StPO deutlich wird. Die Beweisstückkopie ist nach hiesiger Untersuchung dabei kein Aktenbestandteil, sondern lediglich ein Aktenbestandteils-Ersatz, was sich neben den Gesetzesmaterialien zur jüngsten Reform des § 147 StPO und der Einführung der §§ 32e f. StPO9 insbesondere an den §§ 32f Abs. 2 S. 2, 58a Abs. 2 S. 3, Abs. 3 S. 1, 147 Abs. 4 S. 2, 385 Abs. 3 S. 3, 406e Abs. 3 S. 2, 478 StPO ablesen lässt. Die Übersendung einer Beweisstückkopie an die Verteidigung ist aus Gründen des verfassungs- und konventionsrechtlich garantierten Fairnessgrundsatzes, insbesondere des Waffengleichheitspostulats, zwingend erforderlich. Zudem lässt sich ein entsprechender Anspruch auf Herstellung und Überlassung einer Beweisstückkopie aus Art. 103 Abs. 1 GG herleiten. Zu den Aktenbestandteilen zählen insofern auch etwaige Aufzeichnungen und damit – unabhängig davon, ob man sie als „normale“ Aktenbestandteile oder als Aktenbestandteile, die zugleich Beweisstücke darstellen, ansieht – auch TKÜAufzeichnungen.10 Neben den vorstehenden Erwägungen, die es erfordern, Beweisstücke als Aktenbestandteile einzuordnen, ergibt sich dies für audiovisuelle Aufzeichnungen auch aus § 58a Abs. 2 S. 3, Abs. 3 S. 1, 2 StPO und für Tonaufzeichnungen aus den §§ 273 Abs. 2 S. 2, 323 Abs. 2 S. 2 StPO. Zudem wird in der Gesetzesbegründung zu § 267 Abs. 1 S. 3 StPO deutlich, dass sich bei den Akten befindende Beweismittel (also wiederum Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO)

4

Siehe S. 480 ff. Siehe den gesetzgeberischen Willen bei der Einführung von § 147 RStPO: Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 965 f.; Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1299 f.; diese Sichtweise legte der Gesetzgeber auch bei der Reform von § 147 StPO im Jahr 1965 zugrunde: BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 18. 6 Siehe BT-Drs. 18/9416, 57; BT-Drs. 18/12203, 73 f.; die Fortgeltung des ursprünglichen gesetzgeberischen Willens zeigt sich auch in weiteren Gesetzesmaterialien zur jüngsten Reform von § 147 StPO und Einführung von § 32f StPO im Jahr 2018, siehe BT-Drs. 18/9416, 60, 105. 7 BT-Drs. 18/9416, 57. 8 Siehe BT-Drs. 18/9416, 57, 60; siehe auch den gesetzgeberischen Willen bei der Einführung von § 58a StPO: BT-Drs. 13/7165, 7 f. 9 Siehe erneut BT-Drs. 18/9416, 57, 60, 105; vgl. auch BT-Drs. 18/9416, 52, 66. 10 Hierauf wird sogleich gesondert eingegangen. 5

476 D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs Urkunden, sonstige Schriftstücke, Abbildungen, Darstellungen, Lichtbilder und Skizzen sein können.11 Ferner ging der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung zu § 273 Abs. 2 S. 2, 3, 4 StPO a. F. (jetzt § 273 Abs. 2 S. 2, 3 StPO) davon aus, dass Aufzeichnungen generell Aktenbestandteil sind.12 Ähnlich äußerte sich der Gesetzgeber in der Begründung zu § 32f StPO13 bzw. allgemein in den Gesetzesmaterialien zur Einführung der e-Akte im Strafverfahren.14 Die einschränkend zu fordernde Eigenschaft eines Aktenbestandteils, bei der es sich um das Erfordernis eines komplikationslos und inhaltlich originalgetreu kopierfähigen Informationsträger handelt, ermöglicht es auch, Aktenbestandteile einschließlich der Beweisstücke von den (übrigen) sachlichen Beweismitteln – die in der StPO als Beweismittel dienende „Gegenstände“ oder „Sachen“ bezeichnet werden – abzugrenzen, was mit Blick auf die §§ 214 Abs. 4 S. 1, 221 StPO und auch §§ 111n Abs. 1, 111o Abs. 1 StPO erforderlich ist. Die verfassungs- und konventionsrechtlichen Gewährleistungen stehen der vorgenannten Definition nicht entgegen, zumal ein sachliches Beweismittel i. S. v. § 214 Abs. 4 StPO mit Blick auf den Grundsatz der Aktenwahrheit/-vollständigkeit abzufotografieren und diese Fotografie als Aktenbestandteil zur Akte zu legen ist. Beweisstücke unterscheiden sich von den übrigen Aktenbestandteilen lediglich dadurch, dass bei Ersteren im Falle eines Verlustes oder einer Beschädigung des Informationsträgers die Gefahr des Beweismittelverlustes bestünde, weshalb die Integrität des Informationsträgers besonders zu schützen ist. Dies war der einzige gesetzgeberische Grund, die Überlassung der Beweisstücke zu verwehren.15 Die Ausgestaltung des Einsichtsrechts des § 147 StPO unterscheidet sich von der Vorlagepflicht der Akten gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO lediglich dahingehend, dass die Beweisstücke der Verteidigung – verfassungs- und konventionsrechtlich unbedenklich – in Kopie zu übersenden sind, wohingegen dem Gericht die Beweisstücke – mit Ausnahme wiederum bestimmter Dateien/Daten – im Original vorzulegen sind. Zum einen bezieht sich der Gesetzgeber in den Gesetzesmaterialien hinsichtlich der Überlassung von Beweisstückkopien lediglich auf die Akteneinsichtsberechtigten.16 Zum anderen wird dieser gesetzgeberische Wille auch an den §§ 58a, 168e, 247a, 273 Abs. 2 S. 2 StPO erkennbar. Im Übrigen verdeutlichen die §§ 214 Abs. 4, 221 StPO, dass eine als äußerst gering einzustufende Beweismittelverlustgefahr bei der Übersendung der Beweisstücke von der Staatsanwaltschaft an das Gericht vom Gesetzgeber bzw. dem Gesetz hingenommen wird. Demgemäß wird in § 199 Abs. 2 S. 2 StPO im Gegensatz zu den Vorschrif-

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BT-Drs. 8/976, 55. BR-Drs. 829/03, 29. 13 BT-Drs. 18/9416, 56. 14 Vgl. BT-Drs. 18/9416, 32. 15 Siehe Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 965 f.; Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1299 f. 16 Siehe BT-Drs. 18/9416, 33, 57 f., 60, 64 f. 12

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ten, die ein Beweisstückbesichtigungsrecht vorsehen, gerade nicht zwischen den zu übersendenden Akten und den zu besichtigenden Beweisstücken unterschieden. Dies steht im Einklang mit dem Übergang der Verfahrensherrschaft (insbesondere bzgl. des Ermittlungsmaterials) auf das Gericht ab dem Beginn des Zwischenverfahrens, vgl. § 147 Abs. 5 S. 1, 480 Abs. 1 S. 1 StPO. c) Ausgangsdokumente Ausgenommen vom Aktenbegriff ist zudem dasjenige Informationsmaterial, das ein Ausgangsdokument i. S. d. § 32e Abs. 1 S. 1 StPO darstellt und das in die entsprechende Aktenform übertragen worden ist. Zwar handelt es sich hierbei ebenfalls um transportierbares, komplikationslos und inhaltlich originalgetreu kopierfähiges Informationsmaterial. In diesem Fall ist nach dem Willen des Gesetzgebers – der insoweit auch an § 32e Abs. 4 StPO deutlich wird – jedoch nur das übertragene Dokument Aktenbestandteil.17 Wenn der Gesetzgeber Ausgangsdokumente nicht als vorlagepflichtig angesehen hat, zu den Akten i. S. v. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO nach der Intention des Gesetzgebers jedoch das gesamte bei der Staatsanwaltschaft angesammelte Ermittlungsmaterial zählt,18 so entspricht es dem gesetzgeberischen Willen (am ehesten), diese Ausgangsdokumente im Falle ihrer Übertragung nicht mehr als Aktenbestandteile anzusehen. Andernfalls hätte es einer Klarstellung in der Gesetzesbegründung zu § 32e StPO bedurft, dass § 199 Abs. 2 S. 2 StPO (und § 147 StPO) durch § 32e StPO eine Einschränkung erfahren sollte. Insofern sind die zwingend zu übertragenen Ausgangsdokumente auch nicht (mehr) der Einsicht des Verteidigers bzw. Beschuldigten zugänglich, sondern sie können gem. § 32e Abs. 5 StPO lediglich besichtigt werden. Dementsprechend verlieren konsequenterweise auch etwaige elektronische Dokumente ihre Eigenschaft als Aktenbestandteil, sobald sie in die jeweilige Aktenform übertragen wurden. Da das übertragene Dokument mit dem Ausgangsdokument inhaltlich und bildlich übereinstimmen muss (§ 32e Abs. 2 StPO), ist das Ausklammern von Ausgangsdokumenten i. S. d. § 32e Abs. 1 S. 1 StPO aus dem Aktenbegriff mit dem hinter dem Akkusationsprinzip stehenden Gedanken der Machtverringerung bzw. dem in der StPO zum Ausdruck kommenden Grundsatz der gegenseitigen staatlichen Überprüfung, dem Gegenstand des Ermittlungsverfahrens – der in der (vorläufigen) Verdachtsklärung liegt –, dem Grundsatz der Aktenwahrheit/-vollständigkeit, der Funktion und Stellung des Verteidigers und den verfassungs- und konventionsrechtlichen Gewährleistungen vereinbar. Mit dem hinter § 147 StPO und hinter § 199 Abs. 2 S. 2 StPO stehenden Zweck und den diesbezüglichen verfassungs- und konventionsrechtlichen Gewährleistungen ist es vereinbar, die übertragenen Ausgangsdokumente nicht nur als nicht heraus17

Siehe BT-Drs. 18/9416, 54 f., deren Begründung sich auf § 32e Abs. 4 StPO bezieht. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 964 ff.; Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1229. 18

478 D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs zugebende/nicht vorzulegende Aktenbestandteile, sondern vielmehr generell nicht als Aktenbestandteile anzusehen. Sofern ausnahmsweise Zweifel bei der inhaltlichen/bildlichen Übereinstimmung bestehen, kann das Ausgangsdokument schließlich von Amts wegen oder über entsprechende Beweisanträge (vgl. § 244 Abs. 5 S. 3 StPO) dem Gericht vorgelegt und sodann verlesen bzw. in Augenschein genommen werden. Etwas anderes gilt lediglich für die Ausgangsdokumente, die als Beweismittel sichergestellt worden sind, und zwar unabhängig davon, ob sie gem. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO übertragen wurden. Zwar hat der Gesetzgeber die Ausgangsdokumente, die als Beweismittel sichergestellt worden sind, bewusst nicht der Übertragungspflicht des § 32e Abs. 1 S. 1 StPO unterstellt, § 32e Abs. 1 S. 2 StPO.19 Der gesetzgeberische Wille, nach dem Ausgangsdokumente nicht Aktenbestandteil und demnach auch nicht gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegen sind,20 bezog sich jedoch lediglich auf diejenigen Ausgangsdokumente, für die eine Übertragungspflicht besteht.21 Die Begründung bezog sich explizit auf § 32e Abs. 4 StPO22 und damit auf Ausgangdokumente, die gem. § 32e Abs. 1 S. 1 StPO zwingend zu übertragen sind. Aus diesem Grund wurde in § 32e StPO auch lediglich ein Besichtigungsrecht für die Ausgangsdokumente, die nicht als Beweismittel sichergestellt worden sind und deshalb zwingend zu übertragen sind, eingeführt, § 32e Abs. 5 StPO. Im Übrigen sah der Gesetzgeber Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO ursprünglich als Aktenbestandteile an, woran sich durch die Einführung der §§ 32 ff. StPO und der letzten Reform des § 147 StPO nichts ändern sollte.23 Zudem hätte es andernfalls auch der Normierung von Aufbewahrungs- und Speicherungsfristen für die als Beweismittel sichergestellten Ausgangsdokumente bedurft; die Fristenregelung in § 32e Abs. 4 StPO bezieht sich jedoch ausdrücklich nur auf die zwingend zu übertragenen Ausgangsdokumente. Dem entspricht es auch, dass der Gesetzgeber in der Begründung zu den §§ 32f, 147 StPO zum Ausdruck bringt, dass von Beweisstücken Kopien an die Einsichtsberechtigten herauszugeben sind, ohne als Beweismittel sichergestellte Ausgangsdokumente hiervon auszunehmen.24 Nach Vorstehendem kann § 32e Abs. 1 S. 2 StPO also nur so verstanden werden, dass die aktenführende Stelle entweder die als Beweismittel sichergestellten Ausgangsdokumente gem. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO in die entsprechende Aktenform überträgt oder den Einsichtsberechtigten lediglich eine Kopie von diesen Beweisstücken zur Verfügung stellt und dem Gericht im Falle einer Anklageerhebung die als Beweismittel sichergestellten Ausgangsdokumente im Original vorlegt. Dieses Begriffsverständnis, nach dem der Inhalt dieser Beweisstücke der 19

BT-Drs. 18/9416, 52 f. BT-Drs. 18/9416, 54 f. 21 BT-Drs. 18/9416, 54. 22 Siehe BT-Drs. 18/9416, 54 f. 23 BT-Drs. 18/9416, 57. 24 Siehe BT-Drs. 18/9416, 57; vgl. auch BT-Drs. 18/9416, 60. 20

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Verteidigung zumindest in Kopie zur Verfügung zu stellen ist, ist auch bei verfassungs- und konventionskonformer Auslegung zwingend notwendig, da Art. 103 Abs. 1 GG und insbesondere das verfassungs- und konventionsrechtlich gewährleistete Fairnessgebot es erfordern, dass die Verteidigung von kopierfähigen Beweisstücken hilfsweise eine Kopie erhält. Da die Kopie nach hiesiger Untersuchung von vornherein nicht Aktenbestandteil, sondern lediglich ein Aktenbestandteils-Ersatz ist, sind die Beweisstückkopien, die den Einsichtsberechtigten überlassen wurden, nicht Aktenbestandteil. Für die Kopie eines Beweisstückes bleibt es demgemäß auch in dem Fall, dass es sich hierbei um ein Ausgangsdokument handelt, dabei, dass es keinen Aktenbestandteil darstellt. Mit der Anklageerhebung sind die als Beweismittel sichergestellten Ausgangsdokumente (ggfs. über die vorausgegangene Übertragung gem. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO hinaus) ebenso wie die sonstigen Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO indes gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO im Original vorzulegen. Dies ergibt sich zunächst daraus, dass Beweisstücke nach dem Willen des Gesetzgebers Aktenbestandteile darstellen und die Akten dem Gericht gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegen sind. Zudem betrafen die Ausführungen in den Gesetzesmaterialien zur Einführung der §§ 32e f. StPO, nach denen das übertragene Ausgangsdokument nicht vorzulegender Aktenbestandteil sein soll, lediglich die zwingend zu übertragenen Ausgangsdokumente gem. § 32e Abs. 1 S. 1 StPO25 und somit nicht die Ausgangsdokumente i. S. v. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO bzw. Beweisstücke. Der Gesetzgeber ging bei der Einführung des § 32e StPO zwar davon aus, dass die als Beweismittel sichergestellten Ausgangsdokumente amtlich zu verwahren sind.26 Mit Beginn des Zwischenverfahrens geht die Verfahrensherrschaft – auch hinsichtlich des Ermittlungsmaterials – jedoch auf das Gericht über, vgl. §§ 147 Abs. 5 S. 1, 480 Abs. 1 S. 1 StPO, was auch für sachliche Beweismittel gilt, §§ 214 Abs. 4, 221 StPO. Für Dokumente i. S. v. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO (und damit für Beweisstücke) kann nichts anderes gelten. Zwar wollte der Gesetzgeber durch § 32e Abs. 1 StPO eine hybride Aktenführung vermeiden.27 Diese Intention bezog sich jedoch ausschließlich auf die zwingend gem. § 32e Abs. 1 S. 1 StPO zu übertragenen Ausgangsdokumente.28 Zudem liegen dem Gericht mit Blick auf die gem. § 214 Abs. 4 StPO herbeizuschaffenden Gegenstände ohnehin nicht nur Informationsträger in einer bestimmten einheitlichen Form vor, sodass der hinter § 32e Abs. 1 S. 1 StPO stehende Zweck von vornherein nur ein grundsätzliches Anliegen des Gesetzgebers darstellen kann, das sich auf Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO (bzw. Ausgangsdokumente i. S. v. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO) und Beweisgegenstände i. S. v. § 214 Abs. 4 StPO nicht erstrecken kann.

25 Siehe BT-Drs. 18/9416, 54; die Begründung bezieht sich auf § 32e Abs. 4 StPO und damit wiederum auf Ausgangsdokumente, die nicht als Beweismittel sichergestellt worden sind. 26 BT-Drs. 18/9416, 55. 27 BT-Drs. 18/9416, 42, 52, 54. 28 BT-Drs. 18/9416, 52 f.

480 D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs Bis zur Übertragung ist ein Ausgangsdokument, das nicht als Beweismittel sichergestellt worden ist, also Aktenbestandteil und kann gem. §§ 147, 32f StPO eingesehen werden. Nach der Übertragung gem. § 32e Abs. 1 S. 1 StPO ist das Ausgangsdokument nicht mehr Aktenbestandteil und kann lediglich gem. § 32e Abs. 5 StPO besichtigt werden. Das Einsichtsrecht erstreckt sich dann auf das in die entsprechende Aktenform übertragene Dokument, welches von nun an Aktenbestandteil ist. Unabhängig davon, ob das als Beweismittel sichergestellte Ausgangsdokument gem. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO in die entsprechende Aktenform übertragen wird, bleibt ein solches Ausgangsdokument Aktenbestandteil. Wird das Beweisstück in die entsprechende Aktenform übertragen, ist sowohl das übertragene Dokument als auch das als Beweismittel sichergestellte Ausgangsdokument Aktenbestandteil. Im Unterschied zu den übrigen Ausgangsdokumenten verlieren die Ausgangsdokumente i. S. d. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO durch die Übertragung mithin nicht ihre Eigenschaft als Aktenbestandteil. Da ein als Beweismittel sichergestelltes Ausgangsdokument bzw. Beweisstück entweder gem. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO zu übertragen ist oder der Verteidigung zumindest als Kopie zur Verfügung steht, erstreckt sich das Einsichtsrecht gem. § 147 StPO in jedem Fall auch auf den Inhalt der angesammelten Beweisstücke bzw. als Beweismittel sichergestellten Ausgangsdokumente. d) Schlussfolgerung für und Besonderheiten bei Datenmaterial aa) Elektronische Dokumente Die Eigenschaften eines Aktenbestandteils erfüllen auch elektronische Dokumente i. S. d. §§ 32a f. StPO – unabhängig davon, ob sie den Formerfordernissen aus den §§ 32a f. StPO genügen oder sie gem. § 32b Abs. 2 StPO abgespeichert wurden. Da solche Dokumente entweder bei der Strafverfolgungsbehörde oder dem Gericht gespeichert werden, handelt es sich hierbei schließlich um transportierbare, komplikationslos und inhaltlich originalgetreu kopierfähige Dateien auf einem Informationsträger.29 Dass es sich bei elektronischen Dokumenten grundsätzlich um Aktenbestandteile handelt, lässt sich im Übrigen auch aus den Gesetzesmaterialien zu den §§ 32a f. StPO30 und aus den §§ 32a Abs. 6, 32b Abs. 3 S. 3 Hs. 1 StPO ableiten. Zudem hätte sich andernfalls eine Regelung in § 32e StPO aufgedrängt, aus der sich ergibt, ob und unter welchen Voraussetzungen ein nicht den Formvorgaben (vgl. §§ 32a Abs. 2 und 3, 32b Abs. 1 und 4 StPO) entsprechendes elektronisches Dokument in die entsprechende Aktenform zu übertragen ist. Dass es hieran fehlt, belegt ebenfalls, dass es für die Einordnung eines Aktenbestandteils nicht auf die Eignung zur Bearbeitung eines elektronischen Dokumentes bzw. die Einhaltung entsprechender Formvorgaben ankommen soll. Die Qualifikation eines

29 30

Vgl. BT-Drs. 18/9416, 45. Siehe BT-Drs. 18/9416, 47, 49.

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elektronischen Dokumentes als Aktenbestandteil wird demgemäß auch i. R. v. § 32f Abs. 4 S. 2 StPO nicht von der Einhaltung etwaiger Formvorgaben abhängig gemacht. Elektronische Dokumente werden in aller Regel ursprünglich (oder parallel) jedoch auf einem gesonderten, externen Daten- bzw. Informationsträger (zwischen-)gespeichert. Wenn nach hiesiger Untersuchung die Aktenbestandteile die Informationsträger im Original darstellen, stellt sich die Frage, ob dies auch bei elektronischen Dokumenten der Fall ist. Wenn ein Verfahrensbeteiligter ein elektronisches Dokument, etwa ein elektronisch abgefasstes Schreiben, bei einer Strafverfolgungsbehörde gem. § 32a StPO eingereicht hat, so wird dieses zunächst auf dem Datenträger des Absenders gespeichert gewesen sein. Sodann wird dieses Dokument auf einem Datenträger der Strafverfolgungsbehörde bzw. dem Gericht gespeichert. Wenn der Aktenbestandteil auch in diesen Fällen den originalen Informationsträger darstellen würde, so wäre in dem vorgenannten Beispiel der Datenträger der Strafverfolgungsbehörde, auf dem das elektronische Dokument gespeichert worden ist, Aktenbestandteil. Dies bedeutete, dass dem Gericht und der Verteidigung die gesamte Festplatte des Rechners (zumindest in Kopie) zur Verfügung zu stellen wäre. Ein derart weit reichendes Begriffsverständnis war jedoch offensichtlich nicht die Intention des Gesetzgebers bei der Einführung der §§ 32a f. StPO. Dem Gesetzgeber ging es darum, lediglich die bei den Strafverfolgungsbehörden oder den Gerichten eingereichten elektronischen Dokumente als Aktenbestandteile einzuordnen.31 Bestätigen tut der Gesetzgeber diese Sichtweise im Wortlaut des § 32b Abs. 2, Abs. 3 S. 1 StPO. In diesen Fällen ist dem Gericht und der Verteidigung demzufolge lediglich das elektronische Dokument zu überlassen. bb) Sonstiges Datenmaterial (insbesondere TKÜ-Aufzeichnungen) Nichts anderes gilt für sonstige Dateien bzw. Daten, die sich dadurch auszeichnen, dass sie entweder ursprünglich auf einem den Strafverfolgungsbehörden/ Gerichten nicht zur Verfügung stehenden Datenträger gespeichert worden sind oder dass auf dem Original-Informationsträger der Strafverfolgungsbehörde/des Gerichts darüber hinaus Datenmaterial gespeichert ist, welches das jeweilige Strafverfahren inhaltlich nicht betrifft. Bei den Aufzeichnungen, die nach dem Willen des Gesetzgebers Aktenbestandteile darstellen sollen, ging es schließlich ebenfalls um die Aufzeichnungsdateien selbst.32 Auch in § 58a Abs. 2 S. 3 und Abs. 3 S. 1, 2 StPO wird auf die konkrete Aufzeichnung abgestellt. Ebenso verhält es sich bei den §§ 273 Abs. 2 S. 2, 323 Abs. 2 S. 2 StPO. Dass in solchen Fällen lediglich das Datenmaterial selbst Aktenbestandteil ist, klingt auch in der amtlichen Überschrift des ersten Abschnittes des achten Buches der StPO an. 31 32

Siehe BT-Drs. 18/9416, 45, 47, 49. Siehe BR-Drs. 829/03, 29; vgl. auch BT-Drs. 18/9416, 32, 56.

482 D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs Insofern wären beispielsweise im Falle von TKÜ-Aufzeichnungen, die auf einem Server oder einer Festplatte gespeichert worden sind, auf dem bzw. der sich auch verfahrensfremde Dateien befinden, lediglich die Aufzeichnungsdateien selbst Aktenbestandteile. Erlangt die Staatsanwaltschaft im Zuge eines Ermittlungsverfahrens hingegen einen Informationsträger mit TKÜ-Aufzeichnungen, die allesamt mit dem jeweiligen Strafverfahren inhaltlich zusammenhängen, so wäre hingegen dieser Informationsträger im Original Aktenbestandteil. Zu den Aktenbestandteilen zählt dabei das gesamte Datenmaterial (also insbesondere jegliche Rohdateien bzw. Rohdaten), das der Strafverfolgungsbehörde im Zuge einer Überwachungsmaßnahme etwa nach § 100a Abs. 1 S. 1 StPO ursprünglich zur Verfügung gestanden hat. Die Gesprächsaufzeichnung selbst stellt nur einen Teil der durch die Ermittlungsmaßnahme erlangten Daten dar. Solche Dateien und die zuvor benannten elektronischen Dokumente haben gemeinsam, dass sie auf einem Daten- bzw. Informationsträger der Strafverfolgungsbehörde/des Gerichts abgespeichert worden sind, auf dem sich in aller Regel33 zugleich Dateien bzw. Daten befinden, die mit dem Strafverfahren nicht in einem inhaltlichen/thematischen Zusammenhang stehen. Was unter diesem inhaltlichen Zusammenhang konkret zu verstehen ist, wird sogleich erörtert.34 Bis hierhin ist jedoch festzuhalten, dass der originale Informationsträger – auf dem das elektronische Dokument oder das sonstige Datenmaterial gespeichert ist – im Gegensatz zum elektronischen Dokument bzw. dem Datenmaterial selbst kein Aktenbestandteil ist, sofern auf diesem Informationsträger auch verfahrensfremde Dateien gespeichert sind. Die Frage der erforderlichen Aktenvollständigkeit betreffend, ist dieses Auslegungsergebnis auch verfassungs- und konventionsrechtlich nicht problematisch, da das angesammelte Informationsmaterial dem Gericht und der Verteidigung schließlich vollständig zugänglich gemacht wird. cc) Erfordernis einer 1:1-Kopie Zwar bezieht sich der Aktenbegriff des § 199 Abs. 2 S. 2 StPO und auch der des § 147 StPO nach hiesiger Untersuchung auf das Informationsmaterial im Original. Ferner kann in dem Fall, dass lediglich das Datenmaterial selbst Aktenbestandteil ist und demzufolge nicht der jeweilige Informationsträger in Gänze, dem Gericht und der Verteidigung genau genommen lediglich eine Kopie des Datenmaterials zur Verfügung gestellt werden. Jedoch ist es technisch realisierbar, das Datenmaterial in einer Weise zu kopieren, dass es inhaltlich 1:1 dem

33 Der Einschub „in aller Regel“ soll dem Umstand Rechnung tragen, dass es theoretisch auch sein sein, dass zum Zeitpunkt, als auf dem Datenträger des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft das elektronische Dokument bzw. sonstiges Datenmaterial abgespeichert wird, noch kein verfahrensfremdes Datenmaterial gespeichert ist. Zu denken ist etwa an einen neu in Betrieb genommenen Computer. 34 Siehe S. 492 ff.

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ursprünglichen Datenmaterial entspricht und somit das dem Gericht vorzulegende Datenmaterial dem ursprünglich erlangten Datenmaterial optisch wie inhaltlich gleicht. Eine 1:1-Kopie anzufertigen, ist aus zwei Gründen erforderlich und zu verlangen: Zum einen ergibt sich aus § 32e Abs. 2 StPO, dass bei einer Übertragung von Ausgangsdokumenten zur Aktenführung nach dem fortschreitenden Stand der Technik – wobei sich die technischen Anforderungen nach dem gesetzgeberischen Willen aus den Technischen Richtlinien des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik ergeben35 – sicherzustellen ist, dass das ursprüngliche und das übertragene Dokument bildlich und inhaltlich übereinstimmen. Der Gesetzgeber hat auch in darauffolgenden Gesetzesmaterialien im Kontext von elektronischen Dokumenten i. S. d. § 32b StPO – und damit losgelöst von den vorbenannten Ausgangsdokumenten und losgelöst von Beweisstücken i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO – klar zum Ausdruck gebracht, dass generell die Datenintegrität weitestgehend zu sichern ist.36 Hieraus lässt sich ableiten, dass es im Allgemeinen die Intention des Gesetzgebers darstellt, nach den technischen Möglichkeiten sicherzustellen, dass das ursprüngliche und das übertragene Datenmaterial bildlich und vor allem inhaltlich übereinstimmt. Zum anderen besteht bei digitalem Informationsmaterial das Problem, dass sich durch einen Zugriff auf den Datenträger die hierauf gespeicherten Daten verändern können.37 Hiervon geht auch das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik in seinen Technischen Richtlinien aus,38 worauf sich der Gesetzgeber bei der Einführung des § 32e Abs. 2 StPO, und demzufolge bei der Übertragung von Datenmaterial, bezogen hat.39 Insofern geht in dem Fall, dass keine 1:1-Kopie des Datenmaterials angefertigt wurde, regelmäßig ein Teil der ursprünglich erlangten Daten – das Rohdatenmaterial – verloren oder sie verän35

BT-Drs. 18/9416, 53. Siehe BT-Drs. 19/27654, 55: „Die Gewährleistung der Integrität und Authentizität von Dokumenten kann auch nach Einführung elektronischer Dokumente und Akten auf anderem Wege und häufig zuverlässiger sichergestellt werden als durch das Pendant der handschriftlichen Unterzeichnung. Gerade die elektronische Datenverarbeitung bietet zahlreiche Möglichkeiten, die nachträgliche Veränderung von Dokumenten anhand entsprechender Metadaten zu überprüfen.“ 37 Basar, FS Wessing, S. 642, 644 f. m. w. N.; Fährmann MMR 2020, 228, 229 m. w. N. 38 Siehe Leitfaden „IT-Forensik“ des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (Version 1.0.1, Stand: März 2011), S. 26, abrufbar unter: https://www.bsi.bund.de/S haredDocs/Downloads/DE/BSI/Cyber-Sicherheit/Themen/Leitfaden IT-Forensik.pdf;jsess ionid=2FF382566E17E9472B5601F01151794B.internet082? blob=publicationFile&v=1; letztes Abrufdatum: 20.01.2023. 39 BT-Drs. 18/9416, 53: „Für die Rechtsprechung stellt die Technische Richtlinie des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) zum „rechtssicheren ersetzenden Scannen“ (TR RESISCAN) Hinweise dafür bereit, welche technischen Anforderungen und organisatorischen Vorgaben ein dem jeweiligen Stand der Technik entsprechendes Verfahren genügen muss.“ 36

484 D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs dern sich, sodass die Akte insoweit unvollständig bzw. verfälscht wird. Das ist nach dem Zweck der §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO und dem hierhinter stehenden Verfassungs- und Konventionsrecht, nach dem die Akte eine lückenlos vollständige und wahrheitsgetreue Sammlung des erlangten Informationsmaterials darstellen soll, zu vermeiden.40 Die Erstellung einer inhaltsgleichen Datenkopie ist nach dem Stand der Technik möglich. Sie wird heutzutage in vielen Bereichen durch die Anfertigung eines sog. Datenträgerabbildes (sog. forensische Duplikation bzw. „Imaging“) erreicht.41 Hierfür eignen sich verschiedene IT-forensische Softwareprogramme, wie bspw. X-Ways Imager,42 die verhindern, dass sich durch einen Zugriff auf den Datenträger die hierauf gespeicherten Daten verändern.43 Bei der Erstellung des Datenträgerabbildes44 kann zudem ein sog. Writeblocker verwendet werden, wodurch vermieden wird, dass bei dem (ersten) Zugriff auf das originale Datenmaterial zur Erstellung der Datenkopie und der anschließenden Datenverwen40 Das Anliegen eines die Datenintegrität wahrenden Datenumganges zeigt sich auf europäischer Ebene im Bereich von digitalen Transaktionen innerhalb des EU-Binnenmarktes in der gem. Art. 288 Abs. 2 AEUV unmittelbar geltenden sog. eIDAS-Verordnung, siehe insb. Art. 24 Abs. 2 lit. f, g und h, 26 lit. d, 32 Abs. 1 lit. g, 35 Abs. 2, 36 lit. d, 42 Abs. 1, 44 Abs. 1 lit. d Verordnung (EU) 910/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.07.2014 über elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 1999/93/EG, ABl. 2014 L 257/73; der Gesetzgeber verfolgt dieses Anliegen ergänzend etwa in §§ 2 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, 14 Abs. 1 Nr. 4, 15, 16 Abs. 5 VDG. 41 Leitfaden „IT-Forensik“ des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (Version 1.0.1, Stand: März 2011), S. 26, 235, abrufbar unter: https://www.bsi.bund.de/Share dDocs/Downloads/DE/BSI/Cyber-Sicherheit/Themen/Leitfaden IT-Forensik.pdf;jsessioni d=2FF382566E17E9472B5601F01151794B.internet082? blob=publicationFile&v=1; letztes Abrufdatum: 20.01.2023; eingehend hierzu auch Bell, Akteneinsicht, S. 61 ff. m. w. N. 42 Zur Programmbeschreibung: https://www.x-ways.net/replica-d.html; https://www.x-w ays.net/imager/index-d.html; zu den Preisen für den Lizenzerwerb: https://www.x-ways.net/o rder-d.html; zu weiteren hierzu geeigneten Programmen: Leitfaden „IT-Forensik“ des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (Version 1.0.1, Stand: März 2011), S. 237, abrufbar unter: https://www.bsi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/BSI/Cyber-Sicherhei t/Themen/Leitfaden IT-Forensik.pdf;jsessionid=2FF382566E17E9472B5601F01151794B.i nternet082? blob=publicationFile&v=1; letztes Abrufdatum jeweils: 20.01.2023; Bell, Akteneinsicht, S. 64. 43 Basar, FS Wessing, S. 642, 644 f. m. w. N.; siehe auch Leitfaden „IT-Forensik“ des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (Version 1.0.1, Stand: März 2011), S. 26, abrufbar unter: https://www.bsi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/BSI/Cyber-Sicherhei t/Themen/Leitfaden IT-Forensik.pdf;jsessionid=2FF382566E17E9472B5601F01151794B.i nternet082? blob=publicationFile&v=1; letztes Abrufdatum: 20.01.2023. 44 In IT-forensischen Kreisen wird insoweit auch von der „Imagedatei“ gesprochen, siehe Leitfaden „IT-Forensik“ des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (Version 1.0.1, Stand: März 2011), S. 28, 237, abrufbar unter: https://www.bsi.bund.de/SharedDocs/D ownloads/DE/BSI/Cyber-Sicherheit/Themen/Leitfaden IT-Forensik.pdf;jsessionid=2FF38 2566E17E9472B5601F01151794B.internet082? blob=publicationFile&v=1; letztes Abrufdatum: 20.01.2023; siehe hierzu auch Basar, FS Wessing, S. 644.

I. Zusammenfassung der Untersuchung des Aktenbegriffs

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dung Veränderungen an dem Datenmaterial entstehen.45 Das Datenmaterial wird quasi „eingefroren“.46 Zur Bearbeitung des Datenmaterials können anschließend Arbeits- bzw. Sicherheitskopien von diesem Datenimage erstellt werden.47 Sofern nicht alle Daten eines Datenträgers dem Gericht und der Verteidigung zur Verfügung gestellt werden sollen, kann die durch die forensische Duplikation entstehende Imagedatei in Teile aufgespalten und separat abgespeichert werden.48 Den einzigen Anwendungsbereich hierfür stellt eben die Konstellation dar, dass auf dem Server oder der Festplatte der Strafverfolgungsbehörde nicht nur Daten gespeichert sind, die mit dem Strafverfahren inhaltlich zusammenhängen. Technisch möglich ist es ebenfalls, von vornherein lediglich einen Teil des auf einem Datenträger gespeicherten Datenmaterials nach den vorgenannten IT-forensischen Grundsätzen zu kopieren (dies wird gelegentlich „Teil-Image“ genannt).49 Das Erstellen einer Datenkopie nach diesen IT-forensischen Grundsätzen ermöglicht insofern eine Datenverwendung bzw. -verarbeitung, ohne hierbei die Originaldaten (und damit im Falle eines Beweisstückes i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO auch das Beweismaterial) zu verändern.50

45 Leitfaden „IT-Forensik“ des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (Version 1.0.1, Stand: März 2011), S. 236 f., abrufbar unter: https://www.bsi.bund.de/Share dDocs/Downloads/DE/BSI/Cyber-Sicherheit/Themen/Leitfaden IT-Forensik.pdf;jsessioni d=2FF382566E17E9472B5601F01151794B.internet082? blob=publicationFile&v=1; letztes Abrufdatum: 20.01.2023; Basar, FS Wessing, S. 645 f.; Bell, Akteneinsicht, S. 65 m. w. N. 46 So Bell, Akteneinsicht, S. 63 m. w. N. 47 Siehe hierzu Bell, Akteneinsicht, S. 193; Blechschmitt StraFo 2017, 361, 365: „never touch original“. 48 Leitfaden „IT-Forensik“ des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (Version 1.0.1, Stand: März 2011), S. 28, abrufbar unter: https://www.bsi.bund.de/SharedDoc s/Downloads/DE/BSI/Cyber-Sicherheit/Themen/Leitfaden IT-Forensik.pdf;jsessionid=2F F382566E17E9472B5601F01151794B.internet082? blob=publicationFile&v=1; letztes Abrufdatum: 20.01.2023. 49 Siehe Leitfaden „IT-Forensik“ des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (Version 1.0.1, Stand: März 2011), S. 55, abrufbar unter: https://www.bsi.bund.de/S haredDocs/Downloads/DE/BSI/Cyber-Sicherheit/Themen/Leitfaden IT-Forensik.pdf;jsess ionid=2FF382566E17E9472B5601F01151794B.internet082? blob=publicationFile&v=1; letztes Abrufdatum: 20.01.2023; Bell, Akteneinsicht, S. 193. 50 Siehe hierzu eingehend auch Bell, Akteneinsicht, S. 63 f. m. w. N.; technisch möglich und de lege ferenda erwägenswert ist es, die elektronische Akte oder zumindest wesentliche Teile hiervon mit einer sog. Blockchain zu versehen, wodurch die Veränderung dieses Akteninhaltes in Gänze verhindert werden könnte; technisch handelt es sich bei der BlockchainTechnologie um eine Anreihung mehrerer Hash-Werte, die sodann zu einer „Blockkette“ vereint werden, vgl. hierzu instruktiv Krupar, Die Blockchain im Prozessrecht, S. 161 ff., 172 ff. m. w. N.; Fährmann MMR 2020, 228, 231 m. w. N.; siehe zu ersten Überlegungen des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie hierzu: Blockchain-Strategie der Bundesregierung – Wir stellen die Weichen für die Token-Ökonomie, S. 13, abrufbar unter: https://w ww.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Digitale-Welt/blockchain-strategie.pdf? blo b=publicationFile&v=10; letztes Abrufdatum: 20.01.2023.

486 D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs Das angewandte Duplikationsverfahren ist – ebenso wie es für die Übertragung von Ausgangsdokumenten gem. § 32e Abs. 3 S. 1 StPO gilt – zu dokumentieren. Denn § 32e Abs. 3 S. 1 StPO trägt unter anderem dem Umstand Rechnung, dass ein Ausgangsdokument im Falle einer Übertragung gem. § 32e Abs. 1 S. 1 StPO weder vorzulegen noch einzusehen ist, sondern lediglich das übertragene Dokument Aktenbestandteil ist.51 Ob Ausgangsdokument und übertragenes Dokument bildlich und inhaltlich übereinstimmen, kann nur durch einen Abgleich beider Dokumente geprüft werden. Das Bedürfnis, das Übertragungsverfahren zu dokumentieren, besteht jedoch erst recht, wenn sich das ursprüngliche Datenmaterial durch einen Zugriff auf diese Daten verändern kann. Dies ist bei erlangtem Datenmaterial regelmäßig der Fall, da eine Datenveränderung bereits mit dem Erstellen einer einfachen Datenkopie, die unter Missachtung der IT-forensischen Standards erstellt wurde, einhergehen kann.52 Der Gesetzgeber hat bei der Einführung des § 32e StPO – wie auch an § 32e Abs. 3 S. 3 StPO erkennbar wird – lediglich bedacht, dass die Dokumentation des angewandten Übertragungsverfahrens nicht der entscheidende Gesichtspunkt bzw. nicht ausreichend ist, sondern vielmehr das Ergebnis einer Authentizitäts- und Integritätsprüfung transparent sein muss.53 Die Frage, ob für 1:1-Kopien das hierbei angewandte ITforensische Übertragungs- bzw. Duplikationsverfahren zu dokumentieren ist, hat sich der Gesetzgeber – soweit ersichtlich – jedoch nicht gestellt. Diese Regelungslücke ist demzufolge als planwidrig anzusehen. Ferner besteht zwischen der Übertragung von Ausgangsdokumenten und der Übertragung von Rohdatenmaterial eine vergleichbare Interessenlage. Es wäre auch unbillig, eine Dokumentationspflicht hinsichtlich des angewandten Duplikationsverfahrens zu verneinen, obwohl das erforderliche Kopieren von Datenmaterial äußerst fehleranfällig ist, sodass § 32e Abs. 3 S. 1 StPO auf IT-forensische Duplikationen analog anzuwenden ist.54 51 Siehe BT-Drs. 18/9416, 53 f.: „Dieser Übertragungsvermerk soll den Nachweis erlauben, dass das Ausgangsdokument den Anforderungen des Absatzes 2 entsprechend übertragen worden ist. Sein Informationsgehalt ist auf die Bezeichnung des hierfür angewandten Verfahrens beschränkt. Die Bezeichnung des Verfahrens hat so präzise wie möglich zu erfolgen, da der Vermerk für die Entscheidung über eine Beiziehung des Ausgangsdokuments Bedeutung haben kann.“ 52 Siehe eingehend Heinson, IT-Forensik, S. 43, 52, 55, 140, 147, 204, 215. 53 BT-Drs. 18/9416, 54: „Für den weiteren Verfahrensgang ist – anders als bei der Übertragung in entgegengesetzter Richtung – nicht die Dokumentation eines bestimmten eingehaltenen Druck- oder Kopierverfahrens bedeutsam, sondern vielmehr das Ergebnis der Authentizitäts- und Integritätsprüfung des Ausgangsdokuments zu sichern, da diese Informationen dem übertragenen Dokument nicht entnommen werden können. Es ist hierbei zu prüfen, ob das elektronische Ausgangsdokument während des Übermittlungsvorgangs verändert wurde (Integrität) und wer als dessen Aussteller oder Signierender zu identifizieren ist (Authentizität).“ 54 Siehe zu den Voraussetzungen einer (Einzel-)Analogienbildung etwa Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 250 ff. m. w. N.; Wank, Juristische Methodenlehre, S. 372 ff. m. w. N.; für eine Dokumentationspflicht des Verarbeitungsprozesses bei digitalem Beweismaterial allg. Fährmann MMR 2020, 228, 230.

I. Zusammenfassung der Untersuchung des Aktenbegriffs

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Wenn man die vorstehenden Grundsätze zur Datenduplikation – Anfertigung eines (Teil-)Datenträgerabbildes unter Verwendung eines Writeblockers – berücksichtigt, handelt es sich faktisch auch in den Fällen, in denen auf einem Datenträger gespeichertes Datenmaterial lediglich teilweise dem Gericht vorzulegen ist, letztlich um das originale Aktenmaterial, sodass der gesetzgeberischen Intention zu § 199 Abs. 2 S. 2 StPO und der Ausgestaltung der StPO weitestgehend Rechnung getragen werden kann, ohne dem Gericht in bestimmten Fällen Datenmaterial zur Verfügung stellen zu müssen, das mit den angeklagten Taten inhaltlich nicht zusammenhängt.

2. Umfang Nun ist noch zusammenzufassen, in welchem Umfang die der Staatsanwaltschaft vorliegenden Informationsträger, die die oben beschriebenen Eigenschaften aufweisen, und das ihr zur Verfügung stehende Datenmaterial der Verteidigung und dem Gericht vorzulegen sind. a) Der herausgearbeitete Rahmen Nach der vorliegenden Untersuchung ist der Aktenbegriff in § 147 StPO und in § 199 Abs. 2 S. 2 StPO gleichermaßen weit zu verstehen. Das weite Aktenbegriffsverständnis ergibt sich zunächst aus einer historischen Betrachtung der §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO. Der Gesetzgeber ging ursprünglich davon aus, dass § 197 RStPO – die Vorgängernorm zu § 199 Abs. 2 S. 2 StPO – die Akten umfasst, die bei der Staatsanwaltschaft im Zuge eines Ermittlungsverfahrens (bezogen auf den zugrundeliegenden Geschehensablauf und den hiermit inhaltlich zusammenhängenden Vorgängen und nicht kumulativ auf den Geschehensablauf und unmittelbar auf den Beschuldigten) angefallen waren.55 Der Staatsanwaltschaft ein Aussonderungsrecht zu gewähren, war ausdrücklich nicht beabsichtigt.56 Die Intention war vielmehr, eine völlig unabhängige Überprüfung der Anklage durch die Gerichte zu ermöglichen,57 auch wenn es hiermit zu einer erheblichen Arbeitsbelastung des Gerichts kommt.58 Ob der jeweilige Informationsträger (aus Sicht der Staatsanwaltschaft oder objektiv) einem Beweisverwertungsverbot unterliegt, ist für dessen Einordnung als Aktenbestandteil ebenfalls nicht maßgebend.

55 Siehe Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 964 ff.; Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1229. 56 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 966; Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1229. 57 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 168; vgl. auch Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 166. 58 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 168.

488 D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs Für ein derart weitgehendes Aktenbegriffsverständnis i. R. d. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO streitet in systematischer und objektiv-teleologischer Hinsicht insbesondere der in der StPO verankerte Grundsatz der Gewalten- bzw. Funktionentrennung, das Regelungsgefüge bzw. der Zweck des Zwischenverfahrens (insbesondere die eigenständige und umfassende Verdachtsüberprüfung), der historische Hintergrund und der Zweck des Akkusationsprinzips (Machtverringerung), die Stellung und Funktion der Staatsanwaltschaft, der Übergang der Verfahrensherrschaft auf das Gericht ab dem Zwischenverfahren, die Funktion bzw. der Gegenstand des Ermittlungsverfahrens – die bzw. der lediglich in der lückenhaften bzw. vorläufigen Verdachtsklärung liegt – und der in der StPO verankerte Grundsatz der Aktenwahrheit und -vollständigkeit. Eine umfassende Vorlagepflicht erfordern zudem die Art. 19 Abs. 4, 97 Abs. 1 GG, das verfassungsrechtlich- und konventionsrechtlich garantierte Fairnessgebot sowie – vor dem Hintergrund der historischen, systematischen und teleologischen Auslegung des Aktenbegriffs – das verfassungsrechtliche Willkürverbot und der Gewaltenteilungsgrundsatz. Auch die Ausführungen zur prozessualen Tat bzw. zu dem Umfang der gerichtlichen Kognitionspflicht geben jedenfalls dahingehend Aufschluss, dass es für die Frage, ob ein Vorgang dem Gericht – neben weiteren (Haupt-)Akten – gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegen ist, nicht entscheidend darauf ankommen kann, ob der dem Vorgang zugrundeliegende Geschehensablauf von der angeklagten Tat bzw. dem Verfolgungswillen der Staatsanwaltschaft umfasst ist. Denn zwischen dem Umfang der Kognitionspflicht, der gem. §§ 155 Abs. 1, 264 Abs. 1 StPO auf die prozessuale Tat begrenzt ist, und dem Umfang der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§§ 244 Abs. 2, 155 Abs. 2 Hs. 1 StPO) ist strikt zu unterscheiden. Ebenso unbeachtlich muss nach den diesbezüglichen Erkenntnissen sein, ob sich ein Vorgang unmittelbar auf den jeweiligen Angeschuldigten bezieht oder der Angeschuldigte bei Erstellung des Informationsträgers oder Übersendung an die Staatsanwaltschaft bereits als Beschuldigter geführt wurde. Letzteres legen bereits die §§ 2 f. StPO nahe, aus denen sich insbesondere ableiten lässt, dass auch Spurenakten dem Gericht gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegen sind. Eine Begrenzung des Aktenbegriffs am Maßstab der prozessualen Tat verbietet sich jedoch entscheidend aus historischen Gründen. Schließlich war der unbestimmte, vom Einzelfall abhängende Tatbegriff bereits in § 263 RStPO normiert, was den historischen Gesetzgeber nicht davon abhielt, einen weiten Aktenbegriff sowohl § 197 RStPO als auch § 147 RStPO zugrunde zu legen. Nach alledem ergibt sich ein entsprechend weites Aktenbegriffsverständnis i. R. d. § 147 StPO ab Beginn des Ermittlungsverfahrens zunächst aus dem Wortlaut des § 147 Abs. 1 StPO, in dem auf die dem Gericht vorliegenden oder vorzulegenden Akten Bezug genommen wird. Ein ebenso weitreichender Aktenbegriff ergibt sich auch aus den Gesetzesmaterialien zur Einführung des § 147 RStPO. Insbesondere sollte der Staatsanwaltschaft ein Aussonderungsrecht

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bzgl. der Akten auch zulasten der Verteidigung gerade nicht zustehen.59 Diese Auffassung hat der Gesetzgeber auch im Fortgang aufrechterhalten.60 Ein weitreichendes Informationsinteresse der Betroffenen ist auch im Datenschutzrecht ein wichtiges Anliegen des Gesetzgebers, vgl. §§ 45 ff. BDSG. Ein umfassendes strafprozessuales Informationsrecht der Verteidigung als von dem Strafverfahren „Betroffene“ lässt sich auch aus diesem datenschutzrechtlichen Anliegen ableiten, da die StPO sich insbesondere über § 500 Abs. 1 StPO insoweit an den Vorgaben aus dem BSDG orientiert. Darüber hinaus folgt ein weites Aktenbegriffsverständnis aus der Stellung und der Funktion des Verteidigers im Strafverfahren. Auch der elfte Regelungsabschnitt des ersten Buches der StPO belegt die Bedeutung des § 147 StPO und spricht somit für ein weites Aktenbegriffsverständnis innerhalb der Norm. Der Verteidiger soll zugunsten des Mandanten gerade die von der Staatsanwaltschaft und dem Gericht bislang nicht (hinreichend) berücksichtigten Umstände geltend machen – möglicherweise auch durch eigens angestellte Ermittlungen. Zur Aufgabe des Verteidigers zählt es auch, die Anklage bzw. den Standpunkt der Staatsanwaltschaft kritisch zu hinterfragen, was ebenfalls eine umfassende Informationsgrundlage erfordert. Der Verteidiger ist ein im Vergleich zur Staatsanwaltschaft gleichberechtigtes Organ der Rechtspflege (vgl. § 1 BRAO). Die Staatsanwaltschaft ist gerade nicht als gleicher Garant für die Wahrung der Beschuldigtenbelange anzusehen, sodass ihr ein Aussonderungsrecht mit Auswirkung auf den einzusehenden Aktenumfang nicht obliegen darf. Eine qualifizierte Einschätzung, welche Informationsträger für die Verteidigung verfahrensrelevant sind, ist der Staatsanwaltschaft im Übrigen auch gar nicht (mit der nötigen Sicherheit) möglich, da sie die Verteidigungsstrategie in aller Regel nicht im Detail voraussehen kann. Ein weiter Aktenbegriff i. R. d. § 147 StPO ergibt sich auch unter der Berücksichtigung des in der StPO verankerten61 Grundsatzes der Aktenwahrheit und -vollständigkeit. Ferner streiten hierfür die Gewährleistungen des Art. 103 Abs. 1 GG und des verfassungs- sowie konventionsrechtlich verbürgten Fairnessgebots. Auch das Willkürverbot und der Gewaltenteilungsgrundsatz gebieten mit Blick auf die vorgenommene einfachgesetzliche Auslegung einen weiten Aktenbegriff i. R. d. § 147 StPO. Indiziell und mittelbar streitet für ein weites Aktenbegriffsverständnis auch die RL (EU) 2016/680, die über 59 Siehe Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 964 f., 967; Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1229; vgl. zum Waffengleichheitsgedanken, den der historische Gesetzgeber zugrunde legte: Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 533, 792; Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1556, 1887. 60 Siehe insb. BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 31; BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 22; BTDrs. 18/9416, 60. 61 Vgl. §§ 32b Abs. 2, 32e Abs. 3 S. 3, 41 S. 3, 68b Abs. 3 S. 2, 100e Abs. 6 Nr. 2 S. 4, 100g Abs. 4 S. 4, 100j Abs. 3 S. 5, Abs. 4 S. 4, 101 Abs. 5 S. 2, Abs. 8 S. 2, 101a Abs. 4 S. 2, S. 4, 154a Abs. 1 Nr. 2 S. 3, 160a Abs. 1 S. 4, 160b S. 2, 163 Abs. 2 S. 1, 168a Abs. 2 S. 1, 168b Abs. 1, 169a, 202a S. 2, 275 Abs. 1 S. 5, 406f Abs. 2 S. 3, 406g Abs. 4 S. 3, 421 Abs. 3 S. 2, 459a Abs. 3 S. 1, 479 Abs. 3 S. 3, 480 Abs. 4 StPO.

490 D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs §§ 500 Abs. 1 StPO, 57 BDSG und einer ohnehin erforderlichen richtlinienkonformen Auslegung der gesamten nationalen Rechtsordnung auf § 147 StPO ausstrahlt. Entsprechend der Absicht des Gesetzgebers62 sind Handakten und innerdienstliche Vorgänge nicht Aktenbestandteile. Bei den staatsanwaltschaftlichen oder auch gerichtlichen sog. Handakten kann es sich mit Blick auf die vorstehenden Ausführungen lediglich um solche Informationsträger handeln, für die Dritte kein berechtigtes Informationsbedürfnis begründen können, weil sie 1. sich inhaltlich bereits in den Akten befinden oder 2. einen rein innerdienstlichen, organisatorischen Bezug aufweisen. Der Inhalt eines staatsanwaltschaftlichen Handaktenbestandteils ist dem Gericht und der Verteidigung also entweder bekannt oder er betrifft rein interne Geschehnisse, deren Kenntnisnahme nicht dafür erforderlich ist, um die Verfahrenshistorie lückenlos nachvollziehen zu können.63 Ersteres ist insbesondere bei Aktendoppeln der Fall. Nach dem gesetzgeberischen Willen sind die Original-Informationsträger, die sich bei der Staatsanwaltschaft bis zur Anklageerhebung angesammelt haben, Aktenbestandteile. Aus diesem Grund befinden sich die Aktendoppel inhaltlich bereits in den Akten, sodass die Einordnung derartiger Informationsträger als (einzusehende/vorzulegende) Aktenbestandteile nicht erforderlich ist, da insoweit eine Wissensparität – deren Herstellung der wesentliche Zweck von § 199 Abs. 2 S. 2 StPO und § 147 StPO darstellt – bereits besteht. Ein berechtigtes Informationsbedürfnis besteht ebenso wenig an Informationsträgern, die die Staatsanwaltschaft im Laufe eines Ermittlungsverfahrens aus rein innerdienstlichen bzw. organisatorischen Gründen erlangt hat, da deren Kenntnis nicht erforderlich ist, um die Ermittlungsverfahrenshistorie lückenlos nachzuvollziehen.64 Ein Beispiel hierfür stellt etwa ein innerbehördliches Telefonnummernverzeichnis dar, das dem sachbearbeitenden Staatsanwalt während seiner Ermittlungen von der Geschäftsstelle zugeleitet worden ist. Ebenso weisen Mitschriften der Staatsanwaltschaft, die sie ab Beginn des Zwischenverfahrens – etwa zur Vorbereitung des weiteren Verfahrensverlaufs oder zur Nachbereitung der Geschehnisse in der Hauptverhandlung – fertigt, einen rein innerdienstlichen, organisatorischen Bezug auf.65 Auch insoweit bedarf es der Kenntnisnahme Dritter nicht, um den Ermittlungsverlauf lückenlos nachvollziehen zu können. Rein innerdienstliche Informationsträger stellen

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BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 31. Siehe auch Burkhard DStR 2002, 1794, 1795; Kleinknecht, FS Dreher, S. 723 f.; Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 86. 64 So bspw. auch Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 59 f.; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 197 ff. 65 Siehe auch Lauterwein, Akteneinsicht, S. 141 f.; dessen ungeachtet würde es sich hierbei nicht um Informationsträger handeln, die dem Gericht als aktenführende Stelle zur Verfügung standen, siehe hierzu sogleich. 63

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bspw. auch justizintern zum Einsatz kommende Fachsysteme dar, die im Laufe eines Ermittlungsverfahrens (in Form von Dateien) erstellt worden sind.66 Nach hiesiger Untersuchung sind demgegenüber Vermerke, Berichte o. Ä., die die Staatsanwaltschaft im Zuge ihrer Ermittlungen auf einem Informationsträger niederschreibt, Aktenbestandteile. Der Unterschied zu den vorgenannten innerdienstlichen Vorgängen besteht darin, dass dem Gericht oder der Verteidigung andernfalls die Möglichkeit genommen wäre, das vorausgegangene Ermittlungsverfahren weitestgehend lückenlos nachzuvollziehen. Dementsprechend stellen auch rein gerichtsinterne Informationsträger keine Aktenbestandteile dar.67 Eine Vorschrift entsprechend § 35b Abs. 5 S. 2 BVerfGG, nach dem nach Ablauf von 60 Jahren auch Einsicht in senatsinterne Vorgänge beantragt werden kann, ist der StPO fremd.68 Gerichtsinterne Informationsträger sind zwar zu einem Zeitpunkt entstanden, als das Gericht die aktenführende Stelle gewesen ist. Das Einsichtsrecht zu Verteidigungszwecken und die hierhinter stehenden verfassungs- und konventionsrechtlichen Gewährleistungen sind jedoch nicht auf die Ausforschung von Staatsanwaltschaft oder Gericht ausgerichtet, sondern darauf, durch die hergestellte Wissensparität einen effektiven Einfluss auf das Strafverfahren zu ermöglichen. Den Aktenbegriff auch auf rein gerichtsinterne Vorgänge zu erstrecken, ist demzufolge nicht geboten. Was von all den Informationsträgern, die dem Gericht zugeleitet oder von diesem erstellt worden sind, rein gerichtsinterne Informationsträger im vorbenannten Sinne sind und welche demgegenüber als Aktenbestandteile eingeordnet werden müssen, muss in jedem Einzelfall auf der Grundlage des Zweckes des § 147 StPO und den einschlägigen verfassungs- und konventionsrechtlichen Gewährleistungen beurteilt werden. Der Zweck des § 147 StPO besteht im Wesentlichen darin, der Verteidigung durch das zur Verfügung gestellte Informationsmaterial eine effektive Verteidigung zu ermöglichen. Vom Gericht erstellte Informationsträger, die sich bspw. auf den Gang der Hauptverhandlung beziehen und dabei lediglich als „Gedächtnisstütze“ für nachfolgende gerichtliche Entscheidungen dienen, stellen rein gerichtsinterne Mitschriften und damit keine Aktenbestandteile dar. Dies ist bei den umstrittenen Kammer- bzw. Senatsheften oder Ähnlichem anzunehmen.69 An Gerichtsbeschlüssen beispielsweise besteht dem66 So i. E. auch die gesetzgeberische Intention: BT-Drs. 18/9416, 57; siehe auch Burkhard DStR 2002, 1794, 1795; so i. E. auch B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 223 f.; ähnlich Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 75 ff. 67 So auch Schneider Jura 1995, 337, 339; Rottländer NStZ 2014, 138, 138 f.; Fetzer StV 1991, 142, 143; Stuckenberg StV 2010, 231, 232 m. w. N. 68 So auch der Einwand von LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 34. 69 Siehe hierzu auch BGH StV 2010, 228, 229 m. Anm. Stuckenberg; BGH, Beschl. v. 19.02.2014 – 2 ARs 207/13, Rn. 4, juris; BGH StraFo 2017, 192; OLG Hamm NStZ 2005, 226; LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 34; SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 32 ff. m. w. N.; Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 60; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 104; Lehmann GA 164 (2017), 36, 36; Fetzer StV 1991, 142, 143.

492 D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs gegenüber ein anzuerkennendes Informationsinteresse, da sie von der Verteidigung angegriffen werden können, sodass sie Aktenbestandteile darstellen. b) Konkretisierung des herausgearbeiteten Rahmens und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs Nach hiesiger Untersuchung zählen zu den einzusehenden/vorzulegenden Akten all diejenigen Informationsträger, die mit dem jeweiligen Strafverfahren inhaltlich/thematisch zusammenhängen. Im Folgenden soll die einfachgesetzliche und verfassungs-/konventionsrechtliche Untersuchung des Aktenbegriffs konkretisiert bzw. der „inhaltliche/thematische Zusammenhang“ zwischen den angesammelten Informationsträgern und einem konkreten Strafverfahren zu einer Definition abstrahiert werden. aa) Behörden- bzw. spruchkörperbezogene Eingrenzung Als Erstes sind die Vorlagepflicht und das Einsichtsrecht auf diejenigen Informationsträger beschränkt, die der im Zeitpunkt des Einsichtsgesuchs ermittelnden Staatsanwaltschaft bzw. die im Zeitpunkt der Anklageerhebung der konkreten Anklagebehörde tatsächlich zur Verfügung stehen oder standen. Ein Aktenbegriffsverständnis, nach dem jeder der bei irgendeiner Staatsanwaltschaft oder gar sonstigen Behörde angelegte Vorgang, der mit einem Strafverfahren in einem inhaltlichen Zusammenhang steht, zu den vorzulegenden/einzusehenden Akten zählte, wäre bereits praktisch schwer umzusetzen. Die Staatsanwaltschaft müsste vor jeder Aktenübersendung Auskünfte von jeder hierfür in Betracht kommenden Behörde einholen, ob bei dieser Vorgänge existieren, die mit dem konkreten Strafverfahren inhaltlich zusammenhängen. Neben datenschutzrechtlichen Problemen dürfte eine solche Sichtweise auch zu (erheblicher) Rechtsunsicherheit führen, da die Abgrenzung nach dem „inhaltlichen Zusammenhang“ sehr vage ist. Entscheidend spricht für eine behördenbezogene Eingrenzung des Aktenbegriffs jedoch der ursprüngliche zu § 197 RStPO, der Vorgängernorm des § 199 Abs. 2 S. 2 StPO, geäußerte gesetzgeberische Wille. Aus den maßgeblichen Gesetzesmaterialien ergibt sich, dass es dem Gesetzgeber auf diejenigen Informationsträger ankam, die der konkret anklagenden Staatsanwaltschaft zur Verfügung standen.70 Diese Sichtweise hat der Gesetzgeber bis heute nicht aufgebeben. Auch die übrigen Auslegungsmethoden fordern einen darüberhinausgehenden Aktenbegriff nicht. Insofern ist der Aktenumfang während des Ermittlungsverfahrens ebenfalls auf das Informationsmaterial zu begrenzen, das der konkret ermittelnden Staatsanwaltschaft zur Verfügung steht oder stand. Sofern sich aus den Akten oder aus anderen Gründen ergibt, dass die Staatsanwaltschaft im Rahmen des Ermittlungsverfahrens bestimmte Vorgänge von

70

Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 166, 964 f.

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anderen Behörden hätte anfordern müssen, hat das Gericht diese Vorgänge im Wege seiner Amtsaufklärungspflicht anzufordern bzw. beizuziehen. Die behördenbezogene Einschränkung findet ihren Niederschlag zudem in § 480 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 StPO, nach dem „[a]us beigezogenen Akten, die nicht Aktenbestandteil sind, Übermittlungen nur mit Zustimmung der Stelle erfolgen [dürfen], um deren Akten es sich handelt.“ Hiernach ist bei der Frage der Übermittlung von Akten ebenfalls zwischen denjenigen Akten, die von der das konkrete Strafverfahren führenden Staatsanwaltschaft geführt werden, und solchen Akten, die von einer anderen Staatsanwaltschaft geführt werden, zu unterscheiden. Die hier vertretene behördenbezogene Eingrenzung des Aktenbegriffs ist auch mit den verfassungs- und konventionsrechtlichen Gewährleistungen vereinbar. Ein weitergehendes Aktenbegriffsverständnis ergibt sich insoweit – im Gegensatz zu den der anklagenden Staatsanwaltschaft bereits vorliegenden Informationsträger – insbesondere nicht aus dem Beschleunigungsgebot, da es auch dann zu einer Verfahrensverzögerung käme, wenn die anklagende Staatsanwaltschaft derartige Informationsträger vor Anklageerhebung anfordern müsste. Der EGMR hat es zu Recht ausdrücklich als notwendig aber ausreichend erachtet, dass die Verteidigung alle Informationsträger erhält, die der ermittelnden bzw. anklagenden Staatsanwaltschaft zur Verfügung standen.71 Soweit nach hiesiger Untersuchung verfassungs- und konventionsrechtlich die Vorlage sog. Spurenakten erforderlich ist, kann sich diese Vorlagepflicht ebenfalls nur auf dasjenige Informationsmaterial beziehen, dass der ermittelnden bzw. anklagenden Staatsanwaltschaft zur Verfügung stand. Die hier vertretene Begrenzung des Aktenbegriffs ist jedoch nicht mit der Frage zu verwechseln, ob die ermittelnde/anklagende Staatsanwaltschaft für die Akten, die ihr vorliegen oder vorgelegen haben, die aktenführende Stelle ist. Dieser Gesichtspunkt ist für die Einordnung als Aktenbestandteil nicht maßgebend, wie sich aus § 96 S. 1 StPO, § 10 Abs. 2 ZSHG und den Gesetzesmaterialien zu den §§ 2 Abs. 3, Abs. 4, 10 Abs. 2 ZSHG72 ergibt. Auch § 161 Abs. 3 S. 1 StPO und die diesbezüglichen Gesetzesmaterialien73 legen nahe, dass es auf die Frage,

71 Siehe etwa EGMR, Urt. v. 05.04.2012, No. 11663/04, Chambaz/CHE, Rn. 61: „La Cour rappelle que le droit a` un proce`s pe´nal e´quitable implique que la de´fense puisse avoir acce`s a` l’ensemble des preuves entre les mains de l’accusation, qu’elles soient en de´faveur, ou en faveur, de l’accuse´ […].“; EGMR, Urt. v. 04.04.2017, No. 2742/12, Matanovic´/HRV, Rn. 151; EGMR, Urt. v. 25.07.2019, No. 1586/15, Rook/DEU, Rn. 58; vgl. auch EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 28901/95, Rowe u. Davis/GBR, Reports 2000-II, 287, Rn. 60; EGMR, Urt. v. 09.05.2003, No. 59506/00, Georgios Papageorgiou/GRC, Rn. 36; ein insoweit weiterreichendes Begriffsverständnis fordert aus Fairnessgründen bspw. Krawczyk StV 2021, 396, 399 f. 72 BT-Drs. 14/6467, 10, 13; die später in § 2 Abs. 4 ZSHG eingeführte Regelung war zunächst im Wesentlichen in § 4 Abs. 3 ZSHG-E vorgesehen, siehe zur Begründung: BTDrs. 14/638, 13; BT-Drs. 14/6467, 10; siehe auch BT-Plenarprotokoll 14/180: Stenografischer Bericht der 180. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 29.06.2001, 17791A. 73 BT-Drs. 16/5846, 22, 64.

494 D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs ob die Staatsanwaltschaft hinsichtlich der Informationsträger die aktenführende Stelle ist, nicht ankommt. § 100e Abs. 6 Nr. 3 StPO setzt ebenfalls voraus, dass außerstrafprozessuale Vorgänge Bestandteile von Strafverfahrensakten sein können. § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG steht dem nicht entgegen. Sobald derartige Vorgänge der Staatsanwaltschaft (etwa auf Anforderung gem. § 2 Abs. 3 S. 3 ZSHG) vorgelegt werden, handelt es sich hierbei um Vorgänge, die der Staatsanwaltschaft im Zuge des Ermittlungsverfahrens zur Verfügung standen und damit um Strafverfahrensaktenbestandteile. Gleiches gilt für nachrichtendienstliche Vorgänge oder jene sonstiger Behörden. Nach den vorstehenden Ausführungen kommt es also auf den Informationsumfang an, den die konkret ermittelnde Strafverfolgungsbehörde als aktenführende Stelle hatte, als sie im Ermittlungsverfahren Einsicht gewährt hat bzw. als sie die Anklage erhoben hat. Ab dem Zwischenverfahren ist in der Konsequenz all das Informationsmaterial Aktenbestandteil, was dem jeweiligen mit der Sache betrauten Spruchkörper des Gerichts in dem Zeitraum, in dem er nunmehr die aktenführende Stelle ist, im Zuge des Strafverfahrens an Informationsmaterial zur Verfügung steht oder stand. Die Akte wird ab dem Zwischenverfahren also regelmäßig „wachsen“. Dies ist beispielsweise anzunehmen, wenn dem Gericht im Zuge des Hauptverfahrens ursprünglich verfahrensfremde Akten, wie etwa (weitere) sog. Beiakten, zugeleitet werden.74 Sofern im Zuge des Hauptverfahrens auf Veranlassung des Gerichts weiter gegen den Angeklagten ermittelt würde, wäre das hierbei entstandene Ermittlungsmaterial, das dem Gericht zur Verfügung steht, ebenfalls Aktenbestandteil.75 Ermittelt die Staatsanwaltschaft hingegen weiter gegen den Angeklagten, ohne dass das Gericht hiervon Kenntnis hat, weshalb diesem die hierdurch entstandenen Informationsträger nicht zur Verfügung stehen, würde es sich bei diesem Informationsmaterial zwar nicht um Aktenbestandteile handeln, da dem Gericht diese Informationsträger als aktenführende Stelle nicht zur Verfügung stehen. In solchen Fällen ergäbe sich jedoch aus dem Fairnessgebot,76 insbesondere in dessen Ausprägung als prozessuale Fürsorgepflicht, die Pflicht der Staatsanwaltschaft, die im Zuge der Weiterermittlungen entstandenen Informationsträger dem Gericht und der Verteidigung unverzüglich, spätestens vor dem Beweisaufnahmeschluss, zur Verfügung zu stellen.

74

So i. E. auch MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 15. So auch Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 55. 76 Siehe auch BGHSt 36, 305, 308 ff.; vgl. auch EGMR, Urt. v. 19.06.2001, No. 36533/97, Atlan/GBR, Rn. 39–42; eingehend LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 216 m. w. N.; vgl. auch BGH StV 2001, 4, 5; BGH NStZ 2017, 549, 549 f. m. zust. Anm. Tully. 75

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bb) Nachvollziehbarkeit des Ermittlungsverlaufs als weiteres Kriterium Die einfachgesetzliche und verfassungs-/konventionskonforme Auslegung der §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO erfordert ein Aktenbegriffsverständnis, nach dem die Verteidigung und das Gericht die Historie des Ermittlungsverfahrens nachvollziehen können, das heißt insbesondere, dass sie den Akten entnehmen können müssen, wie es zu dem Ermittlungsverfahren gegen den Mandanten bzw. Angeschuldigten gekommen ist und wie das Ermittlungsverfahren bis zum Ermittlungsabschluss verlaufen ist. In Anlehnung insbesondere an die Ausführungen zum Grundsatz der Aktenwahrheit/-vollständigkeit muss sich aus den einzusehenden/vorzulegenden Akten lückenlos ergeben, was Anlass der aufgenommenen Ermittlungen war, welche Ermittlungsmaßnahmen getroffen wurden, wer die Ermittlungsmaßnahmen angeordnet hat, welche Erkenntnisse hierbei offenbar geworden sind und mit welchem Ergebnis die Ermittlungen abgeschlossen wurden.77 Ergibt sich aus den Akten ein solch lückenloses Abbild des Ermittlungsverfahrens, ist der Funktion der §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO bzw. dem hinter diesen stehenden Verfassungs- und Konventionsrecht hinreichend Rechnung getragen. Erforderlich ist es also zunächst, unter die einzusehenden/vorzulegenden Akten all diejenigen Informationsträger zu fassen, die im Zuge des betreffenden gegenwärtigen Ermittlungsverfahrens gegen den jeweiligen Beschuldigten/Angeschuldigten (man könnte vom „Hauptstrafverfahren“ sprechen) bei der Staatsanwaltschaft, die im Zeitpunkt der Einsichtsgewährung/Aktenvorlage die aktenführende Stelle ist, entstanden sind bzw. ihr vorlagen. Nun muss ein Ermittlungsverfahren nicht notwendig von Beginn an gegen den betreffenden Beschuldigten geführt werden. In vielen Fällen werden die Ermittlungen gegen eine bestimmte Person erst im Zuge eines bereits laufenden Ermittlungsverfahrens (gegen eine unbekannte Person oder eben gegen einen anderweitig verfolgten Beschuldigten) eingeleitet. In diesen Fällen muss anhand der einzusehenden/vorzulegenden Akten jedoch in gleicher Weise eine Überprüfung des Ermittlungsverlaufs ermöglicht bzw. die Nachvollziehbarkeit der Verfahrenshistorie gewährleistet sein. Das Erfordernis, den genauen historischen Ablauf des Ermittlungsverfahrens durch die Akten nachvollziehbar zu machen, ist nach hiesiger Untersuchung schließlich gerade nicht davon abhängig, dass die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen von Beginn an gegen den (nunmehr) Beschuldigten geführt hat. Insofern müssen zu den vorzulegenden/einzusehenden Akten ggfs. auch diejenigen Informationsträger zählen, die der Staatsanwaltschaft vor der Einleitung des betreffenden Ermittlungsverfahrens vorgelegen haben, wenn diese zuvor erstellten/erlangten Informationsträger mit dem (nachfolgenden) Ermittlungsverfahren inhaltlich zusammenhängen. Ein solcher inhaltlicher oder thematischer 77 Siehe auch BVerfG StV 2017, 361, 362; BGH Ermittlungsrichter StV-S 2021, 128, 129; so i. E. auch Kleinknecht, FS Dreher, S. 723; BGH NStZ 2014, 277, 281.

496 D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs Zusammenhang, der die Rechtfertigung für die Vorlage/Einsicht darstellt, ist auch dann anzunehmen, wenn die Informationsträger im Zuge eines Strafverfahrens entstanden sind, das den Anlass für die Einleitung des darauffolgenden Ermittlungsverfahrens dargestellt hat (man könnte vom „Anlassstrafverfahren“ sprechen). Denn nur durch die Erstreckung der einzusehenden/vorzulegenden Akten auf die Informationsträger dieses „Anlassstrafverfahrens“ lässt sich der Gang des Ermittlungsverfahrens wahrheitsgetreu und vollständig nachvollziehen. Da der Staatsanwaltschaft hierbei nach hier vertretener Auffassung eine Aussonderungshandhabe nach der Verfahrensrelevanz nicht zusteht, müssen die Informationsträger, die im Zuge des „Anlassstrafverfahrens“ seit dessen Beginn angesammelt worden sind, auch in dem „Hauptstrafverfahren“ vorgelegt werden. Andererseits ist es ausreichend, die Akten des „Hauptstrafverfahrens“ lediglich auf diejenigen Informationsträger zu erstrecken, die seit Beginn des „Anlassstrafverfahrens“ bis zur Einleitung des „Hauptstrafverfahrens“ angefallen sind. Die Informationsträger, die im weiteren Verlauf des „Anlassstrafverfahrens“, also zeitlich nach der Einleitung des „Hauptstrafverfahrens“, angefallen sind, sind schließlich nicht dafür erforderlich, den historischen Ablauf des „Hauptstrafverfahrens“ nachvollziehbar zu machen. Ob dem „Anlassstrafverfahren“ derselbe oder ein anderer geschichtlicher Lebensvorgang i. S. d. prozessualen Tatbegriffs zugrunde liegt, ist insofern ebenso unbeachtlich wie die Einschätzung der Staatsanwaltschaft, inwieweit das angesammelte Informationsmaterial aus dem „Anlassstrafverfahren“ als verfahrensrelevant anzusehen ist. Der inhaltliche Zusammenhang besteht zum einen also hinsichtlich aller Informationsträger, die der Staatsanwaltschaft im Zuge des betreffenden Ermittlungsverfahrens gegen den betroffenen Beschuldigten/Angeschuldigten zur Verfügung standen. Zum anderen erstreckt sich der inhaltliche Zusammenhang auch auf die Informationsträger, die im Zuge eines zuvor eingeleiteten Strafverfahrens angefallen sind, das den Anlass für die Einleitung des nachfolgenden Ermittlungsverfahrens dargestellt hat. Hierdurch kann die Verfahrenshistorie in solchen „Verkettungen“ lückenlos nachvollzogen werden. cc) Identität des Ermittlungsgegenstandes Die einfachgesetzliche und verfassungs-/konventionskonforme Auslegung der §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO erfordert es, einen inhaltlichen/thematischen Zusammenhang zwischen Informationsträgern und einem Strafverfahren auch dann anzunehmen, wenn die Informationsträger im Zuge eines Strafverfahrens angefallen sind, das denselben Ermittlungsgegenstand betrifft wie dasjenige des „Hauptstrafverfahrens“. Wenn das Informationsmaterial zwar im Zuge eines anderen Strafverfahrens angesammelt wurde, sowohl diesem Strafverfahren als auch dem gegenwärtigen Strafverfahren (also dem „Hauptstrafverfahren“) jedoch der gleiche Ermittlungsgegenstand/Kernsachverhalt (etwa die Tötung einer bestimmten Person)

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zugrunde liegt, dann besteht zwischen dem der Staatsanwaltschaft zur Verfügung stehenden Informationsmaterial bzgl. des gesonderten Strafverfahrens und dem betreffenden gegenwärtigen Strafverfahren ein derart enger inhaltlicher Zusammenhang, der es rechtfertigt, die Vorgänge aus dem gesonderten Verfahren auch als Aktenbestandteil in dem „Hauptstrafverfahren“ anzusehen. Bei solchen Informationsträgern ergibt sich das Erfordernis, diese unter den Aktenbegriff zu fassen, also nicht aus dem Bedürfnis, den Ermittlungsverlauf lückenlos darzustellen, sondern daraus, dass Vorgänge, die den gleichen Ermittlungsgegenstand betreffen, zueinander in einem engen inhaltlichen Zusammenhang stehen. Insofern sind die Informationsträger, die im Zuge von gesonderten Strafverfahren entstanden sind, sich jedoch auf denselben Ermittlungsgegenstand beziehen wie das „Hauptstrafverfahren“, dem Gericht und der Verteidigung nicht nur auszugsweise, sondern vollständig zur Verfügung zu stellen. Den inhaltlichen Zusammenhang auch auf derartige Informationsträger zu erstrecken, stellt sicher, dass auch diejenigen Vorgänge unter den Aktenbegriff fallen, die sich zwar auf denselben Ermittlungsgegenstand beziehen, jedoch nicht im Zuge des „Hauptstrafverfahrens“ oder eines vorausgegangenen „Anlassstrafverfahrens“ angefallen sind. Dieses Definitionselement ist ebenfalls frei von einer Bewertung der Verfahrensrelevanz durch die Staatsanwaltschaft, da die Frage, ob sich der Gegenstand eines Strafverfahrens (bspw. die Tötung des Opfers O) mit demjenigen eines anderen Strafverfahrens deckt, eine faktisch zu beantwortende ist. Zudem wird berücksichtigt, dass eine Orientierung des Aktenbegriffs an den prozessualen Tatbegriff zu vermeiden ist, da bei diesem Definitionselement nicht danach zu fragen ist, ob den jeweiligen Strafverfahren derselbe Geschehensablauf i. S. e. Tatidentität, sondern ob den Strafverfahren derselbe Aufklärungsgegenstand zugrunde liegt. dd) Abstraktion des thematischen/inhaltlichen Zusammenhanges und Veranschaulichung Wenn zu den einzusehenden/vorzulegenden Akten das Informationsmaterial zählt, das der im Zeitpunkt der Einsichtsgewährung/Aktenvorlage aktenführenden Staatsanwaltschaft 1. im Zuge des betreffenden Ermittlungsverfahrens seit dem Ermittlungsbeginn bis zum Ermittlungsabschluss vorgelegen hat (und in dem Fall, dass das Gericht zu einem Zeitpunkt die aktenführende Stelle war: einschließlich des Informationsmaterials, das dem mit der Sache befassten, aktenführenden Spruchkörper des Gerichts seit dem Verfahrensbeginn bis zum Verfahrensabschluss im Zuge des betreffenden Strafverfahrens vorgelegen hat), 2. einschließlich des Informationsmaterials, das der aktenführenden Staatsanwaltschaft und ggfs. dem mit der Sache befassten, aktenführenden Spruchkörper des Gerichts im Zuge eines Strafverfahrens vorgelegen hat, das sich auf denselben Ermittlungsgegenstand wie das betreffende Strafverfahren bezieht,

498 D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs 3. einschließlich des Informationsmaterials, das der aktenführenden Staatsanwaltschaft und ggfs. dem mit der Sache befassten, aktenführenden Spruchkörper des Gerichts im Zuge eines Strafverfahrens vorgelegen hat, das den Anlass für die Einleitung des betreffenden Ermittlungsverfahrens dargestellt hat („Anlassstrafverfahren“), wobei sich der Umfang auf dasjenige Informationsmaterial erstreckt, das der aktenführenden Staatsanwaltschaft und ggfs. dem mit der Sache befassten, aktenführenden Spruchkörper des Gerichts seit Beginn des vorausgegangenen „Anlassstrafverfahrens“ bis zur Einleitung des betreffenden Ermittlungsverfahrens vorgelegen hat, ist dem erforderlichen weiten Aktenbegriffsverständnis Rechnung getragen und gleichzeitig eine hinreichend konkrete Definition des inhaltlichen/thematischen Zusammenhanges gewährleistet. Die Definition zum Aktenumfang soll anhand der nachfolgenden Beispielsfälle verdeutlicht werden: A schlägt seinem Nachbarn B mit der Faust ins Gesicht, sodass B eine Jochbeinfraktur erleidet, woraufhin B bei der Polizei Strafanzeige erstattet. B gibt im Rahmen seiner Vernehmung an, dass der Zeuge Z sich möglicherweise daran erinnern könne, dass A den B Tage zuvor Schläge angedroht habe, wenn B nicht endlich anfange, sein Auto woanders zu parken. Weil B der Forderung des A nicht nachgekommen und A erbost darüber gewesen sei, dass er solange nach einem Parkplatz habe suchen müssen, habe der A dem B aufgelauert und ihn geschlagen. Daraufhin stellt die Polizei Ermittlungen an. Sie vernimmt den Z und den A. Z gibt an, sich an ein Streitgespräch zwischen A und B nicht erinnern zu können. Er kenne den B flüchtig, der A sei ihm jedoch gänzlich unbekannt. A räumt in seiner Vernehmung ein, den B geschlagen zu haben, erklärt jedoch weiter, dass der B ihn beleidigt und zur Tat provoziert habe. Die Polizei legt die hierbei entstandenen Informationsträger der Staatsanwaltschaft vor, welche sodann Anklage gegen A erhebt. In diesem überschaubaren Fall wäre das gesamte Informationsmaterial, das der Staatsanwaltschaft im Zuge des betreffenden Ermittlungsverfahrens gegen A seit dessen Beginn vorgelegen hat – einschließlich der protokollierten Zeugenaussage von Z –, Aktenbestandteil i. S. d. §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO, unabhängig davon, ob die Staatsanwaltschaft die Zeugenaussage des Z als verfahrensrelevant erachtet. Als weitere Veranschaulichung der entwickelten Definition dient der folgende Fall: Im Laufe eines Ermittlungsverfahrens gegen B1 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln wird ein Gespräch aufgezeichnet, das darauf hindeutet, dass B2 versucht habe, seine Ehefrau F zu töten. Als B2 den B1 anrief, freute B1 sich über den Anruf, da sie Jahre lang nichts voneinander gehört hätten. B2 fragte im weiteren Verlauf B1, ob er einen guten Fachanwalt für Familienrecht kenne. B2 sei dahintergekommen, dass F ihn über einen langen Zeitraum betrogen habe. Nachdem er zunächst ein paar Wochen bei einem Bekannten übernachtet habe, sei er erbost in die gemeinsame Wohnung zurückgefahren und mit einem Messer auf F losgegangen, um sie zu töten. F habe jedoch gerade noch ausweichen können und sei dann geflüchtet. B2 habe sich mittlerweile zwar be-

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ruhigt, wolle jetzt jedoch zügig das Scheidungsverfahren einleiten. B1 sprach dem B2 sein Bedauern aus und erwiderte, dem B2 leider nicht helfen zu können. Er kenne nur Rechtsanwälte für Strafrecht. Daraufhin leitet die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen wegen eines versuchten Tötungsdeliktes gegen B2 ein. In diesem Beispielsfall ist das Telefongespräch nicht im Zuge des Ermittlungsverfahrens gegen B2, sondern vielmehr davor – im Zuge des Ermittlungsverfahrens gegen B1 – aufgezeichnet worden. Zudem betreffen beide Ermittlungsverfahren nicht denselben Ermittlungsgegenstand. Das Telefongespräch ist jedoch im Zuge eines Ermittlungsverfahrens entstanden, das den Anlass für die Einleitung des betreffenden Ermittlungsverfahrens gegen B2 dargestellt hat. Wenn beide Ermittlungsverfahren von derselben aktenführenden Stelle, beispielsweise der Staatsanwaltschaft Bremen, geführt würden, wäre das betreffende Telefongespräch Aktenbestandteil in dem Ermittlungsverfahren gegen B2. Zudem wären zur lückenlosen Darstellung des historischen Ablaufs des Ermittlungsverfahrens auch die sonstigen Informationsträger, die im Zuge des Ermittlungsverfahrens gegen B1 seit dessen Beginn bis zur Einleitung des Ermittlungsverfahrens gegen B2 angesammelt worden sind, in dem Verfahren gegen B2 Aktenbestandteile. Denn hierbei würde es sich eben um Informationsträger zu demjenigen Vorgang handeln, das den Anlass für die Einleitung des nachfolgenden Ermittlungsverfahrens dargestellt hat. Auf diese Weise könnte der Verteidiger und nachfolgend ggfs. das Gericht beispielsweise überprüfen, ob das Telefongespräch verwertbar ist. Wäre das Ermittlungsverfahren gegen B1 beispielsweise von der Staatsanwaltschaft Hamburg geführt worden und hätte die Staatsanwaltschaft Bremen nach Übersendung eines Aktenvermerks durch die Staatsanwaltschaft Hamburg die Ermittlungen gegen B2 übernommen, ohne die Ermittlungsakte bzgl. des Betäubungsmittelverfahrens gegen B1 übersandt bekommen und ohne die Datei mit dem Telefongespräch erhalten zu haben, so wäre nur der übersandte Aktenvermerk Aktenbestandteil im Verfahren gegen B2. Im Vergleich zur Verteidigung hätte die aktenführende Staatsanwaltschaft Bremen keinen Wissensvorteil, im Gegenteil bestünde Wissensparität. Ferner lägen dem Gericht im Falle einer Anklageerhebung all diejenigen Informationsträger vor, die dem Gericht zur Verfügung gestanden hätten, wenn das Gericht die konkreten Ermittlungen vorgenommen hätte. Der historische Ablauf des von der Staatsanwaltschaft Bremen geführten Ermittlungsverfahrens wäre von Ermittlungsbeginn bis zum Ermittlungsabschluss lückenlos nachvollziehbar. Man könnte der Staatsanwaltschaft Bremen in diesem Fall lediglich anlasten, nicht ausreichend ermittelt zu haben, was das Gericht von Amts wegen oder auf Antrag der Verteidigung jedoch dadurch nachholen könnte, dass es sich die Akte des Hamburger Ermittlungsverfahrens gegen B1 vorlegen lässt. Auch die Behandlung der bei der aktenführenden Staatsanwaltschaft angesammelten Spurenakten, die nach hiesiger Untersuchung notwendig unter den Aktenbegriff zu subsumieren sind, lässt sich durch das entwickelte Verständnis vom Aktenumfang lösen: Wird beispielsweise wegen der Tötung des Herrn O

500 D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs zunächst gegen drei Personen – B1, B2 und B3 – ermittelt, die aus Sicht der Staatsanwaltschaft jedoch eindeutig als Täter ausscheiden, und wird im weiteren Verlauf aufgrund eines neuen Hinweises gegen den Beschuldigten A ermittelt und sodann Anklage gegen ihn erhoben, so wären die gesamten Informationsträger, die im Zuge der Ermittlungsverfahren gegen B1, B2 und B3 angefallen sind, vorzulegende/einzusehende Aktenbestandteile in dem Strafverfahren gegen A. Zwar sind die Informationsträger aus den Ermittlungsverfahren gegen B1, B2 und B3 nicht im Zuge des Ermittlungsverfahrens gegen A entstanden. Auch waren die Ermittlungsverfahren gegen die drei Beschuldigten nicht der Anlass dafür, dass ein Ermittlungsverfahren gegen A eingeleitet worden ist. Jedoch ist das Informationsmaterial, das im Zuge der vorausgegangenen Ermittlungen gegen B1, B2 und B3 angesammelt wurde, in Ermittlungsverfahren angefallen, die sich auf denselben Ermittlungsgegenstand (die Tötung des Herrn O) wie das betreffende Ermittlungsverfahren gegen A beziehen. Auf der Grundlage des entwickelten Begriffsverständnisses sind vom Umfang der einzusehenden/vorzulegenden Akten beispielsweise auch Vorgänge zu anderen Taten umfasst, die (vorläufig) eingestellt wurden, wenn die Tat, die Grundlage des Ermittlungsverfahrens/der Anklage ist, der Grund für die Einstellung respektive die Bezugssanktion i. R. d. § 154 Abs. 1 StPO gewesen ist. Denn in solchen Fällen wird die Staatsanwaltschaft im Zuge des Ermittlungsverfahrens die Akten zu dem sodann (vorläufig) eingestellten Verfahren zur Verfügung gehabt und ausgewertet haben. Vorgänge zu Gesetzesverletzungen, in Ansehung derer die Verfolgung gem. § 154a Abs. 1 StPO beschränkt wurde, sind ebenfalls im Zuge des Ermittlungsverfahrens dieser (einheitlichen) Tat entstanden und damit ebenfalls Aktenbestandteil. Informationsträger zu Taten, die etwa gem. der §§ 153 f. StPO eingestellt worden sind, sind demzufolge nur dann Aktenbestandteile in einem gesonderten Strafverfahren, wenn diese Vorgänge nach Maßgabe des hier vertretenen Begriffsverständnisses mit dem gesonderten Strafverfahren inhaltlich zusammenhängen.

II. Einordnung des entwickelten Aktenbegriffs in den Forschungsstand und die Rechtsprechung Zusammengefasst handelt es sich nach hier vertretener Auffassung bei den Akten i. S. d. §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO grundsätzlich78 um transportierbare, komplikationslos und inhaltlich originalgetreu kopierfähige Informationsträger sowie um Dateien bzw. Daten, die der Staatsanwaltschaft, die im Zeitpunkt der Einsichtsgewährung bzw. Anklageerhebung die aktenführende Stelle ist, im Zuge des betreffenden Ermittlungsverfahrens seit dem Ermittlungsbeginn bis zum Ermittlungsabschluss vorgelegen haben, einschließlich des Informationsmaterials, 78

Zu den Ausnahmen sogleich.

II. Einordnung des Aktenbegriffs in den Meinungsstand

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das der aktenführenden Staatsanwaltschaft im Zuge eines Strafverfahrens vorgelegen hat, das sich auf denselben Ermittlungsgegenstand wie das betreffende Strafverfahren bezieht, einschließlich des Informationsmaterials, das der aktenführenden Staatsanwaltschaft im Zuge eines Strafverfahrens vorgelegen hat, das den Anlass für die Einleitung des betreffenden Ermittlungsverfahrens dargestellt hat („Anlassstrafverfahren“), wobei sich der Umfang auf dasjenige Informationsmaterial erstreckt, das der aktenführenden Staatsanwaltschaft seit Beginn des vorausgegangenen „Anlassstrafverfahrens“ bis zur Einleitung des betreffenden Ermittlungsverfahrens vorgelegen hat. Sofern Anklage erhoben worden ist oder ein Gericht entweder im Laufe des betreffenden Strafverfahrens, im Laufe des Strafverfahrens, das sich auf denselben Ermittlungsgegenstand wie das betreffende Strafverfahren bezieht oder im Laufe des „Anlassstrafverfahrens“ (vom Beginn des „Anlassstrafverfahrens“ bis zur Einleitung des „Hauptstrafverfahrens“) die aktenführende Stelle war, so erstreckt sich der Aktenumfang darüber hinaus entsprechend auf dasjenige Informationsmaterial, das dem mit der Sache befassten Spruchkörper des Gerichts als aktenführende Stelle seit dem Verfahrensbeginn bis zum Verfahrensabschluss (bzw. hinsichtlich der Vorgänge zum „Anlassstrafverfahren“: bis zur Einleitung des „Hauptstrafverfahrens“) im Zuge des Strafverfahrens vorgelegen hat.

1. Der Umfang im Allgemeinen Der hier vertretene Aktenbegriff deckt sich mit keinem der hierzu vertretenen, eingangs der Untersuchung dargestellten79 Meinungslager. Der insbesondere in Monographien befürwortete weite Aktenbegriff kommt dem herausgearbeiteten Aktenbegriff zwar nahe. Er ist zum einen jedoch nicht trennscharf (genug), was beispielsweise der Standpunkt von Jörke belegt. Ihm zufolge müsse der Beschuldigte „Kenntnis von allen, möglicherweise für die Abschlußverfügung der Ermittlungsbehörden im Vorverfahren bzw. des Gerichts im Hauptverfahren wichtigen Umstände“80 erhalten. Auch die von Paeffgen vorgenommene Umschreibung des Aktenbegriffs als eine Ansammlung der Ermittlungsergebnisse und Beweismittel, „die nach einer normativierten funktionalen Beurteilung zur Entscheidung erforderlich sind“,81 ist zu vage. Soweit von Vertretern eines relativ weiten bzw. des materiellen, funktionellen oder normativ-funktionalen Aktenbegriffs eine pauschale Einordnung der umstrittenen Spurenakten unter den Aktenbegriff befürwortet wird,82 kann dem 79

S. 97 ff. Jörke, Akteneinsicht, S. 33. 81 SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4, § 199, Rn. 4. 82 Siehe etwa Jörke, Akteneinsicht, S. 73 ff.; Winter, Reform, S. 31 f.; Hiebl, Probleme, S. 119; Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 63 f.; Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 80 ff.; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 95 ff.; SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4, § 199, Rn. 4 f., 7; LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 27, 45 ff., 51 ff., 58 ff., 65 f.; LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 5/2, § 199, Rn. 11 ff., 22 f. 80

502 D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs ebenfalls nicht gefolgt werden. Denn dieser Ansatz ist in dieser Allgemeinheit wiederum zu weit. Selbiges gilt für die Forderung von Vertretern eines tendenziell weiten Aktenbegriffs, diesen nach dem Grundsatz zu bestimmen: „Was für das Verfahren geschaffen worden ist, darf der Akteneinsicht nicht entzogen werden.“83 Nach hier vertretenem Verständnis wird der Aktenbegriff unter anderem nämlich dadurch begrenzt, dass das Informationsmaterial der Behörde bzw. dem mit der Sache betrauten Spruchkörper des Gerichts vorgelegen haben muss.84 Ob etwaige Spurenakten oder sonstige „für das Verfahren geschaffene Informationsträger“ zu den einzusehenden/vorzulegenden Akten zählen, hängt also davon ab, ob sie der Staatsanwaltschaft, die im Zeitpunkt der Einsichtsgewährung bzw. Aktenvorlage an das Gericht aktenführende Stelle ist, zur Verfügung standen. Wurde beispielsweise ein Ermittlungsverfahren gegen A von der Staatsanwaltschaft Hannover geführt, wobei im Vorfeld sog. Spurenakten entstanden sind, so wären all diese Spurenakten Aktenbestandteile, wenn A bzw. sein Verteidiger Akteneinsicht bei der Staatsanwaltschaft Hannover beantragt oder die Staatsanwaltschaft Hannover Anklage erhebt. Gibt die Staatsanwaltschaft Hannover das Verfahren aber beispielsweise an die Staatsanwaltschaft Bremen ab und werden der Staatsanwaltschaft Bremen die Spurenakten, aus welchen Gründen auch immer, nicht übersandt, so wären die bei der Staatsanwaltschaft Hannover verbliebenen Spurenakten nicht Aktenbestandteil, wenn bei der Staatsanwaltschaft Bremen Akteneinsicht beantragt wird bzw. die Staatsanwaltschaft Bremen Anklage erhebt. Wie soeben dargestellt, kann sich der Aktenumfang durch die Übernahme einer anderen Strafverfolgungsbehörde ändern. Sofern sich aus den Akten oder in sonstiger Weise Anhaltspunkte dafür ergeben, dass sich bei der ursprünglich aktenführenden Staatsanwaltschaft weitere Ermittlungsvorgänge angesammelt haben, sind diese im Ermittlungsverfahren von der nunmehr aktenführenden Staatsanwaltschaft mit Blick auf die §§ 160 Abs. 1 und 2, 161 Abs. 1 StPO jedoch regelmäßig anzufordern bzw. beizuziehen, was insbesondere für die bei der ursprünglich aktenführenden Staatsanwaltschaft verbliebenen Spurenakten zu gelten hätte. Etwaige im Zuge eines Ermittlungsverfahrens von der aktenführenden Staatsanwaltschaft erlangten Akten hängen sodann mit dem von ihr geführten Ermittlungsverfahren zusammen, da sie der aktenführenden Staatsanwaltschaft im Zuge des Ermittlungsverfahrens zugeleitet wurden, sodass diese ebenfalls Aktenbestandteil wären.85 Sofern die nunmehr aktenführende Staatsanwaltschaft von der ursprünglich ermittelnden Staatsanwaltschaft keine weiteren Ermittlungsvorgänge anfordert oder erhält, wären die Akten dem Gericht auch dann i. S. d. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vollständig vorgelegt worden, wenn die der ankla83 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 54; so auch Gröger, Akteneinsichtsrecht, S. 100; SSWStPO/Beulke, § 147, Rn. 18. 84 In diese Richtung tendiert auch B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 183. 85 So i. E. auch Hiebl, Probleme, S. 101; nach B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 186, soll es darauf ankommen, ob die Staatsanwaltschaft diese Akten bewusst beizieht.

II. Einordnung des Aktenbegriffs in den Meinungsstand

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genden Staatsanwaltschaft nicht zur Verfügung stehenden Spurenakten dem Gericht nicht übersandt werden; eine entsprechende Pflicht zur Beiziehung der bei der anderen Staatsanwaltschaft verbliebenen Spurenakten wird sich für das Gericht dann jedoch regelmäßig aus § 202 S. 1 StPO bzw. aus § 244 Abs. 2 StPO ergeben. Sofern die Anforderung der mit dem Verfahrensgegenstand zusammenhängenden Informationsträger auch seitens des Gerichts – etwa mangels Kenntnis von deren Existenz – unterbleibt und sich nach rechtskräftigem Verfahrensabschluss herausstellt, dass bei anderen Strafverfolgungsbehörden (weitere) Spurenakten oder sonstiges Ermittlungsmaterial verblieben ist, könnte der Verurteilte bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen, § 359 Nr. 5 StPO. Soweit vertreten wird, dass insbesondere Spurenakten, die der anklagenden Staatsanwaltschaft zur Verfügung standen, nicht notwendig gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegen sind86 und nur dann Aktenbestandteile darstellen, wenn die Staatsanwaltschaft sie für verfahrensrelevant erachtet,87 wohingegen der Verteidigung hinsichtlich der nicht vorgelegten Spurenakten ein Einsichtsrecht analog § 147 Abs. 1 StPO zustünde,88 kann dem nach hiesiger Untersuchung nicht gefolgt werden. Der von Teilen der Literatur vertretene89 und in der Rechtsprechung verbreitete90 formelle Aktenbegriff, nach dem der Aktenbegriff durch die jeweils im Raum stehende Tat und den Beschuldigten sowie der von der Staatsanwaltschaft zu beurteilenden Verfahrensrelevanz umgrenzt wird, ist schließlich wiederum zu eng. Ein Aktenaussonderungsrecht steht der Staatsanwaltschaft nicht zu;91 ebenso wenig erfordert die Qualifikation eines Informationsträgers bzw. einer Datei als Aktenbestandteil einen Widmungsakt der Staatsanwaltschaft,

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So i. E. wohl auch Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 27. B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 196. 88 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 196. 89 KK-StPO/Willnow, § 147, Rn. 7; Meyer-Goßner/Schmitt-StPO/Schmitt, § 199, Rn. 2; Graf-StPO/Ritscher, § 199, Rn. 7; BeckOK-StPO/Ritscher, § 199, Rn. 7; MüKoStPO/Wenske, Bd. 2, § 199, Rn. 29; Meyer-Goßner NStZ 1982, 353, 354, 356; siehe auch SSWStPO/Rosenau, § 199, Rn. 8, der dies jedoch als funktionellen Aktenbegriff bezeichnet. 90 Siehe BGHSt 30, 131, 136 ff.; BGH, Urt. v. 11.02.1987 – StB 1/87, Rn. 2, juris; BGH StV 1988, 193, 194; BGH StV 2010, 228, 229 m. Anm. Stuckenberg; BGH, Beschl. v. 28.09.2022 – 5 StR 191/22, S. 2, juris; eine Zurverfügungstellung bzw. Vorlage der gesamten Spurenakten wurde lediglich in Einzelfällen für erforderlich erachtet, siehe etwa BGH StV 1983, 186; LG Hannover StV 2015, 683, 684 f.; vereinzelt wird in der Rspr. jedoch auch ein materieller Aktenbegriff zugrunde gelegt: StGH Niedersachsen, Urt. v. 24.10.2014 – 7/13, Rn. 63, juris; in diese Richtung tendierend auch BGH NStZ 2014, 277, 281. 91 So bspw. auch Bell, Akteneinsicht, S. 71; Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 75; SKStPO/Paeffgen, Bd. 4, § 199, Rn. 7; in diesem Sinne offenbar auch BVerfG StV 2017, 361, 362; LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 30, befürwortet eine Ausklammerung von „offensichtlich völlig bedeutungslos[en]“ Vorgängen aus den Aktenbegriff, was jedoch insb. mit dem gesetzgeberischen Willen und den verfassungs- und konventionsrechtlichen Gewährleistungen nicht zu vereinbaren ist, da diese Sichtweise darauf hinausläuft, der Staatsanwaltschaft eine Aussonderungshandhabe zuzusprechen. 87

504 D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs wovon etwa Schäfer ausgeht, wenn er zwischen „geborenen“ und „gekorenen“ Akten unterscheidet.92 Der Annahme, ein aussonderungsfester Aktenbegriff sei erforderlich, um dem Gericht die ausreichende Prüfung des hinreichenden Tatverdachts entsprechend der Entscheidungsgrundlage der Staatsanwaltschaft im Zeitpunkt des Ermittlungsabschlusses zu ermöglichen, woran das Objektivitätsgebot betreffend die Staatsanwaltschaft nichts ändern könne,93 ist demgegenüber zuzustimmen. Soweit vertreten wird, der Aktenbegriff in § 147 StPO und in § 199 Abs. 2 S. 2 StPO sei deckungsgleich,94 entspricht dies ebenfalls dem hier vertretenen Begriffsverständnis. Einer analogen Anwendung von § 147 StPO auf die dem Gericht (unzulässigerweise) nicht vorgelegten Akten,95 bedarf es demzufolge nicht. Der Einwand, die Polizeibehörden müssten der Staatsanwaltschaft nicht alle Spurenakten vorlegen, sodass auch die Staatsanwaltschaft ihrerseits nicht alle zur Verfügung stehenden Spurenakten dem Gericht vorlegen müsse,96 geht fehl, da er neben der Aussonderungsfestigkeit des Aktenbegriffs nicht berücksichtigt, dass nicht die Polizeibehörde, sondern die Staatsanwaltschaft die aktenführende Stelle ist, §§ 147 Abs. 5 S. 1, 480 Abs. 1 StPO. Die Staatsanwaltschaft trägt als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“ die Verantwortung für einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf.97 Die Polizeibeamten sind – ebenso wie Beamte sonstiger Behörden, die strafverfolgend tätig sind98 – i. R. e. strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens lediglich Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft i. S. d. § 152 Abs. 1 GVG,99 sodass dort angelegte Informationsträger bzw. Dateien der Staatsanwaltschaft als aktenführende Stelle auch zur Verfügung stehen, was insbesondere in § 163 Abs. 2 S. 1 StPO zum Ausdruck kommt.100 Die strafverfahrensrechtlichen Akten werden von der Staatsanwaltschaft und nicht von ihren Ermittlungspersonen geführt, mögen etwaige Vorgänge zunächst auch von den Ermittlungspersonen bzw. Polizeibehörden angelegt werden.101 Diese „Selbstverständlichkeit“ betonte der Gesetzgeber auch in der Gesetzesbegründung zur jüngsten Reform des § 32e StPO.102 Eine Zurückhaltung von Akten durch Poli-

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Schäfer NStZ 1984, 203, 205. Siehe Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 53 f.; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 180; LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 48; ähnlich Meyer, Akteninformationsrecht, S. 97 ff.; SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 27. 94 Hiebl, Probleme, S. 102; LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 48; a. A. etwa Beulke, FS Dünnebier, S. 297. 95 Siehe bspw. Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 63 f.; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 82 ff. 96 Siehe B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 194. 97 Siehe nur BGH NJW 2009, 2612, 2613. 98 Vgl. für Zollfahndungsämter und Steuerfahndungen etwa § 404 S. 2 AO. 99 Statt aller MüKo-StPO/Brocke, Bd. 3/2, GVG, § 152, Rn. 2 ff. m. w. N. 100 So auch Lauterwein, Akteneinsicht, S. 141; Hiebl, Probleme, S. 100 f. 101 Siehe hierzu auch Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 22. 102 Siehe BT-Drs. 19/27654, 56: „Im Bereich der Polizei ist deshalb eine Übertragung mit 93

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zeibehörden gegenüber der aktenführenden Staatsanwaltschaft und den übrigen Verfahrensbeteiligten führte mithin zur unzulässigen Aktenunvollständigkeit.103 Etwas anderes gilt lediglich für Informationsträger bzw. Dateien/Daten, die eine Behörde nicht im Zuge der Strafverfolgung – also nicht repressiv, sondern präventiv bzw. rein verwaltungsrechtlich – erlangt oder erstellt; derartige Vorgänge stellen sog. außerstrafprozessuale Vorgänge dar, die lediglich dann Strafverfahrensaktenbestandteile sind, wenn sie der Staatsanwaltschaft oder ihren Ermittlungspersonen tatsächlich zur Verfügung gestellt worden sind. Andererseits ist das Begriffsverständnis, das von Vertretern eines eher weiten Aktenbegriffs zugrunde gelegt wird, zum Teil noch zu eng. Winter etwa zählt zu den Akten „das gesamte, vom ersten Zugriff der Polizei an gesammelte für und gegen den Beschuldigten sprechende Material unter Einbeziehung sämtlicher Beiakten.“104 Nach hier vertretenem Begriffsverständnis zählen zu den einzusehenden und vorzulegenden Akten darüber hinaus auch die Informationsträger, die der aktenführenden Staatsanwaltschaft im Zuge eines Ermittlungsverfahrens vorgelegen haben, das den Anlass für die Einleitung des betreffenden Ermittlungsverfahrens dargestellt hat, wobei sich der Umfang auf diejenigen Informationsträger erstreckt, die der aktenführenden Staatsanwaltschaft seit Beginn des vorausgegangenen „Anlassstrafverfahrens“ bis zur Einleitung des betreffenden Ermittlungsverfahrens vorgelegen haben. Schließlich zählen nach dem entwickelten Aktenbegriff auch diejenigen Informationsträger zu den Akten, die der aktenführenden Staatsanwaltschaft im Zuge eines Strafverfahrens vorgelegen haben, das sich auf denselben Ermittlungsgegenstand wie das betreffende Strafverfahren bezieht. Demzufolge fallen unter den Aktenbegriff auch nicht nur die Informationsträger, die seit dem ersten Zugriff i. S. d. § 163 StPO, mithin seit Beginn des konkreten Ermittlungsverfahrens,105 entstanden sind.106 Denn nach zuvor Gesagtem können mit dem Strafverfahren auch Vorgänge inhaltlich zusammenhängen und damit Aktenbestandteil sein, die vor diesem ersten Zugriff entstanden sind. Dass zu den einzusehenden Akten auch Vorgänge zu anderen Taten (desselben Beschuldigten) zählen können,107 entspricht i. E. der hier herausgearbeiteten De-

qualifizierter Signatur nicht erforderlich, zumal § 32e StPO ausweislich der Überschrift die Übertragung von Dokumenten ,zu Aktenführungszwecken’ regelt. Die Polizei führt jedoch keine Justizakten und hat deshalb nicht die Aufgabe, solche Dokumente aus der Papierform in die elektronische Form zu übertragen.“ 103 So i. E. auch LG Berlin StV 2014, 403, 405; KK-StPO/Schneider, § 199, Rn. 10 m. w. N.; OLG Köln StV 2015, 677, 677; BVerfGE 112, 304, 320; BGH Ermittlungsrichter StV-S 2021, 128, 130 f.; in diesem Sinne wohl auch BGH StV 2010, 228, 229 m. Anm. Stuckenberg. 104 Winter, Reform, S. 31. 105 Bell, Akteneinsicht, S. 67. 106 So bspw. auch MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 11; SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 15; SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 24, 38. 107 Siehe auch Winter, Reform, S. 31.

506 D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs finition. Das ist regelmäßig anzunehmen, wenn eine andere Tat mit Blick auf das betreffende Strafverfahren gem. § 154 Abs. 1 Nr. 1 StPO eingestellt wird oder die andere Tat umgekehrt die Bezugssanktion darstellt, da der Sachbearbeiter in beiden Fällen hierfür die Vorgänge zu der anderen Tat zur Kenntnis genommen hat. Die Qualifikation von Vorgängen zu anderen Taten als Aktenbestandteile ist auch dann anzunehmen, wenn im Laufe eines Ermittlungsverfahrens von mehreren prozessualen Taten ausgegangen wird und zum Teil eingestellt wird, sei es nach § 170 Abs. 2 StPO oder (vorläufig) gem. der §§ 153 ff. StPO. Darüber hinaus sind auch Taten anderer Beschuldigter im Falle eines inhaltlichen Zusammenhanges i. S. d. obigen Definition Aktenbestandteil. Für die Einordnung als Aktenbestandteil ist es mithin nicht entscheidend, ob die Informationsträger von der aktenführenden Staatsanwaltschaft oder deren Ermittlungspersonen in einem gemeinsamen Ermittlungsvorgang an- bzw. abgelegt werden, die Beschuldigten im weiteren Verlauf gemeinsam angeklagt oder die Verfahren abgetrennt werden108 oder ob gegen einen der Beschuldigten das Verfahren eingestellt wird.109 Ob zwischen den verschiedenen Strafverfahren ein Sachzusammenhang i. S. d. § 3 StPO besteht, ist ebenfalls nicht entscheidend.110 Vielmehr sind alle Informationsträger, die mit dem Strafverfahren nach vorgenanntem Maßstab inhaltlich zusammenhängen, Aktenbestandteile. Insofern ist auch der Annahme, außerstrafprozessual angelegte Vorgänge, wie Verwaltungs- oder Steuerakten, seien Aktenbestandteile,111 zuzustimmen, soweit diese der aktenführenden Staatsanwaltschaft tatsächlich zur Verfügung standen. Unbeachtlich ist für die Qualifikation als Aktenbestandteil demgegenüber, ob die Informationsträger einem Beweisverwertungsverbot unterliegen.112 Da es sich bei den vorzulegenden/einzusehenden Akten nach hier vertretenem Verständnis um die Informationsträger/Dateien handelt, die der Staatsanwaltschaft spätestens mit Erhebung der Anklage zur Verfügung standen, kann es zu folgender Problematik kommen: Gegen den Beschuldigten A, dessen Ermittlungsverfahren mit dem Ermittlungsverfahren gegen B inhaltlich zusammenhängt, wird ermittelt. Nun wird B angeklagt und gegen A wird weiter ermittelt, sodass lediglich diejenigen Informationsträger aus dem Ermittlungsverfahren gegen A vorzulegende/einzusehende Akten in dem Verfahren gegen B sein können, die im Zeitpunkt der Anklagerhebung entstanden sind. Denn hierbei han-

108 Siehe auch Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 65 f.; Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 77; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 101; offen gelassen von BGH StV 2010, 615, 615 f. 109 So z. T. auch SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 17; MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 14. 110 So aber B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 203 f. 111 Siehe Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 55; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 81; MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 13, 22; Marberth-Kubicki StraFo 2003, 366, 369 f.; Lesch StraFo 2021, 496, 499. 112 So aber offenbar Bell, Akteneinsicht, S. 48, im Zshg. mit Beweisstücken; SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4, § 199, Rn. 7; a. A. wie hier LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 27.

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delt es sich um den Informationsumfang, über den die anklagende Staatsanwaltschaft im Zeitpunkt der Anklageerhebung verfügte. In diesem Fall wird im Zwischen- oder Hauptverfahren jedoch zu prüfen sein, ob die gerichtliche Anforderung bzw. Beiziehung der mittlerweile „gewachsenen“ Ermittlungsakten, die das Verfahren gegen A betreffen, zur Aufklärung der angeklagten Tat(en) erforderlich ist. Diese Problematik betrifft mithin nicht die Frage der Aktenvollständigkeit, sondern den Gewährleistungsgehalt des § 202 S. 1 StPO bzw. des § 244 Abs. 2 StPO.113

2. Beweisstücke Aktenbestandteile sind die tatsächlich erlangten/erstellten, also die in diesem Sinne originalen Informationsträger.114 Demgemäß zählen zu den Akten auch etwaige Beweisstücke i. S. d. § 147 Abs. 1 StPO, wobei diese der Verteidigung in Kopie (und als solche gekennzeichnet) zu überlassen und dem Gericht demgegenüber im Original vorzulegen sind. Die Beweisstückkopie dient dabei lediglich als Aktenbestandteils-Ersatz. Soweit vertreten wird, Beweisstücke, zu denen etwa Ton- und Bildaufzeichnungen gehörten,115 seien keine Aktenbestandteile, sehr wohl aber deren Kopien,116 kann dem nicht gefolgt werden. Nach hiesiger Untersuchung liegt den §§ 147, 32f StPO eine dem vorerwähnten Ansatz genau entgegengesetzte Konzeption zugrunde. Die Unterscheidung zwischen Akten und Beweisstücken danach zu treffen, ob Informationsträger mit Beweisgehalt aufgrund ihrer Beschaffenheit (dann Beweisstück) oder aufgrund ihres Inhaltes (dann Aktenbestandteil) verfahrensrelevant sind,117 überzeugt mit Blick auf die Ausgestaltung der §§ 147, 32f StPO ebenfalls nicht. Gleiches gilt für die Unterscheidung danach, ob der Informationsträger reproduzierbar ist oder ob der Informationsträger im Eigentum des Staates oder eines Dritten steht.118 Der Annahme, bei Beweisstücken, wozu auch Dateien zählten,119 handele es sich grundsätzlich nicht um Aktenbestandteile,120 kann schließlich ebenfalls nicht gefolgt werden. 113

Weitergehender als hier offenbar MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 14. So i. E. bspw. auch B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 249; SKStPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 70. 115 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 224. 116 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 57 f., 72 f.; so auch Bell, Akteneinsicht, S. 13 f., 39, 67, 71, wobei sie auf S. 155 auch anführt, dass im Einzelfall auch eine Beweisstückkopie „Beweisstück“ und nicht Aktenbestandteil i. S. d. § 147 Abs. 1 StPO sein könne. 117 So etwa Riess, FG Peters II, S. 122; M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 61 f.; SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 25; MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 23a; Gercke StraFo 2014, 94, 98; Knauer/Pretsch NStZ 2016, 307, 308; siehe auch KG JR 1992, 123, 124; ähnlich LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 118; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 219 ff. 118 Siehe hierzu etwa Schneider Jura 1995, 337, 341 m. w. N.; Schäfer NStZ 1984, 203, 204. 119 So etwa Bell, Akteneinsicht, S. 15: „unselbstständige Beweisstücke“. 120 So etwa Lauterwein, Akteneinsicht, S. 141. 114

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3. Sonderkonstellation: Ausgangsdokumente Von der eingangs dargestellten Definition ist bei Ausgangsdokumenten i. S. d. § 32e Abs. 1 StPO zum Teil eine Ausnahme zu machen. Diese sind ab dem Zeitpunkt ihrer Übertragung nämlich grundsätzlich keine Aktenbestandteile mehr; Aktenbestandteil ist dann grundsätzlich nur noch das übertragene Dokument. Eine Rückausnahme hiervon stellen solche Ausgangsdokumente dar, die als Beweismittel sichergestellt worden sind (und damit zugleich als Beweisstücke i. S. d. § 147 Abs. 1 StPO zu qualifizieren sind). Solche Ausgangsdokumente bleiben auch dann Aktenbestandteile, wenn sie gem. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO in die entsprechende Aktenform übertragen werden sollten. Dem Gericht sind sie im Original vorzulegen und der Verteidigung ist in dem Fall, dass von der Übertragungsmöglichkeit nach § 32e Abs. 1 S. 2 StPO kein Gebrauch gemacht wird, eine Kopie zu überlassen – wie es eben auch bei den sonstigen Beweisstücken erforderlich ist.

4. Sonderkonstellation: Handakten und vergleichbare Informationsträger Von der Staatsanwaltschaft rein innerdienstlich erlangte/angelegte Vorgänge sind ebenfalls nicht Aktenbestandteil. Derartige Informationsträger werden als sog. Handakten bezeichnet und verbleiben ausschließlich im Besitz der Staatsanwaltschaft. Soweit vertreten wird, dass sog. Handakten keine Aktenbestandteile darstellen,121 wird diese Auffassung mithin hier geteilt. Entsprechend den Ausführungen etwa von Bahnsen122 hat der Inhalt von Handakten rein innerdienstliche Bedeutung, sodass insoweit kein Bedürfnis zur Herstellung von Wissensparität besteht. Die hierin abgelegten Vorgänge stellen nach hiesigem Begriffsverständnis jedoch ausschließlich etwaige Aktendoppel oder sonstige Informationsträger dar, die zu rein innerdienstlichen/organisatorischen Zwecken angelegt/erlangt worden sind. Entsprechend verhält es sich mit rein gerichtsinternen Informationsträgern, wie beispielsweise gerichtlichen Mitschriften der Hauptverhandlung zur „Gedächtnisstütze“.123 Die Bedenken von Hiebl gegen das Ausklammern von Handakten aus dem Aktenbegriff, insbesondere der von ihm angeführte Aspekt, dass der Staatsan-

121 Jörke, Akteneinsicht, S. 73; Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 24; Lauterwein, Akteneinsicht, S. 141 f.; so grds. auch Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 85 f., wobei er diese jedoch als Aktenbestandteil ansieht, sofern sie von der Staatsanwaltschaft zu den Hauptakten genommen worden seien. 122 Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 59 f.; siehe auch Meyer, Akteninformationsrecht, S. 104; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 197 ff.; ähnlich Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 24. 123 So bspw. auch Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 60; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 104; BGH StV 2010, 228, 229 m. Anm. Stuckenberg.

II. Einordnung des Aktenbegriffs in den Meinungsstand

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waltschaft ein Auswahlermessen nicht zustünde und § 147 StPO die Transparenzherstellung bezwecke,124 sind mit dem herausgearbeiteten Handaktenbegriffsverständnis weitestgehend überwunden. Zuzugestehen ist zwar, dass der Staatsanwaltschaft ein Aussonderungsermessen nicht zusteht, mit dem Ausklammern von Handaktenbestandteilen aus dem Aktenbegriff indes eine eigenständige Bewertung der Staatsanwaltschaft notwendig einhergeht. Einen auch innerdienstliche Vorgänge umfassenden Informationsanspruch begründet § 147 StPO sowie das einschlägige Verfassungs- und Konventionsrecht jedoch nicht.125 Da es sich bei Handaktenbestandteilen nach hier vertretener Auffassung jedoch lediglich um Aktendoppel oder rein organisationsbezogene Informationsträger handelt, für die ein berechtigtes Informationsbedürfnis auf Seiten des Gerichts oder der Verteidigung nicht besteht, ist der verbleibende, marginale Beurteilungsspielraum hinnehmbar. Das Bedürfnis eines Einsichtsrechts in Handakten analog § 147 StPO126 besteht demzufolge nicht. Gleiches gilt für vergleichbare Informationsträger, wie Senatshefte oder Ähnliches.127

5. Sonderkonstellation: Elektronische Dokumente und sonstige Dateien bzw. Daten Eingereichte elektronische Dokumente i. S. d. §§ 32a f. StPO sind jedenfalls ursprünglich auf einem externen Informationsträger gespeichert gewesen. Sobald sie bei einer Strafverfolgungsbehörde oder einem Gericht eingehen, sind sie auf einem dortigen Informationsträger (Server/Festplatte) gespeichert. Ebenso kann es sich mit sonstigen Dateien bzw. Daten verhalten. In diesem Fall wäre ausnahmsweise nicht der Original-Informationsträger im vorbenannten Sinne, sondern lediglich die inhaltlich mit dem jeweiligen Strafverfahren zusammenhängende (Roh-)Datei bzw. die mit diesem zusammenhängenden (Roh-)Daten Aktenbestandteil.128 Die soeben benannten Fälle zeichnen sich – abstrakt formuliert – dadurch aus, dass auf den Informationsträgern (zumindest in aller Regel) nicht ausschließlich Dateien/Daten gespeichert worden sind, die nach der zuvor genannten Definition inhaltlich mit dem Strafverfahren zusammenhängen. Sofern bei der Strafverfolgungsbehörde ein elektronisches Dokument eingereicht wird, wäre der originale Informationsträger, auf dem das Dokument gespeichert worden ist, ausnahms-

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Hiebl, Probleme, S. 123 ff. A. A. M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 56, wonach der Zweck von § 147 StPO es gebiete, Handakten als Aktenbestandteile einzuordnen. 126 Hierfür spricht sich im Einzelfall etwa B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 200, aus. 127 So auch die ganz h. M., siehe nur LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 34 m. w. N.; BGH StV 2010, 228, 229 m. Anm. Stuckenberg. 128 So i. E. auch SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 25, 74 m. w. N.; BeckOK-StPO/Wessing, § 147, Rn. 17; Rückert, Digitalisierung, S. 30; a. A. Bell, Akteneinsicht, S. 15. 125

510 D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs weise also nicht vorzulegender/einzusehender Aktenbestandteil, sondern lediglich die Dateien bzw. Daten selbst. Diese Dateien bzw. Daten müssten zur Vervollständigung der vorzulegenden/einzusehenden Akten also entweder auf einem gesonderten Informationsträger abgespeichert oder in die entsprechende Aktenform übertragen werden, sodass sie dem Gericht und der Verteidigung zur Verfügung stehen.129 In den Fällen, in denen lediglich die abgespeicherten Dateien/ Daten selbst Aktenbestandteile sind, erfolgt eine Übersendung des originalen Aktenbestandteils genau genommen also weder an die Verteidigung noch an das Gericht, da es sich bei der Abspeicherung dieser Daten auf einem gesonderten Datenträger oder im Falle der Übertragung in die entsprechende Aktenform gem. § 32e Abs. 1 StPO immer um eine Kopie dieser Daten handeln wird. Unter Berücksichtigung der IT-forensischen Standards wird es sich bei den zur Verfügung gestellten Datenkopien jedoch in jedem Fall um eine inhaltsgleiche Kopie handeln.

6. Verortung der i. R. e. TKÜ-Maßnahme erhobenen Daten in den entwickelten Aktenbegriff (insbesondere TKÜ-Aufzeichnungen) Insofern stellen TKÜ-Aufzeichnungen in jedem Fall Aktenbestandteile dar.130 Aktenbestandteile sind jedoch nicht nur die i. R. e. Telekommunikationsüberwachungsmaßnahme abgehörten und aufgezeichneten Telefongespräche. Jegliche Dateien bzw. Daten, die im Rahmen einer Telekommunikationsüberwachungsmaßnahme der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestanden haben, sind Aktenbestandteil. Zu denken ist hierbei nicht nur an die „klassische“ Kommunikationsüberwachung gem. § 100a Abs. 1 S. 1 StPO, sondern bspw. auch an die Erhebung von Standortdaten gem. § 100g Abs. 1 S. 1 und 4 StPO oder die Funkzellenabfrage gem. § 100g Abs. 3 StPO.131 Ob es sich bei den erlangten Informationsträgern bzw. Dateien/Daten um „normale“ Aktenbestandteile oder um solche, die zugleich „Beweisstücke“ i. S. d. § 147 Abs. 1 StPO darstellen,132 handelt, hängt von den tatsächlichen Umständen ab; in jedem Fall ist solches Informationsmaterial jedoch Aktenbestandteil. 129 Ähnlich i. E. auch SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 25, 74 m. w. N.; a. A. B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 223, wonach Dateien aus Gründen der Aktenvollständigkeit lediglich auszudrucken und zu den Akten zu nehmen seien. 130 So i. E. auch BGHSt 36, 305, 310; BGH StV 2010, 228, 229 m. Anm. Stuckenberg; LG Hannover StV 2013, 79, 79; LG Itzehoe StV 1991, 555, 555; LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 5/2, § 199, Rn. 11; MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 11, 23a; SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 16; Graf-StPO/Wessing, § 147, Rn. 17; Wölky StraFo 2013, 493, 495 f.; so wohl auch Gercke StV 2015, 13, 14; ähnlich Meyer-Goßner/Schmitt-StPO/Schmitt, § 147, Rn. 14, 15, 19c; a. A. BGH StV 2015, 10, 12 m. Anm. Gercke. 131 Siehe zum Anwendungsbereich und Umfang dieser TKÜ-Maßnahmen Meyer-Mews, TKÜ, S. 15 ff., 28 ff. 132 Diese Rechtsauffassung wird im Ansatz auch von OLG Stuttgart NStZ-RR 2013, 217, geteilt.

II. Einordnung des Aktenbegriffs in den Meinungsstand

511

Sind die TKÜ-Daten der Strafverfolgungsbehörde von Beginn an ausschließlich auf einem (mobilen) Informationsträger zur Verfügung gestellt worden, so wäre dieser Informationsträger (einschließlich der hierauf gespeicherten Dateien bzw. Daten) Aktenbestandteil. Würde man diesen Informationsträger der Verteidigung übersenden, so bestünde die Gefahr eines Beweismittelverlustes, sodass es sich bei diesem Aktenbestandteil zugleich um ein Beweisstück i. S. d. § 147 Abs. 1 StPO handelte, wovon der Verteidigung zwecks Integritätsschutzes eine Kopie als Aktenbestandteils-Ersatz zu übersenden wäre,133 wohingegen dem Gericht der Informationsträger im Original vorzulegen wäre. Sind die TKÜ-Daten demgegenüber von Beginn an auf einem Server oder einem gesonderten Datenträger der Strafverfolgungsbehörde gespeichert, auf dem (in aller Regel) auch andere Dateien abgespeichert sind, die mit dem jeweiligen Strafverfahren nicht inhaltlich zusammenhängen, so wären lediglich die auf dem Datenträger gespeicherten Dateien bzw. Daten selbst Aktenbestandteile. Da der Original-Informationsträger bei derartigen Aktenbestandteilen der Server/die Festplatte der Staatsanwaltschaft ist und dieser in Gänze ausnahmsweise weder der Verteidigung noch dem Gericht zur Verfügung gestellt werden kann, sind diese Dateien auf einen gesonderten Datenträger bzw. in die entsprechende Aktenform (§ 32e Abs. 1 StPO) zu übertragen. Da Gesprächsaufzeichnungen zur Wiedergabe in verkörperter Form nicht geeignet sind und deshalb nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers keine elektronischen Dokumente darstellen, die nach § 32e Abs. 1 StPO in die entsprechende Aktenform übertragen werden könnten,134 können diese Dateien zwecks Übersendung lediglich auf einem gesonderten Datenträger übertragen werden. Weiteres i. R. e. Telekommunikationsüberwachungsmaßnahme erlangtes Datenmaterial kann ggfs. gem. § 32e Abs. 1 StPO in die entsprechende Aktenform übertragen werden. Sowohl die auf einem gesonderten Datenträger übertragenen Gesprächsaufzeichnungen als auch etwaige weitere erlangte Daten, die ggfs. ein elektronisches Dokument darstellen und gem. § 32e Abs. 1 StPO übertragen worden sind, wären jedoch keine Beweisstücke i. S. d. § 147 Abs. 1 StPO. Denn bei einem Abhandenkommen oder einer Beschädigung dieser übertragenen TKÜ-Daten (samt der Gesprächsaufzeichnungen) würde es nicht zu einem Beweismittelverlust kommen können. Die Dateien sind schließlich weiterhin auf dem Server/der Festplatte der Strafverfolgungsbehörde besonders gesichert. Die auf einem gesonderten Datenträger übertragenen TKÜ-Daten würden – wie sonstige Kopien – lediglich einen Aktenbestandteils-Ersatz bzw. eine Aktenbestandteils-Kopie darstellen, die – vorausgesetzt, es stehen der Übersendung der TKÜ-Daten keine sonstigen Gründe entgegen, was gesondert untersucht wird – dem Gericht und der Verteidigung zu übersenden wären; die gem. § 32e Abs. 1 StPO in die entsprechende Aktenform übertragenen TKÜ-Daten wären Aktenbestandteile, die

133 134

Vorausgesetzt, der Einsichtnahme stehen keine Gründe entgegen, siehe S. 585 ff. BT-Drs. 18/9416, 45.

512 D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs ebenfalls sowohl dem Gericht als auch der Verteidigung zu übersenden wären. Die TKÜ-Daten, die auf einem gesonderten Datenträger oder in die entsprechende Aktenform übertragen worden sind, würden also im „Original“ bei den Strafverfolgungsbehörden verbleiben, sodass dem Gericht und der Verteidigung zur Verfügung gestellte TKÜ-Daten keine Beweisstücke, sondern lediglich einen Aktenbestandteils-Ersatz (bzw. im Falle der Übertragung nach § 32e Abs. 1 StPO einen „normalen“ Aktenbestandteil) darstellen würden. Auf Anfrage bei Bediensteten der Staatsanwaltschaft135 wurde dem Verfasser mitgeteilt, dass Gesprächsaufzeichnungen und die übrigen der i. R. e. TKÜMaßnahme erhobenen Daten in der Praxis auf einem hierfür vorgesehenen Server oder einer Festplatte bei den Strafverfolgungsbehörden gesichert werden, sodass es sich bei den in Streit stehenden TKÜ-Aufzeichnungs-Datenträgern von Beginn an lediglich um eine Kopie des auf dem Original-Informationsträger (Server/Festplatte) gespeicherten Datenmaterials handelt. Demgemäß sind also zum einen lediglich die Aufzeichnungsdateien selbst (und nicht der Server bzw. die Festplatte als originaler Informationsträger) Aktenbestandteile. Zum anderen handelt es sich bei diesen Dateien bzw. Daten zwar zugleich um Beweisstücke, da deren Abhandenkommen/Beschädigung zu einem Beweismittelverlust führen würde; jedoch stellen die Datenträger, auf die die TKÜ-Daten von dem Server/der Festplatte übertragen worden sind, von vornherein nur einen Aktenbestandteils-Ersatz und insbesondere keine Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO dar, weil die Gefahr eines Beweismittelverlustes aufgrund der Sicherung auf dem Server/der Festplatte nicht besteht.136 Der Verteidigung müsste von dem Datenträger, dessen Inhalt eine Kopie der auf dem Server/der Festplatte gesicherten Dateien/Daten darstellt, mithin keine Kopie als Aktenersatz übersandt werden, da es sich bei diesem Datenträger bereits um einen Aktenersatz handelt – auch wenn es praktisch keinen spürbaren Unterschied darstellen wird, von der Kopie zwecks Einsichtsgewährung eine weitere Kopie zu erstellen. Werden i. R. e. Telekommunikationsüberwachung erhobene Daten, die sich zur Übertragung gem. § 32e Abs. 1 StPO eignen, in die entsprechende Aktenform übertragen, würde das übertragene Dokument nicht Aktenbestandteils-Ersatz, sondern Aktenbestandteil sein. Auch in diesem Fall handelte es sich jedoch nicht um ein Beweisstück, da das Ausgangsdokument (die Original-Datei) bei einem Abhandenkommen oder einer Beschädigung des übertragenen Dokumentes immer noch vorhanden wäre, sodass kein Beweismittelverlust einträte. 135 Der Verfasser erkundigte sich über die Art und Weise der Speicherung der TKÜ-Daten bei Bediensteten der Staatsanwaltschaft Bremen während des Rechtsreferendariats im Jahr 2021. 136 So auch Wettley/Nöding NStZ 2016, 633, 634; Wu HRRS 2018, 108, 111; insofern geht die Rechtsauffassung von BGH StV 2015, 10, 12 m. Anm. Gercke, tatsächlich und rechtlich fehl. Gleiches gilt für OLG Karlsruhe StV 2013, 74, 75 m. abl. Anm. Beulke/Witzigmann; OLG Nürnberg StraFo 2015, 102, 103 m. abl. Anm. Wesemann/Mehmeti; OLG Frankfurt, Beschl. v. 13.09.2013 – 3 Ws 897/13, Rn. 6 ff., juris; KG NStZ 2016, 693, 694 f.; OLG Frankfurt StV 2016, 148, 149 m. Anm. Killinger.

II. Einordnung des Aktenbegriffs in den Meinungsstand

513

In der Literatur wird im Kontext des Einsichtsrechts in TKÜ-Aufzeichnungen schließlich ausgeführt, dass etwaige Kopien von TKÜ-Daten kein Beweisstück i. S. d. § 147 Abs. 1 StPO bzw. kein Beweismittel, auch kein Beweissurrogat, darstellten.137 Dieser Einwand betrifft jedoch nicht unmittelbar die Frage der Aktenvollständigkeit, sondern den Beweisgehalt von etwaigen Datenkopien im Allgemeinen. Insoweit sei auf Folgendes hingewiesen: Die Kopie eines digitalen Beweismittels kann nur dann in einem Strafverfahren beweisrechtlich als Beweismaterial verwendet werden, wenn es dem Gericht möglich ist, die Authentizität und Integrität des Datenmaterials zu überprüfen.138 Problematisch ist bei digitalem Beweismaterial, dass sich durch einen Zugriff auf den Datenträger die hierauf gespeicherten Daten verändern können;139 jedenfalls durch das einfache Erstellen einer Kopie wird sich das Rohdatenmaterial in aller Regel verändern.140 Demzufolge handelt es sich nach bisheriger Verfahrenspraxis bei den letztlich dem Gericht und der Verteidigung zur Verfügung gestellten Daten regelmäßig nicht mehr 1:1 um dasjenige Beweismaterial, das die Strafverfolgungsbehörden ursprünglich erlangt haben. Es wird sich bei dem bisher von den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung gestellten Datenmaterial regelmäßig also nicht (mehr) um das reine Rohdatenmaterial handeln. Zum einen besteht also das Problem, wie man dem Gericht und der Verteidigung eine inhaltsgleiche Kopie des Datenmaterials zur Verfügung stellt, und zum anderen stellt sich die Frage, wie das Gericht die Authentizität des vorgelegten Datenmaterials überprüfen kann. Wie bereits ausgeführt wurde, lässt sich die praktische Realisierung der Übersendung einer inhaltsgleichen Kopie durch die Anfertigung eines Datenträgerabbildes nach IT-forensischen Maßstäben realisieren. Das duplizierte Datenmaterial stellt 1:1 das originale Datenmaterial dar. Das Datenmaterial ist unabhängig davon, ob es als Beweismaterial dient, zu Aktenführungszwecken nach IT-forensischen Grundsätzen zu duplizieren. Dies ergibt sich aus Folgendem: Der Aspekt der Datenintegrität und -authentizität wurde vom Gesetzgeber in den untersuchten Gesetzesmaterialen zu § 32e Abs. 3 S. 3 StPO aufgenommen,141

137

Meyer-Mews, TKÜ, S. 50. Eingehend Basar, FS Wessing, S. 642; Heinson, IT-Forensik, S. 146 ff.; Kipker/Bruns MMR 2022, 363, 365; Rückert, Digitalisierung, S. 27 f. 139 Basar, FS Wessing, S. 642, 644 f. m. w. N.; Kipker/Bruns MMR 2022, 363, 364 f. m. w. N.; siehe auch Leitfaden „IT-Forensik“ des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (Version 1.0.1, Stand: März 2011), S. 26, abrufbar unter: https://www.bsi.bund.de/S haredDocs/Downloads/DE/BSI/Cyber-Sicherheit/Themen/Leitfaden IT-Forensik.pdf;jsess ionid=2FF382566E17E9472B5601F01151794B.internet082? blob=publicationFile&v=1; letztes Abrufdatum: 20.01.2023. 140 Eingehend Heinson, IT-Forensik, S. 43, 52, 55, 140, 147, 204, 215. 141 BT-Drs. 18/9416, 54: „Für den weiteren Verfahrensgang ist – anders als bei der Übertragung in entgegengesetzter Richtung – nicht die Dokumentation eines bestimmten eingehaltenen Druck- oder Kopierverfahrens bedeutsam, sondern vielmehr das Ergebnis der Authentizitäts- und Integritätsprüfung des Ausgangsdokuments zu sichern, da diese Informa138

514 D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs in der Begründung zu § 32b Abs. 1 S. 2 StPO n. F. erneut aufgegriffen142 und kommt auch in § 32e Abs. 2 und 3 StPO zum Ausdruck. Gem. § 32e Abs. 3 S. 1 StPO ist bei der Übertragung eines nicht-elektronischen Ausgangsdokumentes in ein elektronisches Dokument das übertragene Dokument mit einem Übertragungsnachweis zu versehen, aus dem sich das angewandte Verfahren und die bildliche/inhaltliche Übereinstimmung ergibt. Bei der Übertragung elektronischer Dokumente in ein anderes Aktenformat ist in den Akten zu vermerken, welches Ergebnis die Prüfung der Authentizität und Integrität des Ausgangsdokuments erbracht hat, § 32e Abs. 3 S. 3 StPO. Ferner ergibt sich aus § 32e Abs. 2 StPO, dass bei einer Übertragung von Ausgangsdokumenten zur Aktenführung nach dem fortschreitenden Stand der Technik – wobei sich die technischen Anforderungen nach dem gesetzgeberischen Willen aus den Technischen Richtlinien des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik ergeben143 – sicherzustellen ist, dass das ursprüngliche und das übertragene Dokument bildlich und inhaltlich übereinstimmen. Da der Gesetzgeber einerseits davon ausgeht, dass die dem Gericht vorzulegenden und der Verteidigung zur Verfügung zu stellenden Akten das ursprünglich erlangte und damit unveränderte Informationsmaterial (die Akten in Originalform) darstellen, andererseits das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik in seinen Technischen Richtlinien – auf die sich der Gesetzgeber bei der Einführung des § 32e Abs. 2 StPO, und demzufolge auch bei der Übertragung von Datenmaterial, bezogen hat144 – ausführt, dass sich das Datenmaterial durch einen Zugriff hierauf verändern könne,145 weshalb das Datenmaterial unter Zuhilfenahme eines sog. Writeblockers zu duplizieren bzw. ein entsprechendes

tionen dem übertragenen Dokument nicht entnommen werden können. Es ist hierbei zu prüfen, ob das elektronische Ausgangsdokument während des Übermittlungsvorgangs verändert wurde (Integrität) und wer als dessen Aussteller oder Signierender zu identifizieren ist (Authentizität).“ 142 BT-Drs. 19/27654, 55: „Die Gewährleistung der Integrität und Authentizität von Dokumenten kann auch nach Einführung elektronischer Dokumente und Akten auf anderem Wege und häufig zuverlässiger sichergestellt werden als durch das Pendant der handschriftlichen Unterzeichnung. Gerade die elektronische Datenverarbeitung bietet zahlreiche Möglichkeiten, die nachträgliche Veränderung von Dokumenten anhand entsprechender Metadaten zu überprüfen.“ 143 BT-Drs. 18/9416, 53. 144 BT-Drs. 18/9416, 53: „Für die Rechtsprechung stellt die Technische Richtlinie des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) zum „rechtssicheren ersetzenden Scannen“ (TR RESISCAN) Hinweise dafür bereit, welche technischen Anforderungen und organisatorischen Vorgaben ein dem jeweiligen Stand der Technik entsprechendes Verfahren genügen muss.“ 145 Siehe Leitfaden „IT-Forensik“ des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (Version 1.0.1, Stand: März 2011), S. 26, abrufbar unter: https://www.bsi.bund.de/S haredDocs/Downloads/DE/BSI/Cyber-Sicherheit/Themen/Leitfaden IT-Forensik.pdf;jsess ionid=2FF382566E17E9472B5601F01151794B.internet082? blob=publicationFile&v=1; letztes Abrufdatum: 20.01.2023.

II. Einordnung des Aktenbegriffs in den Meinungsstand

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„Image“ (Abbild) zu erstellen sei,146 ist generell zu fordern, dass Datenmaterial zu Aktenführungszwecken umgehend nach den aufgezeigten IT-forensischen Grundsätzen „eingefroren“ wird. Hierdurch wird sichergestellt, dass das im weiteren Verlauf dem Gericht und der Verteidigung zur Verfügung gestellte Datenmaterial dem ursprünglich erlangten (Roh-)Datenmaterial – welches Aktenbestandteil ist – entspricht. Auch aus Gründen der verfassungs- und konventionsrechtlichen Gewährleistungen, die verlangen, die Akten in unverfälschter Weise zur Verfügung zu stellen, ist ein derartiges Duplikationsverfahren im Ergebnis zu fordern. Bei Berücksichtigung der vorgenannten Aspekte wäre sichergestellt, dass das Datenmaterial generell authentisch im Sinne der vorerwähnten IT-forensischen Maßstäbe ist.147 Das angewandte Duplikationsverfahren ist gem. § 32e Abs. 3 S. 1 StPO analog zu dokumentieren. Die Annahme, es handele sich bei dem zur Verfügung gestellten Datenmaterial 1:1 um das ursprünglich erlangte Datenmaterial, muss bei herkömmlichen Aktenbestandteilen nicht bewiesen werden. Die Staatsanwaltschaft muss die Echtheit der Aktenbestandteile nach geltendem Verfahrensrecht schließlich auch sonst nicht nachweisen. Die Dokumentation, welches Duplikationsverfahren angewendet wurde, reicht nach Vorstehendem grundsätzlich aus. Sofern das Datenmaterial jedoch als Beweismittel dient, müsste die Authentizität und Integrität der Daten aus beweisrechtlichen Gründen jedenfalls nachvollzogen werden können. Dies ergibt sich aus Folgendem: § 32e Abs. 3 S. 1 StPO regelt unter anderem, dass die Übertragung in ein elektronisches Dokument mit einem Übertragungsnachweis zu versehen ist. § 32e Abs. 3 S. 1 StPO gilt für Ausgangsdokumente im Allgemeinen und demzufolge auch für solche, die als Beweismittel sichergestellt worden sind (§ 32e Abs. 1 S. 2 StPO) und damit Beweismaterial darstellen. Insofern lässt sich aus § 32e Abs. 3 S. 1 StPO ableiten, dass die Übertragung von Datenmaterial, dem ein Beweisgehalt zu entnehmen ist bzw. nach Auffassung der Staatsanwaltschaft zu entnehmen sein soll, nach der Intention des Gesetzgebers generell in einer Art und Weise zu geschehen hat, die es dem Gericht und der Verteidigung ermöglicht, die Übereinstimmung des zur Verfügung gestellten Datenmaterials mit dem originalen Beweismaterial zu überprüfen. Noch deutlicher wird dieser gesetzgeberische Wille an § 32e Abs. 3 S. 3 StPO, nach dem bei der Übertragung von hierin näher beschriebenem digitalen Informationsmaterial zu Aktenführungszwecken eine Integritäts- und Authentizitätsprüfung und die Erstellung eines diesbezüglichen Vermerks erforderlich ist.

146 Siehe Leitfaden „IT-Forensik“ des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (Version 1.0.1, Stand: März 2011), S. 26, 235 ff., abrufbar unter: https://www.bsi.bun d.de/SharedDocs/Downloads/DE/BSI/Cyber-Sicherheit/Themen/Leitfaden IT-Forensik.p df;jsessionid=2FF382566E17E9472B5601F01151794B.internet082? blob=publicationFi le&v=1; letztes Abrufdatum: 20.01.2023. 147 So i. E. auch Jahn/Brodowski, FS Rengier, S. 415.

516 D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs Die eigenständige Überprüfbarkeit der Datenintegrität bzw. -authentizität durch das Gericht lässt sich durch den Einsatz kryptographischer Hash-Verfahren erreichen. Für jede Datei bzw. für Datenmaterial kann durch die einzelnen sog. Bytes ein eigener Wert ermittelt werden, der sich bei der bewussten oder unbewussten Veränderung des Datenmaterials ändert.148 Dieser Wert stellt quasi einen digitalen Fingerabdruck des Datenmaterials dar.149 Mithilfe von IT-forensischen Softwareprogrammen lässt sich eine solche kryptographische HashSumme – verbreitet ist der Begriff „Hash-Wert“ – sowohl für das Original- bzw. Rohdatenmaterial als auch für die angefertigte Datenkopie errechnen.150 Wird die Datenkopie nach IT-forensischem Standard (Anfertigen eines Datenträgerabbildes unter Zuhilfenahme eines Writeblockers) erstellt, werden beide HashWerte identisch sein, sodass der Inhalt der Datenkopie als identisch mit dem Original-Informationsmaterial anzusehen ist; andernfalls ist das ursprünglich erlangte Datenmaterial verändert worden.151 Eine Hash-Wert-Berechnung von Datenmaterial lässt sich heutzutage mit verschiedensten IT-forensischen Programmen vornehmen.152 Das Gericht könnte den Hash-Wert des Original- bzw. Rohdatenmaterials im Wege des Freibeweises erfragen.153 Der Hash-Wert der dem Gericht und der Verteidigung zur Verfügung gestellten Datenkopie könnte sodann mit dem HashWert des Original- bzw. Rohdatenmaterials verglichen werden. Nur wenn beide Hash-Werte identisch sind, handelt es sich bei der dem Gericht und der Verteidigung vorliegenden Datenkopie (erwiesenermaßen) 1:1 um das Original- bzw. Rohdatenmaterial und damit um das Beweismaterial. Insofern wäre faktisch das sachliche Beweismittel selbst und nicht etwa das Beweissurrogat bzw. mittelbare Beweismittel in die Hauptverhandlung eingeführt worden.

148

Eingehend Bell, Akteneinsicht, S. 65 f. m. w. N.; Heinson, IT-Forensik, S. 52. Bell, Akteneinsicht, S. 65 m. w. N.; eingehend auch Heinson, IT-Forensik, S. 51. 150 Leitfaden „IT-Forensik“ des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (Version 1.0.1, Stand: März 2011), S. 27, abrufbar unter: https://www.bsi.bund.de/SharedDoc s/Downloads/DE/BSI/Cyber-Sicherheit/Themen/Leitfaden IT-Forensik.pdf;jsessionid=2F F382566E17E9472B5601F01151794B.internet082? blob=publicationFile&v=1; letztes Abrufdatum: 20.01.2023. 151 Siehe hierzu etwa: Leitfaden „IT-Forensik“ des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (Version 1.0.1, Stand: März 2011), S. 27, 88 f., 180, 211, 215 f., 218, 237, 240 f., 244, 251, 324 f., 339 ff., abrufbar unter: https://www.bsi.bund.de/SharedDocs/Downl oads/DE/BSI/Cyber-Sicherheit/Themen/Leitfaden IT-Forensik.pdf;jsessionid=2FF382566 E17E9472B5601F01151794B.internet082? blob=publicationFile&v=1; letztes Abrufdatum: 20.01.2023; Bell, Akteneinsicht, S. 66 m. w. N.; Heinson, IT-Forensik, S. 52, 149 f. m. w. N.; Fährmann MMR 2020, 228, 230 m. w. N.; vgl. auch Jahn/Brodowski, FS Rengier, S. 415 m. w. N. 152 Hierzu eignet sich bspw. das Programm X-Ways Forensics; zur Programmbeschreibung: https://www.x-ways.net/forensics/index-d.html; zu den Preisen für den Lizenzerwerb: h ttps://www.x-ways.net/order-d.html; letztes Abrufdatum jeweils: 20.01.2023. 153 Siehe hierzu im Zshg. mit Ton-/Bildträgern etwa Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 2303. 149

II. Einordnung des Aktenbegriffs in den Meinungsstand

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Auch wenn der Gesetzgeber die Anwendung solcher kryptographischer Verfahren nicht explizit bei der Einführung der elektronischen Strafverfahrensakte bedacht hat, entspricht die Pflicht zur Anwendung des vorgenannten „Beweissicherungsverfahrens“ dem Willen des Gesetzgebers, wie er in den Gesetzesmaterialien zu § 32e Abs. 3 StPO154 und dem Wortlaut insbesondere von § 32e Abs. 3 S. 3 StPO anklingt. Zwar hat es der Gesetzgeber in den Fällen des § 32e Abs. 3 S. 3 StPO für ausreichend erachtet, dass eine Authentizitäts- und Integritätsprüfung von der übertragenden Person vorgenommen wird und diese lediglich dessen Ergebnis vermerkt.155 Dem Gericht eine eigenständige Überprüfung zu ermöglichen, geht auch hierüber hinaus. § 32e Abs. 3 S. 3 StPO steht dem Erfordernis eines kryptographischen Verfahrens aus beweisrechtlichen Gründen jedoch nicht entgegen. Denn § 32e Abs. 3 S. 3 StPO betrifft nur die Übertragung von elektronischen Ausgangsdokumenten in ein anderes Aktenformat. Welche beweisrechtlichen Anforderungen an die Übertragung von erlangtem Original- bzw. Rohdatenmaterial zu stellen sind, normiert § 32e Abs. 3 S. 3 StPO gerade nicht. Der Gesetzgeber wies in der Gesetzesbegründung zu § 32e Abs. 2 StPO vielmehr darauf hin, dass sich die Judikative an den IT-forensischen Grundsätzen zur Gewährleistung der Datenintegrität und -authentizität zu orientieren hat,156 sodass anzunehmen ist, dass sich der Gesetzgeber zwar darüber bewusst war, dass bei einem Datentransfer zu beachtende IT-forensische Grundsätze bestehen, jedoch nicht im Detail Überlegungen angestellt hat, in welchen Konstellationen welche konkreten IT-forensischen Grundsätze zur Gewährleistung der Datenintegrität und -authentizität erforderlich sind.157 Dessen ungeachtet dürfte das Datenmaterial kaum noch einen Beweiswert haben, sofern die vorgenannten (und in technischer Hinsicht auf relativ einfachem Wege berücksichtigungsfähigen158) IT-forensischen Grundsätze zur Datenkopie-Erstellung nicht eingehalten werden.159 Selbst wenn der Gesetzgeber sich 154

BT-Drs. 18/9416, 54. Siehe BT-Drs. 18/9416, 54: „Es ist hierbei zu prüfen, ob das elektronische Ausgangsdokument während des Übermittlungsvorgangs verändert wurde (Integrität) und wer als dessen Aussteller oder Signierender zu identifizieren ist (Authentizität).“ 156 BT-Drs. 18/9416, 53: „Für die Rechtsprechung stellt die Technische Richtlinie des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) zum „rechtssicheren ersetzenden Scannen“ (TR RESISCAN) Hinweise dafür bereit, welche technischen Anforderungen und organisatorischen Vorgaben ein dem jeweiligen Stand der Technik entsprechendes Verfahren genügen muss.“ 157 Siehe zu aktuellen Überlegungen des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, inwieweit sich Hash-Verfahren zum ausreichenden Nachweis der Datenintegrität eignen: Blockchain-Strategie der Bundesregierung – Wir stellen die Weichen für die Token-Ökonomie, S. 13, abrufbar unter: https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Digitale-Wel t/blockchain-strategie.pdf? blob=publicationFile&v=10; letztes Abrufdatum: 20.01.2023. 158 So auch Bell, Akteneinsicht, S. 64. 159 So auch die Vorstellung des Gesetzgebers, vgl. BT-Drs. 18/9416, 53; so auch Basar, FS Wessing, S. 642; siehe auch Rückert, Digitalisierung, S. 21, 27 f.; Kipker/Bruns MMR 2022, 363, 365, 368; Jahn/Brodowski, Digitale Beweismittel, S. 92 f. m. w. N. 155

518 D. Fazit zum Aktenbegriff und Entwicklung einer Definition des Aktenbegriffs nicht an den Technischen Richtlinien des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) orientiert oder diese sogar für unbeachtlich gehalten hätte, müsste aus beweisrechtlichen Gründen eine Berücksichtigung der aufgezeigten IT-forensischen Grundsätze zur Datenduplikation erfolgen. Handelt es sich bei dem vom Gericht eingeführten Datenmaterial nämlich nicht um eine 1:1-Kopie des Original- bzw. Rohdatenmaterials, wäre die eingeführte Datenkopie ein klassisches Beweissurrogat bzw. ein rein mittelbares Beweismittel, dessen Beweisqualität generell deutlich geringer ist als diejenige des (eigentlichen) Beweismittels selbst.160 Die Problematik des Beweiswertes von kopiertem Datenmaterial wird mit Blick auf die große Datenflut einerseits und der immer weiter zunehmenden Relevanz von – etwa i. R. e. TKÜ-Maßnahme gewonnenen – digitalem Beweismaterial andererseits161 sicherlich noch Gegenstand zahlreicher gerichtlicher Entscheidungen werden. Vergleichbar den Maßstäben zum Beweisgehalt von Fingerabdruck- oder DNA-Material wird sich die strafrechtliche Praxis an den vorgenannten IT-forensischen Standards zu orientieren haben.162

160 Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 13b m. w. N.; siehe auch Kipker/Bruns MMR 2022, 363, 367, 368; eingehend auch LR-StPO/Becker, Bd. 6, § 244, Rn. 66 f. m. w. N.; dies wird in BGH, Beschl. v. 28.09.2022 – 5 StR 191/22, S. 2, juris, offenbar unberücksichtigt gelassen. 161 Siehe Fährmann MMR 2020, 228, 228 f. m. w. N.; vgl. auch Savic´, Beweisführung mit digitalen Medien, S. 72 m. w. N. 162 So i. E. auch die Prognose von Basar, FS Wessing, S. 647 m. w. N. zu bereits ergangener Rspr. zu diesem Themenkomplex; vgl. hierzu auch Rückert, Digitalisierung, S. 36 f.; Kipker/ Bruns MMR 2022, 363, 365, 368; zu einer denkbaren Qualitätsbemessung des digitalen Beweismaterials in die Kategorien „inkorrekt“, „sehr unwahrscheinlich“, „unwahrscheinlich“, „möglich“, „wahrscheinlich“, „sehr wahrscheinlich“, „sicher“: Jahn/Brodowski, FS Rengier, S. 415 m. w. N.

Viertes Kapitel

Das Einsichtsrecht Das Akteneinsichtsrecht gem. § 147 Abs. 1 StPO wird durch § 32f StPO hinsichtlich der Form der Akteneinsichtsgewährung ausgefüllt. Dabei sind in § 32f StPO Einschränkungen des Einsichtsrechts normativ angelegt. Im Rahmen der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Gewährleistungen, auf die § 147 StPO zurückzuführen ist, und innerhalb der verfassungskonformen Auslegung des Aktenbegriffs wurde herausgearbeitet, dass das Einsichtsrecht in die Akten gewissen Schranken unterliegt. Auch die Gewährleistungen der EMRK sind einschränkbar. Im Folgenden soll erörtert werden, wie das Einsichtsrecht grundsätzlich ausgestaltet ist und welche Aspekte der Akteneinsicht im Allgemeinen und i. S. d. § 32f Abs. 1 S. 4, Abs. 2 S. 2, 3 StPO entgegenstehen können.

A. Die grundsätzliche Einsicht in OriginalInformationsträger und die in § 32f StPO normierten Formen der Einsichtsgewährung Nach hiesigem Verständnis ist die Akte eine Ansammlung von Informationsträgern im Original. Aktenbestandteile sind die ursprünglich erstellten oder erlangten Informationsträger. In diese Aktenbestandteile gewährt § 147 Abs. 1 StPO – im Gegensatz zu vielen anderen Normen, die lediglich die Überlassung einer Aktenkopie vorsehen – ein Einsichtsrecht. Das Zusammenspiel der ersten beiden Absätze des § 147 StPO zeigt bereits, dass das Einsichtsrecht sich grundsätzlich auf die vollständigen Akten bezieht, mithin umfassend ausgestaltet ist. In zeitlicher Hinsicht besteht das Akteneinsichtsrecht ab Beginn des Ermittlungsverfahrens; im Falle von sog. Vorermittlungen ab deren Einleitung.1 Solange noch kein Ermittlungsabschluss i. S. d. § 169a StPO vermerkt wurde – also während des gesamten Ermittlungsverfahrens –, kann die Einsicht in die Akten oder in Aktenteile und die Besichtigung amtlich verwahrter Beweisgegenstände bzw. Beweisstücke ausnahmsweise verwehrt werden, § 147 Abs. 2 S. 1 StPO.2 § 147 Abs. 2 S. 2 StPO statuiert hiervon eine Rückausnahme für den Fall, dass der Beschuldigte sich während des Ermittlungsverfahrens in Untersuchungshaft befindet oder Untersuchungshaft bei vorläufiger Festnahme beantragt wurde. Eine weitere Ausnahme normiert § 147 Abs. 3 StPO für die dort aufgezählten sog. privilegierten Aktenbestandteile.3 Unter Einsicht versteht der Gesetzgeber das eigenständige und umfassende Studium der Aktenbestandteile. Dies wird in der Begründung zur Reform des Jahres 2000 klargestellt.4 Deutlich wird dies ferner in § 32f Abs. 1 S. 3, 4 StPO, nach dem die Einsicht auch dergestalt gewährt werden kann, dass ein Aktenausdruck oder ein entsprechender Datenträger zur Einsicht übermittelt wird. In § 32f Abs. 2 S. 2 Var. 3, S. 3 StPO wird diese gesetzgeberische Vorstellung ebenfalls erkennbar. Weiter ermöglicht die Einsicht ein unbeobachtetes Aktenstudium, da

1 BGH NStZ-RR 2009, 145, 145 m. w. N.; eingehend LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 135 m. w. N.; zum zeitlichen Ende des Akteneinsichtsrechts gem. § 147 StPO: Jahn a. a. O. Rn. 137 ff. m. w. N. 2 Siehe statt vieler nur LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 150. 3 Siehe eingehend nur MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 30 ff. m. w. N. 4 Siehe BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 27; siehe auch BR-Drs. 65/99, Teil 2, S. 54; ähnlich i. E. Bell, Akteneinsicht, S. 19.

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A. Allgemeines zur Einsichtsgewährung

die StPO beaufsichtigte Akteninformationsrechte abschließend regelt, §§ 147 Abs. 4 S. 1, 385 Abs. 3 S. 2, 406e Abs. 3 S. 1 StPO. Die StPO sieht eine beaufsichtigte Informationsgewährung im Gegensatz zu der Einsichts-/Besichtigungsmöglichkeit von Verteidigern und Rechtsanwälten mithin nur für den nicht durch einen Rechtsanwalt vertretenen Beschuldigten, Privatkläger und Verletzten vor. Die Übersendung der Akten stellt dabei nicht die Einsicht dar, sondern ist lediglich das Mittel zur Gewährung der Einsicht in den eigenen Räumlichkeiten. Dies klingt bereits in der Begründung zur Reform der Jahre 19655 und 20186 an und wird jedenfalls in § 32f Abs. 2 S. 3 StPO deutlich („Akten zur Einsichtnahme in seine Geschäftsräume oder in seine Wohnung mitgegeben“). Mit der Einführung der e-Akte im Strafverfahren wurden die §§ 32 ff. StPO eingefügt. § 32f StPO regelt hierbei die Form der Akteneinsichtsgewährung. Die Einsicht in elektronische Akten wird gem. § 32f Abs. 1 S. 1 StPO grundsätzlich durch das Bereitstellen des Akteninhaltes zum Online-Abruf oder durch Übermittlung des Inhalts der Akte auf einem sicheren Übermittlungsweg gewährt (vgl. auch §§ 2 f. StrafAktEinV), wobei dies jedoch keine Einsicht in „Echtzeit“ darstellt, sondern die Einsicht auf dem Bearbeitungsstand der Akte im Zeitpunkt der Einsichtsgewährung gewährt wird.7 Die Akten können hierdurch online durchgesehen bzw. heruntergeladen werden.8 Dies soll nach der Intention des Gesetzgebers die grundsätzlich zu gewährende Einsichtsform darstellen.9 Die Berechtigten haben zudem die Möglichkeit, die elektronische Akte in Diensträumen (also in Räumlichkeiten, über die ein Träger öffentlicher Gewalt zur Ausübung dienstlicher Tätigkeiten das Hausrecht ausübt)10 einzusehen oder bei berechtigtem Interesse die Übermittlung eines Aktenausdrucks oder Datenträgers mit dem entsprechenden Akteninhalt zu beantragen, § 32f Abs. 1 S. 2, 3 StPO. Für die begehrte Einsichtsgewährung nach § 32f Abs. 1 S. 2 StPO soll es dabei keiner etwaigen Begründung bedürfen.11 Eine Einsichtsgewährung nach § 32f Abs. 1 S. 3 StPO soll nach dem Willen des Gesetzgebers etwa in Betracht kommen, wenn dem Einsichtsberechtigten die technische Wiedergabe nicht möglich sei und es zudem unzumutbar erscheine, den Einsichtsberechtigten auf die Einsicht in den Diensträumen zu verweisen.12 Bei Vorliegen wichtiger Gründe kann die Einsichtsgewährung nach § 32f Abs. 1 S. 2, 3 StPO auch ohne entsprechenden Antrag gewährt werden, § 32f Abs. 1 S. 4 StPO. Sofern die Einsichtnahme durch Online-Abruf nicht möglich ist oder dieser Einsichtsform sonstige Gründe entgegenstehen, bedarf es für die Übermittlung eines Aktenausdrucks oder eines

5

BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 32. BT-Drs. 18/12203, 73 f. 7 BT-Drs. 18/9416, 56. 8 BT-Drs. 18/9416, 56. 9 BT-Drs. 18/9416, 36; BT-Drs. 19/27654, 57. 10 BT-Drs. 18/9416, 56. 11 BT-Drs. 18/9416, 56. 12 BT-Drs. 18/9416, 57. 6

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entsprechenden Datenträgers mithin keines berechtigten Interesses. Der Gesetzgeber hatte hierbei technische Probleme, aber auch Verschlusssachen und sonstige besonders schutzwürdige Akteninhalte vor Augen.13 Nach dem Willen des Gesetzgebers ist im letzteren Fall zwar Einsicht zu gewähren, jedoch keine Mitgabe der Akten zu gestatten.14 Hierbei wurde nicht weiter zwischen den verschiedenen Kategorien von Verschlusssachen i. S. d. § 4 Abs. 2 SÜG differenziert, sodass eine Verschlusssache wohl generell in den Diensträumen einzusehen ist. Dies steht zumindest auch mit § 4 Abs. 3 Nr. 2 SÜG in Einklang, nach dem sicherzustellen ist, dass von Verschlusssachen keine unbefugte Person Kenntnis erlangt, was bei dem Abruf der elektronisch gespeicherten Verschlusssachen nicht der Fall wäre.15 Ähnlich verhält es sich mit der Einsicht in die papiernen Akten. Das eigenständige und unbeobachtete Studieren von papiernen Akten kann gem. § 32f Abs. 2 S. 1 StPO in den Diensträumen gewährt werden. Soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, kann die Einsicht gem. § 32f Abs. 2 S. 2 StPO auch durch das Bereitstellen einer erstellten elektronischen Fassung zum Online-Abruf,16 durch Übermittlung des Inhalts der Akte auf einem sicheren Übermittlungsweg oder durch das Bereitstellen einer Aktenkopie zur Mitnahme gewährt werden. Sofern der Berechtigte – dies wird bei papiernen Akten wohl die praktisch am häufigsten bevorzugte Einsichtsform darstellen – dies explizit beantragt, werden die papiernen Akten zur Einsichtnahme in die Geschäftsräume oder in die Wohnung mitgegeben, § 32f Abs. 2 S. 3 StPO. Auch insoweit dürfen jedoch keine wichtigen Gründe entgegenstehen. Dies entspricht – abgesehen davon, dass es sich hierbei nicht mehr um eine Soll-Vorschrift handelt, sondern einem solchen Antrag zu entsprechen ist17 – der Regelung des § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. Der Gesetzgeber geht seit Einführung des § 147 RStPO davon aus, dass gerade die Übersendung der Akten in die eigenen Räumlichkeiten eine erforderliche Erleichterung der Verteidigertätigkeit darstellt.18 Aufgrund der Stellung des Verteidigers als Rechtspflegeorgan beabsichtigt der Gesetzgeber dabei grundsätzlich die Einsicht in und die Übersendung der Originalakten zu ermöglichen.19 Nach dem Willen des Gesetzgebers, der in dem Wortlaut des § 32f Abs. 2 S. 3 StPO und der Systematik des § 32f Abs. 1, 2 StPO zum Ausdruck kommt, bedarf es für eine begehrte Übersendung bzw. Mitgabe der Akten keiner besonderen Begründung.

13

BT-Drs. 18/12203, 73. Siehe BT-Drs. 18/12203, 73; eingehend zur Einsichtnahme in Verschlusssachen: Bell, Akteneinsicht, S. 82 ff.; ähnlich i. E. LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 56 m. w. N. 15 A. A. grundlegend LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 94, wonach der Verteidiger Kopien von den Verschlusssachen anfertigen und mitnehmen dürfe. 16 BT-Drs. 18/9416, 57. 17 So bspw. auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 98. 18 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 968. 19 Vgl. BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 22; vgl. auch BT-Drs. 18/9416, 57, 60, 66, 74, 92, 105. 14

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A. Allgemeines zur Einsichtsgewährung

§ 32f Abs. 2 S. 3 StPO sieht die Möglichkeit der Übersendung bzw. der Mitgabe der Akten jedoch lediglich für Verteidiger und Rechtsanwälte vor, sodass ein Übersendungsrecht der papiernen Akten bspw. für den verteidigerlosen Beschuldigten nicht besteht. Dies steht im Einklang mit § 147 Abs. 4 S. 2 StPO, nach dem dem Beschuldigten zur Wahrung der Aktenintegrität (anstelle der Einsichtsgewährung in die Originalakten)20 auch Kopien der papiernen Akten bereitgestellt werden können, sodass der verteidigerlose Beschuldigte den Inhalt der Akten ebenfalls in den eigenen Räumlichkeiten studieren kann. Demzufolge kann sowohl die elektronische als auch die papierne Akte durch die Einsichtsberechtigten in den eigenen Räumlichkeiten, also den Geschäftsräumen oder der Wohnung, eigenständig und unbeobachtet studiert werden. Grundsätzlich ist für den Verteidiger eine umfassende Einsichtnahme in die e-Akte und in die papierne Akte vorgesehen. Aus dem Wortlaut lässt sich ableiten, dass der Einsicht zwar wichtige Gründe entgegenstehen können. Diese sollen dann aber nicht dazu führen, dass eine Einsichtnahme insoweit verwehrt werden kann, sondern lediglich dazu, dass die Einsichtnahme in die e-Akte nicht mehr durch Bereitstellen des Akteninhalts zum Abruf, sondern gem. § 32f Abs. 1 S. 2, 3 StPO gewährt wird, wofür es dann keines Antrages mehr bedarf, vgl. § 32f Abs. 1 S. 4 StPO. Entgegenstehende wichtige Gründe i. S. d. § 32f Abs. 2 S. 2, 3 StPO führen zumindest nach dem Wortlaut und der Ausgestaltung des § 32f Abs. 2 StPO bei der papiernen Akte dazu, dass die Einsichtsgewährung nach § 32f Abs. 2 S. 2, 3 StPO zu verwehren ist, sodass es bei der Einsichtsgewährung nach § 32f Abs. 2 S. 1 StPO bliebe. Dies entspricht dem Willen des Gesetzgebers, der nach zuvor Gesagtem im Falle von elektronischen Akten beabsichtigt, jedenfalls die Einsicht in Verschlusssachen oder besonders schutzwürdige Sachen in den Diensträumen zu gewähren. Mit der Einführung der der Einsicht entgegenstehenden wichtigen Gründe wollte der Gesetzgeber vordergründig jedoch organisatorische/technische Probleme lösen, die auch auf Seiten des Einsichtsberechtigten denkbar erscheinen.21 Die gesamte Regelungssystematik des § 32f Abs. 1, 2 StPO hat der Gesetzgeber also bewusst in dieser Form ausgestaltet. Das Akteneinsichtsrecht (in Form des eigenständigen Aktenstudiums in den eigenen Räumlichkeiten) wird vom Gesetzgeber seit Einführung des § 147 RStPO bis heute als für eine effektive Verteidigung derart wesentlich angesehen, dass eine grundsätzlich umfassende Akteneinsicht – spätestens mit Ermittlungsabschluss, § 147 Abs. 2 S. 1, Abs. 6 S. 1 StPO22 – als zwingend erforderlich angesehen wird.23 Sobald das Einsichtsrecht

20

BT-Drs. 18/9416, 60. Siehe BT-Drs. 18/9416, 57; BT-Drs. 18/12203, 73. 22 Siehe BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 17, 31 f. 23 Siehe die Begründung zur Einführung von § 147 RStPO: Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 964 f.; Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1229; vgl. auch die Begründung zur Reform 2000: BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 22, 27; siehe auch die Begründung zur Reform 2018: BT-Drs. 18/9416, 60; so i. E. auch Jörke, Akteneinsicht, S. 72 f. 21

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(wieder) uneingeschränkt besteht, ist dem Verteidiger hierüber unaufgefordert Mitteilung zu machen, § 147 Abs. 6 S. 2 StPO.24 Die Ausgestaltung der Ausnahmeregelungen wird im weiteren Verlauf genauer untersucht. An dieser Stelle gilt es zunächst festzustellen, dass das Einsichtsrecht auch nach § 32f Abs. 1, 2 StPO umfassend vorgesehen ist. Ein solches grundsätzlich umfassendes Einsichtsrecht des Verteidigers in die Akten gebieten sowohl die Verfassung als auch die EMRK. Art. 103 Abs. 1 GG aber auch das verfassungs- und konventionsrechtliche Fairnessgebot einschließlich seiner speziellen Ausprägungen setzen voraus, dass der Verteidigung umfassende Einsicht in die gesamten Ermittlungsvorgänge zu gewähren ist. Die Einsicht bezieht sich bei dem zugrunde gelegten umfassenden Aktenbegriff damit auf alle mit dem Strafverfahren im Zusammenhang stehenden Ermittlungsvorgänge und damit bspw. auch auf Spurenakten, die der aktenführenden Stelle vorliegen oder vorgelegen haben. Gleiches gilt unabhängig von ihrer Formwirksamkeit für etwaige elektronische Dokumente i. S. d. §§ 32a f. StPO Wie bereits herausgearbeitet, gebietet das verfassungsrechtliche Fairnessgebot (und bei gerichtlichen Verfahren zudem Art. 103 Abs. 1 GG) eine umfassende, effektive und i. d. S. ausreichende Verteidigungsmöglichkeit gegen das Belastungsmaterial. Der Beschuldigte muss sich (mit Hilfe seines Verteidigers) effektiv verteidigen und auf den Verfahrensverlauf selbstbestimmt Einfluss nehmen können. Hiermit geht die Pflicht einher, der Verteidigung die (chancengleiche) Gelegenheit zur umfassenden Analyse des Ermittlungsmaterials zu eröffnen und demzufolge ein umfassendes Einsichtsrecht zu gewähren. Auch die Funktionen des Verteidigers, die diesem kraft Verfassungsrechts zukommen, erfordern ein grundsätzlich umfassendes Einsichtsrecht. Vorstehendes folgt zudem aus den dabei zu berücksichtigenden Vorgaben des Art. 6 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 lit. a, b, c EMRK. Überdies führte ein Einsichtsrecht in nur einen Teil der Akten zu einer unzureichenden Kontradiktion. Der Waffengleichheitsgrundsatz gebietet es aus Sicht der Verfassung und der EMRK, dass die Einsicht dabei in einer Art und Weise gewährt wird, die garantiert, dass die Umstände und Bedingungen, unter denen der Ermittlungsverlauf analysiert werden kann, denen der Strafverfolgungsbehörde gleichkommt. Insofern ist auch erforderlich, der Verteidigung einen von den Diensträumen und -zeiten der Strafverfolgungsbehörden/Gerichte unabhängigen Zugriff auf die Akten zu gewähren. Es wäre keine ausreichende Parität von Wissen und Können hergestellt, wenn die Verteidigung bestimmte Informationsträger nicht im eigenen Büro und unbeaufsichtigt analysieren könnte, obwohl die Strafverfolgungsbehörde genau hierzu in der Lage war. Ist die Einsicht in die Original-Informationsträger nicht möglich bzw. ist dies aus Gründen des Integritätsschutzes nicht zulässig, so ist in der vorbeschriebenen Form jedenfalls die

24

BT-Drs. 7/2600, 6.

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A. Allgemeines zur Einsichtsgewährung

Einsicht in eine originalgetreue Kopie der Aktenteile zu gewähren. Dies entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers, worauf sogleich eingegangen wird. Die Ausführungen zur verfassungs- und völkerrechtsfreundlichen Auslegung des Aktenbegriffs bedingen letztlich auch ein entsprechend umfassendes Einsichtsrecht in die Akten. Die Möglichkeit des Aktenabrufs sowie der Gewährung einer Aktenkopie und ein Übersendungsrecht sind in § 32f Abs. 1, 2 StPO vorgesehen, der diesen Vorgaben damit ausreichend Rechnung trägt. In § 32f Abs. 1, 2 StPO wird dies bewusst nicht von einer etwaigen Begründung abhängig gemacht. Angemerkt werden muss jedoch, dass die Akteneinsicht aus verfassungs- und konventionsrechtlichen Gründen in einer Art und Weise zu erfolgen hat, die das unbeaufsichtigte Studieren der vollständigen Informationsträger zu jeder Zeit in den eigenen Räumlichkeiten des Verteidigers ermöglicht. § 32f Abs. 1 S. 1 StPO sieht für die e-Akte vor, dass die Einsicht grundsätzlich durch das Bereitstellen der Akte zum Abruf oder durch Übermittlung des Inhalts der Akte auf einem sicheren Übermittlungsweg gewährt wird. Vom Vorliegen eines solchen sicheren Übermittlungswegs kann nur dann ausgegangen werden, wenn technisch sichergestellt wird, dass Daten, die den Aktenabruf der Verteidigung betreffen (insbesondere Abrufdatum/-zeit und die Dauer der Einsicht) nicht gespeichert und hierdurch rekonstruierbar werden. Für die papierne Akte ist anzumerken, dass die Möglichkeit, die Übersendung/Mitgabe in die Kanzlei oder Wohnung des Verteidigers zu beantragen (§ 32f Abs. 2 S. 3 StPO), nicht von einer etwaigen Begründung abhängig gemacht werden darf. Dies wird in § 32f Abs. 2 S. 3 StPO jedoch ohnehin bewusst nicht vorausgesetzt. Ein Akteneinsichtsrecht, dem ein umfassender Aktenbegriff und auch ein zumindest grundsätzlich umfassendes Einsichtsrecht zugrunde liegt, ist mithin sowohl einfachgesetzlich vorgesehen als auch verfassungs- und konventionsrechtlich geboten. In zwei Ausnahmefällen ist es über § 32f Abs. 2 S. 2, 3 StPO hinaus geboten, im Wege der Einsicht lediglich eine ersatzweise Aktenkopie zu überlassen. Auch hinsichtlich sog. Ausgangsdokumente bestehen Besonderheiten. Zudem sind weitere Gründe denkbar, die nicht nur der Einsichtnahme der Akten in den eigenen Räumlichkeiten, sondern der Kenntnisnahme des Inhaltes etwaiger Akten(-bestandteile) generell entgegenstehen. Auf all diese Ausnahmegründe soll nachfolgend eingegangen werden.

B. Die Besichtigung von Ausgangsdokumenten und Beweisstücken und die Einsicht in übertragene Dokumente und Aktenkopien Nach hiesiger Untersuchung sind Ausgangsdokumente i. S. d. § 32e Abs. 1 S. 1 StPO und Beweisstücke (zunächst) ebenfalls Aktenbestandteile im strafprozessualen Sinne, da es sich hierbei um Informationsmaterial handelt, das im Ermittlungsverfahren in den Besitz der Strafverfolgungsbehörde gelangt und jeweils auf Informationsträgern gespeichert ist, die transportierbar und problemlos und inhaltlich originalgetreu kopierfähig sind. Beweisstücke stellen die einzigen Aktenbestandteile dar, in die ausnahmsweise keine Einsicht zu gewähren ist. Sie können per se lediglich besichtigt werden. Ausgangsdokumente, die nicht als Beweismittel sichergestellt sind, stellen ab der Übertragung gem. § 32e Abs. 1 S. 1 StPO noch nicht einmal mehr einen Aktenbestandteil dar, sodass sich insoweit die Frage des Einsichtsrecht gar nicht (mehr) stellt. Dass kein Einsichtsrecht besteht, folgt für Ausgangsdokumente, die nicht als Beweismittel sichergestellt sind, aus § 32e Abs. 5 S. 1 StPO. Der Gesetzgeber bringt diese Rechtsauffassung in den Materialien zur Reform des Jahres 2018 eindeutig zum Ausdruck.1 Nach der Intention des Gesetzgebers ersetzt das übertragene Dokument ab dem Zeitpunkt der Übertragung das Ausgangsdokument als Aktenbestandteil,2 was sich auch an § 32e Abs. 4 StPO zeigt. Die eigenständige, unbeobachtete Einsichtnahme in die Beweisstücke in den eigenen Räumlichkeiten ist deshalb zu verwehren, da bei dem eigenständigen Studieren solcher Informationsträger, sei es in den geschäftlichen oder in den privaten Räumlichkeiten des Einsichtsberechtigten, die Möglichkeit bestünde, dass diese Informationsträger versehentlich abhandenkommen oder beschädigt werden, sodass bei einem eigenständigen Studieren der Beweisstücke die abstrakte Gefahr eines Beweismittelverlustes bestünde. Dies kam im Wortlaut des § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. unmissverständlich zum Ausdruck und wird auch in den Gesetzesmaterialien zur Einführung des § 147 RStPO,3 zur Reform des Jahres 19654 und zur Reform

1

Siehe BT-Drs. 18/9416, 54 f. Siehe BT-Drs. 18/9416, 54 f. 3 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 965 f.; dies., Materialien, Abt. 2, S. 1299 f., 1558. 4 BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 18. 2

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B. Ausgangsdokumente, Beweisstücke und Kopien

im Jahr 20185 klargestellt. § 147 Abs. 1 StPO sieht für Beweisstücke lediglich ein Besichtigungsrecht vor. Ausgangsdokumente, die als Beweismittel sichergestellt sind, stellen nach hiesiger Untersuchung ebenfalls Beweisstücke i. S. v. § 147 Abs. 1 StPO dar. Sie unterliegen ausweislich von § 147 Abs. 1 StPO somit ebenfalls nicht der Akteneinsicht und können im Gegensatz zu dem übertragenen Dokument von vornherein ebenfalls ausschließlich besichtigt werden. Entweder ist von dem Beweisstück eine Kopie zu erstellen oder das Beweisstück ist gem. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO zu übertragen. Wurde von dem Beweisstück eine Kopie erstellt, bleibt es dabei, dass es sich nur um einen Aktenbestandteils-Ersatz handelt; Aktenbestandteil ist lediglich das übertragene Dokument und das als Beweismittel sichergestellte Ausgangsdokument und damit das Beweisstück. Der Unterschied zwischen Ausgangsdokumenten, die als Beweismittel sichergestellt sind, und solchen, die nicht als Beweismittel sichergestellt sind, besteht mithin lediglich darin, dass Letztere ihre Eigenschaft als Aktenbestandteil nach dem gesetzgeberischen Willen verlieren, sobald sie in die entsprechende Aktenform übertragen wurden. Dass in die Ausgangsdokumente (spätestens ab dem Zeitpunkt der Übertragung) nicht eingesehen werden kann, ist aus verfassungs- und konventionsrechtlicher Sicht nicht problematisch, da diese sich bei einer Übertragung nach Maßgabe des § 32e Abs. 1 StPO inhaltlich originalgetreu in den Akten befinden. Die bildliche und inhaltliche Übereinstimmung des übertragenen Dokumentes mit dem Ausgangsdokument ist sicherzustellen; dies ist mittels Übertragungsnachweis zu dokumentieren, § 32e Abs. 2, 3 StPO. Ausgangsdokumente, die nicht als Beweismittel sichergestellt sind, können bei Bedarf gem. § 32e Abs. 5 S. 1 StPO besichtigt werden bzw. bei einem hierauf gerichteten Beweisantrag verlesen werden, sofern Anlass besteht, an der inhaltlichen Übereinstimmung des übertragenen Dokumentes mit dem Ausgangsdokument zu zweifeln, vgl. § 244 Abs. 5 S. 3 StPO. Ausgangsdokumente, die als Beweismittel sichergestellt sind, stellen zugleich Beweisstücke dar und können deshalb gem. § 147 Abs. 1 StPO ebenfalls besichtigt werden. Sofern an der inhaltlichen Übereinstimmung des übertragenen Dokumentes mit dem Beweisstück Zweifel aufkommen, kann auch dieses Ausgangsdokument in der Hauptverhandlung in Augenschein genommen oder verlesen werden. Da es sich bei Beweisstücken nach hiesigem Verständnis um Urkunden im prozessualen Sinne und Augenscheinsobjekte handelt, muss mit Besichtigen gemeint sein, dass diese Informationsträger in den Diensträumen visuell, auditiv, taktil oder olfaktorisch wahrgenommen werden können, soweit dies mit Blick auf den bezweckten Integritätsschutz der Beweismittel möglich ist.6 Jedenfalls einer visuellen und akustischen Wahrnehmung dürfte der Integritätsschutz dabei regelmäßig nicht entgegenstehen. Nach vorher Gesagtem ist dem Verteidiger eine

5 6

Siehe BT-Drs. 18/9416, 42, 54 f., 57 f., 60. Ähnlich offenbar Bell, Akteneinsicht, S. 19 f.

B. Ausgangsdokumente, Beweisstücke und Kopien

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unbeaufsichtigte Einsichtnahme und auch ein unbeaufsichtigtes Besichtigen zu gestatten.7 Zu Aktenführungszwecken sind von diesen Beweisstücken jedoch inhaltlich originalgetreue Kopien zu fertigen, die als Aktenbestandteils-Ersatz im Wege der Akteneinsicht übersendet werden. Hierdurch wird das Recht, das gesamte Aktenmaterial eigenständig und unbeobachtet in den eigenen Räumlichkeiten zu studieren, gewahrt, ohne dass zugleich das Interesse an dem Integritätsschutz der als Beweismittel dienenden Aktenbestandteile tangiert wird. Sofern nicht der jeweilige Informationsträger in Gänze – wie der Server oder die Festplatte der Strafverfolgungsbehörden –, sondern lediglich ein Teil des hierauf gespeicherten Datenmaterials Aktenbestandteil ist, wird der Verteidigung und ausnahmsweise auch dem Gericht von diesem Datenmaterial zwar ebenfalls lediglich eine Kopie übersandt. Bei Berücksichtigung der IT-forensischen Standards zur Erstellung einer „1:1-Kopie“ bzw. Datenduplikation wird es sich hierbei inhaltlich 1:1 um das originale Datenmaterial, i. d. R. dem Rohdatenmaterial, handeln. Dass von Beweisstücken Kopien zu erstellen sind, die im Wege der Akteneinsicht ersatzweise zugänglich gemacht und insbesondere überlassen werden müssen, kommt in der StPO an mehreren Stellen eindeutig zum Ausdruck. Nach hiesigem Verständnis zählen zu den Beweisstücken nämlich insbesondere Original-Aufzeichnungen, da mit ihnen regelmäßig etwaige be- oder entlastende Umstände bewiesen werden sollen, sodass bei Abhandenkommen oder Beschädigung der Aufzeichnung Beweismittelverlust drohen würde. Falls ausnahmsweise keine Beweismittelverlustgefahr anzunehmen ist, wäre eine Aufzeichnung (klassischer) Aktenbestandteil, ohne zugleich Beweisstück zu sein, sodass die Aufzeichnung im Original überlassen werden müsste. Von diesen Aufzeichnungen, die Beweisstücke darstellen, sind nach der Ausgestaltung der StPO Kopien zu erstellen, die im Wege der Akteneinsicht ersatzweise überlassen werden, vgl. §§ 58a Abs. 2 S. 3, 136 Abs. 4 S. 3, 168e S. 4, 247a Abs. 1 S. 5, § 273 Abs. 2 S. 3 StPO.8 Dass anstatt der Überlassung einer Aufzeichnungs- bzw. Beweisstückkopie lediglich eine Verschriftlichung der Aufzeichnung herausgegeben wird, stellt in der StPO den abschließend geregelten Ausnahmefall dar. Die StPO sieht die Überlassung lediglich einer Aufzeichnungs-Verschriftlichung nur in zwei Fällen vor: zum einen für audiovisuelle Aufzeichnungen von besonders zu schützenden Zeugen(-aussagen) gem. § 58a StPO, sofern der Zeuge der Überlassung der Aufzeichnungskopie widerspricht, § 58a Abs. 3 S. 1 StPO, und zum anderen für eine getrennte Vernehmung eines gefährdeten Zeugen im Ermittlungsverfahren, die in Bild und Ton übertragen wird, sofern wiederum der Aufzeich7 So i. E. auch Bell, Akteneinsicht, S. 30 f., die dabei einen Schreibschutz für erforderlich, aber ausreichend hält; anders Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 32. Ein derartiger Schutz vor (bewussten oder unbewussten) Manipulationen des Beweismaterials durch den Verteidiger ist in rechtlicher Hinsicht generell unproblematisch. 8 Diesen Rückschluss zieht aus einem Teil der genannten Normen auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 90.

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B. Ausgangsdokumente, Beweisstücke und Kopien

nungskopie-Überlassung widersprochen wird, vgl. § 168e S. 4 StPO, nach dem § 58a StPO und damit auch § 58a Abs. 3 S. 1 StPO entsprechend anwendbar ist. Zudem ergibt sich aus den Materialien zur Einführung9 und Reform10 des § 58a StPO, dass zum Zwecke von Einsichtsgesuchen von den Aufzeichnungen Kopien zu fertigen sind, die im Wege der Akteneinsichtsgewährung übersendet bzw. überlassen werden. Die Herausgabepflicht von Aufzeichnungen legt der Gesetzgeber auch hinsichtlich audiovisueller Aufzeichnungen der Vernehmung des Beschuldigten gem. § 136 Abs. 4 StPO – und damit zugunsten anderer Akteneinsichtsberechtigter – zugrunde.11 Nach Auffassung des Gesetzgebers kann die Kopie eines Beweisstücks überlassen werden, da die Integrität des Beweisstücks hierdurch nicht gefährdet wird.12 Der Schutzzweck, der hinter § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. stand und hinter dem geltenden § 147 Abs. 1 StPO steht, wird durch die Herausgabe einer Kopie daher nicht berührt.13 Dieses Rechtsverständnis legt der Gesetzgeber nicht nur bei audiovisuellen Aufzeichnungen nach § 58a StPO, sondern auch bei Tonaufzeichnungen14 und sonstigen Beweisstücken im Allgemeinen15 zugrunde. Hierdurch wird zwischen den gegenläufigen Interessen eine prak9

Siehe BR-Drs. 175/96 (B) Anlage, S. 7; BT-Drs. 13/4983, 5; BT-Drs. 13/7165, 7 f. Vgl. zunächst die Materialien zum gescheiterten Reformversuch: BR-Drs. 507/99, Anlage, S. 8; BR-Plenarprotokoll 754: Stenografischer Bericht der 754. Sitzung des Deutschen Bundesrates vom 29.09.2000, 362D-363A; BR-Drs. 552/00 (B), Anlage, S. 2, 10 f.; BTDrs. 14/4661, 1, 10 f.; BT-Plenarprotokoll 14/176: Stenografischer Bericht der 176. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 21.06.2001, 17358D-17359A, 17360B; vgl. weiter die Materialien zur Reform 2004 von § 58a StPO, die sich – wie aus BR-Drs. 829/03, 20, und BTDrs. 15/814, 2 f., 7 f., ergeht – an die Materialien zum vorausgegangenen Reformversuch bzgl. einer grds. Herausgabepflicht von Aufzeichnungskopien orientiert haben: BR-Drs. 829/03, 1, 12, 20 f.; BR-Drs. 829/1/03, 3 f.; BT-Drs. 15/2609, 14; BT-Plenarprotokoll 15/94: Stenografischer Bericht der 94. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 04.03.2004, 8403A, 8407B; BRDrs. 197/1/04, 3 f.; BR-Plenarprotokoll 798: Stenografischer Bericht der 798. Sitzung des Deutschen Bundesrates vom 02.04.2004, 137D-138A; BR-Plenarprotokoll 799: Stenografischer Bericht der 799. Sitzung des Deutschen Bundesrates vom 14.05.2004, 181A; siehe auch die Gesetzesmaterialien zur Reform 2021 von §§ 58a, 168a StPO: BT-Drs. 19/27654, 58, 94. 11 BT-Drs. 18/11277, 25 f. 12 So der gesetzgeberische Wille, der zunächst bei der Einführung von § 58a StPO zu Tage getreten ist: BT-Drs. 13/7165, 7 f.; dies entspricht ausweislich der Begründung zur Einführung von § 32f StPO und der jüngsten Reform von §§ 58a, 147, 168a StPO immer noch dem Willen des Gesetzgebers, vgl. BT-Drs. 18/9416, 57 f., 60; BT-Drs. 19/27654, 58, 94. 13 So bspw. auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 89 m. w. N.; Bell, Akteneinsicht, S. 67 f.; El-Ghazi jurisPR-StrafR 21/2017, Anm. 1; BeckOK-StPO/Wessing, § 147, Rn. 26 m. w. N.; LG Bremen StV 2015, 682, 683 m. zust. Anm. Schulz-Merkel jurisPR-StrafR 8/2016, Anm. 5; so im Zshg. mit Kopien von bereits hergestellten Lichtbildmappen und Videofilmen auch schon LG Bonn StV 1995, 632, 632 m. zust. Anm. Köllner StraFo 1996, 26, 27; so im Zshg. mit Aufzeichnungen gem. § 58a StPO auch OLG Stuttgart StV 2003, 17, 17. 14 Siehe die Begründung zur Einführung von § 58a StPO: BT-Drs. 13/7165, 7; siehe auch die Begründung zur Reform 2004 von § 273 Abs. 2 StPO: BR-Drs. 829/03, 27 ff.; siehe die Begründung zur Einführung von § 32f StPO: BT-Drs. 18/9416, 56. 15 Siehe die Begründung zur Einführung von § 32f StPO und der jüngsten Reform von § 147 StPO: BT-Drs. 18/9416, 57 f., 60. 10

B. Ausgangsdokumente, Beweisstücke und Kopien

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tische Konkordanz hergestellt, die im Übrigen nicht nur verfassungsrechtlich angezeigt ist,16 sondern mit Blick auf Art. 6 Abs. 1, 3 lit. a, b, c EMRK auch völkerrechtlich zwingend geboten ist.17 Die Einschränkung der Fairnessvorgaben muss durch ein Äquivalent bzw. einen „Nachteilsausgleich“18 kompensiert werden; der EGMR fordert eine „strenge“ Verhältnismäßigkeit der Beschränkungen.19 Generell unzulässig sind nach Auffassung des EGMR jedenfalls solche Einschränkungen von Art. 6 EMRK, durch die eines der hierin normierten Teilhaberechte letztlich entwertet wird;20 auch darf durch die Einschränkung des Teilhaberechts dessen Wesensgehalt nicht aufgegeben werden.21 Diesen Anforderungen würde das nationale Recht nicht gerecht werden, wenn von Beweisstücken – obwohl dies problemlos möglich ist – keine ersatzweisen Kopien zwecks Überlassung erstellt werden müssten. Der EGMR hat dies vermehrt – auch in einer Entscheidung gegen Deutschland22 – gefordert.23 Der Ansicht Bells, nach der sich ein genereller Anspruch auf Mitgabe bzw. Übersendung einer staatlicherseits hergestellten Beweisstückkopie weder aus dem Gesetz ergebe noch für eine sachgerechte Verteidigungsvorbereitung erforderlich sei,24 kann mithin nicht gefolgt werden. 16 So i. E. bspw. auch Beulke/Witzigmann StV 2013, 75, 78; siehe bereits allg. BVerfGE 9, 89, 105: „Die restriktive Auslegung kann aber nur in dem Umfange zugelassen werden, in dem sie unabweislich ist.“; vgl. auch BVerfGE 57, 250, 283. 17 Ähnlich unter gewissen Vrss. Wettley/Nöding NStZ 2016, 633, 639. 18 Eingehend Gaede, Fairness, S. 727 ff. m. w. N. 19 Beispielhaft EGMR, Urt. v. 24.06.2003, No. 39482/98, Dowsett/GBR, Reports 2003-VII, 259, Rn. 42 f.; EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 29777/96, Fitt/GBR, Reports 2000-II, 387, Rn. 45 ff.; weitere Nachweise bei Gaede, Fairness, S. 687, Fn. 18, Fn. 19; vgl. auch MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 30; anders kann dies möglicherweise im Falle eines öffentlichen Notstandes sein: vgl. hierzu nochmals Gaede, Fairness, S. 736 f. 20 EGMR, Urt. v. 20.11.1989, No. 11454/85, Kostovski/NLD, Series A Nr. 166, Rn. 44; eingehend Gaede, Fairness, S. 687 m. w. N. 21 Gaede, Fairness, S. 723 ff., unter Bezugnahme auf u. a. EGMR, Urt. v. 20.11.1989, No. 11454/85, Kostovski/NLD, Series A Nr. 166, Rn. 44. 22 Siehe EGMR, Entsch. v. 11.03.2008, No. 41077/04, Falk/DEU, S. 5: „Access to data from the server of the applicant’s premises was granted by producing a copy of the data which was handed over to the defence counsel on 12 February 2004, that is, some two weeks after his request to do so. It is true that the defence counsel had not had actual access to the data on the hard drive confiscated in the applicant’s flat before 22 January 2004 because the hard drives with these data handed over to him in November and December 2003 had been defective.“; ein Verstoß gegen Konventionsrecht wurde hierbei lediglich deshalb abgelehnt, weil der Beschwerdeführer die Beweisstück-CDs zwar verzögert aber noch während des Ermittlungsverfahrens erhalten hatte und nicht dargelegt wurde, dass eine unverzügliche Aushändigung der Beweisstückkopien für die Verteidigung im Ermittlungs- bzw. Haftprüfungsverfahren hilfreich gewesen wäre, siehe EGMR a. a. O. S. 6. 23 EGMR, Urt. v. 27.04.2007, No. 38184/03, Matyjek/PL, Rn. 59; EGMR, Urt. v. 15.01. 2008, No. 37469/05, Luboch/PL, Rn. 64; EGMR, Urt. v. 26.11.2009, No. 25282/06, Dolenec/HRV, Rn. 218; EGMR, Urt. v. 09.10.2008, No. 62936/00, Moiseyev/RUS, Rn. 217; EGMR, Urt. v. 04.04.2017, No. 2742/12, Matanovic´/HRV, Rn. 159. 24 Bell, Akteneinsicht, S. 26.

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B. Ausgangsdokumente, Beweisstücke und Kopien

Dass die Beweisstücke von der Übersendungsmöglichkeit in § 32f Abs. 2 S. 3 StPO nicht explizit ausgenommen werden, wie es noch unter der Geltung des § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. ausdrücklich der Fall war, ist unschädlich. Zum einen regelt § 32f StPO lediglich die Form der Einsichtsgewährung; in die Beweisstücke wird jedoch nicht eingesehen, sie können gem. § 147 Abs. 1 StPO lediglich besichtigt werden. Zum anderen hat sich der Gesetzgeber bei der Einführung von § 32f StPO explizit an § 147 Abs. 4 S. 1 StPO a. F. orientiert25 und darauf hingewiesen, dass es der Ausklammerung der Beweisstücke von der Übersendung nicht bedürfe, da dies selbstverständlich sei.26 Im Übrigen bedarf es einer entsprechenden Klarstellung in § 32f StPO bereits deshalb nicht, weil § 147 Abs. 1 StPO (ebenso wie die weiteren Akteneinsichts-Normen) hierbei ausdrücklich differenziert. Die generelle Einsichtsverwehrung in die Original-Beweisstücke stellt mithin einen vom Gesetzgeber bei der Reform des Jahres 2018 mitbedachten und in § 147 Abs. 1 StPO normierten Ausnahmefall dar; insoweit soll berechtigter Weise ein Aktenbestandteils-Ersatz erstellt und der Einsicht ersatzweise zugänglich gemacht werden. Dieses Begriffsverständnis ermöglicht es der Verteidigung entsprechend dem Willen des Gesetzgebers und dem zugrundeliegenden Verfassungs- und Konventionsrecht, das angesammelte Informationsmaterial, etwa in Gestalt von Aufzeichnungen oder sonstigen Dateien oder Datenpaketen, eigenständig auszuwerten.27 Heutzutage gibt es schließlich zahlreiche Datenauswertungsprogramme, die es der Verteidigung ermöglichen bzw. erleichtern, eine Analyse auch von umfangreichem Datenmaterial vorzunehmen.28 IT-Forensische Programme, wie beispielsweise das mittlerweile wohl vielfach genutzte und auch für Rechtsanwälte bzw. Privatpersonen erhältliche Programm X-Ways Forensics,29 ermöglichen unter anderem das Filtern, Sortieren und systematische Durchsuchen des Datenmaterials nach vom Programmnutzer gewünschten Kriterien.30 Suchkriterien bzw. Keywords können vom Programmnutzer durch synonyme Redewen-

25

BT-Drs. 18/9416, 57. Siehe BT-Drs. 18/9416, 57. 27 Basar, FS Wessing, S. 636, Fn. 4, sieht es als Pflicht des Verteidigers an, das gesamte Datenmaterial durchzusehen. 28 Dem Verfasser wurde durch den in der IT-Forensik tätigen Prof. Dr. Dirk Labudde an der Hochschule Mittweida ein Einblick in die IT-forensische Auswertung von Datenmaterial gewährt, welches Herrn Prof. Dr. Dirk Labudde zur Verfügung gestellt worden war. Das Datenmaterial ließ sich beispielsweise anhand von vorgegebenen oder individuell angelegten Suchkriterien durchsuchen und auch analysieren, wie beispielsweise die Analyse des BrowserVerhaltens oder ein Vergleich des Kommunikationsverhaltens verschiedener Personen, um Gemeinsamkeiten/Unterschiede auszumachen. 29 Zur Programmbeschreibung: https://www.x-ways.net/forensics/index-d.html; zu den Preisen für den Lizenzerwerb: https://www.x-ways.net/order-d.html; letztes Abrufdatum jeweils: 20.01.2023. 30 Eingehend Basar, FS Wessing, S. 638 f. m. w. N.; siehe zu den Funktionen solcher ITForensiksoftware auch Heinson, IT-Forensik, S. 56 ff. m. w. N. 26

B. Ausgangsdokumente, Beweisstücke und Kopien

533

dungen ergänzt werden. Insofern lässt sich beispielsweise das i. R. e. (Quellen-) TKÜ oder Online-Durchsuchung erlangte Rohdatenmaterial durch den Verteidiger problemlos analysieren. Das vorstehende Begriffsverständnis gilt auch für das Akteneinsichts- und -besichtigungsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten. Innerhalb des Einsichtsrechts gem. § 147 Abs. 4 S. 1 StPO sind von den Beweisstücken ebenfalls Kopien zu erstellen, die dem verteidigerlosen Beschuldigten im Wege der Akteneinsicht bereitzustellen sind.31 Dies ist bei papiernen Akten gem. § 147 Abs. 4 S. 2 StPO auch unabhängig davon, ob es sich um Beweisstücke oder um sonstige Aktenbestandteile handelt, möglich.32

31 32

So auch die Intention des Gesetzgebers, vgl. BT-Drs. 18/9416, 60. So schon die Forderung von Jörke, Akteneinsicht, S. 55.

C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung Die Einsicht unterliegt weiteren Einschränkungen. Dies kann dazu führen, dass zumindest zeitweise die Einsicht in die Akten verwehrt werden kann, ohne hierbei – wie bei Ausgangsdokumenten oder Beweisstücken – die Einsicht in einen dem Original-Informationsträger inhaltlich entsprechenden Informationsträger zu gewähren. Die hierfür in Betracht kommenden Ausnahmegründe sollen im Folgenden erörtert werden.

I. Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege Allen voran muss bei der Akteneinsicht das Gebot, eine effektive Strafrechtspflege zu gewährleisten, berücksichtigt werden.

1. Die Gefährdung des Untersuchungszwecks Eine Ausprägung des Gebotes, die Funktionsfähigkeit bzw. Effektivität der Strafrechtspflege zu wahren, ist zum einen das sog. Ermittlungsgeheimnis.1 Es soll den Strafverfolgungsbehörden möglich sein, grundsätzlich ungestört und weitgehend sicher vor Störungen und Manipulationen den Sachverhalt umfassend zu ermitteln.2 Weiter besteht aus verfassungs- und konventionsrechtlicher Sicht im Grundsatz zwar die Pflicht, zwischen Verteidigung und Strafverfolgungsbehörde Waffengleichheit herzustellen. Hierbei können sich aus grundlegenden strukturellen Unterschieden zwischen Strafverfolgungsbehörde und Verteidigung, die eine Ungleichstellung erfordern, jedoch Abweichungen ergeben.3 Die Ungleichstellung der Verfahrensbeteiligten im Ermittlungsverfahren ist mit Blick auf das anzuerkennende sog. Ermittlungsgeheimnis im Grundsatz geboten. Da das Ermittlungsverfahren mit dem Abschlussvermerk endet, wird die Funk-

1

Vgl. BVerfG NJW 1984, 1451 f.; BVerfG NStZ-RR 1998, 108, 109. B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 165. 3 Vgl. BVerfGE 122, 248, 272, 275; 133, 168, 200; SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 107; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 145; Winter, Reform, S. 25 m. w. N. 2

I. Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege

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tionstüchtigkeit der Strafrechtspflege spätestens ab diesem Zeitpunkt nicht mehr (ausreichend genug) beeinträchtigt.4 Demzufolge ist auch der Ausnahmetatbestand des § 147 Abs. 2 S. 1 StPO verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.5 Hiernach kann die Einsicht in Akten oder Aktenteile und die Besichtigung von amtlich verwahrten Beweisgegenständen bis zum Vermerk des Ermittlungsabschlusses verwehrt werden, soweit hierdurch der Untersuchungszweck gefährdet werden kann. Sobald der Ermittlungsabschluss aktenkundig geworden ist, besteht das Einsichtsrecht uneingeschränkt;6 eine Beschränkung soll nach dem Willen des Gesetzgebers auch bei späterer Wiederaufnahme von Ermittlungen nicht mehr möglich sein.7 Ebenso wenig ist vor diesem Hintergrund die Regelung in § 101 Abs. 2 S. 2 StPO i. V. m. § 101 Abs. 5 S. 1 StPO verfassungsrechtlich zu beanstanden, nach der Unterlagen über bestimmte Ermittlungsmaßnahmen erst zu den Akten zu nehmen sind, sobald dies den Untersuchungszweck nicht gefährdet. Auch die in § 147 Abs. 4 S. 1 StPO normierten Gründe, dem Beschuldigten die Akteneinsicht zu verwehren, sind mit Blick auf die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege und der jederzeitigen Möglichkeit des Beschuldigten, einen Verteidiger mit der Akteneinsicht zu beauftragen, verfassungsrechtlich unbedenklich. Sobald im Laufe des Ermittlungsverfahrens Untersuchungshaft angeordnet oder diese im Fall der vorläufigen Festnahme beantragt wurde, sind dem Verteidiger trotz Untersuchungszweckgefährdung die Ermittlungsvorgänge zugänglich zu machen, was i. d. R. Akteneinsicht bedeutet, § 147 Abs. 2 S. 2 StPO. Mit Blick auf das verfassungsrechtliche Fairnessgebot und Art. 103 Abs. 1 GG, der bei einem gerichtlichen Verfahren auch während des Ermittlungsverfahrens Anwendung findet,8 ist eine umfassende Akteneinsicht in einer Verhandlung über die Anordnung oder die Fortdauer von Untersuchungshaft zwingend erforderlich. Im Übrigen wird in solchen Verfahren der Gefährdung des Untersuchungszwecks gerade durch die angeordnete/beantragte Untersuchungshaft entgegengewirkt.9 Insofern wird der Wesensgehalt des Teilhaberechts „Akteneinsicht“ durch § 147 Abs. 2 StPO nicht aufgegeben oder entwertet, da es sich um eine nur zeitweilige Einschränkung des Einsichtsrechts zugunsten einer idealerweise umfassenden Wahrheitsermittlung handelt. Auch aus Sicht der EMRK ist ein solches Interesse an einem weitgehenden Ermittlungsgeheimnis anzuerkennen. Die aus Art. 6 EMRK resultierenden Verteidigungsrechte sind schließlich ebenfalls einschränkbar. Hierbei muss es sich

4

Siehe hierzu auch Jörke, Akteneinsicht, S. 50 f., 55 ff., 80 ff. Eingehend hierzu auch Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 87 ff. m. w. N. 6 So statt vieler auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 5. 7 BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 31; dies scheint die allgA zu sein: MüKo-StPO/Kämpfer/ Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 26; LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 150, 177 m. w. N. 8 Siehe S. 62. 9 Ähnlich LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 5. 5

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

um andere, wichtige und durch die EMRK geschützte Rechte und Interessen („important public interest“)10 handeln, durch die das Fairnessgebot je nach dogmatischer Begründung eingeschränkt bzw. der Schutzbereich umgrenzt werden kann.11 Die Einschränkbarkeit kann dabei über Art. 6 Abs. 1 S. 2 EMRK hinausgehen. Konventionsimmanente Schranken sind also grundsätzlich anerkannt, wobei die gegenläufigen Interessen nicht einmal ausdrücklich in der EMRK normiert sein müssen,12 qualitativ den anderen in der EMRK normierten Rechten/ Interessen jedoch zu entsprechen haben.13 Dass die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege bzw. das Ermittlungsgeheimnis in der EMRK nicht ausdrücklich normiert wird, ist demzufolge unschädlich. Bei dem Interesse an einer funktionstüchtigen und -fähigen Strafrechtspflege handelt es sich qualitativ um ein den übrigen Konventionsvorgaben gleichrangiges Rechtsgut. Das wichtige öffentliche Interesse im vorbenannten Sinne ist relativ weit zu verstehen. In der Konsequenz ist die Einschränkbarkeit des Akteneinsichtsrechts auch konventionsrechtlich anerkannt,14 insbesondere bis zum Zeitpunkt der förmlichen Anklage.15 Der EGMR sieht eine zunächst geheim geführte Ermittlung grundsätzlich als konventionskonform an, wenn eine wirksame Verteidigung zu späterem Zeitpunkt ermöglicht werden kann.16 Eine Einschränkbarkeit kommt insbesondere bei einem selbstständigen Einsichtsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten/Angeklagten zum Tragen.17 Die Funktionsfähigkeit der (Straf-)Rechtspflege kann eine Einschränkung des Akteneinsichtsrechts also grundsätzlich rechtfertigen. Um dem Interesse an Akteneinsicht in größtmöglichem Umfang gerecht zu werden, ist die Verwehrung der Einsicht während des Ermittlungsverfahrens lediglich auf die Aktenteile beschränkt, die den Untersuchungszweck tatsächlich gefährden könnten.18

10 EGMR, Urt. v. 24.06.2003, No. 39482/98, Dowsett/GBR, Reports 2003-VII, 259, Rn. 42; weitere Nachweise bei Gaede, Fairness, S. 687, Fn. 18. 11 Vgl. MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 29, 31; vgl. auch EGMR, Urt. v. 24.06.2003, No. 39482/98, Dowsett/GBR, Reports 2003-VII, 259, Rn. 45 ff.; EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 29777/96, Fitt/GBR, Reports 2000-II, 387, Rn. 45; krit. Gaede, Fairness, S. 691 ff. 12 Zum Vorstehenden statt vieler Gaede, Fairness, S. 699, der betont, dass der EMRKKatalog nicht abschließend alle zu fordernden Rechte und Interessen normiert, weshalb eine Einschränkbarkeit auch durch nicht ausdrücklich normierte gegenläufige Interessen möglich sein müsse. 13 Gaede, Fairness, S. 699 f. 14 Beispielhaft EGMR, Urt. v. 18.05.2010, No. 26839/05, Kennedy/GBR, Rn. 187. 15 Eingehend MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 161 m. z. N. auch zu krit. Stimmen. 16 EGMR, Urt. v. 07.07.1989, No. 10857/84, Bricmont/BEL, Series A Nr. 158, Rn. 79, 84; siehe zum Ganze auch MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 161 m. w. N. 17 Vgl. EGMR, Urt. v. 18.03.1997, No. 22209/93, Foucher/FRA, Rn. 35. 18 Restriktiv anwendend auch MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 24 f. m. z. N.; LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 151 ff.; Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 81 ff.; Hiebl, Probleme, S. 158 f.; M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 68 f.; SSW-

I. Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege

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Besondere Grundsätze gelten jedoch bei angeordneter oder beantragter Untersuchungshaft; insoweit erfordert Art. 5 Abs. 4 EMRK und Art. 6 Abs. 1, 3 lit. a, b, c EMRK19 eine weitreichende Einsichtsgewährung. Der Waffengleichheitsgedanke gilt nach Auffassung des EGMR insbesondere in einem gerichtlichen Verfahren, in dem über die Anordnung oder Aufrechterhaltung einer freiheitsentziehenden Maßnahme entschieden wird. In der LamyEntscheidung führte der EGMR aus, dass bei verweigerter Akteneinsicht eine ausreichende Verteidigung gegen eine (beantragte) freiheitsentziehende Anordnung nicht möglich sei, was einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 4 EMRK bedeute.20 Eine genaue Aktenkenntnis auf Seiten der Anklage einerseits und die Unkenntnis der Akteninhalte auf Seiten der Verteidigung andererseits nähme der Verteidigung die Möglichkeit, die Gründe für die Anordnung oder Aufrechterhaltung der Haft effektiv zu bekämpfen.21 Habe die Verteidigung nicht in gleicher Weise Gelegenheit zur Kenntnisnahme der Akten, wie es die Staatsanwaltschaft gehabt habe,22 so sei das Strafverfahren nicht ausreichend kontradiktorisch ausgestaltet, was zu gewährleisten sei.23 Der EGMR erstreckt diese Vorgaben zu Recht nicht nur auf Haftprüfungsverfahren, sondern explizit auch auf die Verhandlung, in der über den Erlass eines (beantragten) Haftbefehls erstmalig entschieden wird.24 Aus konventionsrecht-

StPO/Beulke, § 147, Rn. 32 m. w. N.; SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 97; ähnlich Winter, Reform, S. 35; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 217 ff.; weniger zurückhaltend B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 268 ff. 19 Im Zshg. mit der Akteneinsicht in Haftkonstellationen nimmt der EGMR neben Art. 5 Abs. 4 EMRK ausdrücklich auch auf Art. 6 EMRK Bezug, siehe nur EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 25116/94, Schöps/DEU, Reports 2001-I, 391, Rn. 44. Dem ist zuzustimmen, da das Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren und eine umfassende Akteneinsicht – worauf die nachfolgenden Vorgaben aus Art. 5 Abs. 4 EMRK aufbauen – auf Art. 6 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 lit. a, b, c EMRK zurückzuführen sind; vgl. hierzu auch Kempf StraFo 2004, 299, 301. 20 Vgl. EGMR, Urt. v. 30.03.1989, No. 10444/83, Lamy/BEL, Series A Nr. 151, Rn. 29; vgl. auch EGMR, Urt. v. 25.03.1999, No. 31195/96, Nikolova/BGR, Reports 1999-II, 203, Rn. 58. 21 Vgl. EGMR, Urt. v. 30.03.1989, No. 0444/83, Lamy/BEL, Series A Nr. 151, Rn. 29; hierzu auch Walischewski, Probleme, S. 79; Börner MRM 2010, 97, 98 f. 22 Siehe EGMR, Urt. v. 30.03.1989, No. 10444/83, Lamy/BEL, Series A Nr. 151, Rn. 29: „The applicant’s counsel did not have the opportunity of effectively challenging the statements or views which the prosecution based on these documents.“ 23 Vgl. EGMR, Urt. v. 30.03.1989, No. 10444/83, Lamy/BEL, Series A Nr. 151, Rn. 29: „[…] the procedure was not truly adversarial.“ 24 Siehe EGMR, Urt. v. 30.03.1989, No. 0444/83, Lamy/BEL, Series A Nr. 151, Rn. 29: „This applied especially on the occasion of the applicant’s first appearance before the chambre du conseil, which had to rule on the confirmation of the arrest warrant (see paragraphs 10–11 above). The applicant’s counsel did not have the opportunity of effectively challenging the statements or views which the prosecution based on these documents.“; anders offenbar die Schlussfolgerung von Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 91 f.; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 247 ff.

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

licher Sicht ist umfassende Einsicht in die Aktenbestandteile demzufolge nicht nur vor einem Haftprüfungstermin gem. §§ 117 ff. StPO, sondern auch vor dem Vorführungstermin gem. § 115 StPO bzw. gem. der §§ 128 f. StPO zu gewähren.25 Die Begründungsstruktur in der Lamy-Entscheidung ist vor dem Hintergrund des Gedankens der Waffengleichheit sowie des Rechts auf ein kontradiktorisches Haftprüfungs-/Vorführungsverfahren zu sehen.26 Im Ergebnis bestätigt der EGMR hierbei insbesondere seine Sichtweise, nach der die Objektivitätspflicht der Staatsanwaltschaft die Akteneinsicht durch die Verteidigung nicht kompensieren könne.27 Die der Lamy-Entscheidung zugrunde gelegte Rechtsauffassung hat der EGMR in der sog. „Dreifachverurteilung“ Deutschlands im Februar 2001 fortgeführt und auch hierbei das anzuerkennende Bedürfnis der Verteidigung zum Ausdruck gebracht, die Entscheidungen und Einschätzungen der Strafverfolgungsbehörde insbesondere in Haftprüfungsverfahren umfassend überprüfen zu können. In den drei Verfahren ging es jeweils um eine beanstandete Beschränkung/Verweigerung der Akteneinsicht, wobei sich der Beschuldigte jeweils in Untersuchungshaft befand.28 Zur Entscheidung stand, ob die im Haftbefehl enthaltenen Informationen29 bzw. die durch den Haftrichter mündlich erteilten Angaben30 zur Verteidigung ausreichten, was der EGMR ablehnte und für unvereinbar mit Art. 5 Abs. 4 EMRK hielt. Zur Begründung führte der EGMR aus, dass es sich jeweils um eine Zusammenfassung/Schlussfolgerung von Informationen handele, die auf die Ermittlungsakte der Strafverfolgungsbehörde zurückgingen, deren Überprüfbarkeit durch die Verteidigung zu gewährleisten, aber in den drei Entscheidungen nicht ausreichend gewahrt worden sei.31 Hierbei bestätigt er

25 Ähnlich B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 298 f.; a. A. Meyer-Goßner/ Schmitt-StPO/Schmitt, § 147, Rn. 25a. 26 Vgl. eingehend Gröger, Akteneinsichtsrecht, S. 48 m. w. N.; Walischewski, Probleme, S. 75 m. w. N. 27 Vgl. i. E. EGMR, Urt. v. 17.05.1990, No. 12005/86, Borgers/BEL, Series A Nr. 214-A, Rn. 26; EGMR, Urt. v. 24.06.2003, No. 39482/98, Dowsett/GBR, Reports 2003-VII, 259, Rn. 44; diesen Schluss zieht auch Walischewski, Probleme, S. 79. 28 EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 23541/94, Garcia Alva/DEU, Reports 2001-VI, 487, Rn. 39; EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 24479/94, Lietzow/DEU, Reports 2001-I, 353, Rn. 44; EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 25116/94, Schöps/DEU, Reports 2001-I, 391, Rn. 44. 29 Vgl. EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 23541/94, Garcia Alva/DEU, Reports 2001-VI, 487, Rn. 40, wonach die Verdachtsgründe, Beweise und Haftgründe mündlich mitgeteilt wurden und an die Verteidigung eine Kopie lediglich bzgl. des Vernehmungs- und Durchsuchungsprotokolls und des Haftbefehls herausgegeben wurde; so auch EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 24479/94, Lietzow/DEU, Reports 2001-I, 353, Rn. 45 f. 30 So im Fall Schöps: EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 25116/94, Schöps/DEU, Reports 2001-I, 391, Rn. 45; siehe später auch EGMR [GK], Urt. v. 09.07.2009, No. 11364/03, Mooren/DEU, Rn. 121. 31 EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 23541/94, Garcia Alva/DEU, Reports 2001-VI, 487, Rn. 43; EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 24479/94, Lietzow/DEU, Reports 2001-I, 353, Rn. 48; EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 25116/94, Schöps/DEU, Reports 2001-I, 391, Rn. 55;

I. Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege

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seine Sichtweise, nach der die Gewährleistungen aus Art. 5 Abs. 4 EMRK nicht nur in Haftprüfungsverfahren, sondern auch bei festgenommenen Personen und damit bei Vorführungsterminen zum Zuge kämen.32 Der EGMR fordert in den vorbenannten Entscheidungen also, dass der Verteidigung die Ermittlungsinhalte (in ausreichender Weise) zugänglich zu machen sind, und zwar unabhängig davon, ob für die Strafverfolgungsbehörde etwaiges Verteidigungsmaterial ersichtlich ist.33 Die Gefährdung des Untersuchungszwecks tritt im Rahmen einer Verhandlung über die Anordnung oder die Fortdauer von Untersuchungshaft nach Auffassung des EGMR folglich hinter den Verteidigungsrechten vollständig zurück,34 jedenfalls soweit es sich um Informationen, die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der freiheitsentziehenden Maßnahme wesentlich sind, handelt.35 Nach hiesiger Untersuchung handelt es sich bei Akten um das Informationsmaterial, das der aktenführenden Staatsanwaltschaft im Zuge des betreffenden Ermittlungsverfahrens seit dessen Beginn bis zum Ermittlungsabschluss vorgelegen hat, einschließlich des Informationsmaterials, das der aktenführenden Staatsanwaltschaft im Zuge eines Strafverfahrens vorgelegen hat, das sich auf denselben Ermittlungsgegenstand wie das betreffende Strafverfahren bezieht, einschließlich des Informationsmaterials, das der aktenführenden Staatsanwaltschaft im Zuge eines Strafverfahrens vorgelegen hat, das den Anlass für die Einleitung des betreffenden Ermittlungsverfahrens dargestellt hat, wobei sich der Umfang auf dasjenige Informationsmaterial erstreckt, das ihr seit Beginn des vorausgegangenen „Anlassstrafverfahrens“ bis zur Einleitung des betreffenden Ermittlungsverfahrens vorgelegen hat. eingehend zur vorstehend erläuterten „Dreifachverurteilung“: Gröger, Akteneinsichtsrecht, S. 48 ff.; Börner MRM 2010, 97, 99; eingehend und befürwortend auch M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 77 f., 106 ff. 32 Siehe EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 23541/94, Garcia Alva/DEU, Reports 2001-VI, 487, Rn. 39: „The Court recalls that arrested or detained persons are entitled to a review bearing upon the procedural and substantive conditions which are essential for the ,lawfulness‘, in the sense of the Convention, of their deprivation of liberty. This means that the competent court has to examine ,not only compliance with the procedural requirements set out in domestic law but also the reasonableness of the suspicion grounding the arrest and the legitimacy of the purpose pursued by the arrest and the ensuing detention‘.“; siehe wortgleich EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 24479/94, Lietzow/DEU, Reports 2001-I, 353, Rn. 44; EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 25116/94, Schöps/DEU, Reports 2001-I, 391, Rn. 44. 33 Ähnlich auch die Schlussfolgerung von Börner MRM 2010, 97, 101. 34 Eingehend M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 111, 114; siehe auch MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 27a m. z. N.; die ähnliche Konsequenz zieht Meyer, Akteninformationsrecht, S. 255, der jedoch auf die Akteninhalte, die dem Ermittlungsrichter vorgelegt wurden, abstellt; so auch SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 38; ähnlich LRStPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 80; SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 65; Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 37. 35 EGMR, Urt. v. 25.03.1999, No. 31195/96, Nikolova/BGR, Reports 1999-II, 203, Rn. 58; siehe auch EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 24479/94, Lietzow/DEU, Reports 2001-I, 353, Rn. 44; krit. zu dieser Beschränkung Beulke/Witzigmann NStZ 2011, 254, 258 f.

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

Als „wesentlich“ i. S. d. § 147 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 StPO sind jedenfalls alle Vorgänge anzusehen, die die Staatsanwaltschaft seit Beginn des betreffenden Ermittlungsverfahrens angelegt hat bzw. die ihr zur Verfügung gestanden haben. Als wesentlich sind ferner die Aktenbestandteile des Strafverfahrens, das sich auf denselben Ermittlungsgegenstand bezieht wie das der freiheitsentziehenden Maßnahme zugrundeliegende Ermittlungsverfahren, als wesentlich anzusehen.36 Die vorgenannten Aktenbestandteile beziehen sich schließlich unmittelbar auf den betreffenden Ermittlungsgegenstand, sodass sie sich – in jedem Fall – auf den Kern des Ermittlungsverfahrens erstrecken und damit das „Wesentliche“ im vorbenannten Sinne darstellen. Ebenfalls sind für die Verteidigung gegen die freiheitsentziehende Maßnahme die Zurverfügungstellung der Aktenbestandteile zu demjenigen Vorgang erforderlich, der den Anlass für die Einleitung des betreffenden Ermittlungsverfahrens dargestellt hat, wobei während des Ermittlungsverfahrens nicht unbedingt all diejenigen Informationsträger als wesentlich anzusehen sind, die seit Beginn des vorausgegangenen „Anlassstrafverfahrens“ bis zur Einleitung des betreffenden „Hauptstrafverfahrens“ angefallen sind. Letzteres bedarf jedoch einer wertenden Beurteilung im Einzelfall. Sofern das wesentliche Ermittlungs- oder Belastungsmaterial im Zuge des „Anlassstrafverfahrens“ entstanden ist, wäre die Vorlage der gesamten Akten, die im Zuge des „Anlassstrafverfahrens“ seit dessen Einleitung bis zur Einleitung des „Hauptstrafverfahrens“ angefallen sind, erforderlich.37 In einer weiteren Entscheidung gegen Deutschland stellt der EGMR dabei zu Recht klar, dass in Fällen von beantragter/angeordneter Untersuchungshaft im Zweifel das gesamte Informationsmaterial im Wege der Akteneinsicht zugänglich zu machen ist,38 auch wenn es sich – wie in der Entscheidung Falk ./. Deutschland – um Ermittlungsmaterial mit einer Datenmenge von 500 CDs handelt, die dem Verteidiger in Kopie auszuhändigen wären.39 Hierbei betont der Gerichtshof erneut, dass die Strafverfolgungsbehörde eben nicht entscheiden dürfe, was von dem angesammelten Ermittlungsmaterial für die Verteidigung relevant sei.40 Der EGMR hat sich in den soeben aufgezeigten Entscheidungen noch nicht einmal die Frage gestellt, ob eine mündliche Mitteilung, Zusammenfassung oder eine aus Gründen der Untersuchungszweckgefährdung nur teilweise Einsichts36

Ähnlich weitgehend i. E. auch BGH Ermittlungsrichter StV-S 2021, 128, 131 f. Anders etwa Peglau JR 2012, 231, 232 f., wonach die den Beschuldigten nicht „direkt“ betreffenden Vorgänge (noch) nicht der Einsicht zugänglich seien; auch nach Jahn, FS I. Roxin, S. 593, bzw. LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 170, seien diejenigen Vorgänge nicht wesentlich i. S. v. § 147 Abs. 2 S. 2 StPO, die lediglich Mitbeschuldigte beträfen. 38 siehe EGMR, Entsch. v. 11.03.2008, No. 41077/04, Falk/DEU, S. 5. 39 Siehe EGMR, Entsch. v. 11.03.2008, No. 41077/04, Falk/DEU, S. 5 f.; anders wird der Inhalt der Falk-Entscheidung von Beulke/Witzigmann NStZ 2011, 254, 259, interpretiert; siehe demgegenüber – i. E. wie vom Verfasser interpretiert – eingehend etwa Pauly StV 2010, 492, 493. 40 EGMR, Entsch. v. 11.03.2008, No. 41077/04, Falk/DEU, S. 5: „[…] and the prosecution should not be the authority to decide on the relevance of the material.“ 37

I. Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege

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gewährung vor dem Hintergrund des Art. 5 Abs. 4 EMRK ausnahmsweise einmal als EMRK-konform angesehen werden könne.41 Der zuvor sowohl vom Bundesgerichtshof als auch vom Bundesverfassungsgericht gewählte Ansatz, nach dem die mündliche Haftprüfung grundsätzlich ohne die Gewährung von Akteneinsicht als rechtsstaatlich angesehen wurde und nur ausnahmsweise dann etwas anderes zu gelten habe, wenn und soweit die mündliche Mitteilung nicht ausreichend erscheine (namentlich, weil die mündlichen Informationen zu umfangreich seien),42 wurde aufgegeben.43 Hierbei wird auch ausdrücklich auf die Rechtsauffassung des EGMR Bezug genommen.44 Ausgewählte Entscheidungen der vorbenannten EGMR-Judikatur nahm der Gesetzgeber zum Anlass, die auch heute noch geltende Vorschrift des § 147 Abs. 2 S. 2 StPO einzuführen.45 Behördlich verwahrte Personen haben nach Auffassung des Gesetzgebers ein besonderes Interesse daran, dass ihrem Verteidiger auch im Ermittlungsverfahren die wesentlichen Informationen zugänglich zu machen sind, was regelmäßig die Gewährung von Akteneinsicht bedeute.46 Die Begründungsstruktur des EGMR nahm der nationale Gesetzgeber folglich explizit in seinen Willen auf. Die Wertung, dass der Beschuldigte bereits im Vorführungstermin ein weitreichendes Verteidigungsinteresse habe, kommt auch in § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO zum Ausdruck, nach dem ein Fall der notwendigen Verteidigung auch dann vorliegt, wenn der Beschuldigte gem. §§ 115 f., 128 f. StPO vorzuführen ist.47

41 Vgl. hierzu auch Börner MRM 2010, 97, 103; ähnlich LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 163 f. m. w. N.; anders werden die Konventionsvorgaben etwa vom OLG Hamm wistra 2008, 195, 198, interpretiert. 42 BVerfG NJW 1994, 573; NJW 1994, 3219, 3220; siehe auch BGH NJW 1996, 734, 734 f.; weitere Nachweise bei Börner MRM 2010, 97, 103 Fn. 42; M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 76. 43 BVerfGK 3, 197, 206; siehe auch – wenngleich es sich nur um eine Entscheidung des Ermittlungsrichters handelt – BGH Ermittlungsrichter StV 2012, 321, 322 f. m. Anm. Tsambikakis; BGH Ermittlungsrichter StV-S 2021, 128, 131 f.; eingehend auch Börner MRM 2010, 97, 103 f. 44 BGH Ermittlungsrichter StV 2012, 321, 322 m. Anm. Tsambikakis; BVerfGK 3, 197, 206; eingehend Börner MRM 2010, 97, 105. 45 BGBl. 2009 I, 2277; zur gesetzgeberischen Intention: BR-Drs. 829/08, Teil 2, S. 14, 48; BT-Drs. 16/11644, 13, 33 f.; vgl. hierzu auch Börner MRM 2010, 97, 105 f.; dies forderte bereits M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 79. 46 Siehe BT-Drs. 16/11644, 2, 13, 33 f., mit Hinweis auf die EGMR-Entscheidungen in Sachen Mooren, Lietzow und Garcia Alva (vgl. die jeweiligen Fundstellen a. a. O.); vgl. auch die Begründung zur Einführung von § 147 Abs. 5 S. 2 StPO auf BT-Drs. 14/2595, 28. 47 Die Neufassung der Norm diente der Umsetzung von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, ABl. 2016 L 297/1: BT-Drs. 19/13829, 33.

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

Insofern ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber unter Umständen auch bei lediglich beantragtem/noch nicht vollzogenem Haftbefehl § 147 Abs. 2 S. 2 StPO anzuwenden intendiert, was im Übrigen der Wortlaut des § 147 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 StPO zumindest andeutet.48 Schließlich entspricht ein solches Verständnis der aufgezeigten Rechtsprechung des EGMR, die der Gesetzgeber bei der Einführung des § 147 Abs. 2 S. 2 StPO berücksichtigt hat. Es besteht insoweit also keine planwidrige Regelungslücke, die durch eine analoge Anwendung des § 147 Abs. 2 S. 2 StPO geschlossen werden müsste.49 Die vorstehenden Gewährleistungen entsprechen mithin der Intention des Gesetzgebers, die im Wortlaut des § 147 Abs. 2 S. 2 StPO und der diesbezüglichen Gesetzesbegründung zum Ausdruck kommt; soweit vereinzelte Entscheidungen der aufgezeigten EGMR-Judikatur nicht ausdrücklich in der Gesetzesbegründung Erwähnung gefunden haben, sind die jeweiligen Vorgaben des EGMR i. R. e. konventionskonformen Auslegung zu berücksichtigen. Eine im Vorführungs-/Haftprüfungsverfahren vollständige Einsicht zumindest in die wesentlichen Bestandteile der Ermittlungsakten im vorbenannten Sinne, also ggfs. auch in vorliegende sog. Spurenakten, ist bei beantragter oder bereits angeordneter Untersuchungshaft demzufolge zu gewähren.50 Der Passus in § 147 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 StPO „in der Regel“ ist mithin als „in aller Regel“ bzw. „stets“ zu begreifen.51 Lediglich die Vorgänge, die im Zuge eines „Anlassstrafverfahrens“ seit dessen Einleitung bis zur Einleitung des „Hauptstrafverfahrens“ angefallen sind, sind nicht in jedem Fall als wesentliche Aktenbestandteile einzuordnen, sodass während des Ermittlungsverfahrens und drohender Freiheitsentziehung auch nur insoweit die Einsicht verwehrt werden kann. Im Zweifel ist jedoch auch insoweit vollständige Einsicht zu gewähren. Es ist in Konstellationen, in denen der Beschuldigte sich wegen des in Rede stehenden Ermittlungsverfahrens noch nicht in Untersuchungshaft befindet, jedoch ein Aspekt zu beachten. Soweit der EGMR den Anwendungsbereich des Art. 5 Abs. 4 EMRK und die hieraus abgeleiteten Gewährleistungen auf Personen, bei denen über die Anordnung von Untersuchungshaft erst noch entschie48 A. A Meyer-Goßner/Schmitt-StPO/Schmitt, § 147, Rn. 27: „nach seinem eindeutigen Wortlaut nicht anwendbar“; die Einsicht jdfs. in die entscheidungsrelevanten Aktenbestandteile fordern beim noch nicht vollzogenen Haftbefehl bspw.: MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 28 m. w. N.; Walischewski StV 2001, 243, 248; ähnlich SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 66; Herrmann StraFo 2012, 17, 19; Park StV 2009, 276, 283; Beulke/Witzigmann NStZ 2011, 254, 258; so im Einzelfall auch OLG Köln StV 1998, 269, 269 f.; ablehnend bspw.: BVerfG NStZ-RR 1998, 108, 109; OLG München StV 2009, 538, 538 f. m. abl. Anm. Wohlers; OLG München NJW-Spezial 2012, 506; KG StV 2012, 358, 360 m. krit. Anm. Börner; KK-StPO/Willnow, § 147, Rn. 16; Schlothauer StV 2001, 192, 194; Peglau JR 2012, 231, 234; abl. auch B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 298. 49 Siehe zu den Vertretern, die § 147 Abs. 2 S. 2 StPO insoweit analog anwenden, die Nachweise bei SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 41. 50 Ähnlich M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 78 f.; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 247 f. 51 SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 40; ähnlich Jahn, FS I. Roxin, S. 593 f.; LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 168, 172; Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 133.

I. Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege

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den werden soll, erstreckt hat, ging es ausschließlich um bereits festgenommene Personen.52 Die Einschränkung im Wortlaut des § 147 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 StPO („befindet sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft oder ist diese im Fall der vorläufigen Festnahme beantragt“) ist vom Gesetzgeber bewusst an die Anwendungsvoraussetzungen des EGMR angepasst worden.53 Den Anwendungsbereich eines weitreichenden Einsichtsrechts i. S. d. § 147 Abs. 2 S. 2 StPO auf zumindest festgenommene Personen zu beschränken, liegt in der Natur der Regelungsmaterie und ist insofern nicht zu beanstanden. Andernfalls würde dem Beschuldigten bzw. seinem Verteidiger (regelmäßig) vollständige Einsicht in die Akten selbst dann zu gewähren sein, wenn der Beschuldigte flüchtig und (möglicherweise deshalb) in der Lage ist, die Ermittlungen zu stören. Bei einem heimlich erlassenen, aber noch nicht vollzogenen Haftbefehl könnte „ins Blaue hinein“ (nahezu vollständige!) Akteneinsicht beantragt werden, die sodann gewährt werden müsste.54 Dass die Forderung nach regelmäßig vollständiger Akteneinsicht zu diesem Zeitpunkt noch keine Anwendung finden kann, dürfte nachvollziehbar sein und kann im Übrigen der ratio des § 33 Abs. 4 S. 1 StPO entnommen werden.55 Erkennt man das verfassungs- und konventionsrechtlichen Rang genießende Rechtsgut der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege an, aus dem das Bedürfnis der Strafverfolgungsbehörden erwächst, 1. selbst zu entscheiden, wann von dem heimlichen Ermitteln in das „offen zu Tage tretende“ Vorgehen übergegangen wird, und 2. abwarten zu können, dass der Beschuldigte auf der Grundlage des heimlich erlassenen Untersuchungshaftbefehls erst einmal ergriffen wird,56 kann an dem Ergebnis kein Zweifel bestehen. Insofern ist die (weitgehend) umfassende Akteneinsicht noch nicht zu gewähren, wenn ein Haftbefehl zwar beantragt oder bereits erlassen wurde, gegen den Beschuldigten bislang aber noch (ganz oder nur zum Teil) geheim ermittelt wird 52 Siehe EGMR, Urt. v. 30.03.1989, No. 0444/83, Lamy/BEL, Series A Nr. 151, Rn. 29: „This applied especially on the occasion of the applicant’s first appearance before the chambre du conseil, which had to rule on the confirmation of the arrest warrant (see paragraphs 10–11 above).“; EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 23541/94, Garcia Alva/DEU, Reports 2001-VI, 487, Rn. 39: „The Court recalls that arrested or detained persons are entitled to a review bearing upon the procedural and substantive conditions which are essential for the ,lawfulness‘, in the sense of the Convention, of their deprivation of liberty. This means that the competent court has to examine ,not only compliance with the procedural requirements set out in domestic law but also the reasonableness of the suspicion grounding the arrest and the legitimacy of the purpose pursued by the arrest and the ensuing detention‘.“; siehe wortgleich EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 24479/94, Lietzow/DEU, Reports 2001-I, 353, Rn. 44; EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 25116/94, Schöps/DEU, Reports 2001-I, 391, Rn. 44. 53 BT-Drs. 16/11644, 33 f.; ähnlich Peglau JR 2012, 231, 234, der jedoch wiederum auf den Vollzug der Untersuchungshaft abstellt. 54 So auch der Einwand von KK-StPO/Willnow, § 147, Rn. 16. 55 So auch Meyer-Goßner/Schmitt-StPO/Schmitt, § 147, Rn. 25a; siehe auch OLG München StV 2009, 538, 538 f. m. abl. Anm. Wohlers; KG StV 2012, 358, 360 m. krit. Anm. Börner. 56 Ähnlich etwa BVerfG NStZ-RR 1998, 108, 109; OLG München StV 2009, 538, 538 f. m. abl. Anm. Wohlers.

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

und der Untersuchungshaftbefehl mangels Ergreifens noch nicht vollzogen werden konnte.57 Die weitgehende Einsichtsgewährung im vorbenannten Sinne erfasst also zwei Fälle: entweder ist der Beschuldigte vorläufig festgenommen worden und ein Haftbefehl wurde zuvor (vgl. § 115 StPO) bzw. nach der vorläufigen Festnahme (vgl. § 128 StPO) von der Staatsanwaltschaft beantragt oder der Beschuldigte befindet sich bereits in Untersuchungshaft. Solange sich der Beschuldigte – auch wenn bereits ein Haftbefehl erlassen worden ist – nicht in staatlichem Gewahrsam befindet, kommt § 147 Abs. 2 S. 2 StPO (und die hinter der Norm stehende EGMR-Judikatur) nicht zur Anwendung. Es kommt für die Anwendbarkeit des § 147 Abs. 2 S. 2 StPO also nicht darauf an, ob der Haftbefehl schon vollzogen wurde. Dies wäre genau genommen schließlich erst der Fall, wenn der Beschuldigte sich bereits in Untersuchungshaft befindet, da der „Untersuchungshaftbefehl“ erst mit der Durchführung der Untersuchungshaft vollständig vollzogen ist.58 Entscheidend ist vielmehr, ob sich der Beschuldigte in staatlichem Gewahrsam befindet und ein Haftbefehl zumindest beantragt wurde. Ist der Beschuldigte aufgrund des heimlich erlassenen Untersuchungshaftbefehls festgenommen worden, so ist der Untersuchungshaftbefehl zwar noch nicht (vollständig) vollzogen, aber bereits beantragt (und erlassen), sodass dem Beschuldigten bzw. seinem Verteidiger nunmehr nach Maßgabe des § 147 Abs. 2 S. 2 StPO Einsicht zu gewähren ist, um sich auf den Vorführungstermin (§ 115 StPO) effektiv vorbereiten zu können.59 Anders verhält es sich jedoch, wenn sich der Beschuldigte wegen eines Ermittlungsverfahrens in Untersuchungshaft befindet oder eine solche beantragt worden ist und gegen den Beschuldigten zu dieser Zeit ein weiteres Ermittlungsverfahren (wegen einer gesonderten prozessualen Tat, die mit dem anderen Ermittlungsverfahren inhaltlich nicht zusammenhängt) geführt wird. Hinsichtlich des letztgenannten weiteren Ermittlungsverfahrens kann der Beschuldigte unter Hin57 In diesem Sinne auch EGMR, Entsch. v. 10.12.2013, Nos. 53792/09, 11320/13, Junior/DEU, Rn. 54 ff.; so auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 159, der diese Rechtslage jedoch für rechtspolitisch bedenklich hält. 58 Mit dem Untersuchungshaftbefehl wird selbstredend die Festnahme des Beschuldigten (die „Ergreifung“) und die anschließende Untersuchungshaft angeordnet, vgl. auch §§ 114 Abs. 1, 115 Abs. 1StPO, wonach durch den Haftbefehl i. S. v. § 114 StPO die Untersuchungshaft angeordnet wird und der Beschuldigte auf der Grundlage des Haftbefehls ergriffen wird. Soweit in Rspr. und Literatur uneinheitlich beurteilt wird, ob (vollständige/weitgehende) Akteneinsicht auch vor dem Ergreifen des Beschuldigten zu gewähren ist, also in diesem Sinne vor dem Haftbefehlsvollzug § 147 Abs. 2 S. 2 StPO letztlich Anwendung findet, ist dies mithin zu negieren. Sofern dem Beschuldigten bekannt ist, dass ein Haftbefehl gegen ihn erlassen worden ist und er (flüchtig oder sonst ortsabwesend) Akteneinsicht beantragt bzw. beantragen lässt, ist jedoch genauestens zu prüfen, inwieweit § 147 Abs. 2 S. 1 StPO greift; in diesem Sinne auch Meyer-Goßner/Schmitt-StPO/Schmitt, § 147, Rn. 25a, 27; ähnlich SKStPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 66; zum Meinungsstand: MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 28; vgl. bspw. auch OLG München StV 2009, 538, 538 f. m. abl. Anm Wohlers; KG StraFo 2012, 15, 16 f. m. abl. Anm. Herrmann. 59 Ähnlich bspw. BVerfG NStZ-RR 1998, 108, 109.

I. Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege

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weis auf § 147 Abs. 2 S. 2 StPO keine vollständige Akteneinsicht begehren.60 Der Zweck des § 147 Abs. 2 S. 2 StPO ist die Schaffung einer ausreichenden, effektiven Verteidigung gegen die (beantragte) Freiheitsentziehung. Hierfür ist eine umfassende Einsicht in die Vorgänge betreffend das Verfahren, das Gegenstand der (beantragten) Untersuchungshaft ist, erforderlich, aber auch ausreichend. Der Gesetzgeber hatte bei Einführung des § 147 Abs. 2 S. 2 StPO lediglich solche Vorgänge vor Augen, die das Verfahren betreffen, das Grundlage für die (beantragte) Untersuchungshaft ist. So verhält es sich schließlich auch mit der vom Gesetzgeber zugrunde gelegten EGMR-Rechtsprechung.61 Dies zeigt sich auch im Wortlaut des § 147 Abs. 2 S. 2 StPO („sind dem Verteidiger die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung“). Der Wortlaut von § 148 Abs. 1 StPO ist im Vergleich (zu Recht) entsprechend weiter formuliert („wenn er sich nicht auf freiem Fuß befindet“).62 Etwas anderes ergibt sich im Ermittlungsverfahren auch nicht aus den aufgezeigten Verfassungsund Konventionsvorgaben. Die vorbenannte Konstellation betrifft weniger den Anwendungsbereich des § 147 Abs. 2 S. 2 StPO, sondern vielmehr den des § 147 Abs. 2 S. 1 StPO. Jedenfalls, wenn sich der Beschuldigte bereits in Untersuchungshaft befindet, wird schließlich genauestens zu prüfen sein, inwieweit eine Akteneinsicht betreffend ein anderes Ermittlungsverfahren den Untersuchungszweck gefährden kann.63 Sofern dies dennoch anzunehmen ist, muss dies mit Blick auf den Schutz der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege spätestens bis zu dessen Ermittlungsabschluss hingenommen werden. Wird hingegen ein Haftbefehl gegen einen Beschuldigten erlassen, der sich bereits in Untersuchungs-/Strafhaft oder sonstigem amtlichen Gewahrsam befindet, findet § 147 Abs. 2 S. 2 StPO wiederum Anwendung. Denn der Beschuldigte muss umgehend in die Lage versetzt werden, sich gegen einen solchen sog. „Überhaftbefehl“ effektiv zu verteidigen.64 60 So aber Schlothauer StV 2001, 614, 614 f.; vgl. im Zshg. mit § 147 Abs. 5 S. 2 Var. 3 StPO auch BGH Ermittlungsrichter StV 2012, 321, 322 m. Anm. Tsambikakis m. w. N. auch zu gegenteiligen Auffassungen in Rspr. und Schrifttum. 61 Siehe erneut BT-Drs. 16/11644, 33: „Die Neufassung von § 147 Abs. 2 StPO-E dient vor allem der Umsetzung einer ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte […]. […] Nach dieser Rechtsprechung hat der inhaftierte Beschuldigte zumindest einen Anspruch darauf, dass ihm bzw. seinem Verteidiger diejenigen Informationen zugänglich gemacht werden, die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung wesentlich sind.“; EGMR, Urt. v. 30.03.1989, No. 0444/83, Lamy/BEL, Series A Nr. 151, Rn. 29; EGMR, Urt. v. 13.02.2001, No. 23541/94, Garcia Alva/DEU, Reports 2001-VI, 487, Rn. 39; so auch BGH Ermittlungsrichter StV 2012, 321, 322 m. Anm. Tsambikakis, worin zudem auf die Begründung zu § 147 Abs. 5 S. 2 Var. 3 StPO auf BTDrs. 14/2595, 28, rekurriert wird, die insoweit jedoch nicht hinreichend ergiebig ist; so auch Tsambikakis StV 2012, 323, 324. 62 Vgl. im Zshg. mit § 147 Abs. 5 S. 2 Var. 3 StPO auch Tsambikakis StV 2012, 323, 324. 63 So auch MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 28; vgl. auch BGH Ermittlungsrichter NStZ 2022, 564, 566 f. m. zust. Anm. Knauer/Pretsch. 64 So auch Schlothauer StV 2001, 614, 614; LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 158

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In Fällen von beantragter/angeordneter Untersuchungshaft ist dem Verteidiger des sich in staatlichem Gewahrsam befindlichen Beschuldigten mithin unverzügliche und weitgehend vollständige Einsicht zu gewähren. Auch insoweit muss der Verteidiger in der Lage sein, die Akten in den eigenen Räumlichkeiten zu studieren und erforderlichenfalls mit dem Beschuldigten bestimmte Akteninhalte zu besprechen. Dies ergibt sich einerseits aus § 147 Abs. 2 S. 2 StPO, der eine Einsichtsgewährung nicht etwa auf die Einsicht in den Diensträumen beschränkt, und andererseits aus § 32f Abs. 1, 2 StPO, der die Form der Einsichtsgewährung regelt und für die Fälle von beantragter/angeordneter Untersuchungshaft keine Sonderregelung vorsieht. Zudem gebieten die verfassungs- und konventionsrechtlichen Gewährleistungen im Kontext von Untersuchungshaft die Herstellung von weitgehender (und unverzüglich herzustellender) Waffengleichheit. Sofern der Verteidigung im Falle von papiernen Akten vor dem Vorführungstermin die gesamten Akten zum Zwecke der Einsichtnahme aus organisatorischen Gründen nicht mitgegeben werden können – etwa weil die umfangreichen Akten dem Gericht zur Vorbereitung auf den Vorführungstermin vorliegen (müssen) – werden aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung Aktendoppel, also Aktenkopien, anzulegen sein.65 Da sich der Beschuldigte hierbei ohnehin in staatlichem Gewahrsam befindet und die einzusehenden Akten mit dem Mandanten zur Vorbereitung auf den Vorführungstermin zumindest im Wesentlichen besprochen werden müssen, kann eine Einsicht im Falle einer Vorführung ausnahmsweise und zur Beschleunigung des Verfahrens auch in den Diensträumen erfolgen. Der Regelfall muss aus vorbenannten Gründen jedoch die Gewährung von Akteneinsicht in den eigenen Räumlichkeiten des Verteidigers bleiben. In jedem Fall ist es erforderlich, dass der Verteidigung ausreichend Zeit zur Einsicht und Besprechung der Akten vor dem Vorführungstermin gewährt wird.66 Die vorstehenden Gewährleistungen ergeben sich unabhängig von der auch bei den Verfassungsvorgaben (verfassungsrechtliches Fairnessgebot und speziell Art. 103 Abs. 1 GG) berücksichtigungspflichtigen EMRK zudem aus Art. 19 Abs. 4 GG. In einem gerichtlichen Verfahren über die Anordnung oder Fortdauer von Untersuchungshaft bedarf es einer gerichtlichen Überprüfung auf vollständiger Informationsgrundlage.67

m. w. N.; eingehend zu nicht vollzogenen Haftbefehlen, für die „Überhaft“ notiert ist: BeckOK-StPO/Krauß, § 112, Rn. 52 m. w. N. 65 Dies ist auch im Sinne des Gesetzgebers, vgl. BT-Drs. 14/2595, 28: „Eine nennenswerte Verfahrensverzögerung ist nicht zu befürchten, da in den betroffenen Fällen seitens der Staatsanwaltschaft grundsätzlich Duplo-Akten im Hinblick auf die Rechtsbehelfe der Haftprüfung bzw. der Beschwerde (§ 117Abs. 1 und 2, § 126a Abs. 2 StPO) geführt werden.“ 66 So auch Jahn, FS I. Roxin, S. 593; siehe auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 166 a. E, 171 m. w. N. 67 Siehe hierzu unter Verweis auf Art. 104 Abs. 2 GG auch Knauer/Pretsch NStZ 2022, 567, 568.

I. Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege

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Die Verwehrung von Akteneinsicht aufgrund angenommener Untersuchungszweckgefährdung gem. § 147 Abs. 2 S. 1 StPO bezieht sich lediglich auf das in Rede stehende Strafverfahren.68 Sofern eine Akteneinsicht den Untersuchungszweck anderer Verfahren, die gegen den Beschuldigten oder gar Dritte geführt werden, gefährdet, kann dies dem Einsichtsbegehren nicht entgegengehalten werden. Die Versagung von Akteneinsicht aufgrund einer Untersuchungszweckgefährdung auch hinsichtlich eines weiteren Verfahrens ist lediglich i. R. d. Einsichtsrechts des verteidigerlosen Beschuldigten vorgesehen. Der diesbezügliche Vorbehalt in § 147 Abs. 4 S. 1 StPO ist in § 147 Abs. 1, 2 StPO nicht normiert.69 Der Gesetzgeber hat die Erstreckung der Untersuchungszweckgefährdung auch auf andere Verfahren bewusst ausschließlich zulasten des verteidigerlosen Beschuldigten eingeführt.70 Zwar wurde in der Begründung zur Reform des § 147 StPO im Jahr 2010 offen gelassen, inwieweit die Verwehrung von Akteneinsicht aufgrund der Untersuchungszweckgefährdung in einem anderen Strafverfahren zulässig ist (oder sein könnte).71 Dass der Gesetzgeber die Untersuchungszweckgefährdung in einem anderen Strafverfahren als Verwehrungsgrund bei Einsichtsgesuchen des Verteidigers nicht für zulässig erachtet, hat der Gesetzgeber jedoch bei der Einführung des § 147 RStPO,72 der Reform im Jahr

68 Siehe auch SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 96 m. w. N.; Jahn, FS I. Roxin, S. 594 f.; Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 112; a. A. wohl BGH Ermittlungsrichter StV 2012, 321, 323 m. abl. Anm. Tsambikakis, wonach offenbar sogar bei Identität von Haftgegenstand und dem in dem konkreten Fall weiteren Verfahren vor dem IStGH § 147 Abs. 2 S. 2 StPO nicht anwendbar sei. 69 So auch SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 32. 70 Siehe zunächst BR-Drs. 829/08, Teil 2, S. 6, 48, wonach die einzuführende Erstreckung der Untersuchungszweckgefährdung auch auf andere Verfahren desselben Beschuldigten oder Dritte ursprünglich sowohl auf den Verteidiger als auch auf den verteidigerlosen Beschuldigten gelten sollte; diese weitgehende Versagungsmöglichkeit der Einsicht des Verteidigers wurde im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens nach Empfehlung des Rechtsausschusses jedoch bewusst aus § 147 Abs. 2 S. 1 StPO-E wieder gestrichen, siehe BTDrs. 16/13097, 19: „In § 147 Abs. 2 Satz 1 StPO-E wird der im Regierungsentwurf vorgesehene Einschub, wonach die Versagung der Akteneinsicht mit der Gefährdung des Untersuchungszwecks ,auch in einem anderen Strafverfahren‘ begründet werden kann, gestrichen. Die weitere Prüfung hat ergeben, dass dieser Einschub u. U. unerwünschte Rückschlüsse oder Wertungswidersprüche in Bezug auf andere Bestimmungen der Strafprozessordnung zur Folge haben kann, die ebenfalls auf eine Gefährdung des Untersuchungszwecks abstellen […].“; siehe hierzu auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 174 f.; so i. E. auch MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 24 m. w. N.; Tsambikakis StV 2012, 323, 324 f. 71 BT-Drs. 16/13097, 19: „Eine Aussage über die Zulässigkeit der Versagung der Akteneinsicht im Hinblick auf eine Gefährdung des Untersuchungszwecks in einem anderen Strafverfahren ist damit nicht verbunden.“; hierauf stellt auch BGH Ermittlungsrichter StV 2012, 321, 323 m. krit. Anm. Tsambikakis, ab. 72 Siehe Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 144: „Der Entwurf gewährt dem Vertheidiger das Recht der Akteneinsicht und die Befugniß, mit dem verhafteten Beschuldigten mündlich oder schriftlich zu verkehren. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens gilt dies ohne

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

1965,73 der Reform im Jahr 197574 und der jüngsten Reform im Jahr 201875 deutlich gemacht. Zudem handelt es sich bei § 147 Abs. 2 S. 1 StPO um eine Ausnahme von dem grundsätzlich umfassenden Einsichtsrecht gem. § 147 Abs. 1 StPO, die eng auszulegen ist.76 Wie bereits herausgearbeitet und innerhalb der Analyse der Spurenakten-Entscheidung ausgeführt wurde,77 erstreckt sich das aus der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege abgeleitete sog. Ermittlungsgeheimnis als Schranke des Offenlegungsanspruches nicht auf die Untersuchungen gegen andere Beschuldigte oder auf andere Ermittlungsverfahren wegen weiterer prozessualer Taten desselben Beschuldigten. Durch die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege soll eine effektive Verteidigung schließlich nicht unmöglich gemacht werden; diese Interessen stehen sich wechselwirkend gegenüber.78 Dies vorausgeschickt, kann sich der Aspekt des sog. Ermittlungsgeheimnisses lediglich auf das in Rede stehende Strafverfahren beziehen und hat nach Ermittlungsabschluss oder in Fällen von beantragter/angeordneter Untersuchungshaft hinter den Verteidigungsinteressen zurückzutreten. Die Einsicht mit der Begründung zu versagen, dass hierdurch

Einschränkung.“; siehe auch Hahn/Stegemann a. a. O. S. 966: „Nach geschlossener Untersuchung gewähre auch der Entwurf die Einsicht der Akten ohne jede Einschränkung.“; Hahn/ Stegemann a. a. O. S. 966 f.: „Denn die Einsicht der vollständigen Akten, namentlich der erst vom Untersuchungsrichter angeordneten noch in der Schwebe befindlichen Erhebungen z. B. Haussuchungen, Briefbeschlagnahmen, Verhaftung Mitschuldiger u. s. w. könne seine ganze Arbeit zerstören.“; Hahn/Stegemann a. a. O. S. 967: „Daß die Akten nach völlig geschlossener Voruntersuchung dem Vertheidiger zur Einsicht überlassen werden müssen, habe noch kein Mensch bezweifelt, und das sei auch im Inquisitionsprozesse geschehen.“ 73 Siehe BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 31: „Eine Beschränkung der Akteneinsicht ist nach Absatz 2 in Zukunft nur noch möglich, bevor der Abschluß der Ermittlungen in den Akten vermerkt ist (§ 169 a Abs. 1). Nach diesem Zeitpunkt kann die Akteneinsicht dem Verteidiger auch dann nicht mehr versagt werden, wenn die Ermittlungen später wieder aufgenommen werden.“ 74 Vgl. BT-Drs. 7/2600, 5: „Ist dem Verteidiger die Akteneinsicht ganz oder teilweise versagt worden, so besteht – ungeachtet dessen, daß er bestimmte Aktenstellen gleichwohl einsehen darf – ein Bedürfnis dafür, zum Ausgleich für die völlige Abschaffung von Schlußanhörung und Schlussgehör sicherzustellen, daß er vor Anklageerhebung Einsicht in die vollständigen Akten nehmen kann. Um diesem Anliegen zu genügen, schreibt der neugefaßte Absatz 6 eine Mitteilung darüber vor, daß das Recht auf Akteneinsicht wieder uneingeschränkt besteht.“ 75 Siehe BT-Drs. 18/12203, 74: „Durch die in Absatz 4 ausdrücklich geregelten Möglichkeiten der Beschränkung der Akteneinsicht bei Gefährdung des Untersuchungszwecks oder schutzwürdiger Interessen Dritter ist in hinreichendem Maß sichergestellt, dass der nicht verteidigte Beschuldigte – anders als der Verteidiger – kein uneingeschränktes Akteneinsichtsrecht besitzt.“ 76 Siehe hierzu allg. Larenz, Methodenlehre, S. 355 f.; so auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 155 f.; so i. E. auch SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 32. 77 Siehe S. 74, 414 ff. 78 Siehe hierzu erneut B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 172; Jörke, Akteneinsicht, S. 14; Winter, Reform, S. 27 m. w. N.; vgl. i. E. auch BVerfGE 46, 214, 222 f.

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zwar nicht die Untersuchung des in Rede stehenden Strafverfahrens, jedoch die Untersuchung anderer Strafverfahren gefährdet werden könnte,79 würde auch den verfassungsrechtlich verbürgten Funktionen des Verteidigers, dem Waffengleichheitspostulat und dem verfassungsrechtlichen Anspruch darauf, dass ab Ermittlungsabschluss eine Einsicht in die vollständigen Ermittlungsakten gewährt wird, entgegenstehen.80 Bei (drohender) Freiheitsentziehung ist die Ermöglichung einer effektiven Verteidigung umso wichtiger.

2. Der Beschleunigungsgrundsatz Eine funktionstüchtige Strafrechtspflege gebietet es ferner, das Strafverfahren weitestgehend zu fördern bzw. zu beschleunigen. Eine Entscheidungsfindung in angemessener Zeit ist wichtiger Bestandteil einer dem Ziel der Wiederherstellung von Rechtsfrieden genügenden Strafrechtspflege.81 Das Beschleunigungsgebot folgt verfassungsrechtlich damit aus Art. 20 Abs. 3 GG bzw. dem Fairnessgebot82 und konventionsrechtlich aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK.83 Die Einschränkbarkeit der Beschuldigtenrechte bzw. des Fairnessgebots zur Verfahrensbeschleunigung ist nach wohl herrschender Auffassung grundsätzlich anerkannt, auch aus verfassungs- und konventionsrechtlicher Sicht.84 Unabhängig davon, ob man dem Beschleunigungsgebot generell eine Wirkung zulasten des Beschuldigten zuerkennt,85 kann jedenfalls das Akteneinsichtsrecht im Grundsatz nicht aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung eingeschränkt werden.86 Denn grundsätzlich „[kommt] [e]ine solche überragende Stellung dem Beschleunigungsgrundsatz im Strafprozeß sicher nicht zu“.87 Zunächst dient § 147 StPO nach dem Willen des Gesetzgebers gerade der Verfahrensbeschleunigung. Dies wurde bereits bei der Einführung des § 147 RStPO zum Ausdruck gebracht.88 Auch den Gesetzesmaterialien zum 1. StVRG 1974

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Angelehnt etwa an die Ausführungen bei BVerfGE 63, 45, 66. In diesem Sinne auch BVerfGE 109, 279, 366 f. 81 M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 36 m. w. N.; siehe auch Jörke, Akteneinsicht, S. 57 m. w. N. 82 Siehe etwa BVerfGE 122, 248, 273; vgl. auch BVerfG NJW 2003, 2225, 2225. 83 Eingehend MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 361 ff. 84 Vgl. SSW-StPO/Satzger, Art. 6 EMRK, Rn. 99 ff.; eingehend hierzu m. w. N. aus der Rspr. Tepperwien NStZ 2009, 1, 5 f.; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 169 f.; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 64 f. 85 Ablehnend im Zshg. mit Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK etwa LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 334; krit. zur Einschränkbarkeit auch Jörke, Akteneinsicht, S. 58 f. 86 Abl. generell M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 45 f.; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 268 ff.; Bell, Akteneinsicht, S. 92; krit. auch Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 115 f. 87 Jörke, Akteneinsicht, S. 58. 88 Vgl. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1300. 80

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

kann entnommen werden, dass eine Einschränkung des Akteneinsichtsrechts zur Verfahrensbeschleunigung nicht dem Willen des Gesetzgebers entspricht.89 Insofern würde es den Regelungszweck auf den Kopf stellen, das Einsichtsrecht aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung zu verwehren, wenn die Einsichtsgewährung doch (auch) der Verfahrensbeschleunigung dienen soll. Dieser Rechtsgedanke kommt bspw. auch in § 265 Abs. 4 StPO zum Ausdruck.90 Der Rechtsauffassung von Carpzov, der sich im 16. Jhrdt. dafür aussprach, eine Abschriftenerteilung aufgrund der hiermit einhergehenden Verfahrensverzögerung zu verwehren,91 ist der Gesetzgeber seit der Einführung des § 147 RStPO durchgängig nicht gefolgt. Auch die im Goldschmidt-Entwurf vorgeschlagene Regelung, nach der die Überlassung der Akten an den Verteidiger unter dem Vorbehalt stehen sollte, dass hierdurch nicht das Verfahren verzögert werde,92 wurde nicht verabschiedet und auch nicht mehr aufgegriffen. Im Übrigen dient das Beschleunigungsgebot – auch wenn es (faktisch) zulasten eines Beschuldigten wirkt – der Effektivität des Rechtsschutzes, der Wahrheitsfindung und der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege.93 Wollte man die Akteneinsichtsgewährung nun aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung verwehren, wäre der effektive Rechtsschutz des Beschuldigten jedoch verkürzt. Ebenso kann ein Verfahrensrecht nicht aus Gründen der Wahrheitsfindung beeinträchtigt werden, wenn dieses Verfahrensrecht – wie § 147 StPO – gerade der Wahrheitsfindung dient. Auch kann die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege nicht dadurch aufrechterhalten oder hergestellt werden, dass die Subjektstellung des Beschuldigten – auf der § 147 StPO und das Fairnessgebot ebenfalls aufbauen – aufgeweicht wird. Ein berechtigtes Akteneinsichtsgesuch kann aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung nur in solchen Konstellationen beschränkt werden, in denen erstens die Einsichtsgewährung lediglich kurzweilig aufgeschoben wird,94 wenn zweitens durch die (beabsichtigte) Maßnahme das Verfahren gefördert werden kann, drittens der verfahrensbeschleunigenden Maßnahme eine (sofortige) Einsichtsgewährung – auch in Form der Zurverfügungstellung von einem Aktendoppel95 – ausnahmsweise entgegensteht und viertens die sofortige Akteneinsichtsgewährung nicht erforderlich ist bzw. die Subjektstellung des Beschuldigten die Gewährung von Akteneinsicht während der verfahrensbeschleunigenden

89

BT-Drs. 7/551, Anlage 1, S. 31, 34 f., 36, unter Berücksichtigung von BT-Drs. 7/2600, 6,

26. 90

Hierauf weist auch Jörke, Akteneinsicht, S. 83, hin. Carpzov, Peinlicher Process, Tit. 8, Art. 3, n. 1, S. 122 der Ausg.; vgl. auch Carpzov, Practica, De Defension. & Innocent.deduct., qu. 115, n. 103 f., S. 143 f. der Ausg. 92 Siehe Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 14, Abschn. 1, S. 47. 93 So etwa BVerfGE 133, 168, 201 m. w. N.; eingehend hierzu Liebhart NStZ 2017, 254, 255. 94 Ähnlich LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 83, 102. 95 Eingehend LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 102 m. w. N. 91

I. Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege

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Maßnahme nicht erfordert. Der Anspruch aus § 147 Abs. 1 StPO ist in solchen Fällen aufgrund verfassungskonformer Auslegung kurzzeitig aufzuschieben. Vorstellbar ist etwa eine Situation, in der der Verteidigung bereits Akteneinsicht gewährt wurde und nun während des Hauptverfahrens erneut Einsicht in die (angewachsene) Akte beantragt wird. Wenn das Gericht die Einsichtsgewährung für wenige Stunden zurückstellt, weil es die Verfahrensakten momentan dafür benötigt, geladene aber nicht erschienene Zeugen vorführen zu lassen, um hierdurch das Verfahren zu beschleunigen, ist eine solche Zurückstellung (und damit die Einschränkung des Einsichtsrechts) als rechtmäßig anzusehen, solange durch die aufgeschobene Einsichtsgewährung nicht der Anspruch der Verteidigung auf materielle Beweisteilhabe bzw. das Recht der Verteidigung, auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss nehmen zu können, beeinträchtigt wird. Eine gänzliche Verwehrung der Einsicht unter dem Hinweis, das Gericht benötige die Akten für die Verfahrensführung, kann indes nicht durchgreifen. Immer müsste der Verteidigung – ebenso wie es nach vorher Gesagtem in Fällen von Vorführungsterminen zu gelten hat – zumindest eine Kopie der bislang nicht eingesehenen Aktenbestandteile zur Verfügung gestellt werden.96 Als Negativbeispiel kann etwa die Zurückstellung eines Einsichtsgesuchs in Verhandlungen über die Anordnung oder Fortdauer von Untersuchungshaft angeführt werden. Hier gilt das Beschleunigungsgebot sogar in besonderer Weise, vgl. Art. 5 Abs. 3 S. 1 EMRK.97 Wenn in einem solchen Verfahren nun (gem. § 147 Abs. 2 S. 2 StPO bzw. Art. 5 Abs. 4, Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK vollständige) Akteneinsicht beantragt wird, kann das Einsichtsgesuch schlechterdings nicht aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung verwehrt werden. Durch die Einsichtsgewährung und das Aktenstudium würde das Verfahren zwar verzögert werden. Jedoch würde die Verwehrung der Akteneinsicht den Anspruch des Beschuldigten auf materielle Beweisteilhabe und seine Stellung als Verfahrenssubjekt irreversibel verletzen. Dies muss unabhängig von dem Umfang des Aktenmaterials gelten, da das Offenlegungsinteresse mit erhöhtem Aktenumfang nicht herabsinkt, sondern aus Sicht der Verteidigung vielmehr steigt.98 Zur Vermeidung dieses Interessenkonflikts werden oftmals Aktendoppel bzw. „Duplo-Akten“ anzufertigen sein.99

96 Ähnlich SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 11, 19; BeckOK-StPO/Wessing, § 147, Rn. 25, hält hierbei eine Einsicht im Gerichtsgebäude für ausreichend; so auch SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 68; so grds. auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 87; anders Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 35, der im gerichtlichen Verfahren zur Verfahrensbeschleunigung grds. kein Akteneinsichtsrecht zubilligt. 97 Siehe hierzu unter Berücksichtigung der Verfassungs- und Konventionsvorgaben: Liebhart NStZ 2017, 254, 257 m. w. N. 98 So auch Hilger GA 153 (2006), 294, 297; siehe im Zshg. mit Spurenakten auch Kettner, Akteneinsichtsrecht, S. 84. 99 Siehe nur LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 102.

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

Mithin kann der Beschleunigungsgrundsatz die Akteneinsichtsgewährung grundsätzlich nicht einschränken. Dies kommt nur ausnahmsweise und kurzzeitig in Betracht, sofern der Zweck des § 147 StPO und die hierhinter stehenden Verfassungs- und Konventionsvorgaben dem nicht entgegenstehen.100 Insofern liegt die Rechtsauffassung Böhmers auch noch heute den einschlägigen Gewährleistungen zugrunde, der bereits im 17. Jhrdt. ausführte, dass eine kleine Verzögerung keine Verzögerung sei, wenn hierdurch – wie durch eine Akteneinsichtsgewährung – Unschuldigen geholfen werde könne.101

3. Der Missbrauchseinwand Weiter erwächst aus der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege das sog. Missbrauchsverbot. Ein Akteneinsichtsgesuch darf nicht wiederholt gestellt werden, um das Verfahren zu verzögern bzw. zu verschleppen oder um das Einsichtsrecht in anderer Weise zu missbrauchen. In diesem Fall diente die Geltendmachung des Akteneinsichtsrechts nicht mehr der Wahrnehmung legitimer Verteidigungsinteressen.102 Sofern ein Missbrauch des Einsichtsgesuches zur Verfahrensverzögerung/verschleppung nachweisbar ist, kann der Antrag auf Akteneinsicht ausnahmsweise zurückgewiesen werden. Aufgrund der Gewichtigkeit des Akteneinsichtsrechts und zur Wahrung der Stellung des Beschuldigten als Verfahrenssubjekt sind hieran, insbesondere an die Nachweisbarkeit, äußerst hohe Anforderungen zu stellen. Insbesondere in Fällen, in denen bislang noch gar keine Einsicht gewährt wurde, scheidet der Missbrauchseinwand regelmäßig aus. Dies gilt ebenso in den Fällen, in denen nur teilweise Einsicht gewährt wurde und hinsichtlich der übrigen Aktenbestandteile Einsicht beantragt wird. Als Beispiel für einen Missbrauchseinwand dient etwa ein Akteneinsichtsgesuch der Verteidigung, obwohl die Verteidigung – auf welchem Wege auch immer – die begehrten Aktenteile bereits vollständig kennt und der Einsichtbegehrende sich hierbei bewusst ist, dass die begehrten Aktenteile der Verteidigung nicht dienlich sind und nur deshalb Akteneinsicht beantragt, um das Verfahren zu verzögern, zu verschleppen oder auf andere Weise zu stören.103 In derartigen Fällen ist die Anspruchsnorm des § 147 Abs. 1 StPO teleologisch zu reduzieren.

100 Siehe auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 102; ähnlich MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 36 m. w. N. 101 Böhmer, Observationes, Obs. X ad quaest. CXV, n. 106, Bl. 58/Partem Tertiam der Ausg. 102 B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 171; siehe auch Jörke, Akteneinsicht, S. 58; abl. Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 113; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 272 f. 103 Insoweit sind ähnliche Anforderungen zu stellen, wie sie für § 244 Abs. 6 S. 2 StPO gelten; a. A. LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 96, wonach die Akteneinsicht bei Missbrauch nicht verweigert werden könne, da § 138c Abs. 3 S. 1, 2 StPO insoweit abschließend sei.

II. Staatliche Geheimhaltungsgründe

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II. Staatliche Geheimhaltungsgründe Ferner sieht die StPO vor, dass es zugunsten des Bundes- oder Landeswohls angezeigt sein kann, die Einsicht in grundsätzlich herauszugebende Akten zu verwehren. § 96 S. 1 StPO normiert für diesen Fall, dass die Herausgabe der aktenführenden Behörde an die Strafverfolgungsbehörden nicht gefordert werden kann, sodass in der Konsequenz auch der Verteidigung keine Einsicht hierin zu gewähren ist. Durch § 96 S. 2 StPO wird diese Möglichkeit auf dort näher bezeichnete Mitglieder/Angestellte (einer Fraktion) des Bundes- oder Landtages erweitert. Ferner sieht § 110b Abs. 3 S. 3 StPO die Möglichkeit vor, die Identität eines verdeckten Ermittlers nach Maßgabe des § 96 StPO geheim halten zu dürfen und damit die den Geheimnisschutz gefährdenden Aktenteile ebenso zu sperren. Ähnlich verhält es sich mit § 101 Abs. 2 S. 2 StPO i. V. m. § 101 Abs. 5 S. 1 StPO, nach denen Unterlagen über bestimmte Ermittlungsmaßnahmen erst zu den Akten zu nehmen sind, wenn dies ohne Gefährdung der weiteren Verwendungsmöglichkeit des verdeckten Ermittlers möglich ist.104 In diesen Fällen erfährt das Akteneinsichtsrecht demnach eine weitere Einschränkung. Sofern die aktenführende Behörde die anonym gehaltenen Vorgänge der Strafverfolgungsbehörde in der Vergangenheit (versehentlich) schon einmal zur Verfügung gestellt hat oder die bewusst zur Verfügung gestellten Informationsträger von der aktenführenden Stelle nachträglich gem. § 96 StPO gesperrt werden,105 handelt es sich bei solchen Vorgängen unter Zugrundelegung des umfassenden Aktenbegriffs schließlich um Strafaktenbestandteile. Sofern der aktenführenden Strafverfolgungsbehörde solche Vorgänge im Zuge des Ermittlungsverfahrens zur Verfügung gestellt worden sind, ist die Subsumtion solcher Vorgänge unter den Aktenbegriff verfassungsrechtlich aus Gründen des Fairnessgebots und der Waffengleichheit geboten. Sofern auch ein Richter oder Gericht mit dem jeweiligen Strafverfahren betraut ist, ergibt sich die Einordnung dieses Informationsmaterials als einzusehendes Aktenmaterial zudem aus Art. 103 Abs. 1 GG. Es bedarf damit einer verfassungsrechtlichen Legitimation für die Zurückhaltung von Aktenteilen aufgrund staatlicher Geheimhaltungsgründe. Der Wortlaut des § 96 StPO bringt dessen Regelungszweck, das Dienstgeheimnis in Ausnahmefällen auch im Laufe eines Strafverfahrens zu schützen, zum Ausdruck; dieses Schutzbedürfnis ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt.106 Auch § 110b Abs. 3 S. 3 StPO liegt neben dem Schutz des verdeckten 104 Siehe zu entgegenstehenden staatlichen Geheimhaltungsinteressen auch Jörke, Akteneinsicht, S. 60 ff.; Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 66 ff. m. w. N.; Hiebl, Probleme, S. 125 ff. m. w. N.; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 119 ff.; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 207 ff. 105 Letzteres ist nach h. M. auf der Grundlage von § 96 StPO zulässig, siehe zum Ganzen Warg NJW 2015, 3195, 3199 m. w. N. 106 Siehe hierzu die zahlreichen Nachweise bei MüKo-StPO/Hauschild, Bd. 1, § 96, Rn. 1;

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

Ermittlers ausdrücklich auch das Interesse an einer weiteren Verwendung dieser Ermittlungsperson, und damit die Wahrung dieses Staatsgeheimnisses, zugrunde.107 Im Allgemeinen ist der Schutz von Staatsgeheimnissen, soweit er in einem Funktionszusammenhang zu staatlichen Aufgaben steht,108 als Gemeinwohlanliegen anerkannt109 und genießt insoweit auch verfassungsrechtlichen Schutz.110 Im speziellen Kontext von behördlichen Sperrerklärungen, um die Sicherheit der Bundesrepublik zu wahren, kann ein solches Interesse an der Wahrung der Staatsgeheimnisse verfassungsrechtlich auch auf den Gewaltenteilungsgrundsatz aus Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG111 und auf das Rechtsstaatsprinzip112 zurückgeführt werden. Der Schutz der nationalen Sicherheit ist als Schranke auch konventionsrechtlich anerkannt.113 Insofern ist die Gesetzeslage aus verfassungsrechtlicher Sicht grundsätzlich nicht zu beanstanden. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass geheimhaltungsbedürftige Staatswohlbelange nur so weit geschützt werden dürfen, wie es mit Blick auf die Verfahrensrechte anderer Verfahrensbeteiligter unbedingt notwendig ist. Insoweit kann die Sperrung von etwaigen Aktenteilen nur eine mit äußerster Zurückhaltung anzuwendende Ausnahme darstellen. In der Gesetzesbegründung zur Einführung des § 32f StPO wird verdeutlicht, dass eine Einsicht auch in Verschlusssachen und besonders schutzbedürftige Aktenbestandteile grundsätzlich nicht

eine sog. „Vertraulichkeitsbitte“ der Staatsanwaltschaft bei Übersendung der Vorgänge an das Gericht, wonach diese vertraulich zu behandeln und deshalb nicht weiterzugeben (auch nicht an die Verteidigung) seien, ist indes unzulässig, siehe bereits BGHSt 42, 71, 72; BGH NStZ 1997, 43, 44 m. zust. Anm. Gillmeister; eingehend auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 55. 107 Eingehend MüKo-StPO/Hauschild, Bd. 1, § 110b, Rn. 24 ff. m. w. N. 108 Benedikt, Geheimnisschutz, S. 21. 109 Siehe BVerfGE 101, 106, 127 f.: „Die Geheimhaltung […] ist ein legitimes Anliegen des Gemeinwohls.“; siehe hierzu Benedikt, Geheimnisschutz, S. 21. 110 BVerfGE 21, 239, 243 f.; 57, 250, 284; 101, 106, 127 f.; eingehend und hierauf bezugnehmend Benedikt, Geheimnisschutz, S. 21 m. w. N. 111 Siehe hierzu nur BGHSt 38, 237, 243 ff. 112 Vgl. BVerfGE 57, 250, 283: „Bewegt sich die Behörde bei ihrer Entscheidung im rechtsstaatlichen Rahmen […].“; verfassungsrechtlich basiert ein solches Interesse am Schutz von Staatgeheimnissen letztlich (auch) auf das schon dargestellte Gebot, eine funktionstüchtige (Straf-)Rechtspflege zu gewährleisten, vgl. hierzu erneut BVerfGE 57, 250, 284: „Die Wahrnehmung derartiger – in ihrer rechtlichen Gebundenheit nicht außerhalb des Rechtsstaats stehender – Aufgaben würde erheblich erschwert und in weiten Teilen unmöglich gemacht, wenn die Aufdeckung geheimhaltungsbedürftiger Vorgänge im Strafverfahren ausnahmslos geboten wäre.“; sofern das Geheimhaltungsinteresse auf den Schutz von Leib und Leben der geheim gehaltenen Person abzielt, ist ein solches Interesse zudem mit Art. 2 Abs. 2 S. 1, 2 GG begründbar, siehe BVerfGE 57, 250, 284 f. 113 EGMR, Urt. v. 18.05.2010, No. 26839/05, Kennedy/GBR, Rn. 187: „In respect of the rules limiting disclosure, the Court recalls that the entitlement to disclosure of relevant evidence is not an absolute right. The interests of national security or the need to keep secret methods of investigation of crime must be weighed against the general right to adversarial proceedings […].“; LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 223.

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vollständig verwehrt werden kann. Nach dem Willen des Gesetzgebers sind besonders schutzwürdige Aktenbestandteile lediglich nicht zu übersenden, jedoch ist eine Einsicht in den Diensträumen grundsätzlich zu gewähren.114 Eine gänzliche Einsichtsverwehrung widerspricht damit also grundsätzlich dem Willen des Gesetzgebers, wenngleich mit Blick auf bspw. § 96 StPO belegt ist, dass es nach dem Willen des Gesetzgebers in Ausnahmekonstellationen geboten ist, eine Einsicht selbst in den Diensträumen zu verwehren.115 Was die Sperrung von Akteninhalten anbelangt, wird den Geheimhaltungsinteressen oftmals jedoch schon durch die selektive Schwärzung unbedingt geheimhaltungsbedürftiger Informationen genüge getan werden können.116 Zumindest muss den Akten entnommen werden können, dass ggfs. verdeckte Ermittler eingesetzt wurden.117 Da sich die geheimhaltungsbedürftigen Informationen regelmäßig auf Bekundungen dieser anonym gehaltenen Personen beziehen werden, wird sich als Kompensation weiter die audiovisuelle Befragung solcher Zeugen gem. der §§ 168e, 247a Abs. 1 StPO i. V. m. § 58a Abs. 1 Nr. 2 StPO anbieten,118 die sodann über § 255a Abs. 1 StPO in die Hauptverhandlung eingeführt und verwertet werden kann.119 Da die §§ 168e, 247a StPO ausdrücklich nur bei einer dringenden Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für das Wohl des Zeugen anwendbar sind, müssten diese Normen analog auf den Fall Anwendung finden, dass die sonst drohende umfassende Sperrerklärung auf anderen Gründen basiert, wie etwa einer unbedingt geheim zuhaltenden Arbeitsweise der aktenführenden Behörde oder dem Interesse an einer weiteren „Verwendung“ des anonym gehaltenen Zeugen.120 Die audiovisuelle Vernehmung ist auf dieser Grundlage, soweit der Geheimnisschutz dem nicht ausnahmsweise notwendig entgegensteht, ausdrücklich simultan durchzuführen (vgl. §§ 168e S. 2, 247a Abs. 1 S. 3 StPO); auf der anderen Seite kann dem Interesse am Geheimnisschutz durch die Verzerrung der Stimme

114

Siehe zum Vorstehenden BT-Drs. 18/12203, 73. Bei der Einführung von § 32f StPO wollte der Gesetzgeber an der bestehenden Kasuistik zur Einschränkung des Einsichtsrechts auch nichts ändern, sondern orientierte sich ausdrücklich an der bisherigen Rechtslage: BT-Drs. 18/12203, 73. Ansonsten hätte es im Übrigen auch einer Reform bspw. von § 96 StPO bedurft. 116 Eingehend Lehmann StraFo 2016, 326, 326 ff.; krit. LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 52. 117 Eingehend Hiebl, Probleme, S. 140 ff.; so auch Meyer, Akteninformationsrecht, S. 129. 118 Sofern etwaige Zeugenwahrnehmungen, auf die sich die gesperrten/geschwärzten Aktenbestandteile beziehen, vom Gericht verwertet werden sollen, wird der Beweis mit Blick auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz bzw. Vorrang des Personalbeweises vordergründig ohnehin durch die Zeugenvernehmung zu erheben sein. Falls das Gericht derartige Wahrnehmungen nicht verwerten/einführen möchte, müsste die Zeugenvernehmung möglichenfalls als Kompensation zu den gesperrten/geschwärzten Aktenbestandteilen vorgenommen werden. 119 Vgl. hierzu LR-StPO/Menges, Bd. 3/1, § 96, Rn. 71; eingehend auch Detter StV 2006, 544, 545 f., 548. 120 Eingehend Detter StV 2006, 544, 545. 115

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

und der Abschirmung des Gesichts in den meisten Fällen ausreichend Rechnung getragen werden.121 Hierdurch wäre auch im Fall von geheimhaltungsbedürftigen Aktenteilen eine bestmögliche praktische Konkordanz, oder aus Sicht der EMRK: ein „sufficiently counterbalance“,122 hergestellt.123 Es fragt sich jedoch, auf welchem Verfahrensweg eine etwaige Behördenentscheidung hinsichtlich einer Sperrerklärung rechtsverbindlich getroffen werden kann. Wer soll darüber entscheiden dürfen, ob überhaupt ein anzuerkennendes Bedürfnis an Geheimnisschutz besteht und, falls ja, welche Kompensationsmöglichkeiten zugunsten der Wahrheitsfindung bzw. der Wahrung der Verteidigungsrechte angemessen sind? Hierbei nahezu vollständig auf die Redlichkeit der Behörde und die Richtigkeit der Behördenentscheidung vertrauen zu müssen, wäre aus der Sicht des § 147 StPO und der herausgearbeiteten Forderung, Einschränkungen des Akteneinsichtsrecht nur in Ausnahmefällen und unter weitgehender Aufrechterhaltung der Verteidigungsrechte zu gestatten, unbefriedigend.124 Spaetgens hält das offenbar für wenig problematisch.125 Die bisher geübte Gerichtspraxis, nach der die Rechtmäßigkeit der Behördenentscheidung lediglich daraufhin überprüft wird, ob eine Güterabwägung vorgenommen wurde,126 ist jedoch bedenklich. Denn auf die Einzelheiten der Güterabwägung wird in der Begründung regelmäßig nicht Bezug genommen (werden können), da ansonsten der Geheimnisschutz unterlaufen würde, sodass sich die gerichtliche Überprüfung der Sperrerklärung regelmäßig darauf beschränkt festzustellen, ob die Behörde vor dem Hintergrund des Geheimnisschutzes eine ausreichende und nachvollziehbare Begründung abgegeben hat. Die gerichtliche Überprüfung beschränkt sich somit auf eine Plausibilitäts- oder Willkürkontrolle.127 Die gerichtliche Kontrolle geht bisher also nicht dahin festzustellen, ob die Behördenentscheidung rechtmäßig ist, sondern lediglich ob sie rechtmäßig scheint. Sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch der EGMR haben sich mit dieser Thematik grundlegend beschäftigt. Die Entscheidung darüber, ob der Verteidigung derartige Informationen vorenthalten werden können bzw. müssen, soll nach zutreffender Auffassung des EGMR nur dann möglich sein, wenn ein nicht an der Hauptverhandlung beteiligter Verfahrensrichter die zurückzuhaltenden Informationen sichtet und das

121 So auch Detter StV 2006, 544, 547 f.; eingehend hierzu LR-StPO/Menges, Bd. 3/1, § 96, Rn. 71 m. w. N. 122 EGMR [GK], Urt. v. 27.10.2004, Nos. 39647/98, 40461/98, Edwards u. Lewis/GBR, Reports 2004-X, 61, Rn. 46; EGMR, Urt. v. 18.05.2010, No. 26839/05, Kennedy/GBR, Rn. 180, 184. 123 Ähnlich LR-StPO/Menges, Bd. 3/1, § 96, Rn. 71. 124 Ähnlich SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 44. 125 Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 28 f. 126 Siehe etwa BGH NJW 2000, 1661, 1662 m. w. N., wobei hier offengelassen wurde, ob dies ausreichend ist; weitere Nachweise bei LR-StPO/Menges, Bd. 3/1, § 96, Rn. 80. 127 Siehe hierzu LR-StPO/Menges, Bd. 3/1, § 96, Rn. 79 ff. m. w. N.

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Begehren der Strafverfolgungsbehörde – nach Gelegenheit der Verteidigung zur Stellungnahme128 – für gerechtfertigt hält (sog. in-camera-Verfahren).129 Diese Forderung hat der nationale Gesetzgeber bislang zwar nicht in die StPO übernommen,130 jedoch wurde im Anschluss an den Akteneinsichtsrechts-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts131 in § 99 Abs. 2 VwGO ein solches incamera-Verfahren normiert.132 Für den Fall, dass die aktenführende Stelle bestimmte Aktenteile geheim halten möchte, sei es nach Auffassung des EGMR (ausnahmsweise)133 ausreichend, aber auch notwendig, dass einem an der Prüfung der Schuldfrage nicht beteiligten Gericht – im Gegensatz zur Verteidigung – die geheimzuhaltenden Beweismittel vorgeführt würden und ausschließlich das Gericht prüfe, ob die Beweise zur Verteidigung geeignet bzw. relevant seien und bei positiver Prüfung diese Beweise der Verteidigung eröffne, soweit Geheimhaltungsgründe nicht zwingend entgegenstünden.134 Hierbei wurde aufgrund staatlicher, wichtiger Geheimhaltungsgründe also ein derartiger Kompromiss für ausreichend erachtet, dass ein Gericht das gesamte Beweismaterial daraufhin überprüft, ob hiervon irgendetwas für die Verteidigung relevant ist (nicht sein könnte) und, falls ja, Geheimhaltungsgründe dennoch zwingend entgegenstehen. 128 EGMR, Urt. v. 16.02.2000, No. 27052/95, Jasper/GBR, Rn. 55 ff.; eingehend Gaede HRRS 2004, 44, 47. 129 Vgl. EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 28901/95, Rowe u. Davis/GBR, Reports 2000-II, 287, Rn. 65 f.; EGMR [GK], Urt. v. 27.10.2004, Nos. 39647/98, 40461/98, Edwards u. Lewis/GBR, Reports 2004-X, 61, Rn. 46; EGMR, Urt. v. 04.04.2017, No. 2742/12, Matanovic´/HRV, Rn. 154 f.; eingehend MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 163 f.; siehe auch Gaede HRRS 2004, 44, 47; LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 641 m. w. N.; siehe zur Notwendigkeit eines weiteren Spruchkörpers unter Zugrundelegung der EGMR-Rspr.: SK-StPO/Wohlers/Greco, Bd. 2, § 96, Rn. 35. 130 Ob ein solches Modell in verfassungsrechtlich zulässiger Weise gestaltbar ist, erscheint jedenfalls dann problematisch, wenn das Gericht der Hauptsache die Behördenentscheidung unter Zuhilfenahme der bislang gesperrten Akten überprüfen soll. Ein Konflikt mit dem Gehörsanspruch läge auf der Hand, denn wie eingangs herausgearbeitet, gewährleistet dieser u. a., dass der Beschuldigte den Informationsstand des Gerichts der Hauptsache erlangen können muss; ein solches Modell wird insofern auch von der h. M. als unzulässig erachtet, siehe die diesbzgl. Nachweise bei Pohlreich, Gehör, S. 47, 107, wobei dieser sich a. a. O. S. 108 ff., für eine Vereinbarkeit mit Art. 103 Abs. 1 GG ausspricht; krit. ebenfalls SKStPO/Wohlers/Greco, Bd. 2, § 96, Rn. 33; siehe zum Ganzen auch LR-StPO/Menges, Bd. 3/1, § 96, Rn. 71a m. w. N. 131 BVerfGE 101, 106, 124 ff.; siehe hierzu auch Pohlreich, Gehör, S. 32 f., 35 m. w. N. 132 Eingehend zum in-camera-Verfahren und der Entstehungsgeschichte von § 99 Abs. 2 VwGO: Pohlreich, Gehör, S. 32 ff. m. w. N. 133 Eingehend zum Ausnahmecharakter dieser EGMR-Rspr.: Gröger, Akteneinsichtsrecht, S. 58 f. 134 Siehe EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 29777/96, Fitt/GBR, Reports 2000-II, 387, Rn. 11, 42, 47, 49 f.; eingehend und krit. Gröger, Akteneinsichtsrecht, S. 54 ff.; in der Sache Rowe und Davis fehlte es an der „Zwischenschaltung“ eines solchen Richters/Gerichts, was für den EGMR als Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK gewertet wurde, siehe EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 28901/95, Rowe u. Davis/GBR, Reports 2000-II, 287, Rn. 63, 65 ff.

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

Hinsichtlich der Freiheit der Verteidigung, selbst darüber zu entscheiden, welche Aspekte für sie relevant sind oder sein könnten, weicht diese Entscheidung vom erkennbar üblichen Duktus des EGMR ab, was der Grund dafür gewesen sein dürfte, dass die Entscheidung trotz der gewichtigen Geheimhaltungsinteressen lediglich mit einer knappen Mehrheit von neun zu achten Stimmen erging.135 Jedenfalls hat der EGMR in der nachfolgenden Zeit wiederholt Einschränkungen des Akteneinsichtsrechts, die auf der Zurückhaltung von Informationsträgern basieren, äußerst kritisch am Maßstab von unter anderem Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK überprüft.136 Jedenfalls ist ein solches in-camera-Verfahren für den EGMR zwingend erforderlich, da ansonsten die abstrakte Gefahr eines Missbrauchs bestehen würde, die der EGMR durch die gerichtliche (Zwischen-)Prüfung ausnahmslos verhindert wissen möchte.137 Wird dies ignoriert, nimmt der EGMR einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK bzw. das hierin enthaltene Waffengleichheitsgebot an.138 135 Siehe EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 29777/96, Fitt/GBR, Reports 2000-II, 387, nach Rn. 51, dissenting opinion, S. 23 ff.; eingehend und hierauf bezugnehmend: Gröger, Akteneinsichtsrecht, S. 54. 136 Siehe etwa EGMR, Urt. v. 09.05.2003, No. 59506/00, Georgios Papageorgiou/GRC, Rn. 36 ff.; hierbei ist sich der EGMR darüber bewusst, dass der Wortlaut von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK in den Amtssprachen auf „witnesses“ bzw. „te´moins“ und demnach auf die „Zeugen“ abstellt und nicht auf Informationsträger, die möglicherweise noch nicht einmal Bekundungen von Zeugen betreffen: siehe EGMR, Urt. v. 11.12.2008, No. 6293/04, Mirilashvili/RUS, Rn. 159 m. w. N.; siehe hierzu auch Pohlreich, Gehör, S. 49 f. 137 Siehe EGMR, Urt. v. 05.04.2012, No. 11663/04, Chambaz/CHE, Rn. 62: „Par ailleurs, la proce´dure doit pre´voir des moyens ade´quats pour compenser cette restriction et e´viter que des abus ne soient commis (Doorson c. Pays-Bas, 26 mars 1996, § 74–75, Recueil 1996-II). Ainsi, la Cour tient compte, par exemple, du fait que la question de l’opportunite´ d’une divulgation soit examine´e par un magistrat inde´pendant et impartial ayant eu acce`s aux moyens de preuve litigieux et ayant, par voie de conse´quence, e´te´ en mesure d’appre´cier pleinement, et tout au long de la proce´dure, la pertinence pour la de´fense des informations non communique´es a` celle-ci […]. Lorsque la communication d’informations tenues secre`tes n’a pas e´te´ soumise au controˆle de´taille´ d’une juridiction au cours de la proce´dure de premie`re instance, le manque d’e´quite´ de la proce´dure ne peut eˆtre re´pare´ en degre´ d’appel que par une communication totale et comple`te des e´le´ments litigieux […].“ 138 Beispielhaft EGMR, Urt. v. 05.04.2012, No. 11663/04, Chambaz/CHE, Rn. 66 ff.: „Finalement, la Cour constate que le Tribunal fe´de´ral a ente´rine´ l’approche suivie par le tribunal administratif, sans proce´der a` son propre examen de la question, et sans autoriser la communication inte´grale des documents litigieux au reque´rant (voir paragraphe 29 ci-dessus). Les de´fauts ayant entache´ la proce´dure de premie`re instance n’ont ainsi pas pu eˆtre re´gularise´s par le biais du recours au Tribunal fe´de´ral. Au vu de ce qui pre´ce`de, la Cour en de´duit que le refus de communiquer au reque´rant l’inte´gralite´ du dossier de´tenu par l’administration n’e´tait pas justifie´ par des motifs en ade´quation avec les principes se de´gageant de la jurisprudence de la Cour en matie`re d’e´galite´ des armes. Le processus de´cisionnel n’a en outre pas e´te´ assorti de garanties aptes a` prote´ger les inte´reˆts de l’accuse´. Celui-ci a donc e´te´ place´ dans une situation de net de´savantage (Bendenoun c. France, pre´cite´, § 52). Ces e´le´ments suffisent a` la Cour pour conclure que le droit a` l’e´galite´ des armes, tel que garanti par l’article 6 § 1 de la Convention a e´te´ viole´ en l’espe`ce.“; siehe auch EGMR, Urt. v. 04.04.2017, No. 2742/12, Matanovic´/HRV, Rn. 184 ff.

II. Staatliche Geheimhaltungsgründe

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Gleichwohl stellen staatliche Geheimhaltungsgründe ein anerkanntes verfassungs- und konventionsrechtlich geschütztes Gut dar, sodass eine gerichtliche Entscheidung, das Informationsmaterial im Ausnahmefall nicht zugänglich zu machen, geboten sein kann. Aus Gründen der Verfahrensfairness sind Informationsträger von dem prüfenden, „dazwischen“ geschalteten Gericht (sog. Zwischengericht) im Zweifel als für die Verteidigung potentiell relevant anzusehen, sodass sich die gerichtliche Überprüfung vordergründig darauf erstreckt, ob Geheimhaltungsgründe der Einsicht gänzlich entgegengehalten werden können. Soweit möglich, ist Einsicht – entsprechend den sog. Verschlusssachen – zumindest in den Diensträumen zu gewähren. Sofern das Informationsmaterial hiernach der Verteidigung trotz der Gewichtigkeit des Akteneinsichtsrechts entzogen bleibt, muss die Informationslücke bei der Beweiswürdigung zugunsten des Angeklagten berücksichtigt werden.139 Zwar kann das Strafgericht der Hauptsache nicht (methodisch jedenfalls nicht ohne Weiteres) auf Vorschriften der VwGO zurückgreifen und damit auch kein solches in-camera-Verfahren anstreben. Jedoch ist es den Verfahrensbeteiligten prozessual möglich, die Behördenentscheidung im Verwaltungsrechtswege140 zur gerichtlichen Überprüfung zu stellen.141 Innerhalb dieses Verfahrens kann nach mittlerweile geklärter Auffassung in der Rechtsprechung142 sodann ein solches in-camera-Verfahren beantragt werden,143 obwohl die Behördenentscheidung im 139

Siehe zur Beweiswürdigungslösung etwa BGHSt 49, 112, 118 ff. Die Sperrerklärung stellt nach h. M. einen Verwaltungsakt i. S. v. § 35 S. 1 VwVfG dar (aber keinen Justizverwaltungsakt nach Maßgabe des § 23 EGGVG); insofern ist der Verwaltungsrechtsweg gem. § 40 Abs. 1 VwGO eröffnet, eingehend hierzu: LR-StPO/Menges, Bd. 3/1, § 96, Rn. 72, 103 ff. m. w. N. auch zu Gegenauffassungen. 141 Die Klage müsste dann sowohl auf die Anfechtung der Sperrerklärung als auch auf die gleichzeitige Verpflichtung zur Vorlage der in Rede stehenden Akten gerichtet sein; statthaft wäre also eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, vgl. etwa BVerwGE 69, 192, 193 f.; sofern man die Sperrerklärung als rein innerbehördliche Weisung versteht und ihr demzufolge die Verwaltungsaktqualität abspricht, wäre die Leistungsklage statthaft, siehe MüKo-StPO/Hauschild, Bd. 1, § 96, Rn. 19 m. w. N. Innerhalb des Strafverfahrens gibt es für das in-camera-Verfahren (von dem Interesse an Aktenvollständigkeit abgesehen) solange kein Bedürfnis, wie aus der Behördenentscheidung lediglich für den Beschuldigten nachteilige Informationen zu erwarten sind. Insofern wird dieses Problem bislang über das Gebot einer besonders vorsichtigen Beweiswürdigung bishin zur Anwendung des Zweifelssatzes oder gar der Annahme eines Verfahrenshindernisses gelöst. Sofern der Beschuldigte sich aus den gesperrten Behördenakten jedoch Entlastungsindizien erhofft – dies wird vermutlich nicht selten der Fall sein –, wird das Interesse an gerichtlicher Überprüfung und bestenfalls Herausgabe der gesperrten Akten ansteigen; siehe zum Ganzen: LR-StPO/Menges, Bd. 3/1, § 96, Rn. 1, 24, 93 m. w. N.; Pohlreich, Gehör, S. 95 ff. m. w. N.; so auch schon Jörke, Akteneinsicht, S. 63; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 349 f. 142 Siehe BGHSt 44, 107, 111 ff.; BGH NJW 2007, 3010, 3012; BVerwGE 69, 192, 196 f.; BVerfG, Urt. v. 29.03.2007 – 2 BvR 197/07, Rn. 3, juris; eingehend hierzu MüKo-StPO/Hauschild, Bd. 1, § 96, Rn. 19; siehe auch SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 119 m. w. N. 143 Im Zuge dieses Verfahrens müsste die Behörde grds. die vollständigen Akten vorlegen, § 99 Abs. 1 S. 1 VwGO. Da die Behörde dies möglichst vermeiden wollen wird, um dem Kläger 140

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

Kontext eines Strafverfahrens erging und die StPO ein solches Verfahren nicht vorsieht.144 Soweit dem Grunde nach zugunsten der Behördenentscheidung entschieden wurde oder es trotz festgestellter Rechtswidrigkeit der Sperrerklärung bei der Behördenentscheidung bleibt,145 müsste dieser Aspekt in Form der oben beschriebenen Kompromisslösung bzw. des Nachteilsausgleichs berücksichtigt werden. Nur in dem Fall, dass der Geheimnisschutz selbst der soeben vorgeschlagenen Kompensationsmöglichkeit (Schwärzung, audiovisuelle Zeugenvernehmung) entgegenstünde, sollte die Beweiswürdigungslösung samt der hierzu ergangenen Rechtsprechung146 zum Zuge kommen dürfen.147 Jedenfalls führt die geltende Gesetzeslage zu folgender Rechtsprechungspraxis, die den völkerrechtlichen Anforderungen nicht ausreichend gerecht wird. Von der herrschenden Auffassung wird angeführt, dass das Gericht und die Staatsanwaltschaft bei ungenügender Begründung der Sperrerklärung lediglich das Recht (und die Pflicht, §§ 160 Abs. 1, 244 Abs. 2 StPO) hätten, eine Gegenvorstellung zu erheben;148 ein eigenes Anfechtungsrecht stünde ihnen nach mancher Auffassung im Schrifttum deshalb nicht zu, da es ansonsten zu einem Insichprozess käme, was zu vermeiden sei.149 Dem ist jedenfalls i. E. zuzustimmen, unabhängig davon, inwieweit man bei einer Anfechtung der Sperrerklärung durch Gericht oder Staatsanwaltschaft von einem sog. Insichprozess ausgehen müsste, und unabhängig davon, ob ein solcher in diesem Fall zulässig wäre.150 Denn bislang fehlt es an einem Verfahren, welches eine Vorlage des Gerichts der

nicht die Kenntnis der gesperrten Vorgänge über die Akteneinsicht gem. § 100 VwGO zu ermöglichen, wird eine (weitere) Sperrerklärung gem. § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO ergehen, sodass der Weg zu § 99 Abs. 2 VwGO regelmäßig eröffnet sein wird und ein in-camera-Verfahren gem. § 99 Abs. 2 S. 1 VwGO beantragt werden kann. 144 Siehe Pohlreich, Gehör, S. 28 f. m. w. N.; MüKo-StPO/Hauschild, Bd. 1, § 96, Rn. 19 m. w. N. Das in-camera-Verfahren stellt hierbei eine Art „Zwischenverfahren“ dar: MüKoStPO/Kudlich, Bd. 1, § 96, Rn. 19; zur Aussetzungsmöglichkeit des Strafverfahrens während des verwaltungsgerichtlichen in-camera-Verfahrens: LR-StPO/Menges, Bd. 3/1, § 96, Rn. 118; Pohlreich a. a. O. S. 43 ff. m. w. N. 145 Die Verwaltungsgerichtsentscheidung kann nämlich nicht nach den §§ 170 ff. VwGO vollstreckt werden; siehe zum Ganzen Pohlreich, Gehör, S. 42 f. m. w. N. 146 Siehe etwa BGHSt 49, 112, 118 ff.; siehe hierzu erneut LR-StPO/Menges, Bd. 3/1, § 96, Rn. 1, 24, 93 m. w. N. 147 Sofern Informationsträger mit dem Strafverfahren inhaltlich zusammenhängen, jedoch keine Aktenbestandteile darstellen – dies ist nach hiesiger Untersuchung etwa bei nachrichtendienstlichen Vorgängen, die auch vor der Staatsanwaltschaft geheim gehalten worden sind, anzunehmen –, sind etwaige Informationslücken ebenfalls bei der Beweiswürdigung zugunsten des Angeklagten zu berücksichtigen. 148 Siehe etwa BGHSt 36, 159, 161 f.; BGH NStZ 2010, 445, 448 m. w. N. 149 LR-StPO/Menges, Bd. 3/1, § 96, Rn. 102 m. w. N. 150 Mit einem Insichprozess sind gerichtliche Verfahren gemeint, in denen Kläger und Beklagter derselbe Rechtsträger ist: BVerwG NJW 1992, 927, 927; ein solcher Insichprozess soll nach st. Rspr. jedoch nicht in jedem Fall unzulässig sein, siehe etwa BVerwGE 45, 207, 209 f.

II. Staatliche Geheimhaltungsgründe

561

Hauptsache an einen anderen Spruchkörper eines Straf- oder Verwaltungsgerichts vorsieht (entsprechend etwa dem Vorbild des Art. 100 GG oder des Art. 267 AEUV). Gerichte und Staatsanwaltschaften sind mangels verletzter subjektiv-öffentlicher Rechte nicht klagebefugt i. S. d. § 42 Abs. 2 VwGO.151 Insofern kann es zu einer gerichtlichen Überprüfung der Sperrerklärung (die über die oben dargestellte „Plausibilitätsprüfung“ des Gerichts der Hauptsache hinausgeht) nur dann kommen, wenn ein privater Verfahrensbeteiligter (Beschuldigter, Privat-/Nebenkläger) die Sperrerklärung verwaltungsrechtlich anficht. Ein in-camera-Verfahren hat nach Auffassung des EGMR jedoch derart zu erfolgen, dass die zuständige Behörde die geheimzuhaltenden Akten einem mit der Schuldfrage nicht betrauten Gericht vorlegt.152 Dass ein Antragserfordernis der Verteidigung (oder eines anderen privaten Verfahrensbeteiligten) in keiner der zahlreichen hierzu ergangenen Entscheidungen explizit erwähnt wird,153 kann nur damit begründet werden, dass eine gerichtliche Überprüfung nach Auffassung des EGMR offenbar von Amts wegen zu erfolgen hat, sofern Informationsträger zurückgehalten werden sollen. Dies ist aus Sicht der EMRK jedenfalls zu fordern. Das Gericht muss ausreichend unabhängig i. S. d. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK sein. Das Verfahrensrecht muss das Gericht als „judicial body that has full jurisdiction“154 in die Lage versetzen, die mit der Anklageschrift inhaltlich zusam-

151 Siehe zum Ganzen LR-StPO/Menges, Bd. 3/1, § 96, Rn. 102 m. w. N.; anders hingegen SK-StPO/Wohlers/Greco, Bd. 2, § 96, Rn. 54, wonach jdfs. der Staatsanwaltschaft eine Klagebefugnis einzuräumen sei; siehe hierzu auch SK-StPO/Paeffgen, Bd. 4, § 199, Rn. 6. 152 Siehe zur Konstellation, dass die Jury über die Schuldfrage entschieden hat und einem Prozessrichter die in Rede stehenden Akten zur Überprüfung vorgelegt wurden: EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 29777/96, Fitt/GBR, Reports 2000-II, 387, Rn. 47 ff.; siehe zur Konstellation, dass für die Schuldfrage der „appeal court“ zuständig war und die Zurückhaltung der Akten ohne eine zwischengeschaltete Überprüfung durch den „trial judge“ geschah: EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 28901/95, Rowe u. Davis/GBR, Reports 2000-II, 287, Rn. 63, 65 ff. 153 Vgl. beispielhaft EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 28901/95, Rowe u. Davis/GBR, Reports 2000-II, 287, Rn. 66: „In conclusion, therefore, the prosecution’s failure to lay the evidence in question before the trial judge and to permit him to rule on the question of disclosure deprived the applicants of a fair trial.“; EGMR [GK], Urt. v. 27.10.2004, Nos. 39647/98, 40461/98, Edwards u. Lewis/GBR, Reports 2004-X, 61, Rn. 46: „It must therefore scrutinise the decision-making procedure to ensure that, as far as possible, the procedure complied with the requirements to provide adversarial proceedings and equality of arms and incorporated adequate safeguards to protect the interests of the accused. […] whereby evidence which is too sensitive to be safely revealed to the defence is examined ex parte by the trial judge.“; EGMR, Urt. v. 24.06.2003, No. 39482/98, Dowsett/GBR, Reports 2003-VII, 259, Rn. 43: „As in that case, during the applicant’s trial at first instance the prosecution decided, without notifying the judge, to withhold certain relevant evidence on grounds, inter alia, of public interest immunity. Such a procedure, whereby the prosecution itself attempts to assess the importance of concealed information for the defence and weigh this against the public interest in keeping the information secret, cannot comply with the above-mentioned requirements of Article 6 § 1 […].“ 154 EGMR, Urt. v. 23.10.1995, No. 15963/90, Gradinger/AUT, Series A Nr. 328-C, Rn. 44.

562

C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

menhängenden Gesichtspunkte „point by point“155 zu untersuchen, ohne dass diese Untersuchungspflicht von äußeren Einflüssen bestimmt wird.156 Dies wäre nicht der Fall, wenn das in-camera-Verfahren von einem Antrag eines Verfahrensbeteiligten abhängig gemacht würde. Ferner sind die aufgezeigten Vorgaben des EGMR zum in-camera-Verfahren auf die deutsche Rechtsordnung zu übertragen. Für die Entscheidungen gegen Großbritannien im Kontext des geforderten in-camera-Verfahrens ergibt sich dies – ungeachtet der zumindest faktisch präjudiziellen Wirkung der EGMRJudikatur und ihrer Bedeutung für die völkerrechtlichen Pflichten157 – bereits daraus, dass die Ausgestaltung der §§ 147, 32f StPO der englischen Rechtsordnung im Wesentlichen entspricht.158 Im Gegensatz zur nationalen StPO sieht die englische Rechtsordnung ein entsprechendes Vorlageverfahren mit dem inter partes- und ex parte-Verfahren vor, nach dem die Staatsanwaltschaft dem Gericht in jedem Fall die zurückzuhaltenden Aktenbestandteile vorzulegen hat und das Gericht über die Rechtmäßigkeit der Zurückhaltung aufgrund public interest immunity entscheidet.159 Zudem muss berücksichtigt werden, dass Einschränkungen der aus Art. 6 EMRK erwachsenden Teilhaberechte, insbesondere des Akteneinsichtsrechts, nur so weit reichen dürfen, wie es unbedingt erforderlich ist.160 Etwaige Schwierigkeiten, die der Verteidigung durch die Einschränkung von

155 EGMR, Urt. v. 21.07.2011, Nos. 32181/04, 35122/05, Sigma Radio Television Ltd./CYP, Rn. 156. 156 Siehe MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 107 m. w. N.; Gaede, Fairness, S. 218 m. w. N.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 30 m. w. N. 157 Siehe erneut BVerfGE 111, 307, 324; 128, 326, 368 f. m. w. N.; Payandeh JöR 2020, 1, 26–34; Ambos, Internationales Strafrecht, § 10, Rn. 14 m. w. N.; MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 10 f. m. w. N.; Zehetgruber ZJS 2016, 52, 56 ff.; vgl. auch EGMR, Urt. v. 13.05.1980, No. 6694/74, Artico/ITA, Series A Nr. 37, Rn. 32 ff.; EGMR, Urt. v. 24.05.1991, No. 12744/87, Quaranta/CHE, Series A Nr. 205, Rn. 30 ff.; dem folgend Gaede HRRS 2004, 44, 51 f. m. w. N. 158 Siehe eingehend Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 83 ff. m. w. N.; nach englischem Verfahrensrecht unterliegt jegliches Ermittlungsmaterial, das mit dem Strafverfahren inhaltlich zusammenhängt, der Akteneinsicht, inkl. des von der Staatsanwaltschaft für verfahrensunbeachtlich erachteten Ermittlungsmaterials („unused material“). Die Verteidigung erlangt die vollständigen Akten entweder bereits auf der Ebene der primary disclosure oder für den Fall, dass Aktenbestandteile noch zurückgehalten wurden (was außer in Fällen des compulsory defense disclosure bis zur Hauptverfahrenseröffnung möglich ist), spätestens bei der secondary disclosure: eingehend hierzu erneut Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 86 ff., 95 ff. m. w. N. Dabei ist Träger des Akteneinsichtsrechts im englischen Recht vordergründig der Beschuldigte selbst, siehe Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 104 ff. m. w. N.; siehe zur vergleichbaren Aufteilung der Verfahrensabschnitte nach englischem Strafverfahrensrecht erneut Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 73 ff.; siehe zu weiteren Gemeinsamkeiten beider Rechtsordnungen erneut Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 127 ff. m. w. N.; vgl. hierzu auch Schröder, Akteneinsicht im Spannungsfeld, S. 141 f.; Wohlers/Schlegel NStZ 2010, 486, 490. 159 Eingehend und rechtsvergleichend Spaetgens, Akteneinsichtsrecht, S. 112 ff., 137 ff. m. w. N. 160 Siehe etwa EGMR, Urt. v. 19.06.2001, No. 36533/97, Atlan/GBR, Rn. 40.

II. Staatliche Geheimhaltungsgründe

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Rechten aus Art. 6 EMRK entstehen, sollen weitestgehend verhindert werden.161 Dem entsprechend forderte der EGMR eine gerichtliche Zwischenprüfung in Form derartiger in-camera-Verfahren auch in Verfahren gegen Kroatien und die Schweiz,162 wobei das Beschwerdeverfahren gegen die Schweiz sogar „nur“ ein verwaltungsrechtliches Verfahren zum Gegenstand hatte.163 Vor diesem Hintergrund wird ein in-camera-Verfahren, das de lege lata nur dann vorgenommen werden kann, wenn der Beschuldigte eine Klage (und bei Eilbedürftigkeit zudem einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz) beim Verwaltungsgericht einreicht und nach erneuter Sperrerklärung der Behörde einen Antrag gem. § 99 Abs. 2 S. 1 VwGO stellt, den anerkannten strengen Anforderungen an Einschränkungen des Art. 6 EMRK nicht gerecht.164 Dies ergibt sich zum einen daraus, dass eine Zurückhaltung von Informationsträgern ohne eine gerichtliche Überprüfung der Geheimhaltungsgründe nicht unbedingt erforderlich ist i. S. d. herkömmlichen Dogmatik zur Rechtfertigung eines Eingriffs in Art. 6 EMRK. Zum anderen bereitet die bisherige Gesetzeslage auch erhebliche Schwierigkeiten für den Beschuldigten, die aus nachfolgenden Gründen weder unvermeidbar noch notwendig sind. Der Beschuldigte sähe sich bei verwaltungsgerichtlicher Anfechtung der Sperrerklärung zum einem dem Strafverfahren ausgesetzt, müsste parallel hierzu eine verwaltungsrechtliche Klage erheben und regelmäßig einstweiligen Rechtsschutz beantragen. Weiter müsste er während des Verwaltungsgerichtsverfahrens bei erneuter Sperrerklärung der Behörde einen Antrag nach § 99 Abs. 2 S. 1 VwGO stellen. Da für das in-camera-Verfahren gem. § 99 Abs. 2 S. 1, 2 VwGO ein Fachsenat beim Oberverwaltungsgericht bzw. Bundesverwaltungsgericht zuständig ist, müsste der Beschuldigte mit insgesamt drei Spruchkörpern prozessieren, es würde den Beschuldigten mit einem unmittelbaren Kosten- und Organisationsaufwand belasten und zudem wird eine solche Prozedur zeitaufwendig sein.165 Ein Vorlageverfahren an einen strafgerichtlichen Senat würde all diese Hindernisse und Unwägbarkeiten beseitigen.166 Hinzu kommt, dass ein paralleler Verfahrensgang mit Blick auf die prozessuale Fürsorgepflicht regelmäßig zu einer unnötigen Verzögerung des Strafverfahrens führen dürfte oder andernfalls mit 161 Beispielhaft EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 29777/96, Fitt/GBR, Reports 2000-II, 387, Rn. 45: „Moreover, in order to ensure that the accused receives a fair trial, any difficulties caused to the defence by a limitation on its rights must be sufficiently counterbalanced by the procedures followed by the judicial authorities […].“ 162 EGMR, Urt. v. 04.04.2017, No. 2742/12, Matanovic´/HRV, Rn. 184 ff.; EGMR, Urt. v. 05.04.2012, No. 11663/04, Chambaz/CHE, Rn. 62 ff. 163 Siehe EGMR, Urt. v. 05.04.2012, No. 11663/04, Chambaz/CHE, Rn. 7 ff. 164 Kritisch ebenfalls SK-StPO/Wohlers/Greco, Bd. 2, § 96, Rn. 35; siehe auch LRStPO/Stuckenberg, Bd. 5/2, § 199, Rn. 14, in Anlehnung an die EGMR-Entscheidung in Sachen Rowe u. Davis; Gröger, Akteneinsichtsrecht, S. 104 f. 165 Hierzu auch Pohlreich, Gehör, S. 106. 166 Ähnlich Pohlreich, Gehör, S. 109 f., wobei eine Vorlage an einen Fachsenat des Oberoder Bundesverwaltungsgerichts ebenfalls konventionskonform realisierbar sein dürfte.

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

dem Wagnis verbunden wäre, dass das Strafverfahren (sollte dieses nicht ausgesetzt werden)167 möglicherweise abgeschlossen ist, ehe eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung hinsichtlich der Sperrerklärung ergeht.168 Mithin ist ein entsprechendes Vorlageverfahren aus völkerrechtlicher Sicht zwingend notwendig. Das „Zwischengericht“ sollte ebenfalls ein Strafgericht, aus Gründen der Verfahrensfairness jedoch nicht das Strafgericht der Hauptsache, sondern eine (andere) Kammer des örtlichen Landgerichts oder ein dort ansässiger oberlandesgerichtlicher Senat sein. Hierdurch würden die Beschränkungen des Einsichtsrechts und der übrigen Beschuldigtenrechte so gering wie möglich und nötig gehalten werden. Der Gesetzgeber ist gefordert, ein entsprechendes Vorlageverfahren, das den dargestellten Anforderungen aus Art. 6 EMRK gerecht wird, zu schaffen.169 Denn die Sperrung von Aktenbestandteilen, mögen sie im Ergebnis auch gerechtfertigt sein, verstößt bei bisheriger Gesetzesund Rechtsprechungslage gegen das Gebot eines fairen Strafverfahrens.170 Die vorstehenden Ausführungen lassen sich in gleicher Weise aus dem verfassungsrechtlich verbürgten Fairnessgebot und Art. 103 Abs. 1 GG herleiten. Auch Art. 19 Abs. 4 GG verbietet es in Anlehnung an den Akteneinsichtsrechts-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, den Interessenkonflikt alleine mit verschärften Begründungsanforderungen an die Verweigerung der Aktenvorlage zu lösen.171 Das vorbenannte Verfassungsrecht, insbesondere der aus dem Fairnessgebot abzuleitende Grundsatz der Aktenwahrheit und -vollständigkeit, und die hinter § 147 StPO stehenden konventionsrechtlichen Gewährleistungen gebieten es zudem, in den dem Gericht und der Verteidigung zur Verfügung gestellten Akten zu vermerken, dass die Akten aufgrund einer Sperrerklärung nicht vollständig sind.172

167 Nach bisheriger Rechtsprechungspraxis wird das Strafverfahren nur ausgesetzt, wenn die verwaltungsgerichtliche Klage nach Ansicht des Strafgerichts der Hauptsache Aussicht auf Erfolg hat, eingehend hierzu Pohlreich, Gehör, S. 43 f. m. w. N.; siehe hierzu auch LRStPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 52. 168 Hierauf weist auch Pohlreich, Gehör, S. 109, hin. 169 Somit wäre auch die Problematik, dass die Durchführung des in-camera-Verfahrens durch das Gericht der Hauptsache mit Art. 103 Abs. 1 GG konfligieren und zudem den Vorwurf der Besorgnis der Befangenheit mit sich bringen würde, worauf Pohlreich, Gehör, S. 106 ff. eingeht, überwunden. Gleiches gilt für die sonst aufkommenden Bedenken, die auch LR-StPO/Stuckenberg, Bd. 5/2, § 199, Rn. 16, anführt; abgelehnt wird ein in-camera-Verfahren im Strafprozess vom BVerfG aus rechtsstaatlichen Erwägungen: BVerfG NStZ-RR 2013, 379, 379; abl. auch Park StV 2009, 276, 277; Gröger, Akteneinsichtsrecht, S. 105, schlägt als Alternative zum gerichtlichen in-camera-Verfahren die Hinzuziehung eines dritten, unabhängigen Anwalts vor, sofern das Strafgericht der Hauptsache gleichzeitig die geheim gehaltenen Akten überprüfen soll. Diesem „Ausgleich“ bedarf es bei dem hier vorgeschlagenen Lösungsweg jedoch ebenfalls nicht, da der Verteidigung nach zuvor Gesagtem zumindest Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben ist. 170 So auch Gröger, Akteneinsichtsrecht, S. 105. 171 Vgl. BVerfGE 101, 106, 126 ff. 172 Nach den vorstehenden Ausführungen, wonach ein Zwischengericht von Amts wegen

II. Staatliche Geheimhaltungsgründe

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Nun bleibt nur noch zu klären, auf welchen Weg die vorbenannte Einschränkungsmöglichkeit des Einsichtsrechts aufgrund staatlicher Geheimhaltungsgründe Eingang in die einfachgesetzliche Ausgestaltung des Akteneinsichtsrechts finden kann. § 147 StPO sieht im Gegensatz zur Einschränkungsmöglichkeit aufgrund der Untersuchungszweckgefährdung keinen dogmatischen Anknüpfungspunkt vor. Die das Akteneinsichtsrecht ausfüllende Norm des § 32f StPO regelt zwar, dass einer Einsichtsgewährung „wichtige Gründe entgegenstehen“ können. Diese führen bei der e-Akte nach dem ausdrücklichen Wortlaut des § 32f Abs. 1 StPO jedoch nur dazu, dass die Einsichtsgewährung durch das Bereitstellen des Akteninhalts zum Abruf oder durch Übermittlung des Inhalts der Akte auf einem sicheren Übermittlungsweg (§ 32f Abs. 1 S. 1 StPO) verwehrt werden kann, hierfür ersatzweise aber eine Einsicht in der in § 32f Abs. 1 S. 2, 3 StPO vorgesehenen Form zu gewähren ist, § 32f Abs. 1 S. 4 StPO. Entgegenstehende wichtige Gründe führen nach dem Wortlaut also allenfalls dazu, dass das grundsätzliche (und z. T. besonders zu begründende) Antragserfordernis für eine Einsichtsgewährung nach § 32f Abs. 1 S. 2, 3 StPO nicht mehr vorausgesetzt wird. Auch bei der papiernen Akte werden in § 32f Abs. 2 S. 2, 3 StPO bei entgegenstehenden wichtigen Gründen lediglich die Einsichtsformen „Bereitstellen des Akteninhalts zum Abruf“, „Bereitstellen des Akteninhalts durch Übermittlung auf einem sicheren Übermittlungsweg“, „Bereitstellen einer Aktenkopie zur Mitnahme“ und „Mitgabe der Akten zur Einsicht“ verwehrt. Die grundsätzliche Einsichtsmöglichkeit durch § 32f Abs. 2 S. 1 StPO bleibt nach dem Wortlaut jedoch bestehen, da der Vorbehalt entgegenstehender wichtiger Gründe hierbei nicht normiert ist. Das hängt damit zusammen, dass der Gesetzgeber mit entgegenstehenden wichtigen Gründen vordergründig technische und organisatorische Probleme in den Blick genommen hat.173 Ungeachtet dessen, dass § 32f StPO lediglich die Form der durch eine andere Norm (hier § 147 StPO) gewährten Einsicht regelt, also nicht die Anspruchsnorm selbst darstellt, kann auch hierin kein Anknüpfungspunkt für eine Einsichtsverwehrung zugunsten von Staatswohlbelangen festgemacht werden.

über die Rechtmäßigkeit der Aktensperrung bzw. -zurückhaltung zu entscheiden hat, wird dem Tatsachengericht und der Verteidigung zwar ohnehin bekannt werden, dass die Akten (bislang) unvollständig sind. Insofern gebieten die Gewährleistungen aus dem Fairnessgebot, Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 GG nicht zwingend eine entsprechende Vermerkung in den Akten. Jedoch würde dies voraussetzen, dass die Überprüfung der Geheimhaltungsgründe mittels in-camera-Verfahrens derart ausgestaltet wird, dass die Staatsanwaltschaft von selbst ein entsprechendes Verfahren einzuleiten hat. Da bislang eine solche Einleitungspflicht für die Staatsanwaltschaft nicht besteht, muss das Gericht und die Verteidigung aus Gründen der Verfahrensfairness, Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 GG darauf aufmerksam gemacht werden, dass ein solches in-camera-Verfahren einzuleiten ist. Ein entsprechender Aktenvermerk ist jedenfalls deshalb erforderlich, um die (zunächst) bestehende Informationslücke in den Akten mit Blick auf den Grundsatz der Aktenwahrheit/-vollständigkeit zu füllen. 173 Siehe BT-Drs. 18/9416, 57; BT-Drs. 18/12203, 73.

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

Bei verfassungskonformer Auslegung unter Berücksichtigung der Staatswohlbelange muss das Nichtvorliegen eines entgegenstehenden Grundes quasi als „negatives Tatbestandsmerkmal“ in § 147 Abs. 1, 4 StPO hineingelesen werden. Da insoweit kein Anspruch auf Akteneinsicht bestünde, käme 32f Abs. 1, 2 StPO nicht zur Anwendung. Auch wenn die Binnensystematik der §§ 147, 32f StPO gegen eine solche Lesart spricht, wird die Wortlautgrenze des § 147 Abs. 1, 4 StPO und des § 32f Abs. 1, 2 StPO hierbei nicht überschritten. Denn der jeweilige Wortlaut ist insoweit schlicht unergiebig. In den Gesetzesmaterialien wird deutlich, dass der Gesetzgeber mit der Einführung des § 32f StPO immer noch beabsichtigt, die anerkannten Ausnahmetatbestände zu berücksichtigen.174 Im Übrigen soll § 32f StPO nur Anwendung finden, soweit ein Akteneinsichtsrecht dem Grunde nach besteht,175 was bei berechtigter Sperrerklärung nicht der Fall ist. Würde man sich unter Hinweis auf eine fehlende Regelung in den §§ 147, 32f StPO gegen eine Einschränkung des Einsichtsrechts zugunsten von Staatswohlbelangen aussprechen, täte sich zudem ein Normwiderspruch zu den §§ 96, 110b Abs. 3 StPO auf, der nach methodischen Grundsätzen durch Auslegung zu vermeiden ist, sofern der Wortlaut das zulässt.176 Es ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die vorbenannten und fortgeltenden Normen bei der Ausgestaltung von § 32f StPO und der jüngsten Reform von § 147 StPO im Jahr 2018 mitberücksichtigt wissen wollte.

III. Zeugenschutzaspekte Ein weiteres Problemfeld, das dem Geheimnisschutz aus Gründen des Staatswohls ähnelt, ist der Aspekt des Zeugenschutzes. Sowohl in der StPO als auch in speziellen Gesetzen finden sich Regelungen zugunsten des Zeugenschutzes, die das Akteneinsichtsrecht beschränken. In § 68 Abs. 4 S. 4 StPO ist beispielsweise vorgesehen, dass Aktenteile, aus denen der Wohnort oder die Identität eines Zeugen ersichtlich ist oder deren Kenntnisnahme durch Dritte die Gefahr begründet, dass dessen Leib, Leben oder Freiheit gefährdet wird, erst zu den Akten zu nehmen sind, wenn die Besorgnis der Gefährdung entfällt. Den umfassenden Aktenbegriff zugrunde gelegt, hat dies zur Folge, dass die Einsicht in Unterlagen, die bereits Aktenbestandteil sind, während dieser angenommenen Gefahrenlage verwehrt wird. Ähnlich verhält es sich mit dem soeben bereits angesprochenen § 110b Abs. 3 StPO. Zur Geheimhaltung der Identität eines verdeckten Ermittlers kann nach Maßgabe des § 96 StPO eine Sperrerklärung auch dann erlassen werden, wenn anzunehmen ist, dass die Offenbarung Leib, Leben oder Freiheit des Zeugen gefährden würde, § 110b Abs. 3 S. 3 StPO. 174

Vgl. BT-Drs. 18/12203, 73. BT-Drs. 18/9416, 56. 176 Siehe hierzu allg. nur Jarass AöR 126 (2001), 588, 592 m. w. N. 175

III. Zeugenschutzaspekte

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In § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG ist normiert, dass von der Zeugenschutzdienststelle geführte Akten, die Entscheidungen und Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Zeugenschutz betreffen, „nicht Bestandteil der Ermittlungsakte [sind]“. Da es sich auch insoweit oftmals um Vorgänge handeln wird, die den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung gestellt worden sind, und diese Vorgänge im Zusammenhang mit einem Strafverfahren stehen werden, handelt es sich hierbei entgegen des misslich formulierten Wortlautes i. d. R. ebenfalls um Bestandteile der Ermittlungsakte. Wie bereits ausgeführt, ist der Hintergrund dieser Formulierung einzig der Umstand, dass im Unterschied zu den üblichen Vorgängen des Ermittlungsverfahrens nicht die Staatsanwaltschaft, sondern die Zeugenschutzdienststelle die aktenführende Stelle ist und aufgrund der besonderen Geheimbedürftigkeit lediglich eine physische Aktentrennung legitimiert werden sollte, ohne diese Vorgänge materiell dem Aktenbegriff zu entziehen. Hierfür sprechen auch § 2 Abs. 3 S. 3 ZSHG, die übrige Gesetzessystematik des ZSHG, die diesbezüglichen Gesetzesmaterialien und der Wortlaut des § 96 S. 1 StPO.177 § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG legitimiert damit lediglich eine ausnahmsweise physische Aktentrennung von Vorgängen, die in dem Fall, dass sie den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung gestellt worden sind, als Aktenbestandteil ansonsten in die Ermittlungsakte gehören würden. Wird der Verteidigung die Einsicht in diese Informationsträger, die der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestanden haben, mit Hinweis auf eine fehlende Auskunftsgenehmigung gem. § 2 Abs. 3 S. 4 ZSHG178 verwehrt oder sind diese Vorgänge entgegen dem Aktenvollständigkeitsgrundsatz zu keinem Zeitpunkt zu den Strafakten gelegt worden, würde auch dies eine Einschränkung des Akteneinsichtsrechts darstellen. Aus den Materialien zur Reform des § 147 StPO im Jahr 2000 ergibt sich, dass der Gesetzgeber jedenfalls die Einschränkung der Informationsrechte des verteidigerlosen Beschuldigten zugunsten gefährdeter Zeugen anerkennt.179 Hieran sollte sich mit der Einführung eines eigenen Einsichts- und Besichtigungsrechts des verteidigerlosen Beschuldigten nichts ändern.180 Dies ließ sich zudem aus § 147 Abs. 7 S. 1 StPO a. F. ableiten und kommt auch in § 147 Abs. 4 S. 1 StPO n. F. zum Ausdruck (als entgegenstehende überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter). Ein entsprechender Passus ist für den Verteidiger weder in § 147 Abs. 1 StPO noch in § 32f StPO vorgesehen.181 Nach dem Willen des Gesetzgebers soll dem Verteidiger schließlich grundsätzlich umfassende Einsicht gewährt wer-

177

Siehe zum Vorstehenden S. 269 ff. Eingehend hierzu MüKo-StPO/Roggan, Bd. 3/2, § 2 ZSHG, Rn. 14 ff. 179 BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 22. 180 Siehe BT-Drs. 18/9416, 33, 105; BT-Drs. 18/12203, 74. 181 Siehe auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 92; vgl. hierzu im Zshg. mit der Herausgabepflicht von TKÜ-Aufzeichnungen auch OLG Zweibrücken StV 2017, 437, 438 m. Anm. Wölky. 178

568

C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

den.182 Eine Einsicht in besonders schützenswerte Aktenbestandteile soll dabei grundsätzlich nicht gänzlich verwehrt, sondern zumindest in den Diensträumen gewährt werden.183 Die aufgezeigten Beeinträchtigungen des Einsichtsrechts zugunsten des Zeugenschutzes sind im Einzelfall jedoch verfassungsrechtlich geboten – auch zulasten des Einsichtsrechts des Verteidigers. Einer verfassungskonformen Auslegung unter Berücksichtigung des Schutzes von Leib und Leben Dritter stehen Wortlaut und gesetzgeberischer Wille auch nicht entgegen. Im Wortlaut der §§ 147 Abs. 1, 4, 32f StPO und den diesbezüglichen Materialien wird die Einschränkbarkeit des Einsichtsrechts in Form einer gänzlichen Einsichtsverwehrung zugunsten von Zeugenschutzbelangen nicht kategorisch ausgeschlossen. Der Schutzauftrag des Staates gem. Art. 2 Abs. 2 S. 1, 2 GG gebietet es, Informationen, die bei Offenbarung unausweichlich das Leib, Leben oder die Freiheit einer Person konkret gefährden, zurückzuhalten.184 Vorgänge der Zeugenschutzdienststelle können nach hiesiger Untersuchung zwar Bestandteile der strafverfahrensrechtlichen Akte darstellen, eine Einsicht hierin wird im Einzelfall jedoch auch gänzlich zu verwehren sein können. Die Ausführungen zum Schutz der Dienst- bzw. Staatsgeheimnisse gelten in gleicher Weise auch zugunsten von Privatpersonen. Der Zeugenschutz nach dem ZSHG zielt gerade darauf ab, die zu schützende Person aus ihrem bisherigen Lebensumfeld herauszulösen und an einem getarnten Ort unterzubringen.185 Eine Einsicht in derartige Vorgänge würde die regelmäßige Ausstattung solcher Zeugen mit Tarndokumenten186 ad absurdum führen. Auch die EMRK lässt Raum dafür, die Einsicht in solche Akten zu verwehren. Schließlich dient der Zeugen- bzw. Opferschutz ebenfalls als Schranke des Fairnessgebots.187 Dies konzentriert sich auf den Lebens-, Freiheits- und Sicherheitsschutz.188 Wenngleich der EGMR im Einzelfall Schutzinteressen Dritter als konventionsimmanente Schranke zulässt, betont er stets, dass die Einschränkung unbedingt notwendig sein müsse und die hierdurch entstehenden Beeinträchtigungen der Verteidigung adäquat ausgeglichen werden müssten („sufficiently

182 Siehe die Materialien zur jüngsten Reform von § 147 StPO: BT-Drs. 18/9416, 92; BTDrs. 18/12203, 74. 183 BT-Drs. 18/12203, 73. 184 Siehe BVerfGE 57, 250, 284 f. 185 BT-Drs. 14/638, 11. 186 Siehe BT-Drs. 14/638, 11. 187 Eingehend Gaede HRRS 2004, 44, 46 m. w. N.; SSW-StPO/Satzger, Art. 6 EMRK, Rn. 44; krit. hierzu Jahn ZStW 127 (2015), 549, 591 f. 188 EGMR, Urt. v. 26.03.1996, No. 20524/92, Doorson/NLD, Rn. 70; EGMR, Urt. v. 23.04.1997, No. 21363/93 u. a., Van Mechelen/NLD, Rn. 53.

III. Zeugenschutzaspekte

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counterbalance“189).190 Die Entscheidung über die Zurückhaltung von Informationsträgern und den zu gewährenden Ausgleich sei jedenfalls in einem weitestgehend kontradiktorisch und waffengleich ausgestalteten Verfahren einzubetten.191 Die Rechte der Verteidigung seien so weit wie möglich zu gewähren.192 Dies entspricht ebenfalls der vorzugswürdigen Auffassung des Bundesverfassungsgerichts.193 Ebenso, wie die Akteneinsicht aufgrund des Geheimnisschutzes durch eine entsprechende Sperrerklärung ausnahmsweise verwehrt werden kann, kann auch die Gefährdung eines Zeugen unter anderem seine Ausstattung mit einer Legende erforderlich machen. Sofern die Staatsanwaltschaft ausnahmsweise Kenntnis von den Zeugenschutzvorgängen erlangt hat, kann nichts anderes gelten.194 Es bleibt bei Zubilligung der soeben erörterten Möglichkeit, die Einsicht aufgrund des Staatswohls im Einzelfall verwehren zu können, jedoch zu fordern, dass ein Gericht unter Vorlage der Zeugenschutzdienstellen-Akte in-camera überprüft, ob etwa das Ermessen nach § 1 Abs. 1 ZSHG ermessensfehlerfrei ausgeübt wurde und die Gefährdungslage gem. § 1 Abs. 4 S. 1 ZSHG beurteilungsfehlerfrei angenommen wurde. Die Einsicht ist soweit möglich nur zeitweilig und im Allgemeinen nur in einem Umfang, der für den Zeugenschutz unbedingt erforderlich ist, zu verwehren.195 Gegebenenfalls kann das Einsichtsrecht derart beschränkt wer-

189 EGMR [GK], Urt. v. 27.10.2004, Nos. 39647/98, 40461/98, Edwards u. Lewis/GBR, Reports 2004-X, 61, Rn. 46; EGMR, Urt. v. 18.05.2010, No. 26839/05, Kennedy/GBR, Rn. 180, 184; im Zshg. mit dem Recht auf Zugang zum Beweismaterial: LR-StPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 223; eingehend Gaede, Fairness, S. 688 f. m. w. N. 190 EGMR, Urt. v. 24.06.2003, No. 39482/98, Dowsett/GBR, Reports 2003-VII, 259, Rn. 42, im Anschluss an: EGMR, Urt. v. 26.03.1996, No. 20524/92, Doorson/NLD, Rn. 70; EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 29777/96, Fitt/GBR, Reports 2000-II, 387, Rn. 45; EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 28901/95, Rowe u. Davis/GBR, Reports 2000-II, 287, Rn. 61; hierzu und zu weiteren vom EGMR aufgestellten Kriterien: MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 162 f. m. w. N.; eingehend auch Gaede, Fairness, S. 715 ff. m. w. N. 191 EGMR, Urt. v. 24.06.2003, No. 39482/98, Dowsett/GBR, Reports 2003-VII, 259, Rn. 42 f.; EGMR, Urt. v. 19.06.2001, No. 36533/97, Atlan/GBR, Rn. 40 f.; EGMR, Urt. v. 27.04.2007, No. 38184/03, Matyjek/PL, Rn. 63; EGMR, Urt. v. 15.01.2008, No. 37469/05, Luboch/PL, Rn. 68; EGMR, Urt. v. 26.11.2009, No. 25282/06, Dolenec/HRV, Rn. 218; EGMR, Urt. v. 09.10.2008, No. 62936/00, Moiseyev/RUS, Rn. 217; dem folgend MüKoStPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 162; zum Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren: SSW-StPO/Satzger, Art. 6 EMRK, Rn. 35 m. w. N.; siehe auch EGMR, Urt. v. 05.04.2012, No. 11663/04, Chambaz/CHE, Rn. 61. 192 EGMR, Urt. v. 24.06.2003, No. 39482/98, Dowsett/GBR, Reports 2003-VII, 259, Rn. 43; EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 29777/96, Fitt/GBR, Reports 2000-II, 387, Rn. 45 f.; EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 28901/95, Rowe u. Davis/GBR, Reports 2000-II, 287, Rn. 6 ff.; dem folgend Gaede HRRS 2004, 44, 50. 193 Siehe etwa BVerfGE 57, 250, 285 f.; 109, 279, 369 f. 194 Anders in diesem Fall mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 EMRK: Roggan GA 159 (2012), 434, 449 f. 195 Vgl. zur restriktiven Einschränkung aufgrund von Zeugenschutzbelangen und einer

570

C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

den, dass die Einsicht lediglich in den Diensträumen gewährt wird. Die §§ 68 Abs. 4 S. 4, 110b Abs. 3 S. 3 StPO und § 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG stehen folglich auch mit den völkerrechtlichen Grundsätzen zur Einschränkbarkeit des Akteneinsichtsrechts prinzipiell in Einklang. Im Rahmen einer verfassungs- und konventionskonformen Auslegung von § 147 Abs. 1, 4 StPO bzw. § 32f Abs. 1, 2 StPO kann Belangen des Zeugenschutzes ebenfalls Rechnung getragen werden. Bleibt es nach gerichtlicher Überprüfung bei der Behördenentscheidung, ist dies entsprechend des zuvor besprochenen Ausnahmekomplexes weitestgehend durch einen Kompromiss bzw. Nachteilsausgleich zu lösen.196 Anbieten wird sich hierbei zumindest, den zu schützenden Zeugen selbst und/oder die in den Zeugenschutz involvierten Beamten soweit zu vernehmen, wie der Zeugenschutz dem nicht notwendig entgegensteht.197 § 68 Abs. 2, 3 StPO veranschaulicht, dass zum Schutz des Zeugen grundsätzlich nur die Angaben zur Person und zum Aufenthaltsort im Einzelfall unterbleiben können und der Zeuge erforderlichenfalls sein Gesicht ganz oder teilweise verhüllen kann. Sofern selbst dies den Schutz von Leib und Leben unausweichlich gefährden würde, wäre eine audiovisuelle Zeugenvernehmung gem. § 168e StPO bzw. § 247a Abs. 1 StPO erforderlich.

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter 1. Der Sozial- und Privatsphäre angehörende Informationsträger Zunächst soll untersucht werden, ob Persönlichkeitsrechte Dritter – also solcher Personen, gegen die sich die Ermittlungsmaßnahme nicht gezielt gerichtet hat – einen dem Akteneinsichtsrecht der Verteidigung entgegenstehenden wichtigen Grund darstellen können. Der Wortlaut sowohl des § 147 StPO als auch des § 32f StPO ist insofern nicht ergiebig. § 32f StPO regelt ohnehin lediglich die Form der Einsichtsgewährung, soweit ein Einsichtsrecht etwa gem. § 147 StPO besteht. Die in § 32f Abs. 1, 2 StPO normierten „entgegenstehenden wichtigen Gründe“ erfassen nach dem Willen des Gesetzgebers vordergründig technische und organisatorische Probleme und nur ausnahmsweise auch besonders schützenswerte Aktenbestandteile. Möglicherweise kann den Gesetzesmaterialien zu den §§ 147, 32f StPO allerdings zur Frage der Berücksichtigungsfähigkeit von Persönlichkeitsrechten Dritter eine gesetzgeberische Intention entnommen werden. Auch ist das Verfassungs- und Konventionsrecht zu berücksichtigen.

ggfs. erforderlichen Kompensation auch Hiebl, Probleme, S. 135 ff.; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 125 ff. 196 Vgl. am Beispiel eines nicht ausreichend konfrontativ befragten Zeugen: Kirchhoff HRRS 2015, 506, 510 f. m. w. N.; Pohlreich, Gehör, S. 60 ff. m. w. N. 197 So auch die Vorstellung des Gesetzgebers bei Einführung des ZSHG, siehe BT-Plenarprotokoll 14/180: Stenografischer Bericht der 180. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 29.06.2001, 17791A-17791B, 17792D.

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

571

Die Telekommunikationsüberwachung gem. § 100a StPO ist ein paradigmatisches Beispiel für eine Ermittlungsmaßnahme, durch die (neben dem Eingriff in das Fernmeldegeheimnis) regelmäßig auch in das allgemeine Persönlichkeitsrecht Dritter eingegriffen wird. Zudem wird dieser Aspekt insbesondere im Zusammenhang mit dem Einsichtsrecht in TKÜ-Aufzeichnungen diskutiert. Bell geht davon aus, dass einem Verbot zugunsten des Schutzes von Persönlichkeitsrechten Dritter, das so weit reicht, dass selbst die eigenhändige Anfertigung von Beweisstückkopien, wie bspw. TKÜ-Aufzeichnungen, untersagt ist, sodass der Verteidiger die Beweisstücke lediglich in den Diensträumen anhören kann, zeitintensive An- und Abfahrten des Verteidigers entgegenstehen würden.198 Die Besichtigung wäre zudem nicht ausreichend effizient,199 bei mehreren Verteidigern sei der gerichtliche Aufwand zur Zurverfügungstellung der Beweisstücke praktisch kaum zu bewältigen200 und zuletzt verstieße ein Verbot, Beweisstücke aufgrund des Schutzes der Persönlichkeitsrechte Dritter eigenhändig zu kopieren, gegen den Waffengleichheitsgrundsatz.201 Der Wortlaut sei hinsichtlich der Frage, ob der Anfertigung einer Kopie schutzbedürftige Interessen Dritter entgegenstehen könnten, ebenso wie die Historie zwar nicht ergiebig;202 systematisch und teleologisch betrachtet könnten schutzbedürftige Interessen Dritter, wie etwa Persönlichkeitsrechte, jedoch keinen der Besichtigung von Beweisstücken oder der Anfertigung von Beweisstückkopien entgegenstehenden Grund darstellen.203 Dies gelte auch für Aktenbestandteile und auch hinsichtlich besonders schutzbedürftiger Daten Dritter.204 Insbesondere im Zusammenhang mit TKÜ-Aufzeichnungen ist höchst umstritten, ob die Persönlichkeitsrechte der Drittbetroffenen der Akteneinsicht des Verteidigers entgegenstehen (können).205 Insofern soll auch § 100a StPO einer genaueren Untersuchung zugeführt werden.

198

Bell, Akteneinsicht, S. 43 f. Bell, Akteneinsicht, S. 44 f. 200 Bell, Akteneinsicht, S. 45 f. 201 Bell, Akteneinsicht, S. 46 ff. 202 Bell, Akteneinsicht, S. 37 f. 203 Bell, Akteneinsicht, S. 38 ff. 204 Siehe Bell, Akteneinsicht, S. 93 f. 205 Siehe einerseits bspw. OLG Zweibrücken StV 2017, 437, 438 m. Anm. Wölky; Wettley/ Nöding NStZ 2016, 633, 635 f.; Schulz-Merkel jurisPR-StrafR 8/2016, Anm. 5, S. 2; Petzold/ Meyer confront 2017, 15, 20 f.; Wu HRRS 2018, 108, 112 ff.; nach LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 125, jdfs. Abwägungsvorsprung zugunsten des Informationsinteresses; andererseits etwa: OLG Celle NStZ-RR 2017, 48, 49; KG NStZ 2016, 693, 694; KG StV 2018, 75, 77 m. krit. Anm. El-Ghazi jurisPR-StrafR 21/2017, Anm. 1; OLG Celle NStZ 2016, 305, 306 m. abl. Anm. Knauer/Pretsch; OLG Karlsruhe StV 2013, 74, 75 m. abl. Anm. Beulke/ Witzigmann und abl. Anm. Albrecht jurisPR-ITR 1/2013, Anm. 4; OLG Hamburg NStZ 2016, 695, 696; OLG Nürnberg StraFo 2015, 102, 103 m. abl. Anm. Wesemann/Mehmeti; OLG Frankfurt StV 2016, 148, 149 m. Anm. Killinger und m. krit. Anm. Basar jurisPRStrafR 14/2016, Anm. 1. 199

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

Im Folgenden wird untersucht, ob Persönlichkeitsrechte Dritter (soweit nicht kernbereichsrelevant)206 einen der Einsicht entgegenstehenden Grund darstellen (können). a) § 147 StPO aa) Wortlaut und Binnensystematik Ein Vergleich zwischen den ersten beiden Absätzen des § 147 StPO verdeutlicht, dass im Grundsatz in alle Aktenbestandteile Einsicht zu gewähren ist; hiernach kann nur im Ermittlungsverfahren – soweit aus Gründen der Verfahrenssicherung erforderlich – das Einsichtsrecht aufgeschoben werden. Für das Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten stellt § 147 Abs. 4 S. 1 StPO klar, dass dem Einsichtsrecht schutzwürdige Interessen Dritter entgegenstehen können. Dass eine solche Ausnahmebestimmung für das Einsichtsrecht des Verteidigers fehlt, legt bereits nahe, dass schutzwürdige Interessen Dritter dem Einsichtsrecht gem. § 147 Abs. 1 StPO gerade nicht entgegengehalten werden können.207 Dass in der StPO auch sonst Einschränkungsmöglichkeiten aufgrund betroffener Persönlichkeitsrechte Dritter, im Gegensatz zu den zuvor besprochenen Fallgruppen, nicht vorgesehen sind, bekräftigt diese Annahme. bb) Gesetzgeberische Intention Diese Annahme bestätigen zahlreiche Gesetzesmaterialien § 147 StPO betreffend. Bereits im Gesetzgebungsverfahren zur Einführung des § 147 RStPO wurde für die Annahme eines Aussonderungsrechts der Staatsanwaltschaft angeführt, dass die Akten auch Informationen von dritten Personen enthalten könnten, auf welche sich die Anklage nicht erstrecke.208 Wie bereits ausgeführt wurde, ist man dieser Argumentation bei der Einführung des § 147 RStPO jedoch nicht gefolgt.209 Nach dem Willen des Reichsgesetzgebers sollten die Persönlichkeitsrechte Dritter also einen für die Frage des Einsichtsrechts unbeachtlichen Aspekt darstellen. Auch der Übersendung der Akten zur Einsichtnahme entgegenstehende Gründe sind nach Auffassung des Gesetzgebers vordergründig nur im Ermittlungsverfahren210 oder zum Schutz der Beweisstückintegrität211 denkbar, wobei Ersteres 206 Ob dies auch für kernbereichsrelevante Daten gilt, wird anschließend einer gesonderten Prüfung unterzogen. Zunächst soll es um die personenbezogenen Daten gehen, die der Sozialoder Privatsphäre zuzuordnen sind. 207 So etwa auch Wu HRRS 2018, 108, 112; siehe auch OLG Zweibrücken StV 2017, 437, 438 m. zust. Anm. Wölky; vgl. auch OLG Frankfurt NStZ 2021, 382, 383 m. Anm. Fröba. 208 Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 964. 209 Siehe Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 964–966, 969; Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1229, 1556. 210 Siehe die Begründung zur Reform 1965: BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 32. 211 Siehe erneut insb. Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 965 f.; BT-Drs. IV/178, Anlage 1, S. 18.

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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nur eine zeitweilige Einschränkung darstellt und das Beweisstück bei letzterer Einschränkung nach hiesiger Untersuchung jedenfalls in Form einer Kopie zu überlassen ist. Der Gesetzgeber hat sich in den darauffolgenden Reformen von dieser Rechtsauffassung nicht gelöst. In den Gesetzesmaterialien zur Reform des Jahres 2018 wird vielmehr zum Ausdruck gebracht, dass auch Telekommunikationsverbindungsdaten vom Gericht ausgewertet werden können.212 Zudem wird in diesem Gesetzgebungsverfahren davon ausgegangen, dass Persönlichkeitsrechte Dritter i. R. d. Einsichtsrechts des Verteidigers unbeachtlich sein sollten.213 Dies wird auch daran deutlich, dass der Schutz personenbezogener Daten jedenfalls bei der elektronischen Aktenführung abschließend in den §§ 496 ff. StPO normiert wurde. Die Vorschriften wurden mit der Einführung der elektronischen Akte im Strafverfahren in die StPO eingefügt.214 Der Gesetzgeber sah die hierin normierten Vorgaben zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen als ausreichend an.215 Selbst dem in § 147 Abs. 7 S. 1 StPO a. F. normierten Auskunfts- und Abschriftenerteilungsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten, dem „überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter“ entgegenstehen konnten, sollte hinsichtlich des Persönlichkeitsrechtsschutzes allenfalls die Intimsphäre entgegenstehen können.216 Zudem sei der Schutz von gefährdeten Zeugen und Geschäfts-/Betriebsgeheimnissen in Betracht zu ziehen.217 Bei der Einführung eines eigenen Akteneinsichtsrechts des verteidigerlosen Beschuldigten durch die jüngste Reform des Jahres 2018 orientierte sich der Gesetzgeber hieran und hielt ein umfassendes Einsichtsrecht im Übrigen zumindest in Aktenkopien für zwingend erforderlich.218 Die in der Reform des Jahres 2018 vom Bundesrat eingebrachte Kritik an einem eigenen Einsichtsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten, die auch auf den Schutz von Persönlichkeitsrechten abzielte,219 hat sich nicht durchgesetzt.220 Der Gesetzgeber geht auch zugunsten von weiteren Akteneinsichtsberechtigten davon aus, dass die Beeinträchtigung von Persönlichkeitsrechten Dritter einer Herausgabe von audiovisuellen Aufzeichnungen nicht entgegensteht. Mit

212

BT-Drs. 18/9416, 32. Siehe BT-Drs. 18/9416, 92 f., 105; BT-Drs. 18/12203, 74. 214 BGBl. I, 2017, 2213 f. 215 BT-Drs. 18/9416, 32: „Um die mit der elektronischen Aktenführung verbundenen, gegenüber der herkömmlichen Papieraktenführung erheblich intensiveren Eingriffe in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung in verfassungskonformer Weise zu begrenzen, sieht der Entwurf bereichsspezifische Regelungen zum Datenschutz vor und schlägt insbesondere vor, eine umfassende, verfahrensübergreifende Suche in elektronischen Aktenbeständen grundsätzlich auszuschließen.“ 216 Siehe die Begründung zur Reform 2000: BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 22. 217 BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 22; siehe hierzu auch Meyer, Akteninformationsrecht, S. 234. 218 BT-Drs. 18/9416, 33, 60; vgl. auch Wu HRRS 2018, 108, 112. 219 BT-Drs. 18/9416, 93. 220 Siehe BT-Drs. 18/9416, 105. 213

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

dem Verweis in § 136 Abs. 4 S. 3 StPO auf § 58a Abs. 2 StPO können Akteneinsichtsberechtigte, wie etwa der Rechtsanwalt des Verletzten gem. § 406e Abs. 1 S. 1 StPO, Kopien von der audiovisuellen Aufzeichnung der Beschuldigtenvernehmung erhalten. Dies hat der Gesetzgeber bewusst geregelt und (lediglich) darauf hingewiesen, dass sich zum Schutz des Persönlichkeitsrechts des Beschuldigten ein Kopierschutz der herauszugebenden audiovisuellen Aufzeichnungen anbieten würde.221 Nach einer umfassenden historischen Betrachtung des § 147 StPO kann der gesetzgeberische Wille mithin dahingehend gedeutet werden, dass Persönlichkeitsrechte Dritter bei der Frage, ob oder inwieweit dem verteidigerlosen Beschuldigten oder gar dem Verteidiger Einsicht zu gewähren ist, zumindest hinsichtlich der Sozial- und Privatsphäre völlig unbeachtlich sein sollte. b) § 32f StPO Diese grundsätzliche Unbeachtlichkeit der Persönlichkeitsrechte Dritter i. R. d. Einsichtsrechts des Verteidigers bestätigt sich auch durch § 32f StPO. § 32f StPO regelt die Form der Akteneinsichtsgewährung und spielt damit für die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Einsicht in die Akten verwehrt werden kann, eine bedeutende Rolle. aa) Wortlaut und Binnensystematik Sowohl für die elektronische Akte als auch für die papierne Akte ist in § 32f StPO vorgesehen, dass gewisse Umstände einer Einsicht entgegenstehen können. Hierbei ergeben sich zwei wesentliche Unterschiede zu § 147 StPO. Zum einen sind die Ausnahmeregelungen hierbei anders formuliert als in § 147 Abs. 4 S. 1 StPO. In § 32f Abs. 1 S. 4, Abs. 2 S. 3 StPO wird die Formulierung „überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter“ nicht verwendet; beide Sätze beziehen sich ausdrücklich auf „entgegenstehende wichtige Gründe“. Schon die unterschiedlichen Formulierungen deuten an, dass die „überwiegenden schutzwürdigen Interessen Dritter“ i. S. d. § 147 Abs. 4 S. 1 StPO nicht oder nicht in gleicher Weise der Akteneinsicht der Verteidigung entgegenstehen können.222 Andererseits ist die vorbenannte Formulierung in § 32f StPO allgemeiner formuliert, woraus geschlossen werden könnte, dass die Einschränkungsmöglichkeit aus § 147 Abs. 4 S. 1 StPO auch von derjenigen in § 32f StPO umfasst ist.

221

BT-Drs. 18/11277, 26. So i. E. auch LG Augsburg StraFo 2020, 150, 151; ahnlich etwa Wettley/Nöding NStZ 2016, 633, 635. 222

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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Gegen letztere Auslegungsvariante spricht jedoch eindeutig folgender Umstand: Soweit Schutzinteressen Dritter entgegenstehenden, wird dem verteidigerlosen Beschuldigten die Akteneinsicht nach § 147 Abs. 4 S. 1 StPO verwehrt. Die „entgegenstehenden wichtigen Gründe“ führen bei dem Akteneinsichtsrecht des Verteidigers jedoch nicht zur gänzlichen Verwehrung der Einsicht, sondern allenfalls dazu, dass die Einsicht in die elektronischen Akten nicht – wie es gem. § 32f Abs. 1 S. 1 StPO der Grundsatz sein soll – durch das Bereitstellen des Akteninhalts zum Abruf oder durch dessen Übermittlung auf einem sicheren Übermittlungsweg gewährt wird, sondern durch Einsichtnahme in den Diensträumen oder Übermittlung eines Aktenausdrucks bzw. eines die Akten beinhaltenden Datenträgers und das auch ohne Antrag.223 Eine Alternativgewährung ist nach dem Wortlaut dabei noch nicht einmal zwingend, da § 32f Abs. 1 S. 4 StPO als KannVorschrift ausgestaltet ist. Ebenso verhält es sich bei der papiernen Akte. Grundsätzlich wird die Akteneinsicht gem. § 32f Abs. 2 S. 1 StPO in den Diensträumen gewährt. Entgegenstehende wichtige Gründe können bei der papiernen Akte nur dazu führen, dass das Bereitstellen des Akteninhalts zum Abruf, durch Übermittlung des Akteninhalts auf einem sicheren Übermittlungsweg, durch Bereitstellen einer Aktenkopie zur Mitnahme oder die Übersendung der Akte in die Geschäftsräume/Wohnung verwehrt wird, § 32f Abs. 2 S. 2, 3 StPO. Es kann sich bei den der Akteneinsicht entgegenstehenden wichtigen Gründen deshalb nur um solche Umstände handeln, die dadurch umgangen werden können, dass schlicht die Form der Akteneinsichtsgewährung geändert wird. Insofern können Beeinträchtigungen von Persönlichkeitsrechten Dritter schon deshalb nicht hierunter subsumiert werden, da diese bei einer anderen Einsichtsform in nahezu gleicher Weise tangiert würden. An § 32f Abs. 1 S. 4 StPO wird weiter deutlich, dass es sich um technische Probleme handeln muss, die der spezifischen Einsicht in die elektronische Akte durch Bereitstellen des Akteninhalts zum Abruf entgegenstehen. Ebenso liegt es nahe, dass die entgegenstehenden wichtigen Gründe i. S. d. § 32f Abs. 2 S. 2 StPO lediglich technische oder organisatorische Probleme umfassen, da es sich bei den dort geregelten Alternativ-Einsichtsformen um die Bereitstellung des Akteninhalts zum Abruf und das Bereitstellen einer Aktenkopie zur Mitnahme handelt. Mithin zeigt schon die Formulierung und die Ausgestaltung des § 32f Abs. 1, 2 StPO, dass die entgegenstehenden wichtigen Gründe i. S. d. § 32f StPO lediglich eine bestimmte Einsichtsform vorgeben, aber nicht das Einsichtsrecht vollständig aufheben können. bb) Gesetzgeberische Intention Dies bestätigt sich auch durch die Gesetzesmaterialien im Zusammenhang mit der Einführung der e-Akte im Strafverfahren. Wie bereits ausgeführt wurde,

223

So i. E. auch SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 19.

576

C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

wollte der Gesetzgeber unter den in § 32f StPO normierten „entgegenstehenden wichtigen Gründen“ insbesondere technische/organisatorische Probleme fassen;224 dies hängt damit zusammen, dass § 32f StPO nur insoweit Anwendung findet, wie ein Einsichtsrecht, etwa nach § 147 Abs. 1, 4 StPO, auch tatsächlich besteht. Selbst in Verschlusssachen oder sonstige besonders schutzbedürftige Aktenbestandteile sollte zumindest eine Einsicht in den Diensträumen gewährt werden.225 Einzusehende Akten sollten dabei ausdrücklich auch etwaige Tonaufzeichnungen darstellen.226 Als Schutz für die Persönlichkeitsrechte Dritter wurde die Einführung der § 32f Abs. 4, 5 StPO als erforderlich, aber auch als ausreichend angesehen.227 Auch durch die Materialien zur Einführung des § 32f StPO bestätigt sich, dass der Gesetzgeber Persönlichkeitsrechte Dritter sowohl bei der Einsichtsgewährung des Verteidigers als grundsätzlich auch bei ebenjener des verteidigerlosen Beschuldigten unberücksichtigt wissen wollte. Es sollte sich hierbei also auch nicht um besonders schützenswerte Aktenbestandteile handeln, die entsprechend den Verschlusssachen nach der Intention des Gesetzgebers lediglich in den Diensträumen eingesehen werden können. c) § 100a StPO Weiter soll untersucht werden, ob sich aus § 100a StPO für die hiesige Untersuchung relevante Aspekte ableiten lassen. aa) Wortlaut und Systematik Zunächst ergeben sich deutliche Anhaltspunkte schon aus dem Wortlaut und der Systematik. Der Telekommunikationsbegriff in § 100a Abs. 1 S. 1 StPO umfasst mit Blick auf die Legaldefinition in § 3 Nr. 59 TKG das Aussenden, Übermitteln und Empfangen von Signalen über Telekommunikationslagen.228 Die von § 100a Abs. 1

224

BT-Drs. 18/9416, 57; BT-Drs. 18/12203, 73. Siehe erneut BT-Drs. 18/12203, 73. 226 BT-Drs. 18/9416, 56. 227 Vgl. BT-Drs. 18/9416, 58; in der der Ausschussfassung vorausgegangenen Stellungnahme der BfDI wurde bzgl. § 32f StPO-E lediglich die Umsetzung des technischen Datenschutzes kritisiert: Voßhoff, Aktualisierte Stellungnahme der Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit zum erweiterten Berichterstattungsgespräch des Rechtsausschusses, am 17. Januar 2017 zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs, BT-Drs. 18/9416, 16.01.2017, 7 (nicht veröffentlicht, in Kopie erhalten); ähnlich LG Augsburg StraFo 2020, 150, 151. 228 Hieran orientierte sich auch der Gesetzgeber bei Einfügung des Begriffs „Telekommunikation“ in § 100a Abs. 1 StPO a. F.: BT-Drs. 13/8016, 26. 225

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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S. 1 StPO umfassten Maßnahmen betreffen typischerweise229 den Datenaustausch zwischen mehreren Personen.230 Insofern muss von § 100a Abs. 1 S. 1 StPO auch die Überwachung des unvermeidbar betroffenen Dritten (des Gesprächspartners) gedeckt sein. Es wäre praktisch gar nicht umsetzbar und i. d. R. auch gar nicht gewünscht,231 die Überwachung auf die betroffene (zu überwachende) Person zu beschränken, weshalb die Erhebung von Daten Dritter der Überwachungsmaßnahme immanent ist; dieser Umstand ist bei der Frage der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme zu berücksichtigen.232 Dies wird schon im Wortlaut des § 100a Abs. 1 S. 1 StPO erkennbar, nach dem im Plural formuliert wird, dass die Telekommunikation auch ohne Wissen „der Betroffenen“ überwacht und aufgezeichnet werden darf. Ebenso verhält es sich bei § 100c Abs. 1 StPO. Es ist mithin schon im Wortlaut des § 100a Abs. 1 S. 1 StPO selbst angelegt, dass die Maßnahme nicht nur in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen eingreift, sondern notwendig auch Persönlichkeitsrechte Dritter tangiert. Dass es sich hierbei nicht bloß um eine redaktionelle Ungenauigkeit handelt, zeigt sich im gleichen Absatz. Im Wortlaut der Rechtsgrundlage für die QuellenTKÜ wird auf das informationstechnische System „von dem Betroffenen“ bzw. 229 Vgl. Gercke/Julius/Temming/Zöller-StPO/Gercke, § 100a, Rn. 15. Einer Auffassung zufolge soll Telekommunikation schon dann vorliegen, wenn die Telekommunikationsanlage bereitgehalten wird, sodass in der Konsequenz etwa auch die Standortabfrage über die sog. stille SMS als Telekommunikation(süberwachung) anzusehen wäre; hiernach wären nicht in jedem Fall der TKÜ Persönlichkeitsrechte Dritter betroffen; die mittlerweile wohl h. M. lehnt einen solch weiten Telekommunikationsbegriff hingegen ab: Gercke/Julius/Temming/ZöllerStPO/Gercke, § 100a, Rn. 12 m. w. N.; zum Meinungsstand LR-StPO/Hauck, Bd. 3/1, § 100a, Rn. 29 ff., 66 ff. m. w. N.; zum Zusammenspiel mit §§ 100g, 100i Abs. 1 StPO: BeckOKStPO/Graf, § 100a, Rn. 46 f., 236, 239 f.; der Telekommunikationsbegriff bezieht sich nach h. M. dabei auf alle über die Fernmeldetechnik ausgetauschten Informationen, sodass auch die Kommunikation zwischen Computern von § 100a Abs. 1 S. 1 StPO umfasst ist: BeckOKStPO/Graf, § 100a, Rn. 22 f. m. w. N. Sofern bei der Überwachung einer solchen Telekommunikation Persönlichkeitsrechte Dritter nicht beeinträchtigt werden, wäre dies eine (weitere) Ausnahme von dem Grundsatz, dass die TKÜ eine Drittbetroffenheit impliziert. 230 Zu den einzelnen Maßnahmen, die in den Anwendungsbereich von § 100a Abs. 1 S. 1 StPO fallen: LR-StPO/Hauck, Bd. 3/1, 27. Auflage 2019, § 100a, Rn. 59 ff.; BeckOKStPO/Graf, § 100a, Rn. 48 ff. 231 Im Regelfall wird es zu Beweiszwecken doch gerade erforderlich sein, den Gesprächsinhalt des Dritten in die Verwertung miteinzubeziehen, weil der Gesprächsinhalt des Beschuldigten für sich genommen regelmäßig nicht verständlich bzw. belastend (genug) sein würde. Zu denken sei nur an den Fall, dass ein Dritter den Beschuldigten etwas zu der Begehung einer Katalogtat fragt und der Beschuldigte hierauf mit „ja“, „nein“ oder Ähnlichem antwortet. Allein der Gesprächsinhalt des Beschuldigten würde in einer späteren Hauptverhandlung keine belastende Wirkung entfalten können. Wie so oft, ist auch hier gerade der Kontext entscheidend. 232 Vgl. nur SK-StPO/Wolter/Greco, Bd. 2, § 100a, Rn. 47, 53; aus demselben Grund ist etwa auch eine Beschränkung der Überwachungsmaßnahme auf bestimmte Arten von Mitteilungen nicht umsetzbar: Meyer-Goßner/Schmitt-StPO/Köhler, § 100a, Rn. 8.

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

„des Betroffenen“ Bezug genommen, vgl. § 100a Abs. 1 S. 2, 3 StPO. Der Gesetzgeber formuliert innerhalb eines Absatzes also einerseits im Plural und andererseits im Singular. Bei der Quellen-TKÜ wird entsprechend der klassischen TKÜ zwar ebenfalls notwendig in Persönlichkeitsrechte Dritter eingegriffen.233 Hieraus kann jedoch nicht der entgegengesetzte Schluss abgeleitet werden, dass das Gesetz sowohl im Singular als auch im Plural formuliert, obwohl beidseits regelmäßig in Persönlichkeitsrechte Dritter eingegriffen wird, sodass der Formulierung in § 100a Abs. 1 S. 1 StPO keine Bedeutung beigemessen werden kann. Denn die unterschiedliche Formulierung erklärt sich daraus, dass jeweils unterschiedliche Bezugspunkte gewählt wurden. Die im Singular stehende Formulierung in § 100a Abs. 1 S. 2, 3 StPO bezieht sich auf das informationstechnische System und nicht – wie bei § 100a Abs. 1 S. 1 StPO – auf die Telekommunikation an sich. Bei der Rechtsgrundlage für die Quellen-TKÜ wurde der Zusatz „der Betroffenen“ schlicht ausgespart, was nur damit zu erklären ist, dass § 100a Abs. 1 S. 2, 3 StPO auf § 100a Abs. 1 S. 1 StPO Bezug nimmt (vgl. § 100a Abs. 1 S. 2 StPO: „dürfen auch“). Nach den Wörtern „Telekommunikation“ bzw. „Kommunikation“ in § 100a Abs. 1 S. 2, 3 StPO ist gedanklich der Zusatz „der Betroffenen“ hineinzulesen. Schon aus einem Vergleich zwischen § 100a Abs. 1 S. 1 StPO und der Ermächtigungsgrundlage für die Quellen-TKÜ ergibt sich demnach, dass dem Gesetz diese Konzeption zugrunde liegt; die TKÜ impliziert nämlich die Beeinträchtigung von Persönlichkeitsrechten Dritter. Dieser Befund bestätigt sich auch bei einem genaueren Vergleich mit weiteren Ermächtigungsgrundlagen. Neben der TKÜ und der Quellen-TKÜ greift auch die akustische Wohnraumüberwachung regelmäßig in Persönlichkeitsrechte Dritter ein. Demgemäß formuliert auch § 100c Abs. 1 StPO im Plural. Anders verhält es sich wiederum bei der Online-Durchsuchung. Diese greift nicht typischerweise in Persönlichkeitsrechte Dritter ein, sondern nur dann, wenn auf dem informationstechnischen System nicht nur personenbezogene Daten des Betroffenen gespeichert sind und durch die Online-Durchsuchung auch die personenbezogenen Daten von Dritten ausgeleitet/ausgelesen werden. Eine Drittbetroffenheit wird – abhängig vom Um233 § 100a Abs. 1 S. 2, 3 StPO soll ein funktionales Äquivalent zur herkömmlichen TKÜ darstellen, womit dem Umstand Rechnung getragen werden soll, dass bei fortschreitender Verschlüsselungstechnik verschiedenster VoIP-/Messengerdienste (so offenbar bei Skype, WhatsApp etc.) über die herkömmliche TKÜ auf dem Übermittlungsweg vermehrt nur noch kryptierte Kommunikationsdaten erhoben werden können. Über § 100a Abs. 1 S. 2, 3 StPO sollte legitimiert werden, dass die Daten durch die Installierung spezieller Software vor der Verschlüsselung auf dem Absendergerät bzw. nach der Entschlüsselung auf dem Empfängergerät, also an der „Quelle“, aufgezeichnet und anschließend ausgeleitet/ausgelesen werden: siehe BT-Drs. 18/12785, 46, 48, 50 ff.; eingehend zum Vorstehenden BeckOK-StPO/Graf, § 100a, Rn. 113 f.; siehe auch LR-StPO/Hauck, Bd. 3/1, § 100a, Rn. 87 ff.; KK-StPO/Bruns, § 100a, Rn. 42; Meyer-Mews, TKÜ, S. 20 ff. Der Gedanke der funktionalen Äquivalenz kommt auch in § 100a Abs. 1 S. 3, Abs. 5 S. 1 Nr. 1b StPO zum Ausdruck.

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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fang der Online-Durchsuchung – zwar in vielen Fällen ebenfalls vorliegen. Entscheidend ist jedoch, dass diese Drittbetroffenheit im Gegensatz zur (Quellen-) TKÜ nicht in der Natur der Online-Durchsuchung liegt. § 100b Abs. 1 StPO formuliert daher im Gegensatz zu den §§ 100a Abs. 1 S. 1, 100c Abs. 1 StPO im Singular. Ferner ist in § 100c Abs. 2 S. 3 StPO geregelt, dass „[d]ie Maßnahme auch durchgeführt werden [darf], wenn andere Personen unvermeidbar betroffen werden“. Dies ist auch für die Online-Durchsuchung, die akustische Wohnraumüberwachung und die akustische Überwachung außerhalb von Wohnraum vorgesehen, vgl. §§ 100b Abs. 3 S. 3, 100c Abs. 2 S. 3, 100f Abs. 3 StPO. Bei § 100a StPO fehlt es an einer solchen Regelung. Hieraus kann jedoch kein die vorstehenden Ausführungen bestätigender Umkehrschluss abgeleitet werden, da die akustische Wohnraumüberwachung im Gegensatz zur Online-Durchsuchung regelmäßig Persönlichkeitsrechte Dritter beeinträchtigt und beidseits eine entsprechende Regelung vorgesehen ist. § 100h Abs. 1 S. 1 StPO ist wie auch § 100a Abs. 1 S. 1 StPO ebenfalls im Plural formuliert, obwohl die hierin geregelten weiteren Maßnahmen nicht typischerweise in Persönlichkeitsrechte Dritter eingreifen. Hierbei muss es sich jedoch um ein redaktionelles Versehen bzw. eine gesetzgeberische Ungenauigkeit handeln. Dies ergibt sich aus der Gesetzeshistorie: Die Gesetzesbegründung stellt klar, dass sich der Gesetzgeber bei der Einführung des § 100h Abs. 1 StPO an § 100f Abs. 1 StPO a. F. orientiert hat bzw. er die ursprünglich in § 100f Abs. 1 StPO a. F. normierte Rechtsgrundlage durch § 100h Abs. 1 StPO-E ersetzen wollte.234 Die Vorgängernorm formulierte ebenfalls im Plural; in der Gesetzesbegründung hierzu wurde auf die Vorgängernorm § 100c Abs. 1 StPO a. F. verwiesen, die hierdurch wiederum ersetzt werden sollte.235 Weitere Vorgängernormen gibt es nicht. § 100h Abs. 1 StPO geht also auf § 100c Abs. 1 StPO a. F. zurück. Die auch in § 100c Abs. 1 StPO-E gewählte Pluralform wird allerdings nicht mit einer typischen Drittbetroffenheit begründet; vielmehr wird in der Gesetzesbegründung durchweg auf den Betroffenen Bezug genommen und entsprechend im Singular formuliert.236 Der Gesetzgeber verglich die Maßnahme funktional und qualitativ mit der Telekommunikationsüberwachung, weshalb er sich ausdrücklich an § 100a StPO a. F. orientierte.237 Gleichzeitig war dem Gesetzgeber bewusst, dass eine Maßnahme nach § 100c Abs. 1 StPO-E nicht typischerweise, sondern nur im Einzelfall Dritte unvermeidbar beeinträchtigt.238 Die Formulierung im Plural im heute geltenden § 100a Abs. 1 S. 1 StPO war im seinerzeit geltenden § 100a Abs. 1 StPO noch nicht einmal normiert, sondern wurde erst 2008 eingefügt.239 234

BT-Drs. 16/5846, 56. BT-Drs. 15/4533, 20. 236 Vgl. BT-Drs. 12/989, 39: „Kenntnis des Abhörenden“ bzw. „der Betroffene“. 237 Vgl. BT-Drs. 12/989, 39 f. 238 BT-Drs. 12/989, 40. 239 BGBl. I 2007, S. 3198, 3199; in der diesbezüglichen Gesetzesbegründung wird demge235

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Formulierung in der Vorgängernorm des § 100h Abs. 1 StPO, nämlich § 100c Abs. 1 StPO a. F., versehentlich gewählt wurde. Es wurde nicht berücksichtigt, dass Bildaufnahmen und sonstige technische Mittel nicht regelmäßig Persönlichkeitsrechte Dritter betreffen, sodass eine präzise Formulierung im Singular hätte erfolgen müssen. Bei einem weiteren Vergleich mit weiteren Bestimmungen der StPO zeigt sich eindeutig, dass Bestimmungen der StPO (von § 100h Abs. 1 S. 1 StPO abgesehen) ganz bewusst entweder im Singular oder im Plural formuliert sind. Es wird erkennbar, dass die gewählte Formulierung vom jeweiligen Zuschnitt der Norm abhängt. So sind die §§ 81h Abs. 1, Abs. 2 S. 3, 4, Abs. 4 S. 1, 2 Nr. 3, 100b Abs. 3 S. 3, 100c Abs. 1, 100f Abs. 1, 100h Abs. 1 S. 1, 101 Abs. 4 S. 1 Nr. 1, 4, 6, 7, 9 lit. b, c, 10, 12, S. 3, Abs. 8 S. 3 Hs. 1, 101a Abs. 6 S. 1, 101b Abs. 4 Nr. 8, 111o Abs. 2, 111p Abs. 3, 153a Abs. 4 S. 1, 161 Abs. 3 S. 1, 162 Abs. 1 S. 3, 163f Abs. 2 S. 1, 305 S. 2, 397b Abs. 2 S. 1, 479 Abs. 2 S. 2, 483 Abs. 3, 488 Abs. 1 S. 1, 491 Abs. 2, StPO im Plural formuliert. In den §§ 35 Abs. 1 S. 1, 35a S. 1, 3, 81c Abs. 4, 6, 81d Abs. 1 S. 3, 4, Abs. 2, 81f Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 3, 81g Abs. 4, 98 Abs. 2 S. 1, 2, 4, 5, 100b Abs. 1, 100e Abs. 3 Nr. 1, 100j Abs. 3 S. 4, Abs. 4 S. 1, 3, 101 Abs. 4 S. 3, 101b Abs. 2 Nr. 4, Abs. 3 Nr. 4, 107 S. 1, 110 Abs. 1, Abs. 3 S. 1, 111d Abs. 1 S. 2 Hs. 1, Abs. 2 S. 1, 3, 111e Abs. 1 S. 1, Abs. 4 S. 2 Hs. 1, 111g Abs. 1, 111j Abs. 2 S. 3, 111k Abs. 3, 111 m Abs. 2, 111p Abs. 5 S. 1, 111q Abs. 3, 127b Abs. 1 S. 1, 155b Abs. 2 S. 1, 2, 160a Abs. 2 S. 1 Hs. 1, 163b Abs. 2 S. 2 Hs. 2, 163c Abs. 1 S. 1, 275a Abs. 1 S. 4, 406d Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Hs. 1, 424 Abs. 2 S. 1, 437 S. 1, 2 Nr. 3, 459g Abs. 5 S. 1, 463a Abs. 4 S. 2, 473a S. 1, 475 Abs. 1, 476 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 479 Abs. 3 S. 1, 484 Abs. 2 S. 2, 489 Abs. 5 Nr. 1, 491 Abs. 1 S. 1, 492 Abs. 4a S. 2, 495 S. 1 Hs. 1, S. 3 StPO wird demgegenüber im Singular formuliert, was auch für die amtliche Überschrift in § 459l StPO gilt. Im Wortlaut des § 100a Abs. 1 S. 1 StPO ist mithin bewusst angelegt, dass mit der Ermittlungsmaßnahme regelmäßig in Persönlichkeitsrechte Dritter eingegriffen wird. Auch wenn man diesen Umstand nicht bereits dem Wortlaut des § 100a Abs. 1 S. 1 StPO und einem Vergleich mit den anderweitig gewählten Formulierungen in der StPO entnehmen wollte, würde das Verwehren der Einsicht in diese Daten aufgrund der Persönlichkeitsrechte Dritter nicht hinreichend berücksichtigen, dass dieser Umstand gerade in der Natur dieser Ermittlungsmaßnahme liegt. Vorstehendes ergibt sich schließlich auch aus dem Zweck und den grundsätzlichen Folgen der TKÜ-Maßnahme: Eine Telekommunikationsüberwachung ist darauf ausgelegt, für ein späteres Hauptverfahren relevante Erkenntnisse zu gewinnen. Innerhalb der Beweisaufnahme können die Gesprächsinhalte der am Tatgeschehen unbeteiligten Persogenüber angedeutet, dass die Einfügung „der Betroffenen“ zum Ausdruck bringen sollte, dass jedenfalls i. d. R. auch Dritte mitbetroffen sind: BT-Drs. 16/5846, 39.

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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nen dann beispielsweise durch eine Inaugenscheinnahme, also dem Abspielen des Gesprächs, eine Zeugenvernehmung des Überwachungsbeamten oder das Aushändigen/Verlesen von Verschriftlichungen allen Verfahrensbeteiligten und den anwesenden Zuschauern zugänglich gemacht werden. Dieses Szenario ist einer (erfolgreichen) Telekommunikationsüberwachung immanent. Diese Folgen der TKÜ gehen mit der Anordnung einer Telekommunikationsüberwachung regelmäßig einher und müssen deshalb auch bei einer TKÜ-Anordnung und der Frage der Verhältnismäßigkeit berücksichtigt werden. bb) Gesetzgeberische Intention bei der Einführung des § 100a StPO Auch in den Gesetzesmaterialien zur Einführung der §§ 100a f. StPO a. F. durch das erste Artikel 10-Gesetz im Jahr 1968240 wird deutlich, dass der Gesetzgeber sich darüber im Klaren war, dass durch eine TKÜ-Maßnahme naturgemäß Persönlichkeitsrechte Dritter mitbetroffenen werden.241 Aus diesem Grunde wurde zunächst ein im Gegensatz zur heutigen Rechtslage sehr eng begrenzter Straftatenkatalog aufgenommen.242 Dass eine TKÜ-Maßnahme typischerweise auch Dritte beeinträchtigt, kommt in der Gesetzesbegründung eines späteren Reformgesetzes ebenfalls zum Ausdruck.243 Bei einer methodischen Betrachtung alleine des § 100a Abs. 1 S. 1 StPO zeigt sich also bereits, dass Persönlichkeitsrechte Dritter bei einer TKÜ regelmäßig beeinträchtigt werden und dies dem Gesetzgeber bewusst ist. cc) Gesetzgeberische Intention bei der Reform der §§ 100a ff. StPO im Jahr 2008 Demgemäß brachte der Gesetzgeber bei einer Reform der §§ 100a ff. StPO, die mit Wirkung zum 01.01.2008244 in Kraft trat, zum Ausdruck, dass in der gebotenen Abwägung nicht nur zu berücksichtigen sei, dass etwa durch eine Telekommunikationsüberwachung Rückschlüsse auf das Kommunikations- und Bewegungsverhalten des Beschuldigten möglich seien; ebenfalls sei in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzustellen, dass durch eine solche Maßnahme eine unbestimmte Anzahl an Personen betroffen würde.245 Dieser Maßstab betraf zunächst nur die Verhältnismäßigkeit der Rechtsgrundlage an sich,246 in diesem Zusammenhang wurde jedoch ebenfalls ausgeführt, dass die Datenerhebung, also die Gesetzesanwendung, „in einem angemessenen Verhältnis zur Bedeutung der Sache“247 stehen müsse. 240

BGBl. 1968 I, S. 949, 951 f. Vgl. BT-Drs. V/1880, 8 f., 11 f., 13. 242 BT-Drs. V/1880, 11 f. 243 Siehe die Begründung zur Reform von § 100a StPO zum 01.01.2008: BT-Drs. 16/5846, 241

39. 244

BGBl. I 2007, S. 3198, 3199 f., 3211. BT-Drs. 16/5846, 31. 246 Vgl. BT-Drs. 16/5846, 31. 247 BT-Drs. 16/5846, 31. 245

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

Bei Ermittlungsmaßnahmen, mit denen die Gefahr eines Eingriffes in den Kernbereich der privaten Lebensgestaltung einhergeht, ging der Gesetzgeber ebenfalls davon aus, dass dieser Aspekt bei der Abwägung, ob eine solche Ermittlungsmaßnahme dennoch angeordnet bzw. durchgeführt werde, zu berücksichtigen sei.248 Die gesetzgeberische Vorstellung bei der Einführung des § 100a StPO wurde im weiteren Verlauf also aufrechterhalten. Die Folgen, die mit einer solchen Maßnahme einhergehen, sind nach dem Willen des Gesetzgebers schon bei der Frage, ob die Maßnahme angeordnet werden kann, zu bedenken. Dies spricht für sich genommen ebenfalls dafür, diesen Aspekt bei der Frage des Einsichtsrechts der Verteidigung unberücksichtigt lassen zu müssen. d) Das Gebot der Widerspruchsfreiheit Die Richtigkeit vorstehender Überlegungen ergibt sich jedenfalls aus Folgendem: Greift eine Ermittlungsmaßnahme voraussichtlich in Persönlichkeitsrechte Dritter ein und ist sie dennoch verhältnismäßig, bedeutet dies, dass ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht gerechtfertigt ist. Verwehrt man nun der Verteidigung die Einsicht in die Akten aufgrund der Schutzwürdigkeit dieser Persönlichkeitsrechte, so geht dies auf die Annahme zurück, ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht sei insoweit nicht gerechtfertigt, obwohl der Verteidiger, ein unabhängiges Organ der Rechtspflege (vgl. §§ 1, 3 Abs. 1 BRAO), der Strafverfolgungsbehörde gleichwertig gegenübersteht. Die Annahme, die Persönlichkeitsrechte Dritte könnten der Einsicht entgegenstehen, widerspricht neben der Gesamtkonzeption der StPO insbesondere § 147 StPO und führte damit zu einem Wertungswiderspruch.249 Ein Wertungswiderspruch entsteht unter anderem dann, wenn durch die Befolgung einer Norm bzw. eines Normzwecks ein von einer anderen Norm verfolgter Zweck behindert werden würde.250

248 Siehe hierzu die Gesetzesbegründung zur Einführung der Vorschriften zum Kernbereichsschutz in § 100a Abs. 4 S. 2–4 StPO a. F.: BT-Drs. 16/5846, 43 ff. 249 Vgl. allg. Jarass AöR 126 (2001), 588, 591, 603 m. w. N. 250 Es ist zwischen Norm- und Wertungswidersprüchen zu unterscheiden. Ersteres liegt vor, wenn etwa zwei Normen an denselben Tatbestand zwei miteinander unvereinbare Rechtsfolgen knüpfen, dies wird auch als logischer Widerspruch bezeichnet, eingehend hierzu: Jarass AöR 126 (2001), 588, 592 m. w. N. Ein Wertungswiderspruch liegt vor, wenn entweder die Wertungen verschiedener Normen einander widersprechen oder wenn die Befolgung der einen Norm den Zweck einer anderen Norm behindert, siehe hierzu wiederum Jarass AöR 126 (2001), 588, 592 m. w. N.; Wank, Juristische Methodenlehre, § 9, Rn. 46, bezeichnet auch die Konstellation, dass „ein ähnliches Problem in der einen Norm so und in der anderen Norm ohne rechtlichen Grund anders geregelt würde.“, als Wertungswiderspruch; ein Wertungswiderspruch ließe sich auch vor diesem Hintergrund herleiten, hierzu sogleich.

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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Der Zweck einer Rechtsgrundlage für die Durchführung von Ermittlungsmaßnahmen besteht naturgemäß in der Aufklärung im Raum stehender Straftaten; der Zweck der Rechtsgrundlage für die Gewährung von Akteneinsicht besteht bei § 147 StPO im Wesentlichen darin, zu Verteidigungszwecken Parität von Wissen und Können zwischen Verteidigung und Strafverfolgungsbehörde herzustellen. Die Befolgung des erstgenannten Zwecks würde also die Erreichung des zweitgenannten Zwecks behindern, sofern man die Persönlichkeitsrechte Dritter als der Einsicht gem. §§ 147, 32f StPO entgegenstehende wichtige Gründe ansähe.251 Denn durch die Befolgung des erstgenannten Normzwecks bzw. durch die Vornahme der jeweiligen Ermittlungsmaßnahme würde der Strafverfolgungsbehörde regelmäßig eine im Vergleich zur Verteidigung bessere Einwirkungschance auf den Gang des Strafverfahrens gewährt werden, was von § 147 StPO gerade verhindert werden soll. Ein solcher Wertungswiderspruch ist nach methodischen252 und verfassungsrechtlich Grundsätzen253 durch Auslegung zu vermeiden.254 Das Gebot der Widerspruchsfreiheit ließe sich mit vorstehender Argumentation255 demgegenüber nicht gegen die Berücksichtigung der Persönlichkeitsrechte Dritter bei der Einsicht anführen, sofern die Ermittlungsmaßnahme rechtswidrig war oder etwaige Aktenbestandteile gar einem Verwertungsverbot unterlägen. In diesem Fall führt die Nichtgewährung der Einsicht nicht zu dem soeben erörterten Wertungswiderspruch, da die Rechtsordnung dann gerade nicht vorsehen bzw. bezwecken würde, dass die Strafverfolgungsbehörde die jeweiligen Daten erhebt und hierdurch auf das Verfahren einwirken kann.256 Aus den vorherigen Ausführungen zu den §§ 147, 32f StPO ergibt sich jedoch, dass 251 Hierzu allg. Jarass AöR 126 (2001), 588, 592 m. w. N.; teilweise wird diese Konstellation des Wertungswiderspruchs auch als teleologischer Widerspruch bezeichnet: Noll, Gesetzgebungslehre, S. 208; Jarass AöR 126 (2001), 588, 593, bezeichnet alle Formen von Wertungswidersprüchen als Normdivergenz; zum axiologischen Widerspruch: Peine, Das Recht als System, S. 102 m. w. N.; Noll, Gesetzgebungslehre, S. 207 f. 252 Statt vieler Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 155 ff.; Jarass AöR 126 (2001), 588, 593. 253 Das Gebot der Widerspruchsfreiheit lässt sich sowohl aus Art. 3 Abs. 1 GG herleiten, geht aus verfassungsrechtlicher Sicht nach wohl h. M. aber (primär) auf Art. 20 Abs. 3 GG zurück: vgl. hierzu einerseits: Dürig/Herzog/Scholz-GG/Kirchhof, Bd. 1, Art. 3 Abs. 1, Rn. 171; Weiss, Widersprüche im Recht, S. 45 ff.; vgl. andererseits: BVerfGE 98, 106, 119; Dreier-GG/Schulze-Fielitz, Bd. 2, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 141 m. z. N.; siehe zum Gebot der Widerspruchsfreiheit auch BVerfGE 83, 98, 97; 98, 265, 301. 254 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 155 m. w. N.; Peine, Das Recht als System, S. 102; Jarass AöR 126 (2001), 588, 593; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 154 ff.; Wank, Juristische Methodenlehre, § 9, Rn. 46. 255 Mit Wank, Juristische Methodenlehre, § 9, Rn. 46, könnte zwar auch hierbei ins Feld geführt werden, dass „ein ähnliches Problem in der einen Norm so und in der anderen Norm ohne rechtlichen Grund anders geregelt würde.“. Diese Gleichheitserwägungen gehen jedoch schon in der Forderung nach Verfahrensfairness, insbesondere nach Waffengleichheit, vollständig auf. 256 In dieser Konstellation gebietet es das Gebot der Widerspruchsfreiheit jedoch nicht,

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

Persönlichkeitsrechte Dritter auch bei rechtswidrig erlangten Daten das Einsichtsrecht nicht einzuschränken vermögen. e) Auswirkungen des entwickelten Aktenbegriffs Der Umstand, dass durch die Einsichtnahme Persönlichkeitsrechte Dritter tangiert werden, kann einer Einsicht grundsätzlich auch aus weiteren Gründen nicht entgegengehalten werden. Denn eine solche Rechtsauffassung bzw. -anwendung würde ebenso die gesetzgeberische Intention § 147 StPO betreffend und den Telos der Norm, aber auch die aufgezeigten systematischen Erkenntnisse und die gesamten verfassungsund konventionsrechtlichen Vorgaben, die einen umfassenden Aktenbegriff erfordern, konterkarieren. Die Aspekte, die i. R. d. Auslegung des Aktenbegriffs dafür streiten, ein umfassendes Begriffsverständnis zugrunde zu legen, bedingen es in gleicher Weise, ein Einsichtsrecht in die umfassende Akte nur unter engsten Voraussetzungen zu verwehren. Die bei der Auslegung des Aktenbegriffs erörterten Gründe, die im Ergebnis dazu geführt haben, dass es eines umfassenden Aktenbegriffs bedarf, strahlen mithin auf die Ebene des Einsichtsrechts aus. Dies muss insbesondere mit Blick auf die zu fordernde Aktenwahrheit/-vollständigkeit sowie die Stellung und die Funktion des Verteidigers selbst dann gelten, wenn die Maßnahme (aufgrund des Eingriffs in die Persönlichkeitsrechte oder aufgrund anderer Aspekte) nicht rechtmäßig war oder etwaige Aktenbestandteile einem Verwertungsverbot unterliegen. Um dem verfassungsrechtlichen Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Rechnung zu tragen, müsste die Beeinträchtigung der Persönlichkeitsrechte der Drittbetroffenen im Vorhinein, nämlich bei der Frage der Verhältnismäßigkeit einer Rechtsgrundlage (etwa zur Telekommunikationsüberwachung) im Allgemeinen257 und hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Maßnahme im Einzelfall, also auf der Erhebungsebene,258 Berücksichtigung finden.259 dass die rechtswidrig erlangten oder einem Verwertungsverbot unterliegenden Aktenbestandteile ebendeshalb nicht der Einsichtnahme unterliegen dürfen. Denn ein Wertungswiderspruch liegt nach zuvor Gesagtem nur dann vor, wenn die Wertungen der verschiedenen Normen sich widersprechen oder durch die Befolgung der einen Norm der Zweck einer anderen Norm behindert werden würde. Die Normen, woraus sich die Rechtswidrigkeit der jeweiligen Ermittlungsmaßnahme und damit der Datenerhebung ergibt, bezwecken jedoch, dass die Strafverfolgungsbehörden aufgrund verschiedenster Gründe nicht (derart) in die jeweiligen Grundrechte der Betroffenen eingreifen. Dieser Zweck wird durch die Gewährung von Einsicht in diese Aktenbestandteile jedoch nicht behindert, da der Eingriff schon beendet ist. Ändert die Rechtswidrigkeit der Ermittlungsmaßnahme i. E. nichts an der Verwertbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse, führt die Einsichtnahme erst recht nicht zu einem Wertungswiderspruch; ein solcher könnte vielmehr anzunehmen sein, sofern man die Verwertung von Aktenbestandteilen als zulässig, die Weitergabe an die Verteidigung demgegenüber als unzulässig ansehen möchte. 257 Vgl. BVerfGE 113, 348, 383. 258 So konkret im Zshg. mit TKÜ-Aufzeichnungen: Wu HRRS 2018, 108, 112. 259 Vgl. BVerfGE 113, 348, 376, 382; siehe auch BVerfGE 109, 279, 353 ff.; 120, 274,

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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f) Verfassungs- und Konventionsrecht Auch das Grundgesetz und die EMRK gebieten es, die Persönlichkeitsrechte Dritter bei der Einsichtsgewährung grundsätzlich unberücksichtigt zu lassen. Die Gewährleistungen des verfassungsrechtlichen Fairnessgebots, insbesondere der hieraus abzuleitende Gehörsanspruch und der Waffengleichheitsgrundsatz, wurden ausgiebig erörtert. Gleiches gilt für Art. 103 Abs. 1 GG. Hierauf soll im Detail nicht erneut eingegangen werden. Zu betonen ist jedoch, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht zwar einen bedeutenden Gewährleistungsgehalt aufweist, dieser aufgrund der speziellen Ausnahmesituation eines Strafverfahrens und des überaus hohen Stellenwertes der hinter § 147 StPO stehenden Verfassungsvorgaben jedoch ausnahmsweise zurückzutreten hat. Das nicht schrankenlos gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht steht der Einsicht in Akten, die regelmäßig personenbezogene Daten Dritter enthalten, nicht entgegen. Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht sind verfassungsgemäß, sofern überwiegende Allgemeininteressen dies erfordern.260 Die Weitergabe personenbezogener Daten an die Verteidigung stellt zwar eine sog. Eingriffsvertiefung bzw. Eingriffskumulation dar.261 Die Einsichtsgewährung an die Verteidigung ist jedoch generell verhältnismäßig: Die Ermöglichung einer effektiven Verteidigung stellt ein legitimes Ziel dar, dem die Akteneinsichtsgewährung zumindest förderlich ist. Für die Betroffenen mildere und zur Zielerreichung gleich-geeignete Mittel scheiden aus. Die von der Akteneinsicht betroffenen personenbezogenen Daten Dritter werden nach Maßgabe der sog. Sphärentheorie i. d. R. der Privatsphäre zuzuordnen sein. Ein Eingriff hierin durch die Einsichtsgewährung ist dabei stets angemessen, weil die hinter § 147 stehenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen das Interesse an der Wahrung der Privatsphäre überwiegen.262 Hierfür streiten dieselben verfassungs- und konventionsrechtlichen Gesichtspunkte, die einen weiten Aktenbegriff bedingen. Zudem wird die unzulässige Weitergabe von Informationen durch die Verteidigung an unbefugte Dritte und damit die zweckwidrige Verwertung der

323 m. w. N.; 141, 220, 274. Insofern ist von einer sog. Eingriffskumulation bzw. „seriellen Betroffenheit“ auszugehen, die nach allg. Grundsätzen in besonderer Weise rechtfertigungsbedürftig ist: vgl. Winkler, JA 2014, 881, 882; siehe eingehend zur Parallelproblematik bei der Beschlagnahme von Datenträgern, die regelmäßig auch Daten Dritter beinhalten, demgemäß: Bell, Akteneinsicht, S. 169 ff. m. w. N. 260 BVerfGE 80, 367, 373; st. Rspr.; eingehend v. Mangoldt/Klein/Starck-GG/Starck, Bd. 1, Art. 2 Abs. 1, Rn. 16 m. w. N. 261 Hierauf wird bei den Ausführungen zu kernbereichsrelevanten Daten noch genauer eingegangen. 262 So i. E. auch Jörke, Akteneinsicht, S. 65; Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 70 f.; M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 45; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 214 f.; Bell, Akteneinsicht, S. 50 ff.; SK-StPO/Wohlers, Bd. 3, § 147, Rn. 93; Gercke StraFo 2014, 94, 98; ders. StV 2015, 13, 15; Wölky StraFo 2013, 493, 497; Wu HRRS 2018, 108, 115; vgl. auch BVerfGE 62, 338, 346.

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

personenbezogenen Daten verfahrensrechtlich unterbunden (§ 32f Abs. 4, 5 StPO).263 Bezüglich personenbezogener Daten, die der Sozialsphäre zuzuordnen sind, steht das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Einsichtsgewährung erst recht nicht entgegen.264 Die §§ 147, 32f StPO sind insoweit verfassungsgemäß. Nichts anderes ergibt sich bei Daten, deren Erhebung durch das Fernmeldegeheimnis aus Art. 10 Abs. 1 GG geschützt sind, namentlich etwaige TKÜAufzeichnungen.265 Art. 10 GG ist ein „Spezialgrundrecht“, das einen Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bzw. der schutzwürdigen Privatsphäre erfasst,266 genau genommen die Wahrung der geheimen Kommunikation.267 Der Inhalt der Telekommunikation ist zwar von Art. 10 Abs. 1 GG geschützt,268 was auch für die anschließende Verwendung der staatlicherseits erhobenen/gespeicherten Telekommunikationsdaten gilt.269 Die Erhebung und die anschließende Weitergabe an Gericht und Verteidigung erfolgt mit Blick auf die §§ 100a Abs. 1, 199 Abs. 2 S. 2, 147 Abs. 1, 32f Abs. 1, 2 StPO jedoch aufgrund eines Gesetzes, sodass sich eine Weitergabe an Gericht/Verteidigung im Rahmen des allgemeinen Gesetzesvorbehaltes des Art. 10 Abs. 2 GG bewegt. Dabei entspricht der Gewährleistungsgehalt des Art. 10 Abs. 1 GG, jedenfalls soweit er den Kommunikationsinhalt betrifft, den aufgezeigten Maßstäben zur Rechtfertigung von Eingriffen in das allgemeine Persönlichkeitsrecht,270 sodass sich keine Besonderheiten betreffend die verfassungsrechtliche Rechtfertigung ergeben.271 Zudem können Datenträger mit umfangreichen, sensiblen personenbezogenen Daten – wie 263 Dies stellt einen wesentlichen Aspekt i. R. d. Angemessenheitsprüfung dar, vgl. v. Mangoldt/Klein/Starck-GG/Starck, Bd. 1, Art. 2, Rn. 115, 119; so i. E. auch OLG Frankfurt NStZ 2021, 382, 383 m. Anm. Fröba; Graf-StPO/Wessing, § 147, Rn. 27; BeckOKStPO/Wessing, § 147, Rn. 27; siehe auch Wu HRRS 2018, 108, 114 f. 264 Siehe zum Ganzen allgemein: Martini JA 2009, 839, 842 ff.; Dreier-GG/Dreier, Bd. 1, Art. 2 Abs. 1, Rn. 92 f. 265 So etwa auch Wesemann/Mehmeti StraFo 2015, 104, 106 f. 266 Sachs-GG/Pagenkopf, Art. 10, Rn. 8 m. w. N. 267 Sachs-GG/Pagenkopf, Art. 10, Rn. 14b, 52. 268 Sachs-GG/Pagenkopf, Art. 10, Rn. 14. 269 Dürig/Herzog/Scholz-GG/Durner, Bd. 2, Art. 10, Rn. 84 f.; anders ist dies, wenn die im Herrschaftsbereich der Kommunikationsteilnehmer gespeicherten Telekommunikationsinhalte erhoben und anschließend verwendet werden; in diesem Fall ist Art. 10 GG nach h. M. grds. zeitlich nicht mehr anwendbar, sodass ausschließlich das allgemeine Persönlichkeitsrecht betroffen ist: ders. a. a. O. Rn. 86, 125 m. w. N.; BVerfGE 115, 166, 185 f., 189 f.; 120, 274, 307 f. 270 BVerfGE 115, 166, 189; siehe auch BVerfGE 110, 33, 53; Sachs-GG/Pagenkopf, Art. 10, Rn. 53 m. w. N. 271 So i. E. auch Wölky StV 2017, 438, 440 f.; eingehend zum Rechtfertigungsmaßstab allg. Dürig/Herzog/Scholz-GG/Durner, Bd. 2, Art. 10, Rn. 76, 183 ff. m. z. N.; es würden sich hinsichtlich der Datenweitergabe an Gericht/Verteidigung (nicht bzgl. der Hürde an die Rechtmäßigkeit solcher Maßnahmen) auch keine Besonderheiten ergeben, wenn der Datenerhebung ein Eingriff in das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme vorausgegangen wäre, siehe hierzu Sachs-GG/Rixen, Art. 2, Rn. 73c f.; zu den Anforderungen an einen verfassungsgemäßen Eingriff in dieses Grundrecht: BVerfGE 120, 274, 315 ff.; Datenerhebungen, denen ein Eingriff in Art. 13

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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es bei einer e-Akte insgesamt möglich ist272 – problemlos verschlüsselt und mit einem Kopierschutz versehen werden.273 Ein solcher Kompromiss entspricht auch der Sicht des Gesetzgebers.274 Dem in der Rechtsprechung im Kontext mit TKÜ-Aufzeichnungen zum Teil aufkommenden Einwand, die Staatsanwaltschaft könne bei einer Weitergabe der TKÜ-Aufzeichnung an die Verteidigung eine spätere Löschung der Aufzeichnungen nicht mehr gewährleisten, wozu sie jedoch verpflichtet sei (§ 101 Abs. 8 StPO),275 ist – unabhängig davon, ob § 101 Abs. 8 StPO die Staatsanwaltschaft auch zur Löschung der Daten, die Verfahrensbeteiligte rechtmäßig erlangt haben, verpflichtet276 – bereits mit einem kurzen Hinweis an die Verteidigung, die Aufzeichnungskopie etwa nach rechtskräftigem Verfahrensabschluss eigenhändig zu löschen oder der Staatsanwaltschaft zur Datenvernichtung zurückzusenden, der Boden entzogen.277 Gegen die Zulässigkeit einer solchen Aufforderung/ Bedingung könnte zwar die Stellung des Verteidigers als Rechtspflegeorgan angeführt werden, nach der ihm ein redlicher Umgang mit etwaigen Aufzeichnungskopien zu unterstellen ist. Die eigenhändige Löschung/Vernichtung der Aufzeichnungen bzw. die Rücksendung ebenjener an die Staatsanwaltschaft soll jedoch nicht vor unredlichem Verhalten der Verteidiger schützen – schließlich sind diese in den unbeobachteten Besitz der Verteidiger gelangt bzw. nach dem Willen des Gesetzgebers278 sollen sie in diesen gelangen –, sondern sie soll lediglich Abs. 1 GG vorausgegangen ist, müssten sich (entsprechend den Ausführungen zu Art. 10 GG) zwar an dem hohen Gewährleistungsgehalt von Art. 13 GG messen lassen, Dürig/Herzog/Scholz-GG/Papier, Bd. 2, Art. 13, Rn. 145; die Weitergabe von i. R. e. Wohnungsdurchsuchung-/überwachung erhobenen Daten an Gericht/Verteidigung wäre jedoch in gleicher Weise als verfassungsrechtlich zulässig und geboten anzusehen. 272 Siehe eingehend Schlesinger StraFo 2018, 59, 59 f. 273 Mosbacher JuS 2017, 127, 128; Wettley/Nöding NStZ 2016, 633, 636, 639; LRStPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 125; siehe auch LG Regensburg StraFo 2017, 451, 454 m. Anm. Arnemann; KG StV 2018, 75, 77 m. Anm. El-Ghazi jurisPR-StrafR 21/2017, Anm. 1; Zipper StRR 2012, 466, 467; vgl. auch Wu HRRS 2018, 108, 114. 274 Siehe die Gesetzesbegründung zu § 136 Abs. 4 S. 3 StPO: BT-Drs. 18/11277, 26. 275 So beispielhaft KG NStZ 2016, 693, 694; OLG Karlsruhe StV 2013, 74, 75 m. Anm. Beulke/Witzigmann und m. Anm. Albrecht jurisPR-ITR 1/2013, Anm. 4; ähnlich OLG Hamburg NStZ 2016, 695, 696; OLG Nürnberg StraFo 2015, 102, 103 m. abl. Anm. Wesemann/ Mehmeti. 276 Ablehnend etwa OLG Saarbrücken NStZ 2019, 362, 364 m. w. N.; OLG Celle StV 2017, 158, 160. 277 Staudinger jurisPR-StrafR 12/2019, Anm. 3; Meyer-Goßner/Schmitt-StPO/Schmitt, § 147, Rn. 19d; siehe hierzu auch Mosbacher JuS 2017, 127, 128; LG Bremen StV 2015, 682, 682 f. m. zust. Anm. Schulz-Merkel jurisPR-StrafR 8/2016, Anm. 5; nach Ansicht von OLG Zweibrücken StV 2017, 437, 438 m. zust. Anm. Wölky und LG Regensburg StraFo 2017, 451, 453 m. Anm. Arnemann, bestehe eine Rückgabepflicht der Aufzeichnungskopien bereits aufgrund der Organstellung des Verteidigers; Bell, Akteneinsicht, S. 57, leitet eine Löschpflicht des Verteidigers daraus ab, dass eine Waffengleichheit zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung auch bzgl. der Löschpflicht hergestellt werden müsse. 278 Das Einsichtsrecht des Verteidigers sollte im Gegensatz zu demjenigen des verteidiger-

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

der überdurchschnittlichen Sensibilität dieser Daten Rechnung tragen. Sofern die Rücksendung erst zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu dem die Akteninhalte zur Wahrung einer effektiven Verteidigung nicht mehr benötigt werden, konfligiert ein derartiger „Kompromiss“ auch nicht mit Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK. Die Rücksendungspflicht entsteht regelmäßig also nach rechtskräftigem Verfahrensabschluss. Die StPO kennt mit § 273 Abs. 2 S. 3 StPO bereits die Pflicht der Akteneinsichtsberechtigten zur Herausgabe von Tonaufzeichnungen nach dem Wegfall des berechtigten Interesses am Besitz der Aufzeichnungen. In dieser Norm wird unter anderem auf § 58a Abs. 2 S. 5 StPO verwiesen, obwohl es sich bei den in Bezug genommenen Aktenbestandteilen „nur“ um ersatzweise Tonaufzeichnungen einzelner Vernehmungen handelt. Für weitaus größere Datenmengen von etwaigen Telekommunikations-Gesprächsteilnehmern gilt eine solche Pflicht erst recht. Insofern ist eine entsprechende Aufforderung zur Rücksendung der TKÜAufzeichnungskopien nach rechtskräftigem Verfahrensabschluss statthaft, aber auch ausreichend.279 Die Zurverfügungstellung von TKÜ-Aufzeichnungskopien an die Verteidigung von entsprechenden Erklärungen abhängig zu machen, in denen sich die Verteidiger nicht nur zur Rückgabe der Aufzeichnungskopien verpflichten, sondern auch dazu, (mit Ausnahme von Bearbeitungskopien) keine Kopien anzufertigen oder den Inhalt anderweitig zu vervielfältigen, die Aufzeichnungen sorgfältig aufzubewahren und einen Zugriff unberechtigter Dritter auf die Aufzeichnungen weitestgehend zu verhindern,280 ist mit der Stellung der Verteidiger nicht zu vereinbaren. Die Staatsanwaltschaft kann bei der Einsichtsgewährung auf die besondere Sensibilität der Aktenbestandteile oder eine besondere Rücksichtnahmepflicht hinweisen, wenn sie es für notwendig hält. Die Einsichtsgewährung von etwaigen „Verpflichtungserklärungen“ der Verteidiger abhängig zu machen, kann jedoch auf keine Rechtsgrundlage gestützt werden,281 was damit zusammenhängt, dass das eingeforderte Verhalten für Verteidiger selbstverständlich sein dürfte, sie hierzu jedenfalls bereits gem. § 32f Abs. 4, 5 StPO allgemein verpflichtet sind.282 Einschränkend ist lediglich zu fordern, dass der Verteidiger die TKÜ-Aufzeichnungen nicht an den Mandanten herausgibt.283 Der Verteidiger kann die losen Beschuldigten unbeschränkt gelten, siehe erneut: BT-Drs. 18/9416, 92 f., 105; BTDrs. 18/12203, 74. 279 So i. E. auch Wu HRRS 2018, 108, 114; Staudinger jurisPR-StrafR 12/2019, Anm. 3; ähnlich Graf-StPO/Wessing, § 147, Rn. 27; Bell, Akteneinsicht, S. 57, fordert demgemäß die Einführung einer Regelung entsprechend § 58a Abs. 2 S. 5 StPO in § 147 StPO. 280 So verfährt bspw. das LG Bremen StV 2015, 682, 682 m. zust. Anm. Schulz-Merkel jurisPR-StrafR 8/2016, Anm. 5. 281 So auch der Einwand von LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 92. 282 So auch LG Augsburg StraFo 2020, 150, 151. 283 Eingehend zur grds. Befugnis/Pflicht des Verteidigers, Informationen aus den Akten an den Mandanten weiterzugeben und Aktenkopien auszuhändigen: LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 141 ff. m. w. N.; so i. E. wohl auch LG Augsburg StraFo 2020, 150, 151.

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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Gesprächsaufzeichnungen gemeinsam mit dem Mandanten in den Kanzleiräumen anhören, was für eine effektive Verteidigungsvorbereitung regelmäßig ausreichend sein dürfte. Einem verteidigerlosen Beschuldigten wäre die Zugänglichmachung der TKÜ-Aufzeichnungskopien in den eigenen Räumlichkeiten aufgrund der Gefahr, dass die im Besitz des Beschuldigten befindlichen Gesprächsinhalte von unberechtigten Dritten zur Kenntnis genommen werden, indes zu verwehren. Es handelt sich bei den TKÜ-Aufzeichnungen um Inhalte von überdurchschnittlicher Sensibilität. § 147 Abs. 4 S. 1 StPO gewährt die Einsichtnahme und Besichtigung, soweit der Untersuchungszweck und Schutzinteressen Dritter dem nicht entgegenstehen. Hiernach ist das Abhören der Gesprächsaufzeichnungen lediglich in den Diensträumen – und nicht durch Bereitstellen einer Lesebzw. Abhörversion/-kopie durch das Akteneinsichtsportal284 – zu gewähren, soweit eine Untersuchungszweckgefährdung dem nicht entgegensteht. „Überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter“ i. S. d. § 147 Abs. 4 S. 1 StPO stehen dem Abhören der TKÜ-Aufzeichnungen in den Diensträumen nicht entgegen, da der Gesetzgeber unter solchen mit Blick auf den Persönlichkeitsrechtsschutz lediglich kernbereichsrelevante Informationsträger und vergleichbare Aktenbestandteile versteht,285 mit denen TKÜ-Aufzeichnungen nicht in jeglicher Hinsicht verglichen werden können. Die Schutzinteressen Dritter stehen lediglich einer Zurverfügungstellung zum Studium in den eigenen Räumlichkeiten entgegen, da die etwaige Kenntnisnahme durch unberechtigte Dritte hierbei nicht ausgeschlossen werden könnte. Die vorzunehmende Einschränkung i. R. d. § 147 Abs. 4 S. 1 StPO basiert neben der besonderen Sensibilität der Akteninhalte mithin insbesondere auf der Gefahr der Kenntnisnahme dieser Gesprächsinhalte durch unberechtigte Dritte. Dem Beschuldigten kann ein Vertrauen in seinen redlichen und verantwortungsbewussten Umgang mit den Akteninhalten nicht in gleicher Weise wie Verteidigern entgegengebracht werden. Dies ist auch mit dem Recht auf eine effektive Verteidigung des verteidigerlosen Beschuldigten zu vereinbaren. Sofern diese Art der Informationsgewährung für eine effektive Verteidigungsvorbereitung nicht als ausreichend erachtet werden kann, wäre dem Beschuldigten schließlich ein Verteidiger beizuordnen, § 140 Abs. 2 Var. 4 StPO. Sofern sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft befindet, ist diesem jedoch ein Abspielgerät, auf dem die etwaigen TKÜ-Aufzeichnungen aufgespielt sind, zur Verfügung zu stellen, da eine Kenntnisnahme Dritter von den Gesprächsinhalten in diesem Fall nahezu ausgeschlossen werden kann.286 284 Auf diesem Weg ist die Akteneinsicht gem. § 147 Abs. 4 S. 1 StPO grds. zu gewähren: BT-Drs. 18/9416, 33, 60. Hinsichtlich ggfs. verschrifteter sog. TKÜ-Protokolle steht der Herausgabe von Aktenkopien gem. § 147 Abs. 4 S. 2 StPO indes nichts entgegen, da ein solch verschriftetes, zusammengefasstes Gesprächsprotokoll nicht in gleicher Weise Einblick in die Persönlichkeit der Betroffenen gibt, wie eine Aufzeichnung des Gespräches. 285 Siehe BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 22. 286 So im Einzelfall bspw. auch LG Frankfurt StV 2018, 670; eingehend hierzu Wettley/ Nöding NStZ 2016, 633, 637 m. w. N.; vgl. auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 113 m. w. N.

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

Weitere Argumente gegen eine Herausgabepflicht etwaiger TKÜ-Aufzeichnungen, namentlich der Hinweis darauf, man könne eine Löschung durch den Verteidiger nicht „vollstrecken“ bzw. erzwingen,287 oder der Einwand, die Verteidigung hätte die Zurverfügungstellung der Aufzeichnungen quasi verwirkt, wenn sie sich nicht (umgehend) um eine Sichtung in den Diensträumen bemüht hätte,288 gehen an dem gesetzgeberischen Willen, insbesondere wie er in den Gesetzesmaterialien zur Reform des Jahres 2018 ersichtlich geworden ist,289 vorbei und vertragen sich auch nicht mit der Stellung des Verteidigers als Rechtspflegeorgan,290 seinen verfassungsrechtlich garantierten Funktionen, den übrigen hinter § 147 StPO stehenden verfassungs- und konventionsrechtlichen Gewährleistungen und dem diesbezüglich herausgearbeiteten Einschränkungsmaßstab. Das Argument, die Löschung nicht durchsetzen zu können, geht bereits im Ansatz fehl, da nach zuvor Gesagtem eine Verpflichtung zur Rücksendung der Aufzeichnungskopien statthaft wäre.291 Käme der Verteidiger dieser Pflicht oder einer entsprechenden Rücksendungsaufforderung der Staatsanwaltschaft wider Erwarten nicht nach, würde er sich unter Umständen gem. der §§ 246 Abs. 1, 2, 274 Nr. 1 StGB, jedenfalls aber gem. § 133 Abs. 1 Var. 2 StGB strafbar machen.292 Die Aufzeichnungskopien können – die strafprozessualen Voraussetzungen werden in solchen Fällen regelmäßig gegeben sein – ebenso wie die durch Akteneinsicht erlangten Originalunterlagen notfalls über eine Kanzlei-/Wohnungsdurchsuchung von der Staatsanwaltschaft im Wege der Sicherstellung bzw. Beschlagnahme zurückerlangt werden. Jedenfalls die Herausgabe der Aufzeichnungskopien ist demzufolge also strafprozessual durchsetzbar und damit faktisch sehr wohl „vollstreck- bzw. erzwingbar“. Hinsichtlich des Verwirkungsargumentes ist anzumerken, dass die Pflicht zur Zurverfügungstellung der Aufzeichnungskopien aus dem Einsichtsrecht erwächst, die Verteidigung das Einsichtsrecht jedoch nur in den beschriebenen Missbrauchsfällen „verwirken“ kann, was bei der erstmaligen Einsichtnahme in TKÜ-Aufzeichnungen nicht angenommen werden kann. Hinsichtlich sonstiger Aktenbestandteile wird die Verwirkung des Einsichtsrechts bei dem ersten Einsichtsgesuch demzufolge auch noch nicht einmal diskutiert. 287 Siehe etwa KG NStZ 2016, 693, 694; KG StV 2018, 75, 75 f. m. Anm. El-Ghazi jurisPRStrafR 21/2017, Anm. 1; OLG Celle NStZ 2016, 305, 306 m. abl. Anm. Knauer/Pretsch. 288 Vgl. etwa OLG Hamburg NStZ 2016, 695, 696; OLG Celle NStZ 2016, 305, 306 f. m. Anm. Knauer/Pretsch; OLG Celle NStZ-RR 2017, 48, 50 f.; OLG Hamburg NStZ 2016, 695, 696; KG StV 2018, 75, 76 m. Anm. El-Ghazi jurisPR-StrafR 21/2017, Anm. 1; OLG Köln, Beschl. v. 30.06.2016 – 2 Ws 388/16, Rn. 23 f., juris.; BGH, Beschl. v. 28.09.2022 – 5 StR 191/22, S. 2, juris. 289 Demnach ist dem Verteidiger insbesondere uneingeschränkte Akteneinsicht zu gewähren, siehe erneut BT-Drs. 18/9416, 92 f., 105; BT-Drs. 18/12203, 74. 290 So auch Mosbacher JuS 2017, 127, 128; Wettley/Nöding NStZ 2016, 633, 635; Knauer/ Pretsch NStZ 2016, 307, 308; siehe auch LG Regensburg StraFo 2017, 451, 453 m. Anm. Arnemann; Petzold/Meyer confront 2017, 15, 20. 291 So i. E. auch LG Augsburg StraFo 2020, 150, 151. 292 Eingehend BGH NStZ-RR 2011, 276, 277.

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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Die Möglichkeit des Verteidigers, die Aktenbestandteile an unberechtigte Dritte weiterzugeben, besteht auch bei den übrigen Informationsträgern, die der Verteidiger im Wege der Akteneinsicht in seinen Räumlichkeiten studiert.293 Über eine theoretische Möglichkeit hinaus eine ernstzunehmende abstrakte Gefahr einer unberechtigten Datenweitergabe und damit eines unredlichen Verhaltens des Verteidigers speziell bei TKÜ-Aufzeichnungen gegen eine Einsichtnahme (in den eigenen Räumlichkeiten) ins Feld zu führen,294 entbehrt jedweder Tatsachenund vor allem Rechtsgrundlage. Der Verteidiger genießt als Rechtspflegeorgan ein besonderes Vertrauen.295 Durch einen Hinweis an die Verteidigung, den Aktenbestandteils-Ersatz aufgrund der Sensibilität der Daten nach Verfahrensabschluss ausnahmsweise umgehend zu vernichten oder der Staatsanwaltschaft zurückzusenden, wird eine ausreichende praktische Konkordanz zwischen den gegenläufigen Interessen hergestellt, die auf dem Boden der hiesigen Untersuchung verfassungsrechtlich zulasten der Verteidigung nicht weiter unterschritten werden darf.296 Das Erfordernis, Persönlichkeitsrechte betroffener Personen bei der Prüfung der Ermittlungsanordnung in die Abwägung einzustellen, ist in verfassungsrechtlich legitimierter Weise damit quasi „verbraucht“, d. h. dieser Gesichtspunkt kann einem anschließenden Einsichtsgesuch nicht entgegengehalten werden.297 Dem entsprechen auch die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in der sog. Spurenakten-Entscheidung,298 die insoweit auch Zustimmung verdienen. Raum für einen weiter gehenden „Kompromiss“ der widerstreitenden Interessen ergibt sich lediglich bei Informationsträgern, die dem Kernbereich privater Lebensgestaltung bzw. der Intimsphäre zuzuordnen sind, worauf im Anschluss noch gesondert einzugehen ist. Auch aus der EMRK ergibt sich insoweit nichts anderes. Zwar ist der Zeugenbzw. Opferschutz als Schranke von Art. 6 EMRK konventionsrechtlich anerkannt.299 Dies beschränkt sich jedoch auf den Lebens-, Freiheits- und Sicherheitsschutz.300 Weitere Schutzinteressen Dritter, die ein Akteneinsichtsrecht einzu-

293 So bspw. auch der Einwand von OLG Zweibrücken StV 2017, 437, 438 m. Anm. Wölky; LG Augsburg StraFo 2020, 150, 151. 294 Beispielhaft BGH StV 2015, 10, 12 m. Anm. Gercke; OLG Nürnberg StraFo 2015, 102, 103 m. abl. Anm. Wesemann/Mehmeti; krit. hierzu aufgrund der Stellung des Verteidigers und des Waffengleichheitsgrundsatzes auch KG StV 2018, 75, 76 m. zust. Anm. El-Ghazi jurisPRStrafR 21/2017, Anm. 1. 295 Vgl. im Zshg. mit Videoaufzeichnungen auch LG Augsburg StraFo 2020, 150, 151, unter besonderem Hinweis auf § 19 BORA und §§ 43, 43a BRAO. 296 So i. E. bspw. auch Schulz-Merkel jurisPR-StrafR 8/2016, Anm. 5, S. 2. 297 Ähnlich Wölky StV 2017, 438, 440; Beulke/Witzigmann StV 2013, 75, 78. 298 Vgl. BVerfGE 63, 45, 72 f. 299 Eingehend Gaede HRRS 2004, 44, 46 m. w. N.; SSW-StPO/Satzger, Art. 6 EMRK, Rn. 44 m. w. N.; krit. hierzu Jahn ZStW 127 (2015), 549, 591 f. 300 EGMR, Urt. v. 26.03.1996, No. 20524/92, Doorson/NLD, Rn. 70; EGMR, Urt. v. 23.04.1997, No. 21363/93 u. a., Van Mechelen/NLD, Rn. 53.

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

schränken vermögen, wie etwa das allgemeine Persönlichkeitsrecht Dritter, sind aus konventionsrechtlicher Sicht grundsätzlich nicht anerkannt worden und nach zuvor Gesagtem auch nicht anzuerkennen. Denn eine derartige Beschränkung des Einsichtsrechts der Verteidigung – auch soweit es beispielsweise TKÜAufzeichnungen betrifft – stünden Funktion und Gewicht des Art. 6 EMRK entgegen. Der Verteidigung lediglich zu gestatten, etwaige TKÜ-Aufzeichnungen in den Diensträumen abzuhören,301 widerspräche nicht nur dem gesetzgeberischen Willen, sondern auch dem herausgearbeiteten Gewährleistungsgehalt des Art. 6 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 lit. a, b, c EMRK insbesondere in Gestalt des Waffengleichheitspostulats.302 Zwar vermittelt auch die EMRK über den Schutz des Privatlebens aus Art. 8 EMRK Persönlichkeitsschutz.303 Jedoch ergeben sich hieraus keine im Vergleich zu dem verfassungsrechtlichen Maßstab relevanten Unterschiede für die hiesige Untersuchung.304 Die übrigen der von der entgegenstehenden Rechtsprechung soeben angeführten Argumente genießen keinen oder jedenfalls keinen gleichwertigen Konventionsschutz und vermögen eine Einschränkung des Einsichtsrechts der Verteidigung als Ausprägung des Art. 6 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 lit. a, b, c EMRK deshalb ebenfalls nicht zu rechtfertigen. In vereinzelten, jüngeren Entscheidungen hat der EGMR die Beschränkung der Akteneinsicht dahingehend, dass TKÜ-Aufzeichnungen nicht herausgegeben werden, als insgesamt noch konventionskonform angesehen. Ausweislich der Entscheidungsgründe in der Rechtssache Matanovic´ ./. Kroatien zum einen nämlich in dem Fall, dass die Aufzeichnungen von einem unabhängigen Sachverständigen verschriftet worden sind, dessen Richtigkeit wiederum von einem weiteren Sachverständigen bestätigt worden ist und darüber hinaus die nicht herausgegebenen Aufzeichnungen gemeinsam mit dem Gericht der Verteidigung vorgespielt worden sind, wodurch diese sich ebenfalls von der Richtigkeit der Verschriftlichungen überzeugen konnte.305 Insbesondere vor dem 301 Exemplarisch OLG Celle NStZ-RR 2017, 48, 50 f., wonach dies auch in Haftsachen zu gelten habe. 302 So im Zshg. mit TKÜ-Aufzeichnungen auch Wesemann/Mehmeti StraFo 2015, 104, 106, wonach die Verweisung der Verteidigung auf das Abhören der TKÜ-Aufzeichnungen in den Diensträumen zudem gegen das Beschleunigungsverbot verstieße; so i. E. bspw. auch Reuker jurisPR-StrafR 1/2017, Anm. 2, S. 3. 303 MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 8 EMRK, Rn. 9 ff. m. w. N. 304 Eingehend MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 8 EMRK, Rn. 24 ff. m. w. N. 305 EGMR, Urt. v. 04.04.2017, No. 2742/12, Matanovic´/HRV, Rn. 164: „In this connection the Court notes that the transcripts of the recordings which were served on the defence had been commissioned by the investigating judge and the trial court and prepared by an expert […] whose independence and impartiality were never called into question. Moreover, the Court notes that the recordings were played back at the trial and the applicant was given an ample opportunity to compare the transcripts against the played material […]. Indeed, his objections concerning the discrepancies between the transcripts and the audio recordings were duly attended to and further expert reports were commissioned in order to clarify those discrepancies […]. He also availed himself of the opportunity to question the validity of the evidence at issue, and the domestic courts gave thorough answers to his objections […].“; der

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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Hintergrund, dass der Beschwerdeführer die Richtigkeit und Echtheit der Aufzeichnungen nie in Frage gestellt hat, sei insgesamt von einem noch fairen bzw. konventionsgerechten Verfahren auszugehen, obwohl die TKÜ-Aufzeichnungen der Verteidigung nicht herausgegeben worden sind.306 Zum anderen hielt der EGMR in einer darauffolgenden Entscheidung in der Rechtssache Rook ./. Deutschland die Nichtherausgabe von TKÜ-Aufzeichnungskopien ebenfalls für insgesamt noch konventionskonform. Auch dies betraf jedoch eine Ausnahmekonstellation, nämlich diejenige, dass die Verweigerung der Herausgabe der Aufzeichnungskopien staatlicherseits mit dem Schutz von Persönlichkeitsrechten Dritter, insbesondere dem Kernbereichsschutz, begründet worden ist, nach innerstaatlichem Recht die Verpflichtung besteht, das Anhören der aufgezeichneten Gespräche zu unterbinden, diese Verpflichtung nach innerstaatlichem Recht essentiell für die Legitimation der Telekommunikationsüberwachung und -aufzeichnung ist und darüber hinaus der Beschwerdeführer das Zutreffen der vorstehenden Aspekte im Wesentlichen nicht in Abrede gestellt hat.307 Diese Gesamtsituation hat dem EGMR in einem Beschwerdeverfahren gegen Deutschland ausgereicht, um trotz der Verweigerung der Aufzeichnungskopien-Herausgabe insgesamt einen Konventionsverstoß zu verneinen.308 Jedoch kann hieraus – entgegen der Schlussfolgerung von Schmitt309 – nicht abgeleitet werden, der EGMR erachte die Nichtherausgabe von TKÜ-Aufzeich-

innerstaatlichen Behörde sei insoweit ein Ermessen zuzugestehen, ob sie die Aufzeichnungskopien herausgibt oder nach vorgenannten Maßstäben eine ausreichende Kompensation schafft: EGMR, Urt. v. 04.04.2017, No. 2742/12, Matanovic´/HRV, Rn. 165 f. 306 EGMR, Urt. v. 04.04.2017, No. 2742/12, Matanovic´/HRV, Rn. 167, 169: „In this connection the Court considers it also important to note that the applicant never contested that the recorded conversations indeed took place and he never challenged the authenticity of the recordings. Moreover, as already noted above, all doubts of the defence as to the alleged discrepancies between the transcripts and the audio recordings were duly attended to and eliminated by further assessment of the relevant evidence at the trial (see paragraph 164 above). […] In the light of these considerations, the Court does not find any unfairness in the proceedings in connection with the fact that the applicant was not provided with copies of the secret surveillance recordings which were relied upon for his conviction.“ 307 EGMR, Urt. v. 25.07.2019, No. 1586/15, Rook/DEU, Rn. 66: „The applicant complained in this connection, that a copy of the telecommunication-surveillance data had not been handed over to his lawyer and that the data could not be examined without a police officer present. The Government claimed that these measures had been justified in order to protect the rights of all those whose conversations may have been recorded. There had been a statutory obligation to prevent private and even intimate parts of the recorded conversations being listened to, which had been essential for the legitimisation of telecommunication surveillance as such, and which therefore had had to be enforced by the presence of a police officer. These explanations, which the applicant essentially did not oppose, appear reasonable to the Court.“ 308 EGMR, Urt. v. 25.07.2019, No. 1586/15, Rook/DEU, Rn. 66 ff. 309 Meyer-Goßner/Schmitt-StPO/Schmitt, § 147, Rn. 19d.

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

nungskopien generell oder jedenfalls bei der deutschen Rechtslage als konventionsgemäß. Denn zum einen ging der EGMR in der vorausgegangenen, die deutsche Rechtslage ebenfalls betreffenden Entscheidung in Sachen Falk von einer grundsätzlichen Zurverfügungstellungspflicht von digitalem Informationsmaterial aus310 und ebenso ordnete er das übrige digitale Informationsmaterial betreffend die Rechtssache Rook – in dem Ermittlungsverfahren wurde weiteres Datenmaterial in einer Größenordnung von rund 14 Millionen elektronischen Dateien von der Staatsanwaltschaft erlangt – uneingeschränkt als herausgabepflichtiges Aktenmaterial ein.311 Grundsätzlich beschränkt der EGMR den Aspekt der Schutzinteressen Dritter als Schranke von Art. 6 EMRK schließlich auf den Lebens-, Freiheits- und Sicherheitsschutz.312 Demgemäß führt der EGMR in der Sache Matanovic´ aus, dass der Persönlichkeitsrechtsschutz des Art. 8 EMRK nur ausnahmsweise das Akteneinsichtsrecht der Verteidigung einzuschränken vermag, auch soweit es sich um TKÜ-Aufzeichnungen handelt. Wörtlich heißt es: „The Court also observes that the Zagreb County Court made an additional argument for the refusal of access to the recordings by relying on the need to protect the privacy of individuals whose telephone conversations had been recorded. In this connection the Court notes that the necessity of achieving a balance between an individual’s Article 8 rights and a defendant’s defence rights may be a relevant consideration in a particular case […]. However, in the case at issue the Zagreb County Court made no specific balancing exercise between an individual’s Article 8 rights and the applicant’s application for dis310

Siehe EGMR, Entsch. v. 11.03.2008, No. 41077/04, Falk/DEU, S. 5 f. Siehe EGMR, Urt. v. 25.07.2019, No. 1586/15, Rook/DEU, Rn. 70, 72: „The Court moreover notes that only in July 2012, the defence asked to be provided with a copy in a format readable with freely available software, a request to which the authorities agreed on short notice (see paragraph 33 above). The applicant’s lawyer provided two hard discs at the end of July 2012, and the data was provided on 4 September 2012 (see paragraph 33 above). […] As to the complaint that applicant’s lawyer had indeed not been given sufficient opportunity to identify the relevant files, the Court observes, that the exact nature of the 14 million electronic files, which stemmed from the seizure of a range of storage media, cannot be taken from the submissions of the parties. Their nature must, however, have allowed for an initial identification of files with potential relevance to the criminal proceedings, allowing already for a substantial reduction of the files to be actually looked at. Moreover, the electronic files must have stemmed from different people – amongst them also the applicant, giving him the best knowledge of their content – and from over a long period of time, allowing for further reduction of the search parameters. The Court therefore considers it to have been sufficient that the applicant’s lawyer, who could have been expected to arrange for at least some shift in the emphasis of his work (Mattick, cited above, with further references), had at least from 4 September 2012, the day on which he was provided a full copy readable with software available free of charge, to 21 December 2012, the day judgment was rendered, which amounts to three and a half months – that is to say sufficient time – to analyse the electronic files in order to identify those which he considered to be of relevance.“ 312 EGMR, Urt. v. 26.03.1996, No. 20524/92, Doorson/NLD, Rn. 70; EGMR, Urt. v. 23.04.1997, No. 21363/93 u. a., Van Mechelen/NLD, Rn. 53. 311

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closure of evidence which would have allowed the applicant to present his counterarguments to any such considerations. […] Accordingly, the Court finds that the applicant’s opportunity to acquaint himself, for the purposes of preparing his defence, with the evidence obtained by secret surveillance, was seriously impaired by the absence of an appropriate procedure by which the relevance of evidence obtained by the prosecuting authorities and the necessity of its disclosure could be properly assessed. It also finds that the domestic courts failed to provide convincing reasons based on a balancing of the relevant interests that would justify the restriction on the applicant’s defence rights.“313

Insofern handelt es sich also, wie sich auch den diesbezüglichen Entscheidungsgründen selbst entnehmen lässt, bei den beiden vorgenannten Entscheidungen um Ausnahmekonstellationen. Die Voraussetzungen, unter denen nach der Ansicht des EGMR in der Rechtssache Rook die Verweigerung der Herausgabe von TKÜ-Aufzeichnungskopien konventionskonform ist, lagen entgegen dem Vorbringen der Parteien im EGMR-Beschwerdeverfahren und der dementsprechenden Zugrundelegung des EGMR jedoch nicht vor. Im Rook-Verfahren ist der EGMR also fälschlicherweise vom Vorliegen einer besonderen Ausnahmekonstellation ausgegangen. Zunächst besteht nach innerstaatlichem Verfassungsrecht – worauf sogleich gesondert eingegangen wird – die staatliche Verpflichtung, das Abhören, Anhören und Weiterleiten von persönlichkeitsrechtsrelevantem Informationsmaterial zu unterbinden, schließlich nur für kernbereichsrelevantes bzw. die Intimsphäre betreffendes Datenmaterial. Ein darüberhinausgehendes Überwiegen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gegenüber dem hinter § 147 StPO stehenden Verfassungsrecht ist entgegen den Ausführungen der Bundesrepublik im Rook-Verfahren nicht anzunehmen. Wie bereits herausgearbeitet wurde, geht weder das deutsche Bundesverfassungsgericht314 noch der deutsche Gesetzgeber315 von einer derartigen Rechtslage aus. 313

EGMR, Urt. v. 04.04.2017, No. 2742/12, Matanovic´/HRV, Rn. 180, 184. Vgl. BVerfGE 63, 45, 72 f. 315 Siehe die Materialien zur Einführung und Reform von § 147 StPO sowie der e-AktenEinführung: Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 1, S. 964–966, 969; Hahn/Stegemann, Materialien, Abt. 2, S. 1229, 1556; BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 22; BT-Drs. 18/9416, 32, 56, 58, 60, 92 f., 105; BT-Drs. 18/12203, 74; siehe die Materialien zur Einführung und Reform von § 58a StPO: BR-Drs. 175/96 (B) Anlage, S. 7; BT-Drs. 13/4983, 5; BT-Drs. 13/7165, 7 f.; BRDrs. 507/99, Anlage, S. 8; BR-Plenarprotokoll 754: Stenografischer Bericht der 754. Sitzung des Deutschen Bundesrates vom 29.09.2000, 362D-363A; BR-Drs. 552/00 (B), Anlage, S. 2, 10 f.; BT-Drs. 14/4661, 1, 10 f.; BT-Plenarprotokoll 14/176: Stenografischer Bericht der 176. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 21.06.2001, 17358D-17359A, 17360B; BRDrs. 829/03, 1, 12, 20 f.; BR-Drs. 829/1/03, 3 f.; BT-Drs. 15/2609, 14; BT-Plenarprotokoll 15/94: Stenografischer Bericht der 94. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 04.03.2004, 8403A, 8407B; BR-Drs. 197/1/04, 3 f.; BR-Plenarprotokoll 798: Stenografischer Bericht der 798. Sitzung des Deutschen Bundesrates vom 02.04.2004, 137D-138A; BR-Plenarprotokoll 799: Stenografischer Bericht der 799. Sitzung des Deutschen Bundesrates vom 14.05.2004, 181A; BT-Drs. 19/27654, 58, 94; siehe auch die Materialien zur Reform 2004 von § 273 Abs. 2 StPO: BR-Drs. 829/03, 27 ff.; siehe auch die Materialien zur Reform 2021 von § 168a StPO: BT-Drs. 19/27654, 94. 314

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

Das Vorbringen der Bundesrepublik in dem EGMR-Beschwerdeverfahren, die Verpflichtung zur Verhinderung des Mithörens der TKÜ-Aufzeichnungen sei nach innerstaatlichem Recht essentiell für die Legitimation der Telekommunikationsüberwachung und -aufzeichnung, ist ebenfalls unzutreffend. Bei der Einführung und den Reformen des § 100a StPO brachte der Gesetzgeber vielmehr zum Ausdruck, dass der Umstand, dass durch die TKÜ bzw. die anschließende Verwendung der hieraus entstehenden Aufzeichnungen in das Persönlichkeitsrecht Dritter eingegriffen werde, bei der gebotenen Abwägung, ob es einer Rechtsgrundlage für eine TKÜ-Maßnahme bedürfe bzw. ob die jeweilige TKÜMaßnahme dennoch durchgeführt werden solle, zu berücksichtigen sei.316 Die Rechtmäßigkeit des § 100a StPO im Allgemeinen oder die Zulässigkeit einer hierauf gestützten TKÜ-Maßnahme stand und steht jedoch nicht unter dem Vorbehalt, dass die hierbei entstehenden Aufzeichnungen nicht an die Verteidigung in Kopie herausgegeben werden. Der EGMR hat in dem Rook-Verfahren letztlich also lediglich die vom deutschen Gesetzgeber vermeintlich getroffene Interessenabwägung nicht berühren wollen. Hätte der Beschwerdeführer Rook aufgezeigt, dass die streitgegenständliche Begründung für die seinerzeitige Verweigerung der Aufzeichnungsherausgabe und das diesbezügliche Vorbringen der Bundesrepublik in dem Beschwerdeverfahren nicht oder jedenfalls nicht zwingend dem deutschen Verfahrens- und Verfassungsverständnis entspricht, hätte das, was die Bundesrepublik „zu ihrer Verteidigung“ angeführt hat, dem EGMR – berücksichtigt man den üblichen Duktus des EGMR insbesondere im Zusammenhang mit der Offenlegung und dem Zugang zu Ermittlungsmaterial zumindest durch Kopienherausgabe317 – zur Negierung einer Konventionsverletzung sicherlich nicht ausgereicht. Dass es sich hierbei um einen Ausnahmefall gehandelt hat, ergibt sich im Übrigen auch daraus, dass der Verteidiger in dem der Rook-Entscheidung vorausgegangenen Strafverfahren den Polizeibeamten vor der Einsicht der TKÜAufzeichnungen in den Diensträumen mitteilen musste, auf welche Kriterien es ihm bei den TKÜ-Aufzeichnungen ankommt und er lediglich einen darauf zugeschnittenen Teil der Aufzeichnungen einsehen konnte,318 die Einsicht in die TKÜAufzeichnungen in den Diensträumen der Polizei und in der JVA wurde zudem lediglich in Anwesenheit eines Polizeibeamten gestattet.319 Beides hat der EGMR ausnahmsweise für konventionskonform gehalten,320 obwohl er in ständiger Rechtsprechung grundsätzlich davon ausgeht, dass die Durchsicht der Akten

316

Siehe BT-Drs. 16/5846, 31, 43 ff. Siehe EGMR, Urt. v. 27.04.2007, No. 38184/03, Matyjek/PL, Rn. 59; EGMR, Urt. v. 15.01.2008, No. 37469/05, Luboch/PL, Rn. 64; EGMR, Urt. v. 26.11.2009, No. 25282/06, Dolenec/HRV, Rn. 218; EGMR, Urt. v. 09.10.2008, No. 62936/00, Moiseyev/RUS, Rn. 217. 318 Siehe EGMR, Urt. v. 25.07.2019, No. 1586/15, Rook/DEU, Rn. 12. 319 Siehe EGMR, Urt. v. 25.07.2019, No. 1586/15, Rook/DEU, Rn. 11, 18, 54. 320 EGMR, Urt. v. 25.07.2019, No. 1586/15, Rook/DEU, Rn. 68. 317

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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waffengleich321 und die Verteidigung in der Wahl und Ausarbeitung ihrer Strategie selbstbestimmt und frei sein müsse.322 Abgesehen davon, dass die Gewährleistungen aus der EMRK die Beschuldigtenrechte, die sich aus dem nationalen (Verfassungs-)Recht ergeben, gem. Art. 53 EMRK nicht einschränken können323 und die Herausgabe von Aufzeichnungskopien, auch von solchen mit besonders sensiblen Inhalt, eindeutig der Ausgestaltung der StPO bzw. dem Willen des Gesetzgebers entspricht, ist den vorgenannten EGMR-Entscheidungen nicht zu entnehmen, dass die Nichtherausgabe der TKÜ-Aufzeichnungskopien an die Verteidigung trotz tatsächlicher und rechtlicher Möglichkeit vom EGMR als konventionskonform angesehen wird. Insofern überzeugt es auch nicht, TKÜ-Aufzeichnungen lediglich dann der Verteidigung in die Kanzleiräume zu übersenden, wenn die angesammelten TKÜ-Aufzeichnungen als für eine alternative Informationsgewährung in den Diensträumen zu umfangreich angesehen werden324 oder die Besichtigung in den Diensträumen aus sonstigen Gründen als nicht ausreichend erscheint.325 Das Abgrenzungskriterium des Informationsumfanges für die Einsichtsgewährung in den eigenen Räumlichkeiten ist nicht nur unscharf,326 sondern steht insbesondere in Widerspruch zum gesetzgeberischen Willen und ist mit den Vorgaben der EMRK unvereinbar. Nach den herausgearbeiteten Verfassungs- und Konventionsvorgaben ist das Studium etwaiger TKÜ-Aufzeichnungen in den eigenen Räumlichkeiten des Verteidigers für eine effektive Verteidigung(-svorbereitung) stets erforderlich. Insofern darf mit einiger Sicherheit davon ausgegangen werden, dass sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch der EGMR das von den nationalen Gerichten teilweise zugrunde gelegte Differenzierungskriterium des Informationsumfangs bzw. der sonstigen Erforderlichkeit nicht billigen und zu Recht als verfassungs- bzw. konventionswidrig qualifizieren werden. Dem EGMR wird hierfür jedoch darzulegen sein, dass die Prämisse, unter der in der Rook-Entscheidung ein Verstoß gegen die Fairnessvorgaben abgelehnt wurde, tatsächlich unzutreffend gewesen ist.

321 Siehe EGMR, Urt. v. 12.03.2003, No. 46221/99, Öcalan/TUR I, Rn. 166; EGMR, Urt. v. 27.10.1993, No. 14448/88, Dombo Beheer B.V./NLD, Series A Nr. 274, Rn. 33. 322 Siehe EGMR, Urt. v. 22.02.1996, No. 17358/90, Bulut/AUT, Rn. 49. 323 Siehe BVerfGE 128, 326, 371; eingehend MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 1 EMRK, Rn. 8. 324 So etwa OLG Celle NStZ-RR 2017, 48, 50; LG Regensburg StraFo 2017, 451, 453 m. zust. Anm. Arnemann; ähnlich bereits OLG Frankfurt StV 2001, 611, 612. 325 So BGH StV 2015, 10, 12 m. Anm. Gercke. 326 So schon Börner MRM 2010, 97, 103, im Zshg. mit diesem ursprünglich von BVerfG und BGH im Allgemeinen vertretenen Abgrenzungskriterium (BVerfG NJW 1994, 573; NJW 1994, 3219, 3220; BGH NJW 1996, 734, 734 f.).

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

g) Zwischenfazit Haben die Strafverfolgungsbehörden – rechtmäßig oder rechtswidrig – eine TKÜ-Maßnahme durchgeführt, können die hierbei erhobenen Daten Dritter keinen der Akteneinsicht gem. § 147 Abs. 1 StPO bzw. § 32f StPO „entgegenstehenden wichtigen Grund“ darstellen. Eine solche Auslegung widerspräche dem gesetzgeberischen Willen, wie er in mehreren Gesetzgebungsverfahren zum Ausdruck kommt und auch in § 100a Abs. 1 S. 1 StPO selbst erkennbar ist. Das Grundgesetz und die EMRK erfordern bzw. gestatten ein solches Verständnis ebenso wie die Annahme eines umfassenden Aktenbegriffs. Die Überlegungen, weshalb den §§ 147, 32f StPO ein umfassender Aktenbegriff zugrunde zu legen ist, darf nicht dadurch „torpediert“ werden, dass man unter die „entgegenstehenden wichtigen Gründe“ auch Persönlichkeitsrechte Dritter subsumiert oder losgelöst hiervon die Einsicht zum Schutz von Persönlichkeitsrechten Dritter verwehrt oder anderweitig beschränkt. Eine andere Sichtweise wäre im Übrigen wertungswidersprüchlich. Insofern dürfen Persönlichkeitsrechte Dritter, die der Sozial- oder Privatsphäre zuzuordnen sind – also die in einem Strafverfahren üblicherweise erhobenen Daten –, per se keinen der Einsicht entgegenstehenden Grund darstellen. Besonderheiten ergeben sich bei TKÜ-Aufzeichnungen lediglich dahingehend, dass der verteidigerlose Beschuldigte diese ausnahmsweise ausschließlich in den Diensträumen abhören kann. Sofern der Beschuldigte verteidigt wird, hat eine Herausgabe der TKÜ-Aufzeichnungen von dem Verteidiger an den Mandanten zu unterbleiben. Ferner sind die TKÜ-Aufzeichnungen der Staatsanwaltschaft nach rechtskräftigem Verfahrensabschluss zurückzusenden oder im Einverständnis mit der Staatsanwaltschaft vom Verteidiger zu löschen.

2. Sonderproblem: Kernbereichsrelevantes Informationsmaterial Wie bereits angedeutet, erscheint fraglich, ob die hinter dem Einsichtsrecht stehenden Verfassungsgewährleistungen auch dann das allgemeine Persönlichkeitsrecht wertungsmäßig überwiegen, wenn die Informationsträger den Kernbereich privater Lebensgestaltung – und damit die Intimsphäre – betreffen. Weiter sind der Verteidigung auch die mit einem Verwertungsverbot behafteten Informationsträger offenzulegen, sodass sich die Frage stellt, ob dies auch für Informationsträger gelten darf, deren Informationsgehalt dem Kernbereich privater Lebensgestaltung bzw. der Intimsphäre zuzuordnen ist. a) Problemaufriss Zunächst wird die Verteidigung ein generelles Interesse daran haben, die Informationen, die möglicherweise dem Kernbereich zuzuordnen sind, einzusehen und ebenso an der Entscheidung, ob Daten aufgrund von Kernbereichsrelevanz unwiederbringlich zu löschen sind, beteiligt zu werden. Dass über die Einordnung von Informationen als kernbereichsrelevant regelmäßig Uneinigkeit be-

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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steht, zeigt schon die vielzitierte sog. Tagebuch-Entscheidung selbst: der den Kernbereich für nicht betroffen erachtende Beschluss des Bundesverfassungsgerichts wurde nur von vier Verfassungsrichtern getragen;327 die anderen vier Verfassungsrichter ordneten diese Informationen dem (abwägungsfesten) Kernbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu.328 Einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines Eingriffs in den Kernbereich aus Gründen des Rechts auf Verfahrensfairness oder Art. 103 Abs. 1 GG stünde der absolute Schutz der Menschenwürde bzw. Intimsphäre entgegen. Das Bundesverfassungsgericht betont in ständiger Rechtsprechung zu Recht, dass es einen absolut geschützten, bei Eingriffen einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung entzogenen Kernbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gibt bzw. geben muss.329 Ein Eingriff hierin ist stets verfassungswidrig.330 Gleiches gilt auf konventionsrechtlicher Ebene. Schutzinteressen Dritter können den Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK grundsätzlich zwar nur hinsichtlich des Lebens-, Freiheits- und Sicherheitsschutzes entgegenstehen.331 Die aus Art. 6 EMRK abzuleitenden Rechte können jedoch ebenfalls nur so weit reichen, wie hierdurch die Menschenwürde Dritter nicht tangiert wird. Der Menschenwürdeschutz stellt eine konventionsimmanente und in gleicher Weise absolut geschützte Schranke dar.332 Hiervon ausgehend333 könnte die Weitergabe solcher der Intimsphäre zuzuordnenden Informationsträger an die Verteidigung als ein Eingriff im verfassungsrechtlichen Sinne verstanden werden. Nur so scheint die in § 100d Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 2 Var. 1 StPO normierte Kompetenz zur eigenmächtigen Löschung

327 Es trat der seltene Fall von Stimmengleichheit gem. § 15 Abs. 3 S. 3 BVerfGG a. F. (nunmehr § 15 Abs. 4 S. 3 BVerfGG) auf: BVerfGE 80, 367, 376. 328 BVerfGE 80, 367, 380 ff.; die Meinungsverschiedenheit betraf nicht die rechtliche Grundlage, sondern lediglich die Subsumtion des festgestellten Sachverhaltes, vgl. BVerfGE 80, 367, 380 f.: „[…] gemessen an dem zu B I 4 Gesagten […].“ 329 Grundlegend BVerfGE 6, 32, 41; siehe auch BVerfGE 89, 69, 82 f.; 109, 279, 313 f.; 120, 274, 335; 141, 220, 276. 330 Eingehend zur Absolut des „Kernbereichs privater Lebensgestaltung“ bzw. der Intimsphäre nach der h. M.: Dürig/Herzog/Scholz-GG/Di Fabio, Bd. 1, Art. 2 Abs. 1, Rn. 158 m. w. N. 331 Siehe erneut EGMR, Urt. v. 26.03.1996, No. 20524/92, Doorson/NLD, Rn. 70; EGMR, Urt. v. 23.04.1997, No. 21363/93 u. a., Van Mechelen/NLD, Rn. 53. 332 Vgl. etwa EGMR, Urt. v. 29.04.2002, No. 2346/02, Pretty/GBR, Reports 2002-III, 155, Rn. 49: „The very essence of the Convention is respect for human dignity and human freedom.“; vgl. auch EGMR, Urt. v. 25.07.2019, No. 1586/15, Rook/DEU, Rn. 66. 333 Erkennt man die Intimsphäre als absolut geschützten Kernbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht an, auch oder gerade weil man schon nicht von einer absolut geschützten Menschenwürdegarantie ausgeht, stellte sich das im Folgenden zu lösende Problem nicht. Bei Annahme eines Eingriffs durch die Weitergabe an die Verteidigung wäre klassischer Weise eine Abwägung zwischen dem aus dem Fairnessgebot abgeleiteten Offenlegungsanspruch und der aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht resultierenden Interesse an der Wahrung der Intimsphäre vorzunehmen.

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

der dem Kernbereich privater Lebensgestaltung unterfallender Daten legitimierbar. Andererseits kann die Staatsanwaltschaft potentiell kernbereichsrelevante Daten dem Gericht zur Entscheidung über die Verwertbarkeit und Löschung übermitteln, § 100d Abs. 3 S. 2 Var. 2 StPO. Es fragt sich also, ob die Löschkompetenz so zu lesen ist, dass die Staatsanwaltschaft die bspw. aus einer Online-Durchsuchung entstammenden Daten eigenmächtig löschen kann, ohne dass der Verteidigung Gelegenheit zur Sichtung dieser Daten gegeben werden muss. Eine solche Rechtsgrundlage und ein solches Vorgehen würde einen Eingriff in das Fairnessgebot, insbesondere in Ausprägung des Waffengleichheitspostulats und des Grundsatzes der Aktenwahrheit/vollständigkeit, darstellen. Ein Eingriff in das Fairnessgebot ist im Gegensatz zu einem Eingriff in den Kernbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bzw. in die Intimsphäre (als der absolut geschützten Menschenwürde zugehörig)334 zwar legitimierbar. Andererseits besteht für die Verteidigung ein gewichtiges Interesse an der Offenlegung des gesamten Ermittlungsmaterials und der Wahrung des Grundsatzes der Aktenwahrheit/-vollständigkeit. Bell geht hierbei davon aus, dass Informationsträger der Einsicht der Verteidigung entzogen seien, sofern im Ermittlungsverfahren feststehe, dass sie einem Verwertungsverbot unterlägen,335 insbesondere seien kernbereichsrelevante Daten von der Staatsanwaltschaft unverzüglich zu löschen.336 b) Rechtliche Beurteilung Zunächst soll geklärt werden, wie die Lösch- und Übermittlungspflicht in § 100d Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 2 StPO zu verstehen ist, insbesondere inwieweit hierbei nach dem gesetzgeberischen Willen eine Einbindung des Verteidigers oder des Gerichts vorgesehen ist. Anschließend sollen die widerstreitenden Interessen einer verfassungsrechtlichen Analyse zugeführt werden. Hierauf aufbauend werden die in Schrifttum und Rechtsprechung diskutierten Sonderkonstellationen betrachtet. aa) Gesetzgeberische Intention zu § 100d Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 2 StPO Die Einführung vorbenannter Regelungen geht auf eine Ausschuss-Beschlussempfehlung zurück.337 Es sollten Rechtsgrundlagen für die Quellen-TKÜ und die Online-Durchsuchung geschaffen werden.338 Hierbei war sich der Gesetzgeber über die Gefahr im Klaren, dass solche Ermittlungsmethoden den Kernbereich privater Lebensgestaltung betreffen können und beabsichtigte hierzu, eine einheitliche Regelung einzuführen.339 334 Siehe hierzu und zur Sphärentheorie nur Dürig/Herzog/Scholz-GG/Di Fabio, Bd. 1, Art. 2 Abs. 1, Rn. 157 ff. 335 Bell, Akteneinsicht, S. 48. 336 Bell, Akteneinsicht, S. 49. 337 BT-Drs. 18/12785, 15. 338 BT-Drs. 18/12785, 9 ff., 46. 339 BT-Drs. 18/12785, 47 f.

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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Die Löschkompetenz in § 100d Abs. 2 S. 2 StPO-E wird nicht weiter begründet. Es wird lediglich darauf verwiesen, dass die Löschung kernbereichsrelevanter Daten, die durch eine TKÜ-Maßnahme oder eine Wohnraumüberwachung erlangt wurden, zur Zeit des Gesetzgebungsverfahrens bereits vorgesehen war (vgl. §§ 100a Abs. 4 S. 2–4, 100c Abs. 5 S. 2–4 StPO a. F.).340 Die Regelung zur Löschung und hilfsweisen Vorlegung an das Gericht in § 100d Abs. 3 S. 2 StPO-E wird mit Forderungen des Bundesverfassungsgerichts in einem Nichtannahmebeschluss begründet.341 Im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens wurde die Löschung bzw. Vorlegung dieser Daten nicht weiter aufgegriffen.342 In dem vorerwähnten Nichtannahmebeschluss stellte das Bundesverfassungsgericht einerseits klar, dass kernbereichsrelevante Daten im weiteren Verlauf des Strafverfahrens keine Verwendung finden dürften.343 Weiter betont das Bundesverfassungsgericht, dass es verfassungsrechtlich zulässig sei, der Staatsanwaltschaft aufgrund der Sensibilität solcher Daten zu gestatten, nach eigenem pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden, inwieweit Daten dem Gericht vorzulegen seien oder eben nicht.344 Zur Frage, ob verfassungsrechtliche Erwägungen einer eigenständigen Löschung entgegenstehen könnten, verhält sich das Bundesverfassungsgericht in diesem Beschluss nicht. Der Grund dafür liegt vermutlich darin, dass das Bundesverfassungsgericht von einem verantwortungsbewussten Verhalten der Staatsanwaltschaft ausgeht,345 sodass sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein eigenständiges Löschen zulässig sein darf, wohl nicht aufgedrängt hat. bb) Gesetzgeberische Intention zu §§ 100a Abs. 4 S. 2–4, 100c Abs. 5 S. 2–6 StPO a. F. Von § 100d StPO abgesehen, wird an keiner weiteren Stelle in der heute geltenden StPO ausdrücklich auf den Kernbereich bzw. die Intimsphäre Bezug genommen. Jedoch wurde im soeben aufgezeigten Gesetzgebungsverfahren auf die Vorgängernormen ausdrücklich Bezug genommen. Möglicherweise geben die Gesetzesmaterialien dieser Vorschriften daher weiteren Aufschluss über das Gemeinte.

340

BT-Drs. 18/12785, 56. BT-Drs. 18/12785, 56. 342 Vgl. BR-Plenarprotokoll 953: Stenografischer Bericht der 953. Sitzung des Deutschen Bundesrates vom 10.02.2017, 40B-42B; BT-Plenarprotokoll 18/221: Stenografischer Bericht der 221. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 09.03.2017, 22142D-22150B; BT-Plenarprotokoll 18/240: Stenografischer Bericht der 240. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 22.06.2017, 24584C-24595A; BR-Plenarprotokoll 959: Stenografischer Bericht der 959. Sitzung des Deutschen Bundesrates vom 07.07.2017, 354D-356D. 343 BVerfGK 11, 164, 178. 344 BVerfGK 11, 164, 178. 345 Siehe BVerfGK 11, 164, 178. 341

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

Die Vorgängervorschrift zur Löschkompetenz war in § 100a Abs. 2 S. 3 StPO a. F. normiert.346 Sie trat am 01.01.2008 in Kraft.347 Laut der Gesetzesbegründung sollte mit der Gesetzesreform unter anderem eine Forderung des Bundesverfassungsgerichts, nach der der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung im Bereich der Telekommunikationsüberwachung zu regeln sei,348 umgesetzt werden.349 Das Bundesverfassungsgericht hat insbesondere die Normierung einer Löschpflicht für kernbereichsrelevante Daten verlangt.350 Ausweislich der Gesetzesbegründung sollten dementsprechend sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die mit den Aufzeichnungen vertrauen Ermittlungspersonen die Kompetenz erhalten, die kernbereichsrelevanten Daten unverzüglich zu löschen.351 Weiter wird darauf hingewiesen, dass die Tatsache der Erfassung und Löschung gem. § 100a Abs. 4 S. 4 StPO-E aktenkundig zu machen ist, um ausreichenden Rechtsschutz zu ermöglichen.352 Neben der durch einen Richtervorbehalt eingeführten Kontrolle sollten weitere Kontrollmechanismen, wie etwa die Einbindung eines Rechtsanwalts als „Ombudsmann“ oder die Einrichtung einer Kontrollkommission, ausdrücklich nicht eingerichtet werden.353 Dies ist nach Auffassung des Gesetzgebers insbesondere aufgrund der Stellung der Staatsanwaltschaft als Gesetzeshüterin nicht geboten, wohingegen solche Kontrollmechanismen mit erheblichem Kosten- und Personalaufwand verbunden wären.354 Der Gesetzgeber sah dies also als unverhältnismäßig an. Im Übrigen sind die Gesetzesmaterialien hinsichtlich der Frage, unter welchen Umständen die Löschung kernbereichsrelevanter Daten zulässig sein soll, nicht weiter ergiebig.355 Es kann ihnen nach vorher Gesagtem jedoch entnommen werden, dass der Gesetzgeber bewusst regelte, dass die Strafverfolgungsbehörde nach pflichtgemäßen Ermessen eigenständig und ohne Sichtung durch andere Beteiligte, wie etwa das Gericht oder die Verteidigung, befugt ist, kernbereichsrelevante Daten zu löschen.

346

BGBl. I 2007, S. 3198, 3200. BGBl. I 2007, S. 3198, 3200, 3211. 348 Bezug genommen wurde auf BVerfGE 113, 348, 391, wobei die Forderung a. a. O. S. 392 aufgestellt wurde. 349 BT-Drs. 16/5846, 1; konkret zu § 100a Abs. 4 StPO-E: a. a. O. S. 3. 350 BVerfGE 113, 348, 392. 351 BT-Drs. 16/5846, 45. 352 BT-Drs. 16/5846, 45. 353 BT-Drs. 16/5846, 24. 354 BT-Drs. 16/5846, 24. 355 Vgl. BR-Plenarprotokoll 834: Stenografischer Bericht der 834. Sitzung des Deutschen Bundesrates vom 08.06.2007, 186D-189C; BT-Plenarprotokoll 16/109: Stenografischer Bericht der 109. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 06.07.2007, 11346A-11353B; BTPlenarprotokoll 16/124: Stenografischer Bericht der 124. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 09.11.2007, 12993C-13006B; BR-Plenarprotokoll 839: Stenografischer Bericht der 839. Sitzung des Deutschen Bundesrates vom 30.11.2007, 397C-399D. 347

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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Einen Kontrollmechanismus sah zu der Zeit jedoch schon § 100c Abs. 5 S. 6 Hs. 1 StPO a. F. vor. Nach dieser Norm war – ähnlich dem heute geltenden § 100d Abs. 3 S. 2 Var. 2 StPO – das Gericht anzurufen, sofern Zweifel darüber bestanden, ob die akustische Wohnraumüberwachung aufgrund der Kernbereichsrelevanz bestimmter erlangter Daten zu unterbrechen sei oder nach einem entsprechenden Abbruch wieder fortgeführt werden könne. Die Lösch- und Dokumentationspflicht und das Verwertungsverbot wurde in den § 100c Abs. 5 S. 2–4 StPO normiert.356 Die Vorschrift trat am 01.07.2005 in Kraft.357 Durch die Reform und Neugestaltung insbesondere des § 100c Abs. 5 StPO-E sollte den engen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts358 Rechnung getragen werden.359 In der vom Gesetzgeber in Bezug genommenen Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht unter anderem360 betont, dass jede Verwendung kernbereichsrelevanter Daten ausgeschlossen sein müsse.361 Die Weitergabe kernbereichsrelevanter Daten sei untersagt;362 es dürften keinerlei Folgen aus der Erkenntnis solcher Daten resultieren, sie unterlägen einem umfassenden Verwertungs- und Verwendungsverbot.363 Sei eine Kernbereichsrelevanz der zu erhebenden Daten wahrscheinlich, habe eine akustische Wohnraumüberwachung zu unterbleiben.364 Ein Eingriff in den Kernbereich privater Lebensgestaltung durch die Informationserhebung soll konsequenterweise auch nicht zulässig sein, um erst festzustellen, ob die in Rede stehenden Daten kernbereichsrelevant sind.365 Durch eine akustische Wohnraumüberwachung erhobene Daten seien zurückhaltend auszuwerten; es könne im Einzelfall angebracht sein, die Daten in Echtzeit zu erheben, sodass die Maßnahme (aufgrund der Wahrscheinlichkeit, dass kernbereichsrelevante Daten erhoben werden366 bzw. spätestens mit dem Eintreten einer dem Kernbereich zuzurechnenden Situation)367 jederzeit abgebrochen werden könne.368 Vorstehende Vorgaben müssten gesetzlich hinreichend konkretisiert werden,369 was für den zu der Zeit noch geltenden § 100d Abs. 3 StPO a. F. nicht anzunehmen sei.370

356

Zum Vorstehenden BGBl. I 2005, S. 1841, 1842. BGBl. I 2005, S. 1841, 1842, 1846. 358 Gemeint ist BVerfGE 109, 279. 359 BT-Drs. 15/4533, 1, 15. 360 Zu weiteren verfassungsrechtlich gebotenen Vorgaben, die für die hiesige Untersuchung jedoch nicht weiter relevant sind: BVerfGE 109, 279, 346 ff. 361 BVerfGE 109, 279, 319. 362 BVerfGE 109, 279, 324. 363 BVerfGE 109, 279, 331 f. 364 BVerfGE 109, 279, 320. 365 BVerfGE 109, 279, 323. 366 Vgl. BVerfGE 109, 279, 323. 367 BVerfGE 109, 279, 324. 368 BVerfGE 109, 279, 323 f. 369 BVerfGE 109, 279, 328. 370 Siehe BVerfGE 109, 279, 329 ff. 357

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

Mit Blick auf die Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes zugunsten des Betroffenen wird lediglich darauf hingewiesen, dass hierdurch nur die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Beweiserhebung (mit der Folge der Datenlöschung) angestrebt werden kann, dem durch eine sofortige Löschung im Ergebnis ebenso entsprochen wird.371 Die Zurückstellung der Benachrichtigungspflicht sei vor diesem Hintergrund, soweit unbedingt erforderlich,372 ebenfalls verfassungsgemäß.373 Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Zurückstellung von Aktenbestandteilen hinge davon ab, ob „dies zur Wahrung verfassungsrechtlich geschützter Belange unumgänglich ist […]“.374 Zur Rechtfertigung kämen bis zur Anklageerhebung der Schutz des Ermittlungszwecks und zeitlich darüber hinausgehend der Schutz von Leib und Leben in Betracht.375 Eine prozessuale Möglichkeit (etwa der Verteidigung), gegen eine Löschung gerichtlichen Rechtsschutz zu suchen, solle aufgrund des Risikos einer weiteren Grundrechtsverletzung durch eine etwaige Aufbewahrung im Ergebnis nicht bestehen.376 Als Kompensation für die fehlende Rechtsschutzmöglichkeit gegen die Aufbewahrung möglicherweise kernbereichsrelevanter Daten sei jedoch die Einschaltung einer unabhängigen Stelle, die auch die Wahrung der Interessen der Betroffenen gewährleisten könne, erforderlich.377 Eine Verwertung und Verwendung von Daten, die durch eine akustische Wohnraumüberwachung erlangt worden seien, müsste zunächst von einer solchen unabhängigen Stelle, wie etwa ein Gericht, genehmigt werden.378 Diese Vorgaben sollten mit der Gesetzesreform demnach umgesetzt werden. Hinsichtlich der Löschung und der Frage, inwieweit Aspekte des gerichtlichen Rechtschutzes zu berücksichtigen sind, ist die Gesetzesbegründung sehr konkret: „Gemäß Absatz 5 Satz 2 müssen Aufzeichnungen über solche Äußerungen, die dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen sind, unverzüglich gelöscht werden. Im Gegensatz zu § 100d Abs. 5 Satz 1 sind hier etwaige der Vernichtung entgegenstehende Belange des Rechtsschutzes unerheblich, da der Menschenwürdebezug der Aufzeichnungen und die daraus folgende Pflicht zur unverzüglichen Vernichtung diese Belange überwiegt (vgl. BVerfG, a. a. O., Absatz Nr. 182 ff.).“379

Hierbei wird zweifelsfrei deutlich, dass der Gesetzgeber Rechtsschutzbelange im Allgemeinen, und damit auch solche der Verteidigung, bewusst zurückgestellt hat. Das Verwehren eines Rechtsschutzbegehrens wurde dabei mit dem Schutz

371

BVerfGE 109, 279, 332. Der Schutz eines nicht offen ermittelnden Beamten gehöre nicht hierzu, da dieser Aspekt über das konkrete Ermittlungsverfahren hinausgehe: BVerfGE 109, 279, 366 f. 373 BVerfGE 109, 279, 364 ff. 374 BVerfGE 109, 279, 369, mit Hinweis auf BVerfGE 57, 250, 283 f. 375 BVerfGE 109, 279, 369. 376 Vgl. BVerfGE 109, 279, 332 f. 377 BVerfGE 109, 279, 333 f. 378 BVerfGE 109, 279, 334. 379 BT-Drs. 15/4533, 15. 372

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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des Kernbereichs privater Lebensgestaltung und demnach mit der Menschenwürde begründet. Es sollte lediglich Rechtsschutz zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme (nicht zur Frage, ob Daten aufgrund ihrer Kernbereichsrelevanz zu löschen sind) nachträglich gewährt werden, weshalb die Tatsache der Erfassung und Löschung zu dokumentieren sei.380 Aufgrund der grundrechtssichernden Funktion ist es nach Auffassung des Gesetzgebers notwendig (und offenbar ausreichend), bei Zweifeln darüber, ob die akustische Wohnraumüberwachung zu unterbrechen ist oder fortgeführt werden darf, eine richterliche Entscheidung einzuholen.381 Die Verteidigung sollte hierbei und vor der Löschung etwaiger Daten offenbar keine Anwesenheits/Mitwirkungsrechte haben. Dies konfligiert mit dem Recht, sich in ausreichender Weise zu verteidigen und tangiert den Grundsatz der Aktenwahrheit/-vollständigkeit. Andererseits muss, wie bereits erwähnt, dem Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung in genügender Weise Rechnung getragen werden. Eine solche praktische Konkordanz hat in diesem Gesetzgebungsverfahren der Rechtsausschuss herzustellen versucht. Im Ausschuss wurde eine Manipulationsgefahr durch die Strafverfolgungsbehörden angesprochen;382 der Gefahr, dass Strafverfolgungsbehörden eine Aufzeichnung böswillig unterbrechen könnten, sobald sie befürchteten, dass ansonsten entlastende Umstände aufgezeichnet würden, könne dadurch entgegengewirkt werden, dass „das Aufzeichnungsgerät das Ausschalten des Mikrophons dokumentiert und bis zum Wiedereinschalten eine Leeraufzeichnung erstellt“.383 Hierdurch könnte man im Nachhinein, insbesondere wenn der Verteidigung Rechtsschutz und Gehör gewährt werde, feststellen, ob die in Echtzeit durchgeführte akustische Wohnraumüberwachung unter Verstoß gegen § 160 Abs. 1, 2 StPO unterbrochen wurde. Dem Rechtsausschuss schwebte offenbar die Konstellation vor Augen, dass man die Aufzeichnungen unmittelbar vor der Unterbrechung in Augenschein nehmen könnte, um beurteilen zu können, weshalb die Strafverfolgungsbehörde die Überwachung abgebrochen hatte. Um den genauen Zeitpunkt beweisen zu können, ab dem nicht weiter überwacht wurde, sollte das Aufnahmegerät wohl bis zum Zeitpunkt der Wiederaufnahme der Überwachung oder etwa der endgültigen Beendigung der Überwachung eine „Leeraufzeichnung“ vornehmen. Ein weiterer Schutz vor Missbrauch von Seiten der Strafverfolgungsbehörde wurde nicht erörtert. Insbesondere eine theoretisch bestehende Missbrauchsgefahr hinsichtlich der Löschung schon erhobener Aufzeichnungen wurde nicht in Betracht gezogen. Zwar könnte man ebenfalls an eine Gefahr denken, dass die Strafverfolgungsbehörden entlastende Aspekte eigenhändig und unter dem vermeintlichen Deckmantel der Kernbereichsrelevanz löschen. Von einer potenti380

BT-Drs. 15/4533, 15. BT-Drs. 15/4533, 15. Änderungsvorschläge des Bundesrates bzgl. § 100c Abs. 5 StPO-E betrafen die Frage des Rechtsschutzes nicht, vgl. BT-Drs. 15/4533, 23. 382 BT-Drs. 15/5486, 17. 383 BT-Drs. 15/5486, 17. 381

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

ellen Missbrauchsgefahr sollte – entgegen der zuvor dargelegten Auffassung des Rechtsausschusses – bei den Strafverfolgungsbehörden jedoch nicht ausgegangen werden. Der Gesetzesentwurf wurde auch in der Ausschussfassung angenommen,384 sodass den Ausführungen des Rechtsausschuss Bedeutung beizumessen ist. Die Ausschussfassung wurde insoweit auch verabschiedet,385 zudem galt die Vorschrift bis zur Überführung des § 100d StPO n. F. fort, sodass der zuvor erläuterte gesetzgeberische Wille, soweit den Gesetzesmaterialien zu § 100d StPO n. F. nichts Gegenteiliges entnommen werden kann, bei der Auslegung von § 100d StPO zu beachten ist. cc) Weitergabe kernbereichsrelevanter Daten an die Verteidigung im Lichte der grundrechtlichen Eingriffsdogmatik Die Löschkompetenz aus § 100d Abs. 2 S. 2 StPO und die Weitergabe kernbereichsrelevanter Daten unter Ausschluss der Verteidigung gem. § 100d Abs. 3 S. 2 Var. 2 StPO nach Maßgabe des gesetzgeberischen Willens beeinträchtigt den Grundsatz der Aktenwahrheit/-vollständigkeit und den Gehörsanspruch und schafft damit eine irreversible Beeinträchtigung des Fairnessgebots. Wie dieser Interessenkonflikt zu lösen ist, hängt zunächst davon ab, ob in der Weitergabe solch kernbereichsrelevanter Informationsträger an die Verteidigung ein eigenständiger Eingriff zu erblicken ist. Ist dies zu bejahen, ist die eigenständige Löschkompetenz der Staatsanwaltschaft mit Blick auf den absoluten Schutz der Menschenwürde, auch gegenüber den aus dem Fairnessgebot abgeleiteten Teilhaberechten, die notwendige Konsequenz. Würde man einen eigenständigen Eingriff durch die Weitergabe der erhobenen Daten verneinen, stellt sich die Frage, inwieweit dem Interesse der Verteidigung auf Offenlegung auch dieser Informationen Rechnung getragen werden kann. Ersteres ist zu bejahen. Bei der Weitergabe von erhobenen personenbezogenen Daten handelt es sich um einen weiteren, eigenständigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht im Sinne der (herkömmlichen) Grundrechtsdogmatik.386 Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährt nicht nur Schutz vor der Er-

384 Siehe BT-Plenarprotokoll 15/175: Stenografischer Bericht der 175. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 12.05.2005, 16460D. 385 Vgl. BGBl. I 2005, S. 1841, 1842. 386 Eingehend Dürig/Herzog/Scholz-GG/Di Fabio, Bd. 1, Art. 2 Abs. 1, Rn. 176, 184 m. w. N. Der Eingriffsbegriff ist demnach punktuell zu verstehen: Winkler, JA 2014, 881, 883 f. Dass es etwa in Fällen des sog. additiven Grundrechtseingriffs angezeigt ist, eine Mehrzahl von Eingriffen in die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Maßnahme einzubeziehen, ist lediglich Ausfluss des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprinzips i. e. S., wonach die Konsequenzen einer Maßnahme in ihrer Gesamtheit zu berücksichtigen sind. An der grundsätzlichen Eingriffsdogmatik ändert sich durch die Anerkennung dieser Rechtsfigur jedoch nichts; eingehend Ruschemeier, Der additive Grundrechtseingriff, S. 45 ff. m. w. N., die die Problematik jedoch schon auf der Ebene des Eingriffs verortet, Ruschemeier a. a. O. S. 97 ff.;

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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hebung personenbezogener Daten, sondern auch vor der Weitergabe ebenjener.387 Man spricht in Fällen einer solchen Eingriffskumulation388 gelegentlich auch von einer sog. Eingriffsvertiefung.389 Jedenfalls kumuliert sich der Eingriff, sobald im Anschluss an eine Maßnahme zur Datenerhebung eine Weitergabe folgt, was erneut verfassungsrechtlich zu rechtfertigen ist.390 Durch eine Weitergabe kernbereichsrelevanter Daten würde demnach (erneut) in die Intimsphäre der Betroffenen eingegriffen. Eine Rechtfertigung eines solchen Eingriffes scheidet aufgrund des absoluten Menschenwürdeschutzes jedoch aus. Auch wenn man eine Rechtsgrundlage etwa für die Quellen-TKÜ, die repressive Online-Durchsuchung oder die akustische Wohnraumüberwachung trotz gesteigerter Gefahr einer Beeinträchtigung der Intimsphäre aufgrund von besonderen Schutzvorkehrungen an und für sich für verfassungsrechtlich (noch) zulässig halten möchte,391 ist die Verarbeitung kernbereichsrelevanter Daten un-

zur Folgenbetrachtung: BVerfGE 123, 186, 266; Sachs-GG/ders., Art. 20, Rn. 154 m. w. N.; vgl. unter Bezugnahme auf die Wesensgehaltsgarantie auch Winkler, JA 2014, 881, 886 f. 387 Grundlegend BVerfGE 65, 1, 43; eingehend Dürig/Herzog/Scholz-GG/Di Fabio, Bd. 1, Art. 2 Abs. 1, Rn. 175 f. m. w. N. 388 Die Eingriffskumulation findet in diesem Fall zeitlich gestreckt statt. Dieser Aspekt unterscheidet die hiesige Konstellation bspw. von Fällen der sog. Grundrechtsaddition bzw. des sog. additiven Grundrechtseingriffs, wo es darum geht, dass mehrere (für sich genommen mglw. rechtfertigungsfähige) Eingriffe in der Gesamtheit dazu führen (können), dass eine Maßnahme das rechtsstaatlich Zulässige überschreitet: siehe BVerfGE 123, 186, 266; 130, 372, 392; eingehend Ruschemeier, Der additive Grundrechtseingriff, S. 130 ff.; Winkler JA 2014, 881, 884 m. w. N.; hierdurch soll eine sog. Rundumüberwachung vermieden werden: vgl. BVerfGE 141, 220, 317; zum sog. additiven Grundrechtseingriff: BVerfGE 112, 304, 319 f.; 114, 196, 247; 130, 372, 392; 141, 220, 280 f.; Ruschemeier, Der additive Grundrechtseingriff, passim. 389 Vgl. BVerfGE 109, 279, 365; siehe auch Desoi, Intelligente Videoüberwachung, S. 96. Genau genommen müsste man sagen, dass jede Datenverarbeitung zum einen jeweils einen Eingriff darstellt und zwar unabhängig von der Art der Kumulation; zum anderen intensiviert die kumulative Wirkung der verschiedenen Eingriffe jeden hiermit zusammenhängenden Eingriff und vertieft diese somit auch: hierzu Desoi, Intelligente Videoüberwachung, S. 317 f. 390 So i. E. auch BVerfGE 109, 279, 365. Im Übrigen ist auch nach Maßgabe der Grundsätze zur Zweckbindung-/änderung von einem eigenständigen und damit erneuten Grundrechtseingriff auszugehen. Schließlich stellt der Erhebungszweck gem. der Rechtsgrundlage die Gewinnung von Beweismitteln betreffend das jeweilige Ermittlungsverfahren dar, wohingegen die Weitergabe an das Gericht oder die Verteidigung der jeweiligen Überprüfung dienen würde. Eine anschließende Datenverarbeitung stellt bei Zweckänderung grds. jedoch einen eigenständigen Grundrechtseingriff dar, der einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedarf: BVerfGE 109, 279, 375 f.; 141, 220, 327 f.; ähnlich BVerfGE 100, 313, 360; siehe auch Dürig/Herzog/Scholz-GG/Di Fabio, Bd. 1, Art. 2 Abs. 1, Rn. 185 f. m. w. N. 391 Siehe für 100a Abs. 1 S. 2, 3 StPO: BeckOK-StPO/Graf, § 100a, Rn. 15; siehe für § 100b StPO i. E.: KK-StPO/Bruns, § 100b, Rn. 2; vgl. für § 100c StPO i. E.: KK-StPO/Bruns, § 100c, Rn. 1 f.; krit. zur Verfassungsmäßigkeit von § 100a Abs. 1 S. 2, 3 StPO: Meyer-Mews, TKÜ, S. 21 ff.; krit. zur Verfassungsmäßigkeit von § 100b StPO etwa Großmann JA 2019, 241, 244 f.; Meyer-Mews, TKÜ, S. 27 f.

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

ter keinem Aspekt zu rechtfertigen. Bei kernbereichsrelevanten Daten handelt es sich um eine „no-go-area“,392 ein strafprozessuales „noli me tangere“.393 Einsicht in kernbereichsrelevante Informationen zu gewähren, wäre insofern verfassungswidrig und damit rechtswidrig.394 Die Ausnahmekonstellationen, die nach hier geteilter Auffassung des Bundesverfassungsgerichts einem Einsichtsrecht der Verteidigung entgegenstehen können,395 sind um die Fallgruppe der kernbereichsrelevanten Daten mithin zu erweitern. Auffassungen in der Literatur, nach denen Interessen Dritter der Akteneinsicht per se nicht entgegenstehen könnten,396 überzeugen jedenfalls in dieser Pauschalität nicht. dd) Konsequenzen für die Lösch- und Weitergabekompetenz aus § 100d Abs. 3 S. 2 StPO Im Folgenden wird untersucht, inwieweit § 100d Abs. 3 S. 2 StPO den vorbenannten Ausführungen entspricht. Es gilt zu untersuchen, ob eine Weitergabe kernbereichsrelevanter Daten an ein Gericht verfassungsgemäß ist, obwohl eine solche Weitergabe an die Verteidigung nach den vorherigen Feststellungen unzulässig ist. In diesem Zusammenhang ist ferner zu erörtern, wie die Lösch- und Weitergabekompetenz mit Blick auf die hierzu aufgestellten Forderungen des Bundesverfassungsgerichts dogmatisch sauber zu handhaben ist und inwieweit die Weitergabe an das Gericht verfassungsrechtlichen Grenzen unterliegt. Zunächst ist festzustellen, dass die bundesverfassungsgerichtlichen Vorgaben durch den Gesetzgeber mit dem geltenden § 100d StPO nicht in Gänze umgesetzt worden sind. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zum BKAG gefordert, dass mit der Sichtung durch das Gericht nicht nur Zweifelsfälle ausgesondert werden, sondern durch die Vorgabe vielmehr eine unabhängige „Kontrolle der dem Kernbereichsschutz dienenden Anforderungen insgesamt“397 gewährleistet wird. Die Aufzeichnungen seien vollständig vorzulegen, sodass diese „nach Möglichkeit“398 nicht zur Kenntnis der Sicherheitsbehörde gelangen. Schon diesen Vorgaben wird die einfachgesetzliche Ausgestaltung der §§ 100b ff. StPO nicht hinreichend gerecht, da die Weitergabe nur für den Fall vorgesehen ist, dass die Staatsanwaltschaft die Daten nicht unverzüglich zu löschen beabsichtigt oder Zweifel an einer gegebenen Löschpflicht hat. Der Wortlaut des § 100d Abs. 3 S. 2 StPO ist insoweit eindeutig. Auch für den speziellen Fall der

392

Hierzu Rogall, FS Fezer, S. 61. Kritisch hierzu Rogall, FS Fezer, S. 63. 394 So i. E. auch Gercke StraFo 2014, 94, 98; anders offenbar Jörke, Akteneinsicht, S. 64 f.,

393

68. 395 Namentlich die Gefährdung des Untersuchungszwecks bis zum Zeitpunkt der Anklageerhebung und (ggfs. zeitlich auch nach Anklageerhebung) die Gefahr von Leib und Leben einer Person, siehe etwa BVerfGE 109, 279, 369; vgl. auch BVerfGE 57, 250, 284 f. 396 Beispielhaft MüKo-StPO/Kämpfer/Travers, Bd. 1, § 147, Rn. 20 m. w. N. 397 BVerfGE 141, 220, 302. 398 BVerfGE 141, 220, 301.

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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Online-Durchsuchung in Form der sog. Live-Überwachung muss bezweifelt werden, ob dies der Vorstellung des Bundesverfassungsgerichts zum BKAG entspricht. Denn in diesem Fall wird die erste Sichtung und damit die Auswertung nicht durch eine unabhängige Stelle vorgenommen, obwohl dies jedenfalls durch das bloße Unterlassen einer solchen Live-Überwachung hätte verhindert werden können.399 Möchte man – wie es dem Bundesverfassungsgericht in der soeben angeführten BKAG-Entscheidung vorschwebte – einerseits eine gerichtliche Überprüfung des gesamten Datenbestandes normieren und andererseits dem Gebot, kernbereichsrelevante Daten unverzüglich zu löschen, nachkommen, so müsste der gesamte Datenbestand zunächst dem Gericht vorgelegt werden, welches ggfs. die Löschung der kernbereichsrelevanten Daten anordnet; für eine Echtzeit-Überwachung wäre dabei genau genommen gar kein Raum, da die Erstauswertung bei der Live-Überwachung nicht das Gericht durchführen würde, sondern die Strafverfolgungsbehörde. Wird die Erstauswertung durch ein Gericht vorgenommen, würde der eigenständigen Löschkompetenz der Strafverfolgungsbehörde nur für den Fall, dass das Gericht kernbereichsrelevante Daten übersieht, eine Bedeutung zukommen. Das eigentliche Problem ist bei der Datenweitergabe an das Gericht jedoch, dass ein solches Modell bzw. eine derartige Rechtsgrundlage mit der bewussten Weitergabe kernbereichsrelevanter Daten einherginge, was grundsätzlich einen eigenständigen Eingriff in Art. 1 Abs. 1 GG begründete. Dass die Vorgabe der richterlichen Erstsichtung dem Schutze der Betroffenen dient,400 ist unerheblich. Aus verfassungsrechtlicher Sicht müsste man sich letztlich also entscheiden, ob man auf eine solch außerordentlich kernbereichsgefährdende Ermittlungsmaßnahme in Gänze verzichtet oder aber bei der vollständigen Überprüfung durch eine unabhängige Instanz Einschränkungen zulässt. Denn jedenfalls eine Weiterleitung zur vollständigen Sichtung auch der kernbereichsrelevanten Daten müsste – entgegen dem künstlich wirkenden „Ausweg“ des Bundesverfassungsgerichts, nach dem der Absolutheitsschutz weg von der Erhebungs- hin zur Auswertungsebene verlagert wird401 – als Eingriff in Art. 1 Abs. 1 GG anzusehen sein, der nicht zu rechtfertigen ist. Nimmt die erste Auswertung hingegen die Strafverfolgungsbehörde selbst vor, so werden die Daten zum einen nicht weitergeleitet und verbleiben zunächst bei der Stelle, die die Daten erhoben hat; zum anderen würde die Auswertung nicht zur Überprüfung der erhobenen Daten auf Kernbereichsrelevanz, sondern – wie auch sonst – zur Gewinnung von be- und entlastenden Umständen vorgenommen werden. Eine Auswertung kernbereichsrelevanter Daten wäre damit 399

Vgl. auch die Kritik im Sondervotum von Schluckebier: BVerfGE 141, 220, 370. BVerfGE 141, 220, 307 f. 401 Vgl. BVerfGE 141, 220, 307 f.; eingehend zu diesem Stufenkonzept des Bundesverfassungsgerichts: Hong, Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte, S. 513 f.; Birkenstock, Online-Durchsuchung, S. 48 f. 400

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

jedenfalls nicht zielgerichtet gewesen, was auch bei Zugrundelegung des modernen Eingriffsbegriffs402 als wesentlicher Unterschied zur bisherigen Ausgestaltung des § 100d StPO anzusehen ist. Denn in der bisherigen Ausgestaltung geht § 100d Abs. 2, 3 StPO nach seinem eindeutigen Wortlaut davon aus, dass eine Datenansammlung kernbereichsrelevante Daten beinhalten kann, und legitimiert deshalb eine Datenverarbeitung auch kernbereichsrelevanter Daten. Sowohl im letzten Gesetzgebungsverfahren zur Reform des geltenden § 100d StPO im Jahr 2017 als auch im Gesetzgebungsverfahren zur Vorgängernorm § 100c Abs. 5 StPO a. F. im Jahr 2005 ging der Gesetzgeber in Anlehnung an die jeweils zugrunde gelegte Judikatur des Bundesverfassungsgerichts davon aus, dass in den Kernbereich lediglich nicht durch die Informationserhebung eingegriffen werden darf und kernbereichsrelevante Daten einem Verwendungs-/Verwertungsverbot unterliegen.403 Die Vorgaben aus der BKAG-Entscheidung fanden in dem Gesetzgebungsverfahren weder Erwähnung noch wird die reformierte Vorschrift zum Kernbereichsschutz diesen Vorgaben gerecht. In der BKAG-Entscheidung wird ein solches Regelungsmodell grundsätzlich zwar als verfassungsrechtlich tragfähig angesehen; dies stehe jedoch unter dem Vorbehalt, dass das Regelungsgefüge darauf ausgelegt sei, dass die Erhebung kernbereichsrelevanter Daten weitgehend unterbleibe und eine unabhängige Stelle die Daten sichte, um ggfs. erhobene kernbereichsrelevante Daten zu löschen.404 § 100d Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 2 StPO wird diesen Anforderungen nicht gerecht. Ein Normgefüge, das den Fokus auf die Erhebungsebene legt, indem es nicht nur „hofft“, dass keine kernbereichsrelevanten Daten erhoben werden, sondern dies durch die Normfassung rechtlich (weitestgehend) sicherstellt, würde davon ausgehen, dass gar keine kernbereichsrelevanten Daten erhoben werden, sodass die Rechtsgrundlage zur Auswertung der Daten jedenfalls vor diesem Hintergrund keinen Eingriff in Art. 1 Abs. 1 GG bedeuten würde. Käme es dennoch zu der Auswertung kernbereichsrelevanter Daten, würde nicht die Norm, sondern die Normanwendung in den Kernbereich eingegriffen haben, was sodann die unverzügliche Löschpflicht zur Folge hätte. Dies wird weder in der BKAG-Entscheidung hinreichend berücksichtigt noch entspricht dies dem gesetzgeberischen Willen zu § 100d Abs. 3 S. 2 StPO, wie er in dem Wortlaut der Norm eindeutig zum Ausdruck kommt. Ein Modell, das den Schutz der Menschenwürdegarantie vollständig auf die Erhebungsebene verlagert, würde es – ohne sich dogmatisch zu „verbiegen“ – grundsätzlich auch zulassen, die Erstauswertung durch ein Gericht vornehmen oder in Echtzeit überwachen zu lassen, ohne hierbei die herkömmliche Grundrechtseingriffsdogmatik zu umgehen. Bei einer etwaigen Erstauswertung durch ein Gericht geriete man auch nicht in Konflikt mit dem Waf402 Eingehend zum klassischen und modernen Eingriffsverständnis, auch im Zshg. mit Eingriffskumulationen: Ruschemeier, Der additive Grundrechtseingriff, S. 84 ff. m. w. N. 403 Siehe BT-Drs. 18/12785, 56, unter Zugrundelegung von BVerfGK 11, 164, 178; BTDrs. 15/4533, 1, 15, unter Zugrundelegung von BVerfGE 109, 279, 323. 404 BVerfGE 141, 220, 307 ff.

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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fengleichheitsgebot; sofern dieses Gericht oder ein Richter im weiteren Verlauf nicht mit der Schuldfrage betraut wäre, wäre die gerichtliche Erstauswertung im Falle von gerichtlich angeordneter Datenlöschung auch mit Art. 103 Abs. 1 GG vereinbar. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sowohl die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, nach der (möglicherweise) kernbereichsrelevante Daten an ein Gericht weiterzuleiten sind, verfassungsrechtlich höchst problematisch ist – auch wenn dies dem Schutz der Betroffenen dienen soll –, als auch § 100d Abs. 3 S. 2 StPO mit seinem eindeutigen Wortlaut und dem hierbei zum Ausdruck gebrachten gesetzgeberischen Willen den Vorgaben aus der BKAG-Entscheidung nicht ausreichend gerecht wird. Selbst die (bisweilen nicht hinreichend umgesetzten) Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigen aus hiesiger Sicht den Menschenwürdeschutz noch nicht ausreichend. Dies soll und muss für die hiesige Untersuchung jedoch nicht weiter vertieft werden. Denn selbst wenn man eine Weitergabe von möglicherweise auch kernbereichsrelevanten Daten an ein Gericht mit dem Bundesverfassungsgericht für verfassungsrechtlich zulässig erachten sollte, indem man den Gewährleistungsgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG weitgehend auf die Auswertungsebene verlagerte405 oder indem man § 100d Abs. 3 S. 2 StPO reformierte, änderte dies nichts daran, dass die Verteidigung von den kernbereichsrelevanten Daten i. E. keine Kenntnis erlangen wird und dies rechtmäßig ist. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Weitergabe an das Gericht schließlich im Ermittlungsverfahren stattfände, was aus ermittlungstaktischen Gründen regelmäßig weder dem Beschuldigten noch seinem ggf. vorhandenen Verteidiger mitzuteilen wäre. Die Verteidigung hat in dem gerichtlichen Überprüfungsverfahren demnach regelmäßig kein Anwesenheitsrecht und damit auch kein Mitspracherecht, was die Datenlöschung aufgrund angenommener Kernbereichsrelevanz anbelangt. Die Verteidigung erhält erst später die Gelegenheit, die Rechtmäßigkeit der Maßnahme gerichtlich überprüfen zu lassen, zu diesem Zeitpunkt wären die kernbereichsrelevanten Daten jedoch schon gelöscht. § 100d Abs. 2 S. 2 StPO ist mithin verfassungsgemäß, obwohl die Verteidigung kein unmittelbares Mitwirkungsrecht an der Entscheidung über die Kernbereichsrelevanz hat. Dies gilt gleichsam für § 100d Abs. 3 S. 2 Var. 1 StPO. Demgegenüber ist eine Weitergabe kernbereichsrelevanter Daten im Allgemeinen und damit auch im Rahmen der Akteneinsicht verfassungswidrig.406 Auf die Weitergabe auch kernbereichsrelevanter Daten zielt zwar § 100d Abs. 3 S. 2 Var. 2 StPO und die ihr zugrundeliegende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ab. Zum einen überzeugt der diesbezügliche Standpunkt des Bundesverfassungsgerichts jedoch nicht, denn eine bewusste Weitergabe kernbereichsrelevanter Daten

405

BVerfGE 141, 220, 307 f.; ähnlich BVerfGE 120, 274, 339. A. A. LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 27; anders offenbar auch Meyer-Mews, TKÜ, S. 46 f. 406

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

stellt einen verfassungswidrigen Eingriff in Art. 1 Abs. 1 GG dar. Zum anderen wird § 100d Abs. 3 S. 2 Var. 2 StPO den (nach hiesiger Auffassung ungenügenden) Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts aus der BKAG-Entscheidung nicht gerecht. Dies hat nach hier vertretener Auffassung auch die partielle Verfassungswidrigkeit des § 100d Abs. 3 S. 2 StPO zur Folge. Die Weitergabekompetenz in § 100d Abs. 3 S. 2 Var. 2 StPO steht den vorangestellten Ausführungen entgegen, wonach eine Einsicht in kernbereichsrelevante Daten zu verwehren ist. ee) Kompensation der Akteneinsichtsbeschränkung Zwar sind die hinter der Löschkompetenz stehenden Gründe trotz der Gewichtigkeit des Grundsatzes der Aktenwahrheit/-vollständigkeit und dem Recht auf eine effektive, waffengleiche Verteidigung verfassungsrechtlich geboten. Dieser, durch den Menschenwürdegehalt gerechtfertigte, Eingriff in das Fairnessgebot ist jedoch weitestgehend zu kompensieren. In den Gesetzesmaterialien zur Reform des § 100c StPO a. F. im Jahr 2005 wurden Schutzvorkehrungen zur Vermeidung von missbräuchlichen Unterbrechungen gefordert, etwa dergestalt, dass bei einer in Echtzeit durchgeführten akustischen Wohnraumüberwachung eine Leeraufzeichnung herzustellen sei, sobald das Mikrophon ausgeschaltet werde.407 Dies ist entgegen der gesetzgeberischen Auffassung jedoch nicht zu fordern, um einem potentiell missbräuchlichen Handeln der Strafverfolgungsbehörden entgegenzuwirken, sondern stellt zudem eine zwingende Konsequenz der Grundsätze dar, dass Eingriffe in das Fairnessgebot nur unter weitestgehender Aufrechterhaltung der Verfassungs- und Konventionsvorgaben gerechtfertigt sein können und die Akte soweit wie möglich transparent und wahrheitsgetreu zu führen ist. Konsequenterweise bedarf es im Rahmen der technischen Umsetzbarkeit auch für den Hauptanwendungsfall der nachträglichen Datenauswertung entsprechender Vorkehrungen zur Gewährleistung einer weitestgehend transparenten Ermittlungsakte. Ebenso ist bei der Online-Durchsuchung zu verfahren. Hierbei erfolgt die Datenerhebung in weiten Teilen naturgemäß automatisiert,408 was sie von der akustischen Wohnraumüberwachung grundlegend unterscheidet. Die Schutzvorkehrungen betreffend unzulässige Eingriffe in den Kernbereich sind daher auch bei einer Online-Durchsuchung einzuhalten, sodass hier wie dort die Maßnahme zu unterbrechen ist, sobald sich abzeichnet, dass alsbald kernbereichsrelevante Daten erhoben werden würden.409

407

BT-Drs. 15/5486, 17. Dies erkennt auch BVerfGE 120, 274, 337. 409 Siehe für die Online-Durchsuchung etwa: BVerfGE 120, 274, 338. Im Zweifel könnte auf ein sog. Richterband umgeschaltet werden, damit allenfalls der Ermittlungsrichter die versehentlich erhobenen kernbereichsrelevanten Daten auswertet: ähnlich BVerfGE 141, 220, 300 f.; eingehend zum Richterband: Rottmeier, Kernbereich, S. 168, 188 ff. 408

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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Im Ergebnis wird dem Fairnessgebot hierdurch weitgehend entsprochen, ohne den Kernbereich privater Lebensgestaltung und damit die Menschenwürde zu beeinträchtigen. Der Verlauf der Ermittlungsmaßnahme muss weitestgehend rekonstruierbar sein; dies gilt erst recht, wenn erhobene Daten gelöscht werden, ohne die Verteidigung an der Entscheidung mitwirken zu lassen. Vorstehendes ergibt sich aus dem Gebot, kollidierende Verfassungsgüter insgesamt schonend in Ausgleich zu bringen.410 Das Bundesverfassungsgericht betont deshalb zu Recht, dass Einschränkung der Akteneinsicht nur so weit vorzunehmen sind, wie anerkannte entgegenstehende Gründe dies unausweichlich erforderlich machen.411 Auch der EGMR betonte in zahlreichen Entscheidungen, den aus dem Fairnessgebot erwachsenen Teilhaberechten weitestgehend Geltung verschaffen zu wollen.412 Bei der nachträglichen Auswertung der erhobenen Daten scheint es kaum möglich, in der Akte ausreichend belegt zu dokumentieren, dass es sich bei den gelöschten Daten tatsächlich um kernbereichsrelevante Daten gehandelt hat, sodass die Akten weitestgehend vollständig bzw. transparent erhalten wären. Einem möglichen Vorwurf, dass es sich bei den gelöschten Daten etwa um entlastende Daten gehandelt hat, die aus böswilliger Absicht von den Strafverfolgungsbehörden gelöscht worden sind, lässt sich schwer begegnen. Denn durch den Akteninhalt darf nicht (erneut) in den Kernbereich der betroffenen Person eingegriffen werden. Eine Auflösung des Konflikts zwischen diesen Interessen ist also schwierig umsetzbar. Zuvor wurde ausgeführt, weshalb § 100d Abs. 3 S. 2 StPO hinsichtlich der Weitergabekompetenz in der bisherigen Ausgestaltung den Menschenwürdeschutz nicht ausreichend berücksichtigt, weshalb die Norm zu reformieren ist, und das derart, dass der Fokus des Kernbereichsschutzes auf die Erhebungs- und nicht auf die Auswertungsebene verlagert wird. Hierdurch wäre es verfassungsrechtlich zulässig, ein Gericht als unabhängige Kontrollinstanz zu institutionalisieren, ohne sich gleichzeitig von der herkömmlichen Eingriffsdogmatik abwenden zu müssen. Andererseits sollte ein Gericht nicht mit der Erstauswertung von erheblichen Datenmengen beschäftigt sein, da die „Herrin des Ermittlungsverfahrens“ die Staatsanwaltschaft ist. Ebenso wie insbesondere bei der Überprüfung gesperrter Aktenteile kompensatorisch ein in-camera-Verfahren von einem mit der Schuldfrage nicht betrauten Gericht vorzunehmen ist, müsste eine Überprüfung der Kernbereichsrelevanz jedenfalls von einem Richter vorgenommen werden, der später nicht über die Schuldfrage (mit-)entscheidet. Eine ge-

410 Hierbei geht es nicht um eine (unzulässige) Verhältnismäßigkeitsprüfung im Zshg. mit Art. 1 Abs. 1 GG, sondern um eine hiervon unabhängige, weitgehende Gewährleistung der Verfassungsgüter insgesamt; eingehend zum Optimierungsaspekt des Gebots der praktischen Konkordanz: Schladebach Der Staat 2014, 263, 272 f. m. w. N. 411 Vgl. BVerfGE 109, 279, 369 f.; 57, 250, 285 f. 412 Vgl. beispielhaft EGMR, Urt. v. 19.06.2001, No. 36533/97, Atlan/GBR, Rn. 40; EGMR [GK], Urt. v. 16.02.2000, No. 29777/96, Fitt/GBR, Reports 2000-II, 387, Rn. 45.

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

richtliche Auswertung könnte im Übrigen ohnehin nur gefordert werden, sofern die Überwachung nicht in Echtzeit vorgenommen wird. Sofern i. R. e. „LiveÜberwachung“ – ihre Verfassungsmäßigkeit einmal unterstellt – versehentlich bzw. unvorhersehbar kernbereichsrelevante Daten erhoben werden, wären diese schließlich unverzüglich von den Strafverfolgungsbehörden zu löschen. Weiter sollte man die Strafverfolgungsbehörde als verpflichtet ansehen, berichtsartig so genau wie möglich zu dokumentieren, wie viele Daten gelöscht wurden und was der grob-umrissene, also nicht ins Detail gehende und damit nicht den Kernbereich tangierende, Grund für die Löschung war. Es sollte technisch ohne Weiteres möglich sein, Anzahl und Umfang der gelöschten Daten automatisch speichern zu lassen und damit technisch verifizierbar zu dokumentieren. Die Löschung muss einerseits also nicht nur derart protokolliert werden, dass eine spätere (gerichtliche) Kontrolle ermöglicht wird;413 eine Dokumentationspflicht besteht aus Gründen des Fairnessgebots und der Waffengleichheit, deren Gewährleistungen weitestgehend aufrechtzuerhalten sind, auch darüber hinaus. Die weitergehende Dokumentationspflicht ergibt sich mithin aus einer verfassungskonformen Auslegung des § 100d Abs. 2 S. 3 StPO.414 Die Löschprotokolle dürfen dabei jedoch keine der kernbereichsrelevanten Daten enthalten, sodass sie im Ergebnis keinen inhaltlichen Bezug zu den gelöschten Daten haben können.415 Den Umstand, dass Daten gelöscht wurden, wird man auf diesem Weg deshalb nur in abgeschwächter Form kompensieren können. Deshalb ist zu fordern, dass in Fällen von gelöschten Daten zumindest gesteigerte Anforderungen an die Beweiswürdigung gestellt werden. Dergestalt würde man dem Kernbereichsschutz gerecht werden und gleichzeitig dem Fairnessgebot weitestgehend Geltung verschaffen. Abschließend sei jedoch darauf hingewiesen, dass es zu Erhebungen kernbereichsrelevanter Daten praktisch kaum kommen dürfte, sodass das Gebot der Aktenwahrheit/-vollständigkeit nur in einer selten vorkommenden Ausnahmekonstellation beeinträchtigt werden wird. Zum einen stellte das Bundesverfassungsgericht in seiner ersten Entscheidung sowohl zum Grundrecht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme als auch zur Online-Durchsuchung416 schließlich zu Recht die Vorgabe auf, dass es bei Ermittlungsmaßnahmen mit hoher Eingriffsintensität spezieller Verfahrensvorkehrungen, wie etwa eines Richtervorbehalts, bedarf.417 Hierzu soll nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zu Recht auch eine Pflicht gehören, entsprechende Vorkehrungen zum

413

So auch BVerfGE 141, 220, 280 m. w. N. Der Wortlaut von § 100d Abs. 2 S. 3 StPO steht dem nicht zwingend entgegen; ebenso verhält es sich mit der Gesetzesbegründung zur Vorgängernorm § 100a Abs. 4 S. 4 StPO, siehe BT-Drs. 16/5846, 45. 415 In diesem Sinne wohl auch BVerfGE 141, 220, 303. 416 Siehe hierzu auch Gudermann, Online-Durchsuchung, S. 3. 417 BVerfGE 120, 274, 331 f. 414

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung zu treffen,418 die hinreichend gewährleisten, dass kernbereichsrelevante Daten gar nicht erst erhoben werden.419 Dies ist aus verfassungsrechtlicher Sicht zur Wahrung der Menschenwürde und auch mit Blick darauf, den Grundsatz der Aktenwahrheit/-vollständigkeit möglichst nicht zu beeinträchtigen, unbedingt zu fordern. Es ist durch entsprechende Verfahrensvorkehrungen mithin zu gewährleisten, dass die Erhebung kernbereichsrelevanter Daten nicht nur unwahrscheinlich ist – wie es in der nachfolgenden Judikatur des Bundesverfassungsgerichts letztlich als ausreichend erachtet wurde –, sondern weitestgehend ausgeschlossen werden kann. Dies ist bislang nur für Maßnahmen nach § 100b StPO normiert worden, vgl. § 100d Abs. 3 S. 1 StPO. Zum anderen werden erhobene Daten schon per se nur in den seltensten Fällen Kernbereichsrelevanz aufweisen – auch wenn der Schutz der Menschenwürde bei der bisherigen Ausgestaltung des § 100d Abs. 2, 3 StPO nicht ausreichend auf der Erhebungsebene berücksichtigt worden ist. Angelehnt an die Tagebuch-Entscheidung420 und die ihr folgende Rechtsprechung421 ist bei der Annahme von Kernbereichsrelevanz nämlich entscheidend, ob die erhobenen Daten einen Bezug zu konkreten Straftaten haben; nur wenn dies zu verneinen ist, kann eine Kernbereichsrelevanz angenommen werden.422 Insofern dürfte sich das erörterte Sonderproblem – folgt man dieser Rechtsprechung – praktisch kaum stellen.423 ff) Auswirkungen auf die zugrunde gelegte Unbeachtlichkeit der Beweisverwertbarkeit Nach hiesiger Auffassung hängt die Einordnung eines Informationsträgers oder von Datenmaterial als Aktenbestandteil nicht davon ab, ob jenes zulasten des Beschuldigten beweisrechtlich verwertbar ist oder sich die hierin enthaltenen Informationen auf ein mit einem Verwertungsverbot behaftetes Beweismittel beziehen. Hierfür streiten neben dem Grundsatz der Aktenvollständigkeit/-wahrheit die hinter § 147 StPO stehenden Verfassungs- und Konventionsvorgaben. Das herausgearbeitete Recht, spätestens nach dem Abschlussvermerk vollständige Akteneinsicht zu erhalten, und die nach hiesiger Untersuchung bestehende entsprechende Pflicht zur vollständigen Aktenvorlage gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO hat zur Konsequenz, dass die Einsicht auch in mit einem Verwertungsverbot behaftete Informationsträger zu gewähren ist.424 418

BVerfGE 120, 274, 336. BVerfGE 120, 274, 337; siehe auch BVerfGE 141, 220, 278 f. m. w. N. 420 BVerfGE 80, 367, 375. 421 Siehe etwa BVerfGE 109, 279, 319. 422 Eingehend zum Kernbereichsausschluss bei Sozial- bzw. Verfahrensbezug: LRStPO/Hauck, Bd. 3/1, § 100d, Rn. 15 ff. 423 Siehe hierzu Rogall, FS Fezer, S. 71 f., 74 ff. 424 Vgl. im Zshg. mit der Beweisstückbesichtigung auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 119 m. w. N. 419

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

Dessen ungeachtet muss es der Verteidigung und auch dem Gericht nach Maßgabe der sog. Mühlenteichtheorie möglich sein, aus einem mit einem Verwertungsverbot bemakelten Beweismittel entlastende Indizien abzuleiten bzw. dieses zugunsten des Beschuldigten zu verwerten. Insofern bedarf es also grundsätzlich auch einer entsprechenden Einsichtsmöglichkeit und Vorlagepflicht. Oftmals fußen Beweisverwertungsverbote verfassungsrechtlich jedoch (auch) auf dem Schutz der Menschenwürde.425 Da die h. M. annimmt, dass der Kernbereich privater Lebensgestaltung bzw. die Intimsphäre als Ausprägung der Menschenwürde abwägungsfest ist,426 stellt sich die Frage, ob Informationsträger auch dann dem Gericht vorzulegen bzw. der Einsicht zugänglich zu machen sind, wenn sich das Beweisverwertungsverbot aus dem Menschenwürdeschutz ergibt. Die sog. Mühlenteichtheorie, nach der Beweisverwertungsverbote reine Belastungsverbote darstellen, wird verfassungsrechtlich mit dem Fairnessgebot und dem Rechtsstaats- bzw. Schuldprinzip begründet.427 Die Verwertbarkeit der entlastenden Indizien wird grundrechtsdogmatisch über die Figur des Grundrechtsverzichts gelöst;428 in der Literatur wird zudem eine Lösung über einen Grundrechtsausübungsverzicht in Erwägung gezogen.429 Speziell im Kontext von Beweisverwertungsverboten, die auf Art. 1 Abs. 1 GG zurückgehen, wird vertreten, „dass Menschenwürde gerade durch die Verfügbarkeit über sich selbst gekennzeichnet wird. Da die Würde somit wesentlich in der Freiheit zur Selbstbestimmung und Willensentschließung besteht, spricht eine selbstbestimmte Einwilligung dem staatlichen Handeln den würdeverletzenden Charakter ab. Dementsprechend stellt sich die Einwilligung des Grundrechtsträgers in die Verwertung der mit Mitteln des § 136 a Abs. 1 unter Verstoß gegen die Menschenwürde erhobenen Beweise als Ausübung der Menschenwürde, mithin als Akt des Grundrechtsgebrauchs dar“.430

In Folge des absoluten Schutzes der Menschenwürde, kann ein Grundrechts(-ausübungs-)verzicht bzw. eine Einwilligung an der Unverwertbarkeit, die auf den Menschenwürdeschutz zurückzuführen ist, jedoch nichts ändern.431 Die vorstehenden Begründungsmodelle für eine Verwertbarkeit zugunsten des Beschuldigten überzeugen insofern nicht. Die Lösung ist viel unkomplizierter. Der Schutz der Menschenwürde, der (neben ggfs. weiterem Verfassungsrecht) die Unverwertbarkeit etwaiger Beweismittel zur Folge hat, bezieht sich lediglich auf die Verwertbarkeit der Beweismittel und dabei auch nur auf diejenige zulasten des Beschuldigten. Dies ist gerade der Ansatz der vorzugswürdigen sog. Mühlen-

425 426

Vgl. nur LR-StPO/Gössel, Bd. 1, Einl. Abschn. L, Rn. 19 ff., 88 ff. Siehe hierzu erneut Dürig/Herzog/Scholz-GG/Di Fabio, Bd. 1, Art. 2 Abs. 1, Rn. 158 m.

w. N. 427

Siehe Roxin/Schäfer/Widmaier, FS Strauda, S. 436, 440 f., 443 ff.; Roxin StV 2009, 113,

114 f. 428

Jahn JuS 2008, 1121, 1122. Eingehend und abl. Dautert, Beweisverwertungsverbote, S. 146. 430 Dautert, Beweisverwertungsverbote, S. 148. 431 Siehe statt vieler v. Mangoldt/Klein/Starck-GG/Starck, Bd. 1, Art. 1, Rn. 33 f., 300 f. 429

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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teichtheorie.432 Eines Grundrechts(-ausübungs-)verzichts oder einer Einwilligung bedarf es bei einer Verwertung von Beweismitteln zugunsten des Beschuldigten demzufolge gar nicht. Auf Vorstehendes kommt es im Kontext dieser Untersuchung jedoch nicht entscheidend an. Sofern etwaige Beweismittel oder hierauf bezugnehmende Informationsträger dem Gericht vorgelegt oder der Einsicht der Verteidigung zugänglich gemacht werden, findet einerseits keine beweisrechtliche Verwertung des Beweismittels statt und, sofern die Verteidigung auf derartige Informationsträger zugunsten des Beschuldigten Bezug nimmt oder das Gericht diese Informationsträger zugunsten des Beschuldigten verwertet, findet andererseits auch keine Beweisverwertung zulasten des Beschuldigten statt. Insofern bedarf es überhaupt keiner besonderen verfassungsrechtlichen Begründung für die Zulässigkeit der Weitergabe von Informationsträgern, die mit einem Beweisverwertungsverbot behaftet sind. Die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen, die etwa bei einem unselbstständigen Beweisverwertungsverbot der Erhebung der Informationsträger entgegenstanden,433 wurden bereits verletzt. Ein weiterer Verfassungsverstoß geht mit einer Weitergabe oder Einsichtsgewährung etwaiger Informationsträger nicht einher; auch nicht mit einer Verwertung dieses Beweismittels, solange es der Entlastung des Beschuldigten dient. Eine Weitergabe oder Verwertung zugunsten des Beschuldigten berührt die absolut geschützte Menschenwürde – mag auch das Verwertungsverbot zulasten des Beschuldigten hierauf basieren – mithin grundsätzlich nicht. Im Gegenteil beeinträchtigt nach hiesiger Untersuchung gerade die Versagung der Einsicht in inhaltlich mit dem Strafverfahren zusammenhängende Informationsträger die Gewährleistungen aus dem Fairnessgebot, welche durch Art. 1 Abs. 1 GG mitbegründet werden. Zudem erfordert dies das weitgehende Informationsrecht der Verteidigung und die Notwendigkeit einer umfassenden Tatsachengrundlage für Prüfungen des Gerichts i. S. d. Art. 19 Abs. 4 GG, die Unschuldsvermutung und das materielle Schuldprinzip, die aus der Subjektstellung und damit der Menschenwürde erwachsen oder jedenfalls hiermit zusammenhängen. Etwas anderes muss hingegen gelten, wenn der Informationsgehalt des Informationsträgers wiederum den Kernbereich privater Lebensgestaltung bzw. die Intimsphäre betrifft. Sowohl die Erhebung als auch die Verwertung/Verwendung derartiger Informationen wäre unzulässig. Es kommt mithin nicht darauf an, ob einer Beweisverwertung zulasten des Beschuldigten (auch) der Menschenwürdeschutz entgegensteht, sondern darauf, ob der Informationsgehalt selbst die Menschenwürde einer Person tangiert.

432 Vgl. Roxin/Schäfer/Widmaier, FS Strauda, S. 436, 440 ff.; Roxin/Schäfer/Widmaier StV 2006, 655, 656, 658 f. 433 Vgl. LR-StPO/Gössel, Bd. 1, Einl. Abschn. L, Rn. 76 ff. m. w. N.

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

Es ergeben sich im Zusammenhang mit Informationsträgern, die einem Verwertungsverbot unterliegen, mithin keine Besonderheiten,434 solange der Informationsgehalt selbst Art. 1 Abs. 1 GG nicht berührt. gg) Auswirkungen auf Informationsmaterial mit konkretem Bezug zu den §§ 174 ff. StGB und vergleichbar schützenswertes Informationsmaterial An die vorstehenden Ausführungen anknüpfend soll eine weitere Frage beantwortet werden, die in Literatur und vereinzelter Rechtsprechung uneinheitlich beurteilt wird. Es geht um die Frage, ob und inwieweit Informationsmaterial im Wege der Akteneinsicht zugänglich gemacht werden muss, auf dem sexuelle Handlungen oder vergleichbar Intimes abgebildet ist. Nach Auffassung etwa des OLG Köln dürften Bilder von Verletzten, die sie teilweise oder ganz unbekleidet zeigen, von der Verteidigung gem. Nr. 220 Abs. 2, Nr. 225 RiStBV lediglich auf der Geschäftsstelle eingesehen werden.435 Die herrschende Auffassung in der Literatur geht davon aus, dass derartige Informationsträger dem Verteidiger zum Studium in den eigenen Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen sind;436 die Diskussion dreht sich im Schrifttum eher um die Frage, inwieweit die Weitergabe derartiger Informationsträger vom Verteidiger an Dritte (Sachverständige, den betreffenden Mandanten etc.) strafbar ist.437 Zunächst können – worauf i. R. d. Auslegung des Aktenbegriffs bereits hingewiesen wurde – aus der RiStBV aufgrund der rein inneradministrativen Wirkung dieser Verwaltungsvorschrift keine Rückschlüsse auf das „Ob“ und „Wie“ des Akteneinsichtsrechts gem. §§ 147, 32f Abs. 1, 2 StPO gezogen werden.438 Aber auch im Ergebnis kann der Rechtsauffassung des OLG Köln nicht gefolgt werden. Das Gericht verkennt, dass es sich in solchen Konstellationen regelmäßig nicht um kernbereichsrelevante Inhalte handeln wird. Es sollen (nach Auffassung des Gesetzgebers) und müssen (aufgrund der erörterten verfassungsund konventionsrechtlichen Gründe) Persönlichkeitsrechte Dritter bei der Frage der Einsichtsgewährung an den Verteidiger unbeachtlich sein; anderes gilt ausschließlich bei kernbereichsrelevanten Informationsträgern. Aktenbestandteile können dem Verteidiger als Rechtspflegeorgan – mit Ausnahme wiederum von kernbereichsrelevantem Informationsmaterial – mithin nicht vorenthalten werden, um Persönlichkeitsrechte Dritter zu schützen. Es handelt sich bei derartigen

434 Dies entspricht der insoweit wohl h. M., siehe nur SSW-StPO/Beulke, § 147, Rn. 30 m. w. N. 435 OLG Köln, Urt. v. 05.03.2015 – 2 Ws 115/15, Rn. 6, juris m. zust. Anm. Barton StRR 2015, 305. 436 König NJW 2013, 1110, 1110; so wohl auch Ziemann StV 2014, 299, 300 f.; MeyerLohkamp/Schwerdtfeger StV 2014, 772, 774; so wohl auch Jahn, FS Beulke, S. 805 f., 809 f.; a. A. LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 128; Barton StRR 2015, 305, 306. 437 Siehe etwa Jahn, FS Beulke, S. 804 ff. m. w. N.; Meyer-Lohkamp/Schwerdtfeger StV 2014, 772, 773 f.; Barton StRR 2013, 348, 348 f. 438 Ähnlich in diesem Zshg. Jahn, FS Beulke, S. 810.

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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Aktenteilen auch nicht um Verschlusssachen oder gleichgewichtige Informationsträger, die nach dem dargestellten Willen des Gesetzgebers lediglich in den Diensträumen von den Verteidigern eingesehen werden dürften. Nr. 220 Abs. 2 RiStBV ist – ungeachtet der fehlenden Rechtsbindung für die Gesetzesauslegung – mit den höherrangigen Bundesvorschriften der §§ 147, 32f StPO und dem Verfassungs- und Konventionsrecht folglich nicht vereinbar.439 Handelt es sich – unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Ausklammerung sensibler Daten bei Sozial-/Verfahrensbezug – um kernbereichsrelevante Daten, sind diese wiederum nach den erörterten Maßstäben zur Kompensation unverzüglich zu löschen. Im Vergleich zu den Informationsträgern, die der Sozial- oder Privatsphäre und solchen, die der Intimsphäre zuzuordnen sind, ergeben sich bei Aktenbestandteilen mit Bezug zu den §§ 174 ff. StGB oder sonst intimen Inhalten für den Verteidiger mithin keine Besonderheiten. Zur Klarstellung sei angemerkt, dass der Vorgang der Zurverfügungstellung derart intimer Informationsträger jedenfalls an den Verteidiger straflos ist. Mit Blick auf das Postulat der Einheit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung440 können die prozessual berechtigten Belange der Verteidigung schließlich kein strafrechtlich relevantes Verhalten darstellen.441 Verfahrensrechtlich zulässige Handlungen wirken nach allgemeiner Meinung materiellrechtlich (jedenfalls) rechtfertigend, wie bspw. die §§ 81a, 127 StPO.442 Der Zurverfügungstellung von Informationsmaterial mit intimen – aber noch nicht den Kernbereich i. S. d. Art. 1 Abs. 1 GG tangierenden – Inhalten könnte mithin auch nicht entgegengehalten werden, hierdurch mache man sich strafbar.443 Soweit die Einsichtsgewährung prozessrechtlich zulässig ist, kann die Existenz eines Straftatbestandes hieran nichts ändern – weder für den Einsichtgewährenden noch für den Einsichtnehmenden.444 439 Siehe zur Bindungswirkung von Verwaltungsvorschriften allg. erneut Maurer/Waldhoff, Verwaltungsrecht, § 24, Rn. 2 ff.; Ehlers/Pünder, Verwaltungsrecht, § 2, Rn. 58 ff.; BVerwG NVwZ 2015, 827, 830; siehe zum Stufenaufbau der Rechtsordnung erneut Rüthers/ Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 272 ff.; Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 53 f.; siehe auch Wank, Juristische Methodenlehre, S. 60, 81. Das in diesem Fall ranghöhere Recht (§§ 147, 32f StPO) macht rangniederes, widersprechendes Recht rechtsunwirksam bzw. genießt gegenüber dem rangniederen Recht – unabhängig von der fehlenden Rechtsbindung der RiStBV im Verhältnis zu Gericht/Verteidigung – Anwendungsvorrang, siehe hierzu allg. erneut Wank a. a. O. S. 60, 65; Möllers a. a. O. S. 51 f. 440 Satzger JURA 2016, 154, 157; Wank, Juristische Methodenlehre, S. 252 ff.; siehe hierzu im Zshg. mit Rechtfertigungsgründen aus dem Prozessrecht etwa BGHSt 11, 241, 244. 441 So in diesem Zshg. auch Ziemann StV 2014, 299, 304. 442 Satzger JURA 2016, 154, 157; siehe bereits BGHSt 11, 241, 244 f. 443 In veröffentlichten Entscheidungen wird dies soweit ersichtlich nicht explizit eingewendet. Jedoch sind dem Verfasser Fälle aus der Praxis bekannt, in denen mit einer sonst drohenden Strafbarkeit gegen die Herausgabe derartiger Aktenbestandteile an den Verteidiger argumentiert wird. 444 So letztlich auch Ziemann StV 2014, 299, 304.

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

Der Besitz von Informationsträgern mit (kinder-)pornographischem Inhalt wird auf der Grundlage des § 147 StPO verschafft, der – ebenso wie die soeben benannten und zahlreiche andere prozessrechtliche Unrechtsausschließungsgründe445 – materiellrechtlich einen Rechtfertigungsgrund darstellt. Insofern machen sich Gericht oder Staatsanwaltschaft, die dem Verteidiger derartige Informationsträger zur Verfügung stellen, ebenso wenig strafbar wie der Einsicht nehmende Verteidiger. Die Besitzverschaffung und der Besitz dient ausschließlich dienstlichen und beruflichen Pflichten, sodass bspw. bei kinder- und jugendpornographischen Schriften bereits der jeweilige Tatbestand gem. der §§ 184b Abs. 5 S. 1 Nr. 1, 3, 184c Abs. 6 StGB ausgeschlossen ist,446 wenn man diese Normen nicht als Rechtfertigungsgrund ansehen wollte.447 Der Tatbestandsausschluss aus § 184b Abs. 5 S. 1 Nr. 1 StGB sollte sich nach der Intention des Gesetzgebers unter anderem gerade auf die Besitzverschaffung an Rechtsanwälte erstrecken.448 Auch die Zurverfügungstellung an den Verteidiger mittels Telemedien und der darauffolgende Abruf der Verteidiger wäre strafrechtlich nicht relevant, § 184d Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 3 StGB. Ob die soeben benannten Normen auf die Besitzverschaffung und den Besitz von Informationsträgern mit sonstigem intimen Inhalt analog (zugunsten des Verteidigers) anzuwenden sind, kann dahinstehen. Die Gewährung und Ausübung des Rechts auf eine effektive Verteidigung stellt ungeachtet der im StGB normierten Tatbestandsausschluss-/Rechtfertigungsgründe jedenfalls einen allgemeinen Rechtfertigungsgrund dar,449 der im speziellen Fall der Akteneinsicht mit §§ 147 Abs. 1, 32f Abs. 1, 2 StPO auch einfachgesetzlich normiert ist. Zur effektiven Verteidigung ist eine umfassende Einsicht jedenfalls des Verteidigers in den eigenen Räumlichkeiten zu ermöglichen. Einzuschränken ist die Verteidigung jedoch insoweit, als dass die übermittelten Aktenbestandteile (oder im Falle von Beweisstücken deren Kopien) entsprechend den TKÜ-Aufzeichnungen nach rechtskräftigem Verfahrensabschluss an die Staatsanwaltschaft zurückzusenden sind.450 Zudem ist zu fordern, dass etwaige Schriften und sonstige Datenträger i. S. d. § 11 Abs. 3 StGB mit intimem („kernbereichsnahem“) Inhalt dem Beschuldigten von seinem Verteidiger aufgrund des sensiblen Inhaltes bzw. der schweren Folgen, die mit einer Kenntnisnahme durch unberechtigte Dritte einhergingen, nicht ausgehändigt werden.451 Dies ist – über die gemeinsame Sichtung und Erörterung in den Räumlichkeiten und der Verfügungsgewalt des Verteidigers hinaus – auch regelmäßig nicht er-

445

Siehe hierzu MüKo-StGB/Schlehofer, Bd. 1, Vorb. zu § 32, Rn. 130. Die ganz h. M. sieht hierin einen Tatbestandsausschluss: BGH NStZ 2014, 514, 515; Jahn, FS Beulke, S. 804. 447 So offenbar OLG Frankfurt NJW 2013, 1107, 1107 m. Anm. König. 448 BT-Drs. 18/2601, 31; so i. E. auch Ziemann StV 2014, 299, 299, 304. 449 Siehe nur OLG Frankfurt NJW 2013, 1107, 1107 m. Anm. König. 450 Ähnlich Ziemann StV 2014, 299, 303. 451 Meyer-Lohkamp/Schwerdtfeger StV 2014, 772, 774; in diesem Sinne auch Donath/ Mehle NJW 2009, 1399, 1400; ähnlich wohl Barton StRR 2013, 348, 348 f. 446

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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forderlich,452 sodass die Vermittlung des Akteninhaltes an den Beschuldigten nicht durch Überlassung der Aktenkopien zu geschehen hat, vgl. § 19 Abs. 2 S. 2 BORA.453 Man könnte hierbei von einem sog. „Verteidigerprivileg“ sprechen.454 Ein Einsichtsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten gem. § 147 Abs. 4 StPO ist in solchen Fällen derart auszugestalten, dass Einsicht lediglich in den Diensträumen (ggfs. unter Aufsicht, soweit es sich um Beweisstücke handelt) gewährt werden kann.455 Denn einer Einsichtsgewährung, durch die der Beschuldigte in den unkontrollierbaren Besitz derartiger Informationsträger kommt, stünden wiederum „überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter“ i. S. d. § 147 Abs. 4 S. 1 StPO entgegen. Für eine Herausgabe derartiger Aktenbestandteile an den verteidigerlosen Beschuldigten ließe sich zwar anführen, dass der Gesetzgeber mit diesem Vorbehalt hinsichtlich des Persönlichkeitsrechtsschutzes lediglich die Intimsphäre zu schützen intendiert hat.456 Gegen eine Herausgabe ließe sich demgegenüber anführen, dass derartige Informationsträger „kernbereichsnah“ sind, sodass sie sich – eher als die TKÜ-Aufzeichnungen – mit den vom Gesetzgeber aufgestellten Fallgruppen zur Beschränkbarkeit des Einsichtsrechts des verteidigerlosen Beschuldigten vergleichen lassen. Schließlich sollten die vom Gesetzgeber aufgestellten Fallgruppen nicht abschließend sein.457 Entscheidend gegen eine Herausgabe an den verteidigerlosen Beschuldigten bzw. eine Ermöglichung eines Aktenabrufs in den eigenen Räumlichkeiten des Beschuldigten ist jedoch, dass derartige Akteninhalte jedenfalls eine überdurchschnittliche Sensibilität aufweisen. Die Kenntnisnahme derartiger Aktenbestandteile durch unberechtigte Dritte – was bei der Ermöglichung eines Aktenstudiums in den eigenen Räumlichkeiten des Beschuldigten i. d. R. wesentlich wahrscheinlicher ist, als bei dem Verteidiger, für den wiederum die Redlichkeitsvermutung spricht – würde entsprechend den Ausführungen zu den TKÜ-Aufzeichnungskopien regelmäßig beträchtliche Folgen für die abgebildeten Personen haben. Insofern ist die Einsichtsgewährung des verteidigerlosen Beschuldigten in den Diensträumen als ein gerechter und dem gesetzgeberischen Willen nicht wiedersprechender Kompromiss anzusehen. Sofern eine solche Ausgestaltung des § 147 Abs. 4 StPO für eine effektive Verteidigung nicht ausreichend erscheint, ist – was in derartigen Fällen wohl ohnehin oftmals anzunehmen sein dürfte – wiederum von einem Fall der 452 OLG Frankfurt NJW 2013, 1107, 1108 m. krit. Anm. König und abl. Anm. Barton StRR 2013, 348; a. A. Ziemann StV 2014, 299, 300 ff.; Jahn, FS Beulke, S. 806 ff. 453 Bei einer Herausgabe solchen Aktenmaterials an den Beschuldigten stünde unter Umständen also eine Strafbarkeit des Verteidigers gem. § 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB, § 184b Abs. 1 Nr. 2 StGB oder § 184c Abs. 1 Nr. 2 StGB im Raum, eingehend OLG Frankfurt NJW 2013, 1107, 1107 f. m. Anm. König. 454 Siehe hierzu OLG Frankfurt NJW 2013, 1107, 1109 m. Anm. König. 455 So im Einzelfall auch Barton StRR 2015, 305, 306. 456 Siehe erneut BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 22. 457 BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 22: „Hier ist insbesondere an die Wahrung der Intimsphäre Dritter, an den Schutz gefährdeter Zeugen und an den Schutz von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen zu denken.“; Hervorhebung durch Verfasser.

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 2 Var. 4 StPO auszugehen.458 Ein Studium derartiger Aktenbestandteile zur Ausarbeitung einer Verteidigungsstrategie wird dem Beschuldigten praktisch in den meisten Fällen also außerhalb der Diensträume (gemeinsam mit dem Verteidiger) möglich sein.

3. Sonderproblem: Steuergeheimnis Sollten Informationsträger das Steuergeheimnis Dritter tangieren, so hat dies auf das Einsichtsrecht des Verteidigers keinen Einfluss. Dies ergibt sich einfachgesetzlich bereits aus § 30 Abs. 2 AO, nach dem personenbezogene Daten, die das Steuergeheimnis tangieren, im Umkehrschluss wiederum offenbart/verwertet werden dürfen, sofern der jeweilige Amtsträger hierzu befugt ist. Zudem ist die Offenbarung/Verwertung derartiger Daten gem. § 30 Abs. 4 Nr. 1 AO bei der Durchführung eines Strafverfahrens explizit zulässig.459 Für die Akteneinsicht des Verteidigers sind in der AO auch keine Sonderregelungen vorgesehen (vgl. § 385 Abs. 1 AO), sodass der Einsicht der Verteidigung das Steuergeheimnis nicht entgegensteht. Dieser Rechtsgedanke kommt auch in § 172 Nr. 2 Var. 4 GVG zum Ausdruck, nach der zur Erörterung von Steuergeheimnissen in der Verhandlung die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden kann.460 Die Norm verdeutlicht, dass das Steuergeheimnis allenfalls einen Aspekt darstellen kann, der vor der Kenntnisnahme durch Dritte zu bewahren ist, jedoch keinen der Einsichtsgewährung der Verfahrensbeteiligten – jedenfalls nicht des Verteidigers – entgegenstehenden Grund darstellt. Aus verfassungs- und konventionsrechtlicher Sicht überwiegt auch insoweit das Informationsinteresse der Verteidigung.461 Die Verweigerung der Akteneinsicht aus Gründen des Schutzes von Steuergeheimnissen würde einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in den Fairnessgrundsatz darstellen. Das Steuergeheimnis stellt jedoch keinen derart gewichtigen Belang dar, der den anerkannten Schranken des Art. 6 EMRK bzw. dem Akteneinsichtsrecht gleichkommt. In Anlehnung an die Ausführungen zu den TKÜ-Aufzeichnungen und den Vorgängen mit konkretem Inhalt zu den §§ 174 ff. StGB und Ähnlichem ist auch insoweit zu fordern, dass derartige Informationsträger nach rechtskräftigem Verfahrens-

458

Siehe auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 114 m. w. N. In diesem Sinne auch OLG Rostock StV 2015, 677, 680; siehe zum Vorstehenden auch Müller-Jacobsen/Peters wistra 2009, 458, 459 ff.; Lesch StraFo 2021, 496, 501 f. 460 Vgl. auch B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 214 f. 461 Auch insoweit ist schließlich das allgemeine Persönlichkeitsrecht Dritter und oftmals Art. 14 Abs. 1 GG betroffen, siehe BVerfGE 65, 1, 45; 67, 100, 142. Diese Grundrechtspositionen haben nach hiesiger Untersuchung i. R. v. §§ 147 Abs. 1, 32f StPO – von der Intimsphäre abgesehen – jedoch zurückzutreten. Gleiches gilt nach hiesiger Untersuchung aus Sicht der EMRK; so auch Müller-Jacobsen/Peters wistra 2009, 458, 461; so i. E. wohl auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 192; siehe zur a. A. in Rspr. und T.d.L. die Nachweise bei KK-StPO/Willnow, § 147, Rn. 9. 459

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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abschluss an die Staatsanwaltschaft zurückgesendet oder im Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft von dem Verteidiger eigenhändig vernichtet werden. Da es sich hierbei um besonders sensible Daten Dritter handelt, sind wiederum Einschränkungen zulasten des Beschuldigten notwendig. Das Steuergeheimnis betreffende Aktenbestandteile sind zunächst vergleichbar sensibel wie Vorgänge, die Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse beinhalten. Da der Gesetzgeber als entgegenstehende „schutzwürdige Interessen Dritter“ i. S. d. § 147 Abs. 4 S. 1 StPO nicht ausschließlich die Intimsphäre, das Leben und die Betriebs-/Geschäftsgeheimnisse fassen wollte,462 steht eine Einschränkung zulasten des Beschuldigten zum Schutz des Steuergeheimnisses auch mit dem Willen des Gesetzgebers im Einklang. Es handelt sich bei Vorgängen, die dem Steuergeheimnis unterliegen, oftmals um besonders geheimhaltungsbedürftige Inhalte, die bei der Kenntnisnahme durch unberechtigte Dritte erhebliche Folgen für die Betroffenen hätten. Insofern ist die Einsichtnahme des verteidigerlosen Beschuldigten – von Einzelfällen, in denen die Schutzbedürftigkeit unterdurchschnittlich ist,463 abgesehen – lediglich in den Diensträumen zu gewähren. Demgemäß hat eine Herausgabe derartiger Vorgänge an den Mandanten grundsätzlich ebenfalls zu unterbleiben. Andernfalls bedürfte es wiederum auch der Rücksendung bzw. einvernehmlichen Vernichtung dieser Aktenbestandteile durch den Verteidiger nach rechtskräftigem Verfahrensabschluss nicht.

4. Zwischenfazit Der Aspekt, dass durch die Akteneinsichtsgewährung Persönlichkeitsrechte Dritter beeinträchtigt werden, ist hinsichtlich der Sozial- und Privatsphäre unbeachtlich. Dies deutet sich bereits in einem Vergleich der §§ 147 Abs. 1, 32f StPO mit § 147 Abs. 4 S. 1 StPO an. Schutzwürdige Interessen Dritter können der Einsicht des verteidigerlosen Beschuldigten entgegenstehen; ein entsprechender Vorbehalt ist in der Anspruchsnorm des Verteidigers und in § 32f StPO nicht vorgesehen. Auch die Gesetzesmaterialien zur Einführung des § 147 RStPO und der jüngsten Reform des Jahres 2018 belegen, dass das Persönlichkeitsrecht von dritten Personen dem Einsichtsrecht des Verteidigers nach dem Willen des Gesetzgebers nicht entgegengehalten werden kann. Dies soll grundsätzlich auch für das Einsichtsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten gelten; mit den „schutzwürdigen Interessen Dritter“ i. S. d. § 147 Abs. 7 S. 1 StPO a. F. und § 147 Abs. 4 S. 1 StPO n. F. beabsichtigte der Gesetzgeber insbesondere den Schutz von Leib und Leben Dritter, von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen und hinsichtlich des Persönlichkeitsrechtsschutzes der Intimsphäre. Die Forderung nach einer weiter gehen-

462

Siehe BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 22: „insbesondere“. In Betracht käme etwa eine bei der Finanzbehörde eingereichte Zuwendungsbestätigung i. S. v. § 10b EStG. 463

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

den Berücksichtigung des Persönlichkeitsrechtsschutzes hat sich im Gesetzgebungsverfahren nicht durchgesetzt – erst recht nicht zulasten des Einsichtsrechts des Verteidigers. Auch die Ausgestaltung des § 32f StPO verdeutlicht, dass der Persönlichkeitsrechtsschutz bei der Gewährung der Einsicht und der Wahl der Einsichtsform außer Betracht bleiben soll. Einen „entgegenstehenden wichtigen Grund“ i. S. d. § 32f Abs. 1, 2 StPO sollte dies ebenfalls nicht darstellen. Persönlichkeitsrechte Dritter können nach dem Wortlaut, der Ausgestaltung der §§ 147, 32f StPO und den Gesetzesmaterialien weder der Einsicht noch der Übersendung bzw. Überlassung der Akten zur Einsicht entgegenstehen. Zudem demonstrieren der Wortlaut des § 100a StPO und ein Vergleich mit weiteren repressiven Ermächtigungsgrundlagen, dass der Gesetzgeber bzw. das Gesetz von einer regelmäßigen Beeinträchtigung von Persönlichkeitsrechten Dritter insbesondere bei der TKÜ ausgeht. In den entsprechenden Materialien zu § 100a StPO bestätigt sich diese Annahme. Der Umstand, dass eine Ermittlungsmaßnahme in Persönlichkeitsrechte Dritte aller Voraussicht nach eingreifen wird oder dies jedenfalls naheliegt, ist nach der Intention des Gesetzgebers vielmehr innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung und der dort angezeigten Abwägung vorzunehmen, ob eine solche Maßnahme überhaupt durchzuführen ist. Hiermit geht zwar nicht zwingend einher, dass die Verteidigung in die Daten aus Überwachungsmaßnahmen trotz der hiermit einhergehenden Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechtsschutzes einsehen können muss. Eine andere Sichtweise führte in dem Fall, dass die Überwachungsmaßnahme rechtmäßig war, jedoch zu einem Wertungswiderspruch, der durch eine entsprechende Auslegung zu vermeiden ist. Dies spricht ebenfalls dafür, dass Persönlichkeitsrechte Dritter grundsätzlich unbeachtlich für das „Ob“ und „Wie“ der Akteneinsicht sind. Die im einfachen Recht auszumachenden Aspekte, die nach hiesiger Untersuchung für einen umfassenden Aktenbegriff streiten, gebieten es ebenfalls, Persönlichkeitsrechte Dritter bei der Einsichtsgewährung des Verteidigers und grundsätzlich auch beim verteidigerlosen Beschuldigten unberücksichtigt zu lassen. Dies gebieten zudem die Gewährleistungen aus der Verfassung und der EMRK. Ob die Ermittlungsmaßnahme rechtmäßig war, ist hierbei nicht maßgebend. Eine mit der Weitergabe der personenbezogenen Daten an die Verteidigung einhergehende Beeinträchtigung der Persönlichkeitsrechte stellt eine verfassungs- und konventionskonforme Eingriffsvertiefung dar – auch im Falle von TKÜ-Aufzeichnungen.464 Einzuschränken ist bei TKÜ-Aufzeichnungen demgegenüber das Einsichtsrechtsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten und zwar dahingehend, dass ihm aufgrund der besonderen Sensibilität der Gesprächsinhalte bzw. der verheerenden Folgen bei einer Kenntnisnahme der Gesprächsinhalte durch unberechtigte Dritte lediglich das Abhören in den Diensträumen – mithin die Beweisstückbesichtigung – zu gewähren ist. Erforderlichenfalls ist ein Verteidiger beizuordnen, um über das Einsichtsrecht des Verteidigers das Ab464 Siehe im Zshg. mit TKÜ-Aufzeichnungen auch Wettley/Nöding NStZ 2016, 633, 635 f. m. w. N. auch zur gegenteiligen Rspr.

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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hören der TKÜ-Aufzeichnungen in den Kanzleiräumen zu ermöglichen. Bei angeordneter TKÜ wird in Anbetracht des Kataloges in § 100a Abs. 2 StPO jedoch ohnehin regelmäßig von einem Fall der notwendigen Verteidigung auszugehen sein. Befindet sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft, sind ihm die TKÜAufzeichnungen auf einem entsprechenden Abspielgerät zur Verfügung zu stellen, da eine Kenntnisnahme durch unberechtigte Dritte dann nahezu ausgeschlossen werden kann. Entsprechendes gilt für die Informationsträger mit konkretem Bezug zu den §§ 174 ff. StGB („Nacktfotos/-videos“ etc.) oder vergleichbar intimem Inhalt, wobei im Falle von Untersuchungshaftvollzug eine Zurverfügungstellung eines Abspielgerätes regelmäßig nicht erforderlich sein dürfte. Dies kann im Einzelfall jedoch anders sein, etwa bei überdurchschnittlichem Umfang dieses „kernbereichsnahen“ Aktenmaterials, wenn es während der gemeinsamen Besprechungszeiten mit dem Verteidiger nicht ausreichend analysiert werden kann. Informationsträger, die das Steuergeheimnis Dritter tangieren, können ebenfalls nicht der Einsicht des Verteidigers entgegenstehen, sondern beeinträchtigen grundsätzlich nur das Einsichtsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten. Eine Ausnahme ergibt sich für Informationsträger, die dem Kernbereich privater Lebensgestaltung bzw. der Intimsphäre zuzurechnen sind. Dies gilt nicht nur für das Einsichtsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten, sondern auch für dasjenige des Verteidigers. Der Gesetzgeber hat die Intimsphäre im Gegensatz zu den Akteninformationsrechten des verteidigerlosen Beschuldigten zwar nie explizit im Zusammenhang mit dem Einsichtsrecht des Verteidigers erwähnt. Die Absolutheit des Kernbereichsschutzes erfordert dies jedoch. Die unverzügliche Löschung kernbereichsrelevanter Daten ist trotz des Gewichts der Interessen und Rechte der Verteidigung demzufolge zulässig (und zwingend). Da es nach der bisherigen gesetzlichen Konzeption für möglich gehalten wird, dass kernbereichsrelevante Daten erhoben werden, ist eine Weiterleitung dieser Daten zur Ausmusterung der kernbereichsrelevanten Daten verfassungswidrig. Der Gesetzgeber sollte § 100d StPO umgehend reformieren. Die Erstsichtung bzw. Erstauswertung durch ein Gericht ist (auch aus verfassungsrechtlicher Sicht) nicht mit der unterstellenden Begründung, die Strafverfolgungsbehörden würden mutwillig entlastende Daten löschen, geboten, da man der Strafverfolgungsbehörde einen Hang zum Missbrauch nicht vorwerfen kann und darf. Jedenfalls bedarf es jedoch einer Rechtsgrundlage, die den Kernbereichsschutz schon auf der Erhebungsebene ausreichend verwirklicht. Dies betrifft nicht nur Maßnahmen nach § 100b StPO, sondern muss ebenso für Maßnahmen nach den §§ 100a, 100c StPO gelten. Mit dem in der Rechtsprechung aufkommenden Einwand gegen die Herausgabe von TKÜ-Aufzeichnungskopien, die Aufzeichnungen könnten kernbereichsrelevante Daten enthalten, die der Verteidigung nicht zugänglich gemacht werden dürften,465 wird zwar ein richtiger Ansatz verfolgt, jedoch wird hieraus 465

Siehe exemplarisch OLG Celle NStZ-RR 2017, 48, 50; KG NStZ 2016, 693, 694.

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

eine rechtswidrige Schlussfolgerung gezogen. Die Staatsanwaltschaft ist nach hiesiger Auffassung zur Vorlage und Einsichtsgewährung sämtlicher mit dem Verfahren inhaltlich zusammenhängender Informationsträger inkl. etwaiger TKÜ-Aufzeichnungen verpflichtet. Die erhobenen Daten sind von der Staatsanwaltschaft bzw. ihren Ermittlungspersonen unter anderem auf Kernbereichsrelevanz zu untersuchen und derartige Inhalte sind unverzüglich zu löschen.466 Eine solche Analyse schlicht zu unterlassen oder dennoch eine abstrakte Gefahr anzunehmen, dass sich irrtümlicherweise noch kernbereichsrelevante Inhalte in den TKÜ-Aufzeichnungen befänden, verstieße indes gegen § 147 StPO und das hinter der Norm stehende Verfassungs- und Konventionsrecht.467 Auch der Einwand gegen die Herausgabe von TKÜ-Aufzeichnungen, mit der Herausgabe ebenjener Datenträger gehe eine Vertiefung des Eingriffs in die Persönlichkeitsrechte Dritter einher,468 ist nach hiesiger Untersuchung nur im Ausgangspunkt zutreffend. Die Vertiefung von Eingriffen in Persönlichkeitsrechte Dritter ist jedoch, soweit dies keine kernbereichsrelevanten Daten betrifft, im Fall des § 147 StPO nicht nur verfassungsrechtlich zulässig, sondern aufgrund des Gewährleistungsgehalts von § 147 StPO und den hierhinter stehenden verfassungs- und konventionsrechtlichen Vorgaben zwingend erforderlich. Der Einwand der Eingriffsvertiefung verliert ferner dadurch an Bedeutung(-skraft), dass das Abhören der TKÜ-Aufzeichnungen in den Diensträumen – dies wird von der Rechtsprechung (mit Blick auf den eindeutigen Wortlaut von § 147 Abs. 1 StPO richtigerweise) schließlich für zulässig erachtet469 – ebenfalls eingriffsvertiefend wäre,470 zumal sich der Verteidiger hierbei auch Notizen über den Inhalt der TKÜ-Aufzeichnungen machen könnte und dürfte.471 Werden die §§ 100a ff. StPO derart ausgestaltet, dass kernbereichsrelevante Daten mit weitgehender Sicherheit gar nicht erst erhoben werden, so ist eine 466 So auch der Einwand von LG Bremen StV 2015, 682, 683 m. Anm. Schulz-Merkel jurisPR-StrafR 8/2016, Anm. 5. 467 LG Bremen StV 2015, 682, 683 m. Anm. Schulz-Merkel jurisPR-StrafR 8/2016, Anm. 5; in diesem Sinne wohl auch OLG Zweibrücken StV 2017, 437, 438. 468 Beispielhaft OLG Celle NStZ 2016, 305, 306 m. abl. Anm. Knauer/Pretsch; OLG Karlsruhe StV 2013, 74, 75 m. abl. Anm. Beulke/Witzigmann und krit. Anm. Albrecht jurisPR-ITR 1/2013, Anm. 4; OLG Hamburg NStZ 2016, 695, 696; KG NStZ-RR 2016, 143, 144; weitere Nachweise zur diesbezügl. Rspr. bei Wettley/Nöding NStZ 2016, 633, 635 f. 469 Beispielhaft OLG Karlsruhe StV 2013, 74, 75 m. Anm. Beulke/Witzigmann und m. Anm. Albrecht jurisPR-ITR 1/2013, Anm. 4; OLG Hamburg NStZ 2016, 695, 696; OLG Frankfurt StV 2016, 148, 149 m. Anm. Killinger und m. Anm. Basar jurisPR-StrafR 14/2016, Anm. 1; OLG Koblenz NStZ 1995, 611, 611. 470 So bspw. auch KG StV 2018, 75, 76 m. Anm. El-Ghazi jurisPR-StrafR 21/2017, Anm. 1; LG Bremen StV 682, 683 m. zust. Anm. Schulz-Merkel jurisPR-StrafR 8/2016, Anm. 5. 471 OLG Celle StV 2017, 158, 160; Wettley/Nöding NStZ 2016, 633, 635 m. w. N.; LG Augsburg StraFo 2020, 150, 151; auch könnte der Verteidiger erforderlichenfalls Sachverständige, Dolmetscher oder den Beschuldigten selbst hinzuziehen, siehe hierzu bereits OLG Köln StV 1995, 12, 12 f.; OLG Karlsruhe StV 2013, 74, 75 m. Anm. Beulke/Witzigmann; siehe auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 11, 126.

IV. Persönlichkeitsrechte Dritter

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Rechtsgrundlage, die die Weitergabe der erhobenen Daten an ein Gericht vorsieht, welches die Daten (soweit die Natur der Ermittlungsmaßnahme dies zulässt) auswertet, aus Sicht des Fairnessgebots und mit Blick auf die grundsätzliche Eingriffsintensität insbesondere der §§ 100b f. StPO verfassungsrechtlich zulässig und trägt zu einer weiteren Kompensation bei. Hierdurch würde ebenfalls dem in der StPO an zahlreichen Stellen zum Ausdruck kommenden Grundsatz der gegenseitigen Kontrolle/Überprüfbarkeit von Gericht und Staatsanwaltschaft Rechnung getragen werden. Da über die §§ 100a ff. StPO bereits heutzutage erhebliche Datenmengen erhoben werden (dürfen), würde eine gerichtliche Auswertung der erhobenen Daten die Gerichte bereits während des Ermittlungsverfahrens in einem Umfang beschäftigen, der dem Bundesverfassungsgericht und dem Gesetzgeber möglicherweise nicht in der Form bewusst gewesen ist. Ein Bedarf nach möglichst vielen Verfahrensvorkehrungen zur Sicherung der Beschuldigtenrechte schwände, wenn die Anforderungen an die Rechtmäßigkeit solch eingriffsintensiver Maßnahmen (wieder) angehoben würden.472 Aus Sicht des § 147 StPO verbleibt als Trost nur der Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Ausklammerung sensibler Daten aus dem Kernbereichsschutz bei Sozial- bzw. Verfahrensbezug, nach der die Klassifizierung als kernbereichsrelevant in der Praxis eine sehr selten vorkommende Ausnahmekonstellation ist und das auch bleiben wird. Zudem sind Überwachungsmaßnahmen umgehend zu unterbinden, sobald sich die Erlangung kernbereichsrelevanter Daten abzeichnet. Für den selten auftretenden Fall, dass dennoch kernbereichsrelevante Daten erlangt worden sind, die umgehend gelöscht werden, ist eine weitgehende Dokumentationspflicht i. R. d. § 100d Abs. 2 S. 3 StPO zu fordern. Diese lässt sich möglichenfalls durch entsprechende Leeraufzeichnungen und berichtsartige Ausführungen zu grobem Inhalt und zu Art und Umfang der gelöschten Daten realisieren. Dennoch verbleibende, unausgeglichene Nachteile für die Verteidigung können lediglich innerhalb der Beweiswürdigung Berücksichtigung finden. Informationsträger, die kernbereichsrelevante bzw. die Intimsphäre berührende Informationen enthalten, sind jedoch strikt von solchen Informationsträgern zu unterscheiden, die lediglich einem sich aus dem Menschenwürdeschutz (mit-)ergebenden Beweisverwertungsverbot unterliegen.

472 Vgl. instruktiv und kritisch zur Anwendungspraxis der §§ 100a f. StPO etwa Gercke StraFo 2014, 94, 96 f. m. w. N.; ders. StV 2015, 13, 13 f.; Meyer-Mews, TKÜ, S. 7, 9 ff., 46, 49.

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

V. Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse Weiter ist fraglich, ob Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse Dritter der Akteneinsicht des Verteidigers entgegenstehen können.473 Der StPO können hierzu keine Anhaltspunkte entnommen werden. Lediglich an einer Stelle der gesamten Materialien zu den jeweiligen Fassungen des § 147 StPO wird der Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen angeführt. Dies betraf jedoch lediglich das in § 147 Abs. 7 S. 1 StPO a. F. normierte Auskunftsund Abschriftenerteilungsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten,474 an dem sich der Gesetzgeber bei der Einführung des Akteneinsichtsrechts des verteidigerlosen Beschuldigten in § 147 Abs. 4 S. 1 StPO n. F. orientierte.475 Wie bereits ausgeführt wurde, besteht das Einsichtsrecht des Verteidigers nach dem Willen des Gesetzgebers demgegenüber uneingeschränkt.476 Weitere Anhaltspunkte ergeben sich aus dem materiellen Recht. Die §§ 201 ff. StGB lassen die gesetzgeberische Wertung erkennen, dass das Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis einen nicht sonderlich hohen Stellenwert genießt. Der 15. Abschnitt des StGB sieht drei verschiedene Strafrahmen vor, wobei die das Betriebsoder Geschäftsgeheimnis schützenden Straftatbestände den geringsten Strafrahmen vorsehen. Hierzu im Einzelnen: Die Vertraulichkeit des Wortes wird durch § 201 StGB geschützt, wobei der Strafrahmen Freiheitsstrafe bis zu drei Jahre beträgt. Ebenso verhält es sich mit dem Tatbestand des Ausspähens von Daten gem. § 202a StGB und der Datenhehlerei gem. § 202d StGB. Die Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen wird gem. § 201a StGB mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft. Der gleiche Strafrahmen ist für das Abfangen von Daten gem. § 202b StGB vorgesehen. Die Verletzung des Briefgeheimnisses wird gem. § 202 StGB mit Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr sanktioniert. Ein solch vergleichsweise geringer Strafrahmen ist in diesem Regelungskomplex nur noch für die Verletzung des Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisses gem. § 203 StGB vorgesehen. Das Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis wird demnach als abstrakt nicht gewichtiger angesehen als etwa das durch § 202b StGB geschützte Recht auf Nichtöffentlichkeit der (elektronischen) Kommunikation.477 Hinzu kommt, dass § 203 StGB als Sonderdelikt nur von einem abschließend normierten Berufs- bzw. Personenkreis verwirklicht werden kann, was den Unrechtsgehalt steigert. Dennoch ist der Strafrahmen vergleichsweise gering. Hierdurch wird erkennbar, dass dem Umstand, dass es sich bei dem Geheimnis um ein Betriebs- oder Geschäfts473

Ablehnend etwa Jörke, Akteneinsicht, S. 64 f., 68. BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 22. 475 Siehe erneut BT-Drs. 18/9416, 33, 105; BT-Drs. 18/12203, 74. 476 Siehe erneut BT-Drs. 18/9416, 92 f., 105; BT-Drs. 18/12203, 74. 477 Siehe BT-Drs. 16/3656, 11. 474

V. Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse

629

geheimnis handelt bzw. gehandelt hat, noch weniger Bedeutung beigemessen wird als dem Briefgeheimnis. Sowohl das Briefgeheimnis als auch das Recht auf nichtöffentliche Kommunikation ist zu Strafverfahrenszwecken einschränkbar, vgl. §§ 99 ff. StPO. Dies muss für das Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis demnach ebenfalls bzw. erst recht gelten. Der vergleichsweise geringe Stellenwert des Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisses zeigt sich auch daran, dass § 203 Abs. 1, 2 StGB als Alternative tatbestandlich an ein „zum persönlichen Lebensbereich gehörendes Geheimnis“ anknüpft, was ebenfalls kein besonders hohes Schutzgut darstellt. Selbst die unbefugte Verwertung von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen wird in § 204 StGB mit einem vergleichsweise geringen Strafrahmen von bis zu zwei Jahren sanktioniert. Die §§ 203 f. StGB setzen zudem voraus, dass die Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse unbefugt offenbart bzw. verwertet werden. Der Normierung des Tatbestandsmerkmales „unbefugt“ hätte es nicht bedurft, wenn solche Informationen per se nicht verarbeitet werden dürften. Da vom Täterkreis des § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB explizit auch Verteidiger umfasst sind, geht das StGB dabei davon aus, dass auch Verteidigern Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse anvertraut oder sonst bekannt werden können. Ähnlich verhält es sich mit § 355 Abs. 1 Nr. 2 StGB. Einerseits führt der Umstand, dass ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis durch einen Amtsträger offenbart oder verwertet wird, zu dem vergleichsweise noch geringen Strafrahmen von bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe, was den geringeren Stellenwert erneut unterstreicht. Zum anderen setzt auch § 355 Abs. 1 StGB voraus, dass ein Amtsträger unbefugt ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis offenbart oder verwertet hat. Hinzu kommt hierbei, dass die Informationen ihm ausweislich der Norm beispielsweise in einem Verwaltungs- oder Strafverfahren bekannt geworden sein müssen. Der Tatbestand setzt im Umkehrschluss also voraus, dass ein Amtsträger zur Offenbarung oder Verwertung von Betriebsund Geschäftsgeheimnissen auch befugt sein kann und weiter geht das StGB an dieser Stelle davon aus, dass Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse in einem Strafverfahren bekannt werden können. Für das Ausspähen und Abfangen von Daten wurde mit § 202c Abs. 1 StGB sogar ein das Vorbereitungsstadium betreffender Tatbestand geschaffen, was für die Verletzung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen ebenfalls nicht vorgesehen ist. Weiter sind die das Betriebs- und Geschäftsgeheimnis schützenden Vorschriften der §§ 203 f. StGB im Gegensatz zu den §§ 201a, 202a, 202b, 202d StGB auch absolute Antragdelikte, vgl. § 205 Abs. 1 StGB. Das vorstehend aufgezeigte Regelungsgefüge des 15. Abschnitts und auch § 355 Abs. 1 StGB lassen insofern erkennen, dass der einfache Gesetzgeber dem Betriebs- und Geschäftsgeheimnis keinen derart hohen Stellenwert beimisst, dass

630

C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

ein solches die hinter § 147 StPO stehenden Gewährleistungen und Interessen zu verdrängen vermag.478 Als weitere Norm lässt sich § 30 VwVfG anführen. Hiernach haben die Beteiligten des Verwaltungsverfahrens einen Anspruch darauf, dass ihre Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse von der Behörde nicht unbefugt offenbart werden. Einerseits ergibt sich hieraus also erneut, dass die Behörde unter gewissen Umständen zur Weitergabe von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen befugt sein kann, da es ansonsten dieses Tatbestandsmerkmales nicht bedurft hätte. Weiter enthält die StPO eine entsprechende Vorschrift gerade nicht, was im Umkehrschluss ebenfalls zeigt, dass dieser Aspekt in einem Strafverfahren jedenfalls keine wesentliche Rolle spielt bzw. spielen darf. Für kartellverwaltungsrechtliche Verfahren ist normiert, dass Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der Einsicht entgegenstehen können, § 72 Abs. 2 S. 2 GWB; ein entsprechender Vorbehalt ist in §§ 147, 32f StPO nicht vorgesehen.479 Ein weiterer Umkehrschluss lässt sich aus den Regelungen zum Zeugnisverweigerungsrecht ableiten: Die ZPO gewährt mit § 384 Nr. 3 ZPO ein Zeugnisverweigerungsrecht zu Fragen, wenn ansonsten ein Gewerbegeheimnis offenbart würde; entsprechendes gilt im Verwaltungsgerichtsverfahren über § 98 VwGO. Ein derartiges Verweigerungsrecht sieht die StPO demgegenüber nicht vor.480 Zudem verlöre § 172 Nr. 2 Var. 1, 2 GVG seinen Sinn, würde man die Erörterung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen im Strafverfahren für unzulässig erachten. Hiernach kann zur Erörterung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen (lediglich) die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. Diese gesetzgeberische Wertung zugrunde gelegt, kann der Einsicht jedenfalls des Verteidigers der Schutz etwaiger Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse nicht entgegengehalten werden.481 Zu fordern ist entsprechend den Ausführungen zu den TKÜ-Aufzeichnungen und den Vorgängen mit konkretem Bezug zu den §§ 174 ff. StGB oder vergleichbar intimem Inhalt, dass der Verteidiger die betreffenden Aktenbestandteile nach rechtskräftigem Verfahrensabschluss grundsätzlich an die Staatsanwaltschaft zurücksendet oder (im Einverständnis mit der Staatsanwaltschaft) eigenhändig vernichtet. Das vorstehend hergeleitete Interessengefälle ist auch anzunehmen, wenn man den Interessenkonflikt auf die verfassungsrechtliche Ebene hebt. Anders formuliert, gelangt man auch nicht durch eine verfassungskonforme Auslegung der §§ 147, 32f StPO zugunsten der von dem Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis Betroffenen zu einem anderen Ergebnis. Das Betriebs- und Geschäftsgeheimnis ist zwar vom Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG umfasst.482 Ein über die §§ 147,

478 Gegenteiliges ergeht auch nicht aus den Gesetzesmaterialien zur Einführung der §§ 203, 204, 355 StGB: vgl. etwa BT-Drs. VI/3250, 227–233, 273 ff. 479 Hierauf weist auch Bell, Akteneinsicht, S. 41, hin. 480 Der vorstehende Umkehrschluss wird explizit auch in BGHSt 52, 58, 65, gezogen. 481 So i. E. auch B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 214 f. 482 Siehe nur BVerfGE 115, 205, 229 ff.; weitere Nachweise bei Prinz, Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, S. 57.

V. Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse

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32f StPO gewährtes Einsichtsrecht in Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse betreffende Informationsträger greift auch in Art. 12 Abs. 1 GG ein.483 Eine Vorschrift, die die Offenlegung von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen rechtfertigt, ist jedoch als sog. Berufsausübungsregelung einzustufen,484 für dessen Rechtfertigung es bereits ausreicht, dass „vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls es zweckmäßig erscheinen lassen“485 und die Beeinträchtigung auch im Übrigen verhältnismäßig ist.486 Dies ist aus denselben Gründen zu bejahen, wie es grundsätzlich auch im Verhältnis zu den Persönlichkeitsrechten Dritter anzunehmen ist.487 Ein weitergehender Schutz ergibt sich auch nicht aus Art. 14 Abs. 1 GG488 oder weiterem Verfassungsrecht.489 Weiterreichende Schutzmechanismen ergeben sich auch nicht aus der EMRK. Die EMRK sieht den Schutz der Berufsfreiheit – im Gegensatz zu Art. 15 f. GrCH – nicht explizit vor.490 Wenngleich der Schutz des Privatlebens aus Art. 8 EMRK implizit auch das Berufs- und Arbeitsleben umfasst,491 ist das unternehmerische Berufs- und Geschäftsgeheimnis hiervon nicht gedeckt, jedenfalls wäre ein durch die Einsichtsgewährung angenommener Eingriff in Art. 8 EMRK von einem legitimen Ziel getragen und nach Maßgabe von Art. 8 Abs. 2 EMRK zu rechtfertigen, insbesondere verhältnismäßig.492

483 Ein Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG erfordert zwar eine berufsregelnde Tendenz der staatlichen Maßnahme; es ist jedoch anerkannt, dass in Art. 12 Abs. 1 GG auch durch Vorschriften eingegriffen werden kann, die den Schutzbereich nur aufgrund ihrer Folgen, also mittelbar, beeinträchtigen: siehe BVerfGE 61, 291, 308 m. w. N.; Dürig/Herzog/Scholz-GG/Scholz, Bd. 2, Art. 12, Rn. 300 m. w. N. Eine die Einsicht gewährende Norm kann als eine solche mittelbare Beeinträchtigung angesehen werden; wollte man dies in hiesiger Konstellation verneinen, läge bereits kein Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG vor. 484 Prinz, Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, S. 138. 485 Grundlegend BVerfGE 7, 377, 405. 486 Statt vieler Dürig/Herzog/Scholz-GG/Scholz, Bd. 2, Art. 12, Rn. 343. 487 So auch B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 214 f., der darauf hinweist, dass erforderlichenfalls die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden könne, um die Geheimhaltungsinteressen Dritter zu wahren; anders könnte dies hingegen bei Annahme eines geringeren Offenlegungsbedürfnisses in einem Verwaltungsgerichtsverfahren zu beurteilen sein, so i. E. etwa BVerfGE 115, 205, 232 ff. 488 Siehe nur BVerfGE 115, 205, 248; eingehend zur Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 14 Abs. 1 GG: Prinz, Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, S. 45 ff. m. w. N. 489 Die wohl h. M. lehnt den Schutz über Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG oder Art. 20 Abs. 3 GG hingegen ab, wobei das allgemeine Persönlichkeitsrecht als lex generalis ohnehin zurücktreten würde: Prinz, Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, S. 57 ff., 62 m. w. N. 490 Auch über eine systematische Auslegung von Art. 6 EMRK unter Berücksichtigung der Art. 15 f. GrCH würde sich nichts anderes ergeben, da der Einschränkungsmaßstab von Art. 52 GrCH dem aufgezeigten verfassungsrechtlichen Maßstab weitgehend entspricht, vgl. nur Jarass-GrCH, Art. 15, Rn. 14; ders. a. a. O. Art. 16, Rn. 20 f. 491 Siehe nur MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 8 EMRK, Rn. 9 m. w. N. 492 Siehe zum Einschränkungsmaßstab: MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 8 EMRK, Rn. 18 ff.

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C. Fallgestaltungen zur (zeitweisen) ersatzlosen Einsichtsverwehrung

Sowohl aus dem materiellen Strafrecht, dem ein verallgemeinerungsfähiger Rechtssatz entnommen werden kann,493 der der gesetzgeberischen Intention entspricht, aus einem Vergleich der StPO mit der verwaltungs- und zivilrechtlichen Verfahrensordnung einerseits und mit § 172 Nr. 2 Var. 1, 2 GVG andererseits als auch aus dem Verfassungs- und Konventionsrecht lässt sich mithin Folgendes ableiten: Unterliegen Informationsträger trotz der hiermit einhergehenden Offenbarung von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen keinem Erhebungs-/Verwertungsverbot bzw. setzen sich die Strafverfolgungsbehörden über ein solches hinweg, kann die Einsicht der Verteidigung in diese Aktenbestandteile nicht verwehrt werden. Informationsträger, die Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse beinhalten, stellen zudem auch keine derart schutzwürdigen Akteninhalte dar, die nach dem Willen des Gesetzgebers nur in den Diensträumen eingesehen werden könnten.494 In der Konsequenz kann und soll diesem Aspekt i. R. d. Einsichtsgewährung an den Verteidiger keine Relevanz zukommen.495 Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass sich der Verteidiger gem. § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB strafbar macht, sofern er die ihm bekannt gewordenen Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse Dritten gegenüber unbefugt offenbart.496 Verwertet er diese Geheimnisse unbefugt, macht er sich gem. § 204 StGB strafbar. Zur Wahrung von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen kann lediglich das Akteneinsichtsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten beschränkt werden. Dies entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers.497 Ein Betriebs- und Geschäftsgeheimnis ist im Gegensatz zu den TKÜ-Aufzeichnungen und intimen Akteninhalten jedoch nicht in jedem Fall ein derart schützenswerter Aspekt, der der Mitgabe an den Mandanten entgegensteht.498 In solchen Fällen kann demnach auch eine Einsichtnahme des verteidigerlosen Beschuldigten in den eigenen Räumlichkeiten gewährt werden. Konsequenterweise bestünde in diesem Fall auch keine Pflicht des Verteidigers zur Rücksendung bzw. einvernehmlichen Vernichtung dieser Aktenbestandteile nach rechtskräftigem Verfahrensabschluss. Der Verteidiger wird die Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse dem Mandanten jedoch nur insoweit zur Verfügung stellen müssen, wie es für eine effektive Verteidigung erforderlich ist.499 Dies wird nur in ausgewählten Fallkonstellationen anzunehmen sein. Jedenfalls müsste bei der Herausgabe etwaiger Akteninhalte an den 493 Siehe hierzu im Zshg. mit der Bildung von Gesamt- bzw. Rechtsanalogien: Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 258. 494 Vgl. hierzu erneut BT-Drs. 18/12203, 73. 495 So für das Kartellbußgeldverfahren grds. auch BGHSt 52, 58, 64. 496 In diesem Sinne wohl allg. auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 149. 497 Siehe BT-Drs. 14/1484, Anlage 1, S. 22: „Die Auskunft ist ausgeschlossen bei Gefährdung des Untersuchungszwecks und soweit überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter entgegenstehen. Hier ist insbesondere an die Wahrung der Intimsphäre Dritter, an den Schutz gefährdeter Zeugen und an den Schutz von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen zu denken.“ 498 In Betracht kämen etwa Betriebs-/Geschäftsgeheimnisse eines Unternehmens, das mittlerweile aufgelöst worden ist. 499 So auch BGHSt 52, 58, 65.

V. Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse

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Beschuldigten kritisch berücksichtigt werden, welche Folgen die Kenntnisnahme der Akteninhalte durch unberechtigte Dritte für die Betroffenen haben würde. Wie bereits erwähnt, kann das Gericht zur Erörterung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen auch die Öffentlichkeit ausschließen, § 172 Nr. 2 Var. 1, 2 GVG.500 Weitere Schutzvorkehrungen sind weder notwendig noch würden sie dem im Vergleich zu den aus dem Fairnessprinzip abgeleiteten Teilhaberechten geringeren Stellenwert von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen gerecht werden.

500

So auch der Hinweis bei BGHSt 52, 58, 65.

D. Die prozessuale Fürsorgepflicht Weiter gebietet die Fürsorgepflicht, dass der Beschuldigte von seinen Rechten oder gewissen Umständen, die verteidigungsrelevant sein könnten, in Kenntnis gesetzt wird.1 Die Auffassung des BGH, nach der dem Beschuldigten die Ergebnisse von Ermittlungsmaßnahmen auch dann zugänglich zu machen sind, wenn sie nach Auffassung des Gerichts weder be- noch entlastendes Material beinhalten,2 kann demzufolge auch in den Bereich der prozessualen Fürsorge verortet werden.3 Ferner gebietet es die prozessuale Fürsorgepflicht, dass die Strafverfolgungsbehörde und das Gericht die Verteidigung unaufgefordert darüber in Kenntnis setzt, sofern weiteres Ermittlungsmaterial vorhanden ist, dass der Verteidigung noch nicht im Wege der Akteneinsicht zugänglich gemacht worden ist.4 Ansonsten würde der Gewährleistungsgehalt des § 147 StPO zur nutzlosen Hülle verkommen. § 147 Abs. 6 S. 2 StPO trägt dem Fürsorgegedanken einfachgesetzlich Rechnung. Gleiches ergibt sich aus Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK. Auch der EGMR hat darauf hingewiesen, dass der prozessuale „Gegenüber“ verpflichtet ist, seinem Kontrahenten auf vorhandenes Beweismaterial hinzuweisen; das Verschweigen von Verfahrensstoff führe zum Verstoß gegen das Waffengleichheitsgebot.5 Aus allgemeinen Fairnessgründen besteht eine entsprechende Fürsorgepflicht jedoch auch auf Seiten des Gerichts – auch insoweit unabhängig davon, ob es das noch nicht zur Verfügung gestellte Informationsmaterial für verfahrens-/verteidigungsrelevant hält.6 Weiter gebietet die prozessuale Fürsorgepflicht eine ausreichende Aufbewahrungs- und Speicherungsfrist sowohl der Aktenbestandteile als auch derjenigen

1

Vgl. Maiwald, FS Lange, S. 753 f.; SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 110. BGHSt 36, 305, 308 f. 3 So offenbar auch Marczak StraFo 2004, 373, 375, allerdings ohne Verweis auf die vorbenannte Rspr. 4 Adressat der prozessualen Fürsorgepflicht sind schließlich alle Organe der Rechtspflege und damit auch die Strafverfolgungsbehörde: siehe SK-StPO/Rogall, Bd. 2, Vor § 133, Rn. 115; B. Kuhn, Akteneinsicht Ermittlungsverfahren, S. 151 f.; eingehend auch zur frühestmöglichen Gewährung Meyer, Akteninformationsrecht, S. 52 f. 5 Vgl. EGMR, Urt. v. 19.06.2001, No. 36533/97, Atlan/GBR, Rn. 39–42; eingehend LRStPO/Esser, Bd. 11, Art. 6 EMRK/Art. 14 IPbpR, Rn. 216 m. w. N. 6 So auch BGHSt 36, 305, 311 f.; BGH StV 2001, 4, 5; BGH NStZ 2017, 549, 549 f. m. zust. Anm. Tully. 2

D. Die prozessuale Fürsorgepflicht

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Informationsträger, die durch ein übertragenes Dokument ersetzt wurden und deshalb nicht mehr Aktenbestandteile sind. Jegliches Informationsmaterial, das Aktenbestandteil ist oder war, muss mindestens bis zum rechtskräftigen Verfahrensabschluss aufbewahrt bzw. gespeichert bleiben. Dem kommt § 32e Abs. 4 StPO für die übertragenen Ausgangsdokumente und § 1 JAktAG (i. V. m. den Aufbewahrungsverordnungen auf der Grundlage von § 2 JAktAG) für die Aktenbestandteile nach. Die Beweismittel und auch die Dokumentation der jeweiligen Ermittlungsmaßnahmen, die möglicherweise entlastende Umstände enthalten könnten, müssen auch nach Auffassung des EGMR bis zum rechtskräftigen Verfahrensabschluss aufbewahrt und für eine Herausgabe oder Besichtigung der Verteidigung bereitgehalten werden.7 Schließlich sind die Akten fürsorglich zu führen. Sie müssen (chronologisch) geordnet und – entsprechend dem Willen des Gesetzgebers8 und der Funktion der Akten und den Akteneinsichtsrechten – in verständlicher Weise aufbereitet sein.9 Sofern zu den Akten auch Datenmaterial zählt, so gebietet es die prozessuale Fürsorgepflicht ferner, dem Gericht und der Verteidigung Auskunft darüber zu geben, mit welchem Softwareprogramm das Datenmaterial wahrnehmbar gemacht und ggfs. bearbeitet bzw. aufbereitet wurde.10

7 EGMR, Urt. v. 31.03.2009, No. 21022/04, Natunen/FIN, Rn. 48 ff.; MüKo-StPO/Gaede, Bd. 3/2, Art. 6 EMRK, Rn. 159 m. w. N. 8 Siehe die Begründung zu § 32f StPO auf BT-Drs. 18/9416, 57: „[Satz 2 verlangt] ebenso wenig die Einsichtsmöglichkeit über diejenigen Fachsysteme, die zur Aufbereitung des Akteninhalts justizintern im Einsatz sind.“; Hervorhebung durch Verfasser. 9 Eingehend hierzu bspw. BGH Ermittlungsrichter StV-S 2021, 128, 130. 10 Ähnlich etwa Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 76; Meyer, Akteninformationsrecht, S. 112 f.

E. Fazit zum Einsichtsrecht Das Einsichtsrecht des Verteidigers gilt spätestens mit dem Aktenvermerk des Ermittlungsabschlusses uneingeschränkt, § 147 Abs. 1, 2 S. 1 StPO. Die Einsicht bezieht sich grundsätzlich auf die Original-Informationsträger. Anders verhält es sich mit dem Akteneinsichtsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten, dem im Falle von papiernen Akten auch Aktenkopien bereitgestellt werden können, § 147 Abs. 4 S. 2 StPO. Von Beweisstücken i. S. d. § 147 Abs. 1 StPO erhält der Verteidiger zum Schutz der Beweisstückintegrität lediglich eine Kopie. Gleiches gilt in dem Fall, dass nicht der Datenträger in Form von Servern/Festplatten der Strafverfolgungsbehörden, sondern Teile des hierauf gespeicherten Datenmaterials selbst Aktenbestandteile sind. Ausgangsdokumente unterliegen der Einsicht ab der Übertragung gem. § 32e Abs. 1 StPO inhaltlich nur in Form des übertragenen Dokumentes. Beweisstücke und generell übertragene Ausgangsdokumente können lediglich besichtigt werden, §§ 147 Abs. 1, 32e Abs. 5 StPO. Einsichtnahme meint dabei das eigenständige und unbeobachtete, also in den eigenen Räumlichkeiten des Einsichtsberechtigten zu ermöglichende, Studium der Akten. Dies geschieht bei elektronischen Akten gem. § 32f Abs. 1 S. 1 StPO grundsätzlich durch einen Online-Abruf der elektronischen Akte oder durch deren Übermittlung auf einem sicheren Übermittlungsweg, wobei der Akteninhalt auch heruntergeladen werden kann. Hierbei ist zu gewährleisten, dass etwaige Daten, die die Möglichkeit einer Ausspähung der Verteidigung ermöglichen, nicht gespeichert werden. Die Einsicht in die elektronische Akte wird bei entsprechendem Antrag auch gem. § 32f Abs. 1 S. 2 StPO gewährt. Für die Übermittlung eines Aktenausdrucks oder eines den Akteninhalt enthaltenen Datenträgers bedarf es gem. § 32f Abs. 1 S. 3 StPO hingegen grundsätzlich eines berechtigten Grundes. Papierne Akten können gem. § 32f Abs. 2 S. 1 StPO in den Diensträumen eingesehen werden; gem. § 32f Abs. 2 S. 3 StPO sind sie bei entsprechendem (keiner Begründung bedürfendem) Antrag jedoch in die Wohnung oder Geschäftsräume des Verteidigers mitzugeben. Zudem kann der Inhalt der papiernen Akte gem. § 32f Abs. 2 S. 2 StPO zum Online-Abruf bereitgestellt, auf einem sicheren Übermittlungsweg zugesandt oder als Aktenkopie mitgegeben werden. Die Besichtigung von Beweisstücken oder übertragenen Ausgangsdokumenten meint die eigenständige Wahrnehmung der Urkunde bzw. des Augenscheinobjektes, soweit der Integritätsschutz dies zulässt. Im Gegensatz zum Verteidiger wird die Besichtigung der Beweisstücke beim verteidigerlosen Beschuldigten beaufsichtigt, § 147 Abs. 4 S. 1 StPO. Von Beweisstücken sind zu Akten-

E. Fazit zum Einsichtsrecht

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führungszwecken bzw. zur Ermöglichung eines eigenständigen Analysierens des Beweisstückinhaltes in den eigenen Räumlichkeiten nach der Intention des Gesetzgebers Kopien zu fertigen und zu überlassen. Das Verfassungs- und Konventionsrecht gebietet dies ebenfalls. Gleiches gilt zugunsten des verteidigerlosen Beschuldigten. Der Einsicht entgegenstehende wichtige Gründe i. S. d. § 32f Abs. 1, 2 StPO stellen technische Probleme oder besonders schützenswerte Aktenbestandteile, wie bspw. Verschlusssachen, dar. Technische Probleme sollen durch eine Alternativgewährung abgewendet werden; besonders schützenswerte Akteninhalte sollen lediglich in den Diensträumen eingesehen werden können. Bei der Einordnung eines Aktenbestandteils als besonders schützenswert im vorbenannten Sinne ist mit Blick auf die gesetzgeberische Intention und die verfassungs- und konventionsrechtlichen Gewährleistungen Zurückhaltung geboten. Jede Verweigerung einer Einsichtnahme in den eigenen Räumlichkeiten des Einsichtsberechtigten führt zu einer besonders zu rechtfertigenden Waffenungleichheit und beeinträchtigt die Effektivität der Verteidigung. Soweit ein Einsichtsrecht, etwa gem. § 147 Abs. 1, 4 StPO, besteht, regelt § 32f StPO mithin die Form der Einsichtsgewährung. Sofern ein Einsichtsrecht in bestimmte Akten(-bestandteile) nicht einzuräumen ist, käme § 32f StPO damit gar nicht zum Zuge. In Grenzfällen kann ein grundsätzliches Einsichtsrecht nach dem Willen des Gesetzgebers zwar zugesprochen werden, welches aufgrund der soeben angesprochenen besonderen Schutzbedürftigkeit jedoch ausschließlich in den Diensträumen auszuüben ist. In Betracht kommen hierbei etwa besonders geheimhaltungsbedürftige sog. Verschlusssachen. Abgesehen von den Aspekten, die der Einsicht als wichtige Gründe i. S. d. § 32f Abs. 1, 2 StPO entgegenstehen können, können der Einsicht weitere Aspekte entgegenstehen. Der praktisch wohl am häufigsten einschlägige Ausnahmetatbestand ist § 147 Abs. 2 S. 1 StPO. Bis zum Ermittlungsabschlussvermerk kann die Einsicht des Verteidigers (und erst recht diejenige des verteidigerlosen Beschuldigten) in Akten oder Aktenteile verwehrt werden, soweit die Einsicht den Untersuchungszweck gefährden kann. Bis zu diesem Zeitpunkt können Aktenbestandteile auch auf der Grundlage des § 101 Abs. 2 S. 1 i. V. m. § 101 Abs. 5 S. 1 StPO der Einsicht entzogen werden. Die Untersuchungszweckgefährdung ist bewusst ausschließlich bei dem Einsichtsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten auch auf andere Strafverfahren gegen ihn oder Dritte bezogen. Spätestens mit dem Vermerk des Ermittlungsabschlusses ist dem Verteidiger eine Einsicht somit auch dann umfassend zu gewähren, wenn hierdurch der Untersuchungszweck von weiteren gegen denselben Beschuldigten oder gegen Dritte laufenden Ermittlungsverfahren gefährdet werden könnte. Es sollte jedoch eine in der Praxis eher selten aufkommende Fallkonstellation darstellen, in der die Einsicht in die Vorgänge zu einem Strafverfahren Anhaltspunkte zu weiteren gegen denselben Beschuldigten geführten Ermittlungsverfahren beinhalten, ohne dass die Verfahren gemeinsam angeklagt werden sollen. Dem Verteidiger wäre es zudem verwehrt, dritte Personen auf gegen sie laufende Ermittlungsverfahren oder gar diesbezüg-

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E. Fazit zum Einsichtsrecht

liche Aktenauszüge aufmerksam zu machen. Dem verteidigerlosen Beschuldigten käme oftmals § 258 Abs. 5 StGB zugute; der Verteidiger würde sich jedoch regelmäßig gem. § 258 Abs. 1 StGB strafbar machen und berufsrechtliche Konsequenzen zu erwarten haben. Die Differenzierung zwischen Verteidiger und verteidigerlosen Beschuldigten ist insgesamt also auch systemkonform. Eine Rückausnahme von § 147 Abs. 2 S. 1 StPO stellt § 147 Abs. 2 S. 2 StPO dar. Bei beantragter oder angeordneter Untersuchungshaft ist dem Verteidiger des ergriffenen/festgenommenen Beschuldigten umfassende Akteneinsicht zumindest in die wesentlichen Aktenbestandteile zu gewähren. Als unwesentliche Aktenbestandteile kommen mit Blick auf den hohen Gewährleistungsgehalt des verfassungsrechtlichen Fairnessgebotes, des Art. 103 Abs. 1 GG und der Art. 6 Abs. 1, 3, Art. 5 Abs. 4 EMRK lediglich die Vorgänge in Betracht, die im Zuge des „Anlassstrafverfahrens“ seit dessen Beginn bis zur Einleitung des „Hauptstrafverfahrens“ angefallen sind. Sofern das wesentliche Ermittlungs- oder Belastungsmaterial allerdings ausnahmsweise im Zuge des „Anlassstrafverfahrens“ entstanden ist, wäre die Vorlage der gesamten Akten, die seit Einleitung des „Anlassstrafverfahrens“ bis zur Einleitung des „Hauptstrafverfahrens“ angefallen sind, der Verteidigung zur Verfügung zu stellen. Die Einsicht ist grundsätzlich auch hierbei in den eigenen Räumlichkeiten des Verteidigers zu gewähren. Im Falle von papiernen Akten sind notfalls Aktendoppel zu fertigen, die dem Verteidiger zur Einsicht zu überlassen sind. Ausnahmsweise kann zur Vorbereitung auf den Vorführungstermin die Einsicht zur Verfahrensbeschleunigung in den Diensträumen gewährt werden. Sofern das Einsichtsgesuch belegbar missbräuchlich gestellt wird, kann die Einsicht in dem aufgezeigten Rahmen verwehrt werden. Zudem können der Einsicht des Verteidigers und verteidigerlosen Beschuldigten staatliche Geheimhaltungsgründe entgegenstehen. Die §§ 96, 110b Abs. 3 S. 3, 101 Abs. 2 S. 2 StPO i. V. m. § 101 Abs. 5 S. 1 StPO sind mit Blick auf die gesetzgeberische Intention, nach der auch Verschlusssachen der Einsicht nicht gänzlich entzogen sind, und im Lichte der verfassungs- und konventionsrechtlichen Gewährleistungen restriktiv anzuwenden. Sofern die Aktenbestandteile dennoch nicht der Verteidigung und dem Gericht zugänglich gemacht werden können, erfordern die hinter § 147 StPO stehenden Gewährleistungen möglichenfalls eine Schwärzung der unbedingt geheim zuhaltenden Aktenbestandteile und ggfs. eine (die Anonymität des Zeugen wahrende) audiovisuelle Zeugenvernehmung als Kompensation. Sollen Aktenbestandteile im Wege einer Sperrerklärung gänzlich geheim gehalten werden, so obliegt die letztverbindliche Entscheidung über die Geheimhaltung etwaiger Aktenbestandteile nach hiesiger Untersuchung in jedem Fall nicht der Strafverfolgungsbehörde bzw. der aktenführenden Stelle. Zunächst ist der Umstand, dass die Akten aufgrund einer Sperrerklärung – sei es aufgrund von staatlichen Geheimhaltungsinteressen oder aufgrund von Zeugenschutzaspekten – unvollständig sind, mit Blick auf den verfassungsrechtlich garantierten Grundsatz der Aktenwahrheit/-vollständigkeit und die übrigen Fairnessvorga-

E. Fazit zum Einsichtsrecht

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ben sowie Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 GG aktenkundig zu machen. Das hinter § 147 StPO stehende Verfassungs- und Konventionsrecht und Art. 19 Abs. 4 GG gebieten es, dass i. R. e. in-camera-Verfahrens ein an der Schuldfrage nicht beteiligtes Gericht die zurückzuhaltenden Aktenbestandteile sichtet. Nach Gelegenheit der Verteidigung zur Stellungnahme muss dieses darüber entscheiden, ob oder inwieweit das Geheimhaltungsinteresse insbesondere mit Blick auf den Gewährleistungsgehalt des § 147 StPO gerechtfertigt ist. In die StPO ist umgehend eine Regelung entsprechend § 99 Abs. 2 VwGO einzuführen, nach dem einem Zwischengericht spätestens mit den parallel gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegenden übrigen Akten die geheimzuhaltenden Akten zur gerichtlichen Überprüfung übergeben werden. Sofern die gesperrten Aktenteile nicht mehr in der Verfügungsgewalt der Anklagebehörde sind, weil es diese an die aktenführende Behörde zurückgeschickt hat, hat es das Gericht darauf hinzuweisen, welche Behörde die Sachleitungsbefugnis für die gesperrten Aktenteile innehat. In Fällen von beantragter/angeordneter Untersuchungshaft ist die Pflicht zur unverzüglichen Einleitung eines in-camera-Verfahrens einzuführen. Auch Zeugenschutzaspekte können dem Einsichtsrecht des Verteidigers und des verteidigerlosen Beschuldigten entgegenstehen. Das Gesetz eröffnet diese Möglichkeit in den §§ 68 Abs. 4 S. 4, 110b Abs. 3 StPO, 2 Abs. 3 S. 2 ZSHG. Aus Gründen der Verfahrensfairness sind hieran jedoch ebenfalls hohe Anforderungen zu stellen. Kompensatorisch ist zumindest ein entsprechendes in-cameraVerfahren zu fordern, in dem die Behördenentscheidung insbesondere hinsichtlich der angenommenen Gefährdungslage zu überprüfen ist. Die Einsichtnahme ist möglichenfalls nur zeitweilig und soweit wie unbedingt erforderlich zu verwehren. Bei fortdauernder Einsichtsverwehrung ist dieser Nachteil auf Seiten der Verteidigung durch eine Zeugenvernehmung unter Berücksichtigung des § 68 Abs. 2, 3 StPO auszugleichen. Die Vernehmung des Zeugen kann hilfsweise gem. § 247a Abs. 1 StPO (bzw. im Ermittlungsverfahren gem. § 168e StPO) durchgeführt werden. Der Beschleunigungsgrundsatz kann der Akteneinsicht i. d. R. nicht entgegengehalten werden. In wenigen Ausnahmekonstellationen kann die Einsicht zur Verfahrensbeschleunigung lediglich kurzzeitig zurückgestellt werden. Die Verwehrung von Einsicht oder der Übersendung/Mitgabe der Akten zur Einsicht zum Schutz von Persönlichkeitsrechten Dritter ist zulasten des Verteidigers, soweit die Sozial- und Privatsphäre betroffen ist, indes in keinem Fall zulässig. Zunächst sieht die StPO weder in § 147 Abs. 1 StPO, § 32f StPO noch an anderer Stelle eine derartige Einschränkungsmöglichkeit vor. Schutzwürdige Interessen Dritter können jedenfalls dem Wortlaut zufolge lediglich dem Einsichtsrecht des verteidigerlosen Beschuldigten entgegenstehen. In den Materialien zur Einführung des § 147 RStPO und der jüngsten Reform des Jahres 2018 wird deutlich, dass Persönlichkeitsrechte Dritter nach dem Willen des Gesetzgebers weder der Einsicht noch der Übersendung der Akten zur Einsicht entgegenstehen können. Dies wird auch an den jüngst eingeführten §§ 496 ff. StPO deutlich. Als besonders schützenswert i. S. d. § 32f Abs. 1, 2 StPO – wie nach dem Willen des

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E. Fazit zum Einsichtsrecht

Gesetzgebers etwa sog. Verschlusssachen – sind Aktenbestandteile nicht bereits deshalb, weil sie personenbezogene Daten von Dritten enthalten. Auch die schutzwürdigen Interessen Dritter i. S. v. § 147 Abs. 4 S. 1 StPO betreffen nach dem Willen des Gesetzgebers hinsichtlich des Persönlichkeitsrechtsschutzes lediglich die Intimsphäre. Wortlaut, Systematik, objektiver Gesetzeszweck und gesetzgeberischer Wille betreffend § 100a Abs. 1 StPO verdeutlichen, dass die Beeinträchtigung von Persönlichkeitsrechten Dritter bei der Abwägung, ob eine solche Maßnahme durchgeführt werden soll, zu berücksichtigen ist. Wenn man die Einsicht in Aktenbestandteile aufgrund des Persönlichkeitsrechtsschutzes verwehren wollte, obwohl die datenerhebende Maßnahme rechtmäßig war, entstünde ein Wertungswiderspruch zu § 147 StPO, der zu vermeiden ist. Unabhängig von der Rechtmäßigkeit der Ermittlungsmaßnahme kann das Persönlichkeitsrecht Dritter der Einsicht aus denselben Gründen, die einfachgesetzlich und verfassungs-/konventionsrechtlich einen umfassenden Aktenbegriff erfordern, nicht entgegenstehen. Der Schutz von Persönlichkeitsrechten Dritter kann somit der Einsichtnahme des Verteidigers in den eigenen Räumlichkeiten nicht und der Einsichtnahme des verteidigerlosen Beschuldigten nur bedingt entgegengehalten werden. Etwas anderes gilt lediglich für kernbereichsrelevante Daten. Sie sind gem. § 100d Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 2 Var. 1 StPO unverzüglich zu löschen. Dies ist verfassungs- und konventionsgemäß, darf jedoch nicht auf Informationsträger, die lediglich einem Beweisverwertungsverbot unterliegen, übertragen werden. Auch Informationsträger mit Bezug zu den §§ 174 ff. StGB oder vergleichbar intimem Inhalt sind dem Verteidiger ebenso wie sonstige Aktenbestandteile zur Verfügung zu stellen, soweit der Informationsgehalt Art. 1 Abs. 1 GG nicht berührt. Sie sind nicht wie kernbereichsrelevante Daten, sondern wie die übrigen, das Persönlichkeitsrecht Dritter tangierende Aktenbestandteile zu behandeln. Einsicht in kernbereichsrelevante Daten darf demgegenüber selbst in den Diensträumen nicht gewährt werden. Auch insoweit ist die Beschränkung der hinter § 147 StPO stehenden Gewährleistungen jedoch weitgehend zu kompensieren. Hierzu ist möglichenfalls eine Leeraufzeichnung aufzunehmen. Geboten und in jedem Fall möglich ist eine Dokumentation des groben Inhalts und der Anzahl der gelöschten Dateien. Die Dokumentationspflicht aus § 100d Abs. 2 S. 3 StPO ist entsprechend weit auszulegen. Als Kompensation bzw. Nachteilsausgleich für eine bestehende Informationslücke verbleibt nur noch, höhere Anforderungen an die Beweiswürdigung zu stellen. Einen Richter mit der vollständigen Erstauswertung zu betrauen, erscheint in Anbetracht der mittlerweile erheblichen Datenmengen, die durch Maßnahmen nach den §§ 100a ff. StPO erlangt werden, hingegen nicht (mehr) systemgerecht. Würde der Kernbereichsschutz (stärker) auf die Erhebungsebene verlagert werden, wäre eine Weitergabe an das Gericht zur Erstauswertung zwar verfassungsrechtlich zulässig. Erhobene Daten sollten im Ermittlungsverfahren jedoch allenfalls punktuell richterlich ausgewertet werden können. Wenn die Erhebung kernbereichsrelevanter Daten nahezu ausgeschlossen wird, verliert die Weiter-

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gabekompetenz indes ihren wesentlichen Sinn. Sofern eine Weitergabe kernbereichsrelevanter Daten entgegen der hiesigen Auffassung als verfassungsgemäß angesehen werden sollte und sofern man die Erstauswertung mitunter erheblicher Datenmengen einem Gericht oder Richter aufbürden wollte, würde die umfassende oder zumindest teilweise Weitergabe der erhobenen Daten zur gerichtlichen Überprüfung hingegen eine Kompensation der Verteidigungsbeschränkung darstellen. Sowohl der Annahme Bells, die gänzliche Verwehrung der Mitgabe von Beweisstückkopien oder Aktenbestandteile sei nur in außergewöhnlichen Fällen zulässig, als auch der Annahme, dies sei bei der Gefährdung von Leib und Leben anzunehmen und bei entgegenstehenden Interessen Dritter regelmäßig abzulehnen,1 kann in dieser Pauschalität damit nicht gefolgt werden. § 58a Abs. 3 S. 1 StPO verwehrt ausweislich des eindeutigen Wortlautes und der insoweit eindeutig in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Intention die Herausgabe einer Aufzeichnungskopie, wenn der betreffende Zeuge der Kopieüberlassung widerspricht. Da eine audiovisuelle Aufzeichnung der Zeugenvernehmung in vielerlei Fällen vorgenommen werden kann und die in der Zeugenvernehmung zu Tage tretenden Informationen oder das Verhalten der zu vernehmenden Person auch in den Fällen des § 58a Abs. 1 S. 2, 3 StPO regelmäßig nicht kernbereichsrelevant sein dürften, ist die Verfassungsmäßigkeit von § 58a Abs. 3 S. 1 StPO zu bezweifeln. Der hinter § 58a StPO stehende Zweck – einen möglichst schonenden Umgang mit besonders schutzwürdigen/geschädigten Personen und eine bestmögliche Wahrheitserforschung zu gewährleisten – wiegt schwer. Die Frage, ob diese Gesetzeszwecke es rechtfertigen, das Recht auf grundsätzlich umfassende Einsicht in die Akten davon abhängig zu machen, ob der Zeuge der Einsicht in diese Beweisstückkopie widerspricht, obwohl die hinter § 147 StPO stehenden Gewährleistungen schwerer wiegen als der Schutz der Sozial- und Privatsphäre, müsste nach hiesiger Untersuchung verneint werden. Persönlichkeitsrechte Dritter sollen der Einsicht jedenfalls des Verteidigers schließlich gerade nicht entgegenstehen, soweit die Intimsphäre nicht betroffen ist. Die Möglichkeit der Aufzeichnungsbesichtigung gem. § 58a Abs. 3 S. 2 StPO und die ersatzweise Überlassung einer Protokollübertragung stellen zwar einen Kompromiss dar. Die vielseitigen Konstellationen, die in den Anwendungsbereich des § 58a Abs. 1 StPO fallen, heben sich von sonstigen Beeinträchtigungen von Persönlichkeitsrechten Dritter jedoch nicht in einer Weise ab, die die Versagung einer Aufzeichnungskopie rechtfertigt. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die in den §§ 58a Abs. 2 S. 1, 2, 4–6, 32f Abs. 5 StPO normierten Verfahrensvorkehrungen. Digitale und papierne Aufzeichnungen von Zeugenvernehmungen dürfen von der Einsicht spätestens ab dem Ermittlungsabschluss nicht ausge-

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Bell, Akteneinsicht, S. 193.

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E. Fazit zum Einsichtsrecht

nommen werden, zumal sie mit den Aktenbestandteilen vergleichbar sind, die gem. § 147 Abs. 3 StPO in jeder Verfahrenslage eingesehen werden können.2 Abgesehen davon, dass für den Beschuldigten in diesem Zeitraum die Unschuldsvermutung gilt und der von der audiovisuell vernommenen Person ggfs. bekundete Sachverhalt erst noch festgestellt werden muss, ist der Verteidiger zudem Rechtspflegeorgan, dem ein Vertrauen zu gewissenhaftem Verhalten einzuräumen ist. Bereits deshalb ist von einem lauteren Umgang mit der Aufzeichnungskopie auszugehen.3 Zudem würde die Weitergabe der Aufzeichnungskopie – von den anwaltsgerichtlichen Folgen gem. §§ 113 ff. BRAO abgesehen – oftmals eine Strafbarkeit gem. § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB begründen,4 jedenfalls würde er sich bei zweckwidriger Verwendung der Aufzeichnungskopie regelmäßig gem. § 201a Abs. 2 StGB strafbar machen; ein Verstoß gegen § 201a Abs. 2 StGB kann immerhin mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren geahndet werden.5 Bei unsorgfältigem Aufbewahren der Aufzeichnungskopie wäre zudem eine entsprechende Strafbarkeit des Verteidigers wegen Unterlassens in Betracht zu ziehen. Insofern ist die Beschränkung der hinter § 147 StPO stehenden Gewährleistungen durch § 58a Abs. 3 S. 1 StPO nach hiesiger Auffassung nicht gerechtfertigt. Der hierin normierte Widerrufsvorbehalt sollte umgehend gestrichen werden. Dessen ungeachtet besteht ein entsprechender Widerrufsvorbehalt auch nicht für den Beschuldigten, dessen Vernehmung audiovisuell gem. § 136 Abs. 4 S. 1 StPO aufgezeichnet wurde, da § 136 Abs. 4 S. 3 bewusst6 lediglich auf § 58a Abs. 2 StPO verweist. Soweit der Gesetzgeber als sachlichen Grund für die Verwehrung einer Widerspruchsmöglichkeit anführt, der Beschuldigte habe – anders als der Zeuge – keine mit Ordnungsmitteln erzwingbare Aussagepflicht,7 setzt er gedanklich doch ebenfalls voraus, dass das Informationsinteresse innerhalb des Strafverfahrens bzw. Strafverfahrensrechts grundsätzlich höher wiegt als das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen.8 Dies muss in aller erster Linie jedoch für das Akteneinsichtsrecht zu Verteidigungszwecken gelten. 2

Vgl. hierzu auch LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 89. So allg. im Zshg. mit Videoaufzeichnungen auch LG Augsburg StraFo 2020, 150, 151. 4 So auch der Einwand von Wu HRRS 2018, 108, 114. 5 Eine Strafbarkeit gem. § 201a Abs. 1 Nr. 4 StGB wird regelmäßig daran scheitern, dass durch das Zugänglichmachen der Aufzeichnungskopie nicht der höchstpersönliche Lebensbereich des vernommenen Zeugen verletzt werden wird; eine Strafbarkeit gem. § 201 Abs. 1 Nr. 2 StGB scheidet auf dem Boden der h. M. bzw. der „monistischen“ Auslegungsvariante aus, da die Aufzeichnung auf der Grundlage von § 58a Abs. 1 StPO und damit nicht unbefugt hergestellt wurde, siehe hierzu nur MüKo-StGB/Graf, Bd. 4, § 201, Rn. 25 m. w. N. 6 BT-Drs. 18/11277, 26. 7 BT-Drs. 18/11277, 26. 8 Demgemäß geht der Gesetzgeber hierbei auch davon aus, dass der mit der audiovisuellen Aufzeichnung der Beschuldigtenvernehmung einhergehende Eingriff in das Persönlichkeitsrecht im Gegensatz zu dem Interesse an einer vollständigen Dokumentation des Vernehmungsinhaltes geringfügig ist und die Aufzeichnung aus Gründen des Persönlichkeitsrechtsschutzes vor der Weitergabe an Akteneinsichtsberechtigte mit einem Kopierschutz versehen werden kann, siehe BT-Drs. 18/11277, 25 f. 3

E. Fazit zum Einsichtsrecht

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Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse können der Einsicht des Verteidigers in den eigenen Räumlichkeiten nicht entgegengehalten werden. Dies ergibt sich ebenfalls aus den Gründen für die Zugrundelegung eines umfassenden Aktenbegriffs. Informationsträger mit dem Inhalt von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen stellen auch keine besonders schützenswerten Aktenbestandteile i. S. d. gesetzgeberischen Willens dar, die nur in den Diensträumen einzusehen sind. Das Gewicht des Betriebs- und Geschäftsgeheimnisses wird auch im materiellen Recht vergleichsweise gering bewertet. Eine Regelung zur äußerst zurückhaltenden Offenbarung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, wie sie etwa in § 30 VwVfG vorgesehen ist, ist in der StPO mithin bewusst nicht normiert. Die Offenbarung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen durch die Einsichtsgewährung an den Verteidiger steht mit der Verfassung und der EMRK im Einklang. Der Gesetzgeber erfasst Betriebs-/Geschäftsgeheimnisse als der Einsicht des verteidigerlosen Beschuldigten entgegenstehende überwiegende, schutzwürdige Interessen Dritter i. S. d. § 147 Abs. 4 S. 1 StPO. Dieser Aspekt kann demnach nur der Einsicht des verteidigerlosen Beschuldigten entgegengehalten werden. Den Fallgruppen TKÜ-Aufzeichnungskopien, Vorgänge mit konkretem Bezug zu den §§ 174 ff. StGB oder Vergleichbarem, Betriebs-/Geschäftsgeheimnisse und Steuergeheimnisse ist gemeinsam, dass die dem Verteidiger zur Verfügung zu stellenden Akteninhalte nach Verfahrensabschluss an die Staatsanwaltschaft grundsätzlich zurückzusenden oder im Einvernehmen mit dieser eigenhändig vom Verteidiger zu vernichten sind. Mit Ausnahme der Vorgänge, die Betriebs-, Geschäfts- oder Steuergeheimnisse beinhalten, hat eine Herausgabe vorbenannter Aktenbestandteile an den Mandanten ausnahmslos zu unterbleiben. Dies gründet auf der prinzipiell überdurchschnittlichen Sensibilität bzw. der Folgen, die mit einer etwaigen Kenntnisnahme durch unberechtigte Dritte einhergehen würde. Bei allen Vorgängen vorbenannter Art ist dem verteidigerlosen Beschuldigten die Einsichtnahme in den Diensträumen zu gewähren. Bei nicht besonders schutzbedürftigen Betriebs-/Geschäfts- oder Steuergeheimnissen kann dem verteidigerlosen Beschuldigten die Einsichtnahme ausnahmsweise auch in den eigenen Räumlichkeiten gewährt werden; es handelt sich hierbei um Fälle, in denen auch eine Herausgabe der Aktenbestandteile von dem Verteidiger an den Beschuldigten möglich wäre. Im Gegensatz zu TKÜ-Aufzeichnungen und intimen Vorgängen sind schließlich Konstellationen denkbar, in denen das Betriebs-, Geschäfts- oder Steuergeheimnis lediglich in einem Maße tangiert ist, das es zulässt, derartige Aktenbestandteile in die Verfügungsgewalt des Beschuldigten zu geben. Das Persönlichkeitsrecht ist bei Gesprächsaufzeichnungen oder Vorgängen mit konkretem Bezug zu den §§ 174 ff. StGB hingegen in jedem Fall in besonderem Maße betroffen. Vorgänge, die Betriebs-/Geschäfts- oder Steuergeheimnisse mit unterdurchschnittlichem Schutzbedürfnis beinhalten, müssten nach Verfahrensabschluss konsequenterweise auch nicht vom Verteidiger an die Staatsanwaltschaft zurückgesendet oder eigenhändig vernichtet werden. Sofern eine Einsichtnahme des verteidigerlosen Beschuldigten ausschließlich in den Diensträumen für eine effektive Verteidigungsvorbereitung nicht ausreichend ist, läge ein Fall der notwendigen Verteidigung vor.

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E. Fazit zum Einsichtsrecht

Die prozessuale Fürsorgepflicht erfordert es, die Verteidigung auf neue Aktenbestandteile, in die bislang noch nicht eingesehen werden konnte, unaufgefordert aufmerksam zu machen. Gleiches gilt für Aktenbestandteile, deren Einsicht bislang verwehrt wurde, sobald der Verwehrungsgrund entfällt. Letzteres ist in § 147 Abs. 6 S. 2 StPO normiert. Zudem sind die Aktenbestandteile und die übertragenen Ausgangsdokumente für eine ausreichende Zeit aufzubewahren bzw. zu speichern. Die mit dem Strafverfahren zusammenhängenden Informationsträger sollten dabei mindestens bis zum rechtskräftigen Verfahrensabschluss aufbewahrt bzw. gespeichert bleiben. Die prozessuale Fürsorgepflicht gebietet es im Einklang mit dem Willen des Gesetzgebers und dem hinter den Akteneinsichtsrechtsvorschriften stehenden Zweck zudem, dass die Akten in verständlicher Weise aufbereitet werden. Die Akten müssen insbesondere ausreichend chronologisch geordnet werden. Die Zuständigkeit zur Entscheidung über etwaige Akteneinsichtsgesuche bemisst sich nach § 147 Abs. 5 StPO.9 Hinsichtlich der Frage des Rechtsschutzes bzw. der in Betracht kommenden Rechtsbehelfe bei unvollständiger/verweigerter Akteneinsicht und bzgl. der gewährten Art der Akteneinsicht sei auf die Arbeiten insbesondere von Bahnsen,10 Jörke,11 Hiebl,12 M. Kuhn13 und auf die Kommentierung von Jahn14 und Gerson15 verwiesen.16 Hinsichtlich der ebenfalls kontrovers diskutierten Frage, ob die Staatsanwaltschaft die (Art und Weise der) Akteneinsichtsgewährung an die Verteidigung mit der Beschwerde angreifen kann,17 wird insbesondere auf die überzeugende, ablehnende Entscheidung des OLG Hamburg Bezug genommen.18

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Siehe hierzu nur LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 184 ff. m. w. N. Bahnsen, Akteneinsichtsrecht, S. 93 ff., 118 ff. m. w. N. 11 Jörke, Akteneinsicht, S. 86 ff. m. w. N. 12 Hiebl, Probleme, S. 161 ff. m. w. N. 13 M. Kuhn, Akteneinsicht Strafverfolgungsinteresse, S. 80 ff. m. w. N. 14 LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 198 ff. m. z. N. 15 LR-StPO/Gerson, Bd. 11, § 23 EGGVG, Rn. 98 ff. 16 Die Anfechtung der Art bzw. Form der Einsichtsgewährung ist gem. § 32f Abs. 3 StPO zwar grds. ausgeschlossen. Die gewährte Einsichtsform kann im Einzelfall jedoch eine faktische Einsichtsverwehrung darstellen, die der Anfechtung zugänglich sein kann, siehe LG Augsburg StraFo 2020, 150, 151; eingehend LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 199 m. w. N. 17 Siehe zum Meinungsstand: Wu HRRS 2018, 108, 118. 18 OLG Hamburg StV 2017, 160, 161 ff. m. w. N. auch zur Gegenauffassung; fortgeführt unter Bezugnahme auf u. a. § 32f Abs. 3 StPO: OLG Hamburg wistra 2018, 229, 229 f.; siehe auch OLG Saarbrücken NStZ 2019, 362, 363 f.; Wu HRRS 2018, 108, 119; so generell wohl auch BGH NStZ-RR 2019, 255; eingehend LR-StPO/Jahn, Bd. 4/2, § 147, Rn. 103 f. m. w. N. 10

Gesamtfazit

A. Zusammenfassung der Ergebnisse Der in den §§ 147, 32f StPO und § 199 Abs. 2 S. 2 StPO normierte Aktenbegriff wurde einfachgesetzlich und unter Berücksichtigung der einschlägigen verfassungs- und konventionsrechtlichen Gewährleistungen sowie des sekundären Europarechts untersucht. Der Umfang der Akten, die die Staatsanwaltschaft dem Gericht gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegen hat, und die Reichweite des Einsichtsrechts der Verteidigung in die Akten wurde ebenfalls vertieft untersucht. Nachfolgend werden die hierdurch gewonnenen Erkenntnisse abschließend zusammengefasst.

I. Aktenumfang Das dem Gericht und der Verteidigung zur Verfügung gestellte Informationsmaterial muss den Verlauf bzw. die Historie der Ermittlungen durch die im Zeitpunkt der Gewährung von Akteneinsicht bzw. der Anklageerhebung aktenführende Strafverfolgungsbehörde lückenlos darstellen. Dies umfasst – abgesehen von Handakten und innerdienstlichen Vorgängen – das gesamte Informationsmaterial, das im Zuge der betreffenden Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörde, die im Zeitpunkt der Einsichtsgewährung/Anklageerhebung die aktenführende Stelle ist, vorgelegen hat, indem sie dieses entweder erlangt oder selbst erstellt hat. Sämtliches Informationsmaterial, das sich bei etwaigen Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft i. S. d. § 152 Abs. 1 GVG angesammelt hat, steht der Staatsanwaltschaft als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“ im vorbenannten Sinne zur Verfügung. Auf der einen Seite bedingt das Erfordernis, dass die vorgelegten/einzusehenden Akten das staatsanwaltschaftlich geführte Verfahren wahrheitsgetreu bzw. vollständig abbilden, einen weiten Aktenbegriff. Auf der anderen Seite ist der Aktenbegriff mit Blick auf die das Verfahren führende Behörde begrenzt, was jedoch nicht mit der Frage zu verwechseln ist, ob es für die Qualifikation von Informationsträgern als Aktenbestandteil darauf ankommt, ob die Staatsanwaltschaft für einen zur Verfügung gestellten Vorgang die aktenführende Stelle ist. Ausreichend ist für die Einordnung als Aktenbestandteil, dass die in dem Strafverfahren die aktenführende Stelle darstellende Staatsanwaltschaft das Informationsmaterial zur Verfügung gestellt bekommen hat – wie etwa ein außerstrafprozessual angelegter, von der aktenführenden Behörde der Staatsanwalt-

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A. Zusammenfassung der Ergebnisse

schaft jedoch zur Verfügung gestellter Vorgang. In dem Zeitraum, zu dem ein mit der Sache betrauter Spruchkörper des Gerichts die aktenführende Stelle ist, ist der Aktenumfang entsprechend auf das Informationsmaterial begrenzt, das diesem Spruchkörper im Zuge des Verfahrensverlaufs – wiederum abgesehen von innerdienstlichen Vorgängen – zur Verfügung stand. Bei dem Erfordernis, die Verfahrenshistorie nachvollziehbar zu machen, geht es jedoch nicht nur um das Informationsmaterial, das der aktenführenden Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestanden hat bzw. steht und das sich insofern im Zuge des konkreten Ermittlungsverfahrens gegen den jeweiligen Beschuldigten angesammelt hat. Ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen dem Informationsmaterial, das der Staatsanwaltschaft zur Verfügung steht oder gestanden hat, und dem betreffenden Strafverfahren besteht vielmehr auch in Ansehung solchen Informationsmaterials, das im Zuge eines anderen Strafverfahrens angefallen ist, das der Anlass für die Einleitung des betreffenden, anschließenden Ermittlungsverfahren gewesen ist. Ersteres lässt sich „Anlassstrafverfahren“, Letzteres als „Hauptstrafverfahren“ bezeichnen. Ob das „Anlassstrafverfahren“ gegen denselben Beschuldigten, eine andere Person oder gegen einen unbekannten Beschuldigten geführt wird, ist hierbei nicht maßgebend. Die Akten des „Hauptstrafverfahrens“ sind dabei lediglich auf dasjenige Informationsmaterial des „Anlassstrafverfahrens“ zu erstrecken, das seit Beginn des „Anlassstrafverfahrens“ bis zur Einleitung des „Hauptstrafverfahrens“ angefallen ist. Denn die Informationsträger, die im weiteren Verlauf des „Anlassstrafverfahrens“, also zeitlich nach der Einleitung des „Hauptstrafverfahrens“, angefallen sind, sind nicht erforderlich, um die Historie des „Hauptstrafverfahrens“ nachvollziehbar zu machen. Sofern das mit der Sache befasste Gericht auch das restliche Informationsmaterial des „Anlassstrafverfahrens“ für die Eröffnungsentscheidung oder Tataufklärung für erforderlich hält, kann es diese im Einzelfall anfordern bzw. beiziehen. In diesem Fall würden die dem Gericht zur Verfügung gestellten weiteren Informationsträger zum Aktenbestandteil werden. Ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen dem betreffenden „Hauptstrafverfahren“ und einem gesonderten Strafverfahren, der es rechtfertigt, das Informationsmaterial zum gesonderten Strafverfahren als Aktenbestandteil in dem „Hauptstrafverfahren“ einzuordnen, ist auch dann anzunehmen, wenn das Informationsmaterial im Zuge eines anderen Strafverfahrens angefallen ist, der diesbezügliche Ermittlungsgegenstand jedoch derselbe ist wie derjenige des betreffenden Strafverfahrens. Denn in derartigen Fällen ist ein thematischer Zusammenhang zwischen dem Informationsmaterial und dem betreffenden Strafverfahren offensichtlich. Das Vorstehende wurde zu einer Definition abstrahiert, durch die einerseits dem erforderlichen weiten Begriffsverständnis Rechnung getragen wird und dem Rechtsanwender andererseits zugleich eine hinreichend bestimmte Definition des inhaltlichen/thematischen Zusammenhanges zur Verfügung gestellt wird. Hiernach gehört zu den einzusehenden/vorzulegenden Akten sämtliches Informationsmaterial, das der im Zeitpunkt der Einsichtsgewährung/Aktenvorlage aktenführenden Staatsanwaltschaft

I. Aktenumfang

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1. im Zuge des betreffenden Ermittlungsverfahrens seit dem Ermittlungsbeginn bis zum Ermittlungsabschluss (und in dem Fall, dass das Gericht zu einem Zeitpunkt die aktenführende Stelle war: einschließlich des Informationsmaterials, das dem mit der Sache befassten, aktenführenden Spruchkörper des Gerichts seit dem Verfahrensbeginn bis zum Verfahrensabschluss im Zuge des betreffenden Strafverfahrens) vorgelegen hat, 2. einschließlich des Informationsmaterials, das der aktenführenden Staatsanwaltschaft und ggfs. dem mit der Sache befassten, aktenführenden Spruchkörper des Gerichts im Zuge eines Strafverfahrens vorgelegen hat, das sich auf denselben Ermittlungsgegenstand wie das betreffende Strafverfahren bezieht, und 3. einschließlich des Informationsmaterials, das der aktenführenden Staatsanwaltschaft und ggfs. dem mit der Sache befassten, aktenführenden Spruchkörper des Gerichts im Zuge eines Strafverfahrens vorgelegen hat, das den Anlass für die Einleitung des betreffenden Ermittlungsverfahrens dargestellt hat („Anlassstrafverfahren“), wobei sich der Umfang auf dasjenige Informationsmaterial erstreckt, das der aktenführenden Staatsanwaltschaft und ggfs. dem mit der Sache befassten, aktenführenden Spruchkörper des Gerichts seit Beginn des vorausgegangenen „Anlassstrafverfahrens“ bis zur Einleitung des betreffenden Ermittlungsverfahrens vorgelegen hat. Alles hierüber hinausgehende Informationsmaterial kann vom Gericht im Wege der Amtsaufklärungspflicht angefordert bzw. beigezogen werden. In einem solchen Fall würde sich das Einsichtsrecht der Verteidigung auch auf dieses dem Gericht zur Verfügung gestellte Informationsmaterial beziehen. Ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen den Angeschuldigten bzw. Angeklagten weiter, ohne dass dem mit der Sache befassten Gericht als aktenführende Stelle das hierbei entstandene Informationsmaterial zur Verfügung gestellt wird, handelte es sich hierbei zwar nicht um Aktenbestandteile. Jedoch läge ein Verstoß gegen den Fairnessgrundsatz vor, wenn die Staatsanwaltschaft dem Gericht und der Verteidigung das hierbei entstandene Ermittlungsmaterial nicht vor dem Schluss der Beweisaufnahme zur Verfügung stellt. Sobald das Gericht diese Informationsträger erlangt hat, sind sie als Aktenbestandteile zu qualifizieren. Bei Handakten, die keine Aktenbestandteile darstellen, handelt es sich entweder um Aktenkopien oder um Informationsträger, die einen rein innerdienstlichen Bezug aufweisen und deren Kenntnisnahme nicht erforderlich ist, um den Ablauf des Verfahrens nachvollziehen zu können. Letzteres wird etwa bei einem innerbehördlichen Telefonnummernverzeichnis, in dem die Bürodurchwahl der dort ansässigen Staatsanwälte aufgeführt sind und die dem sachbearbeitenden Staatsanwalt im Laufe eines Ermittlungsverfahrens innerbehördlich zugeleitet worden ist, anzunehmen sein. In Betracht kommt beispielsweise auch eine während des Ermittlungsverfahrens eingesetzte Software. Ebenso zu behandeln sind Mitschriften des mit der Sache betrauten Gerichts oder der Staatsanwaltschaft, die als Gedächtnisstütze den Inhalt eines Hauptverhandlungstermins wiedergeben.

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A. Zusammenfassung der Ergebnisse

II. Akteneigenschaften und die Einordnung von digitalem Informationsmaterial Bei den Aktenbestandteilen handelt es sich (grundsätzlich) um das von der aktenführenden Stelle ursprünglich erstellte/erlangte und in diesem Sinne originale Informationsmaterial. Dieses originale Informationsmaterial ist in gleichem Umfang grundsätzlich sowohl dem Gericht gem. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegen als auch der Verteidigung gem. §§ 147 Abs. 1, 32f StPO zur Verfügung zu stellen. Ausnahmsweise ist das originale Informationsmaterial jedoch nicht vorzulegender oder einzusehender Aktenbestandteil: Zunächst sind der Verteidigung die Beweisstücke nicht im Original zu übersenden. Weiter erhalten die Verteidigung und auch das Gericht in bestimmten Fällen – worauf sogleich noch einmal näher eingegangen wird – von dem erlangten Datenmaterial lediglich eine Datenkopie. Ferner sind übertragene Ausgangsdokumente, die nicht zugleich als Beweismittel sichergestellt worden sind, weder dem Gericht vorzulegen noch der Verteidigung zur Verfügung zu stellen; ab dem Zeitpunkt ihrer Übertragung gem. § 32e Abs. 1 S. 1 StPO verlieren sie schließlich ihre Eigenschaft als Aktenbestandteil. Weiter handelt es sich bei den Akten grundsätzlich um Informationsträger. Diese Aktenbestandteile darstellenden Informationsträger zeichnen sich – in Abgrenzung zu sonstigen Informationsträgern, insbesondere Gegenständen – dadurch aus, dass sie transportierbar und komplikationslos sowie inhaltlich originalgetreu kopierfähig sind. Auch hiervon gibt es eine Ausnahme: Bei elektronischen Dokumenten i. S. d. §§ 32a f. StPO ergibt sich die Besonderheit, dass sie auf einem Informations- bzw. Datenträger der Strafverfolgungsbehörden oder Gerichte abgespeichert werden, auf denen sich weiteres Informationsmaterial befindet bzw. jedenfalls in aller Regel befinden wird, das mit dem jeweiligen Strafverfahren inhaltlich nicht zusammenhängt – wie etwa die Festplatte eines Computers. Gleiches gilt für sonstiges Datenmaterial, das auf Informationsträgern der aktenführenden Stelle gespeichert worden ist, auf denen sich hierneben aber auch verfahrensfremdes Informationsmaterial befindet. In diesen Fällen ist nicht der Informationsträger in Gänze, sondern es sind lediglich die mit dem Strafverfahren inhaltlich zusammenhängenden Daten oder Dateien Aktenbestandteil. Auch Beweisstücke i. S. d. § 147 Abs. 1 StPO sind Aktenbestandteile, die sich von den übrigen Aktenbestandteilen darin unterscheiden, dass bei einer Übersendung bzw. Herausgabe an die Verteidigung die abstrakte Gefahr eines Beweismittelverlustes bestünde. Bei ihnen besteht also das Bedürfnis nach einem besonderen Integritätsschutz. Sie sind der Verteidigung deshalb in inhaltlich originalgetreuer und als solche gekennzeichneter Kopie oder ggfs. als gem. § 32e Abs. 1 S. 2, Abs. 2 StPO inhaltlich originalgetreu übertragenes Dokument im Wege der Akteneinsicht zur Verfügung zu stellen. Eine erstellte Kopie bildet dann jedoch keinen Aktenbestandteil, sondern stellt lediglich einen AktenbestandteilsErsatz dar. Das übertragene Dokument ist demgegenüber originärer Aktenbe-

II. Akteneigenschaften und die Einordnung von digitalem Informationsmaterial 651

standteil. Dem Gericht sind die Beweisstücke – ebenso wie sonstige sachliche Beweismittel – im Gegensatz zur Verteidigung (grundsätzlich) im Original vorzulegen. Im Falle der Übertragung eines Ausgangsdokumentes gem. § 32e Abs. 1 S. 1 StPO verliert das Ausgangsdokument seine Eigenschaft als Aktenbestandteil; fortan ist lediglich das übertragene Dokument als Aktenbestandteil zu qualifizieren. Handelt es sich bei dem Ausgangsdokument zugleich um ein Beweisstück i. S. d. § 147 Abs. 1 StPO bzw. um ein als Beweismittel sichergestelltes Ausgangsdokument i. S. d. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO, verliert das Ausgangsdokument im Falle der Übertragung hingegen nicht seine Eigenschaft als Aktenbestandteil. Es ist dem Gericht deshalb unabhängig von einer Übertragung gem. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO ebenfalls vorzulegen. Ein Bedürfnis, eine inhaltlich originalgetreue Kopie zu erstellen, besteht für die Verteidigung demgegenüber nur dann, wenn das durch § 32e Abs. 1 S. 2 StPO eröffnete Ermessen nicht ausgeübt wird, sodass sich der Inhalt dieses Ausgangsdokumentes nicht in Form eines übertragenen Dokumentes in der Akte befindet. Digitales Informationsmaterial, wie etwa i. R. v. TKÜ-Maßnahmen erlangte Daten, ist insofern ebenfalls Aktenbestandteil, und zwar das ursprünglich erlangte bzw. originale Datenmaterial. Aktenbestandteil ist mithin das Originalbzw. sog. Rohdatenmaterial. Ist der aktenführenden Stelle ein Informationsträger zugeleitet worden, auf welchem sich ausschließlich die mit dem jeweiligen Strafverfahren inhaltlich zusammenhängenden Daten befinden, ist dieser Informations- bzw. Datenträger in Gänze Aktenbestandteil und im Falle einer bei der Herausgabe anzunehmenden Beweismittelverlustgefahr ist er zugleich Beweisstück i. S. d. § 147 Abs. 1 StPO, sodass dieser Datenträger der Verteidigung lediglich in Kopie oder als übertragenes Dokument i. S. d. § 32e Abs. 1 S. 2 StPO zur Verfügung zu stellen ist. Dem Gericht ist ein solcher Informationsträger demgegenüber im Original vorzulegen. Ist das Datenmaterial auf einem Informationsträger der aktenführenden Stelle abgespeichert worden, auf dem sich (in aller Regel) auch verfahrensfremdes Informationsmaterial befindet, so ist lediglich das verfahrensgegenständliche Datenmaterial selbst Aktenbestandteil und kann ebenfalls ein Beweisstück darstellen, wenn mit der Herausgabe genau dieses Datenmaterials die Gefahr eines Beweismittelverlustes einherginge. In diesem Fall hat die Unterscheidung zwischen dem Datenmaterial, das „normaler“ Aktenbestandteil ist, und jenem, das auch die besondere Eigenschaft als Beweisstück aufweist, keine praktische Bedeutung, da der Datenträger ohnehin weder dem Gericht noch der Verteidigung auszuhändigen, sondern lediglich eine Kopie des Datenmaterials zur Verfügung zu stellen ist. Von dem Datenmaterial, das sich auf einem Informations- bzw. Datenträger befindet, auf welchem (regelmäßig) auch verfahrensfremde Daten gespeichert sind, ist also auch dem Gericht genau genommen lediglich eine Kopie des Datenmaterials vorzulegen – gleich, ob es sich um „normale“ Aktenbestandteile oder ob es sich zugleich um Beweisstücke i. S. d. § 147 Abs. 1 StPO handelt. Bei Berücksichtigung von mittlerweile etablierten und gängigen IT-forensischen Standards erlangt das Gericht und erlangt auch die Verteidigung von solchem

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A. Zusammenfassung der Ergebnisse

Datenmaterial jedoch eine 1:1-Kopie und damit zumindest faktisch das originale Datenmaterial. Da sich das Datenmaterial durch einen Zugriff auf die Daten verändern kann – und regelmäßig verändern wird –, ist von dem erlangten Datenmaterial unverzüglich eine sog. IT-forensische Duplikation durch Verwendung entsprechender IT-forensischer Software und eines sog. Writeblockers anzufertigen. Das Datenmaterial wird hierdurch quasi „eingefroren“ und inhaltsgleich kopiert. Dies entspricht letztlich auch der gesetzgeberischen Absicht bzw. dem hinter den §§ 147, 199 Abs. 2 S. 2 StPO stehenden Zweck sowie den einschlägigen verfassungs- und konventionsrechtlichen Gewährleistungen, die unverfälschte Aktenvollständigkeit erfordern. Eine anschließende Bearbeitung dieses Datenmaterials durch die Strafverfolgungsbehörden kann mit hiervon erstellten Sicherheits-/Arbeitskopien erfolgen. Anschließend können sich das Gericht und die Verteidigung von der zur Verfügung gestellten 1:1-Kopie, die erforderlichenfalls in die entsprechende Aktenform zu übertragen ist, ebenfalls Arbeitskopien erstellen und an diesem Datenmaterial Bearbeitungen vornehmen, ohne die originären Aktenbestandteile zu verändern. Aus Gründen des Grundsatzes der Aktenvollständigkeit und des einschlägigen Verfassungs- und Konventionsrechts ist die Anwendung derartiger Duplikationsverfahren erforderlich, da es sich bei dem im weiteren Verlauf des Verfahrens zur Verfügung gestellten Datenmaterial andernfalls nicht mehr um das ursprünglich erlangte (Roh-)Datenmaterial, das Aktenbestandteil ist, handelt. Das angewandte Duplikationsverfahren ist analog § 32e Abs. 3 S. 1 StPO zu dokumentieren. Hiervon zu unterscheiden ist die Frage, ob es über die Anwendung einer ITforensischen Duplikation und der Dokumentation des angewandten Übertragungsverfahrens hinaus auch eines Beleges dafür bedarf, dass das letztlich dem Gericht und der Verteidigung zur Verfügung gestellte Datenmaterial 1:1 dem ursprünglich erlangten Datenmaterial entspricht. Aus Gründen des Grundsatzes der Aktenvollständigkeit wäre ein über die Dokumentation des angewandten Übertragungsverfahrens hinausgehender Beleg dafür, dass die Akte vollständig bzw. unverfälscht ist, an und für sich nicht erforderlich. Soll das kopierte Datenmaterial hingegen als Beweismittel fungieren, ist das Original- bzw. Rohdatenmaterial und die IT-forensische Duplikation des Original- bzw. Rohdatenmaterials aus beweisrechtlichen Gründen jedoch mit Hilfe eines kryptographischen Verfahrens vorzunehmen, das es ermöglicht, die Integrität und Authentizität der dem Gericht zur Verfügung gestellten Datenmaterial-Kopie zweifelsfrei zu belegen. Nach bisherigem IT-forensischen Standard eignet sich hierfür das Versehen des ursprünglichen und kopierten Datenmaterials mit einem sog. HashWert. Eine Pflicht, die vorgenannten Duplikationsmaßstäbe zu berücksichtigen, gilt unabhängig davon, ob das Datenmaterial auf einem Informationsträger gespeichert ist, auf dem sich ausschließlich mit dem Strafverfahren inhaltlich zusammenhängende Daten befinden – und der demzufolge in Gänze Aktenbestandteil ist – oder ob auf dem Datenträger (also dem Server oder der Festplatte der

III. Der Umfang des Einsichtsrechts

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aktenführenden Stelle) auch verfahrensfremdes Informationsmaterial gespeichert ist, sodass nur das Datenmaterial selbst als Aktenbestandteil zu qualifizieren ist. Mit der IT-forensischen Software ist es technisch ebenfalls möglich, von einem Datenträger lediglich einen ausgewählten Teil 1:1 zu kopieren. Eine Kopie unter Einhaltung der IT-forensischen Standards kann ebenfalls in Teile aufgespalten und separat abgespeichert werden, falls der Verteidigung zeitweise nur ein Teil der Akten zur Verfügung gestellt werden soll (§ 147 Abs. 2 S. 1 StPO).

III. Der Umfang des Einsichtsrechts Das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers folgt aus § 147 Abs. 1 StPO und umfasst i. d. R. die gesamten Akten i. S. d. §§ 147 Abs. 1, 199 Abs. 2 S. 2 StPO. Die Art und Weise der Gewährung von Akteneinsicht wird für elektronisch geführte Akten in § 32f Abs. 1 StPO und für die papiern geführten Akten in § 32f Abs. 2 StPO näher ausgestaltet. Die Beweisstücke können gem. § 147 Abs. 1 StPO besichtigt werden. Bis zum Vermerk des Ermittlungsabschlusses kann die Einsicht in die Akten und die Besichtigung der amtlich verwahrten Beweisstücke versagt werden, um den Untersuchungszweck nicht zu gefährden, § 147 Abs. 2 S. 1 StPO. In den Fällen des § 147 Abs. 2 S. 2 StPO besteht wiederum ein grundsätzlich umfassendes Einsichtsrecht. Nicht anzuwenden ist § 147 Abs. 2 S. 1 StPO auf gem. § 147 Abs. 3 StPO privilegierte Aktenbestandteile. Einsichtnahme i. S. d. §§ 147, 32f StPO meint dabei ein eigenständiges und ungestörtes Aktenstudium, welches im Gegensatz zur Beweisstückbesichtigung in den eigenen Räumlichkeiten des Verteidigers (bzw. im Fall des § 147 Abs. 4 StPO in jenen des Beschuldigten) stattfindet. Lediglich bei besonders schutzwürdigen Aktenbestandteilen, wie sog. Verschlusssachen, ist es gerechtfertigt, dem Verteidiger die Aktendurchsicht ausschließlich in den Diensträumen zu gewähren. Von anderen Behörden gesperrte Aktenteile, die der Staatsanwaltschaft im Zuge des Ermittlungsverfahrens zeitweise zur Verfügung gestellt wurden, können vor der Verteidigung lediglich unter bestimmten Voraussetzungen verborgen gehalten werden. Sofern eine Herausgabe an die Verteidigung und ggfs. an das Gericht behördlicherseits verweigert wird, die Aktenteile also gem. § 96 StPO gesperrt werden, hat hierüber ein nicht mit der Sache betrautes Gericht i. R. e. sog. in-camera-Verfahrens zu entscheiden. Sofern die Herausgabeverweigerung gerichtlich für rechtmäßig erachtet wird, ist die hiermit einhergehende Einschränkung des Akteneinsichtsrechts weitestgehend zu kompensieren. Diese vom EGMR für zwingend erforderlich gehaltenen Maßstäbe müssen in der StPO umgehend normiert werden. Entsprechende Einschränkungen des Einsichtsrechts können sich ausnahmsweise auch aus Gründen des Zeugenschutzes ergeben. Auch hierbei ist es jedoch erforderlich, dass die Zurückhaltung derartiger Aktenbestandteile innerhalb eines in-camera-Verfahrens für rechtmäßig erklärt wird.

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A. Zusammenfassung der Ergebnisse

Die insbesondere im Kontext von TKÜ-Maßnahmen kontrovers diskutierte Frage, ob Persönlichkeitsrechte Dritter dem Einsichtsrecht der Verteidigung entgegenstehen können, ist grundsätzlich zu verneinen. Dies gilt sowohl hinsichtlich des Einsichtsrechts des Verteidigers gem. § 147 Abs. 1 StPO als auch hinsichtlich desjenigen des verteidigerlosen Beschuldigten gem. § 147 Abs. 4 StPO. Aus diesem Grund ist auch von einer Verfassungswidrigkeit des § 58a Abs. 3 S. 1 StPO auszugehen, in dem die Überlassung einer Aufzeichnungskopie davon abhängig gemacht wird, ob der Zeuge hiermit einverstanden ist. Den Kernbereich bzw. die Intimsphäre betreffende Aktenbestandteile können aufgrund deren absoluten Schutzes jedoch nicht eingesehen werden. Die Übersendung von derartigem Informationsmaterial an die Verteidigung würde einen rechtswidrigen Eingriff in Art. 1 Abs. 1 GG darstellen. Die Kompetenz zur Weitergabe auch kernbereichsrelevanter Daten in § 100d Abs. 3 S. 2 Var. 2 StPO ist demgemäß als verfassungswidrig anzusehen. Zu beachten ist weiter, dass der Verteidiger ihm zur Verfügung gestellte TKÜAufzeichnungen aufgrund ihrer prinzipiell besonderen Sensibilität nicht an den Mandanten herausgeben darf. Nach rechtskräftigem Verfahrensabschluss sind die TKÜ-Aufzeichnungen vom Verteidiger an die Staatsanwaltschaft zurückzusenden oder mit ihrem Einverständnis eigenhändig zu vernichten. Dem verteidigerlosen Beschuldigten wäre die Einsicht in die TKÜ-Aufzeichnungen entsprechend in den Diensträumen zu gewähren. Vorstehendes gilt entsprechend bei intimen, kernbereichsnahen Aktenbestandteilen. Eine Pflicht zur Rückgabe der Aktenbestandteile an die Staatsanwaltschaft oder eine einvernehmliche Löschung besteht grundsätzlich auch bei Aktenbestandteilen, die das Betriebs-, Geschäfts- oder Steuergeheimnis Dritter tangieren; ob eine Überlassung an den Beschuldigten bzw. Mandanten erfolgen darf, ist dabei einzelfallabhängig.

B. Ausblick Der Aktenbegriff und der Umfang des Einsichtsrechts sind ausgiebig untersucht worden und es ist eine klar abgrenzbare Definition des Aktenbegriffs entwickelt worden. Im Rahmen dessen fand auch eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Standpunkten der jeweiligen Meinungslager bzw. der insoweit vorgebrachten Argumente statt. Insofern besteht große Hoffnung darauf, dass sich insbesondere die Judikatur künftig der herausgearbeiteten Definition des Aktenbegriffs und den übrigen Ergebnissen der vorliegenden Arbeit anschließt. Zudem sollte der Gesetzgeber an den hier angesprochenen Stellen Reformüberlegungen anstellen. Auch die verwaltungsinterne Vorschrift Nr. 111 Abs. 5 RiStBV sollte umformuliert werden, um Missverständnissen entgegenzuwirken. Ferner sollte die Pflicht zur Einhaltung IT-forensischer Standards bei der Erstellung von Datenkopien ausdrücklich normiert werden. Wünschenswert ist zudem eine Legaldefinition des Aktenbegriffs und eine eindeutigere Regelung des Einsichtsrechts insbesondere für digitales Informationsmaterial. Die immense Bedeutung der Vorlage des vollständigen Ermittlungsmaterials an das Gericht und die Verteidigung belegt eindrücklich der Verfahrensgang in Sachen Carmen Kampa.1 Der Fall wurde vor mehr als 40 Jahren am Landgericht Bremen verhandelt. Die sich dort stellende Kernproblematik besteht bei dem bislang von der Rechtsprechung vertretenen Standpunkt heute nach wie vor, sodass sich die dortigen Geschehnisse jederzeit wiederholen könnten. Aus diesem Grund soll abschließend an den wesentlichen Verfahrensgang erinnert werden, der sich wie folgt gestaltete: Im Laufe des Ermittlungsverfahrens gaben verschiedene Zeugen Beschreibungen zu dem Täter ab, der eine Frau vergewaltigt und getötet hatte.2 Man ging vielen Hinweisen nach und verdächtigte unterschiedliche Personen, sodass sich im Laufe des Ermittlungsverfahrens 1.020 Spurenakten ansammelten. Die Ermittlungen gegen die Beschuldigten wurden nach und nach eingestellt. So auch die Ermittlungen gegen Herrn H., wobei das hierzu angesammelte Informationsmaterial in der Spurenakte 59 abgelegt wurde.3

1 Siehe zur soweit ersichtlich nicht veröffentlichen Entscheidung und dem diesbzgl. Verfahrensverlauf: Dünnebier StV 1981, 504, 504. 2 Hannover, Reden vor Gericht, S. 85 f. 3 Zum Vorstehenden: Hannover, Reden vor Gericht, S. 86 f.

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B. Ausblick

Nachdem die Ermittlungen zunächst ins Stocken gerieten, wurde eine weitere Person, Herr B., der Tat verdächtigt. Mehrere Zeugen gaben an, Herrn B. am Tattag in der Nähe des Tatortes gesehen zu haben. Zudem sprachen weitere Indizien für eine Täterschaft des Herrn B. Er bestritt jedoch den Tatvorwurf.4 Herr B. wurde angeklagt und schlussendlich wegen Mordes in Tateinheit mit Vergewaltigung unter Berücksichtigung einer nicht ausschließbaren verminderten Schuldfähigkeit zu einer Freiheitsstrafe von 12 Jahren und 3 Monaten verurteilt.5 Sein damaliger Verteidiger bewertete das Urteil als an und für sich „revisionssicher“ begründet. Jedoch stellte sich zufällig heraus, dass die Bestellung der Schöffen fehlerhaft war, was wiederum zu einer fehlerhaften, das heißt rechtswidrigen Besetzung des Gerichts führte, sodass das Revisionsgericht das Urteil auf die hierauf gerichtete Rüge aufhob und die Sache an das Landgericht zurückverwies.6 Im Anschluss an die Verurteilung von Herrn B. meldete sich eine Frau bei seinem Verteidiger, die belastende Angaben zu dem ehemals Beschuldigten H. machte. Zudem berichtete eine weitere Person dem Verteidiger davon, in der Gerichtskantine mitbekommen zu haben, wie ein Staatsanwalt über eine von der Kriminalpolizei weggelegte „Spurenakte 59“ berichtete. Diese Spurenakte wurde dem ursprünglichen Tatsachengericht nicht vorgelegt; die Staatsanwaltschaft gab später an, dass die Kriminalpolizei diesen Vorgang auch ihr nicht weitergeleitet hatte.7 Dem Tatsachengericht, das die Sache nach Zurückverweisung verhandelte, lag diese Spurenakte vor, aus der sich Belastungsmaterial ergab, das für eine Täterschaft des Herrn H. und damit gegen eine solche des Angeklagten B. sprach. Auf der Grundlage des nunmehr vorliegenden Informationsmaterials wurde Herr H. im Gegensatz zum vorherigen Verfahren als Zeuge geladen und in der Hauptverhandlung umfassend zu den Geschehnissen und seinen vorausgegangenen Angaben bei der Polizei befragt. Das Gericht sprach Herrn B. letztlich frei, da das Tatgericht mit dem nunmehr vorliegenden Informationsmaterial betreffend Herrn H. und seinen Angaben in der Hauptverhandlung nicht mehr von der Täterschaft des Herrn B. überzeugt war. Für das Tatsachengericht blieb unklar, ob Herr B. oder Herr H. der Täter gewesen ist.8 Demgemäß wurde der Alternativtäter Herr H. im Nachhinein nicht angeklagt und der Fall wurde zu einem „Cold Case“. Man rollte ihn im Jahr 2011 neu auf. Die Ermittlungen kamen zu dem Ergebnis, dass die Tat weder von Herrn B. noch von Herrn H., sondern von einer ganz anderen Person begangen worden sei. Auch gegen sie wurde damals ermittelt; das diesbezügliche Informationsmaterial

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Zum Vorstehenden: Hannover, Reden vor Gericht, S. 87 ff. Hannover, Reden vor Gericht, S. 89; https://de.wikipedia.org/wiki/Mordfall Carmen K ampa; letztes Abrufdatum: 20.01.2023. 6 Hannover, Reden vor Gericht, S. 90. 7 Zum Vorstehenden: Hannover, Reden vor Gericht, S. 90. 8 Zum Vorstehenden: Hannover, Reden vor Gericht, S. 90 f., 93–106. 5

B. Ausblick

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wurde von der Kriminalpolizei in der Spurenakte 135 abgelegt. Zu diesem Zeitpunkt war diese Person bereits verstorben.9 Herr B. hätte eine langjährige Haftstrafe zu Unrecht verbüßen müssen, weil die von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Akten nicht das gesamte Informationsmaterial, das ihr zur Verfügung gestanden hat, darstellten. Herr B. hatte im wahrsten Sinne des Wortes unglaubliches Glück, dass das Gericht falsch besetzt gewesen ist und im Anschluss an seine Verurteilung seinem Verteidiger zum einen belastende Angaben Herrn H. betreffend zugetragen wurden und zum anderen – dem Zufall geschuldet – von einer weggelegten Spurenakte 59 berichtet wurde. Ohne die Angaben Herrn H. betreffend und die Kenntnis von einer nicht vorgelegten Spurenakte wäre Herr B. mangels anderer Tatverdächtiger wohlmöglich erneut zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Die tatrichterlichen Feststellungen zur Täterschaft hätten sich insbesondere mit Blick auf das revisionsrechtliche Rekonstruktionsverbot10 vermutlich schwer angreifen lassen. Hätte man den hier vertretenen Aktenbegriff zugrunde gelegt, nach dem unter anderem die Spurenakten 59 und 135 dem Gericht und der Verteidigung hätten vorgelegt werden müssen, hätte es keiner Glücksmomente bedurft, um Herrn B. bzw. seinen Verteidiger in die Lage zu versetzen, sich effektiv gegen den Anklagevorwurf zu verteidigen bzw. um dem Gericht zu ermöglichen, den Anklagegegenstand eigenständig und auf einer ausreichenden Informationsgrundlage aufzuklären. Es darf daher angenommen werden, dass es eine Dunkelziffer an Fehlurteilen gibt, zu denen es nur deshalb gekommen ist oder nur deshalb kommen konnte, weil die Staatsanwaltschaft auf dem Boden des formellen Aktenbegriffs lediglich „das den Angeschuldigten konkret Betreffende“ bzw. das „aus Sicht der Staatsanwaltschaft oder rein objektiv Verfahrensrelevante“ dem Gericht und der Verteidigung zur Verfügung stellt. Ohne eine Anpassung des in den §§ 199 Abs. 2 S. 2, 147 Abs. 1 StPO normierten Aktenbegriffs an die entwickelte Definition wird diese Dunkelziffer weiter ansteigen – dies wäre unbefriedigend.

9 Zum Vorstehenden: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/der-dritte-mann-a-3dca83e 0-0002-0001-0000-000166864736; letztes Abrufdatum: 20.01.2023. 10 Eingehend hierzu etwa Gerhold ZStW 133 (2021), 466, 468 ff. m. w. N.

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Sachregister Additiver Grundrechtseingriff  606 f., 610 Akkusationsprinzip  250 f., 294, 386, 477, 488 Akten – Aktenaufbereitung  362, 367, 635 – Aktenaufbewahrung  184, 197, 199 f., 357, 359 f., 442, 478, 604, 634 f., 644 – Aktenbegriff  97–138, 474–518 – Akteneigenschaften  200–210, 474–487 – Akteneinsicht 521–644 – Akteneinsichtsportal  306, 589 – Akteneinsichtsrechts-Beschluss  557 f., 564 – Aktenführung  513–515, 529, 635 – Aktenführungszuständigkeit 268–282 – Aktenkopie  185–188, 478-486, 509–518, 527–533 – Aktenschwärzung  555, 560, 638 – Aktensperrung  553–566, 569 – Aktenumfang 487–518 – Aktenwahrheit-/vollständigkeit 252– 258, 495 f. – Beiakten  229 f., 232, 494, 505 – Definition  492–500 – Elektronische  37–39, 150–152, 339–377 – Entstehung eines Einsichtsrechts  15–20 – Entwicklung des Einsichtsrechts  29–41 – Handakten  196, 322, 384, 490–492, 508 f. – Papierakten 15–36 Akustische Überwachung außerhalb von Wohnraum 579 Akustische Wohnraumüberwachung  579, 603–608, 612 f. Allgemeines Persönlichkeitsrecht  570–627 – Sozial- und Privatsphäre  570–598 – Intimsphäre 598–615 Anfechtungsausschluss  370–372, 644

Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen siehe MiStra Appellationsverfahren 15 Artikel 10-Gesetz  581 Audiovisuelle Aufzeichnung  153–188 Ausgangsdokument  151, 193 f., 199 f., 210–216, 353–360, 477–480, 508, 527–533 Außerstrafprozessuale Vorgänge  268–282 Aussonderungsbefugnis 230–232 Beschleunigungsgrundsatz  75, 407, 418–420, 435–437, 549–552 Betriebs-/Geschäftsgeheimnisse 628–633 Beweisantragsrecht 408–412 Beweisgegenstand  189 f., 203 f., 476 Beweismittel  189–194, 210–218, 255–257 Beweisstück – Begriffsauslegung 188–200 – Besichtigung 527–533 – Definitionsansatz  200–210, 475 f. – Kopie  475 f., 527–533 – Meinungsstand  97–138, 507 f. Beweisverwertbarkeit  255, 615–618 Bezugssanktion  290 f. BKA 279 BKAG-Entscheidung 608–612 Blockchain 485 BND 275 Berufsordnung für Rechtsanwälte siehe BORA BORA  187, 218, 380, 621 Borgers-Entscheidung  449, 453, 455, 463 BRAO  169, 187, 296, 298, 333, 348, 489, 582, 591, 642 Bundesamt für Verfassungsschutz  273–275 Bundeskriminalamt siehe BKA Bundesnachrichtendienst siehe BND Bundespolizei  276 f.

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Sachregister

Bundesrechtsanwaltsordnung siehe BRAO Büroreform 37 Calumnieneid 17 Court of cassation  439 f. Datenduplikation  484–487, 515, 518, 529, 652 Datenintegrität-/authentizität  226, 348, 353, 356 f., 483–487, 513–518 Datenschutzrecht – Doppeltürenmodell  269, 276 – Dritter  75 f., 570–627 – DSGVO 92 – RL (EU) 2016/680  92 f., 303 f., 369 f., 457–459, 472, 489 f. Disadvantage vis-à-vis his opponent  430, 438 f., 446, 467 Dombo Beheer B. V.-Entscheidung  430, 438, 466 Dowsett-Entscheidung  441 f., 465 Dreifachverurteilung Deutschlands  448 f., 465, 538 Echtzeit-Überwachung siehe Live-Überwachung Edwards u. Lewis-Entscheidung  441, 444, 465 Edwards-Entscheidung  190, 441, 465 Eingriffskumulation siehe Eingriffsvertiefung Eingriffsvertiefung  585 f., 607–612 Einheit der Rechtsordnung  472, 619 f. Elektronisches Dokument  150 f., 348–353, 480 f., 509 f. EncroChat 128 Ermittlungsgeheimnis  74, 414, 534–536 Ermittlungsverfahren – Gegenstand  251 f., 300 f. – Überprüfungsumfang 247–250 EKMR 442 EMRK – Art. 5 EMRK  447–450, 537–549 – Art. 6 EMRK  83–92, 428–447 – Autonome Auslegung  85, 89 – Berücksichtigungspflicht  80–83, 427 f. – Gesamtbetrachtungsdoktrin 471 – Konventionsverletzung 455–457

– Umsetzungsvorgaben 451–455 EuGH 262 Europäische Kommission für Menschenrechte siehe EKMR Europäische Menschenrechtskonvention siehe EMRK Europäischer Gerichtshof siehe EuGH Ex parte-Verfahren  562 Fairnessgebot  45–56, 83–92, 389–400, 428–450 – Einschränkbarkeit  67–73, 90 f., 450 f. – Kollidierende Verfassungsgüter  73–77 Fair trial siehe Fairnessgebot Falk-Entscheidung  443, 450, 455, 465, 531, 540 Fernmeldegeheimnis  586 f. Fotografie  205 f., 256 f. Foucher-Entscheidung  87, 445, 536 Funktionentrennung  263–268, 421 Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege  73–75, 534–552 Fürsorgepflicht  54–56, 634 f. Gebot der Widerspruchsfreiheit  582–584, 619 Geheimhaltungsgründe  76 f. – Private 566–570 – Staatliche 553–566 Gehörsanspruch  57–64, 400–402 Generalaktenverfügung 305 Germanischer Rechtsgang  15 f. Gewaltenteilung  263 f., 425 Grundrecht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme  614 Grundrechtsausübungsverzicht  616 f. Grundrechtseingriff 606–608 Grundrechtskombination 67–73 Grundrechtsverzicht  616 f. Hash-Wert  485, 516–518 Imaging  481, 484 f., 514 f. In-camera-Verfahren  557–565, 569 Informationelles Trennungsprinzip  274 Innozenz III.  16–19 Inquisitionsverfahren  16–20, 266 f., 299

Sachregister Instruktionsmaxime  411, 425, 460 Inter partes-Verfahren  562 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte  83, 92, 472 Intimsphäre 598–621 IT-Forensik  482–487, 513–518, 532 f. Judicial body that has full jurisdiction  434, 561 f. Justizaktenaufbewahrungsgesetz 304 Kernbereich privater Lebensgestaltung siehe Intimsphäre Kognition – Gegenstand 282–284 – Kognitionspflicht  287–290, 392 f., 411, 420, 433–436, 488 Kombinations-Grundrecht siehe Grundrechtskombination Lamy-Entscheidung  447–449, 465, 537 Landesaktenordnungen  305 f. Laska u. Lika-Entscheidung  438, 455, 464 Laterankonzil 18 Leeraufzeichnung  605 f., 612, 627, 640 Lex Emminger  29, 316 f. Live-Überwachung  608 f. Magistratische Protokollierung  15 Margin of appreciation  452 Matanović-Entscheidung  443–445, 466, 563, 592, 594 f. Menschenwürde siehe Intimsphäre Messengerdienst 578 Militärischer Abschirmdienst  274 f. Missbrauchsverbot  75, 552 MiStra 305 Mühlenteichtheorie  255, 393, 616 Nachrichtendienstliche Behörden  273–275 Negativmitteilungspflicht  424 No-go-area 608 Öcalan-Entscheidung  86–88, 428–430, 466 Offizialprinzip  258 f., 268 Online-Durchsuchung  533, 578 f., 600, 607–615

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Original-Informationsträger 185–200, 216–224, 474 Österreichischer Verfassungsgerichtshof 431 Principle of equality of arms  430, 438–440, 464 Procureur général  439 f., 453 Prozessuale Fürsorgepflicht siehe Fürsorgepflicht Prozessualer Tatbegriff  282–284 Public interest immunity  562 Quellen-TKÜ  533, 577 f., 607 Recht auf rechtliches Gehör siehe Gehörsanspruch Recht der Europäischen Union  92 f., 457 f. Rechtsbehelf  329 f., 417, 546, 644 Rechtsschutz  330, 408–420, 550, 563, 602–606, 644 Rechtsschutzgarantie  64 f., 389–393, 406 f., 433, 455 Richterband 612 Richtervorbehalt  264, 602 Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren siehe RiStBV Richtlinienkonforme Auslegung  459, 472, 489 f. Right of an accused to effective participation  88, 437 RiStBV  304 f., 618 f. Rohdaten  128, 482–487, 513–518, 529, 533 Rook-Entscheidung  443 f., 455, 466, 593–597 Schriftgutaufbewahrungsverordnungen  305 Schriftliches Protokoll  186–188 Schweizerisches Bundesgericht  429 Sexualdelikts-Vorgänge 618–622 Skype 578 Sozial- und Privatsphäre  570–598 Sperrerklärung 553–566 Spurenakten-Entscheidung  403–406, 591 Staatsanwaltschaft – Aktenvorlagepflicht  233–268 – Entstehung 263

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Sachregister

– Stellung und Funktion  258–268 – Weisungsgebundenheit  261 f. Steuergeheimnis  622 f. Strafakteneinsichtsverordnung  305 f. Strengbeweisverfahren  190, 211, 381 Stufenaufbaulehre  187, 307 Sufficiently counterbalance  91, 468, 556, Tagebuch-Entscheidung  599, 615 Tatbegriff siehe Prozessualer Tatbegriff Teil-Image 485 Telekommunikationsüberwachungsaufzeichnung siehe TKÜ-Aufzeichnungen, Quellen-TKÜ TKÜ-Aufzeichnungen  481 f., 510–518, 571–598, 600–615 Tonaufzeichnung  232 f. Untersuchungszweckgefährdung 534–552 Verfahrensherrschaft 251 Verfolgungswille  290 f. Verschlusssachen  198, 523 f. Verteidiger – Stellung und Funktion  294–301, 395–400 – Verteidigerprivileg 621

Verwertungsverbot siehe Beweisverwertbarkeit VoIP 578 Volkszählungsurteil  229, 331, 333 Waffengleichheitsgrundsatz  50–54, 88, 393–400, 437–441 Watchdog of procedural regularity  432, 469 Well-established case-law  467 Wertungswiderspruch siehe Gebot der Widerspruchsfreiheit WhatsApp 578 Widmungsakt 226–232 Widerspruchsfreiheit siehe Gebot der Widerspruchsfreiheit Willkürverbot 420–425 Writeblocker  484, 487, 514–516 Zeugenschutz siehe Geheimhaltungsgründe, Private Zeugenschutz-Vorgänge  269–273, 567–570 Zollfahndungsdienst  278 f. Zuführungsakt 224–230 Zweckbindungsgrundsatz  329, 331 f., 366, 607 Zwischenverfahren 245–251