Corporate Litigation [2 ed.] 9783814558448

Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft oder zwischen Gesellschaftern können sich über Jahre hinziehen und alle Beteil

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Corporate Litigation [2 ed.]
 9783814558448

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Servatius (Hrsg.) Corporate Litigation

RWS-Skript 385

Corporate Litigation 2., neu bearbeitete Auflage

von Professor Dr. Wolfgang Servatius, Regensburg

Bearbeitet von Prof. Dr. Georg Annuß, Dr. Stephan Brandes, Dr. Christian Dolff, Dr. Bernd Egbers, Dr. Erik Ehmann, Dr. Thomas Gädtke, Jörn Gendner, Dr. Dorothee Gierth, Dr. Philipp Göz, Prof. Dr. Helge Großerichter, Dr. Nicco Hahn, Dr. Stephan Kolmann, Dr. Ferdinand Kruis, Sacha Lürken, Dr. Markus Rieder, Dr. Luidger Röckrath, Dr. Alexander Steinbrecher, Dr. Christian Stretz, Dr. Ingo Theusinger, Dr. Michael L. Ultsch, Dr. Daniel Wiegand, Dr. Thomas Zwissler

RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG ˜ Köln

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© 2021 RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG Postfach 27 01 25, 50508 Köln E-Mail: [email protected], Internet: http://www.rws-verlag.de Das vorliegende Werk ist in all seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der Übersetzung, des Vortrags, der Reproduktion, der Vervielfältigung auf fotomechanischem oder anderen Wegen und der Speicherung in elektronischen Medien. Satz und Datenverarbeitung: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt Druck und Verarbeitung: Hundt Druck GmbH, Köln

Einführung Corporate Litigation versteht sich als Zusammenspiel von Gesellschafts- und Verfahrensrecht in der gerichtlichen Praxis einschließlich Schiedsverfahren sowie bei anderen Arten der alternativen Streitbeilegung. Die im Mittelpunkt stehenden Streitigkeiten betreffen nicht allein die Binnenorganisation von Gesellschaften, sondern auch die Organverhältnisse der Geschäftsleiter, das Transaktionsgeschäft sowie kapitalmarkt- und insolvenzrechtliche Themen. Das vorliegende Buch, welches nunmehr in der 2. Auflage vorliegt, soll der Praxis eine Hilfe sein, für Probleme in diesen Bereichen sachgerechte Lösungen zu finden und derartige Konflikte durch entsprechende Gestaltungen zu vermeiden. Im 1. Teil legt das Werk einen Schwerpunkt im Bereich des Beschlussmängelrechts bei AG und GmbH. Die rechtliche Behandlung von Streitigkeiten innerhalb von GmbH & Co. KG und allgemein im Recht der Personengesellschaften ist gerade für den Mittelstand bedeutsam, so dass auch hierauf ein besonderes Augenmerk gelegt wird. Eine Abrundung findet dieser Themenkomplex durch die Behandlung von Gesellschafterstreitigkeiten in geschlossenen Fonds, was infolge der Einführung des KAGB eine besondere Bedeutung aufweist. Die IPR-rechtlichen Implikationen des internationalen Gesellschafterstreits finden schließlich ebenso eine ausführliche Beachtung wie die rechtlichen Vorgaben und praktischen Gepflogenheiten bei Schiedsverfahren. Der 2. Teil widmet sich Fragen des Organverhältnisses von Geschäftsführern und Vorständen. Im Mittelpunkt stehen die Anstellungsverträge und die gerichtliche Geltendmachung der Organhaftung bei GmbH und AG, einschließlich der kapitalmarktrechtlichen Bezüge des KapMuG. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der Erläuterung der D&O-Versicherung bei Haftungsklagen und Schiedsverfahren. Im 3. Teil werden Streitigkeiten im Bereich von M&A-Transaktionen behandelt. Spezielle Akzente sind Post Merger-Litigation, nachträgliche Kaufpreisanpassungen sowie Private Equity. Auch hier stehen wiederum die sehr bedeutsamen Schiedsverfahren im Mittelpunkt, einschließlich moderner Ausprägungen, wie Fast-track-Verfahren. Abgerundet wird dies durch eine Erläuterung weiterer ADR-Verfahren, wie Mediation, Schiedsgutachten, Early Neutral Evaluations, Dispute Boards und Mini-Trials. Der 4. Teil beinhaltet schließlich Themen aus den Bereichen Restrukturierung und Insolvenz. Erläutert werden die Geschäftsleiterhaftung im Vorfeld der Insolvenz und bei Insolvenzreife sowie die jeweilige Geltendmachung. Ferner wird dargelegt, wie Verletzungen des Gebots der Kapitalerhaltung bei GmbH und AG geltend gemacht werden, sowie Grundprobleme der Insolvenzanfechtung bei Kapitalgesellschaften. Schließlich widmet sich dieser Teil auch der rechtlichen Behandlung von Streitigkeiten im Rahmen des SchVG.

V

Einführung

Die Fokussierung des Buchs ist auf die Bedürfnisse der Anwalts- und (Schieds-)Gerichtspraxis gerichtet. Gleichwohl wurden dogmatischen Problemen die gebotene Aufmerksamkeit geschenkt und Streitfragen akzentuiert herausgearbeitet. Die Ordnung des Inhalts erfolgt einmal klassisch anhand der jeweiligen rechtlichen Grundlagen, insbesondere beim Beschlussmängelrecht und der Organhaftung. Daneben sind Teile des Buchs aber auch nach Sachgesichtspunkten strukturiert, um das Zusammenspiel verschiedener Regelungsbereiche eng auf die jeweilige praktische Handhabung abzustimmen. Dies betrifft etwa Schieds- und andere ADR-Verfahren, M&A-Streitigkeiten sowie Fragen der Private Equity-Finanzierung und D&O-Versicherung. Dass es hierdurch zu gewissen Doppelungen rechtlicher Fragestellungen und Aspekte kommt, ließ sich nicht vermeiden. Es wurde im Hinblick auf die Geschlossenheit der jeweiligen Themenkomplexe hingenommen, um ausufernde Verweise zu vermeiden und der Eigenständigkeit der jeweiligen Bearbeitung größten Raum zu geben. Als Autoren konnte ich namhafte und arrivierte Wirtschaftsanwälte gewinnen. Ihnen gebührt sehr großer Respekt, das Werk nach der erfolgreichen Erstauflage in den zuletzt schwierigen Zeiten zu aktualisieren und neueren Entwicklungen Rechnung zu tragen. Ich möchte ihnen hierfür ganz herzlich danken. Ebenso danke ich dem RWS-Verlag für die freundliche Aufnahme dieses Werks in sein Programm und die stets angenehme Zusammenarbeit.

Regensburg, im Juni 2021

VI

Wolfgang Servatius

Inhaltsübersicht Rn.

Seite

Einführung ...................................................................................................... V Inhaltsverzeichnis ...................................................................................... XIII Bearbeiterverzeichnis ........................................................................... XXXIX Literaturverzeichnis ................................................................................. XLIII Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation ....................... 1 ........ 1 A. Beschlussmängelklagen bei AG und GmbH ............................... 1 ........ 1 I. Beschlussmängelklagen in der AG ....................................... 1 ........ 1 II. Beschlussmängelklage GmbH .......................................... 143 ...... 34 B. Gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten bei der GmbH & Co. KG ........................................................ I. Allgemeines ....................................................................... II. Streitigkeiten bei der Gründung ....................................... III. Streitigkeiten bei Änderung der Beteiligungsverhältnisse ........................................................................ IV. Streitigkeiten um Gesellschafterbeschlüsse ..................... V. Streitigkeiten um Gesellschafterrechte und -pflichten ....... VI. Streitigkeiten um die Geschäftsführung .......................... VII. Streitigkeiten bei Beendigung ...........................................

215 ...... 59 215 ...... 59 219 ...... 61 225 231 236 250 273

...... ...... ...... ...... ......

62 64 65 70 75

C. Gesellschafterstreitigkeiten bei Personengesellschaften ........ I. Streitigkeiten um Gesellschafterbeschlüsse ..................... II. Streitigkeiten um Gesellschafterrechte und -pflichten ....... III. Streitigkeiten über die Geschäftsführung ........................ IV. Streitigkeiten bei Beendigung ...........................................

275 275 301 340 360

...... 76 ...... 76 ...... 84 ...... 95 .... 101

D. Gesellschafterstreitigkeiten bei geschlossenen Fonds ............ I. Einführung ......................................................................... II. Überblick zu den Rechtsformen geschlossener Fonds ...... III. Prozessuale Grundsätze .................................................... IV. Streitigkeiten über Auskunfts- und Kontrollrechte ........ V. Beschlussmängelstreitigkeiten .......................................... VI. Geschäftsführungsmaßnahmen ........................................ VII. Entzug der Geschäftsführungsbefugnis geschäftsführender Gesellschafter, Ausschluss geschäftsführender Gesellschafter ................................... VIII. Organhaftungsstreitigkeiten ..........................................

381 381 385 409 419 428 472

.... .... .... .... .... .... ....

106 106 107 113 115 117 125

477 .... 126 481 .... 127

VII

Inhaltsübersicht Rn.

Seite

IX. Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Ausscheiden von Gesellschaftern ..................................... 482 .... 127 X. Einstweiliger Rechtsschutz ............................................... 486 .... 128 E. Der Gerichtsstand im internationalen Gesellschafterstreit ... I. Einführung ......................................................................... II. Das europäische System der internationalen Zuständigkeit für Gesellschafterstreitigkeiten ................ III. Internationale Zuständigkeit für Gesellschafterstreitigkeiten außerhalb des Anwendungsbereichs des europäischen Zuständigkeitssystems ............................... IV. Folgerungen aus dem Zuständigkeitsregime für Prozessführung und Beratung .......................................... F.

Schiedsverfahren ....................................................................... I. Einführung ......................................................................... II. Schiedsvereinbarung .......................................................... III. Konstituierung des Schiedsgerichts ................................. IV. Durchführung des Schiedsverfahrens .............................. V. Schiedsspruch und andere Formen der Erledigung ......... VI. Einstweiliger Rechtsschutz ............................................... VII. Sonderprobleme ................................................................

487 .... 128 487 .... 128 494 .... 132

542 .... 162 545 .... 163 553 554 568 587 597 616 625 628

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169 169 176 184 187 193 196 197

Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis, einschließlich Kapitalmarkthaftung und D & O-Versicherung .......................................................... 636 .... 201 A. Organstellung und Dienstverhältnis ....................................... I. Grundlegung ...................................................................... II. Die Organstellung ............................................................. III. Der Anstellungsvertrag ..................................................... IV. Prozessuales .......................................................................

636 636 642 652 678

.... .... .... .... ....

201 201 204 206 215

B. Zur Praxis des Organhaftungsprozesses im Aktienrecht ....... I. Einleitung .......................................................................... II. Innenhaftung des Vorstands ............................................ III. Außenhaftung des Vorstands ........................................... IV. Haftung des Aufsichtsrats ................................................

682 682 688 749 753

.... .... .... .... ....

216 216 219 245 247

C. Organhaftung GmbH: Die Innenhaftung des GmbH-Geschäftsführers ......................................................... I. Konkretisierung: Gegenstand der Darstellung ................ II. Haftung nach § 43 Abs. 2 GmbHG ................................. III. Geltendmachung und Strategie ........................................

757 760 762 850

.... .... .... ....

248 250 252 297

D. KapitalmarkthaftungBeteiligtenstellungen und Bindungswirkungen in Musterverfahren ................................................ 902 .... 320 I. Einführung und Problembeschreibung ............................ 902 .... 320

VIII

Inhaltsübersicht Rn.

II. III. IV. V.

Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz ........................... Allgemeine Musterfeststellungsklage .............................. Beispielsfall ........................................................................ Vorbemerkung I: Das Verhältnis der beiden Verfahrensarten ................................................................. VI. Vorbemerkung II: Örtliche Zuständigkeit für Individualverfahren und Musterverfahren ................. VII. Gesetzliche Beteiligte und deren Bindung nach Einleitung eines Musterverfahrens nach dem KapMuG ....... VIII. Gesetzliche Beteiligte und deren Bindung im Fall eines allgemeinen Musterverfahrens .................... IX. Insbesondere: Einbeziehung Dritter und außenstehender Rechtsverhältnisse inein Musterverfahren nach dem KapMuG .............................. E. D&O-Streitigkeiten ............................................................... I. Einleitung ........................................................................ II. Die Struktur des D&O-Streits ....................................... III. Perspektive der Gesellschaft: Drei Wege der Anspruchsdurchsetzung ................................................. IV. D&O-Streitigkeiten als Schiedsverfahren? ................... V. Die Organisation der Anspruchsabwehr durch den D&O-Versicherer .........................................

Seite

904 .... 320 912 .... 323 914 .... 324 924 .... 326 928 .... 327 936 .... 330 977 .... 345

992 .... 350

1005 .... 354 1005 .... 354 1006 .... 355 1012 .... 358 1041 .... 370 1050 .... 374

Teil 3 M&A-Streitigkeiten ......................................................... 1063 .... 381 A. Schiedsverfahren ..................................................................... I. Staatliche Gerichtsbarkeit vs. Schiedsverfahren ............ II. Schiedsvereinbarung ........................................................ III. Konstituierung des Schiedsgerichts ............................... IV. Durchführung des Schiedsverfahrens ............................ V. Schiedsspruch und andere Formen der Erledigung ....... VI. Einstweiliger Rechtsschutz ............................................. VII. Sonderkonstellationen ....................................................

1063 1064 1068 1079 1092 1123 1124 1125

.... .... .... .... .... .... .... ....

381 381 383 388 391 398 398 399

B.

1146 1146 1152 1173

.... .... .... ....

405 405 407 414

Post Merger Litigation ........................................................... I. Vorbemerkung ................................................................ II. Claims Management ....................................................... III. Klageweise Geltendmachung durch den Käufer ............ IV. Geltendmachung von Ansprüchen durch die Zielgesellschaft .......................................................... V. Verjährung ....................................................................... VI. Vergleich ..........................................................................

1208 .... 424 1212 .... 426 1222 .... 428

C. Kaufpreisanpassungsstreitigkeiten bei M&A-Transaktionen ........................................................ 1234 .... 430 I. Einführung und Abgrenzung zu Post Merger Litigation ............................................... 1234 .... 430 IX

Inhaltsübersicht Rn.

Seite

II. Typische Kaufpreisanpassungsregeln (Kaufpreisformeln) ......................................................... 1237 .... 432 III. Verfahren zur Ermittlung von Kaufpreisanpassungen ..................................................................... 1263 .... 442 D. Private Equity ......................................................................... I. Einleitung ........................................................................ II. Zusammenfassung ........................................................... III. Spannungsverhältnis Darlehensgeber – Darlehensnehmer ............................................................ IV. Rechtsfolge: Kündigung gemäß Clause 28.20 SFA ....... V. Umgang mit Prozessrisiken und Verfahren im Rahmen von Akquisitionsfinanzierungen in der Praxis .............. E. Moderne ADR-Verfahren – Corporate Dispute Management ........................................... I. Corporate Litigation aus Unternehmenssicht: wenige Lichtblicke, viele Schattenseiten ........................ II. Möglichkeiten und Grenzen der Mediation und anderer ADR-Verfahren .......................................... III. Praxis der ADR-Verfahren zur Beilegung von gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten ........................... IV. Ausblick in die Zukunft: Von Corporate Litigation zu Corporate Dispute Management .............

1287 .... 450 1287 .... 450 1308 .... 455 1313 .... 456 1347 .... 464 1351 .... 465 1366 .... 468 1366 .... 468 1381 .... 471 1388 .... 473 1470 .... 501

Teil 4 Restrukturierung .............................................................. 1478 .... 505 A. Organhaftung in Krise und Insolvenz ................................... I. Einleitung ........................................................................ II. Einführung in die zentralen einschlägigen Anspruchsgrundlagen ..................................................... III. Praktische und taktische Überlegungen ........................

1478 .... 505 1478 .... 505 1481 .... 505 1539 .... 522

B. Streitigkeiten im Bereich Kapitalerhaltung ........................... I. Rechtliche Grundlagen ................................................... II. Typische Fallgestaltungen .............................................. III. Typische Situationen, in denen Verletzungen der Kapitalerhaltungsvorschriften geltend gemacht werden ............................................................... IV. Durchsetzung von Ansprüchen .....................................

1569 .... 530 1569 .... 530 1587 .... 535

C. Insolvenzanfechtung .............................................................. I. Grundlagen und Bedeutung der Insolvenzanfechtung .... II. Ausgewählte „corporate“-Anfechtungskonstellationen ...................................................................... III. Der Anfechtungsprozess ................................................

1637 .... 545 1637 .... 545

X

1612 .... 540 1613 .... 541

1666 .... 553 1679 .... 558

Inhaltsübersicht Rn.

D. Schuldverschreibungsgesetz (SchVG) ................................... I. Einleitung ........................................................................ II. Rechtsschutz im Zusammenhang mit Einberufung einer Gläubigerversammlung/Abstimmung ohne Versammlung ................................................................... III. Rechtsschutz gegen Beschlüsse der Gläubigerversammlung ................................................... IV. Zahlungsklage aus Anleihe .............................................

Seite

1712 .... 567 1712 .... 567

1745 .... 577 1772 .... 582 1810 .... 591

Stichwortverzeichnis ................................................................................... 599

XI

Inhaltsverzeichnis Rn.

Seite

Einführung ...................................................................................................... V Inhaltsübersicht ........................................................................................... VII Bearbeiterverzeichnis ........................................................................... XXXIX Literaturverzeichnis ................................................................................. XLIII Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation ....................... 1 ........ 1 A. Beschlussmängelklagen bei AG und GmbH ............................... 1 I. Beschlussmängelklagen in der AG ....................................... 1 1. Überblick zu den Beschlussmängelklagen in der AG ....................................................................... 1 a) Klagearten .............................................................. 2 b) Rechtsschutzbedürfnis ......................................... 5 c) Freigabeverfahren und einstweiliger Rechtsschutz ......................................................... 7 d) Bekanntmachungspflichten und Ad-hoc-Publizität ................................................. 9 2. Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage ......................... 11 a) Parteien und andere Verfahrensbeteiligte .......... 11 aa) Kläger ........................................................... 11 (1) Aktionäre als Kläger .......................... 12 (2) Vorstand als Kläger ........................... 14 (3) Einzelne Organmitglieder als Kläger ............................................ 15 bb) Beklagte ........................................................ 16 (1) Gesellschaft als Beklagte ................... 16 (2) Vertretung der Gesellschaft .............. 17 cc) Nebenintervention ...................................... 18 b) Klageerhebung, Anträge und Verfahren ............ 21 aa) Klageerhebung und Anträge ....................... 21 (1) Zuständigkeit der Gerichte ............... 22 (2) Anträge .............................................. 23 (3) Zustellung .......................................... 26 bb) Verfahrensgrundsätze ................................. 27 (1) Dispositionsmaxime .......................... 27 (2) Darlegungs- und Beweislast .............. 28 cc) Verfahrensbeendigung ................................ 32 (1) Urteil .................................................. 33

........ 1 ........ 1 ........ 1 ........ 1 ........ 2 ........ 2 ........ ........ ........ ........ ........ ........

3 3 3 3 3 3

........ ........ ........ ........ ........ ........ ........ ........ ........ ........ ........ ........ ........ ........ ........

4 4 4 4 4 5 5 5 6 6 7 7 7 8 8

XIII

Inhaltsverzeichnis Rn.

c)

XIV

Anerkenntnis und Klagerücknahme ................................................. 36 (3) Vergleich ............................................ 38 dd) Kosten und Streitwert ................................. 39 (1) Kosten ................................................ 39 (2) Streitwertfestsetzung ........................ 40 ee) Rechtsmittel ................................................. 44 Begründetheit ...................................................... 45 aa) Befugnis zur Erhebung der Anfechtungsund/oder Nichtigkeitsklage ........................ 46 (1) Befugnis zur Erhebung der Nichtigkeitsklage ............................... 47 (2) Befugnis zur Erhebung einer Anfechtungsklage (Anfechtungsbefugnis) ............................................ 48 (a) Aktionäre ........................................... 49 (aa) In der Hauptversammlung erschienene Aktionäre (§ 245 Nr. 1 AktG) ......... 53 (bb) In der Hauptversammlung nicht erschienene Aktionäre (§ 245 Nr. 2 AktG) ........................... 55 (cc) Geltendmachung von Verstößen gegen §§ 243 Abs. 2 AktG, 245 Nr. 3 AktG ................................. 59 (b) Vorstand als Organ (§ 245 Nr. 4 AktG) ........................... 61 (c) Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat (§ 245 Nr. 5 AktG) ...... 62 bb) Fristen .......................................................... 63 (1) Klagefrist zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage ............................... 63 (2) Anfechtungsfrist bei der Anfechtungsklage .............................. 64 cc) Nichtigkeitsgründe ..................................... 67 (1) Einberufungsmängel (§ 241 Nr. 1 AktG) ........................... 68 (2) Beurkundungsmängel (§ 241 Nr. 2 AktG) ........................... 69 (3) Inhaltsmängel (§ 241 Nr. 3 AktG) ..... 70 (4) Sittenwidrigkeit (§ 241 Nr. 4 AktG) ........................... 71 (5) Nichtigkeitsgründe aus anderen aktienrechtlichen Vorschriften ......... 72 (a) Verweisungsfälle des § 241 AktG ..... 73

Seite

(2)

........ 9 ...... 10 ...... 10 ...... 10 ...... 10 ...... 11 ...... 11 ...... 11 ...... 12

...... 12 ...... 12 ...... 13

...... 13

...... 15 ...... 15 ...... 15 ...... 16 ...... 16 ...... 16 ...... 16 ...... 16 ...... 17 ...... 17 ...... 17 ...... 17 ...... 17

Inhaltsverzeichnis Rn.

3. 4. 5.

6.

Besondere Nichtigkeitsgründe (§§ 250 Abs. 1, 253 Abs. 1 und 256 AktG) .................................. 75 (6) Kasuistik der Nichtigkeitsgründe ..... 76 (7) Beseitigung von Nichtigkeitsgründen durch Heilung .................................... 79 dd) Anfechtungsgründe ..................................... 83 (1) Besondere Anfechtungsgründe (§§ 251 Abs. 1 Satz 2, 254 Abs. 1 und 255 Abs. 2 AktG) ....................... 84 (2) Verstöße gegen Gesetz oder Satzung (§ 243 Abs. 1 AktG), Verfolgung von Sondervorteilen (§ 243 Abs. 2 AktG) ......................... 85 (3) Kasuistik der Anfechtungsgründe .... 88 (4) Anfechtungsausschlüsse ................... 91 (a) Gesetzliche Ausschlusstatbestände .... 92 (b) Anfechtungsausschluss bei fehlender Relevanz von Verfahrensfehlern ....... 97 (5) Heilung und Wegfall von Anfechtungsgründen durch Bestätigungsbeschluss ....................... 98 Allgemeine Feststellungsklage .................................. 101 Positive Beschlussfeststellungsklage ........................ 103 Freigabeverfahren ...................................................... 106 a) Parteien und andere Verfahrensbeteiligte ........ 109 b) Verfahrenseinleitung, Anträge und Verfahren ........................................................... 112 aa) Verfahrenseinleitung und Anträge ........... 112 bb) Verfahrensgrundsätze ............................... 115 (1) Verfahrensvorschriften ................... 115 (2) Darlegungs- und Beweislast ............ 116 (3) Verfahrensbeendigung .................... 117 (4) Rechtswirkungen der gerichtlichen Entscheidung ................................... 118 (a) Positive Freigabeentscheidung ....... 119 (b) Ablehnender Beschluss ................... 120 cc) Kosten und Streitwert ............................... 121 dd) Rechtsmittel ............................................... 123 ee) Schadensersatzanspruch der Antragsgegner ........................................... 124 c) Begründetheit .................................................... 125 Einstweiliger Rechtsschutz ....................................... 127 a) Verhinderung mangelhafter Beschlussfassung ............................................... 128

Seite

(b)

...... 18 ...... 18 ...... 19 ...... 20

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XV

Inhaltsverzeichnis Rn.

Verhinderung der Durchführung mangelhafter Beschlüsse ................................... c) Durchführung zu Unrecht abgelehnter Beschlüsse .......................................................... 7. Spruchverfahren ......................................................... a) Parteien und andere Verfahrensbeteiligte ........ aa) Antragsteller .............................................. bb) Antragsgegner ........................................... cc) Gemeinsamer Vertreter ............................. b) Antragstellung, Anträge und Verfahren .......... aa) Antragstellung und Anträge ..................... bb) Verfahrensgrundsätze ............................... c) Begründetheit .................................................... 8. Schiedsfähigkeit von Beschlussmängelstreitigkeiten .............................................................. II. Beschlussmängelklage GmbH .......................................... 1. Einleitung ................................................................... a) Klageformen ...................................................... b) Existenz eines Beschlusses der Gesellschafterversammlung .............................. 2. Beschlussmängelklage analog §§ 241 ff. AktG ........ a) Anwendungsbereich ......................................... b) Verfahrensrechtliche Regelungen .................... aa) Gemeinsame Regelungen für Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagen .......... (1) Entsprechende Geltung aktienrechtlicher Grundsätze ......... (2) Abweichungen zum Aktienrecht ... bb) Spezifische Fragen zur Anfechtbarkeit .... (1) Klagefrist .......................................... (2) Anfechtungsbefugnis ...................... c) Materiell-rechtliche Regelungen ...................... aa) Nichtigkeitsklage ....................................... (1) Übersicht über die Fälle der Nichtigkeit ....................................... (2) Entsprechende Anwendung von § 241 Nr. 1 – 6 AktG ................ (3) Weitere Fälle der Nichtigkeit ......... (4) Heilung der Nichtigkeit .................. bb) Anfechtungsklage ...................................... (1) Maßgebende Normen ..................... (a) Verstöße gegen Gesetze .................. (b) Verstöße gegen Gesellschaftsvertrag ..............................................

Seite

b)

XVI

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42 45 45 46 46 46

180 ...... 46

Inhaltsverzeichnis Rn.

3.

4.

Verstoß gegen Gesellschaftervereinbarung .................................... (2) Anfechtung wegen Verfahrensfehlern von Beschlüssen .................. (a) Ladungsfehler .................................. (b) Fehler bei der Durchführung .......... (3) Anfechtung wegen inhaltlichen Fehlern ............................................. (a) Verletzung der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht .......................... (b) Verletzung des Gleichbehandlungsgebots ...................................... (4) Anwendung weiterer aktienrechtlich geregelter Sonderfälle ...... cc) Freigabeverfahren ...................................... Allgemeine Feststellungsklage .................................. a) Anwendungsbereich ......................................... b) Parteien einer allgemeinen Feststellungsklage ................................................................... c) Klagefrist ........................................................... d) Wirkung eines Urteils ....................................... Einstweiliger Rechtsschutz ....................................... a) Allgemeine Grundsätze des einstweiligen Rechtsschutzes .................................................. b) Einstweilige Verfügung vor Beschlussfassung ... c) Eingriff in die Beschlussfassung ....................... aa) Vollständige oder teilweise Untersagung einer Gesellschafterversammlung ............. bb) Eingriff in das Stimmrecht ........................ d) Einstweilige Verfügung nach Beschlussfassung ............................................................... e) Praktisch bedeutsame Einzelfälle ..................... aa) Einstweilige Verfügung bei Abberufung eines Geschäftsführers .............................. bb) Einstweiliger Rechtsschutz im Zusammenhang mit der Gesellschafterliste ...............

Seite

(c)

B. Gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten bei der GmbH & Co. KG ........................................................ I. Allgemeines ....................................................................... II. Streitigkeiten bei der Gründung ....................................... 1. Allgemeines ................................................................ 2. Fehlgeschlagene Vor-GmbH .................................... a) Schicksal der Vor-GmbH ................................. b) Haftung der GmbH-Gesellschafter ................. c) Haftung der Geschäftsführer ...........................

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XVII

Inhaltsverzeichnis Rn.

III. Streitigkeiten bei Änderung der Beteiligungsverhältnisse ........................................................................ 1. Allgemeines ................................................................ 2. Beteiligungsdivergenz bei beteiligungsgleicher GmbH & Co. KG ...................................................... 3. Ausscheiden der GmbH ............................................ IV. Streitigkeiten um Gesellschafterbeschlüsse ..................... 1. Allgemeines ................................................................ 2. Stimmrecht und dessen Schranken ........................... 3. Bestellung und Abberufung des GmbH-Geschäftsführers .......................................... 4. Geltendmachung von Beschlussmängeln ................. V. Streitigkeiten um Gesellschafterrechte und -pflichten ....... 1. Allgemeines ................................................................ 2. Treuepflicht ................................................................ 3. Kapital- und Ergebnisverteilung ............................... 4. Informationsrecht der Kommanditisten .................. a) Allgemeines ....................................................... b) § 166 Abs. 1, 2 HGB ......................................... c) § 166 Abs. 3 HGB ............................................. d) §§ 713, 666 BGB ............................................... e) § 51a GmbHG ................................................... f) Einstweiliger Rechtsschutz .............................. 5. Wettbewerbsverbot der Kommanditisten ................ 6. Haftung der Kommanditisten ................................... VI. Streitigkeiten um die Geschäftsführung .......................... 1. Allgemeines ................................................................ 2. Mitentscheidungsbefugnis bei außergewöhnlichen Geschäften ................................................................. a) Zustimmungspflicht der Kommanditisten ...... b) Unterlassungsanspruch gegen GmbH und Geschäftsführer ......................................... c) Einstweiliger Rechtsschutz .............................. 3. Weisungskompetenz ................................................. 4. Entziehung der Geschäftsführung ............................ 5. Entziehung der Vertretungsbefugnis ....................... 6. Drittanstellung der Geschäftsführer ........................ 7. Regressansprüche gegen Geschäftsführer ................ a) Schutzwirkung des Organschaftsverhältnisses ...................................................... b) Keine Begrenzung auf hauptamtliche Komplementärstellung ..................................... c) Actio pro socio .................................................. d) Beweislastverteilung .......................................... e) Verjährung .........................................................

XVIII

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225 ...... 62 225 ...... 62 226 229 231 231 232

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Inhaltsverzeichnis Rn.

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VII. Streitigkeiten bei Beendigung ........................................... 273 ...... 75 1. Auflösungsklage gegen die KG ................................. 273 ...... 75 2. Auflösung der GmbH ............................................... 274 ...... 76 C. Gesellschafterstreitigkeiten bei Personengesellschaften ........ I. Streitigkeiten um Gesellschafterbeschlüsse ..................... 1. Mehrheitserfordernisse, Stimmrechte ...................... 2. Beschlussmängel ........................................................ 3. Besondere Prozessvoraussetzungen für die Geltendmachung von Beschlussmängeln bei Personengesellschaften ........................................ 4. Schiedsfähigkeit von Beschlussmängelklagen .......... 5. Vorläufige Abwehr des Vollzugs von Beschlüssen ......................................................... 6. Einstweiliger Rechtsschutz bei Stimmbindungsverträgen ..................................................................... II. Streitigkeiten um Gesellschafterrechte und -pflichten ....... 1. Durchsetzung von Sozialansprüchen, Sozialpflichten, Drittgeschäfte ................................. 2. Actio pro socio .......................................................... 3. Streitgenossenschaft .................................................. 4. Durchsetzung von Informationsansprüchen ........... a) Durchsetzung von Auskunfts- und Kontrollrechten des Kommanditisten ............. b) Streitgegenstand des Informationsanspruchs ........................................................... c) Informationserzwingung im einstweiligen Rechtsschutz ..................................................... d) Vollstreckung von Auskunfts- und Einsichtsrechten ................................................ 5. Streitigkeiten um Jahresabschluss, Gewinn ............. a) Streitigkeiten um den Jahresabschluss ............. b) Prozessuale Geltendmachung von Gewinnund Entnahmeansprüchen ................................ c) Jahresabschluss als Schuldanerkenntnis .......... 6. Durchsetzung von Wettbewerbsverboten ............... III. Streitigkeiten über die Geschäftsführung ........................ 1. Geltendmachung des Widerspruchsrechts ............... 2. Entziehungsklagen nach § 712 BGB, §§ 117, 127 HGB .................................................................... 3. Entziehung der Geschäftsführungsbefugnis in der Zweipersonengesellschaft ............................... 4. Einstweiliger Rechtsschutz ....................................... IV. Streitigkeiten bei Beendigung ........................................... 1. Auflösungsklage ........................................................ 2. Ausschluss aus wichtigem Grund .............................

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Inhaltsverzeichnis Rn.

3. 4.

D. Gesellschafterstreitigkeiten bei geschlossenen Fonds ............ I. Einführung ......................................................................... II. Überblick zu den Rechtsformen geschlossener Fonds ...... 1. GmbH & Co. Investment-KG ................................. a) Gesellschaftsvertrag .......................................... aa) Unternehmensgegenstand, Anlagestrategie und Anlagebedingungen ............ bb) Sonderregelungen für die Gesellschafterversammlung .............................................. cc) Beirat als zwingendes Kontrollorgan bei intern verwalteten Gesellschaften ...... dd) Auflösung und Ausscheiden von Gesellschaftern ................................... b) Geschäftsführung und Vertretung ................... 2. GmbH & Co. KG (Publikums-KG) ........................ 3. Treuhandmodelle bei der GmbH & Co. Investment-KG und der GmbH & Co. KG (Publikums-KG) .................. 4. Andere Rechtsformen ............................................... a) Investmentaktiengesellschaft mit fixem Kapital .............................................. b) Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) ........ c) Stille Gesellschaft .............................................. III. Prozessuale Grundsätze .................................................... 1. Parteistellung ............................................................. 2. Vertretung .................................................................. 3. Zuständigkeit der Gerichte ....................................... IV. Streitigkeiten über Auskunfts- und Kontrollrechte ........ 1. Anspruch auf Mitteilung der Namen und der Anschriften der Mitgesellschafter ...................... 2. Auskünfte zum Jahresabschluss und sonstige Aufklärungen .............................................. 3. Widerspruchsrechte und Zustimmungsvorbehalte ................................................................... V. Beschlussmängelstreitigkeiten .......................................... 1. Parteien und andere Verfahrensbeteiligte, Feststellungsinteresse ................................................ a) Kläger ................................................................. b) Beklagte ............................................................. aa) Gesellschafter als Beklagte ........................ bb) Gesellschaft als Beklagte ........................... c) Nebenintervention ............................................ d) Feststellungsinteresse ....................................... XX

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Kündigung durch Pfändungspfandgläubiger ........... 376 .... 105 Auflösung der Ehegattengesellschaft ....................... 378 .... 105 381 381 385 385 388

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Inhaltsverzeichnis Rn.

2.

Klageerhebung, Anträge und Verfahren .................. a) Klageerhebung und Anträge ............................ aa) Zuständigkeit der Gerichte ....................... bb) Anträge ...................................................... cc) Zustellung .................................................. b) Verfahrensgrundsätze ....................................... aa) Dispositionsmaxime .................................. bb) Darlegungs- und Beweislast ...................... c) Verfahrensbeendigung ...................................... aa) Urteil .......................................................... bb) Anerkenntnis und Klagerücknahme ......... cc) Vergleich .................................................... d) Kosten und Streitwert ...................................... aa) Kosten ........................................................ bb) Streitwertfestsetzung ................................ e) Rechtsmittel ...................................................... 3. Begründetheit ............................................................ a) Aktivlegitimation .............................................. b) Passivlegitimation ............................................. c) Materiell-rechtliche Ausschlussfristen ............ d) Beschlussmängel ............................................... aa) Kasuistik der Nichtigkeitsgründe ............. bb) Ausnahmen von der Nichtigkeitsfolge .... cc) Heilung und Wegfall von Nichtigkeitsgründen durch Bestätigungsbeschluss ..... VI. Geschäftsführungsmaßnahmen ........................................ VII. Entzug der Geschäftsführungsbefugnis geschäftsführender Gesellschafter, Ausschluss geschäftsführender Gesellschafter ................................... VIII. Organhaftungsstreitigkeiten .......................................... IX. Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Ausscheiden von Gesellschaftern ..................................... X. Einstweiliger Rechtsschutz ............................................... E. Der Gerichtsstand im internationalen Gesellschafterstreit ... I. Einführung ......................................................................... 1. Bedeutung und Problematik des Gerichtsstands im internationalen Gesellschafterstreit .................... 2. Gegenstand und Gang der Darstellung .................... II. Das europäische System der internationalen Zuständigkeit für Gesellschafterstreitigkeiten ................ 1. Anwendungsbereich des europäischen Zuständigkeitssystems nach Brüssel Ia-VO und LugÜ ...................................................................

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XXI

Inhaltsverzeichnis Rn.

Systematik der Gerichtsstände im Hinblick auf den Gesellschafterstreit nach Brüssel Ia-VO und LugÜ ................................................................... 3. Ausschließlicher Gerichtsstand für gesellschaftsorganisatorische Klagen ............................................ a) Reichweite der ausschließlichen Zuständigkeit .................................................... aa) Rahmenbedingungen der Auslegung ....... bb) Einbezogene Verfahrensgegenstände ....... (1) „Gültigkeit, Nichtigkeit oder Auflösung einer Gesellschaft“ ........ (2) Gültigkeit der Beschlüsse ihrer Organe .................................... (a) „Organe“ .......................................... (b) Qualität des Beschlusses ................. (c) Gegenstand des Beschlusses ........... (d) Beschlussmangel („Gültigkeit“); richterliche Modifizierung (u. a. in Spruchverfahren) oder Ersetzung von Beschlüssen .... cc) „Gegenstand des Verfahrens“ ................... dd) Fazit ........................................................... b) Rechtsfolge ........................................................ aa) Bestimmung des maßgeblichen „Sitzes“ ....................................................... bb) Rechtsfolgen der ausschließlichen Zuständigkeit ............................................. 4. Anwendungsbereich und Regelung des „allgemeinen“ europäischen Zuständigkeitsregimes in Bezug auf den Gesellschafterstreit ....................... a) Verbleibender Anwendungsbereich des „allgemeinen“ Zuständigkeitsregimes ....... b) Gerichtsstände .................................................. aa) Gerichtsstandsvereinbarung nach Art. 25 Brüssel Ia-VO/Art. 23 LugÜ ................... bb) Rügelose Einlassung, Art. 26 Brüssel Ia-VO/Art. 24 LugÜ ................... cc) Allgemeiner Gerichtsstand, Art. 4 Brüssel Ia-VO/Art. 2 LugÜ ........... dd) Besondere Gerichtsstände, Art. 7 f. Brüssel Ia-VO/Art. 5 f. LugÜ .... III. Internationale Zuständigkeit für Gesellschafterstreitigkeiten außerhalb des Anwendungsbereichs des europäischen Zuständigkeitssystems ...............................

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2.

XXII

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Inhaltsverzeichnis Rn.

IV. Folgerungen aus dem Zuständigkeitsregime für Prozessführung und Beratung .......................................... 1. Form der Auseinandersetzung und Wahl des Forums ................................................................. 2. Gestaltungsoptionen im Vorfeld .............................. a) Folgerungen für die Gestaltung einer Gerichtsstandsklausel ....................................... b) Möglichkeiten der Vermeidung eines ausschließlichen Gerichtsstands im Ausland ..... aa) Wahl der Gesellschaftsform und „Umzug“ der Gesellschaft, insbesondere durch Formwechsel ................................... bb) Schiedsklausel ............................................ F.

Schiedsverfahren ....................................................................... I. Einführung ......................................................................... 1. Grundzüge des Schiedsverfahrens ............................ 2. Die Wahl zwischen staatlicher Gerichtsbarkeit und Schiedsverfahren ................................................. II. Schiedsvereinbarung .......................................................... 1. Allgemeine Grundsätze ............................................. 2. Sonderfall Beschlussmängelstreitigkeiten ................ 3. Gestaltungsempfehlungen – „less is more“ .............. III. Konstituierung des Schiedsgerichts ................................. 1. Allgemeine Grundsätze ............................................. 2. Praxisempfehlungen .................................................. IV. Durchführung des Schiedsverfahrens .............................. 1. Grundlagen ................................................................ 2. Schriftsätze der Parteien ............................................ 3. Beweisrecht ................................................................ a) Allgemeine Grundsätze .................................... b) Dokumente ....................................................... c) Zeugen ............................................................... d) Sachverständige ................................................. 4. Mündliche Verhandlung ............................................ V. Schiedsspruch und andere Formen der Erledigung ......... 1. Schiedsspruch ............................................................. 2. Vergleich .................................................................... 3. Weitere Formen der Erledigung ............................... 4. Vollstreckbarkeit ....................................................... VI. Einstweiliger Rechtsschutz ............................................... VII. Sonderprobleme ................................................................ 1. Mehrparteienkonstellationen .................................... 2. Konsolidierung mehrerer Schiedsverfahren ............. 3. Aktien- und Publikumsgesellschaften ......................

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Inhaltsverzeichnis Rn.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis, einschließlich Kapitalmarkthaftung und D & O-Versicherung .......................................................... 636 .... 201 A. Organstellung und Dienstverhältnis ....................................... I. Grundlegung ...................................................................... 1. Unterscheidung zwischen Organstellung und Dienstverhältnis ......................................................... 2. Das Organmitglied als Arbeitnehmer/ Verbraucher ................................................................ 3. Rechtsweg für Geschäftsführer-/ Vorstands-Streitigkeiten ........................................... II. Die Organstellung ............................................................. 1. Vorstandsmitglieder einer AG .................................. 2. Geschäftsführer einer GmbH ................................... III. Der Anstellungsvertrag ..................................................... 1. Zustandekommen ...................................................... 2. Typische Vertragsinhalte ........................................... a) Ressortzuweisung ............................................. b) Betriebliche Altersversorgung .......................... c) Koppelungsklauseln .......................................... d) Nachvertragliche Wettbewerbsverbote ........... 3. Die Beendigung des Anstellungsvertrags ................. a) Kündigung ......................................................... aa) Allgemeines ............................................... bb) Besonderheiten bei der außerordentlichen Kündigung ...................................... b) Aufhebungsvertrag ........................................... IV. Prozessuales ....................................................................... 1. Vertretung der Gesellschaft im Prozess ................... 2. Urkundenprozess ......................................................

636 .... 201 636 .... 201

B. Zur Praxis des Organhaftungsprozesses im Aktienrecht ....... I. Einleitung .......................................................................... II. Innenhaftung des Vorstands ............................................ 1. Grundlagen ................................................................ 2. Die Entscheidung über die Inhaftungnahme ........... a) Anspruchsprüfung durch den Aufsichtsrat (Prüfung erster Stufe) ...................................... b) Geltendmachung von Ansprüchen im Unternehmensinteresse? (Prüfung zweiter Stufe) .................................... c) Verschonung des Vorstands? (Prüfung dritter Stufe) ..................................... d) Interessenkonflikte im Aufsichtsrat bei möglicher Eigenhaftung .............................

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Inhaltsverzeichnis Rn.

3. 4.

Die Auswahl der Beklagten ....................................... Bestimmung der einzuklagenden Schadenssumme und Ankereffekt ........................................................ 5. Klageschrift ................................................................ a) Darlegungs- und Beweislast ............................. b) Vortrag zu Pflichtverletzungen ........................ c) Taktik ................................................................ 6. Die Klageerwiderung ................................................. a) Pflichtverletzung ............................................... b) Business Judgement Rule ................................. c) Weitere Verteidigungslinien ............................. d) Informationsprobleme ...................................... e) Abwehrstrategie bei mehreren Beklagten ........ 7. Gesamtschuld und Streitverkündung ....................... 8. Vergleich .................................................................... a) Formale Anforderungen an Vergleiche in Organhaftungsfällen ..................................... b) Pflichten des Aufsichtsrats beim Vergleichsschluss .............................................. c) Gesamtwirkung des Vergleichs vereinbaren! ..... d) Vergleichsschluss als geldwerter Vorteil ......... III. Außenhaftung des Vorstands ........................................... IV. Haftung des Aufsichtsrats ................................................ 1. Innenhaftung ............................................................. 2. Außenhaftung ............................................................ C. Organhaftung GmbH: Die Innenhaftung des GmbH-Geschäftsführers ......................................................... I. Konkretisierung: Gegenstand der Darstellung ................ II. Haftung nach § 43 Abs. 2 GmbHG ................................. 1. Haftungsvoraussetzungen ......................................... a) Materielles Recht (Überblick) ......................... aa) Subjektiver Anwendungsbereich .............. bb) Der Pflichtenkatalog ................................. cc) Zusammenarbeit mit der Gesellschafterversammlung .............................................. dd) Besonderheiten bei der Beteiligung der öffentlichen Hand ............................... b) Prozessualer Vortrag und Gegenvortrag, Darlegungs- und Beweislast ............................. aa) Grundsätzliches insbesondere Pflichtverletzung ....................................... bb) Schaden ...................................................... cc) Pflichtverletzung und Verschulden .......... dd) Vertikale Delegation .................................

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Inhaltsverzeichnis Rn.

ee) Mehrere Geschäftsführer (horizontale Delegation) .......................... ff) Rechtmäßiges Alternativverhalten ........... gg) Besonderheiten nach Ausscheiden aus dem Amt? ............................................ 2. Insbesondere: Ausschluss und Begrenzung der Haftung ................................................................ a) Weisung und Zustimmung der Gesellschafterversammlung ..................................................... b) Verzicht und Vergleich insbesondere Entlastung ......................................................... c) Vertragliche Verfallklauseln in Anstellungsvertrag ............................................ d) Vertragliche Haftungsbeschränkung im Voraus? ......................................................... e) Mitverschulden der Gesellschaft? .................... f) Verjährung ......................................................... III. Geltendmachung und Strategie ........................................ 1. Gesellschafterbeschluss ............................................. 2. Vertretung der Gesellschaft ...................................... 3. Gesamtschuld bei mehreren Geschäftsführern ........ 4. Gestörte Gesamtschuld ............................................. 5. Regressfragen: Streitverkündung und Streitverkündungsvertrag .......................................... 6. Gerichtliche Zuständigkeit ....................................... 7. D&O-Versicherung ................................................... a) Grundlagen ........................................................ b) Anspruch des Geschäftsführers auf angemessenen D&O-Versicherungsschutz? .......... c) Schadensfall ....................................................... 8. Einstweiliger Rechtschutz: Arrest ............................ D. KapitalmarkthaftungBeteiligtenstellungen und Bindungswirkungen in Musterverfahren ................................................ I. Einführung und Problembeschreibung ............................ II. Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz ........................... III. Allgemeine Musterfeststellungsklage .............................. IV. Beispielsfall ........................................................................ V. Vorbemerkung I: Das Verhältnis der beiden Verfahrensarten ................................................................. VI. Vorbemerkung II: Örtliche Zuständigkeit für Individualverfahren und Musterverfahren ................. VII. Gesetzliche Beteiligte und deren Bindung nach Einleitung eines Musterverfahrens nach dem KapMuG ....... 1. Rechtsstellung der gesetzlichen Beteiligten im Musterverfahren ................................................... XXVI

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Inhaltsverzeichnis Rn.

a)

Musterkläger ..................................................... aa) Auswirkungen einer Auswechslung des Musterklägers ...................................... bb) Nebenintervention auf Seiten des Musterklägers ...................................... b) Beigeladene ........................................................ c) Musterbeklagte .................................................. aa) Gesetzlicher Regelungsbestand ................ bb) Nachträgliches Hinzutreten neuer Musterbeklagter .............................. cc) Nebenintervention auf Seiten eines Musterbeklagten ............................... d) Anspruchsanmelder .......................................... e) Nebenintervention der Parteien der Ausgangsverfahren? ................................... 2. Bindung der gesetzlichen Beteiligten und der Ausgangsgerichte an den Musterentscheid ........ a) Gesetzlicher Regelungsbestand ....................... b) Bindung der Prozessgerichte ............................ c) Bindung des Musterklägers .............................. d) Bindung der Beigeladenen ................................ e) Bindung der Musterbeklagten .......................... f) Bindung des Anspruchsanmelders ................... VIII. Gesetzliche Beteiligte und deren Bindung im Fall eines allgemeinen Musterverfahrens .................... 1. Rechtsstellung der Beteiligten im Musterverfahren .................................................................... a) Verbrauchereinrichtungen als Kläger .............. b) Unternehmer als Beklagter ............................... c) Anspruchsanmelder .......................................... d) Streithelfer als Verfahrensbeteiligte? ............... aa) Streitverkündung und Nebenintervention auf Klägerseite ...................... bb) Streitverkündung und Nebenintervention auf Beklagtenseite ................ e) Ausgesetzte Verfahren mit einem Unternehmer als Kläger ................................... 2. Bindungswirkungen ................................................... a) Bindungswirkung zwischen den Parteien des Musterverfahrens ......................... b) Bindungswirkung zwischen dem Beklagtem und angemeldeten Verbrauchern ..... IX. Insbesondere: Einbeziehung Dritter und außenstehender Rechtsverhältnisse inein Musterverfahren nach dem KapMuG ..............................

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XXVII

Inhaltsverzeichnis

1. 2. 3.

Rn.

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Einführung und Problemstellung ............................. 992 Anwendbarkeit des KapMuG auf Rückgriffsund Ausgleichsansprüche? ........................................ 995 Streitverkündung und Nebenintervention im Zusammenhang mit KapitalanlegerMusterverfahren ........................................................ 998 a) Grundsätzliche Notwendigkeit einer Streitverkündung ..................................... 998 b) Streitverkündung und Nebenintervention nur in den Ausgangsverfahren; Rechtsfolgen .................................................... 1001 c) Rechtsstellung der Nebenintervenienten im Musterverfahren ........................................ 1003

.... 350

E. D&O-Streitigkeiten ............................................................... I. Einleitung ........................................................................ II. Die Struktur des D&O-Streits ....................................... III. Perspektive der Gesellschaft: Drei Wege der Anspruchsdurchsetzung ................................................. 1. Rechtskräftige Feststellung der Haftung vor Entscheidung über die Deckung ...................... 2. Company Reimbursement ...................................... 3. Direktanspruch ........................................................ a) Abtretung bei Verfügungsbefugnis der Gesellschaft ............................................... b) Erforderlichkeit einer Zustimmung der Hauptversammlung bei der AG .............. aa) Leistung erfüllungshalber ....................... bb) Parallele zu § 50 AktG ............................ cc) § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG .......................... c) Ordnungsgemäße Vertretung der AG im Prozess .......................................... IV. D&O-Streitigkeiten als Schiedsverfahren? ................... 1. Vertraulichkeit von Schiedsverfahren ..................... 2. Regelungen zur Beweislast ...................................... 3. Nachteile von Schiedsverfahren .............................. V. Die Organisation der Anspruchsabwehr durch den D&O-Versicherer ......................................... 1. Haftungsabwehr durch den Anwalt des Organmitglieds und den Monitoring Counsel ................. 2. „Sockelverteidigung“ und Nebenintervention des D&O-Versicherers ............................................ 3. Erteilung einer Prozessvollmacht an den D&O-Versicherer ........................................

XXVIII

.... 351

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1005 .... 354 1005 .... 354 1006 .... 355 1012 .... 358 1014 .... 358 1016 .... 359 1021 .... 362 1023 .... 363 1025 1027 1029 1031

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Inhaltsverzeichnis Rn.

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Teil 3 M&A-Streitigkeiten ......................................................... 1063 .... 381 A. Schiedsverfahren ..................................................................... I. Staatliche Gerichtsbarkeit vs. Schiedsverfahren ............ II. Schiedsvereinbarung ........................................................ III. Konstituierung des Schiedsgerichts ............................... IV. Durchführung des Schiedsverfahrens ............................ 1. Grundlagen .............................................................. 2. Schriftsätze der Parteien .......................................... 3. Beweismittel in Post-M&A-Schiedsverfahren ....... a) Dokumente ..................................................... b) Zeugen ............................................................. c) Sachverständige ............................................... 4. Mündliche Verhandlung .......................................... V. Schiedsspruch und andere Formen der Erledigung ....... VI. Einstweiliger Rechtsschutz ............................................. VII. Sonderkonstellationen .................................................... 1. Fast-track-Verfahren, insbesondere bei MAC-Streitigkeiten ........................................... a) Problemstellung .............................................. b) Gestaltungsmöglichkeiten .............................. 2. Compliance, insbesondere Korruption im Zielunternehmen ................................................ a) Problemstellung .............................................. b) Wirksamkeit der Schiedsvereinbarung und Zuständigkeit des Schiedsgerichts .......... c) Anzeige und Amtsniederlegung? ................... d) Beweis- und Verfahrensfragen .......................

1063 1064 1068 1079 1092 1093 1099 1102 1104 1110 1115 1120 1123 1124 1125

B.

1146 1146 1152 1157

Post Merger Litigation ........................................................... I. Vorbemerkung ................................................................ II. Claims Management ....................................................... 1. Ziele des Claims Managements ............................... a) Validierung der kaufpreisbestimmenden Annahmen des Käufers ................................... b) Überwachung der wesentlichen Risikofelder ..................................................... 2. Aufgaben des Claims Managements ....................... a) Fristenkontrolle .............................................. b) Einrichtung eines Mängel-Reportings ........... c) Post-Closing Due Diligence .......................... d) Rechtzeitige Anzeige von Mängeln ............... III. Klageweise Geltendmachung durch den Käufer ............ 1. Festlegung des Klageziels ........................................ 2. Bestimmung des zuständigen Spruchkörpers ........ 3. Begründung des Klageanspruchs ............................

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XXIX

Inhaltsverzeichnis Rn.

Ansprüche wegen Verletzung von Aufklärungspflichten ...................................... b) Gewährleistungsansprüche ............................. c) Freistellungsansprüche ................................... 4. Haftungsbeschränkungen ....................................... a) Kenntnis des Käufers ...................................... b) Betragsmäßige Haftungsbeschränkungen ..... c) Unwirksamkeit von Haftungsbeschränkungen .............................................. IV. Geltendmachung von Ansprüchen durch die Zielgesellschaft .......................................................... V. Verjährung ....................................................................... 1. Vertragliches Verjährungsregime ............................ 2. Gesetzliche Verjährungsfristen ............................... 3. Hemmung der Verjährung ...................................... VI. Vergleich .......................................................................... 1. Typische Vergleichsinhalte ..................................... 2. Prozessuale Fragen des Vergleichsschlusses ..........

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a)

C. Kaufpreisanpassungsstreitigkeiten bei M&A-Transaktionen ........................................................ I. Einführung und Abgrenzung zu Post Merger Litigation ............................................... II. Typische Kaufpreisanpassungsregeln (Kaufpreisformeln) ......................................................... 1. Festkaufpreise und variable Kaufpreise .................. 2. Cash Free/Debt Free Kaufpreisformeln ................ a) Grundprinzip .................................................. b) Relevante Bilanzpositionen ............................ aa) Nicht ausgeschüttete Dividenden .......... bb) Nicht gedeckte Pensionsverbindlichkeiten .................................................. cc) Steuerverbindlichkeiten und Steuerrückstellungen ............................... dd) Leasingverbindlichkeiten ........................ ee) Weitere Positionen .................................. c) Working Capital Anpassung .......................... 3. Earn-Out- und Mehrerlösmechanismen ................ a) Anpassungsmodelle und Zweck ..................... b) Herkömmlicher Earn-Out-Mechanismus ..... c) Mehrerlösmechanismus .................................. III. Verfahren zur Ermittlung von Kaufpreisanpassungen ..................................................................... 1. Erstellung von Stichtagsabschlüssen ...................... a) Aufstellung des Stichtagsabschlusses ............ b) Anwendbare Bilanzierungsregeln .................. XXX

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Inhaltsverzeichnis Rn.

2.

Überprüfung durch die andere Partei und Einwendungen ................................................. Entscheidung durch Schiedsgutachter oder schiedsgerichtliches Verfahren ............................... a) Auswahl und Beauftragung des Schiedsgutachters ............................................ b) Gegenstand des Schiedsgutachtens ................ c) Ablauf des Schiedsgutachterverfahrens und Entscheidung des Schiedsgutachters ...... d) Schiedsverfahren statt Schiedsgutachten? .....

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c)

D. Private Equity ......................................................................... I. Einleitung ........................................................................ II. Zusammenfassung ........................................................... III. Spannungsverhältnis Darlehensgeber – Darlehensnehmer ............................................................ 1. Zusicherungen – Representations ........................... 2. Auflagen – Undertakings bzw. Covenants ............ 3. Verweisungen bei Zusicherungen und Auflagen auf den sog. „Material Adverse Effect“ ......... 4. Folgen falscher Zusicherungen und Auflagen ....... 5. Kündigungsgründe .................................................. a) Wesentliche Prozessrisiken im Zusammenhang mit der Transaktion als isolierter Kündigungsgrund ........................................... b) „Material Adverse Effect“ als Auffangtatbestand ........................................................ c) Zwischenergebnis ............................................ IV. Rechtsfolge: Kündigung gemäß Clause 28.20 SFA ....... V. Umgang mit Prozessrisiken und Verfahren im Rahmen von Akquisitionsfinanzierungen in der Praxis .............. 1. Vorgehen bei Gerichtsprozessen im Rahmen von Akquisitionsfinanzierungen ............................. 2. Weitere Ansprüche der Banken .............................. 3. Wechselwirkungen mit gesetzlichen Kündigungsrechten ................................................. E. Moderne ADR-Verfahren – Corporate Dispute Management ........................................... I. Corporate Litigation aus Unternehmenssicht: wenige Lichtblicke, viele Schattenseiten ........................ II. Möglichkeiten und Grenzen der Mediation und anderer ADR-Verfahren .......................................... III. Praxis der ADR-Verfahren zur Beilegung von gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten ........................... 1. Mediation .................................................................

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XXXI

Inhaltsverzeichnis Rn.

a) b) c)

Begrifflichkeiten und Grundzüge .................. Anwendungsmöglichkeiten von Mediation .... Ausgewählte Aspekte der Mediationspraxis ............................................. aa) Mediatorenauswahl .................................. bb) Besonderheiten im Falle von Beschlussmängelstreitigkeiten ................ cc) Ausgestaltung von Mediationsklauseln in Gesellschaftsverträgen oder Satzungen ........................................ dd) Vertraulichkeit ......................................... ee) Einzelgespräche mit den Parteien (Caucuses) ................................ ff) Vollstreckbarkeit von Mediationsvergleichen ............................................... gg) Exkurs: Collaborative Law ..................... 2. Schiedsgutachten und Early Neutral Evaluation ... a) Begrifflichkeiten und Grundzüge .................. aa) Schiedsgutachen ...................................... bb) Early Neutral Evaluation ........................ b) Anwendungsmöglichkeiten von Schiedsgutachten und Early Neutral Evaluation ....... 3. Dispute Boards ........................................................ a) Begrifflichkeiten und Grundzüge .................. b) Anwendungsmöglichkeiten von Dispute Boards ................................................ 4. Mini-Trial ................................................................. a) Begrifflichkeiten und Grundzüge .................. b) Anwendungsmöglichkeiten von Mini-Trials ....................................................... IV. Ausblick in die Zukunft: Von Corporate Litigation zu Corporate Dispute Management .............

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Teil 4 Restrukturierung .............................................................. 1478 .... 505 A. Organhaftung in Krise und Insolvenz ................................... I. Einleitung ........................................................................ II. Einführung in die zentralen einschlägigen Anspruchsgrundlagen ..................................................... 1. Erstattung von unter Verstoß gegen das Zahlungsverbot geleisteten Zahlungen ............ a) Insolvenzreife als Voraussetzung des Zahlungsverbots ....................................... aa) Zahlungsunfähigkeit nach § 17 Abs. 2 InsO ...................................... bb) Überschuldung nach § 19 InsO .............. XXXII

1478 .... 505 1478 .... 505 1481 .... 505 1483 .... 506 1485 .... 507 1487 .... 507 1496 .... 509

Inhaltsverzeichnis Rn.

b) c)

Zahlung aus dem Gesellschaftsvermögen ...... Haftungsausschlüsse ....................................... aa) Fehlende Erkennbarkeit des Insolvenzgrundes .................................... bb) Erlaubte/privilegierte Zahlungen ........... cc) § 2 Abs. 1 Nr. 1 COVID-19Insolvenzaussetzungsgesetz („COVInsAG“) ...................................... d) Rechtsfolge ...................................................... e) Haftung von Mitgliedern des Aufsichtsrats .... f) Internationale und örtliche Zuständigkeit am Sitz der Gesellschaft; anwendbares Recht ..... 2. Haftung wegen verspäteter Antragstellung ........... 3. Haftung wegen Insolvenzverursachung ................. 4. Neue Haftungstatbestand nach dem StaRUG ....... 5. Haftung wegen Verletzung nicht insolvenzbezogener Pflichten ................................................. III. Praktische und taktische Überlegungen ........................ 1. Perspektive des Insolvenzverwalters ...................... a) Ermittlung der Hintergründe der Insolvenz ................................................... b) Prüfung der Inanspruchnahme von (ehemaligen) Organen ............................. c) Vergleichsverhandlungen ............................... 2. Perspektive des Organs/der D&O-Versicherung .... a) Haftungsvermeidung im Vorfeld ................... aa) Umgang mit Krisenanzeichen ................ bb) Sanierungsbemühungen zur Abwehr des Insolvenzgrundes ............... b) Verhalten nach Geltendmachung von Organhaftungsansprüchen ...................... aa) Beschaffung von Informationen und Auskünften ....................................... bb) Koordination der Abwehr von Organhaftungsansprüchen ...................... cc) Vergleichsverhandlungen mit D&O-Versicherern ................................. B. Streitigkeiten im Bereich Kapitalerhaltung ........................... I. Rechtliche Grundlagen ................................................... 1. §§ 62, 57 AktG ......................................................... 2. §§ 31, 30 GmbHG ................................................... II. Typische Fallgestaltungen .............................................. 1. Darlehen an Gesellschafter ..................................... a) Darlehen .......................................................... aa) Grundsätzliche Zulässigkeit ...................

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XXXIII

Inhaltsverzeichnis Rn.

bb) Vollwertigkeit des Rückzahlungsanspruchs; Verzinsung ................................ cc) Maßgeblicher Zeitpunkt ......................... dd) Geschäftsleiterpflichten .......................... b) Insbesondere: Konzern-Konstellationen ...... aa) Faktischer Konzern ................................. bb) Besonderheiten im Vertragskonzern ...... c) Bestellung von Sicherheiten zu Gunsten von Gesellschaftern ........................................ 2. Weitere Leistungsbeziehungen zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern ............................ 3. Besonderheiten bei der AG ..................................... III. Typische Situationen, in denen Verletzungen der Kapitalerhaltungsvorschriften geltend gemacht werden ............................................................... IV. Durchsetzung von Ansprüchen ..................................... 1. Zuständigkeitsfragen ............................................... 2. Aktiv- und Passivlegitimation; Vertretung der Gesellschaft ........................................................ 3. Darlegungs- und Beweislast .................................... a) Klagen gegen Aktionäre ................................. b) Klagen gegen GmbH-Gesellschafter ............. 4. Klagearten ................................................................ a) Klagen der Gesellschaft gegen Gesellschafter .................................................. b) Klagen von Gesellschaftsgläubigern (AG) .... c) Klagen des Insolvenzverwalters oder Sachwalters ............................................. 5. Einstweiliger Rechtsschutz ..................................... C. Insolvenzanfechtung .............................................................. I. Grundlagen und Bedeutung der Insolvenzanfechtung ....................................................... 1. Zweck der Insolvenzanfechtung ............................. 2. Zur rechtspolitischen Diskussion ........................... 3. Überblick zu den Voraussetzungen und Rechtsfolgen einer Insolvenzanfechtung ............... a) Rechtshandlung ............................................... b) Gläubigerbenachteiligung, § 129 InsO .......... c) Kein Bargeschäft, § 142 InsO ........................ d) Vorliegen eines Anfechtungstatbestandes, §§ 130 – 137 InsO ............................................ aa) Besondere Insolvenzanfechtung ............. bb) Vorsatzanfechtung, § 133 InsO .............. cc) Anfechtung unentgeltlicher Leistungen, § 134 InsO ............................................... XXXIV

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Inhaltsverzeichnis Rn.

dd) Anfechtung von Gesellschafterfremdfinanzierungen sowie bei stillen Gesellschaftern, §§ 135, 136 InsO .................... e) Rechtsfolgen der Insolvenzanfechtung ......... aa) Rückgewähr- oder Wertersatzanspruch, § 143 InsO ............................................... bb) Wiederaufleben der Forderung, § 144 InsO ............................................... cc) Verjährung, § 146 InsO .......................... II. Ausgewählte „corporate“-Anfechtungskonstellationen ...................................................................... 1. § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO .......................................... a) Überbrückungskredit ..................................... b) Übertragung der Fremdfinanzierungshilfe ... 2. Sicherheitenbestellung, § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO ................................................................ 3. Cash-Pooling, § 134 InsO .......................................... 4. Sanierungsbemühungen, § 133 Abs. 1 InsO .......... III. Der Anfechtungsprozess ................................................ 1. Zur Zulässigkeit ....................................................... a) Schiedsfähigkeit, Schiedsabreden ................... b) Internationale Zuständigkeit .......................... c) Rechtsweg ....................................................... d) Sachliche, funktionelle und örtliche Zuständigkeit .................................................. aa) Sachliche Zuständigkeit .......................... bb) Funktionelle Zuständigkeit .................... cc) Örtliche Zuständigkeit ............................ e) Klageart, Klageantrag ...................................... 2. Zur Begründetheit ................................................... a) Anfechtungsgegner ......................................... b) Klagebegründung ............................................ 3. Sonstiges ................................................................... a) Prozesskostenhilfe .......................................... b) Beteiligung Dritter .......................................... c) Grundurteil ..................................................... d) Kosten ............................................................. D. Schuldverschreibungsgesetz (SchVG) ................................... I. Einleitung ........................................................................ 1. Anwendungsbereich ................................................ a) Sachlicher Anwendungsbereich ..................... b) Zeitlicher Anwendungsbereich ...................... c) Persönlicher Anwendungsbereich ................. d) Abweichende Vereinbarungen .......................

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XXXV

Inhaltsverzeichnis Rn.

Verhältnis zu allgemeinen Rechtsvorschriften .......................................... 2. Regelungsgehalt ....................................................... a) Änderung von Anleihebedingungen .............. b) Bestellung eines gemeinsamen Vertreters ..... II. Rechtsschutz im Zusammenhang mit Einberufung einer Gläubigerversammlung/Abstimmung ohne Versammlung ................................................................... 1. Antrag auf Ermächtigung zur Einberufung einer Gläubigerversammlung (§ 9 Abs. 2 SchVG) ... a) Statthaftigkeit .................................................. b) Antragsberechtigter ........................................ c) Antragsbefugnis .............................................. d) Zuständigkeit .................................................. e) Rechtsmittel .................................................... 2. Anträge im Zusammenhang mit der Tagesordnung .......................................................... a) Ergänzungsantrag (§ 13 Abs. 3 SchVG) ........ aa) Antragsberechtigter ................................ bb) Antragsfrist .............................................. b) Gegenantrag (§ 13 Abs. 4 SchVG) ................ aa) Antragsberechtigter ................................ bb) Antragsfrist .............................................. c) Antrag auf Unterlassung des Abhaltens einer Gläubigerversammlung ......................... III. Rechtsschutz gegen Beschlüsse der Gläubigerversammlung ................................................... 1. Anfechtungsklage (§ 20 Abs. 1, 2 SchVG) ............ a) Anfechtungsberechtigter ................................ b) Anfechtungsgründe ........................................ c) Anfechtungsfrist ............................................. d) Zuständigkeit .................................................. e) Urteilswirkungen ............................................ 2. Nichtigkeitsklage ..................................................... a) Statthaftigkeit .................................................. b) Nichtigkeitsgründe ......................................... aa) Nach SchVG ............................................ bb) Sonstige .................................................... c) Klagefrist ......................................................... d) Zuständigkeit .................................................. e) Urteilswirkungen ............................................ 3. Freigabeverfahren (§ 20 Abs. 3 SchVG) ................ a) Antragsberechtigter ........................................ b) Zuständigkeit .................................................. c) Rechtsschutzbedürfnis ...................................

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Inhaltsverzeichnis Rn.

d) Begründetheit .................................................. e) Beschlusswirkungen ........................................ 4. Antrag auf Aufhebung durch das Insolvenzgericht (§ 19 Abs. 1 SchVG i. V. m. § 78 InsO) .... IV. Zahlungsklage aus Anleihe ............................................. 1. Statthafte Klageart – Leistungsklage und Klage im Urkundenprozess ............................................... 2. Zuständigkeit ........................................................... 3. Prozessfähigkeit ....................................................... 4. Begründetheit .......................................................... a) Aktivlegitimation ............................................ b) Fälligkeit der Anleiheforderung ..................... aa) Fälligkeit aufgrund Kündigung ............... bb) Kündigungsgründe in Anleihebedingungen ................................................ cc) Gesetzliche Kündigungsgründe (§§ 314, 490 BGB) ................................... dd) Entfallen von Kündigungsgründen (§ 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 8, Abs. 5 SchVG) ... ee) Bindung an Beschluss der Gläubigerversammlung trotz Kündigung ............... c) Fälligkeit nach Anleihebedingungen ............. d) Anspruchsausschluss und -verjährung .......... e) Tenorierung ..................................................... f) Vollstreckung ..................................................

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Stichwortverzeichnis ................................................................................... 599

XXXVII

Bearbeiterverzeichnis Professor Dr. Georg Annuß, LL.M. Rechtsanwalt/Partner, Staudacher Annuß, München

Teil 2 Kap. A.

Dr. Stephan Brandes Rechtsanwalt/Partner, Schilling, Zutt & Anschütz, Frankfurt/M.

Teil 3 Kap. B.

Dr. Christian Dolff, LL.M. Rechtsanwalt, Noerr Partnerschaftsgesellschaft mbB, Düsseldorf

Teil 4 Kap. B.

Dr. Bernd Egbers Rechtsanwalt/Partner, Renzenbrink & Partner, München

Teil 3 Kap. D.

Dr. Erik Ehmann, LL.M. Rechtsanwalt/Partner, ATG Rechtsanwaltsgesellschaft/Steuerberatungsgesellschaft, Kempten

Teil 2 Kap. B.

Dr. Thomas Gädtke Rechtsanwalt/Partner, DLA Piper UK LLP, München

Teil 2 Kap. E.

Jörn Gendner Rechtsanwalt, Berlin Dr. Dorothee Gierth Rechtsanwältin/Partner, Hahn & Partner, Berlin/Frankfurt/M. Dr. Philipp Göz Rechtsanwalt/Partner, Noerr Partnerschaftsgesellschaft mbB, München Professor Dr. Helge Großerichter Rechtsanwalt/Partner, Sernetz Schäfer, Honararprofessor für Internationales Privatrecht an der LMU München, München

Teil 3 Kap. E.

Teil 1 Kap. C.

Teil 1 Kap. A, II.

Teil 1 Kap. E.

XXXIX

Bearbeiterverzeichnis

Dr. Nicco Hahn Rechtsanwalt/Partner, Hahn & Partner, Berlin/Frankfurt/M.

Teil 1 Kap. B.

Dr. Stephan Kolmann Rechtsanwalt/Partner, BBL Bernsau Brockdorff & Partner, München

Teil 4 Kap. C.

Dr. Ferdinand Kruis Rechtsanwalt/Partner, Sernetz Schäfer, München

Teil 2 Kap. D.

Sacha Lürken Rechtsanwalt/Partner, Kirkland & Ellis International LLP, München

Teil 4 Kap. D.

Dr. Markus Rieder, LL.M. Rechtsanwalt/Partner, Gibson, Dunn & Crutcher LLP, München

Teil 1 Kap. F, Teil 3 Kap. A.

Dr. Luidger Röckrath, LL.M. Rechtsanwalt/Partner, Gleiss Lutz, München

Teil 4 Kap. A

Dr. Alexander Steinbrecher, LL.M Rechtsanwalt/Of Counsel, Wagner Arbitration PartGmbB, Berlin Lehrbeauftragter an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) Dr. Christian Stretz, LL.M. Rechtsanwalt/Partner, Ego/Humrich/Weyn München Lehrbeauftragter an der Ludwig-MaximiliansUniversität München Dr. Ingo Theusinger Rechtsanwalt/Partner, Noerr Partnerschaftsgesellschaft mbB, Düsseldorf

XL

Teil 3 Kap. E.

Teil 2 Kap. B.

Teil 4 Kap. B.

Bearbeiterverzeichnis

Dr. Michael L. Ultsch Rechtsanwalt/Partner, Stolzenberg Rechtsanwälte, München Lehrbeauftragter, Juristische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München Dr. Daniel Wiegand, LL.M. Rechtsanwalt/Partner, Hengeler Mueller, München Dr. Thomas Zwissler Rechtsanwalt/Partner, ZIRNGIBL, München

Teil 2 Kap. C.

Teil 3 Kap. C.

Teil 1 Kap. A., Kap. D.

XLI

Literaturverzeichnis Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier Fachanwalts-Kommentar Insolvenzrecht, 3. Aufl., 2017 (zit.: Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier/Bearbeiter) Anliker Die internationale Zuständigkeit bei gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten im Rechtsrahmen des europäischen Binnenmarktes, 2018 Arntz Eskalationsklauseln: Recht und Praxis mehrstufiger Streiterledigungsklauseln, 2013 Bauer/Böhle/Ecker Bayerische Kommunalgesetze, Kommentar, Stand: 6/2019 Baumbach/Hopt HGB, Kommentar, 39. Aufl., 2020 (zit.: Baumbach/Hopt/Bearbeiter, HGB) Baumbach/Hueck GmbHG, Kommentar, 22. Aufl., 2019 (zit.: Baumbach/Hueck/Bearbeiter, GmbHG) Baumbach/Lauterbach/Hartmann/Anders/Gehle ZPO, Kommentar, 78. Aufl., 2020 Beck’scher Online Großkommentar AktG hrsg. von Martin Henssler (zit.: BeckOGK AktG/Bearbeiter) Beck’scher Online-Kommentar BGB hrsg. von Bamberger/Roth (zit.: BeckOK BGB/Bearbeiter) Beck’scher Online-Kommentar GmbHG hrsg. von Ziemons/Jaeger (zit.: BeckOK GmbHG/Bearbeiter) Beck’scher Online-Kommentar HGB hrsg. von Heuble/Hoffmann-Theinert (zit.: BeckOK HGB/Bearbeiter) Beck’scher Online-Kommentar ZPO hrsg. von Vorwerk/Wolf (zit.: BeckOK ZPO/Bearbeiter) Beck’sches Formularbuch Aktienrecht hrsg. von Lorz/Pfisterer/Gerber, 2. Aufl., 2020 (zit.: BeckFormB AktR/Bearbeiter) Beck’sches Formularbuch Mergers & Acquisitions hrsg. von Seibt, 3. Aufl., 2018 (zit.: Bearbeiter, in: Beck’sches Formularbuch M&A)

XLIII

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LVI

Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation A. Beschlussmängelklagen bei AG und GmbH I. Beschlussmängelklagen in der AG 1. Überblick zu den Beschlussmängelklagen in der AG Thomas Zwissler

Die Rechtmäßigkeitskontrolle von Hauptversammlungsbeschlüssen liegt 1 nach der Konzeption des Gesetzgebers in den Händen der Aktionäre, des Vorstands als Organ sowie der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats. Basierend auf dieser Konzeption stellt das Aktiengesetz ein über Jahrzehnte hinweg gewachsenes Klagesystem bereit, das unter dem Begriff der Beschlussmängelklagen zusammengefasst wird. Die Leitbildfunktion für andere Gesellschaftsformen ist weitreichend und unbestritten.1) a) Klagearten Im Mittelpunkt des Rechts der Beschlussmängelklagen stehen die Nichtig- 2 keitsklage und die Anfechtungsklage. Die Rechtsprechung begreift sie als einheitliches Rechtsinstitut mit identischem Streitgegenstand.2) Dieser Streitgegenstand besteht in der Feststellung der Nichtigkeit von Beschlüssen der Hauptversammlung mit Wirkung für und gegen jedermann.3) Neben der Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage sind als weitere Beschluss- 3 mängelklagen die allgemeine Feststellungsklage und die positive Beschlussfeststellungsklage zu nennen. Erstere hat Auffangcharakter und findet ihren Anwendungsbereich vor allem dort, wo außenstehende Dritte einen Beschlussmangel inter partes, d. h. im Verhältnis zur Gesellschaft feststellen lassen wollen.4) Die positive Beschlussfeststellungsklage zielt auf die Feststellung des Zustandekommens von Beschlüssen, die seitens der Hauptversammlung unter Verstoß gegen Gesetz oder Satzung abgelehnt wurden. Sie ist eine Ergänzung zu der rein kassatorisch wirkenden Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage und kann dementsprechend auch nur gemeinsam mit ihr erhoben werden.5) ___________ 1)

2) 3)

4) 5)

Das aktienrechtliche Beschlussmängelrecht ist anzuwenden bei Gesellschaften in der Rechtsform der Aktiengesellschaft und der Kommanditgesellschaft auf Aktien (vgl. § 278 Abs. 3 AktG), darüber hinaus bei der in Deutschland ansässigen Societas Europaea (vgl. Art. 9 Abs. 1 lit c) ii) SE-VO sowie allgemein hierzu BGHZ 194, 14; KK-AktG/ Kiem, Art. 57 SE-VO Rn. 43 ff.). Zur Anwendbarkeit des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts bei Gesellschaften anderer Rechtsform Hüffer/Koch, ZGR 2001, 833 ff.; Henssler/Strohn/Drescher, AktG, § 241 Rn. 2 ff. BGHZ 134, 364, 366 = ZIP 1997, 732. Zur Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage unten Rn. 11 ff. Zum Stand der Diskussion um den Streitgegenstand von Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage Hüffer/Koch, AktG. § 246 Rn. 11 ff. Zur allgemeinen Feststellungsklage unten Rn. 101 f. Zur positiven Beschlussfeststellungsklage unten Rn. 103 ff.

Thomas Zwissler

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4 Eine Sonderform der Beschlussmängelklage ist das Spruchverfahren. Seine Besonderheit besteht darin, dass in diesem Verfahren ausschließlich die Höhe einer vom Aktionär zu beanspruchenden Kompensationszahlung zur Überprüfung durch das Gericht gestellt wird. Sonstige Mängel eines die Kompensationszahlung begründenden Hauptversammlungsbeschlusses können nur im Wege der Anfechtungs- und der Nichtigkeitsklage geltend gemacht werden.6) b) Rechtsschutzbedürfnis 5 Allgemeine Zulässigkeitsvoraussetzung für alle aktienrechtlichen Beschlussmängelklagen ist das Rechtsschutzbedürfnis des Klägers. Die Voraussetzungen für die Annahme des Rechtsschutzbedürfnisses sind allerdings gering. Die Beschlussmängelklagen sind bewusst als Instrument der objektiven Rechtskontrolle konzipiert. Eine persönliche Betroffenheit des Klägers ist daher nicht erforderlich. 6 Als Korrektiv für die geringen Anforderungen an das Rechtsschutzbedürfnis des Klägers wirken das Treuegebot und das Missbrauchsverbot.7) Das Rechtsschutzbedürfnis und erst recht die Anfechtungsbefugnis entfällt, wenn der Kläger lediglich eigennützige Zwecke verfolgt und primär die Monetarisierung des Lästigkeitswertes seiner Klage anstrebt. Die Beweislast für einen Verstoß gegen das Treuegebot oder das Missbrauchsverbot trägt die Gesellschaft. Aus diesem Grund sind Entscheidungen der Gerichte selten geblieben, in denen Beschlussmängelkläger bereits am fehlenden Rechtsschutzbedürfnis oder dem Wegfall ihrer Anfechtungsbefugnis gescheitert sind.8) c) Freigabeverfahren und einstweiliger Rechtsschutz 7 Dem Interesse der Gesellschaft an einem zügigen Vollzug der in der Hauptversammlung gefassten Beschlüsse dient das Freigabeverfahren nach § 246a AktG. Es handelt sich um ein spezielles Eilverfahren, welches der Gesellschaft die Möglichkeit eröffnet, die Eintragung bestimmter strukturverändernder Beschlüsse unabhängig vom Ausgang einer etwaigen Anfechtungs- und/oder Nichtigkeitsklage zu bewirken und die Bestandskraft dieser Beschlüsse zu sichern.9) 8 Außerhalb des Anwendungsbereichs des Freigabeverfahrens besteht die Möglichkeit der Inanspruchnahme einstweiligen Rechtsschutzes nach den Regelungen der ZPO, namentlich die Erwirkung einstweiliger Verfügungen. Die ___________ 6) 7) 8)

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Zum Spruchverfahren unten Rn. 131 ff. BGHZ 107, 296, 310 f. = ZIP 1989, 980. Die Anfechtungsbefugnis im konkreten Fall ablehnend etwa BGHZ 107, 296, 311 = ZIP 1989, 980; OLG Frankfurt/M. ZIP 2009, 271, 275; OLG Hamburg BeckRS 2019, 41866 Rn. 53 ff. Zum fehlenden Rechtsschutzbedürfnis und der daraus folgenden Unzulässigkeit einer Klage gegen negative Beschlüsse ohne gleichzeitiger Erhebung einer positiven Beschlussfeststellungsklage OLG Stuttgart BeckRS 2015, 14340 Rn. 140 ff. Zum Freigabeverfahren nach § 246a AktG unten Rn. 106 ff.

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Anforderungen sind jedoch hoch und die Gerichte mit der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes sehr zurückhaltend.10) d) Bekanntmachungspflichten und Ad-hoc-Publizität Für alle Beschlussmängelklagen mit Ausnahme der allgemeinen Feststel- 9 lungsklage gilt, dass der Vorstand der Gesellschaft die Klageerhebung in den Gesellschaftsblättern bekannt zu machen hat (§ 246 Abs. 4 AktG). Börsennotierte Gesellschaften haben zudem die Verfahrensbeendigung in den Gesellschaftsblättern bekannt zu machen, wobei etwaige Vergleiche im vollen Wortlaut wiederzugeben sind (§ 248a AktG). Sowohl die Erhebung als auch die Beendigung einer Beschlussmängelklage 10 kann eine nach den Regeln zur Ad-hoc-Publizität und hier vor allem nach Art. 17 Marktmissbrauchs-VO veröffentlichungspflichtige Tatsache sein.11) Gleiches gilt, wenn sich im Prozessverlauf besondere Tatsachen ergeben. 2. Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage a) Parteien und andere Verfahrensbeteiligte aa) Kläger Kläger einer Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage können sein: jeder Aktio- 11 när, der Vorstand als Organ sowie jedes einzelne Mitglied des Vorstands oder des Aufsichtsrats. Nur ihnen kann die Anfechtungsbefugnis (§ 246 AktG) bzw. die Befugnis zur Nichtigkeitsklage (§ 249 Abs. 1 Satz 1 AktG) zustehen. (1) Aktionäre als Kläger Kläger einer Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage kann jeder Aktionär der 12 Gesellschaft sein (§ 245 Nr. 1 – 3 AktG). Auf die Anzahl der von ihm gehaltenen Aktien kommt es nicht an. Mehrere klagende Aktionäre sind notwendige Streitgenossen (§ 62 ZPO). 13 Liegen mehrere Klagen vor, sind diese nach der Regelung in § 246 Abs. 3 Satz 5 AktG zwingend miteinander zu verbinden. Dies entspricht dem Charakter der Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage als Gestaltungsklage mit Wirkung für und gegen jedermann. (2) Vorstand als Kläger Der Vorstand kann als Organ Kläger einer Anfechtungs- und Nichtigkeits- 14 klage sein (§ 245 Nr. 4 AktG). Das Klagerecht steht dem Vorstand als eigenes ___________ 10) Zur Inanspruchnahme einstweiligen Rechtsschutzes unten Rn. 127 ff. 11) Zur Ad-hoc-Publizität bei Rechtsstreitigkeiten Kumpan/Misterek, in: Schwark/Zimmer, Kapitalmarktrechts-Kommentar, VO (EU) 596/2014 Art. 7 Rn. 303 f.; Teigelack, BB 2016, 1604.

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Recht zu, d. h. er handelt hier nicht als Vertreter der Gesellschaft. In der Praxis sind Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagen des Vorstands als Organ selten. (3) Einzelne Organmitglieder als Kläger 15 Kläger einer Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage können auch einzelne Mitglieder des Vorstands oder des Aufsichtsrats sein (§ 245 Nr. 5 AktG). In der Praxis sind Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagen einzelner Organmitglieder jedoch ebenfalls selten. bb) Beklagte (1) Gesellschaft als Beklagte 16 Beklagte einer Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage ist stets die Gesellschaft (§§ 246 Abs. 2 Satz 1, 249 Abs. 1 Satz 1 AktG). Besondere Bedeutung haben hier die Vertretungsregelungen, die nach § 170 Abs. 1 ZPO auch darüber entscheiden, an wen die Klage zuzustellen ist. (2) Vertretung der Gesellschaft 17 Grundsätzlich wird die Gesellschaft durch den Vorstand und den Aufsichtsrat gemeinsam vertreten (§ 246 Abs. 2 Satz 2 AktG). Klagt jedoch der Vorstand oder eines seiner Mitglieder, so wird die Gesellschaft vom Aufsichtsrat alleine vertreten (§ 246 Abs. 2 Satz 3 AktG). Klagt ein Mitglied des Aufsichtsrats, verbleibt die Vertretung der Gesellschaft beim Vorstand allein (§ 246 Abs. 2 Satz 3 AktG). Treten sowohl Vorstand bzw. Vorstandsmitglieder als auch Aufsichtsratsmitglieder als Kläger in Erscheinung, ist vom Gericht nach Maßgabe des § 57 ZPO ein Prozesspfleger zu bestellen.12) cc) Nebenintervention 18 Eine Nebenintervention ist unter den Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 ZPO möglich. Die Hürde für eine Nebenintervention ist damit denkbar gering. Es entspricht allgemeiner Meinung, dass alle von der Gestaltungswirkung des Urteils im Anfechtungs- und Nichtigkeitsverfahren betroffenen Personen ohne Weiteres ein Interventionsinteresse haben, insbesondere alle Aktionäre, der Vorstand als Organ und die Organmitglieder.13) Ein Interventionsinte___________ 12) OLG Hamburg AG 2003, 519. Für die Fälle der Vertretungsunfähigkeit von Vorstand und Aufsichtsrat wird im Schrifttum die Möglichkeit der Bestellung eines besonderen Vertreters durch die Hauptversammlung befürwortet (MünchKomm-AktG/Schäfer, § 246 Rn. 67). Wegen des Aufwands für die Einberufung einer Hauptversammlung ist dies aber allenfalls bei kleineren Gesellschaften mit überschaubarem Aktionärskreis praktikabel. 13) Ein Interventionsinteresse des besonderen Vertreters nach § 147 Abs. 2 AktG wird von der Rechtsprechung anerkannt, wenn der angegriffene Beschluss seine Bestellung oder die Entscheidung über die von ihm zu verfolgenden Schadensersatzansprüche betrifft, vgl. BGH ZIP 2015, 1286.

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resse Dritter kommt vor allem bei Beschlüssen über Unternehmensverträge oder Verschmelzungen in Betracht.14) Die Nebenintervention auf Seiten des Anfechtungs- und Nichtigkeitsklägers 19 setzt die eigene Befugnis zur Erhebung der Anfechtungs- und/oder Nichtigkeitsklage nicht voraus.15) Bei der Anfechtungsklage muss der Nebenintervenient lediglich die Nebeninterventionsfrist des § 246 Abs. 4 Satz 2 AktG beachten. Die Frist beträgt einen Monat ab Bekanntmachung der Klage in den Gesellschaftsblättern.16) Der als Nebenintervenient beitretende Aktionär17) ist streitgenössischer 20 Nebenintervenient i. S. d. § 69 ZPO.18) Im Fall des Beitritts auf Klägerseite kann der Aktionär als Nebenintervenient eine Klagerücknahme nicht verhindern.19) Bezüglich der Kosten des Nebenintervenienten gelten §§ 101 Abs. 2, 100 ZPO.20) Es ist daher stets im Einzelfall zu prüfen, ob die Gesellschaft die Kosten eines auf Seiten der bzw. des Kläger(s) beigetretenen Nebenintervenienten zu erstatten hat. b) Klageerhebung, Anträge und Verfahren aa) Klageerhebung und Anträge Die Klageerhebung wird durch Schriftsatz an das zuständige Gericht einge- 21 leitet.21) (1) Zuständigkeit der Gerichte Für die Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage ist das Landgericht am Sitz der 22 beklagten Gesellschaft sachlich und örtlich ausschließlich zuständig (§ 246 Abs. 3 Satz 1 AktG). Zu beachten ist, dass zahlreiche Bundesländer von der Möglichkeit der Zuständigkeitskonzentration nach § 246 Abs. 3 Satz 3 i. V. m. ___________ 14) Hüffer/Koch, AktG, § 246 Rn. 6 a. E. 15) BGHZ 172, 136, 140; MünchHdb. GesR Bd. 4/Austmann, § 42 Rn. 112. 16) Nach der Rechtsprechung gilt die Nebeninterventionsfrist des § 246 Abs. 4 Satz 2 AktG nur für den Beitritt auf Klägerseite und nicht für den Beitritt auf Seiten der beklagten Gesellschaft. Vgl. BGH ZIP 2009, 1538; OLG Düsseldorf ZIP 2019, 1112. A. A. KK-AktG/Noack/Zetzsch, § 246 Rn. 220 f.; K. Schmidt/Lutter/Schwab, AktG, § 246 Rn. 36 ff. Zu den Bekanntmachungspflichten bei Klageerhebung oben Rn. 9. 17) Zu diesem und weiteren Fällen der Nebenintervention Austmann, ZHR 158 (1994), 495 ff. 18) BGHZ 172, 136, 139 = ZIP 2007, 1528, 1529. 19) BGH NZG 2010, 831, 832 = ZIP 2010, 1366. 20) BGH NZG 2009, 948, 949 = ZIP 2009, 1538. 21) Wegen der Präklusionswirkung des § 246 Abs. 1 AktG ist bei der Anfechtungsklage darauf zu achten, dass zumindest der die Anfechtungsgründe tragende Sachverhalt rechtzeitig und damit vorzugsweise bereits in der Klageschrift umfassend dargestellt und vorgetragen wird. Einzelheiten zur Präklusionsgefahr bei Überschreiten der Anfechtungsfrist unten Rn. 66.

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§ 148 Abs. 2 Satz 3 AktG Gebrauch gemacht und die örtliche Zuständigkeit für aktienrechtliche Beschlussmängelklagen auf einzelne Landgerichte konzentriert haben.22) Unabhängig davon liegt die funktionelle Zuständigkeit stets bei der Kammer für Handelssachen. (2) Anträge 23 Der Klageantrag lautet in der Regel auf Feststellung der Nichtigkeit des im Antrag konkret zu bezeichnenden Beschlusses.23) Üblich ist zudem ein Hilfsantrag, der auf Feststellung der Nichtigkeit des Beschlusses gerichtet ist.24) 24 Gegenstand der Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage können sowohl positive als auch negative Beschlüsse sein, wobei Klagen gegen letztgenannte Beschlüsse nur in Verbindung mit einer positiven Beschlussfeststellungsklage zulässig sind.25) Teilanfechtungen sind in den Grenzen des § 139 BGB möglich, in der Praxis aber selten.26) 25 Kraft der Verweisung in § 138 Satz 2 AktG können auch Sonderbeschlüsse einzelner Aktionärsgruppen Gegenstand der Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage sein (§ 138 Satz 2 AktG i. V. m. §§ 241 ff. AktG). (3) Zustellung 26 Im Grundfall ist die Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage wegen der gesetzlich angeordneten Doppelvertretung beiden Verwaltungsorganen zuzustellen, d. h. dem Vorstand und dem Aufsichtsrat. Dabei genügt es, wenn die Zustellung an mindestens ein Mitglied des jeweiligen Organs erfolgt (§ 170 Abs. 3 ZPO). Die Klageschrift muss somit mindestens die zustellungsfähigen Ad-

___________ 22) Aktueller Überblick bei Hüffer/Koch, AktG, § 246 Rn. 37 sowie bei MünchHdb. GesR Bd. 7/Horcher/Wilk, § 29 Rn. 19. 23) Ausführliches Muster für eine Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage bei Happ/Möhrle, Aktienrecht, Band II, Muster 23.01. Einen auf Nichtigerklärung gerichteten Hauptantrag empfehlen Zimmerling/Denecke, in: Mehrbrey, § 8 Rn. 38 ff.; BeckFormB AktR/ Wiedemann/Notz, Muster I. XII. 1. 24) Nach dem Verständnis der Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage als einheitlichem Rechtsinstitut mit identischem Streitgegenstand ist diese Praxis zwar nicht mehr zwingend erforderlich, umgekehrt aber auch nicht schädlich. Es ergeben sich insbesondere keine kostenrechtlichen Nachteile, wenn die Klage „nur“ wegen Vorliegens eines Anfechtungsgrunds Erfolg hat (oder umgekehrt). Teilweise wird ein umgekehrtes Verhältnis von Haupt- und Hilfsantrag befürwortet. 25) Der Klage gegen negative Beschlüsse fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, wenn sie nicht mit einer positiven Beschlussfeststellungsklage verbunden wird. Vgl. OLG Stuttgart BeckRS 2015, 14340 Rn. 140 ff. Zu Einzelheiten der positiven Beschlussfeststellungsklage unten Rn. 103 ff. 26) BGH NJW 1994, 520 = ZIP 1993, 1862, 1863. Ausführlich zur Teilanfechtung und zur Teilbarkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen MünchKomm-AktG/Schäfer, § 243 Rn. 11 und § 241 Rn. 90 ff.

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ressen je eines Mitglieds des Vorstands und des Aufsichtsrats umfassen.27) In den Fällen einer abweichenden Vertretungsregelung genügt die Zustellung an das jeweils zur gesetzlichen Vertretung berufene Organ. Wegen der Gefahr der nicht fristgerechten Zustellung und dem damit einhergehenden Verlust der Anfechtungsbefugnis empfiehlt sich bei Zweifeln über die konkret einschlägige Vertretungsregelung stets die Zustellung an Vorstand und Aufsichtsrat. bb) Verfahrensgrundsätze (1) Dispositionsmaxime Für das Verfahren der Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage gilt die Disposi- 27 tionsmaxime, d. h. die Parteien haben den Streitstoff und die Verhandlung über den Streitgegenstand selbst in der Hand. Richtigerweise gilt dies auch in Bezug auf die Streitbeendigung durch Anerkenntnis der Gesellschaft.28) (2) Darlegungs- und Beweislast Die Darlegungs- und Beweislast folgt allgemeinen zivilprozessualen Regeln. 28 Jede Partei hat die ihr günstigen Tatsachen vorzutragen und zu beweisen, die ihren Anspruch stützen.29) Verfahrensfehler müssen konkret dargelegt und unter Beweis gestellt werden. 29 Eine „pauschale Verfahrensrüge“ genügt diesen Anforderungen nicht.30) Besondere Bedeutung kommt im Übrigen der Niederschrift über die Hauptversammlung zu. Stammt sie von einem Notar, so vermittelt sie den vollen Beweis i. S. d. § 415 ZPO.31) Bei Inhaltsfehlern gelten die gleichen Grundsätze, d. h. der Kläger hat die 30 Tatsachen darzulegen und zu beweisen, aus denen sich der Anfechtungsund/oder Nichtigkeitsgrund ergibt. Im Einzelfall kann freilich zweifelhaft sein, ob es bei bestimmten Tastbestandsmerkmalen noch um ein Angriffsoder schon um ein Verteidigungsmittel im Sinne der zivilprozessualen Normentheorie geht. Exemplarisch zeigt sich dies bei der Frage nach der Darlegungs- und Beweislast für den sachlichen Grund im Rahmen der in der Rechtsprechung entwickelten materiellen Beschlusskontrolle. Für den Fall der Kapitalerhöhung unter Bezugsrechtsausschluss hat sich die Rechtspre___________ 27) Eine Ersatzzustellung an den Aufsichtsrat unter der Adresse der Gesellschaft ist nach herrschender Meinung selbst dann nicht möglich, wenn der Aufsichtsrat dort ein Büro unterhält. Zu den Anforderungen an die Zustellung der Klage an Vorstand und Aufsichtsrat Hüffer/Koch, AktG, § 246 Rn. 31 ff.; Tielmann, ZIP 2002, 1879. 28) Zur Streitbeendigung durch Anerkenntnis der Gesellschaft unten Rn. 36. 29) Spindler/Stilz/Drescher, AktG, § 243 Rn. 240. 30) MünchKomm-AktG/Schäfer, § 243 Rn. 146. 31) Eine vom Versammlungsleiter nach § 130 Abs. 1 Satz 3 erstellte Niederschrift unterliegt der freien Beweiswürdigung gem. § 286 ZPO.

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chung für die Einordnung des sachlichen Grundes als Verteidigungsmittel und damit für die Darlegungs- und Beweislast der Gesellschaft entschieden.32) Inwieweit dies auf alle Fälle der materiellen Beschlusskontrolle zu übertragen ist, muss als offen bezeichnet werden.33) 31 Beweiserleichterungen gewähren die Gerichte häufig unter dem Aspekt der Tatsachennähe.34) Bei Informationsmängeln genügt es, wenn der Kläger Tatsachen vorträgt und unter Beweis stellt, die den Mangel plausibel erscheinen lassen. Im Rahmen der sekundären Beweislast obliegt es dann der Gesellschaft, den Vorwurf der Mangelhaftigkeit zu entkräften.35) cc) Verfahrensbeendigung 32 Das Gericht entscheidet grundsätzlich durch Urteil. Möglich und in der Praxis nicht selten anzutreffen ist auch die Verfahrensbeendigung durch Vergleich. Weniger bedeutsam sind hingegen die Verfahrensbeendigungen durch Anerkenntnis oder Klagerücknahme. (1) Urteil 33 Das der Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage stattgebende Urteil hat Gestaltungswirkung dahingehend, dass es für und gegen jedermann gilt. Betroffen von dieser inter omnes Wirkung sind nicht nur die Gesellschaft, Aktionäre, Gesellschaftsorgane und deren Mitglieder, sondern auch jede andere Person. Neue Klagen sind unzulässig, bei etwa noch anhängigen Klagen tritt Erledigung ein. 34 Das stattgebende Urteil vernichtet den streitgegenständlichen Beschluss und grundsätzlich auch alle mit ihm verbundenen Durchführungsmaßnahmen mit Wirkung ex tunc. Ausnahmen gelten in Bezug auf Durchführungsmaßnahmen, für die das Gesetz entweder insgesamt oder zumindest für die Vergangenheit Bestandsschutz oder Vertrauensschutz anordnet. Der Bestandsschutz greift z. B. bei Umwandlungsvorgängen (§ 20 Abs. 2 UmwG) und Kapitalerhöhungen, die zum Zwecke einer Verschmelzung durchgeführt wurden.36) Für sonstige Kapitalerhöhungen, Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge und Eingliederungen gilt, dass sie nach den Regeln über die fehlerhafte Gesellschaft zwar nicht von Anbeginn an unwirksam sind, gleichwohl aber mit Wirkung ex nunc rückabgewickelt werden müssen. Bei Be___________ 32) BGHZ 71, 40, 48 f. 33) Für weitergehende Übertragung etwa MünchKomm-AktG/Schäfer, § 243 Rn. 151. 34) Hierzu allgemein BGHZ 167, 204, 212; BGHZ 103, 184, 196 f. Aus der Rechtsprechung mit aktienrechtlichem Bezug vor allem OLG Stuttgart AG 2009, 124. Weitere Nachweise bei Spindler/Stilz/Drescher, AktG, § 243 Rn. 241. 35) Speziell zur Darlegungs- und Beweislast bei Informationsmängeln OLG Dresden AG 2005, 247, 249; OLG Stuttgart AG 2009, 124, 127. Zu weiteren Einzelfällen Spindler/ Stilz/Drescher, AktG, § 243 Rn. 241. 36) OLG Frankfurt/M. Der Konzern 2012, 266, 270.

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schlüssen, die nur das Innenverhältnis betreffen, bleiben etwaige Durchführungsgeschäfte im Außenverhältnis wegen der insoweit vorrangigen unbeschränkten Vertretungsmacht des Vorstands unberührt.37) Klageabweisende Urteile haben keine Gestaltungswirkung. Ihre Rechtskraft 35 erfasst auch nur die Parteien des Verfahrens, keine sonstigen Dritten und auch nicht Aktionäre, die am Verfahren nicht beteiligt waren. Sie alle werden durch das klageabweisende Urteil nicht an der Erhebung einer eigenen Beschlussmängelklage gehindert. Demgegenüber kann der bzw. können die Kläger des ursprünglichen Verfahrens den Hauptversammlungsbeschluss nach Klageabweisung nur noch im Wege der Nichtigkeitsklage angreifen und auch dies nur dann, wenn die Klage auf einen neuen Lebenssachverhalt gestützt wird.38) (2) Anerkenntnis und Klagerücknahme Eine Verfahrensbeendigung durch Anerkenntnis ist nach herrschender Mei- 36 nung möglich.39) Das von der Gegenauffassung40) ins Feld geführte Argument, es stehe nicht in der Kompetenz der Verwaltung, sich über die Willensbildung der Hauptversammlung hinwegzusetzen, ist zwar dem Grunde nach richtig, betrifft aber nur das „Dürfen“ im Innenverhältnis und nicht die Rechtsmacht im Außenverhältnis. Zu Recht wurde zudem darauf hingewiesen, dass die Doppelvertretung durch Vorstand und Aufsichtsrat einer pflichtwidrigen Wahrnehmung der prozessualen Befugnis ausreichend entgegenwirkt und die Aktionäre zusätzlich über das Nebeninterventionsrecht geschützt sind.41) Ein in der Folge des prozessualen Anerkenntnisses ergehendes Anerkenntnisurteil (§ 307 ZPO) hat die gleiche Gestaltungs- und Rechtskraftwirkung wie das streitig ergangene Endurteil. Auf Klägerseite kommt als verfahrensbeendigende Maßnahme eine Klage- 37 rücknahme in Betracht. Diese wirkt jedoch nur für und gegen den einzelnen Kläger. Bei mehreren Klägern wird das Verfahren mit den verbleibenden Klägern fortgesetzt.

___________ 37) Zu Unterausnahmen wie z. B. Missbrauch der Vertretungsmacht oder durch den Hauptversammlungsbeschluss bedingte Geschäfte: MünchHdb. GesR Bd. 4/Austmann, § 42 Rn. 125 a. E. 38) Spindler/Stilz/Dörr, AktG, § 248 Rn. 27; Hüffer/Koch, AktG, § 248 Rn. 15; Bürgers/ Körber/Göz, AktG, § 248 Rn. 22; a. A. Grigoleit/Ehmann, AktG, § 248 Rn. 8. 39) OLG Düsseldorf ZIP 2019, 1112, 1114 ff.; MünchHdb. GesR Bd. 4/Austmann, § 42 Rn. 120; MünchKomm-AktG/Schäfer, § 246 Rn. 26; Göz/Buken, NZG 2019, 1046. 40) GroßKommAktG/Schmidt, § 246 Rn. 78; Spindler/Stilz/Dörr, AktG, § 246 Rn. 51; Hüffer/Koch, AktG, § 246 Rn. 17; Grigoleit/Ehmann, AktG, § 246 Rn. 24. 41) MünchHdb. GesR Bd. 4/Austmann, § 42 Rn. 120; OLG Düsseldorf ZIP 2019, 1112, 1115. Zum Nebeninterventionsrecht des Aktionärs oben Rn. 18 ff.

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(3) Vergleich 38 Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagen sind nach allgemeinen Regeln einem Vergleich zugänglich. Die fehlende Gestaltungswirkung des Vergleichs schränkt die praktischen Möglichkeiten jedoch in nicht unerheblichem Maße ein.42) Die Aufhebung des Hauptversammlungsbeschlusses mit Wirkung für und gegen jedermann ist der Disposition der Parteien von vornherein entzogen. Gleiches gilt für alle wirkungsgleichen Maßnahmen wie etwa die Verpflichtung, auf die Durchführung des Beschlusses zu verzichten. Möglich bleibt nach der hier vertretenen Auffassung das Anerkenntnis durch die Gesellschaft, welches auch Teil eines Vergleichs sein kann. Möglich bleiben zudem alle Vergleiche, die den Bestand eines Hauptversammlungsbeschlusses bestätigen oder sichern.43) dd) Kosten und Streitwert (1) Kosten 39 Die Kosten des Anfechtungs- und Nichtigkeitsstreits werden nach den allgemeinen Regeln, d. h. nach den §§ 91 ff. ZPO getragen. Bezüglich der Kosten des Nebenintervenienten gelten die §§ 101 Abs. 2, 100 ZPO.44) (2) Streitwertfestsetzung 40 Für die Streitwertfestsetzung hält § 247 AktG eine Sonderregelung bereit, die der allgemeinen Streitwertregelung des § 3 ZPO als lex specialis vorgeht. Konkret geht es dem Gesetzgeber darum, das Instrument der Anfechtungsund Nichtigkeitsklage nicht durch ein prohibitiv wirkendes Kostenrisiko zu entwerten. 41 Bei der Streiwertbemessung nach § 247 AktG ist die Bedeutung der Sache aus der Perspektive alle Parteien zu berücksichtigen. Dies setzt die Ermittlung der Bedeutung der Sache für den bzw. die Kläger sowie die Ermittlung der Bedeutung der Sache für die Gesellschaft voraus. Aus den jeweiligen Werten kann dann ein Mittelwert gebildet werden. Zu beachten ist dabei die Streitwertgrenze des § 274 Abs. 1 Satz 2 AktG. Danach darf der Streitwert nicht mehr als ein Zehntel des Grundkapitals der Gesellschaft, höchstens jedoch EUR 500.000,00 betragen. Bei mehreren Streitgegenständen ist der Streitwert für jeden einzelnen Streitgegenstand (z. B. Beschluss) zu ermitteln und zu addieren. Die Streitwertgrenze gilt für jeden Streitgegenstand gesondert, nicht jedoch für die Summe des Werts mehrerer Streitgegenstände.45) ___________ 42) §§ 248, 241 Nr. 5 AktG finden auf den Vergleich keine Anwendung; vgl. Spindler/ Stilz/Dörr, AktG, § 248 Rn. 28. 43) MünchHdb. GesR Bd. 4/Austmann, § 42 Rn. 128. 44) BGH NZG 2009, 948, 949 = ZIP 2009, 1538. Vgl. hierzu auch oben Rn. 20. 45) OLG Frankfurt/M. AG 1984, 154; Hüffer/Koch, AktG, § 247 Rn. 9.

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In der Praxis der Gerichte haben vor allem mathematisch geprägte Ansätze 42 zur Bestimmung des Streitwerts Bedeutung erlangt. Dabei wird teilweise46) der relative Mittelwert der zuvor quantifizierten Einzelinteressen ermittelt, teilweise47) der arithmetische Mittelwert. Häufig fassen die Gerichte ihr Ermessen aber auch einfach in eine Zahl, ohne deren Herleitung besonders zu begründen.48) Einen besonderen Schutz ermöglicht § 274 Abs. 2 AktG mit dem Instrument 43 der Streitwertspaltung. Macht eine Partei glaubhaft, dass die Belastung mit den Prozesskosten ihre wirtschaftliche Lage erheblich gefährden würde, wenn diese auf Basis des nach § 274 Abs. 1 AktG berechneten Streitwerts ermittelt würden, kann das Gericht anordnen, dass die von dieser Partei zu tragenden Kosten aufgrund eines der Wirtschaftslage dieser Partei angepassten Teils des Streitwerts berechnet werden. Nach der Rechtsprechung kann die Streitwertspaltung zugunsten des Klägers nicht gewährt werden, wenn die Klage mutwillig oder aussichtslos ist.49) ee) Rechtsmittel Gegen das Anfechtungs- und Nichtigkeitsurteil steht der unterlegenen Partei 44 das Rechtsmittel der Berufung zum Oberlandesgericht (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) und hierauf das der Revision zum Bundesgerichtshof offen, letzteres jedoch nur dann, wenn die Revision durch das Berufungsgericht zugelassen wurde (§ 543 Abs. 1 ZPO). c) Begründetheit Die Anfechtungs- und/oder Nichtigkeitsklage ist begründet, wenn der Klage- 45 partei die entsprechende Klagebefugnis zusteht, die Klagefristen gewahrt sind und ein Anfechtungs- bzw. Nichtigkeitsgrund vorliegt, der bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung nicht durch Bestätigungsbeschluss beseitigt bzw. geheilt wurde. aa) Befugnis zur Erhebung der Anfechtungs- und/oder Nichtigkeitsklage Das Aktiengesetz bestimmt abschließend, wer zur Erhebung einer Anfech- 46 tungs- und/oder Nichtigkeitsklage befugt ist. Diese Befugnis ist nach herrschender Meinung aber nicht als Zulässigkeitsvoraussetzung, sondern materiell-rechtlich zu verstehen. Ihr Fehlen führt zur Abweisung der Klage als unbegründet.50) ___________ 46) Z. B. OLG Hamm AG 1976, 19. 47) Z. B. OLG Frankfurt/M. AG 1984, 154, 155. 48) Vgl. hierzu auch die Auswertung des Rechtsprechungsmaterials bei K. Schmidt/Lutter/ Schwab, AktG, § 247 Rn. 7 ff. 49) BGH AG 1992, 59. 50) BGH AG 2007, 863, 865 = ZIP 2007, 2122.

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(1) Befugnis zur Erhebung der Nichtigkeitsklage 47 Die Befugnis zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage ergibt sich ohne weiteres aus der Position als Aktionär, Vorstandsorgan, Vorstand oder Aufsichtsrat (§ 249 AktG). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Erfüllung dieses Kriteriums ist der Schluss der letzten mündlichen Verhandlung. Entfällt die Rechtsstellung vor diesem Zeitpunkt, ist bei Vorliegen eines berechtigten Interesses eine Fortsetzung der Klage als allgemeine Feststellungsklage möglich.51) (2) Befugnis zur Erhebung einer Anfechtungsklage (Anfechtungsbefugnis) 48 Wesentlich strengere Anforderungen gelten für die Befugnis zur Erhebung einer Anfechtungsklage. In dem Bestreben, die Anfechtungsbefugnis sinnvoll zu beschränken, hat der Gesetzgeber für alle in Betracht kommenden Klageparteien inhaltliche Schranken der Anfechtungsbefugnis definiert (§ 245 AktG). Im Einzelnen gilt für die Anfechtungsbefugnis: (a) Aktionäre 49 Bei Aktionären stellt sich zunächst die Frage nach der Aktionärseigenschaft. Sie ist in der Regel gegeben beim Inhaber der Aktie, sofern er nicht im Ausnahmefall an der Geltendmachung seiner Aktionärsrechte gehindert ist.52) An der ausschließlichen Anfechtungsbefugnis des rechtlichen Inhabers der Aktie ändert sich auch nichts in Sonderkonstellationen wie einer Treuhand (anfechtungsbefugt ist hier stets der Treuhänder), der Verpfändung oder der Einräumung eines Nießbrauchs an einer Aktie.53) Dem Legitimationsaktionär steht die Anfechtungsbefugnis ebenfalls nicht unmittelbar zu.54) Eine etwa eingeräumte Ermächtigung zur Anfechtung von Beschlüssen im eigenen Namen ist Prozessstandschaft für den eigentlichen Aktionär.55) 50 Der Aktionär muss seine Aktionärseigenschaft nachweisen. Bei Inhaberaktien erfolgt dies z. B. mittels einer Aktienurkunde oder – in der Praxis häufiger – mittels Hinterlegungsbescheinigung oder Depotauszug. Bei Namensaktien genügt die Eintragung im Aktienregister. ___________ 51) BGH AG 1999, 180, 181; OLG München NZG 2009, 1227 = ZIP 2009, 2314. 52) Dies ist etwa der Fall bei einem Verstoß gegen die Mitteilungspflichten nach §§ 20, 21 AktG, der Verletzung von Meldepflichten nach § 28 WpHG sowie Publikationspflichten nach § 57 WpÜG. Bei Nachholung der Mitteilung bzw. Erfüllung der Melde- oder Publikationsfrist vor Ablauf der Anfechtungsfrist ist die Anfechtungsbefugnis nach § 245 Abs. 3 AktG aber dennoch gegeben. Vgl. hierzu BGH, Hinweisbeschluss vom 20.4.2009, AG 2009, 534 = ZIP 2009, 1317; OLG Schleswig AG 2008, 129 = ZIP 2007, 2214. 53) Ausführlich zu diesen Fällen Spindler/Stilz/Dörr, AktG, § 245 Rn. 14 ff.; zusammenfassend Bürgers/Körber/Göz, AktG, § 245 Rn. 7. 54) BayObLGZ 1996, 234, 237 f.; LG München I AG 2010, 47. 55) Zur Reichweite der Befugnisse des Legitimationsaktionärs MünchKomm-AktG/Schäfer, § 245 Rn. 33.

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In zeitlicher Hinsicht muss die Aktionärseigenschaft bereits im Zeitpunkt 51 der Bekanntmachung der Tagesordnung und sodann ununterbrochen bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung gegeben sein. Lediglich in den Fällen des § 245 Nr. 2 AktG ist es ausreichend, wenn die Aktionärseigenschaft erst ab dem Zeitpunkt der Beschlussfassung gegeben war. Eine Veräußerung der Aktien nach Rechtshängigkeit führt nur dann nicht zum Verlust der Anfechtungsbefugnis, wenn auch weiterhin ein berechtigtes Interesse des (ehemaligen) Aktionärs vorliegt.56) Bei der Definition der weiteren Voraussetzungen der Anfechtungsbefugnis 52 differenziert das Gesetz einerseits zwischen in der Hauptversammlung erschienenen und nicht erschienenen Aktionären, andererseits nach den geltend gemachten Anfechtungsgründen. Im Einzelnen: (aa) In der Hauptversammlung erschienene Aktionäre (§ 245 Nr. 1 AktG) Einem in der Hauptversammlung erschienenen Aktionär steht die Anfech- 53 tungsbefugnis dann zu, wenn er seine Aktien vor Bekanntmachung der Tagesordnung erworben und in der Hauptversammlung Widerspruch zur Niederschrift gegen den Beschluss erklärt hat (§ 245 Nr. 1 AktG). Erschienen ist der Aktionär bereits dann, wenn er selbst oder über einen Vertreter oder Legitimationsaktionär zumindest vorübergehend an der Hauptversammlung teilgenommen hat. Das Erfordernis des Widerspruchs kann im Einzelfall entbehrlich sein. Um- 54 stritten ist, ob dies auch dann gilt, wenn der Anfechtungsgrund in der Hauptversammlung nicht erkennbar war.57) Im Hinblick auf die geringen formalen Anforderungen an die Erhebung des Widerspruchs58) und die ohnehin verbreitete Praxis des rein vorsorglichen Erhebens von Widersprüchen59) sollten Ausnahmen vom Widerspruchserfordernis nur zurückhaltend und in krassen Ausnahmefällen zugelassen werden. (bb) In der Hauptversammlung nicht erschienene Aktionäre (§ 245 Nr. 2 AktG) Der in der Hauptversammlung nicht erschienene Aktionär60) ist nur dann 55 zur Anfechtung befugt, wenn die Gründe für sein Nichterscheinen aus der ___________ 56) BGHZ 169, 221 = ZIP 2006, 2167. Zum Fortbestand der Anfechtungsbefugnis bei Verlust der Aktionärseigenschaft im Zuge eines Squeeze-Out: Spindler/Stilz/Dörr, AktG, § 245 Rn. 21. 57) Für Entbehrlichkeit des Widerspruchs bei fehlender Erkennbarkeit des Mangels: MünchKomm-AktG/Schäfer, § 245 Rn. 37; Spindler/Stilz/Dörr, AktG, § 245 Rn. 30. Dagegen: MünchHdb. GesR Bd. 4/Austmann, § 42 Rn. 94; Bürgers/Körber/Göz, AktG, § 245 Rn. 12; Grigoleit/Ehmann, AktG; § 245 Rn. 13. 58) Der Widerspruch muss nach h. M. nicht begründet werden. Vgl. OLG München ZIP 2018, 2369 und K. Schmidt/Lutter/Schwab, AktG, § 245 Rn. 13 m. w. N. 59) Zur Praxis des Widerspruchs „auf Vorrat“ MünchHdb. GesR Bd. 4/Austmann, § 42 Rn. 94. 60) Zur Abgrenzung zwischen Erscheinen und Nichterscheinen siehe oben Rn. 53.

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Sphäre der Gesellschaft stammen. § 245 Nr. 2 AktG definiert drei Fälle, in diesen dies anzunehmen ist: x

der Aktionär wurde zu Unrecht nicht zur Hauptversammlung zugelassen (§ 245 Nr. 2 Alt. 1 AktG);

x

die Versammlung wurde nicht ordnungsgemäß einberufen (§ 245 Nr. 2 Alt. 2 AktG); und

x

der Gegenstand der Beschlussfassung wurde nicht ordnungsgemäß bekannt gemacht (§ 245 Nr. 2 Alt. 3 AktG).

Die Aufzählung ist abschließend. 56 Eine unberechtigte Nichtzulassung i. S. v. § 245 Nr. 2 Alt. 1 AktG liegt dann vor, wenn dem Aktionär oder seinem Vertreter die Teilnahme an der Hauptversammlung versagt wird, obwohl er alle Teilnahmevoraussetzungen und -bedingungen erfüllt. Hierzu zählen insbesondere die nach § 123 Abs. 2 – 4 AktG zulässigen Teilnahmebedingungen wie die Hinterlegung von Aktien und die rechtzeitige Anmeldung zur Hauptversammlung. Überzogene Zugangserschwernisse durch besondere Einlasskontrollen können im Einzelfall einer unberechtigten Nichtzulassung gleichkommen.61) Der unberechtigte Saalverweis steht der unberechtigten Nichtzulassung stets gleich.62) 57 Einberufungsfehler i. S. v. § 245 Nr. 2 Alt. 2 AktG sind Verstöße gegen die Einberufungsvorschriften der §§ 121 – 123 AktG sowie Verstöße gegen die Mitteilungspflichten nach §§ 125 – 127 AktG. Einberufungsmängel, die nicht der Sphäre der Gesellschaft zuzuordnen sind,63) begründen die Anfechtungsbefugnis nicht. 58 Ein Bekanntmachungsfehler i. S. v. § 245 Nr. 2 Alt. 3 AktG liegt vor, wenn die Vorgaben des § 124 Abs. 1 – 3 AktG nicht eingehalten wurden. Umstritten ist, ob sich die Anfechtungsbefugnis in diesen Fällen auf alle in der Hauptversammlung gefassten Beschlüsse erstreckt64) oder auf den fehlerhaft bekannt gemachten Beschlussgegenstand beschränkt bleibt.65) Richtigerweise sollte Letzteres gelten, da nur in diesem eingeschränkten Umfang von einem Schutzbedürfnis des Aktionärs auszugehen ist. Wären dem Aktionär etwaige weitere, ordnungsgemäß bekannt gemachte Beschlussgegenstände wichtig gewesen, hätte er die Hauptversammlung besuchen und gegebenenfalls Widerspruch zu Protokoll einlegen können. Es gibt keinen validen Grund, den Aktionär insoweit zu entlasten. ___________ 61) OLG Düsseldorf AG 1991, 444; OLG Frankfurt/M. AG 2007, 357. 62) BGHZ 44, 245, 250; OLG München AG 2010, 842. 63) Z. B. Versäumnisse der Depotbank bei der Erfüllung der Weitergabepflichten nach § 128 AktG. 64) So z. B. Spindler/Stilz/Dörr, AktG, § 245 Rn. 38; Hüffer/Koch, AktG, § 245 Rn. 20 a. E. 65) K. Schmidt/Lutter/Schwab, AktG, § 245 Rn. 23; Bürgers/Körber/Göz, AktG, § 245 Rn. 14.

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(cc) Geltendmachung von Verstößen gegen §§ 243 Abs. 2 AktG, 245 Nr. 3 AktG Einen besonderen Fall der Anfechtungsbefugnis regelt § 245 Nr. 3 AktG. 59 Danach ist die Anfechtungsbefugnis unabhängig vom Erscheinen oder Nichterscheinen sowie unabhängig von einem Widerspruch zur Niederschrift immer dann gegeben, wenn ein Verstoß gegen § 243 Abs. 2 AktG geltend gemacht wird. Die Anfechtungsbefugnis bleibt allerdings auf diesen Anfechtungsgrund beschränkt, d. h. andere Anfechtungsgründe können nur geltend gemacht werden, wenn sich die Anfechtungsbefugnis auch noch aus anderen Gründen ergibt. Die Anfechtungsbefugnis nach § 245 Nr. 3 AktG besteht nur dann, wenn der Aktionär seine Aktie(n), aus der bzw. aus denen er sein Klagerecht ableitet, bereits vor Bekanntgabe der Tagesordnung erworben und sie seither ohne Unterbrechung gehalten hat. Umstritten und in der Rechtsprechung bisher nicht entschieden ist die Frage, 60 ob bei der Geltendmachung von Verstößen gegen den Grundsatz gleichmäßiger Behandlung (§ 53a AktG) und/oder das Treuegebot eine Analogie zu ziehen und eine vom Erscheinen und Erheben des Widerspruchs zur Niederschrift unabhängige Anfechtungsbefugnis auch für diese Anfechtungsgründe anzunehmen ist.66) Dafür spricht, dass die mit den vorgenannten Generalklauseln sanktionierten Rechtsverstöße ähnlich schwerwiegend sein können wie jene, die § 243 Abs. 2 AktG im Blick hat. Letztendlich handelt es sich bei der Regelung des § 245 Nr. 3 AktG jedoch um eine nicht analogiefähige Ausnahmevorschrift. Es entstehen insoweit auch keine übermäßigen Härten, da bei nicht erkennbaren Rechtsverstößen der Wegfall des Widersprucherfordernisses korrigierend wirken kann.67) Ein darüber hinausgehender Verzicht auf das Erfordernis des Erscheinens in der Hauptversammlung ist nicht angezeigt. (b) Vorstand als Organ (§ 245 Nr. 4 AktG) Dem Vorstand als Organ gewährt § 245 Nr. 4 AktG die Anfechtungsbefug- 61 nis ganz ohne weitere Voraussetzungen. Die Anfechtungsbefugnis entfällt selbst dann nicht, wenn der Beschluss auf einen Vorschlag des Vorstands zurückgeht oder einzelne Vorstandsmitglieder in der Hauptversammlung für den Beschluss gestimmt haben.68) (c) Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat (§ 245 Nr. 5 AktG) Mitglieder des Vorstands und Aufsichtsratsmitglieder sind je einzeln anfech- 62 tungsbefugt, wenn sie durch die Ausführung des Beschlusses eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begehen oder sich schadensersatzpflichtig machen würden (§ 245 Nr. 5 AktG). ___________ 66) Dafür: GroßKommAktG/K. Schmidt, § 245 Rn. 30. Dagegen: MünchKomm-AktG/ Schäfer, § 245 Rn. 51; K. Schmidt/Lutter/Schwab, AktG, § 245 Rn. 24. 67) Dies gilt auch dann, wenn man Ausnahmen vom Widerspruchserfordernis nur sehr zurückhaltend zulässt. Vgl. hierzu oben Rn. 54 m. w. N. 68) Spindler/Stilz/Dörr, AktG, § 245 Rn. 41.

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bb) Fristen (1) Klagefrist zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage 63 Eine Frist zur Erhebung der Nichtigkeitsklage sieht das Aktiengesetz nicht vor. Eine Ausnahme gilt lediglich nach § 14 UmwG für Verschmelzungsbeschlüsse. Im Übrigen erfährt das Bestandsschutzinteresse der Gesellschaft bei Vorliegen von Nichtigkeitsgründen keinen besonderen Schutz.69) (2) Anfechtungsfrist bei der Anfechtungsklage 64 Für Anfechtungsklagen gilt die Anfechtungsfrist des § 246 Abs. 1 AktG. Es handelt sich dabei um eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist, d. h. bei Säumnis ist die Klage als unbegründet abzuweisen. 65 Die Frist beträgt einen Monat ab dem Tag der Beschlussfassung in der Hauptversammlung. Sie wird gewahrt durch ordnungsgemäße Klageerhebung70) i. S. d. § 253 Abs. 1 ZPO, wobei die Einreichung der Klage bei Gericht ausreicht, wenn die Zustellung „demnächst“ erfolgt (§ 167 ZPO). 66 Anfechtungsgründe, die nicht innerhalb der Anfechtungsfrist in das Verfahren eingebracht wurden, sind materiell-rechtlich präkludiert.71) Daher kommt auch eine Wiedereinsetzung nicht in Betracht. Die Anforderungen an die Konkretisierung der den Anfechtungsgrund tragenden Tatsachen und Umstände sind jedoch nicht zu hoch anzusetzen. cc) Nichtigkeitsgründe 67 Besonders schwerwiegende Mängel können zur Nichtigkeit von Beschlüssen führen. Das Aktiengesetz betrachtet die Nichtigkeit jedoch als Ausnahme, die nur dann eingreifen soll, wenn besonders schwerwiegende Mängel vorliegen. Diese Mängel sind in einem als abschließend konzipierten Katalog der Nichtigkeitsgründe zusammengefasst. Dabei geht es um folgende Sachverhalte: (1) Einberufungsmängel (§ 241 Nr. 1 AktG) 68 Nichtig sind Beschlüsse einer Hauptversammlung, die unter Verstoß gegen § 121 Abs. 2 und 3 oder 4 AktG einberufen wurde.72) ___________ 69) Die Einführung der im Schrifttum vielfach befürworteten Klagefrist für sogenannte „nachgeschobene Nichtigkeitsklagen“ wurde vom Gesetzgeber zuletzt in Erwägung gezogen, in der Aktienrechtsnovelle 2016 aber dann doch nicht umgesetzt. Vgl. hierzu Söhner, ZIP 2016, 151, 158; MünchHdb. GesR Bd. 4/Austmann, § 42 Rn. 141 f. 70) Zu den Anforderungen an den Inhalt der Klageschrift bereits oben Rn. 21 und Fn. 21. 71) BGH ZIP 2010, 879; OLG München BeckRS 2018, 14080; OLG Frankfurt/M. ZIP 2017, 1714. Zur vorübergehend abweichenden Rechtsprechung des BGH Spindler/Stilz/ Dörr, AktG, § 245 Rn. 20. 72) Z. B. die Einberufung durch Unbefugte (BGHZ 11, 231, 236) oder die fehlerhafte Angabe der Teilnahmebedingungen (OLG Frankfurt/M. AG 1991, 208, 209), nicht jedoch der „lediglich“ ermessenfehlerhafte Einsatz der Modifikationen nach Art. 2 § 1 COVID19-Gesetz (LG München I, ZIP 2020, 1241).

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(2) Beurkundungsmängel (§ 241 Nr. 2 AktG) Nichtig sind des Weiteren Beschlüsse, die nicht nach den Vorschriften des 69 § 130 Abs. 1 und 2 Satz 1 und Abs. 4 AktG beurkundet wurden.73) (3) Inhaltsmängel (§ 241 Nr. 3 AktG) Ein Nichtigkeitsgrund i. S. d. § 241 Nr. 3 AktG liegt vor, wenn der Beschluss 70 x

mit dem Wesen der Aktiengesellschaft nicht zu vereinbaren ist oder

x

durch seinen Inhalt Vorschriften verletzt, die ausschließlich oder überwiegend dem Schutz der Gläubiger der Gesellschaft dienen oder

x

durch seinen Inhalt Vorschriften verletzt, die sonst im öffentlichen Interesse gegeben sind.

(4) Sittenwidrigkeit (§ 241 Nr. 4 AktG) Ein Nichtigkeitsgrund liegt auch dann vor, wenn der Beschluss durch seinen 71 Inhalt gegen die guten Sitten verstößt. (5) Nichtigkeitsgründe aus anderen aktienrechtlichen Vorschriften In Ergänzung zu den Nichtigkeitsgründen des § 241 Nr. 1 – 4 AktG kann 72 sich die Nichtigkeit aus Gründen ergeben, die der Gesetzgeber im Interesse der Rechtsklarheit für besondere Beschlussgegenstände definiert hat. Zu nennen sind insoweit die Verweisungsfälle des § 241 AktG und die besonderen Nichtigkeitsgründe der §§ 250, 253 und 256 AktG. (a) Verweisungsfälle des § 241 AktG In seinem Einleitungssatz verweist § 241 AktG auf Nichtigkeitsgründe, die 73 an anderer Stelle des Aktiengesetzes geregelt sind. Konkret geht es um folgende Nichtigkeitsfälle: x

Beschlüsse, die einem Beschluss über eine bedingte Kapitalerhöhung entgegenstehen (§ 194 Abs. 4 AktG), und

x

Beschlüsse über die Zuweisung neuer Aktien bei Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln entgegen der gesetzlichen Vorgabe (§ 212 AktG).

Darüber hinaus verweist § 241 AktG in seinem Einleitungssatz auf Fälle, in 74 denen Beschlüsse bis zu ihrer Eintragung schwebend unwirksam bleiben und im Falle des Scheiterns der Eintragung oder der nicht fristgerechten Eintragung endgültig der Unwirksamkeit anheimfallen.74) Diese Fälle der Unwirk___________ 73) Zu den Anforderungen an die ordnungsgemäße Beurkundung KK-AktG/Noack/Zetzsche, § 130 Rn. 43 ff. m. w. N. 74) Zu dieser dogmatischen Einordnung Spindler/Stilz/Dörr, AktG, § 241 Rn. 125.

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samkeit sind nach der Vorgabe des § 241 AktG ebenfalls mittels Nichtigkeitsklage geltend zu machen. Konkret geht es dabei um folgende Beschlussgegenstände: x

Kapitalerhöhung mit rückwirkender Gewinnberechtigung der neuen Aktien (§ 217 Abs. 2 AktG),

x

Kapitalherabsetzung unter den Mindestnennbetrag mit gleichzeitiger Kapitalerhöhung (§ 228 Abs. 1 AktG),

x

Rückwirkung einer Kapitalherabsetzung (§ 234 Abs. 3 AktG) und

x

Rückwirkung einer Kapitalherabsetzung bei gleichzeitiger rückwirkender Kapitalerhöhung (§ 235 Abs. 2 AktG).

(b) Besondere Nichtigkeitsgründe (§§ 250 Abs. 1, 253 Abs. 1 und 256 AktG) 75 In Ergänzung zu den Nichtigkeitsgründen des § 241 AktG kann sich die Nichtigkeit aus Gründen ergeben, die der Gesetzgeber im Interesse der Rechtsklarheit für besondere Beschlussgegenstände definiert hat. Besondere Nichtigkeitsgründe regelt das Aktiengesetz für Beschlüsse über x

die Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern (§ 250 Abs. 1 AktG),

x

die Verwendung des Bilanzgewinns (§ 253 Abs. 1 AktG) und

x

die Feststellung des Jahresabschlusses (§ 256 AktG).

(6) Kasuistik der Nichtigkeitsgründe 76 Im Mittelpunkt der Kasuistik der Nichtigkeitsgründe stehen die Einberufungsmängel nach § 241 Nr. 1 AktG. 77 Zu den (vermeintlichen oder tatsächlichen) Einberufungsmängeln i. S. d. § 241 Nr. 1 AktG, die Gegenstand von Nichtigkeitsklagen waren, gehörten zuletzt: x

Einberufung durch nicht ordnungsgemäß besetzten Vorstand;75)

x

Einberufung durch nicht ordnungsgemäß besetzten Aufsichtsrat;76)

x

Fehler bei der Bekanntmachung der Mindestangaben des § 121 Abs. 3 Satz 1 AktG;77)

___________ 75) BGH NJW 2002, 1128 = ZIP 2002, 172; OLG Stuttgart AG 2009, 124 = ZIP 2008, 2315. 76) BGH AG 2013, 278. 77) OLG Frankfurt/M. AG 2008, 667 (unvollständige Wiedergabe der satzungsmäßigen Teilnahmebedingungen); OLG Frankfurt/M. ZIP 2007, 232 ff. (Berufsbezeichnung von Aufsichtsratskandidaten); OLG Düsseldorf ZIP 1997, 1153 (Angabe des Sitzes der Gesellschaft).

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x

unzumutbare Dauer der Hauptversammlung;78)

x

Ausschluss der Nichtigkeit bei Vollversammlung i. S. v. § 121 Abs. 6 AktG.79)

Wegen der Kasuistik zu allen weiteren Nichtigkeitsgründen ist auf die ein- 78 schlägige Kommentarliteratur zu verweisen.80) (7) Beseitigung von Nichtigkeitsgründen durch Heilung Die Nichtigkeitsgründe des § 241 AktG können unter der Voraussetzung 79 des § 242 AktG geheilt werden. Heilung bedeutet, dass der Nichtigkeitsgrund rückwirkend, d. h. mit Wirkung ex tunc, entfällt und eine etwa hierauf gestützte Nichtigkeitsklage ihre materiell-rechtliche Grundlage verliert.81) Bei Beschlüssen, die der Eintragung in das Handelsregister bedürfen, hän- 80 gen das „ob“ und das „wie“ der Heilung von der Art des Beschlussmangels ab. Besteht der Nichtigkeitsgrund in einem Verstoß gegen die Beurkundungsvorschriften des § 130 Abs. 1 und 2 Satz 1 und Abs. 4 AktG (Beurkundungsmangel), tritt die Heilung mit Eintragung des Beschlusses in das Handelsregister ein. Liegt ein Nichtigkeitsgrund nach § 241 Nr. 1, 3 oder 4 AktG vor, tritt die Heilung ein, wenn der Beschluss in das Handelsregister eingetragen wurde und seitdem drei Jahre verstrichen sind. Beruht die Nichtigkeit auf einem Verstoß gegen § 121 Abs. 4 Satz 2 AktG i. V. m. § 241 Nr. 1 AktG, tritt die Heilung auch dann ein, wenn der nicht geladene Aktionär dem Beschluss zustimmt (§ 242 Abs. 2 Satz 4 AktG). Für die besonderen Nichtigkeitsgründe nach § 253 Abs. 1 und § 256 AktG 81 gelten jeweils besondere Heilungsvorschriften82). In den Fällen des § 250 Abs. 1 AktG und den Verweisfällen nach § 194 Abs. 4 AktG und § 212 AktG ist eine Heilung generell nicht möglich. Für die übrigen Verweisfälle gilt § 242 Abs. 3 AktG, der die Heilungsvorschrift des § 242 Abs. 2 AktG für anwendbar erklärt, wenn die Eintragung in das Handelsregister nach Ablauf der jeweils relevanten Frist doch noch erfolgt ist. Die Heilung eines Nichtigkeitsmangels kann in bestimmten Fällen auch nach 82 erfolgter Eintragung noch beseitigt werden. Wichtigster Anwendungsfall ist ___________ 78) OLG München AG 2011, 840 = ZIP 2011, 842; OLG Koblenz ZIP 2001, 1093; LG München I AG 2008, 340. 79) LG Dortmund BeckRS 2014, 06200. 80) Spindler/Stilz/Drescher, AktG, § 241 Rn. 105 ff., 143 ff.; Hüffer/Koch, AktG, § 241 Rn. 13 ff.; MünchHdb. GesR Bd. 7/Horcher/Wilk, § 29 Rn. 80 f., 99 ff. Zu § 241 Nr. 2 AktG und hier insbes. zum Nichtigkeitsgrund der unzureichen Beurkundung der Abstimmungsergebnisse BGH ZIP 2017, 2245. 81) Zum materiell-rechtlichen Verständnis der Heilung nach § 242 AktG Spindler/Stilz/ Casper, AktG, § 242 Rn. 12. 82) Vgl. zu § 253 Abs. 1 AktG die Heilungsvorschrift in § 253 Abs. 1 Satz 2 AktG und zu § 256 AktG die Heilungsvorschrift in § 256 Abs. 6 AktG.

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hier die in § 242 Abs. 2 Satz 3 AktG ausdrücklich genannte Amtslöschung nach § 398 FamFG.83) Ausgeschlossen ist die Amtslöschung jedoch immer dann, wenn die Eintragung auf ein erfolgreiches Freigabeverfahren nach § 246a AktG zurückgeht.84) dd) Anfechtungsgründe 83 Anfechtungsgrund ist nach der Regelung des § 243 Abs. 1 AktG jeder Verstoß gegen Gesetz oder Satzung. Auf die Regelung des § 243 Abs. 1 AktG ist allerdings nur dann zurückzugreifen, wenn keiner der in den §§ 250 ff. AktG für bestimmte Beschlussgegenstände geregelten Anfechtungsgründe vorliegt oder dort auf die Regelung des § 243 Abs. 1 AktG verwiesen wird. (1) Besondere Anfechtungsgründe (§§ 251 Abs. 1 Satz 2, 254 Abs. 1 und 255 Abs. 2 AktG) 84 Besondere Anfechtungsgründe regelt das Aktiengesetz für Beschlüsse über x

die Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern (§ 251 Abs. 1 Satz 2 AktG),

x

die Verwendung des Bilanzgewinns (§ 254 Abs. 1 AktG) und

x

die Kapitalerhöhung gegen Einlagen bei vollständigem oder teilweisem Bezugsrechtsausschluss (§ 255 Abs. 2 AktG).

(2) Verstöße gegen Gesetz oder Satzung (§ 243 Abs. 1 AktG), Verfolgung von Sondervorteilen (§ 243 Abs. 2 AktG) 85 Unter den Gesetzesbegriff des § 243 Abs. 1 AktG fallen alle Regelungen des Aktiengesetzes und anderer formeller Gesetze, darüber hinaus aber auch Regelungen des ungeschriebenen Richterrechts und hier insbesondere Rechtssätze, die mit dem Treuegebot begründet werden.85) Kein Gesetz i. S. d. § 243 Abs. 1 AktG ist der Deutsche Corporate Governance Kodex. 86 Mit dem Begriff der Satzung meint § 243 Abs. 1 AktG nur den formellen Satzungstext und auch hier nur die sog. echten Satzungsbestandteile.86) Bloße Beschlusslagen unterfallen dem Satzungsbegriff des § 243 Abs. 1 AktG nicht. Fraglich ist, ob Verstöße gegen Stimmbindungsverträge dem Satzungsverstoß gleichzustellen sind. Die Rechtsprechung bejaht dies für jene Fälle, in denen die Vereinbarung zwischen sämtlichen Gesellschaftern abgeschlossen wurde.87) ___________ 83) Ausführlich hierzu Spindler/Stilz/Casper, AktG, § 242 Rn. 21 ff. 84) Zum Freigabeverfahren nach § 246a AktG unten Rn. 106 ff. 85) Zum Treuegebot als Anknüpfungspunkt richterlicher Rechtsfortbildung im Aktienrecht Zwissler, Treuegebot – Treuepflicht – Treuebindung, 2002, S. 71 f., 138 ff. 86) Spindler/Stilz/Drescher, AktG, § 243 Rn. 51; MünchHdb. GesR Bd. 4/Austmann, § 42 Rn. 44; a. A. Heidel, in: Heidel, AktG § 243 Rn. 8. 87) BGH NJW 1983, 1910, 1911 = ZIP 1983, 297. Zum Meinungsstand in der Literatur MünchKomm-AktG/Schäfer, § 243 Rn. 23 f.; Spindler/Stilz/Dörr, AktG, § 245 Rn. 30.

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In engem Zusammenhang mit § 243 Abs. 1 AktG steht die Generalklausel 87 des § 243 Abs. 2 AktG, die das Verfolgen von Sondervorteilen als besonderen Anfechtungsgrund normiert, sofern den negativ betroffenen Aktionären kein angemessener Ausgleich gewährt wird. Erkennt man mit der herrschenden Meinung in der Verfolgung von Sondervorteilen einen Verstoß gegen den Grundsatz gleichmäßiger Behandlung (§ 53a AktG) und/oder das Treuegebot,88) so verbleibt für § 243 Abs. 2 AktG als Anfechtungsgrund kein praktisch relevanter Anwendungsbereich. (3) Kasuistik der Anfechtungsgründe Die Kasuistik der Anfechtungsgründe ist umfangreich. Üblich ist die Unter- 88 scheidung zwischen Verfahrens- und Inhaltsfehlern sowie die Bildung von Unterfallgruppen zu diesen beiden Fehlerkategorien.89) Zu den (vermeintlichen oder tatsächlichen) Verfahrensfehlern, die Gegen- 89 stand von Anfechtungsklagen waren, gehörten zuletzt: x

Vorstandsbeschluss als Voraussetzung der Einberufung;90)

x

Einberufung durch nicht ordnungsgemäß besetzten Vorstand;91)

x

Bekanntmachung von Beschlussvorschlägen eines für den konkreten Beschlussvorschlag nicht zuständigen Organs;92)

x

fehlerhafte Angaben zum Ort der Hauptversammlung;93)

x

Wahrung der Einberufungsfrist;94)

x

Beschlussfassung zu nicht oder nicht hinreichend bekannt gemachten Tagesordnungspunkten;95)

___________ 88) Zu diesem Verständnis des § 243 Abs. 2 AktG Hüffer/Koch, AktG, § 243 Rn. 30 f.; K. Schmidt/Lutter/Schwab, AktG, § 243 Rn. 24; Bürgers/Körber/Göz, AktG, § 243 Rn. 10, 16. 89) Diesem Systematisierungsschema folgend und mit zahlreichen Beispielen aus der Rechtsprechung z. B. Spindler/Stilz/Drescher, AktG, § 243 Rn. 61 ff., 152 ff.; Hüffer/Koch, AktG, § 243 Rn. 11 ff., 20 ff.; MünchHdb. GesR Bd. 7/Horcher/Wilk, § 29 Rn. 130 ff., 146 ff. 90) BGH NJW 2002, 1128 = ZIP 2002, 172. 91) BGH NZG 2002, 817 = ZIP 2002, 216. 92) BGH NJW 2003, 970 = ZIP 2003, 290 (Wahl des Abschlussprüfers). 93) OLG Düsseldorf NZG 2003, 975. 94) OLG Frankfurt/M. AG 2008, 896. 95) BGH NJW 2019, 669 = ZIP 2019, 322 (Abweichung des Wahlvorschlags von den Empfehlungen des DCGK); BGH NJW 2018, 52 = ZIP 2017, 2245 (Fehlende Angaben nach § 125 Abs. 1 Satz 4 AktG); OLG Frankfurt/M. BeckRS 2015, 15730 (Fehlende Angaben nach § 124 Abs. 1 Satz 2 AktG); OLG Düsseldorf NZG 2013, 546; BGH NJW 2003, 970 = ZIP 2003, 290.

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Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation

x

fehlerhafte Bekanntmachung der Bedingungen für die Teilnahme und/oder die Ausübung des Stimmrechts;96)

x

Nichtzulassung von Aktionären zur Hauptversammlung;97)

x

Zulassung von Aktionären zur Hauptversammlung entgegen der Angaben in der Einladung;98)

x

fehlerhafte Bestimmung des Versammlungsleiters;99)

x

Redezeitbeschränkung ab Beginn der Versammlung;100)

x

Ermittlung des Abstimmungsergebnisses unter Verwendung des Subtraktionsverfahrens;101)

x

fehlerhafte Feststellung des Beschlussergebnisses;102)

x

unzulässige Berücksichtigung treuwidriger Stimmen;103)

x

Verletzung von Informationspflichten, insbesondere Nichterteilung von Auskünften nach § 131 AktG.104)

90 Zu den (vermeintlichen oder tatsächlichen) Inhaltsfehlern, die Gegenstand von Anfechtungsklagen waren, gehörten zuletzt: x

Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat bei Vorliegen von Gesetzesverstößen und/oder Interessenkonflikten;105)

___________ 96) BGH NZG 2011, 1105 = ZIP 2011, 1813; OLG München ZIP 2018, 2369 (Fehlender Hinweis auf Möglichkeiten der Ausübung des Stimmrechts durch einen Bevollmächtigten). 97) BGH NZG 2009, 1270 = ZIP 2009, 2051. 98) BGH ZIP 2019, 322. 99) BGH AG 2013, 278. 100) OLG Frankfurt/M. NZG 2015, 1357. Zur Frage der Redezeitbeschränkung auch OLG Düsseldorf BeckRS 2017, 136416 Rn. 70 ff. 101) LG München I BeckRS 2016, 09369 = ZIP 2016, 973. 102) BGH ZIP 2014, 1677 und OLG Düsseldorf Beck RS 2013, 21114 (Missachtung von Stimmverboten nach § 136 AktG); BGH NZG 2009, 827 = ZIP 2009, 1317 (Verletzung von Mitteilungspflichten nach §§ 20 Abs. 7, 21 Abs. 4). 103) OLG Stuttgart AG 2000, 369, 371; BGH NJW 1988, 1579. 104) LG Stuttgart NZG 2018, 665 (Vorgänge in einem verbundenen Unternehmen); OLG München AG 2015, 677 = ZIP 2015, 1680 (verweigerte Verlesung von Verträgen); OLG Düsseldorf NJW-RR 2015, 1518 (Rechtsverfolgung gegen ehemalige Vorstandsmitglieder); BGH NZG 2014, 423 = ZIP 2014, 671 (Einzelheiten von Optionsgeschäften, Willensbildung im Aufsichtsrat); LG Frankfurt/M. BeckRS 2014, 6973 (Interessenkonflikte eines Aufsichtsratskandidaten); BGHZ 198, 354 = NJW 2014, 541 = ZIP 2013, 2454 (Detailfragen zu nebensächlichen Informationen); OLG Düsseldorf NZG 2013, 546 (fehlerhafte Entsprechenserklärung nach § 161 AktG); OLG Frankfurt/M. WM 2011, 221 = ZIP 2011, 24 (fehlerhafte Entsprechenserklärung nach § 161 AktG); BGH NZG 2010, 943 = ZIP 2010, 1437; BGH NZG 2009, 1270 = ZIP 2009, 2051 (fehlerhafte Entsprechenserklärung nach § 161 AktG); OLG Stuttgart AG 2006, 379 = ZIP 2006, 756 (fehlerhafter Bericht des Aufsichtsrats nach § 171 Abs. 2 AktG); BGHZ 160, 385 = NJW 2005, 828 = ZIP 2004, 2428 (Auskunft zu Vorgängen aus der Zeit vor dem Geschäftsjahr, für das die Entlastung beantragt ist); OLG Dresden AG 2003, 433 (Detailinformationen bei Veräußerung von Tochtergesellschaften). 105) BGH NJW 2012, 3235; BGH ZIP 2009, 2436.

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x

fehlende sachliche Rechtfertigung bei Kapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss;106)

x

Verfolgung eines Sondervorteils durch Ausschluss von Minderheitsaktionären;107)

x

Verstoß gegen Treuepflichten;108)

x

Zustimmungsbeschluss zu einem Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag bei anlassbezogener Negativplanung;109)

x

Delisting bei Fehlen eines Barabfindungsangebots.110)

(4) Anfechtungsausschlüsse Vor allem im Bereich der Verfahrensfehler hat der Gesetzgeber verschiedent- 91 lich Korrekturen angebracht und die Anfechtbarkeit ausgeschlossen oder eingeschränkt (dazu unter (a)). Für Verfahrensfehler ergibt sich eine weitere Einschränkung durch das Kriterium der „Relevanz“ (dazu unter (b)). (a) Gesetzliche Ausschlusstatbestände Gesetzlich geregelt sind Ausschlusstatbestände für:

92

x

Verfahrensfehler im Zusammenhang mit dem Einsatz elektronischer Kommunikation und Internet (§ 243 Abs. 3 Nr. 1 und 2 AktG);

x

Gründe, die ein Verfahren nach § 318 Abs. 3 HGB rechtfertigen (§ 243 Abs. 3 Nr. 3 AktG);

x

bewertungsbezogene Informationsmängel, sofern die Bewertung Gegenstand eines Spruchverfahrens sein kann (§ 243 Abs. 4 Satz 3 AktG);

x

Verletzung von Publizitätspflichten des WpHG (§ 30g WpHG).

Einen generellen Anfechtungsausschluss enthält § 124 Abs. 4 Satz 3 AktG für 93 Beschlüsse über die Billigung des Systems zur Vergütung der Vorstandsmitglieder. Einen besonderen Ausschlusstatbestand regelt § 243 Abs. 2 Satz 2 AktG. 94 Danach entfällt die Anfechtbarkeit bei Beschlüssen, die zu einem ungerechtfertigten Sondervorteil führen, wenn der Sondervorteil angemessen ausgeglichen wird.111) ___________ 106) 107) 108) 109) 110) 111)

OLG Köln ZIP 2014, 263; OLG Schleswig NZG 2004, 281. BGH NJW 2009, 585. OLG Düsseldorf AG 2003, 578; OLG Hamm AG 2010, 789. OLG Stuttgart BeckRS 2015, 00278. BGH AG 2013, 877 = ZIP 2013, 2254. Zum Delisting nunmehr § 39 BörsG. Zur geringen praktischen Bedeutung des § 243 Abs. 2 AktG bereits oben Rn. 87.

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Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation

95 Einen weiteren besonderen Ausschlusstatbestand regelt § 257 Abs. 1 Satz 2 AktG. Danach kann die Anfechtung von in der Praxis ohnehin seltenen Beschlüssen über die Feststellung des Jahresabschlusses durch die Hauptversammlung nicht auf inhaltliche Mängel des Jahresabschlusses gestützt werden. 96 Für virtuelle Haupversammlungen nach Art. 2 § 1 COVID-19-Gesetz gelten nach Art. 2 § 1 Abs. 7 COVID-19-Gesetz erweiterte Anfechtungsausschlüsse. Sofern der Gesellschaft kein Vorsatz nachzuweisen ist, kann die Anfechtung hier weder auf Verletzungen von § 118 Abs. 1 Satz 3 bis 5, Abs. 5 Satz 2 oder Abs. 4 AktG noch auf Verletzungen von Formerfordernissen für Mitteilungen nach § 125 AktG oder Verletzungen von Art. 2 § 1 Abs. 2 COVID-19-Gesetz gestützt werden.112) (b) Anfechtungsausschluss bei fehlender Relevanz von Verfahrensfehlern 97 Für Verfahrensfehler ergibt sich ein weiterer Ausschlusstatbestand durch das Kriterium der „Relevanz“, welches für Verstöße gegen Informationspflichten gesetzlich anerkannt ist (§ 243 Abs. 4 Satz 1 AktG). Das Relevanzerfordernis gilt jedoch für alle Verfahrensverstöße und bedeutet inhaltlich, dass die Anfechtbarkeit bei solchen Verstößen ausgeschlossen ist, die auf die Willensbildung eines objektiv urteilenden Aktionärs keinen Einfluss haben.113) Auf die Frage, ob das Ergebnis ohne den Verfahrensverstoß anders ausgefallen wäre, kommt es nicht an. (5) Heilung und Wegfall von Anfechtungsgründen durch Bestätigungsbeschluss 98 Eine der Vorschrift des § 242 AktG vergleichbare Regelung zur Heilung von Anfechtungsgründen kennt das AktG nicht. Das Interesse an der Herbeiführung von Rechtssicherheit wird hier vorrangig über die Anfechtungsfrist des § 246 Abs. 1 AktG gewährleistet.114) 99 Liegt ein Anfechtungsgrund vor, kann die Hauptversammlung einen Bestätigungsbeschluss fassen.115) Ist dieser mangelfrei zustande gekommen, beseitigt er nach § 244 AktG einen etwaigen Anfechtungsmangel des Erstbeschlusses ___________ 112) Zu den erweiterten Anfechtungsausschlüssen für virtuelle Hauptversammlungen nach Art. 2 § 1 COVID-19-Gesetz MünchHdb. GesR Bd. 7/Wilk, § 29 Rn. 298 ff.; Grigoleit/ Grigoleit/Gansmeier, AktG, § 243 Rn. 23a ff.; Hirte/Heidel/Heidel/Lochner, Das neue Aktienrecht, Art. 2 AbmilderungsG Rn. 152 ff; MünchKOmm-AktG/Schäfer, § 243 Rn. 113a. 113) Grundlegend BGHZ 149, 158 ff. = ZIP 2002, 172. Hieran anknüpfend BGH NJW 2018, 52 = ZIP 2017, 2245; BGH NZG 2010, 943 = ZIP 2010, 1437; BGHZ 160, 385 ff. = ZIP 2004, 2428. Zur Entwicklung der Relevanztheorie K. Schmidt/Lutter/Schwab, AktG, § 243 Rn. 34. 114) Spindler/Stilz/Drescher, AktG, § 243 Rn. 29. 115) Zu den inhaltlichen Anforderungen und zur Abgrenzung von der sogenannten Neuvornahme eines Beschlusses MünchHdb. GesR Bd. 7/Horcher/Wilk, § 29 Rn. 177.

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mit Wirkung ex nunc.116) Bezüglich der Anfechtungsklage gegen den Erstbeschluss tritt damit Erledigung ein.117) In den seltenen Fällen, in denen ein rechtliches Interesse fortbesteht, kann immerhin noch die Nichterklärung des Erstbeschlusses für die Zeit bis zum Bestätigungsbeschluss erwirkt werden.118) Eine Wiederholung der Beschlussfassung in der selben Hauptversammlung 100 kann einen Anfechtungsgrund nur dann beseitigen, wenn noch kein Teilnehmer der ursprünglichen Beschlussfassung die Hauptversammlung verlassen hat.119) Schließlich entfällt ein Anfechtungsgrund auch dann, wenn alle Anfechtungsberechtigten in Kenntnis des Anfechtungsgrundes zustimmen.120) 3. Allgemeine Feststellungsklage Für die Feststellung der Wirksamkeit oder Unwirksamkeit von Beschlüssen 101 steht als weitere Klagevariante die allgemeine Feststellungsklage nach § 256 ZPO zur Verfügung. Die praktische Bedeutung ist jedoch gering. Die Gründe hierfür sind einerseits im Verhältnis zwischen allgemeiner Feststellungsklage und Nichtigkeitsklage zu suchen, andererseits darin, dass auch die allgemeine Feststellungsklage nicht voraussetzungslos erhoben werden kann. Kläger, die nach § 249 Abs. 1 Satz 1 AktG zur Erhebung der Nichtigkeitsklage berechtigt sind, können von vornherein nur im Wege der Nichtigkeitsklage vorgehen.121) Sonstige Dritte, denen die allgemeine Feststellungsklage dem Grunde nach offen steht; müssen nach allgemeinen Regeln ein Feststellungsinteresse i. S. d. § 256 ZPO nachweisen.122) Ein solches Interesse an der isolierten Feststellung der Nichtigkeit eines Hauptversammlungsbeschlusses ist aber nur in Ausnahmefällen denkbar.123) Die besonderen Regeln der aktienrechtlichen Anfechtungs- und Nichtig- 102 keitsklage gelten für die allgemeine Feststellungsklage nicht. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Regelungen zur Bestimmung des zuständigen Gerichts, zur Vertretung der Gesellschaft, zu den Veröffentlichungspflichten und zur Streitwertbestimmung. Schließlich wirkt das Feststellungsurteil anders als bei der Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage nicht inter omnes, sondern nur zwischen den Parteien des Rechtsstreits. ___________ 116) BGHZ 157, 206 = ZIP 2004, 310; Spindler/Stilz/Drescher, AktG, § 244 Rn. 5; Wachter/ Epe, AktG § 244 Rn. 11. 117) Spindler/Stilz/Drescher, AktG, § 244 Rn. 4; MünchHdb. GesR Bd. 7/Horcher/Wilk, § 29 Rn. 181. 118) Vg. § 244 Satz 2 AktG. Zu denkbaren Fallkonstellationen Spindler/Stilz/Drescher, AktG, § 244 Rn. 59 f. 119) Spindler/Stilz/Drescher, AktG, § 243 Rn. 30. 120) Spindler/Stilz/Drescher, AktG, § 243 Rn. 31. 121) BGHZ 70, 384, 388; MünchKomm-AktG/Schäfer, § 249 Rn. 7. 122) BGH AG 2009, 167. 123) Zu möglichen Anwendungsfällen K. Schmidt/Lutter/Schwab, AktG, § 249 Rn. 11. Vgl. auch OLG Naumburg AG 1998, 430 f.: Kein Feststellungsinteresse des Betriebsrats bei Umwandlungsbeschluss AG in GmbH.

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4. Positive Beschlussfeststellungsklage 103 In Fallkonstellationen, in denen ein vom Aktionär begehrter Beschluss zu Unrecht abgelehnt wurde, bietet die kassatorische Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage keinen effektiven Rechtsschutz. Die Aufhebung des ablehnenden Beschlusses stellt lediglich einen Status her, wie er bereits vor der Beschlussfassung bestand, nicht jedoch jenen, der mit der Beschlussfassung hätte herbeigeführt werden sollen. Es entspricht daher allgemeiner Meinung, dass das aktienrechtliche System der Beschlussmängelklagen um die positive Beschlussfeststellungsklage als einer Klageart zu ergänzen ist, die eine positive Gestaltung der Beschlusslage ermöglicht.124) 104 Die positive Beschlussfeststellungsklage kann nur gemeinsam mit der Anfechtungs- und/oder Nichtigkeitsklage erhoben werden. In prozessualer Hinsicht finden §§ 241 ff. AktG analoge Anwendung. 105 Die positive Beschlussfeststellungsklage ist begründet, wenn die Nichtigkeit des ablehnenden Beschlusses festgestellt oder der Beschluss für nichtig erklärt wurde und eine andere als die mit der positiven Beschlussfeststellungsklage beantragte Beschlussfassung nicht in Betracht kommt.125) 5. Freigabeverfahren 106 Das Freigabeverfahren ist ein Eilverfahren eigener Art. Es ermöglich die Herbeiführung der Bestandkraft von Beschlüssen, bevor über eine hiergegen gerichtete Anfechtungs- und/oder Nichtigkeitsklage126) entschieden ist. Ermöglicht wird insbesondere die Überwindung einer tatsächlichen oder faktischen Registersperre. 107 Das Freigabeverfahren ist nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen statthaft, d. h. bei Beschlüssen über x

Maßnahmen der Kapitalbeschaffung, der Kapitalherabsetzung oder einen Unternehmensvertrag (§ 246a Abs. 1 Satz 1 AktG),

x

eine Eingliederung (§ 319 Abs. 6 AktG),

x

den Squeeze-Out (§§ 327e Abs. 2, 319 Abs. 6 AktG) und

x

die Umwandlung (§ 16 Abs. 3 UmwG).

___________ 124) BGHZ 76, 191, 197 ff. Zur positiven Beschlussfeststellungsklage als Ergebnis richterlicher Rechtsfortbildung GroßKommAktG/K. Schmidt, § 246 Rn. 101 a. E. 125) Z. B. bei Zählfehlern, dem Übergehen eines Stimmverbots des an der Abstimmung mitwirkenden Mehrheitsgesellschafters oder dem Vorliegen der Voraussetzungen für eine positive Stimmpflicht der Aktionäre. Siehe hierzu auch Bussian/Schmid, in: Mehrbrey, § 8 Rn. 319; MünchHdb. GesR Bd. 7/Horcher/Wilk, § 29 Rn. 258 m. w. N. 126) Zur Statthaftigkeit des Freigebeverfahrens bei einer isoliert erhobenen Nichtigkeitsklage MünchKomm-AktG/Schäfer, § 246a Rn. 8.

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Eine Erweiterung des Anwendungsbereichs auf andere Beschlüsse ist abzu- 108 lehnen.127) a) Parteien und andere Verfahrensbeteiligte Antragstellerin ist im Freigabeverfahren stets die Gesellschaft. Sie wird hier- 109 bei durch den Vorstand vertreten.128) Antragsgegner sind die Kläger des Anfechtungs- und/oder Nichtigkeitsver- 110 fahrens, das gegen den streitgegenständlichen Beschluss geführt wird. Nebenintervenienten des Anfechtungs- und/oder Nichtigkeitsverfahrens zählen nicht zu den Antragsgegnern.129) Der Beitritt zum Freigabeverfahren als Nebenintervenient ist bei Vorliegen 111 der allgemeinen Voraussetzungen möglich. Das rechtliche Interesse nach § 66 ZPO wird bei Beteiligten des Anfechtungs- und/oder Nichtigkeitsverfahrens stets, bei an diesem Verfahren unbeteiligten Personen nur im Ausnahmefall vorliegen.130) b) Verfahrenseinleitung, Anträge und Verfahren aa) Verfahrenseinleitung und Anträge Das Freigabeverfahren wird eingeleitet durch einen Antrag, der bei dem 112 sachlich und örtlich allein zuständigen Oberlandesgericht einzureichen ist, in dessen Bezirk die Gesellschaft ihren Sitz hat (§§ 246a Abs. 1 Satz 3, 319 Abs. 6 Satz 7 AktG, § 16 Abs. 3 Satz 7 UmwG). Der Antrag richtet sich gegen die Antragsgegner und ist in Anlehnung an 113 den Wortlaut des § 246a AktG zu formulieren. Er lautet auf Feststellung, dass die im Antrag genau zu bezeichnende Anfechtungs- und/oder Nichtigkeitsklage der Eintragung des Hauptversammlungsbeschlusses in das Handelsregister nicht entgegensteht und Mängel des Hauptversammlungsbeschlusses die Wirkung der Eintragung unberührt lassen.131) Die Prozessbevollmächtigten der Antragsgegner im Anfechtungs- und/oder 114 Nichtigkeitsverfahren gelten stets auch für das Freigabeverfahren als vertre___________ 127) Spindler/Stilz/Dörr, AktG, § 246a Rn. 13; MünchHdb. GesR Bd. 7/Wilk, § 29 Rn. 263 f. Vgl. auch OLG Düsseldorf BeckRS 2017, 136416 Rn. 43 ff. 128) OLG Bremen BeckRS 2009, 16506; OLG München BeckRS 2015, 10821, 757; OLG Düsseldorf BeckRS 2018, 40174; a. A. OLG Köln BeckRS 2017, 135604 (durch Vorstand und Aufsichtsrat). 129) OLG Jena ZIP 2006, 1989, 1991; MünchHdb. GesR Bd. 4/Austmann, § 42 Rn. 160; a. A. K. Schmidt/Lutter/Schwab, AktG, § 246a Rn. 40. 130) Weber/Kersjes, Hauptversammlungsbeschlüsse, § 3 Rn. 27. Vielfach wird vom Beitretenden die Erfüllung des Mindestanteilsbesitzes nach § 246a Abs. 2 Nr. 2 gefordert; vgl. etwa MünchHdb. GesR Bd. 4/Austmann, § 42 Rn. 160 m. w. N. 131) Ausführliche Muster für Anträge im Freigabeverfahren bei Happ/Möhrle, Aktienrecht, Band II, Muster 23.06, 23.07 und 23.08.

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tungs- und empfangsberechtigt (§ 246a Abs. 1 Satz 2 AktG i. V. m. §§ 82, 83 Abs. 1 und 84 ZPO). bb) Verfahrensgrundsätze (1) Verfahrensvorschriften 115 Für das Freigabeverfahren gelten grundsätzlich die im ersten Rechtszug für das Verfahren vor den Landgerichten geltenden Vorschriften der ZPO entsprechend (§ 246a Abs. 1 Satz 2 AktG). Besonderheiten gelten jedoch insoweit, als x

eine Übertragung auf den Einzelrichter ausgeschlossen ist,

x

das Gericht in dringenden Fällen auf eine mündliche Verhandlung verzichten kann,

x

die Glaubhaftmachung von Tatsachen den Anforderungen an die Beweisführung genügt und

x

die Entscheidung des Gerichts durch Beschluss erfolgt, wobei

x

der Beschluss innerhalb von drei Monaten nach Antragstellung ergehen soll

(§§ 246a Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 3, 319 Abs. 6 AktG, § 16 Abs. 3 UmwG). (2) Darlegungs- und Beweislast 116 Für die Darlegungs- und Beweislast bzw. die Last der Glaubhaftmachung gelten die allgemeinen Regeln. Findet eine mündliche Verhandlung statt, so sind in dieser nur präsente Beweismittel statthaft. Hierzu zählen insbesondere die Vorlage von Originalurkunden und die Versicherung an Eides statt.132) (3) Verfahrensbeendigung 117 Das Verfahren endet grundsätzlich durch positiven oder negativen Beschluss. Es kann aber außer durch Beschluss auch durch Vergleich, Anerkenntnis oder Rücknahme des Antrags beendet werden.133) (4) Rechtswirkungen der gerichtlichen Entscheidung 118 Besonderheiten gelten in Bezug auf die Rechtswirkungen des Beschlusses: (a) Positive Freigabeentscheidung 119 Eine positive Freigabeentscheidung wirkt nicht nur für und gegen jedermann. Sie bindet vielmehr auch das Registergericht (§ 246 Abs. 3 Satz 5 Halbs. 1 ___________ 132) MünchHdb. GesR Bd. 4/Austmann, 42 Rn. 158; Hüffer/Koch, AktG, § 246a Rn. 24. Aus der Rechtsprechung: OLG Düsseldorf AG 2009, 538, 540 = ZIP 2009, 518. 133) Weber/Kersjes, Hauptversammlungsbeschlüsse, § 3 Rn. 70 f.

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AktG), so dass eine etwaige tatsächliche oder faktische Registersperre durchbrochen wird.134) (b) Ablehnender Beschluss Ein ablehnender Beschluss bindet das Registergericht nicht, so dass zumindest 120 in den Fällen der faktischen Registersperre eine Eintragung möglich bleibt.135) cc) Kosten und Streitwert Die Kostenentscheidung richtet sich nach §§ 91 ff. ZPO. Sie ist zwingender 121 Teil der gerichtlichen Entscheidung. Bezüglich der Streitwertbemessung gilt § 247 AktG entsprechend (§§ 246a 122 Abs. 1 Satz 2, 319 Abs. 6 Satz 2 AktG, § 16 Abs. 3 Satz 2 UmwG). dd) Rechtsmittel Die Entscheidung des Oberlandesgerichts im Freigabeverfahren ist unan- 123 fechtbar (§§ 246a Abs. 3 Satz 4, 319 Abs. 6 Satz 9 AktG, § 16 Abs. 3 Satz 9 UmwG). Ein Rechtsmittel ist nicht gegeben. Bei ablehnendem Beschluss kann die Gesellschaft nur dann ein neues Freigabeverfahren anstrengen, wenn wesentlich neue Tatsachen eingetreten sind.136) ee) Schadensersatzanspruch der Antragsgegner Antragsgegner, die im Freigabeverfahren unterliegen, später aber mit der An- 124 fechtungs- und/oder Nichtigkeitsklage gegen den aufgrund der Entscheidung im Freigabeverfahren bestandskräftig gewordenen Beschluss erfolgreich sind, haben Anspruch auf Schadensersatz nach § 246a Abs. 4 Satz 1 AktG. Entgegen den allgemeinen Regelungen des Schadensrechts kann der Berechtigte jedoch keine Naturalrestitution verlangen (§ 246a Abs. 4 Satz 2 Halbs. 2 AktG). Der mit dem Freigabeverfahren bezweckte Bestandsschutz hat insoweit Vorrang. c) Begründetheit Der Freigabeantrag ist begründet, wenn einer der gesetzlich abschließend ge- 125 regelten Freigabegründe vorliegt. Freigabegründe sind: Unzulässigkeit oder offensichtliche Unbegründetheit der Anfechtungsund/oder Nichtigkeitsklage (§§ 246a Abs. 2 Nr. 1, 319 Abs. 6 Satz 3 Nr. 1 AktG, § 16 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 UmwG); ___________ x

134) Zur Reichweite der Bindungswirkung Spindler/Stilz/Dörr, AktG, § 246a Rn. 36 f. 135) Vgl. Spindler/Stilz/Dörr, AktG, § 246a Rn. 39 mit zutreffendem Hinweis darauf, dass eine solche Eintragung nicht den mit der Freigabeentscheidung verbundenen Bestandsschutz genießt. 136) OLG München NZG 2013, 459, 460 = ZIP 2012, 2439.

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x

fehlender Nachweis einer Mindestbeteiligung137) durch die Kläger der Anfechtungs- und/oder Nichtigkeitsklage (§§ 246a Abs. 2 Nr. 2, 319 Abs. 6 Satz 3 Nr. 2 AktG, § 16 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 UmwG);

x

Bestehen eines vorrangigen Vollzugsinteresses der Gesellschaft bei gleichzeitiger Abwesenheit eines besonders schweren Rechtsverstoßes (§§ 246a Abs. 2 Nr. 3, 319 Abs. 6 Satz 3 Nr. 3 AktG, § 16 Abs. 3 Satz 3 Nr. 3 UmwG).

126 Der in der Praxis häufigste Grund für einen positiven Freigabebeschluss ist die offensichtliche Unbegründetheit der Anfechtungs- und/oder Nichtigkeitsklage.138) Offensichtlich unbegründet ist die Klage dann, wenn ihr Scheitern mit Sicherheit vorhersehbar ist.139) Dies ist auch dann der Fall, wenn sich dieses Ergebnis nicht schon bei kursorischer, sondern erst bei vollständiger Prüfung der Rechtslage ergibt. Umstritten ist, ob das Gericht ein Scheitern der Klage sicher vorhersehen kann, wenn es bei dieser auf eine Rechtsfrage ankommt, die noch nicht Gegenstand einer höchstrichterlichen Entscheidung war.140) Richtigerweise darf es bei der Frage nach der Vorhersehbarkeit des Scheiterns einer Klage jedoch nicht auf das formale Vorliegen einer höchstrichterlichen Entscheidung ankommen, sondern ausschließlich auf die Evidenz der Richtigkeit der zugrunde gelegten Rechtsmeinung.141) 6. Einstweiliger Rechtsschutz 127 Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes sind grundsätzlich möglich. Die Anforderungen an den Verfügungsanspruch und den Verfügungsgrund sind allerdings hoch. Dies gilt besonders für Maßnahmen im Vorfeld der Beschlussfassung, die auf die Verhinderung mangelhafter Beschlussfassungen abzielen. a) Verhinderung mangelhafter Beschlussfassung 128 Als Maßnahmen im Vorfeld der Beschlussfassung kommen vor allem Verfügungen in Betracht, die sich gegen eine bestimmte Stimmabgabe durch einen ___________ 137) Maßgeblich ist dabei nicht der Börsenwert der Beteiligung, sondern der Nennwert bzw. bei Stückaktien der betreffenden Anteil der Aktien am Grundkapital. Zum Verständnis des Nachweises als (negatives) materielles Tatbestandsmerkmal OLG München ZIP 2019, 568. A. A. OLG Frankfurt/M. ZIP 2010, 986. 138) Vgl. Baums/Drinhausen/Keinath, ZIP 2011, 2329, 2349. Zum selteneren Freigabegrund des vorrangigen Vollzugsinteresses MünchHdb. GesR Bd. 4/Austmann, § 42 Rn. 154 ff.; Bussian/Schmid, in: Mehrbrey, § 8 Rn. 376 ff. 139) OLG Düsseldorf BeckRS 2018, 40174, Rn. 65; OLG Nürnberg ZIP 2018, 527; OLG Stuttgart ZIP 2015, 1120; OLG München ZIP 2011, 2199. 140) Zum Meinungsstand Spindler/Stilz/Dörr, AktG, § 246a Rn. 24 f.; Hüffer/Koch, AktG, § 246a Rn. 17. 141) Der Nachweis einer in der Literatur vertretenen abweichenden Auffassung schließt die offensichtliche Unbegründetheit nicht zwingend aus, vgl. OLG Düsseldorf BeckRS 2018, 40174, Rn. 65.

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Aktionär wenden. Richtiger Antragsgegner ist in diesen Fällen nicht die Gesellschaft, sondern der stimmberechtigte Aktionär. Der Verfügungsgrund kann mitgliedschaftlicher oder schuldrechtlicher Natur sein, etwa bei Bestehen einer Stimmbindungs- oder Aktionärsvereinbarung. Die Gerichte sind mit Verfügungen dieser Art jedoch sehr zurückhaltend.142) Voraussetzung ist stets, dass effektiver Rechtsschutz im Nachgang zur eigentlichen Beschlussfassung nicht mehr erlangt werden kann. Dies ist bei eintragungsbedürftigen Beschlüssen nie,143) bei nicht eintragungsbedürftigen Beschlüssen nur sehr selten der Fall. b) Verhinderung der Durchführung mangelhafter Beschlüsse Weniger streng als bei der Verhinderung einer mangelhaften Beschlussfas- 129 sung sind die Anforderungen an die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes bei (Sicherungs-)Maßnahmen gegen die Durchführung mangelhafter Beschlüsse. Denkbar sind hier Verfügungen, die sich auf die Unterlassung der Anmeldung von Beschlüssen zur Eintragung in das Handelsregister, die Unterlassung sonstiger Vollzugsmaßnahmen oder auf Untersagung der Eintragung in das Handelsregister richten. Erforderlich sind diese Maßnahmen freilich nur dann, wenn nicht schon das Gesetz eine Registersperre anordnet.144) Spätestens dann, wenn die Gesellschaft ein Freigabeverfahren einleitet, entfällt das Rechtsschutzbedürfnis für Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes.145) c) Durchführung zu Unrecht abgelehnter Beschlüsse Denkbar sind Verfügungen, die auf die Durchführung solcher Beschlüsse 130 zielen, die in der Hauptversammlung zu Unrecht abgelehnt wurden und im Hauptsacheverfahren im Wege der positiven Beschlussfeststellungsklage festzustellen sind. Die Anforderungen an die im Rahmen des Verfügungsgrundes glaubhaft zu machende Dringlichkeit sind jedoch hoch. 7. Spruchverfahren Das Spruchverfahren nach dem Spruchverfahrensgesetz (SpruchG) ist ein 131 besonderer Rechtsbehelf für Aktionäre, die aufgrund bestimmter strukturändernder Maßnahmen Anspruch auf eine Kompensationsleistung haben. Typische Fälle sind der Ausgleichsanspruch bei Abschluss von Beherrschungs___________ 142) Aus der Rechtsprechung zur AG: OLG München NZG 2007, 152; LG München I, ZIP 2020, 1241; zur GmbH: OLG Düsseldorf NZG 2005, 633; OLG Stuttgart GmbHR 1997, 312; OLG Hamburg NJW 1992, 186. 143) Vorsichtig a. A. in Fällen, in denen das Freigabeverfahren nach § 246a AktG greift, Kort, NZG 2007, 169, 171. 144) Zu diesen Fällen oben Rn. 106 f. 145) MünchKomm-AktG/Schäfer, § 246a Rn. 39; Weber/Kersjes, Hauptversammlungsbeschlüsse, § 4 Rn. 9; a. A. K. Schmidt/Lutter/Schwab, AktG, § 246a Rn. 65.

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und Gewinnabführungsverträgen und der Barabfindungsanspruch bei einem Squeeze-Out. Darüber hinaus findet das Spruchverfahren Anwendung auf Zuzahlungs- und Abfindungsansprüche aufgrund bestimmter Umwandlungsvorgänge.146) 132 Das Spruchverfahren ist ein Instrument zum Ausgleich des Vollzugsinteresses der Gesellschaft und ihrer Mehrheitsaktionäre auf der einen und dem Vermögensinteresse der Minderheitsaktionäre auf der anderen Seite. Der Streit um die Angemessenheit der Kompensationsleistung wird dem Beschlussmängelverfahren entzogen und dem insoweit eigenständigen Spruchverfahren zugewiesen. 133 Prozessual richtet sich das Spruchverfahren nach den Regeln des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG), dies allerdings nicht uneingeschränkt, sondern modifiziert und ergänzt durch Sonderregelungen des Spruchverfahrensgesetzes.147) a) Parteien und andere Verfahrensbeteiligte aa) Antragsteller 134 Antragsteller im Spruchverfahren kann grundsätzlich jeder Aktionär sein, der aufgrund der strukturändernden Maßnahme Anspruch auf eine Kompensationsleistung hat. Das Spruchgesetz definiert in § 3 SpruchG für jeden der in § 1 SpruchG genannten Fälle, wer konkret Antragsteller sein kann. Für die ungeschriebenen Anwendungsfälle des Spruchverfahrens ist der Kreis der Antragsteller anhand des Zwecks des Verfahrens zu ermitteln. bb) Antragsgegner 135 Antragsgegner ist im Spruchverfahren stets der Schuldner der Kompensationszahlung, deren Höhe zur Überprüfung gestellt wird. Für die in § 1 SpruchG genannten Fälle sind die jeweiligen Anspruchsgegner in § 5 SpruchG konkret benannt. Für die ungeschriebenen Anwendungsfälle des Spruchverfahrens ist der Antragsgegner anhand des Zwecks des Verfahrens zu ermitteln.

___________ 146) Vgl. § 1 SpruchG. Barabfindungen aufgrund von Erwerbsangeboten, die im Zusammenhang mit einem Delisting oder Downgrading unterbreitet werden, sind seit Inkrafttreten des Transparenzrichtlinie-Änderungsrichtlinie Umsetzungsgesetzes vom 20.11.2015 nicht mehr Gegenstand des Spruchverfahrens. Zur Neuregelung des Delisting in § 39 Abs. 2 BörsG und zum Rechtsschutz bei Streit über die Angemessenheit der Abfindung: MünchKomm-AktG/Kubis, § 119 Rn. 92; Bungert/Leyendecker-Langner, ZIP 2016, 49, 53 f.; Bayer, NZG 2015, 1169, 1177; v. Berg, BKR 2020, 339. Zum Erfordernis der Bezifferung der Abfindunghöhe BGH BeckRS 2019, 32344. 147) Vgl. § 17 Abs. 1 SpruchG.

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cc) Gemeinsamer Vertreter Alle Antragsberechtigten, die nicht selbst als Antragsteller am Verfahren teil- 136 haben, werden durch einen gemeinsamen Vertreter repräsentiert. Dieser wird seitens des Gerichts von Amts wegen bestellt und hat die Stellung eines gesetzlichen Vertreters (§ 6 Abs. 1 SpruchG). b) Antragstellung, Anträge und Verfahren aa) Antragstellung und Anträge Das Spruchverfahren wird eingeleitet durch Schriftsatz an das zuständige 137 Gericht. Dabei sind noch immer Details der Frage umstritten, welchen inhaltlichen Anforderungen die Antragschrift genügen muss.148) Zum Mindestinhalt zählt in jedem Fall mindestens eine konkrete Bewertungsrüge i. S. d. § 4 Abs. 2 Nr. 4 SpruchG.149) Der Antrag im Spruchverfahren lautet auf Festsetzung eines angemessenen 138 Ausgleichs bzw. einer angemessenen Abfindung oder Zuzahlung. Einen konkreten Betrag muss der Antrag nicht nennen. In Anträgen häufig anzutreffen ist allerdings die Angabe eines Mindestbetrages als Untergrenze dessen, was als angemessen gelten soll. Die Antragsfrist beträgt drei Monate ab Bekanntmachung der registergerichtlichen Eintragung der Strukturmaßnahme (§ 4 Abs. 1 Satz 1 SpruchG). bb) Verfahrensgrundsätze Das Verfahren ist als streitiges Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit nach 139 den Regeln des FamFG und hier insbesondere der §§ 17 i. V. m. 26 FamG ausgestalten. Es unterliegt in weitem Umfang der Disposition der Beteiligten.150) Der für die Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit sonst typische Amtsermittlungsgrundsatz gilt im Spruchverfahren nur eingeschränkt.151) c) Begründetheit Im Mittelpunkt des Streits um die Angemessenheit der Kompensationsleis- 140 tung steht die Bewertungsrüge des Antragsstellers152) und in der Folge eine ___________ 148) Zum Meinungsstand MünchKomm-AktG/Kubis, SpruchG § 4 Rn. 12 ff.; Krenek, in: Mehbrey, § 144 Rn. 36 ff. 149) Im Hinblick auf die dreimonatige Antragsfrist des § 4 Abs. 1 SpruchG, die ähnlich wie die Anfechtungsfrist zumindest auch als materiell-rechtliche Ausschlussfrist zu verstehen ist, sollte bereits die Antragschrift alle in formeller und materiell-rechtlicher Hinsicht bedeutsamen Angaben enthalten. Alledrings kann Vortrag zu Umstände nachgeschoben werden, die dem Antragsteller bei Antragstellung nicht bekannt sein konnten, vgl. OLG München BeckRS 2018, 13474 Rn. 147. Zur Doppelnatur der Antragsfrist Weber/Kersjes, Hauptversammlungsbeschlüsse, § 5 Rn. 112, 124. 150) Krenek, in: Mehbrey, § 144 Rn. 1 f.; MünchHdb. GesR Bd. 7/Steinle/Liebert/Katzenstein, § 34 Rn. 14 ff. 151) MünchKomm-AktG/Kubis, SpruchG § 17 Rn. 1 f. 152) Vgl. § 4 Abs. 2 Nr. 4 SpruchG.

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Unternehmensbewertung. Die hierbei anzulegenden Maßstäbe sind Gegenstand einer intensiven und interdisziplinär geführten Diskussion über Bewertungsmethoden und Bewertungsparameter. Insoweit ist auf die einschlägige Spezialliteratur zu verweisen.153) In der Praxis entscheiden die Gerichte regelmäßig auf der Basis eines Gutachtens, das im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes nach § 26 FamFG eingeholt wird.154) 8. Schiedsfähigkeit von Beschlussmängelstreitigkeiten 141 Die Schiedsfähigkeit aktienrechtlicher Beschlussmängelstreitigkeiten ist nach herrschender Meinung zumindest aus praktischen Gründen nicht gegeben: Satzungsmäßige Schiedsklauseln verstoßen gegen die Regelung in § 23 Abs. 5 AktG i. V. m. § 246 AktG und sind dementsprechend als Satzungsbestandteil einer Aktiengesellschaft unzulässig.155) 142 Die als Alternative zur satzungsmäßigen Schiedsabrede diskutierte Verankerung von Schiedsabreden in Nebenvereinbarungen der Aktionäre untereinander156) sind für Publikumsgesellschaften ungeeignet. In personalistischen Aktiengesellschaften sind sie denkbar, in der Praxis aber wenig gebräuchlich. II. Beschlussmängelklage GmbH 1. Einleitung a) Klageformen Philipp Göz

143 Die geringere Regelungsdichte des GmbH-Rechts im Vergleich zum Aktienrecht wirkt sich im Beschlussmängelrecht in verschiedener Hinsicht aus: x

Die fehlenden gesetzlichen Vorgaben bei der GmbH zur Beschlussfeststellung157) führt in einer Vielzahl von Fällen dazu, dass die Feststellung eines bestimmten Beschlussinhalts unterbleibt und daher bereits das Bestehen eines Beschlusses streitig ist. In diesem Fall zielt der gerichtliche Rechtsschutz auf die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines

___________ 153) Großfeld/Egger/Tönnes, Recht der Unternehmensbewertung, 9. Aufl., 2020; MünchHdb. GesR Bd. 7/Steinle/Liebert/Katzenstein, § 34 Rn. 81 ff.; MünchKomm-AktG/ van Rossum, § 305 Rn. 771 ff., 87 ff., 181. 154) Zu den Voraussetzungen und zur Praxis der gerichtlichen Bestellung von Sachverständigen im Spruchverfahren Krenek, in: Mehbrey, § 144 Rn. 62 f. 155) Spindler/Stilz/Dörr, AktG, § 246 Rn. 10; Hüffer/Koch, AktG, § 246 Rn. 18; Wachter/ Epe, AktG, § 246 Rn. 8. A. A. KK-AktG/Noack/Zetzsche, § 246 Rn. 141; K. Schmidt/ Lutter/Schwab, AktG, § 246 Rn. 48 ff. Siehe zum Ganzen auch 1. Teil, Kapitel F VII. Rn. 628 (Rieder) m. w. N. 156) BeckOGK/Vatter AktG § 246 Rn. 44; MünchHdb. GesR Bd. 7/Horcher/Wilk, § 29 Rn. 23 f. 157) Vgl. hierzu im Aktienrecht § 130 AktG.

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Beschlusses ab; zutreffende Klageform ist dann die allgemeine Feststellungsklage nach § 256 ZPO.158) x

Liegt ein inhaltlich hinreichend bestimmter Beschluss der Gesellschafterversammlung vor, wird die im GmbH-Recht fehlende Regelung zu Beschlussmängelstreitigkeiten dadurch geschlossen, dass die §§ 241 – 256 AktG auf die GmbH analog angewandt werden.159)

b) Existenz eines Beschlusses der Gesellschafterversammlung Für die maßgebliche Weichenstellung – allgemeine Feststellungsklage nach 144 § 256 ZPO vs. Beschlussmängelklage analog §§ 241 ff. AktG – ist somit die Frage entscheidend, ob ein hinreichend bestimmter Beschluss existiert. Nur im Fall einer Beschlussfassung existieren zum einen ein Gegenstand einer Beschlussmängelklage und zum anderen eine vorläufig gültige Regelung, die dann ggf. im Wege einer Beschlussmängelklage kassiert werden kann. Unproblematisch ist das Vorliegen eines Beschlusses, wenn ein durch den 145 Gesellschaftsvertrag bestimmter oder aufgrund einstimmigen Beschlusses der Gesellschafterversammlung gewählter Versammlungsleiter einen Beschluss festgestellt und in einem von ihm zu unterzeichnenden Protokoll festgehalten und verkündet hat. Ausreichend ist nach herrschender Meinung, wenn der Versammlungsleiter 146 nicht einstimmig, sondern lediglich durch Mehrheitsbeschluss bestellt worden ist.160) Ebenso ist der Fall zu beurteilen, dass der Versammlungsleiter zwar nicht ausdrücklich gewählt, jedoch seine Verhandlungsführung von den Gesellschaftern akzeptiert wird.161) Auch ohne Versammlungsleiter kann ein hinreichend bestimmter Beschluss vorliegen, wenn sich alle Gesellschafter ___________ 158) BGHZ 76, 154, 157 = NJW 1980, 1527, 1528; BGH ZIP 1995, 1982 = NJW 1996, 259; BGH ZIP 1999, 656 = NJW 1999, 2268; BGH NZG 2008, 317, 318 (Rn. 22); BGH NZG 2009, 1307 (Rn. 19). BGH ZIP 2016, 817 = NZG 2016, 552 (Rn. 32). 159) Ständige Rechtsprechung, BGHZ 36, 207, 210 f. = NJW 1954, 385; BGH NJW 1962, 538; BGHZ 51, 209, 210 = NJW 1969, 841, 842; BGHZ 134, 364, 365 f. = ZIP 1997, 732 = NJW 1997, 1510, 1511; BGHZ 104, 66 = NJW 1988, 1844; BGH ZIP 2003, 116 = NZG 2003, 127, 128; BGH NZG 2008, 317, 318; BGH GmbHR 2016, 587, 588; BGH ZIP 2016, 817 = NZG 2016, 552 (Rn. 20); ebenso die h. L. MünchKommGmbHG/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 1; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 44, 81; Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 3; Michalski/ Römermann, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 21. 160) BGH NZG 2009, 1307, 1308 (Rn. 15) = ZIP 2009, 2195; OLG München GmbHR 2005, 624; OLG Brandenburg ZIP 2017, 1417, 1418; Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, § 48 Rn. 14; MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 48 Rn. 107 f.; MünchKommGmbHG/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn.236 ff.; Scholz/K. Schmidt/Seibt, GmbHG, § 48 Rn. 33; Ulmer/Habersack/Löbbe/Raiser, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 102; Ulmer/Habersack/ Löbbe/Hüffer/Schürnbrand, GmbHG, § 48 Rn. 32; MünchHdb. GesR Bd. 3/Wolff, § 39 Rn. 82; a. A. (nur einstimmig) OLG Frankfurt/M. NZG 1999, 406; OLG Frankfurt/M. ZIP 2009, 1930 = GmbHR 2009, 378; KG ZIP 2016, 422 = NZG 2016, 384, 385; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 120; § 48 Rn. 16. 161) Ulmer/Habersack/Löbbe/Raiser, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 102.

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entweder zunächst hinsichtlich eines Beschlussergebnisses einig sind oder ein Protokoll, das eine Beschlussfassung festhält, unterzeichnen.162) 147 Anderes gilt, wenn im Gesellschafterkreis verschiedene Protokollversionen kursieren. Bedenken bestehen auch, wenn lediglich die abgegebenen Stimmen festgehalten, nicht jedoch ein Beschluss verkündet wird; in diesem Fall geht häufig nicht klar hervor, ob die abgegebenen Stimmen gültig und ein Beschluss gefasst bzw. abgelehnt worden ist.163) Wurde von einer gesellschaftsvertraglich vorgesehenen Protokollierung abgesehen, hängt die wirksame Beschlussfassung von der Frage ab, ob die Protokollierung lediglich Nachweisfunktion oder aber Wirksamkeitsbedingung sein soll.164) 148 Die vorstehenden Grundsätze sind auch auf eine schriftliche Beschlussfassung nach § 48 Abs. 2 GmbHG übertragbar; in diesem Fall ist für das Bestehen eines Beschlusses erforderlich, dass ein Leiter der schriftlichen Abstimmung ein Beschlussergebnis feststellt und den Gesellschaftern verkündet.165) 2. Beschlussmängelklage analog §§ 241 ff. AktG a) Anwendungsbereich 149 Liegt ein entsprechend den vorstehenden Ausführungen unter 1 b) Rn. 150 hinreichend bestimmter Beschluss der Gesellschafterversammlung vor, so können Beschlussmängel im Wege der Beschlussmängelklage nach §§ 241 ff. AktG analog geltend gemacht werden. Für Beschlüsse anderer Organe wie insbesondere im Fall des Aufsichtsrates gilt im Aktienrecht, dass deren Beschlüsse nicht nach den §§ 241 ff. AktG, sondern nur im Wege der allgemeinen Feststellungsklage angefochten werden können.166) Dies gilt grundsätzlich auch im GmbH-Recht; allerdings wird in Abweichung von diesem Grundsatz die Anwendbarkeit der §§ 241 ff. AktG auch für solche Beschlüsse anderer Organe wie z. B. einem Beirat oder Aufsichtsrat befürwortet, wenn diese Organe Befugnisse wahrnehmen, die ihnen durch den Gesellschaftsvertrag von der Gesellschafterversammlung übertragen wurden. Mit der Übertragung solcher Befugnisse sei kein Verzicht auf deren gerichtlicher Überprüfung durch die Gesellschafter verbunden.167) Überzeugender erscheint, ___________ 162) BGH NZG 2008, 317, 318 (Rn. 24 f.) = ZIP 2008, 757; BayObLG ZIP 2001, 70 = NZG 2001, 128; OLG Dresden NZG 2001, 809; MünchKomm-GmbHG/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 232; Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 38. 163) BGH NJW 1980, 1527; Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 38. 164) MünchHdb. GesR Bd. 3/Wolff, § 39 Rn. 86; Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, § 48 Rn. 18; MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 48 Rn. 132. 165) Ulmer/Habersack/Löbbe/Raiser, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 105. 166) BGHZ 122, 342, 349 ff. = NJW 1993, 2307, 2309 = ZIP 1993, 1079; BGHZ 135, 244, 247 = ZIP 1997, 883 = NJW 1997, 1926; BGHZ 164, 249, 253 = NJW 2006, 374, 375; BGHZ 207, 190 = ZIP 2016, 310 = NJW 2016, 1238 (Rn. 21); MünchKomm-AktG/ Habersack, § 108 Rn. 81. 167) BGHZ 43, 261, 265 = NJW 1965, 1378; OLG Schleswig ZIP 2003, 1703 = NZG 2003, 821; MünchKomm-GmbHG/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 387 f.

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entgegen der herrschenden Meinung, in diesem Fall die aktienrechtlichen Grundsätze uneingeschränkt anzuwenden und somit von der Anwendbarkeit der allgemeinen Feststellungsklage nach § 256 ZPO auszugehen. Dem Rechtsschutzgedanken der herrschenden Meinung kann dadurch Rechnung getragen werden, dass auch nach einer Übertragung von Kompetenzen der Gesellschafterversammlung ein Feststellungsinteresse der Gesellschafter angenommen wird.168) b) Verfahrensrechtliche Regelungen aa) Gemeinsame Regelungen für Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagen (1) Entsprechende Geltung aktienrechtlicher Grundsätze Die analoge Anwendung der §§ 241 ff. AktG im GmbH-Recht hat zur Folge, 150 dass im Grundsatz die wesentlichen, sowohl für die Nichtigkeits- als auch für die Anfechtungsklage bei der Aktiengesellschaft geltenden verfahrensrechtlichen Regelungen auch auf die GmbH anwendbar sind. Wie bei der Aktiengesellschaft haben daher auch bei der GmbH die Nichtigkeits- und die Anfechtungsklage einen einheitlichen Streitgegenstand.169) Die Beschlussmängelklage analog der §§ 241 ff. AktG ist auch bei der GmbH gegen die Gesellschaft (und nicht gegen die Gesellschafter) zu richten, § 246 Abs. 2 Satz 1 AktG analog. Zuständiges Gericht ist ausschließlich das Landgericht am Sitz der Gesellschaft, § 246 Abs. 3 Satz 1 AktG analog. Funktionell zuständig ist die Kammer für Handelssachen, § 246 Abs. 3 Satz 2 AktG analog; mehrere Beschlussmängelklagen sind zur gleichzeitigen Verhandlung und Entscheidung zu verbinden, § 246 Abs. 3 Satz 6 AktG analog. Wird ein Beschluss durch ein rechtskräftiges Urteil für nichtig erklärt, so wirkt diese Entscheidung auch bei der GmbH analog § 248 Abs. 1 Satz 1 inter omnes. Die Geschäftsführung hat ein solches Urteil unverzüglich zum Handelsregister einzureichen.170) Entsprechend der Aktiengesellschaft besteht auch die Möglichkeit einer Nebenintervention. Begehrt ein Kläger die Feststellung, dass statt eines ablehnenden (negativen) Beschlusses ein (positiver) Beschluss gefasst wurde, steht ihm wie im Aktienrecht der Weg der positiven Beschlussfeststellungsklage offen.171) Bei dieser können dem begehrten positiven Beschluss entgegenstehende Beschlussmängel, die die Nichtigkeit begründen, auch von der beklagten Gesellschaft, entgegengehalten werden. Be___________ 168) Zutreffend: Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 208; Michalski/ Römermann, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 625. 169) Vgl. hierzu I Rn. 2. 170) MünchKomm-GmbHG/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 360, 365; Baumbach/Hueck/Zöllner, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 179; Rensen, Rn. 442; a. A. nur, wenn auch der nichtige Beschluss einzutragen war. Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 36; Scholz/ K. Schmidt, GmbHG, § 45 Rn. 170. 171) BGH NJW 1986, 2051, 2052 = ZIP 1986, 429; BGH NZG 2009, 1307, 1308 = ZIP 2009, 2195; OLG München NZG 2015, 66; zur positiven Beschlussfeststellungsklage siehe oben I Rn. 103 ff.

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schlussmängel, die eine Anfechtbarkeit begründen, können dagegen nur von anfechtungsberechtigten Nebenintervenienten geltend gemacht werden.172) (2) Abweichungen zum Aktienrecht 151 Die gem. § 246 Abs. 3 Satz 3 i. V. m. § 148 Abs. 2 Satz 3, 4 AktG zur Durchführung dieser Konzentrationsvorschrift erlassenen Rechtsverordnungen der Länder, wonach aktienrechtliche Beschlussmängelstreitigkeiten für die Bezirke mehrerer Landgerichte einem Landgericht übertragen werden können, sind nicht analog auf die GmbH anwendbar.173) 152 Abweichend von der AG wird die GmbH in einem Beschlussmängelstreit nicht durch Vorstand und Aufsichtsrat (§ 246 Abs. 2 Satz 2 AktG), sondern allein durch die Geschäftsführung vertreten. Dies gilt auch dann, wenn die GmbH über einen Aufsichtsrat verfügt.174) Im Stadium der Liquidation wird die GmbH allein durch die Liquidatoren vertreten.175) Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens gilt wie bei der AG, dass die Gesellschaft durch den Verwalter vertreten wird, wenn ein Erfolg der Beschlussmängelklage zu einer Verringerung oder Erhöhung der Insolvenzmasse führt; hat die Beschlussmängelklage dagegen keine Auswirkungen auf die Masse, verbleibt es bei der Vertretung (allein) durch die Geschäftsführer.176) 153 Zur Vertretung der GmbH, wenn ein Geschäftsführer gegen diese klagt (siehe unten Rn. 212). Bei einer infolge Fehlens der Geschäftsführung bestehenden Führungslosigkeit kann den Gesellschaftern zwar nach § 35 Abs. 1 Satz 2 GmbHG die Klage zugestellt werden. Aber aufgrund der trotz § 35 Abs. 1 Satz 2 GmbHG bestehenden fehlenden Prozessführungsbefugnis der führungslosen Gesellschaft kann die mangelnde Prozessführungsbefugnis nur durch die Bestellung eines Prozesspflegers nach § 57 Abs. 1 ZPO bzw. eines Notgeschäftsführers analog § 29 BGB behoben werden. Ohne deren Bestellung kann auch kein Versäumnisurteil gegen die Gesellschaft ergehen.177) 154 Wie bei der Aktiengesellschaft besteht eine Pflicht zur Information der Gesellschafter von der Erhebung einer Beschlussmängelklage (§ 246 Abs. 4 AktG). Diese ist bei der GmbH aber nicht durch eine Bekanntmachung in den Ge___________ 172) OLG Köln GmbHR 2018, 921; BeckOK GmbHG/Leinekugel, 45. Ed., Beschlussanfechtung Rn. 271.1. 173) Henssler/Strohn/Drescher, AktG § 246 Rn. 36; BeckOK GmbHG/Leinekugel, 45. Ed., Beschlussanfechtung, Rn. 211. 174) BGH NJW 1962, 538; Scholz/K. Schmidt, GmbHG, § 45 Rn. 149; Lutter/Hommelhoff/ Bayer, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 32; Ulmer/Habersack/Löbbe/Raiser, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 218. 175) BGH NJW 1962, 538. 176) MünchKomm-GmbHG/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 286. 177) BGH NZG 2011, 26 f.; MünchKomm-GmbH/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 290, Rensen, Rn. 340.

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sellschaftsblättern zu erfüllen. Erforderlich ist die Information der Gesellschafter durch die Geschäftsführung.178) bb) Spezifische Fragen zur Anfechtbarkeit Wichtige Unterschiede im Vergleich zur AG liegen insbesondere in der feh- 155 lenden analogen Anwendung der einmonatigen Klagefrist (§ 246 Abs. 1 AktG) sowie der Regelung zur Anfechtungsbefugnis (§ 245 AktG). Wie bei der AG sind die Klagefrist und die Anfechtungsbefugnis materielle Klagevoraussetzung, so dass eine Versäumung der Klagefrist bzw. eine fehlende Anfechtungsbefugnis auch bei der GmbH zur Abweisung der Klage als unbegründet führen.179) (1) Klagefrist Die Rechtsprechung lehnt einerseits eine analoge Anwendung der Monats- 156 frist des § 246 Abs. 1 AktG für die GmbH ab, betont andererseits aber die Pflicht, dass Gesellschafter Anfechtungsklagen mit zumutbarer Beschleunigung erheben müssen und die Monatsfrist des § 246 Abs. 1 AktG hierfür grundsätzlich als Maßstab anzusehen ist.180) Die Ablehnung der analogen Anwendung einerseits, die Heranziehung als Maßstab andererseits führt zu verschiedenen Unklarheiten bezüglich (i) dem Beginn der Klagefrist sowie (ii) den Gründen, die eine Verlängerung dieser Frist im Einzelnen rechtfertigen. Angesichts dieser Unsicherheit empfiehlt sich die Klageerhebung innerhalb eines Monats nach Beschlussfassung.181) Die mittlerweile herrschende Auffassung stellt hinsichtlich des Beginns der 157 Klagefrist, anders als bei der AG, nicht auf die Beschlussfassung, sondern auf deren Kenntnisnahme ab.182) Während für den bei der Beschlussfassung in der Gesellschafterversammlung anwesenden Gesellschafter damit die Frist mit der Beschlussfassung zu laufen beginnt, erhält der abwesende Gesellschafter grundsätzlich Kenntnis erst mit Zugang des Protokolls der Gesellschafterversammlung. Insoweit kann für den Gesellschafter, der Kenntnis von der Gesellschafterversammlung und der in der Einladung enthaltenen ___________ 178) BGH NJW 1986, 2051, 2052 f. = ZIP 1986, 429; OLG Düsseldorf GmbHR 2000, 1050, 1052, MünchKomm-GmbHG/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 294 ff.; Rensen, Rn. 2346 ff., auch zur Pflicht des Gerichts, bei Verweisen auf ein Unterbleiben dieser Information durch den Geschäftsführer die Information selbst vorzunehmen. 179) Für die Klagefrist vgl. BGH NJW-RR 2006, 1110, 1112; Michalski/Römermann, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 382, 471 (für Anfechtungsbefugnis). 180) BGH NJW 1998, 1559, 1561 = ZIP 1998, 467; BGH NZG 2005, 551, 553 = ZIP 2005, 985; BGH NZG 2009, 1110 = ZIP 2009, 1880. 181) Scholz/K. Schmidt, GmbHG, § 45 Rn. 143. 182) OLG Hamm BB 1992, 33, 34; OLG Hamm NZG 2003, 630; OLG Brandenburg NZG 1999, 828, 830; Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 62; Ulmer/Habersack/ Löbbe/Raiser, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 201; a. A. Michalski/Römermann, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 468 ff.; MünchHdb. GesR Bd. 3 GmbH/Wolff, § 40 Rn. 75.

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Tagesordnungspunkte hat, eine Pflicht bestehen, sich über den Inhalt eventueller Beschlussfassungen in Kenntnis zu setzen.183) 158 Nach der Rechtsprechung können zwingende Umstände, die den Gesellschafter an einer früheren klageweisen Geltendmachung hindern, die Monatsfrist verlängern. Als hierfür in Betracht kommende Gründe werden insbesondere schwierige tatsächliche und rechtliche Fragen oder Verhandlungen über die Änderung des beanstandeten Beschlusses genannt.184) Angesichts der sich zunehmend stärker an der Monatsfrist orientierenden Rechtsprechung ist jedoch im Einzelfall ungewiss, welche Gründe als hinreichend zwingend für eine Verlängerung der Monatsfrist herangezogen werden können.185) 159 Die Monatsfrist des § 246 Abs. 1 AktG ist eine Mindestfrist. Regelungen im Gesellschaftsvertrag einer GmbH können eine längere, nicht jedoch eine kürzere Frist vorsehen.186) Wie bei der AG wird die Klagefrist bei einer innerhalb der Monatsfrist eingereichten Klage gewahrt, sofern die Klage demnächst zugestellt wird.187) Auch bei der GmbH müssen die Anfechtungsgründe in ihrem wesentlichen tatsächlichen Kern innerhalb der Monatsfrist in den Rechtsstreit eingeführt werden. (2) Anfechtungsbefugnis 160 Bei der GmbH ist die Anfechtungsbefugnis stärker auf die Gesellschafter beschränkt als bei der AG. Grundsätzlich sind in der GmbH lediglich die Gesellschafter anfechtungsbefugt.188) Maßgeblich für die Gesellschaftereigenschaft ist die Eintragung in die Gesellschafterliste, § 16 Abs. 1 GmbHG.189) Grundsätzlich ist eine Gesellschaftereigenschaft von der Klageerhebung bis zur letzten mündlichen Verhandlung erforderlich.190) Allerdings ist der Gesellschafter, dessen Anteil eingezogen wurde, trotz sofortiger Wirksamkeit der Einziehung für die Klage gegen den Einziehungsbeschluß anfechtungsbe___________ 183) OLG Dresden NZG 2020, 867; OLG Hamm NJW-RR 2001, 108, 109; OLG Hamm NZG 2003, 630, 631. 184) BGH NJW 1990, 2625 = ZIP 1990, 784; Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 93; kritisch bei bloßer fehlender Erkennbarkeit MünchHdb. GesR Bd. 7/WiegandSchneider, § 39 Rn. 58. 185) MünchHdb. GesR Bd. 3/Wolff, § 40 Rn. 72; Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 92 ff.; Rensen, Rn. 367 ff. 186) BGH NJW 1988, 1844, 1845 = ZIP 1988, 703; BGH NJW 1989, 2694, 2696 = ZIP 1989, 913; nach OLG Düsseldorf NZG 2005, 980 ist bereits eine Regelung, die eine Anfechtung binnen eines Monats nach Absendung des Beschlussprotokolls vorsieht, unwirksam; zu Recht kritisch hierzu Scholz/K. Schmidt, GmbHG, § 45 Rn. 144. 187) Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 158 f. 188) BGH NJW 1980, 1527, 1528. 189) BGH NJW 2009, 230, 231; BGH NJW 2019, 993 (Rn. 20). 190) Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 70; ausführlich Scholz/K. Schmidt, GmbHG, § 45 Rn. 130 ff.; zur Anteilsübertragung nach Klageerhebung siehe oben I Rn. 51 (§ 265 ZPO).

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fugt.191) Die Gesellschaftereigenschaft muss somit nicht unbedingt bereits bei der Beschlussfassung vorliegen. Anders als bei der AG ist für die Wahrung der Anfechtungsbefugnis des Gesellschafters nicht erforderlich, dass er an der beschlussfassenden Gesellschafterversammlung teilgenommen und Widerspruch zu Protokoll erklärt hat. Jedoch verliert der Gesellschafter die Anfechtungsbefugnis, wenn er dem Beschluss zugestimmt hat.192) Geschäftsführer, die nicht gleichzeitig auch Gesellschafter sind, sind grund- 161 sätzlich nicht anfechtungsbefugt; § 245 Nr. 4 AktG gilt bei der GmbH nicht analog.193) Somit kann ein (Fremd-)Geschäftsführer seine Abberufung nicht anfechten.194) Umstritten ist, ob § 245 Nr. 5 AktG auf die GmbH analog anwendbar ist. Dieser sieht eine Anfechtungsbefugnis von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern vor, die sich bei Ausführung des Beschlusses strafbar oder ersatzpflichtig machen.195) c) Materiell-rechtliche Regelungen aa) Nichtigkeitsklage Aktiv legitimiert zur Erhebung der Nichtigkeitsklage sind wie im Aktien- 162 recht die Gesellschafter, auch wenn sie für den nichtigen Beschluss gestimmt haben,196) ferner auch (Fremd-)Geschäftsführer sowie Mitglieder des Aufsichtsrats oder eines Beirats. (1) Übersicht über die Fälle der Nichtigkeit Die im Aktienrecht geltende Regelung zu den Nichtigkeitsgründen von Be- 163 schlüssen der Gesellschafter in § 241 AktG gilt mit GmbH-spezifischen Besonderheiten auch im Recht der GmbH. Dies gilt nach herrschender und zutreffender Auffassung auch für den Grundsatz, dass in den Gesellschaftsver___________ 191) BGHZ 192, 236 = ZIP 2012, 422 = NZG 2012, 259 (Rn. 24); BGH GWR 2019, 106; BGH WM 2019, 1495, 1498 f. (Rn. 38, 41); OLG Brandenburg GmbHR 2019, 830, 831 f. 192) Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 75; Baumbach/Hueck/Zöllner/ Noack, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 136 f. 193) BGH NJW 1980, 1527, 1528. 194) BGH NZG 2008, 317, 319 = ZIP 2008, 757; offen steht ihm dagegen die Nichtigkeitsklage; zu der Möglichkeit einer Feststellungsklage vgl. Fischer, BB 2013, 2819, 2825 sowie BGH ZIP 2019, 1521, 1527 (Rn. 58). 195) Ablehnend: Michalski/Römermann, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 431; MünchKommGmbHG/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 260; Ulmer/Habersack/Löbbe/Raiser, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 177; OLG Hamm GmbHR 1994, 256 f.; zustimmend: Lutter/Hommelhoff/ Bayer, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 73; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 140; MünchHdb GesR Bd. 3/Wolff, § 40 Rn. 66. Vorzugswürdig erscheint die ablehnende Auffassung, die dem Geschäftsführer dann den Weg über die allgemeine Feststellungsklage einräumen muss, die fehlende Pflicht zur Ausführung feststellen zu lassen. 196) BGH NJW 1954, 385, 386.

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trag nicht zusätzliche Nichtigkeitsgründe aufgenommen und bestehende Nichtigkeitsgründe abbedungen werden können.197) (2) Entsprechende Anwendung von § 241 Nr. 1 – 6 AktG 164 (a) Einberufungsmängel (§ 241 Nr. 1 AktG analog): Wie im Aktienrecht führen Verstöße gegen die gesetzlichen und statutarischen Vorschriften zur Ladung von Gesellschafterversammlung grundsätzlich lediglich zur Anfechtbarkeit; gravierende Verstöße führen jedoch zur Nichtigkeit.198) Ein gravierender, zur Nichtigkeit führender Mangel liegt vor, wenn die Gesellschafterversammlung nicht von der hierzu nach Gesetz und Gesellschaftsvertrag befugten Person einberufen wird.199) Unbefugt sind auch (Minderheits-)Gesellschafter, bei deren Einberufung nicht die Voraussetzungen des § 50 Abs. 3 GmbH vorliegen, weil es entweder an einer entsprechenden Beteiligungshöhe fehlt oder die Gesellschafterversammlung vor Ablauf einer angemessenen Wartefrist einberufen wird.200) Zur Nichtigkeit führt auch, wenn nicht alle Gesellschafter zur Gesellschafterversammlung geladen sind; dies gilt auch bezüglich solcher Gesellschafter, die hinsichtlich einzelner oder aller Tagesordnungspunkte einem Stimmverbot unterliegen.201) Zum gleichen Ergebnis führt eine unzumutbar kurzfristige Ladung, wenn den Gesellschaftern dadurch eine Teilnahme faktisch unmöglich ist.202) Fehlen bei einer Ladung Angaben zu Ort und Zeit, führt dies ebenfalls zur Nichtigkeit.203) Eine nur mündliche Einladung stellt einen gravierenden, zur Nichtigkeit führenden Formverstoß dar.204) Lediglich zur Anfechtbarkeit führen dagegen eine zwar nicht als Einschreiben versendete, jedoch textlich fixierte und vom Gesellschafter erhaltene Einladung. Dasselbe gilt für unzureichende Angaben zu der Tagesordnung der Gesellschafterversammlung.205) ___________ 197) BGH NJW-RR 1989, 347, 349 = ZIP 1989, 634; MünchKomm-GmbHG/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 23 ff.; Scholz/K. Schmidt, GmbHG, § 45 Rn. 63; Ulmer/Habersack/ Löbbe/Raiser, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 33, 90; a. A. Michalski/Römermann, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 69. 198) MünchKomm-GmbHG/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 36; Baumbach/Hueck/Zöllner/ Noack, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 45. 199) Michalski/Römermann, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 80; Fleischer/Eschwey, BB 2015, 2178, 2179; BGH GmbHR 2016, 587, 588; BGHZ 212, 342 = ZIP 2017, 131 = NJW 2017, 1471 (Rn. 13). 200) BGH NJW 1983, 1677, 1678 = ZIP 1983, 569; BGH GmbHR 1985, 256, 257; Ulmer/ Habersack/Löbbe/Raiser, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 37. 201) BGH NJW-RR 2006, 831, 832 = ZIP 2006, 707; OLG München GmbHR 2000, 486, 488; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 51 Rn. 30; es sei denn, der hierzu betroffene Gesellschafter genehmigt analog § 242 Abs. 2 Satz 4 AktG den Beschluss. 202) BGH NJW-RR 2006, 831, 832 = ZIP 2006, 707; ZIP 2016, 817 = NZG 2015, 552 (Rn. 21). 203) KG NJW 1965, 2157, 2159; OLG Hamm GmbHR 1993, 743, 746. 204) BGH GmbHR 1989, 120, 122; MünchKomm-GmbHG/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 38. 205) BGH ZIP 2007, 1942 = NJW 2008, 69 (zum Vereinsrecht).

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Bei einer schriftlichen Beschlussfassung gem. § 48 Abs. 2 GmbHG führt es 165 zur Nichtigkeit, wenn nicht sämtliche Gesellschafter zu deren Teilnahme eingeladen wurden.206) Liegt zwar eine Einladung sämtlicher Gesellschafter, nicht jedoch deren Einverständnis mit der schriftlichen Beschlussfassung vor, so führt dies nach herrschender Auffassung lediglich zur Anfechtbarkeit.207) Ebenfalls zur Nichtigkeit führt eine kombinierte Beschlussfassung, bei der Teile der Gesellschafter in einer Gesellschafterversammlung und der fehlende Teil die Stimme schriftlich abgibt, wenn diese nicht im Gesellschaftsvertrag zugelassen ist.208) Geheilt werden können gravierende Einberufungsfehler, wenn alle Gesell- 166 schafter ihre Stimme im Rahmen einer Universalversammlung unter Verzicht auf Form und Frist abgeben.209) (b) Beurkundungsmängel (§ 241 Nr. 2 AktG): Ein wesentlicher Unterschied 167 zum Aktienrecht besteht darin, dass Beschlüsse der GmbH-Gesellschafterversammlung, anders als Hauptversammlungsbeschlüsse (dort § 130 AktG), nur in bestimmten Fällen wie z. B. bei Änderungen des Gesellschaftsvertrages (§ 53 Abs. 2 GmbHG) beurkundungspflichtig sind. Sehen das GmbHG oder sonstige gesetzliche Regelungen zwingend eine Beurkundung vor, sind Gesellschafterbeschlüsse, die diese Form nicht beachtet haben, analog § 241 Nr. 2 AktG nichtig. Eine Verletzung lediglich gesellschaftsvertraglich begründeter Beurkundungspflichten führt dagegen nicht zur Nichtigkeit,210) sondern lediglich zur Anfechtbarkeit. Hinsichtlich satzungsdurchbrechender Beschlüsse, die lediglich für einen 168 konkreten Einzelfall von einer Satzungsregelung abweichen und deren Geltung im Übrigen für die Zukunft nicht aufheben wollen, ist zu unterscheiden, ob sich die Wirkung des Beschlusses in der betreffenden Maßnahme erschöpft (punktuelle Wirkung) oder Dauerwirkung entfaltet (zustandsbegründende Wirkung).211) Zustandsbegründende Satzungsdurchbrechungen bedürfen der Einhaltung der für Satzungsänderungen erforderlichen Formvorschriften. Deren Nichtbeachtung führt zur Nichtigkeit des zustandsbegründenden sat___________ 206) BGH ZIP 2019, 1521, 1523 f. (Rn. 33). 207) OLG Jena GmbHR 2006, 985, 986; MünchKomm-GmbHG/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 45; a. A. (Nichtigkeit) Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 46; Michalski/Römermann, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 94; MünchHdb. GesR Bd. 3/Wolff, § 40 Rn. 16. 208) BGH ZIP 2006, 852 = NJW 2006, 2044; kritisch hierzu K. Schmidt, NJW 2006, 2599. 209) BGH GmbHR 2008, 426, 427; anders aber im Fall der kombinierten Beschlussfassung, BGH ZIP 2007, 1942 = NJW 2008, 69; kritisch hierzu Liese/Theusinger, GmbHR 2006, 682, 686. 210) MünchKomm-GmbHG/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 64; Lutter/Hommelhoff/Bayer, Anh. § 47 Rn. 15; Scholz/K. Schmidt, GmbHG, § 45 Rn. 67; a. A. OLG Stuttgart BB 1983, 1050. 211) BGHZ 123, 15, 19 = NJW 1993, 2246, 2247 = ZIP 1993, 1074; OLG Dresden NZG 2012, 507; Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, § 53 Rn. 29 ff.

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zungsdurchbrechenden Beschlusses analog § 241 Nr. 2 AktG.212) Hat die Satzungsdurchbrechung nur punktuelle Wirkung, ist sie grundsätzlich nur anfechtbar.213) 169 (c) Schwere Inhaltsmängel (§ 241 Nr. 3 AktG): § 241 Nr. 3 AktG gilt analog auch bei der GmbH.214) 170 Geschützt von der ersten Tatbestandsalternative des § 241 Nr. 3 AktG (Unvereinbarkeit mit dem Wesen der Gesellschaft) sind die nicht zur Disposition der Gesellschafter stehenden Strukturprinzipien der GmbH.215) Hierunter fallen nach allerdings umstrittener Auffassung insbesondere Eingriffe in unentziehbare Mitgliedschaftsrechte wie insbesondere das Informationsrecht (§ 51a GmbHG), das Recht zur Teilnahme an Gesellschafterversammlungen, das Recht der Minderheit auf Einberufung einer Gesellschafterversammlung (§ 50 GmbHG) und das Recht zur Anfechtung von Gesellschafterbeschlüssen, nicht dagegen mit Zustimmung der Gesellschafter entziehbare Mitgliedschaftsrechte wie das Stimmrecht und das Gewinnbezugsrecht.216) 171 Nach der zweiten Tatbestandsalternative des § 241 Nr. 3 AktG sind Eingriffe in gläubigerschützende Vorschriften nichtig. Solche Vorschriften sind wie bei der AG die Regelungen zur Kapitalaufbringung und -erhaltung sowie die gläubigerschützenden Bilanzierungsregelungen; im GmbH-Recht sind dies insbesondere die §§ 5 Abs. 1 – 4, 9, 9b, 11, 16 Abs. 2, 19 Abs. 2 – 5, 25, 30 – 34, 55 Abs. 4, 58, 64 GmbHG;217) ein Einziehungsbeschluss ist daher analog § 241 Nr. 3 AktG nichtig, wenn bereits bei Beschlussfassung feststeht, dass die Abfindung nicht aus freiem, das Stammkapital nicht beeinträchtigenden Vermögen bezahlt werden kann.218) 172 (d) Sittenwidrigkeit (§ 241 Nr. 4 AktG): § 241 Nr. 4 AktG ist ebenfalls analog anwendbar. Sittenwidrig kann etwa eine in die Satzung einer GmbH aufgenommene Bestimmung sein, die einen Ausschluss oder eine sittenwidrige Beschränkung der Abfindung des Gesellschafters im Falle seines Ausscheidens vorsieht.219) ___________ 212) BGHZ 123, 15, 19 = NJW 1993, 2246, 2247 = ZIP 1993, 1074; ZIP 2019, 1521, 1529 (Rn. 70); OLG Dresden NZG 2012, 507. 213) BGH ZIP 2016, 1160 = NZG 2016, 742 (Rn. 17). Jedoch nicht durch die dem Beschluss zustimmenden Gesellschafter, Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, § 53 Rn. 31, auch zu Möglichkeit der Beseitigung der Anfechtbarkeit. 214) Michalski/Römermann, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 118 f. 215) Scholz/K. Schmidt, GmbHG, § 45 Rn. 73. 216) MünchKomm-GmbHG/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 69, 73; Lutter/Hommelhoff/ Bayer, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 17; Scholz/K. Schmidt, GmbHG, § 45 Rn. 54, 73; a. A. (Anfechtbarkeit statt Nichtigkeit) Michalski/Römermann, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 134. 217) Ulmer/Habersack/Löbbe/Raiser, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 52; Baumbach/Hueck/Zöllner/ Noack, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 53; MünchHdb. GesR Bd. 7/Wiegand-Schneider, § 39 Rn. 142. 218) BGHZ 192, 236 = ZIP 2012, 422 = NZG 2012, 259 (Rn. 7); BGH ZIP 2018, 1540 = NZG 2018, 1069 (Rn. 13). 219) BGH NZG 2014, 820, 821 (Rn. 11).

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(e) § 241 Nr. 5 AktG sowie § 241 Nr. 6 AktG finden bei der GmbH eben- 173 falls analoge Anwendung.220) (3) Weitere Fälle der Nichtigkeit Die im Eingangstext des § 241 AktG aufgezählten und zur Nichtigkeit füh- 174 renden Verstöße gegen die dort aufgeführten aktienrechtlichen Vorschriften sind auf die GmbH nicht entsprechend anwendbar. Nichtig sind bei einer GmbH dagegen Beschlüsse in Zusammenhang mit einer Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln, die gegen das Proportionalitätsprinzip nach § 57j Satz 2 GmbHG verstoßen sowie über die Erhöhung des Stammkapitals und die Ergebnisverwendung, wenn die Kapitalerhöhung nicht binnen drei Monaten nach Beschlussfassung in das Handelsregister eingetragen wird, § 57n Ab. 2 Satz 3 GmbHG.221) Die aktienrechtliche Regelung zur Nichtigkeit von Aufsichtsratswahlbe- 175 schlüssen der Gesellschafterversammlung (§ 250 AktG) gelten im Fall einer GmbH mit einem obligatorischen Aufsichtsrat analog.222) Bei der GmbH mit einem fakultativen Aufsichtsrat ist dagegen umstritten, ob die Inkompatibilitätsvorschrift des § 105 AktG ebenfalls analog anwendbar ist.223) Analog anwendbar ist auch die Regelung zur Nichtigkeit von Jahresab- 176 schlüssen nach § 256 AktG. Dasselbe gilt für die Nichtigkeit von Ergebnisverwendungsbeschlüssen, die auf der Grundlage eines nichtigen Jahresabschlusses ergangen sind (§ 253 AktG).224) (4) Heilung der Nichtigkeit § 242 AktG regelt im Aktienrecht die Heilung nichtiger eintragungsfähiger 177 Beschlüsse. Diese Norm ist auf eintragungspflichtige Gesellschafterbeschlüsse bei der GmbH entsprechend anwendbar.225) Praktische Bedeutung kann die Heilung insbesondere auch bei anfänglich nichtigen Abfindungsklauseln entfalten. Auch deren Nichtigkeit ist drei Jahre nach unangefochtener Eintra___________ 220) Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 56 f.; Mehrbrey, in: Mehrbrey, 3. Aufl., § 19 Rn. 23 f.; Rensen, Rn. 91 ff. 221) Ulmer/Habersack/Löbbe/Raiser, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 68; Rensen, Rn. 19 ff. 222) Ulmer/Habersack/Löbbe/Raiser, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 69 ff.; Roth/Altmeppen/ Altmeppen, GmbHG, § 47 Rn. 108. 223) Ablehnend die h. M. Ulmer/Habersack/Löbbe/Raiser, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 72; Roth/ Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 24; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 61; Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 22; a. A. mit beachtlichen Gründen, Rensen, Rn. 118; für den Fall einer dominanten Stellung des AR-Mitglieds auch OLG Frankfurt/M. NJW-RR 1987, 482 f.; MünchKommGmbHG/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 117. 224) Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 24; Scholz/K. Schmidt, GmbHG, § 45 Rn. 79; BGH NZG 2013, 957 Rn. 7 (für Jahresabschluss). 225) Michalski/Römermann, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 237, 240; BGH NJW 1981, 2125, 2126 = ZIP 1981, 609; OLG Jena ZIP 2016, 867, 868.

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gung im Handelsregister geheilt.226) Diese Heilung wirkt nicht zu Lasten gesellschaftsexterner Gläubiger.227) bb) Anfechtungsklage (1) Maßgebende Normen 178 Nach § 243 Abs. 1 AktG führt lediglich die Verletzung des Gesetzes oder der Satzung zur Anfechtbarkeit. Umstritten ist, ob auch Verstöße gegen (schuldrechtliche) Gesellschaftervereinbarungen unter bestimmten Umständen zur Anfechtbarkeit eines Beschlusses führen können. (a) Verstöße gegen Gesetze 179 Analog § 243 Abs. 1 AktG berechtigt eine Verletzung von Gesetz oder Gesellschaftsvertrag zur Anfechtung. Wie bei der AG kommt in erster Linie eine Verletzung der Normen des GmbHG in Betracht, die aber wegen der geringeren Regelungsdichte und der oft dispositiven Ausgestaltung des GmbHRechts (das keine § 23 Abs. 5 AktG entsprechende Regelung enthält) geringere Vorgaben aufweisen. Aufgrund des materiellen Gesetzesbegriffs fallen wie bei der AG auch eine Verletzung von ungeschriebenen Generalklauseln wie der Treuepflicht und des Gleichbehandlungsgebots unter § 243 Abs. 1 AktG. (b) Verstöße gegen Gesellschaftsvertrag 180 Auch ein Verstoß gegen Vorgaben des Gesellschaftsvertrages kann eine Anfechtbarkeit begründen. Ausgenommen von diesem Grundsatz sind Verstöße gegen bloße Ordnungsvorschriften.228) Letztere liegen allerdings nur in (begründungsbedürftigen) Ausnahmefällen vor.229) Eine Regelung als SollVorschrift kann, muss allerdings keineswegs zu der Qualifizierung als Ordnungsvorschrift führen.230) Im Fall von Soll-Vorschriften in Gesellschaftsverträgen erscheint vorzugswürdig, vor der häufig schwierigen Qualifizierung als Ordnungsvorschrift durch Auslegung zu ermitteln, inwieweit bei Vorliegen einer sachlich gerechtfertigten Abweichung überhaupt ein (die Anfecht___________ 226) BGH NJW 2000, 2819, 2820 = ZIP 2000, 1294; MünchKomm-GmbHG/Strohn, § 34 Rn. 239; einschränkend allerdings Geissler, NZG 2006, 527, 529, der die Anpassung bei nachträglichem Auseinanderfallen des Werts nach der gesellschaftsvertraglichen Abfindungsklausel vom Verkehrswert auch auf Fälle der anfänglichen Nichtigkeit nach deren Heilung erstrecken möchte. Auch nach Heilung verbleibt die Möglichkeit einer Amtslöschung gem. § 242 Abs. 2 Satz 3 AktG analog, MünchKomm-GmbHG/Strohn, § 34 Rn. 239; Baumbach/Hueck/Kersting, GmbHG, § 34 Rn. 31. 227) Siehe h. M. MünchKomm-GmbHG/Strohn, § 34 Rn. 239; Baumbach/Hueck/Kersting, GmbHG, § 34 Rn. 32; a. A. Ulmer/Habersack/Löbbe/Habersack, GmbHG, § 34 Rn. 108; BGH WM 1984, 473, die Gläubiger darauf verweisen, eine vorherige Amtslöschung nichtiger Abfindungsklauseln herbeizuführen. 228) Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, Anh § 47 Rn. 37. 229) MünchKomm-GmbHG/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 206. 230) Ulmer/Habersack/Löbbe/Raiser, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 109.

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barkeit begründender) Verstoß gegen den Gesellschaftsvertrag vorliegt.231) Bei dem Protokollierungsgebot für eine Gesellschafterversammlung handelt es sich regelmäßig um eine Ordnungsvorschrift; das Fehlen eines Protokolls führt dann nicht zur Anfechtbarkeit des Beschlusses.232) (c) Verstoß gegen Gesellschaftervereinbarung Über den Wortlaut von § 243 Abs. 1 AktG hinaus ist nach allerdings um- 181 strittener Auffassung ein Beschluss auch dann anfechtbar, wenn er gegen eine schuldrechtliche Gesellschaftervereinbarung verstößt. Dies gilt auch nach der eine Anfechtbarkeit annehmenden Auffassung nur, wenn alle Gesellschafter der GmbH an einer solchen Gesellschaftervereinbarung außerhalb der Satzung beteiligt sind.233) Für diese Auffassung sprechen Gesichtspunkte der Prozessökonomie. Wird die Anfechtbarkeit verneint, müssten andernfalls zunächst Ansprüche aus der schuldrechtlichen Nebenabrede im Kreis der durch die Gesellschaftervereinbarung gebundenen Personen ausgetragen werden und anschließend dann eine Aufhebung des bisherigen und die Fassung eines neuen Beschlusses der GmbH durchgesetzt werden. (2) Anfechtung wegen Verfahrensfehlern von Beschlüssen Verfahrensfehler führen wie auch bei der AG nur dann zur Anfechtbarkeit, 182 wenn ein relevanter Fehler im Sinne der Relevanztheorie vorliegt.234) (a) Ladungsfehler Sofern kein gravierender und bereits zur Nichtigkeit eines Beschlusses füh- 183 render Ladungsfehler vorliegt,235) führen (relevante) Verstöße gegen die gesetzlichen oder gesellschaftsvertraglichen Vorschriften zur Ladung der Gesellschafterversammlung zur Anfechtbarkeit eines Gesellschafterbeschlusses. Ein Verstoß gegen die gesetzliche Ladungsfrist kann vorliegen, wenn die Einberufung der Gesellschafterversammlung nicht mit einer Frist von mindestens einer Woche bewirkt worden ist, § 51 Abs. 1 Satz 2 GmbHG. Maßgeblich für den Beginn der Wochenfrist nach § 51 Abs. 1 Satz 2 GmbHG ist das „Bewirken“ der Einladung. Nach herrschender Meinung ist auf den Zeit___________ 231) OLG Hamm AG 1986, 260, 261. 232) Ulmer/Habersack/Löbbe/Raiser, GmbHG, § 47 Rn. 109. 233) BGH NJW 1983, 1910 = ZIP 1983, 297; BGH NJW 1987, 890 = ZIP 1987, 103; OLG Hamm NZG 2000, 1036; OLG Saarbrücken GmbHR 2005, 546, 548; Scholz/ K. Schmidt, GmbHG, § 45 Rn. 116; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 47 Rn. 118; a. A. OLG Stuttgart BB 2001, 794, 797; Michalski/Römermann, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 363 f.; MünchKomm-GmbHG/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 210; Ulmer/ Habersack/Löbbe/Raiser, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 154 ff.; Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 44. 234) Siehe oben aktienrechtlicher Teil Rn. 97. 235) Siehe hierzu oben Rn. 164.

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punkt der Absendung zzgl. der im Normalfall zu erwartenden Postlaufzeit (bei Ladungen im Inland zwei Tage) abzustellen.236) 184 Umstritten ist, ob die Einhaltung der Formvorschriften einer Ladung verlangt, dass das Einladungsschreiben von dem zur Einberufung Berechtigten ordnungsgemäß unterzeichnet ist.237) Zur Anfechtung berechtigen kann eine Ladung zu einer Gesellschafterversammlung an einem unzumutbaren Ort oder zu einer unzumutbaren Zeit.238) Auch eine mangelhafte Ankündigung der Tagesordnung (vgl. § 51 Abs. 2, 4 GmbHG), die den Gesellschaftern keine angemessene Vorbereitung ermöglicht, kann zur Anfechtung berechtigen.239) (b) Fehler bei der Durchführung 185 Ein zur Anfechtung führender Fehler in der Durchführung kann darin liegen, dass ein Berater eines Gesellschafters, dessen Anwesenheit entweder nach dem Gesellschaftsvertrag oder unter Berücksichtigung der Treuepflicht zuzulassen ist, von der Teilnahme an der Gesellschafterversammlung ausgeschlossen wird.240) Auch ein Fehler in der Feststellung des Abstimmungsergebnisses kann zur Anfechtung berechtigen, wenn unwirksame Stimmen berücksichtigt oder zu berücksichtigende Stimmen unberücksichtigt bleiben. Ist ein Gesellschafter einem grundsätzlich nach den §§ 119 ff. BGB zur Anfechtung berechtigtem Irrtum unterlegen, so kann er nicht den Gesellschafterbeschluss, sondern lediglich seine Stimmabgabe anfechten. In diesem Fall ist zu prüfen, ob der Beschluss nur unter Berücksichtigung auch der dann (wirksam angefochtenen) Stimmen zustande gekommen ist. (3) Anfechtung wegen inhaltlichen Fehlern 186 Eine Anfechtung wegen inhaltlicher Fehler eines Beschluss kommt in Betracht, wenn ein Mangel nicht auf der Art seines Zustandekommens, sondern auf der inhaltlichen Regelung als Ergebnis der Beschlussfassung beruht. Bei ___________ 236) Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, § 51 Rn. 14; MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 51 Rn. 25 f.; KG NJW 1965, 2157. 237) Zustimmend: Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 51 Rn. 11; Roth/Altmeppen/ Altmeppen, GmbHG, § 51 Rn. 2; wohl auch BGH NZG 2006, 349, 350; nach BGH NJW-RR 1989, 347, 349 = ZIP 1989, 634 führt eine fehlende Unterschrift zur Nichtigkeit (bestätigt in BGH NZG 2016, 552 (Rn. 21); für Anfechtbarkeit: MünchKommGmbHG/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 37; ablehnend: MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 51 Rn. 20; Michalski/Römermann, GmbHG, § 51 Rn. 38; Scholz/Seibt, GmbHG, § 51 Rn. 13. 238) BGH GmbHR 1985, 256; BGH NJW 2009, 2300, 2301 = ZIP 2009, 1158; OLG Düsseldorf GmbHR 2003, 1006; BGH ZIP 2016, 817 = NZG 2016, 552 (Rn. 26) (Gesellschafterversammlung in den Räumen eines verfeindeten Gesellschafters); Michalski/ Römermann, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 269; Ulmer/Habersack/Löbbe/Raiser, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 112. 239) MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 51 Rn. 39 ff.; OLG Düsseldorf NZG 2000, 1180, 1182. 240) Lutz, Der Gesellschafterstreit, 6. Aufl., Rn. 122 ff.

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A. Beschlussmängelklagen bei AG und GmbH

Vorliegen eines inhaltlichen Fehlers findet die Relevanztheorie keine Anwendung.241) (a) Verletzung der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht Die Treuepflicht gilt auch bei der GmbH und zwar sowohl im Verhältnis der 187 Gesellschaft zu den Gesellschaftern wie auch im Kreis der Gesellschafter untereinander.242) Die Treuepflicht richtet sich dabei vorzugsweise an den Mehrheitsgesellschafter, der mit seiner Stimmenmacht das Zustandekommen treuepflichtwidriger Gesellschafterbeschlüsse erwirken kann. Adressat der Treuepflicht sind aber auch Minderheitsgesellschafter, soweit diese in treuwidriger Weise das Zustandekommen von Beschlüssen verhindern.243) Die Treuepflicht bildet im Verbandsinteresse eine Schranke und Handlungs- 188 anleitung für den Gesellschafter; dieser bleibt berechtigt, in dem von der Treuepflicht gesteckten weiten Rahmen seine eigenen Interessen zu verfolgen.244) Bei der Prüfung eines Treuepflichtverstoßes sind die Umstände des Einzelfalls (personalistischer Charakter einer Gesellschaft, Gegenstand der Treuepflicht, Interesse aller Beteiligten) zu prüfen. Ein Verstoß gegen die Treuepflicht kann u. a. in Betracht kommen bei Beschlüssen über die Entlastung von Geschäftsführern, die Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen gegen Geschäftsführer oder die Befreiung von gesellschaftsvertraglichen Wettbewerbsverboten.245) Die treuwidrig abgegebenen Stimmen sind nichtig.246) Dies führt dazu, dass 189 ein unter Berücksichtigung von treuepflichtwidrig abgegebenen Stimmen gefasster Beschluss angefochten werden kann bzw. ein unter Berücksichtigung von treuepflichtwidrig abgegebenen Stimmen abgelehnter Beschluss angefochten und dessen Zustandekommen mit der positiven Beschlussfeststellungsklage festgestellt werden kann.247)

___________ 241) Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 125. 242) BGHZ 65, 15, 18 = NJW 1976, 191; OLG Hamm NZG 2018, 1145 (Rn. 32). 243) MünchKomm-GmbHG/Merkt, § 13 Rn. 88 ff.; Henssler/Strohn/Verse, GmbHG, § 14 Rn. 98, 103 ff. 244) Vgl. zum judicial self restraint bei gerichtlicher Überprüfung am Maßstab der Treuepflicht BGH NJW 2016, 2739 = ZIP 2016, 1220 (Rn. 13); OLG Brandenburg ZIP 2017, 1417, 1421. 245) Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 56; Rensen, Rn. 243 ff. mit weiteren Beispielen. Zu Beispielsfällen für die Treuepflichtverletzung vgl. Michalski/Römermann, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 336. 246) BGH WM 1988, 23, 25 = ZIP 1988, 294; BGH WM 1993, 1593, 1595 = ZIP 1993, 1228; OLG Hamm GmbHR 2016, 1154; a. A. MünchKomm-GmbHG/Merkt, § 13 Rn. 189. 247) MünchKomm-GmbHG/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 185, 372 ff.

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(b) Verletzung des Gleichbehandlungsgebots 190 Das im Aktienrecht in § 53a AktG kodifizierte Gleichbehandlungsgebot gilt als allgemeines verbandsrechtliches Prinzip auch für die GmbH.248) Verstöße gegen das Gleichheitsgebot können insbesondere vorliegen bei offenen und verdeckten Gewinnausschüttungen an einzelne Gesellschafter oder Kapitalerhöhungen mit einem sachlich nicht berechtigten Bezugsrechtsausschluss einzelner Gesellschafter.249) (4) Anwendung weiterer aktienrechtlich geregelter Sonderfälle 191 Die im Aktienrecht geregelten Sonderfälle der Anfechtung sind nicht ausnahmslos auf die GmbH zu übertragen. Das in § 243 Abs. 2 Satz 1 AktG geregelte Verbot der Einräumung von Sondervorteilen gilt auch bei der GmbH.250) Keine analoge Anwendung findet dagegen § 243 Abs. 2 Satz 2 AktG.251) Die in § 244 AktG vorgesehene Möglichkeit der Heilung von Anfechtungsgründen durch einen Bestätigungsbeschluss gilt analog auch bei der GmbH.252) § 251 AktG betreffend die Anfechtbarkeit von Aufsichtsratswahlen ist analog auch bei der GmbH anwendbar.253) Eine analoge Anwendung von § 254 AktG betreffend die Verwendung des Bilanzgewinns ist abzulehnen. Für die Anfechtbarkeit von Ergebnisverwendungsbeschlüssen verbleibt es somit bei der analogen Anwendung von § 243 AktG.254) § 255 Abs. 2 AktG bezüglich der Anfechtung von Sachkapitalerhöhungsbeschlüssen gilt ebenso (analog) bei der GmbH.255) Eine Anfechtung des Jahresabschlusses nach § 257 AktG ist grundsätzlich analog auch bei der GmbH möglich; die in § 257 Abs. 1 Satz 2 AktG enthaltene Regelung zu der fehlenden Anfechtbarkeit wegen Inhaltsmängeln gilt jedoch nicht bei der GmbH.256) cc) Freigabeverfahren 192 Stark umstritten ist, ob die Regelung in § 246a AktG zum Freigabeverfahren auch analog auf die GmbH anwendbar ist. Eine Beantwortung dieser Frage hängt von der Wertungsfrage ab, ob der vom Gesetzgeber mit der Norm des ___________ 248) BGH NJW 1992, 892, 895 f. = ZIP 1992, 237; Henssler/Strohn/Verse, GmbHG § 14 Rn. 70. 249) MünchKomm-GmbHG/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 177; Michalski/Römermann, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 325. 250) OLG München GmbHR 1997, 1103. 251) MünchHdb. GesR Bd. 3/Wolff, § 38 Rn. 78; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 89 f. mit dem zutreffenden Hinweis auf die geringe praktische Bedeutung dieser Frage. 252) OLG Nürnberg NZG 2000, 700, 703; OLG Düsseldorf NZG 2003, 975, 978. 253) Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 59. 254) MünchKomm-GmbHG/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 204 f. 255) MünchHdb. GesR Bd. 3/Wolff, § 40 Rn. 47. 256) BGH NJW 1998, 1559, 1561 = ZIP 1998, 467; BGH NZG 2008, 783, 784 = ZIP 2008, 1818; KG NZG 2001, 845, 846.

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A. Beschlussmängelklagen bei AG und GmbH

§ 246a AktG für die AG gelöste Konflikt zwischen der Einhaltung der verfahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen Vorschriften zur Beschlussfassung und deren gerichtlicher Überprüfung auch für eine Anwendung auf die GmbH spricht oder ob die sich aus dem Leitbild der AG einerseits und der GmbH andererseits ergebenden Unterschiede gegen eine Anwendung von § 246a AktG auch auf die GmbH sprechen. Für eine Anwendung von § 246a AktG auch auf die GmbH spricht, dass das in § 16 Abs. 3 UmwG geregelte Freigabeverfahren unstreitig auch auf die GmbH anwendbar ist und daher keine grundsätzlichen systematischen Gründe gegen eine Anwendbarkeit des Freigabeverfahrens auch auf die GmbH sprechen. Weiterhin ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass die Notwendigkeit einer zeitnahen Umsetzung einer Strukturmaßnahme trotz Opposition im Gesellschafterkreis auch bei der GmbH auftreten kann.257) Gewichtiger erscheinen allerdings die zwischen der AG und der GmbH bestehenden Unterschiede über das Leitbild und die Rechtsposition der Gesellschafter. In der GmbH ist auch ein Minderheitsgesellschafter nicht lediglich auf eine im Wesentlichen kapitalistische Rolle reduziert, der unproblematisch durch Verkauf seiner Beteiligung austreten kann. Aus diesem Grund erscheint der bei der AG hinnehmbare Eingriff in die Gesellschafterrechte durch die faktische Beschränkung der Anfechtung von Beschlüssen bei der GmbH in einem anderen Licht; eine analoge Anwendung von § 246a AktG auf die GmbH ist daher abzulehnen.258) 3. Allgemeine Feststellungsklage a) Anwendungsbereich Liegt kein festgestellter Beschluss vor, so kann die Frage, ob bzw. mit welchem 193 Inhalt ein Beschluss gefasst worden ist, nur im Rahmen der allgemeinen Feststellungsklage (§ 256 ZPO) geklärt werden.259) Liegt allerdings ein festgestellter Beschluss vor, der Gegenstand einer Beschlussmängelklage analog §§ 241 ff. AktG sein kann, fehlt einer allgemeinen Feststellungsklage eines Gesellschafters regelmäßig das erforderliche Rechtsschutzinteresse.260)

___________ 257) Bayer/Lieder, NZG 2011, 1170, 1171 ff.; Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 64; MünchKomm-GmbHG/Lieder, § 57 Rn. 62; Harbarth, GmbHR 2005, 966, 968 ff.; Geissler, GmbHR 2008, 128, 133; keine analoge Anwendung soll allerdings § 246a Abs. 2 Ziff. 2 (Mindestquote) finden, Bayer/Lieder, NZG 2011, 1170, 1174; Wicke, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 17. 258) KG NZG 2011, 1068; Fleischer, DB 2011, 2132, 2133 ff. mit zutreffender Kritik an der Begründung, nicht aber am Ergebnis der Entscheidung des KG; Meuer, GmbHR, 2013, 729, 733; MünchKomm-GmbH/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 281; Baumbach/Hueck/ Zöllner/Noack, GmbHG, § 54 Rn. 28; Sauerbruch, GmbHR 2007, 189, 193; Scholz/ K. Schmidt, GmbHG, § 45 Rn. 126, 137; Henssler/Strohn/Drescher, AktG § 246a Rn. 3. 259) Siehe oben II Rn. 143 ff. 260) Michalski/Römermann, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 590.

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b) Parteien einer allgemeinen Feststellungsklage 194 Kläger einer Beschlussmängelklage in Form der allgemeinen Feststellungsklage kann zunächst ein Gesellschafter sein.261) Mögliche Kläger können allerdings auch ein Geschäftsführer262) bei Streitigkeiten über seine wirksame Abberufung oder die Gesellschaft263) bei Unklarheiten über das Bestehen eines Beschlusses sein. Erhebt allerdings ein Geschäftsführer, der nicht gleichzeitig Gesellschafter ist, Feststellungsklage hinsichtlich seiner Abberufung, so kann er lediglich Nichtigkeitsgründe, nicht aber Anfechtungsgründe geltend machen. Diese können nur von den Gesellschaftern selbst geltend gemacht werden.264) 195 Beklagte Partei ist regelmäßig die Gesellschaft.265) Anders als im Fall der personengesellschaftsrechtlichen Nichtigkeitsklage wird die Feststellungsklage somit nicht gegen die Mitgesellschafter, sondern gegen die Gesellschaft selbst erhoben. Wird eine Feststellungsklage von der Gesellschaft als Klägerin erhoben, kann diese entweder gegen einen die Existenz des Beschlusses abstreitenden Gesellschafter oder gegen einen Geschäftsführer erhoben werden, wenn dieser seine wirksame Abberufung bestreitet.266) c) Klagefrist 196 Eine analoge Anwendung der einmonatigen Klagefrist oder auch eine bloße Orientierung an diesem Leitbild ist im Fall der allgemeinen Feststellungsklage abzulehnen. In zeitlicher Hinsicht wird deren Erhebung durch die Verwirkung begrenzt.267) Eine Verwirkung erfordert neben dem Zeit- ein Umstandsmoment. Die Pflicht einer zeitnahen Klageerhebung kann auch nicht auf Umwegen dazu führen, eine am einmonatigen Leitbild orientierte Verwirkung anzunehmen; die Rechtsprechung hat eine Verwirkung auch nach Ablauf von fünf oder zehn Monaten im Einzelfall abgelehnt.268) Eine bestimmte Zeitgrenze existiert daher nicht, da es neben dem Zeitablauf zusätzlicher Hinweise darauf bedarf, dass der Anspruch nicht mehr geltend gemacht wird. Bei Fehlen einer Beschlussfeststellung können anfechtungsberechtigte Gesellschafter somit durch Erhebung einer Feststellungsklage auch nach Ablauf der Monatsfrist noch eventuelle Anfechtungsgründe gegen eine wirksame Beschlussfassung geltend machen. ___________ 261) OLG Stuttgart GmbHR 2015, 431 mit dem zutreffenden Hinweis des grundsätzlich vorliegenden Feststellungsinteresses in diesem Fall vgl. juris-Rn. 13. 262) Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 184. 263) BGH NJW 1999, 2268 = ZIP 1999, 656. 264) BGH NZG 2008, 317, 319 (Rn. 34) = ZIP 2008, 757. 265) Ulmer/Habersack/Löbbe/Raiser, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 281; Michalski/Römermann, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 593. 266) OLG Zweibrücken GmbHR 1999, 79, 80. 267) BGH NJW 1999, 2268 = ZIP 1999, 656; BGH NZG 2008, 317, 318 (Rn. 22) = ZIP 2008, 757. 268) BGH NJW 1999, 2268 = ZIP 1999, 656; OLG Köln NZG 2003, 40, 41.

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A. Beschlussmängelklagen bei AG und GmbH

d) Wirkung eines Urteils Umstritten ist, ob eine in Form der allgemeinen Feststellungsklage erhobene 197 Beschlussmängelklage lediglich inter partes wirkt oder ob analog § 248 AktG die Feststellung der Unwirksamkeit des Beschlusses auch sämtliche Gesellschafter bindet.269) Für letztere Auffassung spricht, dass zum einen die Abgrenzung zwischen der allgemeinen Feststellungsklage und der Beschlussmängelklage analog § 241 AktG Unsicherheiten unterliegt. Noch gewichtiger ist aber, dass eine inter omnes-Wirkung im Aktienrecht oder im GmbHRecht bei der Beschlussmängelklage analog § 241 AktG durch § 248 AktG angeordnet ist und im Personengesellschaftsrecht dadurch erzielt wird, dass die Klage grundsätzlich gegen sämtliche Mitgesellschafter erhoben werden muss. Die allgemeine Feststellungsklage im GmbH-Recht würde daher eine ansonsten im Gesellschaftsrecht vermiedene Rechtsunsicherheit schaffen. Bei einer Bindung lediglich inter partes drohen unterschiedliche Ergebnisse im Verhältnis zu verschiedenen Gesellschaftern. Auch wenn eine Gestaltungswirkung somit grundsätzlich einer ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung bedarf, bestehen dennoch überwiegende Gründe für eine analog § 248 AktG auch bei der allgemeinen Feststellungsklage anzunehmende Wirkung inter omnes. Diese setzt dann eine analog § 246 Abs. 4 AktG bestehende Pflicht der Geschäftsführung voraus, die übrigen, nicht am Rechtsstreit beteiligten Gesellschafter von der Erhebung der Klage zu informieren. Im Falle eines Beitrittes sind die Gesellschafter dann wie bei der Beschlussmängelklage analog § 241 ff. AktG streitgenössische Nebenintervenienten.270) 4. Einstweiliger Rechtsschutz Der einstweilige Rechtsschutz hat auch im Zusammenhang mit Beschluss- 198 mängelklagen große Bedeutung. Die gerichtliche Klärung der Rechtmäßigkeit von Gesellschafterbeschlüssen kann Jahre in Anspruch nehmen. Gerade bei GmbH-typischen Gesellschafterstreitigkeiten wie der (möglicherweise wechselseitigen) Abberufung von Geschäftsführern oder einer Einziehung bzw. einem Ausschluss aus der Gesellschaft besteht ein Bedürfnis nach kurzfristigem Rechtsschutz, dem durch eine im ordentlichen Verfahren durchgeführte Beschlussmängelklage nicht entsprochen werden kann. In Betracht kommen kann die Inanspruchnahme einstweiligen Rechtsschutzes (i) vor einer Beschlussfassung, (ii) als Eingriff in die Beschlussfassung und (iii) nach der Beschlussfassung.

___________ 269) Für analoge Anwendung von § 248 AktG: OLG München NJW-RR 1997, 988 f.; Michalski/Römermann, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 598; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 182; a. A. Ulmer/Habersack/Löbbe/Raiser, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 284; MünchHdb. GesR Bd. 7/Wiegand-Schneider, § 39 Rn. 65. 270) OLG München NJW-RR 1997, 588 f.

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199 Nicht möglich ist es allerdings, im Weg der einstweiligen Verfügung einen Beschluss (vorläufig) für unwirksam zu erklären.271) a) Allgemeine Grundsätze des einstweiligen Rechtsschutzes 200 Bei der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist zu prüfen, ob im Einzelfall für das in Anspruch genommene Recht die Voraussetzungen entsprechend der allgemeinen Grundsätze des einstweiligen Rechtsschutzes vorliegen. 201 Zuständiges Gericht für den Erlass einstweiliger Verfügungen ist nach § 937 Abs. 1 ZPO das Gericht der Hauptsache. Im Zusammenhang mit Beschlussmängelstreitigkeiten ergibt sich die örtliche und sachliche Zuständigkeit daher im Regelfall aus § 246 Abs. 3 AktG analog. Nicht anwendbar ist § 246 Abs. 3 AktG bei einer einstweiligen Verfügung gegen einen Gesellschafter zur Durchsetzung eines bestimmten Stimmverhaltens auf der Gesellschafterversammlung. 202 Die Begründetheit eines Antrages auf Erlass einer einstweiligen Verfügung hängt vom Vorliegen x

eines materiellen Anspruchs (Verfügungsanspruch) und

x

einer besonderen Dringlichkeit bzw. Eilbedürftigkeit für die Durchsetzung des Anspruchs (Verfügungsgrund)

ab.272) 203 An einem Verfügungsgrund kann es insbesondere fehlen, wenn ein Antragsteller zu lange zugewartet hat, bevor er die einstweilige Verfügung beantragt hat (Selbstwiderlegung).273) Ein Verfügungsgrund fehlt auch dann, wenn dem Antragsteller ein milderes Mittel zur Wahrung seiner Rechte zur Verfügung steht.274) 204 In dringenden Fällen kann eine einstweilige Verfügung auch ohne mündliche Verhandlung ergehen, § 937 Abs. 2 ZPO. Um sich hiervor zu schützen, bietet sich für die von einer einstweiligen Verfügung potentiell bedrohte Partei die Möglichkeit an, in einer bei dem zuständigen Gericht hinterlegten Schutzschrift die eigenen Verteidigungsargumente dem Gericht zugänglich zu machen. Im Fall einer bereits anfänglich ungerechtfertigten oder später aufgehobenen einstweiligen Verfügung riskiert der Antragsteller eine Schadenersatzpflicht nach § 945 ZPO. ___________ 271) Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 194; Lutz, BB 2000, 833, 835. 272) Zöller/Vollkommer, ZPO, § 935 Rn. 6, 10. 273) KG MDR 2009, 888; KG NJW-RR 2001, 1201, 1202; MünchKomm-ZPO/Drescher, § 935 Rn. 18 ff. 274) MünchKomm-ZPO/Drescher, § 935 Rn. 55 f.; OLG München NZG 2007, 152, 153 („Gebot des geringstmöglichen Eingriffs“).

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b) Einstweilige Verfügung vor Beschlussfassung Bereits vor Beschlussfassung kann ein Bedürfnis nach einer einstweiligen 205 Verfügung bestehen, wenn einem Geschäftsführer die Geschäftsführungsbefugnis und Vertretungsmacht vorläufig entzogen werden soll und wegen besonderer Dringlichkeit nicht bis zu der häufig längere Zeit in Anspruch nehmenden Beschlussfassung in der Gesellschafterversammlung über die Entziehung zugewartet werden kann.275) c) Eingriff in die Beschlussfassung Bei einer in die Beschlussfassung eingreifenden einstweiligen Verfügung ist 206 zu unterscheiden, ob (i) die Beschlussfassung insgesamt oder nur bezüglich einzelner Tagesordnungspunkte untersagt werden soll oder (ii) ob die einstweilige Verfügung auf die Durchsetzung oder Untersagung einer bestimmten Stimmausübung gerichtet ist. aa) Vollständige oder teilweise Untersagung einer Gesellschafterversammlung Eine auf Untersagung der Durchführung der Gesellschafterversammlung ins- 207 gesamt oder auf die Beschlussfassung zu einzelnen Tagesordnungspunkten gerichtete einstweilige Verfügung scheitert regelmäßig an dem Gebot des mildesten Mittels.276) Allenfalls in besonders krass liegenden Ausnahmefällen, wenn ein schwerer Eingriff in das Teilnahmerecht eines Mitgesellschafters zu besorgen ist, kann eine solche einstweilige Verfügung in Betracht kommen.277) Eine auf Untersagung der Durchführung einer Gesellschafterversammlung 208 insgesamt oder der Abstimmung zu einzelnen Tagesordnungspunkten gerichtete einstweilige Verfügung ist gegen die Gesellschaft als Antragsgegnerin zu richten. bb) Eingriff in das Stimmrecht Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung, mit der einem Gesell- 209 schafter verboten werden soll, sein Stimmrecht in einer Gesellschafterversammlung in einer bestimmten Weise auszuüben bzw. nicht auszuüben, ist nicht von vornherein unzulässig. In diesem Fall sind jedoch an den Verfügungsgrund und den Verfügungsanspruch besonders hohe Anforderungen ___________ 275) OLG Frankfurt/M. NZG 1999, 213; Fischer, BB 2013, 2819, 2827; MünchKommZPO/Drescher, § 935 Rn. 61. 276) OLG Jena NZG 2002, 89; Henssler/Strohn/Drescher, AktG § 246 Rn. 55; abweichend OLG Koblenz NJW 1991, 1119. 277) MünchKomm-GmbHG/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 392; weitergehend Werner, NZG 2006, 761, 763 bereits bei Einladung durch Unbefugte, die eine Nichtigkeit der auf der Gesellschafterversammlung gefassten Beschlüsse zur Folge hat.

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zu stellen.278) Erforderlich sind eine besondere Schutzbedürftigkeit des Antragstellers und eine eindeutige Rechtslage. Insbesondere hat das Gericht aber auch zu prüfen, ob der Eingriff in das Stimmrecht nicht am Gebot des geringstmöglichen Eingriffs scheitert.279) Ein milderes Mittel liegt insbesondere dann vor, wenn die Rechte des Antragstellers durch eine gegen die Beschlussausführung gerichtete einstweilige Verfügung vergleichbar geschützt werden können wie im Fall eines Eingriffs in das Stimmrecht. 210 Eine einstweilige Verfügung, die auf eine bestimmte Stimmabgabe gerichtet ist, kann insbesondere bei Vorliegen eines Stimmbindungsvertrags in Betracht kommen. In diesem Fall dient die einstweilige Verfügung zur Sicherung der mit dem Stimmbindungsvertrag eingegangenen schuldrechtlichen Verpflichtung.280) Bei einer klaren Rechtslage und unter Beachtung des Gebots des mildesten Mittels kann eine einstweilige Verfügung auch auf die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht gestützt werden,281) was aber wegen der vorgenannten hohen Anforderungen auf eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkt ist. d) Einstweilige Verfügung nach Beschlussfassung 211 Nach Beschlussfassung kann sowohl die Durchsetzung der Beschlussfassung als auch die Verhinderung der Beschlussausführung Gegenstand einer einstweiligen Verfügung sein.282) Antragsgegnerin ist die Gesellschaft. Ein Antrag auf Erlass einer gegen die Beschlussausführung gerichteten einstweiligen Verfügung kann auch bereits vor Einlegen der Anfechtungs- oder Nichtigkeitsklage gestellt werden; in diesem Fall ist aber deren unmittelbar bevorstehende Erhebung glaubhaft zu machen.283) Der Beschlussausführung entgegenstehende Beschlussmängel können jedoch nur von dem hierzu klagebefugten Personenkreis geltend gemacht werden. Der Antrag einer einstweiligen Verfügung nach Beschlussfassung kann bei eintragspflichtigen Beschlüssen darauf gerichtet sein, dem Geschäftsführer die Anmeldung zum Handelsregister zu untersagen, bzw. sofern diese schon bewirkt ist, sie zurückzunehmen. Bei bereits erfolgter Eintragung sowie bei nicht eintragungspflichtigen Beschlüssen kann nur noch die weitere Durchführung untersagt werden.284) ___________ 278) OLG Düsseldorf NZG 2005, 633. 279) OLG München NZG 1999, 407, 408; OLG München 2007, 152, 153; OLG Stuttgart GmbHR 1997, 312, 313. 280) OLG Koblenz NJW 1986, 1692, 1963; MünchKomm-GmbHG/Wertenbruch, Anh., § 47 Rn. 391, unter zutreffendem Hinweis, dass in einem solchen Fall der Gesellschafter selbst bereits durch Eingehen der Stimmbindung seine Willensbildungsfreiheit beschränkt hat. 281) OLG Hamburg NJW 1992, 186, 187. 282) Münchener Anwaltshandbuch GmbHR/Schindler, § 25 Rn. 95 ff. 283) Michalski/Römermann, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 619. 284) Ulmer/Habersack/Löbbe/Raiser, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 289. Eine solche einstweilige Verfügung bindet (vor Eintragung) auch das Handelsregister, § 16 Abs. 2 HGB.

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Unzulässig ist eine einstweilige Verfügung, sofern der Anwendungsbereich des Freigabeverfahrens eröffnet ist.285) e) Praktisch bedeutsame Einzelfälle aa) Einstweilige Verfügung bei Abberufung eines Geschäftsführers Große Bedeutung kommt dem einstweiligen Rechtsschutz im Zusammen- 212 hang mit der Abberufung der Geschäftsführung zu. In den vorgenannten Ausnahmefällen286) kann bereits ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vor Beschlussfassung in Betracht kommen. Im Regelfall kommt aber lediglich eine einstweilige Verfügung nach Beschlussfassung in Betracht. Ist die Wirksamkeit von Abberufungen streitig, wie insbesondere häufig im Fall einer aus zwei Personen bestehenden GmbH, bei der sich beide Gesellschafter/Geschäftsführer wechselseitig abberufen, so muss bis zu einer endgültigen Klärung der Wirksamkeit der Abberufung die vorläufige Rechtslage im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes geklärt werden.287) Antragsteller in der einstweiligen Verfügung kann sowohl die Gesellschaft sein, die die Abberufung durchsetzen möchte als auch der Geschäftsführer, der das Fortbestehen seiner Rechte als Geschäftsführer sichern möchte.288) Parteien eines Verfahrens im einstweiligen Rechtsschutz zur Durchsetzung 213 einer Abberufung oder Sicherung der Rechtsposition des Geschäftsführers sind zum einen die Gesellschaft und zum anderen der bzw. die betroffenen Geschäftsführer. In einem solchen Verfahren wird die Gesellschaft entsprechend den allgemeinen Grundsätzen bei Rechtsstreitigkeiten mit Geschäftsführern wie folgt vertreten289): x

Besteht ein Aufsichtsrat, so vertritt dieser analog § 112 AktG die Gesellschaft; verfügt die GmbH nicht über einen Aufsichtsrat nach dem MitbestG, so kann die Vertretung durch den Aufsichtsrat gesellschaftsvertraglich oder durch Gesellschafterbeschluss abbedungen werden.290)

___________ 285) Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 205; siehe hierzu oben II Rn. 192 und für die AG I Rn. 129. 286) Siehe oben II Rn. 205 – 210. 287) Gegen die Möglichkeit einer Klärung durch einstweilige Verfügung für den Fall, dass beide Abberufungen begründet sind allerdings OLG Düsseldorf NJW 1989, 172. Bis zu einem gerichtlichen Entscheid ist außerhalb der Anwendungsbereichs von § 84 Abs. 3 Rn. 4 AktG die materielle Rechtslage entscheidend; str., vgl. Fischer, BB 2013, 2819, 2826 m. w. N. 288) Vgl. aber zu den Einschränkungen bei Fremdgeschäftsführern sowie bei Abberufung durch einen nach dem MitbestG gebildeten Aufsichtsrat MünchKomm-GmbHG/Stephan/Tieves, § 38 Rn. 166; OLG Hamm NZG 2002, 50; Fischer, BB 2013, 2819, 2827. 289) OLG München NZG 2003, 634, 635; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 52 Rn. 116, 250, 305. 290) BGH DStR 2007, 1358, 1359; BGH NZG 2008, 104, 105 = ZIP 2008, 117; OLG Brandenburg GmbHR 2019, 289; BGH ZIP 2019, 1521, 1526 (Rn. 51); Lutz, NZG 2015, 424, 426. Zum Streitstand, ob eine Abbedingung eine Satzungsregelung erfordert oder auch durch Gesellschafterbeschluss erfolgen kann vgl. MünchKomm-GmbHG/ Liebscher, § 46 Rn. 264 f.

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Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation

x

Bei einer GmbH ohne Aufsichtsrat wird die Gesellschaft für die Rechtsstreitigkeit mit dem Geschäftsführer von einem besonderen Vertreter gem. § 46 Nr. 8 GmbHG vertreten, wenn dieser von der Gesellschafterversammlung bestellt wurde.

x

Bei einer GmbH ohne Aufsichtsrat, die auch (noch) keinen besonderen Vertreter gem. § 46 Nr. 8 GmbHG bestellt hat, ist zu prüfen, ob sie über weitere Geschäftsführer in vertretungsberechtigter Zahl neben dem der Prozess gegen die Gesellschaft führenden Geschäftsführer verfügt; ist dies der Fall, vertreten die übrigen Geschäftsführer die Gesellschaft.291) Wird mit einer Klage eine Bestellung eines Geschäftsführers angegriffen, so ist der betreffende Geschäftsführer dennoch vertretungsberechtigt.292) Bei einer Klage gegen wechselseitige Abberufungsbeschlüsse zweier Gesellschafter/Geschäftsführer wird die GmbH durch den jeweils abberufenen Geschäftsführer bei der Klage des anderen Geschäftsführers vertreten.293) Die Zustellung einer Klage bei dem (ausschließlich) als Vertreter der beklagten Gesellschaft benannten, selbst klagenden Geschäftsführer ist unwirksam, wenn auch kein anderer Geschäftsführer Kenntnis von der Klage erhalten hat.294)

x

Liegen die vorstehenden Voraussetzungen allesamt nicht vor, so kann ein klagender Geschäftsführer zur Vertretung der Gesellschaft die Bestellung eines Prozesspflegers gem. § 57 ZPO durch das Gericht anregen oder das Registergericht analog § 29 BGB einen Notgeschäftsführer bestellen.295)

x

Umgekehrt ist bei einer Klage der Gesellschaft gegen den Geschäftsführer, die grundsätzlich im GmbH-Recht nicht anwendbare Möglichkeit einer Klage des Gesellschafters im Wege der actio pro socio unter bestimmten Voraussetzungen in Erwägung zu ziehen.296)

___________ 291) BGH ZIP 1992, 760 = NJW-RR 1992, 993; BGH ZIP 2012, 824 = NJW 2012 1656, 1657; BGH ZIP 2019, 1521, 1523 (Rn. 30). 292) BGH ZIP 1981, 182 = NJW 1981, 1041; KG GmbHR 1997, 1001: Unterstellt wird die Situation im Fall des Obsiegens der Gesellschaft; im Fall einer angegriffenen Abberufung ist der betreffende Gesellschafter nicht vertretungsbefugt, MünchKomm-GmbHG/ Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 289; Michalski/Römermann, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 493. 293) Lutz, NZG, 2015, 424, 426. 294) OLG München NZG 2004, 422; OLG Köln, v. 15.10.2015 – 18 U 4/15 juris, Rn. 41; zur Klagebefugnis des Fremdgeschäftsführers siehe oben II Rn. 161. 295) Michalski/Römermann, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 492; Ulmer/Habersack/Löbbe/Raiser, GmbHG, Anh. 47 Rn. 218. 296) Im Einzelnen strittig vgl. Lutz, NZG 2015, 424, 428; Kumkar, NZG 2020, 1012, 1017; OLG Jena NZG 2014, 391 = ZIP 2014, 1226; OLG Braunschweig GmbHR 2009, 1276, 1277; OLG München NZG 2013, 947, 948; Zwissler, GmbHR 1999, 336, 337; nach BGH ZIP 2018, 276 = NZG 2018, 220 (Rn. 12 ff.) scheidet jedoch eine actio pro socio gegen einen Fremdgeschäftsführer (einer Komplementär-GmbH) aus.

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B. Gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten bei der GmbH & Co. KG

bb) Einstweiliger Rechtsschutz im Zusammenhang mit der Gesellschafterliste Einstweiliger Rechtsschutz kommt im Zusammenhang mit Streitigkeiten über 214 die Richtigkeit einer Gesellschafterliste in folgender Konstellation in Betracht: x

Ist eine nach Auffassung eines hiervon betroffenen Gesellschafters unrichtige Gesellschafterliste beim Handelsregister eingereicht worden, kann der Gesellschafter durch eine gegen die Gesellschaft gerichtete einstweilige Verfügung die Einreichung einer geänderten Liste geltend machen, wenn er einen Verfügungsgrund und -anspruch darlegen kann.297)

x

Soll im Weg einer einstweiligen Verfügung ein Widerspruch gegen die Richtigkeit einer GmbH-Gesellschafterliste zugeordnet werden, ist eine Dringlichkeit nach § 16 Abs. 3 Satz 5 GmbHG zu vermuten.298)

B. Gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten bei der GmbH & Co. KG I. Allgemeines Nicco Hahn

In der GmbH & Co. KG „vermischen“ sich GmbH und KG üblicherweise 215 zu einem einheitlichen Unternehmensträger.299) Die praktischen Erscheinungsformen sind mannigfaltig,300) so dass als Gegenstand der Betrachtung vorliegend der Grundtypus dient: eine KG deren einzige Komplementärin eine GmbH und sonst – wie es im HGB heißt – „kein persönlich haftender Gesellschafter eine natürliche Person ist“.301) Für die betroffenen Gesellschaften, die GmbH und die KG, ergeben sich aus der Vermischung einige gesetzliche Besonderheiten.302) In rechtlicher Hinsicht sind die GmbH und die KG trotz der unternehmerischen Vermischung grundsätzlich getrennt zu betrachten und die gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten jeweils nach der Binnenverfassung der KG und ihrer GmbH-Komplementärin auszutragen. Soweit der Streit bei der Komplementär-GmbH die Rechtsbeziehungen zwi- 216 schen den Gesellschaftern untereinander und gegenüber der Geschäftsfüh___________ 297) OLG München GmbHR 2011, 429; Kleindiek, GmbHR 2017, 815, 819 ff.; Lieder/ Becker, GmbHR 2019, 505, 509 ff.; Dittert, NZG 2015, 221, 223; Scholz/Seibt, GmbHG, § 40 Rn. 53; Lutter/Hommelhoff/Bayer, § 40 Rn. 74; BGH ZIP 2019, 1521, 1524 (Rn. 39) lässt unter Hinweis auf die Notwendigkeit effektiven Rechtsschutzes eine Untersagung der Einreichung einer geänderten Liste zu, was nach erfolgter Änderung den Anspruch auf Einreichung einer geänderten Liste zumindest nahelegt; a. A. KG GmbHR 2016, 416, 417 = ZIP 2016, 1166; OLG München GmbHR 2015, 1214, 1216; ähnlich i. E. OLG Jena NZG 2017, 136 (juris Rn. 34, 36). 298) Dittert, NZG 2015, 221, 222 f.; MünchHdb. GesR Bd. 7/Wiegand-Schneider, § 36 Rn. 54; MünchKomm-ZPO/Drescher, § 935 Rn. 55; Lieder, GmbHR 2016, 271, 276; Liebscher/Alles, ZIP 2015, 1, 6 f.; a. A. OLG Nürnberg NZG 2014, 1347. 299) Zielinski, Grundtypvermischungen und Handelsgesellschaftsrecht, S. 56 f. 300) Überblick bei: Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh. § 177 Rn. 6 ff. 301) Vgl. § 131 Abs. 2 HGB. 302) Etwa §§ 19 Abs. 2, 125a, 130a, 131 Abs. 2, 172 Abs. 6, 177a, 264a HGB, § 4 MitbestG.

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Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation

rung betrifft, regelt sich dieser nach dem Recht der GmbH. Soweit der Streit die mitgliedschaftlichen Fragen zwischen der Komplementär-GmbH und den Kommanditisten betrifft, regelt sich dieser nach dem Recht der KG. 217 Bei Streitigkeiten über die Geschäftsführung und Vertretung der KG sind regelmäßig zwei Ebenen betroffen. Auf erster Ebene ist die GmbH-Komplementärin als Gesellschafterin aus dem Gesellschaftsvertrag zur Geschäftsführung, und damit auch der Vertretung, berechtigt und verpflichtet. Die Erfüllung der Pflichten der GmbH gegenüber der KG können die Kommanditisten auch im Wege der actio pro socio geltend machen.303) Die Geltendmachung in actio pro socio erfolgt im eigenen Namen auf Leistung an die KG (VI 2 Rn. 255 und 7 Rn. 267). Auf zweiter Ebene wird die GmbH-Komplementärin durch ihre Geschäftsführer organschaftlich vertreten, die dabei Rechte und Pflichten aus dem Organschaftsverhältnis haben. Die Ausübung von Beteiligungsrechten und die Geltendmachung von Ansprüchen sind bei KG und GmbH jeweils unterschiedlich geregelt, können aber durch entsprechende Vertragsgestaltung weitgehend vereinheitlicht werden. Häufig erweist sich aber in der Praxis, dass die Verträge diese Vereinheitlichung – so sie denn gewollt ist – nur unzureichend regeln. Auch ohne vertragliche Regelungen führt schon allein die Gestaltung als GmbH & Co. KG dazu, dass die zweite Ebene, die Rechtsbeziehungen zwischen GmbH und ihrem Geschäftsführer, vielfach durchbrochen werden. Grund hierfür ist die Einbeziehung der KG in die Schutzwirkung des Organschaftsverhältnisses zwischen der GmbHKomplementärin und ihren Geschäftsführern (VI 7 a) Rn. 265). Allerdings steht den Kommanditisten ein unmittelbarer Weg zur Geltendmachung von Ansprüchen gegen die GmbH-Geschäftsführer grundsätzlich nicht zu, insbesondere können sie mangels Gesellschafterstellung von Fremdgeschäftsführern gegen diese nicht im Wege der actio pro socio vorgehen. Soweit sie gegen den Fremdgeschäftsführer vorgehen wollen, müssten sie zunächst im Wege der actio pro socio einen Titel gegen die Komplementär-GmbH erstreiten und daraus in deren Anspruch gegen ihren Geschäftsführer nach § 43 Abs. 2 GmbHG vollstrecken (VI 7 Rn. 265 ff.).304) 218 Die Darstellung von gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten behandelt einige ausgewählte Themen, die sich aus der strukturellen Besonderheit der GmbH & Co. KG ergeben. Im Übrigen wird auf die Ausführungen zur GmbH (Rn. 143 ff.) und Personengesellschaften (Rn. 275 ff.) verwiesen. Die Streitthemen der Fondsgesellschaften werden gesondert abgehandelt (Rn. 381 ff.).

___________ 303) BGH, v. 19.12.2017 – II ZR 255/16, ZIP 2018, 176 Rn. 16 m. w. N. 304) BGH, v. 19.12.2017 – II ZR 255/16, ZIP 2018, 176 Rn. 16; a. A. Baumbach/Hopt/ Roth, HGB, Anh. § 177 Rn. 28 m. w. N.

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B. Gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten bei der GmbH & Co. KG

II. Streitigkeiten bei der Gründung 1. Allgemeines Die Gründung der GmbH & Co. KG vollzieht sich durch die rechtlich ge- 219 trennte Gründung der Komplementär-GmbH und den Abschluss eines entsprechenden Gesellschaftsvertrags zwischen dieser und den Kommanditisten.305) Die Errichtung der KG ist auch vor Abschluss des Gründungsvorgangs der GmbH möglich, indem die notariell errichtete, aber noch nicht im Handelsregister eingetragene Vor-GmbH den Gesellschaftsvertrag abschließt.306) Die Vor-GmbH ist eine Rechtsform sui generis, die weitgehend bereits als GmbH behandelt wird.307) Dementsprechend ist es anerkannt, dass die VorGmbH auch Komplementärin einer Kommanditgesellschaft werden kann.308) Die KG ist mit Abschluss des Gesellschaftsvertrags errichtet, auch wenn die Vor-GmbH noch nicht im Handelsregister eingetragen ist.309) Für die vollkaufmännische KG ist die Eintragung im Handelsregister ohnedies deklaratorisch.310) Unabhängig von der Eintragung im Handelsregister wird die KG Schuldnerin der namens der GmbH & Co. KG eingegangenen Verbindlichkeiten. Für diese Verbindlichkeiten haftet die GmbH sowohl als Vorgesellschaft als auch nach Eintragung gem. § 128 HGB.311) 2. Fehlgeschlagene Vor-GmbH Gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten können sich ergeben, wenn die Eintragung 220 der GmbH im Handelsregister scheitert oder aufgegeben wird. Die GmbH kommt dann nicht zur Entstehung und kann folglich auch nicht Komplementärin werden. a) Schicksal der Vor-GmbH Das Fehlschlagen der Eintragung der GmbH bringt die Vor-GmbH zum Er- 221 löschen. In diesem Fall haften für die Verbindlichkeiten der Vor-GmbH deren Gesellschafter und die Geschäftsführer. Es verbleit der Personenverband der GmbH-Gründer, der je nach den Verhältnissen als GbR oder OHG behandelt werden kann, wenn diese die Tätigkeit der Vor-GmbH fortsetzen.312) Diese GbR oder OHG kann auch Komplementärin der KG sein.313) Im Streit___________ 305) 306) 307) 308) 309) 310) 311) 312) 313)

Binz/Sorg, § 3 Rn. 1 ff. Rn. 50 ff. Binz/Sorg, § 3 Rn. 69 ff. Baumbach/Hueck/Fastrich, GmbHG, § 11 Rn. 6. BGH, v. 9.3.1981 – II ZR 54/80, BGHZ 80, 129 = ZIP 1981, 394 Rn. 5. Binz/Sorg, § 3 Rn. 69; mit besonderen Ausführungen zur KG kraft Eintragung: Rn. 74 ff. Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 105 Rn. 12. Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh § 177a Rn. 15 f. Baumbach/Hueck/Fastrich, GmbHG, § 11 Rn. 32. Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 161 Rn. 3; § 105 Rn. 28.

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Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation

fall ist dann durch Auslegung zu klären, ob die KG auch mit der GbR, bzw. OHG als Komplementärin gegründet wurde und bestehen soll. b) Haftung der GmbH-Gesellschafter 222 Die Haftung der Gesellschafter ergibt sich aus richterlicher Rechtsfortbildung. Die GmbH-Gesellschafter trifft danach eine anteilige Verlustdeckungshaftung im Innenverhältnis gegenüber der GmbH.314) Wenn die GmbHGründung fehlschlägt und die Gesellschafter die Geschäftstätigkeit der Komplementärin nicht sofort beenden und die Vor-GmbH gesellschaftsrechtlich abwickeln, entfällt die Begrenzung auf eine interne Haftung. Die GmbHGründer haften dann gegenüber der KG und allen Dritten wie Personengesellschafter für sämtliche Verbindlichkeiten der Vor-GmbH, die bis zum Scheitern entstanden sind und danach entstehen.315) c) Haftung der Geschäftsführer 223 Für die Geschäftsführer ergibt sich die Haftung aus § 11 Abs. 2 GmbHG. Danach haften die Handelnden persönlich und solidarisch für alle Handlungen, die im Namen der Gesellschaft vor deren Eintragung im Handelsregister vorgenommen wurden. Wird der Geschäftsführer aus § 11 Abs. 2 GmbHG in Anspruch genommen, hat er aus dem Anstellungsverhältnis einen Regressanspruch gegen die Vor-GmbH. Für diesen Anspruch haften dem Geschäftsführer wiederum die Gesellschafter der Vor-GmbH im Rahmen ihrer unbeschränkten Verlustdeckungshaftung.316) 224 Auch wenn der Geschäftsführer der Vor-GmbH im Namen der KG handelt, haftet er persönlich nach § 11 Abs. 2 GmbHG, weil er mit der Handlung eine entsprechende Haftung der Vor-GmbH nach § 128 HGB auslöst.317) Die Haftung nach § 11 Abs. 2 GmbHG erlischt erst mit Eintragung der GmbH im Handelsregister.318) III. Streitigkeiten bei Änderung der Beteiligungsverhältnisse 1. Allgemeines 225 Bei der Änderung der Beteiligungsverhältnisse können sich Streitigkeiten ergeben, wenn infolge rechtsgeschäftlicher Verfügungen oder gesetzlicher Erwerbstatbestände die Beteiligung eines Gesellschafters an GmbH und KG ___________ 314) Zu den Einzelheiten: Baumbach/Hueck/Fastrich, GmbHG, § 11 Rn. 70, 24 ff. m. w. N. 315) Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh § 177a Rn. 15; BGH, v. 4.11.2002 – II ZR 204/00, BGHZ 152, 290 = ZIP 2002, 2309 Rn. 13. 316) Binz/Sorg, § 3 Rn. 100. 317) Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh § 177a Rn. 17; BGH, v. 9.3.1981 – II ZR 54/80, BGHZ 80, 129 = ZIP 1981, 394 Rn. 11. 318) Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh § 177a Rn. 17; BGH, v. 9.3.1981 – II ZR 54/80, BGHZ 80, 129 = ZIP 1981, 394 Rn. 26.

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B. Gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten bei der GmbH & Co. KG

nicht im gleichen Verhältnis an seine(n) Rechtsnachfolger übergeht. Bei weiteren Veränderungstatbeständen kann auch die strukturelle Identität als GmbH & Co. KG gestört werden oder gar verlorengehen. 2. Beteiligungsdivergenz bei beteiligungsgleicher GmbH & Co. KG Die personen- und beteiligungsgleiche GmbH & Co. KG stellt einen Haupt- 226 anwendungsfall der GmbH & Co. KG dar.319) Dabei sind die Gesellschafter der GmbH und die Kommanditisten der KG jeweils im gleichen Verhältnis am Kapital der GmbH und am Kommanditkapital der KG beteiligt. Aufgrund der unterschiedlichen Regeln für die Abtretung und Vererbung der Beteiligung sowie Einziehung und Ausschluss bei GmbH und KG kann es in der Folge dazu kommen, dass das Beteiligungsverhältnis als GmbH-Gesellschafter und als Kommanditisten nicht mehr deckungsgleich ist. Das Auseinanderfallen kann sich insbesondere bei der Erbfolge ergeben, 227 wenn ein Gesellschafter stirbt und von mehreren Erben beerbt wird. Bei der GmbH wird die Erbengemeinschaft selbst Inhaberin des Geschäftsanteils.320) Dies ist in Ansehung der Kommanditbeteiligung des Erblassers nicht möglich. Nach § 177 HGB werden die Erben eines Kommanditisten unmittelbar Kommanditisten und erwerben jeweils einzeln in dem ihrer jeweiligen Erbquote entsprechenden Teil die Kommanditbeteiligung als Sonderrechtsnachfolger.321) Fehlt es an hinreichenden vertraglichen Regelungen kann die Wiederherstellung 228 eines gleichen Beteiligungsverhältnisses aus der Treuepflicht (V 2 Rn. 237) geschuldet sein, in die auch die Erben als Kommanditisten im Wege der Sonderrechtsnachfolge eintreten. Nach den allgemeinen Grundsätzen ist eine Klage auf eine konkrete zur Herbeiführung des gleichlaufenden Beteiligungsverhältnisses gerichtete Leistung zu richten. Im vorstehend beschriebenen Fall einer ungleichen Vererbung könnte gegen die Erben, die den Geschäftsanteil der GmbH ungeteilt halten, Klage erhoben werden, dass diese auch den Geschäftsanteil entsprechend der Erbquote teilen und unter sich zuweisen. Die Klagebefugnis für eine solche Klage dürfte bei der GmbH liegen. Soweit kein Beschluss nach § 46 Nr. 4 GmbHG vorliegt, wären die übrigen Gesellschafter der GmbH als notwendige Streitgenossen zu beteiligen. 3. Ausscheiden der GmbH Die GmbH & Co. KG kann auch nicht unverändert fortgesetzt werden, 229 wenn die GmbH als Komplementärin ausscheidet.322) Das Ausscheiden der GmbH aus der KG ist gesetzlich vorgesehen, wenn über ihr Vermögen das ___________ 319) 320) 321) 322)

Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh § 177a Rn. 6. Baumbach/Hueck/Fastrich, GmbHG, § 15 Rn. 11. Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 177 Rn. 3. Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 177 Rn. 1.

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Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation

Insolvenzverfahren eröffnet wird (§ 131 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 HGB). Dies gilt auch bei Simultaninsolvenz von GmbH-Komplementärin und KG.323) Nach einem Ausscheiden der GmbH können die Kommanditisten zur Abwendung der weiteren Liquidation der KG dann einen Fortsetzungsbeschluss unter Berufung eines neuen Komplementärs fassen.324) 230 Wird ein Insolvenzantrag über das Vermögen der GmbH abgewiesen, führt dies zwar zur Auflösung der GmbH nach § 60 Abs. 1 Nr. 5 GmbHG. Die Auflösung hat aber weder das Ausscheiden aus der KG noch die Auflösung der KG selbst zur Folge (Rn. 274).325) IV. Streitigkeiten um Gesellschafterbeschlüsse 1. Allgemeines 231 In der GmbH & Co. KG findet die Willensbildung in GmbH und KG jeweils getrennt statt. Falls alle Gesellschafter von GmbH und KG an der Beschlussfassung beteiligt und die entsprechenden Förmlichkeiten gewahrt sind, kann die Beschlussfassung auch in einem einheitlichen Vorgang durchgeführt werden. 2. Stimmrecht und dessen Schranken 232 Aus der Struktur der GmbH & Co. KG ergibt sich grundsätzlich keine besondere Beschränkung des Stimmrechts der Gesellschafter der GmbH oder der Kommanditisten. Bei der Ausübung des Stimmrechts ist wie stets im Einzelfall zu prüfen, ob aufgrund der speziellen Gestaltung und Umstände ein konkretes Stimmverhalten geboten ist. 3. Bestellung und Abberufung des GmbH-Geschäftsführers 233 Die Bestellung eines Geschäftsführers in der GmbH kann gegen die Treuepflicht gegenüber der KG verstoßen, soweit gegen die Bestellung aus Sicht der KG ein wichtiger Grund vorliegt.326) Wenn sie nicht zugleich Gesellschafter der GmbH sind, können die Kommanditisten gegen den Bestellungsbeschluss keine eigene Beschlussanfechtungsklage erheben. Die Kommanditisten können dann aber von der GmbH verlangen, dass diese den ungeeigneten Geschäftsführer abberuft und einen geeigneten bestellt.327) Kommt die GmbH dem nicht nach, können die Kommanditisten gegen die GmbH auf Entziehung der Geschäftsführungsbefugnis nach § 117 HGB (VI 6 Rn. 260, ___________ 323) OLG Hamm, v. 3.7.2003 – 15 W 375/02, ZIP 2003, 2264 Rn. 13. 324) Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh § 177a Rn. 45a. 325) Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh § 177a Rn. 45a; BGH, v. 8.10.1979 – II ZR 257/78 BGHZ 75, 178 = NJW 1980, 233 Rn. 5; a. A. MünchKomm-HGB/K. Schmidt, § 131 Rn. 74. 326) Binz/Sorg, § 9 Rn. 3 ff. 327) OLG München, v. 19.11.2003 – 7 U 4505/03, NZG 2004, 374, 375.

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B. Gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten bei der GmbH & Co. KG

C II 2 Rn. 350 ff.) oder gar deren Ausschluss nach § 140 HGB klagen (C III 2 Rn. 367 ff.328) Nach bestrittener Auffassung sollen Kommanditisten auch direkt die Abbe- 234 rufung des Geschäftsführers analog §§ 117, 127 HGB betreiben können.329) Dagegen wird eingewandt, dass die Gestaltung als GmbH & Co. KG durchaus auch dem legitimen Zweck dienen kann, den Einfluss der Kommanditisten auf die Geschäftsführung zurückzudrängen, die aufgrund der Möglichkeiten eines Vorgehens gegen die GmbH-Komplementärin nicht schutzbedürftig sind.330) Im Streitfall, insbesondere bei fehlender oder unklarer Vertragsreegelung, kann sich ein kombiniertes Vorgehen gegen Geschäftsführer und Komplementär-GmbH empfehlen. 4. Geltendmachung von Beschlussmängeln Etwaige Beschlussmängel sind nach dem System der jeweils betroffenen Ge- 235 sellschaft auszutragen. Soweit Beschlüsse nichtig sind, kann dies in beiden Gesellschaften jederzeit und ohne Beachtung förmlicher Verfahren geltend gemacht werden. Bei sonstigen Unwirksamkeitsgründen von Beschlüssen der GmbH müssen die sich hierauf berufenden Gesellschafter eine entsprechende Beschlussanfechtungsklage führen, die in Anlehnung an § 248 AktG binnen Monatsfrist erhoben werden muss.331) Für die Beschlüsse der KG ist ein förmliches Anfechtungsverfahren nicht vorgesehen; ohne eine entsprechende Vertragsgestaltung gelten die §§ 246 ff. AktG weder direkt noch analog. Die Geltendmachung unwirksamer Beschlüsse erfolgt vielmehr durch allgemeine Feststellungsklage.332) Die Klage ist nicht an eine Frist gebunden, ihrer Begründetheit kann aber bei zu langem Zuwarten und entsprechendem Umstandsmoment Verwirkung entgegenstehen.333) V. Streitigkeiten um Gesellschafterrechte und -pflichten 1. Allgemeines Die Rechte und Pflichten der Gesellschafter der KG und ihrer GmbH- 236 Komplementärin sind gesetzlich unterschiedlich geregelt. Diese können im jeweiligen Gesellschaftsvertrag weitgehend angeglichen werden. Bei der Ausübung von Rechten und Einforderungen von Pflichterfüllung sind die beiden Gesellschaftsverhältnisse getrennt zu betrachten. ___________ 328) Binz/Sorg, § 9 Rn. 5; OLG München, v. 19.11.2003 – 7 U 4505/03, NZG 2004, 374, 375. 329) Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh § 177a Rn. 30, a. A. die h. M., vgl. MünchKommHGB/Grunewald, § 161 Rn. 80, 84. 330) MünchKomm-HGB/Grunewald, § 161 Rn. 80. 331) Baumbach/Hueck/Zöllner, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 145. 332) Staub/Schäfer, HGB, § 119 Rn. 91. 333) Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 119 Rn. 32; Staub/Schäfer, HGB, § 119 Rn. 91 ff.

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2. Treuepflicht 237 Bei der GmbH & Co. KG treffen die Kommanditisten und die KomplementärGmbH Treuepflichten gegenüber der KG und untereinander. Die Komplementär-GmbH muss den Gesellschaftszweck fördern und bei der Wahrnehmung eigener berechtigter Belange Rücksicht auf die Mitgesellschafter nehmen.334) Auch den GmbH-Gesellschaftern obliegt bei der Ausübung der Beteiligungsrechte in der GmbH-Komplementärin eine Treuepflicht gegenüber der KG. So darf ein Mehrheitsgesellschafter der GmbH-Komplementärin seinen bestimmenden Einfluss nicht dazu nutzen, die Geschäftsführung der GmbH zu nachteiligen Geschäften zu Lasten der KG zu veranlassen.335) In einem solchen Fall können die Minderheitsgesellschafter der GmbH und der KG Schadensersatz nach § 280 BGB an die benachteiligte Gesellschaft verlangen. 3. Kapital- und Ergebnisverteilung 238 Bei der Kapital- und Ergebnisverteilung ergeben sich keine Besonderheiten. Sehr üblich ist die Gestaltung, dass die GmbH-Komplementärin nicht am Gewinn teilnimmt. Sie erhält in solchen Fällen zumeist eine geringfügige Haftungsvergütung, die so bemessen wird, dass ihre laufenden Kosten gedeckt sind, nach Möglichkeit aber kein Überschuss verbleibt. 4. Informationsrecht der Kommanditisten a) Allgemeines 239 Die Informationsrechte sind in §§ 51a, 51b GmbHG für GmbH-Gesellschafter und in § 166 HGB für die Kommanditisten unterschiedlich geregelt. Während bei der KG nur einzelne Informationen verlangt werden können, kann bei der GmbH die Auskunft grundsätzlich auf ein jedes Geschäft und das Einsichtsersuchen auf ein jedes Dokument und deren technische Surrogate gerichtet werden.336) 240 Die gerichtliche Geltendmachung der Informationsansprüche erfolgt bei der GmbH im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit und bei der KG grundsätzlich im ordentlichen Rechtsweg. Zu den von der Geschäftsführung der GmbH zu erteilenden Auskünften und vorzulegenden Büchern und Schriften gehören auch die Angelegenheiten der KG, deren Geschäfte die GmbH führt. b) § 166 Abs. 1, 2 HGB 241 Die Kommanditisten, die nicht an der GmbH-Komplementärin selbst beteiligt sind, können ihren Informationsanspruch zunächst gegenüber der KG ___________ 334) BGH, v. 5.12.2005 – II ZR 13/04, ZIP 2006, 230 Rn. 10. 335) Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh § 177a Rn. 22; BGH, v. 5.6.1975 – II ZR 23/74, BGHZ 65, 15 Rn. 11 (ITT). 336) Baumbach/Hueck/Zöllner, GmbHG, § 51a Rn. 10, 21.

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nach § 166 HGB geltend machen. Inhaltlich richtet sich der Anspruch auf die abschriftliche Mitteilung des Jahresabschlusses und dessen Prüfung unter Einsicht von Unterlagen. Die gerichtliche Geltendmachung der Informationsrechte nach § 166 Abs. 1 HGB erfolgt grundsätzlich im ordentlichen Rechtsweg durch Leistungsklage gegen die KG.337) In Ansehung der weitergehenden Informationsansprüche der GmbH-Gesellschafter nach § 51a GmbHG und des insoweit vergleichbaren Informationsbedürfnisses der Kommanditisten wird auch eine rechtsfortbildende Erweiterung des Umfangs der nach § 166 Abs. 1 HGB zu erteilenden Auskünfte vertreten, die ein nach Maßgabe des Informationsbedürfnisses ausgedehntes Einsichts- und Auskunftsrecht begründen soll, das dann nach § 166 Abs. 3 HGB geltend gemacht werden kann (Rn. 242).338) c) § 166 Abs. 3 HGB Weitergehende Informationen können die Kommanditisten bei Vorliegen 242 wichtiger Gründe nach § 166 Abs. 3 HGB verlangen. Dabei erkennt die Rechtsprechung ein konkretes Informationsbedürfnis als hinreichend wichtigen Grund an.339) Diese Ansprüche können sich auch auf sonstige Aufklärungen richten. Als sonstige Auskünfte kann der Kommanditist Auskünfte, Einsichtsrechte, Überprüfung durch Sachverständige und auch die Erstellung von Unterlagen verlangen, die noch nicht vorhanden aber zur Aufklärung erforderlich sind.340) Ein wichtiger Grund für die Auskunft kann bei der GmbH & Co. KG in der nicht sachgerechten Geschäftsführung durch die GmbH liegen.341) Die Ansprüche nach § 166 Abs. 3 HGB sind im FamFGVerfahren geltend zu machen.342) Der Antrag kann gegen die KG und die GmbH-Komplementärin gerichtet werden.343) Der Kommanditist kann nebeneinander sowohl die ordentliche Leistungsklage nach § 166 Abs. 1 HGB und den Antrag nach § 166 Abs. 3 HGB stellen, weil diese jeweils unterschiedliche Voraussetzungen haben.344) ___________ 337) Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 166 Rn. 14; MünchKomm-HGB/Grunewald, § 166 Rn. 30. 338) Eingehend Scholz/K. Schmidt, GmbHG, § 51a Rn. 56; Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 166 Rn. 11; a. A. MünchKomm-HGB/Grunewald, § 166 Rn. 13. 339) BGH, v. 8.2.2018 – III ZR 65/17, ZIP 2018, 1183 Rn. 26; BGH v. 14.06.2016 – II ZB 11/15, Rn. 20; vgl. schon Scholz/K. Schmidt, GmbHG, § 51a Rn. 56. 340) MünchKomm-HGB/Grunewald, § 166 Rn. 34; vgl. OLG München, v. 7.4.2009 – 31 Wx 95/08, ZIP 2009, 1165 Rn. 12; einschränkend OLG Köln, v. 17.10.2013 – 18 Wx 8/13, MDR 2013, 1416 Rn. 18. 341) MünchKomm-HGB/Grunewald, § 166 Rn. 44. 342) Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 166 Rn. 15; MünchKomm-HGB/Grunewald, § 166 Rn. 36. 343) BayObLG, v. 23.10.2002 – 3Z BR 157/02, BB 2003, 72 Rn. 15. 344) OLG Celle, v. 11.5.1983 – 9 U 160/82, ZIP 1983, 943 Rn. 26; Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 166 Rn. 14.

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d) §§ 713, 666 BGB 243 Neben dem persönlichen Informationsrecht der Kommanditisten nach § 166 HGB besteht ein kollektives Informationsrecht aller Gesellschafter gegen den geschäftsführenden Gesellschafter aus §§ 713, 666 BGB.345) Inhaltlich sind aus § 666 BGB Auskunft und Rechenschaft geschuldet. Zwar handelt es sich dabei nicht um ein Individualrecht, es kann aber von jedem einzelnen Gesellschafter zugunsten der Gesellschaft im Wege der actio pro socio geltend gemacht werden.346) Dabei soll das Informationsrecht „funktionsgebunden“ sein und den Kommanditisten folglich nur zustehen, soweit die Vornahme von außergewöhnlichen Geschäften i. S. d. § 164 HGB oder Änderungen des Gesellschaftsvertrags betroffen sind.347) 244 Die gerichtliche Geltendmachung erfolgt im ordentlichen Rechtsweg durch Leistungsklage. Die Klage auf Informationserteilung kann gegen die KG und die GmbH-Komplementärin gerichtet werden.348) e) § 51a GmbHG 245 Soweit die Kommanditisten zugleich auch Gesellschafter der GmbH sind, können sie Informationen auch nach § 51a GmbH verlangen und durchsetzen. Den bloßen Kommanditisten stehen die Rechte aus § 51a GmbHG hingegen nicht, auch nicht analog zu.349) Für diese bleibt es bei der Erweiterung der Informationsrechte nach § 166 HGB, soweit ein konkretes Informationsbedürfnis besteht (Rn. 241 f.). Eine allgemeine Ausdehnung der Informationsrechte kann aber durch den Gesellschaftsvertrag vereinbart werden.350) f) Einstweiliger Rechtsschutz 246 Die vorläufige Durchsetzung von Informationsansprüchen im einstweiligen Rechtsschutz ist nach §§ 935 ff. ZPO zu beurteilen.351) Da die Auskunftserteilung regelmäßig zu einer Vorwegnahme der Hauptsache führt, sind entsprechend hohe Anforderungen an die Darlegung und Glaubhaftmachung ___________ 345) Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 166 Rn. 12; MünchKomm-HGB/Grunewald, § 166 Rn. 49; Scholz/K. Schmidt, GmbHG, § 51a Rn. 56; MünchKomm-BGB/Schäfer, § 713 Rn. 8. 346) BGH, v. 8.2.2018 – III ZR 65/17, ZIP 2018, 1183 Rn. 26; LG Bonn, v. 8.6.2007 – 15 O 402/04, juris, Rn. 120; Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 166 Rn. 12; Scholz/K. Schmidt, GmbHG, § 51a Rn. 56; MünchKomm-HGB/Grunewald, § 166 Rn. 49. 347) LG Bonn, v. 8.6.2007 – 15 O 402/04, juris, Rn. 120; vgl. BGH, v. 23.3.1992 – II ZR 128/91, Rn. 14. 348) LG Bonn, v. 8.6.2007 – 15 O 402/04, juris, Rn. 120. 349) Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh § 177a Rn. 25; MünchKomm-HGB/Grunewald, § 166 Rn. 48; vgl. auch Scholz/K. Schmidt, GmbHG, § 51a Rn. 56, der für eine rechtsfortbildende Erweiterung des § 166 HGB eintritt. 350) Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh § 177a Rn. 25, § 166 Rn. 21. 351) MünchKomm-HGB/Grunewald, § 166 Rn. 31.

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des Verfügungsgrunds zu stellen. Soweit der Kommanditist im Wege des FamFG-Verfahrens nach § 166 Abs. 3 HGB vorgeht, scheidet einstweiliger Rechtsschutz jedenfalls im FamFG-Verfahren aus.352) Allerdings kann der wichtige Grund für die Auskunft nach § 166 Abs. 3 HGB zugleich einen Verfügungsgrund für einen Verfügungsanspruch aus § 166 Abs. 1 HGB darstellen. Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz im ordentlichen Rechtsweg ist dann auch neben dem Antrag nach § 166 Abs. 3 HGB zulässig.353) 5. Wettbewerbsverbot der Kommanditisten Das Wettbewerbsverbot nach §§ 112, 113 HGB trifft die GmbH als Kom- 247 plementärin wie jeden anderen persönlich haftenden Gesellschafter auch. Von dem Wettbewerbsverbot wird unmittelbar auch der Geschäftsführer gebunden, der die Rechte und Pflichten der GmbH-Komplementärin persönlich erfüllt.354) Die Kommanditisten werden nach § 165 HGB vom gesetzlichen Wettbe- 248 werbsverbot der §§ 112, 113 HGB nicht erfasst. Ihnen kann aber im Einzelfall ein Wettbewerbsverbot aus der gesellschafterlichen Treuepflicht obliegen, wenn sie in der KG tätig sind und diese beherrschen.355) Vertragliche Wettbewerbsverbote sind zulässig, können aber nach § 138 BGB, § 1 GWB unwirksam sein, wenn die Kommanditisten keinen maßgeblichen Einfluss auf die Geschicke der Gesellschaft haben.356) 6. Haftung der Kommanditisten Hinsichtlich der Haftung der Kommanditisten wird bei der GmbH & Co. 249 KG eine erhebliche Ausnahme diskutiert. Die Kommanditisten, die noch nicht im Handelsregister eingetragen sind, soll die strenge unbeschränkte Haftung nach § 176 Abs. 1 HGB nicht treffen. Insofern soll kein Vertrauenstatbestand des Rechtsverkehrs entstanden sein, weil dieser sich bei einer GmbH & Co. KG üblicherweise darauf einstellt, dass alle Gesellschafter außer der Komplementär-GmbH, Kommanditisten und damit in ihrer Haftung beschränkt sind.357)

___________ 352) 353) 354) 355)

MünchKomm-HGB/Grunewald, § 166 Rn. 38. MünchKomm-HGB/Grunewald, § 166 Rn. 31. Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh. § 177a Rn. 27. Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh. § 177a Rn. 23; BGH, v. 5.12.1983 – II ZR 242/82, ZIP 1984, 446 Rn. 17. 356) OLG Frankfurt/M., v. 17.3.2009 – 11 U 61/08, DB 2009, 1640 Rn. 33; MünchKommHGB/Grunewald, § 165 Rn. 16 ff.; Oetker/Oetker, HGB, § 165 Rn. 8. 357) Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh § 177a Rn. 19; OLG Frankfurt/M., v. 9.5.2007 – 13 U 195/06, NZG 2007, 625 f., juris, Rn. 19; MünchHdb GesR Bd. 7/Mock/U. Schmidt, § 72 Rn. 11; a. A. noch BGH, v. 18.6.1979 – II ZR 194/77, NJW 1980, 54 Rn. 8.

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VI. Streitigkeiten um die Geschäftsführung 1. Allgemeines 250 Die Geschäftsführung der GmbH & Co. KG obliegt nach §§ 114 Abs. 1, 164 HGB der Komplementär-GmbH, die durch ihren Geschäftsführer vertreten wird. Der Geschäftsführer führt zugleich auch die Geschäfte der KG und hat damit auch ihr gegenüber organschaftliche Rechte und Pflichten.358) 2. Mitentscheidungsbefugnis bei außergewöhnlichen Geschäften a) Zustimmungspflicht der Kommanditisten 251 In der KG ist für alle Maßnahmen, die über die gewöhnlichen Geschäfte hinausgehen, die Zustimmung der Kommanditisten erforderlich. Das in § 164 Satz 1 Halbs. 2 HGB gesetzlich vorgesehene Widerspruchsrecht wird erweiternd als Zustimmungspflicht ausgelegt.359) Das bloße Widerspruchsrecht genügt regelmäßig nicht, weil die Kommanditisten nicht an der Geschäftsführung beteiligt sind und so schon keine Kenntnis von den betreffenden Maßnahmen erhalten. Die Kommanditisten sind daher von der beabsichtigten Geschäftsführungsmaßnahme zu informieren und ihre Stellungnahme ist abzuwarten.360) Die Kommanditisten haben bei der Entscheidung über die Zustimmung einen unternehmerischen Ermessensspielraum, sind aber auch aus der Treuepflicht verpflichtet, sich vom Wohl der Gesellschaft leiten zu lassen.361) 252 Bei außergewöhnlichen Geschäften der KG kann zudem eine Vorlagepflicht an die Gesellschafterversammlung der Komplementär-GmbH bestehen, wenn Maßnahmen den von den Gesellschaftern festgelegten Grundsätzen der Unternehmenspolitik widersprechen oder mit dem Widerspruch der Gesellschafter zu rechnen ist.362) 253 Der Geschäftsführer ist verpflichtet, vor der Vornahme eines außergewöhnlichen Geschäfts die Zustimmung der Kommanditisten und – soweit diese nicht personenidentisch sind – ggf. auch der Gesellschafterversammlung der GmbH einzuholen. b) Unterlassungsanspruch gegen GmbH und Geschäftsführer 254 Bei fehlender Zustimmung sowie bei sorgfaltswidrigen Geschäften steht den Kommanditisten ein Unterlassungsanspruch gegen die GmbH-Komplementärin zu.363) Gegen die GmbH-Komplementärin kann der Unterlassungsan___________ 358) 359) 360) 361) 362) 363)

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Vgl. MünchKomm-HGB/Grunewald, § 161 Rn. 88. Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 164 Rn. 2. MünchKomm-HGB/Grunewald, § 164 Rn. 10. MünchKomm-HGB/Grunewald, § 164 Rn. 11. Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 37 Rn. 9 f. MünchHdb GesR Bd. 7/Mock/U. Schmidt, § 72 Rn. 3.

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spruch von den Kommanditisten im Wege der actio pro socio geltend gemacht werden.364) Darüber hinaus besteht ein unmittelbarer Unterlassungsanspruch der Kom- 255 manditisten gegen den Geschäftsführer nicht, weil dieser nicht Gesellschafter und in dieser Eigenschaft auch nicht unmittelbar im Wege der actio pro socio in Anspruch genommen werden kann (vgl. Rn. 267).365) c) Einstweiliger Rechtsschutz Zur Verhinderung einer konkreten Maßnahme kann einstweiliger Rechts- 256 schutz geboten sein. Die Darlegungs- und Glaubhaftmachungslast, dass die Handlung über den gewöhnlichen Betrieb des Handelsgewerbes der Gesellschaft hinausgeht, tragen die Kommanditisten. Der Antrag kann von den Kommanditisten im Wege der actio pro socio gegen die GmbH-Komplementärin gerichtet werden. Der Geschäftsführer hat als Organ der GmbH auch eine einstweilige Verfügung zu beachten und der Untersagung bzw. Anordnung Folge zu leisten. Hinsichtlich der Ordnungshaft ist dementsprechend zu beantragen, dass diese am Geschäftsführer zu vollziehen ist. Ob die Kommanditisten daneben auch einen Verfügungsantrag unmittelbar 257 gegen den Geschäftsführer stellen können, ist im Hinblick auf die Versagung der actio pro socio gegen den Geschäftsführer fraglich, und ein solcher Verfügungsantrag mit einem hohen Prozessrisiko behaftet. Dafür spricht, dass bei der Inanspruchnahme wegen persönlichen Verhaltens die unmittelbare Untersagung gegenüber dem Geschäftsführer gerade effektiven Rechtsschutz gewährleisten würde. In Ansehung der erheblichen Stimmen in der Literatur, die auch eine actio pro socio der Kommanditisten gegen den Geschäftsführer befürworten,366) bleibt abzuwarten, ob die über den einstweiligen Rechtsschutz letztinstanzlich entscheidenden Oberlandesgerichte der strengen Linie des BGH folgen werden. 3. Weisungskompetenz Ein allgemeines Weisungsrecht steht den Kommanditisten gegenüber den 258 Geschäftsführern der GmbH nicht zu, es sei denn, dass dies in den Gesellschaftsverträgen der GmbH und der KG entsprechend vereinbart wurde.367) Das Weisungsrecht gegenüber dem Geschäftsführer steht nach § 37 Abs. 1 259 GmbHG primär den Gesellschaftern der GmbH zu.368) Die Befolgung von ___________ 364) Vgl. zum Ersatzanspruch: BGH, v. 19.12.2017 – II ZR 255/16, ZIP 2018, 176 Rn. 16. 365) MünchHdb GesR Bd. 7/Mock/U. Schmidt, § 72 Rn. 4; zur Geltendmachung von Haftungsansprüchen: BGH, v. 19.12.2017 – II ZR 255/16, ZIP 2018, 176 Rn. 16; a. A. Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh. § 177 Rn. 28 m. w. N. 366) Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh. § 177 Rn. 28 m. w. N. 367) Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh § 177a, Rn. 27; MünchKomm-HGB/Grunewald, § 161 Rn. 73. 368) Baumbach/Hueck/Zöllner, GmbHG, § 46 Rn. 91; Baumbach/Hueck/Beursten, GmbHG, § 37 Rn. 33 ff.

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konkreten Weisungen kann außerdem aus der der GmbH gegenüber der KG obliegenden Treuepflicht geschuldet sein. Eine unmittelbare Weisungsbefugnis der Kommanditisten gegenüber dem Geschäftsführer besteht nicht. Zwar hat der Geschäftsführer seine organschaftlichen Pflichten nicht nur gegenüber der GmbH-Komplementärin, sondern auch gegenüber der KG selbst zu erfüllen. Da die Kommanditisten jedoch auch nicht im Wege der actio pro socio unmittelbar gegen den Geschäftsführer vorgehen können,369) ist auch ein unmittelbares Weisungsrecht abzulehnen. 4. Entziehung der Geschäftsführung 260 Die der GmbH-Komplementärin nach §§ 114 Abs. 1, 164 HGB obliegende Geschäftsführungsbefugnis kann ihr nach § 117 HGB durch Gestaltungsklage (Rn. 233, 248 ff.) entzogen werden.370) Die GmbH muss sich bei der Würdigung des wichtigen Grunds das Handeln ihres Geschäftsführers zurechnen lassen. Die Gesellschafter sind nicht darauf zu verweisen, dass sie vorrangig die Abberufung des Geschäftsführers betreiben müssten.371) 261 An der Klage müssen alle Kommanditisten beteiligt werden, indem diese entweder klagen oder bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung der Klageerhebung zustimmen. Im Falle einer fehlenden Zustimmung kann gegen die sich weigernden Kommanditisten im gleichen Verfahren Klageantrag auf Abgabe der Zustimmungserklärung gestellt werden, die bei Rechtskraft des stattgebenden Urteils dann auf den Zeitpunkt vor Schluss der mündlichen Verhandlung zurückwirkt.372) 262 Ist die GmbH alleinige Komplementärin fällt die Geschäftsführungsbefugnis im Falle einer Entziehung allen Gesellschaftern, also der Komplementär-GmbH und den Kommanditisten, gemeinschaftlich zu.373) 5. Entziehung der Vertretungsbefugnis 263 Die Klage gegen die Komplementär-GmbH auf Entziehung der Vertretungsbefugnis nach § 127 HGB ist nach herrschender Meinung unzulässig, wenn kein weiterer Komplementär vorhanden ist.374) Eine organschaftliche Vertretung der KG durch die verbliebenen Kommanditisten soll nach § 170 HGB zwingend ausgeschlossen sein und auch einer Gesamtvertretung des einzigen ___________ 369) Vgl. BGH, v. 19.12.2017 – II ZR 255/16, ZIP 2018, 176 Rn. 16; zur Gegenansicht: Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh. § 177 Rn. 28 m. w. N. 370) BGH, v. 25.4.1983 – II ZR 170/82, ZIP 1983, 1066 Rn. 5. 371) Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh § 177a Rn. 26; BGH, v. 25.4.1983 – II ZR 170/82, ZIP 1983, 1066 Rn. 38. 372) BGH, v. 25.4.1983 – II ZR 170/82, ZIP 1983, 1066 Rn. 5; eingehend: MünchHdb GesR Bd. 7/Hahn, § 61 Rn. 10 ff. 373) BGH, v. 9.12.1968 – II ZR 33/67, BGHZ 51, 198 = NJW 1969, 507 Rn. 8; Staub/ Schäfer, HGB, § 117 Rn. 20, 78. 374) Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 127 Rn. 3; a. A. Staub/Habersack, HGB, § 127 Rn. 8.

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Komplementärs mit den Kommanditisten entgegenstehen.375) Die Mindermeinung hält demgegenüber die Entziehung der Vertretungsbefugnis des einzigen Komplementärs für zulässig, nimmt dann aber an, dass dies (zunächst) zur Auflösung der KG und einer gemeinschaftlichen Vertretungsbefugnis aller Kommanditisten als Liquidatoren nach § 146 HGB führt.376) 6. Drittanstellung der Geschäftsführer Der Dienstvertrag der Geschäftsführer kann statt mit der GmbH auch mit 264 der KG abgeschlossen werden.377) Für eine solche Drittanstellung des Geschäftsführers kann ein praktisches Bedürfnis bestehen, etwa um den Buchhaltungsaufwand der sonst nicht tätigen GmbH-Komplementärin möglichst gering zu halten. Besteht zwischen der KG und dem Geschäftsführer ein Dienstvertrag, können der KG hieraus auch unmittelbar einklagbare vertragliche Ansprüche gegen den Geschäftsführer zustehen, soweit seine Organpflichten gegenüber der GmbH hierdurch nicht eingeschränkt werden.378) 7. Regressansprüche gegen Geschäftsführer a) Schutzwirkung des Organschaftsverhältnisses Das Organverhältnis zwischen der Komplementär-GmbH und ihrem Ge- 265 schäftsführer entfaltet Schutzwirkung für die KG. Der Geschäftsführer kann nach § 43 Abs. 2 GmbHG auch gegenüber der KG haften.379) Die Erstreckung der Schutzwirkung des Organverhältnisses wurde vom BGH ausdrücklich anerkannt, falls die alleinige oder wesentliche Aufgabe der KomplementärGmbH darin besteht, die Geschäfte der Kommanditgesellschaft zu führen. In diesen Fällen soll das wohlverstandene Interesse der GmbH dahin gehen, dass ihr Geschäftsführer die Leitung der Kommanditgesellschaft im Rahmen seiner Organpflichten ordnungsgemäß ausübt, weil sie auf eine günstige wirtschaftliche Entwicklung ihrer Beteiligung bedacht sein muss und als persönlich haftende Gesellschafterin selbst aus dem Gesellschaftsverhältnis der Kommanditgesellschaft zu einer sorgfältigen Geschäftsführung verpflichtet ist. Die Komplementär-GmbH soll darauf vertrauen dürfen, dass ihr Geschäftsführer den Angelegenheiten der Kommanditgesellschaft die gleiche Sorgfalt widmet wie ihren eigenen.380)

___________ 375) 376) 377) 378) 379) 380)

Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 170 Rn. 1. Staub/Habersack, HGB, § 127 Rn. 8; MünchKomm-HGB/K. Schmidt, § 127 Rn. 7. MünchKomm-HGB/Grunewald, § 161 Rn. 82. MünchKomm-HGB/Grunewald, § 161 Rn. 85. BGH, v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, BGHZ 197, 304 = ZIP 2013, 1712 Rn. 18. BGH, v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, BGHZ 197, 304 = ZIP 2013, 1712 Rn. 18.

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b) Keine Begrenzung auf hauptamtliche Komplementärstellung 266 Die vorstehend erläuterten Grundsätze der Rechtsprechung sind zu bejahen. Die in der Entscheidung offengelassene Einschränkung auf eine hauptamtliche Komplementärstellung ist hingegen nicht nachvollziehbar. Die organschaftlichen Befugnisse der Komplementär-GmbH unterscheiden sich nicht danach, ob diese neben den Aufgaben als persönlich haftende Gesellschafterin noch andere Zwecke verfolgt. Aus Sicht der KG ist daher die Drittwirkung uneingeschränkt notwendig, ganz gleich ob für die GmbH die Komplementärstellung nun eine wesentliche Aufgabe ausmacht oder nur untergeordnete Bedeutung einnimmt. Dies dient nicht zuletzt dem Schutz der GmbH, denn diese haftet als Komplementärin auch voll, ganz gleich, ob sie eigentlich ganz andere Aufgaben wahrnimmt. Ebenso ist auch der Komplementär, der eine natürliche Person ist, voll verantwortlich, ganz gleich ob er neben der Komplementärstellung noch anderweitig tätig ist. c) Actio pro socio 267 Der Anspruch der KG gegen den Geschäftsführer ihrer Komplementär-GmbH kann von den Kommanditisten nicht unmittelbar im Wege der actio pro socio geltend gemacht werden. Die Kommanditisten sind wegen der rechtlichen Trennung zwischen GmbH und KG darauf verwiesen, im ersten Schritt die Ansprüche der KG gegen die Komplementär-GmbH im Wege der actio pro socio geltend zu machen und einen Titel gegen die Komplementär-GmbH erstreiten und im zweiten Schritt daraus in deren Anspruch gegen ihren Geschäftsführer nach § 43 Abs. 2 GmbHG vollstrecken.381) 268 Zur Geltendmachung ist eine vorherige Beschlussfassung der Gesellschafterversammlung entsprechend § 46 Nr. 8 GmbHG nicht erforderlich.382) d) Beweislastverteilung 269 Die KG trifft entsprechend den für die GmbH geltenden Regeln eine reduzierte Darlegungs- und Beweislast.383) Sie muss darlegen und beweisen, dass (1) der Geschäftsführer möglicherweise pflichtwidrig gehandelt hat, (2) ihr ein Schaden entstanden ist und (3) die Handlung des Geschäftsführers für den Schaden vermutlich ursächlich war.384) Hinsichtlich des Schadens genügt ein ___________ 381) BGH, v. 19.12.2017 – II ZR 255/16, ZIP 2018, 176 Rn. 16; a. A. Baumbach/Hopt/ Roth, HGB, Anh. § 177 Rn. 28 m. w. N.; MünchHdb GesR Bd. 7/Mock/U. Schmidt, § 72 Rn. 7. 382) BGH, v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, BGHZ 197, 304 = ZIP 2013, 1712 Rn. 20; Baumbach/ Hopt/Roth, HGB, Anh § 177a Rn. 28; Waclawik, Rn. 627. 383) Zur GmbH: BGH, v. 4.11.2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 = ZIP 2002, 2314 Rn. 15. 384) BGH, v. 22.2.2011 – II ZR 146/09, ZIP 2011, 766 Rn. 17; BGH, v. 4.11.2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280 = ZIP 2002, 2314 Rn. 15; MünchKomm-GmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 271.

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B. Gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten bei der GmbH & Co. KG

hinreichend substantiierter Vortrag von Anhaltspunkten, die die Grundlage einer gerichtlichen Schadensschätzung nach § 287 ZPO bilden können.385) Den in Anspruch genommenen Geschäftsführer trifft bei Bestreiten der For- 270 derung die Darlegungs- und Beweislast, dass er nicht pflichtwidrig oder nicht schuldhaft gehandelt hat oder der Schaden auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten eingetreten wäre.386) Der Geschäftsführer kann sich entlasten, indem er entsprechend des in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ausgeprägten Rechtsgedankens darlegt und beweisen kann, dass er auf Grundlage angemessener Informationen zum Wohle der Gesellschaft gehandelt hat (Business Judgement Rule).387) Der Geschäftsführer kann sich überdies entlasten, wenn er auf Weisung der Gesellschafterversammlung der Komplementär-GmbH oder im Einverständnis mit den Kommanditisten gehandelt hat.388) e) Verjährung Der Anspruch nach § 43 Abs. 2 GmbHG verjährt auch gegenüber der KG 271 nach § 43 Abs. 4 GmbHG in fünf Jahren nach Entstehung des Anspruchs.389) Überdies kann der Geschäftsführer gegenüber der KG bei Untreue auch delik- 272 tisch nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 266 StGB, § 826 BGB haften, so dass sich die Verjährung nach §§ 195, 199 Abs. 3 BGB bei einer erst später eintretenden Kenntnis oder Schadensentstehung entsprechend verlängern kann.390) VII. Streitigkeiten bei Beendigung 1. Auflösungsklage gegen die KG Die Struktur der GmbH & Co. KG ist gefährdet, wenn ein wichtiger Grund 273 für die Auflösung vorliegt und ein Gesellschafter gegen GmbH oder KG eine Auflösungsklage erhebt.391) Nach § 133 Abs. 1 HGB können die Gesellschafter der KG bei Vorliegen eines wichtigen Grunds auf Auflösung der KG klagen.392) (Rn. 360 ff.) Ein wichtiger Grund ist nach § 133 Abs. 2 HGB insbesondere gegeben, wenn ein anderer Gesellschafter eine ihm nach dem Gesellschaftsvertrag obliegende wesentliche Verpflichtung vorsätzlich oder aus grober Fahrlässigkeit verletzt oder wenn die Erfüllung einer solchen Ver___________ 385) BGH, v. 22.2.2011 – II ZR 146/09, ZIP 2011, 766 Rn. 17. 386) BGH, v. 22.2.2011 – II ZR 146/09, ZIP 2011, 766 Rn. 17; MünchKomm-GmbHG/ Fleischer, § 43 Rn. 272; MünchHdb GesR Bd. 7/Mock/U. Schmidt, § 72 Rn. 8. 387) MünchKomm-HGB/Rawert, § 114 Rn. 69; Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, § 93 Rn. 59 ff. 388) BGH, v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, BGHZ 197, 304 = ZIP 2013, 1712 Rn. 33; MünchHdb GesR Bd. 7/Mock/U. Schmidt, § 72 Rn. 9. 389) MünchHdb GesR Bd. 7/Mock/U. Schmidt, § 72 Rn. 8. 390) Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh § 177a Rn. 28; BGH, v. 17.3.1987 – VI ZR 282/85, BGHZ 100, 190 Rn. 37. 391) Binz/Sorg, § 8 Rn. 49 ff. 392) Staub/Schäfer, HGB, § 133 Rn. 5.

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pflichtung unmöglich wird. Ergänzend ist § 314 BGB heranzuziehen. Die Auflösungsklage kann nach § 133 Abs. 3 HGB vertraglich nicht abbedungen werden. Die GmbH-Komplementärin wird durch die Auflösung der KG nicht berührt, sondern nimmt an der Liquidation teil.393) Soweit ein Liquidator nicht bestellt wird, wird die KG nach der Auflösung nicht mehr durch die GmbH-Koplementärin, sondern nach § 146 Abs. 1 Satz 1 HGB durch alle Gesellschafter als Liquidatoren vertreten.394) 2. Auflösung der GmbH 274 Die Auflösung der GmbH ist mit dem Tod eines persönlich haftenden Gesellschafters nach § 131 Abs. 3 Nr. 1 HGB nicht vergleichbar und führt daher auch nicht zum Ausscheiden der Komplementär-GmbH.395) Vielmehr behält die in Liquidation befindliche GmbH bis zur Vollbeendigung alle ihre Rechte und Pflichten aus der Gesellschafterstellung und damit auch die Alleinvertretungsbefugnis der KG.396) Da die Beteiligung an der KG einen Vermögensgegenstand der GmbH darstellt, kann die Vollbeendigung der GmbH auch erst nach deren Verwertung eintreten. Falls die GmbH bereits gelöscht wurde, ist dazu eine entsprechende Nachtragsliquidation nach § 66 Abs. 5 GmbHG durchzuführen.397) C. Gesellschafterstreitigkeiten bei Personengesellschaften I. Streitigkeiten um Gesellschafterbeschlüsse Dorothee Gierth

275 Streitigkeiten über die Wirksamkeit von Gesellschafterbeschlüssen dominieren auch im Personengesellschaftsrecht die Tätigkeit von Prozessanwälten. Sie spielen jedoch bei weitem nicht so eine zentrale Rolle, wie im Kapitalgesellschaftsrecht, da das Personengesellschaftsrecht die Gesellschafterversammlung als Beschlussorgan nicht kennt. Das Gesetz enthält für GbR, OHG und KG noch keine Vorschriften über Mängel von Beschlüssen. Das aus dem Aktienrecht stammende spezielle Beschlussmängelrecht findet nur sehr eingeschränkt Anwendung. Allerdings sieht der derzeitige Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Personengesellschaftsrecht (RegE MoPeG) im hierin enthaltenen Beschlussmängelrecht (§§ 110 ff. HGB-E) nun konkrete Regelungen vor, die sich am aktienrechtlichen Anfechtungsmodell orientieren. Bei der GbR soll es dabei bleiben, keine formellen Anfechtungsregeln gesetzlich zu verankern. ___________ 393) Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh. § 177a Rn. 46. 394) OLG Düsseldorf, v. 28.1.2016 – I-3 Wx 21/15, ZIP 2016, 1582 Rn. 13. 395) Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh § 177a Rn. 45; a. A. MünchKomm-HGB/K. Schmidt, § 131 Rn. 74. 396) Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh § 177a Rn. 45. 397) Vgl. auch OLG München, v. 7.5.2008 – 31 Wx 28/07, NZG 2008, 555, 556 f. zur Nachtragliquidation bei Kommanditistenstellung zur Abgabe von Steuererklärungen; allg. Baumbach/Hueck/Haas, GmbHG, § 60 Rn. 104 ff.

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C. Gesellschafterstreitigkeiten bei Personengesellschaften

1. Mehrheitserfordernisse, Stimmrechte In Personengesellschaften gilt dem Gesetz nach das Einstimmigkeitsprinzip, 276 § 709 Abs. 1 BGB, §§ 119 Abs. 1, 171 Abs. 2 HGB. Die Einstimmigkeit ist dispositiv, so dass im Gesellschaftsvertrag die Mehrheitsmacht konstituiert werden kann, § 709 Abs. 2 BGB, §§ 119 Abs. 1, 171 Abs. 2 HGB, was in der Praxis die Regel sein dürfte, entweder durch die Mehrheit der Zahl der Gesellschafter oder in Anlehnung an die GmbH gemessen an hierfür gebildete Kapitalanteile.398) Ohne vertragliche Regelung gilt das Kopfteilprinzip (§§ 709 Abs. 2 BGB, § 119 Abs. 2 HGB). Derartige gesellschaftsvertragliche Regelungen einerseits und die auf ihnen 277 beruhenden Beschlüsse andererseits unterliegen einer formellen und materiellen Wirksamkeitskontrolle, wobei die Regelung selbst bestimmt genug399) und auch materiell wirksam sein muss, beispielsweise nicht gegen den gesellschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen darf, an der gesellschafterlichen Treuepflicht zu messen ist und auch keinen sittenwidrigen Inhalt haben darf. Im Personengesellschaftsrecht wurde darüber hinaus die sog. Kernbereichs- 278 lehre angewandt, wonach mit einem Mehrheitsbeschluss nicht in den Kernbereich von Gesellschafterpositionen eingegriffen werden darf, zumindest dann nicht, wenn die Legitimationsgrundlage nicht Ausmaß und Umfang eines möglichen Eingriffs oder Belastung des Gesellschafters hat erkennen lassen.400) Der BGH gibt bei der Überprüfung von Mehrheitsklauseln eine zweistufige 279 Prüfung vor: Zunächst ist die Mehrheitsklausel auf ihre Bestimmtheit hin zu prüfen. Dies gilt für jegliche Art von Beschlussinhalt. Die Mehrheitsklausel muss insoweit – ohne dass es hierzu im Gesellschaftsvertrag eines konkreten Beschlusskatalogs bedarf – stets dahingehend geprüft werden, ob sie den jeweiligen konkreten Beschlussinhalt umfassen soll.401) So kann auf dieser Stufe auch der Eingriff in ein korporatives Recht, wie beispielsweise eine Nachschusspflicht oder die Übertragung einer Mitgliedschaft einer Mehrheitsklausel unterfallen, wenn dies für den Gesellschafter bei Fassung des Gesellschaftsvertrages oder Eintritt in eine bestehende Gesellschaft erkennbar war. Auf der zweiten Stufe ist dann die Entscheidung materiell insbesondere hinsichtlich der gesellschafterlichen Treuepflicht zu untersuchen und zu prüfen, ob der Eingriff in die individuelle Rechtsstellung des Gesellschafters im Interesse der Gesellschaft geboten und dem betroffenen Gesellschafter unter Berücksichtigung seiner eigenen schutzwerten Belange zumutbar sei.402) ___________ 398) 399) 400) 401) 402)

BGHZ 170, 283 = ZIP 2007, 475 Rn. 6; BGHZ 179, 13 = ZIP 2009, 216 Rn. 14. BGHZ 170, 283 = ZIP 2007, 475 Rn. 15; BGHZ 203, 77 Rn. 10. BGHZ 170, 283 = ZIP 2007, 475 Rn. 9; BGHZ 203, 77 Rn. 10. BGHZ 203, 77 Rn. 10. BGHZ 203, 77 Rn. 19 unter Hinweis auf BGH ZIP 1994, 1942, 1943; BGH ZIP 2005, 1455, 1456 f.

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280 Der BGH stellt dabei ausdrücklich klar, dass dies auch bei den sogenannten „relativ unentziehbare Rechten“403) möglich sein kann. Von der bisher herrschenden Meinung war vertreten worden, dass in die relativ unentziehbaren Rechte nur mit Zustimmung des betroffenen Gesellschafters eingegriffen werden darf.404) An diesem Schutz wird auch teilweise noch festgehalten.405) 281 Im Personengesellschaftsrecht ist anders als bei den Kapitalgesellschaften die Stimmausübung dem Gesellschafter höchstpersönlich vorbehalten, die Vertretung ist gesetzlich ausgeschlossen, zulässigerweise aber gesellschaftsvertraglich anders regelbar. Teilweise wird auch angenommen, dass eine Stimmrechtsvertretung durch Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer oder Steuerberater auch ohne ausdrückliche vertragliche Regelung stets zulässig sein soll.406) 282 In nahezu jedem gerichtlichen Streit über Gesellschafterbeschlüsse spielt die Frage von Stimmrechtsausschlüssen oder umgekehrt einer treuepflichtbedingten Stimmbindungen eine Rolle. Gesetzliche Stimmverbote kennt das Gesetz für Personengesellschaften in folgenden Fällen: x

§§ 712 Abs. 1, 715 BGB bei Entziehung der Geschäftsführung aus wichtigem Grund,

x

§ 737 Satz 2 BGB Ausschluss eines Gesellschafters aus wichtigem Grund,

x

§§ 117, 127 HGB Klage auf Entziehung von Geschäftsführungsbefugnis und Vertretung,

x

§ 140 HGB Klage auf Ausschließung eines Gesellschafters aus wichtigem Grund.

283 Rechtsprechung und Lehre haben diese Fälle ausgeweitet und einen gesellschaftsübergreifenden Grundsatz das Verbot des „Richtens in eigener Sache“ geschaffen.407) Die Einzelheiten sind umstritten, insbesondere für Beschlüsse über den Abschluss von Rechtsgeschäften mit einem Gesellschafter.408) In der Rechtsprechung anerkannt sind jedenfalls gesellschaftsübergreifende Stimmrechtsausschlüsse bei der Entlastung von Gesellschaftern für deren Geschäftsführung,409) Einleitung oder Erledigung eines Rechtsstreits gegen Gesellschaf-

___________ 403) Hierzu ausführlich: Ulmer/Schäfer, GbR PartG, 7. Aufl. 2017, § 709 Rn. 92a m. w. N. 404) Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 119 Rn. 36; MünchKomm-HGB/Enzinger, § 119 Rn. 70; K. Schmidt, ZGR 2008, 1, 17 f. 405) Ulmer/Schäfer, GbR PartG, § 709 Rn. 92a m. w. N. 406) MünchKomm-HGB/Enzinger, § 119 Rn. 19. 407) RGZ 136, 236, 245; BGHZ 65, 93, 98; Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 119 Rn. 8; Staub/Ulmer, HGB, 4. Aufl., § 119 Rn. 66. 408) Bejahend: OLG Hamburg NZG 2000, 421 ff., Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 119 Rn. 8; a. A. MünchKomm-HGB/Enzinger, § 119 Rn. 33. 409) BGH ZIP 2012, 917 ff.; KG, v. 18.12.2008 – 23 U 95/08, juris.

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C. Gesellschafterstreitigkeiten bei Personengesellschaften

ter,410) Befreiung von einer Verbindlichkeit411) oder bei Befreiung von einem Wettbewerbsverbot412) anerkannt. Andererseits können Gesellschafter aufgrund der gesellschaftsrechtlichen 284 Treuepflicht verpflichtet sein, Beschlüssen zuzustimmen, um die Interessen der Gesellschaft zu wahren und die Belange von Mitgesellschaftern nicht ungerechtfertigt zu beeinträchtigen. Zu nennen ist beispielsweise die Verpflichtung, einen Geschäftsführer aus wichtigem Grund abzuberufen413) oder gar in Ausnahmefällen das Gebot zur Rettung der Gesellschaft Vertragsänderungen zuzustimmen, die mit zusätzlichen Lasten verbunden sind.414) 2. Beschlussmängel Der Ablauf der Beschlussfassung als solche ist im Personengesellschaftsrecht 285 nicht geregelt, so dass vorbehaltlich abweichender gesellschaftsvertraglicher Regelungen keinerlei Abstimmungsverfahren einzuhalten sind. Die Beschlüsse können in einer Gesellschafterversammlung, schriftlich, mündlich, sogar konkludent oder stillschweigend durch andauernde Übung getroffen werden. Dass auch in Personengesellschaften über formale Beschlusserfordernisse gerichtlich gestritten wird, liegt daran, dass die Art und Weise der Beschlussfassung regelmäßig im Gesellschaftsvertrag in Anlehnung an das GmbH-Recht geregelt wird. Dies ist uneingeschränkt möglich und verbindlich, so dass Beschlüsse unwirksam sind, wenn vertraglich vereinbarte Einberufungsvorschriften oder weitere Beschlussvorgaben nicht eingehalten werden. Für die prozessuale Geltendmachung hat die vertragliche Orientierung am GmbHRecht zur Folge, dass teilweise auch ein Rückgriff auf die Regelungen und die Rechtsprechung zum Vereinsrecht und zum GmbH-Recht erfolgt.415) Anders als im Kapitalgesellschaftsrecht mit seiner Differenzierung zwischen 286 Nichtigkeits- und Anfechtungsgründen, sind fehlerhafte Gesellschafterbeschlüsse bei Personengesellschaften stets von Anfang an unwirksam, also nichtig.416) Werden allerdings lediglich Verfahrensfehler geltend gemacht, ist zu prüfen, ob diese dem Schutz konkreter Gesellschafterinteressen dienen, oder es sich um bloße Ordnungsvorschriften handelt.417) Es gilt auch der Grundsatz, dass die Verletzung der Verfahrensregel nur von Bedeutung ist, wenn sie kausal für die Beschlussfassung war. Im Prozess kommt es hier für ___________ 410) 411) 412) 413) 414)

BGH NJW 1974, 1555 f.; BGH, v. 4.11.1982 – II ZR 210/81, juris. BGH ZIP 2012, 917 ff. BGHZ 80, 71; BGH ZIP 2012, 917 ff. BGHZ 102, 172 = ZIP 1988, 22. BGHZ 183, 1 ff. = ZIP 2009, 2289 „Sanieren oder Ausscheiden“; BGH ZIP 2011, 768; BGH NJW 2015, 2882 ff. 415) Ulmer/Schäfer, GbR PartG, § 709 Rn. 50. 416) BGHZ 85, 350, 353 = ZIP 1983, 303; BGH NJR-RR 1990, 474; BGH NJW 1999, 3113. 417) Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 119 Rn. 31.

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den Kläger darauf an, nachzuweisen, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Zustandekommen des Beschlusses durch den Fehler beeinflusst ist.418) Stimmt ein fehlerhaft geladener Gesellschafter mit, ist eine Kausalität zu verneinen. Stimmt er sogar ohne Beanstandung der Verletzung der Verfahrensvorschrift mit, ist darin ein Verzicht auf die Einhaltung dieser Vorschrift zu sehen.419) 3. Besondere Prozessvoraussetzungen für die Geltendmachung von Beschlussmängeln bei Personengesellschaften 287 Die gerichtliche Geltendmachung von Beschlussmängeln erfolgt bei Personengesellschaften stets im Wege einer Feststellungsklage gem. § 256 Abs. 1 ZPO, deren Ziel es ist, die Nichtigkeit des Beschlusses festzustellen. Auch unklare Beschlussergebnisse, etwa weil Streit über die Wirksamkeit einer maßgeblichen Stimmabgabe besteht, werden im Wege der Feststellungsklage geklärt. 288 Die aus dem Kapitalgesellschaftsrecht bekannte Anfechtungsklage ist bei Personengesellschaften nicht statthaft, da das Recht der Personalgesellschaften keine lediglich anfechtbaren Beschlüsse kennt, deren Nichtigkeit erst durch ein rechtsgestaltendes Urteil herbeigeführt werden kann.420) 289 Daher ist auch keine am Leitbild des § 246 Abs. 1 AktG orientierte Klagefrist einzuhalten. Bei einer Personengesellschaft unterliegt die Geltendmachung der Unwirksamkeit von Gesellschafterbeschlüssen nur der nach allgemeinen Grundsätzen zu beurteilender Verwirkung.421) Der Gesellschaftsvertrag kann zwar für die gerichtliche Geltendmachung der Nichtigkeit eines Beschlusses eine materielle Ausschlussfrist bestimmen. Diese darf allerdings den zur Wahrnehmung der Mitgliedschaftsrechte notwendigen Zeitraum nicht unzulässig verkürzen und deshalb jedenfalls eine Monatsfrist nicht unterschreiten.422) Auch für die Beurteilung, wann Verwirkung eingetreten ist, ist (anders als bei der GmbH) die Monatsfrist des § 246 Abs. 1 AktG nicht heranzuziehen.423) Bei der Bestimmung der angemessenen Frist, sind die jeweiligen Umstände des Einzelfalls maßgeblich. Es ist zu berücksichtigen, ob zur Vorbereitung der Klage schwierige tatsächliche oder rechtliche Fragen zu klären sind.424) Wird die Unwirksamkeit des Beschlusses schon unmittelbar nach Beschlussfassung vermutet (beispielsweise weil konkrete Zweifel vom anwaltlichen Vertreter in das Protokoll aufgenommen wurden), sollte mit einer ___________ 418) 419) 420) 421) 422)

BGH ZIP 2013, 68; Rn. 47; BGH ZIP 2014, 1019. Windbichler, S. 130 f. BGH NJW-RR 1990, 474. BGHZ 112, 339, 344 = ZIP 1991, 25; BGH NJW 1999, 3113. BGHZ 68, 212; BGH NJW 1995, 1218 = ZIP 1995, 460; BGH NJW 1999, 3113 = ZIP 1999, 1391; Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 119 Rn. 32. 423) BGH NJW 1999, 3113 = ZIP 1999, 1391. 424) OLG Nürnberg, v. 30.1.2013 – 12 U 726/11, juris.

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C. Gesellschafterstreitigkeiten bei Personengesellschaften

Klageerhebung nicht mehr zu lange abgewartet werden. In der Judikatur wurden Fristen von über zwei Monaten425) bis fast zehn Monaten426) geprüft. Der Beschlussmängelrechtsstreit ist nicht gegen die Gesellschaft zu führen, 290 sondern ist unter den Gesellschaftern auszutragen.427) Dogmatischer Hintergrund ist, dass Beschlussmängelklagen den Gesellschaftsvertrag und damit die Grundlage des Gesellschaftsverhältnisses betreffen, über welches die Gesellschaft keine Dispositionsbefugnis hat.428) Der Gesellschaftsvertrag kann hiervon abweichend regeln, dass die Nichtig- 291 keit von Beschlüssen gegen die Gesellschaft zu richten ist.429) Diese Übertragung der materiell-rechtlichen Befugnis, über Gesellschafterbeschlüsse zu disponieren, führt zu einem Ausschluss der Zulässigkeit einer Klage gegen die übrigen Gesellschafter.430) Trotzdem entfaltet eine derartige Klage anders als bei Kapitalgesellschaften keine Rechtskraft gegenüber Mitgesellschaftern oder Gesellschaftsorganen, so dass es auch bei einer einfachen Streitgenossenschaft bleibt und keine notwendige Streitgenossenschaft gem. § 62 ZPO vorliegt.431) Das Feststellungsinteresse hat der klagende Gesellschafter bereits aufgrund 292 seiner Zugehörigkeit zu der Gesellschaft.432) Auch Dritte können ein Feststellungsinteresse haben, denn die Nichtigkeit eines Beschlusses ist grundsätzlich ein Zustand, der gegenüber jedermann gilt. Nichtgesellschafter können beispielsweise ein Feststellungsinteresse haben, wenn es um die Wirksamkeit von Beschlüssen geht, die den Erwerb oder Nichterwerb von Gesellschaftsanteilen eben dieses Dritten betreffen. In einem solchen Fall kann auch die Gesellschaft selbst ein Feststellungsinteresse daran haben, wer an ihr beteiligt ist.433) 4. Schiedsfähigkeit von Beschlussmängelklagen Anders als in der GmbH sind aufgrund der beschriebenen eingeschränkten Ur- 293 teilswirkung Beschlussmängelstreitigkeiten bei Personengesellschaften uneingeschränkt schiedsfähig.434) Die vom BGH in seiner Entscheidung „Schieds___________ 425) Noch angemessen in einer personalistisch geprägten GmbH, BGHZ 111, 224 = ZIP 1990, 784. 426) Nicht mehr angemessen in einer Kommanditgesellschaft, BGH NJW 1995, 1218 = ZIP 1995, 460. 427) BGH NJW 1995, 1218 = ZIP 1995, 460; BGH NJW 2006, 2854 = ZIP 2006, 1579. 428) BGH WM 1990, 675. 429) BGH NJW 1995, 1218 = ZIP 1995, 460; OLG Stuttgart GmbHR 2015, 309. 430) BGH NJW 2006, 2854 = ZIP 2006, 1579. 431) OLG Stuttgart GmbHR 2015, 309. 432) BGH NJW-RR 1992, 227. 433) LG Düsseldorf, v. 19.7.2013 – 40 O 23/12, juris. 434) BGHZ 132, 278 = ZIP 1996, 830 Rn. 6; BGH NJW 2015, 3234 = ZIP 2015, 2019; OLG Frankfurt/M., v. 27.2.2012 – 26 SchH 18/11, juris.

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Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation

fähigkeit II“435) für die GmbH aufgestellten strengen Kriterien, insbesondere die notwendige Rechtsschutzgewährung für alle Mitgesellschafter, sind auf die allgemeine Feststellungsklage gem. § 256 Abs. 1 ZPO nicht anwendbar. Die in der BGH-Entscheidung genannten Gründe, insbesondere die Sicherung der Beteiligungsrechte aller Mitgesellschafter sowohl am Verfahren als auch auf die Auswahl der Schiedsrichter, spielen für Schiedsklauseln für Beschlussmängel bei Personengesellschaften aufgrund der bloßen inter-partesWirkung keine Rolle.436) 294 Schiedsklauseln für Streitigkeiten unter Gesellschaftern sind in Gesellschaftsverträgen von großem Interesse, da sie eine Schlichtung innergesellschaftlicher Streitigkeiten unter Ausschluss der Öffentlichkeit ermöglichen. Dies ist insbesondere in Gesellschaften zur gemeinsamen Berufsausübung wichtig, wenn es sich um Angehörige von Berufsständen handelt, die einer gesetzlichen Verschwiegenheit unterliegen, wie beispielsweise Rechtsanwälte oder Ärzte. 5. Vorläufige Abwehr des Vollzugs von Beschlüssen 295 Unterliegt die Beschlussfassung einer Personenhandelsgesellschaft dem Mehrheitswillen und ist damit das Beschlussmangelrecht eröffnet, stellt sich, wie im Kapitalgesellschaftrecht in der Praxis häufig ein Bedürfnis nach einstweiligem Rechtsschutz. Die Feststellung der Nichtigkeit eines Beschlusses selbst kann nicht im Wege einstweiligen Rechtsschutzes geklärt werden.437) Es kann allerdings im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes der Vollzug des in Kritik stehenden Beschlusses abgewehrt werden. 296 Rechtsschutz kann insbesondere gegen Geschäftsführungsmaßnahmen erlangt werden. Es ist z. B. anerkannt, dass dem Gesellschafter Abwehrrechte gegen eigenmächtige Vollzugshandlungen des geschäftsführenden Gesellschafters zustehen, die einen zustimmenden Gesellschafterbeschluss voraussetzen. Dieser negatorische Anspruch kann nach den allgemeinen Voraussetzungen auch im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes durchgesetzt werden.438) 6. Einstweiliger Rechtsschutz bei Stimmbindungsverträgen 297 Die Einflussnahme auf zukünftige Beschlussfassungen der Gesellschafter durch eine einstweilige Verfügung ist in Gesellschafterstreitigkeiten von erheblicher Bedeutung, prozessual jedoch in der Regel kaum durchsetzbar. Ein Verfügungsantrag, der darauf gerichtet ist, einem oder mehreren Mitgesellschaftern in Gesellschafterversammlungen eine bestimmte Stimmabgabe zu einem angekündigten Tagesordnungspunkt zu verbieten oder diese sogar an___________ 435) 436) 437) 438)

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BGH NJW 2009, 1962 ff. = ZIP 2009, 1003 ff. OLG Frankfurt/M., v. 27.2.2012 – 26 SchH 18/11, Rn. 32, juris. Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 119 Rn. 32. MünchHdb. GesR Bd. 1/Weipert, OHG, 5. Aufl., § 57 Rn. 97.

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C. Gesellschafterstreitigkeiten bei Personengesellschaften

zuordnen, scheitert in aller Regel schon an einem Verfügungsanspruch, denn Gesellschafter sind in ihrer Stimmabgabe frei. In dem Sonderfall einer vertraglichen Stimmbindungsvereinbarung gibt es 298 allerdings eine zunehmende Tendenz innerhalb der obergerichtlichen Rechtsprechung, einstweiligen Rechtsschutz zuzulassen. Argument ist, dass Stimmbindungsvereinbarungen zwischen einzelnen Gesellschaftern nur schuldrechtlich wirken, so dass der Berechtigte bei abredewidriger Stimmabgabe keinen Rechtsschutz im nachgelagerten Beschlussfeststellungsverfahren erlangen kann und damit einen abschließenden Rechtsnachteil erleiden könnte.439) Nur in Ausnahmefällen kann ein Verstoß gegen eine Stimmbindung die Fehlerhaftigkeit des Beschlusses begründen, etwa, wenn alle Gesellschafter die Bindung eingegangen sind. Hier lässt der BGH für die GmbH aus Gründen der Prozessökonomie eine Anfechtungsklage gegen die Gesellschaft mit dem Ziel zu, den Beschluss für nichtig zu erklären.440) Bei entsprechender Vertragsklausel ist diese Überlegung auf das Personengesellschaftsrecht anwendbar. Sobald jedoch nur einzelne Gesellschafter einer Stimmbindung unterworfen sind, droht jedenfalls der endgültige Verlust einer vertraglich gesicherten Position. Der Fall der schuldrechtlichen Stimmbindungsvereinbarung ist vergleichbar mit 299 einer Reihe von in obergerichtlicher Rechtsprechung ergangenen Entscheidungen, wonach ausnahmsweise im Falle der hohen Bedeutung der betreffenden Tagesordnungspunkte die schutzwürdigen Belange des Minderheitsgesellschafters im Vorfeld der Stimmabgabe einstweilig berücksichtigt wurden.441) Beschließt der Verfügungsgegner unter Verstoß gegen eine so erwirkte einst- 300 weilige Verfügung gegen die Stimmbindungsvereinbarung, macht dies den Beschluss allerdings ebenfalls nicht unbedingt nachgelagert angreifbar, genauso wenig wie die Stimmbindungsvereinbarung an sich eine Anfechtbarkeit in jedem Fall begründet. Er verwirkt dadurch lediglich ein Ordnungsgeld, welches beantragt werden muss. Es sollte daher in der betreffenden Gesellschafterversammlung jeder Gesellschafter von der einstweiligen Verfügung in Kenntnis gesetzt werden, um eine (möglicherweise vertraglich vorgesehene) Beschlussfeststellung zu verhindern.

___________ 439) OLG Koblenz NJW 1986, 1692 = ZIP 1986, 503; OLG Koblenz NJW 1991, 1119; zum Meinungsstand vgl. Michalski/Römermann, GmbHG, § 47 Rn. 547 ff. 440) BGH NJW 1983, 1910 f.; BGH NJW 1987, 1890 ff. 441) OLG Koblenz NJW 1986, 1692 f.: Stimmbindungsvereinbarung hinsichtlich Alleingeschäftsführungsbefugnis; OLG Düsseldorf GmbHR 2002, 67 f.: Erlaubnis, anwaltlichen Berater hinzuzuziehen; OLG München NZG 1999, 407 f.: Untersagung Geschäftsführung der GmbH auszutauschen; OLG Hamburg DB 1991, 1567: Austausch von Geschäftsführern; OLG Frankfurt/M. GmbHR 1993, 161, 162: Abberufung als Geschäftsführer trotz entgegenstehender Treuhandabrede.

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II. Streitigkeiten um Gesellschafterrechte und -pflichten 1. Durchsetzung von Sozialansprüchen, Sozialpflichten, Drittgeschäfte 301 Bei sog. Sozialverbindlichkeiten handelt es sich um Ansprüche des Gesellschafters, die sich allein aus dem Gesellschaftsverhältnis ergeben. Dies sind zum einen Vermögensrechte, wie Gewinnanspruch, Anspruch aus Geschäftsführervergütung sowie Aufwendungsersatz.442) Hierzu gehören auch Verwaltungsrechte, wie etwa die Befugnis zur Geschäftsführung, zur Ausübung des Stimmrechts für das Recht auf Rechnungslegung sowie für die Informationsund Kontrollrechte. Dem gegenüber stehen die Rechte der Gesamthand gegen die einzelnen Mitglieder, also Sozialansprüche wie die Beitragspflicht, ggf. Nachschusspflicht, die Pflicht zur Geschäftsführung, etc.443) 302 Von Sozialverbindlichkeiten abzugrenzen sind Rechte und Pflichten der Gesellschafter aus Drittgeschäften mit der Gesellschaft, also aus Rechtsbeziehungen, in denen einzelne Gesellschafter als „Dritte“ außerhalb des Gesellschaftervertrags treten.444) Diese dogmatische Unterscheidung spielt im Personengesellschaftsrecht in prozessualer Hinsicht vor allem bei der GbR für die Bestimmung des richtigen Klagegegners und die korrekte prozessuale Behandlung aller Streitbeteiligten eine wichtige Rolle. 303 Sozialansprüche richten sich gegen die Gesellschaft. Die Parteifähigkeit von OHG und KG ergibt sich dabei aus dem Gesetz (§§ 124 Abs. 1, 161 Abs. 2 HGB). Auch die Gesellschaft bürgerlichen Rechts wird in ihrer Form als Außen-GbR als parteifähig angesehen.445) Sie sind daher auch als parteifähige Vereinigungen i. S. d. § 116 Satz 1 Nr. 2 ZPO anzusehen und damit grundsätzlich berechtigt Prozesskosten zu beantragen.446) Die Außen-GbR wird in Akitv- und Passivprozessen von ihren geschäftsführenden Gesellschaftern vertreten. Genau wie die Personenhandelsgesellschaften bleibt die GbR als Partei damit sowohl im Erkenntnis- als auch im Vollstreckungsverfahren als Vollstreckungsschuldnerin oder -gläubigerin durch Gesellschafterwechsel unberührt, was zu einer wesentlichen prozessualen Vereinfachung geführt hat. Die Identifizierung der GbR im Prozess bleibt mangels Registerpublizität in der Praxis oftmals ein Problem. Auch wenn die Ausstattung einer GbR mit Identität (Name, Sitz, Handlungsorganisation und Handlungsverfassung) grundsätzlich Merkmal einer Außen-GbR sein soll,447) ist anzuraten, bei jeder Klageerhebung gegen eine GbR die Zustellung an alle Gesell___________ Ulmer/Schäfer, GbR PartG, § 705 Rn. 197. Ulmer/Schäfer, GbR PartG, § 705 Rn. 201. Ulmer/Schäfer, GbR PartG, § 705 Rn. 202. BGHZ 146, 341, 348 = ZIP 2001, 330; BGHZ 151, 204 = ZIP 2002, 1763; BGH NJW 2002, 1207 = ZIP 2002, 614; BGH ZIP 2011, 540. 446) BGH, v. 21.5.2019 – II ZA 12/18, juris. 447) Ulmer/Schäfer, GbR PartG, § 705 Rn. 320.

442) 443) 444) 445)

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C. Gesellschafterstreitigkeiten bei Personengesellschaften

schafter zu veranlassen, dies folgt bereits aus dem Prinzip der gemeinschaftlichen Vertretung nach §§ 709, 714 BGB. Die Vertretung der Gesellschaft im Prozess ist in Gesellschafterstreitigkeiten 304 häufig selbst umstritten. Die Vertretung der Gesellschaft sowohl im Passivals auch im Aktivprozess ist in den meisten Fällen ein ungewöhnliches Geschäft, welches im Gesellschaftsvertrag der Zustimmung der Gesellschafterversammlung unterworfen ist. Fehlt ein Zustimmungsbeschluss, oder ist dieser selbst streitig, kann dies zur Unzulässigkeit der Klage führen, da Rechtsstreitigkeiten zwischen der Gesellschaft und den Gesellschaftern in den Berich der inneren Rechtsverhältnisse der Gesellschaft gehören, in welchen der Grundsatz der unbeschränkbaren Vertretungsmacht des vertretungsberechtigten Gesellschafters nicht gilt.448) 2. Actio pro socio Neben der Geltendmachung durch die Gesellschaft hat jeder Gesellschafter 305 in Personengesellschaften die Möglichkeit im Wege der sog. actio pro socio, die Pflichterfüllung von seinen Mitgesellschaftern einzuklagen. Der klagende Gesellschafter kann die Leistung jedoch nur an die Gesellschaft verlangen, da der in Anspruch genommene Gesellschafter diese nur gegenüber der Gesellschaft schuldet.449) Die actio pro socio unterliegt einer gewissen Subsidiarität. Das Klagerecht kommt nur in Betracht, wenn der Gesellschafter ein berechtigtes Interesse an der Geltendmachung der Forderung hat und die anderen Gesellschafter dies aus gesellschaftswidrigen Gründen verweigern. Nur wenn die (weiteren) Organe der Gesellschaft trotz eines entsprechenden Begehrens des Gesellschafters Rechte nicht geltend machen, ist die Geltendmachung im Wege der actio pro socio zulässig.450) Nach Rechtsprechung des BGH und herrschender Meinung können Gesellschafter einer Personengesellschaft bei der Durchsetzung von Ersatzansprüchen gegen ihren organschaftlichen Vertreter im Wege der actio pro socio entsprechend § 46 Nr. 8 Halbs. 2 GmbHG, § 147 Abs. 2 Satz 1 AktG einen besonderen Vertreter bestellen.451) Gegen Dritte ist eine action pro socio allerdings nicht möglich, insbesondere können Kommanditisten auf diesem Wege nicht den Fermdgeschäftsführer der Komplementär-GmbH in Anspruch nehmen.452)

___________ 448) BGHZ 38, 26; OLG Hamm, v. 19.11.2018 – 8 U 41/18, juris, Rn. 47 = WM 2019, 362. 449) Palandt/Sprau, BGB, 78. Aufl., § 714 Rn. 9; Ulmer/Schäfer, GbR PartG, § 705 Rn. 204. 450) MünchKomm-HGB/K. Schmidt, § 105 Rn. 201; OLG Naumburg GmbHR 2013, 932, 933. 451) BGH ZIP 2010, 2345; Karrer, NZG 2009, 932; Baumbach/Hopt/Hopt, HGB, § 124 Rn. 42. 452) BGH ZIP 2018, 276; vgl. auch Fleischer/Harzmeier, ZGR 2017, 239, 269.

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3. Streitgenossenschaft 306 Die Gesellschafter einer OHG haften gem. § 128 HGB akzessorisch und unmittelbar für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft. Bei späterem Eintritt haften Gesellschafter gem. § 130 HGB für bestehende Verbindlichkeiten, austretende Gesellschafter haften gem. § 160 HGB für weitere fünf Jahre. Die Akzessorietät von Gesellschafts- und Gesellschafterschuld gilt auch für die Außen-GbR.453) Die Akzessorietät begründet stets ein rechtliches Intersse für den Gesellschafter am Beitritt zu einem gegen die Gesellschaft geführten Prozess.454) Bei Zahlungsklagen der Gesellschaft gegen Dritte ist dagegen ein rechtliches Interesse i. S. d. § 66 Abs. 1 ZPO nicht gegeben, sondern in aller Regel nur ein rein wirtschaftliches.455) 307 Die akzessorische Haftung der Gesellschafter führt auch nicht immer zu einem Gleichlauf der Haftung und damit zu einem Gleichlauf im Prozess: So kann der Gesellschafter dem Anspruch eines Dritten nach § 129 HGB zum einen persönliche Einwendung entgegenhalten und daneben auch solche, die der OHG zustehen. 308 Auch die Abgabe von Willenserklärungen, unvertretbare Handlungen, Unterlassung und Duldung, die ausschließlich von der Gesellschaft geschuldet werden, können von persönlich haftenden Gesellschaftern nicht allein aus akzessorischer Haftung verlangt werden.456) Die in § 736 ZPO bestimmte Durchbrechung des Grundsatzes, dass eine Zwangsvollstreckung nur gegen den im Titel bezeichneten Schuldner zulässig ist, ist nach Rechtsprechung des BGH nur hinnehmbar, wenn der Gesellschafter materiell-rechtlich selbst für die titulierte Verbindlichkeit haftet.457) Daher sind die Gesellschaft und ihre Gesellschafter im Prozess über den Anspruch eines Dritten auch keine notwendigen Streitgenossen.458) Der Prozess wird entweder durch oder gegen die Gesellschafter (Gesellschaftsstreit) oder durch oder gegen einzelne oder alle Gesellschafter (Gesellschafterstreit) geführt. Die Klagen können nebeneinander geführt und auch verbunden werden. 309 Die Akzessorietät von Gesellschafts- und Gesellschafterschuld analog der OHG gilt nach neuer Rechtsprechung auch für die nach außen auftretende GbR,459) so dass auch in der Außen-GbR zwischen Gesellschafts- und Gesellschafterstreit oder einer Kombination aus beiden gewählt werden kann.

___________ 453) 454) 455) 456) 457) 458) 459)

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BGHZ 146, 341 ff. = ZIP 2001, 330 ff.; BGH NJW 2003, 1803 ff. BGHZ 62, 131, 133. BGHZ 219, 155, 157. BGH NJW 2008, 1378, 1379. BGH NJW 2008, 1378, 1379. BGHZ 54, 251, 254 f. BGHZ 146, 341 ff. = ZIP 2001, 330 ff.

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C. Gesellschafterstreitigkeiten bei Personengesellschaften

Die Entscheidung, ob gegen einzelne oder alle Gesellschafter und/oder die 310 Gesellschaft geklagt werden soll, ist am Anfang des Prozesses zu treffen, da eine Umstellung im Prozess einen gewillkürten Parteiwechsel darstellt, der als Klageänderung nach §§ 264 ff. ZPO anzusehen ist und daher in aller Regel nur mit Zustimmung der Gegenpartei zugelassen wird.460) Dagegen sind die Gesellschafter einer reinen Innen-GbR als Gesamthänder 311 und damit als notwendige Streitgenossen zu behandeln.461) 4. Durchsetzung von Informationsansprüchen Die Geltendmachung von Auskunfts- und Kontrollrechten in Personenge- 312 sellschaften spielt in erster Linie dort eine Rolle, wo einige Gesellschafter nicht an der Geschäftsführung beteiligt sind und daher keine Einsicht und auch keinen faktischen Zugriff auf Unterlagen haben oder wo einem Gesellschafter aus rechtswidrigen Gründen Unterlagen vorenthalten werden. Die Informationsansprüche spielen für den gesellschaftsrechtlichen Prozess die zentrale Rolle, da in den meisten Fällen der nötige Sachverhalt, mit dem der meist darlegungs- und beweisbelastete Gesellschafter seine Rechte im Prozess geltend machen kann, im Vorfeld nicht anders aufgearbeitet werden kann als mit Hilfe der Geltendmachung von Informationsansprüchen. a) Durchsetzung von Auskunfts- und Kontrollrechten des Kommanditisten Einem Mangel an Informationsmöglichkeiten unterliegt bereits nach der ge- 313 setzlichen Konzeption der Kommanditist, für den § 166 HGB eine Sonderregelung trifft. Der Kommanditist hat einerseits ein Recht auf Vorlage des Jahresabschlusses und auf Bucheinsicht gem. § 166 Abs. 1 HGB. Der vollständige Jahresabschluss wie auch ggf. Liquidationseröffnungs- und -schlussbilanz sind dem Kommanditisten mitzuteilen, d. h. er hat einen Anspruch auf die Aushändigung einer Kopie der Bilanz samt Gewinn- und Verlustrechnung.462) Zur Überprüfung der Abschlüsse wird ihm außerdem das Recht an die Hand gegeben, Einsicht in die Bücher und Papiere der Gesellschaft zu nehmen und mit deren Hilfe die Richtigkeit der Abschlüsse zu prüfen. Als eines der wenigen Rechte des Kommanditisten ist das Recht im Zweifel weit auszulegen. Auf Verlangen ist die Einsicht schnell, umfassend und ohne erschwerende Hindernisse zu erteilen. Der Gesellschafter darf sich zur Ausübung seines Rechts sachverständigen Beratern wie Steuerberatern, Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern behelfen, die der beruflichen Schweigepflicht unterliegen.463) ___________ 460) 461) 462) 463)

So bei Übergang von Gesellschafts- auf Gesellschafterprozess: BGHZ 62, 131, 132. BGH NJW-RR 1990, 867, 868. Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 166 Rn. 3. BGH WM 1962, 883; BayObLG NJW-RR 1991, 1444.

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314 Immer wieder entsteht Streit, ob der Gesellschafter einen Anspruch darauf hat, Kopien der eingesehenen Unterlagen zu fertigen. Dies ist bei dem Einsichtsanspruch nach § 51a GmbHG in der obergerichtlichen Rechtsprechung mittlerweile anerkannt.464) Bei dem Anspruch des Kommanditisten auf Einsicht sollte nichts anderes gelten. 315 Das Recht nach § 166 Abs. 1 HGB muss vor dem ordentlichen Gericht an Sitz der Gesellschaft geltend gemacht werden. Anders als nach § 51b GmbHG und § 166 Abs. 3 HGB handelt es sich nicht um ein Verfahren nach dem FGG, so dass für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit der Streitwert zu bestimmen ist, der sich nach dem Informationsinteresse des Klägers bestimmt. Das Informationsinteresse des Klägers misst sich am Wert seiner Kommanditeinlage, wobei in der Judikatur hierfür überwiegend ein Satz von 25 % angesetzt wird.465) 316 Ausnahmsweise ist die Klage nicht gegen die Gesellschaft zu erheben sondern gegen die geschäftsführenden Gesellschafter, wenn sich die Unterlagen allein in deren persönlichem Besitz befinden.466) 317 Das Recht auf Vorlage und Prüfung des Jahresabschlusses wird flankiert von dem außerordentlichen Recht gem. § 166 Abs. 3 HGB auf Einsicht in Bücher und Papiere der Gesellschaft wenn „wichtige Gründe vorliegen“. Dieses Kontrollrecht richtet sich regelmäßig gegen die Kommanditgesellschaft467) sowie gegen geschäftsführende Gesellschafter.468) Das Informationsrecht nach § 166 Abs. 3 HGB ist nicht auf Auskünfte beschränkt, die der Prüfung des Jahresabschlusses dienen. Es erweitert das Informationsrecht des Kommanditisten bei Vorliegen eines wichtigen Grundes auch auf Auskünfte über die Geschäftsführung im Allgemeinen und auf alle damit im Zusammenhang stehenden Unterlagen der Gesellschaft.469) Ein wichtiger Grund i. S. v. § 166 Abs. 3 HGB ist gegeben, wenn die sofortige Überwachung der Geschäftsführung im Interesse des Kommanditisten geboten ist, weil z. B. eine Schaden der Gesellschaft oder des Kommanditisten droht oder ein begründeter Verdacht nicht ordnungsgemäßer Geschäfts- oder Buchführung gegeben ist.470) Außerdem soll auch die Verweigerung oder längere Verzögerung der Kontrolle nach § 166 Abs. 1 HGB einen wichtigen Grund nach § 166 Abs. 3 ___________ 464) OLG München GmbHR 2004, 624; OLG Karlsruhe GmbHR 2013, 254, 256; OLG Frankfurt/M., v. 22.4.2013 – 21 W 90/12, juris. 465) LG Dortmund, v. 13.12.2013 – 3 O 305/13, juris; OLG München, v. 12.02.2010 – 5 U 3140/09, juris; OLG Stuttgart, v. 10.10.2012 – 14 U 13/12, juris. 466) BGH BB 1970, 187. 467) BayOLGZ 1991, 261; BayOLGZ 1994, 350; BayOLG NZG 2002, 25 f. 468) BGH NJW 1984, 2470 = ZIP 1984, 702; BGH NJW 1989, 225 = ZIP 1988, 1175. 469) BGHZ 210, 363, 368; OLG Hamm NZG 2006, 620, 621; OLG München ZIP 2011, 1619. 470) BayOLG ZIP 2009, 1165, 1166; Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 166 Rn. 9 m. w. N.

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C. Gesellschafterstreitigkeiten bei Personengesellschaften

HGB darstellen.471) Es obliegt dem Kommanditisten im Prozess, die konkreten Umständen für die Erforderlichkeit und Bedeutung der begehrten Informationen darzulegen.472) Die Gesellschaft selbst kann darüber hinaus ein Auskunftsrecht gegenüber 318 jedem geschäftsführenden Gesellschafter geltend machen und hat darüber hinaus ein Recht auf gesonderte Rechnungslegung gem. §§ 713, 666 BGB, § 105 Abs. 3 (i. V. m. § 161 Abs. 2) HGB. Dieses Recht kann der Einzelgesellschafter im Wege der actio pro socio geltend machen, mit Einschränkungen für den Kommanditisten, dem die Geltendmachung im Wege der actio pro socio nur in den Grenzen des § 166 HGB erlaubt sein soll.473) Das Informationsinteresse nach § 166 Abs. 3 HGB wird in einem sog. echten 319 Streitverfahren der Freiwilligen Gerichtsbarkeit durchgesetzt und damit stets vor dem Amtsgericht am Sitz der Gesellschaft (§§ 377 Abs. 1, 376 Abs. 1 FamFG). Als unternehmensrechtliches Verfahren i. S. d. § 375 können nach § 376 Abs. 2 FamFG durch Rechtsverordnung der Länder Sonderreglungen zur örtlichen Zuständigkeit getroffen werden, so z. B. geschehen in Bayern, Baden-Württemberg, Bremen, Hamburg und Sachsen.474) Ein wesentlicher und in der Praxis relevanter Unterschied zwischen den bei- 320 den Verfahren besteht in Bezug auf die Kosten: Im ordentlichen Verfahren bemisst sich der Streitwert nach dem Interesse des Klägers an der begehrten Auskunft oder Einsichtnahme (vgl. hierzu unter Rn. 315). Der Antrag nach § 166 Abs. 3 HGB als FGG-Antrag wird nach Ermessen des Gerichts bewertet, Anhaltspunkt der Wertfestsetzung ist gem. § 30 Abs. 2 KostO ein Betrag von EUR 3.000, wenn das Gericht zu schätzen hat. Er kann je nach Einzelfall höher oder niedriger sein. In der Praxis ist zu beobachten, dass der Streitwert regelmäßig auf Beträge zwischen EUR 5.000 und EUR 10.000 festgesetzt wird. b) Streitgegenstand des Informationsanspruchs Das Antragsrecht des Kommanditisten nach § 166 Abs. 3 HGB erstreckt sich 321 bei Vorliegen eines wichtigen Grundes nicht lediglich auf die Prüfung der Richtigkeit des Jahresabschlusses, sondern auch auf die Geschäftsführung des Komplementärs allgemein und auf die damit in Zusammenhang stehenden Unterlagen.475) Nach entgegengesetzter Auffassung sind die Rechte aus

___________ 471) 472) 473) 474) 475)

Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 166 Rn. 9. BGHZ 210, 363, 369. BGH WM 1992, 875 = ZIP 1992, 758. Vgl. Auflistung bei Keidel/Heinemann, FamFG, § 376 Rn. 10 ff. OLG München NZG 2008, 846; OLG München ZIP 2009, 1165; Baumbach/Hopt/ Hopt, HGB, § 166 Rn. 8.

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§ 166 Abs. 3 HGB auf Auskünfte begrenzt, die zur Beurteilung des von den Geschäftsführern aufgestellten Jahresabschlusses erforderlich sind.476) 322 Das Informationsrecht nach § 716 BGB und § 118 HGB ist hingegen umfangreich. Es ist allerdings in erster Linie ein Kontrollrecht, dass dem Gesellschafter erlaubt, sich persönlich durch Einsicht in sämtliche Papiere und Bücher der Gesellschaft zu verschaffen und dort, wo sich die benötigten Informationen nicht aus den Unterlagen der Gesellschaft ergeben, Auskunft zu verlangen. Der Auskunftsanspruch setzt voraus, dass die überlassenen Unterlagen lückenhaft oder widersprüchlich sind und daher keine Klarheit über die Angelegenheiten der Gesellschaft verschaffen können.477) In der GbR kann sich diese Notwendigkeit bereits daraus ergeben, dass die Geschäftsbücher nicht eine hinreichende Kontrolle ermöglichen, da sie eine geordnete Buchführung nicht ersetzen.478) 323 Zu den Angelegenheiten der Gesellschaft, über die sich der Gesellschafter informieren darf, gehört in allen Personengesellschaften nicht nur Informationen über die gegenwärtige und zu erwartende Gewinnsituation, Informationen über Geschäftsverbindungen, über bilanzierungspflichtige Tatsachen, über Geschäftspläne, etc., sondern auch das Recht seine Mitgesellschafter zu kennen. Zwar werden die „Angelegenheiten der Gesellschaft“ negativ zu persönlichen Angelegenheiten von Mitgesellschaftern und Geschäftsführern abgegrenzt, das Recht auf Auskunft über die Namen und Anschriften seiner gesellschaftsvertraglich mit ihm verbundenen Mitgesellschafter (auch Mitkommanditisten in Publikumsgesellschaften) ist aber unentziehbar.479) Ein Anonymitätsinteresse, auch im Falle eines qualifizierten Treuhandverhältnisses, wird verneint.480) c) Informationserzwingung im einstweiligen Rechtsschutz 324 Die ganz herrschende Meinung verneint die Möglichkeit einer Informationserzwingung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.481) Wo Informationen vorenthalten werden, besteht oftmals jedoch auch die Gefahr, dass sie beiseitegeschafft – oder gar vernichtet werden. Kann diese Gefahr glaubhaft gemacht werden, gibt es zumindest die Möglichkeit, Unterlagen und Informationen vorläufig zu sichern.482) ___________ 476) OLG Köln NZG 2014, 660; Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn/Weipert, HGB, 2. Aufl., § 166 Rn. 40. 477) BGH WM 1983, 910, 911; BGH BB 1972, 1245. 478) Ulmer/Schäfer, GbR PartG, § 716 Rn. 9. 479) BGH ZIP 2010, 27; BGH ZIP 2011, 322; BGH ZIP 2013, 619. 480) BGH ZIP 2013, 619. 481) Baumbach/Hopt/Hopt, HGB, § 166 Rn. 14; Baumbach/Hueck/Zöllner, GmbHG, § 51b Rn. 10; Scholz/K. Schmidt, GmbHG, § 51b Rn. 32; a. A. Emde, ZIP 2001, 820 f. 482) Baumbach/Hopt/Hopt, HGB, § 166 Rn. 14.

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d) Vollstreckung von Auskunfts- und Einsichtsrechten Die Vollstreckung macht bei Informationsansprüchen stets Schwierigkeiten, 325 insbesondere wenn sie, wie das Einsichtsrecht, als „vertretbare Handlung“ gem. § 883 ZPO mit Hilfe des Gerichtsvollziehers zu vollstrecken sind. In der Theorie erhält dieser dann – notfalls mit Zwang – Zugang zu den Geschäftsräumen, nimmt sich die Geschäftsunterlagen und übergibt diese dem Gläubiger zur Einsichtnahme. In der Praxis empfiehlt es sich häufig, eine konkrete Auskunft gerichtlich geltend zu machen. Diese wird als unvertretbare Handlung durch die Androhung eines Ordnungsgeldes durchgesetzt. 5. Streitigkeiten um Jahresabschluss, Gewinn Die Aufstellung sowie die Feststellung des Jahresabschlusses (bei der GbR: 326 Rechnungsabschluss, § 721 Abs. 1 BGB) sowie die auf dieser Grundlage zu erfolgende Gewinnverteilung und ggf. Gewinnausschüttung sind streitanfällig, stehen sich doch regelmäßig das Interesse der Gesellschaft an der Vermehrung des Gesellschaftsvermögens und der Bildung von Rücklagen dem Interesse des einzelnen Gesellschafters an einer möglichst weitgehenden Ausschüttung gegenüber. a) Streitigkeiten um den Jahresabschluss Bereits die Aufstellung des Jahresabschlusses wird sehr häufig verzögert, so 327 dass schlimmstenfalls die nicht an der Geschäftsführung beteiligten Gesellschafter im eigenen Namen auf Aufstellung des Jahresabschlusses und dessen Übergabe zur Feststellung klagen müssen und dies auch dürfen.483) Als Vorbereitungsanspruch für die Einzelansprüche auf Gewinnverwendung und in Beendigungsfällen auf Auseinandersetzung und Abfindung kann der Anspruch im Wege der Stufenklage geltend gemacht werden. Zuständig für die Aufstellung sind in Personengesellschaften die geschäftsführenden Gesellschafter. Nach § 243 Abs. 3 HGB muss der Abschluss innerhalb der einem ordnungsmäßigen Geschäftsgang entsprechenden Zeit aufgestellt werden. Dies sollen maximal sechs Monate sein.484) Die Feststellung des Jahresabschlusses liegt in der Hand der Gesellschafter. 328 Sie wird durch Beschluss der Gesellschafter herbeigeführt. Als Gesellschafterangelegenheit der „laufenden Verwaltung“ kann die Feststellung vertraglich einer allgemeinen Mehrheitsklausel unterworfen werden.485) Wird die Feststellung verzögert oder vereitelt, kann die einzelne Gesellschaft nach einer erfolglos gebliebenen Gesellschafterversammlung auf Zustimmung zur Fest___________ 483) Palandt/Sprau, BGB, § 721 Rn. 3, OLG Saarbrücken NZG 2002, 669; BGH WM 1983, 1279. 484) OLG Düsseldorf NJW 1980, 1292; Baumbach/Hopt/Merkt, HGB, § 243 Rn. 10. 485) BGHZ 170, 283 = ZIP 2007, 475 Rn. 12 „OTTO“.

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stellung klagen.486) Dies gilt auch für den praktisch relevanten Fall, dass die Mehrheit im Rahmen des Feststellungsbeschlusses mit „Nein“ stimmt, vorausgesetzt, der Jahresabschluss ist inhaltlich richtig. 329 Im Fall sog. Bilanzierungswahlrechte oder, wenn eine Gewinnthesaurierung entschieden werden soll, ist das insoweit bestehende Ermessen der Gesellschafter (und bei wirksamer Mehrheitsklausel im Gesellschaftsvertrag: der Mehrheit) durch die gesellschafterlichte Treuepflicht gebunden. Bei derartigen Entscheidungen sind das Ausschüttungsinteresse des einzelnen Gesellschafters gegen das Bedürfnis der Gesellschaft der Selbstfinanzierung und Zukunftssicherung abzuwägen.487) Ein beachtliches Ausschüttungsinteresse wird dort bejaht, wo Gesellschafter einbehaltene Gewinne versteuern müssen.488) 330 Gibt es Streitigkeiten über inhaltliche Einwände gegen den festgestellten Jahresabschluss und unterliegt die Feststellung des Jahresabschlusses einer Mehrheitsklausel, kann der überstimmte Gesellschafter den Feststellungsbeschluss nachträglich wegen inhaltlicher Mängel angreifen. Verstößt der Jahresabschluss gegen Bilanzierungsvorschriften, ist er nichtig und kann von dem Gesellschafter, der sich hierauf berufen möchte, durch Feststellungsklage gegen seine Mitgesellschafter geltend gemacht werden. Mängel des Jahresabschlusses können über einen längeren Zeitraum nach dem Feststellungsbeschluss geltend gemacht werden. Dieser Zeitraum kann sich in Anlehnung an § 256 Abs. 6 AktG bis zu drei Jahre nach Offenlegung des Jahresabschlusses erstrecken, beispielsweise, wenn der Mangel darin besteht, dass entgegen §§ 249, 253 Abs. 1 Satz 2 HGB Rückstellungen in der Bilanz überhaupt oder mit einem zu hohen Ansatz passiviert worden sind.489) 331 Stellen sich Mängel erst nach Fassung des Feststellungsbeschlusses heraus, kommt für den irrtümlich zustimmenden Gesellschafter im Nachhinein darüber hinaus die Anfechtung seiner Stimmabgabe nach den allgemeinen Regeln des BGB infrage. Er kann sich darauf berufen, dass er bei seiner Zustimmung zur Feststellung einem ausnahmsweise anfechtbaren Inhaltsirrtum unterlegen ist oder sogar getäuscht wurde. Hat sich seine Stimme jedoch nicht kausal auf das Abstimmungsergebnis ausgewirkt, sollte die Nichtigkeit des Beschlusses, die sich nicht nur aus der Anfechtbarkeit nach § 119 BGB, sondern auch aus der Verletzung von Informationsrechten des Gesellschafters ergeben kann, aus Gründen der Rechtssicherheit im Wege der Feststellungsklage gerichtlich geltend gemacht werden.

___________ 486) OLG München NZG 2001, 959 für die Liquidationsbilanz einer OHG. 487) BGHZ 132, 263 = ZIP 1996, 750 Rn. 29. 488) OLG München DB 1994, 1465, 1466; BGHZ 132, 263 = ZIP 1996, 750 Rn. 31 mit der Einschränkung, dass dies bei fehlender entsprechender Regelung im Gesellschaftsvertrag durch den Tatrichter im Einzelfall bestimmt werden müsse. 489) BGH NJW 1991, 1890.

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C. Gesellschafterstreitigkeiten bei Personengesellschaften

b) Prozessuale Geltendmachung von Gewinn- und Entnahmeansprüchen Ansprüche auf Entnahme und Gewinnauszahlung können im Streitfall im 332 Wege der Zahlungsklage gegen die Gesellschaft geltend gemacht werden.490) Der Auszahlungsanspruch ist durchsetzbar, wenn er voll wirksam, fällig und nicht einredebehaftet ist. Sind die Entnahmen geschäftsführender Gesellschafter unberechtigt oder zu 333 hoch gewesen, kann grundsätzlich jeder Gesellschafter die Rückzahlung im Wege der actio pro socio an die Gesellschaft verlangen. Der die Sozialansprüche der Gesellschaft geltend machende Gesellschafter hat nach den allgemeinen Regeln der Darlegungs- und Beweislast die Entnahmen im Sinne selbständiger Verfügungen über Gesellschaftsmittel zu Gunsten des Entnehmenden darzulegen.491) Es muss dargelegt werden, dass der Beklagte selbständig zu seinen eigenen Gunsten über Gesellschaftsmittel verfügt hat. Sind die Entnahmen dargelegt und bewiesen bzw. unstreitig, hat der geschäftsführende Gesellschafter seine Berechtigung zur Entnahme darzutun und ggf. zu beweisen, da er sich sonst durch eine solche Eigenmächtigkeit in eine günstigere Beweislage setzen könnte. Die Berechtigung zur Entnahme kann sich nur aus einer Vereinbarung unter den Gesellschaftern ergeben.492) Gewinnverteilung und Entnahmeregeln sind regelmäßig im Gesellschaftsver- 334 trag detailliert geregelt, da die gesetzlichen Entnahmerechte in den Personengesellschaften für nicht sachgerecht gehalten werden. Da in Personengesellschaften das Gesellschaftsvermögen keiner besonderen Kapitalbindung unterliegt, sind vertragliche Entnahmerechte oder durch Beschluss eingeräumte Entnahmerechte ohne weiteres möglich. Auch umgekehrt kann das Recht der Entnahme zeitweilig oder langfristig vertraglich ausgeschlossen werden. Umfangreiche Entnahmesperren sind jedoch streitanfällig und können unter Umständen gegen die gesellschafterliche Treuepflicht verstoßen, weil sie das Entnahmeinteresse der Gesellschaft zu stark einschränken, insbesondere dort, wo auf entfallene Gewinne durch einzelne Gesellschafter Einkommenssteuer zu zahlen sind.493) Umgekehrt können verteilte Gewinne, die noch nicht ausgeschüttet wurden, 335 aber grundsätzlich fällig sind, ausnahmsweise aufgrund der gesellschafterlichen Treuepflicht vorübergehend von der Ausschüttung ausgeschlossen sein. Eine rechtliche Regelung trifft in der Kommanditgesellschaft der § 169 Abs. 1 HGB, wonach bei einem offenbar drohenden Schaden der Gesellschaft ein Auszahlungsanspruch vorübergehend eingeschränkt ist. Der Treuwidrigkeitseinwand zielt insbesondere auf die Verletzung der Zweckförderungspflicht durch den Kommanditisten ab, wenn dieser durch sein Auszahlungs___________ 490) 491) 492) 493)

MünchHdb GesR Bd. 1/v. Falkenhausen/H. C. Schneider, 5. Aufl., § 63 Rn. 67. BGH NJW 2000, 505 = ZIP 2000, 136; BGH NJW-RR 1994, 996. BGH NJW-RR 1994, 996 für Entnahmen aus einer GbR. BGHZ 132, 263 = ZIP 1996, 750.

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verlangen der Kommanditgesellschaft liquide Mittel entzieht, die diese notfalls durch Fremdkapital finanzieren muss.494) Bei dieser Beschränkung handelt es sich jedoch um eine Ausnahmeregelung. Ob es ausreicht, dass die Gesellschaft nach Ausschüttung fremdfinanziert werden muss, ist fraglich. Bei entsprechenden Kreditkonditionen kann dies durchaus denkbar sein. In der Praxis werden Kredite in der Regel sowieso nur erteilt, wenn sich die Gesellschafter bis zur Ablösung des Kredits einer Ausschüttungssperre unterwerfen. Soweit ersichtlich, hat die Berufung auf § 169 Abs. 1 HGB selten Bestand vor Gericht. Größtenteils wird vertreten, dass ein schwerer nicht wieder gut zu machender Schaden für die Gesellschaft nur entsteht, wenn durch die fälligen Gewinnansprüche der Gesellschaft durch Auszahlung der fälligen Gewinnansprüche der Gesellschafter die Insolvenz der Gesellschaft droht.495) c) Jahresabschluss als Schuldanerkenntnis 336 Bei dem festgestellten Jahresabschluss handelt es sich um einen Akt der Billigung durch die Gesellschafter, mit der dessen Richtigkeit anerkannt wird. Daher wird der Abschluss, zumindest im Verhältnis zu den für ihn stimmenden Gesellschaftern als Akt der Verbindlicherklärung mit weitreichenden Konsequenzen angesehen. So können sich aus der Bilanzfeststellung im Innenverhältnis rechtliche Konsequenzen für die Ansprüche zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern ergeben. Dem festgestellten Jahresabschluss kann für bestimmte Ansprüche der Rechtscharakter eines Schuldanerkenntnisses beigemessen werden.496) 337 Immer wieder finden sich im Jahresabschluss auch von Personengesellschaften Gesellschafterdarlehen bilanziert. Derartigen Bilanzpositionen gehen insbesondere Insolvenzverwalter gerne nach und erheben Klagen, die sie mit der Position im Jahresabschluss substantiieren. Nimmt man tatsächlich an, dass es sich bei dem Jahresabschluss um ein abstraktes Schuldanerkenntnis handelt, sollte die bloße Vorlage des festgestellten Jahresabschlusses für derartige Klagen ausreichen. Geht man davon aus, dass es sich um ein rein deklaratorisches Schuldanerkenntnis handelt, kann in der Beschlussfassung zum Jahresabschluss zumindest ein Zeugnis der zustimmenden Gesellschafter497) angesehen werden, was im Prozess in der Regel zu einer Umkehrung der Beweislast führt.498)

___________ 494) Röhricht/Graf von Westphalen/Haas/von Gerkan/Mock, HGB, § 169 Rn. 11. 495) OLG Bamberg NZG 2005, 808 = ZIP 2006, 525. 496) BGH WM 1966, 398; BGHZ 132, 263, 266 f.; BGH WM 2009, 986, 989 = ZIP 2009, 1111; BGH NJW 2014, 305 = ZIP 2013, 1533. 497) Im Sinne eines „Zeugnis gegen sich selbst“: BGH NJW 1986, 2571, 2572. 498) BGH NJW 2003, 1196.

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C. Gesellschafterstreitigkeiten bei Personengesellschaften

6. Durchsetzung von Wettbewerbsverboten Gem. § 112 Abs. 1 HGB darf bei Personenhandelsgesellschaften kein persön- 338 lich haftender Gesellschafter ohne Einwilligung der anderen Gesellschafter im Handelszweig der Gesellschaft Geschäfte machen. Dieses Wettbewerbsverbot wird häufig im Gesellschaftsvertrag modifiziert, was mit Einschränkungen zulässig ist.499) Die Gesellschaft hat gegen Konkurrenztätigkeit Unterlassungsansprüche (aus § 112 Abs. 1 HGB), Schadensersatzansprüche bzw. ein Eintrittsrecht, wonach der das Wettbewerbsverbot verletzende Gesellschafter seinen Vorteil herausgeben muss, § 113 Abs. 1 HGB. Die Geltendmachung der Ansprüche setzt einen Gesellschafterbeschluss voraus, § 113 Abs. 2 HGB, der bei gemeinsamer Klageerhebung allerdings bereits stillschweigend erfolgt.500) Die gerichtliche Durchsetzung von Wettbewerbsverboten im Personenge- 339 sellschaftsrecht hat die prozessuale Hürde der kurzen Verjährung gem. § 113 Abs. 3 HGB. Die Verjährungsfrist beträgt drei Monate ab Kenntnis sämtlicher Mitgesellschafter, wobei grob fahrlässige Unkenntnis genügt. Bei fortwährenden Verstoßhandlungen wird ab dem erstmaligen Verstoß gerechnet.501) Dies macht schnelles prozessuales Handeln gegen einen gegen das Wettbewerbsverbot des § 112 HGB verstoßenden Gesellschafter nötig. Ist die Sachverhaltsaufarbeitung nicht in der gebotenen Eile möglich, etwa, weil es auf Informationen über die Konkurrenztätigkeit ankommt, die nur von dem wettbewerbswidrig handelnden Gesellschafter ausgehen, kann die Frist durch Erhebung einer Stufenklage unterbrochen werden, mit der auf der ersten Stufe Informationen über Art und Umfang des Konkurrenzgeschäfts eingeklagt werden. Diese unterbricht die Verjährung.502) III. Streitigkeiten über die Geschäftsführung Streitigkeiten um die Geschäftsführung stehen meist im Zentrum von Ge- 340 sellschafterstreitigkeiten. Diese münden häufig in der Entziehung der Geschäftsführung und Vertretungsmacht. Im Personengesellschaftsrecht spielt im Vorfeld des vollständigen Ausschlusses eines Geschäftsführers auch das Widerspruchsrecht der übrigen geschäftsführenden Gesellschafter gegen Einzelmaßnahmen der Geschäftsführung eine Rolle. 1. Geltendmachung des Widerspruchsrechts Die gesetzliche Grundkonzeption bei der GbR ist abweichend anderer gesell- 341 schaftsvertraglicher Regelungen die Gesamtgeschäftsführung, §§ 709 Abs. 1, 710 Satz 2 BGB. In den Personenhandelsgesellschaften geht das Gesetz bei ___________ 499) 500) 501) 502)

MünchKomm-HGB/Langhein, § 112 Rn. 23. BGHZ 89, 162 = ZIP 1984, 446. Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 113 Rn. 10; MünchKomm-HGB/Langhein, § 113 Rn. 21. MünchKomm-HGB/Langhein, § 113 Rn. 21.

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mehreren vorhandenen geschäftsführungsbefugten Gesellschaftern dagegen von einer Einzelgeschäftsführung aus. Anders als bei der GbR unterliegt der geschäftsführende Gesellschafter daher in dieser Konstellation abgesehen von § 116 Abs. 2 HGB, also bei Handlungen, die über den normalen Geschäftsbetrieb hinausgehen, keinem Weisungsrecht und keinem Zustimmungsvorbehalt der Mitgesellschafter.503) 342 Das Widerspruchsrecht der anderen geschäftsführenden Gesellschafter ist Ausfluss des Prinzips der Gleichberechtigung aller geschäftsführenden Gesellschafter504) und beschränkt die Geschäftsführungsbefugnis in GbR, OHG und Kommanditgesellschaft. Das Widerspruchsrecht ist ein starkes Recht: Gem. §§ 711 Satz 2 BGB, 115 Abs. 1 Halbs. 2 HGB muss bei einem entsprechenden Widerspruch die in Streit stehende Geschäftsführungsmaßnahme unterbleiben. Dass bei der Ausübung persönliche Interessen des widersprechenden Gesellschafters eine Rolle spielen, macht das Widerspruchsrecht nicht wirkungslos. Es ist nur ausnahmsweise unter Missbrauchsgesichtspunkten unbeachtlich, wenn es aus eigennützigen Motiven ausgeübt wird und gegen das Gesellschaftsinteresse verstößt,505) oder wenn eine sein Stimmrecht ausschließende Interessenskollision vorliegt.506) Dies ist bisher vornehmlich in Fallkonstellationen bejaht worden, in denen der betroffene Gesellschafter der Geschäftsmaßnahme widersprochen hat, für die Gesellschaft einen Anspruch gegen ihn gerichtlich oder außergerichtlich geltend zu machen.507) 343 Im Übrigen steht die Ausübung des Widerspruchsrechts im Ermessen des geschäftsführenden Gesellschafters und ist daher auch nur eingeschränkt justiziabel.508) Das weite Ermessen im Rahmen seines Widerspruchsrechts wird mit dem Zweck des Rechts nach § 115 HGB begründet: dieses sei dem Gesellschafter verliehen, damit er sich nach eigener Entschließung an den in der Gesellschaft anfallenden Entscheidungen beteiligen und nach eigener Beurteilung Zweckmäßigkeit und Risiko abschätzen kann.509) 344 Das Widerspruchsrecht darf sich nur gegen Einzelmaßnahmen der Geschäftsführung richten. Es darf sich zwar auch auf planerische Gesamtentscheidungen beziehen, ein pauschaler Widerspruch gegen die gesamte Geschäftsführung eines Gesellschafters ist allerdings nicht zulässig, denn dies

___________ 503) 504) 505) 506) 507)

BGHZ 76, 160, 164. BGH NJW 1986, 844 = ZIP 1985, 1134. BGH NJW 1986, 844 = ZIP 1985, 1134. Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 115 Rn. 3. OLG Stuttgart NZG 2009, 1303 = ZIP 2010, 474 Rn. 271; BGH NJW 1974, 1555, 1556; RGZ 162, 370, 373. 508) BGH NJW 1986, 844 = ZIP 1985, 1134. 509) BGH NJW 1986, 844 = ZIP 1985, 1134.

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C. Gesellschafterstreitigkeiten bei Personengesellschaften

würde faktisch zu einer Entziehung der Geschäftsführungsbefugnis und damit zur Umgehung des § 117 HGB führen.510) Das Widerspruchsrecht ist disponibel. Üblich ist, im Gesellschaftsvertrag 345 dem vom Widerspruch betroffenen Gesellschafter das Recht einzuräumen die Meinungsverschiedenheit hinsichtlich der Vornahme einer beabsichtigten Handlung abstimmen zu lassen, wobei der Mehrheitsbeschluss entscheidet. Dies schließt das Widerspruchsrecht nicht aus, sondern schränkt es nur ein und erweitert damit die Geschäftsführungsbefugnis.511) Das Zeitfenster, in welchem das Widerspruchsrecht ausgeübt werden kann, 346 ist klein: es ist nur vor Vornahme der maßgeblichen Handlung möglich und ein späterer Widerspruch ist unbeachtlich.512) Das Widerspruchsrecht der Mitgeschäftsführer muss aktiv beachtet werden, d. h. bei Maßnahmen, bei welchen ein Widerspruch zu erwarten ist, sind die Mitgeschäftsführer vorab zu unterrichten und es ist abzuwarten, ob ein Widerspruch erklärt wird.513) In der Realität lässt sich das Widerspruchrecht aber dann nicht ohne gericht- 347 liche Hilfe durchsetzen, wenn das Widerspruchsrecht von Mitgeschäftsführern nicht respektiert wird. Nachgelagerter Rechtsschutz, wie die Überprüfung des Widerspruchs im Wege der Feststellungsklage nach § 256 Abs. 1 ZPO oder die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft wegen des Kompetenzverstoßes im Wege der actio pro socio sowie in besonders krassen Fällen der Entzug der Geschäftsführungsbefugnis (§ 117 HGB) bis hin zur Ausschließung des Gesellschafters (§ 140 HGB) ist denkbar.514) Von großem praktischem Interesse ist die Geltendmachung von Unterlas- 348 sungsansprüchen im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes. Diese sind, genau wie die einstweilige Durchsetzung von Unterlassungsansprüchen mangels Zustimmung in Fällen des § 115 Abs. 2 HGB oder bei fehlenden obligatorischen Zustimmungsbeschlüssen515) zulässig.516) Aufgrund der weitreichenden Vertretungsbefugnis des geschäftsführenden 349 Gesellschafters entfaltet der Widerspruch in der Regel gegenüber Dritten keine Wirkung. Dies gilt selbst dann, wenn der widersprechende Gesellschafter durch die Vornahme des gegenläufigen Rechtsgeschäfts (z. B. Kündigung contra Widereinstellung) umgehend die vorherige Erklärung des anderen Ge___________ 510) Röhricht/Graf von Westphalen/Haas/Haas, HGB, § 115 Rn. 2a. 511) BGH NJW-RR 1988, 995 = ZIP 1988, 843. 512) MünchKomm-HGB/Rawert, § 115 Rn. 25 f.; Röhricht/Graf von Westphalen/Haas/ Haas, HGB, § 115 Rn. 3. 513) BGH BB 1971, 759; MünchKomm-HGB/Rawert, § 115 Rn. 20. 514) Röhricht/Graf von Westphalen/Haas/Haas, HGB, § 115 Rn. 7. 515) OLG Hamm BB 1993, 165 f. 516) Röhricht/Graf von Westphalen/Haas/Haas, HGB, § 115 Rn. 7; Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 115 Rn. 4.

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Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation

sellschafters wieder rückgängig machen kann.517) Daher dürfte auch die Mitteilung des Widerspruchs gegenüber einem Dritten und einer damit verbunden Bösgläubigkeit des Dritten nicht per se zu einer Wirkung des Widerspruchs im Außenverhältnis führen.518) Auch vor dem Hintergrund kann der einstweilige Rechtsschutz ein adäquates Mittel zur Durchsetzung des Widerspruchs sein. 2. Entziehungsklagen nach § 712 BGB, §§ 117, 127 HGB 350 Im Personengesellschaftsrecht kann dem geschäftsführenden Gesellschafter die Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis nicht durch bloßen Gesellschafterbeschluss entzogen werden, sondern es bedarf für diese Maßnahme als ultima-ratio-Maßnahme einer Klage der übrigen Gesellschafter, bei der Kommanditgesellschaft sogar unter Einschluss der nicht zur Geschäftsführung befugten Kommanditisten.519) Die Entziehung der Geschäftsführungsbefugnis wird in aller Regel mit der Entziehung der Vertretungsmacht verbunden, welche in den Handelsgesellschaften gem. § 127 HGB ebenfalls durch Klage auf Entziehung möglich ist. Beide Verfahren unterliegen weitgehend denselben Voraussetzungen. In der Praxis kommt es sogar vor, dass ein Antrag auf Entziehung der „Geschäftsführungsbefugnis“ als Antrag auf Entziehung beider Rechte ausgelegt wird.520) 351 Zu beachten ist allerdings, dass unter Umständen eine unterschiedliche Behandlung und daher auch eine unterschiedliche Ausurteilung möglich ist, da bei der materiellen Prüfung eine Abwägung aller Belange vorgenommen wird und ein Gericht zu dem Ergebnis kommen kann, dass für die Entziehung des einen genug Gründe vorliegen, die Entziehung des anderen jedoch nicht nötig ist.521) Bedeutsam wäre eine derartige Entscheidung in der Kommanditgesellschaft, wenn es um die Entziehung der Geschäftsführungsbefugnis und Vertretungsmacht des einzigen persönlich haftenden Gesellschafters geht. Hier scheidet die Entziehung der Vertretungsbefugnis, nicht jedoch der Geschäftsführungsbefugnis aus, da mit der Entziehung auch der Vertretungsbefugnis ein rechtlich unmöglicher Zustand herbeigeführt würde.522) 352 Bei der Entziehung von Geschäftsführungs- und Vertretungsmacht ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Kann die Beschränkung der Vertretungsmacht im Streitfall ausreichen (etwa durch Umstellung der Einzelvertretungs- auf Gesamtvertretungsmacht) ist diese als milderes Mittel zunächst vorzuziehen.523) Prozessual ist jedoch zu beachten, dass die vollstän___________ 517) 518) 519) 520) 521) 522) 523)

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BGHZ 16, 394; BGH NZG 2008, 588 = ZIP 2008, 1582 Rn. 47. Baumbach/Hopt/Hopt, HGB, § 115 Rn. 4. Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 117 Rn. 6. BGHZ 51, 199. Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 127 Rn. 6. BGHZ 51, 198, 200; BGH NJW-RR 2002, 540, 541 = ZIP 2002, 396. BGHZ 51, 198, 203, BGH NJW-RR 2002, 540 = ZIP 2002, 396.

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C. Gesellschafterstreitigkeiten bei Personengesellschaften

dige und teilweise Entziehung der Geschäftsführungsmacht und die Entziehung der Vertretungsmacht verschiedene Streitgegenstände darstellen, weshalb eine Teileinziehung nur auf einen entsprechenden Antrag des Klägers zulässig ist. Bei der Teileinziehung handelt es sich nicht um ein bloßes Minus.524) Der Gesellschaftsvertrag wird durch ein entsprechendes Urteil mit einer anderen rechtlichen Tragweite umgestaltet, als bei Entzug der Vertretungsmacht. Prozessual sollte daher stets die Einschränkung der Einzelgeschäftsführungsmacht bzw. Vertretungsmacht im Wege eines Hilfsantrags geltend gemacht werden. Im Zentrum der Klage auf Entziehung von Geschäftsführung und Vertre- 353 tungsmacht steht die materielle Frage, ob ein wichtiger Grund vorliegt. Die Frage ob ein wichtiger Grund vorliegt, wird in Personengesellschaften wie in personalistisch strukturierten GmbHs auf Grundlage derselben Definition und ähnlicher Beurteilungsmaßstäbe beantwortet. Im Wesentlichen handelt es sich um Einzelfallentscheidungen. Nach dem Gesetz liegt ein wichtiger Grund vor, wenn dem Geschäftsführer eine grobe Pflichtverletzung oder die Unfähigkeit zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung/Vertretung vorzuwerfen ist, die die Belassung des Geschäftsführers in der Organstellung oder zumindest die uneingeschränkte Aufrechterhaltung seiner Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis unzumutbar macht.525) Es gibt eine große Anzahl von entschiedenen Einzelfällen, welche vornehm- 354 lich zum GmbH-Recht ergangen sind, sich jedoch auch auf Personengesellschaften übertragen lassen. Im Wesentlichen lassen sich folgende Fallgruppen unterscheiden: x

„Untreuetatbestände“: Der Missbrauch von Gesellschaftsvermögen für eigene Zwecke steht immer wieder im Fokus von Abberufungsklagen. Kann die Zweckentfremdung von Gesellschaftsvermögen nachgewiesen werden, wird ein wichtiger Grund in der Regel bejaht;526)

x

Verstöße gegen die Kompetenzordnung, insbesondere wenn der Geschäftsführer Zustimmungsvorbehalte der nichtgeschäftsführenden Gesellschafter verletzt;527)

___________ 524) BGH, NJW-RR 2002, 540 = ZIP 2002, 396; Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 117 Rn. 5. 525) BGHZ 102, 172, 179 = ZIP 1988, 22; BGH NJW 1984, 173 = ZIP 1983, 1066; BGH GmbHR 1985, 256; BGH ZIP 1992, 760, 761; BGH DStR 1994, 1746, 1747; BGH NZG 2008, 298 = ZIP 2008, 597; BGH ZIP 2009, 513. 526) BGH WM 1985, 567; BGH GmbHR 1968, 141: Hier hatte der Geschäftsführer seine Stellung dazu ausgenutzt, ein vorteilhaftes eigenes Geschäft abzuschließen; OLG Zweibrücken GmbHR 1998, 373; OLG Düsseldorf WM 1992, 14 ff.; OLG Hamm GmbHR 1985, 119. 527) BGH GmbHR 2008, 487; OLG München DB 2009, 1231, 1233; OLG Karlsruhe NZG 2000, 264 ff.; OLG Naumburg NZG 2000, 444 f.; OLG Frankfurt/M. NJW-RR 1999, 257; OLG Naumburg GmbHR 1996, 934 ff.; OLG Hamm GmbHR 1992, 805 ff.; OLG Hamburg GmbHR 1992, 43 ff.

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Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation

x

„Zerrüttungsfälle“: Wenn ein tiefgreifendes Zerwürfnis zwischen den geschäftsführenden Gesellschaftern besteht, die eine gedeihliche Zusammenarbeit unmöglich macht, besteht unabhängig vom Verschulden ein wichtiger Grund zur Entziehung der Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis.528)

3. Entziehung der Geschäftsführungsbefugnis in der Zweipersonengesellschaft 355 Gerade die richterrechtliche Ausgestaltung der letztgenannten Fallgruppe eines tiefgreifenden Zerwürfnisses spielt in Zweipersonengesellschaften eine große Rolle und führt zu erheblichen praktischen Problemen: 356 Für eine Zwei-Personen-GmbH soll es nach Auffassung des BGH zur Abberufung eines Geschäftsführers aus wichtigem Grund mit einem Mitgeschäftsführer ausreichen, dass die Gesellschafter(geschäftsführer) untereinander so zerstritten sind, dass eine Zusammenarbeit zwischen ihnen nicht mehr möglich sei. In einem solchen Fall könne jeder von ihnen jedenfalls dann abberufen werden, wenn er durch sein – nicht notwendigerweise schuldhaftes – Verhalten zu dem Zerwürfnis beigetragen hat. Dabei komme es in der ZweiPersonen-Gesellschaft bei wechselseitiger Verursachung des Zerwürfnisses nicht einmal darauf an, wer in welchem Maße dazu beigetragen hat. Insbesondere sei nicht erforderlich, dass der Verursachungsanteil des Abzuberufenden denjenigen des Mitgeschäftsführers überwiegt. Kann beiden Geschäftsführern infolge ihres jeweiligen Verhaltens ein Zerwürfnis angelastet werden, könne in der GmbH auch eine wechselseitige Abberufung erfolgen.529) 357 Zwar mag diese Rechtsfolge in der GmbH zumindest rechtlich möglich sein, da es in der Theorie möglich ist, einen Fremdgeschäftsführer als Ersatz zu bestellen. In der zweigliedrigen Personengesellschaft würde in einer derartigen Situation allerdings der Grundsatz der Selbstorganschaft Probleme bereiten. Entsprechend dürfte bei der endgültigen Zerrüttung zweier geschäftsführender Gesellschafter in einer Zweipersonengesellschaft nur die Auflösung der Gesellschaft im Ganzen in Betracht kommen, da eine dauerhafte Fremdorganschaft ausgeschlossen ist. Würde man sich hier auf den Standpunkt stellen, dass in Zerrüttungsfällen nur ein Geschäftsführer abzuberufen ist, käme es andernfalls in den meisten Fällen nur darauf an, wer sich gegenüber dem anderen Teil als erster auf § 712 Abs. 1 BGB beruft.530)

___________ 528) BGH NJW 1960, 628; BGH WM 1984, 29 f.; BGH ZIP 1992, 760 ff.; BGH NJW-RR 2009, 618; OLG Düsseldorf, WM 1988, 1532 ff.; OLG Naumburg GmbHR 1996, 934 ff.; OLG Düsseldorf GmbHR 1994, 884 ff. 529) BGH NJW-RR 2009, 618 Rn. 15. 530) OLG Zweibrücken, v. 17.2.2005 – 4 U 115/04, Rn. 30, juris; Ulmer/Schäfer, GbR PartG, § 712 Rn. 11.

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C. Gesellschafterstreitigkeiten bei Personengesellschaften

4. Einstweiliger Rechtsschutz Sowohl aus Sicht des ausgeschlossenen Gesellschaftergeschäftsführers als auch 358 aus Sicht der übrigen Gesellschafter spielt in streitigen Auseinandersetzungen um Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis einstweiliger Rechtschutz eine wichtige Rolle. Es ist anerkannt, dass die Geschäftsführungsbefugnis und die Vertretungsmacht gem. §§ 117, 127 HGB bereits durch eine einstweilige Verfügung ganz oder teilweise entzogen werden kann.531) In besonderen Ausnahmefällen soll es sogar zulässig sein, im Wege des 359 einstweiligen Rechtsschutzes einen Fremdgeschäftsführer als alleinigen Geschäftsführer der Personengesellschaft zur Überbrückung des Schwebezustands während des Ausschließungsprozesses zu bestellen.532) Ein Ausschließungsprozess sei seinem Ziel nach auf eine „(personelle)Teil-Auseinandersetzung“ gerichtet. Die Beziehungen der Gesellschafter sind während der Dauer des Prozesses typischerweise dadurch gekennzeichnet, dass die Vertrauensgrundlage zwischen ihnen zerstört ist und ein sinnvolles Zusammenwirken nicht mehr möglich sei. Dies zeige, dass während der Dauer des Ausschließungsprozesses (und so auch im Auflösungsprozess) eine Überbrückung durch die Einsetzung eines Fremdgeschäftsführers ähnlich wie in der Liquidation, in welcher eine Fremdorganschaft zulässig ist (§ 146 Abs. 2 HGB), gerechtfertigt sei.533) IV. Streitigkeiten bei Beendigung 1. Auflösungsklage Bei Personenhandelsgesellschaften muss gem. § 133 HGB (ggf. i. V. m. § 161 360 Abs. 2 HGB) bei Vorliegen eines wichtigen Grundes die Zwangsauflösung im Klagewege betrieben werden. Anders als in der GbR kann die Auflösung, nicht durch bloße Kündigungserklärung herbeigeführt werden, es sei denn, es wurde eine abweichende gesellschaftsvertragliche Regelung getroffen.534) Jeder Gesellschafter kann nach § 133 Abs. 1 HGB die Auflösungsklage erheben. Sieht der Gesellschaftsvertrag die Möglichkeit einer Auflösungskündigung 361 vor, entfällt für die Auflösungsklage das Rechtsschutzbedürfnis.535) Die gesellschaftsvertraglich vorgesehene Möglichkeit zu einer Austrittskündigung verdrängt die Auflösungskündigung dagegen grundsätzlich nicht, im Einzel-

___________ 531) 532) 533) 534) 535)

BGHZ 33, 105. BGHZ 33, 105 ff. BGHZ 33, 105, 111; OLG Hamm, v. 8.7.2007 – 8 O 91/07, juris. MünchKomm-HGB/K. Schmidt, § 133 Rn. 1. BGHZ 31, 295, 300; MünchKomm-HGB/K. Schmidt, § 133 Rn. 6.

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fall kann allerdings der Auflösungsgrund entfallen, wenn es dem Kläger zuzumuten ist, auszuscheiden und sich abfinden zu lassen.536) 362 Die Auflösungsklage ist gegen alle Mitgesellschafter zu erheben, die nicht selbst aktiv die klageweise Auflösung der Gesellschaft betreiben.537) Dies gilt allerdings nicht für Gesellschafter die sich bereits außergerichtlich bindend erklärt haben, sie seien mit der Auflösung der Gesellschaft einverstanden.538) Eine derartige Erklärung kann in Form einer schriftlichen Zustimmung der Mitgesellschafter abgeben werden, dass eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung für sie eine rechtsverbindliche und verpflichtende Wirkung habe.539) 363 Zuständig für die Auflösungsklage ist mit Rücksicht auf den Streitwert gemessen an dem Auflösungsinteresse540) in aller Regel vor dem Landgericht des Sitzes der Gesellschaft zu erheben. Nach § 95 Abs. 1 Nr. 4a GVG ist die Kammer für Handelssachen funktionell zuständig. 364 Durch das Gestaltungsurteil wird die Gesellschaft aufgelöst und die Liquidation wird eröffnet, die sodann gem. §§ 145 ff. HGB durchzuführen ist. 365 In der Liquidation gilt bei Personenhandelsgesellschaften in Anlehnung an die GbR die sog. Durchsetzungssperre. Es hat eine Gesamtabrechnung unter den Gesellschaftern nach den §§ 149, 155 HGB zu erfolgen. Die Pflicht zur Gesamtabrechnung verhindert, dass Einzelansprüche, die auf dem mitgliedschaftlichen Rechtsverhältnis beruhen, isoliert geltend gemacht werden können. Einzelansprüche sind lediglich Rechnungsposten innerhalb der Gesamtabrechnung.541) 366 Etwas anderes gilt nur, wenn sich aus dem Sinn und Zweck der gesellschaftsvertraglichen Bestimmung ergibt, dass Ansprüche im Falle der Auflösung der Gesellschaft oder des Ausscheidens eines Gesellschafters ihre Selbständigkeit behalten sollen,542) wobei es allerdings nicht ausreicht, dass der Gesellschaftsvertrag bestimmte Fälligkeitszeitpunkte für die Auszahlung einer Abfindung vorsieht.543) Die Durchsetzungssperre wird darüber hinaus von § 155 Abs. 2 HGB durchbrochen, der dem Gesellschafter einen gegen die Gesellschaft klagbaren Anspruch auf Vorabausschüttung gewährt.544) ___________ 536) OLG Stuttgart, v. 27.1.2014 – 14 W 15/13, juris; MünchKomm-HGB/K. Schmidt, § 133 Rn. 7; Baumbach/Hopt/Hopt, HGB, § 133 Rn. 7. 537) BGH NJW 1998, 146, 147 = ZIP 1997, 1919; BGHZ 30, 195, 197. 538) BGH WM 1958, 216, 217; BGH NJW 1998, 146 = ZIP 1997, 1919. 539) BGH NJW 1998, 146, 147 = ZIP 1997, 1919. 540) Staub/Schäfer, HGB, § 133 Rn. 59. 541) BGHZ 103, 72 ff. = ZIP 1988, 899; BGH ZIP 2005, 1068, 1070; BGH NJW 2011, 2355, 2356 = ZIP 2011, 1359; BGH ZIP 2016, 216 ff. 542) BGH NJW 1998, 46, 47; BGH NJW 2011, 2355, 2356 = ZIP 2011, 1359. 543) OLG Brandenburg NJW-RR 2019, 1004, 1005. 544) Staub/Habersack, HGB, § 155 Rn. 25.

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C. Gesellschafterstreitigkeiten bei Personengesellschaften

2. Ausschluss aus wichtigem Grund In der Personenhandelsgesellschaft eröffnet das Gesetz nach § 140 HGB die 367 Möglichkeit, Gesellschafter durch Urteil aus der OHG auszuschließen. Die Regelung ist dispositiv, eine Klage ist unbegründet, wenn der Gesellschaftsvertrag ein abweichendes Verfahren für den Ausschluss von Gesellschaftern vorsieht, insbesondere die Ausschließung durch Gesellschafterbeschluss.545) Die Klage erfolgt auf Antrag aller übrigen Gesellschafter gegen den auszu- 368 schließenden Gesellschafter, in dessen Person oder in dessen Verhalten ein wichtiger Grund i. S. d § 133 HGB vorhanden ist. Der auszuschließende Gesellschafter muss nach § 133 Abs. 2 HGB eine ihm nach dem Gesellschaftsvertrag obliegende wesentliche Verpflichtung vorsätzlich oder fahrlässig verletzt haben. Im Rahmen der Prüfung, ob ein wichtiger Grund vorliegt, wird berücksichtigt, dass die Ausschließung äußerstes Mittel der gesellschaftsrechtlichen Konfliktlösung ist. Vorrang vor der Ausschließung hat wegen des weitreichenden Eingriffs in die Rechte des betroffenen Gesellschafters jedes mildere zur Bewältigung der eingetretenen Störung vergleichbar geeignete Mittel.546) Die Feststellung des Gerichts ist aufgrund einer umfassenden Würdigung aller Umstände zu treffen, die bei Schluss der letzten mündlichen Verhandlung vorliegen.547) In § 140 Abs. 1 Satz 2 HGB ist auch der Sonderfall einer Übernahmeklage 369 in der zweigliedrigen OHG geregelt. Da nach der Ausschließung eines von insgesamt zwei Gesellschaftern keine Gesellschaft mehr vorhanden ist, läuft die Ausschließungsklage in diesen Fällen faktisch auf eine Übernahmeklage hinaus.548) Durch das Gestaltungsurteil erlischt die Gesellschaft und das Gesellschaftsvermögen wird im Wege der Gesamtrechtsnachfolge Alleinvermögen des letzten Gesellschafters. Prozessual hat der Übergang des Vermögens einer GbR oder einer OHG 370 ohne Liquidation auf den letzten verbliebenen Gesellschafter nicht die automatische Beendigung der Prozessvollmacht zur Folge, vielmehr sind die Regeln der §§ 239 ff., 246 ZPO und des § 86 Halbs. 1 ZPO anzuwenden.549) Der ausscheidende Gesellschafter hat einen Anspruch auf Abfindung, § 738 371 Abs. 1 Satz 2 BGB i. V. m. § 105 Abs. 2 HGB. Die Höhe der Abfindung berechnet sich danach, was der Gesellschafter bei Auflösung der Gesellschaft und Auseinandersetzung erhalten würde. Maßgeblich ist der volle wirtschaftliche Wert des lebenden Unternehmens also dessen Verkehrswert.550) Zum ___________ 545) 546) 547) 548) 549) 550)

BGHZ 31, 295, 300; BGHZ 68, 212, 214. OLG Köln, v. 19.12.2013 – 18 U 218/11, juris, Rn. 160. BGH NJW 1998, 146 f. = ZIP 1997, 1919. Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 140 Rn. 14. BGH, v. 7.6.2018 – V ZB 252/17, juris, Rn. 9. Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 131 Rn. 49.

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Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation

Zwecke der Berechnung ist eine besondere Stichtagsbilanz auf den Tag des Ausscheidens auszustellen. Im Falle des Ausschließungsurteils ist dies nach § 140 Abs. 2 HGB der Tag der Klageerhebung.551) Bei der Abschichtungsbilanz handelt es sich um eine echte Vermögensbilanz, die den Wert des lebenden Unternehmens wiedergeben soll. Alle Bilanzpositionen sind mit ihrem wirklichen Wert anzusetzen und stille Reserven aufzulösen. Daneben sind nicht aktivierbare Vermögenswerte, wie etwa Organisation, Kundenstamm, Geschäftsgeheimnisse etc. als sog. Geschäftswert oder Goodwill zu bewerten und aufzunehmen.552) 372 In der Vertragspraxis haben sich demgegenüber vielfältige Abfindungsklauseln entwickelt, was regelmäßig mit einer Beschränkung des gesetzlichen Abfindungsanspruchs einhergeht, aber dennoch vom Grundsatz her zulässig ist.553) Weit verbreitet sind Buchwertklauseln, die für die Abfindung auf die Buchwerte der letzten Jahresbilanz abstellen. Derartige Buchwertklauseln sind nur zulässig, solange die auf ihrer Grundlage berechneten Ergebnisse im Einzelfall nicht zu unverhältnismäßig geringen Abfindungsbeträgen führen. In der Judikatur des BGH wird dies aber in den überwiegenden Fällen angenommen.554) 373 Der Abfindungsanspruch wird mit dem Ausscheiden des Gesellschafters fällig und nicht erst mit der Feststellung der Abschichtungsbilanz, denn § 738 BGB enthält keine von § 271 Abs. 1 BGB abweichende Regelung.555) 374 Nach Ausscheiden des Gesellschafters ist in der Praxis regelmäßig die Berechnung und Höhe der Abfindung streitig, häufig wird auch die Erstellung der Abschichtungsbilanz verzögert. Dem ausscheidenden Gesellschafter hilft dann eine Stufenklage gegen die Gesellschaft weiter, in welcher er zunächst die Aufstellung der Abschichtungsbilanz und sodann die Zahlung der Abfindung verlangt. Der Gesellschafter hat ohne Abschichtungsbilanz zumindest einen Feststellungsanspruch, mit dem er die drohende Verjährung unterbrechen kann.556) 375 Er hat darüber hinaus gem. § 810 BGB ein Einsichtsrecht in die Geschäftsunterlagen der Gesellschaft, soweit diese für die Prüfung der Frage von Bedeutung sind, ob ihm Forderungen gegen die Gesellschafter aus der Zeit vor seinem Ausscheiden zustehen.557) Anhand dieses Anspruchs kann er eine Abschichtungsbilanz auch überprüfen. ___________ 551) 552) 553) 554)

Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 140 Rn. 26. Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 131 Rn. 49. BGH DB 1973, 611 f: BGH DB 1978, 1971; BGHZ 116, 359 ff. = ZIP 1992, 237. BGH NJW 1979, 104; BGH NJW 1985, 192, 193; BGH NJW 1989, 2685 = ZIP 1989, 770; BGHZ 116, 359, 368 = ZIP 1992, 237; BGHZ 123, 281, 289 = ZIP 1993, 1611. 555) Palandt/Sprau, BGB, § 738 Rn. 6; BGH ZIP 2010, 1637, 1638. 556) BGH ZIP 2010, 1637, 1638. 557) BGH NJW 1989, 225, 226 = ZIP 1988, 1175.

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3. Kündigung durch Pfändungspfandgläubiger Die Kündigung durch einen Pfändungspfandgläubiger im Rahmen der Pfän- 376 dung einer Mitgliedschaft wird prozessual über § 859 Abs. 1 ZPO ermöglicht. Hiernach kann der Anteil eines Gesellschafters an dem Gesellschaftsvermögen einer GbR gepfändet werden. Nach den gesetzlichen Regeln der BGB-Gesellschaft führt die Pfändung nach §§ 725 Abs. 1, 730 ff. BGB zur Kündigung und sodann zur Auflösung und Auseinandersetzung. Für OHG und KG führt die Kündigung nach § 135 HGB nicht mehr zur Auflösung, sondern allein zum Ausscheiden des Schuldner-Gesellschafters, § 131 Abs. 3 Nr. 4 HGB. Dem Gläubiger kann dann auf den Abfindungsanspruch des Schuldners zugreifen. In der Praxis ist diese Folge häufig gesellschaftsvertraglich auch für die GbR vorgesehen. Die Kündigungsmöglichkeit steht nur einem Gläubiger des Schuldners zu, der nicht gleichzeitig auch einen Anspruch gegen die Gesamthand hat.558) Dies gilt gem. § 134 Abs. 2 HGB auch für OHG und Kommanditgesellschaft, denn die Vermögensmassen von Gesellschaftern und Gesellschaft sind zu trennen.559) Gläubiger einer Gesamthandsschuld können nach § 736 ZPO in das Gesamthandsvermögen vollstrecken und benötigen eine Kündigung nach § 725 Abs. 1 BGB nicht. Gem. § 135 HGB muss vor der mit dieser Vorschrift verbundenen harten 377 Rechtsfolge innerhalb einer sechsmonatigen Frist mindestens ein ernsthafter Versuch unternommen worden sein, im Wege der Zwangsvollstreckung in das bewegliche Vermögen des Schuldners eine vollständige Erfüllung der titulierten Forderung zu erwirken.560) Der Privatgläubiger muss hierzu zunächst im Besitz eines „nicht bloß vorläufig vollstreckbaren“ Schuldtitels sein. Da es sich hierbei um eine Terminologie handelt, die nicht der ZPO entstammt, lässt sich insoweit nicht auf eine Legaldefinition zurückgreifen. Gemeint sollen Schuldtitel sein, die mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr angegriffen werden können, so dass endgültig feststeht, dass der Schuldner zur Zahlung verpflichtet ist.561) Dies kann auch eine vollstreckbare notarielle Urkunde sein.562) 4. Auflösung der Ehegattengesellschaft Verfolgen Ehegatten im Rahmen einer wirtschaftlichen Zielsetzung einen ge- 378 meinsamen Zweck, der über den typischen Rahmen der Lebens- bzw. Familiengemeinschaft hinausgeht, so entsteht häufig – auch stillschweigend – eine Ehegatteninnengesellschaft.563) Hierbei ist nicht entscheidend, ob das Be___________ Roth, ZGR 2000, 187, 194. LG Freiburg (Breisgau), v. 28.2.2007 – 5 O 213/06, juris. Hierzu BGH NJW-RR 2009, 1698, 1699. BGH, v. 28.6.1982 – II ZR 233/81, Rn. 7, juris; OLG Jena, v. 7.1.2009 – 6 U 701/07, juris. Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 135 HGB, Rn. 5; OLG Jena, v. 7.1.2009 – 6 U 701/07, juris. 563) OLG Hamm, v. 20.11.2009 – I-33 U 13/09, juris.

558) 559) 560) 561) 562)

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wusstsein der Ehegatten besteht, dass die gemeinsame Zweckverfolgung als gesellschaftsrechtliche Beziehung anzusehen ist.564) Eine gemeinsame Zweckverfolgung wird beispielsweise angenommen, wenn die Eheleute über Jahre hinweg planvoll und zielstrebig gemeinsamen Vermögensaufbau durch Bewirtschaftung, Umbau und Verwaltung eines durch einen Ehegatten geerbten Grundstücks betreiben.565) Bei Trennung der Eheleute und damit verbundener Beendigung der Zusammenarbeit endet diese Ehegatteninnengesellschaft mit der Rechtsfolge des Ausgleichsanspruchs, der sich nach §§ 738 ff. BGB bestimmt.566) 379 Prozessual ist hierbei zu beachten, dass es sich bei Streitigkeiten über die Auflösung der Ehegatteninnengesellschaft um eine sonstige Familiensache i. S. d. § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG handelt, die gem. § 23a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 GVG die ausschließliche sachliche Zuständigkeit der Abteilung für Familiensachen des Amtsgerichts (§ 23b GVG) begründet.567) Nur wenn ein familienrechtlicher Bezug völlig untergeordnet ist und eine Entscheidung durch das Familiengericht sachfremd erscheint, ist eine anderweitige Zuständigkeit gegeben.568) 380 Das nicht zuständige angerufene Gericht hat den Rechtsstreit von Amts wegen durch Beschluss für unzulässig zu erklären und an das Familiengericht zu verweisen. D. Gesellschafterstreitigkeiten bei geschlossenen Fonds I. Einführung Thomas Zwissler

381 Geschlossene Fonds zählen zu den in Deutschland fest etablierten Formen kollektiver Kapitalanlage durch Privatanleger. Charakteristisches Merkmal ist die feste (Mindest-)Laufzeit der Kapital- bzw. Vermögensanlage. Anleger eines geschlossenen Fonds können ihre Beteiligung nicht vor Ablauf einer gesellschaftsvertraglich fest definierten Investitionsphase kündigen. Ihnen steht auch kein Recht zu, die vorzeitige Rücknahme ihres Anteils zu verlangen. 382 Vorherrschende Rechtsform der geschlossenen Fonds ist die GmbH & Co. KG in ihrer Ausprägung als Publikums-KG bzw. seit dem Inkrafttreten des Kapitalanlagegesetzbuches (KAGB)569) als GmbH & Co. Investment-KG. 383 Im Vergleich zu Investitionsvehikeln anderer Rechtsform wie etwa der Aktiengesellschaft ist das Innenrecht der GmbH & Co. KG (Publikums-KG) so___________ 564) 565) 566) 567) 568) 569)

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BGHZ 142, 137. OLG Hamm, v. 20.11.2009 – I-33 U 13/09, juris. BGHZ 142, 137; OLG Hamm, v. 20.11.2009 – I-33 U 13/09, juris. OLG Stuttgart NJW-RR 2011, 867. OLG Stuttgart NJW-RR 2011, 867. Der überwiegende Teil des Kapitalanlagegesetzbuchs (KAGB) ist am 22.7.2013 in Kraft getreten.

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D. Gesellschafterstreitigkeiten bei geschlossenen Fonds

wie jenes der GmbH & Co. Investment-KG gesetzlich nur rudimentär geregelt. Gleiches gilt für die prozessuale Ebene. Die Rechtspraxis versucht diese Defizite durch mehr oder weniger ausführliche gesellschaftsvertragliche Gestaltungen zu kompensieren. Gleichwohl bleibt das rechtliche Terrain im Streitfall für alle Beteiligten unsicher. Die nachfolgende Darstellung gibt einen Überblick zu den Rechtsformen 384 und behandelt sodann die wesentlichen gesellschaftsrechtlichen Konfliktfälle bei geschlossenen Fonds in der Rechtsform der GmbH & Co. InvestmentKG und der GmbH & Co. KG (Publikums-KG). Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf den für die Praxis besonders relevanten Beschlussmängelklagen. II. Überblick zu den Rechtsformen geschlossener Fonds 1. GmbH & Co. Investment-KG Die GmbH & Co. Investment-KG ist eine durch das KAGB definierte Sonder- 385 form der GmbH & Co. KG. In ihrer Ausprägung als geschlossene GmbH & Co. Investment-KG ist sie die seit dem Inkrafttreten des KAGB in der Praxis gebräuchlichste Rechtsform für geschlossene Investmentvermögen.570) Die GmbH & Co. Investment-KG begegnet am häufigsten als Publikums- 386 Investment-KG, die allen Anlegergruppen als Gesellschafter offen steht. Seltener ist die GmbH & Co. Investment-KG in ihrer Ausprägung als SpezialAIF-Investment-KG, deren Anteile nur von „professionellen Anlegern“ (§ 1 Abs. 19 Nr. 32 KAGB) und „semiprofessionellen Anlegern“ (§ 1 Abs. 19 Nr. 33 KAGB) erworben werden dürfen.571) Für die GmbH & Co. Investment-KG gelten aufgrund der Bestimmungen 387 des KAGB gesellschaftsrechtliche Besonderheiten, die bei Gesellschafterstreitigkeiten von Bedeutung sind oder auch Anlass von Streitigkeiten sein können.572) Darüber hinaus findet das in der Rechtsprechung entwickelte Sonderrecht der Publikumspersonengesellschaften573) Anwendung. Bei Widersprüchen zwischen den Sonderregelungen des KAGB und dem Sonderrecht der Publikumspersonengesellschaften haben erstere Vorrang.574) ___________ 570) § 139 KAGB beschränkt die zulässigen Rechtsformen für geschlossene Investmentvermögen von vornherein auf die Investmentaktiengesellschaft mit fixem Kapital (§§ 140 ff. KAGB) und die geschlossene GmbH & Co. Investment-KG (§§ 149 ff. KAGB). Zum Begriff des geschlossenen Investmentvermögens nach § 1 Abs. 5 KAGB und seiner Abgrenzung zum offenen Investmentvermögen EDD/Verfürth/Emde, KAGB, § 1 Rn. 132 ff. Zur Systematik der Investmentfonds nach dem KAGB Casper, ZHR 179 (2015), 44, 49 ff. 571) Vgl. EDD/Verfürth/Emde, KAGB, § 1 Rn. 141 ff.; Wallach, ZGR 2014, 289, 295 f. 572) Zudem können diese Bestimmungen Ausstrahlungswirkung auf das Recht der PublikumsKG haben. Vgl. hierzu Casper, ZHR 179 (2015), 44, 77 f. sowie unten Rn. 400 Fn. 585. 573) Zu diesem Sonderrecht unten Rn. 399 f. 574) Casper, ZHR 179 (2015), 44, 77.

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a) Gesellschaftsvertrag 388 Das KAGB definiert Mindestinhalte für den Gesellschaftsvertrag der GmbH & Co. Investment-KG. Hervorzuheben sind die folgenden Vorgaben: aa) Unternehmensgegenstand, Anlagestrategie und Anlagebedingungen 389 Gesellschaftsvertraglich festgelegter Unternehmensgegenstand der GmbH & Co. Investment-KG ist die Anlage und Verwaltung ihrer Mittel nach Maßgabe einer festgelegten Anlagestrategie zur gemeinschaftlichen Kapitalanlage zum Nutzen der Anleger (§ 150 Abs. 2 KAGB). 390 Die Anlagestrategie ergibt sich nach der Konzeption des Gesetzgebers aus dem Gesellschaftsvertrag und den Anlagebedingungen, die ihrerseits jedoch gerade nicht Bestandteil des Gesellschaftsvertrages sind bzw. sein sollen (§ 151 Satz 2 KAGB). In vielen Gesellschaftsverträgen wird dennoch auf die Anlagebedingungen Bezug genommen, z. B. bei der Beschreibung des Unternehmensgegenstandes. Die vom Gesetzgeber vorgesehene Trennung zwischen Gesellschaftsvertrag und Anlagebedingungen wird dadurch in Frage stellt. Unstreitig sollte allerdings sein, dass die Anlagebedingungen als Handlungsmaxime der Geschäftsführung und der Gesellschafter in gleichem Maße zu beachten sind wie der gesellschaftsvertraglich fixierte Unternehmensgegenstand. Unterschiede ergeben sich lediglich in Bezug auf die Änderungsmodalitäten. Für die Änderung der Anlagebedingungen gelten die Sonderregeln des § 267 KAGB. Es handelt sich dabei um Mindestanforderungen. Besondere Hervorhebung verdient insoweit das Erfordernis der Genehmigung durch die BaFin (§ 267 Abs. 1 KAGB). bb) Sonderregelungen für die Gesellschafterversammlung 391 Der Gesellschaftsvertrag einer GmbH & Co. Investment-KG muss vorsehen, dass Ladungen zur Gesellschafterversammlung unter vollständiger Angabe der Beschlussgegenstände in Textform erfolgen und über die Ergebnisse der Gesellschafterversammlung ein schriftliches Protokoll anzufertigen ist, von dem den Anlegern eine Kopie zu übersenden ist (§ 150 Abs. 3 KAGB). cc) Beirat als zwingendes Kontrollorgan bei intern verwalteten Gesellschaften 392 Die intern verwaltete GmbH & Co. Investment-KG muss zwingend über einen Beirat als Kontrollorgan mit mindestens einem unabhängigen Mitglied verfügen (§ 153 Abs. 3 i. V. m § 18 Abs. 3 Satz 2 KAGB).575) Der Aufgabenkreis des Beirats muss mindestens die Überwachung der Umsetzung der An___________ 575) Für die Zusammensetzung des Beirats und hier insbesondere die Bestimmung der Zahl der Beiratsmitglieder gelten über §§ 153 Abs. 3 Satz 2, 18 Abs. 2 Satz 4 KAGB die Bestimmungen des AktG.

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lagebedingungen umfassen, kann aber auch darüber hinausgehen. Die Mitglieder eines nach § 153 Abs. 3 KAGB eingerichteten Beirats werden von der Gesellschafterversammlung gewählt. dd) Auflösung und Ausscheiden von Gesellschaftern Das Recht des Gesellschafters, bei Vorliegen eines wichtigen Grundes die 393 Auflösungsklage nach § 133 Abs. 1 HGB zu betreiben, besteht bei der GmbH & Co. Investment-KG nicht (§ 161 Abs. 2 Satz 1 KAGB). Das Recht zur ordentlichen Kündigung ist ebenfalls schon kraft Gesetzes ausgeschlossen (§ 161 Abs. 1 KAGB). Weitere Sondervorschriften betreffen das Ausscheiden von Gesellschaftern. 394 Die in § 131 Abs. 3 Nr. 2 (Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Gesellschafters) und 4 HGB (Kündigung durch den Privatgläubiger des Gesellschafters) geregelten Ausschlussgründe sind bei der GmbH & Co. Investment-KG zwingend, können also weder ausgeschlossen noch eingeschränkt werden (§ 150 Abs. 4 KAGB). b) Geschäftsführung und Vertretung Zu den Kerninhalten des KAGB zählt der Grundsatz, dass alternative In- 395 vestmentvermögen nur von hierfür besonders qualifizierten und der Aufsicht durch die BaFin unterliegenden Personen verwaltet werden dürfen. Die GmbH & Co. Investment-KG kann sich dieser Regulierung und Aufsicht selbst unterwerfen und damit als sogenannte intern verwaltete Gesellschaft agieren. Wegen des Aufwands, den Regulierung und Überwachung mit sich bringen, ist diese Vorgehensweise selten. Üblich und gesetzlich in § 154 KAGB ausdrücklich zugelassen, ist die Beauftragung einer externen Verwaltungsgesellschaft, der insbesondere die Anlage und die Verwaltung des Kommanditkapitals obliegt (§ 154 Abs. 1 Satz 2 KAGB). Die Praxis der externen Verwaltung und die in diesem Punkt lückenhafte ge- 396 setzliche Regelung haben zu der Frage geführt, welche Kompetenzen der externen Verwaltungsgesellschaft vor allem in Abgrenzung zur Komplementärin zustehen. Nach anfänglicher Unsicherheit576) ist heute anerkannt, dass der externen Verwaltungsgesellschaft keine gesetzliche Vertretungsbefugnis, sondern lediglich Geschäftsführungsbefugnisse zustehen. Die Rechtsstellung der Komplementärin bleibt im Übrigen unberührt. Dies gilt insbesondere für deren ausschließliche Vertretungsberechtigung. Vertretungsbefugnisse der externen Verwaltungsgesellschaft sind dementsprechend nur auf rechtsgeschäftlicher Basis möglich und zudem üblich.577) ___________ 576) Zur Entwicklung des Meinungsstands WBA/Winterhalder, KAGB, § 17 Rn. 43. 577) OLG München ZIP 2015, 2224; OLG München BeckRS 2015, 18494; Casper, ZHR 179 (2015), 44, 58 ff.; MünchHdB. GesR Bd. 7/Mock/U. Schmidt, § 74 Rn. 2 ff.; EDD/Schott, KAGB, § 154 Rn. 5 ff.

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397 Die Frage der Reichweite der Befugnisse der Verwaltungsgesellschaft stellt sich dann nicht, wenn der Gesellschaftsvertrag der Verwaltungsgesellschaft die Stellung eines geschäftsführenden Kommanditisten mit umfassender Vertretungsmacht (Generalvollmacht) einräumt und die Komplementärin in entsprechender Weise von der Geschäftsführung und Vertretung ausschließt. § 154 KAGB steht dem nicht entgegen. 2. GmbH & Co. KG (Publikums-KG) 398 Als Ausprägung der GmbH & Co. KG war die Publikums KG bis zum Inkrafttreten des KAGB die vorherrschende Rechtsform für geschlossene Fonds. Der Abbau des Altbestands wird sich jedoch über viele Jahre hinziehen. Das KAGB übt keinen generellen Zwang zu einem Wechsel in die GmbH & Co. Investment-KG aus. Im Gegenteil: „Altgesellschaften“, d. h. insbesondere solche geschlossenen Fonds in der Rechtsform der GmbH & Co. KG (Publikums-KG), die bei Inkrafttreten des KAGB bereits vollständig platziert waren und seither keine zusätzlichen Anlagen mehr tätigen,578) können in ihrer bisherigen rechtlichen Verfassung weitergeführt werden und bleiben nach den Anwendungs- und Übergangsregelungen des KAGB ausschließlich ihrem alten Rechtsregime unterworfen. 399 In prozessualer und in materiell-rechtlicher Hinsicht folgt die GmbH & Co. KG (Publikums-KG) zunächst den Regeln für die „normale“ GmbH & Co. KG. Anknüpfend an das besondere Schutzbedürfnis des Anlegers hat sich jedoch ein Sonderrecht der Publikums-KG entwickelt, das in methodischer und dogmatischer Hinsicht auf der objektiven Vertragsauslegung und der Inhaltskontrolle von Gesellschaftsverträgen aufbaut.579) Folge dieser Entwicklung ist ein heute weitgehend anerkannter Bestand zwingender Regelungen, der das Recht der Publikums-KG mitgestaltet und bei Gesellschafterstreitigkeiten von Bedeutung ist, im Einzelfall aber auch selbst Anlass von Streitigkeiten sein kann. 400 Für das Recht der Gesellschafterstreitigkeiten wesentliche Bestandteile des Sonderrechts für die Publikums-KG580) sind: x

der Grundsatz der objektiven Auslegung von Gesellschaftsverträgen;581)

x

die gerichtliche Inhaltskontrolle von Gesellschaftsverträgen;582)

___________ 578) Zu weiteren Altgesellschaften, die vom Anwendungsbereich des KAGB ausgenommen bleiben Casper, ZHR 179 (2015), 44, 48 f. 579) Zur objektiven Vertragsauslegung: BGH BB 2006, 1925, 1927; zur Inhaltskontrolle: BGH NJW 1975, 1318. 580) Umfassende Darstellung dieses Sonderrechts z. B. bei MünchHdB. GesR Bd. 2/Jaletzke, §§ 65 ff.; MünchKomm-HGB/Grunewald, § 161 Rn. 111 ff.; Oetker/Oetker, HGB, § 161 Rn. 134 ff.; Henssler/Strohn/Servatius, Handelsgesetzbuch Anhang Rn. 2 (jeweils m. w. N.). 581) BGHZ 191, 293 = ZIP 2012, 515. 582) BGH NZG 2001, 269 = ZIP 2001, 243; BGHZ 104, 50 = ZIP 1988, 906; BGHZ 102, 172 = ZIP 1988, 22.

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x

Sonderregeln für bestimmte Gesellschaftsorgane, insbesondere Aufsichtsgremien;583)

x

Sonderregeln für das Beschlussmängelrecht.584)

Bei der Entwicklung des oben skizzierten Sonderrechts hat sich die Rechtsprechung vorrangig an den gesetzlichen Regelungen des AktG und teilweise auch des GmbHG orientiert. Heute muss zusätzlich eine ergänzende Heranziehung des KAGB in Betracht gezogen werden.585) 3. Treuhandmodelle bei der GmbH & Co. Investment-KG und der GmbH & Co. KG (Publikums-KG) Der Einsatz von Treuhandmodellen ist bei geschlossenen Fonds in der Rechts- 401 form der GmbH & Co. Investment-KG bzw. der GmbH & Co. KG (Publikums-KG) weit verbreitet. Konkret geht es darum, den Anleger im Interesse einer Vereinfachung der Verwaltung der Fondsgesellschaft nicht direkt, sondern nur mittelbar über einen Treuhänder als (Treuhand-)Kommanditisten an der Gesellschaft zu beteiligen. In der Folge gilt der Anleger im Außenverhältnis nicht als Kommanditist. Er ist nicht im Handelsregister eingetragen und haftet dementsprechend auch nicht gegenüber Dritten. Typischerweise ist er im Innenverhältnis zum Treuhänder jedoch verpflichtet, diesen von der Inanspruchnahme Dritter freizustellen. Kennzeichnend für das Treuhandmodell sind darüber hinaus gesellschaftsvertragliche Regelungen, nach denen der Anleger im Innenverhältnis der Gesellschaft und der Gesellschafter zueinander die gleiche oder zumindest eine in wesentlichen Punkten angenäherte Stellung wie ein Direktkommanditist einnimmt. Dies bedeutet, dass Anleger „ihre“ mitgliedschaftlichen Rechte und hier insbesondere „ihr“ Stimmrecht in der Gesellschafterversammlung direkt ausüben können. Je nach Ausgestaltung stehen ihnen auch Zahlungsansprüche direkt zu, etwa Ansprüche auf Gewinnauszahlung oder auf Auszahlung des Liquidationserlöses oder eines etwaigen Abfindungsguthabens. Treuhandmodelle begegnen bei der Publikums-KG in durchaus unterschied- 402 licher Ausprägung.586) Im Recht der GmbH & Co. Investment-KG ist demgegenüber eine gewisse Vereinheitlichung zu erwarten. Der Gesetzgeber des KAGB verlangt für Treuhandmodelle stets die volle Gleichstellung des Anlegers, d. h. dem Anleger sollen im Innenverhältnis grundsätzlich alle Rechte eines Kommanditisten zustehen, soweit dies schuldrechtlich abbildbar ist ___________ 583) Henssler/Strohn/Servatius, Handelsgesetzbuch Anhang, Rn. 90 f. m. w. N. 584) Dazu ausführlich unten Rn. 428 ff. 585) Vgl. Casper, ZHR 179 (2015), 44, 70 f., allerdings unter Beschränkung auf nach dem Inkrafttreten des KAGB gegründete GmbH & Co. KG (Publikums-KG). A. A. MünchKomm-HGB/Grunewald/Brungs, Anhang § 161, Rn. 152 ff. 586) Zu den unterschiedlichen Erscheinungsformen der Treuhandmodelle Staub/Casper, HGB, § 161 Rn. 237 f., 247 ff.; MünchHdB. GesR Bd. 2/Jaletzke, § 63 Rn. 1 ff.

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(§ 152 Abs. 1 Satz 3 KAGB).587) Der Spielraum für individuelle Gestaltungen ist daher – soweit man einen solchen überhaupt anerkennen will588) – gering. 403 Nach der Rechtsprechung und Teilen der Literatur besteht zwischen den mittelbar beteiligten Anlegern und dem Treuhandkommanditisten regelmäßig eine GbR als Innengesellschaft.589) Damit hält eine weitere Vertragsebene Einzug, die Grundlage von Ansprüchen und Klagerechten sein kann.590) 404 Treuhandmodelle erhöhen die Komplexität von Gesellschafterstreitigkeiten. Das Nebeneinander von Verbandsrecht und Schuldrecht wirft vielfältige Fragen auf, die sich zunächst auf die Anspruchsbeziehungen und in der Folge auch auf das Prozessrecht auswirken.591) Im Streitfall ist daher stets genau zu überprüfen, wem welche Ansprüche konkret zugeordnet sind und zwischen welchen Parteien der Streit in prozessualer Hinsicht auszutragen ist. 4. Andere Rechtsformen 405 Geschlossene Fonds begegnen gelegentlich auch in anderer Rechtsform als der GmbH & Co. Investment-KG bzw. der GmbH & Co. KG (Publikums-KG). a) Investmentaktiengesellschaft mit fixem Kapital 406 Die Investmentaktiengesellschaft mit fixem Kapital (§§ 140 ff. KAGB) ist neben der GmbH & Co. Investment-KG die einzige weitere Rechtsform, die das KAGB für geschlossene Investmentvermögen zulässt. Es handelt sich hierbei um eine Gesellschaft in der Rechtsform der Aktiengesellschaft, für die das KAGB mit Blick auf ihren Einsatz als Fondsvehikel einige Besonderheiten regelt.592) Diese beziehen sich jedoch weder prozessual noch materiell auf das Recht der Gesellschafterstreitigkeiten, d. h. es bleibt insoweit bei den einschlägigen Regelungen des AktG, auf die hier verwiesen werden kann.593) b) Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) 407 Bis zum Inkrafttreten des KAGB konnten geschlossene Fonds auch in der Rechtsform der GbR aufgelegt werden. Praktisch war die Bedeutung der Publikums-GbR jedoch bereits vor dem Inkrafttreten des KAGB gering. Vor ___________ 587) Zur Reichweite dieses Gleichstellungsgebots Casper, ZHR 179 (2015), 44, 70 f. 588) Für eine unmittelbare Geltung des gesetzlichen Gleichstellungsgebots Oetker/Oetker, HGB, § 161 Rn. 208. 589) Vgl. BGH NJW 2011, 921 = ZIP 2011, 322; Oetker/Oetker, HGB, § 161 Rn. 143; K. Schmidt, NZG 2011, 361. Kritisch zum Konzept der Innen-GbR Altmeppen, NZG 2010, 1321, 1325 f. 590) Die Rechtsprechung hat das Konzept der Innen-GbR vor allem zur Begründung von Auskunftsansprüchen herangezogen. Näher dazu unten unter Rn. 420 ff. 591) Zur Finanz- und Haftungsverfassung des Treuhandmodells Mock, ZIP 2016, 497 ff. 592) Überblick zu den Besonderheiten bei Zetsche, AG 2013, 613 ff. 593) Zu aktienrechtlichen Beschlussmängelklagen oben Kapitel A I. (Zwissler).

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allem die für die GbR typische persönliche Haftung der Gesellschafter hatte schon früh zu einem Nischendasein der GbR als Rechtsform für geschlossene Fonds geführt.594) c) Stille Gesellschaft Die stille Gesellschaft ist eine weitere, in der Praxis jedoch abermals eher seltene 408 Ausprägung geschlossener Fonds. Insoweit ist hier auf die einschlägige Spezialliteratur zu verweisen.595) III. Prozessuale Grundsätze Im Recht der GmbH & Co. Investment-KG bzw. der GmbH & Co. KG (Pub- 409 likums-KG) werfen in prozessualer Hinsicht vor allem die Parteistellung und die Vertretung der Gesellschaft Fragen auf. 1. Parteistellung Sowohl die GmbH & Co. Investment-KG als auch die GmbH & Co. KG 410 (Publikums-KG) sind parteifähig (§ 161 Abs. 2 i. V. m. § 124 Abs. 1 HGB). Dies allein reicht aber nicht aus, um zu entscheiden, zwischen welchen Parteien ein Gesellschafterstreit im Einzelfall ausgetragen werden kann, muss oder sollte. Für die Ermittlung der Parteistellung ist zunächst das materielle Recht maß- 411 geblich. Hieran anknüpfend gilt der Grundsatz, dass das Gesellschaftsverhältnis betreffende Rechtsstreitigkeiten zwischen den Gesellschaftern, andere Streitigkeiten zwischen dem Gesellschafter und der Gesellschaft auszutragen sind. Der streng am materiellen Recht orientierte Ansatz wirft schon allgemein 412 vielfältige Fragen auf.596) Bei Publikumsgesellschaften wird die Situation noch schwieriger. Die aus der gesetzlichen Systematik folgenden Ergebnisse sind häufig nicht praktikabel umzusetzen oder sogar undurchführbar. Die meisten Gesellschaftsverträge sehen daher zumindest für den streitanfälligen Bereich der Beschlussmängelklagen vor, dass für solche Klagen nur die Gesellschaft passivlegitimiert ist. Die Rechtsprechung hat diese Praxis mehrfach bestätigt597) und bei Fehlen einer eindeutigen Regelung schon wenige An-

___________ 594) Zur Publikums-GbR MünchHdB. GesR Bd. 2/Horbach, § 61 Rn. 18. 595) Vgl. etwa MünchHdB GesR Bd. 2/Horbach, § 61 Rn. 17 ff.; Bost/Halfpap, in: Lüdicke/ Arndt, Geschlossene Fonds, S. 26 f. 596) Grundlegend hierzu Schwab, Das Prozessrecht gesellschaftsinterner Streitigkeiten, 2005. 597) Zuletzt etwa BGH NZG 2006, 703, 704 = ZIP 2006, 1579; BGH NJW 2003, 1729 = ZIP 2003, 843.

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haltpunkte im Gesellschaftsvertrag genügen lassen, um die Passivlegitimation der Gesellschaft im Wege der Auslegung zu bejahen.598) 2. Vertretung 413 Die Vertretung der Gesellschaft im Rechtsstreit obliegt bei der GmbH & Co. Investment-KG ebenso wie bei der GmbH & Co. KG (Publikums-KG) der Geschäftsführung, d. h. der Komplementärin.599) Diese wiederum handelt durch ihre Geschäftsführer als ihre organschaftlichen Vertreter. 414 Von der dargestellten Vertretungsregelung kann es Abweichungen geben. 415 Richtet sich die Klage gegen die Geschäftsführung bzw. die Komplementärin, so ist eine Vertretung der Gesellschaft durch eben diese Komplementärin nicht nur nicht zweckmäßig, sondern wegen des Verbots von Insichprozessen unzulässig.600) Existiert ein Beirat kann diesem die Vertretung der Gesellschaft im Gesellschaftsvertrag zugewiesen sein.601) Ist das nicht der Fall, können die Gesellschafter die Vertretung für den konkreten Rechtsstreit dem Beirat oder einem besonderen Vertreter übertragen.602) Für die Zeit bis zur Bestimmung eines Vertreters kann ein Prozesspfleger nach § 57 Abs. 1 ZPO bestellt werden. 416 Ist die Geschäftsführung und Vertretung auf einen (oder mehrere) geschäftsführenden Kommanditisten übertragen, so ist es bei Aktivprozessen der Gesellschaft eine Frage der Auslegung, ob die Prozessführung von der Vertretungsmacht umfasst sein soll. Bei Passivprozessen bleibt die Komplementärin in jedem Fall zumindest auch vertretungsbefugt.603) 3. Zuständigkeit der Gerichte 417 Die meisten Gesellschaftsverträge geschlossener Fonds in der Rechtsform GmbH & Co. Investment-KG und der GmbH & Co. KG (Publikums-KG) enthalten Regelungen zum Gerichtsstand für Streitigkeiten, die ihren Grund im Gesellschaftsvertrag haben. Solche Gerichtsstandsklauseln sind nach Maßgabe der allgemeinen Regeln wirksam. Fehlt jedoch eine entsprechende Regelung oder scheitert sie im konkreten Fall an der Inhaltskontrolle oder anderen zwingenden gesetzlichen Regelungen, gilt Folgendes: ___________ 598) Vgl. etwa BGH WM 1999, 1619 = ZIP 1999, 1391; BGH NJW 2003, 1729 = ZIP 2003, 843; OLG Rostock BeckRS 2008, 24035. 599) Wie oben Rn. 396 f. dargestellt, gilt dies auch für die extern verwaltete GmbH & Co. Investment-KG. Vgl. zum Ganzen auch MünchHdB. GesR Bd. 7/Gehle, § 9 Rn. 151. 600) BGH NZG 2009, 545, 546 Rn. 20 = ZIP 2009, 802; BGH NZG 2010, 1381 Rn. 11 = ZIP 2010, 2345; OLG München ZIP 2014, 2189, 2190. 601) BGH NZG 2010, 1381, 1382 Rn. 18 f. = ZIP 2010, 2345. 602) MünchHdB. GesR Bd. 7/Gehle, § 9 Rn. 148. 603) Wegen der fehlenden Publizität der geänderten Vertretungsverhältnisse ist dies sachgerecht.

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Die sachliche Zuständigkeit ist streitwertabhängig. Soweit aufgrund des 418 Überschreitens der Streitwertgrenze des § 23 Nr. 1 GVG (EUR 5.000,00) die Zuständigkeit des Landgerichts gegeben ist, sind Gesellschafterstreitigkeiten bei geschlossenen Fonds in der Rechtsform der GmbH & Co. InvestmentKG und der GmbH & Co. KG (Publikums-KG) stets Handelssachen i. S. d. § 95 Abs. 1 Nr. 4a GVG; die funktionale Zuständigkeit liegt dann bei der Kammer für Handelssachen. Die örtliche Zuständigkeit ist am allgemeinen Gerichtsstand des Beklagten (§§ 12 – 19a ZPO) und am besonderen Gerichtsstand der Mitgliedschaft (§ 22 ZPO) gegeben.604) Bei mehreren Beklagten mit unterschiedlichem Gerichtsstand kann das zuständige Gericht nach den Regeln der §§ 36, 37 ZPO bestimmt werden. IV. Streitigkeiten über Auskunfts- und Kontrollrechte Bei den Auskunfts- und Kontrollrechten stehen bei geschlossenen Fonds Aus- 419 kunftsstreitigkeiten und Streitigkeiten im Zusammenhang mit Widerspruchsrechten und Zustimmungsvorbehalten im Vordergrund. 1. Anspruch auf Mitteilung der Namen und der Anschriften der Mitgesellschafter Anleger, die ihren Interessen in der Fondsgesellschaft Gehör verschaffen wol- 420 len, haben ein Interesse daran, direkt in Kontakt mit ihren Mitgesellschaftern zu treten. Die Geschäftsführung will diese Direktansprache häufig vermeiden. Die hieraus resultierenden Streitigkeiten führen zu der Frage, ob dem Anleger ein Anspruch auf Mitteilung der Namen und der Anschriften der Mitgesellschafter zusteht, ob und inwieweit zwischen direkt und mittelbar über einen Treuhandkommanditisten beteiligtem Anleger zu unterscheiden ist, welche Rolle etwaige Vertraulichkeitsvereinbarungen im Gesellschaftsund/oder Treuhandvertrag spielen und gegen wen sich der Anspruch gegebenenfalls richtet. Die Rechtsprechung räumt dem Informationsinteresse des Anlegers einen 421 sehr hohen Stellenwert ein und hat mehrfach und zu unterschiedlichen Konstellationen sowie zuletzt auch unter Berücksichtigung der DSGVO entschieden, dass der direkt ebenso wie der mittelbar beteiligte Anleger Auskunft über die Namen und Anschriften seiner Mitgesellschafter bzw. Mittreugeber verlangen kann.605) Sind die Daten – wie regelmäßig – in elektronischer Form vorhanden, kann die Herausgabe einer entsprechenden Datei verlangt werden. Ein konkreter Anlass oder ein besonderes Informationsinteresse muss nicht nachgewiesen sein und auch nicht bestehen. Ein vertraglicher Aus___________ 604) Ausführlich hierzu MünchHdB. GesR Bd. 7/Ghassemi-Tabar, § 6 Rn. 25 ff., 27. 605) BGH NZG 2020, 381 (insbes. zur Vereinbarkeit mit DSGVO); BGH NZG 2015, 269 = ZIP 2015, 319; BGH NJW 2013, 2190 = ZIP 2013, 570; BGH NJW 2011, 921 = ZIP 2011, 322; BGH NJW 2010, 439 = ZIP 2010, 27; OLG München ZIP 2019, 368 (insbes. zur Vereinbarkeit mit DSGVO); KG BeckRS 2020, 14436.

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schluss des Auskunftsanspruchs ist nach der Rechtsprechung unwirksam, ein in seiner Wirkung vergleichbarer Weisungsbeschluss, der es der Geschäftsführung verbietet, personenbezogene Daten ohne Zustimmung des betroffenen Gesellschafters an Mitgesellschafter herauszugeben, nichtig. Grenzen des Auskunftsanspruchs sollen lediglich das aus § 242 BGB abgeleitete Missbrauchsverbot und das Schikaneverbot des § 226 BGB setzen.606) 422 Zur Passivlegitimation vertritt die Rechtsprechung ebenfalls einen denkbar weiten Ansatz. Neben der Gesellschaft soll sich der Anspruch auch gegen die geschäftsführenden Organe (insbesondere die Komplementärin), einen etwaigen Treuhänder sowie jeden anderen Mitgesellschafter richten, der die Auskunft unschwer erteilen kann.607) Für die extern verwaltete GmbH & Co. Investment-KG liegt es in der Konsequenz der Rechtsprechung, auch diese als Anspruchsgegner anzusehen, sofern sie über die entsprechenden Informationen und/oder Daten verfügt. 423 Die Rechtsprechung zum Anspruch auf Mitteilung der Namen und der Anschriften der Mitgesellschafter ist auf vielfache Kritik gestoßen.608) Es gibt bisher jedoch keine Anhaltpunkte dafür, dass sich die Rechtsprechung dieser Kritik gegenüber aufgeschlossen zeigen und auf einen restriktiveren Pfad einschwenken könnte. 424 Der Streitwert der Auskunftsklage ist nach § 3 ZPO zu schätzen. Liegt der begehrten Auskunft ein Leistungsanspruch zugrunde, ist dessen Wert Ausgangspunkt der Schätzung. In einem zweiten Schritt ist ein Bruchteil anzusetzen (üblicherweise 1/4 bis 1/10). Damit wird dem Unterschied zwischen Auskunftsanspruch und Leistungsanspruch Rechnung getragen. Dient der Auskunftsanspruch – wie häufig – der Vorbereitung einer Gesellschafterversammlung, ist der Wert der Einlage des Kommanditisten Ausgangspunkt der Schätzung, nicht der Wert des Aufwands, den die Auskunftserteilung bei der Gesellschaft verursacht bzw. verursachen würde.609) 2. Auskünfte zum Jahresabschluss und sonstige Aufklärungen 425 Auskünfte zum Jahresabschluss und sonstige Aufklärungen kann der Kommanditist nach den Regeln des § 166 HGB verlangen.610) Insoweit gelten in der GmbH & Co. Investment-KG und der GmbH & Co. KG (Publikums___________ 606) BGH NJW 2011, 921 = ZIP 2011, 322; zur Kostenübernahme durch den Prozessbevollmächtigten als Indiz für den Rechtsmissbrauch des Anlegers einer Fondsgesellschaft OLG München NZG 2019, 577. 607) BGH NZG 2015, 269 = ZIP 2015, 319. 608) Vgl. Priester, ZIP 2011, 697; Schürnbrand, ZGR 2014, 256, 264 ff.; Nast, NZG 2020, 826; MünchHdB. GesR Bd. 7/Siegmann, § 78 Rn. 12 m. w. N. 609) BGH ZIP 2016, 70. 610) Vgl. hierzu Kapitel B V. Rn. 241 ff. (Hahn). Zum außerordentlichen Prüfungsrecht des Kommanditisten eines Immobilienfonds in der Rechtsform der GmbH & Co. KG OLG München ZIP 2017, 1112.

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KG) keine Besonderheiten. Die Vorschriften zur aktienrechtlichen Sonderprüfung (§ 142 AktG) finden keine Anwendung.611) 3. Widerspruchsrechte und Zustimmungsvorbehalte Bei außergewöhnlichen Geschäften steht den Kommanditisten das Wider- 426 spruchsrecht nach § 164 HGB zu, sofern es nicht durch Regelungen im Gesellschaftsvertrag eingeschränkt oder ganz ausgeschlossen ist.612) Die Abgrenzung zwischen gewöhnlichen und außergewöhnlichen Geschäften ist schwierig und eine häufig streitanfällige Einzelfallentscheidung.613) Streitig ist, ob der Kommanditist bei Verletzung des Widerspruchsrechts 427 und/oder Missachtung eines Zustimmungsvorbehalts einen Unterlassungsanspruch geltend machen kann614) und wenn ja, ob dies aus eigenem Recht615) oder lediglich unter den Voraussetzungen der actio pro socio616) möglich ist. Richtigerweise sind Unterlassungsansprüche nur in solchen Ausnahmefällen anzuerkennen, in denen die innergesellschaftliche, aus Gesetz und Gesellschaftsvertrag abzuleitende Kompetenzordnung unangetastet bleibt, sowie in solchen Fällen, in denen die Kompetenzordnung als solche (inzident) im Streit steht. V. Beschlussmängelstreitigkeiten Für Beschlussmängelstreitigkeiten gelten im Ausgangspunkt die nach dem 428 Gesetz für die einfache KG vorgesehenen Regeln. Beschlussmängel können daher nur im Wege der allgemeinen Feststellungsklage geltend gemacht werden, die auf Feststellung der Nichtigkeit oder auf Feststellung des Zustandekommens eines bestimmten Beschlusses gerichtet ist („Beschlussmängel-Feststellungsklage“). Sonderregeln für Gesellschaften in der Rechtsform der GmbH & Co. Investment-KG und der GmbH & Co. KG (PublikumsKG) sieht das Gesetz bisher nicht vor.617) Nach der Rechtsprechung und ___________ 611) OLG Hamm BeckRS 2013, 03210. 612) Das Widerspruchsrecht des § 164 HGB ist in der GmbH & Co. Investment-KG und der GmbH & Co. KG (Publikums-KG) dispositiv. Vgl. MünchKomm-HGB/Grunewald, § 164 Rn. 10. 613) Zur Abgrenzung MünchHdB. GesR Bd. 2/Scheel, § 7 Rn. 51. Weitere Beispiele bei MünchKomm-HGB/Grunewald, § 164 Rn. 9. 614) Ablehnend BGHZ 76, 160, 167 f. Zurückhaltend auch Oetker/Oetker, HGB, § 164 Rn. 66. 615) MünchHdB. GesR Bd. 2/Scheel, § 7 Rn. 58. 616) MünchKomm-HGB/Grunewald, § 164 Rn. 3 ff. 617) Vgl. nunmehr allerdings die im Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts (MoPeG) vorgesehenen Regelungen, mit denen der Gesetzgeber Vorschläge aus dem „Mauracher Entwurf für ein Gesetz zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts“aufgreift. Zu diesen Vorschlägen Otte, ZIP 2020, 1743 ff. De lege lata eine Übertragung des aktienrechtlichen Systems der Beschlussmängelklagen ablehnend BGH NJW 1995, 1218 f. = ZIP 1995, 460.

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aufgrund der Rechtspraxis ergeben sich jedoch Besonderheiten in zweierlei Hinsicht: x

Punktuelle Modifikationen der für die einfache KG mit überschaubarem Gesellschafterkreis konzipierten gesetzlichen Regeln sind bei Gesellschaften mit einem zahlenmäßig großen Gesellschafterkreis möglich und verbreitet. Methodisch erfolgt die Umsetzung im Wege der Auslegung des Gesellschaftsvertrages, der analogen Anwendung aktienrechtlicher Vorschriften oder der offenen Rechtsfortbildung.

x

Gesellschaftsverträge geschlossener Fonds in der Rechtsform GmbH & Co. Investment-KG und der GmbH & Co. KG (Publikums-KG) sehen üblicherweise eigene vertragliche Regeln zu den formellen und materiellen Voraussetzungen von Gesellschafterbeschlüssen sowie zur rechtlichen Durchsetzung etwaiger Beschlussmängel vor. Diese Gestaltungspraxis ist in der Rechtsprechung anerkannt und in weitem Umfang zulässig.

1. Parteien und andere Verfahrensbeteiligte, Feststellungsinteresse a) Kläger 429 Kläger einer Beschlussmängel-Feststellungsklage können sein: jeder Gesellschafter, die einzelnen Geschäftsführer der Komplementärin sowie die Mitglieder des Beirats. Klägerin kann zudem die Gesellschaft selbst sein. Bei der extern verwalteten GmbH & Co. Investment-KG kommt darüber hinaus die externe Verwaltungsgesellschaft als Klägerin in Betracht. 430 Die Geschäftsführung der Komplementärin als Organ kommt in Ermangelung einer den aktienrechtlichen Vorschriften (§ 245 Nr. 4 AktG) entsprechenden Regelung nicht in Betracht. Gleiches gilt für einen etwaigen Beirat als Organ. 431 Im Treuhandmodell ergänzen die Treugeber den Kreis der möglichen Kläger einer Beschlussmängel-Feststellungsklage.618) 432 Mehrere klagende Gesellschafter bzw. Treugeber sind keine notwendigen Streitgenossen (§ 62 ZPO).619) Liegen mehrere Klagen vor, können diese jedoch unter den Voraussetzungen des § 147 ZPO miteinander verbunden werden. b) Beklagte aa) Gesellschafter als Beklagte 433 Als Beklagte kommen zunächst einzelne oder sämtliche Gesellschafter in Betracht. In Publikumsgesellschaften ist die Klageführung gegen einzelne Gesellschafter jedoch nur selten zielführend, die Klageführung gegen sämtliche ___________ 618) OLG Köln NJW-RR 1997, 487. 619) BGH NJW-RR 2011, 115, 116 f. m. w. N.

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Gesellschafter hingegen nicht oder allenfalls mit sehr hohem Aufwand durchführbar. bb) Gesellschaft als Beklagte Neben den Gesellschaftern kommt die Gesellschaft als Beklagte einer Be- 434 schlussmängel-Feststellungsklage in Betracht.620) Gesellschaftsverträge geschlossener Fonds in der Rechtsform GmbH & Co. Investment-KG und der GmbH & Co. KG (Publikums-KG) sehen diesbezüglich fast durchgehend vor, dass Beschlussmängelklagen zumindest auch gegen die Gesellschaft gerichtet werden können.621) Sofern der Gesellschaftsvertrag keine abweichende Regelung vorsieht, folgt die 435 Vertretung der Gesellschaft allgemeinen Regeln.622) Die Vertretungsbefugnis liegt damit bei der Geschäftsführung. Klagt ein Mitglied der Geschäftsführung oder betrifft der Streit die Geschäftsführung insgesamt oder eines oder mehrere ihrer Mitglieder, sieht der Gesellschaftsvertrag häufig die Vertretung durch den Beirat vor. Existiert eine solche Regelung nicht, ist an die Bestellung eines besonderen Vertreters durch die Gesellschafterversammlung oder die gerichtliche Bestellung eines Prozesspflegers zu denken (§ 57 ZPO). c) Nebenintervention Eine Nebenintervention ist unter den Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 ZPO 436 möglich. d) Feststellungsinteresse Der Kläger muss nach allgemeinen Regeln ein Feststellungsinteresse i. S. d. 437 § 256 ZPO nachweisen. Besonderheiten ergeben sich insoweit nicht. 2. Klageerhebung, Anträge und Verfahren a) Klageerhebung und Anträge Die Klageerhebung wird durch Schriftsatz an das zuständige Gericht eingeleitet. 438 aa) Zuständigkeit der Gerichte Die Zuständigkeit der Gerichte ist nach allgemeinen Regeln zu bestimmen.623) ___________ 620) Hiervon zu trennen ist die Frage der Passivlegitimation der Gesellschaft. Dazu unten unter Rn. 461 f. 621) Zur Zulässigkeit derartiger Vertragsklauseln BGH NZG 2011, 544 Rn. 19 = ZIP 2011, 806; BGH NZG 2009, 707 Rn. 25 = ZIP 2009, 1158; BGH NJW 2006, 2854 = ZIP 2006, 1579. 622) Dazu oben Rn. 413 ff. 623) Dazu oben Rn. 417 ff.

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bb) Anträge 440 Der Klageantrag lautet in der Regel auf Feststellung der Nichtigkeit des im Antrag konkret zu bezeichnenden Beschlusses.624) 441 Wendet sich die Klage gegen einen ablehnenden Beschluss, lautet der Klageantrag auf Feststellung des Zustandekommens des konkret zu bezeichnenden Beschlusses. Gleiches gilt, wenn das Beschlussergebnis aus anderen Gründen positiv festgestellt werden soll. Eines vorangehenden Antrags auf Aufhebung des ablehnenden Beschlusses bedarf es nicht. cc) Zustellung 442 Für die Zustellung der Klage gelten die allgemeinen Regeln. b) Verfahrensgrundsätze aa) Dispositionsmaxime 443 Für das Verfahren gilt die Dispositionsmaxime, d. h. die Parteien haben den Streitstoff und die Verhandlung über den Streitgegenstand selbst in der Hand. bb) Darlegungs- und Beweislast 444 Die Darlegungs- und Beweislast folgt allgemeinen zivilprozessualen Regeln. Jede Partei hat die ihr günstigen Tatsachen vorzutragen und zu beweisen, die ihren Anspruch stützen. 445 Verfahrensfehler müssen konkret dargelegt und unter Beweis gestellt werden. Die Kausalität eines Verfahrensfehlers für das Zustandekommen eines auf dieser Basis gefassten Beschlusses wird hingegen vermutet, d. h. es obliegt jener Partei, die sich auf die Wirksamkeit des Beschlusses beruft, die Vermutung zu widerlegen. 446 Bei Inhaltsfehlern gelten die gleichen Grundsätze, d. h. der Kläger hat die Tatsachen darzulegen und zu beweisen, aus denen sich die Nichtigkeit oder Wirksamkeit des Beschlusses ergibt. Im Einzelfall kann freilich zweifelhaft sein, ob es bei bestimmten Tatbestandsmerkmalen noch um ein Angriffsoder schon um ein Verteidigungsmittel im Sinne der zivilprozessualen Normentheorie geht. Insoweit kann auf die Diskussion zur Darlegungs- und Beweislast bei der aktienrechtlichen Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage verwiesen werden.625) 447 Beweiserleichterungen gewähren die Gerichte häufig unter dem Aspekt der Tatsachennähe.626) ___________ 624) Muster für eine auf Feststellung der Beschlussnichtigkeit gerichteten Klage bei Lutz, Der Gesellschafterstreit, Rn. 881. 625) Dazu oben Kapitel A I Rn. 30 (Zwissler). 626) Hierzu allgemein BGHZ 167, 204, 212; BGHZ 103, 184, 196 f.

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c) Verfahrensbeendigung Das Gericht entscheidet durch Urteil. Möglich und in der Praxis nicht selten 448 anzutreffen ist auch die Verfahrensbeendigung durch Vergleich. Weniger bedeutsam sind hingegen die Verfahrensbeendigung durch Anerkenntnis oder Klagerücknahme. aa) Urteil Das der Klage auf Feststellung der Nichtigkeit eines Beschlusses stattgeben- 449 de Urteil wirkt grundsätzlich nur inter partes. Eine Gestaltungswirkung wie bei der aktienrechtlichen Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage entfaltet das Feststellungsurteil nicht. Gleiches gilt für das klageabweisende Urteil. Neue Klagen sind im Rahmen der allgemeinen gesetzlichen Regeln und etwaigen Bestimmungen des Gesellschaftsvertrages weiterhin möglich. Der Gesellschaftsvertrag kann vorsehen, dass die Gesellschafter (gesellschafts- 450 vertraglich bzw. schuldrechtlich) verpflichtet sind, ein für oder gegen die Gesellschaft ergangenes Urteil anzuerkennen und/oder gegen sich gelten zu lassen. Nach der Rechtsprechung ist davon bereits dann auszugehen, wenn der Gesellschaftsvertrag bestimmt, dass Beschlussmängelstreitigkeiten (ausschließlich) mit der Gesellschaft auszutragen sind.627) Das stattgebende Urteil stellt die Nichtigkeit des Beschlusses fest und wirkt 451 damit grundsätzlich ex tunc. Im Einzelfall kann allerdings die Anwendung der Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft dazu führen, dass die Wirkungen lediglich ex nunc eintreten. Für das der Klage auf Feststellung des Zustandekommens eines Beschlusses 452 stattgebende Urteil gelten die vorstehend dargestellten Grundsätze entsprechend. bb) Anerkenntnis und Klagerücknahme Eine Verfahrensbeendigung durch Anerkenntnis oder (auf Klägerseite) 453 durch Klagerücknahme ist möglich. Sieht der Gesellschaftsvertrag allerdings vor, dass Beschlussmängelstreitigkeiten im Verhältnis zur Gesellschaft auszutragen sind, unterliegt das Vertretungsorgan der Gesellschaft im Innenverhältnis besonderen Bindungen. Wie bei der Aktiengesellschaft darf sich das Vertretungsorgan auch hier nicht ohne weiteres über die Willensbildung der Gesellschafterversammlung hinwegsetzen.628) Ein in der Folge des prozessualen Anerkenntnisses ergehendes Anerkenntnisurteil (§ 307 ZPO) hat die gleiche Rechtskraftwirkung wie das streitig ergangene Endurteil. ___________ 627) Vgl. BGH NJW 2006, 2854, 2855 Rn. 15 = ZIP 2006, 1579; BGH NJW-RR 1990, 474 = ZIP 1990, 469. Vgl. auch MünchHdb. GesR Bd. 7/Siegmann, § 78 Rn. 26. 628) Zur Paralleldiskussion bei der aktienrechtlichen Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage oben Kapitel A I Rn. 36 (Zwissler).

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cc) Vergleich 454 Beschlussmängel-Feststellungsklagen sind nach allgemeinen Regeln einem Vergleich zugänglich. Sieht der Gesellschaftsvertrag vor, dass Beschlussmängelstreitigkeiten im Verhältnis zur Gesellschaft auszutragen und die Gesellschafter an das Ergebnis gebunden sind,629) kommt dem Vergleich faktisch und zumindest im Innenverhältnis der Gesellschafter untereinander und zur Gesellschaft Gestaltungswirkung zu. d) Kosten und Streitwert aa) Kosten 455 Die Kosten des Feststellungsstreits werden nach den allgemeinen Regeln, d. h. nach §§ 91 ff. ZPO getragen. Bezüglich der Kosten eines Nebenintervenienten gelten die §§ 101 Abs. 2, 100 ZPO. bb) Streitwertfestsetzung 456 Für die Streitwertfestsetzung ist § 247 Abs. 1 AktG maßgeblich.630) Die Vorschrift ist bei Publikumsgesellschaften analog anzuwenden.631) e) Rechtsmittel 457 Ist Ausgangsgericht das Landgericht, so steht der im Beschlussmängel-Feststellungverfahren unterlegenen Partei gegen das Urteil das Rechtsmittel der Berufung zum Oberlandesgericht (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) und hierauf das der Revision zum BGH offen, letzteres jedoch nur dann, wenn die Revision durch das Berufungsgericht zugelassen wurde (§ 543 Abs. 1 ZPO). 3. Begründetheit 458 Die Klage auf Feststellung der Nichtigkeit eines Beschlusses ist begründet, wenn der Klagepartei die Aktivlegitimation zur Geltendmachung von Beschlussmängeln zusteht, der Beklagte bzw. die Beklagten entsprechend passivlegitimiert sind und ein formeller oder materieller Beschlussmangel vorliegt, der nach den Bestimmungen des Gesellschaftsvertrages nicht präkludiert ist und bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung nicht durch Bestätigungsbeschluss beseitigt bzw. geheilt wurde.

___________ 629) Zu entsprechenden Gestaltungen bereits oben Rn. 412. 630) Zu den Einzelheiten der Streitwertfestsetzung nach § 247 Abs. 1 AktG siehe oben Kapitel A I. Rn. 40 ff. (Zwissler). 631) Vgl. OLG Bremen NZG 2011, 312. Zustimmend Baumbach/Hopt/Roth, HGB, Anh. zu § 177a Rn. 76; Oetker/Oetker, HGB, § 161 Rn. 150.

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Für die Klage auf Feststellung des Zustandekommens eines Beschlusses gilt 459 Entsprechendes, wobei es hier naturgemäß auf die Abwesenheit von Beschlussmängeln ankommt. a) Aktivlegitimation Die Aktivlegitimation für die Geltendmachung von Beschlussmängeln steht 460 zunächst den Gesellschaftern zu, darüber hinaus aber auch der Gesellschaft und jeder anderen Rechtsperson, die ein Feststellungsinteresse i. S. d. § 256 ZPO nachweisen kann.632) b) Passivlegitimation Die Passivlegitimation ist an sich für alle Gesellschafter gegeben. Betrifft der 461 Streit jedoch den Inhalt eines Beschlusses, so sind nur jene Gesellschafter passivlegitimiert, die pflichtwidrig für bzw. gegen den Beschluss gestimmt haben. Gleiches gilt, wenn die Wirksamkeit des Beschlusses von der Zustimmung einzelner oder mehrerer Gesellschafter abhängig ist.633) Durch Gesellschaftsvertrag oder Beschluss kann die Passivlegitimation der 462 Gesellschaft zugewiesen werden. Dies kann als Ergänzung zur Passivlegitimation der Gesellschafter und den diesen gleichgestellten Personen oder mit verdrängender Wirkung erfolgen.634) c) Materiell-rechtliche Ausschlussfristen Eine materiell-rechtlich wirkende Frist für die Geltendmachung von Beschluss- 463 mängeln sieht das Gesetz nicht vor.635) Es kann jedoch nach allgemeinen Regeln Verwirkung eintreten.636) Üblich sind gesellschaftsvertragliche Regeln, nach denen Beschlussmängel 464 nur innerhalb einer bestimmten Frist geltend gemacht werden können.637) In ___________ 632) Abweichend MünchHdb. GesR Bd. 7/Siegmann, § 78 Rn. 24, der zur Aktivlegitimation der Gesellschaft und der Treugeberkommanditisten ausführt, bei diesen müsse die Aktivlegitimation im Gesellschaftsvertrag vorgesehen sein. § 245 Nr. 1 AktG findet keine Anwendung, d. h. die Mitwirkung an der Beschlussfassung ist vorbehaltlich einer abweichenden gesellschaftsvertraglichen Regelung keine Voraussetzung der Aktivlegitimation. Vgl. LG Stuttgart BeckRS 2020, 21301. 633) BGH ZIP 2009, 2289, 2290. 634) Zu entsprechenden Gestaltungen bereits oben Rn. 412. 635) Für eine analoge Anwendung des § 246 Abs. 1 AktG MünchKomm-HGB/Grunewald, § 161 Rn. 148 m. w. N. 636) BGH NJW 1999, 3113 = ZIP 1999, 1391. 637) Üblich sind in Anlehnung an § 246 Abs. 1 AktG Fristen von einem Monat. Kürzere Fristen werden in der Rechtsprechung regelmäßig beanstandet und auf eine angemessene Frist korrigiert. Vgl. BGH NJW 2011, 2648 Rn. 15 = ZIP 2011, 1508; BGH NJW 1995, 1218 = ZIP 1995, 460. Zur Präklusion eines verspätet vorgetragenen Beschlussmangels LG Stuttgart BeckRS 2020, 21301 Rn. 80 ff.

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der Regel handelt es sich dabei um materiell-rechtliche Ausschlussfristen. In diesen Fällen ist die Klage als unbegründet abzuweisen, wenn die Frist nicht eingehalten wurde. Auslegungsfrage ist, ob die gesellschaftsvertragliche Ausschlussfrist auch dahingehend zu verstehen ist, dass auch der konkrete Mangel innerhalb der bestimmten Frist geltend zu machen ist. Im Zweifel sind gesellschaftsvertragliche Regeln zu Ausschlussfristen eng auszulegen. 465 Unzulässig sind nach der Rechtsprechung Ausschlussfristen, die auf die Heilung des Mangels einer fehlenden Zustimmung durch betroffene Gesellschafter abzielen.638) d) Beschlussmängel 466 Beschlussmangel ist jeder Verstoß gegen das Gesetz, die guten Sitten oder den Gesellschaftsvertrag. Entsprechend der allgemeinen Regel führt auch bei geschlossenen Fonds in der Rechtsform der GmbH & Co. InvestmentKG und der GmbH & Co. KG (Publikums-KG) grundsätzlich jeder Verstoß zur Nichtigkeit des Beschlusses. aa) Kasuistik der Nichtigkeitsgründe 467 Die Kasuistik der in Betracht zu ziehenden Nichtigkeitsgründe ist umfangreich. Üblich ist die Unterscheidung zwischen Verfahrens- und Inhaltsfehlern.639) 468 Zu den (vermeintlichen oder tatsächlichen) Verfahrensfehlern, die Gegenstand von Beschlussmängel-Feststellungsklagen waren, gehörten zuletzt: x

fehlende Ladung einzelner Gesellschafter;640)

x

Unwirksamkeit der Stimmabgabe aufgrund eines Stimmverbots;641)

x

Anwendung des Mehrheitsprinzips aufgrund gesellschaftsvertraglicher Mehrheitsklausel.642)

469 Zu den (vermeintlichen oder tatsächlichen) Inhaltsfehlern, die Gegenstand von Beschlussmängel-Feststellungsklagen oder Gegenstand von Leistungsklagen waren, bei denen die Beschlusswirksamkeit als Vorfrage zu prüfen war, gehörten zuletzt: x

Mängel des Jahresabschlusses (Rückstellungsbildung in Tochtergesellschaften);643)

___________ 638) BGHZ 203, 77 = ZIP 2014, 2231, 2234. 639) Diesem Systematisierungsschema folgend z. B. MünchKomm-HGB/Enzinger, § 119 Rn. 95 f.; speziell zur Publikums-KG aber mit abweichender Systematisierung Henssler/ Strohn/Servatius, Handelsgesetzbuch Anhang, Rn. 70 ff. 640) OLG Stuttgart NZG 2008, 26 (zur Publikums-GbR). 641) OLG München NZG 2009, 1267 (zur GbR). 642) BGHZ 170, 283 = ZIP 2007, 475 (zur GmbH & Co. KG); BGHZ 179, 13 (zur Schutzgemeinschafts-GbR); BGH NZG 2014, 1296 = ZIP 2014, 2231 (zur GmbH & Co. KG); BGH ZIP 2018, 2024 (zur Publikums-GmbH & Co. KG). 643) BGH DStR 2007, 494 = ZIP 2007, 475 (zur GmbH & Co. KG).

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D. Gesellschafterstreitigkeiten bei geschlossenen Fonds

x

Eingriff in die Mitgliedschaft durch Vertragsänderung, die den Ausschluss nicht sanierungswilliger Gesellschafter ermöglicht;644)

x

Ausschließung nicht sanierungswilliger Gesellschafter;645)

x

Zustimmung zur Übertragung von Geschäftsanteilen;646)

x

Änderung der gesellschaftsvertraglichen Voraussetzungen für die Einforderung von Einlagen;647)

x

Veräußerung wesentlicher Teile des Gesellschaftsvermögens.648)

bb) Ausnahmen von der Nichtigkeitsfolge Ausnahmen von der Nichtigkeitsfolge werden in der Rechtsprechung nur 470 sehr zurückhaltend anerkannt. Lediglich für Verfahrensfehler hat die Rechtsprechung angenommen, dass diese bei fehlender Relevanz unberücksichtigt bleiben können. Voraussetzung ist, dass das Abstimmungsergebnis von dem konkreten Beschlussmangel unbeeinflusst war.649) cc) Heilung und Wegfall von Nichtigkeitsgründen durch Bestätigungsbeschluss Regelungen zur Heilung von Beschlussmängeln kennen weder das KAGB 471 noch das HGB. Bestätigungsbeschlüsse, die rückwirkende Geltung beanspruchen, sollten in Anlehnung an die Regelung des § 244 AktG zumindest in Erwägung gezogen werden.650) VI. Geschäftsführungsmaßnahmen Streitigkeiten im Zusammenhang mit Geschäftsführungsmaßnahmen können 472 unterschiedliche Gestalt annehmen. Legt die Geschäftsführung bestimmte Maßnahmen der Gesellschafterversamm- 473 lung zur Entscheidung vor, münden etwaige Differenzen über die Rechtmäßigkeit der Maßnahme bzw. des Unterlassens der Maßnahme zunächst in einen Beschlussmängelstreit.651) Kommt es nicht zu einer Befassung der Gesellschafterversammlung oder will 474 sich die Geschäftsführung über das Gesellschaftervotum hinwegsetzen, stellt ___________ 644) BGH NJW 2010, 65 = ZIP 2009, 2289 (zur Publikums-GmbH & Co. OHG); BGH ZIP 2011, 768. 645) BGH NJW 2015, 995 (zur Publikums-GbR). 646) BGH NZG 2014, 1296 = ZIP 2014, 2231 (zur GmbH & Co. KG). 647) OLG München ZIP 2017, 679. 648) OLG Düsseldorf ZIP 2018, 72. 649) BGH NJW 1987, 1262, 1263 = ZIP 1987, 444. 650) Zu Bestätigungsbeschlüssen nach § 244 AktG oben Kapitel A I. Rn. 99 (Zwissler). 651) Dazu oben Rn. 428 ff.

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Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation

sich die Frage, ob und wem gegenüber dem Anleger bzw. Gesellschafter ein Unterlassungsanspruch zusteht und wie dieser prozessual durchzusetzen ist. 475 In der Rechtsprechung652) wurde ein Unterlassungsanspruch der nicht geschäftsführungsberechtigten Gesellschafter mit dem Argument verneint, ein solcher Anspruch würde die gesellschaftsvertraglich festgelegte Zuständigkeitsverteilung verletzen. Es sei auch nicht hinnehmbar, dem nicht geschäftsführungsbefugten Gesellschafter Einflussnahmen zu gestatten, für die am Ende die Komplementärin persönlich haften müsse. Der nicht geschäftsführende Gesellschafter sei daher auf einen etwaigen Schadensersatzanspruch der Gesellschaft zu verweisen, der dann allerdings auch im Wege der actio pro socio geltend gemacht werden könne.653) Das Schrifttum ist der Rechtsprechung überwiegend nicht gefolgt. Teilweise wird dem Kommanditisten ein Unterlassungsanspruch aus eigenem Recht zugebilligt,654) teilweise auf die actio pro socio verwiesen.655) 476 Bei der extern verwalteten GmbH & Co. Investment-KG ist zu beachten, dass hier weite Bereiche der Geschäftsführung auf die Verwaltungsgesellschaft übertragen sind, die nicht zwingend auch Gesellschafterin sein muss. Hinzu kommt, dass die Pflichten der Verwaltungsgesellschaft ihren Grund sehr häufig nicht im Gesellschaftsvertrag, sondern in dem gesondert abzuschließenden Bestellungsvertrag haben. Die Grundsätze der actio pro socio sind jedoch nur auf Sozialansprüche anwendbar, so dass die Geltendmachung von Unterlassungsansprüchen hier nicht auf gesellschaftsvertragliche Basis, sondern allenfalls auf eine drittschützende Wirkung des Bestellungsvertrages gestützt werden kann. VII. Entzug der Geschäftsführungsbefugnis geschäftsführender Gesellschafter, Ausschluss geschäftsführender Gesellschafter 477 Der Entzug der Geschäftsführungsbefugnis und der Ausschluss geschäftsführender Gesellschafter kommen wie bei der einfachen KG nur in Betracht, wenn ein wichtiger Grund vorliegt. Unabhängig davon sind Gesellschaftsverträge geschlossener Fonds in der Regel darum bemüht, die Stellung des geschäftsführenden Gesellschafters bestmöglich abzusichern.656)

___________ 652) BGHZ 76, 160, 167 f. 653) Der BGH (BGHZ 76, 160, 167 f.) gesteht aber zu, dass bei Vorliegen besonderer Umstände Ausnahmen möglich sind. 654) MünchHdB. GesR Bd. 2/Scheel, § 7 Rn. 59. 655) MünchKomm-HGB/Grunewald, § 164 Rn. 5. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu Rn. 427 m. w. N. 656) Der Entzug der Geschäftsführungsbefugnis und/oder der Vertretungsmacht muss bei Publikumsgesellschaften jedoch stets mit einfacher Mehrheit möglich sein. Vgl. BGHZ 102, 172 = ZIP 1988, 22 (zur Publikums-GbR). Vgl. hierzu MünchHdB. GesR Bd. 7/ Siegmann, § 78 Rn. 32 m. w. N.

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D. Gesellschafterstreitigkeiten bei geschlossenen Fonds

Sowohl der Entzug der Geschäftsführungsbefugnis als auch der Ausschluss 478 geschäftsführender Gesellschafter erfolgen in der Publikumsgesellschaft durch Mehrheitsbeschluss. Entsprechende Streitigkeiten manifestieren sich dementsprechend in Beschlussmängelstreitigkeiten. Die Frage, ob daneben die im Handelsgesetzbuch (HGB) für den Entzug der Geschäftsführungsbefugnis und/oder der Vertretungsbefugnis oder den Ausschluss von Gesellschaftern vorgesehenen Gestaltungsklagen in Betracht kommen, spielt in der Praxis kaum eine Rolle.657) Bei geschlossenen Fonds in der Rechtsform der GmbH & Co. Investment- 479 KG ist zu beachten, dass die Geschäftsführung den Anforderungen des § 153 KAGB genügen muss. Dies kann bei der Beurteilung des wichtigen Grundes eine Rolle spielen, wenn der Entzug der Geschäftsführungsbefugnis oder der Ausschluss dazu führen würde, dass die Gesellschaft nicht mehr über ein Geschäftsführungsorgan verfügt, das den gesetzlichen Anforderungen entspricht. Umgekehrt liegt ein wichtiger Grund für den Entzug der Geschäftsführungsbefugnis und den Ausschluss von geschäftsführenden Gesellschaftern ohne weiteres vor, wenn die BaFin die Abberufung nach § 153 Abs. 5 KAGB verlangt und ein etwaiges Rechtsmittel gegen dieses Verlangen keine Aussicht auf kurzfristigen Erfolg hat. Bei geschlossenen Fonds in der Rechtsform der GmbH & Co. KG (Publi- 480 kums-KG) beruhen Streitigkeiten über den Entzug der Geschäftsführungsbefugnis oder den Ausschluss des geschäftsführenden Gesellschafters häufig auf Unzufriedenheit mit dem Initiator und/oder den Prospektverantwortlichen, die häufig hinter dem geschäftsführenden Gesellschafter stehen. An den Maßstäben, die an die Wirksamkeit entsprechender Beschlüsse anzulegen sind, ändert dies allerdings nichts. VIII. Organhaftungsstreitigkeiten In Bezug auf Organhaftungsstreitigkeiten gelten keine Besonderheiten.658)

481

IX. Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Ausscheiden von Gesellschaftern Gesellschaftsverträge geschlossener Fonds sehen typischerweise eine feste 482 Laufzeit und eine Regelung vor, nach der eine Kündigung der Beteiligung durch den Anleger und/oder den Gesellschafter nur aus wichtigem Grund möglich ist.659) Üblich sind darüber hinaus Regelungen, die bei Vorliegen be___________ 657) Zu diesen Gestaltungsklagen oben Kapitel B VI. Rn. 260 ff., 263 (Hahn) und Kapitel C II. Rn. 348 ff. (Giehrt); MünchHdB. GesR Bd. 7/Siegmann, § 78 Rn. 30 ff. 658) Zu Organhaftungsstreitigkeiten in der GmbH & Co. KG oben Kapitel B VI. Rn. 260 ff. (Hahn). 659) Für die GmbH & Co. Investment-KG schließt § 161 Abs. 1 KAGB das ordentliche Kündigungsrecht von vornherein aus. Vgl. hierzu bereits oben Rn. 393.

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Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation

stimmter (nicht notwendig wichtiger) Gründe den Ausschluss des Anlegers bzw. Gesellschafters ermöglichen. Typische Ausschlussgründe sind Todesfälle und Insolvenzen. Schließlich sind auch Gestaltungen verbreitet, die einen Ausschluss von Anlegern und Gesellschaftern aus wichtigem Grund durch Mehrheitsbeschluss zulassen. 483 Streitigkeiten ergeben sich in der Praxis vor allem im Hinblick auf das „ob“ des Ausscheidens660) und die Höhe der Abfindung als der wohl wichtigsten Rechtsfolge des Ausscheidens. 484 Streitigkeiten über die Wirksamkeit einer Kündigung sind im Rahmen einer allgemeinen Feststellungsklage auszutragen. Es gelten insoweit keine Besonderheiten. 485 Streitigkeiten über die Höhe der Abfindung sind in der Regel im Rahmen einer gegen die Gesellschaft gerichteten Leistungsklage auszutragen. Für die Bestimmung der Höhe der Abfindung verweisen Gesellschaftsverträge jedoch häufig auf einzuholende Gutachten oder Jahresabschlüsse. Insoweit kann gesellschaftsvertraglich z. B. die vorrangige Einholung von Schiedsgutachten vorgesehen sein. Ist der anspruchsberechtigte Anleger bzw. Gesellschafter für die Bezifferung seines Abfindungsanspruchs auf Informationen der Gesellschaft angewiesen, kann eine Stufenklage in Betracht kommen.661) X. Einstweiliger Rechtsschutz 486 Zulässigkeit und Reichweite des einstweiligen Rechtsschutzes richten sich nach allgemeinen Regeln.662) E. Der Gerichtsstand im internationalen Gesellschafterstreit I. Einführung 1. Bedeutung und Problematik des Gerichtsstands im internationalen Gesellschafterstreit*) Helge Großerichter

487 Die Frage nach dem (potentiellen) Gerichtsstand im Streitfall muss bei der Betrachtung gesellschaftsrechtlicher Fragen in einem internationalen Kontext aus mehreren Gründen am Ausgangspunkt stehen: Zunächst ist sie der logische Ansatz für die Prüfung der materiellen Rechtslage, da jede Gerichts___________ 660) Zu nennen sind hier insbesondere die Fälle des Ausscheidens bei Verweigerung der Teilnahme an einer Sanierung. Vgl. hierzu BGH ZIP 2015, 1626 (zur Publikums-GbR) und BGHZ 183, 1 = ZIP 2009, 2289 (zur Publikums-GmbH & Co. OHG). 661) BGH NZG 2016, 422, 520 = ZIP 2016, 523. 662) Zum einstweilgen Rechtsschutz des Anlegers gegen einen Ausschließungsbeschluss OLG Hamm ZIP 2018, 729. *) Der herzliche Dank des Verfassers gebührt Frau Assesorin Donja Härtle für die wertvollen Recherchen und Vorarbeiten, die für Entstehung und Aktualisierung des Beitrags wesentliche Bedeutung hatten.

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E. Der Gerichtsstand im internationalen Gesellschafterstreit

barkeit nach ihrem Internationalen Privatrecht das auf die Gesellschaft anwendbare Recht bestimmt. Zum zweiten prädestiniert der Gerichtsstand die tatsächlichen Möglichkeiten prozessualer Durchsetzung, die entscheidend von Faktoren wie richterlicher Kompetenz, Kosten und insbesondere Geschwindigkeit des Verfahrens abhängen. Schließlich muss der Gerichtsstand vom Ende her gedacht gewährleisten, dass das in ihm erstrittene Urteil auch vollstreckt werden kann. Die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit(en) ist daher die maßgebliche, das praktische Schicksal des Gesellschafterstreits häufig vorbestimmende Weichenstellung, die bereits in der Beratung im Vorfeld bis hin zur Gesellschaftsgründung und Wahl der Gesellschaftsform mit zu bedenken ist. Die Normierung der internationalen Zuständigkeit für gesellschaftsrecht- 488 liche Streitigkeiten, die sich heute maßgeblich in den europäischen Instrumenten findet, ist vor einigen Jahren relativ unvermittelt Gegenstand zahlreicher Gerichtsentscheidungen geworden und in den Fokus wissenschaftlicher Auseinandersetzung gerückt.663) Dies ist nur zu einem Teil darauf zurückzuführen, dass sich die Zahl der gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten mit Auslandsbezug spürbar erhöht hat. Ein weiterer wesentlicher Grund inhaltlicher Natur liegt darin, dass die Regelung eine besondere Problematik mit erheblichem Streitpotenzial aufweist: Sie ist zweigespalten in ein „allgemeines“ Zuständigkeitsregime, in welchem insbesondere eine freie Wahl des Gerichtsstands möglich ist, und in eine ausschließliche Zuständigkeit am Sitz der Gesellschaft, wenn die Klage die Gültigkeit der Gesellschaft oder eines Organbeschlusses zum Gegenstand hat. Damit können alle Streitigkeiten unter Gesellschaftern oder Gesellschaftergruppen, die im Wege einer Klage mit einem derartigen Klagegegenstand ausgetragen werden (können), mit allen damit verbundenen Folgen unter diese Regelung fallen. Beispiel (BGH, Urt. v. 12.7.2011 – II ZR 28/10664)): Der Mehrheitsgesellschafter einer englischen private company limited by shares („Limited“), die als Komplementärin einer deutschen KG fungierte, hatte seinen Mitgesellschafter in dessen Abwesenheit durch Beschluss der Gesellschafterversammlung vom bis dahin gemeinsam ausgeübten Amt des Geschäftsführers (director) abberufen und zugleich den Abschluss eines Dienstvertrages über seine nunmehr alleinige Unternehmensführertätigkeit beschließen lassen. Der abberufene director und Minderheitsgesellschafter setzte sich mit einer Klage auf Nichtigerklärung dieses Beschlusses zur Wehr, die indes von den deutschen Gerichten wegen Vorliegens einer ausschließlichen Zuständigkeit der englischen Gerichtsbarkeit nach Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO als unzulässig abgewiesen wurde. ___________ 663) Siehe hierzu Mankowski, in: Festschrift Simotta, 2012, S. 351 ff. 664) BGHZ 190, 242 = ZIP 2011, 1837 = BB 2011, 2828 Anm. Kieninger = GmbHR 2011, 1094 Anm. Werner. Siehe zur (bestätigten) Entscheidung der Vorinstanz (OLG Frankfurt/M., v. 3.2.2010, ZIP 2010, 800, 802) die Anm. von Mankowski ebendort; Kindler, NZG 2010, 576 ff.; Schaper, IPRax 2010, 513 ff.

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Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation

(Siehe für ein weiteres Beispiel – Spruchverfahren über die Höhe der Abfindung nach einem „Squeeze-out“ – jüngst EuGH, Urt. v. 7.3.2018 – C 560/16 – E.ON Czech Holding AG ./. DČdouch u. a.665) unten Rn. 513). 489 Der Fall macht deutlich, dass die Gesellschafter in einem „internationalen“ Streitfall – ebenso wie ein Berater bereits im Vorfeld – zunächst zu prüfen haben, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen ein vorhandener oder denkbarer Streit in den sachlichen Anwendungsbereich der ausschließlichen Zuständigkeit fällt und damit ein zwingender Gerichtsstand im Ausland im Raum steht. Nimmt man hinzu, dass die sachliche Reichweite dieses Gerichtsstands noch in relativ hohem Maße ungeklärt ist, so wird seine Bedeutung bei der Bewertung von Prozessrisiken wie auch – im Hinblick auf die Missbrauchs- und Blockademöglichkeiten entsprechend konstruierter Klagen – bereits für die Beratung im Stadium der Gesellschaftsgründung offensichtlich. 2. Gegenstand und Gang der Darstellung 490 Die „weichenstellende“ Bedeutung der Gerichtsstandsfrage im Allgemeinen und die soeben dargestellte besondere Problematik der Regelung geben Anlass, das Thema des Gerichtsstands im internationalen Gesellschafterstreit in diesem Beitrag herauszuheben und vertieft darzustellen.666) Dabei sind – wie der soeben dargestellte Fall des BGH ebenfalls deutlich macht – beide Teile des Terminus „internationaler Gesellschafterstreit“ weit zu verstehen: Unter „Gesellschafterstreit“ sind, um die im internationalen Kontext potentiell relevanten Vorschriften und Gestaltungen zu erfassen, nicht nur die direkte prozessuale Auseinandersetzung zwischen Gesellschaftern als Prozessparteien zu fassen, sondern auch und gerade Klagen gegen die Gesellschaft mit den soeben dargestellten Gegenständen, die als Mittel in einem Gesellschafterstreit eingesetzt werden. Und ein „internationaler“ Gesellschafterstreit kann auch dann gegeben sein, wenn sich sämtliche (potentielle) Parteien tatsächlich in Deutschland befinden und lediglich ein rechtlicher Auslandsbezug darin besteht, dass eine ausländische Gesellschaftsform gewählt wurde. Streitigkeiten in sog. „Scheinauslandsgesellschaften“ lösen derzeit bei englischen Gesellschaftsformen667) gerade wegen ihrer ungewissen Zukunft (siehe sogleich Rn. 492, 495) erheblichen Beratungs- und Vertretungsbedarf ___________ 665) BeckRS 2018, 2500 = EuZW 2018, 811 m. Anm. Schmidt, = LMK 2018, 405156 m. Anm. Mankowski und EWiR 2018, 389 f. (Meilicke/Lochner). Siehe dazu ferner Kumpan/ Pauschinger, EuZW 2019, 357; Mansel/Thorn/Wagner, IPRax 2019, 85, 104. 666) Siehe für eine Übersicht der internationalen Aspekte des Gesellschafterstreits insgesamt etwa Willemer, in: Mehrbrey, § 2 D Rn. 89 – 109. 667) Siehe zur „Limited“, deren Stern allerdings bereits seit einiger Zeit im Sinken begriffen war, Triebel/von Hase/Melerski, Die Limited in Deutschland, 2006; Just, Die englische Limited in der Praxis, 4. Aufl. 2012. Zu der als Organisationsform von Freiberuflern genutzten LLP Schnittker/Bank, Die LLP in der Praxis, 2008.

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E. Der Gerichtsstand im internationalen Gesellschafterstreit

aus (siehe dazu unten Rn. 530, 548), spielen aber auch im Übrigen eine erhebliche Rolle.668) Eine Darstellung der potentiellen internationalen Gerichtsstände für einen 491 Streitfall muss stets insofern unvollständig bleiben, als die Parteien diesen theoretisch vor jedes Forum tragen können, welches seine internationale Zuständigkeit bejaht. Denn die Regelung der Zuständigkeit der eigenen Gerichte in internationaler Hinsicht ist im Grundsatz jedem Staat selbst überlassen, wenn er sich diesbezüglich nicht durch supranationale oder staatsvertragliche Regelungen gebunden hat.669) Praktisch ist die Auswahl jedoch limitiert, nicht nur weil die jeweiligen Zuständigkeitsordnungen regelmäßig irgendeine Form des Sitzes oder eine andere relevante Verbindung der Parteien bzw. der Gesellschaft zum Forumstaat fordern,670) sondern vor allem durch die Vollstreckung: Zweckmäßig ist die Erhebung der Klage bei den Gerichten eines bestimmten Staates nur dann, wenn entweder auch die Vollstreckung dort erfolgen kann, oder wenn die Urteile dieses Staates in dem oder den Vollstreckungsstaat(en) zumindest ohne erneute materielle Hürden anerkannt und vollstreckt werden können. Letzteres setzt – was die staatliche Gerichtsbarkeit betrifft671) – im Rahmen der Anerkennungsprüfung wiederum die Beachtung der Zuständigkeitsordnung des Vollstreckungsstaates voraus, so dass bei einer beabsichtigten Vollstreckung innerhalb des europäischen Rechtsraums letztlich stets die dort gültige Zuständigkeitsordnung zu beachten ist. Entsprechend der praktischen Relevanz steht die Zuständigkeitsordnung des 492 europäischen Rechtsraums daher ganz im Vordergrund der nachfolgenden ___________ 668) Verbreitet ist bei Konzerneinheiten und kleineren Unternehmen etwa auch die niederländische B.V. (Besloten vennootschap met beperkte aansprakelijkheid). Auch von einer Zunahme Gesellschaften irischen Rechts ist angesichts der „Flucht aus dem englischen Recht“ auszugehen. 669) In Europa ist dies heute mit dem sogleich Rn. 494 ff. zu erörternden Zuständigkeitssystem weitestgehend der Fall. Das Projekt eines weltweiten Zuständigkeits- und Vollstreckungsübereinkommens wurde 2001/02 eingestellt; an seiner Stelle wurde allerdings 2019 ein Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen in Zivil- und Handelssachen verabschiedet (siehe hierzu die Homepage der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht unter http://www.hcch.net/), welches mittelbar – über die Anerkennungsvoraussetzungen – eine vereinheitlichende Wirkung haben könnte. Ferner ist das Haager Übereinkommen über Gerichtsstandsvereinbarungen (dazu noch unten Rn. 535) seit dem 1.10.2015 in Kraft (siehe Beschluss des Rates vom 4.12.2014 über die Genehmigung des Haager Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen v. 30.6.2005, ABl. EU Nr. L 353 v. 10.12.2014 und zum deutschen Durchführungsgesetz BGBl. I 2015, Nr. 25, 1034). Siehe zu all dem Reuter, ZVglRWiss 2017, 382 ff. und die Kommentierung von Zöller/Geimer ZPO, Anh. I, Art. 25 EuGVVO Rn. 81 ff. 670) So fordert das US amerikanische Recht für die Begründung einer „jurisdiction“ neben der Gründung oder dem Sitz der Hauptverwaltung im Gerichtsstaat „doing business“, also die Entfaltung von geschäftlichen Tätigkeit im Gerichtsstaat, wobei diese „continuous und systematic“ sein muss. vgl. Schack, US Zivilprozessrecht, S. 27 f./Rollin, Ausländisches Beweisverfahren im deutschen Zivilprozessrecht unter besonderer Berücksichtigung von 28 USC § 1782(a), S. 56. 671) Siehe zur Schiedsgerichtsbarkeit unten Rn. 551 f., 553 ff.

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Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation

Ausführungen. Dabei ist leider die praktisch wichtige Frage, ob und in welcher Form der „europäische Rechtsraum“ in diesem Sinne auch weiterhin das Vereinigte Königreich einschließen wird, noch immer nicht endgültig beantwortet. Klar ist aufgrund des nunmehr wirksam gewordenen Austritts aus der EU, dass das Vereinigte Königreich nach dem Ablauf der vereinbarten Übergangsfrist kein „Mitgliedstaat“ im Sinne der hier zentralen EUVerordnungen mehr sein wird.672) Indes geht der europäische Rechtsraum jedenfalls in der Regelung der internationalen Zuständigkeit bereits jetzt über die Staaten der EU hinaus und umfasst im Luganer Übereinkommen z. B. auch die Schweiz (siehe sogleich Rn. 494). Die maßgeblichen Instrumente müssten daher an sich im Interesse aller Beteiligten auf das Vereinigte Königreich erstreckt werden, wo, wie die nachfolgend darzustellende Rechtsprechung illustriert, bisher ein maßgeblicher Teil der international-gesellschaftsrechtlichen Praxis in Europa stattgefunden hat. Ob dies tatsächlich geschieht, muss man angesichts der politischen Rahmenbedingungen allerdings skeptisch beurteilen. 493 Inhaltlich verfolgt die Darstellung das Ziel, Konturen und Reichweite der ausschließlichen gesellschaftsrechtlichen Zuständigkeit im europäischen Rechtsraum herauszuarbeiten, um den Geltungsbereich des verbleibenden „gewöhnlichen“ Zuständigkeitsregimes bestimmen zu können und verbleibende Gestaltungmöglichkeiten aufzuzeigen. Der Schwerpunkt liegt daher auf dem europäischen Zuständigkeitssystem (II, Rn. 494 ff.) und dort nach Darstellung des Anwendungsbereichs (1., Rn. 494 – 497) und der Systematik der Gerichtsstände (2., Rn. 498 f.) auf dem ausschließlichen Gerichtsstand für gesellschaftsorganisatorische Streitigkeiten (3., Rn. 500 – 531). Sodann wird der sich ergebende Anwendungsbereich sowie die Regelungen des verbleibenden „allgemeinen“ europäischen Zuständigkeitsregimes aufgezeigt (II 4., Rn. 532 – 541) sowie in Kürze auf die autonom-deutschen Regelungen der internationalen Zuständigkeit außerhalb des europäischen Rahmens eingegangen (III, Rn. 542 – 544). Abschließend sollen zusammenfassend die Folgerungen aus all dem für Prozessführung und Beratung im internationalen Gesellschafterstreit gezogen werden (IV, Rn. 545 – 552). II. Das europäische System der internationalen Zuständigkeit für Gesellschafterstreitigkeiten 1. Anwendungsbereich des europäischen Zuständigkeitssystems nach Brüssel Ia-VO und LugÜ 494 Im Europäischen Rechtsraum ist die internationale Zuständigkeit der Gerichte in Zivil- und Handelssachen einschließlich Anerkennung und Vollstreckung der daraus resultierenden Urteile in mehreren parallel strukturierten Rechtsakten geregelt. Für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit Aus___________ 672) Siehe hierzu i. E. sogleich Rn. 495.

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E. Der Gerichtsstand im internationalen Gesellschafterstreit

nahme Dänemarks gilt die Brüssel Ia-VO673) (auch EuGVVO oder EuGVO genannt, wobei diese Bezeichnungen aber auch für die vorangehende Brüssel I-VO verwendet wurden).674) Die Auslegung der in der Brüssel Ia-VO verwendeten Begriffe hat nach Möglichkeit verordnungsautonom und gemeinschaftsrechtskonform zu erfolgen; zuständig ist der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV.675) Ihre Regelungen bzw. deren Gehalt (in Gestalt weitgehend entsprechender Regelungen in abweichender, noch der vorangehenden Brüssel I-VO entsprechender Zählung) – werden durch ein bilaterales Übereinkommen auf Dänemark676) und durch das Luganer Übereinkommen (LugÜ) auf die Schweiz, Norwegen und Island erstreckt.677) Das Vereinigte Königreich ist mit dem Ausscheiden aus der EU am 31.1.2020 495 nicht mehr Mitgliedstaat der EU und schied damit an sich aus dem räumlichen Anwendungsbereich der Brüssel Ia-VO aus. Allerdings wird nach dem Austrittsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich das Fortbestehen des Status als Mitgliedstaat einstweilen bis zum 31.12.2020 fingiert.678) Ob es noch gelingt, eine Nachfolgeregelung zu treffen, welche eine Fortgeltung des europäischen Regelungswerks für das Vereinigte Königreich sichert, steht ebenso in den Sternen wie etwaige Verlängerungen dieser Übergangsfrist. In Ermangelung einer Regelung wäre die Lage unklar: Während manche Autoren davon ausgehen, dass im Verhältnis zwischen dem Vereingten Königreich zu den Mitgliedstaaten der damaligen EWG noch das EuGVÜ ___________ 673) Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 12.12.2012, ABl. EU 2012 Nr. L 351, 1 (Brüssel Ia-VO). Nach Art. 2 des Protokolls Nr. 22 über die Position Dänemarks i. d. F. nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, ABl. 2008 Nr. C 115, 299 ist sie für Dänemark nicht kraft Art 288 II AEUV unmittelbar bindend. 674) Diese hat seit 10.1.2015 die vorangehende Brüssel I-VO (Verordnung (EG) Nr. 44/2001 vom 22.12.2000, ABl. EG 2001 Nr. L 12, 1) abgelöst, die wiederum an die Stelle des Brüsseler Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen v. 27.9.1968 (EuGVÜ) getreten ist. Zur intertemporalen Fortgeltung für Altverfahren Schlosser/Hess/Hess, EuZPR, Art. 66 EuGVVO Rn. 2 f. 675) Statt aller Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, Einl. Rn. 29 ff.; Kropholler/von Hein, EuZPR, EuGVVO a. F. Einl. Rn. 54 – 68, Rn. 108 – 114. 676) Vgl. ABl. EU 2005 Nr. L 299, S. 62 und ErwGr. 41 der Brüssel Ia-VO. 677) Luganer Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 30.10.2007, Abl. EU 2009 Nr. L 147, 5. Bei der Anwendung des LugÜ ist der Auslegung der Vorschriften der Brüssel Ia-VO durch den EuGH Rechnung zu tragen, vgl. Art. 1 des 2. Protokolls zum Luganer Übereinkommen, so dass diese mittelbar auch für die Auslegung des LugÜ maßgeblich ist. 678) Nach Art. 7 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft vom 18.10.2019 (ABl. EU 2019/C 384 I/01) sind während des Übergangszeitraums (Art. 126) Bezugnahmen des Unionsrechts auf „Mitgliedstaaten“ auch als Bezugnahmen auf das Vereinigte Königreich zu verstehen.

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von 1968 als staatsvertragliches Vor-Vorgängerinstrument der Brüssel Ia-VO679) fortgelten würde,680) spricht mehr dafür, dass das Abkommen durch Anwendung der EU-rechtlichen Nachfolgeinstrumente einvernehmlich aufgehoben wurde.681) Ein Rückfall auf das LugÜ ist von vornherein nicht möglich, weil das LugÜ 2007 von der EU und nicht vom Vereinigten Königreich gezeichnet wurde und das ursprüngliche LugÜ, dessen Partei noch das Vereinigte Königreich war, ersetzt hat.682) Von einer Aufhebung dieser Instrumente geht offensichtlich auch das Vereinigte Königreich selbst aus, welches die zunächst angeordnete einstweilige Fortgeltung der EU-Instrumente als nationales Recht683) zwischenzeitlich durch den Civil Jurisdiction and Judgments Regulations 2019 abgeändert hat. Danach tritt die Weitergeltung der Brüssel Ia-VO als nationales Recht zum 31.12.2020 außer Kraft und bleibt nur noch für davor eingeleitete Verfahren gültig (Art. 38 f.). Sie wird zum Teil – was Verbraucher- und Arbeitnehmergerichtsstände betrifft – durch der Brüssel I-VO entsprechende nationale Regeln ersetzt, im Übrigen fällt der Rechtszustand – soweit nicht das Haager Übereinkommen über Gerichtsstandsvereinbarungen eingreift (dazu unten Rn. 535) – auf den Civil Jurisdiction and Judgments Act 1982 zurück, der im wesentlichen die Regeln des EuGVÜ in das nationale Recht spiegelt. Dass damit inhaltlich im Vereinigten Königreich weiterhin zumindest ein europäisch verwurzelter Rechtszustand gilt, ändert freilich nichts am Verlust des Status als Mitgliedstaat im Sinne der europäischen Instrumente, womit das Vereinigte Königreich aus Sicht der Gerichte der verbleibenden Mitgliedstaaten jedenfalls ein Drittstaat ist. 496 Die internationale Zuständigkeit der Gerichte im (verbleibenden) Geltungsbereich des europäischen Zuständigkeitssystem beurteilt sich immer dann nach den Vorschriften der Brüssel Ia-VO bzw. des LugÜ,684) wenn in einem Fall mit Auslandsberührung der Beklagte seinen Wohnsitz bzw. – wenn der Ge___________ 679) Siehe soeben Fn. 673. 680) Dickinson, Journal of Private International Law 12 (2016), 195, 204 f.; Lehmann/ Zetzsche, JZ 2017, 62, 70; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, Vor Art. 1 EuGVVO Rn. 1; Ungerer, in: Kramme/Baldus/Schmidt-Kessel, Brexit – privat- und wirtschaftsrechtliche Folgen, 605 Rn. 7. 681) Siehe Art. 54 lit. b, 56 Abs. 1 der Wiener Vertragsrechtskonvention; für den Fall Dänemarks soeben Fn. 676. Zum gleichen Ergebnis kommen Rühl, JZ 2017, 72, 77; Sonnentag, Die Konsequenzen des Brexits für das Internationale Privat- und Zivilverfahrensrecht, S. 80 ff.; Hess, IPRax 2016, 409, 413 sowie – implizit, weil einen Rückfall auf das bilaterale Abkommen über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (BGBl. II 1961, 301) annehmend – Sturm/Schulz, ZRP 2019, 71, 72; Saenger/Dörner, ZPO, Vorbem zur EuGVVO Rn. 7.3. 682) Insoweit allg. Ansicht, vgl. neben Rühl, JZ 2017, 72, 78 und Hess, IPRax 2016, 409, 415 auch Dickinson, Journal of Private International Law 12 (2016), 195, 206 f.; Lehmann/ Zetzsche, JZ 2017, 62, 70 und Ungerer, in: Kramme/Baldus/Schmidt-Kesse, Brexit – privat- und wirtschaftsrechtliche Folgen, 605 Rn. 9; Saenger/Dörner, ZPO, Vorbem zur EuGVVO Rn. 7.3. 683) Sect. 3 Abs. 1 European Union (Withdrawal) Act 2018. 684) Siehe zum Konflikt zwischen beiden Regelungen die Kollisionsregel in Art. 64 I, II lit. a LugÜ.

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E. Der Gerichtsstand im internationalen Gesellschafterstreit

sellschafterstreit mittels einer Klage gegen die Gesellschaft ausgetragen wird – die beklagte Gesellschaft ihren Sitz in einem Mitglied- bzw. Vertragsstaat hat (Art. 4, 7 sowie ErwGr. 8 Brüssel Ia-VO bzw. Art. 2, 4 LugÜ). Für letzteres genügt nach Art. 63 Brüssel Ia-VO/Art. 60 LugÜ alternativ sowohl der satzungsmäßige Sitz als auch die Hauptverwaltung oder die Hauptniederlassung in einem Mitgliedstaat. Noch weiter geht der Anwendungsbereich der Art. 25 f. Brüssel Ia-VO hinsichtlich Gerichtsstandsvereinbarung und rügeloser Einlassung (unten Rn. 535, 537). Erforderlich ist in jedem Fall Auslandsberührung,685) die aber schon durch den (Wohn-)Sitz eines Gesellschafters in einem anderen Staat oder z. B. dadurch vermittelt wird, dass – bei einem im Übrigen reinen Inhaltssachverhalt – der satzungsmäßige Sitz oder der Registrierungsort der Gesellschaft im Ausland liegen.686) Sachlich werden Gesellschafterstreite als Zivil- und Handelssachen (jeweils 497 Art. 1) fast immer vom Anwendungsbereich erfasst; die einzig relevante Ausnahme ist diejenige für Insolvenzsachen (Art. 1 Abs. 2 lit. b). Unter diese Ausnahme und damit ggf. unter das Zuständigkeitsregime der EuInsVO687) können auch Streitigkeiten mit gesellschaftsrechtlicher Dimension fallen, so z. B. Verfahren über die insolvenzbedingte Auflösung einer Gesellschaft.688) Ferner sind Streitigkeiten im Zusammenhang mit kapitalersetzenden Gesellschafterdarlehen insolvenzrechtlich zu qualifizieren689) sowie Haftungsklagen gegen Leitungsorgane wegen Zahlungen nach Insolvenzreife oder Insolvenzverschleppung.690) Gesellschafterstreite im hier zu behandelnden Sinne werden jedoch nur selten Berührungspunkte mit dieser Ausnahmeregelung aufweisen. 2. Systematik der Gerichtsstände im Hinblick auf den Gesellschafterstreit nach Brüssel Ia-VO und LugÜ Der allgemeine Gerichtsstand nach Brüssel Ia-VO und LugÜ liegt nach den 498 soeben (Rn. 496) zitierten Regelungen auch für den Gesellschafterstreit am ___________ 685) EuGH, v. 1.3.2005 – C-281/02, Slg. 2005, I-1383 – Owusu, Rn. 25. 686) So geht BGH, v. 12.7.2011 – II ZR 28/10, BGHZ 190, 242 = ZIP 2011, 1837 in einer derartigen Konstellation ohne weiteres von der Anwendbarkeit der Brüssel I-VO aus. 687) VO (EG) Nr. 1346/2000 v. 29.5.2000, ABl. EG 2000 Nr. L 160, S. 1; siehe zur ab dem 26.6.2017 gültigen Neufassung (ABl. EU 2015 L 141, S. 19) Kindler/Sakka, EuZW 2015, 460 ff. Nach Art. 3 ist der maßgebliche Anknüpfungspunkt der Zuständigkeit der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners (centre of main interests, COMI). 688) Siehe zu Abgrenzungsfällen insb. im englischen Recht (winding-up-proceedings und Liquidationsverfahren) Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Bd. I, Art. 24 Rn. 79; Schilling, IPRax 2005, 208, 213 f. 689) Vgl. BGH, v. 21.7.2011 – IX ZR 185/10, NZG 2011, 1195 = ZIP 2011, 1775 Rn. 18 ff. zur Qualifikation im IPR. Da diese aus den Vorgaben der EuInsVO heraus begründet wird, kann für die Zuständigkeit nichts Anderes gelten. Siehe zur Einordnung der Vorbelastungshaftung jüngst Weller/Harms, IPRax 2016, 119. 690) EuGH, v. 4.12.2014 – C-295/13, ZIP 2015, 196; Willemer, in: Mehrbrey, § 88 Rn. 5 m. w. N.

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Wohnsitz des Beklagten, bzw., wenn eine Gesellschaft Beklagter ist, an jedem der in Art. 63 Brüssel Ia/Art 60 Lug Ü alternativ genannten Sitze. Daneben kommen besondere Gerichtsstände in Betracht, insbesondere derjenige des Erfüllungsorts vertraglicher Verpflichtungen und ggf. des Deliktsortes nach Art. 7 Nr. 1 und 3 Brüssel Ia-VO/Art. 5 Nr. 1 und 3 LugÜ. 499 Auf all diese Gerichtsstände kann aber nicht zurückgegriffen werden, wenn ausschließliche Gerichtsstände nach Art. 24 Brüssel Ia-VO bzw. Art. 22 LugÜ eingreifen: Neben der – für einen Gesellschafterstreit selten relevanten und daher nachfolgend nicht extensiv erörterten – ausschließlichen Zuständigkeit für registerrechtliche Streitigkeiten (Art. 24 Nr. 3 Brüssel Ia-VO bzw. Art. 22 Nr. 3 LugÜ) ist in Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO bzw. Art. 22 Nr. 2 LugÜ eine solche für gesellschaftsorganisatorische Streitigkeiten vorgesehen, und zwar zugunsten der Gerichte des Mitglieds- bzw. Vertragsstaates, in dessen Hoheitsgebiet die Gesellschaft ihren – hier nach dem IPR des Forums zu bestimmenden – Sitz hat. Diese Gerichtsstände haben auch Vorrang vor einer Gerichtsstandsvereinbarung nach Art. 25 Brüssel Ia-VO/Art. 23 LugÜ, der – ebenso wie einer rügelosen Einlassung nach Art. 26 Brüssel IaVO/Art. 24 LugÜ – nur insoweit zuständigkeitsbegründende Wirkung zukommt, als keine ausschließliche Zuständigkeit eingreift. Die ausschließliche Zuständigkeit nach Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO/Art. 22 Nr. 2 LugÜ und insbesondere die Klärung ihres Anwendungsbereichs bzw. zumindest eine Ausdeutung der hierzu bislang ergangenen Rechtsprechung muss damit Ausgangspunkt der Überlegungen für einen im Bereich dieser Zuständigkeitsordnung angesiedelten (potentiellen) Gesellschafterstreit sein. 3. Ausschließlicher Gerichtsstand für gesellschaftsorganisatorische Klagen a) Reichweite der ausschließlichen Zuständigkeit 500 Die ausschließliche Zuständigkeit wird in Art. 24 Nr. 2 Satz 1 Brüssel Ia VO – gleichlautend und daher nachfolgend nicht mehr stets zusätzlich genannt in Art. 22 Nr. 2 Satz 1 LugÜ – angeordnet für Verfahren, welche „die Gültigkeit, die Nichtigkeit oder die Auflösung einer Gesellschaft […] oder die Gültigkeit der Beschlüsse ihrer Organe zum Gegenstand haben“.691) Einigkeit besteht darüber, dass es sich um eine kontradiktorische Klage handeln

___________ 691) Die Vorgängernormen der Brüssel I-VO und des EuGVÜ sind insoweit identisch, so dass die nachfolgend zitierte Rechtsprechung, die zu diesen Fassungen ergangen ist, maßgeblich bleibt. Wenn man von einer fortbestehenden Verbindlichkeit des EuGVÜ im Verhältnis der damaligen Vertragsstaaten zum Vereinigten Königreich ausginge (siehe oben Rn. 495), wäre dessen Art. 16 Nr. 2 insoweit noch (oder wieder) anwendbar.

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E. Der Gerichtsstand im internationalen Gesellschafterstreit

muss,692) und dass sich diese nicht zwingend gegen die Gesellschaft richten muss, sondern auch gegen eines ihrer Organe oder einen anderen Gesellschafter gerichtet sein kann.693) Denn der Anwendungsbereich der Vorschrift wird allein durch den Gegenstand der Klage bestimmt.694) Diesbezüglich sind vor allem zwei Fragen die zentralen „Stellschrauben“ für die Weite des Anwendungsbereichs: Zum einen ist unter den genannten Gegenständen vor allem derjenige der „Organbeschlüsse“ potentiell weitreichend und bedarf daher der Konturierung (sogleich Rn. 504 ff.). Zum zweiten ist zu klären, in welcher Weise ein Verfahren auf die genannten Fragen wirken muss, um diese im Sinne der Vorschrift „zum Gegenstand“ zu haben (Rn. 515 ff.). Da es sich um Auslegungsfragen handelt, ist vorab ein Blick auf die dafür geltenden Grundsätze und Rahmenbedingungen notwendig: aa) Rahmenbedingungen der Auslegung Der EuGH hat in den bisher ergangenen Entscheidungen zur Auslegung der 501 Norm in der Brüssel I-VO betont, dass sie aufgrund seines Ausnahmecharakters und wegen der einhergehenden Beschränkung der Prorogationsfreiheit der Parteien nicht weiter ausgelegt werden soll als zur Erreichung des Normzwecks erforderlich.695) Da die von manchen Stimmen befürwortete Ausweitung auf einen allgemeinen Gerichtsstand für gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten696) bei der Neufassung als Brüssel Ia-VO nicht Gesetz geworden ist, hat dies weiterhin Gültigkeit. Damit gilt als Auslegungsmaxime eine im Grundsatz restriktive Auslegung, für deren genaue Kontur es zentral darauf ankommt, welchen Normzweck man durch den Gerichtsstand als verwirklicht ansieht. Diesbezüglich ist zwischen den beiden Komponenten der Vorschrift zu unterscheiden: Die Konzeption als ausschließliche Zuständigkeit soll sich widersprechende Entscheidungen unterschiedlicher Gerichts___________ 692) Saenger/Dörner, ZPO, Art. 24 EuGVVO Rn. 18; MünchKomm-ZPO/Gottwald, Bd. 3, Art. 24 Brüssel Ia-VO Rn. 24; Musielak/Voit/Stadler, Art. 24 EuGVVO Rn. 6; Kropholler/ von Hein, EuZPR, Art. 22 EuGVO Rn. 34; Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 81 m. w. N.; Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 16. Für nicht kontradiktorische (Register-)Verfahren kann allerdings Art. 24 Nr. 3 Brüssel Ia-VO/Art. 22 Nr. 3 LugÜ eingreifen, siehe unten Rn. 534. 693) OLG Wien AG 2010, 49, 52 = JBl. 1999, 259; Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 22 EuGVVO Rn. 34; Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 70 (missverständlich daher ders., Rn. 88: Streitigkeiten der Gesellschafter untereinander gehörten „in jedem Fall“ nicht zum Anwendungsbereich der Vorschrift). 694) Statt aller Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 70; Schilling, IPRax 2005, 208, 215. 695) EuGH, v. 14.12.1977 – 73/77 – Sanders, Slg. 1977, 2383, Rn. 17 f.; EuGH, v. 27.1.2000 – C-8/98 – Dansommer, Slg. 2000, I-393, Rn. 21; EuGH, v. 2.10.2008 – C-372/07 – Hassett und Doherty, Slg. 2008, I-7403 Rn. 18 f.; EuGH, v. 12.5.2011 – C-144/10 – Berliner Verkehrsbetriebe, Slg 2011, I-3961 = ZIP 2011, 1071 – 1074 Rn. 30, 32; EuGH, v. 7.3.2018 – C 560/16 – E.ON Czech Holding AG ./. DČdouch u. a. = BeckRS 2018, 2500 Rn. 26 ff. 696) Vgl. in diesem Sinne etwa Mankowski, in: Festschrift Simotta, S. 369 f.

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barkeiten über gesellschaftsorganisatorische Fragen ausschließen.697) Dass dazu – anders als in anderen Bereichen, in denen die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen ebenfalls besteht – die Zuständigkeit zwingend in einer Jurisdiktion konzentriert sein soll, wird mit der häufig bestehenden Wirkung der Entscheidung für einen größeren Kreis von Gesellschaftern und anderen Interessierten wie Gläubigern (erga-omnes-Wirkung) erklärt.698) Für die Wahl der Jurisdiktion am Sitz der Gesellschaft wird vor allem699) angeführt, dass das Gericht am Sitz der Gesellschaft regelmäßig das geeignetste und kompetenteste für die Beurteilung gesellschaftsorganisatorischer Fragen sein wird. Zum einen kommt es, nachdem das Gericht am Sitz der Gesellschaft aufgrund einer entsprechenden Anknüpfung im IPR regelmäßig zur Anwendung seiner eigenen Rechtsordnung kommen wird, zu einem regelmäßigen Gleichlauf zwischen forum und ius, der die Entscheidung beschleunigt und erleichtert sowie Diskrepanzen zwischen materiell-gesellschaftsrechtlichen und prozessualen Regelungen vermeidet,700) zum anderen besteht eine (Sach-)Nähe zur registerrechtlichen Umsetzung.701) 502 Diese im Grundsatz restriktiven Auslegungsvorgaben zu Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO stehen in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Beschränktheit der „technischen“ Mittel, die dafür zur Verfügung stehen. Diese Beschränktheit ist Folge der Auslegungsrundsätze, die für die Normen des europäischen Zuständigkeitssystems im Allgemeinen heranzuziehen sind und deren Geltung der EuGH auch in den Urteilen zum Gerichtsstand des Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO betont hat: Danach sind die Normen nach Möglichkeit autonom aus dem Zuständigkeitssystem selbst heraus auszulegen702) und dies in einer Weise, ___________ 697) EuGH, v. 2.10.2008 – C-372/07 – Hassett und Doherty, Slg. 2008, I-7403 Rn. 20; EuGH, v. 12.5.2011 – C-144/10 – Berliner Verkehrsbetriebe, Slg 2011, I-3961 = ZIP 2011, 1071 – 1074, Rn. 40, unter Hinweis auf den dem EuGVÜ zugrundeliegenden JenardBericht in ABl. EG 1979 Nr. C 59, 1; EuGH, v. 7.3.2018 – C 560/16 – E.ON Czech Holding AG ./. DČdouch u. a. = BeckRS 2018, 2500 Rn. 31. 698) Kindler, NZG 2010, 576, 577; Leible/Röder, NZG 2009, 29; Schaper, IPPrax 2010, 513, 514; Wedemann, AG 2011, 282, 289; ausführlich Mankowski, in: Festschrift Simotta, S. 351, 353 f. 699) Teilweise werden auch Ordnungsinteressen des Sitzstaates ins Feld geführt, was aber wenig überzeugend ist; vgl. Wedemann, AG 2011, 282, 288 m. w. N.: Im Vordergrund stehen im Gesellschaftsrecht private Interessen der Gesellschafter und anderer Gläubiger. 700) So im Anschluss an den EuGH auch BGH, v. 12.7.2011 – II ZR 28/10, BGHZ 190, 242 = ZIP 2011, 1837 Rn. 13 (m. w. N. zu den zahlreichen Stimmen in der Literatur) u. 23. Kritisch zur Tragweite dieses Gesichtspunkts Thole, IPRax 2011, 541, 542 und Wedemann, AG 2011, 282, 289. Der Gleichlauf trägt allerdings zwischenzeitlich auch ähnliche Anknüpfungen in vergleichbaren Konstellationen, etwa in der nunmehr geltenden EuErbVO. 701) EuGH, v. 2.10.2008 – C-372/07 – Hassett und Doherty, Slg. 2008, I-7403 Rn. 21 wiederum unter Hinweis auf den Jenard-Bericht (Fn. 697). Insoweit zustimmend auch Wedemann, AG 2011, 282, 289; Thole, IPRax 2011, 541, 542. 702) Siehe bereits oben Rn. 494; speziell zu Art. 24 Nr. 2 etwa EuGH, v. 2.10.2008 – C-372/07 – Hassett und Doherty, Slg. 2008, I-7403 Rn. 17 EuGH, v. 7.3.2018 – C 560/16 – E.ON Czech Holding AG ./. DČdouch u. a. = BeckRS 2018, 2500 Rn. 25).

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E. Der Gerichtsstand im internationalen Gesellschafterstreit

die zu einem größtmöglichen Maß an Vorhersehbarkeit führen soll.703) Dies kann nur gelingen, wenn die zuständigkeitsrelevanten Begriffe möglichst ohne Rückgriff auf Konzepte oder Begriffsverständnisse der nationalen Rechtsordnungen definiert werden, denn andernfalls müsste bereits die Prüfung der Zuständigkeit je nach anwendbarem Recht unterschiedlich ausfallen oder aber eine Prüfung auf Übereinstimmung aller Rechtsordnungen vorgenommen werden. Damit scheiden „strikte“ Beschränkungen des Anwendungsbereichs anhand bestimmter technischer Begriffe regelmäßig aus. Beispiel: So läge es angesichts des oben dargestellten Normzwecks zum Beispiel auf den ersten Blick nahe, die Anwendung des Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO auf Fälle zu beschränken, in denen der Entscheidung des Gerichts eine erga-omnes-Wirkung zukommt. Dies scheitert aber daran, dass die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten diesbezüglich höchst unterschiedlich ausgestaltet sind. Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO hätte damit in jedem Mitgliedstaat bzw. je nach anwendbarem Gesellschaftsrecht einen unterschiedlichen Anwendungsbereich oder es müsste geprüft werden, ob einer bestimmten Entscheidungsform in keinem der Mitgliedstaaten eine erga-omnes-Wirkung zukommt.704) Der Vorgabe der Vorhersehbarkeit – und derjenigen der Praktikabilität – könnte damit nicht genügt werden. Diese Schwierigkeit erscheint zentral für das Verständnis der bisherigen Äu- 503 ßerungen des EuGHs zur Reichweite des Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO und den Versuch, eine „Marschroute“ für die Auslegung der Vorschrift in ihren zentralen Merkmalen zu finden. bb) Einbezogene Verfahrensgegenstände (1) „Gültigkeit, Nichtigkeit oder Auflösung einer Gesellschaft“ Relativ unproblematisch ist unter den einbezogenen Verfahrensgegenständen 504 in Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO derjenige der „Gültigkeit, [der] Nichtigkeit oder [der] Auflösung einer Gesellschaft oder juristischen Person“. Unter den Begriff der Gesellschaft muss nach den soeben ausgeführten Auslegungsvorgaben jede Personenverbindung zu einem gemeinsamen Zweck fallen, die eine gewisse Verfestigung aufweist, während es auf das Vorliegen von Merkmalen oder Konzepten wie Rechts- oder Parteifähigkeit, die in nationale Rechtsordnungen zurückführen, nicht ankommen kann, da sonst keine Einheitlich___________ 703) Vgl. den vom EuGH auch stets angeführten ErwGr 15 der Brüssel Ia-VO (bzw. dessen gleichlautende Vorgänger). 704) Siehe hierzu ausführlich und zutreffend Wedemann AG 2011, 282, 290; ebenso Thole, IPRax 2011, 541, 545; siehe auch ÖstOGH, v. 21.5.2007 – 8 ObA 68/06t, JBl 2007, 804, 807. I. E. ähnlich Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 Rn. 57 f., 72; ders., in: Festschrift Simotta, S 351, 353 f.: Es müsse keine formelle erga-omnes-Wirkung vorliegen, sondern es genüge eine entsprechende faktische Wirkung der Klage.

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keit gewährleistet werden könnte.705) Das Merkmal der Verfestigung grenzt vom einfachen Vertragsverhältnis ab, zu dem – entsprechend der Behandlung im IPR nach der Rom I-VO706) – auch reine Innengesellschaften wie die stille Gesellschaft zählen sollen, die folglich nicht unter den Gesellschaftsbegriff der Brüssel Ia-VO fallen.707) Auf die Gesellschaftsform kommt es hingegen nicht an, so dass etwa auch Vereine unabhängig davon, ob sie juristische Personen sind, erfasst sind.708) Dies wird untermauert durch die englische Fassung der Norm, die offener als die deutsche Sprachfassung von „companies or other legal persons or associstions of natural or legal persons“ spricht.709) 505 Was die erfassten Mängel betrifft, so sind dies nach dem aus der Aufzählung ersichtlichen Sinn und Zweck sowie nach dem Gebot einer autonomen Auslegung alle Unwirksamkeitsgründe ohne Rücksicht auf ihre konkrete materiell-rechtliche Ausgestaltung,710) also Nichtigkeit ex tunc ebenso wie Unwirksamkeit ex nunc, gleich aus welchem Grund, sowie alle Auflösungstatbestände einschließlich einer Kündigung der Gesellschaft.711) Nach allgemeiner Auffassung sollen aber nicht nur Streitigkeiten über die Tatbestände selbst, sondern auch die aus ihnen folgende Liquidation und Abwicklung der Gesellschaft erfasst sein einschließlich etwa Klagen von Gesellschaftern z. B. auf Zahlung von Abfindungsansprüchen.712) Der Auflösungstatbestand darf freilich kein insolvenzrechtlicher sein und damit der EuInsVO unterfallen.713) ___________ 705) Siehe soeben Rn. 502 und für diesen Zusammenhang Stein/Jonas/G. Wagner, ZPO, Bd. 10, 22. Aufl., Art. 22 EuGVVO a. F. Rn. 59; Mankowski, in: Festschrift Simotta, S. 351, 355 f. m. z. N. Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 Rn. 61; vgl. auch Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 16. Eine Stellungnahme des EuGHs zum Gesellschaftsbegriff der Brüssel Ia-VO fehlt bislang. Siehe hierzu umfassend Paulus, in: Geimer/Schütze, Int. Rechtsverkehr, VO (EG) 1215/2012, Art. 24 Rn. 68 – 75. 706) MünchKomm-BGB/Martiny, Bd. 12., 7. Aufl., Art. 1 Rom I-VO Rn. 71 f. Siehe zur Abgrenzung hier jüngst EuGH, v. 8.5.2019 – C-25/18 – Kerr/Postnov u. Postnova = NJW 2019, 2991, 2993 für den Fall einer bulgarischen Wohnungseigentümergemeinschaft; dazu Thomale, IPrax 2020, 18. 707) So die nunmehr wohl einhellige Meinung; siehe Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, Art. 24 Rn. 16; Stein/Jonas/G. Wagner, ZPO, Bd. 10, 22. Aufl., Art. 22 EuGVVO a. F. Rn. 60; nunmehr auch Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 Rn. 60 m. w. N. (widersprüchlich dazu allerdings dort Rn. 62). 708) ÖstOGH, v. 21.5.2007 – 8 ObA 68/06t, JBl 2007, 804, 807 (für einen Sportverband); Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 Rn. 63. 709) Paulus, in: Geimer/Schütze, Int. Rechtsverkehr, VO (EG) 1215/2012, Art. 24 Rn. 69. 710) Statt aller Geimer, in: Geimer/Schütze, Art. 22 EuGVVO a. F. Rn. 166 mit ausführlicher Erörterung der im deutschen Recht erfassten Klagen; Schilling, IPrax 2005, 208, 213 zur Ausgestaltung im deutschen und englischem Recht. 711) Statt aller Stein/Jonas/G. Wagner, ZPO, Bd. 10, 22. Aufl., Art. 22 EuGVVO a. F. Rn. 64. 712) Siehe hierzu auch schon den sog. Schlosser-Bericht in ABl. EG 1979 C 59/71, Rn. 58. Zur einhelligen Ansicht statt aller Schilling, IPRax 2005, 208, 213; Schmitt, IPrax 2010, 310, 311; Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 17. Nicht erfasst sind freilich vertraglich begründete Abfindungsansprüche, OLG Hamm NJW-RR 2007, 478. 713) Siehe hierzu oben Rn. 497 a. E., insb. Fn. 688 zum winding up nach englischem Recht.

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E. Der Gerichtsstand im internationalen Gesellschafterstreit

(2) Gültigkeit der Beschlüsse ihrer Organe (a) „Organe“ Hinsichtlich der Organbeschlüsse, deren Gültigkeit ebenfalls Gegenstand 506 des Streits sein kann, stand für die Vorschrift das deutsche Beschlussmängelrecht Pate.714) Idealtypisch sind also Angriffe gegen Beschlüsse der Gesellschafterversammlung wie im deutschen Recht nach §§ 246 AktG, 51 GenG. Hierauf ist der Anwendungsbereich, wie an der Verwendung des offenen Begriffs der „Organe“ ersichtlich, aber nicht beschränkt, sondern es können auch die Beschlüsse anderer Organe der Gesellschaft Gegenstand der Klage sein715) und es muss sich auch nicht begrifflich um ein „Organ“ im Sinne eines Organs einer juristischen Person handeln.716) Welche Stelle oder Institution „Organ“ einer Gesellschaft im Sinne der Vorschrift ist, kann wegen der verschiedenen Verfasstheit nationaler Gesellschaftsformen verordnungsautonom schwerlich bestimmt werden, so dass insoweit der ausnahmsweise Rückgriff auf das nach dem IPR des angerufenen Gerichts bestimmte Gesellschaftsrecht (lex causae) unumgänglich ist.717) (b) Qualität des Beschlusses Dagegen kann der Begriff des „Beschlusses“ autonom definiert werden: Ent- 507 scheidend, aber auch ausreichend ist das Vorliegen einer organschaftlichautonomen Willensbildung und Willensäußerung zur verbindlichen Regelung einer Gesellschaftsangelegenheit.718) Versuche, Einschränkungen des Anwendungsbereichs an bestimmten Eigenschaften oder Kategorien von Beschlüssen festzumachen, vermögen im Hinblick auf die dargestellten Auslegungsvorgaben der Norm bzw. des Zuständigkeitsrechts nicht zu überzeugen. Der Ansicht, die Vorschrift erfasse lediglich „formalisierte Handlungen, die in der Satzung bzw. dem Gesellschaftsvertrag vorgesehen sind“,719) steht schon der weite Wortlaut der englischen und französischen Fassung der Vorschrift („decisions“ bzw. „décisions“) entgegen. Darüber hinaus ist kein Grund für eine unterschiedliche Zuständigkeitsregelung ersichtlich je nachdem, ob ___________ 714) Vgl. hierzu den Jenard-Bericht (Fn. 697), S. 35. 715) Allg. Auffassung; statt aller Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 71 m. w. N. 716) Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 73 in Bezug darauf, dass nicht alle Gesellschaftsformen im technischen Sinne „Organe“ haben. 717) So auch Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 71. Die Lage ist die gleiche wie beim „Erfüllungsort“, bei welchem außerhalb der autonomen Definition im heutigen Art. 7 Brüssel Ia-VO auf die lex causae zurückgegriffen werden muss, vgl. Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, Art. 7 EuGVVO Rn. 1a, 10c. 718) Ähnlich Wedemann, AG 2011, 282, 292. Das von ihr hinzugenommene Merkmal „durch Abstimmung“ erscheint missverständlich, da der „Beschluss“ – wie Wedemann auch ausführt – schon ausweislich der englischen und französischen Sprachfassung auch durch eine Person gefasst worden sein kann, vgl. dazu weiter im Text. 719) So Schmitt, IPrax 2010, 310, 311.

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gegen einen formlos oder konkludent gefassten Beschluss geklagt wird oder gegen einen „Beschluss im technischen Sinne“, zumal Beschlüsse der ersten Art Gegenstand von Entscheidungen mit Drittwirkung sein können.720) Das Gleiche gilt für eine Unterscheidung zwischen „konkret-individuellen“ und „abstrakt-generellen“ Beschlüssen.721) Erst recht kann es aus den oben Rn. 502 dargelegten Gründen nicht darauf ankommen, wie das anwendbare Recht den fraglichen Beschluss in Zustandekommen oder Wirkung ausgestaltet. (c) Gegenstand des Beschlusses 508 Auf ähnliche Schwierigkeiten stößt eine Eingrenzung der betroffenen Beschlüsse dem Gegenstand nach, die aber erforderlich ist, da Gültigkeit von Organbeschlüssen direkt oder indirekt Gegenstand der meisten Auseinandersetzungen innerhalb einer Gesellschaft sein oder zu einem solchen gemacht werden kann. Eine Gelegenheit dafür bestand für den EuGH im Fall Hassett,722) der eine in Gesellschaftsform eingerichtete Entschädigungseinrichtung von Ärzten für Rechtsstreite über Behandlungsfehler betraf. Da die Entscheidung über die Gewährung einer Entschädigung nach der Satzung durch das board of directors getroffen werden musste, lag bei einer versagenden Entscheidung ein Beschluss eines Gesellschaftsorgans vor, der nach dem Vorbringen der klagenden Ärzte eine Verletzung ihrer satzungsmäßigen Rechte darstellte. Gleichwohl hat der EuGH den Anwendungsbereich des ausschließlichen Gerichtsstands nicht als eröffnet angesehen und ausgeführt, dass dieser nur solche Rechtsstreite erfasse, in denen die Gültigkeit der Entscheidung des Gesellschaftsorgans „im Hinblick auf das geltende Gesellschaftsrecht oder die satzungsmäßigen Vorschriften über das Funktionieren der Organe“ angefochten werde. Die satzungsmäßige Entscheidungsbefugnis des Vorstands sei von den Ärzten aber nicht in Abrede gestellt worden, sondern die Art und Weise ihrer Ausübung, indem ihre Anträge entgegen der Satzung ohne eingehende Prüfung von vornherein abgelehnt worden seien. Eine „Klage wie die im Ausgangsverfahren, in deren Rahmen eine Partei geltend macht, durch eine von einem Organ einer Gesellschaft getroffene Entscheidung in ihren Rechten aus der Satzung der Gesellschaft verletzt worden zu sein“, habe nicht die Gültigkeit von Beschlüssen im Sinne der Vorschrift zum Gegenstand.723) ___________ 720) So zu Recht Wedemann, AG 2011, 282, 292 mit Hinweis auf die französische Rechtslage; ebenso Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 71. 721) In diesem Sinne Würdinger, ZZPInt 13 (2008), 147, 150 ff. Dagegen zutreffend Wedemann, AG 2011, 282, 292; Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 71. 722) EuGH, v. 2.10.2008 – C-372/07 – Hassett und Doherty, Slg. 2008, I-7403. 723) EuGH, v. 2.10.2008 – C-372/07 – Hassett und Doherty, Slg. 2008, I-7403 Rn. 26 – 31. Siehe zur – damit überholten – gegenteiligen Entscheidung des ÖstOGH im vergleichbaren Fall eines für die nationalen Verbände als Mitglieder bindenden Beschlusses durch einen internationalen Sportverband über eine Dopingsperre Schlosser/Hess/ Schlosser, EuZPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 18 a. E. m. w. N.

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E. Der Gerichtsstand im internationalen Gesellschafterstreit

Die Entscheidung lässt verschiedene Interpretationen zu, von denen sich je- 509 de – je nachdem, welcher Teil betont wird – auf die soeben zitierten Kernsätze des Urteils berufen kann. Einige Kommentatoren betonen den Mittelteil und wollen nach der Qualität der Organentscheidung (Einzelentscheidung oder Beschluss mit genereller Tragweite)724) bzw. ihres Mangels (Rechtmäßigkeit des Zustandekommens oder „Gültigkeit“)725) differenzieren. Nimmt man den letzten Satz in seinem zweiten Teil beim Wort, so kann man diesen im Sinne einer Ausklammerung von Streitigkeiten über die Verletzung mitgliedschaftlicher oder satzungsmäßiger Rechte durch Entscheidungen eines Gesellschaftsorgans deuten.726) Angesichts des besonderen Sachverhalts lässt sich das Urteil aber auch so verstehen, dass der EuGH derartige Beschwerden nicht schlechthin ausscheiden wollte, sondern lediglich das Fehlen jeglicher gesellschaftsorganisatorischen Dimension der angegriffenen Entscheidung herausstellen und lediglich gewöhnliche Entscheidungen der laufenden Geschäftsführung ausscheiden wollte.727) Für die letzte Interpretation sprechen Sachverhalt und Verfahrensgang: In einer 510 Entschädigungseinrichtung stellen Entscheidungen über die Gewährung einer Entschädigung regelmäßige Geschäftsführungsakte dar und die „Verletzung satzungsmäßiger Rechte“ erschöpft sich in der Subsumtion der dort niedergelegten Entschädigungsvoraussetzungen, ohne dass die Gesellschafterstellung oder aus ihr folgende Rechte per se in Frage stünden. Zum zweiten ist zu beachten, dass nicht etwa die klagenden Ärzte selbst argumentiert hatten, dass sie die Verletzung satzungsmäßiger Rechte geltend machen würden, sondern die beklagte Einrichtung deren Vortrag so eingeordnet hatte, um gleichsam als „prozessualen Torpedo“ die Unzuständigkeit der irischen Gerichte zu begründen.728) Dies könnte die Neigung erhöht haben, diese Qualifikation in der Sache zu verwerfen.729) Schließlich und vor allem erscheint diese Interpretation, mag sie auch den Anwendungsbereich am wenigsten stringent einschränken, auch allein inhaltlich sinnvoll: Die erstgenannten Unterscheidungen entbehren wie die soeben in Rn. 507 erörtert eines überzeugenden inhaltlichen Gehalts im Hinblick auf die Zuständigkeitsfrage. Die zweite Interpretationsstrang würde zu einer sachwidrigen übermäßigen Einschränkung des Anwendungsbereichs führen, denn es sind ohne weiteres Klagen gegen Beschlüsse auf der Grundlage der Ver___________ 724) So z. B. Geimer, in Geimer/Schütze, Art. 22 EuGVVO a. F. Rn. 212a; ähnlich Würdinger, ZZPInt 13 (2008), 147, 150 ff. 725) In diesem Sinne Leible/Röder, NZG 2009, 29, 30. 726) So MünchKomm-BGB/Kindler, Bd. 12, 7. Aufl., IntGesR Rn. 602 und wohl – ausweislich ihrer Kritik an der Entscheidung – auch Wedemann, AG 2011, 282, 293. 727) Vgl. in diesem Sinne das KG im Vorlagebeschluss im Rechtsstreit Berliner Verkehrsbetriebe an den EuGH, v. 10.3.2010 – 26W 40/09, NZG 2010, 913; ähnlich Schlosser/ Hess/Schlosser, EuZPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 18: Ausgeklammert seien „[n]ormale Geschäftsführungsbeschlüsse des Vorstands“. 728) Siehe Tz. 13 f. des Urteils v. 2.10.2008 (Fn. 695). 729) Vgl. hierzu sogleich Rn. 518 f. zum Urteil Berliner Verkehrsbetriebe, in dem diese Erwägung ausgesprochenermaßen eine Rolle spielt.

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letzung mitgliedschaftlicher Rechte denkbar, die sogar in Entscheidungen mit erga-omnes-Wirkung einmünden.730) 511 Die aus dem angefochtenen Beschluss entspringende Streitigkeit muss demnach, auch wenn dieses Merkmal notwendig unscharf bleibt, eine gesellschaftsorganisatorische Dimension haben, d. h., es muss die Wirksamkeit oder die Wirkung des Organbeschlusses im Hinblick auf das Statut der Gesellschaft in Frage stehen. In diesem Fall sind auch die oben angesprochenen Geltungsgründe der Vorschrift verwirklicht. Ohne weiteres erfasst sein müssen demnach Klagen gegen Beschlüsse, welche z. B. Unternehmensverträge,731) die Zusammensetzung von Organen,732) die Ausformung der Rechte und Pflichten eines Gesellschafters in einer Gesellschaft733) oder die Entziehung der Vertretungsmacht eines Organs betreffen.734) Nachdem der Kernbereich der Gesellschaftsorganisation und die Grundlage der Wirksamkeit von Organbeschlüssen betroffen sind, muss dies auch dann gelten, wenn diese Streitigkeiten unter Gesellschaftern bzw. unter den Organmitgliedern ausgetragen werden.735) Ebenso muss zu den angreifbaren Organbeschlüssen auch der Beschluss über die Einberufung z. B. einer Gesellschafterversammlung durch ein Geschäftsführungsorgan zählen.736) Auszuscheiden sind demgegenüber Entscheidungen im Rahmen gewöhnlicher Geschäftsführung, welche die Stellung der Organe und/oder Gesellschafter im gesellschaftsvertraglichen Gefüge unberührt lassen.737) (d) Beschlussmangel („Gültigkeit“); richterliche Modifizierung (u. a. in Spruchverfahren) oder Ersetzung von Beschlüssen 512 Schließlich stellt sich die Frage, welche Arten von Beschlussmängeln erfasst sein sollen bzw. ob auch die Modifizierung oder gar der Ersatz von Beschlüssen durch ein Urteil beinhaltet ist. Da es verfehlt wäre, die Frage der im europäischen Rechtsraum gegebenen Zuständigkeiten von der konkreten Ausgestaltung der Rechtsfolge eines Beschlussmangels im jeweiligen anwendbaren Recht abhängig zu machen, muss zunächst der Begriff der „Gültigkeit“ notwendig ohne Rücksicht auf die konkrete Wirkung des Mangels im materiellen Recht und damit umfassend verstanden werden.738) Eine „allgemeine ___________ 730) 731) 732) 733) 734) 735) 736) 737) 738)

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So überzeugend und mit Beispielen Wedemann, AG 2011, 282, 293. Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 89. Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 70 m. w. N. ÖstOGH, v. 21.5.2007 – 8 ObA 68/06t, JBl 2007, 804, 807 (betreffend einen Verein). Siehe zur strittigen Frage, ob dies auch für unmittelbar auf diese Ziele (ohne entsprechenden Beschluss) gerichtete Klagen gilt, sogleich Rn. 513. Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 70 m. N. zur Rspr. in England Fn. 413. Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 72 m. N. zur irischen und niederländischen Rechtsprechung. So auch Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 73; Schlosser/ Hess/Schlosser, EuZPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 18. Schmitt, IPRax 2010, 310, 311.

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E. Der Gerichtsstand im internationalen Gesellschafterstreit

Rechtmäßigkeitskontrolle“ auszunehmen,739) erscheint mangels abgrenzbarer Kriterien nicht durchführbar; ebenso wenig kann es auf Unterscheidungen zwischen relativer oder absoluter Unwirksamkeit im nationalen Recht ankommen.740) Auch kann der behauptete ultra-vires-Charakter eines Beschlusses nicht zu einer Verneinung der Zuständigkeit führen, da die Fragestellung, ob der Beschluss ultra vires erfolgt ist oder nicht, gerade eine Kernfrage des Statuts der Gesellschaft berührt und am entsprechenden Gerichtsstand zu klären ist.741) Zum zweiten ist die Einbeziehung von Beschlussmängeln geboten, die der 513 Gesetzgeber aus bestimmten Gründen gerade der Unwirksamkeitsfolge entzogen hat. Im deutschen Spruchverfahren und seinen Pendants z. B. in Österreich (Überprüfungsverfahren) und in der Schweiz (Überprüfungsklage) bleibt der Beschluss zwar bestehen, kann aber durch das Urteil modifiziert werden. Es ist zwar richtig, dass diese Auslegung über ein striktes Wortlautverständnis hinausgeht,742) funktional aber ist die Beschlussergänzung nichts anderes als eine teilweise Beschlussaufhebung – mit erga-omnes-Wirkung – und kann daher auch zuständigkeitsrechtlich nicht anders behandelt werden.743) Für diese Sichtweise spricht auch die jüngst ergangene Entscheidung des EuGH zur Überprüfung der Abfindungshöhe in einem tschechischen Spruchverfahren.744) Denn auch wenn für den Fall eines Squeeze-outs ergangen, treffen die tragenden Erwägungen des EuGH – nämlich inhaltliche Modifizierung des Beschlusses durch ein Gericht, enge rechtliche und sprachliche Verbindung des Rechtsstreits zum Gericht am Sitz der Gesellschaft sowie Vorhersehbarkeit und Stetigkeit des Gerichtsstands – auch für sonstige Überprüfungen von Abfindungen oder Nachbesserungen in Spruchverfahren zu.745) Denkt man dies zu Ende, so können schließlich auch Verfahren nicht außen 514 vor bleiben, durch die eine Beschlussfassung über eine gesellschaftsorganisa___________ 739) In diesem Sinne Leible/Röder, NZG 2009, 29, 30. 740) So zutreffend Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 58; Thole, IPRax 2011, 541, 545; Wedemann, AG 2011, 282, 293. 741) Zutreffend Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 73 m. w. N.; wohl nicht mehr strittig. 742) Gegen die Einbeziehung daher unter Hinweis auf das Gebot der restriktiven Auslegung Mock, IPRax 2009, 271, 273 und Nießen, NZG 2006, 441, 442. 743) So überzeugend Wedemann, AG 2011, 282, 293 f. Ebenso schon bisher die ganz h. M; vgl. OLG Wien, v. 10.6.2009 – 28 R 263/08, AG 2010, 49, 52 und ÖstOGH, v. 18.2.2010 – 6 Ob 221/09g, RdW 2010, 510; MünchKomm-BGB/Kindler, Bd. 12., 7. Aufl., IntGesR Rn. 778; Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 91 f.; Meilicke/Lochner, AG 2010, 23, 33; Willemer, in: Mehrbrey, § 2 D. Rn. 96. 744) EuGH, v. 7.3.2018 – C 560/16 – E.ON Czech Holding AG ./. DČdouch u. a. = BeckRS 2018, 2500 = EuZW 2018, 811 m. Anm. J. Schmidt = LMK 2018, 405156 m. Anm. Mankowski und EWiR 2018, 389 f. (Meilicke/Lochner). Siehe dazu ferner Kumpan/ Pauschinger, EuZW 2019, 357; Mansel/Thorn/Wagner, IPRax 2019, 85, 104. 745) So zutreffend J. Schmidt, EuZW 2018, 813, 814, ihr zustimmend Mansel/Thorn/ Wagner, IPRax 2019, 85, 104; ebenso Meilicke/Lochner, EWiR 2018, 389, 390; zurückhaltend Mankowski, LMK 2018, 405156. Siehe zum Verhältnis zum gegenwärtigen Vorschlag der Kommission zur Umwandlungsrichtlinie Benz/Hübner/Zimmermann, ZIP 2018, 2254, 2257 f.; Noack/Habrich, AG 2019, 908, 913 f.

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Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation

torische Frage ersetzt wird. Wenn in einigen Rechtsordnungen – wie etwa in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz – Klagen vorgesehen sind, die unmittelbar auf Entziehung der Vertretungsbefugnis (§ 127 HGB), auf Ausschließung eines Gesellschafters (etwa nach §§ 117, 140 HGB) oder etwa Suspendierung seines Stimmrechts gerichtet sind, so tritt die Entscheidung des Gerichts funktional an die Stelle des Beschlusses, der andernfalls erst gefasst und dann zu einem unproblematisch von Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO erfassten Streitgegenstand gemacht wird. Nur eine funktionale Auslegung, die zum Einschluss derartiger Klagen führt, wird den Geboten der autonomen Auslegung (oben Rn. 494, 502) gerecht, da eine strikt wortlautgemäße Auslegung zu unterschiedlichen Ergebnissen je nach Ausgestaltung der zur Verfügung gestellten Klagearten in den einzelnen Rechtsordnungen führen müsste. Es spricht daher auch mehr dafür, dass der EuGH in dieser bislang sehr strittigen Frage in diesem Sinne entscheiden würde.746) cc) „Gegenstand des Verfahrens“ 515 Noch wichtiger als die Frage der sachlich einbezogenen Gegenstände ist diejenige, in welcher Weise sie „Gegenstand des Verfahrens“ sein müssen, damit dieses ausschließlich am Gesellschaftsgerichtsstand geführt werden darf. Der ohne weiteres erfasste Kern-Anwendungsbereich der Vorschrift liegt in denjenigen Klagen, die sich in ihrer Wirkung unmittelbar auf den Bestand der Gesellschaft bzw. die Gültigkeit des Beschlusses richten. Danach sind in der ersten Variante der Vorschrift (Gültigkeit, Nichtigkeit oder Auflösung einer Gesellschaft) Nichtigkeitsklagen, wie im deutschen Recht nach § 275 AktG, § 75 GmbHG oder § 94 GenG, oder Auflösungsklagen, wie im deutschen Recht nach § 133 HGB oder § 61 GmbHG, unproblematisch erfasst. In der zweiten Variante – Gültigkeit eines Organbeschlusses – fallen Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagen wie nach §§ 246, 249 AktG, 51 GenG und ausländische Parallelinstitute in den Kern-Anwendungsbereich. Eine erga-omnes-Wirkung der Entscheidung muss zwar im Hinblick auf den Normzweck zur Einbeziehung der fraglichen Klageart in den Anwendungsbereich führen, kann aber nicht umgekehrt zur Voraussetzung für die Anwendung gemacht werden. Wie bereits oben Rn. 502 dargelegt, müssen verschiedene Grade an Drittwirkungen von Urteilen, die in den einzelnen Rechtsordnungen vorgesehen sind, von der Vorschrift erfasst werden; der autonom zu bestimmende Anwendungsbereich kann nicht von der nationalen Ausgestaltung bestimmter Klagearten abhängen.747) ___________ 746) Wie hier überzeugend Wedemann, AG 2011, 282, 294 m. w. N. zum Meinungsstand S. 286 m. Fn. 47 f.; in der Tendenz auch Geimer, in: Geimer/Schütze, Art. 22 EuGVVO a. F. Rn. 181; a. A. trotz Zweifeln Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 86 f.; Stein/Jonas/G. Wagner, ZPO, Bd. 10, 22. Aufl., Art. 22 EuGVVO a. F. Rn. 68. 747) Zutreffend ÖstOGH, v. 21.5.2007 – 8 ObA 68/06t, JBl 2007, 804, 807; siehe ferner Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 70; Wedemann, AG 2011, 282, 290, etwa zum Konzept der nullité in Frankreich.

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E. Der Gerichtsstand im internationalen Gesellschafterstreit

Damit ist auch weder ein überzeugender Grund noch ein überzeugendes Ab- 516 grenzungskriterium ersichtlich, warum nicht auch Feststellungsklagen, die sich auf einen der in Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO genannten Gegenstände richten, von der Vorschrift erfasst sein sollten.748) Erfasst sind damit entsprechend der ganz herrschenden Meinung im deutschen Recht etwa Feststellungsklagen nach einer Kündigung der Gesellschaft ebenso wie auf die Nichtigkeit von Organbeschlüssen gerichtete allgemeine Feststellungsklage.749) Wie bereits soeben Rn. 513 erörtert, können die Anträge und damit das Entscheidungsergebnis auch auf eine Modifizierung des angegriffenen Beschlusses gerichtet sein, weil dies stets seine mindestens teilweise Aufhebung im Rahmen der „Neuschaffung“ impliziert. Neben den bereits erörterten Spruchstellenverfahren kann hierunter der sog. unfair-prejudice-Rechtsbehelf, der im englischen Recht bei Gesellschafterstreiten eine große Rolle spielt,750) fallen: Im Rahmen dieses Verfahrens kann das Gericht, wenn es die unangemessene Benachteiligung eines Gesellschafters durch Handlungen der directors oder Beschlüsse der Gesellschafterversammlung feststellt, zu einer Reihe von Maßnahmen greifen, die nicht zwingend eine Ungültigerklärung des Beschlusses implizieren. Schon weil es nicht auf die Zuständigkeit des Gerichts zurückwirken sollte, wenn es eine bestimmte der ihm zu Gebote stehenden Urteilswirkungen ausspricht, muss auch diese Klageart unabhängig von der konkreten Wirkung einbezogen werden, wenn sich die Beschwerde des Gesellschafters in der Substanz gegen den Beschluss eines Organs i. S. d. Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO richtet.751) Damit lässt sich als Zwischenergebnis festhalten, dass Klagen jedweder Art 517 und unabhängig von der Ausgestaltung der Entscheidungswirkung im nationalen Prozessrecht in den Anwendungsbereich des Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO fallen, wenn sich die Antragstellung unmittelbar gegen einen der in Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO genannten Gegenstände richtet. Die eigentliche Abgrenzungsfrage stellt sich im Hinblick auf Klagen, bei denen dies nicht der Fall ist, die also z. B. auf Leistung gerichtet sind, und in denen lediglich als Begründungs- oder Einwendungselement über einen dieser Gegenstände ___________ 748) OLG Wien, v. 10.6.2009 – 28 R 263/08, AG 2010, 49, 52; Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 70. 749) Praktisch einhellige Ansicht; siehe etwa Geimer, in: Geimer/Schütze, Art. 22 EuGVVO a. F. Rn. 203; MünchKomm-ZPO/Gottwald, Bd. 3., Art. 24 EuGVO Rn. 27; Kropholler/ von Hein, EuZPR, Art. 22 EuGVVO a. F., Rn. 39; Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 18. 750) Siehe dazu näher Schilling, IPRax 2005, 208, 215 f.; Goo, Minority shareholder’s protection, 1994, S. 132 ff. 751) Der Ansicht, dass zuständigkeitsrechtlich je nach Rechtsfolgen zu differenzieren sei (siehe Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 72 und die Nachw. zum englischen Schrifttum bei Schilling, IPRax 2005, 208, 215 f. und Wedemann, AG 2011, 282, 287), kann nicht zugestimmt werden; es kann vielmehr nur auf den Gegenstand der Klage ankommen. Ferner würde dies auch zu einer Entstellung des Rechtsbehelfs führen, aus diesem Grund wie hier Schilling, a. a. O. und Wedemann, a. a. O. S. 294.

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zu befinden ist. Die Problematik lässt sich mustergültig an dem Sachverhalt illustrieren, der dem EuGH auch die Gelegenheit einer ersten Klärung dieser Frage gegeben hat:752) Die Berliner Verkehrsbetriebe als Anstalt öffentlichen Rechts hatten mit der Frankfurter Niederlassung des Bankhauses J.P. Morgan einen Swap-Vertrag abgeschlossen, in welchem für Streitigkeiten die Zuständigkeit der Londoner Gerichte vereinbart worden war. Dort in Anspruch genommen, verteidigten sich die Berliner Verkehrsbetriebe zum einen mit dem Vorwurf falscher Beratung und brachten zum anderen vor, dass die Eingehung des Vertrages eine ultra-vires-Entscheidung ihrer Organe dargestellt habe, so dass aufgrund Art. 22 Nr. 2 der Brüssel I-VO a. F. die Gerichte am Sitz der Anstalt in Berlin ausschließlich zuständig seien. Demgemäß erhoben die Berliner Verkehrsbetriebe auch am Gerichtsstand Berlin eine auf Feststellung der Unwirksamkeit des Vertrages gerichtete Klage gegen J.P. Morgan, so dass der EuGH auf Vorabentscheidungsersuchen sowohl des Supreme Court des Vereinigten Königreichs als auch des Kammergerichts Berlin zur Entscheidung kam. 518 Der EuGH hat den Einwand der Berliner Verkehrsbetriebe als nicht geeignet angesehen, um den Rechtsstreit unter die ausschließliche Zuständigkeit nach (heute) Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO fallen zu lassen. Zunächst betont der EuGH nochmals die Gründe für eine tendenziell restriktive Auslegung der Vorschrift.753) Die von der Norm verfolgen Zwecke ließen eine solche hier zu, denn die Frage der Gültigkeit des Beschlusses sei gegenüber den vertragsrechtlichen Fragen, die im Mittelpunkt des Rechtsstreits stünden und folglich auch seinen Gegenstand darstellten, „akzessorisch“. Es handle sich um eine Vorfrage, die „jederzeit von einer der Parteien aufgeworfen werden“ könne, die aber nicht den Hauptgegenstand des Prozesses darstelle. Das Ziel der Vermeidung widersprechender Entscheidungen sei damit nicht konterkariert, weil sich dieses Ziel nicht auf alle Rechtsstreitigkeiten erstrecke, die einen Vertrag mit Beteiligung einer juristischen Person betreffen. Die Rechtsstreitigkeit müsse, um unter die ausschließliche Zuständigkeit zu fallen, „in erster Linie“ die in der Vorschrift genannten Gegenstände betreffen.754) 519 Der Entscheidung kann in ihrem Tenor schwerlich widersprochen werden.755) Der Normzweck einer Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen im europäischen Rechtsraum ist zwar entgegen den Ausführungen des EuGH inhaltlich auch bei einer inzidenten Entscheidung über den Organbeschluss berührt. Diese Gefahr wiegt aber weniger schwer als die Konsequenzen einer ___________ 752) EuGH, v. 12.5.2011 – C-144/10 – Berliner Verkehrsbetriebe, Slg 2011, I-3961 = ZIP 2011, 1071. 753) Siehe bereits oben Rn. 501 mit Fn. 695. 754) EuGH, v. 12.5.2011 – C-144/10 – Berliner Verkehrsbetriebe, Slg 2011, I-3961 = ZIP 2011, 1071 – 1074 insb. Tz. 33 ff., 44. 755) Siehe etwa auch Thole, IPRax 2011, 541, 546; Wedemann, NZG 2011, 733, 733 f.; Rauscher/ Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 75 – 77. Ablehnende Stimmen sind nicht ersichtlich.

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E. Der Gerichtsstand im internationalen Gesellschafterstreit

anderen Entscheidung. Die andernfalls geradezu beliebige Möglichkeiten von Prozessparteien, mittels einer auf einer gesellschaftsorganisatorischen Fragen beruhenden Einwendung – ggf. auch erst im Lauf des Verfahrens – eine bestimmte ausschließliche Zuständigkeit herbeizuführen und damit den an sich vorgesehenen oder vereinbarten Gerichtsstand oder sogar ein laufendes Verfahren zu „torpedieren“, erschien dem EuGH zu Recht nicht hinnehmbar.756) Demgegenüber treten die oben dargestellten Normzwecke in den Hintergrund, da Inzident-Entscheidungen keine erga-omnes-Wirkung zukommt und auch die Gleichlaufgründe wie etwa die Nähe zum Registergericht in den Hintergrund treten. Anders als zum Tenor der Entscheidung gibt es allerdings unterschiedliche 520 Ansichten dazu, wie die Grenzziehung genau vorzunehmen ist bzw. der EuGH sie vorgenommen hat. In der deutschen Literatur wird häufig danach unterschieden, dass nur in dem Fall, dass sich die Beschlussungültigkeit als Hauptfrage stelle, die Anwendung des Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO gerechtfertigt sei, während sie als Vorfrage generell aus dem Anwendungsbereich auszuscheiden sei.757) Dies dürfte zu weit gehen, denn es ist augenfällig, dass der EuGH in der Entscheidung zwar den Begriff der „Vorfrage“ verwendet, mit der zusammenfassenden Formulierung „in erster Linie“ aber eine genaue Festlegung etwa auf den Gegenstand von Klageanträgen oder auf technische Begriffe wie Inzidententscheidung oder Vor- und Hauptfrage gerade vermeidet.758) Dies entspricht auch der französischen Sprachfassung („saisi à titre principal“) sowie der Rechtsprechung der vorlegenden englischen Gerichtsbarkeit, die darauf abstellt, welcher Gegenstand durch die Klage schwerpunktmäßig betroffen ist („principally concerned with“).759) Auch die französische Cour de Cassation hat in diesem Sinne über eine Klage entschieden, in welcher die „fictivité“ einer rumänischen Gesellschaft als Begründung für einen Durchgriff auf den dahinter stehenden Gesellschafter im Rahmen einer Leistungsklage geltend gemacht wurde.760) Schließlich trägt eine „offene“ Ermittlung des Streitgegenstands dem Sachzwang Rechnung, eine Vielzahl denkbarer Gestaltungen und Begrifflichkeiten in den nationalen Prozessrechten erfassen zu müssen. Eine Bestimmung des Streitgegenstands, die antragsunabhängig auf den „wah- 521 ren“ Schwerpunkt der Klage abstellt, steht auch im Einklang mit dem Streit___________ 756) So auch die ganz überwiegende Literatur, siehe etwa Wedemann, AG 2011, 282, 291 m. w. N. 757) So Thole, IPRax 2011, 541, 546; Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 75 – 77, der den Begriff allerdings auf Verteidigungsvorbringen des Beklagen zu beschränken scheint. 758) Zweifelnd auch Wedemann, NZG 2011, 733, 734. 759) Diese Parallele zieht etwa auch Wedemann, NZG 2011, 733. 760) Siehe Urt. v. 4.5.2017 – Nr. 16-12.853. Die Cour de Cassation hat den ausschließlichen Gerichtsstand – anders als die Vorinstanzen – in diesem Fall zutreffend verneint. S. eingehend zu dieser Entscheidung (und ebenfalls zustimmend) Hübner, IPRax 2019, 267.

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gegenstandsbegriff, den der EuGH allgemein für die Behandlung konkurrierender Klagen im Europäischen Rechtsraum entwickelt hat: Nach der von ihm im Rahmen des Art. 29 Brüssel Ia-VO in ständiger Rechtsprechung vertretenen sog. „Kernpunkttheorie“761) ist der Gegenstand eines Rechtstreits autonom danach zu bestimmen, wo er seinen wahren Schwerpunkt hat. Dieser ist anhand der Grundlage des geltend gemachten Anspruchs einerseits und des Gegenstands der Klage andererseits zu ermitteln, wobei für letzteren weniger die Klageanträge entscheidend sind als der Zweck, den der Kläger „in Wahrheit“ mit ihnen verfolgt.762) Diese Art der Ermittlung des Streitgegenstands nach dem „wahren“ Schwerpunkt soll gerade verhindern, dass eine Partei durch die Formulierung der Klageanträge oder die Gestaltung einer Einwendung die Zuständigkeit prozesstaktisch beeinflusst, und bleibt daher im Einzelfall auch für eine Erfassung einer Vorfrage unter Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO offen, wenn diese in Wahrheit gerade den Hauptgegenstand des Verfahrens bildet.763) Dies mag die Zuständigkeit von den Umständen des Einzelfalls abhängig und damit in Grenzfällen schwer prognostizierbar machen,764) wird aber durch die Rahmenbedingungen, mit denen der EuGH im Europäischen Rechtsraum konfrontiert ist, praktisch vorgegeben. Der „Spagat“, den Gerichtsstand einerseits im Sinne einer restriktiven Auslegung auf Angriffe gegen den Beschluss selbst zu begrenzen, und dies andererseits unabhängig von den unterschiedlichen Konzepten der nationalen Klagearten und möglicherweise missbräuchlichen Gestaltungen einer Prozesspartei zu tun, führt fast notwendig zu einer Ermittlung des „wahren“ Streitgegenstands nach den Umständen des Falles. 522 Der Entscheidung lassen sich trotz der dargestellten Offenheit auch Leitlinien für andere fragliche Konstellationen entnehmen. Leistungsklagen können nicht pauschal aus dem Anwendungsbereich ausgeschlossen werden, sondern sind erfasst, wenn eine zur Begründung geltend gemachte Ungültigkeit eines Beschlusses das wahre Klageziel ist.765) So ist etwa bei Streitigkeiten über Ausschüttungen/Dividenden oder über das genehmigte Kapital einer Gesell___________ 761) Siehe hierzu statt aller Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, Art. 29 EuGVVO Rn. 4; Zöller/ Geimer, ZPO, Art. 29 EuGVVO Rn. 20, jew. m. w. N. zur st. Rspr. des EuGH. 762) EuGH, v. 6.12.1994 – Rs. C-406/92 Tatry ./. Maciej Rataj, Slg. 1994-I, 5439 Rn. 41. 763) So auch Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 19 a. E.; ausführlich und instruktiv ferner Schmitt, IPrax 2010, 310, 312 f., der zu Recht darauf hinweist, dass sich in dieser Hinsicht auch das vieldiskutierte Urteil des EuGHs v. 13.7.2006 – C-4/03, Slg. 2006, I-6509 – GAT, welches im Rahmen des heutigen Art. 24 Nr. 4 Brüssel Ia-VO die Vorfrage der Gültigkeit eines Patents als zuständigkeitsrelevant behandelt, ohne weiteres in das Konzept des EuGHs einpasst. Kritisch Wedemann, NZG 2011, 733, 734 f. 764) Kritisch daher etwa Wedemann, AG 2011, 282, 292 und dies., NZG 2011, 733, 734 f. 765) Ebenso etwa Meilicke/Lochner, AG 2010, 23, 28; Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 74 mit der Einschränkung, dass die Klage eine Beschlussungültigkeit mit erga-omnes-Wirkung herbeiführt (siehe zu Mankowskis Verständnis dieser Wirkung aber oben Fn. 698). Im Sinne eines grundsätzlichen Ausschlusses allerdings ders., a. a. O., Rn. 84.

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E. Der Gerichtsstand im internationalen Gesellschafterstreit

schaft der zugrunde liegende Gesellschafterbeschluss nicht notwendig unmittelbarer Gegenstand der Klageanträge, aber im Unterschied zur soeben dargestellten Konstellation auch nicht ein beliebig heranzuziehendes Verteidigungsmittel, sondern – wenn dessen Unwirksamkeit geltend gemacht wird – die notwendige und zutiefst mit der Gesellschaftsorganisation verwobene Grundlage des eigentlichen Streitgegenstands. Derartige Streitigkeiten dürften daher regelmäßig „in erster Linie“ die in Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO genannten Gegenstände betreffen und in den Anwendungsbereich der ausschließlichen Zuständigkeit fallen.766) Noch eindeutiger ist dies, wenn in einem Rechtsstreit die Gesellschafterstellung an sich inmitten steht. Unter die ausschließliche Zuständigkeit fällt nicht nur die unmittelbare Klage eines Gesellschafters gegen seine Ausschließung aus der Gesellschaft,767) sondern auch eine solche auf eine Leistung, die ihm nur im Falle der Nichtigkeit dieses Beschlusses zusteht, oder etwa auf eine erhöhte Abfindung nach einem Squeeze-Out. Diesen letzteren Fall hat der EuGH nunmehr auch in diesem Sinne entschieden.768) Das Gleiche muss auch für Klagen eines Organs gelten, die sich gegen seine Abberufung richten: Nicht nur die ohne weiteres erfasste Anfechtungsklage gegen einen Abberufungsbeschluss,769) sondern auch eine Klage gegen dessen Konsequenzen müsste unter die ausschließliche Zuständigkeit fallen, wenn die behauptete Unwirksamkeit des Beschlusses im Zentrum ihrer Begründung steht.770) dd) Fazit Damit muss man zusammenfassend festhalten, dass sich der Gerichtsstand 523 trotz der allseits akzeptierten Vorgabe, ihn restriktiv anzuwenden, in den zentralen Punkten einer Eingrenzung anhand „harter“ Abgrenzungskriterien entzieht. Der Grund hierfür liegt letztlich im Gebot einer autonomen Auslegung der maßgeblichen Begriffe, die den EuGH zur Verwendung von Begriffen und Kriterien zwingt, die alle möglichen Gestaltungen nationaler Rechtsordnungen, die funktional unter die Vorschrift fallen sollten, erfassen können (siehe bereits oben Rn. 502). Diese notwendige „Offenheit“ impliziert in gleichem Maße Rechtsunsicherheit in der Prüfung der Frage, ob ein ___________ 766) Ebenso Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 70. 767) Siehe hierzu bereits oben Rn. 513 mit Fn. 74. 768) EuGH, v. 7.3.2018 – C 560/16, siehe hierzu bereits oben Rn. 513 Für die (auch schon bisher) ganz h. M. Zöller/Geimer, ZPO, Art. 24 EuGVVO Rn. 22 sowie (insoweit einhellig) die in Fn. 744 f. zitierten Stimmen. 769) Siehe den Fall von BGH, v. 12.7.2011 – II ZR 28/10, BGHZ 190, 242 = ZIP 2011, 1837 oben Rn. 488. 770) Der Ansicht von Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 72 und Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 17, die Klage eines Geschäftsführers gegen die Kündigung seines Anstellungsvertrags sei nicht erfasst, ist folglich nicht für alle Fälle zuzustimmen (wohl aber dann, wenn es um Mängel der Kündigung als selbständiges Rechtsgeschäft geht, vgl. Schlosser, a. a. O., Rn. 18 mit Hinweis auf Court of Appeals „Torras“ Lloyds Rep 1 (1996), 16).

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Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation

Rechtsstreit dem Gerichtsstand unterfallen wird oder nicht. Auf die Folgerungen aus dieser Situation ist nach Erörterung der Rechtsfolgen und des verbleibenden Anwendungsbereichs des „allgemeinen“ Zuständigkeitsregimes einzugehen (unten Rn. 532 f.). b) Rechtsfolge aa) Bestimmung des maßgeblichen „Sitzes“ 524 Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO/Art. 22 Nr. 2 LugÜ ordnen die ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedsstaats an, in dessen Hoheitsgebiet die Gesellschaft ihren „Sitz“ hat, wobei der maßgebliche Sitzort nach Satz 2 in diesem Zusammenhang – abweichend von der alternativen Sitzbestimmung in Art. 63 Brüssel Ia-VO/Art. 60 LugÜ – hier nach dem Internationalen Privatrecht (IPR) des angerufenen Gerichtes zu bestimmen ist. Gemeint sind damit tatsächlich die Vorschriften des IPR des Gerichtsstaats und nicht etwa eine Sitzbestimmung im internationalen Zivilprozessrecht dieses Staates oder eine Sitzbestimmung in dem durch das IPR berufenen Sach(Gesellschafts-)recht.771) Dass die Vorschrift damit von einer einheitlichen Sitzbestimmung – namentlich derjenigen, die nach Art. 63 Brüssel Ia-VO/Art. 60 LugÜ den Anwendungsbereich des europäischen Zuständigkeitssystems festlegt (oben Rn. 496) – absieht bzw. abweicht, kann theoretisch zur Bestimmung abweichender (ausschließlicher!) Zuständigkeiten je nach angerufenem Gericht führen, was von Kritikern zu Recht als für den europäischen Rechtsraum reformbedürftig angesehen wird.772) 525 Praktisch dürften derartige Konsequenzen immerhin im Anwendungsbereich der Brüssel Ia-VO bei Gesellschaften, die ihren Gründungs-/Entstehungsort kraft Inkorporation in einem EU-Staat haben, derzeit nicht eintreten. Denn infolge der Rechtsprechung des EuGH zur Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften773) müssten zwischenzeitlich sämtliche EU-Staaten Gesellschaften mit Herkunft aus einem EU- oder EWR-Staat in ihrem IPR dem Gründungsrecht unterstellen,774) so dass insoweit für den Regelfall von einer ausschließlichen Zuständigkeit am Gründungs-/Inkorporationsort ausgegangen ___________ 771) Prütting/Gehrlein/Pfeiffer, Art. 24 Brüssel Ia-VO Rn. 7; Rauscher/Mankowski, EuZPR/ EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 65 ff.; implizit auch BGH, v. 12.7.2011 – II ZR 28/10, BGHZ 190, 242 = ZIP 2011, 1837 Rn. 29 f. (siehe sogleich im Text in Rn. 518). 772) Siehe etwa Mankowski, in: Festschrift Simotta, S. 351, 369. 773) Siehe grundlegend EuGH, v. 9.3.1999 – C-212/97 – Centros, Slg. 1999, I-1459 = ZIP 1999, 438; EuGH, v. 5.11.2002 – C-208/00 – Überseering, Slg. 2002, I-9919 (dazu Großerichter, DStR 2003, 159 ff.); EuGH, v. 30.9.2003 – C-167/01 – Inspire Art, Slg. 2003, I-10155 = ZIP 2003, 1885. 774) So auch Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 69. Für das deutsche IPR siehe bereits das auf die vorzitierte Entscheidung des EuGHs in gleicher Sache ergangene Urteil des BGH v. 13.3.2003, VII ZR 370/98 – Überseering, BGHZ 154, 185 = ZIP 2003, 718. Für den EWR, in welchem kraft Art. 31, 34 des EWR-Abkommens ebenfalls die Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften analog dem AEUV gewährleistet ist, BGH, v. 19.9.2005 – II ZR 372/03, BGHZ 164, 148 = ZIP 2005, 1869.

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E. Der Gerichtsstand im internationalen Gesellschafterstreit

werden kann. Für das deutsche Recht hat dies der BGH in der eingangs Rn. 488 geschilderten Entscheidung bereits klargestellt und die ausschließliche Zuständigkeit an den in der Gründungsjurisdikton England bestehenden (Satzungs-)Sitz der fraglichen „Limited“ angeknüpft.775) Eine Ausnahme soll – eben weil es auf das IPR des Gerichtsstaats ankommt – lediglich dann gelten, wenn die Herkunftsjurisdiktion selbst nicht von einem dort bestehenden Sitz i. S. d. Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO ausgeht, etwa weil sie ihrerseits der Sitztheorie folgt.776) Dies ist theoretisch denkbar, weil die EuGH-Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit zwar zur „Anerkennung“ in anderen EUStaaten gegründeter Gesellschaften zwingt, es aber zulässt, dass die „eigenen“ Gesellschaften dem Recht des tatsächlichen Verwaltungssitzes unterworfen werden.777) Praktisch sind derartige Fälle allerdings nicht ersichtlich; in England gilt diesbezüglich – bislang – sogar eine spezielle gesetzliche Regelung, die im Ergebnis auf den Gründungssitz im Vereinigten Königreich abstellt (zum Fall des Vereinigten Königreichs auch nochmals sogleich Rn. 530).778) Befindet sich dagegen der Herkunftsstaat der Gesellschaft außerhalb der 526 EU bzw. des EWR, so bleibt es bislang – wenn nicht wie im Verhältnis zu den USA ausnahmsweise eine anderslautende bilaterale Regelung eingreift779) – im ungeschriebenen deutschen IPR bei der sog. Sitztheorie, nach welcher der tatsächliche Verwaltungssitz maßgeblich ist.780) Dies gilt nach dem deutschen IPR weiterhin auch für Schweizer Gesellschaften.781) Im Rechtsverkehr mit der Schweiz, dessen IPR auf die Gründungstheorie abstellt,782) können daher Folgen eintreten, die angesichts der durch das LugÜ gewollten Vereinheitlichung bizarr anmuten. Beispiel: So besteht etwa für eine in der Schweiz gegründete Gesellschaft mit tatsächlichem Verwaltungssitz in Deutschland aus Sicht der deutschen Gerichte eine ausschließliche Zuständigkeit in Deutschland, während die Schweizer Gerichte sich selbst als ausschließlich zuständig ansehen würden. ___________ 775) 776) 777) 778)

779)

780) 781) 782)

BGH, v. 12.7.2011 – II ZR 28/10, BGHZ 190, 242 = ZIP 2011, 1837 Rn. 25 – 28. BGH, v. 12.7.2011, a. a. O., Rn. 29 f. EuGH, v. 16.12.2008 – C-210/06 – Cartesio, Slg. 2008, I-9641 = ZIP 2009, 24. Schedule 1 para 10 (4) Civil Jurisdiction and Judgement Order 2001 (SI 2001/3929); siehe dazu Schilling, IPRax 2005, 208, 216 f.; vgl. auch BGH, v. 12.7.2011 – II ZR 28/10, BGHZ 190, 242 = ZIP 2011, 1837 Rn. 31. Art. XXV Abs. 5 des dt.-amerik. Freundschafts- Handels- und Schifffahrtsvertrages v. 29.10.1954; BGBl. II 1956, 488 verankert insoweit die Gründungstheorie; BGH, v. 13.19.2004 – I ZR 245/01, ZIP 2004, 2230. Siehe für eine Aufstellung weiterer relevanter Staatsverträge MünchKomm-BGB/Kindler, Bd. 12., 7. Aufl., IntGesR Rn. 328 f. MünchKomm-BGB/Kindler, Bd. 12, 7. Aufl., IntGesR Rn. 420 ff., 435 ff.; BGH, v. 27.10.2008 – II ZR 158/06 – Trabrennbahn, BGHZ 178, 192 = ZIP 2008, 2411. BGH, v. 27.10.2008, a. a. O. Vgl. Art. 154 Abs. 1 SchwIPRG.

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Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation

527 Folge ist also eine doppelte Zuständigkeit, die zu einem Wahlrecht des Klägers führt.783) Noch bizarrer ist das Ergebnis in dem – bislang wohl theoretisch gebliebenen – umgekehrten Fall: Hat eine in Deutschland gegründete Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in der Schweiz, so würden aufgrund der dargestellten Sichtweisen die deutschen Gerichte Schweizer Gerichte für ausschließlich zuständig halten und umgekehrt die Schweizer Gericht die deutschen. Die Folge wäre eine Zuständigkeitslücke, wenn nicht eine sog. Rückverweisung durch die jeweils andere IPRNorm eingreift.784) 528 Für Gesellschaften aus anderen Drittstaaten – d. h. aus Staaten, die weder Mitgliedstaaten der EU sind noch Vertragsstaaten des LugÜ – ist zu unterscheiden: Soweit das europäische Zuständigkeitssystem gleichwohl anwendbar ist, weil die Gesellschaft eine der Sitzarten der Art. 60 Brüssel Ia-VO/63 LugÜ innerhalb des Geltungsbereichs dieser Instrumente hat,785) begründet ein nach dem IPR des angerufenen Gerichtsstaats maßgeblicher Sitz innerhalb eines Mitgliedstaats bzw. Vertragsstaats dort einen ausschließlichen Gerichtsstand. Beispiel: So untersteht etwa eine auf den Bermudas inkorporierte „Briefkastengesellschaft“ mit Aktivitäten ausschließlich in Deutschland aus der Sicht deutscher Gerichte aufgrund der insoweit fortbestehenden Sitztheorie786) der ausschließlichen Gerichtsbarkeit Deutschlands als Staat des tatsächlichen Verwaltungssitzes. 529 Befindet sich hingegen der nach dem IPR des Gerichtsstaats maßgebliche Sitz außerhalb des europäischen Zuständigkeitssystems, so sprechen die Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO bzw. Art. 22 Nr. 2 LugÜ nach ihrem Wortlaut („… Gerichte des Mitgliedstaats …“) keine Rechtsfolge aus. Obwohl zahlreiche Stimmen in der Literatur für die Annahme einer sog. „Reflexwirkung“ dergestalt plädiert haben, dass in diesem Fall konsequenterweise die ausschließliche Zuständigkeit einer Dritt-Gerichtsbarkeit angenommen werden sollte (mit der Folge, dass eine Zuständigkeit im Staat des angerufenen Gerichts zu ___________ 783) Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 22 EuGVO a. F. Rn. 41; Kindler, NZG 2010, 576, 577 m. w. N. zur einhelligen Ansicht. 784) Deutsche Gerichte würden eine derartige Rückverweisung annehmen, da sich die „Sitztheorie“ grundsätzlich als Gesamtverweisung versteht, siehe MünchKomm-BGB/Kindler, Bd. 12, 7. Aufl., IntGesR Rn. 506 ff., und damit die Rückverweisung des Schweizer IPR auf den Gründungsort beachtlich wäre. Das Gleiche dürfte gem. Art. 14 SchwIPRG in der Schweiz gelten. 785) Siehe oben Rn. 496 ff.; andernfalls gelten die autonomen Zuständigkeitsvorschriften (unten Rn. 542 ff.). 786) Für die mit der EU nur assoziierten überseeischen britischen Hoheitsgebiete gilt die Niederlassungsfreiheit und damit auch die Rechtsprechung zur Gründungstheorie nur im Fall eines „real and continous link“ mit dem Inkorporationsterritorium, ansonsten bleibt es – wie im Beispiel – bei der Anwendung der Sitztheorie; siehe hierzu i. E. Zwirlein, GPR 2017, 182 ff.; BeckOK-BGB/Mäsch, Stand Nov. 2019, Art. 12 EGBGB Rn. 19.

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E. Der Gerichtsstand im internationalen Gesellschafterstreit

verneinen wäre),787) hat der europäische Gesetzgebers in der Neufassung der Brüssel Ia-VO am anderslautenden Wortlaut festgehalten. Dies bedeutet, dass mangels Eingreifen einer ausschließlichen Zuständigkeit der Rückgriff auf die sogleich darzustellenden „allgemeinen“ Zuständigkeitsregeln der europäischen Instrumente möglich ist.788) Beispiel: Wird in der vorstehend angeführten Gesellschaft, die auf den Bermudas inkorporiert ist, aber ihren tatsächlichem Sitz in Deutschland hat, die Klage etwa vor englische Gerichte gebracht, so könnte dort – da der aus Sicht des englischen IPR maßgebliche Gründungssitz außerhalb des Geltungsbereichs der Brüssel Ia-VO läge – auf die sogleich darzustellenden sonstigen Gerichtsstände der Brüssel IaVO zurückgegriffen werden. 530

Ausblick zu Gesellschaftsformen englischen Rechts: Für eine von deutschen Gesellschaftern gegründete „Limited“ oder LLP englischen Rechts bedeutet die gegenwärtige Rechtslage, dass ihre gesellschaftsorganisatorischen Streitigkeiten vor englischen Gerichten geklärt werden müssen.789) Dies würde sich auch nach Ende der Übergangsperiode infolge des Austritts des Vereingten Königreichs aus der EU nicht ändern, wenn es Teil des europäischen Zuständigkeitssystems bliebe, etwa durch Erstreckung des LugÜ (siehe oben Rn. 492, 495). Ist dies nicht der Fall, wäre das Vereinigte Königreich als Drittstaat im Sinne der vorstehenden Rn. anzusehen mit der Folge der Anwendung der „allgemeinen“ Zuständigkeitsregeln. Jedenfalls wird für das Vereinigte Königreich, wenn nicht noch eine andere Regelung verhandelt wird, mit dem Ende der Übergangsperiode aberdie Rechtsprechung des BGH zur Fortgeltung der Sitztheorie im Verhältnis zu Drittstaaten einschlägig. Das Vereinigte Königreich wäre dann wie der dargestellte Fall der Schweiz einzuordnen. Dies würde zu einschneidenden Konsequenzen für „Scheinauslandsgesellschaften“ in einer britischen Rechtsform führen, weniger im Zuständigkeitsrecht als im materiell anwendbaren Recht: Wegen des tatsächlichen Verwaltungssitzes in Deutschland wäre nunmehr deutsches Recht anwendbar mit der Folge, dass Rechtspersönlichkeit als „Limited“ oder LLP nicht mehr „anerkannt“ würde und die Gesellschaften als GbRs oder OHGs zu behandeln wären.790) Diese Aussicht dürfte ein (weiterer) guter Grund sein, über einen „Umzug“ der Gesellschaft in gleich welcher Form nachzudenken (dazu unten Rn. 550).

___________ 787) Wedemann, AG 2011, 282, 283 m. w. N.; Weber, RabelsZ 75 (2011), 619, 632; Thomale, NZG 2011, 1293. 788) So auch Geimer, in: Geimer/Schütze, Art. 22 EuGVVO a. F. Rn. 13; Wedemann, AG 2011, 282, 283. 789) Siehe oben Rn. 525; BGH, v. 12.7.2011 – II ZR 28/10, BGHZ 190, 242 = ZIP 2011, 1837. 790) Siehe zur Behandlung derartiger Gesellschaften allgemein MünchKomm-BGB/Kindler, Bd. 12, 7. Aufl., IntGesR Rn. 486 ff. und speziell mit Blick auf den „Brexit“ Zwirlein/ Großerichter/Gätsch, NZG 2017, 1041, 1042 f.; Weller/Thomale/Zwirlein, ZEuP 2018, 892 ff.; Mayer/Manz, BB 2016, 1731, 1733 f.; eingehend Stiegler, in Kramme/Baldus/ Schmidt-Kessel, Brexit – privat- und wirtschaftsrechtliche Folgen, 329 ff.

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Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation

bb) Rechtsfolgen der ausschließlichen Zuständigkeit 531 Ist der ausschließliche Gerichtsstand einschlägig, so führt dies zunächst wie bereits angesprochen dazu, dass abweichende Gerichtsstandsvereinbarungen wie auch eine rügelose Einlassung an einem anderen Gerichtsstand wirkungslos bleiben (Art. 25 Abs. 4, 26 Abs. 1 Satz 2 Brüssel Ia-VO/Art. 23 Abs. 5, 24 Satz 2 LugÜ). Ob eine andere Gerichtsbarkeit nach Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO/Art. 22 Nr. 2 LugÜ ausschließlich zuständig ist, muss vom angerufenen Gericht von Amts wegen geprüft werden, und zwar in jeder Lage des Verfahrens.791) Eine Unzuständigkeit führt zur in jeder Instanz – wie im eingangs Rn. 488 dargestellten Fall des BGH – zur Abweisung der Klage als unzulässig; eine Verweisung wie nach § 281 ZPO findet hinsichtlich der internationalen Zuständigkeit nicht statt.792) Bestehen Zweifel darüber, ob eine bestimmte Konstellation in den Anwendungsbereich des Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO fällt, so kann jede und muss die letzte Instanz dem EuGH vorlegen.793) 4. Anwendungsbereich und Regelung des „allgemeinen“ europäischen Zuständigkeitsregimes in Bezug auf den Gesellschafterstreit a) Verbleibender Anwendungsbereich des „allgemeinen“ Zuständigkeitsregimes 532 Der verbleibende Bereich des allgemeinen Zuständigkeitsregimes der Brüssel Ia-VO lässt sich nur negativ definieren als alle gesellschaftsrechtlichen794) Klagen, die nicht in den Anwendungsbereich des Art. 24 Nr. 2 fallen, also diejenigen, die nicht im dargestellten Sinne „im Kern“ den Bestand der Gesellschaft oder die Wirksamkeit eines Organbeschlusses betreffen. Praktisch vollständig aus dem Anwendungsbereich von Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO ausgeschlossen sind daher Klagen von Außenstehenden gegen die Gesellschaft, ihre Organe oder Gesellschafter.795) Auch Streitigkeiten um Haftungsfragen in jedwedem Verhältnis, insbesondere der Gesellschaft oder von Gesellschaftern gegen ihre Organe, fallen unter das allgemeine Zuständigkeitsregime.796) Auch Unternehmensverträge, insbesondere Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge sind, obwohl die Grundlagen der Gesellschaft betreffend, per se keine in Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO genannten Gegenstände, ___________ 791) Statt aller Geimer, in: Geimer/Schütze, Art. 22 EuGVVO Rn. 32. 792) BGH, v. 12.7.2011 – II ZR 28/10, BGHZ 190, 242 = ZIP 2011, 1837; Saenger/Dörner, ZPO, Art. 24 EuGVVO Rn. 1. 793) Siehe oben Rn. 494 mit Fn. 675. 794) Zur sachlichen Ausnahme von Klagen, die unter die EuInsVO fallen, bereits oben Rn. 497. 795) Siehe hierzu die Beispiele bei Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 83. 796) Statt aller Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 83. Eine Ausnahme wäre nach oben Rn. 508 ff. zu machen, wenn im Gewand einer derartigen Klage in Wahrheit die Rechtmäßigkeit eines Beschlusses der Klagegegenstand ist.

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E. Der Gerichtsstand im internationalen Gesellschafterstreit

so dass diesbezügliche Auseinandersetzungen nur erfasst sind, wenn sie dem Abschluss zugrunde liegende Beschlüsse betreffen.797) Schließlich und vor allem bleiben zahlreiche Klagen aus der Mitgliedschaft 533 außen vor, für die in der Brüsssel Ia-VO kein umfassender Gerichtsstand wie im deutschen Recht nach § 22 ZPO vorgesehen ist. Klagen der Gesellschaft gegen die Mitglieder auf Zahlung der Stammeinlage sind ebenso wenig erfasst798) wie umgekehrt Klagen der Gesellschafter gegen die Gesellschaft auf Gewinnanteile, Auskünfte, Vorlage von Geschäftsunterlagen oder andere Leistungen,799) wenn die Klage nicht im Kern auf die Nichtigerklärung oder Ersetzung/Ergänzung eines zugrundeliegenden Organbeschlusses gerichtet ist. Unter demselben Vorbehalt fallen auch Klagen der Gesellschafter gegeneinander nicht unter Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO.800) Schließlich ist daran zu erinnern, dass nach zahlreichen Stimmen unmittelbar auf Entziehung gesellschaftsrechtlicher Rechte oder der Mitgliedschaft selbst gerichtete Klagen aufgrund des Wortlauts von Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO ausgenommen sein sollen (oben Rn. 513). Für den Gesellschafterstreit gilt folglich ein gespaltenes Zuständigkeitsregime je nachdem, ob die Auseinandersetzung mittels eines Angriffs gegen einen der in Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO genannten Gegenstände geführt wird oder nicht. b) Gerichtsstände Die außerhalb der ausschließlichen Zuständigkeit in Betracht kommenden 534 Gerichtsstände nach Brüssel Ia-VO/LügÜ und ihr grundsätzliches Verhältnis zueinander wurden bereits oben Rn. 499 dargestellt. Zu erinnern ist zunächst an die weitere ausschließliche Zuständigkeit nach Art. 24 Nr. 3 Brüssel Ia-VO bzw. Art. 22 Nr. 3 LugÜ, welche für Streitigkeiten um die Gültigkeit von Eintragungen in öffentlichen Registern die Zuständigkeit der Gerichte des registerführenden Mitgliedstaats anordnet. Sie ist für ausländische Gesellschaftsformen durchaus praktisch bedeutsam, weil sie auch Eintragungen in einem Gesellschaftsregister wie (bislang) dem englischen Companies House umfasst, kann aber, da dieser Streit mit der registerführenden Stelle zu führen ist, im Rahmen von Streitigkeiten unter Gesellschaftern auch als „Instrument“ kaum eine Rolle spielen und wird daher nicht vertieft darge-

___________ 797) Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 89. 798) OLG Naumburg, v. 24.8.2000 – 7 U (Hs) 3/00, NZG 2000, 1218; implizit BGH, v. 2.6.2003 – II ZR 134/02, NZG 2003, 812 (jeweils betreffend Klagen auf Zahlung der Kommanditeinlage); Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 16. 799) Siehe hierzu die Aufzählung bei Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 82 und Geimer, in Geimer/Schütze, Art. 22 EuGVVO Rn. 212a. 800) Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 24 EuGVVO Rn. 88 mit allerdings zu weit geratener Formulierung (siehe oben Fn. 693).

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Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation

stellt.801) Zu den weiteren denkbaren Gerichtsständen ist hier lediglich die in Bezug auf den Gesellschafterstreit relevanten Besonderheiten einzugehen: aa) Gerichtsstandsvereinbarung nach Art. 25 Brüssel Ia-VO/Art. 23 LugÜ 535 Der bei weitem wichtigste Gerichtsstand ist derjenige, der die Anführungszeichen bei der Bezeichnung als „allgemeines“ Zuständigkeitsregime erforderlich macht: Art. 25 Brüssel Ia-VO/Art. 23 LugÜ eröffnen den Gesellschaftern die Möglichkeit, einen Gerichtsstand für künftige Streitigkeiten zu vereinbaren, soweit keine ausschließliche Zuständigkeit von Gesetzes wegen eingreift (Art. 25 Abs. 4/Art. 23 Abs. 5 LugÜ). Die räumlich-persönliche Anwendbarkeit des Art. 25 Brüssel Ia-VO geht weiter als diejenige der VO im Übrigen (oben Rn. 496), denn sie ist unabhängig vom (Wohn-)Sitz der Parteien und setzt lediglich die Vereinbarung der Zuständigkeit der Gerichte eines Mitgliedstaats voraus.802) Es muss daher nur noch überhaupt Auslandsberührung vorliegen,803) die sowohl durch eine ausländische Gesellschaftsform als auch durch ausländische Nationalitäten oder (Wohn-)Sitze im Gesellschafterkreis vermittelt werden kann. Nach Art. 23 LugÜ muss noch ein (Wohn-)Sitz einer der Parteien der Vereinbarung in einem Mitgliedsstaat hinzukommen. Das seit dem 1.10.2015 in Kraft befindliche Haager Gerichtsstandsübereinkommen geht den Regelungen der Brüssel Ia-VO aufgrund seiner Ratifikation durch die EU selbst grundsätzlich vor,804) wird aber aufgrund der Konkurrenzregel seines Art. 26 Abs. 6 lit. a nur in Ausnahmefällen tatsächlich vorrangig anwendbar sein805) und weicht zudem in seinem Regelungsgehalt kaum von den Vorschriften der Brüssel Ia-VO ab.806) Ggf. könnte dem Ab-

___________ 801) Siehe weiterführend Willemer, in: Mehrbrey, § 88 D. Rn. 24. 802) Dieser ist auch für vor seinem Inkrafttreten abgeschlossene Gerichtsstandsvereinbarungen maßgeblich, sofern diese durch den Wechsel der Maßstäbe nicht unwirksam werden, s. zur intertemporalen Anwendbarkeit Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, Art. 25 EuGVVO Rn. 8 ff. 803) Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, Art. 25 EuGVVO Rn. 6. 804) Siehe dazu bereits oben Rn. 495. 805) Dies ist nur dann der Fall, wenn eine der Parteien der Gerichtsstandsvereinbarung ihren (Wohn-)Sitz außerhalb der EU und zugleich in einem Mitgliedstaat des Haager Übereinkommens hat. Dies kommt bislang nur in Betracht, wenn eine Partei ihren Sitz in Mexiko hat. Allerdings wird die Vorschrift bei Ratifizierung durch weitere Staaten, etwa die Zeichnerstaaten USA und Singapur, rasch an Bedeutung gewinnen, da das Erfordernis bei einer Vielparteien-Gerichtsstandsvereinbarung wie in einer Gesellschaftssatzung an sich leicht erfüllt sein kann. 806) Insbesondere werden gesellschaftsorganisatorische Streitigkeiten (mit identischer Formulierung wie in Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO) aus dem sachlichen Anwendungsbereich des Übereinkommens ausgenommen, Art. 2 lit. m), so dass auch eine ansonsten nach dem Haager Übereinkommen zu beurteilende Vereinbarung diesen Gerichtsstand nicht außer Kraft setzen kann.

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E. Der Gerichtsstand im internationalen Gesellschafterstreit

kommen zukünftig Bedeutung im Verhältnis der EU-Staaten zum Vereinigtes Königreich zukommen.807) Der Abschluss einer Gerichtsstandsvereinbarung ist nicht an besondere per- 536 sönliche Voraussetzungen gebunden. Sie erfordert lediglich Schriftform bzw. eine der in Abs. 1 Satz 3 der genannten Vorschriften gleichgestellten Modalitäten des Abschlusses. Insbesondere ist ihr Abschluss in Gesellschaftsvertrag bzw. Satzung möglich und in dieser Form auch für Rechtsnachfolger wie neu hinzukommende Gesellschafter verbindlich.808) Sie kann durch eine spätere Vereinbarung jederzeit abgeändert werden, wobei dies bei einer Satzungsbestimmung natürlich an eine entsprechende Beschlussfassung mit ggf. qualifizierten Quoren gebunden ist. Als entscheidender Zeitpunkt wird derjenige der Klageerhebung angesehen.809) Der vereinbarte Gerichtsstand ist – vorbehaltlich einer abweichenden Bestimmung – wiederum ein ausschließlicher (jeweils Abs. 1 Satz 2). Auch der sachliche Umfang, etwa die Frage, ob sie auf deliktische Ansprüche gestützte Streitigkeiten unter Gesellschaftern erfassen soll, unterliegt der Parteidisposition und ist ggf. durch Auslegung zu ermitteln.810) Gegen Klagen an anderen Gerichtsständen wird eine ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung nach Art. 31 Abs. 2 Brüssel Ia-VO besonders geschützt, indem ein konkurrierend angerufenes Gericht das Verfahren bis zur Klärung der Zuständigkeit des prorogierten Gerichts aussetzen muss. Eine parallele Vorschrift im LugÜ fehlt allerdings bislang noch. bb) Rügelose Einlassung, Art. 26 Brüssel Ia-VO/Art. 24 LugÜ Auch nach Klageerhebung ist aber jedenfalls die einvernehmliche Zuständig- 537 keitsbegründung des angerufenen Gerichts nach Art. 26 Brüssel Ia-VO/Art. 24 LugÜ noch durch rügelose Einlassung möglich. Die Anwendungsvoraussetzungen sind die gleichen wie diejenigen der Vorschriften zur Gerichtsstandsvereinbarung.811) Bei Eingreifen einer ausschließlichen Zuständigkeit bleibt freilich auch diese wirkungslos (Art. 26 Abs. 1 Satz 2 Brüssel Ia-VO/Art. 24 Satz 2 LugÜ). Dies ist nicht nur im Hinblick auf den Gerichtsstand des Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO/Art. 22 Nr. 2 LugÜ zu beachten, sondern kann auch dann eine Rolle spielen, wenn zuvor z. B. in der Satzung der Gesellschaft ___________ 807) Dieses hatte für den Fall eines abkommenslosen Brexit bereits eine bedingte Beitrittserklärung hinterlegt, die allerdings am 31.1.2020 einstweilen zurückgezogen wurde, siehe https://www.hcch.net/de/instruments/conventions/status-table/notifications/ ?csid=1318&disp=resdn. 808) EuGH, v. 10.3.1992 – Rs. C-214/89 – Powell Duffryn, Slg. 1992, I-1745. 809) Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 23 EuGVVO a. F. Rn. 11; EuGH, v. 13.11.1979 – 25/79 – Saniocentral, Slg. 1979, 3423. Dies kann sich indes nur auf die derogierende Wirkung beziehen; eine Zuständigkeitsbegründung ist im Rahmen der rügelosen Einlassung auch danach noch möglich (nachfolgend Rn. 537). 810) Statt aller Geimer, in Geimer/Schütze, Art. 23 EuGVVO a. F. Rn. 151. 811) Für die Art. 24 LugÜ entsprechende Fassung noch str., aber h. M.; vgl. i. E. Rauscher/ Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 26 EuGVVO Rn. 2 f.

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Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation

ein anderer (wie zu vermuten) ausschließlicher Gerichtstand bestimmt wurde. Denn die rügelose Einlassung ist zwar nach ständiger Rechtsprechung des EuGH als stillschweigende Gerichtsstandsvereinbarung zu werten, die folglich zwischen den Parteien einer vorangehenden Abrede diese auch ändern kann,812) eine Satzungsbestimmung kann aber – je nach Auslegung dieser Bestimmung – einer abweichenden späteren Vereinbarung z. B. unter nur zwei Gesellschaftern entgegenstehen und wäre ggf. nur mit den erforderlichen Quoren zu ändern. cc) Allgemeiner Gerichtsstand, Art. 4 Brüssel Ia-VO/Art. 2 LugÜ 538 Der allgemeine Gerichtsstand eines Gesellschafters als Prozessgegner ist dessen Wohnsitz (Art. 4 Brüssel Ia-VO/Art. 2 LugÜ), bei der Gesellschaft als Beklagter deren Sitz, wobei im Rahmen des allgemeinen Gerichtsstands die autonom-alternative Bestimmung des Sitzes nach Art. 63 Brüssel Ia-VO/Art. 60 LugÜ gilt. Danach kann sowohl am satzungsmäßigen Sitz (Abs. 1 lit. a) als auch am Ort der Hauptverwaltung (Abs. 1 lit. b) oder Hauptniederlassung (Abs. 1 lit. c) geklagt werden. Die Begriffe stammen aus Art. 54 AEUV und sollen nunmehr autonom verstanden werden (ErwGr 15 a. E.). Der satzungsmäßige Sitz ergibt sich aus Gesellschaftsvertrag bzw. Satzung; für die Fälle (noch) des Vereinigten Königreichs sowie Irlands und Zyperns tritt an die Stelle des dort unbekannten Begriffs gem. Abs. 2 das „registered office“, also der im Register als Adresse angegebene Sitz.813) Unter der „Hauptverwaltung“ ist entsprechend der Herkunft aus der Sitztheorie der Ort zu verstehen, von dem aus die grundlegenden unternehmerischen Entscheidungen getroffen werden.814) Die Hauptniederlassung ist der Ort, von dem aus die Gesellschaft den Schwerpunkt ihres Geschäftsverkehrs nach außen betreibt, was regelmäßig eine entsprechende Personal- und Sachausstattung voraussetzt.815) dd) Besondere Gerichtsstände, Art. 7 f. Brüssel Ia-VO/Art. 5 f. LugÜ 539 Unter den besonderen Gerichtsständen des europäischen Zuständigkeitssystems kann für gesellschaftsrechtliche Auseinandersetzungen insbesondere der Gerichtsstand des Erfüllungsorts nach Art. 7 Nr. 1 Brüssel Ia-VO/Art. 5 Nr. 1 LugÜ Bedeutung erlangen. Nach dem weiten autonomen Begriffsverständnis des EuGH sind als „vertraglich“ sämtliche Ansprüche zu qualifizieren, die auf einer gegenüber einer anderen Partei freiwillig eingegangenen Verpflichtung beruhen,816) so dass sowohl die Gesellschaft selbst und die Bezie___________ 812) EuGH, v. 24.6.1981 – Rs. 150/80 – Elefanten Schuh ./. Pierre Jacqmain, Slg. 1981, 1671 ff., Tz. 8; jüngst nochmals EuGH, v. 17.3.2016 – C-175/15. 813) Siehe dazu Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 60 Rn. 3. 814) Geimer, in Geimer/Schütze, Art. 60 EuGVVO a. F. Rn. 6. 815) Geimer, in Geimer/Schütze, Art. 60 EuGVVO a. F. Rn. 7. 816) Siehe statt aller die Nachw. bei Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR, Art. 7 EuGVVO Rn. 20 m. w. N.

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E. Der Gerichtsstand im internationalen Gesellschafterstreit

hung zu und unter den Gesellschaftern817) als auch etwa die organschaftliche Sonderbeziehung zwischen der Gesellschaft und ihren Organen818) erfasst ist. Der Erfüllungsort ist in Ermangelung einer konkreten Vereinbarung nach dem auf die fragliche Verpflichtung anwendbaren materiellen Recht zu bestimmen, welches wiederum nach dem IPR des beurteilenden Gerichts ermittelt werden muss (Art. 7 Nr. 1 Abs. 2 lit. c, Abs. 1 Brüssel Ia-VO/Art. 5 Nr. 1 Abs. 2 lit. c, Abs. 1 LugÜ819)). Wie bei der Sitzbestimmung nach Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO/Art. 22 Nr. 2 LugÜ ist folglich ein unterschiedlicher Maßstab je nach angerufener Gerichtsbarkeit denkbar; vor deutschen Gerichten ist das anwendbare Recht bei europäischen Gesellschaften nach der Gründungstheorie und im Übrigen nach der Sitztheorie zu ermitteln (soeben Rn. 524 ff.). Praktisch dürfte es gleichwohl selten zu Abweichungen kommen, da der Erfüllungsort der für einen Gesellschafterstreit relevanten Verpflichtungen regelmäßig am Satzungssitz der Gesellschaft angesiedelt werden wird.820) Als weiterer besonderer Gerichtsstand mit möglichen gesellschaftsrechtlichen 540 Bezügen ist der deliktische Gerichtsstand des Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO/ Art. 5 Nr. 3 LugÜ zu nennen. Da er nach ständiger Rechtsprechung des EuGH gegenüber dem Gerichtsstand des Erfüllungsorts subsidiär ist und folglich nur Haftungsklagen erfasst, die nicht an einer freiwilligen Verpflichtung im vorstehend dargestellten Sinne anknüpfen,821) dürfte sich seine Bedeutung allerdings auf Auseinandersetzungen mit Organen auf deliktischer Grundlage beschränken. Im Rahmen eines Streits unter Gesellschaftern könnte der Gerichtsstand möglicherweise relevant werden, wenn Fragen der Existenzvernichtung inmitten stehen.822) Die weiteren besonderen Gerichtsstände der Art. 7 f. Brüssel Ia-VO/Art. 5 f. 541 LugÜ weisen kaum gesonderte Bedeutung gerade für den Gesellschafterstreit ___________ 817) So für den Verein EuGH, v. 22.3.1983 – Rs. 34/82 – Peters ./. Zui Nederlands Aannemers, Slg. 1983, 987; für die AG EuGH, v. 10.3.1992 – C-214/89 – Duffryn ./. Petereit, Slg. 1992 I 1769; für die Klage auf Zahlung der Kommanditeinlage BGH, v. 2.6.2003 – II ZR 134/02, NZG 2003, 812. Weit. Nachw. siehe Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR, Art. 7 EuGVVO Rn. 26. 818) OLG München, v. 25.6.1999 – 23 U 4834/98, NZG 1999, 1170; OLG Celle, v. 12.1.2000 – 9 U 126/99, NZG 2000, 595 Anm. Bous (jeweils zum LugÜ); Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR, Art. 7 EuGVVO Rn. 26 m. w. N. 819) Siehe zur st. Rspr. des EuGH zur Bestimmung des Erfüllungsorts nach der lex causae Zöller/Geimer, ZPO, Art. 7 EuGVVO Rn. 1. 820) So auch Willemer, in: Mehrbrey, § 88 Rn. 13; von Hase in: Triebel/von Hase/Melerski, Rn. 543 zum englischen Recht für die Zahlung der Einlage. Dagegen können z. B. Pflichten von Organen durchaus am tatsächlichen Hauptsitz zu erfüllen sein mit der Folge eines entsprechenden Gerichtsstands. 821) EuGH, v. 27.9.1988 – C-189/87 – Kalfelis/Schröder; Schlosser/Hess/Schlosser, EuZPR, Art. 7 EuGVVO Rn. 13. 822) Willemer, in: Mehrbrey, § 88 C. Rn. 14. Zu beachten ist bei den in Betracht kommenden deliktischen Anspruchsgrundlagen allerdings eine etwaig vorrangige insolvenzrechtliche Qualifikation.

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Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation

auf. Von genereller Relevanz ist bei Gesellschaften der Gerichtsstand der Niederlassung nach Art. 7 Nr. 5 Brüssel Ia-VO/Art. 5 Nr. 5 LugÜ, der für Streitigkeiten aus dem Betrieb einer (Schein-)Niederlassung gilt und damit vor allem gesellschaftsexternen Klägern einen zusätzlichen Gerichtsstand bietet. Erwähnenswert ist ferner, dass Art. 8 Nr. 1 Brüssel Ia-VO/Art. 6 Nr. 1 LugÜ einen deutlich weitergehenden streitgenössischen Gerichtsstand vorsehen als dies im internen Recht der Fall ist. Dies kann vor allem Bedeutung erlangen, wenn außer der Gesellschaft auch z. B. ein bestimmender Gesellschafter oder ein Organ in Anspruch genommen werden sollen. III. Internationale Zuständigkeit für Gesellschafterstreitigkeiten außerhalb des Anwendungsbereichs des europäischen Zuständigkeitssystems 542 Das verbleibende Zuständigkeitsregime für „außereuropäische“ Sachverhalte greift nur noch ein, wenn der Beklagte keinen Wohnsitz bzw. die beklagte Gesellschaft weder ihren satzungsmäßigen Sitz noch ihre Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung in einem Mitgliedstaat der EU bzw. Vertragsstaat des LugÜ hat, wobei zu beachten ist, dass es bezüglich Gerichtsstandsvereinbarungen bzw. rügeloser Einlassung sogar noch weiter zurückgedrängt ist (sogleich Rn. 544). Es wird, da relevante staatsvertragliche Bindungen im Bereich der internationalen Zuständigkeit im Gesellschaftsrecht nicht bestehen (siehe oben Rn. 491, zur Ausnahme der Gerichtsstandsvereinbarungen wiederum sogleich Rn. 544), durch das autonome deutsche Zuständigkeitsrecht geregelt. Dieses wiederum enthält im hiesigen Kontext keine expliziten Regelungen für die internationale Zuständigkeit, so dass diese aus den Bestimmungen über die örtliche Zuständigkeit in dem Sinne abzuleiten ist, dass die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte gegeben ist, wenn ein deutsches Gericht örtlich zuständig ist.823) Das deutsche autonome Zuständigkeitssystem für den Gesellschafterstreit setzt sich demnach zusammen aus den vorrangigen spezialgesetzlichen örtlichen Zuständigkeiten für bestimmte Klagearten bei einzelnen Gesellschaftstypen, und, soweit diese nicht eingreifen, den relevanten allgemeinen Normen über die örtliche Zuständigkeit. 543 In der ersten Kategorie sind zahlreiche Bestimmungen insbesondere des AktG und des GmbHG zu nennen, die eine ausschließliche örtliche Zuständigkeit am Sitz der Gesellschaft anordnen. So werden neben Auskunfts- und Einsichtsrechten der Gesellschafter (§§ 132 Abs. 1 AktG, 51bGmbHG i. V. m. 132 Abs. 1 AktG) insbesondere Auflösungs-, Anfechtungs- und Nichtigkeitsklagen bzw. auf Beschlüsse bezogene Feststellungsklagen gem. § 246 Abs. 3 Satz 1 AktG (ggf. i. V. m. §§ 249 Abs. 1 Satz 1 bzw. 275 Abs. 4 Satz 1 AktG) und § 61 Abs. 3 GmbHG ausschließlich dem Landgericht am Sitz der Gesellschaft zugeordnet. Auch § 2 SpruchG vermittelt eine internationale Zustän___________ 823) Allg. Ansicht; siehe statt aller Zöller/Geimer, ZPO, IZPR Rn. 37 (sog. Doppelfunktionalität der Normen über die örtliche Zuständigkeit).

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E. Der Gerichtsstand im internationalen Gesellschafterstreit

digkeit deutscher Gerichte.824) Damit gilt für die unter diese Regelungen fallenden Gesellschaften in Summe eine ähnliche Regelung wie nach Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO. Im Übrigen, d. h. außerhalb der genannten Klagearten und – insoweit anders als im europäischen Zuständigkeitssystem – insgesamt bei Streitigkeiten in personalistisch geprägten Gesellschaften gelten die allgemeinen Bestimmungen über die örtliche Zuständigkeit. Der allgemeine Gerichtsstand liegt folglich je nach beklagter Partei gem. §§ 12, 13, 17 ZPO am Wohnsitz des Beklagten oder dem Sitz der beklagten Gesellschaft. Dieser allgemeine Gerichtsstand wird jedoch – anders als im europäischen Zuständigkeitssystem – nicht nur durch den besonderen Gerichtsstand der Niederlassung gem. § 21 ZPO ergänzt, sondern vor allem durch den umfassenden besonderen Gerichtsstand der Mitgliedschaft gem. § 22 ZPO, der für Gesellschafterstreitigkeiten praktisch immer eine Klage am Sitz der Gesellschaft ermöglicht. Den weiteren denkbaren besonderen Gerichtsständen (z. B. Gerichtsstand des Erfüllungsorts gem. § 29 ZPO) kommt für den Gesellschafterstreit nur geringe Bedeutung zu. Gesondert zu erörtern sind Gerichtsstandsvereinbarung und rügelose Ein- 544 lassung. Die autonomen Normen (§§ 38, 39 ZPO) kommen hier kaum noch zur Anwendung, da für die Anwendbarkeit des vorrangigen Art. 25 f. Brüssel Ia-VO unabhängig vom Sitz der Parteien allein die Begründung der Zuständigkeit eines mitgliedstaatlichen Gerichts genügt. Den nationalen Vorschriften geht ferner noch Art. 23 LugÜ sowie (mit der Ausnahme gesellschaftsorganisatorischer Streitigkeiten) das Haager Gerichtsstandsübereinkommen vor, wenn die Gerichte eines der dortigen Mitgliedstaaten für zuständig erklärt werden, im Fall des LugÜ muss ferner noch der Sitz einer der Parteien in einem der Mitgliedstaaten hinzukommen (siehe oben Rn. 535, 537). Dies bedeutet, dass die §§ 38, 39 ZPO praktisch nur noch für die Prorogation der Zuständigkeit der Gerichte eines Staates eingreifen, der keinem der genannten Instrumente angehört. IV. Folgerungen aus dem Zuständigkeitsregime für Prozessführung und Beratung 1. Form der Auseinandersetzung und Wahl des Forums Für den Praktiker stellt sich unter den dargestellten Gegebenheiten zuerst 545 die Frage, ob ein Gesellschafterstreit im Fall einer gerichtlichen Auseinandersetzung unter das europäische Zuständigkeitssystem fallen wird (oben Rn. 496) und – wenn diese Frage wie in der Regel zu bejahen ist –, ob eine ausschließliche Zuständigkeit nach Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO/Art. 22 Nr. 2 LugÜ im Raum steht.

___________ 824) LG München I, v. 28.8.2008 – 5 HKO 2522/08, NZG 2009, 143, 148.

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Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation Praxistipp: Auf beiden Seiten sollte dies bereits beachtet werden, wenn sich die Auseinandersetzung abzeichnet und ggf. noch Spielraum hinsichtlich der „Wahl der Mittel“ besteht. Wird ein Organbeschluss gefasst und zum Gegenstand des Streits, so ist für eine etwaige gerichtliche Auseinandersetzung – was gewünscht oder unerwünscht sein kann – der Weg zum ausschließlichen Gerichtsstand am Satzungssitz vorgezeichnet.

546 Ist dies der Fall, so ist zu beachten, dass die dargestellten Unschärfen des Anwendungsbereichs dieses ausschließlichen Gerichtsstands in Zweifelsfällen v. a. der beklagten Partei eines internationalen Gesellschafterstreits ein beträchtliches Potential eröffnen können, eine Verurteilung mit der Diskussion über die Zuständigkeitsfrage zu verhindern oder zu verzögern, wenn an einem anderen Gerichtsstand geklagt wird als demjenigen des Satzungssitzes. Praxistipp: Dies spricht dafür, in einem Zweifelsfall die Klage sogleich am Satzungssitz zu erheben, wenn dort auch abseits Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO/Art. 22 Nr. 2 LugÜ ein Gerichtsstand besteht. Ist die Gesellschaft Beklagte, so ist dies aufgrund des ebenfalls dort befindlichen allgemeinen Gerichtsstands regelmäßig – vorbehaltlich einer anderslautenden Gerichtsstandsvereinbarung (siehe dazu auch sogleich Rn. 548) – der Fall. Hierdurch entfallen sämtliche Abgrenzungsdiskussionen. Etwaige Kosten- und Opportunitätsnachteile sollten abgewogen werden gegen das Risiko, dass die Klage wie in dem einleitend (Rn. 488) geschilderten Fall des BGH kostenpflichtig als unzulässig abgewiesen werden kann. Auch das Verzögerungspotential in Zweifelsfällen ist – man denke an die Möglichkeit einer Vorlage an den EuGH – beträchtlich. Muss die Klage auf einen der Gegenstände des Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO/ Art. 22 Nr. 2 LugÜ gerichtet werden, so ist es angesichts der Rechtsprechung des EuGHs zur Bestimmung des Streitgegenstands (oben Rn. 517 ff.) auch nicht empfehlenswert, dies durch eine entsprechende Gestaltung der Antragstellung oder des Prozessstoffs umgehen zu wollen. Dies eröffnet dem Beklagten das dargestellte Verzögerungspotential und sogar dann, wenn der Beklagte dieses mangels Kenntnis oder wegen eigener Befürchtungen eines noch kostspieligeren Prozesses im Ausland nicht nutzt, bleibt der Prozess unter dem „Damoklesschwert“, dass das Gericht bei der amtswegigen Prüfung (oben Rn. 531) seine Zuständigkeit verneint.

547 In nicht wenigen Fällen wird sich – insbesondere bei Gesellschaftern sog. „Scheinauslandsgesellschaften“ – auch nach Ausbruch eines Streits wenigstens ein Konsens darüber herstellen lassen, dass ein aufwendiger und kostenträchtiger Prozess am ausschließlichen Gerichtsstand im Ausland vermieden werden sollte. Da sich dieses Ziel bei Einschlägigkeit des ausschließlichen Gerichtsstands durch Vereinbarung eines anderen Gerichtsstands oder rügelose Einlassung nicht erreichen lässt (oben Rn. 531), und die verbleibenden, sogleich (Rn. 549 ff.) noch darzustellenden Gestaltungsmöglichkeiten nicht weniger kosten- und aufwandsträchtig sind, sollte bei einem derartigen Konsens verstärkt an die Möglichkeit einer außergerichtlichen Streitbeilegung, insbesondere durch Mediation, gedacht werden.

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E. Der Gerichtsstand im internationalen Gesellschafterstreit Praxistipp: Im Rahmen der Mediationsabrede kann der Mediationsort von den Parteien frei und ohne Rücksicht auch auf ausschließliche Gerichtsstände bestimmt werden. Die Mediationsabrede kann auch bestimmen, dass für eine gewisse Zeit keine Klage vor den ordentlichen Gerichten erhoben wird. Die praktische Wirksamkeit einer derartigen Abrede beurteilt sich nach der lex fori des angerufenen Gerichts,825) so dass hier vor allem auf die Rechtsordnung des Staates geachtet werden muss, in dem sich (potentiell) ein ausschließlicher Gerichtsstand befindet, da vor allem dieser abredewidrig in Anspruch genommen werden könnte.

2. Gestaltungsoptionen im Vorfeld a) Folgerungen für die Gestaltung einer Gerichtsstandsklausel Eine Gerichtsstandsklausel in Gesellschaftsvertrag bzw. Satzung bleibt zwar 548 – anders als die sogleich noch darzustellende Schiedsabrede – gegenüber Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO/Art. 22 Nr. 2 LugÜ wirkungslos (oben Rn. 531). Gleichwohl ergeben sich für den Fall, dass keine Schiedsabrede getroffen werden soll, Folgerungen aus dem dargestellten Zuständigkeitsregime sowohl für das „ob“ als auch für das „wie“ einer Gerichtsstandsvereinbarung. Zunächst kann eine solche, da die nunmehr erweiterten räumlich-persönlichen Anwendungsvoraussetzungen des Art. 25 Brüssel Ia-VO (oben Rn. 535) in jedem Sachverhalt mit Auslandsberührung der Gesellschaftsform oder auch nur im Gesellschafterkreis eingreifen, praktisch immer unter dem einheitlichen Regime dieser Vorschrift und damit ohne hohe Formerfordernisse oder persönliche Voraussetzungen abgeschlossen werden (oben Rn. 536). Mit ihr kann vor allem zweierlei bewirkt werden: Zum einen kann für alle „allgemeine“ Gesellschafterstreitigkeiten, die nicht in den Bereich des ausschließlichen Gerichtsstands fallen, eine einheitliche Zuständigkeit an einem funktionierenden Gerichtsstand geschaffen werden, die zudem nach der Brüssel Ia-VO in der oben Rn. 536 dargestellten Weise gegen „Torpedoklagen“ an anderen Gerichtsständen abgesichert ist. Zum zweiten lässt sich, wenn die Zuständigkeit am Satzungssitz begründet wird, an diesem Gerichtsstand sogar eine umfassende Zuständigkeitskonzentration für alle gesellschaftsrechtlichen Angelegenheiten (außerhalb von unter die EuInsVO fallenden Tatbeständen) schaffen.

___________ 825) Siehe hierzu sowie zu Titulierungsmöglichkeiten bei Mediationen in grenzüberschreitenden Sachverhalten Großerichter, Mediationsverfahren mit Auslandsberührung, in: Eidenmüller/Wagner, Mediationsrecht, 2015, Kap. 12 Rn. 28 f., 50 ff.

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Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation Praxistipp: Für Gesellschafter einer im Inland tätigen Gesellschaft mit ausländischer Gesellschaftsform mag es auf den ersten Blick naheliegen, wenigstens in dem Bereich, der außerhalb der zwingenden ausschließlichen Zuständigkeit verbleibt, eine Auseinandersetzung vor deutschen Gerichten festzuschreiben. Hierfür sprechen die geringeren Kosten und der einfachere (sprachliche) Zugang zur Justiz. Allerdings ist dabei zu bedenken, dass gerade ein derart „gespaltener“ Gerichtsstand erst die dargestellten Abgrenzungsfragen und das damit verbundene Konflikt- und Blockadepotentials für entsprechende Klagen verursacht. Hinzu kommen die oben Rn. 501 a. E. dargelegten Erwägungen für die Wahl dieses Gerichtsstandes durch den europäischen Gesetzgeber. Jedenfalls dann, wenn der Satzungssitz in einer effektiven Jurisdiktion wie z. B. der niederländischen liegt, und erst recht bei einem tatsächlich internationalen Gesellschafterkreis spricht daher viel dafür, die für gesellschaftsorganisatorische Klagen festgeschriebene Zuständigkeit durch eine entsprechende Wahl der Gerichte am Sitz i. S. d. Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO auf einen allgemeinen Gerichtsstand für Auseinandersetzungen innerhalb der Gesellschaft zu erweitern. Diese Empfehlung hätte bislang trotz hoher Kosten insbesondere auch für den Fall Englands gegolten, wo sie sich allerdings schon wegen der nunmehr bestehenden Ungewissheit über die Fortgeltung des europäischen Zuständigkeitssystems, oben Rn. 492 und 495, einstweilen verbieten dürfte. Bei einem endgültigen Herausfallen des Vereinigten Königreichs aus dem europäischen Zuständigkeits- und Vollstreckungssystem und generell bei „Scheinauslandsgesellschaften“ – wegen der oben Rn. 530 angesprochenen Probleme im anwendbaren Recht – spräche bzw. spricht im Gegenteil viel für einen umfassenden „Abschied“ aus diesem Rechtssystem (siehe sogleich Rn. 549 ff.).

b) Möglichkeiten der Vermeidung eines ausschließlichen Gerichtsstands im Ausland 549 Zur Vermeidung des ausschließlichen Gerichtsstands stehen nur zwei Wege zur Verfügung, die Einvernehmen der Parteien voraussetzen und bereits vor der Entstehung von Streitigkeiten umgesetzt werden sollten: aa) Wahl der Gesellschaftsform und „Umzug“ der Gesellschaft, insbesondere durch Formwechsel 550 Für ausschließlich im Inland tätige Gesellschaften mit inländischem Gesellschafterkreis sollten die Nachteile des gespaltenen Zuständigkeitsregimes – bzw. diejenigen der zu seiner Vermeidung notwendigen Schiedsklausel, dazu sogleich – bereits bei der Wahl der Gesellschaftsform bedacht werden. Wurde die Gesellschaft bereits in einer ausländischen Form gegründet, kommen für einen „Umzug“ der Gesellschaft mehrere Gestaltungen in Betracht; insbesondere kann eine Limited durch Verschmelzung auf eine GmbH zu einer inländischen Gesellschaft werden.826) Allein durch die Zuständigkeitsfrage wird die Entscheidung über die Gesellschaftsform und erst recht einen Formwechsel oder eine andere Form des „Umzugs“ wohl eher selten bestimmt ___________ 826) Siehe hierzu i. E. Zwirlein/Großerichter/Gätsch, NZG 2017, 1041, 1042 f.

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E. Der Gerichtsstand im internationalen Gesellschafterstreit

werden. Sie kann aber in Zusammenschau mit anderen Nachteilen der ausländischen Gesellschaftsform827) bzw. dann zum ausschlaggebenden Faktor werden, wenn die ursprünglichen Gründe für die Wahl der ausschließlichen Gesellschaftsform ohnehin weggefallen sind. Praxistipp: Erst recht drängen sich derartige Überlegungen nunmehr für Gesellschaften in englischer Rechtsform auf, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in Deutschland haben, da sie dem Risiko eines Wegfalls der Rechtspersönlichkeit ausgesetzt sind (oben Rn. 530). Dabei ist in zeitlicher Hinsicht zu beachten, dass der Vorgang des Formwechsels, wenn nicht weitere Übergangsregelungen ausverhandelt werden oder das Vereinigte Königreich doch noch Mitglied des EWR wird, nur noch bis Ende 2020 unter die Privilegien der Niederlassungsfreiheit und EU-Regeln wie die Verschmelzungsrichtline 2005/56/EG fällt (siehe oben Rn. 495).828)

bb) Schiedsklausel Soll die ausländische Gesellschaftsform gewählt oder beibehalten werden, so 551 kommt für eine umfassende inländische gerichtliche Streitbeilegung nur die Vereinbarung einer umfassenden Schiedsklausel in Betracht.829) Im Ausgangspunkt ist dies möglich, weil die Schiedsgerichtsbarkeit von den Regelungen der Brüssel Ia-VO bzw. des LugÜ nach deren Art. 1 Abs. 2 lit. d) unberührt bleiben soll, so dass auch die dort angeordneten ausschließlichen Gerichtsstände der Vereinbarung eines abweichenden Verfahrensorts nicht entgegenstehen können.830) Mit der Wahl eines (rechtlichen831)) Verfahrensorts in Deutschland wird zugleich das deutsche Schiedsverfahrensstatut bestimmt und der Schiedsspruch gem. § 1055 ZPO in Deutschland einem inländischen Urteil gleichgestellt. Die Vollstreckungsmöglichkeit im Ausland wird – worin ein großer Vorzug des Schiedsverfahrens für grenzüberschreitende Sachverhalte liegt – in fast universellem Umfang durch das UNÜ832) gewährleis___________ 827) Siehe hierzu Kieninger, BB 2011, 2831, 2832 mit Hinweis v. a. auf die Berichtspflichten im englischen Recht. 828) Siehe hierzu Zwirlein/Großerichter/Gätsch, „Exit before Brexit“ NZG 2017, 1041, 1042 f. 829) Kindler, NZG 2010, 576, 578; Kieninger, BB 2011, 2831, 2832; R. Werner, GmbHR 2011, 1097, 1098; eingehend Schaper, IPRax 2010, 513, 516 ff.; G. Wagner, Scheinauslandsgesellschaften im Europäischen Zivilprozessrecht, in: Lutter, Europäische Auslandsgesellschaften in Deutschland, S. 223, 298 ff. 830) Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 1 EuGVO Rn. 42. Beachte allerdings den dortigen Hinweis auf die frz. Cour de Cassation (Urt. v. 4.5.1999, JCP 1999 IV 2132, berichtet in IPRax 2002, 447). 831) Die Festlegung des rechtlich maßgeblichen Verfahrensorts steht der tatsächlichen Durchführung des Verfahrens an einem anderen Ort nicht entgegen, vgl. § 1053 Abs. 2 ZPO. 832) New Yorker UN-Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche vom 10.6.1958, BGBl. II 1961, 122. Siehe für die Ratifikationen die Aufstellung der bei Jayme/Hausmann, Internationales Privat- und Verfahrensrecht, Fn. 1 zu Nr. 240. Zusätzlich gilt innerhalb Europas das Genfer Europäische Übereinkommen vom 21.4.1961 (EuÜ), BGBl. II 1964, 426 (Jayme/Hausmann, a. a. O., Nr. 241); zum Verhältnis beider dessen Art. IX Abs. 2.

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tet, dessen Art. III die Vertragsstaaten zur Anerkennung und Vollstreckung von Schiedssprüchen nach Maßgabe des UNÜ verpflichtet. Gegen die konkurrierende Anrufung staatlicher Gerichte schützt im Inland § 1032 ZPO; auch die Abschirmung des Schiedsverfahrens wird im Rahmen des Art. II Abs. 1 und 3 UNÜ praktisch weltweit gewährleistet. 552 Das rechtliche Regime der Schiedsabrede weist, insbesondere im hier relevanten Kontext, allerdings auch Schwächen auf. Eine erste, allgemeine Unsicherheit besteht in der Behandlung konkurrierender Verfahren vor dem Gericht eines anderen Staates, das entgegen der Schiedsabrede angerufen wurde. Gerade wegen der Herausnahme aus der Brüssel Ia-VO kann einer Entscheidung, die das Gericht eines Mitgliedstaates unter Missachtung der Schiedsabrede getroffen hat, im Inland kein Anerkennungsversagungsgrund nach der Brüssel Ia-VO entgegengehalten werden.833) Ebenso fehlt es an einer Litispendenz-Regelung, wie sie in Art. 31 Brüssel Ia-VO zum Schutz der Gerichtsstandsvereinbarung vorgesehen ist. Zu einer echten „Achillesferse“ kann diese Problematik deshalb werden, weil es auch nach dem UNÜ dem angerufenen staatlichen Gericht vorbehalten bleibt, nach seiner lex fori zu prüfen, ob die Schiedsabrede unwirksam, hinfällig oder nicht erfüllbar ist (Art. II Abs. 3 UNÜ), und insbesondere, ob der fragliche Gegenstand objektiv schiedsfähig ist.834) Die objektive Schiedsfähigkeit insbesondere von Beschlussmängelstreitigkeiten ist schon im deutschen Recht nicht unproblematisch und insbesondere für die AG weiterhin umstritten.835) Damit die Schiedsabrede tatsächlich abgesichert ist, muss die Schiedsfähigkeit wegen des lex-fori-Prinzips aber auch in denjenigen Rechtsordnungen anerkannt sein, die konkurrierend angerufen werden könnten, insbesondere also wegen Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO in der Jurisdiktion am Satzungssitz der Gesellschaft. Diese Voraussetzung ist etwa in England nur eingeschränkt gewährleistet.836)

___________ 833) Siehe zu dieser Frage ErwGr 12 der Brüssel Ia-VO; zu dessen Hintergrund und zu dem im Detail komplexen Verhältnis zwischen Schiedsgerichtsbarkeit und Brüssel Ia-VO insgesamt i. E. Rauscher/Mankowski, EuZPR/EuIPR, Art. 1 EuGVVO Rn. 104 ff. 834) Siehe zur Begründung MünchKomm-ZPO/Adolphsen, Bd. 10, § 1061 Anh. 1 UNÜ, Art. II Rn. 11; weit. Nachw. bei Schaper, IPRax 2010, 513, 516 m. w. N. 835) Siehe zur grundsätzlichen Schiedsfähigkeit bei der GmbH und ihren Voraussetzungen BGH, v. 6.4.2009 – II ZR 255/08, BGHZ 180, 221 ff. = ZIP 2009, 1003 ff. und zu Personenengesellschaften BGH, v. 6.4.2017 – I ZB 23/16 = NJW-RR 2017, 876, 878; zum Meinungsstand bei der AG und den Problemen der Form Pörnbacher/Baur, in: Mehrbrey, § 2 C. Rn. 35 ff. m. w. N. Zur Schiedsfähigkeit bei Personengesellschaften bereits BGH, v. 29.3.1996 – II ZR 124/95, BGHZ 132, 278 ff. = ZIP 1996, 930 ff. Siehe zu all dem auch ausführlich unten Rn. 576 ff. 836) Vgl. von Hase, in: Triebel/von Hase/Melerski, Rn. 541, der insbesondere darauf hinweist, dass der Zugang zu den staatlichen Gerichten wegen unfairly prejudicial conduct nicht ausgeschlossen werden kann (siehe zu diesem Rechtsbehelf und Art. 24 Nr. 2 Brüssel Ia-VO oben Rn. 516 mit Fn. 748).

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F. Schiedsverfahren Praxistipp: Es ist damit eine Frage der Prüfung im Einzelfall, ob eine Schiedsabrede im Gesellschaftsvertrag im Vergleich zur Alternative – Hinnahme des Gerichtsstands am ausländischen Satzungssitz, ggf. mit „Komplettierung“ durch eine Gerichtsstandsvereinbarung (oben Rn. 548) – empfehlenswert ist (unten Rn. 563 ff.). Den unbestreitbaren Vorteilen eines Schiedsverfahrens steht gegenüber, dass die Hemmschwelle des Zugangs zu einer gerichtlichen Klärung u. a. im Hinblick auf Kosten und Anrufung des Gerichts kaum geringer sein dürfte als bei einem funktionierenden ausländischen Gerichtsstand. Kommen Unsicherheiten über die Anerkennung der Schiedsfähigkeit in der Jurisdiktion des Satzungssitzes hinzu, stellt die Schiedsvereinbarung keine grundlegende Verbesserung dar. Im Beratungsstadium sollten diese Gesichtspunkte unbedingt bei der Auswahl der Gesellschaftsform berücksichtigt werden und mögen den Ausschlag dafür geben, doch eine deutsche Gesellschaftsform zu wählen.837)

F. Schiedsverfahren Markus Rieder

Die Schiedsgerichtsbarkeit hat seit langem einen festen Platz im Reigen der 553 Möglichkeiten, gesellschaftsrechtliche Binnenstreitigkeiten auszutragen und zu lösen.838) Gerade die fehlende Gerichtsöffentlichkeit und die im Vergleich zum staatlichen Verfahren geringere prozessuale Formalisierung tragen entscheidend zur Attraktivität der Schiedsgerichtsbarkeit in diesem Streitfeld bei. Das vorliegende Kapitel behandelt nach einer Einführung in die Schiedsgerichtsbarkeit (nachfolgend I, Rn. 554 ff.) die wesentlichen Schritte eines Schiedsverfahrens zu gesellschaftsrechtlichen Binnenstreitigkeiten, namentlich den Abschluss der Schiedsvereinbarung (nachfolgend II, Rn. 568 ff.), die Konstituierung des Schiedsgerichts (nachfolgend III, Rn. 587 ff.), die Durchführung des Verfahrens (nachfolgend IV, Rn. 597 ff.) und die Erledigung des Schiedsverfahrens durch Schiedsspruch oder auf andere Weise (nachfolgend V, Rn. 604 ff.). Abschließend werden Fragen des vorläufigen Rechtsschutzes (nachfolgend VI, Rn. 616 ff.) und einige Sonderkonstellationen (nachfolgend VII, Rn. 628 ff.) behandelt. In allen Abschnitten liegt ein wesentliches Augenmerk auf etwaigen Besonderheiten der vorliegenden Streitart.839) I. Einführung Ehe die einzelnen Schritte eines Schiedsverfahrens zu gesellschaftsrechtlichen 554 Binnenstreitigkeiten beleuchtet werden, lohnt ein Blick auf die Grundzüge des Schiedsverfahrens (nachfolgend 1., Rn. 555 ff.) und die Kriterien für die ___________ 837) Vgl. mit ähnlicher Tendenz (allerdings vor der grundsätzlichen Anerkennung der Schiedsfähigkeit von Beschlussmängelstreitigkeiten bei der GmbH) von Hase, in: Triebel/ von Hase/Melerski, Rn. 541. 838) Schätzungen zufolge sollen ein Drittel aller innerdeutschen Schiedsverfahren gesellschaftsrechtliche Frage betreffen, vgl. Borris, 13. Petersberger Schiedstage 2015, 28.2.2015, Referat „Gesellschaftsrechtliche Konfliktlagen – ein rechtsvergleichender Überblick aus deutscher Sicht“. 839) Vgl. zu Schiedsverfahren in M&A-Streitigkeiten Teil 3 A. Rn. 1063 ff.

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Wahl zwischen staatlicher Gerichtsbarkeit und Schiedsverfahren im vorliegenden Kontext (nachfolgend 2., Rn. 563 ff.). 1. Grundzüge des Schiedsverfahrens 555 Unter einem Schiedsverfahren versteht man ein dem staatlichen Gerichtsverfahren prinzipell gleichwertiges Streiterledigungsverfahren auf privatautonomer Grundlage (Schiedsvereinbarung), in dem durch Parteidisposition bestimmte Schiedsrichter den Rechtsstreit abschließend und anstelle der staatlichen Gerichte entscheiden (vgl. §§ 1026, 1029, 1055 ZPO). Das deutsche Schiedsverfahrensrecht ist im Zehnten Buch der ZPO geregelt, das in seiner gegenwärtigen Fassung auf das Jahr 1998 zurückgeht und sich stark an das von der UNCITRAL erarbeitete Modellgesetz für internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit aus dem Jahr 1985 anlehnt.840) Die Gesetzesverfasser gehen ausdrücklich davon aus, dass „die Schiedsgerichtsbarkeit einen der staatlichen Gerichtsbarkeit grundsätzlich gleichwertigen Rechtsschutz bietet” (Gleichwertigkeitsgrundsatz).841) Die Regelung als Teil der ZPO ist lediglich Ausdruck einer äußeren Systematik des Gesetzes; inhaltlich handelt es sich um eine von der staatlichen Zivilgerichtsbarkeit grundsätzlich verschiedene Streiterledigungsform. Demgemäß sind die Regeln beispielsweise des Ersten und Zweiten Buches der ZPO auf die Durchführung von Schiedsverfahren nicht, auch nicht entsprechend, anwendbar.842) Das Schiedsgericht hat vielmehr weites eigenes Ermessen bei der Durchführung des Verfahrens (§ 1042 Abs. 4 Satz 1 ZPO), das im Wesentlichen lediglich durch die Gebote der Gleichbehandlung der Parteien, des rechtlichen Gehörs und der Beachtung des ordre public begrenzt ist (§§ 1042 Abs. 1, 1059 Abs. 2 Nr. 2b ZPO). Das Schiedgericht kann sich bei der Verfahrensgestaltung von den Regeln für das staatliche Gerichtsverfahren inspirieren lassen, muss dies aber nicht. Dass das Schiedsverfahren gleichwohl in der ZPO geregelt ist, beruht auf historischer Koinzidenz. In anderen Jurisdiktionen gibt es nicht selten eigenständige Schiedsverfahrensgesetze.843) 556 Die Regeln des Zehnten Buches der ZPO sind weitgehend dispositiv, was häufig bereits am Wortlaut zu erkennen ist („… sofern die Parteien nichts anderes vereinbart haben …“, exemplarisch §§ 1028 Abs. 1, 1035 Abs. 2 ZPO). ___________ 840) UNCITRAL Model Law on International Commercial Arbitration 1985, abrufbar unter www.uncitral.un.org. Das Modellgesetz wurde im Jahr 2006 nicht unerheblich überarbeitet, beispielsweise zu Fragen des einstweiligen Rechtsschutzes (vgl. dort Art. 17 ff.); diese Änderungen und Ergänzungen hat der deutsche Gesetzgeber bislang nicht nachvollzogen. 841) BT-Drucks. 13/5274, S. 34 l. Sp. 842) MünchKomm-ZPO/Münch, § 1025 Rn. 13; vgl. auch Berger, SchiedsVZ 2009, 289, 294. 843) So z. B. im Vereinigten Königreich (UK Arbitration Act), in den USA (Federal Arbitration Act), in Russland (Law on Domestic Arbitration in the Russian Federation), Brasilien (Brazilian Arbitration Act) und China (Arbitration Law of the People’s Republic of China).

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F. Schiedsverfahren

Demgegenüber sind beispielsweise die Vorschriften über die Schiedsfähigkeit (§ 1030 ZPO), die Form von Schiedsvereinbarungen (§ 1031 ZPO), die Gleichbehandlung der Parteien (§ 1042 Abs. 1 Satz 1 ZPO), die Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 1042 Abs. 1 Satz 2 ZPO) und das Recht auf anwaltlichen Beistand (§ 1042 Abs. 2 ZPO) zwingend. Daraus leitet sich zu Fragen des schiedsrichterlichen Verfahrens die folgende „Normenhierarchie“ ab, die aus § 1042 ZPO gut erkennbar ist: x

An der Spitze stehen zwingende Regeln des Zehnten Buches der ZPO (und der übrigen Rechtsordnung, einschließlich Verfassungsrecht).

x

An zweiter Stelle ist zu prüfen, ob zu der einschlägigen Frage eine wirksame Parteivereinbarung vorliegt.

x

Drittens ist auf das dispositive Recht des Zehnten Buches der ZPO abzustellen.

x

Soweit sich aus alledem keine verbindlichen Bestimmungen ergeben, gelangt das schiedsrichterliche Verfahrensermessen zur Anwendung (§ 1042 Abs. 4 Satz 1 ZPO).

Von hoher praktischer Bedeutung, auch für die Durchführung von Schieds- 557 verfahren zu gesellschaftsrechtlichen Binnenstreitigkeiten, ist die Unterscheidung zwischen Ad hoc und institutioneller Schiedsgerichtsbarkeit. Bei einem Ad-hoc-Schiedsverfahren sind lediglich die Streitparteien und die Schiedsrichter Beteiligte; das Verfahren richtet sich nach dem Zehnten Buch der ZPO und etwaigen, ad hoc getroffenen Vereinbarungen der Parteien. Gerade in gesellschaftsrechtlichen Binnenstreitigkeiten kommen Ad-hoc-Verfahren in der Praxis häufig vor. Bei institutionellen Schiedsverfahren tritt demgegenüber noch eine Schiedsinstitution hinzu, die bei der Durchführung (Administration) des Schiedsverfahrens unterstützt (daher auch der bisweilen verwendete Begriff des administrierten Schiedsverfahrens). Wesentliche Unterstützungsleistungen einer Schiedsinstitution betreffen (i) die Bereitstellung eines Regelwerkes für die Durchführung von Schiedsverfahren (Schiedsordnung), das über die wenigen Regeln des Zehnten Buches der ZPO hinausgeht; (ii) die Unterstützung der Parteien bei der Bildung des Schiedsgerichts, beispielsweise wenn eine einvernehmliche Schiedsrichterbenennung nicht zustande kommt; (iii) ggf. die Mitwirkung bei Verfahren zur Ablehnung von Schiedrichtern wegen Befangenheit; und (iv) ggf. die Mitwirkung bei der Absetzung des Schiedsspruchs. Für die deutsche Rechtspraxis, namentlich in gesellschaftsrechtlichen Binnenstreitigkeiten, wichtige Schiedsinstitutionen sind insbesondere die Deutsche Institution für Schiedsgerichtsbarkeit (DIS)844) und der bei der Internationalen Handelskammer (International Chamber of Commerce – ICC) eingerichtete Schiedsgerichts___________ 844) www.disarb.org. Einschlägig ist insoweit die DIS-Schiedsgerichtsordnung aus dem Jahr 2018.

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Teil 1 Gesellschaftsrechtliche Binnenorganisation

hof.845) Dogmatisch und im Sinn der vorstehend genannten Normenhierarchie stehen die in Schiedsordnungen enthaltenen Bestimmungen auf der zweiten Stufe, d. h. sie stellen Parteivereinbarungen dar, die unterhalb des Ranges zwingenden Rechts stehen, aber den dispositiven Bestimmungen des Zehnten Buches der ZPO und dem Verfahrensermessen des Schiedsgerichts vorgehen. 558 Das deutsche Recht unterscheidet – anders als andere Rechtsordnungen wie beispielsweise Frankreich – nicht zwischen nationalen und internationalen Schiedsverfahren; das Zehnte Buch der ZPO gilt unabhängig davon, ob die Streitparteien deutscher oder ausländischer Nationalität sind, und unabhängig davon, wo der Gegenstand des Rechtsstreits belegen ist. Maßgeblich für die Anwendbarkeit deutschen Schiedsverfahrensrechts ist lediglich, dass die Parteien einen in Deutschland belegenen Schiedsort vereinbart haben (§ 1025 Abs. 1 ZPO).846) Für die Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche hält die ZPO in § 1061 besondere Vorschriften bereit. 559 Zu den wesentlichen Verfahrensgrundsätzen gehören im Schiedsverfahren neben den bereits erwähnten Bestimmungen über die Gleichbehandlung der Parteien, die Gewährung rechtlichen Gehörs und das schiedsrichterliche Verfahrensermessen die sämtlichen Parteien obliegende Pflicht zur Verfahrensförderung847) und die korrespondierende, aus dem Schiedsrichtervertrag abgeleitete Pflicht der Schiedsrichter, den Rechtsstreit einer zügigen Erledigung zuzuführen.848) 560 Ein „Schiedsspruch hat unter den Parteien die Wirkungen eines rechtskräftigen gerichtlichen Urteils“ (§ 1055 ZPO). Rechtsmittel gegen Schiedssprüche finden nicht statt, es sei denn, die Parteien hätten dies, beispielsweise im Sinne eines Berufungsverfahrens vor den staatlichen Gerichten, ausdrücklich vereinbart.849) Lediglich wegen schwerwiegender Mängel des Verfahrens oder wegen Verstößen gegen den ordre public kann die Aufhebung eines Schiedsspruchs beim zuständigen Oberlandesgericht begehrt werden (§ 1059 ZPO). Die Zwangsvollstreckung aus einem inländischen Schiedsspruch findet statt, nachdem der Schiedsspruch durch das zuständige OLG für vollstreckbar erklärt worden ist (§ 1060 ZPO); die Gründe für die Ablehnung einer Vollstreck___________ 845) https://iccwbo.org/dispute-resolution-services/arbitration/. Die einschlägige Schiedsordnung ist enthalten in den Rules of Arbitration of the International Chamber of Commerce, die in ihrer derzeit gültigen Fassung seit 2017 in Kraft sind. 846) Einige Bestimmungen des Zehnten Buches der ZPO gelten sogar bei Vereinbarung eines ausländischen Schiedsortes, wie beispielsweise die Vorschriften zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes und zur Aushilfe durch staatliche Gerichte bei der Beweiserhebung (§§ 1025 Abs. 2, 1033, 1050 ZPO). 847) BGH WM 2012, 2215 ff.; BGH NJW 1971, 888, 890; BGH NJW 1964, 1129, 1130; BGH NJW 1957, 589, 590; krit. hierzu Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 443 ff.; Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, § 1042 Rn. 65. 848) Musielak/Voit/Voit, ZPO, § 1035 Rn. 23. 849) Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, § 1055 Rn. 4, § 1042 Rn. 24, Kreindler/Schäfer/Wolff, Schiedsgerichtsbarkeit, Rn. 109 ff.

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F. Schiedsverfahren

barerklärung entsprechen den Gründen für die Aufhebung eines Schiedsspruchs (§§ 1060 Abs. 2, 1059 Abs. 2 ZPO). Bei ausländischen Schiedssprüchen richtet sich die Anerkennung und Vollstreckung nach dem New Yorker Übereinkommen vom 10.6.1958 über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche (§ 1061 Abs. 1 ZPO),850) das ähnlich wie § 1059 Abs. 2 ZPO nur in sehr begrenztem Umfang Gründe für die Verweigerung der Anerkennung und Vollstreckung vorsieht. Das New Yorker Übereinkommen wurde mittlerweile von ca. 160 Staaten weltweit unterzeichnet; es erlaubt mithin prinzipiell die Vollstreckung in allen Vertragsstaaten, was bei ausländischen Verfahrensbeteiligten bzw. im Ausland belegenem Vermögen des Verfahrensgegners ein maßgeblicher Vorteil des Schiedsverfahrens gegenüber dem staatlichen Gerichtsverfahren sein kann. Aus dem Vorstehenden wird ersichtlich, dass die Rolle der staatlichen Ge- 561 richte in Schiedsverfahren stark eingeschränkt ist; § 1026 ZPO bestimmt ausdrücklich, dass ein staatliches Gericht in einem Schiedsverfahren nur tätig werden darf, „soweit dieses Buch es vorsieht.“ Neben dem einstweiligen Rechtsschutz vor den staatlichen Gerichten, der auch in Schiedsverfahren gegeben ist (§ 1033 ZPO), gehören zu den wesentlichen Mitwirkungsmöglichkeiten staatlicher Gerichte (i) das Verfahren über die (Un)Zulässigkeit eines Schiedsverfahrens (§ 1032 Abs. 2 ZPO),851) (ii) die Korrektur einer unfairen Zusammensetzung des Schiedsgerichts (§ 1034 Abs. 2 ZPO), (iii) die Mitwirkung bei der Konstituierung des Schiedsgerichts sowie bei der Ablehnung und Ersatzbestellung von Schiedsrichtern (§§ 1035 ff. ZPO), und (iv) die Aushilfe bei der Beweisaufnahme (§ 1050 ZPO). Zuständig ist in vielen Fällen das „Oberlandesgericht, das in der Schiedsvereinbarung bezeichnet ist oder, wenn eine solche Bezeichnung fehlt, in dessen Bezirk der Ort des schiedsrichterlichen Verfahrens liegt“ (§ 1062 Abs. 1 ZPO). In Bezug auf einstweiligen Rechtsschutz durch die staatlichen Gerichte bestimmt sich die Zuständigkeit nach allgemeinen Regeln.852) Für die Unterstützung bei der Beweisaufnahme gem. § 1050 ZPO „ist das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk die richterliche Handlung vorzunehmen ist.“ In jüngerer Zeit hat die Schiedsgerichtsbarkeit – ausgehend von der Investi- 562 tionsschiedsgerichtsbarkeit853) – teils fundamentale Kritik erfahren. Insbesondere in Presse und Medien wurden insoweit vermehrt harsche Vorwürfe („Schattenjustiz“) vorgebracht.854) Indes ist die auf vermeintliche demokrati___________ 850) New Yorker Übereinkommen, BGBl. II 1961, 121. 851) Hierbei handelt es sich um eine deutsche Besonderheit, die ohne Vorbild im UNCITRAL Modellgesetz ist, vgl. BT-Drucks. 13/5274, S. 38 l. Sp.; Huber, SchiedsVZ 2003, 73, 74. 852) Musielak/Voit/Voit, ZPO, § 1033 Rn. 2; MünchKomm-ZPO/Münch, § 1033 Rn. 11. 853) Dabei handelt es sich um eine Sonderform der Schiedsgerichtsbarkeit auf völkerrechtlicher Grundlage, die es einem ausländischen Investor ermöglicht, gegen Enteignungsmaßnahmen des Ansiedlungsstaates ein kraft völkerrechtlichen Vertrages (Investitionsschutzabkommen) legitimiertes Schiedsgericht anzurufen. 854) Beispielsweise SZ, 12.8.2014 – „Wenn Schiedsrichter Verteidiger brauchen“; ZeitOnline, 10.3.2014 – „Im Namen des Geldes.“

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sche Legitimations- und Transparenzdefizite zielende Kritik an der Investitionsschiedsgerichtsbarkeit auf die hier behandelten zivil-, handels- und gesellschaftsrechtlichen Schiedsverfahren nicht übertragbar. Zu Recht formiert sich eine Gegenbewegung „[w]ider das Arbitration Bashing“.855) 2. Die Wahl zwischen staatlicher Gerichtsbarkeit und Schiedsverfahren 563 Die Wahl zwischen staatlicher Gerichtsbarkeit und Schiedsverfahren hängt von einer Reihe von Faktoren ab, die stets sorgfältig anhand der Umstände des Einzelfalles zu prüfen sind. Allgemein werden als Argumente für die Schiedsgerichtsbarkeit häufig die folgenden Umstände ins Feld geführt: (i) Vertraulichkeit des Verfahrens (allerdings in der Regel nur, wenn dies ausdrücklich vereinbart wird); (ii) Wahlrecht der Parteien bezüglich des Entscheiders/der Entscheider; (iii) damit einhergehend die Möglichkeit, für den Einzel- oder Spezialfall besonders qualifizierte Entscheider auszuwählen; (iv) Flexibilität des Verfahrens; (v) wegen des fehlenden Rechtszuges in aller Regel kürzere Verfahrensdauer und ggf. Kostenersparnis; (vi) interkulturelle Akzeptanz über Rechtskreise hinweg; und (vii) erleichterte Auslandsvollstreckung gemäß New Yorker Übereinkommen.856) 564 Zu möglichen Nachteilen gehören allgemein (i) das Fehlen eines Rechtsmittels (falls nicht ausdrücklich vereinbart); (ii) damit einhergehend die fehlende Möglichkeit von Grundsatzentscheidungen; (iii) je nach Streitwert ggf. höhere Kosten als im staatlichen Verfahren; und (iv) je nach Ausübung des Verfahrensermessens durch die Schiedsrichter bisweilen ein gewisser Vergleichsdruck.857) 565 Speziell im Hinblick auf gesellschaftsrechtliche Binnenstreitigkeiten dürften üblicherweise die Vertraulichkeit und die Flexibilität des Verfahrens eine besondere Rolle spielen, wenn sich Parteien bzw. Gesellschaften für die Schiedsgerichtsbarkeit entscheiden.858) Die weiteren Vorteile der Schiedsgerichtsbarkeit, beispielsweise hinsichtlich der Qualifikation von Schiedsrichtern und der Möglichkeit der Auslandsvollstreckung, gelten natürlich auch hier. Ein möglicher Nachteil, die lange Zeit ungeklärte Frage nach der Schiedsfähigkeit gesellschaftsrechtlicher Beschlussmängelstreitigkeiten, hat sich mit dem grundlegenden Urteil des BGH in Sachen Schiedsfähigkeit II aus

___________ 855) Exemplarisch Risse, SchiedsVZ 2014, 265 ff.; ferner zu Recht Prütting, AnwBl 7/2015, 546 ff. – „Schiedsgerichtsbarkeit ist Anwaltssache!“ 856) Kröll, SchiedsVZ 2009, 40, 41, 47; Kreindler/Schäfer/Wolff, Schiedsgerichtsbarkeit, Rn. 14; Redfern/Hunter, Rn. 11.42. 857) Dendorfer, SchiedsVZ 2009, 276, 281; Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 4601 ff.; Kreindler/Schäfer/Wolff, Schiedsgerichtsbarkeit, Rn. 866; Horvath, SchiedsVZ 2005, 292, 296. 858) Wolff, NJW 2009, 2021; Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 144.

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F. Schiedsverfahren

dem Jahr 2009 prinzipell geklärt,859) auch wenn nach wie vor Diskussionsbedarf zu einer Reihe von Einzelfragen besteht (Rn. 577 ff.). Praktisch besonders relevante Fallkonstellationen, in denen es im Zusam- 566 menhang mit gesellschaftsrechtlichen Binnenstreitigkeiten häufig zu Schiedsverfahren kommt, betreffen beispielsweise Einlagepflichten, die Informationserzwingung durch Gesellschafter, die Beeinflussung der Stimmrechtsausübung (einschließlich durch Mittel des einstweiligen Rechtsschutzes), die Ausschließung von Gesellschaftern und die Einziehung von Geschäftsanteilen, Streitigkeiten über die Höhe der einem ausscheidenden Gesellschafter zustehenden Abfindung, Streitigkeiten über die Wirksamkeit von Anteilsübertragungen (einschließlich Fragen der Gesellschafterliste bei der GmbH, §§ 16, 40 GmbHG), Entnahme-, Abfindungs- und Haftungsansprüche sowie Streitigkeiten über Mitwirkungs- und Sonderrechte. Bei den Personenhandelsgesellschaften kommen hinzu Entscheidungen über Anträge auf Entziehung der Geschäftsführungsbefugnis (§ 117 HGB) und Vertretungsmacht (§ 127 HGB) von Gesellschaftern aus wichtigem Grund, über Anträge auf Auflösung der Gesellschaft (§§ 131 Abs. 1 Nr. 4, 133 HGB) und auf Ausschließung eines Gesellschafters (§ 140 HGB). Im GmbH-Recht gilt Gleiches. Auch dort gelten als schiedsfähig insbesondere Entscheidungen über Anträge auf Auflösung der Gesellschaft (§§ 60 Abs. 1 Nr. 3, 61 GmbHG) und über Nichtigkeitsklagen (§ 75 GmbHG i. V. m. §§ 246 – 248 AktG).860) In jüngerer Zeit häufiger anzutreffen sind ferner Schiedsklagen zur Durchsetzung von Organhaftungsansprüchen.861) Allgemein ist anzumerken, dass in der Praxis Schiedsvereinbarungen für ge- 567 sellschaftsrechtliche Binnenstreitigkeiten vorzugsweise bei personalistisch geprägten Gesellschaften, beispielsweise in der Rechtsform der Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR), der offenen Handelsgesellschaft (OHG), der Kommanditgesellschaft (KG) und der Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) anzutreffen sind. Besonders häufig – nicht zuletzt im Hinblick auf die Möglichkeit eines vertraulichen Verfahrens – sind Schiedsvereinbarungen in Konsortial- und Gesellschaftervereinbarungen sowie in Joint-Venture Verträgen.862) Bislang wenig verbreitet sind Schiedsvereinbarungen bei Publikumsgesellschaften; bei Aktiengesellschaften ist ohnehin streitig, ob Schiedsvereinbarungen angesichts des Grundsatzes der Satzungsstrenge (§ 23 Abs. 5 AktG) überhaupt zulässig sind (im Einzelnen Rn. 634 ff.).

___________ 859) BGH NJW 2009, 1962 = ZIP 2009, 1003 – Schiedsfähigkeit II. 860) Quinke, NZG 2015, 537, 541; Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, § 1030 Rn. 3. 861) Hierzu Michalski/Haas/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 363; Herresthal, ZIP 2014, 345 ff.; Leuering, NJW 2014, 657 ff.; Thümmel, in: Festschrift Geimer, 2002, S. 1331 ff.; Umbeck, SchiedsVZ 2009, 143 ff. 862) Quinke, NZG 2015, 537 ff.

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II. Schiedsvereinbarung 568 Beim Abschluss von Schiedsvereinbarungen für gesellschaftsrechtliche Binnenstreitigkeiten sind zunächst die allgemein für Schiedsvereinbarungen geltenden Grundsätze zu beachten (nachfolgend 1., Rn. 569 ff.). Besonderheiten gelten für Schiedsverfahren zu Beschlussmängelstreitigkeiten (nachfolgend 2., Rn. 576 ff.). In praktischer Hinsicht kann – selbstverständlich vorbehaltlich der Besonderheiten des Einzelfalles – eine Reihe von Gestaltungsempfehlungen ausgesprochen werden (nachfolgend 3., Rn. 581 ff.); weniger ist dabei oft mehr – less is more. 1. Allgemeine Grundsätze 569 Eine Schiedsvereinbarung ist nach der Legaldefinition in § 1029 Abs. 1 ZPO „eine Vereinbarung der Parteien, alle oder einzelne Streitigkeiten, die zwischen ihnen in Bezug auf ein bestimmtes Rechtsverhältnis vertraglicher oder nichtvertraglicher Art entstanden sind oder künftig entstehen, der Entscheidung durch ein Schiedsgericht zu unterwerfen.“ Sie kommt in Form einer selbständigen Vereinbarung (Schiedsabrede) oder in Form einer Klausel in einem (Haupt)Vertrag (Schiedsklausel) vor (§ 1029 Abs. 2 ZPO). Entscheidend ist der Parteiwille, die Zuständigkeit der staatlichen Gerichte zugunsten der abschließenden Entscheidung durch ein Schiedsgericht zu verdrängen (vgl. §§ 1026, 1055 ZPO). Dies unterscheidet die Schiedsvereinbarung von weiteren Formen nicht-staatlicher Streitbeilegung, wie beispielsweise Mediation,863) Schlichtung864) oder Schiedsgutachten,865) die ihrerseits ebenfalls einen festen Platz im Reigen der Konfliktlösungsmechanismen für gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten haben. 570 Nach deutschem Recht sind im Grundsatz sämtliche vermögensrechtlichen Ansprüche schiedsfähig (§ 1030 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Nichtvermögensrechtliche Ansprüche sind schiedsfähig, soweit sich die Parteien über den Gegenstand des Streites vergleichen können (§ 1030 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Deutschland folgt damit einem weit verstandenen Konzept der Schiedsfähigkeit. Ausgenommen sind lediglich Einzelfälle, die der Gesetzgeber aus besonderen Gründen des Sozialschutzes (z. B. Bestand von Wohnraummietverhältnissen, § 1030 Abs. 2 ZPO) oder aus sonstigen öffentlichen Interessen (z. B. Bestand von Patenten, § 65 BPatG) ausschließlich der staatlichen Gerichtsbarkeit vor___________ 863) Aufgabe des Mediators ist es lediglich, den Parteien zu helfen, „freiwillig und eigenverantwortlich eine einvernehmliche Beilegung ihres Konflikts“ zu finden (§ 1 Abs. 1 MediationsG). Zu Einzelheiten vgl. Teil 3 E III 1. a Rn. 1390 ff. 864) Die Rolle des Schlichters ist der des Mediators ähnlich; allerdings hat der Schlichter zusätzlich herkömmlich die Aufgabe, einen unverbindlichen Entscheidungsvorschlag (Schlichterspruch) zu unterbreiten. 865) Schiedsgutachterverfahren betreffen typischerweise ausgewählte Streitfragen aus einem streitigen Rechtsverhältnis. In gesellschaftsrechtlichen Zusammenhängen handelt es sich häufig um Bewertungsfragen oder Fragen der Anspruchshöhe bei Abfindungsstreitigkeiten. Zu Einzelheiten vgl. Teil 3 E III 2. a), Rn. 1427 ff.

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behält. Damit sind im Grundsatz sämtliche gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten schiedsfähig; zur Schiedsfähigkeit gesellschaftsrechtlicher Beschlussmängelstreitigkeiten vgl. gesondert Rn. 577 ff. Die für eine Schiedsvereinbarung erforderliche Form wird allgemein in 571 § 1031 ZPO geregelt, der zwischen Schiedsvereinbarungen zwischen Unternehmen (Abs. 1 – 4) und Schiedsvereinbarungen unter Beteiligung von Verbrauchern (Abs. 5; vgl. Legaldefinition in §§ 13, 14 BGB) unterscheidet. Im ersteren Fall reicht vereinfacht gesprochen jede Form der Schriftlichkeit, die „einen Nachweis der Vereinbarung sicherstellen“ kann (§ 1031 Abs. 1 ZPO), einschließlich per Email, Telefax oder kaufmännischem Bestätigungsschreiben.866) Bei Beteiligung von Verbrauchern ist, abgesehen von den Fällen notarieller Beurkundung, eine eigenhändig unterzeichnete Urkunde erforderlich, die „[a]ndere Vereinbarungen als solche, die sich auf das schiedsrichterliche Verfahren beziehen, … nicht enthalten“ darf.867) Bei Kapitalgesellschaften gilt für statutarische Schiedsklauseln § 1066 ZPO 572 mit der Folge, dass § 1031 ZPO keine Anwendung findet, und zwar auch dann nicht, wenn Verbraucher beteiligt sind.868) Umstritten ist, ob § 1066 ZPO auch für statutarische Schiedsklauseln in den Gesellschaftsverträgen von Personengesellschaften gilt.869) Obgleich gute Gründe für diese Ansicht sprechen, insbesondere die mittlerweile in weitaus stärkerem Umfang als früher anerkannte Rechtssubjektivität der Personengesellschaften, empfiehlt es sich in der Praxis, die Vorgaben des § 1031 ZPO weiterhin einzuhalten. Dies bedeutet bei Beteiligung von Verbrauchern, dass – abgesehen von Fällen notarieller Beurkundung – eine separate Schiedsabrede i. S. v. §§ 1031 Abs. 5, 1029 Abs. 2 Alt. 2 ZPO geschlossen werden sollte, auf die der Hauptvertrag, beispielsweise der Gesellschaftsvertrag, Bezug nimmt.870) Ob ein Verbraucher beteiligt ist, sollte stets dann näher geprüft werden, wenn natürliche Personen Gesellschafter bzw. Vertragsparteien sind. Entgegen einem möglichen laienhaften Verständnis betrachtet die Rechtsprechung bisweilen beispiels-

___________ 866) MünchKomm-ZPO/Münch, § 1031 Rn. 30, 35; Saenger/Saenger, ZPO, § 1031 Rn. 4 ff.; KG SchiedsVZ 2011, 285, 287. 867) Wobei es zulässig ist, die Schiedsvereinbarung innerhalb eines Dokumentes deutlich abgesetzt von anderen Vereinbarungen aufzunehmen; vgl. BGH NJW 1963, 203, 205; Saenger/Saenger, ZPO, § 1031 Rn. 13. 868) BGH NJW 2004, 2226 ff. = ZIP 2005, 46; BGH NJW 1963, 203, 204; Musielak/ Voit/Voit, ZPO, § 1066 Rn. 7; Böttcher/Fischer, NZG 2011, 601, 602. 869) Dafür Habersack, SchiedsVZ 2003, 241 ff.; Heskamp, RNotZ 2012, 415, 417; K. Schmidt, BB 2001, 1857, 1862; dagegen BGH NJW 1980, 1049; Musielak/Voit/Voit, ZPO, § 1066 Rn. 7; Saenger/Saenger, ZPO, § 1066 Rn. 8; Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, § 1066 Rn. 9; Ebbing, NZG 1999, 754, 755. 870) So auch Schwerdtfeger/Eberl/Eberl, Kap. 7 Rn. 34.

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weise auch Vorstandsmitglieder einer AG und Geschäftsführer einer GmbH insoweit als Verbraucher.871) 573 Neben der Einhaltung der spezifisch schiedsverfahrensrechtlichen Formgebote des § 1031 ZPO kann die Frage auftreten, ob sich aus für den Hauptvertrag geltenden Formvorschriften zusätzliche Formerfordernisse für Schiedsvereinbarungen ergeben können. Dies ist indes entgegen immer wieder vertretenen anderslautenden Ansichten nicht der Fall. Schiedsvereinbarungen sind in ihrer Wirksamkeit vom Hauptvertrag getrennt zu betrachten (§ 1040 Abs. 1 Satz 2 ZPO, Trennungsgrundsatz). Daher ist es auch ohne weiteres möglich, in einem beurkundungsbedürftigen Vertrag (z. B. in einer GmbH-Satzung) auf eine Schiedsordnung in ihrer jeweils geltenden Fassung zu verweisen (dynamischer Verweis).872) 574 Schiedsvereinbarungen sind ihrer Rechtsnatur nach materiellrechtliche Verträge über prozessrechtliche Beziehungen.873) Als materiellrechtliche Verträge gelten für ihre Auslegung die allgemeinen Grundsätze der §§ 133, 157 BGB, insbesondere das Verbot der Buchstabeninterpretation und das Gebot der beiderseits interessengerechten Auslegung.874) Dies führt in aller Regel zu einer weiten Auslegung von Schiedsvereinbarungen,875) insbesondere was deren sachlichen Anwendungsbereich betrifft. Im Zweifel werden die Parteien eine umfassende Zuständigkeit des Schiedsgerichts für die dem Anwendungsbereich der Schiedsvereinbarung unterfallenden Streitigkeiten vereinbaren wollen. Abgrenzungsfragen und darauf bezogene (Zwischen-)Streitigkeiten dürften in aller Regel aus der Sicht vernünftig handelnder Parteien unerwünscht sein. 575 Die persönliche Reichweite von Schiedsvereinbarungen ist im Ausgangspunkt auf die Vertragsparteien begrenzt.876) Nach herrschender Meinung sind auch Gesamt- und Einzelrechtsnachfolger an eine Schiedsvereinbarung ___________ 871) BGH NJW 2004, 3039 = ZIP 2004, 1647; OLG Hamm BeckRS 2007, 15564; Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, § 1031 Rn. 21; Musielak/Voit/Voit, ZPO, § 1031 Rn. 9; zu Recht krit. hierzu Herresthal, ZIP 2014, 345 ff. 872) BGH NJW 2014, 3652, 3654 = ZIP 2014, 1852; BGH NJW 1978, 212. Aus der Lit. wie hier Böttcher/Fischer, NZG 2011, 601, 603 ff.; Hilgard/Haubner, BB 2014, 970 ff.; ferner etwa Broichmann/Matthäus, SchiedsVZ 2008, 274 ff.; Lachmann, SchiedsVZ 2003, 28, 33; Lachmann/Lachmann, BB 2000, 1633, 1636; Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, § 1031 Rn. 5; a. A. Kindler, NZG 2014, 961, 965 ff.; Heskamp, RNotZ 2012, 415, 426; Saenger/ Saenger, ZPO, § 1031 Rn. 17b. 873) So die heute h. M. BGH NJW 1964, 591, 592; BGH NJW 1957, 589, 590; Baumbach/ Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, § 1029 Rn. 3; Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 266; Musielak/Voit/Voit, ZPO, § 1029 Rn. 3; krit. hierzu MünchKomm-ZPO/ Münch, § 1029 Rn. 12 ff.; Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, Kap. 7 Rn. 37; Stein/ Jonas/Schlosser, ZPO, § 1029 Rn. 2; Saenger/Saenger, ZPO, § 1029 Rn. 1. 874) MünchKomm-ZPO/Münch, § 1029 Rn. 105. 875) Statt vieler Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 472. 876) Zu den Konsequenzen für die Vertragsgestaltung namentlich in Joint Venture-Konstellationen ausführlich Quinke, NZG 2015, 537 ff.

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gebunden; denn sie erwerben das auf sie übergehende bzw. das ihnen übertragene Recht von vorneherein mit der Maßgabe, dass es im Wege eines Schiedsverfahrens durchzusetzen ist.877) Entsprechendes gilt für Verträge zugunsten Dritter878) und persönlich haftende Gesellschafter (wegen der Mithaftung gem. § 128 HGB).879) Ausgeschiedene Gesellschafter bleiben an eine einmal bestehende Schiedsvereinbarung gebunden.880) Wird nachträglich eine Schiedsvereinbarung abgeschlossen bzw. nachträglich eine Schiedsklausel in den Gesellschaftsvertrag aufgenommen, ist dies bei einstimmiger Zustimmung unproblematisch. Inwieweit dies durch Mehrheitsbeschluss möglich ist, richtet sich nach den insoweit geltenden allgemeinen Grundsätzen, d. h. maßgeblich danach, ob der Gesellschaftsvertrag eine Mehrheitsklausel enthält, die inhaltlich auch den Abschluss einer Schiedsvereinbarung deckt.881) Nach Aufgabe der sog. Kernbereichslehre durch den BGH882) stehen dem jedenfalls keine prinzipiellen Bedenken entgegen. Demgegenüber sind Organmitglieder einer juristischen Person nicht ohne weiteres an eine in der Satzung befindliche Schiedsklausel gebunden; vielmehr muss eine Schiedsvereinbarung gesondert abgeschlossen werden, beispielsweise im Rahmen des Dienstverhältnisses zwischen der Gesellschaft und dem Organmitglied.883) Eine – beispielsweise im französischen Recht verhältnismäßig großzügig angenommene – Erstreckung von Schiedsvereinbarungen auf Konzerngesellschaften ist dem deutschen Recht fremd, wenn die betroffene Konzerngesellschaft ihrerseits nicht Partei der Schiedsvereinbarung ist und auch sonst kein anerkannter Erstreckungstatbestand vorliegt.884) ___________ 877) Für Gesamtrechtsnachfolger Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 514; Schwab/ Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, Kap. 7 Rn. 30; Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, § 1029 Rn. 85; Musielak/Voit/Voit, ZPO, § 1029 Rn. 8; für Einzelrechtsnachfolger MünchKommZPO/Münch, § 1029 Rn. 46; ferner Pörnbacher/Baur, in: Mehrbrey, Hdb. Gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten, § 2 Rn. 63. 878) Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, Kap. 7 Rn. 36. 879) Ganz h. M., vgl. BGH NJW-RR 1991, 423, 424; OLG Köln NJW 1961, 1312, 1313; Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, Kap. 7 Rn. 35; MünchKomm-ZPO/Münch, § 1029 Rn. 51; Pörnbacher/Baur, in: Mehrbrey, Hdb. Gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten, § 2 Rn. 67; Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, § 1029 Rn. 75; a. A. allerdings beispielsweise Habersack, SchiedsVZ, 2003, 241, 246. 880) Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 469; Heskamp, RNotZ 2012, 415, 420 ff.; Pörnbacher/Baur, in: Mehrbrey, Hdb. Gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten, § 2 Rn. 65. 881) So zu Recht Habersack, SchiedsVZ, 2003, 241, 245 (für Personengesellschaften); ähnlich Pörnbacher/Baur, in: Mehrbrey, Hdb. Gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten, § 2 Rn. 57; anders die wohl bislang h. M., vgl. etwa MünchKomm-HGB/K. Schmidt, § 105 Rn. 125 (für Personengesellschaften); Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 3 Rn. 38 (für die GmbH), jeweils m. w. N. 882) BGH NZG 2014, 1296 ff. = ZIP 2014, 2231; Schiffer, DB 2015, 584 ff.; krit. Priester, NZG 2015, 529. 883) Umbeck, SchiedsVZ 2009, 143, 144 ff. 884) Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 510; Müller/Keilmann, SchiedsVZ 2007, 113, 118; Musielak/Voit/Voit, ZPO, § 1029 Rn. 8; Pörnbacher/Baur, in: Mehrbrey, Hdb. Gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten, § 2 Rn. 70.

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2. Sonderfall Beschlussmängelstreitigkeiten 576 Nach heutigem Stand von Rechtsprechung und Lehre sind auch gesellschaftsrechtliche Beschlussmängelstreitigkeiten schiedsfähig.885) Unter Beschlussmängelstreitigkeiten versteht man im Kapitalgesellschaftsrecht Anfechtungsund Nichtigkeitsklagen gegen Gesellschafterbeschlüsse (exemplarisch §§ 241 ff. AktG). Bei Kapitalgesellschaften sind diese gegen die Gesellschaft zu richten (§ 246 Abs. 2 Satz 1 AktG); ein die Nichtigkeit aussprechendes Urteil hat Gestaltungswirkung für und gegen alle Gesellschafter (erga omnesWirkung, § 248 Abs. 1 Satz 1 AktG).886) Bei Personengesellschaften ist die Nichtigkeit von Gesellschafterbeschlüssen grundsätzlich durch Feststellungsklage gegen die übrigen Gesellschafter geltend zu machen;887) der Gesellschaftsvertrag kann indes vorsehen, dass auch bei Personengesellschaften die Klage gegen die Gesellschaft zu richten ist und dass ein der Klage stattgebendes Urteil für und gegen alle Gesellschafter wirken soll.888) 577 Wegen der erga omnes-Wirkung eines stattgebenden Urteils wurde die Schiedsfähigkeit gesellschaftsrechtlicher Beschlussmängelstreitigkeiten in Deutschland über lange Zeit in Zweifel gezogen bzw. kritisch betrachtet, auch und gerade von der Rechtsprechung des BGH.889) Der Gesetzgeber hat sich der Frage im Zuge der Überarbeitung des deutschen Schiedsverfahrensrechts im Jahr 1998 bewusst nicht angenommen, sondern die Lösung weiterhin der Praxis überlassen.890) Der BGH griff diesen Gestaltungsauftrag im Jahr 2009 in einem viel beachteten, als Schiedsfähigkeit II bezeichneten Urteil auf und bejahte darin grundsätzlich die Schiedsfähigkeit gesellschaftsrechtlicher Beschlussmängelstreitigkeiten, stellte aber unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten, insbesondere im Hinblick auf das rechtliche Gehör der übrigen Gesellschafter, strenge Anforderungen an die Ausgestaltung und Wirksamkeit diesbezüglicher Schiedsvereinbarungen:891) x

Sämtliche Gesellschafter müssen der Schiedsvereinbarung zugestimmt haben (bzw. es muss ein nach allgemeinen Grundsätzen zulässiger Fall einer Mehrheitsentscheidung vorliegen).

Sämtliche Gesellschafter müssen über die Einleitung des Verfahrens informiert werden und die Möglichkeit erhalten, sich am Verfahren – beispielsweise im Wege der Nebenintervention – zu beteiligen. ___________ x

885) BGH NJW 2009, 1962 ff. = ZIP 2009, 1003 – Schiedsfähigkeit II; aus der Fülle der Lit. vgl. exemplarisch nur Borris, SchiedsVZ 2009, 299 ff.; Hilbig, SchiedsVZ 2009, 247 ff.; Wolff, NJW 2009, 2021 ff.; Goette, GWR 2009, 103 ff.; Niemeyer/Häger, BB 2014, 1737 ff. 886) Grigoleit/Ehmann, AktG, § 248 Rn. 2; Entsprechendes gilt für die GmbH, vgl. Henssler/ Strohn/Drescher, § 248 AktG Rn. 7. 887) BGH NJW 1999, 3113 ff.; Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 119 Rn. 32. 888) BGH NZG 2013, 57, 58 = ZIP 2013, 68; MünchHdb. GesR Bd. 2/Jaletzke, § 66 Rn. 29; Baumbach/Hopt/Roth, HGB, § 119 Rn. 32. 889) Exemplarisch insoweit BGH NJW 1996, 1753 ff. = ZIP 1996, 830 – Schiedsfähigkeit I. 890) BT-Drucks. 13/5274, S. 35 l. Sp. 891) BGH NJW 2009, 1962 ff. = ZIP 2009, 1003 – Schiedsfähigkeit II.

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x

Sämtliche Gesellschafter können an der Konstituierung des Schiedsgerichts mitwirken, wobei es zulässig ist, „Lager“ zu bilden, und innerhalb eines „Lagers“ eine Mehrheitsentscheidung bei der Benennung eines Schiedsrichters vorzusehen.

x

Sämtliche einen bestimmten Gesellschafterbeschluss betreffenden Beschlussmängel(schieds)klagen werden bei einem Schiedsgericht – beispielsweise qua Prioritätsprinzip – konzentriert.892)

Schiedsklauseln, die diesen Anforderungen nicht entsprechen, sind nach An- 578 sicht des BGH wegen Verstoßes gegen rechtsstaatliche Mindestanforderungen nichtig.893) Altvereinbarungen müssen daher ggf. angepasst werden. Insoweit kommt in Betracht, dass Gesellschafter kraft Treuepflicht gehalten sind, einer Anpassung zuzustimmen.894) Dies gilt allerdings nach Ansicht der Rechtsprechung nur vor Einleitung eines Beschlussmängelstreites. Im laufenden Verfahren ist eine Partei dagegen auch durch die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht nicht gehindert, sich auf die Unwirksamkeit einer den Anforderungen der Schiedsfähigkeit II-Rechtsprechung nicht genügenden Schiedsvereinbarung zu berufen.895) Die DIS stellt seit 2009 Ergänzende Regeln für gesellschaftsrechtliche 579 Streitigkeiten (DIS-ERGeS) zur Verfügung,896) auf die die Parteien in einer Schiedsvereinbarung Bezug nehmen können, wenn sie gesellschaftsrechtliche Beschlussmängelstreitigkeiten der Schiedsgerichtsbarkeit zuweisen wollen. Die wesentlichen Vorteile einer Bezugnahme auf die DIS-ERGeS sind, dass (i) ein komplexes Regelwerk ausserhalb des Gesellschaftervertrages verlagert wird, was dessen Text entlastet, (ii) eine dynamische Verweisung möglich ist (auch bei beurkundungsbedürftigen Gesellschaftsverträgen, vgl. Rn. 573); (iii) die Parteien sich die Geschäftsstellenfunktion der Schiedsinstitution zunutze machen können;897) und (iv) bei einer „selbstgebauten“ Schiedsvereinbarung ein erheblich höheres Risiko besteht, die Anforderungen der Schiedsfähigkeit II-Rechtsprechung nicht in allen Punkten zutreffen, was die bereits erwähnte missliche Nichtigkeitsfolge nach sich zieht.898) ___________ 892) Abgesehen von dem Erfordernis zu (iv) entsprechen diese Anforderungen weitgehend den seit den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts bestehenden Anforderungen der österreichischen Judikatur an die Schiedsfähigkeit von Beschlussmängelstreitigkeiten nach österreichischem Recht; siehe OGH, 3.6.1050 – 2 Ob 276/50, 7 Ob 221/98w; OGH, 1.10.2008 – 6 Ob 170/08f. 893) BGH NJW 2009, 1962, Tz. 18 = ZIP 2009, 1003 – Schiedsfähigkeit II. 894) BGH NJW 2009, 1962, Tz. 39 = ZIP 2009, 1003 – Schiedsfähigkeit II. 895) BGH NJW 2009, 1962, Tz. 38 = ZIP 2009, 1003 – Schiedsfähigkeit II. 896) Abrufbar unter www.disarb.org. 897) Borris, SchiedsVZ 2009, 299, 304; Schwedt, SchiedsVZ 2010, 166, 167; ebenfalls die DIS-ERGeS empfehlend Pörnbacher/Baur, in: Mehrbrey, Hdb. Gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten, § 19 Rn. 205. 898) Zu Einzelheiten ausführlich und instruktiv Niemeyer/Häger, BB 2014, 1737 ff.

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580 In einer weiteren Entscheidung hat der BGH seine Rechtsprechung zur Schiedsfähigkeit von Beschlussmängelstreitigkeiten fortgeführt.899) Die aufgestellten Grundsätze zur Wirksamkeit von Schiedsvereinbarungen sind nach dem Urteil Schiedsfähigkeit III auch bei Personengesellschaften anzuwenden, zumindest soweit keine Abweichungen aufgrund der Gesellschaftsform geboten sind.900) Auch in diesem Fall stützt der BGH die Anwendung der strengen Anforderungen auf § 138 BGB und andere rechtsstaatliche Grundsätze. Die Entscheidung stieß auf Kritik in Literatur und Praxis.901) Zu Recht wird bemängelt, dass der BGH die rechtsdogmatischen und strukturellen Unterschiede bei Kapitalgesellschaften und Personengesellschaften nicht ausreichend gewürdigt hat. Da der BGH nicht näher erläutert hat, wann bei Beschlussmängelstreitigkeiten Abweichungen aufgrund der Gesellschaftsform geboten sein könnten, besteht insoweit eine erhebliche Rechtsunsicherheit für die Praxis. 3. Gestaltungsempfehlungen – „less is more“ 581 Ganz allgemein ist es im deutschen Rechtskreis meist angeraten, eine kurze Schiedsvereinbarung zu entwerfen, die den Willen der Parteien klar zum Ausdruck bringt, bestimmte Streitigkeiten unter Ausschluss der staatlichen Gerichte abschließend durch ein Schiedsgericht entscheiden zu lassen (§§ 1026, 1029 ZPO). Empfehlenswert ist ferner eine Festlegung der Anzahl der Schiedsrichter und des Schiedsortes. Erfolgt hinsichtlich der Zahl der Schiedsrichter keine Festlegung, sehen das Zehnte Buch der ZPO und die DIS-SchO drei Schiedsrichter als Auffanglösung vor (§ 1034 Abs. 1 Satz 2 ZPO, Art. 10.2 DIS-SchO), während Art. 12.2 ICC-SchO den Einzelschiedsrichter präferiert. In gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten bietet sich häufig ein Dreierschiedsgericht an, um einen ausgewogenen Entscheidungskörper zu haben, in dem sich alle Seiten repräsentiert fühlen; anders mag es bei vergleichsweise geringen Streitwerten sein, wo die Kosten für die Vergütung von drei Schiedsrichtern unverhältnismäßig erscheinen können. 582 Der Schiedsort sollte nicht etwa unter touristischen Gesichtspunkten ausgesucht werden; vielmehr bestimmt sich international nach dem Schiedsort das anwendbare nationale Schiedsrecht (lex arbitri, d. h. in Deutschland das Zehnte Buch der ZPO, vgl. § 1025 Abs. 1 ZPO) und innerhalb Deutschlands beispielsweise die örtliche Zuständigkeit des Oberlandesgerichts, soweit dieses zu gerichtlichen Handlungen im Zusammenhang mit einem Schiedsverfahren berufen ist (§ 1062 Abs. 1 ZPO, z. B. Schiedsrichterbestellung und – ablehnung, Anträge auf Aufhebung und Vollstreckbarerklärung von Schieds___________ 899) BGH NJW-RR 2017, 876 = ZIP 2017, 1024 – Schiedsfähigkeit III. 900) BGH NJW-RR 2017, 876 Tz. 26 = ZIP 2017, 1024 – Schiedsfähigkeit III. 901) Nolting, ZIP 2017, 1641, 1642 f.; Borris, NZG 2017, 761, 763 f.; Kröll, SchiedsVZ 2018, 61, 69.

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F. Schiedsverfahren

sprüchen). Im Fall gesellschaftsrechtlicher Streitigkeiten dürfte in der Regel der Sitz der Gesellschaft ein geeigneter und präferierter Schiedsort sein. Bei Fällen mit Auslandsberührung sollten auch das anwendbare Recht (so- 583 weit der Parteidisposition zugänglich) und die Verfahrenssprache vereinbart werden. Gerade bei gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten ist zu beachten, dass das Gesellschaftsstatut in der Regel durch zwingendes Recht vorgegeben ist;902) hingegen sind beispielsweise schuldrechtliche Vereinbarungen der Gesellschafter untereinander regelmäßig der Rechtswahl zugänglich.903) Soweit die Parteien ein Ad-hoc-Schiedsverfahren durchführen wollen, sollten 584 diese Mindestinhalte ausreichen. Falls das Tätigwerden einer Schiedsinstitution gewünscht ist, muss diese – möglichst zutreffend und eindeutig – bezeichnet werden. Schiedsinstitutionen stellen üblicherweise Formulierungsvorschläge für Schiedsvereinbarungen zur Verfügung, und es empfiehlt sich regelmäßig, diesen Vorschlägen zu folgen, bzw. sie zumindest zum Ausgangspunkt für eigene Formulierungen zu nehmen. Die von der DIS vorgeschlagene Musterklausel lautet beispielsweise: „(1) Alle Streitigkeiten, die sich aus oder im Zusammenhang mit diesem Vertrag oder über dessen Gültigkeit ergeben, werden nach der Schiedsgerichtsordnung der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit e. V. (DIS) unter Ausschluss des ordentlichen Rechtsweges endgültig entschieden.“904)

Ferner empfiehlt die DIS die Regelung folgender Punkte, insbesondere bei 585 Auslandsberührung: „(2) Das Schiedsgericht besteht aus … (3) Der Schiedsort ist … (4) Die Verfahrenssprache ist … (5) Das in der Sache anwendbare Recht ist …“905)

Eines dynamischen Verweises auf die Fassung der Schiedsordnung, die bei 586 Einleitung des Schiedsverfahrens gilt, bedarf es in aller Regel nicht, da dies die meisten Schiedsordnungen ohnehin so vorsehen (exemplarisch Art. 1.2 DIS-SchO, Art. 6.1 ICC-SchO). Selbstredend können die Parteien in die Schiedsvereinbarung weitere Verfahrensregeln aufnehmen, beispielsweise zur Abfassung von Schriftsätzen, zur Art und Weise der Zustellung, zu Fristen, zur Gestaltung der Beweisaufnahme etc. Solche Vereinbarungen gehen dem ansonsten gegebenen Ermessen des Schiedsgerichts vor (§ 1042 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Vorsicht ist bei pauschaler Bezugnahme auf die ZPO geboten. ___________ 902) Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, § 1051 Rn. 7; McGuire, SchiedsVZ 2011, 257, 261. 903) MünchKomm-BGB/Kindler, IntGesR Rn. 592. 904) DIS-Musterschiedsvereinbarung, DIS-Schiedsgerichtsordnung 2018, S. 4, abrufbar unter www.disarb.org. 905) DIS-Musterschiedsvereinbarung, DIS-Schiedsgerichtsordnung 2018, S. 4, abrufbar unter www.disarb.org.

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Insoweit sollte klargestellt werden, ob lediglich das Zehnte Buch der ZPO gemeint ist (dann ist der Verweis an sich überflüssig) oder die gesamte ZPO (dann ist der Verweis zumindest interpretations- und präzisierungsbedürftig, da eine Reihe von ZPO-Vorschriften bei Vorliegen einer Schiedsvereinbarung gerade nicht gelten, z. B. die Vorschriften über das Mahnverfahren).906) Insgesamt ist von Pauschalverweisen auf die ZPO eher abzuraten. III. Konstituierung des Schiedsgerichts 587 Für die Konstituierung des Schiedsgerichts gelten auch im Fall gesellschaftsrechtlicher Binnenstreitigkeiten zunächst die allgemeinen Grundsätze (nachfolgend 1., Rn. 588 ff.), an deren Erörterung sich einige auf die vorliegend zu behandelnde Streitart bezogene Praxisempfehlungen anschließen (nachfolgend 2., Rn. 591 ff.). 1. Allgemeine Grundsätze 588 Die Konstituierungsschritte hängen zum einen wesentlich davon ab, ob ein Einzelschiedsrichter oder ein Dreierschiedsgericht zu bestellen ist, zum anderen von den diesbezüglichen Vereinbarungen der Parteien bzw. den einschlägigen Bestimmungen einer etwa gewählten Schiedsordnung. Beim Einzelschiedsrichter sieht § 1035 Abs. 3 ZPO beispielsweise vor, dass die Parteien zunächst einen Einigungsversuch zu unternehmen haben, bei dessen Scheitern jede Partei die Bestellung durch das zuständige OLG herbeiführen kann. Im Fall der DIS-SchO ist hierfür der DIS-Ernennungsausschuss zuständig (Art. 11 DIS-SchO), bei der ICC der ICC-Schiedsgerichtshof (Art. 12.3 ICC-SchO). 589 Ist ein Dreierschiedsgericht zu besetzen, hat in der Regel zunächst der Schiedskläger einen Schiedsrichter zu benennen (§ 1035 Abs. 3 Satz 2 ZPO; häufig zusammen mit dem verfahrenseinleitenden Schriftsatz, vgl. etwa Art. 5.2(vii) DIS-SchO, Art. 5.1(e) ICC-SchO), dann der Schiedsbeklagte (§ 1035 Abs. 3 Satz 2 ZPO, Art. 7.1(i) DIS-SchO, Art. 12.4 ICC-SchO). Die beiden parteibenannten Schiedsrichter haben sich dann auf den Vorsitzenden (Obmann) zu einigen (ggf. unter Rücksprache und in Abstimmung mit den Parteien).907) Gelingt dies nicht, wird der Obmann im Ad-hoc-Verfahren durch das zuständige OLG, in institutionellen Verfahren in der Regel durch die Schiedsinstitution bestellt (§ 1035 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2, Satz 3 ZPO, Art. 12.3 DIS-SchO). Abweichend davon bestimmt Art. 12.5 ICC-SchO, dass der Obmann grundsätzlich durch den ICC-Schiedsgerichtshof bestellt wird, es sei denn, die Parteien haben etwas Abweichendes (beispielsweise die Bestellung infolge Einigung der parteibenannten Schiedsrichter) vereinbart. Nimmt eine Partei die ihr obliegende Benennung eines Schiedsrichters nicht ___________ 906) Hierzu Wolff, JuS 2008, 108, 110; Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, Kap. 16 Rn. 55. 907) Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 3383.

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F. Schiedsverfahren

vor, erfolgt diese auf Antrag der anderen Partei durch das zuständige OLG (im Ad-hoc-Verfahren, § 1035 Abs. 3 Satz 3 ZPO) bzw. die Schiedsinstitution (Art. 12.1 DIS-SchO, Art. 12.4 ICC-SchO). Schiedsrichter – egal ob Beisitzer oder Obmann – müssen unparteilich und 590 unabhängig sein. Wird jemandem ein Schiedsrichteramt angetragen, muss er oder sie von sich aus alle Umstände offenlegen, die Zweifel an der Unparteilichkeit oder Unabhängigkeit wecken können (§ 1036 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Liegen „berechtigte Zweifel“ an der Unparteilichkeit oder Unabhängigkeit vor, kann eine Partei einen Schiedsrichter binnen zwei Wochen nach Kenntnis ablehnen (§ 1036 Abs. 2 i. V. m. § 1037 ZPO). Im gesellschaftsrechtlichen Kontext bedeutet dies beispielsweise insbesondere, dass Organmitglieder im Regelfall nicht Schiedsrichter in Verfahren sein können, an denen die Gesellschaft beteiligt ist. Ebenso wenig können Personengesellschafter zu Schiedsrichtern in Verfahren bestellt werden, an denen die Personengesellschaft beteiligt ist; bei Kapitalgesellschaften ist jedenfalls eine wirtschaftlich nicht unbedeutende Beteiligung ein Hinderungsgrund.908) Ansonsten gelten auch in gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten die allgemeinen Grundsätze, so dass auf die einschlägigen Kommentierungen zu §§ 1036, 1037 ZPO verwiesen werden kann. Eine wertvolle praktische Hilfestellung zu immer wieder vorkommenden Konstellationen können die von der International Bar Association erarbeiteten – wenn auch nicht rechtsverbindlichen – Guidelines on Conflicts of Interest in International Arbitration idFv. Oktober 2014 bieten.909) 2. Praxisempfehlungen Die Auswahl des Schiedsrichters bzw. der Schiedsrichter ist in der Praxis nicht 591 nur in gesellschaftsrechtlichen Schiedsverfahren – jedenfalls in der Wahrnehmung der Beteiligten – ein Verfahrensschritt von höchster Bedeutung, auf den regelmäßig und zu Recht erhebliche Sorgfalt verwendet wird. Im ersten Schritt empfiehlt es sich, ein Anforderungsprofil für den zu be- 592 nennenden Schiedsrichter zu erstellen, etwa im Hinblick auf erwünschte materiell-rechtliche Kenntnisse (z. B. im Gesellschaftsrecht), prozessuale Erfahrungen (z. B. mit den Regeln der einschlägigen Schiedsinstitution) und Branchen-Knowhow (etwa in dem Tätigkeitsfeld der Gesellschaft). Kandidaten sollten ferner mit der Verfahrenssprache und ggf. – bei Auseinanderfallen – auch mit der Sprache zugrunde liegender Dokumente vertraut sein. Wichtig sind weiterhin die zeitliche Verfügbarkeit und der Wille, die Aufgabe höchstpersönlicher Amtsführung ernst zu nehmen. Im zweiten Schritt sollte eine Kandidatenliste erstellt werden, die eine Aus- 593 wahl der nach dem Anforderungsprofil in Betracht kommenden Personen enthält und diese ggf. priorisiert. In die Erstellung der Kandidatenliste können ___________ 908) Pörnbacher/Baur, in: Mehrbrey, Hdb. Gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten, § 2 Rn. 76. 909) Abrufbar unter www.ibanet.org.

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die persönlichen Erfahrungen und Kenntnisse der Partei und ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Listen der Schiedsinstitutionen mit Schiedsrichterkandidaten, entsprechende Websites910) und „Mund-zu-Mund Propaganda“ einfließen. 594 Bei alledem ist es nicht zwingend, sich auf (Voll)Juristen zu beschränken, es sei denn die einschlägige Schiedsordnung oder eine Vereinbarung der Parteien zwingt dazu. Das Zehnte Buch der ZPO sieht keine zwingende juristische Qualifikation vor. Auch die DIS-SchO verzichtet seit 2018 auf ein solches Erfordernis bei den Schiedsrichtern.911) Bei der Auswahl eines Nichtjuristen ist allerdings zu beachten, dass dieser im Fall eines Dreierschiedsgerichts in Erörterungen mit den übrigen Schiedsrichtern zu prozessualen und materiellrechtlichen Fragen häufig wenig wird beitragen können. Innerhalb der juristischen Berufsgruppen kommen grundsätzlich alle Ausprägungen in Frage, insbesondere Rechtsanwälte, Richter, Hochschullehrer und Notare. Bei Richtern und Hochschullehrern ist auf die erforderliche Nebentätigkeitsgenehmigung zu achten.912) Bei aktiven Richtern kommt hinzu, dass diese regelmäßig nur als Einzelschiedsrichter oder Vorsitzende eines Dreierschiedsgerichts agieren können.913) 595 In einem dritten Schritt sollte der Kandidat der Wahl bzw. eine Auswahl von Kandidaten kontaktiert und zu seiner bzw. ihrer Verfügbarkeit befragt werden. Um einem Kandidaten die Prüfung seiner Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, seiner Eignung und Verfügbarkeit für den angetragenen Fall zu ermöglichen, sind die Identität der Streitparteien und die Art des Streitgegenstandes (letzteres nur in groben Zügen) mitzuteilen.914) Inhaltliche Diskussionen zum Fall und zu den sich dabei stellenden tatsächlichen und rechtlichen Fragestellungen sind im eigenen Interesse der benennenden Partei zu unterlassen, um die Neutralität des Kandidaten nicht zu gefährden.915) Die erste Kontaktaufnahme kann telefonisch oder schriftlich (einschließlich Email) erfolgen. Ferner ist es legitim, dass sich eine Partei und/oder ihr Verfahrensbevollmächtigter mit einem Kandidaten zu einem persönlichen Kennenlernen treffen. Auch dabei haben inhaltliche Gespräche zum Fall zu unterbleiben.

___________ 910) Beispiel: http://www.iaiparis.com. 911) Anders noch die alte Fassung von 1998; in dieser wurde bestimmt, dass ein Einzelschiedsrichter bzw. der Vorsitzende ein Jurist zu sein hat (§ 2.2 DIS-SchO). 912) Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, Kap. 9 Rn. 2; vgl. § 40 DRiG, § 99 BBG und die einschlägigen Vorschriften der Landesbeamtengesetze. 913) Vgl. § 40 Abs. 1 DRiG. 914) So auch die Praxisempfehlung in den IBA Guidelines on Party Representation in International Arbitration vom 25.5.2013, dort insb. Ziff. 8 und die zugehörigen Erläuterungen (abrufbar unter www.ibanet.org). 915) Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 825; Kreindler/Schäfer/Wolff, Schiedsgerichtsbarkeit, Rn. 517 ff.; Lörcher/Lörcher, SchiedsVZ 2005, 179, 186.

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F. Schiedsverfahren

Ein Kennenlerntreffen sollte auf neutralem Boden oder in den Büroräumen des Kandidaten stattfinden und lediglich von kurzer Dauer sein.916) Im vierten Schritt erfolgt die Benennung des Kandidaten; ggf. schließen sich 596 weitere Verfahrensschritte an, wie beispielsweise die Annahme durch den Kandidaten und die Bestätigung durch die Schiedsinstitution (Art. 9.3, 13 DIS-SchO, Art. 13 ICC-SchO). IV. Durchführung des Schiedsverfahrens Die Durchführung des Schiedsverfahrens ist entscheidend von den Vereinba- 597 rungen der Parteien, im Übrigen davon abhängig, wie das Schiedsgericht das ihm eingeräumte weite Verfahrensermessen ausübt (§ 1042 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Gleichwohl können gewisse allgemeine Grundlagen festgehalten werden (nachfolgend 1., Rn. 598 f.). Zu den wesentlichen Verfahrensschritten in nahezu allen Schiedsverfahren zu gesellschaftsrechtlichen Binnenstreitigkeiten zählen die Schriftsätze der Parteien (nachfolgend 2., Rn. 600 ff.), das schiedsverfahrensrechtliche Beweisrecht (nachfolgend 3., Rn. 604 ff.) und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung (nachfolgend 4., Rn. 615). 1. Grundlagen Das Zehnte Buch der ZPO enthält in den §§ 1042 ff. ZPO lediglich einen 598 allgemeinen Rahmen für die Durchführung des Schiedsverfahrens, der deutlich weniger detailliert ist als etwa die Bestimmungen der ZPO über das staatliche Gerichtsverfahren. Ähnliches gilt für die meisten Schiedsordnungen. Soweit die Parteien keine näheren Vereinbarungen getroffen haben, ist die Gestaltung des Verfahrens weitgehend dem Ermessen des Schiedsgerichts anheimgestellt (§ 1042 Abs. 4 Satz 1 ZPO), das sich dabei von verschiedenen Überlegungen leiten lassen kann. So kann ein Schiedsgericht – auch in gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten – beispielsweise eher einen nationalen, dem staatlichen Gerichtsverfahren nachempfundenen Verfahrensstil wählen. Dies geschieht in der Praxis häufig, wenn die Parteien einen rein nationalen Hintergrund haben und/oder die Schiedsrichter stark durch Erfahrungen im staatlichen Gerichtsverfahren geprägt sind (etwa amtierende oder ehemalige staatliche Richter als Schiedsrichter). Ebenso gut kann das Schiedsgericht einen internationalen oder der anglo-amerikanischen Prozesspraxis angenäherten Verfahrensstil vorgeben, beispielsweise in puncto Urkundenvorlage (disclosure), Kreuzverhör von Zeugen oder Fokus auf parteibenannte Sachverständige. Diese Herangehensweise liegt nahe, wenn die Parteien unterschiedlichen Rechtskreisen angehören und zumindest eine Partei der anglo-amerikanischen Prozesstradition nahe steht. Auch ein „Stilmix“, der Elemente unterschiedlicher Prozesstraditionen aufgreift, ist denkbar. ___________ 916) Kreindler/Schäfer/Wolff, Schiedsgerichtsbarkeit, Rn. 518 – „etwa eine halbe Stunde“; Redfern/Hunter, Rn. 4.70 – „not more than half an hour“.

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599 Praktisch häufig werden Verfahrensgrundsätze in einer ersten prozessleitenden Verfügung des Schiedsgerichts niedergelegt (Procedural Order No. 1), die beispielsweise die Gestaltung und Zustellung von Schriftsätzen, einen Zeitplan für die bevorstehenden Verfahrensschritte, Grundsätze für die Beweiserhebung (z. B. Befragung durch das Schiedsgericht vs. Kreuzverhör durch die Verfahrensbevollmächtigten) und Ähnliches enthalten kann. Schiedsgerichte sind häufig bestrebt, solche verfahrensleitenden Verfügungen mit den Parteien abzustimmen. Sie sollten darauf bedacht sein, gleichwohl die Gestaltungshoheit hierüber zu behalten und nicht unbeabsichtigt in eine Vereinbarung der Parteien hineinzugleiten, die das Schiedsgericht nicht mehr einseitig ändern kann.917) 2. Schriftsätze der Parteien 600 Schriftsätze der Parteien spielen in gesellschaftsrechtlichen Schiedsverfahren üblicherweise eine tragende Rolle bei der Verfahrensdurchführung. Das Zehnte Buch der ZPO verlangt – ebenso wie internationale Schiedsordnungen, beispielsweise der ICC – keine detaillierte Klagebegründung für die Einleitung eines Schiedsverfahrens (§ 1044 Satz 2 ZPO). Diese kann einem Schriftsatz unmittelbar nach Konstituierung des Schiedsgerichts vorbehalten bleiben. Demgegenüber lehnt sich die DIS-Schiedsordnung stärker an das Verfahren vor den deutschen staatlichen Gerichten an Art. 5 DIS-SchO). 601 Die Darlegungs- und Substantiierungsanforderungen, die für den staatlichen Gerichtsprozess gelten, finden im Schiedsverfahren im Ausgangspunkt keine Anwendung, es sei denn die Parteien hätten dies vereinbart oder das Schiedsgericht wollte dies kraft des ihm eingeräumten Verfahrensermessens fordern. Auch die sog. Relationstechnik ist ein Instrument, das im Schiedsverfahren nicht zwingend zur Anwendung kommt, wenngleich seine Beachtung gerade im Vergleich zu abweichenden internationalen Verfahrensstilen immer wieder zu Recht als vorteilhaft gepriesen wird.918) 602 In gesellschaftsrechtlichen Schiedsverfahren ist es daher häufig mehr als im staatlichen Gerichtsverfahren der Strategie und Taktik der Parteien und ihrer Verfahrensbevollmächtigten überlassen, zu welchem Zeitpunkt mit welcher Spezifizität und mit welchen Beweisantritten vorgetragen und argumentiert wird. Parteien und ihre Vertreter, die Erfahrung in Schiedsverfahren haben, wissen diesen zusätzlichen Spielraum geschickt für sich zu nutzen. 603 Zu beachten ist, dass Widerklagen und Aufrechnungen üblicherweise nur insoweit in Betracht kommen, als der Gegenstand der Widerklage bzw. die zur ___________ 917) Vgl. OLG Frankfurt/M. SchiedsVZ 2013, 49. Formulierungsvorschlag zum Vorbehalt des schiedsrichterlichen Verfahrensermessens bei Wagner/Bülau, SchiedsVZ 2013, 6. 918) Elsing, SchiedsVZ 2011, 114, 117; Semler, SchiedsVZ 2009, 149 ff.; Trappe, SchiedsVZ 2013, 167, 169.

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F. Schiedsverfahren

Aufrechnung gestellte Forderung ebenfalls der Schiedsbindung unterliegen; andernfalls fehlt es insoweit an der Zuständigkeit des Schiedsgerichts.919) 3. Beweisrecht a) Allgemeine Grundsätze Das Verfahrensermessen des Schiedsgerichts erstreckt sich gem. § 1042 604 Abs. 4 Satz 2 ZPO ausdrücklich auch auf das Beweisrecht: „Das Schiedsgericht ist berechtigt, über die Zulässigkeit einer Beweiserhebung zu entscheiden, diese durchzuführen und das Ergebnis frei zu würdigen.“

Das Zehnte Buch der ZPO enthält im Übrigen nur sporadische Regelungen 605 zur Beweisaufnahme; § 1049 ZPO regelt den Sachverständigenbeweis, § 1050 ZPO die Aushilfe der Amtsgerichte bei der Beweisaufnahme. Das Beweisrecht des staatlichen Gerichtsverfahrens ist im Ausgangspunkt nicht anwendbar. Etwas anderes gilt, wenn die Parteien insoweit eine ausdrückliche Vereinbarung geschlossen haben. Nicht ausgeschlossen ist, dass sich das Schiedsgericht bei der Ausübung seines Verfahrensermessens von den Regeln des staatlichen Beweisrechts inspirieren lässt. Gleichermaßen kann sich das Schiedsgericht aber auch von anderen Bestimmungen und Grundsätzen zur Beweisaufnahme leiten lassen, einschließlich Bestimmungen in internationalen Regelwerken, wie beispielsweise den IBA Rules on the Taking of Evidence in International Arbitration (IBA Rules).920) Das Schiedsgericht ist insbesondere nicht auf den herkömmlichen Kanon der Beweismittel des Strengbeweises im staatlichen Gerichtsverfahren beschränkt. Ebenso wenig begrenzt der im staatlichen Verfahren geltende Beibringungsgrundsatz die Befugnisse des Schiedsgerichts bei der Beweisaufnahme. Im Schiedsverfahren gilt insoweit stattdessen nach herrschender Auffassung der sog. beschränkte Untersuchungsgrundsatz.921) b) Dokumente Zu den praktisch bedeutsamen Beweismitteln gehören im Schiedsverfahren – 606 wie im staatlichen Gerichtsverfahren – Urkunden bzw. Dokumente (einschließlich elektronischer Dokumente). Zugang zu urkundlichen Beweismit___________ 919) Für Widerklagen siehe BT-Drucks. 13/5274, S. 49 l. Sp.; Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 497, 1461; Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, § 1046 Rn. 6. Für die Aufrechnung siehe BT-Drucks. 13/5274, S. 49 l. Sp.; Kreindler/Schäfer/Wolff, Schiedsgerichtsbarkeit, Rn. 186; Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 497; Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, § 1029 Rn. 61. a. A Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, Kap. 3 Rn. 12. Abweichend Art. 21 Abs. 5 Swiss Rules, der auch die Aufrechnung mit schiedsvereinbarungsfremden Gegenforderungen zulässt. 920) Abrufbar unter www.ibanet.org. 921) MünchKomm-ZPO/Münch, § 1042 Rn. 108; Nedden/Herzberg/Stumpe/Haller, § 27 DIS-SchO Rn. 4 (seit 1.3.2018: Art. 28 DIS-SchO); Quinke, SchiedsVZ 2013, 129, 132; Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 1281 ff.

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teln kann in gesellschaftsrechtlichen Schiedsverfahren auf zweierlei Art und Weise gesucht werden: einmal aufgrund Vorlageanordnung des Schiedsgerichts, zum anderen auf Grundlage materiell gesellschaftsrechtlicher Auskunftsansprüche (z. B. § 51a GmbHG). Die Vorlageanordnung ist, soweit keine Parteivereinbarung vorliegt, in das Ermessen des Schiedsgerichts gestellt, das sich dabei sowohl an den Grundsätzen des staatlichen Gerichtsverfahrens (insbesondere § 142 ZPO), aber auch an den großzügigen discoveryund disclosure-Standards des anglo-amerikanischen Rechtskreises orientieren kann. Ebenfalls denkbar sind Mittelwege und Kompromisslösungen, wie beispielsweise dergestalt, dass sich das Schiedsgericht insoweit von den IBA Rules leiten lässt, die in ihrem Art. 3 einen Brückenschlag zwischen den kontinentaleuropäischen und den anglo-amerikanischen Rechtstraditionen versuchen. Insbesondere gestatten sie Vorlageanträge nur, soweit Dokumente entweder individuell bezeichnet werden oder Dokumentenkategorien genannt werden, die „narrow and specific“ sind (Art. 3.3(a)(ii)); im Übrigen muss die Entscheidungserheblichkeit der herausverlangten Dokumente dargetan werden („relevant to the case and material to its outcome,“ Art. 3.3(b)). Die im Dezember 2018 neu aufgestellten Prague Rules basieren im Gegensatz zu den IBA Rules mehr auf einem kontinentaleuropäischen Ansatz. Aber auch in diesen wird auf die Entscheidungserheblichkeit der angeforderten Dokumente abgestellt („relevant and material to the outcome of the case“ Art. 4.5(a)). Häufig enthält die Erste Verfahrensleitende Verfügung (Procedural Order No. 1) Aussagen zu der Art und Weise, wie das Schiedsgericht sein diesbezügliches Ermessen auszuüben gedenkt. 607 In der Beweiswürdigung von Dokumenten ist das Schiedsgericht frei (§ 1042 Abs. 4 Satz 2 ZPO). Die Beweisregeln des staatlichen Gerichtsverfahrens gelten nicht. Sie wären ohnehin häufig nicht einschlägig, da es sich zumeist um Privaturkunden handelt, und mit ihnen inhaltliche Fragen bewiesen werden sollen, nicht nur, wer Urheber des Dokumentes ist (vgl. § 416 ZPO). Bei der Würdigung von Dokumenteninhalten ist einerseits zu berücksichtigen, dass Dokumente häufig ein zuverlässigeres Zeugnis über Umstände aus ihrer Entstehungszeit ablegen können als dies beispielsweise wegen der Schwächen des menschlichen Erinnerungsvermögens beim Zeugenbeweis der Fall sein mag. Andererseits dürfen als Beweismittel herangezogene Dokumente nicht isoliert und aus dem Kontext gerissen betrachtet werden. Dieser Kontext kann ein inhaltlicher Bezug zu anderen Umständen sein, die aus dem Dokument nicht ersichtlich sind. Auch mag der Verfasser des Dokumentes im Rahmen einer arbeitsteiligen bzw. hierarchischen Organisation nicht Einblick in den vollständigen Sachverhalt gehabt haben. Ferner kann der zeitliche Kontext ausschlaggebend sein, etwa dergestalt, dass sich die in dem Dokument wiedergegebenen Umstände später in entscheidungserheblicher Art und Weise geändert oder fortentwickelt haben. 608 Häufig ergibt sich daher erst aus der Zusammenschau mehrerer Dokumente oder von Dokumenten und Zeugen- bzw. Sachverständigenäußerungen ein

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belastbares und nachvollziehbares Beweisergebnis. Allein die Tatsache, dass jemand einen bestimmten Umstand zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer E-Mail oder eine Powerpoint-Präsentation – womöglich noch in „bulletpoint“Format oder pointierter Formulierung – thematisiert hat, heißt noch nicht, dass es tatsächlich auch so war, dass der Urheber Begriffe so verwendet hat, wie sie der Beweisführer oder –gegner nunmehr verstehen, oder dass die Partei, aus deren Sphäre die E-Mail entstammt, in Bezug auf diesen Umstand schuldhaft (oder gar mit Vorsatz bzw. Arglist) gehandelt hätte. c) Zeugen Ebenso von hoher praktischer Bedeutung in den meisten gesellschaftsrecht- 609 lichen Schiedsverfahren sind Zeugen als Beweismittel. Das Zehnte Buch der ZPO enthält insoweit keine Vorgaben für den Zeugenbeweis vor dem Schiedsgericht. Die im staatlichen Verfahren wesentliche Unterscheidung zwischen Zeugenbeweis und Parteivernehmung existiert im Schiedsverfahren üblicherweise nicht (vgl. auch Art. 4.2 IBA Rules),922) was gerade bei gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten zu erheblichen Vereinfachungen führen kann, da Organmitglieder, Gesellschafter und Dritte gleichermaßen als Zeugen aussagen können. Da dem Schiedsgericht keine Zwangsbefugnisse zustehen, ist das Erscheinen 610 von Zeugen vor dem Schiedsgericht freiwillig.923) Das Schiedsgericht kann allerdings die Hilfe staatlicher Gerichte in Anspruch nehmen, die wiederum Zwangsmittel anwenden können (§ 1050 ZPO).924) Auch hat das Schiedsgericht keine Befugnis, Vereidigungen vorzunehmen.925) Erscheint ein Zeuge und tätigt er Aussagen, müssen diese gleichwohl zutreffend und vollständig sein; andernfalls besteht das Risiko ernsthafter strafrechtlicher Konsequenzen (insbesondere möglicher Prozessbetrug, § 263 StGB).926) Die Art und Weise der Vernehmung ist in das Ermessen des Schiedsge- 611 richts gestellt. Es kann sich dabei an der herkömmlichen Herangehensweise im staatlichen Zivilverfahren orientieren, das geprägt ist von der richterlichen Befragung und der Schilderung der Wahrnehmungen des Zeugen im Zusammenhang (§§ 396, 397 ZPO). Ebenso denkbar ist ein mehr dem anglo-amerikanischen Rechtskreis entnommener Vernehmungsstil, bei dem zunächst der Parteivertreter der benennenden Partei die Erstbefragung (direct examination) ___________ 922) Kreindler/Schäfer/Wolff, Schiedsgerichtsbarkeit, Rn. 633, 719; Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 1490, 1511, 3895. 923) MünchKomm-ZPO/Münch, § 1049 Rn. 52 ff.; Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, Kap. 15 Rn. 13; Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 1493. 924) Musielak/Voit/Voit, ZPO, § 1050 Rn. 2. 925) BT-Drucks. 13/5274, S. 51 l. Sp.; Musielak/Voit/Voit, ZPO, § 1050 Rn. 2; Saenger/ Saenger, ZPO, § 1050 Rn. 1; Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 1621; Schwab/ Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, Kap. 17 Rn. 1. 926) MünchKomm-ZPO/Münch, § 1049 Rn. 52.

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und der Parteivertreter der Gegenpartei das Kreuzverhör (cross examination) vornimmt, und das Schiedsgericht lediglich ergänzende Fragen stellt. Schiedsgerichte mit Sitz in Deutschland haben gewöhnlich eine gewisse Zurückhaltung gegenüber aggressiven Kreuzverhörmethoden.927) 612 Üblich in Schiedsverfahren ist inzwischen, dass die direct examination weitgehend ersetzt wird durch eine vorab gefertigte schriftliche Zeugenaussage (written witness statement), bei dessen Erstellung üblicherweise die Prozessbevollmächtigten der benennenden Partei mitwirken, und dessen Inhalt zu Beginn der Vernehmung durch den Zeugen mündlich bestätigt wird. Dabei ist sorgfältig darauf zu achten, dass ein Zeuge nur seine eigenen Wahrnehmungen – diese aber vollständig – wiedergibt, und keine unzulässige Beeinflussung des Zeugen stattfindet (zum Ganzen vgl. Art. 4 IBA Rules). 613 Gleiches gilt für eine etwaige Vorbereitung des Zeugen auf die Vernehmungssituation. Eine solche Vorbereitung ist legitim; es gibt keine Rechtsvorschriften, die dies verbieten.928) So ist es ohne weiteres zulässig, dass eine Partei oder ihr Verfahrensbevollmächtigter einen Zeugen befragt, um zu substantiiertem und wahrheitsgemäßem Schriftsatzvotrag in der Lage zu sein.929) Ebenso zulässig ist es, einem Zeugen zu erläutern, welche Bedeutung eine Vernehmung durch das Schiedsgericht hat und wie sie voraussichtlich ablaufen wird.930) Dabei dürfen auch die voraussichtlichen Fragen des Schiedsgerichts und der Gegenseite erörtert werden. Schließlich spricht nach zutreffender Ansicht auch nichts gegen eine formalisierte Probebefragung (mock trial), um dem Zeugen einen möglichst authentischen Eindruck von der für ihn üblicherweise ungewohnten Vernehmungssituation zu verschaffen, zumal wenn mit einem intensiven Kreuzverhör zu rechnen ist.931) Auch hier ist – wie bei schriftlichen Zeugenaussagen – darauf zu achten, dass der Zeuge ausschließlich eigene Wahrnehmungen zutreffend und vollständig wiedergibt und er nicht zu Antworten verleitet wird, die nicht der Wahrheit entsprechen. d) Sachverständige 614 Ein drittes sehr wesentliches Beweismittel in Schiedsverfahren, namentlich mit gesellschaftsrechtlichem Hintergrund, sind Sachverständigengutachten (§ 1049 ZPO). Im Schiedsverfahren sind sowohl Parteigutachten (vgl. § 1049 Abs. 2 Satz 2 ZPO, Art. 5 IBA Rules) als auch Gutachten schiedsgerichtlich bestellter Sachverständiger üblich (vgl. § 1049 Abs. 1 ZPO, Art. 6 IBA ___________ 927) MünchKomm-ZPO/Münch, § 1049 Rn. 63. 928) Musielak/Voit/Voit, ZPO, § 1042 Rn. 23; Bertke/Schroeder, SchiedsVZ 2014, 80, 84 ff.; Schlosser, SchiedsVZ 2004, 225 ff. 929) Ullrich, NJW 2014, 1341, 1342 ff. 930) Ullrich, NJW 2014, 1341, 1345. 931) Bertke/Schroeder, SchiedsVZ 2014, 80, 81; Schlosser, SchiedsVZ 2004, 225, 220; zurückhaltend bzw. a. A. Redfern/Hunter, Rn. 6.211; 9.4 Code of Conduct des Bar Standards Board „you must not rehearse, practise with or coach a witness in respect of their evidence“.

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F. Schiedsverfahren

Rules). Dem Schiedsgericht steht insoweit Ermessen zu, ob es die Beweisfrage auf Grundlage eines battle of the experts der Parteigutachter entscheiden oder einen eigenen Sachverständigen bestellen will. In gesellschaftsrechtlichen Schiedsverfahren werden Sachverständige häufig in Bewertungsfragen tätig, beispielsweise bei der Ermittlung von Anteilswerten oder Abfindungsbeträgen. Welche Bewertungsmethoden anzuwenden sind, richtet sich zunächst nach den gesellschaftsvertraglichen Vorgaben; in Ermangelung näherer Bestimmungen kommen die üblichen Methoden zur Anwendung. In Deutschland hat der Bewertungsstandard der Wirtschaftsprüfer (IDW S1) auch in Schiedsverfahren eine hohe praktische Bedeutung; er stellt primär auf eine fundamentale Bewertung nach dem Ertragswert- bzw. Discounted Cash Flow-Verfahren ab und zieht zur Plausibilisierung des Ergebnisses marktbasierte Methoden heran. 4. Mündliche Verhandlung § 1047 ZPO folgt dem Grundsatz der fakulativen mündlichen Verhand- 615 lung; verlangt es allerdings eine Partei, muss eine mündliche Verhandlung „in einem geeigneten Abschnitt des Verfahrens“ durchgeführt werden (§ 1047 Abs. 1 Satz 2 ZPO).932) Im Übrigen kommt dem Schiedsgericht auch insoweit ein weites Gestaltungsermessen zu. Es kann beispielsweise das Verfahren so planen, dass es in einer umfassenden Hauptverhandlung erledigt wird; gleichermaßen ist es möglich, mehrere mündliche Verhandlungen anzusetzen, die jeweils bestimmten Themen des Verfahrens gewidmet sind (z. B. separate Verhandlungen zu Fragen der Zuständigkeit, des Haftungsgrundes und des Haftungsumfangs). Für gesellschaftsrechtliche Schiedsverfahren lässt sich insoweit keine einheitliche Praxis feststellen. Gleiches gilt für weitere Einzelheiten hinsichtlich der Durchführung von Verhandlungsterminen. Sehr zweckmäßig kann die Anfertigung eines Wortlautprotokolls durch einen professionellen Stenographen (court reporter) sein, insbesondere wenn ausführliche Zeugenbefragungen stattfinden. V. Schiedsspruch und andere Formen der Erledigung Schiedsspruch (nachfolgend 1., Rn. 617 ff.) und Vergleich (nachfolgend 2., 616 Rn. 620 ff.) bilden die praktisch häufigsten Erledigungsformen. In Abschnitt 3. (Rn. 623) werden weitere Möglichkeiten der Erledigung kurz erläutert, ehe sich Abschnitt 4. (Rn. 624) Fragen der Vollstreckbarkeit zuwendet. 1. Schiedsspruch Die Erledigung des Schiedsverfahrens durch Schiedsspruch ist der gesetzlich 617 vorgesehene Regelfall, § 1056 Abs. 1 Alt. 1 ZPO. „Der Schiedsspruch hat unter den Parteien die Wirkung eines rechtskräftigen gerichtlichen Ur___________ 932) Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, § 1042 Rn. 4; Musielak/Voit/Voit, ZPO, § 1047 Rn. 2.

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teils,“ § 1055 ZPO. Der Schiedsspruch ist schriftlich zu erlassen, von den Schiedsrichtern zu unterzeichnen und im Regelfall zu begründen (§ 1054 Abs. 1 und 2 ZPO). Jeder Partei ist eine Ausfertigung des unterschriebenen Schiedsspruchs zu übersenden (§ 1054 Abs. 4 ZPO). 618 Das Schiedsgericht entscheidet üblicherweise durch Schiedsspruch auch darüber, wer die Kosten des Verfahrens zu welchen Anteilen zu tragen hat (§ 1057 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Hierbei entscheidet das Schiedsgericht nach pflichtgemäßem Ermessen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles, insbesondere des Ausgangs des Verfahrens (§ 1057 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Dies entspricht im Grundsatz der Kostentragungsregel im staatlichen Verfahren (§ 91 ZPO), wenngleich dem Schiedsgericht ein weiteres Ermessen zukommt, wenn es von der rein erfolgsbezogenen Betrachtungsweise abweichen will, um beispielsweise prozessuales Fehlverhalten kostenseitig zu sanktionen.933) Steht die Höhe der Kosten fest, etwa weil sie von den Parteien in sog. cost submissions dargelegt wurden, hat das Schiedsgericht auch darüber zu entscheiden (§ 1057 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Andernfalls ist ein gesonderter Schiedsspruch (cost award) erforderlich (§ 1057 Abs. 2 Satz 2 ZPO). Bei der Beurteilung der Frage, welche Kosten zur „zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig” (§ 1057 Abs. 1 Satz 1 ZPO) sind, steht dem Schiedsgericht naturgemäß ein gewisser Beurteilungsspielraum zu. Eine Bindung an Honorarsätze des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG) besteht – anders als üblicherweise im staatlichen Gerichtsverfahren – nicht.934) Es ist daher nicht unüblich, dass Schiedsgerichte Anwaltshonorare auf Stundenbasis für erstattungsfähig befinden. 619 Gegen Schiedssprüche finden Rechtsmittel nicht statt, es sei denn, die Parteien hätten dies ausnahmsweise vereinbart; eine Partei kann lediglich die Aufhebung des Schiedsspruchs unter Darlegung der in § 1059 Abs. 2 ZPO enumerativ aufgeführten Gründe betreiben. Dies betrifft insbesondere Fälle unwirksamer Schiedsvereinbarungen, entscheidungserheblicher Verstöße gegen das rechtliche Gehör und Verletzungen des ordre public.935) 2. Vergleich 620 Schiedsverfahren im Allgemeinen und gesellschaftsrechtliche Schiedsverfahren im Besonderen enden nicht selten durch Vergleich. Vergleichen sich die Parteien während des Schiedsverfahrens, beendet das Schiedsgericht das Verfahren durch Beschluss (§§ 1053 Abs. 1 Satz 1, 1056 Abs. 2 Nr. 2 ZPO).936) Auf Antrag der Parteien hält das Schiedsgericht den Vergleich in der Form ___________ 933) Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, § 1057 Rn. 8; Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, Kap. 33 Rn. 13. 934) Risse/Altenkirch, SchiedsVZ 2012, 5, 9 ff.; Saenger/Saenger, ZPO, § 1057 Rn. 12. 935) Wegen der Einzelheiten zu dieser nicht auf gesellschaftsrechtliche Schiedsverfahren beschränkten Thematik wird auf die einschlägigen Kommentierungen verwiesen. 936) Saenger/Saenger, ZPO, § 1053 Rn. 2; Musielak/Voit/Voit, ZPO, § 1056 Rn. 5.

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F. Schiedsverfahren

eines Schiedsspruchs mit vereinbartem Wortlaut fest, sofern der Inhalt des Vergleichs nicht gegen die öffentliche Ordnung (ordre public) verstößt (§ 1053 Abs. 1 Satz 2 ZPO). In diesem Fall endet das Schiedsverfahren durch Schiedsspruch, § 1056 Abs. 1 ZPO.937) Das deutsche Schiedsverfahrensrecht enthält keine dem § 278 Abs. 1 ZPO 621 vergleichbare Bestimmung, d. h. es gibt kein ausdrückliches gesetzliches Mandat des Schiedsgerichts, auf eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits hinzuwirken.938) Die Parteien sind nicht gehindert, dem Schiedsgericht qua Parteivereinbarung ein solches Mandat ausdrücklich zu erteilen; vereinbaren die Parteien die DIS-Regeln, kommt deren Art. 26 zur Anwendung, der dem § 278 Abs. 1 ZPO nachgebildet ist. Im Übrigen ist das Schiedsgericht nicht gehindert, sich bei den Parteien zu erkundigen, ob Interesse an einer gütlichen Beilegung des Rechtsstreits – mit oder ohne Beteiligung des Schiedsgerichts – besteht. Wird das Schiedsgericht auf Wunsch sämtlicher Parteien in Bemühungen 622 zur gütlichen Beilegung einbezogen, ist darauf zu achten, dass dies nicht zum Verlust der Neutralität der Schiedsrichter führt. Die Schiedsrichter sollten insoweit eine ausdrückliche vorherige Erklärung sämtlicher Parteien einholen.939) Scheitern die Einigungsbemühungen, ist das Schiedsverfahren fortzusetzen. 3. Weitere Formen der Erledigung § 1056 Abs. 2 ZPO bestimmt als weitere, durch Beschluss des Schiedsgerichts 623 herbeizuführende Fälle der Erledigung (i) die nicht entschuldigte Säumnis des Schiedsklägers bei der Klagebegründung; (ii) die Rücknahme der Schiedsklage (es sei denn, der Schiedsbeklagte widerspricht und hat ein berechtigtes Interesse an einer streitigen Entscheidung durch Schiedsspruch); (iii) die Vereinbarung der Parteien über die Beendigung des Schiedsverfahrens (z. B. im Fall eines Vergleichs, der nicht in Form eines Schiedsspruchs mit vereinbartem Wortlaut ergeht); (iv) das Nichtbetreiben des Verfahrens durch die Parteien; und (v) die Unmöglichkeit, das Verfahren fortzusetzen. 4. Vollstreckbarkeit Hinsichtlich der Vollstreckung von Schiedssprüchen gelten zunächst die oben 624 zu §§ 1060, 1061 ZPO gemachten Ausführungen (Rn. 561). In gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten tritt die Sonderfrage auf, inwieweit rechtsgestaltende Schiedssprüche (z. B. zur Nichtigerklärung von Gesellschafterbeschlüssen, zur Entziehung der Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis, zur Auflösung der Gesellschaft oder zur Ausschließung eines Gesellschafters) ___________ 937) Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, § 1053 Rn. 1. 938) Kreindler/Schäfer/Wolff, Schiedsgerichtsbarkeit, Rn. 866; Nedden/Herzberg/Stumpe/ Haller, § 32 DIS-SchO Rn. 3 (seit 1.3.2018: Art. 26 DIS-SchO). 939) Horvath, SchiedsVZ 2005, 292, 300.

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der Vollstreckbarerklärung bedürfen. Nach einer bereits älteren Entscheidung des zwischenzeitlich aufgelösten, kürzlich wieder eingerichteten BayObLG, der ein nicht unerheblicher Teil der Literatur folgt, soll dies erforderlich sein, damit die Gestaltungswirkung des Schiedsspruchs eintreten kann.940) Dies überzeugt nach allgemeinen prozessualen Grundsätzen an sich nicht, da ein Gestaltungsurteil staatlicher Gerichte keiner Vollstreckung bedarf und der Schiedsspruch einem rechtskräftigen Gerichtsurteil gleichgestellt ist (§ 1055 ZPO).941) In praktischer Hinsicht kann es allerdings geraten sein, gleichwohl einen Gestaltungsschiedsspruch für vollstreckbar erklären zu lassen, insbesondere wenn in der Folge eine Handelsregistereintragung erforderlich ist und der Registerrichter sich an der o. g. Rechtsprechung orientieren sollte. VI. Einstweiliger Rechtsschutz 625 Fragen des einstweiligen Rechtsschutzes spielen bisweilen eine für die praktische Rechtsdurchsetzung gerade im Bereich der gesellschaftsrechtlichen Binnenstreitigkeiten entscheidende Rolle.942) Aufgrund der mit einer gesellschaftsrechtlichen Beschlussfassung verbundenen Schaffung „vollendeter Tatsachen“ mag etwa ein Interesse einer Partei bestehen, zu verhindern, dass eine andere Partei ihr Stimmrecht in einer bestimmten Weise ausübt. Dies kommt beispielsweise in Betracht, wenn zwischen den Parteien eine Stimmbindungsvereinbarung besteht und sich eine Partei über die bestehende schuldrechtliche Bindung hinwegzusetzen droht.943) In einem solchen Fall kann die vertragswidrige Stimmrechtsausübung im Wege einstweiliger Verfügung untersagt werden.944) Ähnliches gilt bei beabsichtigter Anteilsübertragung, die im Widerspruch zu einer Vinkulierungsklausel steht oder eine Vinkulierung umgehen soll.945) Auch bei der Abberufung von Organmitgliedern oder bei Unterlassungsansprüchen aus Wettbewerbsverboten kann einstweiligem Rechtsschutz praktisch existenzielle Bedeutung zukommen.946) 626 Eine wesentliche Weichenstellung ist die Frage, ob die betroffene Partei vor den staatlichen Gerichten oder vor dem Schiedsgericht um einstweiligen Rechtsschutz nachsucht. Im Schiedsverfahren stehen einstweiliger Rechtsschutz durch die staatlichen Gerichte und durch das Schiedsgericht gleichberechtigt nebeneinander. Die Schiedsvereinbarung schließt die Inanspruchnahme der staatlichen Gerichte für einstweiligen Rechtsschutz nicht aus (§ 1033 ZPO). Einstweiliger Rechtsschutz vor den staatlichen Gerichten bemisst sich ___________ 940) BayObLG BB 1984, 746; dem folgend etwa Baumbach/Hopt/Hopt, HGB, §§ 117 Rn. 8, 133 Rn. 19, 140 Rn. 22; MünchKomm-HGB/K. Schmidt, §§ 133 Rn. 58, 140 Rn. 83. 941) Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 1787; Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, § 1055 Rn. 3. 942) Ausführlich beispielsweise zum GmbH-Recht Liebscher/Alles, ZIP 2015, 1 ff. 943) Hölters/Englisch, AktG, § 243 Rn. 106. 944) Henssler/Strohn/Hillmann, GmbHG § 47 Rn. 95; Hölters/Englisch, AktG, § 243 Rn. 106. 945) MünchKomm-GmbHG/Reichert/Weller, § 15 Rn. 376. 946) Liebscher/Alles, ZIP 2015, 1, 4 ff.

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nach den allgemeinen Vorschriften (Arrest, einstweilige Verfügung; §§ 916 ff., 935 ff. ZPO).947) Daneben ermächtigt § 1041 Abs. 1 Satz 1 ZPO das Schiedsgericht, „auf Antrag einer Partei vorläufige oder sichernde Maßnahmen an[zu]ordnen, die es in Bezug auf den Streitgegenstand für erforderlich hält.“ Anordnungen des Schiedsgerichts müssen gem. § 1041 Abs. 2 ZPO durch das zuständige OLG (§ 1062 Abs. 1 Nr. 3 ZPO) für vollziehbar erklärt werden, um vollstreckt werden zu können. In der Praxis fällt die Wahl häufig auf einstweiligen Rechtsschutz durch die 627 staatlichen Gerichte. Dies liegt zum einen daran, dass es einen erheblichen und unerwünschten Zeitverlust bedeuten kann, einstweilige Anordnungen des Schiedsgerichts erst durch das staatliche Gericht für vollziehbar erklären lassen zu müssen.948) Zum anderen setzt § 1041 ZPO voraus, dass das Schiedsgericht bereits konstituiert ist. In der Zeit davor steht faktisch nur das staatliche Gericht für einstweiligen Rechtsschutz zur Verfügung.949) Vor diesem Hintergrund sind Schiedsinstitutionen in den letzten Jahren verstärkt dazu übergegangen, das Institut des emergency arbitrators einzurichten, der bereits vor Konstituierung des Schiedsgerichts tätig werden kann. Exemplarisch steht hierfür Art. 29 ICC-SchO.950) Das Vollstreckungsproblem verbleibt auch in diesen Fällen, abgesehen davon, dass das emergency arbitrator Verfahren häufig teurer sein wird als die Inanspruchnahme der staatlichen Gerichte für einstweiligen Rechtsschutz. VII. Sonderprobleme Abschließend richtet sich der Blick auf eine Reihe von Sonderproblemen bei 628 gesellschaftsrechtlichen Schiedsverfahren. Dies betrifft Mehrparteienkonstellationen (dazu 1., Rn. 629 ff.), die Konsolidierung mehrerer Schiedsverfahren (dazu 2., Rn. 632 f.) und Schiedsverfahren bei Aktien- und Publikumsgesellschaften (dazu 3., Rn. 634 ff.). 1. Mehrparteienkonstellationen Das Zehnte Buch der ZPO hat primär das Zweiparteienverfahren mit Schieds- 629 kläger und Schiedsbeklagtem vor Augen. Das schließt es nicht aus, dass auf Kläger- oder Beklagtenseite mehrere Parteien auftreten, soweit in Bezug auf alle Beteiligten Schiedsbindung vorliegt. Am Schiedsverfahren kann nämlich nur beteiligt sein, wer Partei der Schiedsvereinbarung ist oder auf den sich die Schiedsvereinbarung aus besonderen Gründen erstreckt.951) Gerade im ___________ 947) Musielak/Voit/Voit, ZPO, § 1033 Rn. 2. 948) Wolff, JuS 2008, 108, 110. 949) Ebenso Pörnbacher/Baur, in: Mehrbrey, Hdb. Gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten, § 2 Rn. 80. 950) Hierzu Art. 29 und Appendix V ICC Rules, abrufbar unter www.iccwbo.org. 951) BGH BeckRS 2011, 05517 Tz. 14; MünchKomm-ZPO/Münch, § 1029 Rn. 44; Kreindler/ Schäfer/Wolff, Schiedsgerichtsbarkeit, Rn. 171, 173.

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gesellschaftsrechtlichen Kontext kann es häufig zu Mehrparteienkonstellationen kommen, beispielsweise wenn sich mehr als zwei Gesellschafter in einer Auseinandersetzung befinden. 630 Bei der Konstituierung des Schiedsgerichts ist im Fall eines Dreierschiedsgerichtes darauf zu achten, dass sämtliche Parteien in gleichberechtigter Weise an der Bildung des Schiedsgerichts mitwirken können. Hierzu bietet es sich an, die Beteiligten in „Lager“ einzuteilen, so dass jedes „Lager“ einen Schiedsrichter benennen kann. Die beiden von den jeweiligen „Lagern“ benannten Schiedsrichter bestimmen dann den Obmann.952) Kommt ein „Lager“ zu keiner Einigkeit, ist umstritten, wie weiter vorzugehen ist. Auf Grundlage der DutcoEntscheidung des französischen Cour de Cassation953) nimmt eine national und international stark vertretene Auffassung an, dass in einem solchen Fall das gesamte Schiedsgericht durch einen neutralen Dritten (Gericht bzw. Schiedsinstitution) zu bestimmen ist.954) 631 Die gängigen Schiedsordnungen adressieren Mehrparteienverfahren inzwischen in ähnlicher Weise. Bereits seit 2012 befassen sich die Art. 7 – 9 ICCSchO ausführlich mit der Beteiligung weiterer Parteien, mit Ansprüchen zwischen mehreren Parteien und mit Streitigkeiten, die aus mehreren Verträgen resultieren. Auch in der neuen DIS-SchO finden sich in den Art. 17 – 20 Regelungen dieser Verfahrenskonstellationen. 2. Konsolidierung mehrerer Schiedsverfahren 632 In der Praxis tritt nicht selten die Konstellation auf, dass gleichgelagerte oder miteinander im Zusammenhang stehende Fragestellungen zunächst in unterschiedlichen Schiedsverfahren anhängig gemacht werden. Im gesellschaftsrechtlichen Kontext mögen beispielsweise mehrere Gesellschafter einen Gesellschafterbeschluss in unterschiedlichen Schiedsverfahren angreifen. Dies wirft die Frage auf, ob zwei oder mehr solcher Schiedsverfahren zu einem Verfahren konsolidiert werden können. Das Zehnte Buch der ZPO enthält hierzu keine Regelungen. Eine Konsolidierung kommt deshalb – abgesehen von den Fällen allseitiger Zustimmung – allenfalls bei vollständiger Identität aller maßgeblichen Kriterien in Betracht, d. h. Bindung der Beteiligten aller Verfahren an dieselbe Schiedsvereinbarung und Personenidentität der angerufenen Schiedsgerichte.955) 633 Die ICC-SchO sieht demgegenüber in ihrem Art. 10 gewisse Lockerungen vor, die die Konsolidierung von zusammenhängenden Streitigkeiten erleichtern sollen. Art. 10 lit. c) ICC-SchO gestattet die Konsolidierung insbeson___________ 952) MünchKomm-ZPO/Münch, § 1035 Rn. 43; Saenger/Saenger, ZPO, § 1035 Rn. 11; Lörcher/Lörcher, SchiedsVZ 2005, 179, 185. 953) Cour de Cassation, Rev.arb 1992, 470. 954) Hierzu ausführlich und differenziert MünchKomm-ZPO/Münch, § 1035 Rn. 65 ff. 955) MünchKomm-ZPO/Münch, § 1029 Rn. 62.

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dere auch, wenn zwar mehrere Schiedsvereinbarungen vorliegen, aber Parteiidentität gegeben ist, die Streitigkeiten aus demselben Rechtsverhältnis stammen und die Schiedsvereinbarungen „kompatibel“ (compatible) sind.956) Kompatibilität erfordert insbesondere dieselbe Anzahl an Schiedsrichtern, dieselbe Verfahrenssprache und denselben Schiedsort.957) Die DIS-SchO macht eine Verbindung mehrerer Schiedsverfahren nur von der Zustimmung sämtlicher Parteien abhängig (Art. 8). 3. Aktien- und Publikumsgesellschaften Schiedsverfahren sind im Bereich der Aktien- und Publikumsgesellschaften 634 bislang wenig verbreitet.958) Im Aktienrecht ist nach wie vor umstritten, ob der Grundsatz der Satzungsstrenge (§ 23 Abs. 5 AktG) überhaupt statutarische Schiedsklauseln zulässt, wenngleich die besseren Gründe – entgegen der wohl noch herrschenden Meinung – für eine solche Sichtweise sprechen.959) Beachtung verdient insoweit die im Juni 2020 beschlossene Neuregelung in 635 der Schweiz. Dort wurde ein neuer Art. 697n OR geschaffen, wonach die Satzung einer schweizerischen Aktiengesellschaft vorsehen kann, dass (i) gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten durch ein Schiedsgericht beurteilt werden können (mit erga omnes Wirkung bei Gestaltungs- und Feststellungsklagen), und (ii) statutarische Schiedsklauseln gegenüber allen Aktionären, der Gesellschaft und den Organen verbindlich sind. Die Einführung einer solchen statutarischen Schiedsklausel wird mit qualifizierter Mehrheit möglich sein (neuer Art. 704 I 14 OR).960) Trotz anhaltender Diskussionen über andere Bereiche der geplanten Reform wurde die Einführung einer solchen Schiedsklausel nicht beanstandet.961) Mit der vollständigen Umsetzung der Aktienrechtsrevision ist 2021 oder Anfang 2022 zu rechnen.962) ___________ 956) Nedden/Herzberg/Schmidt-Ahrendts/Nedden, Art. 10 ICC-SchO Rn. 9 ff., Fry/Greenberg/ Mazza, Secretaries Guide to ICC, Rn. 3-357. 957) Nedden/Herzberg/Schmidt-Ahrendts/Nedden, Art. 10 ICC-SchO Rn. 23; Nedden/ Herzberg/Bassiri, Art. 6 ICC-SchO Rn. 126. 958) Borris, NZG 2010, 481, 482, 486; Pörnbacher/Baur, in: Mehrbrey, Hdb. Gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten, § 8 Rn. 396. 959) So etwa auch Borris, NZG 2010, 481, 483; Habersack, JZ 2009, 797, 799; Hölters/Hölters, AktG, § 93 Rn. 345; Umbeck, SchiedsVZ 2009, 143, 147; dagegen etwa Grigoleit/ Ehmann, AktG, § 246 Rn. 27 m. w. N.; Schmidt, BB 2001, 1857, 1860; Heskamp, RNotZ 2012, 415, 424; offenlassend Pörnbacher/Baur, in: Mehrbrey, Hdb. Gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten, § 8 Rn. 392. 960) BBl. 2020, 4038, abrufbar unter: admin.ch/opc/de/official-compilation/2020/4005.pdf. 961) Allemann, GesKR 2018, 339, abrufbar unter: https://www.ius.uzh.ch/dam/jcr:6cb7385c4ab7-465b-99a4-d6bbe68a9033/Allemann,%20Statutarische%20Schiedsklauseln%20in%20der%20Aktienrechtsrevision.pdf. 962) https://www.globalarbitrationnews.com/switzerland-to-introduce-legal-basis-forarbitration-clauses-in-articles-of-incorporation/; Vgl. zur Teilinkraftsetzung der Aktienrechtsänderung vom 19.6.2020 BBl. 2020, 4063, abrufbar unter: https://www.admin.ch/ opc/de/official-compilation/2020/4005.pdf sowie BBl. 2020, 4145, abrufbar unter: https:// www.admin.ch/opc/de/official-compilation/2020/4145.pdf.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis, einschließlich Kapitalmarkthaftung und D & O-Versicherung A. Organstellung und Dienstverhältnis I. Grundlegung 1. Unterscheidung zwischen Organstellung und Dienstverhältnis Georg Annuß

Die durch Bestellung zum GmbH-Geschäftsführer oder AG-Vorstand be- 636 gründete organschaftliche Beziehung zur Gesellschaft ist von dem ggf. – und bei Fremdorganen typischerweise – daneben stehenden, durch den Anstellungsvertrag begründeten Anstellungsverhältnis zu unterscheiden (sog. Trennungstheorie)963). In der Praxis ist der Bestand des Anstellungsverhältnisses allerdings vielfach durch eine sog. Koppelungsklausel an die Organstellung geknüpft.964) Auch wenn § 84 Abs. 1 Satz 5 AktG für Anstellungsverträge von AG-Vor- 637 ständen verschiedene Vorgaben macht, heißt das nicht – Gleiches gilt bei GmbH-Geschäftsführern –, dass die Organstellung stets durch ein Anstellungsverhältnis mit der Gesellschaft begleitet sein muss. So kann die Organstellung auch unentgeltlich oder aufgrund eines mit einem Dritten bestehenden Anstellungsverhältnisses (sog. „Drittanstellung“) wahrgenommen werden. In der juristischen Literatur ist die Zulässigkeit von Drittanstellungen bei AG-Vorständen seit langem umstritten. Während Drittanstellungen von verschiedenen Autoren für unzulässig gehalten werden,965) haben andereoder generell966) keine grundsätzlichen rechtlichen Bedenken. Auch der BGH scheint eine Drittanstellung generell für zulässig zu halten,967) wenngleich er sich bislang nicht abschließend zu dieser Frage geäußert hat. Tatsächlich sind die gegen eine Drittanstellung erhobenen Bedenken nicht geeignet, ihre rechtliche Unzulässigkeit zu begründen. Von jedem Vorstandsmitglied ist zu verlangen, dass es seinen Organpflichten nachkommt und deren Anforderungen auch in einem Geflecht unterschiedlicher Interessen genügt, gleichgültig welche rechtlichen Bindungen das Vorstandsmitglied im Übrigen eingegangen ist.

___________ 963) 964) 965) 966)

Siehe nur BeckOGK AktG/Fleischer, § 84 Rn. 7. Siehe dazu unten Rn. 661 ff. MünchKomm-AktG/Spindler, § 84 Rn. 79 mit Schilderung des Meinungsstandes. Siehe nur Bürgers/Körber/Bürgers, AktG, § 84 Rn. 20; Hüffer/Koch, AktG, § 84 Rn. 17; Schmidt/Lutter/Seibt, AktG, § 84 Rn. 26; Lutter/Krieger/Verse, Rechte und Pflichten des AR, Rn. 439; Vetter, NZG 2015, 889; Arnold, DB 2015, 1650; beschränkt auf Fälle eines Beherrschungsvertrages so auch GroßKommAktG/Kort, § 84 Rn. 329. 967) BGH, v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, ZIP 2015, 1220, dazu EWiR 2015, 469 (Theusinger/ Schilha).

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis

2. Das Organmitglied als Arbeitnehmer/Verbraucher 638 Nach ständiger Rechtsprechung des BAG und des BGH sind auch Fremdgeschäftsführer einer GmbH und Fremdvorstände einer AG im Rahmen des neben der Organstellung bestehenden Dienstverhältnisses grundsätzlich nicht Arbeitnehmer.968) Für Fremdgeschäftsführer einer GmbH war dies allerdings bereits seit langem umstritten,969) und diese Diskussion wurde durch die Danosa-Entscheidung des EuGH wesentlich belebt.970) Danach ist als Arbeitnehmerin im Sinne der Richtlinie 92/85/EWG (Mutterschutzrichtlinie) anzusehen das Organmitglied einer Kapitalgesellschaft, „wenn es seine Tätigkeit für eine bestimmte Zeit nach der Weisung oder unter der Aufsicht eines anderen Organs dieser Gesellschaft ausübt und als Gegenleistung für die Tätigkeit ein Entgelt erhält“.971) Die Bedeutung dieser Entscheidung ist im Einzelnen unklar, zumal der Arbeitnehmerbegriff im Europäischen Recht nicht einheitlich bestimmt wird.972) Ihr dürfte allerdings zu entnehmen sein, dass grundsätzlich sowohl GmbH-Geschäftsführer als auch AG-Vorstände zu den Arbeitnehmern im Sinne des europäischen Rechts gehören, soweit der Schutzzweck des jeweiligen europäischen Rechtsaktes eine europaweit einheitliche Bestimmung des Arbeitnehmerbegriffs gebietet.973) Sie werden daher insbesondere von § 6 Abs. 1 Nr. 1 AGG erfasst, so dass es insoweit des speziellen § 6 Abs. 3 AGG nicht bedarf.974) Generell hält auch das BAG Ausnahmekonstellationen für möglich, in denen ein GmbH-Geschäftsführer als Arbeitnehmer einzuordnen ist. Voraussetzung dafür sei, dass die Gesellschaft eine – über ihr gesellschaftsrechtliches Weisungsrecht hinausgehende – Weisungsbefugnis auch bezüglich der Umstände hat, unter denen der Geschäftsführer seine Leistung zu erbringen hat, und die konkreten Modalitäten der Leistungserbringung durch arbeitsbegleitende und verfahrensorientierte Weisungen bestimmen kann.975) Im Übrigen kann nach Ansicht des BAG eine Bestellung zum Geschäftsführer rechtsmissbräuchlich sein, wenn sie allein mit dem Ziel erfolgt, dem Mitarbeiter den Arbeitnehmerschutz zu entziehen und ihn alsbald entlassen zu können.976) ___________ 968) Für den Fremdgeschäftsführer: BGH, 9.2.1978 – II ZR 189/76, NJW 1978, 1435; BGH, v. 25.7.2002 – III ZR 207/01, ZIP 2002, 1593; BAG, v. 15.4.1982 – 2 AZR 1101/79, NJW 1983, 2405; BAG, v. 18.12.1996 – 5 AZB 25/96, NJW 1997, 1722; für Fremdvorstände: BGH, v. 7.12.1961 – II ZR 117/60, NJW 1962, 340. 969) Vgl. nur Kort, NZG 2013, 601, 603; Schulze/Hintzen, ArbR 2012, 263. 970) EuGH, v. 11.11.2010 – C-232/09, ZIP 2010, 2414 – Danosa. 971) EuGH, v. 11.11.2010 – C-232/09, ZIP 2010, 2414 – Danosa. 972) Vgl. dazu nur Junker, EuZA 2016, 184 ff.; Ziegler, Arbeitnehmerbegriffe im Europäischen Arbeitsrecht, 2011. 973) Vgl. EuGH 9.7.2015 – C-229/14 – Balkaya. 974) Offengelassen BGH, v. 23.4.2012 – II ZR 163/10, ZIP 2012, 1291; wie hier Ziemons, KSzW 2013, 19 ff.; dagegen Bauer/Arnold, NZG 2012, 921, 923; Hohenstatt/Naber, ZIP 2012, 1989, 1990; Krause, AG 2007, 392, 394. 975) BAG, v. 21.1.2019 – 9 AZB 23/18, ZIP 2019, 808. 976) BAG v. 21.9.2017 – 2 AZR 865/16.

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A. Organstellung und Dienstverhältnis

Nach mittlerweile gefestigter Praxis sind sowohl der GmbH-Geschäfts- 639 führer977) als auch der AG-Vorstand978) Verbraucher i. S. d. § 13 BGB.979) Für die Anstellungsverträge ist deshalb auch § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB zu beachten, wonach insbesondere die Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB sowie die materiellen Bestimmungen über die Klauselkontrolle auf von der Gesellschaft vorformulierte Vertragsbedingungen selbst dann Anwendung finden, wenn sie nur zur einmaligen Verwendung bestimmt sind, soweit der Geschäftsführer oder Vorstand auf ihren Inhalt aufgrund der Vorformulierung keinen Einfluss nehmen konnte. 3. Rechtsweg für Geschäftsführer-/Vorstands-Streitigkeiten Für Streitigkeiten zwischen einem Geschäftsführer oder Vorstand und der 640 Gesellschaft ist grundsätzlich der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten eröffnet. § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG bestimmt, dass nicht als Arbeitnehmer i. S. d. ArbGG gilt, wer kraft Gesetzes allein oder als Mitglied des Vertretungsorgans zur Vertretung der juristischen Person berufen ist. Besteht allerdings das Dienstverhältnis mit einem Dritten in der Gestalt eines Arbeitsverhältnisses (typisches Beispiel dafür bildet ein mit der Konzernmutter bestehendes Arbeitsverhältnis, in dessen Rahmen der Arbeitnehmer als Organ einer Tochtergesellschaft tätig ist), so ist für Streitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten eröffnet. Darüber hinaus ermöglicht § 2 Abs. 4 ArbGG, durch Vereinbarung auch 641 Streitigkeiten insbesondere zwischen Geschäftsführern oder Vorstandsmitgliedern und ihrer jeweiligen Gesellschaft vor die Arbeitsgerichte zu bringen. Entgegen dem zu weiten Wortlaut erfasst § 2 Abs. 4 ArbGG jedoch nicht Streitigkeiten aus der Organstellung, sondern nur solche, die im Anstellungsvertrag wurzeln.980) Mangels Einschlägigkeit von § 2 Abs. 3 ArbGG scheidet in diesen Fällen auch eine Entscheidung des Arbeitsgerichts über die organschaftlichen Streitigkeiten im Wege der Zusammenhangsklage aus.981) Die Vereinbarung des Arbeitsrechtsweges für Streitigkeiten aus dem Dienstverhältnis gem. § 2 Abs. 4 ArbGG ist in der Praxis wenig sinnvoll, weil dadurch in vielen Fällen einheitliche Lebenssachverhalte prozessual gespalten würden. Zwar mag aus Sicht der Gesellschaften der Ausschluss des Urkundenprozesses im arbeitsgerichtlichen Verfahren (§ 46 Abs. 2 Satz 2 ArbGG) vorteilhaft sein, doch braucht dafür nicht der Arbeitsrechtsweg vereinbart zu werden. Vielmehr kann auch bei Zuständigkeit der ordentlichen Gerichts___________ 977) So BAG, v. 19.5.2010 – 5 AZR 253/09, ZIP 2010, 1816. 978) OLG Hamm, v. 18.7.2007 – 8 Sch 2/07, MDR 2007, 1438; OLG Frankfurt/M., v. 18.4.2018 – 4 U 120/17. 979) Kritisch insoweit bereits zu Arbeitnehmern Annuß, NJW 2002, 2844. 980) Germelmann/Mathes/Prütting/Schlewing, ArbGG, § 2 Rn. 131. 981) Ebenso wohl Germelmann/Mathes/Prütting/Schlewing, ArbGG, § 2 Rn. 136.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis

barkeit der Urkundenprozess im Anstellungsvertrag ohne Weiteres ausgeschlossen werden.982) II. Die Organstellung 642 Die Organstellung von AG-Vorständen und GmbH-Geschäftsführern ist unterschiedlich ausgestaltet, was insbesondere darin begründet liegt, dass der Vorstand einer AG gem. § 76 AktG „unter eigener Verantwortung die Gesellschaft zu leiten [hat]“ und damit – abgesehen von den in §§ 308 ff. AktG geregelten besonderen Konstellationen – gegenüber anderen Gesellschaftsorganen oder außenstehenden Dritten nicht weisungsgebunden ist, während GmbH-Geschäftsführer grundsätzlich vollumfänglich der Weisungsmacht der Gesellschafterversammlung unterstehen. 1. Vorstandsmitglieder einer AG 643 Die Organstellung des Vorstandsmitglieds einer AG wird – abgesehen von der seltenen gerichtlichen Bestellung (§ 85 AktG) – durch Beschluss des Aufsichtsrats, Zugang der Bestellungserklärung beim Vorstandsmitglied und dessen Annahme der Bestellung begründet. Sie hat befristet für einen Zeitraum von maximal fünf Jahren zu erfolgen (§ 84 Abs. 1 Satz 1 AktG).983) Ist die Bestellung wirksam erfolgt, so kann sie von der Gesellschaft einseitig nur bei Vorliegen eines wichtigen Grundes widerrufen werden (§ 84 Abs. 3 Satz 1 AktG). Der Aufsichtsrat kann die Entscheidung über die Bestellung und Abberufung von Vorstandsmitgliedern nicht auf einen Ausschuss übertragen (§ 107 Abs. 3 Satz 3 AktG). 644 Soweit Streit über die Wirksamkeit der Abberufung entsteht, ist wesentlich, dass der Widerruf der Vorstandsbestellung gem. § 84 Abs. 3 Satz 4 AktG wirksam ist, bis seine Unwirksamkeit rechtskräftig festgestellt ist. Allerdings betrifft diese Bestimmung nur Fragen der materiellen Wirksamkeit, während die Unwirksamkeit wegen formaler Rechtswidrigkeit jederzeit geltend gemacht werden kann; hierzu gehört die formale Fehlerhaftigkeit des Abberufungsbeschlusses ebenso wie eine wirksame Zurückweisung der Abberufungserklärung nach § 174 BGB. 645 Für die Praxis ergibt sich daraus, dass ein Vorstandsmitglied nur dann mit einer einstweiligen Verfügung (das Hauptsacheverfahren ist häufig schon wegen seiner Dauer ohne praktische Bedeutung) gegen seine Abberufung vorgehen kann, wenn sie mit einem formalen Mangel behaftet ist.984) Auch wenn dies dem Vorstandsmitglied nur einen Zwischenerfolg ermöglicht, weil der formwirksame Abberufungsbeschluss jederzeit nachholbar ist – insbesondere unterliegt die Abberufung aus wichtigem Grund keiner Fristbindung entspre___________ 982) Vgl. dazu näher unten Rn. 680 f. 983) Zur Mindestbestelldauer OLG München, v. 12.1.2017 – 23 U 3582/16, ZIP 2017, 372. 984) Vgl. dazu OLG Hamm, v. 18.9.2019 – 8 U 35/19.

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chend § 626 Abs. 2 BGB –, kann die Gesellschaft dadurch in den Verhandlungen über eine Beendigung des Anstellungsvertrags beträchtlich unter Druck geraten. Die Gesellschaft kann einen solchen Angriff allerdings im Einzelfall durch den Nachweis eines Wirksamkeitsmangels des Bestellungsbeschlusses und das darauf gestützte Argument kontern, dass eine Vorstandsbestellung zu keinem Zeitpunkt vorgelegen hat. Umstritten ist, ob ein Vorstandsmitglied durch Beschluss des Aufsichtsrats 646 ohne Abberufung suspendiert werden kann. Während eine einseitige Suspendierung gegen den Willen des Vorstandsmitglieds teilweise bereits dann für zulässig gehalten wird, wenn ein „billigenswerter Grund“ dafür besteht,985) halten andere einen Suspendierungsbeschluss nur bei Vorliegen eines wichtigen Grundes i. S. d. § 84 Abs. 3 AktG für zulässig.986) Viel spricht dafür, dass die Suspendierung eines Vorstandsmitglieds gegen seinen Willen generell unzulässig ist, weil darin in der Sache ein dem Aufsichtsrat nicht gestatteter Eingriff in die Geschäftsführung des Vorstands liegt. Ist das Vorstandsmitglied mit seiner Beurlaubung nicht einverstanden, dürfte es daher wohl nur durch Abberufung seiner Aufgaben enthoben werden können. 2. Geschäftsführer einer GmbH Die Organstellung eines GmbH-Geschäftsführers wird gem. § 46 Nr. 5 647 GmbHG durch Beschluss der Gesellschafterversammlung – regelmäßig für unbestimmte Dauer – begründet. Ist die GmbH allerdings paritätisch mitbestimmt, so ist § 31 MitbestG zu beachten. Gem. § 31 Abs. 1 Satz 1 MitbestG richten sich bei einer paritätisch mitbestimmten GmbH die Bestellung der Geschäftsführer und ihr Widerruf nach den §§ 84, 85 AktG. Die Bestellung fällt daher insoweit – ebenso wie ihr Widerruf – in die Zuständigkeit des Aufsichtsrats und darf nur für einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren erfolgen. Auch wenn es dem Wortlaut des § 31 MitbestG nicht zu entnehmen ist, soll in paritätisch mitbestimmten GmbHs der Aufsichtsrat nicht nur für Begründung und Widerruf der Organstellung, sondern auch für den Abschluss und die Beendigung des Anstellungsvertrags zuständig sein.987) Soweit es sich nicht um eine nach dem MitbestG mitbestimmte GmbH han- 648 delt (vgl. § 31 MitbestG), können Geschäftsführer einer GmbH gem. § 38 Abs. 1 GmbHG grundsätzlich – bis an die Grenze der offensichtlichen Unsachlichkeit und zwingenden Gesetzesrechts (beispielsweise § 6 AGG) – jederzeit ohne Vorliegen von Gründen abberufen werden. Ist im Anstellungsvertrag nichts weiter geregelt, so ist die grundlose Abberufung nach Ansicht des BGH nicht vertragswidrig und kann folglich keine Schadensersatzpflicht ___________ 985) MünchHdb GesR Bd. 4/Wentrup, § 20 Rn. 74. 986) LG München I, v. 27.6.1985 – 5 HKO 9397/85. 987) BGH, v. 21.1.1990 – II ZR 144/90, NJW 1991, 1727.

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der Gesellschaft auslösen.988) Allerdings kann sich die Unwirksamkeit der Abberufung aus formalen Mängeln der Beschlussfassung ergeben.989) 649 In der Satzung kann vorgesehen werden, dass die Abberufung eines Geschäftsführers nur bei Vorliegen eines wichtigen Grundes zulässig ist (§ 38 Abs. 2 GmbHG). Eine entsprechende Begrenzung der Abberufungsbefugnis ist hingegen durch Vereinbarung im Anstellungsvertrag nicht wirksam möglich. Beschränkt der Anstellungsvertrag die Zulässigkeit der Abberufung auf das Vorliegen wichtiger Gründe, ohne dass dies eine Grundlage in der Satzung hat, so kann der Geschäftsführer dennoch – unter Verletzung des Anstellungsvertrags990) – jederzeit abberufen werden. 650 Ist die Abberufung des Geschäftsführers in der Satzung auf das Vorliegen wichtiger Gründe beschränkt und fehlt ein wichtiger Grund, so kann der Geschäftsführer entsprechend § 84 Abs. 3 Satz 4 AktG die materielle Unwirksamkeit der Abberufung nicht unmittelbar selbst geltend machen, soweit nicht einer der seltenen Fälle der Nichtigkeit vorliegt. Sofern der Abberufungsbeschluss nicht wirksam angefochten wird, gilt er gegenüber dem Geschäftsführer auch bei Fehlen der für ihn geforderten materiellen Voraussetzungen als wirksam, bis seine Unwirksamkeit rechtskräftig festgestellt ist.991) 651 Hat die GmbH nur einen Gesellschafter, so braucht vor der Abberufungserklärung kein gesonderter Gesellschafterbeschluss gefasst zu werden. Vielmehr liegt in seiner Abberufungserklärung gleichzeitig der Gesellschafterbeschluss, der sodann gem. § 48 Abs. 3 GmbHG zu protokollieren ist.992) III. Der Anstellungsvertrag 1. Zustandekommen 652 Der Anstellungsvertrag mit einem Vorstandsmitglied oder einem GmbH-Geschäftsführer unterliegt grundsätzlich keinen besonderen Formvorschriften.993) 653 Der Anstellungsvertrag mit einem GmbH-Geschäftsführer kann befristet oder – soweit die Gesellschaft nicht nach dem MitbestG mitbestimmt ist – unbefristet abgeschlossen werden. ___________ 988) BGH, v. 28.10.2002 – II ZR 146/02, ZIP 2003, 28; dennoch soll – auch nach der vom BGH in dieser Entscheidung geäußerten Auffassung – die Abberufung dem Geschäftsführer im Einzelfall das Recht zu einer fristlosen Kündigung des Anstellungsverhältnisses geben; vgl. auch BGH, v. 6.3.2012 • II ZR 76/11, ZIP 2012, 824. 989) Vgl. dazu MünchKomm-GmbHG/Stephan/Tieves, § 38 Rn. 115 ff. Zur Möglichkeit eines Antrags auf einstweilige Verfügung gegen den Abberufungsbeschluss OLG Hamm, v. 18.9.2019 – 8 U 35/19. 990) Vgl. dazu BAG, v. 8.8.2002 – 8 AZR 574/01, NZA 2002, 1323. 991) Vgl. dazu MünchKomm GmbHG/Stephan/Tieves, § 38 Rn. 140 ff. 992) BGH, v. 27.3.1995 – II ZR 140/93, NJW 1995, 1750. 993) Vgl. allerdings beispielsweise das – hinsichtlich seiner Wirksamkeit zweifelhafte – Schriftformerfordernis in § 10 Abs. 4 Satz 2 InstitutsVergV.

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Hingegen kann der Anstellungsvertrag mit einem AG-Vorstand wegen § 84 654 Abs. 1 Satz 5 AktG nur befristet abgeschlossen werden, und zwar maximal für einen Zeitraum von fünf Jahren. Fehlt eine ausdrückliche Befristung des Vorstandsanstellungsvertrags, so wird sich regelmäßig durch Auslegung ergeben, dass er für die Dauer der Bestellungsperiode befristet abgeschlossen wurde.994) Lässt sich durch Auslegung allerdings kein eindeutiges Ergebnis gewinnen, so ist der Vertrag nichtig.995) Möglich ist eine Fortsetzungsklausel, wonach der Anstellungsvertrag sich automatisch um die Dauer einer erneuten Vorstandsbestellung zu unveränderten Bedingungen verlängert (§ 84 Abs. 1 Satz 5 AktG). Nicht wirksam ist hingegen eine Regelung, wonach der Anstellungsvertrag sich nach Ablauf der Befristung unabhängig von einer erneuten Vorstandsbestellung um einen bestimmten Zeitraum verlängern soll, sofern nicht vor einem bestimmten Zeitpunkt eine Nichtverlängerungsmitteilung erfolgt.996) Nichtig ist nach Ansicht des BAG regelmäßig auch eine Bestimmung wonach das Anstellungsverhältnis nach Ablauf der regulären Vertragsdauer als Arbeitsverhältnis fortgesetzt werden soll.997) Rechtlich unbedenklich ist hingegen die Ruhendstellung eines bereits vor der Berufung zum Vorstandsmitglied mit der Gesellschaft bestehenden Arbeitsverhältnisses für die Dauer der Organstellung, so dass es nach deren Beendigung wieder aufleben kann. Entsteht im Laufe der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaft und Organ- 655 mitglied über die Wirksamkeit der Beendigung des Anstellungsverhältnisses Streit, sollte sorgfältig untersucht werden, ob ein Anstellungsvertrag überhaupt jemals wirksam zustande gekommen ist. Bei der AG ist insoweit bedeutsam, dass die Gesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern gem. § 112 AktG ausschließlich durch den Aufsichtsrat vertreten wird,998) und die Ermächtigung Dritter zur Vertretung der Gesellschaft „im Willen“ nicht möglich ist. Hat daher der Aufsichtsratsvorsitzende den Anstellungsvertrag des Vorstandsmitglieds ohne entsprechenden Aufsichtsratsbeschluss unterzeichnet – und wurde sein Handeln auch später nicht durch den Aufsichtsrat genehmigt999) – so ist der Anstellungsvertrag unwirksam.1000) In der Zwischenzeit hat daher nur ein „fehlerhaftes Anstellungsverhältnis“ bestanden, ___________ 994) Siehe nur MünchKomm-AktG/Spindler, § 84 Rn. 83. 995) Bedenklich demgegenüber die Auffassung, wonach „im Zweifel“ davon auszugehen sei, dass ein Gleichlauf von Bestellung und Anstellungsvertrag gewollt sei; so etwa Wachter/Eckert, AktG, § 84 Rn. 22; bedenklich insoweit auch BAG, v. 26.8.2009 – 5 AZR 522/08, ZIP 2009, 2073. 996) So bereits BGH, v. 26.3.1956 – II ZR 57/55, BGHZ 20, 239. 997) BAG, v. 26.8.2009 – 5 AZR 522/08, ZIP 2009, 2073. 998) Dabei kommt die Übertragung auf einen beschließenden Ausschuss des Aufsichtsrats (insbesondere den Personalausschuss) in Betracht, da § 84 Abs. 1 Satz 5 AktG in § 107 Abs. 3 Satz 3 AktG nicht genannt ist. 999) Vgl. zur Möglichkeit einer nachträglichen Genehmigung OLG München, v. 18.10.2007 – 23 U 5786/06, ZIP 2008, 220. 1000) Vgl. dazu auch LG München I, v. 13.2.2020 – 5HK O 2393/19, ZIP 2020, 971.

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von dem die Gesellschaft sich durch Beschluss des Aufsichtsrats jederzeit lossagen kann.1001) 2. Typische Vertragsinhalte 656 Im Folgenden werden (nur) jene typischen Inhalte von Anstellungsverträgen mit Organmitgliedern skizziert, die regelmäßig Anlass für rechtliche Auseinandersetzungen geben. a) Ressortzuweisung 657 Auch wenn dem Organmitglied im Anstellungsvertrag ein bestimmtes Ressort zugewiesen ist, steht das einer Änderung der Aufgabenzuweisung durch Satzung oder Beschluss des Aufsichtsrats/der Gesellschafterversammlung nicht entgegen. § 77 Abs. 2 AktG steht nicht unter dem Vorbehalt des Anstellungsvertrags. Entsprechendes gilt bei der GmbH. Allerdings ist das Vorstandsmitglied/der Geschäftsführer nicht verpflichtet, ein den anstellungsvertraglichen Regelungen nicht entsprechendes Ressort zu übernehmen. Wird das Ressort entgegen den vertraglichen Absprachen geändert, kann das Vorstandsmitglied/der Geschäftsführer sein Amt niederlegen, ohne dass dies eine Verletzung des Anstellungsvertrags begründet. Ferner kann das Vorstandsmitglied/der Geschäftsführer in einem solchen Fall – regelmäßig jedoch erst nach entsprechender Abmahnung – den Anstellungsvertrag außerordentlich fristlos kündigen und ggf. Schadensersatz nach § 628 Abs. 2 BGB verlangen. b) Betriebliche Altersversorgung 658 Das Betriebsrentengesetz (BetrAVG) gilt gem. § 17 Abs. 1 Satz 2 BetrAVG auch für Organmitglieder. Allerdings soll von den grundsätzlich zwingenden Bestimmungen des BetrAVG (§ 17 Abs. 3 Satz 3 BetrAVG) nach Ansicht des BAG durch Vereinbarung mit Organmitgliedern auch zu deren Nachteil insoweit wirksam abgewichen werden können, wie das BetrAVG tarifvertragsoffen ausgestaltet ist (§ 17 Abs. 3 Satz 1 BetrAVG).1002) Praktisch bedeutsam ist dies insbesondere für das Abfindungsverbot des § 3 BetrAVG. Allerdings ist zweifelhaft, ob die Überlegungen des BAG in der Entscheidung vom 21.4.2009 tatsächlich verallgemeinerungsfähig sind, so dass Unternehmen bei der Abfindung von Versorgungsanwartschaften im Falle der Beendigung des Anstellungsverhältnisses oder von laufenden Leistungen bis auf ___________ 1001) Vgl. allerdings BGH, v. 23.10.1975 – II ZR 90/73, NJW 1976, 145, wonach aufgrund einer Gesamtwürdigung zu entscheiden ist, ob „beiden Teilen zugemutet werden muß, einen fehlerhaft abgeschlossenen Anstellungsvertrag voll als verbindlich anzuerkennen“ – das ist mit dem in § 112 AktG zum Ausdruck gelangenden Gedanken nicht vereinbar. Vgl. für GmbH-Geschäftsführer auch BGH, v. 20.8.2019 – II ZR 121/16, ZIP 2019, 1805. 1002) BAG, v. 21.4.2009 – 3 AZR 285/07, DB 2010, 2004.

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Weiteres vorsichtig sein sollten. Vom Abfindungsverbot keinesfalls erfasst wird nach zweifelhafter herrschender Auffassung allerdings ein dem Organmitglied eingeräumtes und vor Eintritt des Versorgungsfalls ausgeübtes Kapitalwahlrecht, weil es sich hierbei nicht um eine Abfindung handele.1003) Unsicherheiten ergeben sich in der Praxis häufig bei der Berechnung der 659 Höhe der unverfallbaren Anwartschaft aus einer Direktzusage, sofern sie entsprechend dem folgenden Beispiel ausgestaltet ist: Der Anstellungsvertrag enthält folgende Versorgungszusage: „Das Vorstandsmitglied erhält ab Vollendung des 62. Lebensjahres eine monatliche Altersrente in Höhe von 40 % der zuletzt bezogenen monatlichen Grundvergütung. Der Prozentsatz erhöht sich nach fünfjähriger Bestellung des Vorstandsmitglieds für jedes weitere angebrochene Jahr der Bestellung um jeweils 2 %“. Das Vorstandsmitglied war seit seinem 42. Geburtstag im Amt, schied nach genau zehn Jahren aus dem Vorstand aus und fragt nach der Höhe seiner Versorgungsanwartschaft.

Blickt man nur auf den Wortlaut der Versorgungszusage, so scheint es, als 660 hätte das Vorstandsmitglied eine unverfallbare Anwartschaft in Höhe von 40 % + 5 x 2 % = 50 %. Wendet man hingegen die in § 2 Abs. 1 BetrAVG vorgesehene „m-/n-tel Berechnung“ bezogen auf die fiktive Vollrente an, so ergibt sich Folgendes: Mit Vollendung des 62. Lebensjahrs, also nach 20 Dienstjahren, hätte das Vorstandsmitglieds Anspruch auf eine Rente in Höhe von 70 % der zuletzt bezogenen monatlichen Grundvergütung. Es hat tatsächlich allerdings nur 10 Dienstjahre zurückgelegt, so dass die unverfallbare Anwartschaft nur 10 : 20 x 70 % = 35 % der zuletzt bezogenen Grundvergütung beträgt. Der Unterschied ist beträchtlich und kann zu einer bösen Überraschung für das Vorstandsmitglied führen. Kann nämlich im Streitfalle nicht nachgewiesen werden, dass die Parteien eine von § 2 Abs. 1 BetrAVG abweichende Regelung treffen wollten, so ist die gesetzliche Bestimmung maßgeblich.1004) Will man das sicher vermeiden, sollte der vorstehend zitierten Musterklausel folgender Satz angefügt werden: „Bei Beendigung des Anstellungsverhältnisses vor Vollendung des 62. Lebensjahrs ist die nach den vorstehenden Sätzen berechnete Anwartschaft erdient; § 2 Abs. 1 BetrAVG findet keine Anwendung“. c) Koppelungsklauseln Auch wenn zwischen Organbestellung und Anstellungsverhältnis strikt zu 661 unterscheiden ist, hindert dies nicht, das Anstellungsverhältnis auf die Organstellung zu beziehen und von ihm abhängig zu machen. Nach Ansicht des BGH ist das Anstellungsverhältnis gegenüber dem Organverhältnis nachran___________ 1003) So OLG Stuttgart, v. 17.12.2008 – 14 U 34/08. 1004) BGH, v. 13.1.2003 – II ZR 254/00, NJW 2003, 2908.

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gig, und deshalb sei nichts dagegen einzuwenden, wenn die „Beendigung des Dienstvertrages an den Widerruf der Organbestellung gekoppelt wird“.1005) Bei der Ausgestaltung solcher Koppelungsklauseln ist allerdings Vorsicht geboten. Zunächst ist zu bedenken, dass nach Ansicht des BGH die Kündigungsfristen für die Dienstverträge mit Fremdorganen nicht nach § 621 BGB, sondern nach § 622 BGB – einschließlich der dienstzeitabhängigen Verlängerungen des § 622 Abs. 2 BGB – zu bestimmen sind.1006) Wird in der Koppelungsklausel allerdings eine zu kurze Frist vereinbart, so führt das nach Ansicht des BGH nicht zur Unwirksamkeit der Klausel; vielmehr ergebe sich im Wege der Auslegung, dass die Beendigungswirkung erst mit Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist des § 622 BGB eintreten solle.1007) Ob dieses Ergebnis tatsächlich durch Auslegung erreicht werden kann, ist zweifelhaft, weshalb sich die Rechtsanwender auf den Fortbestand dieser Rechtsprechung – insbesondere mit Blick auf die Anforderungen des Rechts der allgemeinen Geschäftsbedingungen – nicht verlassen sollten. 662 Vor diesem Hintergrund begegnet beispielsweise die folgende Formulierung rechtlichen Bedenken: „Im Falle des Widerrufs der Vorstandsbestellung kann die Gesellschaft den Anstellungsvertrag ordentlich unter Einhaltung der in § 622 BGB genannten Fristen kündigen“.

663 Diese Klausel räumt allein der Gesellschaft eine vorzeitige ordentliche Kündigungsmöglichkeit ein, was mit dem in § 622 Abs. 6 BGB verankerten Verbot der zum Nachteil des Dienstnehmers ungleichen Kündigungsfristen nicht vereinbar sein dürfte. Ein Verstoß gegen § 622 Abs. 6 BGB führt nach Ansicht des BAG nicht etwa dazu, dass auch der Dienstnehmer mit der kurzen Frist kündigen kann, sondern zu einer „Angleichung nach oben“.1008) Folgt man dem, so ergäbe sich in dem vorstehenden Beispiel die Unwirksamkeit der Koppelungsklausel, so dass der Anstellungsvertrag trotz Widerruf der Bestellung bis zum vereinbarten Befristungsende fortbestünde. 664 Ungeachtet der Überlegungen des BGH dürfte es angesichts der für Arbeitsverhältnisse seit 2001 im Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) verankerten Regelung, wonach die Zweckbefristung (§ 15 Abs. 2 TzBfG) oder die auflösende Bedingung (§ 21 TzBfG) eines Arbeitsverhältnisses bei Erreichung des Zwecks bzw. Eintritt der auflösenden Bedingung mit Ablauf von zwei Wochen seit einer entsprechenden Unterrichtung zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führt, wirksam sein, wenn der Widerruf der Bestellung als auflösende Bedingung vereinbart wird. ___________ 1005) BGH, v. 29.5.1989 – II ZR 220/88, ZIP 1989, 1190; grundsätzlich kritisch gegenüber Koppelungsklauseln allerdings v. Westphalen, NZG 2020, 321 ff. 1006) BGH, v. 29.1.1981 – II ZR 92/80, ZIP 1981, 367; BGH, v. 26.3.1984 – II ZR 120/83, ZIP 1984, 1088; anders nun allerdings BAG, v. 11.6.2020 – 2 AZR 374/19, ZIP 2020, 1609. 1007) BGH, v. 29.5.1989 – II ZR 220/88, ZIP 1989, 1190. 1008) BAG, v. 2.6.2005 – 2 AZR 296/04, ZIP 2005, 2125.

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d) Nachvertragliche Wettbewerbsverbote Welche Voraussetzungen an die Wirksamkeit nachvertraglicher Wettbe- 665 werbsverbote mit Organmitgliedern zu stellen sind, ist durch die Rechtsprechung nicht abschließend entschieden und bildet den Gegenstand einer breiten literarischen Diskussion. Geklärt ist lediglich, dass die §§ 74 ff. HGB auf Organe keine unmittelbare Anwendung finden.1009) Nachvertragliche Wettbewerbsverbote mit Organmitgliedern sind daher am Maßstab der Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB) zu messen. Nachvertragliche Wettbewerbsverbote sind nach Ansicht des BGH sittenwidrig, wenn sie nicht dem Schutz eines berechtigten Interesses des Unternehmens dienen oder die Berufsausübung des Organmitglieds unter Berücksichtigung des räumlichen, zeitlichen und gegenständlichen Anwendungsbereichs unbillig erschweren.1010) Zur Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Sittenwidrigkeit kommt die Praxis nicht ohne Seitenblick auf die §§ 74 ff. HGB aus. Will man sicher gehen, dass ein mit Organmitgliedern vereinbartes nachvertragliches Wettbewerbsverbot wirksam ist, sollte daher bis auf Weiteres insbesondere die Karenzentschädigung dem in § 74 Abs. 2 HGB geforderten Umfang entsprechen. Soweit es allerdings um reine Kundenschutzklauseln geht, die dem Organmitglied die Aufnahme geschäftlicher Beziehungen mit solchen Kunden untersagen, mit denen das Unternehmen in den letzten zwei oder drei Jahren vor Beendigung des Anstellungsvertrags verbunden war, können diese regelmäßig auch ohne Karenzentschädigung wirksam vereinbart werden.1011) Sind die inhaltlichen Grenzen nachvertraglicher Wettbewerbsverbote mit 666 Organmitgliedern überschritten, hat dies die Nichtigkeit der Wettbewerbsabrede nach § 138 BGB zur Folge. Beträchtliche Unsicherheit besteht darüber, inwieweit es dann zu einer geltungserhaltenden Reduktion der Wettbewerbsabrede auf das noch zulässige Maß kommt. Überschreitet lediglich die Bindungsdauer das zulässige Maß (insoweit dürfte die Grenze regelmäßig bei zwei Jahren liegen), soll nach Ansicht des BGH eine geltungserhaltende Reduktion auf das noch zulässige Maß möglich sein, während das bei einer zu weiten Ausgestaltung des gegenständlichen oder räumlichen Geltungsbereichs nicht in Betracht komme.1012) Nicht abschließend entschieden ist, inwieweit in diesen Konstellationen die Möglichkeit einer geltungserhaltenden Reduktion durch eine salvatorische Klausel im Anstellungsvertrag gesichert ___________ 1009) BGH, v. 26.3.1984 – II ZR 229/83, ZIP 1984, 954; BGH, v. 4.3.2002 – II ZR 77/00, ZIP 2002, 709. 1010) BGH, v. 17.2.1992 – II ZR 140/91, ZIP 1992, 543. 1011) BGH, v. 20.10.1990 – II ZR 241/89, NJW 1991, 699; vgl. allerdings zu den Bestimmtheitsanforderungen BGH, v. 3.12.2015 – VII ZR 100/15, ZIP 2016, 676. 1012) BGH, v. 14.7.1997 – II ZR 238/96, NJW 1997, 3089; BGH, v. 18.7.2005 – II ZR 159/03, ZIP 2005, 1778; nichts anderes ergibt sich aus der neueren Rechtsprechung des BGH zum nachvertraglichen Wettbewerbsverbot selbständiger Handelsvertreter, vgl. BGH, v. 25.10.2012 – VII ZR 56/11, ZIP 2012, 2508; BGH, v. 3.12.2015 – VII ZR 100/15, ZIP 2016, 676.

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werden kann.1013) Jedenfalls soweit es sich um unternehmensseitig gestellte Vertragsbedingungen handelt, bestehen daran angesichts einer neueren Entscheidung des BGH Zweifel.1014) Die Nichtigkeit des nachvertraglichen Wettbewerbsverbots kann nach Ansicht des OLG München vom Geschäftsführer bzw. Vorstandsmitglied grundsätzlich vor Aufnahme der Wettbewerbstätigkeit im Wege der einstweiligen Verfügung geltend gemacht werden.1015) 3. Die Beendigung des Anstellungsvertrags 667 Abgesehen von dem gewöhnlichen Auslaufen der Vertragsdauer oder der Koppelung des Anstellungsvertrags an den Fortbestand der Organstellung kann der Anstellungsvertrag auch durch (außerordentliche) Kündigung oder Aufhebungsvertrag beendet werden. a) Kündigung aa) Allgemeines 668 Die Kündigung des Anstellungsvertrags mit einem Organmitglied ist eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung, die keiner besonderen Form bedarf. Insbesondere gilt das Schriftformerfordernis des § 623 BGB insoweit nicht. Die AG kann den Anstellungsvertrag mit einem Vorstandsmitglied nur auf der Grundlage eines entsprechenden Aufsichtsratsbeschlusses kündigen. Ebenso verlangt die Kündigung des Anstellungsvertrags mit einem GmbH-Geschäftsführer grundsätzlich einen entsprechenden Beschluss der Gesellschafterversammlung; allerdings liegt in der Kündigungserklärung der Alleingesellschafterin einer GmbH gleichzeitig der Gesellschafterbeschluss.1016) In paritätisch mitbestimmten GmbHs ist zu beachten, dass die Zuständigkeit zur Beendigung des Anstellungsvertrags nicht bei der Gesellschafterversammlung, sondern beim Aufsichtsrat liegt.1017) 669 Für die von der Gesellschaft ausgesprochene Kündigung hat § 174 BGB besondere praktische Bedeutung. Nach § 174 Satz 1 BGB ist eine Kündigung unwirksam, „wenn der Bevollmächtigte eine Vollmachtsurkunde nicht vorlegt und der andere das Rechtsgeschäft aus diesem Grunde unverzüglich zurückweist“. Die Zurückweisung ist allerdings gem. § 174 Satz 2 BGB ausgeschlossen, wenn der Vollmachtgeber den anderen von der Bevollmächtigung in Kenntnis gesetzt hatte. Für § 174 Satz 1 BGB ist erforderlich, dass dem Kündigungsempfänger die Vollmachtsurkunde im Original vorgelegt wird, ___________ 1013) Instruktiv dazu OLG Nürnberg, v. 25.11.2009 – 12 U 681/09, BB 2010, 646. 1014) BGH, v. 3.12.2015 – VII ZR 100/15, ZIP 2016, 676. 1015) OLG München, v. 2.8.2018 – 7 U 2107/18. 1016) BGH, v. 27.3.1995 – II ZR 140/93, NJW 1995, 1750; BGH, v. 9.4.2013 – I ZR 273/11 und oben Rn. 651. 1017) Siehe oben Rn. 647.

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so dass der Kündigungsempfänger sich vom Originalcharakter des Schriftstücks und der darauf befindlichen Unterschrift überzeugen kann; die Übersendung per Telefax genügt daher nicht. Die Urkundenvorlage soll dem Kündigungsempfänger die Feststellung ermöglichen, ob die Kündigungserklärung tatsächlich für die Gesellschaft wirkt. Dies kann bei der Kündigung eines Vorstandsmitglieds einer AG oder des Geschäftsführers einer GmbH erhebliche Probleme bereiten, wie nachfolgend am Beispiel der AG verdeutlicht werden soll. Da die Aktiengesellschaft gegenüber einem Vorstandsmitglied gem. § 112 AktG 670 allein durch den Aufsichtsrat vertreten wird – insbesondere ist der Aufsichtsratsvorsitzende kein organschaftlicher Vertreter –, kann auch ein Bevollmächtigter nur durch Aufsichtsratsbeschluss bestellt werden. Demgemäß muss die Vollmachtsurkunde bei strikter Betrachtung zumindest von der den Beschluss tragenden Mehrheit der Aufsichtsratsmitglieder im Original unterzeichnet sein. Angesichts der damit verbundenen praktischen Schwierigkeiten wird es vielfach als ausreichend angesehen, wenn der Bevollmächtigte eine Ausfertigung (§ 107 Abs. 2 AktG) des ihn bevollmächtigenden Aufsichtsratsbeschlusses im Original vorlegt;1018) vollständige Sicherheit kann dadurch angesichts des Fehlens einer einschlägigen BGH-Entscheidung derzeit jedoch nicht erlangt werden. Keinesfalls ausreichend ist, wenn die Satzung bestimmt, dass Willenserklärungen des Aufsichtsrats von seinem Vorsitzenden abgegeben werden. Darin liegt insbesondere schon deshalb keine In-Kenntnis-Setzung des Vorstandsmitglieds von der Bevollmächtigung i. S. d. § 174 Satz 2 BGB, weil eine Vertretung des Aufsichtsrats bei der Entscheidung über die Kündigung nicht zulässig ist und eine solche Satzungsbestimmung somit keine Klarheit darüber schaffen kann, ob die Kündigung für die Gesellschaft wirkt. Soll eine außerordentliche Kündigung ausgesprochen werden, ist im Hin- 671 blick auf die Zurückweisungsbefugnis nach § 174 Satz 1 BGB besondere Vorsicht geboten. Wird die Kündigung nach dieser Bestimmung zurückgewiesen, ist sie unwirksam und muss ggf. erneut ausgesprochen werden, was angesichts der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB zu Schwierigkeiten führen kann. Wird die Zurückweisung durch einen bevollmächtigten Vertreter (insbeson- 672 dere einen Rechtsanwalt des Organmitglieds) erklärt, kann die Gesellschaft die Zurückweisung ihrerseits gem. § 174 Satz 1 BGB zurückweisen, wenn der Vertreter des Organmitglieds keine Vollmachtsurkunde im Original vorlegt. bb) Besonderheiten bei der außerordentlichen Kündigung Soll das Anstellungsverhältnis außerordentlich fristlos wegen Vorliegens eines 673 wichtigen Grundes gekündigt werden, ist Eile geboten, da eine solche Kün___________ 1018) Vgl. OLG Düsseldorf, v. 17.11.2003 – I-15 U 225/02, ZIP 2004, 1850.

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digung gem. § 626 Abs. 2 BGB nur möglich ist innerhalb von zwei Wochen, seit dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt hat. Allerdings beginnt die Frist erst mit Kenntnis des Aufsichtsrats bzw. der Gesellschafterversammlung, während die Kenntnis einzelner Mitglieder (einschließlich des Vorsitzenden) nicht genügt.1019) Haben jedoch einberufungsberechtigte Mitglieder des Gremiums Kenntnis von möglichen Kündigungsgründen und berufen sie nicht unverzüglich eine Aufsichtsratssitzung ein, so soll die Kündigungserklärungsfrist zu laufen beginnen, sobald eine solche Aufsichtsratssitzung hätte stattfinden können.1020) In jedem Fall ist aber zu bedenken, dass die Kündigungserklärungsfrist nicht zu laufen beginnt, solange die für eine Aufklärung des Kündigungssachverhalts erforderlichen angemessenen und mit der gebotenen Eile durchgeführten Untersuchungen der Gesellschaft noch nicht abgeschlossen sind.1021) 674 Werden der Gesellschaft nach Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung weitere Kündigungsgründe bekannt, die bereits bei Zugang der Kündigung vorgelegen haben, so können sie zur Begründung der Wirksamkeit der ausgesprochenen Kündigung – ggf. auch erst im Prozess – nachgeschoben werden. Allerdings setzt dies nach Ansicht des BGH voraus, dass „das zuständige Organ […] auch den neuen Grund geprüft und entschieden hat, die Kündigung auf ihn zu stützen“,1022) jedenfalls wenn es sich um einen anderen Lebenssachverhalt als denjenigen handelt, auf den die Kündigungsentscheidung ursprünglich gestützt war.1023) b) Aufhebungsvertrag 675 Die einvernehmliche Aufhebung des Anstellungsvertrags mit einem Organmitglied ist ebenfalls formfrei möglich, so dass insbesondere auch eine per E-Mail erzielte Einigung ausreicht. Muss allerdings parallel – und sei es höchstvorsorglich – ein etwaiges ruhendes Arbeitsverhältnis aufgehoben werden, ist insoweit das Schriftformerfordernis des § 623 BGB zu beachten. 676 Soll im Aufhebungsvertrag ein weitgehender wechselseitiger Anspruchsausschluss vereinbart werden, ist im Verhältnis zu (früheren) Vorstandsmitgliedern einer AG § 93 Abs. 4 AktG zu beachten. Danach kann eine AG auf Ersatzansprüche wegen Verletzung der Organpflichten gem. § 93 Abs. 1 AktG erst drei Jahre nach ihrer Entstehung verzichten oder sich über sie verglei___________ 1019) BGH, v. 15.6.1998 – II ZR 318/96, ZIP 1998, 1269; BGH, v. 9.4.2013 – II ZR 273/11, ZIP 2013, 971. 1020) BGH, v. 9.4.2013 – II ZR 273/11, ZIP 2013, 971. Siehe zum Ganzen näher MünchKomm-BGB/Henssler, § 626 Rn. 331 ff. 1021) Siehe nur BAG, v. 20.3.2014 – 2 AZR 1037/12, NJW 2014, 3389. Vgl. zur angemessenen Dauer notwendiger interner Untersuchungen OLG Hamm, v. 29.5.2019 – 8 U 146/18. 1022) BGH, v. 29.3.1973 – II ZR 20/71, NJW 1973, 1122. 1023) BGH, v. 1.12.2003 – II ZR 161/02, ZIP 2004, 92.

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A. Organstellung und Dienstverhältnis

chen, und auch dies nur mit Zustimmung der Hauptversammlung (§ 93 Abs. 4 Satz 3 AktG). Soweit § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG reicht, wäre daher eine Bestimmung im Aufhebungsvertrag unwirksam, wonach „sämtliche wechselseitigen Ansprüche der Parteien erledigt sind“. Weitergehend droht sogar Gesamtnichtigkeit dieser Klausel und des ganzen Aufhebungsvertrags, sofern man nicht im Einzelfall zu dem Ergebnis gelangt, dass die Ausschlussklausel bzw. der Aufhebungsvertrag auch ohne einen vollständigen wechselseitigen Anspruchsausschluss zustande gekommen wäre. Zur Vermeidung von Unsicherheiten sollte daher ein wechselseitiger Anspruchsausschluss nur vereinbart werden, „soweit nicht zwingendes Recht, insbesondere § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG, dem entgegensteht“. Gegenüber Versuchen, § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG durch Stimmbindungsverträge mit Aktionären, Freistellungsvereinbarungen oder andere Gestaltungen „umschifft“ werden kann,1024) ist kritische Distanz angezeigt.1025) Bei der Ausgestaltung von Abfindungsvereinbarungen in Aufhebungsverträgen 677 können neben den Anforderungen des DCGK bei börsennotierten Aktiengesellschaften insbesondere vergütungsregulatorische Vorgaben (InstitutsVergV, etc.) zu beachten sein. Der DCGK sieht allgemein vor, dass Zahlungen an ein Vorstandsmitglied bei vorzeitiger Beendigung der Vorstandstätigkeit den Wert von zwei Jahresvergütungen nicht überschreiten (Abfindungs-Cap) und nicht mehr als die Restlaufzeit des Anstellungsvertrags vergüten sollen (G.13). Dabei soll im Fall eines nachvertraglichen Wettbewerbsverbots die Abfindungszahlung auf die Karenzentschädigung angerechnet werden (G.13). Überdies soll im Fall „der Beendigung eines Vorstandsvertrags […] die Auszahlung noch offener variabler Vergütungsbestandteile, die auf die Zeit bis zur Vertragsbeendigung entfallen, nach den ursprünglich vereinbarten Zielen und Vergleichsparametern und nach den im Vertrag festgelegten Fälligkeitszeitpunkten oder Haltedauern erfolgen“ (G.12). IV. Prozessuales 1. Vertretung der Gesellschaft im Prozess Eine AG wird gegenüber Vorstandsmitgliedern und früheren Vorstands- 678 mitgliedern in jedem Fall durch den Aufsichtsrat vertreten (§ 112 AktG). Wird auf Seiten der Gesellschaft der falsche gesetzliche Vertreter bezeichnet (insbesondere der Vorstand statt des Aufsichtsrats), so ist das nicht durch bloße Rubrumsberichtigung zu heilen. Vielmehr wirken die Prozesshandlungen nicht für und gegen die Gesellschaft, solange nicht der richtige gesetzliche Vertreter in den Prozess eingetreten ist und den bisherigen Prozessverlauf genehmigt hat.1026) ___________ 1024) Dazu MünchKomm-AktG/Spindler, § 93 Rn. 292 ff. 1025) Siehe dazu OLG München, v. 9.8.2018 – 23 U 1669/17, zu Schiedsgutachterabreden. 1026) BGH, v. 16.2.2009 – II ZR 282/07, ZIP 2009, 717.

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679 Die Vertretung einer GmbH gegenüber ihren (früheren) Geschäftsführern ist differenziert ausgestaltet. Gem. § 46 Nr. 8 Alt. 2 GmbHG wird eine GmbH „in Prozessen, welche sie gegen die Geschäftsführer zu führen hat“, von der Gesellschafterversammlung vertreten, gleichgültig ob es sich um Aktiv- oder Passivprozesse handelt. Soweit es nicht um die Geltendmachung von Ersatzansprüchen gem. § 46 Nr. 8 Alt. 1 GmbH geht, besteht die Vertretungsbefugnis der Gesellschafterversammlung jedoch nicht gegenüber ausgeschiedenen Geschäftsführern, wohl aber gegenüber (ehemaligen) Geschäftsführern, deren Abberufung streitig ist oder soweit es um die Wirksamkeit der Beendigung des Anstellungsvertrags geht. 2. Urkundenprozess 680 Ist der Urkundenprozess nicht durch Vereinbarung ausgeschlossen, so versuchen Vorstände oder Geschäftsführer im Falle einer Kündigung häufig, in den Verhandlungen mit der Gesellschaft dadurch Land zu gewinnen, dass sie der Gesellschaft im Wege des Urkundenprozesses eine erste Niederlage zufügen und die Gesellschaft zu einer (vorläufigen) Fortzahlung der laufenden Vergütung oder zumindest einer entsprechenden Sicherheitsleistung zwingen. 681 Die Gesellschaft sollte bei einem Urkundenprozess nicht vorschnell „die Flinte in’s Korn werfen“. Geht es etwa um den Nachweis eines wichtigen Grundes zur außerordentlichen Kündigung (etwa Spesenbetrug oder Bestechung im geschäftlichen Verkehr) und kann das Organmitglied den Tatsachenvortrag der Gesellschaft nicht bestreiten, ohne in den Bereich des versuchten Prozessbetrugs zu kommen, so bietet es sich an, zum Beweis des Sachvortrags die Parteivernehmung des Klägers anzubieten (vgl. § 595 Abs. 2 ZPO). In entgegengesetzter Richtung ist bereits bei Fassung des Abberufungs- oder Kündigungsentschlusses zu bedenken, dass er ggf. mit den im Urkundenprozess zulässigen Beweismitteln nachgewiesen werden muss, so dass der Beschluss schriftlich gefasst und von den ihn tragenden Mitgliedern des Aufsichtsrats oder der Gesellschafterversammlung unterzeichnet werden sollte, damit diese Urkunde ggf. im Original dem Gericht vorgelegt werden kann. Sehr zweifelhaft ist insbesondere, ob eine lediglich vom Aufsichtsratsvorsitzenden unterzeichnete Beschlussausfertigung gem. § 107 Abs. 2 Satz 1, 2 AktG im Urkundenprozess den Nachweis des Abberufungs- oder Kündigungsbeschlusses erbringen kann. B. Zur Praxis des Organhaftungsprozesses im Aktienrecht I. Einleitung Erik Ehmann/Christian Stretz

682 Das Thema „Organhaftung“ ist aktueller denn je. Nach einer Statistik des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. betrug die Schadensquote der an der Studie teilnehmenden Anbieter von Managerhaftpflichtversicherungen (sog. directors-and-officers (D&O) Versicherungen) im Jahr 2018 knapp 113 %, d. h. die zur Schadensabwicklung erforderlichen

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B. Zur Praxis des Organhaftungsprozesses im Aktienrecht

Bruttoaufwendungen überstiegen die vereinnahmten Prämienzahlungen deutlich. Die D&O-Reservenbildungen im Zusammenhang mit dem VW-Dieselskandal dürften hier noch nicht einmal vollständig berücksichtigt sein. Nach Angabe der D&O-Versicherer sind derzeit tausende von Organhaftungsfällen vor deutschen Gerichten anhängig. Damit hat sich die Lage dramatisch geändert. Noch vor zwanzig Jahren war die Organhaftung im Wesentlichen „law in the books“. Ansprüche wurden kaum je durchgesetzt. Dieser Praxis wurde bereits mit der berühmten ARAG/Garmenbeck-Entscheidung des BGH aus dem Jahr 1997 die Grundlage entzogen.1027) Der BGH stellte fest, dass der Aufsichtsrat grundsätzlich zur Geltendmachung von Haftungsansprüchen gegen den Vorstand verpflichtet ist und bei Verletzung dieser Pflicht selbst haftet. Mit dem wachsenden Angebot von D&O-Versicherungen ab den 1990er Jahren in Deutschland verstärkte sich der durch diese Entscheidung ausgelösten Trend zur tatsächlichen Inanspruchnahme nochmals; der Abschluss einer solchen Versicherung ist heute Marktstandard und die erkaufte Deckung schafft Haftung.1028) Während der Effekt der durch das UMAG zum 1.11.2005 neu eingeführten Aktionärsklage zur Durchsetzung von Ersatzansprüchen (§ 148 AktG) bezweifelt werden kann,1029) mag der Trend zur Prozessfinanzierung (sog. Litigation Funding) einer tatsächliche Inanspruchnahme der Organmitglieder weiter Vorschub leisten.1030) Der lange angestrebte „Gleichklang von materiellem Recht und Rechtsverfolgung“1031) scheint erreicht. Häufig werden sogar Staatsanwälte aktiv. Die Weite des Untreuetatbestands des § 266 StGB ermöglicht es in vielen Fällen, vermögensnachteilige Pflichtverstöße auch als Straftaten zu begreifen.1032) Im Ergebnis müssen Vorstände heute deshalb stets damit rechnen, spätestens 683 nach ihrem Ausscheiden in die Haftung genommen zu werden: Dies liegt zum einen am offenen Pflichtenprogramm, das sich durch die Begründung zusätzlicher sowie die Erweiterung bestehender Sorgfaltspflichten fortwährend verschärft. Zum anderen kann eine zunehmende Verrechtlichung unternehmerischen Handelns nicht in Abrede gestellt werden; die hieraus resultierenden Pflichten werden über die Legalitätspflicht unmittelbar für die Organhaftung relevant. Die nachfolgenden Organe haben dabei ein Interesse, den „Laden aufzuräumen“ und Verantwortungen abzugrenzen. Die teure D&O-Versicherung ist bezahlt und es scheint attraktiv, die Versicherungssumme auch zu kassieren. In jeder noch so erfolgreichen Amtsperiode gibt ___________ 1027) BGH NJW 1997, 1926 = ZIP 1997, 883; zuletzt bestätigt in BGH ZIP 2018, 2117. 1028) Vgl. zum statistischen Zusammenhang: Ihlas, Directors & Officers Liability, S. 620 ff. 1029) So etwa Hüffer/Koch/Koch, AktG, § 148 Rn. 3. 1030) Rahlmeyer/Fassbach, GWR 2015, 331. 1031) Ulmer, ZHR 163 (1999), 290, 299. 1032) BGH ZIP 2016, 2467 (für Gleichlauf von § 93 AktG und § 266 StGB); näher Krause, in: Krieger/Schneider, Handbuch Managerhaftung, § 40 Rn. 25 ff. (insbesondere Rn. 32 zur Frage, ob § 266 StGB eine „gravierende“ Pflichtverletzung voraussetzt).

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es schiefgegangene Geschäfte und auch der zugehörige Fehler lässt sich im Nachhinein oftmals finden („hindsight bias“).1033) 684 Natürlich spricht im Grundsatz alles dafür, dass Manager auch Verantwortung für ihr Handeln übernehmen müssen. Der gegenwärtige Zustand, der sich amerikanischen Verhältnissen annähert, ist aber auch kritisch zu sehen. Die vom Haftungsrecht intendierte Verhaltensteuerung kann sich dahingehend auswirken, dass vernünftige und unternehmerisch sinnvolle Risiken nicht mehr eingegangen werden, also ein übermäßig risikoaverses Verhalten („unterlassen statt unternehmen“) rational erscheint.1034) Da zudem bspw. die Einschaltung externer Berater den Vorstand nichts kostet, dürfte auch insoweit mit Anreizen zu aus Unternehmenssicht übermäßigen Absicherungsmaßnahmen zu rechnen sein. Zudem ist die Inanspruchnahme (ehemaliger) Organe für ein Unternehmen stets auch mit erheblichen Nachteilen nach innen (Aufklärungsaufwand, Loyalitätskonflikte) und nach außen (Reputationsverlust1035)) verbunden.1036) 685 Auch der 70. Deutsche Juristentag 2014 hat daher einen gewissen Reformbedarf gesehen. Stein des Anstoßes war dabei in erster Linie die enorme Belastung der betroffenen Vorstände, die auch bei leichtester Fahrlässigkeit teils existenzvernichtend haften. Nach den Reformvorschlägen des Juristentags soll es möglich werden, die Innenhaftung der Organe in der Satzung der AG zu begrenzen und beispielsweise Haftungshöchstbeträge einzuführen oder Schadensersatzansprüche bei leichter Fahrlässigkeit ganz auszuschließen.1037) In der Tat liegt es nahe, die persönliche Haftung der Organe in Anlehnung an die Grundsätze der Arbeitnehmerhaftung zu beschränken,1038) bspw. auf zwei oder fünf Jahresgehälter, möglicherweise mit einer Abstufung zwischen einfacher und grober Fahrlässigkeit. Eine mutige einheitliche Lösung durch den Gesetzgeber wäre allerdings der vom Juristentag vorgeschlagenen Lösung klar vorzuziehen.1039) Wenn jede Gesellschaft ihr eigenes Haftungsregime erschaffen muss, führt dies ohne erkennbaren Mehrwert zu erheblichen Transaktionskosten. Die Herausbildung allgemeingültiger rechtlicher Standards würde erheblich erschwert oder gar unmöglich gemacht. ___________ 1033) Eingehend zum sog. Rückschaufehler: Lange, D&O-Versicherung und Managerhaftung, § 2 Rn. 37 ff.; vgl. auch Bachmann, ZHR 177 (2013), 1, 4. 1034) Vgl. Wagner, ZHR 178 (2014), 227, 257 ff.; Bayer/Scholz, NZG 2014, 926, 927; Vetter, NZG 2014, 921, 923. 1035) Vgl. zum Argument des Reputationsverlusts in allgemeiner Form: Klöhn/Schmolke, NZG 2015, 689. 1036) Vgl. Grigoleit, in: Fleischer/Kanda/Kim/Mülbert (eds.), German and Asian Perspectives on Company Law, unter III.5.a; Lutter, in: Festschrift Hoffmann-Becking, 2013, S. 742, 745; Habersack, ZHR 177 (2013), 782, 788 f. 1037) Vgl. DJT, Beschlüsse der Abteilung Wirtschaftsrecht des 70. DJT 2014, I. 1 – 3; Bachmann, Gutachten E, Verhandlungen 70. Deutscher Juristentag Hannover, Bd. I, 2014, E 56 ff. 1038) So auch Bayer/Scholz, NZG 2014, 926 ff. 1039) So im Ergebnis auch Bayer/Scholz, NZG 2014, 926, 931.

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Sollte es – sei es aufgrund satzungsmäßiger Beschränkung oder einheitlich 686 geltender Rechtslage – je zu einer relevanten Begrenzung der persönlichen Haftung der Organe kommen, wird sich die Durchführung eines Prozesses in vielen Fällen angesichts der enormen Kosten und der potentiellen Reputationsschäden für die Unternehmen nicht lohnen. Die zentrale Frage wird dann sein, ob die D&O-Versicherung in der Weise umstrukturiert werden kann, dass ihre Haftung unabhängig von der vorgelagerten Haftung eines Organs besteht. Die D&O-Versicherung wäre dann nicht mehr Haftpflichtversicherung zugunsten der versicherten Organe, sondern Vermögensschadensversicherung der Unternehmen. Dies wäre ohnehin die sachgerechte Konstruktion, da die Unternehmen als Versicherungsnehmer Partei des D&OVersicherungsvertrages sind. Das sog. subjektive Risiko („moral hazard“) für die D&O-Versicherung würde sich dann allerdings wohl noch weiter erhöhen. Von alldem unabhängig müssen Organhaftungsprozesse möglichst gut ge- 687 führt werden. Das materielle Recht der Organhaftung lässt sich insbesondere der Kommentarliteratur entnehmen; Leitlinien der Rechtsprechung bilden sich wegen der oftmals vergleichsweisen Beendigung von Organhaftungsprozessen nur schleppend heraus. Dem vorliegenden Beitrag geht es neben den rechtlichen Grundlagen der Organhaftung vor allem um die Darstellung des praktischen Umgangs mit solchen Fällen. II. Innenhaftung des Vorstands 1. Grundlagen Die Innenhaftung des Vorstands ist die Haftung gegenüber der geschädigten 688 Gesellschaft. Sie ist in der Praxis wesentlich häufiger als die Haftung gegenüber außenstehenden Dritten. Die Haftung orientiert sich dabei an den Grundsätzen der Schadensersatzhaftung, wie sie für Schuldverhältnisse allgemein in § 280 Abs. 1 BGB festgeschrieben ist; zentrale gesetzliche Vorschrift zur Vorstandsinnenhaftung ist jedoch § 93 AktG: Vorstandsmitglieder haften für Schäden aus nachteiligen Geschäften und Maßnahmen, soweit diese durch die Verletzung der erforderlichen Sorgfalt verursacht sind (§ 93 Abs. 2 Satz 1 AktG). Diese Haftung ist sehr streng, weil im Streitfall der Vorstand die Beweislast für die Einhaltung der Sorgfaltspflicht trägt (§ 93 Abs. 2 Satz 2 AktG); die Vorstandsinnenhaftung ist damit einer Erfolgshaftung (mit Entlastungsmöglichkeit) angenähert.1040) Ein gewisses Gegengewicht bringt die sog. Business Judgement Rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG). Hiernach liegt eine Pflichtverletzung nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln.1041) ___________ 1040) Dies kritisiert auch Paefgen, NZG 2009, 891, 893. 1041) Ausführlich dazu Krieger, in: Krieger/Schneider, Handbuch Managerhaftung, § 3 Rn. 13 ff.; MünchKomm-AktG/Spindler, § 93 Rn. 43 ff.; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, AktG, § 93 Rn. 41 ff.

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689 Eine besondere Ausprägung der Sorgfaltspflicht ist die Legalitätspflicht, die den Vorstand verpflichtet, stets sämtliche relevanten Rechtsvorschriften einzuhalten. Im Rahmen seiner Legalitätspflicht ist der Vorstand außerdem verpflichtet, das Unternehmen so zu organisieren, dass Rechtsverstöße durch nachgelagerte Unternehmensebenen unterbleiben (sog. Legalitätskontrollpflicht oder auch Legalitätsorganisationspflicht1042)). Im Fall einer Verletzung der Legalitätspflicht gilt die Business Judgement Rule nicht, weil die Einhaltung von Recht und Gesetz keine unternehmerische Ermessensentscheidung, sondern eine gebundene Entscheidung darstellt.1043) Auch nützliche Gesetzesverstöße begründen stets eine Pflichtverletzung.1044) Im Hinblick auf die Legalitätskontrollpflicht besteht ein Ermessenspielraum; es kann nur ein wirtschaftlich vernünftiges Maß an Legalitätsorganisation verlangt werden.1045) Dabei fällt die grundlegende Ausgestaltung des Compliance-Systems sowie dessen laufende Wirksamkeitskontrolle als Leitungsaufgabe des Vorstands (§ 76 Abs. 1 AktG) grundsätzlich in dessen Gesamtkompetenz.1046) 690 Neben der Haftung des Vorstands für die Verletzung von Sorgfaltspflichten (einschließlich Legalitätspflicht und Legalitätskontrollpflicht) steht die Haftung für Verletzungen der Treupflicht. Der Vorstand hat sich stets loyal gegenüber der Gesellschaft zu verhalten und im Rahmen von Angelegenheiten, die das Gesellschaftsinteresse betreffen, stets dem Gesellschaftswohl Vorrang einzuräumen. Insbesondere darf der Vorstand nicht Geschäftschancen der Gesellschaft für sich oder für Dritte ausnutzen oder zu Lasten der Gesellschaft Vorteile aus seiner Organstellung ziehen (bspw. durch Annahme von Schmiergeldern). Eigengeschäfte, die ein Vorstand mit der Gesellschaft abschließt, müssen zur Vermeidung eines Treupflichtverstoßes einem Drittvergleich standhalten. Weitere Ausprägungen der Treupflicht sind das Wettbewerbsverbot (§ 88 AktG) und die Verschwiegenheitspflicht (§ 93 Abs. 1 Satz 3 AktG). Für Treupflichtverletzungen gilt die Business Judgement Rule nicht. 2. Die Entscheidung über die Inhaftungnahme 691 Vorstandshaftungsprozesse beginnen in der Regel mit der Aufdeckung eines möglichen Fehlverhaltens einzelner oder mehrerer Vorstände und mit der Entscheidung darüber, ob der Vorstand in Anspruch genommen wird. Etwaiges Fehlverhalten kann dabei sowohl intern durch neu bestellte Vorstandsmitglieder oder einen unternehmensinternen Whistleblower als auch ___________ 1042) Grigoleit, in: Festschrift für Karsten Schmidt zum 80. Geburtstag, 2019, S. 367, 380 ff. 1043) Krieger, in: Krieger/Schneider, Handbuch Managerhaftung, § 3 Rn. 15; Grigoleit/ Grigoleit/Tomasic, AktG, § 93 Rn. 42. 1044) BGH NJW 2011, 88; Bayer, in: Festschrift für Karsten Schmidt zum 70. Geburtstag, 2009, S. 85, 90 f. 1045) Hüffer/Koch/Koch, AktG, § 93 Rn. 6c; Grigoleit, in: Festschrift für Karsten Schmidt zum 80. Geburtstag, 2019, S. 367, 384; zur Compliance-Risikoanalyse und Business Judgment Rule: Balke/Klein, ZIP 2017, 2038, 2039 ff. 1046) BeckOGK/Fleischer, AktG, § 91 Rn. 67; Hüffer/Koch/Koch, AktG, § 76 Rn. 12.

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extern, bspw. durch behördliche Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft oder Börsenaufsicht, ans Tageslicht gelangen. Zuständig für die Verfolgung von Ansprüchen gegen gegenwärtige und ehema- 692 lige Vorstandsmitglieder ist der Aufsichtsrat, § 112 AktG. Der Aufsichtsrat hat aufgrund seiner Überwachungspflicht aufzuklären und zu prüfen, ob der Gesellschaft entstandene Schäden auf Pflichtverletzungen des Vorstands zurückzuführen sind. Unterlässt der Aufsichtsrat die Durchsetzung bestehender Haftungsansprüche, so kann er sich selbst haftbar machen. Die diesbezüglichen Pflichten des Aufsichtsrats hat der BGH in der ARAG/GarmenbeckEntscheidung detailliert herausgearbeitet.1047) Die Prüfung des Aufsichtsrats teilt sich dabei in mehrere Stufen auf. a) Anspruchsprüfung durch den Aufsichtsrat (Prüfung erster Stufe) Der Aufsichtsrat hat auf der ersten Stufe sorgfältig zu prüfen, ob der Gesell- 693 schaft ein durchsetzbarer Schadensersatzanspruch gegen einen oder mehrere Vorstände zusteht.1048) Die Untersuchung möglicher Haftungsansprüche hat, wie stets, ihren Aus- 694 gangspunkt bei einer sorgfältigen Aufklärung des Sachverhalts. Dabei hat der Aufsichtsrat die im Unternehmen verfügbaren Informationen auszuschöpfen.1049) Auf Berichte des Vorstands kann der Aufsichtsrat sich nicht mehr uneingeschränkt verlassen, sobald Anhaltspunkte für ein Fehlverhalten des Vorstands selbst bestehen. Davon unabhängig ist dem Vorstand jedenfalls Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Zu beachten ist, dass der Aufsichtsrat sich im Grundsatz nicht selbst an Mitarbeiter wenden darf, sondern den Vorstand bitten sollte, geeignete Mitarbeiter zu benennen und die direkte Kommunikation zu erlauben. Soweit erforderlich hat der Aufsichtsrat bei der Aufklärung externe Berater (bspw. forensische Ermittler) hinzuzuziehen. Bei alledem gilt es aber stets, die gesetzlichen Rahmenbedingungen einer Internal Investigation wie bspw. die Vorgaben der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) für ein E-Mail-Screening zu wahren.1050) Der ermittelte Sachverhalt ist sodann juristisch dahingehend zu bewerten, ob 695 ein Haftungsanspruch gegen den Vorstand „voraussichtlich“1051) rechtlich durchsetzbar ist. Eine Verurteilung des Vorstands muss also mindestens (deutlich) überwiegend wahrscheinlich sein. Geschuldet ist eine Prozessrisi___________ 1047) BGH NJW 1997, 1926, 1927 ff. = ZIP 1997, 883; bestätigt von BGH ZIP 2014, 1728 sowie BGH ZIP 2018, 2117; zu den Pflichten des Aufsichtsrates ausführlich und instruktiv Schnorbus/Ganzer, WM 2015, 1844 ff. und Ganzer/Schnorbus, WM 2015, 1877 ff. 1048) BGH NJW 1997, 1926, 1927 = ZIP 1997, 883. 1049) Haßler, BB 2017, 1603. 1050) Vgl. für einen Überblick: Fuhrmann, NZG 2016, 881, 886 ff. 1051) BGH NJW 1997, 1926, 1928 = ZIP 1997, 883.

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koanalyse dahingehend, wie wahrscheinlich die Durchsetzung von Ansprüchen unter Berücksichtigung der Beweislage, der Beweislastverteilung (insbesondere nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG) und etwaiger zweifelhafter Rechtsfragen ist.1052) Die Prüfung hat dabei selbstverständlich auch naheliegende Einwendungen des Vorstands zu antizipieren (bspw. Berufung auf die Business Judgement Rule). 696 Dem Aufsichtsrat soll insoweit kein Ermessen im Sinne der Business Judgement Rule, sondern nur ein „begrenzter Beurteilungsspielraum“ zukommen; „die Haltbarkeit und Richtigkeit seiner Beurteilung der Erfolgsaussichten sind im Streitfall vor Gericht grundsätzlich voll nachprüfbar (…)“.1053) Tatsächlich ist gerade die Prozessrisikoanalyse insbesondere bei offenen Rechtsfragen und fraglicher Tatsachengrundlage mit besonderen Unsicherheiten belastet („vor Gericht und auf hoher See“). Diese Unsicherheit wird verstärkt, weil sich der in Anspruch genommene Vorstand im Zweifel intensiver mit seiner Entscheidung auseinandergesetzt hat als das zur Anspruchsverfolgung berufene Organ, dem etwaiges Sonderwissen zu den Hintergründen der Entscheidungsfindung fehlt. Die insoweit erforderliche Prognose, wie das zuständige Gericht entscheiden wird, entspricht in der Sache der im Rahmen jeder unternehmerischen Entscheidung erforderlichen Prognose.1054) Der BGH scheint dagegen zu meinen, der Aufsichtsrat könne, wenn er sich nur genug anstrengt, wie Dworkin’s Herkules mit Sicherheit ermitteln, ob ein Anspruch besteht. 697 Unabhängig von diesem Streit um die theoretische Konzeption der Pflichten des Aufsichtsrats, wird eine eigene Haftung des Aufsichtsrats in aller Regel ausscheiden, wenn der Aufsichtsrat auf der Basis eines sachlich umfassenden und inhaltlich plausiblen Gutachtens einer zur Einschätzung qualifizierten Rechtsanwaltskanzlei zu einem bestimmten Ergebnis kommt und entsprechend handelt.1055) Dies entspricht auch der allgemein geübten Praxis: Typischerweise und mit guten Gründen wird der Aufsichtsrat nach interner Sachverhaltsaufklärung deshalb eine Rechtsanwaltskanzlei damit beauftragen, zu prüfen, ob Ansprüche gegen den Vorstand bestehen oder nicht. Die interne Rechtsabteilung wird insoweit im Regelfall angesichts der unmittelbar drohenden Loyalitätskonflikte nicht der geeignete Ansprechpartner sein. Im Lichte der ISION-Entscheidung des BGH wird es sich empfehlen darauf zu achten, dass die beauftragte Kanzlei nicht nur unabhängig ist, sondern auch eine ausreichende Expertise im Umgang mit Organhaftungsthemen aufweist ___________ 1052) Allgemein zur Technik der Prozessrisikoanalyse auch: Risse/Morawietz, Prozessrisikoanalyse, 2017, S. 26 ff. und S. 81 ff. 1053) BGH NJW 1997, 1926, 1928 = ZIP 1997, 883. 1054) Kritisch Schnorbus/Ganzer, WM 2015, 1832, 1838 m. w. N.; vgl. auch Grigoleit/ Grigoleit/Tomasic, AktG, § 111 Rn. 7: die Prozessrisikoanalyse habe „realiter“ eigene Unschärfen. 1055) Ausführlich dazu Schnorbus/Ganzer, WM 2015, 1832, 1839.

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und ihr sämtliche zur sachgerechten Bewertung der Angelegenheit erforderlichen Tatsachen offengelegt wurden.1056) b) Geltendmachung von Ansprüchen im Unternehmensinteresse? (Prüfung zweiter Stufe) Ergibt die Prüfung auf erster Stufe, dass Schadensersatzansprüche gegen den 698 Vorstand bestehen bzw. mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durchsetzbar sind, so hat der Aufsichtsrat auf einer zweiten Stufe zu prüfen, ob gewichtige Gründe des Unternehmenswohls gegen deren Geltendmachung sprechen; anderenfalls („im Grundsatz“) sind bestehende Ansprüche durchzusetzen.1057) Der BGH betont insoweit, dass kein „autonomer unternehmerischer Ermessenspielraum“ (im Sinne der Business Judgement Rule) bestehe. Gleichzeitig erkennt er aber selbst an, dass die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen unterbleiben muss, wenn dies im Unternehmensinteresse liegt, d. h. die Abwägung der Vorteile und Nachteile eines zu führenden Rechtsstreits jedenfalls die Charakteristika einer unternehmerischen Prognoseentscheidung erfüllt.1058) Zutreffend ist, dass die Abwägung im Regelfall zu Gunsten einer Geltendmachung von bestehenden Ansprüchen ausfallen muss.1059) Der Aufsichtsrat hat die Verpflichtung, die Interessen und das Vermögen der Gesellschaft zu wahren und darf daher nicht ohne besonderen rechtfertigenden Grund auf werthaltige Haftungsansprüche verzichten.1060) Vorstandshaftung ist jedoch kein Selbstzweck und Aufgabe des Aufsichtsrats ist weder die Durchsetzung materieller Gerechtigkeit noch die „Bestrafung“ des pflichtvergessenen Vorstands, sondern die Wahrung der Vermögensinteressen der Gesellschaft. Daher besteht im Fall durchsetzbarer Organhaftungsansprüche auch kein Automatismus zu Gunsten einer Geltendmachung von Ansprüchen, sondern der Aufsichtsrat muss und darf Ansprüche nur geltend machen, wenn dies – wie im Regelfall – im Unternehmensinteresse liegt.1061) Es sind also die für eine Anspruchsverfolgung sprechenden Faktoren gegen die gegen eine Anspruchsverfolgung sprechenden Faktoren abzuwägen. Der Aufsichtsrat tut gut daran, diese Abwägung zur Vermeidung eigener Haftungsrisiken ausführlich zu dokumentieren und die entsprechenden Faktoren plausibel zu gewichten. In die Abwägung einzustellen ist auf der einen Seite der Erwartungswert des 699 geltend zu machenden Haftungsanspruchs, der auf Basis der Höhe des einge___________ 1056) BGH NZG 2011, 1271 = ZIP 2011, 2097 Tz. 18. 1057) BGH NJW 1997, 1926, 1928 = ZIP 1997, 883; ausführlich dazu Schnorbus/Ganzer, WM 2015, 1832, 1840. 1058) Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, AktG, § 111 Rn. 11. 1059) BGH NJW 1997, 1926, 1928 = ZIP 1997, 883; BGH NZG 2014, 1078 Tz. 19. 1060) Allgemein zur Nichtgeltendmachung von Ansprüchen: BGH NJW 1985, 1777, 1778 = ZIP 1985, 607; KG GmbHR 1959, 257. 1061) So dezidiert auch Schnorbus/Ganzer, WM 2015, 1832, 1834; zutreffend auch Hüffer/ Koch/Koch, AktG, § 111 Rn. 10 m. w. N.; BeckOGK/Spindler, AktG, § 116 Rn. 62.

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tretenen Schadens, der Erfolgsaussichten der Klage und der Höhe des aufgrund D&O-Versicherung und Leistungsfähigkeit des Vorstands zu erwartenden realisierbaren Schadensersatzes zu ermitteln ist. Es kommt also auf dieser zweiten Prüfungsstufe nicht (nur) darauf an, ob Ansprüche bestehen und mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gerichtlich durchgesetzt werden können, sondern entscheidend ist auch, inwiefern Ansprüche voraussichtlich ggf. im Rahmen einer Zwangsvollstreckung wirtschaftlich realisierbar sind. Es hat keinen Sinn, die Gesellschaft in einen kostspieligen, arbeitsintensiven und möglicherweise reputationsschädigenden Prozess zu führen, wenn feststeht, dass etwaige Ansprüche ohnehin nicht oder nur in geringem Umfang realisiert werden können. Zu prüfen ist daher, ob eine D&O-Versicherung besteht und unter Berücksichtigung der versicherungsrechtlichen Haftungsausschlüsse (insbesondere bei wissentlicher Pflichtverletzung und bei Vorkenntnis) mit einer ausreichenden Deckung zu rechnen ist. Dabei ist auch in Erwägung zu ziehen, dass die gerichtlich in Anspruch genommenen Vorstände weiteren Vorständen oder auch Aufsichtsratsmitgliedern den Streit verkünden und deren Abwehrkosten – wie auch die Abwehrkosten des ursprünglich in Anspruch genommenen Vorstands – die Deckungssumme der D&O-Versicherung weiter schmälern können.1062) Eine weitere berücksichtigungsfähige Haftungsmasse ist das Privatvermögen des Vorstands, dessen Höhe dem Aufsichtsrat freilich nicht bekannt ist. Der Aufsichtsrat wird jedoch gewisse Schlussfolgerungen aus der bei der Gesellschaft bezogenen Vergütung und der vorangegangenen Karriere des Vorstands ziehen können. Bestehende Ansprüche auf Altersversorgung dürfen nicht außer Betracht gelassen werden; soweit es die Lage der Gesellschaft erfordert, können Ansprüche auf Altersversorgung aber auch bereits unabhängig vom Ausgang eines Organhaftungsprozesses unter den Voraussetzungen des § 87 Abs. 2 AktG herabgesetzt werden. Mit Maßnahmen der Vermögenssicherung („asset protection“) wird heute in der Regel zu rechnen sein; allerdings dürfen auch Anfechtungsmöglichkeiten nicht außer Betracht gelassen werden. Neben dem rein wirtschaftlichen Interesse können auch Gesichtspunkte der Außenwirkung für die Inanspruchnahme sprechen; so bspw. wenn im Fall erheblicher Pflichtverletzungen nach innen und außen dokumentiert werden soll, dass das Verhalten des Vorstands den Unternehmenswerten (corporate values) widerspricht und mit größtmöglicher Härte geahndet wird. 700 Auf der anderen Seite sind sämtliche mit der Anspruchsdurchsetzung verbundenen Kosten in die Abwägung einzustellen. In Betracht zu ziehen sind in erster Linie die direkten Kosten der Rechtsdurchsetzung (insbesondere Anwalts-, Sachverständigen- und Gerichtskosten) aber auch sonstige Faktoren wie das drohende öffentliche Bekanntwerden von Unternehmensgeheimnissen, die Inhaftungnahme des Unternehmens durch Dritte oder sonstige erhebliche konkrete Nachteile (bspw. Verlust der vergaberechtlichen ___________ 1062) Vgl. zur Zulässigkeit von Kostenanrechnungsklauseln zu Lasten der Versicherungssumme: Mitterlechner/Wax/Witsch, D&O-Versicherung, § 6 Rn. 24 ff.

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Zuverlässigkeit). Stets zu bedenken sind auch die Folgen einer Geltendmachung oder Nichtgeltendmachung von Ansprüchen für die Reputation der Gesellschaft und für das Betriebsklima. Wenn die mit der Durchsetzung von möglichen Haftungsansprüchen ver- 701 bundenen Kosten den Erwartungswert dieser Haftungsansprüche übersteigen, sollte in der Regel von der Inanspruchnahme abgesehen werden. Übersteigt dagegen der Erwartungswert der Haftungsansprüche die zu erwartenden Kosten, so spricht dies für eine Inanspruchnahme. Der BGH scheint insoweit zwar offener zu formulieren: Der Aufsichtsrat könne gegen eine Inanspruchnahme entscheiden, wenn gewichtige Interessen und Belange der Gesellschaft dafür sprächen, den Schaden ersatzlos hinzunehmen.1063) Zu beachten ist aber unbedingt, dass nach der klaren und eindeutigen Rechtsprechung des BGH in Zweifelsfällen für die Inanspruchnahme zu entscheiden ist.1064) c) Verschonung des Vorstands? (Prüfung dritter Stufe) Fällt die Abwägung zugunsten einer Inanspruchnahme des Vorstands aus, so 702 ist der Aufsichtsrat im Grundsatz zur Durchsetzung der bestehenden Ansprüche auch verpflichtet. Nach der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung soll der Aufsichtsrat allerdings in Ausnahmefällen „außerhalb des Unternehmenswohls liegenden, die Vorstandsmitglieder persönlich betreffenden Gesichtspunkten“ Raum geben können.1065) Auf dieser dritten Stufe hat der Aufsichtsrat also zu prüfen, ob im konkreten Einzelfall Gründe für eine Schonung des Vorstands bestehen. Der BGH hatte insoweit Fälle vor Augen, in denen „auf der einen Seite das pflichtwidrige Verhalten nicht allzu schwerwiegend und die der Gesellschaft zugefügten Schäden verhältnismäßig gering sind, auf der anderen Seite jedoch einschneidende Folgen für das ersatzpflichtig gewordene Vorstandsmitglied drohen“. Insoweit ist es bereits nicht ganz nachvollziehbar, wie aufgrund „verhältnis- 703 mäßig geringer Schäden“ „einschneidende Folgen für das ersatzpflichtig gewordene Vorstandsmitglied“ drohen sollen. Zudem wird bei nur geringfügig pflichtwidrigem Verhalten in aller Regel die D&O-Versicherung haften, so dass die Schonung des Vorstands sinnlos wäre. Auf dieser unsicheren Grundlage werden Aufsichtsräte schon aufgrund der eigenen Haftungsgefahr nicht vollständig von der Durchsetzung von Ansprüchen absehen können. In Betracht wird vielmehr nur eine teilweise Verschonung kommen, d. h. eine nur begrenzte Inanspruchnahme der haftenden Vorstände durch die Gesellschaft. Die Frage ist von höchster praktischer Relevanz und Gegenstand zahlreicher

___________ 1063) BGH NJW 1997, 1926, 1928 = ZIP 1997, 883. 1064) Vgl. zur Frage, ob die gegen eine Inanspruchnahme sprechenden Gründe überwiegend oder nur gewichtig sein müssen BeckOGK/Spindler, AktG, § 116 Rn. 62 m. w. N. 1065) BGH NJW 1997, 1926, 1928 = ZIP 1997, 883.

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Stellungnahmen in der Literatur.1066) Zahlreiche Autoren halten aufgrund der aus der Treuepflicht resultierenden Fürsorgepflicht der Gesellschaft gegenüber dem Vorstand als Organ und in Anlehnung an die arbeitsrechtlichen Haftungsregeln auch zugunsten von Vorständen Haftungsreduzierungen für angezeigt, wonach der Vorstand bei geringem Verschulden nur auf eine bestimmte Anzahl von Jahresgehältern haften oder ein bestimmter Teilbetrag des Vermögens haftungsfrei bleiben soll.1067) 704 Zuzustimmen ist, dass eine solche Begrenzung der Vorstandshaftung sachgerecht wäre. Es ist jedoch Sache des Gesetzgebers und/oder der Gerichte eine solche Haftungsbeschränkung festzuschreiben.1068) Der Aufsichtsrat darf werthaltige Ansprüche der Gesellschaft nicht ohne Grund fallen lassen. Er dürfte daher nur dann (teilweise) auf die Durchsetzung von Ansprüchen verzichten, wenn er davon ausgehen könnte und müsste, dass bei einer vollen Inanspruchnahme das zuständige Gericht die Haftung entsprechend reduziert. Davon kann aber nach der gegenwärtigen Rechtsprechungslage nicht ausgegangen werden. Außerdem macht eine nur teilweise Geltendmachung von Ansprüchen auch deshalb erhebliche Schwierigkeiten, weil die D&OVersicherung nur insoweit Deckung schuldet, wie der in Anspruch genommene Vorstand haftet. Hier drohen erhebliche Schwierigkeiten und Haftungsfallen. Der Aufsichtsrat sollte es daher gegenwärtig dabei belassen, den Vorstand in voller Höhe in Anspruch zu nehmen. Der Vorstand kann und muss sich dann im Haftungsprozess auf eine Haftungsreduktion gem. § 242 BGB berufen – bisher entsprechen solche Haftungsreduktionen aber nicht der gerichtlichen Entscheidungspraxis. Jedenfalls soweit die D&O-Versicherung haftet, dürfte für eine solche Haftungsreduktion auch kein Raum bestehen. Davon unabhängig besteht im Regelfall im Rahmen eines die Haftungsangelegenheit insgesamt abschließenden Haftungs- und Deckungsvergleichs unter Einschluss der D&O-Versicherung (bspw. nach sachdienlichen Hinweisen durch das Landgericht oder nach Ergehen eines erstinstanzlichen Urteils) hinreichend Gelegenheit im Rahmen einer Gesamtlösung zu einer für alle Parteien tragbaren Lösung zu kommen. Diesem Vergleich muss dann auch die Hauptversammlung zustimmen (§ 93 Abs. 4 Satz 3 AktG); hieraus ergibt sich einerseits eine zusätzliche Richtigkeitsgewähr, andererseits eine wichtige Absicherung für den Aufsichtsrat.1069)

___________ 1066) Für eine Beschränkung z. B.: Bayer, in: Festschrift für Karsten Schmidt zum 70. Geburtstag, 2009, S. 85, 96 f.; Bachmann, ZIP 2017, 841; Bayer/Scholz, GmbHR 2015, 449, 455 f.; Seibt/Cziupka, AG 2015, 93, 106; dagegen: Faßbender, NZG 2015, 501, 507; Fehrenbach, AG 2015, 761; Haarmann/Weiß, DB 2014, 2115, 2116; Merkt, ZGR 2016, 201, 214 f. 1067) Vgl. z. B. Ganzer/Schnorbus, WM 2015, 1877, 1878 ff.; de lege lata ablehnend aber Grigoleit, in: Fleischer, unter III.4 (jeweils mit zahlreichen w. N.). 1068) Vgl. Fleischer, ZIP 2014, 1305, 1307; Grigoleit, in: Fleischer, unter III.4. 1069) Siehe unten II 8. b) Rn. 744.

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d) Interessenkonflikte im Aufsichtsrat bei möglicher Eigenhaftung Der Aufsichtsrat ist für die Überwachung des Vorstands zuständig. Im Fall 705 von Vorstandsfehlern stellt sich daher stets auch die Frage, ob der Vorstand in seiner Tätigkeit hinreichend überwacht worden ist, oder ob auch der Aufsichtsrat möglicherweise pflichtwidrig gehandelt hat. Gleiches gilt bei einem Schadensfall im Zusammenhang mit Geschäften des Vorstandes, die der Zustimmung des Aufsichtsrates bedurften. Diese Konstellationen können Interessenkonflikte von Aufsichtsratsmitgliedern begründen. Den allgemeinen Grundsätzen folgend sollten betroffene Aufsichtsratsmitglieder ihren Interessenkonflikt jedenfalls offenlegen und an Abstimmungen über die Inanspruchnahme des Vorstands sowie über etwaige Vergleiche ggf. nicht teilnehmen. Wenn mehrere Aufsichtsräte bereits während der Amtszeit des in Anspruch zu nehmenden Vorstands im Amt waren, können sich insoweit außerordentlich komplexe Gemengelagen von widersprüchlichen Interessen ergeben,1070) denen ggf. nur durch die Bildung eines Ausschusses im Aufsichtsrat Rechnung getragen werden kann. 3. Die Auswahl der Beklagten Vorstände haben meist mehrere Mitglieder. Für die Unternehmensleitung im 706 engeren Sinne (§ 76 AktG) ist stets der Gesamtvorstand zuständig. Hierher gehören insbesondere die Richtlinien der Unternehmenspolitik, besonders wichtige geschäftliche Maßnahmen wie bspw. Finanzplanung und -kontrolle oder besonders rentabilitäts- oder liquiditätsrelevante Entscheidungen sowie Kontrollmaßnahmen wie die Einrichtung einer funktionsfähigen Risikomanagement- und Compliance-Organisation.1071) Fehler in diesem Bereich stellen sich daher als Pflichtverletzung jedes einzelnen Vorstandsmitglieds dar, soweit das Vorstandsmitglied nicht gegen die pflichtwidrige Maßnahme gestimmt und hinreichende Bemühungen unternommen hatte, diese zu verhindern.1072) Dies schließt es aber nicht aus, dass der Gesamtvorstand Vorbereitungs- und Ausführungsmaßnahmen zu diesen Aspekten der Unternehmensführung an einzelne Mitglieder des Vorstands oder nachgeordnete Unternehmensebenen delegiert.1073) Auch im Bereich der von der Unternehmensleitung im engeren Sinne zu un- 707 terscheidenden „einfachen“ Geschäftsführung gilt im Grundsatz das Prinzip der Gesamtgeschäftsführung mit daraus folgender Gesamtverantwortung des Vorstandes (§ 77 AktG). In der Praxis besteht jedoch in aller Regel eine ressortmäßige Geschäftsverteilung. Dies ist nach § 77 Abs. 1 Satz 2 AktG zulässig und nicht zuletzt unter Gesichtspunkten der Haftungsabgrenzung auch ___________ 1070) Vgl. BGH ZIP 2018, 2117 Tz. 43 ff. (Verbot einer Pflicht zur Selbstbezichtigung stand im konkreten Fall der Anspruchsverfolgungspflicht des Aufsichtsrats nicht entgegen). 1071) MünchKomm-AktG/Spindler, § 76 Rn. 15. 1072) Vgl. LG München I NZG 2014, 345, 348 = ZIP 2014, 570. 1073) BeckOGK/Fleischer, AktG, § 76 Rn. 20; Hüffer/Koch/Koch, AktG, § 76 Rn. 8.

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sinnvoll. Die haftungsabgrenzende Wirkung tritt allerdings nur ein, wenn die Geschäftsverteilung formal ordnungsgemäß erfolgt ist. Auch können Fehler bei der Geschäftsverteilung ihrerseits haftungsbegründend wirken.1074) 708 Ist die Geschäftsverteilung ordnungsgemäß erfolgt, so bleiben die ressortmäßig unzuständigen Vorstandsmitglieder weiterhin verpflichtet, die Ressortgeschäftsführung ihrer jeweils zuständigen Kollegen jedenfalls zu überwachen.1075) Dies gilt für alle Vorstandsmitglieder, in besonderer Weise jedoch für den Vorstandsvorsitzenden.1076) Bei Maßnahmen, die in die Ressortverantwortung anderer Vorstandsmitglieder hineinragen, besteht zudem eine erhöhte Überwachungspflicht der für diese Ressorts Verantwortlichen, die sich je nach Grad der Überschneidung der Verantwortungsbereiche bis hin zur vollen Mitverantwortlichkeit steigern kann. 709 Aufgrund des dargestellten Prinzips der Gesamtverantwortung stellt sich in vielen Fällen die Frage, ob und ggf. welche Vorstandsmitglieder neben dem an und für sich ressortverantwortlichen Vorstandsmitglied in Haftung genommen werden sollen. Soweit das ressortverantwortliche Vorstandsmitglied nicht hinreichend überwacht worden ist, wird vor allem eine Inanspruchnahme des Vorstandsvorsitzenden in Betracht gezogen werden. Typischerweise bringt die Inanspruchnahme mehrerer (möglicher) Haftungsschuldner für den Kläger prozesstaktisch gewisse Vorteile und die Haftungsmasse wird um das Vermögen der weiteren Beklagten vermehrt. Soweit allerdings der Schaden der Gesellschaft im Fall eines Obsiegens voraussichtlich von der D&O-Versicherung abgedeckt werden wird, scheint es andererseits häufig nicht sinnvoll, eine Vielzahl oder gar alle Vorstandsmitglieder zu verklagen. Da jedes Vorstandsmitglied Anspruch auf einen eigenen Rechtsanwalt hat und die Verteidigungskosten regelmäßig zu Lasten der Versicherungssumme gehen, würden hier unnötig Kosten generiert. Zu berücksichtigen ist zudem, dass ein erhebliches Interesse der Gesellschaft an der weiteren Zusammenarbeit mit bestimmten Vorständen bestehen kann; nach einer Klageerhebung wird dies häufig nicht mehr möglich sein. In vielen Fällen wird es also keinen Mehrwert bringen, alle Vorstandsmitglieder zu verklagen, gegen die ein Haftungsanspruch konstruierbar wäre, sondern sinnvoller sein, sich auf die direkt verantwortlichen Vorstandsmitglieder zu konzentrieren und bspw. solche Vorstandsmitglieder, denen ohnehin allenfalls die Verletzung einer Überwachungspflicht vorgeworfen werden kann, außen vor zu lassen. Andererseits gelten die oben dargelegten Grundsätze von ARAG/Garmenbeck für jedes einzelne Vorstandsmitglied. Der Aufsichtsrat ist daher gut beraten, die Grund___________ 1074) Fleischer, NZG 2003, 449, 452 f. 1075) MünchKomm-AktG/Spindler, § 93 Rn. 169 ff.; ausführlich auch Fleischer, NZG 2003, 449, 451 ff. 1076) Vgl. hierzu MünchKomm-AktG/Spindler, § 93 Rn. 183; a. A. Fleischer, NZG 2003, 449, 455.

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lagen seiner Entscheidung auch insoweit ausführlich und nachvollziehbar zu dokumentieren. 4. Bestimmung der einzuklagenden Schadenssumme und Ankereffekt Der der Gesellschaft entstandene Schaden ist gem. §§ 249 ff. BGB auf Grund- 710 lage der Differenzhypothese zu bestimmen. Die Gesellschaft ist also so zu stellen, als ob die schadensbegründende Pflichtverletzung nicht erfolgt wäre. In der Praxis wird von den Klägern beim Schaden aus naheliegenden Gründen häufig erheblich „vorgehalten“. Insbesondere im Bereich von (angeblichen) Folgeschäden sind der Fantasie oft keine Grenzen gesetzt. Die Theorie des „Ankereffekts“ spielt hier eine erhebliche Rolle. Hiernach dienen eingeforderte Schadensersatzsummen als Anker, von dem aus die tatsächlich im Urteil oder im Vergleich festgesetzte Schadensersatzsumme bestimmt wird.1077) Unzweifelhaft kann eine hohe Schadensersatzforderung auch tatsächlich erhebliche Verhandlungsvorteile bringen. Die klagenden Gesellschaften sollten jedoch andererseits nicht aus den Au- 711 gen verlieren, dass mit der Erhöhung des Streitwerts (bis zur Erreichung der Streitwertbemessungsgrenze von EUR 30 Mio.) nicht unerhebliche Mehrkosten verbunden sind; dies potenziert sich in vielen Organhaftungsfällen aufgrund der Vielzahl der Beteiligten. Diese Summe kann später für einen sinnvollen Vergleichsschluss als „wirtschaftliche Verhandlungsmasse“ fehlen. Auch sollte schon bei Klageerhebung berücksichtigt werden, dass einerseits deutsche Gerichte bei sehr hohen Klagesummen weiterhin sehr genau hinschauen und andererseits die meisten Verfahren letztlich doch durch Vergleich entschieden werden, nachdem eine erste gerichtliche Einschätzung vorliegt. In diesem Kontext kann die mit einer überhöhten Klagesumme eingenommene Position zu erheblichen Schwierigkeiten führen. Konkret gesprochen: Wenn der Aufsichtsrat der klagenden Gesellschaft „eigentlich“ EUR 10 Mio. Schadensersatz für gerechtfertigt hält, wird er sich unter Umständen gern und vernünftigerweise bei EUR 7 Mio. vergleichen. Wenn die Gesellschaft aber aufgrund des „Ankereffekts“ und „um vorzuhalten“ EUR 30 Mio. eingeklagt hat, steht der Aufsichtsrat nicht zuletzt aufgrund der hiermit verbundenen erheblichen Belastung durch Gerichts- und Anwaltskosten unter erheblichem Rechtfertigungsdruck, warum ein derart „magerer“ Vergleich geschlossen werden sollte. Gütliche Lösungen könnten so erschwert werden. 5. Klageschrift a) Darlegungs- und Beweislast Der Inhalt der Klageschrift ist durch die der geschädigten Gesellschaft güns- 712 tige Verteilung der Darlegungs- und Beweislast gem. § 93 Abs. 2 Satz 2 ___________ 1077) Vgl. Steinbeck/Lachenmeier, NJW 2014, 2086, 2088.

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AktG geprägt. Die Gesellschaft genügt ihrer Darlegungs- und Beweislast dabei grundsätzlich, wenn sie substantiiert vorträgt und unter Beweis stellt, dass ihr durch eine Handlung oder Unterlassung des in Anspruch genommenen Vorstandsmitglieds kausal ein Schaden entstanden ist.1078) Der Vorstand muss dann darlegen und beweisen, dass er die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters angewandt hat. Die Beweislast ist also zu Lasten des Vorstands umgekehrt;1079) diese Beweislastumkehr bezieht sich sowohl auf die objektive Pflichtverletzung als auch auf die subjektive Vorwerfbarkeit der Pflichtverletzung (Schuld).1080) Grundgedanke der gesetzlichen Regelung ist, dass der Vorstand im Fall von Schädigungen der Gesellschaft verpflichtet ist, sein Handeln vollumfänglich zu rechtfertigen, da „das jeweilige Organmitglied die Umstände seines Verhaltens und damit auch die Gesichtspunkte überschauen kann, die für die Beurteilung der Pflichtmäßigkeit seines Verhaltens sprechen, während die von ihm verwaltete Korporation in diesem Punkt immer in einer Beweisnot wäre (…)“.1081) 713 Das in Anspruch genommene Vorstandsmitglied ist vor einer Überspannung seiner Darlegungs- und Beweislast dadurch geschützt, dass die geschädigte Gesellschaft ein Verhalten des in Haftung genommenen Vorstandsmitglieds darlegen und beweisen muss, das sich als „möglicherweise pflichtwidrig“ darstellt.1082) 714 Auf den konkreten Fall bezogen funktioniert die Verteilung der Darlegungsund Beweislast somit wie folgt: Im Fall eines schädlichen Geschäftsabschlusses muss die Gesellschaft zunächst vortragen und unter Beweis stellen, dass der Vorstand das betreffende Geschäft abgeschlossen hat und dieses Geschäft zu einem Schaden der Gesellschaft geführt hat. Die Gesellschaft muss weiterhin Anhaltspunkte dafür vortragen, dass der Vorstand sich insoweit pflichtwidrig verhalten hat. Die Gesellschaft sollte dabei so substantiiert und konkret wie möglich vortragen, weil die Anforderungen an den Beklagtenvortrag aufgrund dieser Substantiierung entsprechend ansteigen. Je konkreter der Vorwurf, desto konkreter muss der Vorstand sich verteidigen. Am Beispiel eines wirtschaftlich nachteiligen Unternehmenskaufs: Die Gesellschaft kann sich nicht darauf beschränken vorzutragen, dass der Unternehmenskauf aufgrund einer Vorstandsentscheidung zustande kam und wirt___________ 1078) Vgl. Hüffer/Koch/Koch, AktG, § 93 Rn. 53 ff.; zur Darlegungs- und Beweislast der Gesellschaft bei Klärung der Innenhaftung des Geschäftsführers einer GmbH vgl. auch: Ultsch, Rn. 765. 1079) Zur Beweislastumkehr zu Lasten des Geschäftsführers bei der Klärung der Innenhaftung gegenüber der GmbH vgl. auch: Ultsch, Rn. 767. Zur Beweislast nach Versterben des Vorstandsmitglieds BGH NZG 2020, 110. 112. 1080) BGH NZG 2003, 81, 82 = ZIP 2002, 2314; Bayer, NJW 2014, 2546, 2548; BeckOGK/ Fleischer, AktG, § 93 Rn. 269; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, AktG, § 93 Rn. 111. 1081) BGH NJW 2003, 358 f. = ZIP 2002, 2314 f. 1082) BGH NZG 2014, 1058 = ZIP 2014, 1728 Tz. 33; BGH NZG 2013, 293, 294 = ZIP 2013, 455; Goette, ZGR 1995, 648, 671 ff.; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, AktG, § 93 Rn. 113 ff.

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schaftlich nachteilig war. Denn der Unternehmenskauf ist ein „wertneutrales“ Geschäft; der Abschluss eines Unternehmenskaufvertrags ist kein Indiz für eine mögliche Pflichtwidrigkeit des Vorstands. Auch die Tatsache, dass der Unternehmenskauf sich im Nachhinein als wirtschaftlich nachteilig herausstellt, erlaubt keinen Rückschluss auf eine Pflichtwidrigkeit des Vorstands. Wirft die Gesellschaft dem Vorstand – wie nicht ganz selten – recht pauschal vor, dass er den Unternehmenskauf nicht hinreichend vorbereitet habe, so kann der Vorstand sich wirksam verteidigen, indem er darlegt und beweist, dass er den üblichen Pflichtenkatalog bei Unternehmenskäufen abgearbeitet hat, also insbesondere eine Due-Diligence-Prüfung durchgeführt und die erforderlichen wirtschaftlichen Planungen aufgestellt hat. Will die Gesellschaft dem Vorstand aber vorwerfen, dass die Due-Diligence-Prüfung nicht sachgerecht war oder die Ergebnisse der Prüfung nicht hinreichend berücksichtigt wurden, so muss er entsprechende Vorwürfe konkret und substantiiert bezeichnen, um die beklagten Vorstände zu entsprechendem Gegenvortrag und Beweisantritt zu zwingen. Wird dem Vorstand eine durch Unterlassung begangene Pflichtverletzung vorgeworfen, so muss substantiiert dargelegt werden, welche konkreten Maßnahmen der Vorstand zu welchem Zeitpunkt hätte ergreifen müssen. Zu betonen ist, dass die Beweislastumkehr zu Lasten des beklagten Vor- 715 stands nur die Frage der Pflichtverletzung betrifft. Die Beweislast für den entstandenen Schaden und für die Kausalität der Pflichtverletzung für den Schaden verbleibt bei der klagenden Gesellschaft, wobei allerdings hinsichtlich des Beweismaßes die Erleichterungen des § 287 ZPO gelten. Dies gilt zunächst bereits für die Frage, ob der Gesellschaft durch die Pflichtverletzung ein Schaden entstanden ist. Im Hinblick auf die Schadenshöhe genügt es, wenn die Gesellschaft Tatsachen vorträgt und unter Beweis stellt, die für eine Schadensschätzung nach § 287 ZPO hinreichende Anhaltspunkte bieten.1083) b) Vortrag zu Pflichtverletzungen In der Praxis wird die Gesellschaft ausführlich zu den Umständen der Scha- 716 densentstehung vortragen und dem Vorstand in diesem Zusammenhang nach Möglichkeit mehrere Pflichtverletzungen vorwerfen. Diese Vorgehensweise hat ihren Grund zunächst sicherlich auch in der Hoffnung, dass das Gericht angesichts der Vielzahl der vorgeworfenen Pflichtverletzungen zumindest eine Pflicht tatsächlich als verletzt ansehen wird. Sie ist aber auch sachlich gerechtfertigt, weil zum einen tatsächlich gemachte Fehler sich häufig auf mehreren rechtlichen Ebenen als Pflichtverletzung auswirken und weil zum anderen ein einmal gemachter Fehler häufig Folgefehler nach sich zieht, die ihrerseits haftungsbegründend sind. Dementsprechend wird dem Vorstand bspw. in vielen Fällen vorgeworfen werden, dass er sowohl seine Pflicht zur ___________ 1083) BGH NZG 2013, 293 = ZIP 2013, 455 Tz. 14; BGH NZG 2003, 81, 83 = ZIP 2002, 2314 (betrifft Fall der Geschäftsführerhaftung).

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sorgfaltsgemäßen Amtsführung als auch seine Pflicht zur Überwachung der Mitarbeiter verletzt hat. Damit ist der Tatsache Rechnung getragen, dass häufig schwer zu klären ist, auf welcher Ebene der Fehler tatsächlich stattgefunden oder seinen Schwerpunkt hatte: der Vorstand hat dann eben selbst fehlerhaft gehandelt und/oder seine Mitarbeiter nicht hinreichend überwacht. 717 Soweit anwendbar, wird die Gesellschaft dem Vorstand auch die Verletzung seiner Legalitätspflicht vorwerfen. Angesichts der zunehmenden Verrechtlichung unternehmerischen Handelns stellen Pflichtverletzungen nicht selten gleichzeitig auch Normverletzungen dar. Hier kommen nicht nur Gesetzesverletzungen, sondern insbesondere auch Verstöße gegen die Satzung und die Geschäftsordnung für den Vorstand in Betracht (bspw. übersehene Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats, Überschreitung von Ressortgrenzen). Der Vorwurf der Verletzung der Legalitätspflicht ist ein besonders scharfes Schwert, weil mangels Anwendbarkeit eines unternehmerischen Ermessensspielraums die Pflichtverletzung praktisch bereits feststeht, so dass der Vorstand im Ergebnis einer Zufallshaftung ähnlich § 287 Satz 2 BGB unterliegt. Dies gilt auch bei Verstößen gegen Vorschriften, die auch Juristen (soweit nicht auf das entsprechende Rechtsgebiet spezialisiert) in aller Regel nicht kennen (bspw. umweltrechtliche oder arbeitsschutzrechtliche Spezialvorschriften), denn der Vorstand muss das Unternehmen so organisieren, dass sämtliche Rechtsvorschriften gewahrt werden.1084) c) Taktik 718 Es gibt im Grundsatz zwei verschiedene Vorgehensweisen: Entweder die klagende Gesellschaft bemüht sich, bereits in der Klageschrift sämtliche Vorwürfe möglichst ausführlich darzustellen und umfassend vorzutragen. Die Alternative besteht aufgrund der die Gesellschaft begünstigenden Verteilung der Darlegungs- und Beweislast in einer kürzeren Klageschrift, in der die möglichen Pflichtverletzungen des Vorstands eher pauschal dargestellt werden. 719 Beide Vorgehensweisen haben Vor- und Nachteile; auch wenn sich die Gesellschaft beim Vortrag zur Pflichtverletzung grundsätzlich auf die Behauptung eines möglicherweise pflichtwidrigen Verhaltens beschränken kann, wird sich in der Praxis ein Mittelweg empfehlen. Die Klageschrift sollte das Gericht in die Lage versetzen, mit überschaubarem Aufwand zu dem Ergebnis zu kommen, dass erhebliche Anhaltspunkte für eine Pflichtverletzung des Vorstands bestehen. Eine Klageschrift im Umfang mehrerer hundert Seiten und enormem Detaillierungsgrad wird dem häufig nicht gerecht werden; hier droht eher der erste Eindruck, das Schriftsatzvolumen und die komplizierte Begründung dienten allein zur Ablenkung davon, dass ein Anspruch in Wirklichkeit nicht besteht. Zudem ist eine übermäßig lange und komplizierte Kla___________ 1084) BGH NZG 2012, 992, 994 = ZIP 2012, 1552; MünchKomm-AktG/Spindler, § 93 Rn. 87.

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geschrift für den Gegner eine Einladung zu einer noch längeren Klageerwiderung und dem Einsatz eines „Nebelwerfers“; derart geführte Haftungsprozesse haben das Potential, die Grenze zur fehlenden Justiziabilität zu überschreiten. Umgekehrt wird auch ein allzu pauschaler Vortrag im offensichtlichen Vertrauen auf die Beweislastverteilung keinen guten Eindruck hinterlassen und möglicherweise suggerieren, der Schadensfall sei vor Klageerhebung nicht detailliert aufgearbeitet worden. Die entscheidenden haftungsbegründenden Argumentationslinien sollten in der Klageschrift deshalb unbedingt herausgearbeitet werden, um das Vorstandsmitglied zu einer detaillierten Erwiderung zu zwingen. Wenn wesentliche Vorwürfe erst in der Replik nachgeschoben werden, ist das unglücklich; es droht der Eindruck einer gewissen Beliebigkeit. Gleichzeitig kann es sinnvoll sein, bestimmten Detailvortrag zunächst außen vor zu lassen und dem Gericht erst als Gegenvortrag zur Klageerwiderung zu präsentieren. Hat das klagende Unternehmen bspw. festgestellt, dass ein wesentliches Ergebnis der Due-Diligence bei der Erstellung des Unternehmenskaufvertrags übersehen und nicht umgesetzt worden ist, so kann es taktisch sinnvoll sein, entsprechenden Vortrag für die Replik „aufzusparen“, um damit den zu erwartenden Vortrag des Vorstands, er habe eine Due Diligence beauftragt und diese sei sachgerecht durchgeführt worden, begegnen zu können. Dem Aspekt dürfte in der Replik erheblich mehr Aufmerksamkeit zukommen, als wenn er – in der Klageschrift vorgetragen – vom Vorstand in der Klageerwiderung retourniert wird. 6. Die Klageerwiderung a) Pflichtverletzung Aufgrund der Verteilung der Darlegungs- und Beweislast befinden sich die 720 beklagten Vorstände im Organhaftungsprozess stets in einer schwierigen Situation. Sie müssen darlegen und unter Beweis stellen, dass sie sich pflichtgemäß verhalten haben. Die Klageerwiderung sollte in einem ersten Schritt ausführlich darlegen, dass und wie der Vorstand sämtliche formalen Pflichten erfüllt hat, insbesondere die streitgegenständlichen Maßnahmen im Vorstand ausführlich diskutiert und sämtliche verfügbaren Informationen eingeholt, aus- und bewertet und der Entscheidung zugrunde gelegt wurden und dem Aufsichtsrat regelmäßig umfassend berichtet wurde. Sofern der Vorstand über einen längeren Zeitraum insgesamt erfolgreich agiert hat, sollte auch hierauf hingewiesen werden. Im zweiten Schritt sind die konkret erhobenen Vorwürfe im Detail zu widerlegen. Soweit die streitgegenständlichen Geschäfte dem Aufsichtsrat bekannt gemacht waren oder der Aufsichtsrat sogar zugestimmt hat, ist dies ausführlich darzulegen. Denn wenn Vorstand und Aufsichtsrat sich zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen Maßnahme (ggf. mit großer Mehrheit) einig waren, dass diese Maßnahme vernünftig und sachgerecht war, so schließt die Zustimmung des Aufsichtsrats die Haftung des Vorstands zwar nicht aus (§ 93 Abs. 4 Satz 2 AktG), es kann dann aber für einen Rückschaufehler (hindsight bias) sprechen, wenn dies im Nachhi-

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nein – nachdem die Sache schiefgegangen ist – plötzlich vom Aufsichtsrat anders beurteilt wird. Auch das grundsätzliche Problem des Rückschaufehlers sollte in entsprechenden Fällen offensiv thematisiert werden:1085) Der Eintritt eines Schadens ist rechtlich kein Indiz für das Vorliegen einer Pflichtverletzung; aber Menschen neigen dazu, die Sachrichtigkeit von Maßnahmen in Abhängigkeit von den ihnen bekannten Ergebnissen dieser Maßnahmen zu beurteilen. Dieser Gefahr müssen sich alle Beteiligten bewusst sein und die Beklagten sollten immer wieder darauf hinweisen, dass die Sachrichtigkeit ihrer Maßnahmen aus der allein maßgeblichen ex ante Perspektive, nicht aber ex post zu beurteilen ist („hinterher ist jeder schlauer“). Häufig stellt sich das Problem des Rückschaufehlers im Organhaftungsprozess in der Weise, dass im Nachhinein klar zu sein scheint, welche Maßnahme den Schaden verhindert hätte und die Unterlassung dieser Maßnahme sich daher vermeintlich ohne weiteres als pflichtwidrig darstellt. Sofern das Risiko, das sich verwirklicht hat, den Entscheidungsträgern bewusst war, sollte insoweit herausgearbeitet werden, welche anderen Maßnahmen zur Risikoabwehr getroffen worden sind und warum diese Maßnahmen ex ante hinreichend schienen. Sofern sich ein Risiko verwirklicht hat, dass den Entscheidungsträgern nicht bewusst war, muss aufgezeigt werden, warum das Risiko, das sich letztlich verwirklicht hat, ex ante nicht vorhersehbar war.1086) Es sollte herausgearbeitet werden, mit welchen Risiken man zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen Maßnahme tatsächlich rechnete und mit welchen Mitteln man sich um Absicherung bemühte. b) Business Judgement Rule 721 Soweit dem Vorstand fehlerhafte unternehmerische Entscheidungen vorgeworfen werden, wird die Berufung auf die Business Judgement Rule gem. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG regelmäßig die Hauptverteidigungslinie darstellen. Der Vorstand muss dann vortragen und beweisen, dass er „vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln.“1087) Dies ändert natürlich nichts daran, dass im ersten Schritt die klagende Gesellschaft eine Handlung oder Unterlassung des Vorstands darlegen muss, die sich als möglicherweise pflichtwidrig erweist.1088) 722 Hauptproblem wird hierbei oft sein, ob die eingeholten Informationen zutreffend und im Lichte der Entscheidung angemessen waren. Die Gerichte neigen insoweit zu großer Strenge. Der BGH formuliert, der Geschäftsleiter müsse „in der konkreten Entscheidungssituation alle verfügbaren Informations___________ 1085) Ausführlich dazu Lange, D&O Versicherung und Managerhaftung, § 2 Rn. 37 ff. 1086) Allgemein zu Techniken des „debiasing“ Steinbeck/Lachenmaier, NJW 2014, 2086, 2090 f. m. w. N. 1087) BGH NZG 2011, 549 = ZIP 2011, 766 Tz. 19 ff. 1088) Dies betont im Ausgangspunkt zu Recht Paefgen, NZG 2009, 891, 893 f.

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quellen tatsächlicher und rechtlicher Art ausschöpfen.“1089) Es liegt auf der Hand, dass Vorstände in aller Regel nicht „alle verfügbaren Informationsquellen tatsächlicher und rechtlicher Art“ ausschöpfen, weil dies zeitlich gar nicht machbar ist – Unmögliches kann aber von niemandem verlangt werden. Entscheidend ist, dass sich der Vorstand in der konkreten Situation vernünftig und angemessen informiert hat und annehmen durfte, dass die eingeholten Informationen hinreichend waren (so auch der klare Wortlaut von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG).1090) Es ist daher ausführlich darzulegen, welche Informationen der Vorstand eingeholt hat und warum er davon ausgehen durfte, dass die Einholung weiterer Informationen nicht erforderlich war. Es sollte erläutert werden, welches Zeitpensum für die Entscheidung zur Verfügung stand und woher ein etwaiger Zeitdruck bei der Entscheidungsfindung herrührte. c) Weitere Verteidigungslinien Soweit es dem Vorstand nicht gelingt, den Vorwurf der Pflichtverletzung zu 723 entkräften, bleibt ihm immer noch der Einwand mangelnden Verschuldens. Von hoher praktischer Bedeutung ist dieser Entlastungsgrund allerdings nicht, da im Aktienrecht (wie im gesamten Zivilrecht) ein objektiver Verschuldensmaßstab gilt, so dass objektive Pflichtverletzung und subjektives Vertretenmüssen (Verschulden) nahezu vollständig parallel laufen.1091) Relevant ist der Einwand mangelnden Verschuldens im Wesentlichen nur bei unvermeidbaren Irrtümern aufgrund qualifizierter Beratung. Zu denken ist etwa im Bereich der Legalitätspflicht an Rechtsirrtümer aufgrund der (falschen) Beratung durch die unternehmensinterne Rechtsabteilung oder einen externen Rechtsanwalt. Hier kann der Vorstand sich entlasten, wenn er sich „unter umfassender Darstellung der Verhältnisse der Gesellschaft und Offenlegung der erforderlichen Unterlagen von einem unabhängigen, für die zu klärende Frage fachlich qualifizierten Berufsträger beraten lässt und den erteilten Rechtsrat einer sorgfältigen Plausibilitätskontrolle unterzieht“.1092) Dabei ist es nicht zwingend erforderlich, dass der Vorstand einen Prüfauftrag ausdrücklich für die die Pflichtverletzung begründende Rechtsfrage gestellt hat; es genügt vielmehr, wenn der Vorstand aufgrund des Prüfungsauftrags davon ausgehen konnte, dass die relevante Rechtsfrage im Rahmen der Prüfung erfasst ist.1093)

___________ 1089) BGH NZG 2008, 751, 752 = ZIP 2008, 1675; s. a. BGH NJW 2013, 3636 Rn. 30; OLG Hamm AG 2016, 508, 509. 1090) Vgl. ausführlich MünchKomm-AktG/Spindler, § 93 Rn. 55 ff.; Grigoleit/Grigoleit/ Tomasic, AktG, § 93 Rn. 46 f. 1091) MünchKomm-AktG/Spindler, § 93 Rn. 198; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, AktG, § 93 Rn. 89. 1092) BGH NZG 2011, 1271 = ZIP 2011, 2097; BGH NZG 2015, 792, 794. Zur dogmatischen Einordnung und zum Streit um die „Legal Judgement Rule“ Hüffer/Koch/Koch, AktG, § 93 Rn. 19. 1093) BGH NZG 2015, 792, 794.

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724 Im Hinblick auf die Kausalität des Schadens liegt die Beweislast bei der klagenden Gesellschaft. Kann die Gesellschaft die Kausalität beweisen, so bleibt dem Beklagten der Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens. Dieser umfasst den Beweis, dass der Schaden auch bei pflichtgemäßem Verhalten tatsächlich herbeigeführt worden wäre; der Umstand, dass der Schaden auch bei rechtmäßigem Verhalten möglicherweise herbeigeführt worden wäre, genügt indes nicht. Zu beachten ist insoweit, dass der Verstoß gegen die innergesellschaftliche Kompetenzordnung wie bspw. die Verletzung eines Zustimmungsvorbehalts (§ 111 Abs. 4 Satz 2 AktG) allein nach neuerer Rechtsprechung noch keine Schadensersatzpflicht begründet.1094) Der Vorstand kann sich also entlasten, wenn er beweist, dass der eingetretene Schaden auch bei Beachtung der gesellschaftsinternen Kompetenzordnung eingetreten wäre. Bei Kollegialentscheidungen kann sich ein Vorstandsmitglied jedoch nicht damit entlasten, dass die pflichtwidrige Entscheidung auch ohne seine Zustimmung zustande gekommen wäre.1095) Selbst wenn er gegen eine Maßnahme gestimmt hat, bleibt der Vorwurf bestehen, keine weitergehenden Maßnahmen gegen die Durchsetzung des rechtswidrigen Beschlusses ergriffen zu haben (bspw. durch Information des Aufsichtsrats).1096) 725 Ist der klagenden Gesellschaft der Nachweis eines Schadens gelungen, so kann der Vorstand sich auf die Grundsätze der Vorteilsausgleichung berufen, wenn der Gesellschaft aus dem konkret haftungsbegründenden Verhalten auch Vorteile entstanden sind. So muss sich die Gesellschaft im Fall von unzulässigen Spekulationsgeschäften auf einen Schadensersatzanspruch wegen der entstandenen Verluste grundsätzlich die Gewinne anrechnen lassen, die aus gleichartigen unzulässigen Spekulationsgeschäften entstanden sind.1097) d) Informationsprobleme 726 Die aus der Beweislastverteilung gem. § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG folgenden Schwierigkeiten für den Vorstand potenzieren sich, wenn er zum Zeitpunkt der Haftungsklage aus der Gesellschaft ausgeschieden ist und keinen direkten Zugang mehr zu den Unterlagen der Gesellschaft hat.1098) Die Gesellschaft hat dem Vorstand dann jedoch Einsicht in sämtliche für die Beurteilung der Haftpflichtfrage erforderlichen Unterlagen zu gewähren.1099) Das ___________ 1094) BGH NZG 2008, 783 = ZIP 2008, 1818 Tz. 19; BGH NZG 2007, 185 = ZIP 2007, 268 Tz. 12; BGH ZIP 2018, 1923; Grobecker/Wagner, ZIP 2019, 694. 1095) BeckOGK/Fleischer, AktG, § 77 Rn. 34 ff.; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, AktG, § 93 Rn. 95. 1096) LG München I NZG 2014, 345, 348 = ZIP 2014, 570. 1097) BGH NJW 2013, 1958 (3. Leitsatz); kritisch zu dieser Rechtsprechung: Reiner, WuB 2015, 627; Illhardt/Scholz, DZWiR 2013, 512. 1098) Die Beweislastverteilung bleibt jedoch von dem Ausscheiden unberührt: vgl. statt aller MünchKomm-AktG/Spindler, § 93 Rn. 212. 1099) BGH NZG 2003, 81, 82 = ZIP 2002, 2314; MünchKomm-AktG/Spindler, § 93 Rn. 212; Freund, NZG 2015, 1419, 1420.

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Einsichtsrecht umfasst nach der Rechtsprechung allerdings nur die für die vorgeworfene Pflichtverletzung „maßgeblichen Unterlagen“.1100) Nicht vom Einsichtsrecht umfasst sollen hingegen Unterlagen sein, die erst nach dem Ausscheiden des Vorstands angefertigt oder eingeholt wurden, bspw. die Protokolle von Mitarbeiterbefragungen oder Berichte zu internen Ermittlungen.1101) Soweit sich das ausgeschiedene Gesellschaftsmitglied entsprechende Einsichtsrechte bei seinem Ausscheiden nicht vertraglich hat zusichern lassen, folgt der diesbezügliche Anspruch aus der allgemeinen (nachvertraglichen) Treuepflicht. Da aufgrund bloßer Einsicht in Dokumente eine sinnvolle Verteidigung nicht aufgebaut werden kann, muss das Unternehmen den Beklagten auf deren Wunsch auch Kopien der für die Verteidigung erforderlichen Dokumente zur Verfügung stellen oder es zumindest ermöglichen, dass entsprechende Kopien gefertigt werden.1102) Verstößt das Unternehmen gegen diese Pflicht, so kann es sich nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht mehr auf die Beweislastumkehr gem. § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG berufen. Außerdem kann der Beklagte in solchen Fällen gem. § 142 ZPO bzw. §§ 422 ff. ZPO vorgehen. Das Fehlen von Unterlagen kann andererseits nicht zu Lasten der Gesell- 727 schaft gehen, soweit diese deshalb nicht vorliegen, weil der beklagte Vorstand seine Dokumentationspflicht verletzt hat. Soweit die Gesellschaft entsprechende Vorwürfe erhebt, wird das Gericht über die Frage, warum bestimmte Unterlagen nicht vorliegen, nach den allgemeinen Regeln Beweis zu erheben und zu entscheiden haben. Insbesondere werden Zeugen dazu anzuhören sein, ob bestimmte Unterlagen (bspw. Vorstandsprotokolle) erstellt wurden, wie diese regelmäßig aufbewahrt wurden, ob sie zum Zeitpunkt des Ausscheidens des Vorstands noch vorhanden waren usw. Auch eine Parteivernehmung des beklagten Vorstands kommt dabei in Betracht. e) Abwehrstrategie bei mehreren Beklagten Jedes Vorstandsmitglied haftet nur für die Verletzung eigener Pflichten. Es 728 kommt also durchaus in Betracht, dass einzelne beklagte Vorstandsmitglieder haften, andere aber nicht. Insofern sind Interessengegensätze zwischen mehreren beklagten Vorstandsmitgliedern möglich. Bspw. mag ein nicht ressortzuständiges Vorstandsmitglied der Auffassung sein, es habe seine Überwachungspflicht nicht verletzt, weil es aufgrund der (sachlich falschen) Erläuterungen des ressortzuständigen Vorstandsmitglieds keinen Anlass zu entsprechenden Prüfungen gehabt habe. Ein entsprechender Sachverhalt kann zur Entlastung des nicht ressortverantwortlichen Vorstandsmitglieds führen, aber eine (weitere) Pflichtverletzung des ressortzuständigen Vorstandsmitglieds ___________ 1100) BGH NZG 2008, 834. 1101) Deilmann/Otte, BB 2011, 1291, 1293; Schmidt/Lutter/Krieger/Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rn. 44; MünchKomm-AktG/Spindler, § 93 Rn. 212. 1102) Grooterhorst, AG 2011, 389, 397; Werner, GmbHR 2013, 68, 72.

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durch Verletzung der Informationspflichten gegenüber den Vorstandskollegen begründen. Allgemeiner formuliert: Eine Verteidigung, die einem Vorstandsmitglied nutzt, kann für das andere Vorstandsmitglied durchaus ungünstig sein. 729 Andererseits spricht unter taktischen Gesichtspunkten viel dafür, dass mehrere beklagte Vorstände ihre Verteidigungsstrategie miteinander abstimmen. Wenn die beklagten Vorstände sich gegenseitig beschuldigen, wird dies in erster Linie der klagenden Gesellschaft in die Hände spielen. Dementsprechend ist die Abstimmung zwischen mehreren beklagten Vorständen bzw. deren Rechtsvertretern regelmäßig komplex und verlangt viel Fingerspitzengefühl. Die D&O-Versicherung spielt hier häufig eine wichtige Rolle als Vermittlerin. Dabei sollte allerdings nicht aus den Augen verloren werden, dass die D&O-Versicherung durchaus auch eigene Interessen verfolgt: Aus ihrer Sicht ist es irrelevant, ob ein Vorstandsmitglied oder mehrere Vorstandsmitglieder haften. Die Versicherung wird daher im Regelfall in erster Linie Interesse an einer Verteidigungsstrategie haben, die zu einer Klageabweisung zugunsten aller beklagten Vorstandsmitglieder führt; eine Strategie, die möglicherweise zur Klageabweisung gegen einen von mehreren Beklagten führt, aber gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung zumindest eines Beklagten erhöht, ist für die Versicherung ohne jedes Interesse. 730 Ein Patentrezept für den Umgang mit sich stellenden Problemen bei mehreren beklagten Vorständen gibt es nicht. Die richtige Strategie kann nur anhand des konkreten Einzelfalls entwickelt werden. Im Regelfall ist jedoch zu empfehlen, eine im Grundsatz einheitliche Verteidigungsstrategie mitzutragen und dabei jedoch genau darauf zu achten, dass die eigenen Interessen hierbei hinreichend berücksichtigt werden. Es gibt keine Verpflichtung, Vorwürfe einzuräumen oder unwidersprochen zu lassen, um andere Beklagte zu schonen, auch nicht als Obliegenheit gegenüber der D&O-Versicherung. 7. Gesamtschuld und Streitverkündung 731 Haben mehrere Vorstandsmitglieder ihre Pflichten verletzt, so haften sie der Gesellschaft gem. § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG als Gesamtschuldner gem. § 421 BGB.1103) In gleicher Weise haften Mitglieder des Vorstands und Mitglieder des Aufsichtsrats als Gesamtschuldner, wenn Mitglieder beider Organe ihre Pflichten verletzt haben.1104) In der Folge kann Vorstandsmitgliedern, die den Haftungsanspruch der geschädigten Gesellschaft erfüllen, gegen die mitverantwortlichen Organmitglieder ein Anspruch auf Gesamtschuldnerausgleich gem. § 426 Abs. 1 BGB und § 426 Abs. 2 Satz 1 BGB zustehen. Ob ein solcher Regressanspruch tatsächlich besteht, hängt von der internen Haf___________ 1103) BGH NZG 2008, 104, 105 = ZIP 2008, 117; Fischer, ZIP 2014, 406; zur gesamtschuldnerischen Haftung mehrerer Geschäftsführer einer GmbH vgl.: Ultsch, Rn. 825. Ausführlich Guntermann, AG 2017, 606. 1104) RGZ 159, 86 (zur Genossenschaft); Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, AktG, § 93 Rn. 100.

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tungsverteilung zwischen den Ersatzpflichtigen ab. Diese richtet sich nach dem Grad der jeweiligen Verantwortlichkeit (§ 254 BGB analog).1105) Den beklagten Organmitgliedern muss daher daran gelegen sein, ihre (poten- 732 ziellen) Regressansprüche gegen die (potenziell) Mitverantwortlichen zu sichern. Geeignetes Mittel ist insoweit die Streitverkündung gem. §§ 72 ff. ZPO, die gem. § 73 ZPO durch Zustellung eines entsprechenden Schriftsatzes an den Streitverkündungsempfänger erfolgt. Die Streitverkündung zur Sicherung des Gesamtschuldnerausgleichs ist zuläs- 733 sig gem. § 72 ZPO und führt die Nebeninterventionswirkung gem. §§ 74, 68 ZPO herbei;1106) der Streitverkündungsempfänger wird also in einem etwaigen Rechtsstreit über den Gesamtschuldnerausgleich mit dem Einwand nicht gehört, der Rechtsstreit, in dem der Streitverkünder verurteilt wurde, sei falsch entschieden worden (§§ 74 Abs. 1, 68 ZPO). Wichtig ist zudem, dass die Streitverkündung die ansonsten drohende Verjährung des Anspruchs gem. § 426 Abs. 1 BGB hemmt (§ 204 Abs. 1 Nr. 6 BGB); denn der Lauf der Verjährung des Ausgleichsanspruchs gem. § 426 Abs. 1 BGB soll kenntnisabhängig bereits mit der Fälligkeit des Hauptanspruchs beginnen und endet gem. § 195 Abs. 1 BGB nach Ablauf von drei Jahren.1107) Bei Beendigung des Haftungsprozesses wird der Ausgleichsanspruch gem. § 426 Abs. 1 BGB daher häufig bereits verjährt sein. Die Rückgriffsmöglichkeit über die Legalzession gem. § 426 Abs. 2 Satz 1 BGB bleibt zwar von der Verjährung des Anspruchs gem. § 426 Abs. 1 BGB unberührt,1108) die Legalzession hat aber ihre eigenen Risiken: Wenn der zedierte Anspruch gegen die unverklagten Organmitglieder nach jahrelangem Rechtsstreit verjährt ist, können die unverklagten Organmitglieder dies dem in Anspruch genommenen Organmitglied entgegenhalten.1109) Außerdem scheitert die Legalzession, wenn und soweit die Gesellschaft auf die betreffenden Ansprüche im Wege eines Vergleichs verzichtet hat.1110) Die Streitverkündung kann einerseits gegen nicht mitverklagte potenziell Mit- 734 verantwortliche gerichtet werden; sie ist aber auch zwischen mehreren Beklagten zulässig1111) und kann auch insoweit sinnvoll sein, um das Ergebnis des Rechtsstreits für den Regressprozess zu sichern. Die Wirkungen der Streitverkündung sind allerdings im praktischen Ergebnis 735 irrelevant, wenn die D&O-Versicherung den Haftungsanspruch der geschädigten Gesellschaft vollständig erfüllt. Die Streitverkündung bringt dann ___________ 1105) Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, AktG, § 93 Rn. 100; Hüffer/Koch/Koch, AktG, § 93 Rn. 57. 1106) Musielak/Voit/Weth, ZPO, § 72 Rn. 6; zur Streitverkündung unter Mitgeschäftsführern einer GmbH vgl. auch: Ultsch, Rn. 840. 1107) BGH NJW 2010, 60 = ZIP 2009, 1821; MünchKomm-BGB/Heinemeyer, § 426 Rn. 25. 1108) MünchKomm-BGB/Heinemeyer, § 426 Rn. 25; OLG München OLGR 2009, 673. 1109) Fischer, ZIP 2014, 406, 407. 1110) Fischer, ZIP 2014, 406, 408. 1111) Musielak/Voit/Weth, ZPO, § 72 Rn. 7.

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auch keinen „moralischen“ Vorteil im Sinne einer gerichtlichen Feststellung der Mitverantwortung der Streitverkündungsempfänger, weil im Hauptprozess nicht darüber entschieden wird, ob und in welchem Umfang (auch) der Streitverkündungsempfänger seine Pflichten verletzt hat. 736 Jedenfalls in Fällen, in denen keine Sicherheit darüber besteht, ob die D&OVersicherung vollständig zahlen wird (bspw. weil die Deckungssumme nicht ausreicht oder Haftungsausschlüsse zu greifen drohen), ist in der Regel jedoch zu empfehlen, potenzielle Regressansprüche abzusichern. Ob insoweit jedoch die Streitverkündung das richtige Mittel der Wahl ist oder vertragliche Lösungen vorzuziehen sind, bedarf stets sorgfältiger Prüfung. 737 Zu bedenken ist zunächst, dass mit einer Streitverkündung bei hohem Streitwert enorme Kosten verbunden sind, da auch der Rechtsanwalt des Streitverkündungsempfängers im Fall des Streitbeitritts mindestens die RVG-Gebühr abrechnen muss. Bei einem Streitwert von EUR 30 Mio. fallen bereits erstinstanzlich Anwaltskosten in Höhe von ca. EUR 300.000 an. Bei mehreren Streitverkündungsempfängern und mehreren Instanzen potenziert sich der Betrag entsprechend. Da die Streitverkündungsempfänger regelmäßig auch dem Deckungsschutz der D&O-Versicherung unterfallen, werden deren Kosten im Rahmen des Abwehrschutzes ebenfalls von der D&O-Versicherung getragen und mindern dementsprechend die Versicherungssumme. Die insoweit aufgewendeten Beträge können also später für eine vollständige Befriedigung der geschädigten Gesellschaft oder auch für einen sinnvollen Vergleichsschluss fehlen. Dies gilt noch verstärkt, wenn die Streitverkündungsempfänger ihrerseits noch weiteren Organmitgliedern (z. B. das streitverkündete Vorstandsmitglied dem Aufsichtsrat) den Streit verkünden (§ 72 Abs. 2 ZPO). Dieser Mechanismus wird mitunter zu regelrechten chicken games im Sinne der Spieltheorie genutzt, wenn bspw. der Aufsichtsratsvorsitzende droht, im Fall einer Streitverkündung gegenüber seiner Person werde er sämtlichen bisher noch nicht verklagten Organmitgliedern den Streit verkünden und so die Deckungssumme zugunsten des ursprünglich verklagten Vorstandsmitglieds reduzieren. 738 Zu bedenken ist weiterhin, dass nach bislang herrschender Meinung dem in erster Linie ressortverantwortlichen Vorstandsmitglied grundsätzlich kein Regressanspruch gegen mitverantwortliche andere Organmitglieder zustehen soll, die lediglich ihre Überwachungspflicht verletzt haben.1112) Insbesondere Regressansprüche von Vorständen gegen Aufsichtsratsmitglieder kommen danach nur in Betracht, soweit der Aufsichtsrat nicht nur überwachend, sondern auch selbst unternehmerisch tätig geworden ist; dies ist insbesondere anzunehmen, wenn der Aufsichtsrat der streitgegenständlichen Maßnahme im Rahmen eines Zustimmungsvorbehalts (§ 111 Abs. 4 Satz 2 AktG) zugestimmt oder den Vorstand pflichtwidrig zu dieser Maßnahme veranlasst hat. Es ist zwar zu bezweifeln, ob diese Auffassung in ihrer Pauschalität für das ___________ 1112) Hölters/Hölters, AktG, § 93 Rn. 245; BeckOGK/Fleischer, AktG, § 93 Rn. 315.

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Recht der Organhaftung zutrifft. Denn der Aufsichtsrat schuldet nicht nur Überwachung, sondern auch Beratung. Wenn die streitgegenständlichen Maßnahmen dem Aufsichtsrat bekannt waren und von diesem (auch ohne formale Zustimmung) mitgetragen wurden, sollte die Mitverantwortung des Aufsichtsrats nicht per se ausgeschlossen werden, sondern aufgrund einer Analyse des konkreten Einzelfalls beurteilt werden. Jedoch muss bei einer Streitverkündung an nicht ressortverantwortliche Vorstandskollegen und an Aufsichtsratsmitglieder stets bedacht werden, dass nach herrschender Meinung im Fall bloßen Überwachungsverschuldens ein Regress ausscheidet und die Streitverkündung somit zwar zulässig, aber im Ergebnis nutzlos wäre. Häufig dient die Streitverkündung nicht nur oder nicht einmal vorrangig der 739 Vorbereitung des Gesamtschuldnerausgleichs, sondern vor allem auch taktischen Zwecken. Dies gilt insbesondere, wenn der Aufsichtsrat, der die Klageerhebung gegen den Vorstand veranlasst hat, bereits zum Zeitpunkt der (behaupteten) Pflichtverletzung des Vorstands im Amt war. Der latente Interessenkonflikt des Aufsichtsrats im Hinblick auf meist nicht auszuschließende eigene Pflichtverletzungen wird aufgedeckt und ins Bewusstsein aller Beteiligten (nicht zuletzt der interessierten Öffentlichkeit) gehoben. Der beklagte Vorstand, der auch einen Ruf zu verteidigen hat, wird zumindest für den Augenblick und „gefühlt“ vom Gejagten zum Jäger. Ob durch die Streitverkündung die Bereitschaft des Aufsichtsrats zu einem für den Vorstand schonenden Vergleich gesteigert wird oder sich die Fronten weiter verhärten, ist eine im Wesentlichen psychologische Frage; dies wird sich in der Regel nur schwer vorhersagen lassen. Auch wird sich das entsprechende Aufsichtsratsmitglied an einer späteren Abstimmung im Aufsichtsrat über einen möglichen Vergleichsschluss wegen des sich dann manifestierenden Interessenkonflikts nicht mehr beteiligen können. Jedenfalls gerät auch die D&O-Versicherung mit jeder zusätzlichen Streitverkündung weiter unter Druck, weil die Abwehrkosten steigen. Insofern mag anzunehmen sein, dass die Drohung mit einer Vielzahl von Streitverkündungen die Vergleichsbereitschaft von Aufsichtsrat und D&O-Versicherung erhöhen kann. Dieser Effekt kann sich jedoch in sein Gegenteil verkehren, sobald die (angedrohten) Streitverkündungen tatsächlich erklärt und die entsprechenden Rechtsanwaltskosten angefallen sind, weil die entsprechenden Beträge dann bereits verbraucht sind und nicht mehr für den Vergleich zur Verfügung stehen. Als (kostenschonendere) Alternative zur Streitverkündung können vertragliche 740 Vereinbarungen der Beklagten mit den nicht mitverklagten Organen in Betracht gezogen werden, in denen letztere für einen bestimmten Zeitraum auf den Einwand der Verjährung verzichten und sich verpflichten, die Ergebnisse des Vorprozesses für einen etwaigen Regressprozess analog zur Streitverkündung zu akzeptieren (sog. Streitverkündungsvereinbarungen).1113) Im ___________ 1113) Solche Vereinbarungen sind üblich; Einzelheiten hierzu sind in Rechtsprechung und Literatur bisher nicht geklärt.

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Gegenzug wird in der Regel vereinbart, dass die nicht mitverklagten Vorstände über den Stand des Haftungsprozesses zumindest vollständig informiert werden. Diese Lösung ist zwar nicht ideal, weil die nicht verklagten Organe an die Ergebnisse des Haftungsprozesses gebunden werden, ohne selbst hieran beteiligt zu sein. Das hiermit verbundene Risiko kann aber im konkreten Fall akzeptabel sein, weil einerseits damit zu rechnen ist, dass die beklagten Vorstände und die D&O-Versicherung alles unternehmen werden, um sich gegen den geltend gemachten Anspruch zu verteidigen, und weil andererseits Vorrausetzung der Haftung jedes einzelnen Organmitglieds eine eigene Pflichtverletzung ist und über diese erst im Regressprozess entschieden wird. Darüber hinaus erlangt das betroffene Organmitglied über seine Informationsrechte ausreichende Transparenz zum Verfahrensstand, um bei Interesse ggf. nach Aufkündigung der Streitverkündungsvereinbarung dem Organhaftungsprozess als Nebenintervenient beizutreten. Schwächere Alternative zur vollständigen vertraglichen Abbildung der Streitverkündung ist die Vereinbarung eines bloßen Verjährungsverzichts. 8. Vergleich a) Formale Anforderungen an Vergleiche in Organhaftungsfällen 741 Fälle der Vorstandshaftung werden in der Praxis oft durch Vergleich entschieden. Die Gesellschaft wird auch insoweit durch den Aufsichtsrat vertreten (§ 112 AktG); dies gilt auch, nachdem das Vorstandsmitglied ausgeschieden ist.1114) Betrifft der Vergleich nur das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Vorstand, so spricht man von einem Haftungsvergleich. Regelt der Vergleich auch die Deckung der Schäden durch die D&O-Versicherung, so spricht man von einem Deckungs- und Haftungsvergleich.1115) Auch „reine“ Haftungsvergleiche sollten aber mit der D&O-Versicherung abgestimmt und nur mit Zustimmung der D&O-Versicherung und bei Vorliegen entsprechender Deckungszusagen geschlossen werden, da ansonsten die Verweigerung der Leistung durch die Versicherung droht.1116) 742 Gem. § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG dürfen Vergleiche über Schadensersatzansprüche gegen Vorstandsmitglieder erst geschlossen werden, wenn seit der Entstehung des Anspruchs drei Jahre vergangen sind.1117) Erforderlich ist gem. § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG außerdem, dass die Hauptversammlung dem Vergleich zustimmt; die Zustimmung gilt als nicht erteilt, wenn eine Minderheit mit Anteilen in Höhe von 10 % des Grundkapitals in der Hauptversammlung Widerspruch zur Niederschrift erklärt. Vergleiche, die gegen § 93 ___________ 1114) BGH NZG 2009, 466. 1115) Lange, D&O Versicherung und Managerhaftung, § 19, Rn. 1. 1116) Lange, D&O Versicherung und Managerhaftung, § 19, Rn. 26; Dietz-Vellmer, NZG 2011, 248, 253. 1117) Dies soll auch für Schiedsgutachterabreden gelten, OLG München BeckRS 2018, 20331.

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Abs. 4 Satz 3 AktG verstoßen, sind nichtig; dies gilt selbst für Prozessvergleiche. Die Dreijahresfrist gem. § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG soll verhindern, dass Vergleiche voreilig geschlossen werden, bevor der Gesellschaft und der Hauptversammlung das konkrete Ausmaß des Schadens vollständig klar ist. Sowohl der Vergleichsabschluss durch den Aufsichtsrat als auch die Zustimmung durch die Hauptversammlung dürfen daher erst nach Ablauf der Dreijahresfrist erfolgen. Der Vergleich kann also nicht etwa schon früher geschlossen werden mit der Maßgabe, dass die Zustimmung durch die Hauptversammlung erst nach Fristablauf eingeholt wird. Für die Praxis ist § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG eine problematische Regelung, weil gerade in Organhaftungsfällen eine zügige Bereinigung im Interesse aller Beteiligten liegt.1118) Abhilfe soll dadurch geschaffen werden können, dass die Gesellschaft den Haftungsanspruch gegen den Vorstand an die D&O-Versicherung verkauft, wobei die ausgehandelte Vergleichszahlung der Versicherung rechtstechnisch zum Kaufpreis wird. Für solche Geschäfte soll § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG nicht gelten.1119) Gem. § 124 Abs. 2 Satz 2 AktG ist der wesentliche Inhalt des Vergleichs mit 743 der Einberufung der Hauptversammlung, die hierüber entscheiden soll, bekannt zu machen. Außerdem sollte ein (freiwilliger) Bericht über die Hintergründe des Vergleichs vorgelegt werden. Darin sollte insbesondere auch erläutert werden, warum der Vergleich und der damit verbundene teilweise Verzicht auf Ansprüche sachgerecht ist.1120) b) Pflichten des Aufsichtsrats beim Vergleichsschluss Die Entscheidung über den Vergleichsschluss ist eine unternehmerische Ent- 744 scheidung des Aufsichtsrates. Es gelten die Grundsätze der Business Judgement Rule.1121) Da Vergleiche im Wege gegenseitigen Nachgebens zustande kommen (§ 779 BGB), ist mit ihnen regelmäßig ein teilweiser Anspruchsverzicht verbunden. Zu einem solchen Verzicht ist der Aufsichtsrat auch unter Berücksichtigung der Business Judgement Rule nur berechtigt, wenn er im Unternehmensinteresse liegt. Eine nicht im Unternehmensinteresse liegende „altruistische“ Schonung von Vorstandsmitgliedern kommt nur ausnahmsweise in Betracht. Diese Grundaussage der ARAG/Garmenbeck-Doktrin gilt auch für die Vorbereitung und den Abschluss eines Vergleichs.1122) Für den Aufsichtsrat ist daher beim Vergleichsschluss erhöhte Sorgfalt geboten. Dies gilt umso mehr, wenn der Aufsichtsrat bereits zum Zeitpunkt der haftungs___________ 1118) Der 71. Deutsche Juristentag hat die Streichung der Vorschrift empfohlen, DJT, Beschlüsse der Abteilung Wirtschaftsrecht des 70. DJT 2014, I. 7 a). 1119) Lange, in: D&O Versicherung und Managerhaftung, § 19 Rn. 53 ff.; wohl a. A. für den Fall der Umgehung Hüffer/Koch/Koch, AktG, § 93 Rn. 77. 1120) Dietz-Vellmer, NZG 2011, 248, 250. 1121) Dietz-Vellmer, NZG 2011, 248, 251; einschränkend Grigoleit, in: Fleischer, III.5 b. Die Frage ist höchstrichterlich noch nicht entschieden. 1122) So auch Grigoleit, in: Fleischer, III.5 b.

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begründenden Pflichtverletzung im Amt war und eigene Pflichtverletzungen des Aufsichtsrats im Raum stehen. Denn dann liegt ein Interessenkonflikt nahe, der sich mit einer möglichen Streitverkündung des Vorstands nochmals verstärkt. Dem Aufsichtsrat oder einem seiner Mitglieder könnte in diesem Szenario nämlich unterstellt werden, er habe sich beim Vergleichsschluss von seinem eigenen Erledigungsinteresse leiten lassen; die Anwendbarkeit der Business Judgement Rule steht dann in Frage. 745 Weniger problematisch sind in diesem Zusammenhang Vergleiche, bei denen die Vergleichszahlung von der D&O-Versicherung abgedeckt wird; solche Vergleiche beruhen in aller Regel auf einer fundierten Einschätzung aller mit der streitigen Durchsetzung der Ansprüche verbundenen Chancen und Risiken und sind das Ergebnis intensiver Verhandlungen; für sachwidrige „Geschenke“ des Aufsichtsrates an die D&O-Versicherung werden in solchen Fällen Anhaltspunkte regelmäßig fehlen. Dies gilt aber auf Grundlage der derzeitigen Rechtsprechung nicht für die (teilweise) Verschonung der haftenden Vorstandsmitglieder in Fällen, in denen die D&O-Versicherung nicht greift oder die Deckungssumme nicht ausreicht. Hier muss sorgfältig begründet werden, warum eine teilweise Verschonung des Vorstands dem Unternehmenswohl dient. Ein wichtiges Argument kann dabei vor allem bei Haftungs- und Deckungsvergleichen darin bestehen, dass die drohende Fortführung des Rechtstreits über Jahre aufgrund der damit verbundenen Abwehrkosten den Haftungsanteil der D&O-Versicherung zu dezimieren droht und das Unternehmen über diese Zeit in den negativen Schlagzeilen bleiben würde. Ergänzend mag in Anlehnung an die in ARAG/Garmenbeck angedeutete dritte Prüfungsstufe auf etwaige Verdienste der betroffenen Vorstände und die drohende Vernichtung deren wirtschaftlicher Existenz hingewiesen werden. 746 Soweit die Verschonung von Vorstandsmitgliedern nicht als im Unternehmenswohl liegend gerechtfertigt werden kann, ist sie für die Mitglieder des Aufsichtsrats mit hohen eigenen Haftungsrisiken belastet. Den Aufsichtsräten droht in Höhe des nicht durchgesetzten Schadensbetrages, soweit dieser bei den Vorständen realisierbar gewesen wäre, eine eigene Haftung. Die Haftungsbefreiung gem. § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG könnte hier helfen, weil der Vergleich mit den Vorständen gem. § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG nur wirksam wird, wenn die Hauptversammlung zustimmt. § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG soll jedoch für den Aufsichtsrat nicht gelten, weil der Aufsichtsrat im Gegensatz zum Vorstand an Beschlüsse der Hauptversammlung nicht gebunden ist. c) Gesamtwirkung des Vergleichs vereinbaren! 747 Angesichts der in Organhaftungsfällen stets möglichen Gesamtschuld mehrerer Organmitglieder ist bei Vergleichen insbesondere aus Sicht des haftpflichtigen Vorstands unbedingt darauf zu achten, dass eine Gesamtwirkung oder zumindest eine beschränkte Gesamtwirkung des Vergleichs wirksam vereinbart wird. Denn wegen der Wertung des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG hat 244

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ein Vergleich mit einem Gesamtschuldner im Regelfall keine Gesamtwirkung gem. § 423 BGB, sondern nur Einzelwirkung gegenüber dem in die Haftung genommenen Vorstandsmitglied.1123) Die Gesellschaft könnte in diesem Fall weiterhin gegen die übrigen haftpflichtigen Organe vorgehen und der vergleichsschließende Vorstand von diesen weiteren haftpflichtigen Organen auf Gesamtschuldnerausgleich in Anspruch genommen werden.1124) Der Vergleich muss daher entweder vorsehen, dass der über die Vergleichssumme hinausgehende Teil der Haftungsansprüche der Gesellschaft zugunsten aller (potenziellen) Gesamtschuldner gilt („Gesamtwirkung“) oder aber zumindest, dass die Gesellschaft gegen andere (potenzielle) Gesamtschuldner nur insoweit vorgehen darf, als diese keinen Anspruch auf Gesamtschuldnerausgleich gegen den vergleichsschließenden Vorstand nehmen können („beschränkte Gesamtwirkung“). d) Vergleichsschluss als geldwerter Vorteil Wichtig ist zudem, dass der mit dem Vergleich verbundene Forderungserlass 748 zugunsten des Vorstands unter Umständen als zu versteuernder geldwerter Vorteil angesehen werden kann. Es wird daher geraten, im Vergleich vorzusehen, dass die Gesellschaft den haftpflichtigen Vorstand von etwaigen steuerlichen Belastungen durch den Vergleich freistellt.1125) III. Außenhaftung des Vorstands Von der vorstehend dargestellten Innenhaftung des Vorstands ist die Au- 749 ßenhaftung gegenüber Aktionären und Dritten zu unterscheiden. Die Außenhaftung des Vorstands stellt in der Organhaftungspraxis eine Ausnahme dar. Es gilt der Grundsatz der Haftungskanalisierung, wonach der Vermögensschutz von Aktionären und Dritten über das Gesellschaftsvermögen zu realisieren ist. Die Innenhaftung geht daher im Regelfall vor, insbesondere Aktionäre und Dritte können keine Ansprüche aus einer Verletzung der Geschäftsleiterpflichten gem. § 93 AktG herleiten; § 93 AktG ist kein Schutzgesetz i. S. v. § 823 Abs. 2 BGB.1126) Neben der allgemeinen deliktsrechtlichen Haftung von Vorstandsmitgliedern nach §§ 823 Abs. 1, 823 Abs. 2 und 826 BGB, erkennt das AktG allerdings in bestimmten Fällen auch den Aktionären und/oder dritten Gläubigern ein eigenes Verfolgungsrecht zu (vgl. §§ 147, 148, 309 Abs. 4 AktG). Der in der Praxis wichtigste und häufigste Fall der Außenhaftung ist die Haf- 750 tung wegen schuldhafter Verletzung der Insolvenzantragspflicht gem. § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO. Ebenfalls im Zusammenhang mit Insolvenzen ___________ 1123) Bayer/Scholz, ZGR 2016, 619, 635 ff.; Guntermann, AG 2017, 606, 611; vgl. zur Auslegung der Gesamtwirkung auch: BGH NJW 2012, 1071. 1124) Lange, D&O Versicherung und Managerhaftung, § 19 Rn. 11 ff. 1125) Lange, D&O Versicherung und Managerhaftung, § 19 Rn. 43. 1126) BGH NJW 2012, 3439.

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wird nicht selten auch die Haftung wegen Verstoßes gegen das Verbot von Zahlungen nach Insolvenzreife (§ 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 92 Abs. 2 AktG) und wegen Nichtabführung von Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung (§ 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 266a Abs. 1 StGB1127) relevant. Bedeutsam ist zudem die Haftung wegen fehlerhafter Kapitalmarktinformationen (gestützt auf § 826 BGB) und wegen Nichterfüllung steuerlicher Pflichten (§ 69 AO) und die persönliche Haftung wegen Verkehrspflichtverletzungen der Gesellschaft, soweit diese auf der mangelhaften Organisation und Leitung des Unternehmens beruhen.1128) Im vertragsrechtlichen Bereich droht den Vorstandsmitgliedern nur höchst ausnahmsweise die Haftung aus culpa in contrahendo gem. §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 3 BGB, wenn sie in besonderer Weise persönliches Vertrauen in Anspruch nehmen und der geschädigte Vertragspartner das Geschäft gerade deshalb abschließt.1129) 751 In der Praxis bildet die persönliche Inanspruchnahme der Vorstände durch Dritte und Aktionäre außerhalb der Insolvenz auch dann die Ausnahme, wenn sie theoretisch möglich wäre. In Fällen, in denen eine solche Inanspruchnahme des Vorstands in Betracht käme, haftet die Gesellschaft im Regelfall auch selbst unmittelbar (§ 31 BGB) und wird der naheliegendere und solventere Klagegegner sein. Bei gegen die Gesellschaft gerichteten Klagen kann die gleichzeitige Inanspruchnahme von Mitgliedern des Vorstands allerdings durchaus ein geeignetes taktisches Mittel sein, um insgesamt den Druck zu erhöhen. In den USA scheint das gängige Praxis zu sein. 752 Regelmäßig wird in Fällen der Außenhaftung gleichzeitig auch ein Innenhaftungsanspruch der Gesellschaft gegen das betreffende Vorstandsmitglied bestehen, weil der Vorstand aufgrund der Legalitätspflicht für die Rechtmäßigkeit des Handelns der Gesellschaft verantwortlich ist. Die Gesellschaft kann und muss aufgrund der ARAG/Garmenbeck-Grundsätze daher Regress bei den verantwortlichen Vorstandsmitgliedern nehmen, wenn sie zur Zahlung verurteilt wird. Zur Sicherung des Regressanspruchs hat die in Haftung genommene Gesellschaft eine Streitverkündung gegenüber den verantwortlichen Vorstandsmitgliedern oder jedenfalls den Abschluss einer Streitverkündungsvereinbarung mit diesen zu erwägen.1130) Eine solche Streitverkündung wird einerseits „rein juristisch“ im Regelfall geboten sein, kann aber unter taktischen Gesichtspunkten durchaus unglücklich sein, weil ein Keil zwischen Vorstand und Gesellschaft getrieben und dies nach außen hin dokumentiert wird. Ist der Vorstand ohnehin schon mitverklagt und somit am Prozess beteiligt, wird eine Streitverkündung eher in Betracht kommen. Andernfalls sollten unter Einbezug der D&O-Versicherung eher vertragliche Lösungen gesucht werden, um die Wirkungen der Streitverkündung abzubilden. ___________ 1127) BGH ZIP 2011, 422, 424. 1128) BGH NJW 1990, 976, 977 f. = ZIP 1990, 35. 1129) BGH DStR 2002, 1275 f. = ZIP 2002, 1771; Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, AktG, § 93 Rn. 162. 1130) Ausführlich dazu Schwab, NZG 2013, 521.

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IV. Haftung des Aufsichtsrats 1. Innenhaftung Auch die Mitglieder des Aufsichtsrats haften der Gesellschaft für die Wahrung 753 der erforderlichen Sorgfalt; § 116 AktG verweist ausdrücklich auf § 93 AktG. Pflichtverletzungen kommen einerseits im Rahmen der geschuldeten Überwachung des Vorstands, insbesondere bei der Zustimmung zu zustimmungspflichtigen Geschäften, in Betracht. Darüber hinaus sind Pflichtverletzungen im Bereich der Personalmaßnahmen möglich, so wenn der Aufsichtsrat die erforderliche Abberufung eines Vorstands unterlässt oder ein offensichtlich ungeeignetes Vorstandsmitglied beruft. § 116 Satz 2 AktG bestimmt ausdrücklich, dass der Aufsichtsrat bei Festsetzung einer unangemessenen Vorstandsvergütung haftet. In der Unternehmenskrise muss der Aufsichtsrat tätig werden, wenn der Vorstand die Stellung eines erforderlichen Insolvenzantrags unterlässt, und sich selbst ein genaues Bild von der wirtschaftlichen Situation der Gesellschaft machen.1131) Besonders haftungsträchtig ist außerdem die Unterlassung der Durchsetzung von gegen Vorstandsmitglieder bestehenden Schadensersatzansprüchen;1132) dies ist oben ausführlich dargelegt worden. Zuständig für die Durchsetzung der gegen den Aufsichtsrat bestehenden In- 754 nenhaftungsansprüche ist der Vorstand der Gesellschaft. Der Vorstand wird Ansprüche gegen den zeitgleich im Amt befindlichen Aufsichtsrat indes kaum je geltend machen, weil sich in aller Regel die vorrangige eigene Haftung des Vorstands aufdrängen würde. Praktisch kommt die Inhaftungnahme des Aufsichtsrats deshalb entweder gegen bereits ausgeschiedene Aufsichtsratsmitglieder oder durch einen neuen Vorstand für vor seinem Amtsantritt liegende Pflichtverletzungen sowie durch den Insolvenzverwalter in Betracht. Für die Einzelheiten des Haftungsanspruchs kann auf die obigen Ausführun- 755 gen zur Vorstandshaftung verwiesen werden.1133) Es gilt ebenfalls die Beweislastumkehr gem. § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG. Im Bereich unternehmerischer Entscheidungen kann auch der Aufsichtsrat sich auf die Business Judgement Rule berufen. Jedes Aufsichtsratsmitglied haftet nur für eigene Pflichtverletzungen. Eine Delegation von Aufgaben auf Ausschüsse ist möglich; für Pflichtverletzungen der gebildeten Ausschüsse haften die übrigen Aufsichtsratsmitglieder nur, wenn sich Zweifel an der Ordnungsmäßigkeit der Ausschusstätigkeit aufdrängen mussten. Soweit mehrere Aufsichtsratsmitglieder ihre Pflichten verletzt haben, haften sie als Gesamtschuldner. Ebenso haften Vorstandsmitglieder und Aufsichtsratsmitglieder als Gesamtschuldner, wobei im Fall bloßen Überwachungsverschuldens der Haftungsanteil der Aufsichtsratsmitglieder im Innenverhältnis Null betragen soll.1134) ___________ 1131) BGH NJW 2009, 2454 = ZIP 2009, 860. 1132) BGH ZIP 2018, 2117. 1133) Siehe oben II Rn. 688 ff. 1134) Siehe oben II 7 Rn. 738.

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2. Außenhaftung 756 Auch eine Außenhaftung des Aufsichtsrats gegenüber Aktionären und Dritten ist möglich, allerdings selten, weil die Tätigkeit des Aufsichtsrats nicht nach außen, sondern nach innen gerichtet ist (Überwachung und Beratung des Vorstands). Praktisch relevant sind vor allem Fälle der Teilnahme an deliktischem Handeln des Vorstands (bspw. Insolvenzverschleppung, Anlagebetrug). Auf die Ausführungen zur Außenhaftung des Vorstands wird verwiesen. C. Organhaftung GmbH: Die Innenhaftung des GmbH-Geschäftsführers Michael L. Ultsch

757 Darf ein Geschäftsleiter eine Festschrift auf Unternehmenskosten herstellen lassen, wenn darin weder das von ihm geleitete Unternehmen noch verdiente Manager des Unternehmens selbst geehrt werden, sondern ein langjähriger Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzender eines ganz anderen Unternehmens und es sich bei dem Geehrten um den Entdecker, Förderer und Mentor des Geschäftsleiters handelt? Diese Frage stellt sich umso mehr, wenn die Festschrift üppig ausgestattet ist, mitsamt den Einladungsschreiben für ein zugehöriges Symposium EUR 179.437,70 kostet und die Festschrift keinerlei Werbewirkung für das vom Geschäftsleiter geführte Unternehmen entfaltet, insbesondere wenn der Geschäftsleiter sich eigenmächtig über eine Zustimmungspflicht der Gesamtgeschäftsleitung bei Spenden von über EUR 5.000 hinwegsetzt.1135) 758 Breuer1136), von Pierer1137), Middelhoff1138), Neubürger,1139) Funke1140). Die Haftung von Unternehmensleitern steht nicht mehr nur auf dem Papier. Und „Beißhemmungen“1141) nehmen auch immer mehr ab.1142) Von besonderer Be___________ 1135) Zu diesen Vorwürfen: K. Schmidt, NZG 2019, 1241, 1246 m. H. a. LG Essen BeckRS 2014, 22313 Rn. 112 ff. („Middelhoff“). 1136) „Kirch“: www.welt.de/wirtschaft/article130797230/Fall-Kirch-Deutsche-Bank-nimmtBreuer-in-Regress.html (2.8.2014); „Haftungsvergleich“ und „Deckungsvergleich“ in der causa „Breuer“: Tagesordnungspunkt 10 der Hauptversammlung der Deutsche Bank AG am 19.5.2016; Raeschke-Kessler, NJW 2019, 2678. 1137) „Schwarze Kassen bei Siemens“: Redaktion beck-aktuell becklink 257214; www.sueddeutsche.de/wirtschaft/neue-erkenntnisse-im-schmiergeldskandal-piererdroht-millionenklage-von-siemens-1.209935 (17.5.2010); BGH NJW 2009, 89 = DB 2008, 2698; BGH BeckRS 2016, 21181. 1138) LG Essen BeckRS 2014, 22313 („Middelhoff“) rkr.: BGH, v. 17.2.2016 – 1 StR 209/15; „Arcandor-Insolvenz“: www.faz.net/aktuell/wirtschaft/nach-arcandor-insolvenzmiddelhoff-muss-schadenersatz-zahlen-11729944.html (25.4.2012). 1139) „Schwarze Kassen bei Siemens“: LG München I NZG 2014, 345 = BeckRS 2014, 03724 = ZIP 2014, 570; Berufung zum OLG München, Aktenzeichen 7 U 113/14 – durch Vergleich erledigt. 1140) Hypo Real Estate fordert Schadensersatz von Ex-Vorstandschef Funke“: www.sueddeutsche.de/wirtschaft/verstaatlichte-pleite-bank-hypo-real-estate-fordert-schadensersatz-von-ex-vorstandschef-funke-1.1767721 (11.9.2013); Redaktion beck-aktuell becklink 2007952; Redaktion beck-aktuell, becklink 2014398. 1141) Peltzer (WM 1981, 346, 348 f.) begründete den Begriff der „Bisssperre“ des Aufsichtsrats gegenüber Vorstandsmitgliedern; vgl. hierzu auch: MünchKomm-VVG/Ihlas, Bd. 3, 2. Teil, Kapitel 3 Directors & Officers Versicherung Nr. 320 Rn. 594. 1142) Bestandaufnahme und zu aktuellen Entwicklungen (insbesondere Vorschlägen – de lege ferenda): Ehmann/Stretz, Rn. 681 ff.

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C. Organhaftung GmbH: Die Innenhaftung des GmbH-Geschäftsführers

deutung ist die sog. „Innenhaftung“ des Leitungsorgans1143) – bei der GmbH des Geschäftsführers –, der „Gutsverwalter“ und nicht „Gutsherr“1144) ist. Dieser Beitrag handelt von der Innenhaftung des Geschäftsführers, also von 759 dessen Verantwortlichkeit gegenüber der GmbH.1145) Abzugrenzen hiervon ist die Außenhaftung1146) des Geschäftsführers, also dessen Verantwortlichkeit gegenüber Dritten,1147) wie etwa Arbeitnehmern,1148) Vertragspartnern,1149) Wettbewerbern1150) und Behörden.1151)

___________ 1143) Zur Haftung anderer Organe gegenüber der GmbH, etwa der Mitglieder eines fakultativen oder obligatorischen Aufsichtsrates: MünchKomm-GmbHG/Spindler, § 52 Rn. 620 ff.; zur Haftung der Gesellschafter gegenüber der GmbH: MünchKommGmbHG/Merkt, § 13 Rn. 200 ff.; vgl. auch Ehmann/Stretz, Rn. 752 ff. (zur Haftung der Aufsichtsratsmitglieder einer AG). 1144) Im Zusammenhang mit Aufsichtsratspflichten: Säcker/Vera, BB 2006, 897, 897 – 905. 1145) Zur Haftung des Geschäftsführers gegenüber Gesellschaftern: Münchener Anwaltshandbuch GmbHR/Terlau, § 10 Rn. 10. 1146) Zur Abgrenzung Außen-/Innenhaftung: BGH NZI 2007, 603, 605 ff. = ZIP 2007, 1552 „Trihotel“ und BGH NJW-RR 2014, 1382, 1383 ff. = ZIP 2014, 1475. Zur Außenhaftung vgl. auch: Ehmann/Stretz, Rn. 748 ff.; Brammsen/Sonnenburg, NZG 2019, 681; Wick, GRUR 2020, 23 (insbesondere zur Außenhaftung des Geschäftsführers „zwischen Wettbewerbsrecht und Immaterialgüterrecht“). 1147) Zur Haftung des Geschäftsführers bei Eigenverwaltung im Insolvenzverfahren analog §§ 60, 61 InsO: BGH NJW 2018, 2125 = NZI 2018, 519 = NZG 2018, 1025 = ZIP 2018, 977 m. Anm. Bitter = GWR 2018, 221 m. Anm. Ludwig/Rühle = FD-InsR 2018, 406342 m. Anm. Pehl = LMK 2018, 407918 m. Anm. Baumert = JuS 2019, 174 m. Anm. K. Schmidt; vgl. hierzu: Schwartz, NZG 2018, 1013; Swierczok/Baron von Hahn, BB 2018, 1350; Thole, EWiR 2018, 339; Hoos/Forster, GmbHR 2018, 632; anders noch die Vorinstanz: OLG Düsseldorf NZI 2018, 65. Vgl. hierzu ab 1.1.2021 § 276a Abs. 2 und 3 InsO n. F. (Art. 5 Nr. 41 lit. b SanInsFoG, vgl. hierzu BR-Drucks. 619/20, S. 226). Zur Haftung des Geschäftsführers bei Schutzrechtsverletzungen der von ihm geführten Gesellschaft: Cepl/Schneider, r + s 2020, 9, 10 ff. 1148) Vgl. etwa: LAG Mecklenburg-Vorpommern, v. 28.10.2015 – 3 Sa 132/14, BeckRS 2015, 73683, Rn. 35 ff. 1149) Zur persönliche Haftung des UG-Geschäftsführers bei Handeln ohne Zusatz „haftungsbeschränkt“: LG Düsseldorf NZG 2014, 823, 824 f. = ZIP 2014, 1174; zur deliktischen Haftung des Geschäftsführers wegen Veräußerung einer nicht im Eigentum der GmbH stehenden Sache: OLG Saarbrücken BeckRS 2014, 02985; BGH NJW 1996, 1535, 1536 = ZIP 1996, 786. Zur Haftung eines Geschäftsführers wegen des „Griffs in die Kasse“ der Gesellschaft: BGH NJW 2019, 2164 = LMK 2019, 421219 m. Anm. Bayer/Budnick = GWR 2019, 253 m. Anm. Schulteis. 1150) BGH NJW-RR 2014, 1382, 1383 ff. 1151) Zur Haftung nach §§ 69 Satz 1, 34 AO gegenüber den Finanzbehörden, durchzusetzen durch Haftungsbescheid nach § 191 Abs. 1 Satz 1 AO: BFH NZI 2018, 117 Rn. 7 = DZWir 2018, 71 = DB 2018, 37 = BFH/NV 2018, 304 = BFHE 259, 423 = BStBl. II 2018, 772 = GmbHR 2018, 221 = ZInsO 2018, 100 = NZI 2018, 117; Eggert, DStR 2017, 266; Klein/Ratschow, AO, § 4 Rn. 12. Zur Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 266a Abs. 1, 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB gegenüber Sozialversicherungsbehörden: BGH NJW 2002, 1123 = NZG 2002, 289 = ZIP 2002, 524 = NZS 2002, 421 = NZI 2002, 226 = NZA 2002, 923 sowie BGH NJW 2002, 1122 = ZIP 2002, 261 = NZG 2002, 288 = NZA 2002, 1400 = NZI 2002, 229; OLG Celle BeckRS 2017, 110011 Rn. 1 f.; Versin, GmbHR 2020, 132.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis

I. Konkretisierung: Gegenstand der Darstellung 760 Haftungsgrundtatbestand1152) ist § 43 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 GmbHG. Danach haften Geschäftsführer, die ihre „Obliegenheiten“ verletzen, der Gesellschaft1153) solidarisch (als Gesamtschuldner) für den entstandenen Schaden. Das Gesetz meint hiermit Pflichtverletzungen1154) und knüpft im Hinblick auf den Sorgfaltsmaßstab des § 43 Abs. 1 GmbHG an, wonach Geschäftsführer die Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes anzuwenden haben. Stellt die Pflichtverletzung zugleich eine unerlaubte Handlung nach den §§ 823 ff. BGB gegenüber der Gesellschaft dar, so besteht Anspruchskonkurrenz.1155) § 43 Abs. 2 GmbHG ist kein Schutzgesetz i. S. v. § 823 Abs. 2 BGB zugunsten von Gesellschaftsgläubigern.1156)

___________ 1152) Zu anderen Haftungstatbeständen wie der Haftung wegen Zahlungen aus gebundenem Vermögen oder rechtswidrigem Erwerb eigener Geschäftsanteile (§ 43 Abs. 3 GmbHG): Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 82 ff.; Haftung für fehlerhafte Angaben bei Gründung oder bei Kapitalerhöhung (§§ 9a Abs. 1, 57 Abs. 4 GmbHG): Lutter/ Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 43 Rn. 6; Haftung wegen existenzvernichtender Zahlungen an Gesellschafter (§ 64 Satz 3 GmbHG): Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 64 Rn. 47 ff. sowie Röckrath, Rn. 1516 ff.; Haftung wegen Zahlungen nach Zahlungsunfähigkeit oder Feststellung der Überschuldung (§ 64 Satz 1 GmbHG): Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 64 Rn. 2 ff.; BGH NZG 2020, 260 = GmbHR 2020, 476 m. Anm. Römermann = ZIP 2020, 318 = WM 2020, 319 = BB 2020, 1237 m. Anm. Otte-Gräbener = GWR 2020, 115 m. Anm. Schulteis; vgl. auch: Ehmann/Stretz, Rn. 749 und Röckrath, Rn. 1474 ff. Zur insolvenzrechtlichen Qualifikation von § 64 Satz 1 GmbHG und damit zur Anwendbarkeit auf den Direktor einer private company limited by shares (nach dem Recht von England und Wales), über deren Vermögen in Deutschland das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist: BGH NJW 2016, 2660 = NZG 2016, 550 = NZI 2016, 461 m. Anm. Mock; DStR 2016, 1120 = RIW 2016, 368 = ZIP 2016, 821; EuGH NZG 2016, 115 – Kornhaas. Zur Haftung der Gesellschaftern in Fällen der Existenzvernichtung: Prütting, JuS 2018, 409. Vgl. auch Ultsch, S. 259 Fn. 1162. 1153) Also im Grundsatz nicht gegenüber Dritten: BGH NJW 2018, 2125, Rn. 31 = NZI 2018, 519 = NZG 2018, 1025 = ZIP 2018, 977 m. Anm. Bitter = GWR 2018, 221 m Anm. Ludwig/Rühle = FD-InsR 2018, 406342 m. Anm. Pehl = LMK 2018, 407918 m. Anm. Baumert = JuS 2019, 174 m. Anm. K. Schmidt. Zur Haftung des Geschäftsführers einer Komplementär-GmbH gegenüber „deren“ KG: Hahn, Rn. 266; OLG Hamm BeckRS 2019, 17205 Rn. 223. Zur fehlenden Klagebefugnis des Kommanditisten gegenüber dem Komplementär-GmbH-Geschäftsführer: BGH NZG 2018, 220 = NJWRR 2018, 288 = WM 2018, 235 = ZIP 2018, 276 = JuS 2018, 1105 m. Anm. K. Schmidt. 1154) Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 43 Rn. 11. 1155) BGH BeckRS 2014, 07705; BGH BB 1989, 1637, 1640 = ZIP 1989, 1390; BGH BB 1992, 726, 727; Woedtke, NZG 2013, 484, 485. 1156) BGH NJW 2019, 2164 = LMK 2019, 421219 m. Anm. Bayer/Budnick = GWR 2019, 253 m. Anm. Schulteis; BGH NJW 2012, 3439 Rn. 22 f.; BGH NJW 2018, 2125, Rn. 31. Zur Haftung des Liquidators einer GmbH, der bei der Verteilung des Gesellschaftsvermögens an die Gesellschafter eine Verbindlichkeit der Gesellschaft gegenüber einem Gläubiger nicht berücksichtigt hat, analog §§ 268 Abs. 2 Satz 1, 93 Abs. 5 AktG: BGH NJW-RR 2018, 738 = GWR 2018, 270 m. Anm. Schulteis.

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C. Organhaftung GmbH: Die Innenhaftung des GmbH-Geschäftsführers

Der Anwendungsbereich des § 43 Abs. 2 GmbHG ist abzugrenzen von dem 761 des § 43 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und Abs. 3 StaRUG.1157) Anlass des StaRUG und des SanInsFoG ist die in Folge der EU-Restrukturierungsrichtlinie1158) durchgeführte Evaluation der bislang geltenden Rechtsvorschriften. § 43 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und Abs. 3 StaRUG sanktioniert die in § 43 Abs. 1 Satz 1 StaRUG statuierten Pflichten beim Betreiben einer Restrukturierungssache1159) durch eine Haftung des Geschäftsleiters. Das Haftungskonzept des § 43 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und Abs. 3 StaRUG ist dem Konzept des § 43 Abs. 2 GmbHG nachgebildet.1160) Unklar ist das Verhältnis dieser beiden Haftungsanspruchsgrundlagen. Allgemeine Spezialitätserwägungen – ohne ein Abstellen auf den Gesetzeszweck – führen nicht weiter: § 43 Abs. 2 GmbHG ist insoweit spezieller, weil er nicht allgemein auf haftungsbeschränkte Unternehmensträger abstellt, sondern nur die GmbH betrifft. § 43 Abs. 1 Satz 2 StaRUG ist demgegenüber insoweit spezieller, weil er nicht allgemein an irgendeine Pflichtverletzung des Geschäftsleiters anknüpft, sondern auf die Verletzung der spezifischen Pflichten beim Betreiben einer Restrukturierungssache nach § 43 Abs. 1 Satz 1 StaRUG. § 43 Abs. 2 GmbHG kann auch deshalb nicht als lex specialis angesehen werden, weil sonst § 43 Abs. 1 Satz 2 StaRUG für GmbH-Geschäftsführer keinen Anwendungsbereich hätte. Denkbar wäre es, Anspruchskonkurrenz zwischen beiden Haftungsanspruchsgrundlagen anzunehmen. Dagegen spricht allerdings die umfassende und augenscheinlich abschließende Regelung in § 43 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und Abs. 3 StaRUG für Ansprüche der Gesellschaft wegen der den Gläubigern entstandene Schäden für die Verletzung von Pflichten nach § 43 Abs. 1 Satz 1 StaRUG. Daher besteht kein Bedürfnis dafür, neben § 43 Abs. 1 Satz 2 StaRUG auch noch § 43 Abs. 2 GmbHG anzuwenden. Richtigerweise ist § 43 Abs. 2 GmbHG im Anwendungsbereich des § 43 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und Abs. 3 StaRUG von dieser Vorschrift verdrängt.

___________ 1157) Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG vom 22.12.2020, BGBl. I, 3256. 1158) Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz), ABl. L 172 vom 26.6.2019, S. 18. 1159) Das StaRUG enthält bedauerlicherweise keine ausdrückliche Legaldefinition des Begriffs der „Restrukturierungssache“. Aus § 31 Abs. 3 StaRUG ist ersichtlich, dass der Gesetzgeber wohl die „Instrumente des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens“ (§§ 31 Abs. 1, 30 Abs. 1 StaRUG) meint, die § 29 Abs. 2 StaRUG aufzählt. 1160) Vgl. Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz. BT-Drucks. 19/25353, S. 8, wo der Übergang von der noch in § 45 StaRUG-E vorgesehenen Innenhaftung zur Außenhaftung geflissentlich verschwiegen wird.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis

II. Haftung nach § 43 Abs. 2 GmbHG 1. Haftungsvoraussetzungen 762 § 43 GmbHG1161) ist die Anspruchsgrundlage für Schadensersatzansprüche der Gesellschaft1162) gegen ihre Geschäftsführer.1163) Dem Haftungsanspruch aus Geschäftsführervertrag kommt gegenüber § 43 Abs. 2 GmbHG keine eigenständige Bedeutung zu.1164) Die Haftung aus § 43 Abs. 2 GmbHG nimmt als gesetzliche Anspruchsgrundlage und als Spezialregelung die vertragliche Haftungsgrundlage in sich auf.1165) a) Materielles Recht (Überblick) 763 Geschäftsführer haften, wenn sie durch positives Tun oder Unterlassen die ihnen gegenüber der Gesellschaft obliegenden Pflichten schuldhaft verletzt und dadurch der Gesellschaft einen Schaden zugefügt haben. aa) Subjektiver Anwendungsbereich 764 Die Haftung nach § 43 Abs. 2 GmbHG knüpft unmittelbar an die Organstellung (Wirksamwerden der Bestellung1166) an; sie ist nicht der Existenz eines Geschäftsführer-Anstellungsvertrags abhängig.1167) Auch auf die Eintragung des Geschäftsführers im Handelsregister kommt es nicht an.1168)

___________ 1161) Zu den verschiedenen Funktionen der Organhaftung: Wagner, ZHR 178 (2014) 227, 251 ff. 1162) Keine Haftung gegenüber Gesellschaftsgläubigern: Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, § 42 Rn. 98. 1163) Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 43 Rn. 1; zum persönlichen Anwendungsbereich: BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 13 ff. 1164) BGH NJW-RR 1989, 1255, 1256 = ZIP 1989, 1390; BGH NJW 1997, 741, 742; Lutter/ Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 43 Rn. 6; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 111; Podewils, GmbH-StB 2014, 177. 1165) BGH NJW-RR 1989, 1255, 1256 = ZIP 1989, 1390; BGH NJW 1997, 741, 742 = ZIP 1997, 199 = GmbHR 1997, 163; Wicke, GmbHG, § 43 Rn. 2; a. A. Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 13 f.; zum Meinungsstand und dessen Relevanz: MünchKommGmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 8 f. sowie BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 9 ff. 1166) Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 43 Rn. 7. 1167) BGH NZG 2013, 1021, 1022 Rn. 17 = ZIP 2013, 1712 = DNotZ 2014, 138 = DStR 2013, 2071 = BB 2013, 2257 m. Anm. Wilsing = NJW 2013, 3636 m. Anm. Bryant; BGH NJW 1994, 2027; BGH NJW-RR 1989, 1255, 1256 = MDR 1989, 1082 = DB 1989, 1762; BGH NJW-RR 1989, 1255, 1256 = MDR 1989, 1082 = DB 1989, 1762; Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 43 Rn. 2; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 2. 1168) BGH NJW 1994, 2027; Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 43 Rn. 2; Henssler/ Strohn/Oetker, § 43 GmbHG Rn. 7.

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C. Organhaftung GmbH: Die Innenhaftung des GmbH-Geschäftsführers

§ 43 Abs. 2 GmbHG ist grundsätzlich auch dann anwendbar, wenn die Be- 765 stellung unwirksam ist.1169) Fehlt es überhaupt an einer Bestellung, gilt § 43 Abs. 2 GmbHG für Personen, die wie organschaftlich berufene Geschäftsführer handeln, insbesondere bei faktischen Geschäftsführern.1170) bb) Der Pflichtenkatalog Die Pflichten der Geschäftsführer umfassen folgenden Katalog:1171)

766

x

die Beachtung der vom Gesetz speziell angeordneten Ge- und Verbote einschließlich der in der GmbH geltenden Kompetenzverteilung1172) unter Berücksichtigung von Satzung,1173) (soweit vorhanden) Geschäftsordnung und von Vorgaben des Anstellungsvertrags1174) und der Gesellschafterversammlung einschließlich der Verschwiegenheitspflicht;1175)

x

die Beachtung der allgemein von der Rechtsordnung aufgestellten Pflichten (Legalitätspflicht);1176)

x

die Pflicht zur kollegialen Zusammenarbeit mit evtl. Mitgeschäftsführern und mit den Gesellschaftern;1177)

___________ 1169) Henssler/Strohn/Oetker, § 43 GmbHG Rn. 8; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 4. 1170) Zu dem subjektiven Anwendungsbereich von § 43 GmbHG insbesondere bei fehlerhafter Organstellung, Strohmanngeschäftsführer (aus strafrechtlicher Sicht: BGH NStZ 2017, 149 = ZIP 2017, 224) und faktischem Geschäftsführer: OLG München BeckRS 2019, 22826 Rn. 74 ff. = ZfBR 2019, 680; OLG München BeckRS 2019, 552 Rn. 26 ff, und Rn. 34 f. = GWR 2019, 107 m. Anm. Schultheis; OLG München BeckRS 2017, 113989 Rn. 25; OLG München NJW-RR 2019, 1326, 1328 Rn. 52 = NZG 2019, 1189; OLG Celle BeckRS 2016, 20000 Rn. 20; sowie LG Hannover BeckRS 2016, 07417; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 5; Roth/Altmeppen/ Altmeppen, GmbHG, § 43 Rn. 2; Henssler/Strohn/Oetker, § 43 GmbHG Rn. 9. Zur Darlegungslast bei behaupteter faktischer Geschäftsführung: OLG München NJWRR 2019, 1326, 1328 Rn. 56 = NZG 2019, 1189. 1171) Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, § 42 Rn. 79 ff.; Bayer, GmbHR 2014, 897, 898. Zu Verhaltenspflichten des GmbH-Geschäftsführers in Krisenzeiten („Corona“): Kubiciel, NJW 2020 1249; Blöse, BBP 2020, 128 und Blöse, BBP 2020, 164. Zur Managerhaftung und zum Versicherungsschutz in Zeiten von Corona: Held, jurisPR-Compl 4/2020 Anm. 5. 1172) BGH NZG 2015, 792, 794; Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 83 ff. Zu missachteten Zustimmungsvorbehalten als Pflichtverletzung: Geißler, GmbHR 2020, 293, 295. 1173) OLG Köln BeckRS 2019, 21607 Rn. 12 = AG 2019, 695 (zur Aktiengesellschaft). 1174) Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 8 ff. 1175) Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 43 Rn. 25; Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 291 ff. 1176) Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 43 Rn. 6 ff.; Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 59 ff.; Gehrlein, NZG 2020, 801, 805; zur Haftung des Geschäftsleiters im Zusammenhang mit bei Cyber-Angriffen: Mehrbrey/Schreibauer, MMR 2016, 75, 79 f. sowie Habbe/Gergen, CCZ 2020, 281; zu den Organpflichten im Lichte der CoronaPandemie: Daghles/Haßler, BB 2020, 1032; zu den Organpflichten zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen: Arens, GWR 2019, 375 und Fleischer/Pendl, ZIP 2020, 1321. 1177) Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 43 Rn. 21 ff.; Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 79.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis

x

die Pflicht zur sorgfältigen Unternehmensleitung,1178) insbesondere keine unvertretbaren Risiken einzugeben;1179)

x

die Treuepflicht,1180) insbesondere darf der Geschäftsführer seine Stellung nicht im eigenen Interesse ausnutzen etwa zum Zwecke der eigenen Bereicherung,1181) z. B. durch Begleichung eigener Verbindlichkeiten aus Gesellschaftsmitteln oder durch Anschaffung von Sachen zu privaten Zwecken (§ 266 StGB!).1182) Der Geschäftsführer muss in allen Angelegenheiten, die das Interesse der Gesellschaft berühren, deren Wohl und nicht seinen eigenen Nutzen oder den Vorteil anderer im Blick haben. Er darf Geschäftschancen nicht für sich, sondern nur für die Gesellschaft nutzen;1183)

x

Krisenfrüherkennungs- und -reaktionspflichten nach § 1 StaRUG1184): § 1 StaRUG kodifiziert allgemein und rechtsformübergreifend Krisenfrüherkennungs- und -reaktionspflichten der Geschäftsleiter haftungsbeschränkter Rechtsträger1185) und gilt damit auch für Geschäftsführer von Gesellschaften mit beschränkter Haftung;1186)

___________ 1178) Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 43 Rn. 3 ff. Zu Sorgfaltspflichten des Geschäftsleiters vor dem Hintergrund beschränkter Verkäuferhaftung in Unternehmenskaufverträgen: Heer, GWR 2018, 125 und Blassl, CCZ 2017, 37. 1179) OLG Brandenburg NZG 2020, 1274, 1276 Rn. 36 (Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH anhängig, Az. II ZR 136/20). 1180) Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 43 Rn. 26; Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 204 ff. Zu den Pflichten des bei der Konzernmuttergesellschaft angestellten Geschäftsführers einer Tochtergesellschaft, der gleichzeitig Geschäftsführer der Muttergesellschaft ist: OLG Düsseldorf BeckRS 2018, 26389 Rn. 64. 1181) BGH BeckRS 1983, 31072124 = ZIP 1983, 689 = GmbHR 1983, 300 = WM 1983, 498; Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 208 f.; MünchKomm-GmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 164. 1182) OLG Brandenburg BeckRS 2019, 483 Rn. 46 und Rn. 78 ff.; OLG München BeckRS 2018, 20350 Rn. 40 ff. = GmbHR 2018, 1058 = ZInsO 2018, 2310 2310 = GWR 2019, 72 m. Anm. Schäfer; zum Vorwurf der „Vetternwirtschaft“ bei Verträgen mit der Ehefrau des Geschäftsführers: OLG Brandenburg BeckRS 2018, 3731 Rn. 20 ff. = GmbHR 2018, 578 = GWR 2018, 177 m. Anm. Torka/Raschke; Bayer/Scholz, NZG 2019, 2019, 204 (zu Kollegialentscheidungen und Anwendbarkeit der Business Judgement Rule); Wagner, ZfBR 2017, 546. 1183) BGH NJW 2017, 1749, 1951 Rn. 20 = BGHZ 214, 220 = ZInsO 2017, 827 = ZIP 2017, 779 = DStR 2017, 1052 = NZG 2017, 627 = NZI 2017, 442 = BB 2017, 1036 m. Anm. Römermann = GWR 2017, 200 m. Anm. Weisser = JuS 2018, 176 m Anm. K. Schmidt. 1184) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen, Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungsund Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG) vom 22.12.2020, BGBl. I, 3256. 1185) SanInsFoG-Regierungsentwurf, BR-Drucks. 619/20, S. 114. 1186) SanInsFoG-Regierungsentwurf, BR-Drucks. 619/20, S. 115.

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C. Organhaftung GmbH: Die Innenhaftung des GmbH-Geschäftsführers Die Frage, inwieweit den Geschäftsleitern schadensersatzbewehrte Krisenfrüherkennungs- und -reaktionspflichten treffen sollen, hat sich jüngst im Rahmen der Gesetzgebung zum StaRUG1187) gestellt. Der Regierungsentwurf sah im Anschluss an § 1 StaRUG besondere Pflichten des Geschäftsleiters bei drohender Zahlungsunfähigkeit i. S. v. § 18 Abs. 2 InsO vor. § 2 StaRUG-E1188) knüpfte an § 1 StaRUG an und konkretisierte diese für das Stadium einer drohenden Zahlungsunfähigkeit i. S. v. § 18 Abs. 2 InsO.1189) Die Geschäftsleiter sollten nach § 2 Abs. 1 StaRUG-E (auch)1190) die Pflicht haben, die Interessen der Gesamtheit der Gläubiger zu wahren. § 3 StaRUG-E sollte die in § 2 Abs. 1 bis 3 StaRUG-E statuierten Pflichten durch eine Haftung insbesondere des Geschäftsleiters sanktionieren: Bei schuldhafter1191) Verletzung der dem Geschäftsleiter nach § 2 Abs. 1 StaRUG-E obliegenden Pflichten, sollte er der Gesellschaft gegenüber auf Schadensersatz haften. Zweck von § 2 Abs. 1 StaRUG-E war es, die Gläubigerschaft vor Verlusten zu bewahren, die diese infolge einer ihre Interessen nicht hinreichend berücksichtigende Geschäftsführung erleidet. Im Falle einer schuldhaften Pflichtverletzung sollte daher der Gesamtgläubigerschaden zu ersetzen sein, der durch die Verletzung der Pflicht zur Wahrung der Gläubigerinteressen eintritt.1192) § 3 Abs. 1 StaRUG-E („Restrukturierungsverschleppungshaftung“) verfolgte das Konzept der Innenhaftung.1193) Der Gesamtgläubigerschaden sollte als Schaden der Gesellschaft qualifiziert werden.1194) Dabei lehnte sich der Gesetzgeber ausdrücklich an das Konzept des § 43 Abs. 2 GmbHG an.1195) Unklar war das Verhältnis dieser beiden Haftungsanspruchsgrundlagen. Allgemeine Spezialitätserwägungen – ohne ein Abstellen auf den Gesetzeszweck – führten nicht weiter: § 43 Abs. 2 GmbHG ist insoweit spezieller, weil er nicht allgemein auf haftungsbeschränkte Unternehmensträger abstellt, sondern nur die GmbH betrifft. § 3 StaRUG-E

___________ 1187) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen, Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG) vom 22.12.2020, BGBl. I, 3256. 1188) Entwurf eines Gesetzes über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens für Unternehmen, Art. 1 des Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG), BR-Drucks. 619/20. 1189) SanInsFoG-Regierungsentwurf, BR-Drucks. 619/20, S. 116. 1190) SanInsFoG-Regierungsentwurf, BR-Drucks. 619/20, S. 118. Hierzu: Korch, NZG 2020, 1299, 1301. 1191) Zur Beschränkung der Haftung auf Fälle von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit: Stellungnahme des Bundesrates (BT-Drucks. 19/24903, S. 6) einerseits sowie Gegenäußerung der Bundesregierung (BT-Drucks. 19/24903, S. 30) andererseits. Zu den Vorgaben der EU-Restrukturierungsrichtlinie (Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz), ABl. L 172 vom 26.6.2019, S. 18): Haas/Göb, NZI 2020, 200, 202. 1192) SanInsFoG-Regierungsentwurf, BR-Drucks. 619/20, S. 120. 1193) Kritisch zum Konzept der Innenhaftung: Haas/Göb, NZI 2020, 200, 202. Demgegenüber sehen die §§ 57, 51 StaRUG eine Außenhaftung des Geschäftsleiters bei durch Falschangaben erwirkte Stabilisierungsanordnungen vor (hierzu SanInsFoG-Regierungsentwurf, BR-Drucks. 619/20, S. 182). 1194) SanInsFoG-Regierungsentwurf, BR-Drucks. 619/20, S. 120. 1195) SanInsFoG-Regierungsentwurf, BR-Drucks. 619/20, S. 120 f.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis war demgegenüber insoweit spezieller, weil er nicht allgemein an irgendeine Pflichtverletzung des Geschäftsleiters anknüpfte, sondern auf die Verletzung der spezifischen Pflichten des § 2 StaRUG-E. § 43 Abs. 2 GmbHG konnte auch deshalb nicht als lex specialis angesehen werden, weil sonst § 2 StaRUG-E für GmbH-Geschäftsführer keinen Anwendungsbereich gehabt hätte. Denkbar wäre gewesen, Anspruchskonkurrenz zwischen beiden Haftungsanspruchsgrundlagen anzunehmen. Dagegen sprach allerdings die umfassende und augenscheinlich abschließende Regelung in § 3 StaRUG-E für der Gesellschaft wegen der Verletzung von Pflichten nach § 2 StaRUG-E entstehender Schäden. Daher bestand kein Bedürfnis dafür, neben § 3 StaRUG-E auch noch § 43 Abs. 2 GmbHG anzuwenden. Richtigerweise wäre § 43 Abs. 2 GmbHG im Anwendungsbereich des § 3 StaRUG-E von dieser Vorschrift verdrängt worden.1196)

x

Pflichten beim Betreiben einer Restrukturierungssache nach § 43 Abs. 1 Satz 1 StaRUG1197): diese Pflichten, die nach § 43 Abs. 2 StaRUG nicht der Disposition der Gesellschafter unterliegen,1198) bestehen rechtsformübergreifend für Geschäftsleiter haftungsbeschränkter Rechtsträger1199) und gelten damit auch für Geschäftsführer von Gesellschaften mit beschränkter Haftung;1200)

cc) Zusammenarbeit mit der Gesellschafterversammlung 767 Primär zuständig für die Geschäftsführung sind die Geschäftsführer; gewisse Geschäftsführungsaufgaben sind den Geschäftsführern allerdings von vornherein entzogen (z. B. § 46 Nr. 1, Nr. 1a, Nr. 7 GmbHG).1201) Anders als der Vorstand, der die AG unter eigener Verantwortung leitet (§ 76 Abs. 1 AktG),1202) ist der Geschäftsführer verpflichtet, Weisungen der Gesellschafterversammlung zu befolgen.1203) Das Weisungsrecht der Gesellschafter und die Folgepflicht der Geschäftsführer sind ein Charakteristikum der GmbH.1204) Daneben steckt die GmbH-Satzung, insbesondere der Unternehmensgegenstand1205) (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG), die Leitlinien der Unternehmensführung ab. In der Praxis sehen Satzungen häufig vor, dass bestimmte Geschäfte der Zustimmung ___________ 1196) Ebenso: Korch, NZG 2020, 1299, 1303. 1197) Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen, Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG) vom 22.12.2020, BGBl. I, 3256. 1198) Zu § 2 Abs. 2 Satz 2 StaRUG-E: SanInsFoG-Regierungsentwurf, BR-Drucks. 619/20, S. 119. 1199) SanInsFoG-Regierungsentwurf, BR-Drucks. 619/20, S. 114. 1200) Vgl. hierzu: SanInsFoG-Regierungsentwurf, BR-Drucks. 619/20, S. 115. 1201) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 37 Rn. 2 und Rn. 7 ff. 1202) Mennicke, NZG 2000, 622. 1203) Mennicke, NZG 2000, 622. 1204) Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 37 Rn. 17; Altmeppen, NJW 2003, 2561, 2562; Wehrstedt, MittRhNotK 2000, 269, 280 f. m. w. N. 1205) Zum Unternehmensgegenstand als Kapitalverwendungsbeschränkung: Servatius, Strukturmaßnahmen als Unternehmensleitung, S. 26 ff.; vgl. auch OLG Köln BeckRS 2018, 41112 Rn. 33 ff. = GWR 2019, 163 m. Anm. Flick.

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C. Organhaftung GmbH: Die Innenhaftung des GmbH-Geschäftsführers

der Gesellschafterversammlung bedürfen.1206) Die Geschäftsführer haben die Pflicht, solchen Beschränkungen Folge zu leisten (§ 37 Abs. 1 GmbHG). Entgegen der amtlichen Überschrift geht es hier im Wesentlichen nicht um 768 die Beschränkung der Vertretungs-, sondern der Geschäftsführungsbefugnis.1207) Rechtsgeschäfte, die unter Verstoß gegen § 37 GmbHG geschlossen werden, sind im Außenverhältnis grundsätzlich wirksam,1208) können aber zu Schadenersatzverpflichtungen der Geschäftsführer führen. Im Hinblick auf die Zusammenarbeit von Geschäftsführer und Gesellschaf- 769 terversammlung ist in der Praxis insbesondere Folgendes relevant: x

Weisungsberechtigt ist grundsätzlich die Gesellschafterversammlung.1209) Erforderlich ist ein Beschluss.1210) Ein rechtswidriger Beschluss,1211) etwa gerichtet auf eine ungesetzliche Unternehmensführung,1212) stellt keine wirksame Weisung dar, wenn er von vorne herein nichtig ist1213) oder bei bloßer Anfechtbarkeit auf eine Anfechtungsklage hin durch Urteil aufgehoben wird.1214) Entsprechend § 43 Abs. 3 GmbHG1215) dürfen Geschäftsführer Weisungen nicht befolgen, wenn sie gegen §§ 30, 33 GmbHG1216) oder öffentlich-rechtliche Pflichten verstoßen würden.1217) Ist der weisende Beschluss nur anfechtbar, ist zu differenzieren: Ist der Beschluss (durch Zeitablauf1218)) unanfechtbar geworden, ist die Weisung grundsätzlich bindend.1219) Bei angefochtenen oder noch anfechtbaren Weisungen soll den Geschäftsführern ein gewisser Ermessensspielraum bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen zustehen; sie sollen berechtigt sein, den Vollzug der Weisung vorübergehend auszusetzen.1220) Die Praxis mutet den Geschäftsführern die rechtliche Prüfung der Beschlüsse

___________ 1206) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 37 Rn. 30. 1207) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 37 Rn. 1. 1208) Zu den Grenzen: Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 37 Rn. 55 ff. 1209) Zur abweichenden Regelungen im Gesellschaftsvertrag und deren Grenzen: Lutter/ Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 37 Rn. 19; Mennicke, NZG 2000, 622, 622 ff.; zu den Befugnissen des Leiters einer GmbH-Gesellschafterversammlung: KG NZG 2016, 384. 1210) Zu Besonderheiten beim Eigengeschäftsführer einer Einmann-GmbH: BGH NJW 1993, 193, 194; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 17; Lutter/Hommelhoff/ Kleindiek, GmbHG, § 43 Rn. 40. 1211) Zur Beschlussanfechtung in der GmbH: Göz, Rn. 143 ff. 1212) BGH NJW 1994, 1801, 1802 f. = ZIP 1994, 867. 1213) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 37 Rn. 38. 1214) BayObLGZ 1955, 333, 341 ff.; MünchKomm-GmbHG/Wertenbruch, Anh. zu § 47 Rn. 2, 153, 319, 359 m. w. N.; Mennicke, NZG 2000, 622, 624. 1215) Zur Haftung des Geschäftsleiters bei der Bestellung von Upstream-Sicherheiten: BGH NZG 2017, 344 = DStR 2017, 733 = BB 2017, 588 = ZIP 2017, 472; Kiefner/Bochum, NZG 2017, 1292. 1216) BGH DStR 2015, 597, 599 Rn. 13 = ZIP 2015, 322. 1217) Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 37 Rn. 22. 1218) Kritisch: Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 37 Rn. 39. 1219) Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 37 Rn. 22. 1220) Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 37 Rn. 22; Mennicke, NZG 2000, 622, 624.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis

im Hinblick auf deren Nichtigkeit und/oder Anfechtbarkeit zu. Da nachträglich für nichtig erklärte Beschlüsse keine haftungsbefreiende Wirkung haben,1221) ist das Haftungsrisiko des Geschäftsführers in solchen Situationen besonders hoch.1222) x

Bei ungewöhnlichen Geschäften hat der Geschäftsführer nach überwiegender Ansicht grundsätzlich die Gesellschafterversammlung zu befragen.1223) Schon im eigenen Interesse sollte der Geschäftsführer vor Abschluss ungewöhnlicher Geschäfte die Gesellschafterversammlung befragen. Allerdings steht hier der Geschäftsführer vor dem gleichen Dilemma wie bei (rechtswidrigen) Weisungen: Ein nichtiger zustimmender Gesellschafterbeschluss zu ungewöhnlichen Geschäften entlastet den Geschäftsführer nicht.1224) Praxistipp: Die Tätigkeit eines Geschäftsführers bei „Weisungen“ und ungewöhnlichen Geschäften oder Grundlagengeschäften erweist sich als besonders haftungsträchtig. „Eng“ kann es für einen Geschäftsführer im Vorfeld der Gesellschaftskrise werden, wenn ihm es die Gesellschafterversammlung nicht gestattet, Insolvenzantrag wegen drohender Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO) zu stellen. Drohende Zahlungsunfähigkeit1225) gewährt dem Schuldner lediglich ein Antragsrecht, begründet aber keine Verpflichtung zur Stellung eines Insolvenzantrags. Wegen der tiefgreifenden Folgen eines Insolvenzantrags darf ein Geschäftsführer wegen drohender Zahlungsunfähigkeit grundsätzlich1226)

___________ 1221) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 37 Rn. 39. 1222) Zur Haftungsvermeidung durch Einholung von qualifiziertem Rechtsrat: Ehmann/ Stretz, Rn. 723 sowie Ultsch, Rn. 792. 1223) OLG Brandenburg BeckRS 2020, 5438 Rn. 35; Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 37 Rn. 10; im Ausgangspunkt a. A. Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 37 Rn. 47. 1224) Zur „Verzahnung“ zwischen Kommunalrecht und Gesellschaftsrecht: Altmeppen, NJW 2003, 2561, 2562 ff. 1225) Überschuldung und drohende Zahlungsunfähigkeit sollten durch das StaRUG (Gesetz über den Stabilisierungs-und Restrukturierungsrahmens für Unternehmen, Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG), BR-Drucks. 619/20) besser voneinander abgegrenzt werden (SanInsFoG-Regierungsentwurf, BR-Drucks. 619/20, S. 103 und 228 f.). Zwar wird eine drohende Zahlungsunfähigkeit im Rahmen der für die Überschuldungsprüfung vorzunehmenden Fortführungsprognose auch weiterhin zu berücksichtigen sein. Das Konkurrenzproblem soll aber dadurch entschärft werden, dass der Überschuldungsprüfung ein Prognosezeitraum von einem Jahr zugrunde zu legen ist, (Art. 5 Nr. 11 SanInsFoG-E, Regierungsentwurf, BR-Drucks. 619/20, S. 61 und 228 f.); die Prüfung der drohenden Zahlungsunfähigkeit soll im Rahmen eines zweijährigen Prognosezeitraums erfolgen (Art. 5 Nr. 10 SanInsFoG-E, Regierungsentwurf, BR-Drucks. 619/20, S. 61 und 228). Damit will der Gesetzgeber sicherstellen, dass im zweiten Jahr des Prognosezeitraums eine Konkurrenz von drohender Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung ausgeschlossen ist (SanInsFoGRegierungsentwurf, BR-Drucks. 619/20, S. 229). Im ersten Jahr des Prognosezeitraums wird das Konkurrenzverhältnis zwischen drohender Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung auch weiterhin bestehen bleiben. Es soll wie bisher so aufzulösen sein, dass eine die Überschuldung ausschließende Fortführungsprognose auch aus der überwiegenden Wahrscheinlichkeit der erfolgreichen Umsetzung eines Sanierungs-oder Restrukturierungsvorhabens resultieren kann (SanInsFoG-Regierungsentwurf, BR-Drucks. 619/20, S. 229. 1226) Eingehend: Gessner, NZI 2018, 185.

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C. Organhaftung GmbH: Die Innenhaftung des GmbH-Geschäftsführers nur dann die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens beantragen, wenn dem die Gesellschafterversammlung ausdrücklich zugestimmt hat.1227) Bei tatsächlich eingetretener Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO) besteht hingegen eine Antragspflicht. Nach § 15a Abs. 1 InsO1228) hat der Geschäftsführer den Insolvenzantrag ohne schuldhaftes Zögern, spätestens aber drei Wochen1229) nach Eintritt des Insolvenzgrundes (Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung) zu stellen. Verstöße hiergegen begründen eine strafrechtliche (§ 15a Abs. 4 und 5 InsO) sowie zivilrechtliche Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB;1230) § 15a InsO stellt ein Schutzgesetz i. S. v. § 823 Abs. 2 BGB dar.1231) Gefährlicher als diese Sanktionen erweist sich die Haftung des Geschäftsführers nach § 64 GmbHG.1232) Nach dieser Vorschrift ist der Geschäftsführer der Gesellschaft grundsätzlich zum

___________ 1227) OLG München NZG 2013, 742, 743 = ZIP 2013, 1121; Ulrich, GmbHR 2020, R118. Zu den Grenzen der Gesellschafterbefugnisse nach § 2 Abs. 2 Satz 2 StaRUG-E, hierzu: Ultsch, Rn. 754 a. E. 1228) Die Insolvenzantragspflicht nach § 15a InsO hat vor dem Hintergrund der COVID19-Pandemie Modifikationen erfahren. § 1 des Gesetzes zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht und zur Begrenzung der Organhaftung bei einer durch die COVID-19-Pandemie bedingten Insolvenz (COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz – COVInsAG) vom 27.3.2020 (BGBl. I, 569) suspendierte zunächst generell die Antragspflicht in COVID-19-Pandemie-bedingte Unternehmenskrisen (BeckOK InsO/Wolfer, 20. Ed. 15.7.2020, COVInsAG § 1 Rn. 2 ff.; Uhlenbruck/ Hirte, InsO, COVInsAG § 1 Rn. 7 ff.). Seit dem 1.10.2020 ist nur noch die Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags wegen COVID-19-Pandemie-bedingter Überschuldung ausgesetzt; dies gilt bis zum 31.12.2020 (Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des COVID19-Insolvenzaussetzungsgesetzes vom 25.9.2020 (BGBl. I, 2016); hierzu: Hörtnagl/ Bode, BC 2020, 458. Vgl. Röckrath, Rn. 1504. Der Gesetzgeber wollte die Pflicht zur Stellung von Insolvenzanträgen trotz andauernder COVID-19-Pandemie zunächst nicht über den 31.12.2020 hinaus verlängern. Er sah dafür angesicht des zum 1.1.2021 in Kraft tretenden Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG) (BGBl. I, 3256), Art. 25 Abs. 1 SanInsFoG keinen Anlass. Vor dem Hintergrund der „behördlichen Maßnahmen in Reaktion auf die Zunahme des Infektionsgeschehens“ im „Spätherbst“ 2020 und den damit verbundenen „erheblichen Beeinträchtigungen des Wirtschaftsverkehrs“ hat der Gesetzgeber die Insolvenzantragspflicht – wohl letztmalig (?) – bis zum 31.1.2021 ausgesetzt und zwar im Wesentlichen für Geschäftsleiter solcher Unternehmen, die im November oder Dezember 2020 einen Antrags auf „November- oder Dezemberhilfen“ gestellt haben, § 1 Abs. 3 COVInsAG i. d. F. nach Art. 10. SanInsFoG. 1229) Die Frist soll für den Insolvenzgrund der Überschuldung auf sechs Wochen nach Eintritt der Überschuldung verlängert werden, Art. 5 Nr. 8 lit. a SanInsFoG-E (Regierungsentwurf, BR-Drucks. 619/20, S. 59), um es „dem Schuldner zu ermöglichen, laufende Sanierungsbemühungen außergerichtlich noch zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen oder gegebenenfalls eine Sanierung im präventiven Restrukturierungsrahmen oder auf der Grundlage eines Eigenverwaltungsverfahrens ordentlich und gewissenhaft vorzubereiten“ (SanInsFoG-Regierungsentwurf, BR-Drucks. 619/20, S. 103 und 224). 1230) Ehmann/Stretz, Rn. 750 sowie Röckrath, Rn. 1483 ff. 1231) BGH NZG 2020, 260 Rn. 15 = GmbHR 2020, 476 m. Anm. Römermann = ZIP 2020, 318 = WM 2020, 319 = BB 2020, 1237 m. Anm. Otte-Gräbener = GWR 2020, 115 m. Anm. Schulteis; BGH BeckRS 2019, 32524 Rn. 15; BGHZ 126, 190 f.; BGHZ 138, 214; OLG Brandenburg BeckRS 2020, 17763 Rn. 49. 1232) Einschränkend: BGH NJW 2015, 998; vgl. auch Knittel/Schwall, NZI 2013, 782.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis Ersatz von Zahlungen verpflichtet, die nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit geleistet werden.1233) Dies gilt auch für Zahlungen innerhalb der Dreiwochenfrist des § 15a Abs. 1 InsO.1234) Nun ist in der Praxis der Übergang von der drohenden Zahlungsunfähigkeit zum Eintritt der Zahlungsunfähigkeit fließend.1235) Ist es dem Geschäftsführer nicht gestattet, einen Insolvenzantrag wegen drohender Zahlungsunfähigkeit zu stellen, riskiert er seine persönliche Haftung nach § 64 GmbHG, wenn er den Insolvenzantrag (zumindest einfach fahrlässig1236)) nicht „punktgenau“ bei Eintritt der Zahlungsunfähigkeit stellt.1237) Die „Weisung“ der Gesellschafter, keinen Insolvenzantrag wegen drohender Zahlungsunfähigkeit zu stellen, entlastet den Geschäftsführer nicht, §§ 64 Satz 3, 43 Abs. 3 GmbHG. Um den Geschäftsführern in dieser Situation zu schützen, kann der Geschäftsführer zur Abwehr seiner Risiken insbesondere aus § 64 GmbHG eine umfassende Haftungsfreistellung von den Gesellschaftern verlangen. Wird ihm diese verweigert, soll er sogar zur Amtsniederlegung, außerordentlicher Kündigung seines Anstellungsvertrages und zur Geltendmachung seines durch die Kündigung entfallenen Geschäftsführergehaltes im Wege des Schadensersatzes berechtigt sein.1238)

dd) Besonderheiten bei der Beteiligung der öffentlichen Hand 770 Beteiligt sich die öffentliche Hand an einer GmbH,1239) gelten für die Rechtsbeziehungen zwischen der Gesellschaft und dem Träger öffentlicher Gewalt als deren Gesellschafter neben den gesellschaftsrechtlichen Vorschriften1240) auch die des öffentlichen Rechts.1241) Geht es um die Beteiligung einer Gemeinde, sind kommunalrechtliche Vorgaben zu beachten. Diese können ___________ 1233) Röckrath, Rn. 1507. § 64 GmbHG soll im Rahmen der Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts durch eine Neuregelung in § 15b InsO n. F. ersetzt werden: Art. 5 Nr. 9 und 16 Nr. 2 Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG). § 15b InsO n. F. soll die derzeit „auf die gesellschaftsrechtlichen Kodifikationen verteilten Regelungen zu den Zahlungsverboten im Falle der Insolvenzreife von haftungsbeschränkten Rechtsträgern (§ 64 GmbHG, § 92 Abs. 2 AktG, § 130a Abs. 1 auch i. V. m. § 177 Satz 1 HGB, § 99 GenG) … zu einer allgemeinen und rechtsformneutralen Vorschrift zusammengefasst und durch die Integration in die InsO rechtssystematisch mit den Regelungen zur Insolvenzantragspflicht“ zusammenführen (Regierungsentwurf, BR-Drucks. 619/20, S. 228. Die Neuregelgung soll nach Art. 25 Abs. 1 SanInsFoG-E am 1.1.2021 in Kraft treten (Regierungsentwurf, BR-Drucks. 619/20, S. 90 und 261). 1234) OLG Brandenburg BeckRS 2007, 04072; LG München I ZInsO 2015, 1349; Michalski/ Nerlich, GmbHG, § 64 Rn. 19; MünchKomm-GmbHG/H.-F. Müller, § 64 Rn. 151. 1235) LG München I ZInsO 2015, 1349. 1236) § 64 Satz 3 GmbHG, hierzu: Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 64 Rn. 3. 1237) Zur (sekundären) Darlegungslast im Rahmen von § 64 GmbHG: OLG Hamburg GmbHR 2018, 800. 1238) LG München I ZInsO 2015, 1349; hierzu: Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, Vorbemerkung zu § 64 Rn. 17; Baumbach/Hueck/Haas, GmbHG, § 64 Rn. 40 (statt „genehmigen“ (§ 184 Abs. 1 BGB) dürfte „einwilligen“ (§ 183 Satz 1 BGB) gemeint sein). 1239) § 108 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GO NRW gebietet es der Gemeinde, sich nur an solchen Betriebseinheiten zu beteiligen, bei denen aufgrund der gewählten Rechtsform eine Beschränkung der Haftung der Gemeinde auf einen bestimmten Betrag sichergestellt ist. 1240) Altmeppen, NJW 2003, 2561, 2562. 1241) Erle/Becker, NZG 1999, 58, 59; Bracht, NVwZ 2016, 108, 110.

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C. Organhaftung GmbH: Die Innenhaftung des GmbH-Geschäftsführers

als Landesrecht1242) keine Abweichungen vom bundesgesetzlichen GmbHGesetz bestimmen.1243) Kommunalrecht1244) kann das GmbH-Recht also nicht modifizieren oder suspendieren.1245) Es findet aber insoweit Anwendung, als dies im Rahmen des vorgegebenen Gesellschaftsrechts möglich ist,1246) etwa bei der Vertretung der Gemeinde in der Gesellschafterversammlung oder bei der Besetzung eines fakultativen Aufsichtsrats.1247) Von besonderer Bedeutung ist die kommunalinterne Zuständigkeit für die 771 Geltendmachung der Gesellschafterrechte,1248) die sich nach dem Kommunalrecht der Länder richtet. In aller Allgemeinheit1249) lässt sich sagen: Der (erste) Bürgermeister ist für laufende Angelegenheiten,1250) sowie für dringliche und unaufschiebbare Geschäfte1251) zuständig, der Gemeinderat im Übrigen.1252) Dringlichkeit kann etwa vorliegen, wenn Maßnahmen zur Hemmung der Verjährung zu treffen sind und es hierfür eines Beschlusses der Gesellschafterversammlung bedarf (§ 46 Nr. 8 Alt. 1 GmbHG).1253) Dabei ist es unerheblich, wenn die drohende Verjährung auf einem verwaltungsinternen Organisationsversehen beruht; die Dringlichkeit einer Anordnung beurteilt sich in zeitlicher Hinsicht nur nach den Verhältnissen zum Zeitpunkt der Anordnung.1254) Entscheidungen in der Gesellschafterversammlung stellen oft keine laufen- 772 den Angelegenheiten dar, so dass der Gemeinderat zuständig ist. Die Beurteilung hängt wesentlich von der Größe der Gemeinde ab, so dass das gleiche Geschäft in einer großen Gemeinde in die Zuständigkeit des ersten Bürgermeisters fallen kann, während es in einer kleinen Gemeinde dem Gemeinderat vorbehalten bleibt.1255) Laufende Geschäfte sind Routineangelegenheiten, die bei der Verwaltung der Gemeinde in mehr oder minder regelmäßiger Wiederkehr anfallen und zur ungestörten Fortführung der Verwaltung not___________ 1242) Vgl. auch VGH München NVwZ-RR 2012, 769 f. 1243) Erle/Becker, NZG 1999, 58, 59. 1244) Anders für bundesgesetzliche Regelungen: Erle/Becker, NZG 1999, 58, 59. 1245) VGH Kassel NVwZ-RR 2012, 566, 568 f.; Erle/Becker, NZG 1999, 58, 59 m. w. N. 1246) Erle/Becker, NZG 1999, 58, 59; Wehrstedt, MittRhNotK 2000, 269, 282; vgl. auch OLG Celle NVwZ-RR 2000, 754, 755. 1247) Erle/Becker, NZG 1999, 58, 62; zur Weisungsgebundenheit des Aufsichtsrats einer kommunalen GmbH: BVerwG MittBayNot 2012, 322, 325. 1248) Zur Zuständigkeitsverteilung innerhalb der Kommune: Altmeppen, NJW 2003, 2561, 2562 f. 1249) Vgl. etwa: Brötel, NJW 1998, 1676, 1676. 1250) Z. B. Art. 37 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BayGemO. 1251) Z. B. Art. 37 Abs. 3 BayGemO. 1252) Vgl. etwa: OLG Brandenburg BeckRS 2009, 18749. 1253) Vgl. allerdings: Ultsch, Rn. 901. 1254) BayVGH BayVBl 2007, 239, 241; BayVGH BeckRS 2014, 55762 Rn. 21. 1255) Ständige Rechtsprechung seit BayVGH, n. F. 10, 64/66, zuletzt etwa BayVGH, BayVBl 2010, 174, 174; Widtmann/Grasser/Glaser/Glaser/Hermann/Marcic-Schaller/Scharpf, BayGO, Stand: Februar 2020, Art. 37 Rn. 6.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis

wendig sind.1256) Daher können auch Angelegenheiten von nebensächlicher Bedeutung vom Gemeinderat zu erledigen sein, wenn sie nur selten genug vorkommen.1257) Ob eine Angelegenheit grundsätzliche Bedeutung aufweist und erhebliche Verpflichtungen erwarten lässt, ist wiederum maßgeblich von der Beurteilung durch die Kommune und deren Größe, Verwaltungskraft und Struktur abhängig.1258) Im Zweifelsfall spricht eine Vermutung für die Zuständigkeit des Gemeinderats.1259) 773 Handelt der Bürgermeister ohne einen erforderlichen Beschluss des Gemeinderates, stellt sich die Frage, ob das Handeln des Bürgermeisters wirksam ist. Gibt er z. B. für die Gemeinde deren Stimme in der Gesellschafterversammlung ab, sind die Wirksamkeit der Stimmabgabe und die Rechtmäßigkeit eines gefassten Beschlusses fraglich. Ob das Innenverhältnis des Bürgermeisters auf die Wirksamkeit seines Außenhandelns „durchschlägt“, beurteilt sich nach dem anwendbaren Kommunalrecht.1260) Danach sollen Rechtsgeschäfte des Bürgermeisters auch bei Fehlen eines erforderlichen Beschlusses der Gemeindevertretung wirksam sein nach dem Kommunalrecht der Länder Baden-Württemberg,1261) Rheinland-Pfalz,1262) Nordrhein-Westfalen,1263) Saarland1264) und Sachsen1265) sowie bei Handeln unter Geltung der DDR-Kommunalverfassung.1266) Für den Freistaat Bayern urteilten die bayerischen Gerichte seit jeher, dass der erste Bürgermeister die Gemeinde nur wirksam vertreten konnte, wenn er gesetzlich oder eben aufgrund eines Gemeinderatsbeschlusses dazu ermächtigt war.1267) BGH und BAG wollten dieser bayerischen Besonderheit ein Ende bereiten,1268) scheiterten letztlich aber am bayerischen Gesetzgeber, der mit Wirkung zum ___________ 1256) BayVGH BayVBl 2008, 502, 502. 1257) Lissack, Bayerisches Kommunalrecht, 4. Aufl., S. 123; Hölzl/Hien/Huber, GO/LKrO/ BezO, Stand: Juni 2020, Art. 37 GO Erl. II.1. 1258) Lissack, Bayerisches Kommunalrecht, 4. Aufl., S. 123; Bauer/Böhle/Ecker, Bayerische Kommunalgesetze, Stand: Juni 2019, GO Art. 37 Rn. 4. 1259) H. M. (Bayern): BayObLG BayVBl 1973, 131, 131; Bauer/Böhle/Ecker, Bayerische Kommunalgesetze, Stand: Juni 2019, Art. 37 GO Rn. 4 a. E. 1260) Zu pauschal daher: Weirauch, KommJur 2019, 281, 284. 1261) BGH MDR 1966, 669; BAGE 47, 179, 184 f. = NJW 1986, 2271; VGH Mannheim NVwZ 1999, 442, 444. 1262) BGH NJW 1980, 117, 118. 1263) BGHZ 92, 164, 169 f. = NJW 1985, 1778. 1264) BGHZ 97, 224, 226 = NJW 1986, 1758. 1265) BAG NJW 2002, 1287, 1289. 1266) BGH VersR 1998, 118; BGHZ 137, 89, 93 f. = NJW 1998, 377. 1267) BayVGH BeckRS 2014, 52569 = NVwZ-RR 2014, 693, 694 Rn. 4 ff.; OLG München NJOZ 2013, 1046 m. w. N; BayVGH BayVBl 2012, 341 = BeckRS 2012, 51241; BayVGH BayVBl 2012, 177 = BeckRS 2011, 56929; BayObLG, NJW-RR 1998, 161 = BayVBl 1997, 286; BayObLGZ 1952, 271; Widtmann/Grasser/Glaser, Bayerische Gemeindeordnung, 2020, Art. 38 GO Rn. 3 kritisch: Prandl/Zimmermann/Büchner/ Pahlke, 2019, Art. 38 GO Nr. 1 S. 2; Dietlein/Suerbaum/Wernsmann/Neudenberger, Kommunalrecht Bayern, 2020, Art. 38 GO Rn. 5 und Brötel, NJW 1998, 1676. 1268) BGH MittBayNot 2017, 299; BAG NVwZ-RR 2016, 924; BGH BeckRS 2016, 8885; dem folgend dann auch: OLG München MittBayNot 2018, 281.

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C. Organhaftung GmbH: Die Innenhaftung des GmbH-Geschäftsführers

1.4.20181269) gesetzlich1270) klarstellte,1271) dass der Umfang der Vertretungsmacht des Bürgermeister auf seine Befugnisse beschränkt ist, Art. 38 Abs. 1 Satz 2 BayGO. Damit ist die Vertretungsmacht des ersten Bürgermeisters (wieder) grundsätzlich davon abhängig, dass ein entsprechender Gemeinderats(oder Ausschuss-)Beschluss vorliegt.1272) Das Abstimmungsverhalten eines bayerischen Bürgermeisters in einer Gesellschafterversammlung, das nicht von der innergemeindlichen Willensbildung gedeckt ist, kann daher zu einem rechtswidrigen Gesellschafterbeschluss führen. Dieser ist zwar nicht nichtig, aber anfechtbar.1273) Da Stimmen mitgezählt werden, die (schwebend) unwirksam sind, liegt ein Fehler in der Beschlussfeststellung vor.1274) Gleiches gilt bei Fehlen einer kommunalaufsichtlichen Genehmigung1275) 774 oder wenn die Gemeinde, die nur über einen (einheitlichen) Gesellschaftsanteil verfügt, in der Gesellschafterversammlung durch mehrere Personen vertreten wird,1276) die nicht einheitlich abstimmen.1277) b) Prozessualer Vortrag und Gegenvortrag, Darlegungs- und Beweislast aa) Grundsätzliches insbesondere Pflichtverletzung Die Gesellschaft hat (nur)1278) dazulegen,1279) dass und inwieweit ihr durch 775 ein möglicherweise pflichtwidriges Verhalten des Geschäftsführers ein Scha___________ 1269) § 7 des Gesetzes zur Änderung des Gemeinde- und Landkreiswahlgesetzes und anderer Gesetze vom 22.3.2018 (GVBl. S. 145). 1270) § 2 Nr. 10 lit. b des Gesetzes zur Änderung des Gemeinde- und Landkreiswahlgesetzes und anderer Gesetze vom 22.3.2018 (GVBl. S. 145). 1271) LT-Drucks. 17/1465, S. 17 Nr. 35; kritisch: Prandl/Zimmermann/Büchner/Pahlke, 2019, Art. 38 GO S. 2 und Dietlein/Suerbaum/Wernsmann/Neudenberger, Kommunalrecht Bayern, 2020, Art. 38 GO Rn. 4.1. 1272) Aus Art. 93 Abs. 1 BayGO ergibt sich nach in Bayern h. M. nichts anderes: Prandl/ Zimmermann/Büchner/Pahlke, 2019, Art. 93 GO Nr. 1 S. 2; Widtmann/Grasser/Glaser, Bayerische Gemeindeordnung, 2020, Art. 93 GO Rn. 6; LT-Drucks. 13/10828, S. 17 Nr. 12.2 Abs. 3; a. A. offenbar: Dietlein/Suerbaum/Lueck, Kommunalrecht Bayern, 2020, Art. 93 GO Rn. 15. Problematisch ist jedoch, dass Art. 93 Abs. 1 BayGO im Jahre 1998 eingeführt wurde, also zu einer Zeit, zu der weder die bayerischen Gerichte noch der bayerische Gesetzgeber sich darüber im Klaren waren, dass nach Art. 38 Abs. 1 BayGO a. F. das Fehlen eines erforderlichen Gemeinderatsbeschlusses bis zur „Klarstellung“ durch den bayerischen Gesetzgeber keine Auswirkung auf die Vertretungsmacht des Bürgermeisters hatte. 1273) BGH NJW 1988, 1844, 1844 = ZIP 1988, 703. 1274) Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, Anh zu § 47 Rn. 49; Baumbach/Hueck/Zöllner/ Noack, GmbHG, Anh. § 47 Rn. 116; vgl. auch Göz, Rn. 182 ff. 1275) OLG Jena, v. 28.4.2009 – 6 W 42/09; Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, Anh zu § 47 Rn. 49. 1276) § 18 GmbHG findet hier keine Anwendung: Baumbach/Hueck/Servatius, GmbHG, § 18 Rn. 2; MünchKomm-GmbHG/Drescher, § 47 Rn. 83. 1277) Hierzu: Erle/Becker, NZG 1999, 58, 61 f.; Wehrstedt, MittRhNotK 2000, 269, 282. 1278) Zur Annäherung an eine Erfolgshaftung: Ehmann/Stetz, Rn. 688. 1279) Ehmann/Stretz, Rn. 716 f., sowie Rn. 718 f. (zu taktischen Fragen).

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den entstanden ist.1280) § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG gilt entsprechend.1281) Selbst der Nachweis eines möglicherweise pflichtwidrigen Handelns ist nicht erforderlich, wenn der dargelegte und ggf. bewiesene Schaden die tatsächliche Vermutung in sich trägt, dass er auf einer Pflichtverletzung des Geschäftsführers beruht.1282) 776 Diese Beweislasterleichterung für die Gesellschaft beruht darauf, dass der Geschäftsführer die Umstände seines Verhaltens und damit auch die Gesichtspunkte überschauen kann, die für die Beurteilung der Pflichtgemäßheit seines Verhaltens sprechen.1283) 777 Sodann hat der Geschäftsführer darzulegen1284) und zu beweisen, seinen Sorgfaltspflichten nachgekommen zu sein,1285) ein Rechtfertigungsgrund zu seinen Gunsten vorliegt,1286) ohne Verschulden gehandelt zu haben, dass der Schaden auch bei rechtmäßigen Alternativverhalten eingetreten wäre,1287) oder dass er einer wirksamen Weisung der Gesellschafterversammlung nachgekommen ist.1288)

___________ 1280) OLG Düsseldorf BeckRS 2019, 40843 Rn. 31; OLG München BeckRS 2018, 20350 Rn. 30 = GmbHR 2018, 1058 = ZInsO 2018, 23102310 = GWR 2019, 72 m. Anm. Schäfer; OLG München BeckRS 2015, 18376 Rn. 54; OLG München NZG 2013, 742, 743 = ZIP 2013, 1121; BGH NZG 2013, 1021, 1023 Rn. 22 = ZIP 2013, 1712 = DNotZ 2014, 138 = DStR 2013, 2071 = BB 2013, 2257 m. Anm. Wilsing = NJW 2013, 3636 m. Anm. Bryant; KG NZG 2011, 429, 432; BGH NZG 2009, 912 = ZIP 2009, 1467; BGH NZG 2008, 314, 315 = ZIP 2008, 736; BGH NZG 2003, 81, 82 = ZIP 2002, 2314; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 76 ff.; Michalski/ Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 475; Meckbach, NZG 2015, 580, 581. 1281) OLG Koblenz BeckRS 2015, 00712 Rn. 27; BGH NZG 2008, 314 = ZIP 2008, 736; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 77; Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 471. 1282) OLG Rostock OLG-NL 2006, 250, 251; BGH DB 1980, 2027, 2027; Michalski/ Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 477. 1283) BGH NZG 2003, 81, 82 = ZIP 2002, 2314; Meckbach, NZG 2015, 580, 581. Zur Herkunft und Entwicklungslinien der organhaftungsrechtlichen Beweislastverteilung: Fleischer/ Danninger, AG 2020, 193, 194 ff. 1284) Zum Umfang der erforderlichen Darlegungen: Ehmann/Stretz, Rn. 714. 1285) BGH BeckRS 2018, 32052 Rn. 18; BGH NZG 2003, 81, 82 = ZIP 2002, 2314. 1286) OLG Köln BeckRS 2019, 29423 = NZG 2020, 110, 112 Rn. 73 = GWR 2020, 30 m. Anm. Fuchs. 1287) OLG Düsseldorf BeckRS 2019, 40843 Rn. 31; OLG München BeckRS 2018, 20350 Rn. 30 = GmbHR 2018, 1058 = ZInsO 2018, 23102310 = GWR 2019, 72 m. Anm. Schäfer; OLG Koblenz BeckRS 2015, 00712 Rn. 27; OLG München NZG 2013, 742, 743 = ZIP 2013, 1121; BGH NJW 2013, 3636, 3638 = ZIP 2013, 1712; BGH NZG 2008, 104, 105 = ZIP 2008, 117; BGH NZG 2003, 81, 82 = ZIP 2002, 2314. 1288) OLG Brandenburg BeckRS 2013, 14631; BGH NJW 2008, 2437, 2441; Baumbach/ Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 81; Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 43 Rn. 54; BGH DStR 2015, 597, 599 (bei Handeln des Geschäftsführers im Einverständnis mit sämtlichen Gesellschaftern der Komplementär-GmbH).

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bb) Schaden Die Gesellschaft hat Eintritt und Höhe des Schadens darzulegen sowie die Ur- 778 sächlichkeit des Geschäftsführerverhaltens.1289) Die bloße Möglichkeit eines Schadens genügt ebenso wenig wie die bloße Vermögensgefährdung.1290) Für das Beweismaß gilt § 287 ZPO:1291) Es genügt der Vortrag von Tatsa- 779 chen, die für eine Schadensschätzung hinreichende Anhaltspunkte bieten.1292) Auch kommen die Grundsätze des Anscheinsbeweises zur Anwendung.1293) Nach herrschender Meinung gilt der allgemeine zivilrechtliche Schadensbegriff nach §§ 249 ff. BGB.1294) Danach ist der Schaden nach der Differenzhypothese zu ermitteln und zwar durch Vergleich der durch die Pflichtverletzung eingetretenen (Vermögens-)Lage der Gesellschaft (tatsächliche Lage) mit der Lage, die bei pflichtgemäßem Verhalten bestanden hätte (hypothetische Lage).1295) Ein Schaden kann nicht deshalb verneint werden, weil der Gesellschaft ein anderweitiger Anspruch gegen einen Dritten zusteht, durch dessen Realisierung der vom Schädiger verursachte Vermögensverlust ausgeglichen werden könnte.1296) Auf eine eingetretene Minderung des Gesellschaftsvermögens1297) sind im Zusammenhang mit dem Fehlverhalten des Geschäfts___________ 1289) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 79. 1290) MünchKomm-GmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 263; BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 309. 1291) Auch im Hinblick auf die Ursächlichkeit (BGHZ 152, 280, 287 = ZIP 2002, 2314), da diese wie bei Vertragsverletzungen zur haftungsausfüllenden Kausalität gehört: BGH NJW 2000, 509; OLG Hamm NZS 2014, 543, 544. 1292) BGH DStR 2007, 270, 271; BGH NZG 2003, 81, 83 = ZIP 2002, 2314; BGH NJW 2000, 509; BGH NJW-RR 2000, 1340, 1341; LG Saarbrücken NZV 2013, 33, 34 Baumbach/ Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 79; Meier-Greve, BB 2009, 2555, 2559. 1293) Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 488; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 79. 1294) OLG Frankfurt/M. BeckRS 2011, 27373; OLG Düsseldorf ZIP 1997, 27, 35 f.; LAG Düsseldorf BeckRS 2015, 65418; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 51; Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 449 ff.; Ziemons, in: Oppenländer/Trölitzsch, GmbHGeschäftsführung, 8. Kapitel, § 21 Rn. 9; BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 306 m. H. a. abweichende Ansichten: Rn. 306.1; MünchKommGmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 261 m. H. a. abweichende Ansichten: Rn. 262. Zur Besonderheiten etwa im Hinblick auf die Qualifizierung von (kartellrechtlichen) Bußgeldern als Vermögensschaden oder zur Anrechnung von Gesellschaftsvorteilen als Folge des pflichtwidrigen Geschäftsführerverhaltens: Fuchs/Zimmermann, JZ 2014, 838, 843 f. 1295) Hierzu etwa: BGH NZG 2008, 314, 315 = ZIP 2008, 736; LAG Düsseldorf NZKart 2015, 277, 278; OLG München NZG 2013, 742, 745 = ZIP 2013, 1121. Bei mehreren rechtlich zulässigen hypothetischen Verhaltensweisen gilt zugunsten des Geschäftsführers diejenige, bei der der auszugleichende Schaden am geringsten ist (Roth/Altmeppen/ Altmeppen, GmbHG, § 43 Rn. 103): auch insoweit kann sich hier die Business Judgement Rule (hierzu: Ultsch, Rn. 788 ff.) zugunsten des Geschäftsführers auswirken. 1296) BGH NJW 1982, 1806 = WM 1982, 488; OLG Düsseldorf BeckRS 2019, 40843 Rn. 28. 1297) Abzustellen ist auf die Verhältnisse der Gesellschaft und nicht etwa der Gesellschafter: Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 450; zum Verhältnis zu Schäden der Gesellschafter insbesondere „Reflexschäden“: Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 492 f.; BGH NJW 1969, 1712 = BB 1969, 973 (Haftung des Liquidators einer GmbH); Roth/ Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 13 Rn. 153 ff. sowie § 43 Rn. 109.

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führers stehende Vermögenszuwächse grundsätzlich anzurechnen.1298) Im Hinblick auf die Darlegungs- und Beweislast ist die Abgrenzung1299) von „unmittelbaren“ Vorteilen von anderen anzurechnenden Vorteilen. Während unmittelbare Vorteile bereits auf der ersten Ebene, also bei der Bemessung des Schadens, zu berücksichtigen sind (Darlegungs- und Beweislast bei der Gesellschaft),1300) sind andere Vermögenszuflüsse (erst) im Rahmen der Vorteilsausgleichung zu bewerten (Darlegungs- und Beweislast bei der Gesellschaft: Geschäftsführer als Schädiger).1301) Eine Anrechnung im Wege der Vorteilsausgleichung scheidet aus, wenn der Zweck der verletzten Norm der Anrechnung entgegensteht.1302) 780 Einzelheiten sind umstritten, etwa x

ob der Geschäftsführer bei Verträgen, die er unter Verletzung interner Kompetenzregelungen1303) abgeschlossen hat, einwenden kann, der Vertrag habe der Gesellschaft einen (mindestens) gleichwertigen Vorteil erbracht;1304)

x

ob insbesondere bei Kartellrechtsverstößen die sich daraus ergebenden Vorteile der Gesellschaft anzurechnen sind;1305)

x

ob und inwieweit Kartellbußen ersatzfähige Schäden darstellen;1306) das LG Saarbrücken hat im Sanitärkartellverfahren die Ersatzfähigkeit aus europarechtlichen Gründen („effet utile“ des Kartellrechts)1307) und wegen der „Gefahr weiterer Abwälzung auf D&O-Versicherer“1308) verneint;

___________ 1298) OLG Frankfurt/M BeckRS 2011, 27373; MünchKomm-GmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 25; DStR 2009, 1204, 1206; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 52; Henssler/Strohn/Oetker, § 43 GmbHG Rn. 35; BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 311; anders bei § 43 Abs. 3 GmbHG; hier liegt der Schaden bereits im Liquiditätsabfluss bei der Gesellschaft: Fleischer, DStR 2009, 1204, 1205; MünchKomm-GmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 45 und 293; BeckOK GmbHG/Ziemons/ Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 311 und 340 f. 1299) Zu den Abgrenzungsschwierigkeiten insbesondere dem Erfordernis einer wertenden Betrachtung: MünchKomm-BGB/Oetker, § 249 Rn. 21, 207 ff. und 228 ff. 1300) Ultsch, Rn. 778 ff. 1301) BGH NJW-RR 2004, 79, 81; BGH NJW-RR 1992, 1397. 1302) Henssler/Strohn/Oetker, § 43 GmbHG Rn. 35; MünchKomm-GmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 47. 1303) Zum Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens in solchen Fällen: Ultsch, Rn. 801 f. 1304) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 52; Geißler, GmbHR 2020, 293, 296; BGH NZG 2007, 185, 186 Rn. 10 = NJW 2007, 917 = DB 2007, 276 = DNotZ 2007, 539 = BB 2007, 285; BGH NJW-RR 1988, 995 = MDR 1988, 841; OLG München NZG 2000, 741, 743 = AG 2000, 426. 1305) MünchKomm-GmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 47; Fleischer, DStR 2009, 1204, 1210: Roth/ Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 43 Rn. 104. 1306) Zum Meinungsstand: BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.11.2020, § 43 Rn. 309.1 ff. 1307) LG Saarbrücken BeckRS 2020, 32440 Rn. 122 ff. 1308) LG Saarbrücken BeckRS 2020, 32440 Rn. 123 a. E.

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x

inwieweit gegenüber der Gesellschaft – etwa nach §§ 30 OWiG, 81 GWB-verhängte Verbandbußen vom Geschäftsführer zu ersetzen sind;1309) – der Entwurf des sog. Verbandssanktionengesetzes1310) schließt Regressansprüche des Unternehmens wegen der Leistung von Sanktionsgeldern jedenfalls nicht aus;1311)

x

ob der Gesellschaft durch Anwendung der Vorteilsausgleichung ein pflichtwidrig eingegangenes Geschäft gleichsam aufgedrängt werden darf;1312)

x

unter welchen Voraussetzungen von der Gesellschaft gezahlte „Schmiergelder und Provisionen“ Schäden der Gesellschaft darstellen.1313)

Soweit aus teleologischen Gründen eine Vorteilsausgleichung ausscheidet, 781 hat der Geschäftsführer aber einen Anspruch auf Herausgabe des Vorteils, ggf. im Wege der Abtretung, § 255 BGB.1314) Ausreichend ist etwa der Vortrag, dass die Gesellschaft Leistungen an Dritte 782 erbracht hat,1315) auch wenn offenbleibt, ob dem Dritten eine Forderung gegen die Gesellschaft zustand.1316) Gleiches gilt, wenn der Verbleib von Gesellschaftsmitteln, die der Geschäftsführer einer GmbH für diese eingenommen hat, aufgrund nicht ordnungsgemäßer, von ihm zu verantwortender Buch- und Kassenführung für die Gesellschaft nicht mehr aufklärbar ist, selbst wenn sich aus den Büchern kein Kassenfehlbestand ergibt.1317) Strittig ist, ob bei „wertneutralem Verhalten“, etwa bei der Erstattung von 783 Reisekosten, Besonderheiten gelten. Nach dem OLG Nürnberg hat hier die

___________ 1309) BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 309.2 f.; Grau/Dust, ZRP 2020, 134. 1310) Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft, Regierungsentwurf: BR-Drucks. 440/20. 1311) Giese/Dachner, ZIP 2020, 498, 503; Grau/Dust, ZRP 2020, 134, 135; Nolte/Michaelis, BB 2020, 1154, 1162. 1312) BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 310.1; BGH NJW-RR 1988, 995 = MDR 1988, 841; OLG München NZG 2000, 741, 743 = AG 2000, 426. 1313) BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 309.1; vgl. auch BGH BeckRS 2018, 37760 = GmbHR 2019, 401 m. Anm. Brand) sowie OLG München BeckRS 2018, 14085 Rn. 62 ff. = AG 2018, 758 – jeweils zum Begriff des Nachteils i. S. v. § 266 StGB. 1314) BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 310.1.; Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 464 f.; OLG München NZG 2000, 741, 743 f. = AG 2000, 426; KG BeckRS 2005, 02816 Rn. 36. 1315) Zur (Un-)Zulässigkeit des Bestreitens mit Nichtwissen nach § 138 Abs. 4 ZPO: BGH DStR 2020, 179 Rn. 12 = NZI 2020, 180 m. Anm. Baumert = ZInsO 2020, 141 = GmbHR 2020, 772. 1316) BGH BeckRS 2007, 13240 Rn. 5; zum Schaden bei Verträgen mit (geeigneten) Dienstleistern: OLG Düsseldorf GmbHR 2021, 30, 35 f. 1317) BGH NJW-RR 1991, 485, 486 = ZIP 1991, 159.

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Gesellschaft zusätzlich Umstände und Indiztatsachen darzulegen, die den Anschein begründen, das Verhalten des Organs wäre möglicherweise pflichtwidrig,1318) also etwa die fehlende Erforderlichkeit der Geschäftsreise. 784 Ist der Geschäftsführer für eine im Unternehmen geübte (pflichtwidrige) Praxis verantwortlich und scheidet der Geschäftsführer aus seinem Amt aus, stellt sich die Frage, inwieweit der Geschäftsführer für Schäden verantwortlich ist, die erst nach seinem Ausscheiden entstehen, aber auf der von ihm zu verantwortenden Praxis beruhen. Hier ist zu berücksichtigen, dass die Kausalität des Geschäftsführers trotz seines Ausscheidens fortdauert, seine Einwirkungsmöglichkeit aber mit seinem Ausscheiden endet.1319) cc) Pflichtverletzung und Verschulden 785 Der Geschäftsführer muss zur Abwendung eines Schadensersatzanspruches nachweisen, dass er die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters angewandt hat. § 43 Abs. 1 GmbHG konkretisiert den allgemeinen zivilrechtlichen Sorgfaltsmaßstab des § 276 Abs. 2 BGB1320) und betrifft gleichzeitig den Verschuldensmaßstab sowie die Organpflichten.1321) Es gilt ein objektiver Maßstab; auf die individuellen Eigenschaften des Geschäftsführers kommt es grundsätzlich nicht an.1322) Die Beweislast des Geschäftsführers bezieht sich sowohl auf die objektive Pflichtwidrigkeit (Rechtswidrigkeit) als auch auf die subjektive Pflichtwidrigkeit (Verschulden).1323) Die im Arbeitsrecht entwickelten Privilegierungen finden auf den Geschäftsführer, auch auf den Fremdgeschäftsführer, grundsätzlich keine Anwendung.1324) Umstritten ist, ob der Geschäftsführer bei Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr für jede Fahrlässigkeit einzustehen hat, oder ob in diesem

___________ 1318) OLG Nürnberg NZG 2015, 555 f. = ZIP 2015, 430 (zu § 93 Abs. 2 AktG); a. A.: Bauer, NZG 2015, 549, 550. 1319) KG BeckRS 2017, 142435 Rn. 21. 1320) Bayer, GmbHR 2014, 897, 898. 1321) Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 43 Rn. 11; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 7; wohl auch Maslo, Interessenwahrung und Rechtsschutz der Aktionäre beim Bezugsrechtsausschluss im Rahmen des genehmigten Kapitals, S. 162. 1322) BGH BeckRS 1981, 00074; Gehrlein, NZG 2020, 801, 804; zur Frage eines evtl. Mitverschuldens der Gesellschafterversammlung, wenn sie eine nicht hinreichend qualifizierte Person zum Geschäftsführer bestellt: Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 469; Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 43 Rn. 116. 1323) Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 484; Meier-Greve, BB 2009, 2555, 2559. 1324) AGH Nordrhein-Westfalen BeckRS 2020, 3712 Rn. 20; AGH München, v. 22.6.2020 – BayAGH I – 5 -09/2018 Rn. 101 –, juris; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 43; Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 43 Rn. 39; Werner, GmbHR 2014, 792, 793; Fleischer, ZIP 2014, 1305, 1306 (zur aktienrechtlichen Organhaftung); zu vereinbarten Haftungsbeschränkungen: Ultsch, Rn. 824 ff.; BGH BeckRS 2019, 31312 (zu § 64 Satz 2 GmbHG). Anders: Wilhelmi, NZG 2017, 681. Vgl. auch Fritz, NZA 2017, 673.

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Bereich die arbeitsrechtliche Privilegierung entsprechend oder der allgemeine Sorgfaltsmaßstab anzuwenden ist.1325) Auch Geschäftsführer von Gesellschaften mit ideellem Unternehmenszweck 786 genießen keine Haftungsprivilegierungen, insbesondere findet nach überwiegender Ansicht § 31a BGB1326) aus Gründen des Gläubigerschutzes keine Anwendung1327) und zwar auch dann nicht, wenn der Geschäftsführer „ehrenamtlich“ oder unentgeltlich für die Gesellschaft tätig ist.1328) Freilich können die Gesellschafter sich gegenüber dem Geschäftsführer zur Freistellung1329) verpflichten oder für eine D&O-Versicherung sorgen.1330) Der Geschäftsführer ist verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass sich die Ge- 787 sellschaft nach außen hin rechtmäßig verhält und die ihr kraft Gesetzes und Rechtsprechung obliegenden Pflichten erfüllt („Legalitätspflicht“).1331) Im Rahmen dieser Legalitätspflicht darf ein Geschäftsführer keine Gesetzesverstöße anordnen; er muss aber auch dafür Sorge tragen, dass das Unternehmen so organisiert und beaufsichtigt wird, dass keine derartigen Gesetzesverletzungen stattfinden1332) („Legalitätskontrollpflicht“). Bei entsprechender Gefahrenlage hat der Geschäftsführer eine auf Schadensprävention und Risikokontrolle angelegte Compliance1333)-Organisation einzurichten.1334) Im Rah___________ 1325) OLG Koblenz NJW-RR 1999, 911; BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 294 f.; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 43; Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 419 ff. – jeweils m. w. N. 1326) Zur Haftungsprivilegierung im Genossenschaftsrecht durch § 34 Abs. 2 Satz 3 GenG, eingefügt durch Art. 1 Nr. 10 lit. b des Gesetzes zum Bürokratieabbau und zur Förderung der Transparenz bei Genossenschaften vom 17.7.2017 (BGBl. I, 2434); hierzu: Beuthien, NZG 2017, 1247, 1248; MünchKomm-GmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 256b. 1327) Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 424; BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 297; vgl. hierzu auch: MünchKomm-GmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 256b. 1328) BGH DStR 2004, 513, 515 = MDR 2004, 519 = NJW-RR 2004, 900 (zu hauptamtlichen, ehrenamtlichen Mitglieder des Vorstandes einer Genossenschaft); Michalski/ Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 424; BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 297; vgl. hierzu auch: MünchKomm-GmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 256b. 1329) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 42. 1330) Ultsch, Rn. 890 ff. BGH DStR 2004, 513, 515 = MDR 2004, 519 = NJW-RR 2004, 900 (zu hauptamtlichen, ehrenamtlichen Mitglieder des Vorstandes einer Genossenschaft); Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 424; BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 297; vgl. hierzu auch: MünchKomm-GmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 256b. 1331) Ehmann/Stretz, Rn. 689. 1332) LG München I NZG 2014, 345, 346 (für das Vorstandsmitglied der AG). 1333) Krit. zur „Compliance“: Jahn, CCZ 2011, 139, 140 f.; dagegen: v. Blomberg, CCZ 2011, 225, 226 f. Zu den Compliance-Pflichten der Geschäftsleitung zur Schaffung und Erhaltung von Cybersicherheit; Habbe/Gergen, CCZ 2020, 281, 282 ff. 1334) LG München I NZG 2014, 345, 346 (für das Vorstandsmitglied der AG). Zu den Pflichten bei Hinweisen auf Non-Compliance: Ott/Lüneborg, CCZ 2019, 71; Habbe/Pelz, BB 2020, 1226, 1227 (auch zum Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft, sog. Verbandssanktionengesetz, Regierungsentwurf: BR-Drucks. 440/20). Die Ersatzfähigkeit von Kosten interner Ermittlungen: Lüneborg/Resch, NZG 2018, 209; Hoffmann/Schieffer, NZG 2017, 401. Zur „International Compliance“: Ebner/Leone, CCZ 2020, 7.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis

men dieser Legalitätspflicht steht dem Geschäftsführer kein Ermessen zu. Anders bei geschäftlichen und unternehmerischen Entscheidungen: Hier ist ein Ermessensspielraum der Geschäftsleitung anerkannt.1335) 788 Der Geschäftsführer kann in diesem Fall für einen Schaden nur haftbar gemacht werden, wenn er die Grenzen des weiten unternehmerischen Ermessens überschritten hat und/oder unverantwortliche Risiken eingegangen ist. Die Anwendung dieser sog. Business Judgement Rule1336) setzt damit Folgendes voraus:1337) x

Es muss sich um eine im Ermessen der Geschäftsführung liegende unternehmerische Entscheidung handeln.1338) Die Legalitätspflichten der Geschäftsführung müssen dabei beachtet sein, d. h. die Geschäftsführer dürfen in ihrer Entscheidung nicht bereits gebunden sein.

x

Die unternehmerische Entscheidung muss auf Grundlage angemessener Information getroffen werden.

x

Die so auf dieser Informationsgrundlage getroffene Entscheidung muss ausschließlich an den Interessen des Unternehmens orientiert sein und darf nicht von Eigeninteressen der Geschäftsführung oder sonstigen sachfremden Erwägungen beeinflusst sein.

789 Umgekehrt formuliert: Im Bereich der „unternehmerischen Entscheidungen“1339) liegt eine Pflichtverletzung des Geschäftsführers vor, wenn x

die Grenzen, in denen sich ein von Verantwortungsbewusstsein getragenes, ausschließlich am Unternehmenswohl1340) orientiertes, auf sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen beruhendes unternehmerisches Handeln bewegen muss, deutlich überschritten sind,

x

die Bereitschaft, unternehmerische Risiken einzugehen, in unverantwortlicher Weise überspannt worden ist, so bei Eingehung eines hohen, un-

___________ 1335) BGH NJW 2013, 3636, 3638 = ZIP 2013, 1712; BGH NJW 2008, 3361, 3362 f. = ZIP 2008, 1675; BGH NJW 2003, 358, 359 = ZIP 2002, 2314; BGH NJW 1997, 1926, 1927 = ZIP 1997, 883. 1336) Ehmann/Stretz, Rn. 721 f.; zur Business Judgement Rule bei Kollegialentscheidungen: Löbbe/Fischbach, AG 2014, 717 (differenzierend nach den Pflichten des „Berichterstatters“ und der übrigen Organmitglieder). 1337) Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 119 ff. m. w. N. Zur Abgrenzung unternehmerischer Entscheidungen nach Maßgabe der Business Judgement Rule von pflichtverletzendem Handeln: Goette/Goette, DStR 2016, 815. 1338) Bayer/Scholz, NZG 2019, 201, 204 (zu Kollegialentscheidungen und Näheverhältnissen). 1339) Zu den Kriterien der Business Judgement Rule bei Entscheidungen über „nützliche“ Vertragsbrüche: Bulgrin/Wolf, AG 2020, 367, 373 ff. (unter Berücksichtigung der COVID-19-Pandemie). 1340) Zu karitativem oder sozialem Engagement im Unternehmensinteresse: Geißler, GmbHR 2020, 293, 296.

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C. Organhaftung GmbH: Die Innenhaftung des GmbH-Geschäftsführers

abweisbaren Risikos, für dessen Übernahme ein vernünftiger wirtschaftlicher Grund nicht erkennbar war,1341) oder x

das Verhalten des Geschäftsführers aus anderen Gründen als pflichtwidrig gelten muss.1342)

Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass seine Entscheidung vom unter- 790 nehmerischen Ermessen gedeckt war, trägt der Geschäftsführer.1343) Entscheidend ist die ex-ante-Perspektive, da künftige Entwicklungen immer 791 mit Unsicherheit behaftet sind1344) Geht die Gesellschaft also aus § 43 Abs. 2 GmbHG vor, sollte sie zunächst untersuchen, ob und inwieweit ein Verstoß des Geschäftsführers gegen die Legalitätspflicht vorliegt. Dies kann insbesondere bei zwingenden Vorgaben des Wirtschaftsrechts,1345) des Insolvenzrechts1346) oder (anderer) öffentlich-rechtlicher Vorschriften der Fall sein.1347) Bei bürgerlich-rechtlichen Vorschriften, insbesondere bei Vertragspflichten, besteht keine Legalitätspflicht; der Geschäftsführer hat insoweit einen unternehmerischen Handlungsspielraum.1348) Auch die Durchsetzung von Ersatzansprüchen gegen externe Dritte unterliegt der Business Judgement Rule.1349) Ist eine maßgebliche Rechtslage offen oder durch Gerichtsentscheidungen 792 noch nicht abschließend geklärt, darf der Geschäftsführer eine vertretbare und für die Gesellschaft günstige Position einnehmen, sofern er auf Basis einer sorgfältigen Analyse der Rechtslage die Vor- und Nachteile des geplanten Vorgehens auch im Hinblick auf die damit verbundenen rechtlichen Risiken gegeneinander abwägt.1350) In der Regel muss sich der Geschäftsführer sachkundig beraten lassen,1351) also den Rat eines unabhängigen, fachlich qualifizierten Berufsträgers einholen, diesen über sämtliche für die Beurteilung er___________ 1341) OLG Brandenburg BeckRS 2020, 17754 Rn. 28 m. w. N. 1342) BGH NJW 2013, 3636, 3638 f. = ZIP 2013, 1712; BGH NJW 2008, 3361, 3362 f. = ZIP 2008, 1675; BGH NJW 2006, 522, 523; BGH NJW 1997, 1926, 1927 f. = ZIP 1997, 883; OLG Düsseldorf BeckRS 2015, 16131; zur dogmatischen Einordnung der Business Judgement Rule: Bayer, GmbHR 2014, 897, 898. 1343) BGH NZG 2013, 1021 Rn. 28; OLG Düsseldorf BeckRS 2019, 40843 Rn. 36. 1344) Bayer, GmbHR 2014, 897, 898. 1345) Z. B. Kartellrecht Fleischer, BB 2008, 1070, 1070. 1346) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 10. 1347) Umfassend zu den öffentlich-rechtlichen Organisationspflichten: Spindler, Unternehmensorganisationspflichten, S. 15 ff. 1348) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 13; MünchKomm-GmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 40; Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 76; Bulgrin/Wolf, AG 2020, 367, 368 f. 1349) Bayer/Scholz, NZG 2019, 201, 203 f. (mit Hinweis auf Besonderheiten, soweit es um Näheverhältnisse geht). 1350) Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 70 f. m. w. N. 1351) Eingehend: Fleischer, NZG 2010, 121, 121 ff.; zur dogmatischen Einordnung der Verpflichtung auf Einholung sachkundiger Beratung: Sander/Schneider, ZGR 2013, 725, 731.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis

heblichen Umstände ordnungsgemäß informieren und den Rat einer eigenen Plausibilitätskontrolle unterziehen.1352) Ein Verschulden des den Rat erteilenden fachlich qualifizierten Berufsträgers ist dem Geschäftsführer nicht nach § 278 BGB zuzurechnen; dieser wird nicht im Pflichtenkreis des Geschäftsführers, sondern in dem der Gesellschaft tätig.1353) 793 Da die Grenze zwischen Tun und Unterlassen fließend ist, obliegt dem Geschäftsführer auch dann der Entlastungsbeweis, wenn die Gesellschaft ihrem Geschäftsführer ein Unterlassen vorwirft.1354) Allerdings sind an den der Gesellschaft obliegenden Vortrag, der Geschäftsführer habe eine mögliche Pflichtverletzung begangen, konkretere Anforderungen zu stellen, um „frivolen Organhaftungsklagen“1355) vorzubeugen. Zwar hat der Geschäftsführer die Pflicht, den Unternehmenswert zu steigern;1356) wie soll er sich aber entlasten gegen den abstrakten Vorwurf, er habe es unterlassen, den Unternehmenswert zu verdoppeln, zu verdreifachen oder gar zu verzehnfachen? Die Gesellschaft hat also darzulegen, dass die Möglichkeit zu gebotenen positivem Tun bestand.1357) Der Umfang der Substantiierungspflicht ist vom konkreten Einzelfall abhängig. Entscheidend ist, inwieweit der Geschäftsführer im konkreten Fall die Umstände und die Gesichtspunkte, die für die Beurteilung der Pflichtmäßigkeit seines Verhaltens sprechen, besser als die Gesellschaft überschauen kann. 794 Unterlassungen kommen häufig bei Überwachungs- und Organisationspflichten vor. Diese sind insbesondere relevant bei der sog. Delegation. dd) Vertikale Delegation 795 Mit der Organstellung geht zwar die Verpflichtung einher, die Geschäftsführung umfänglich1358) und tatsächlich wahrzunehmen. Rein tatsächlich ist das Organ aber nicht in der Lage, alle Aufgaben der Unternehmensführung in eigener Person wahrzunehmen. Der Geschäftsführer muss und darf Aufgaben daher auf nachgeordnete Mitarbeiter übertragen (vertikale Delegation).1359) ___________ 1352) OLG Hamm BeckRS 2019, 17205 Rn. 233; BGH NZG 2011, 1271, 1273 Rn. 18 = NJW-RR 2011, 1670 = AG 2011, 876 = WM 2011, 2092; BGH BeckRS 2007, 13240 Rn. 3; BGH NJW 2007, 2118, 2120 = ZIP 2007, 1265; Freund, NJW 2013, 2545, 2546.; für das Vorstandsmitglied einer AG: BGH WM 2015, 1197, 1200. Florstedt, NZG 2017, 601, 607 f.; Weyland, NZG 2019, 1041, 1043 ff, 1353) BGH NZG 2011, 1271, 1273 Rn. 17 = NJW-RR 2011, 1670 = AG 2011, 876 = WM 2011, 2092; Weyland, NZG 2019, 1041, 1042. 1354) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. etwa 45. 1355) Ulmer/Habersack/Löbbe/Habersack/Paefgen, GmbHG, § 43 Rn. 209 Fn. 642. 1356) Vgl. Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 27. 1357) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 76. 1358) OLG Frankfurt/M. BeckRS 2019, 16088 Rn. 58 = GmbHR 2019, 940. 1359) OLG Frankfurt/M. BeckRS 2019, 16088 Rn. 59 = GmbHR 2019, 940; Michalski/ Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 164, 349 ff. m. w. N.

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C. Organhaftung GmbH: Die Innenhaftung des GmbH-Geschäftsführers

In jedem Fall muss der Geschäftsführer durch eine dem konkreten Unter- 796 nehmen angepasste Organisationsstruktur die Rechtmäßigkeit und Effizienz des Handelns der Gesellschaft sicherstellen: Die delegierten Aufgaben müssen entsprechend den Vorgaben der Geschäftsführung erledigt werden, die Arbeit der einzelnen Abteilungen muss koordiniert ablaufen, ein ausreichender Informationsfluss zwischen den einzelnen Hierarchieebenen bis hin zur Geschäftsführung muss gewährleistet sein. Zur Risikominimierung ist ein Risikomanagementsystem insbesondere dann erforderlich, wenn im Einzelfall der Betriebserfolg von bestimmten komplexen Betriebsabläufen entscheidend abhängt und diese Abläufe besonders störanfällig oder risikoträchtig sind. In Folge der Legalitätspflicht hat der Geschäftsführer organisatorisch sicherzustellen, dass es zu keinen Gesetzesverstößen durch Mitarbeiter der Gesellschaft kommt1360) und die der Gesellschaft obliegenden Rechtspflichten umfassend erfüllt werden.1361) Der Geschäftsführer hat im Rahmen einer Delegation Pflichten im Hinblick 797 auf die Person des Delegierten (Auswahlsorgfalt, Einweisungssorgfalt, Überwachungssorgfalt)1362) und allgemeine Organisationspflichten.1363) Dem Geschäftsführer verbleibt eine Restzuständigkeit. Damit er diese wahrnehmen kann, muss er unternehmensinterne Informations-, Organisations- und Kontrollstrukturen schaffen, damit er notwendige Informationen abrufen und ggf. einschreiten kann.1364) Bei Hinweisen auf Unregelmäßigkeiten oder Gesetzesverletzungen hat der Geschäftsführer diesen unverzüglich nachzugehen.1365) ee) Mehrere Geschäftsführer (horizontale Delegation) Auch wenn mehrere Geschäftsführer bestellt sind, gilt der Grundsatz der 798 Allzuständigkeit.1366) Soweit Geschäftsführungsaufgaben „ressortfähig“, also nicht zwingend durch die Gesamtgeschäftsführung zu erledigen sind, kann den einzelnen Geschäftsführern aber durch Satzung oder Geschäftsordnung

___________ 1360) OLG Frankfurt/M. BeckRS 2019, 16088 Rn. 59 = GmbHR 2019, 940. 1361) Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 165 ff. m. w. N. 1362) OLG Frankfurt/M. BeckRS 2019, 16088 Rn. 59 = GmbHR 2019, 940; OLG Hamm BeckRS 2016, 130998 Rn. 66; Fleischer, AG 2003, 291, 291 ff.; Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 357; BGHSt 9, 319, 323 (zum Umfang von Überprüfungen); BGH BeckRS 1986, 31168713 (zu den Grenzen von Überprüfungen); BGH GmbHR 1985, 143, 144 (zu Handlungspflichten bei Hinweisen auf Gesetzesverletzungen oder Unregelmäßigkeiten von Unternehmensangehörigen). 1363) VGR/Lutter, Gesellschaftsrecht in der Diskussion, VGR Bd. 1 (1999), Jahrestagung 1998, 87, 95 f. (zu allgemeinen Organisationsanordnungen und genauer Festlegung der Verantwortlichkeiten unter den Mitarbeitern). 1364) OLG Frankfurt/M. BeckRS 2019, 16088 Rn. 59 = GmbHR 2019, 940; Michalski/ Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 358. 1365) OLG Frankfurt/M. BeckRS 2019, 16088 Rn. 59 = GmbHR 2019, 940. 1366) Gehrlein, NZG 2020, 801, 804.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis

ein bestimmter Geschäftsbereich zugewiesen werden.1367) Nicht delegierbar ist aber der Kernbereich der Leitungsaufgaben.1368) 799 Auch die Einrichtung eines zweckmäßigen, auf die Art und Größe des Unternehmens zugeschnittenen Informationssystems, das die Wahrnehmung der Gesamtverantwortung ermöglicht und überdies die sachgerechte Leitung der einzelnen Ressortbereiche durch den jeweiligen Geschäftsführer gewährleistet, ist der Gesamtgeschäftsführung zugewiesen.1369) 800 Bei zulässiger horizontaler Delegation liegt die Verantwortung primär beim zuständigen Geschäftsführer. Bei den übrigen Geschäftsführern verbleibt aber eine Restzuständigkeit insbesondere im Hinblick auf die Recht- und Zweckmäßigkeit des gesamten Geschäftsbetriebs.1370) Jeder einzelne Geschäftsführer hat daher die Ressortgeschäftsführung seiner Mitgeschäftsführer zu überwachen und ggf. einzuschreiten,1371) im Notfall hat er sogar seinen Rücktritt anzudrohen, ggf. auch vorzunehmen.1372) ff) Rechtmäßiges Alternativverhalten 801 Eine Haftung des Geschäftsführers ist ausgeschlossen, soweit der entstandene Schaden auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten1373) eingetreten wäre. Der Geschäftsführer hat darzulegen und nachzuweisen, dass der Schaden auch bei pflichtgemäßem Verhalten auf jeden Fall eingetreten wäre. 802 Die h. L. versagte grundsätzlich die Berufung auf rechtmäßiges Alternativverhalten1374) bei der Verletzung von gesellschaftsinternen Kompetenz-, Organisations- und Verfahrensnormen und zwar unter dem Hinweis auf den ___________ 1367) Ehmann/Stretz, Rn. 708; Weyland, NZG 2019, 1041, 1042 f. 1368) Vgl. insg. Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 328 ff. m. w. N. Zur Geschäftsverteilung zwischen GmbH-Geschäftsführern bei der Haftung nach § 64 GmbHG: BGH NZG 2019, 225, 226 Rn. 15 ff. = NJW 2019, 1067 = ZIP 2019, 261 = NZI 2019, 225 = LMK 2019, 415387 m. Anm. Dieckmann = GWR 2019, 74 m. Anm. Otte/ Schürmann = BGH FD-InsR 2019, 414508 m. Anm. Calgacno; Peitsmeyer/Klesse, NZG 2019, 501. 1369) Vgl. Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 37 Rn. 18. 1370) Zur Haftung des Geschäftsführers für Markenverstoß: OLG Hamburg NZG 2013, 1310. 1371) ArbG Essen BeckRS 2014, 68462; BGHZ 133, 370, 378; Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 339 ff.; Freund, NJW 2013, 2545, 2546; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rn. 92, jeweils m. w. N.; Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 346 ff.: zur Pflicht, die Gesellschafterversammlung oder Dritte zu unterrichten. 1372) Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 348. 1373) Kein Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens bei nach § 64 GmbHG verbotenen Zahlungen: BGH WM 2020, 644 = NZG 2020, 517 = GWR 2020, 181 m. Anm. Fuchs. 1374) Zur Ablehnung des „schuldlosen Alternativverhaltens”: BGH NVwZ 2006, 245, 247; BGH NVwZ 1994, 409, 409; wobei für diese Rechtsfigur angesichts der doppelten Funktion von § 43 Abs. 1 GmbHG (Verschuldensmaßstab und Festlegung der Organpflichten: Ultsch, Rn. 785) freilich nur ein geringer Raum verbleiben würde.

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C. Organhaftung GmbH: Die Innenhaftung des GmbH-Geschäftsführers

Schutzzweck dieser Regeln.1375) Trifft der Geschäftsführer eine Entscheidung, ohne zuvor die erforderliche Zustimmung anderer Organe, etwa der Gesellschafterversammlung einzuholen, sollte die Haftung des Geschäftsführers ausnahmsweise entfallen, wenn das übergangene Organ zur Zustimmung verpflichtet gewesen wäre.1376) Nach Ansicht des BGH begründet ein Verstoß gegen die innergesellschaftliche Kompetenzordnung allein noch keine Schadensersatzpflicht.1377) Dem Geschäftsführer trifft allerdings die volle Beweislast für den Schadeneintritt bei Einhaltung der gesellschaftsinternen Zuständigkeitsordnung.1378) Bei der Feststellung des Schadens nach der Differenzhypothese1379) ist zu 803 Gunsten des Geschäftsführers diejenige hypothetische Entwicklung des Gesellschaftsvermögens maßgeblich, bei der die zu ersetzende Differenz, also der Schaden, am geringsten ist.1380) Bei Feststellung der hypothetischen Lage kann sich der Geschäftsführer also auf diejenige (rechtmäßige) hypothetische Handlung berufen, die das Gesellschaftsvermögen am wenigsten positiv entwickelt hätte.1381) Hatte der Geschäftsführer ein Leitungsermessen und traf seine Entschei- 804 dung aber unter Verletzung der Business Judgement Rule, etwa aufgrund unzureichend ermittelter Tatsachen, kommt dem Geschäftsführer die Business Judgement Rule im Rahmen des rechtmäßigen Alternativverhaltens zugute. Seine Haftung entfällt schon dann, soweit es im Rahmen des Leitungsermessens eine rechtmäßige Handlungsalternative gegeben hätte, die ebenfalls zum eingetretenen Schaden geführt hätte. Die Anwendung der Business Judgement Rule widerspricht auch in diesem Fall nicht deren Schutzzweck, eine auf richtiger und umfassender Tatsachenbasis beruhende Geschäftsleitungsentscheidung zu sichern. Im Gegenteil: die Nichtanwendung der Business Judgement Rule würde zur Ersatzfähigkeit von Schäden führen, die im Rahmen der Haftungsausfüllung außerhalb des Schutzzwecks Schadensersatznorm1382) liegen.

___________ 1375) Vgl. nur: Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 444. 1376) Str. vgl. Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 43 Rn. 53. 1377) BGH NZG 2018, 1189 Rn. 42 ff. = NJW 2018 3574 = ZIP 2018, 1923 = LMK 2018, 413368 m. Anm. Müller (anders noch die Vorinstanz: OLG Düsseldorf BeckRS 2016, 131770 Rn. 25); BGH NZG 2013, 1021 Rn. 32 f = ZIP 2013, 1712; OLG Düsseldorf BeckRS 2019, 40843 Rn. 38; Holle/Mörsdorf, NJW 2018, 3555; Wilsing/von der Linden, NZG 2018, 1416; Geißler, GmbHR 2020, 293, 297 ff. 1378) MünchKomm-GmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 266; BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 305. 1379) Ultsch, Rn. 779. 1380) Ziemons, in: Oppenländer/Trölitzsch, 8. Kapitel, § 21 Rn. 10; Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 450; Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 43 Rn. 103. 1381) Ziemons, in: Oppenländer/Trölitzsch, 8. Kapitel, § 21 Rn. 10. 1382) Vgl. hierzu: Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 43 Rn. 104 ff.

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gg) Besonderheiten nach Ausscheiden aus dem Amt? 805 Die Beweislastverteilung ändert sich auch nicht, wenn der Geschäftsführer aus dem Amt geschieden ist (str.).1383) Allerdings schützt die Rechtsprechung das ausgeschiedene Organ in zweierlei Hinsicht: Die Gesellschaft hat die angebliche Pflichtverletzung im Rahmen ihrer sekundären Darlegungslast näher zu bezeichnen.1384) Außerdem hat ihm die Gesellschaft Einsicht in die Geschäftsunterlagen (§ 810 BGB1385))zu gewähren, soweit dies zu seiner Verteidigung erforderlich ist.1386) Das Einsichtsrecht, das auch das Recht einschließt, Kopien anzufertigen,1387) bezieht sich aber nicht auf Unterlagen, die die Gesellschaft erst nach dem Ausscheiden des Geschäftsführers anfertigen oder einholen lassen hat.1388) Kommt die Gesellschaft dem Auskunfts- und/oder Einsichtsverlangen des ausgeschiedenen Geschäftsleiters nicht nach, geht dies zu Lasten der Gesellschaft. Noch nicht abschließend geklärt ist, ob insoweit lediglich eine sekundäre Darlegungslast der Gesellschaft entsteht, §§ 427, 444 ZPO entsprechende Anwendung findet oder eine Umkehr der Beweislast zu Lasten der Gesellschaft eintritt.1389) 806 In der Praxis führt dies zu erheblichem Streit, in welchem Umfang diese Einsicht zu gewähren ist, sofern die Unterlagen „noch auffindbar“1390) sind. Selbst wenn die Gesellschaft redlich ist und keine erheblichen Unterlagen zurückhalten will, kann sie in manchen Fällen die Relevanz anderer Unterlagen gar nicht beurteilen, insbesondere wenn sie Zusammenhänge verkennt. Daher kann sich der von ihr in Anspruch Genommene oft nicht sicher sein, ob sich aus anderen Unterlagen Entlastungsmomente für ihn ergeben können. Dies gilt insbesondere bei länger1391) zurückliegenden Sachverhalten. In ___________ 1383) Fleischer, NZG 2010, 121, 122; MünchKomm-GmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 274 (anders bei Rechtsnachfolgern der Geschäftsführer, (Erben) str.); krit. BeckOK GmbHG/ Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 325; offenlassend: OLG Köln BeckRS 2019, 29423 = NZG 2020, 110, 112 Rn. 72 = GWR 2020, 30 m. Anm. Fuchs.; vgl. auch Ehmann/Stretz, Rn. 726. Zum Meinungsstand: Fleischer/Danninger, AG 2020, 193, 196 f. (bei Gesamtrechtsnachfolge und sonstigem Ausscheiden aus dem Geschäftsleiteramt). 1384) BGH BeckRS 2018, 32052 Rn. 18; KG BeckRS 2017, 153615 Rn. 31 f.; OLG Koblenz BeckRS 2015, 00712 Rn. 27; BGH NJW 2003, 358, 358 f. = ZIP 2002, 2314; bei Vorstandsmitglieder einer AG: OLG Nürnberg BeckRS 2014, 22840 Rn. 25; Ehmann/ Stretz, Rn. 726. 1385) OLG Köln BeckRS 2019, 29423 Rn. 74; zum Aktienrecht: Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, § 93 Rn. 224a; Ehmann/Stretz, Rn. 726. 1386) BGH BeckRS 2018, 32052 Rn. 18; OLG Koblenz BeckRS 2009, 25729; BGH NJW 2003, 358, 359 = ZIP 2002, 2314; Ehmann/Stretz, Rn. 726 sowie Röckrath, Rn. 1558 mit Meinungsstand zum Umfang der Einsichts- und Auskunftsrechte des ausgeschiedenen Geschäftsleiters. 1387) Ehmann/Stretz, Rn. 726. 1388) Ehmann/Stretz, Rn. 726; Deilmann/Otte, BB 2011, 1291, 1293; MünchKomm-AktG/ Spindler, § 93 Rn. 212 m. w. N. (zum Vorstand einer AG). 1389) Röckrath, Rn. 1558. 1390) BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 325. 1391) Verjährungsfrist nach § 43 Abs. 4 GmbHG: 5 Jahre!

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gewisser Hinsicht kann hier eine sorgfältige Dokumentation durch den amtierenden Geschäftsführer vorbeugen, notfalls in Verbindung mit Aktenvermerken und der Benennung relevanter Unterlagen. In der Praxis helfen sich Geschäftsführer (prophylaktisch) durch Erstellung von Kopien und deren privater Verwahrung. Sie sollten in diesem Zusammenhang allerdings Vorsicht walten lassen: Beim Ausscheiden des Geschäftsführers aus dem Amt kann die Gesellschaft die Herausgabe (Löschung) der Kopien verlangen, jedenfalls wenn es sich um geheimhaltungsbedürftige Unterlagen handelt oder Grund zur Annahme besteht, die Unterlagen könnten in unbefugte Hände geraten.1392) Streit ist vorprogrammiert, zumal der BGH wohl noch weitergeht: Im Zusammenhang mit ehemaligen Aufsichtsratsmitglieder hat er entschieden, dass diese verpflichtet sind, über die in ihren Besitz gelangten Unterlagen der Gesellschaft Auskunft zu erteilen sowie sie herauszugeben und zwar auch selbst angefertigte Kopien.1393) Dem ausgeschiedenen Organ steht insoweit grundsätzlich auch kein Zurückbehaltungsrecht, etwa wegen offener Vergütungsansprüche, zu.1394) Die bloß abstrakte Möglichkeit, von der Gesellschaft auf Schadensersatz in Anspruch genommen zu werden und in diesem Fall auf die Unterlagen zur Verteidigung angewiesen zu sein, begründet nach der Ansicht des BGH kein vorübergehendes Recht zum Behalten der Unterlagen.1395) Die Gesellschaft kann dem Geschäftsführer im Anstellungsvertrag ggf. weitergehende Rechte einräumen.1396) 2. Insbesondere: Ausschluss und Begrenzung der Haftung a) Weisung und Zustimmung der Gesellschafterversammlung Da der Geschäftsführer Weisungen der Gesellschafterversammlung zu be- 807 folgen hat, beschränken Weisungen seine rechtliche Verantwortlichkeit.1397) Voraussetzung hierfür ist jedoch eine wirksame1398) Weisung. Haftungsbefreiend können auch Beschlüsse wirken, die die Geschäftsführung zu einem bestimmten Verhalten ermächtigen, aber nicht verpflichten, oder Beschlüsse, die einem bestimmten Verhalten in der Zukunft oder Vergangenheit zustimmen.1399) ___________ 1392) MünchKomm-AktG/Spindler, § 84 Rn. 113 (zum Vorstand einer AG). 1393) BGH NZG 2008, 834, 834 f. = ZIP 2008, 1821; Meckbach, NZG 2015, 580, 582. 1394) MünchKomm-AktG/Spindler, § 93 Rn. 212 (zum Vorstand einer AG). 1395) BGH NZG 2008, 834, 834 = ZIP 2008, 1821; Meckbach, NZG 2015, 580, 582. 1396) Bayer, GmbHR 2014, 897, 900. 1397) Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, § 42 Rn. 90; BGH DStR 2015, 597, 599; BGH NJW 2008, 2437, 2441; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 16; Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 43 Rn. 54; LG München II NZG 2017, 505. 1398) Zu den Grenzen enthaftender Weisungen: Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 17 ff. sowie LG München II NZG 2017, 505. Vgl. auch § 2 Abs. 2 Satz 2 StaRUG, hierzu: Ultsch, Rn. 754 a. E. 1399) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 16 ff.

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808 Es obliegt dem Geschäftsführer darzulegen und ggf. zu beweisen, dass er einer wirksamen Weisung der Gesellschafterversammlung nachgekommen ist.1400) Gleiches gilt für die Zustimmung der Gesellschafterversammlung.1401) b) Verzicht und Vergleich insbesondere Entlastung 809 Anders als die Aktiengesellschaft1402) kann die Gesellschaft mit beschränkter Haftung grundsätzlich Schadensersatzansprüche gegen ihre Geschäftsleiter erlassen,1403) auf sie verzichten1404) oder sich hierüber vergleichen.1405) Analog § 46 Nr. 8 GmbHG bedarf es eines Gesellschafterbeschlusses.1406) Gleiches gilt für die Annahme von Leistungen an Erfüllungs statt (§ 364 Abs. 1 BGB) oder erfüllungshalber (§ 364 Abs. 2 BGB)1407) oder die Stundung von Ersatzansprüchen1408) sowie für die für Vereinbarungen über Verjährungs-1409) und Ausschlussfristen (Verfallklauseln).1410) Der Verzicht kann etwa durch eine Generalbereinigung1411) oder im Wege einer Abgeltungsklausel (Verfallklausel) in einem Aufhebungsvertrag erfolgen.1412) Dem Geschäftsführer ist die Berufung auf eine Abgeltungsklausel in einer Aufhebungsvereinbarungen nach Treu und Glauben im Hinblick auf einen arglistig verschwiegenen, der ___________ 1400) BGH NJW 2008, 2437, 2441; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 81; Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 43 Rn. 54. 1401) Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 43 Rn. 54. 1402) Ehmann/Stretz, Rn. 698 und Rn. 704. 1403) MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 244. 1404) MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 244; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 60; zum Haftungsverzicht als Erlassvertrag i. S. v. § 397 BGB: Podewils, GmbH-StB 2014, 177, 178. Vgl. aber § 3 Abs. 4 StaRUG, hierzu: SanInsFoG-Regierungsentwurf, BR-Drucks. 619/20, S. 121. 1405) MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 244; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 60; zu den Grenzen insbesondere bei Verstößen gegen die Kapitalschutzvorschriften (§§ 30, 33 GmbHG) einerseits und bei Anfechtbarkeit andererseits: MünchKomm-GmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 281. Vgl. aber § 3 Abs. 4 StaRUG, hierzu: SanInsFoG-Regierungsentwurf, BR-Drucks. 619/20, S. 121. 1406) MünchKomm-GmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 282; MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 244; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 60. 1407) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 60; MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 244. 1408) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 60; MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 244; vgl. auch OLG München BeckRS 2018, 20331 Rn. 63 = AG 2019, 221 = EWiR 2019, 105 m. Anm. Korkmaz und OLG München BeckRS 2018, 14085 Rn. 71 = AG 2018, 758; OLG München BeckRS 2017, 105545 Rn. 33 = AG 2017, 631 – jeweils zur Stundung und zu einem pactum de non petendo. 1409) Ultsch, Rn. 840. 1410) OLG Brandenburg NZG 1999, 210, 211 m. Anm. Brandes; MünchKomm-GmbHG/ Liebscher, § 46 Rn. 244, hierzu: Ultsch, Rn. 816 ff. 1411) Hierzu: Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 66 ff.; MünchKomm-GmbHG/ Liebscher, § 46 Rn. 167 ff. 1412) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 66; MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 244.

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Gesellschaft durch ungetreues Verhalten entstandenen Schaden verwehrt.1413) Der Verzicht auf Ersatzansprüche kann der Insolvenzanfechtung (§ 134 InsO) unterliegen.1414) In der Praxis hat die Entlastung des Geschäftsführers durch Beschluss der 810 Gesellschafterversammlung (§ 46 Nr. 5 GmbHG) eine große Bedeutung. Rechtlich bedeutet Entlastung die Billigung der bisherigen Amtsführung.1415) Die Gesellschafter erklären ihr Einverständnis1416) mit der Geschäftsführungstätigkeit. Sie ist abzugrenzen von der Generalbereinigung,1417) die einen Verzicht oder Vergleich über konkrete Ansprüche zum Gegenstand hat.1418) Erteilt die Gesellschaft die Entlastung, setzte sie sich in Widerspruch zu ihrem eigenen Verhalten, wenn sie aus dieser Geschäftsführungstätigkeit im Nachhinein doch noch Ansprüche herleitete (venire contra factum proprium).1419) Das Entfallen von Ansprüchen ohne Rücksicht auf ihre etwaige Berechtigung in sonstiger Hinsicht ist nicht Gegenstand oder Ziel der Entlastung, sondern (nur) deren Folge.1420) Im sachlichen und zeitlichen Umfang der Entlastung sind Ansprüche der Gesellschaft gegen den entlasteten Geschäftsführer präkludiert.1421) Die Präklusion ist grundsätzlich auf den Zeitraum beschränkt, der sich aus 811 dem Entlastungsbeschluss ergibt (Entlastungsperiode).1422) Einzelheiten der zeitlichen Reichweite sind ungeklärt, insbesondere bei wiederholten Pflicht___________ 1413) OLG München BeckRS 2018, 8417 Rn. 23 = GmbHR 2018, 733 = FD-ArbR 2018, 407627 m. Anm. Arnold; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 66; MünchKomm-BGB/Schubert, § 242 Rn. 24. 1414) OLG Frankfurt/M. BeckRS 2017, 124842 Rn. 60 = ZInsO 2018, 64 = GmbHR 2017, 974 m. Anm. Kuna; MünchKomm-GmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 281. 1415) MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 134; BeckOK GmbHG/Schindler, Stand: 1.8.2020, § 46 Rn. 66. 1416) Zum Ausschluss der Haftung bei Handeln des Geschäftsführers im (stillschweigenden) Einverständnis aller Gesellschafter: OLG Frankfurt/M. BeckRS 2019, 16088 Rn. 64 = GmbHR 2019, 940; OLG München BeckRS 2018, 20350 Rn. 48 ff. = GmbHR 2018, 1058 = ZInsO 2018, 23102310 = GWR 2019, 72 m. Anm. Schäfer; KG BeckRS 2017, 153615 Rn. 26 f.; OLG Köln BeckRS 2016, 20545 Rn. 58 = ZInsO 2017, 1491 = GWR 2017, 18 m. Anm. Otte-Gräbener. 1417) BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 384 ff.; Podewils, GmbHStB 2014, 177, 179. 1418) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 66, 68; Baumbach/Hueck/Zöllner/ Noack, GmbHG, § 46 Rn. 49 m. w. N. 1419) BeckOK GmbHG/Schindler, Stand: 1.8.2020, § 46 Rn. 67; Podewils, GmbH-StB 2014, 177, 179. 1420) OLG Düsseldorf GmbHR 2021, 30, 31. 1421) BeckOK GmbHG/Schindler, Stand: 1.8.2020, § 46 Rn. 68 f.; MünchKomm-GmbHG/ Liebscher, § 46 Rn. 144; Michalski/Römermann, GmbHG, § 46 Rn. 277; Scholz/K. Schmidt, GmbHG, § 46 Rn. 89; Ulmer/Habersack/Löbbe/Hüffer/Schürnbrand, GmbHG, § 46 Rn. 67; BGH NJW 1986, 129, 130 = ZIP 1985, 1325; KG BeckRS 2014, 12837: „Im Umfang der Entlastung wird die Gesellschaft mit Ansprüchen aus solchen Tatsachen ausgeschlossen“. 1422) MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 146.

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verletzungen selbständiger Art. In diesem Fall entsteht mit jeder einzelnen Pflichtverletzung und dem durch sie verursachten Schaden ein neuer Anspruch, der einer eigenen, neuen Verjährung unterliegt.1423) Hier sollen zukunftsgerichtet nur neue Pflichtverletzungen, die zu einem neuen Schaden führen, nicht von der vorangehenden Entlastung umfasst sein.1424) Heißt das im Umkehrschluss, dass Ansprüche aus der bloßen Fortsetzung ein- und derselben Pflichtverletzung über die Entlastungsperiode präkludiert sind, auch wenn sich der bereits entstandene Schaden dadurch vertieft? Richtigerweise ist der Entlastungsbeschluss im jeweiligen Einzelfall auszulegen, um dessen Reichweite und ein hieraus folgendes Vertrauen des Geschäftsführers, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden, festzulegen. 812 In sachlicher Hinsicht1425) erstreckt sich die Präklusion nicht unterschiedslos auf alle der Entlastungsperiode objektiv zuzurechnenden1426) Ansprüche. Ausgeschlossen sind vielmehr nur die Ansprüche, die für die Gesellschafterversammlung bei sorgfältiger Prüfung aller Vorlagen und Berichte der Geschäftsführer erkennbar1427) sind oder von denen alle1428) Gesellschafter sonst positive Kenntnis1429) haben.1430) Höchstrichterlich ungeklärt und in der Literatur umstritten ist, ob das Unterlassen weiterer Sachverhaltsaufklärung durch die Gesellschafter ebenfalls zur Präklusion führen kann. Nach wohl überwiegender Ansicht dürfen sich die Gesellschafter auf die Bewertung der von der Geschäftsleitung mitgeteilten Informationen beschränken; eigene weitere Sachverhaltsaufklärung (z. B. über den Weg nach § 51a GmbHG) ist nicht erforderlich, auch wenn die Gesellschafter vor offenkundigen Umständen nicht die Augen verschließen dürfen.1431) Die bloße Unvollständigkeit und/oder Unklarheit der Berichterstattung beeinträchtigen die Präklusions___________ 1423) OLG Bamberg BeckRS 2015, 11782 Rn. 35; OLG Hamm NZG 2010, 589, 591; Palandt/ Ellenberger, BGB, § 199 Rn. 22. 1424) MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 146. 1425) MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 145. 1426) Hierzu sogleich: Ultsch, Rn. 813. 1427) Zur Beweislast: OLG München GmbHR 2013, 813 ff.; OLG Düsseldorf GmbHR 2021, 30, 32. 1428) Str.: vgl. Michalski/Römermann, GmbHG, § 46 Rn. 285 einerseits und BGH NJW 1969, 131, 131 andererseits; OLG Düsseldorf BeckRS 2019, 40843 Rn. 40; zur Treuwidrigkeit der Entlastungsentscheidung, wenn Gesellschafter nicht über die erforderlichen Informationen verfügen: OLG Nürnberg BeckRS 2014, 15189. 1429) Zu Zurechnungsfragen analog § 166 BGB: OLG Düsseldorf GmbHR 2021, 30, 32. 1430) OLG München BeckRS 2013, 03726; LG Stuttgart BeckRS 2011, 03400; BGH NJW 1986, 129, 130; BGH WM 1976, 736, 737; BGH NJW 1959, 192, 194; MünchKommGmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 147; Michalski/Römermann, GmbHG, § 46 Rn. 280 ff.; Ulmer/Habersack/Löbbe/Hüffer/Schürnbrand, GmbHG, § 46 Rn. 74. 1431) MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 148; Scholz/K. Schmidt, GmbHG, § 46 Rn. 94; wohl auch Michalski/Römermann, GmbHG, § 46 Rn. 281; für weitergehende Obliegenheit zur Sachverhaltsaufklärung: BeckOK GmbHG/Schindler, Stand: 1.8.2020, § 46 Rn. 68.

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wirkung wohl nicht,1432) solange die Berichterstattung nicht irreführend oder widersprüchlich ist oder die Geschäftsführer Nachfragen durch unwahre Angaben, das Verschweigen oder die Verschleierung von Tatsachen zerstreuen.1433) Ein Haftungssachverhalt ist jedenfalls dann einer Entlastungsperiode objek- 813 tiv zuzurechnen, wenn die sich daraus ergebenden Ansprüche in dieser Periode entstanden sind.1434) Das Abstellen auf die Anspruchsentstehung bereitet aber dann Schwierigkeiten, wenn mögliche Ansprüche bereits in Vorperioden, für die die Gesellschaft bereits einen Entlastungsbeschluss gefasst hat, entstanden sind, die die Ansprüche begründenden Tatsachen der Gesellschafterversammlung aber erst später bekannt oder erkennbar werden. Der Entlastungsbeschluss der Vorperiode erfasst solche Ansprüche mangels damaliger Erkennbarkeit nicht. Der neu gefasste Entlastungsbeschluss würde trotz Erkennbarkeit der Tatsachen insoweit keine Präklusionswirkung entfalten, weil die Ansprüche bereits in einer Vorperiode entstanden sind. Daher sollte als Maßstab, nach dem ein Haftungssachverhalt einer Entlastungsperiode zuzuordnen ist, nicht der Zeitpunkt der Anspruchsentstehung herangezogen werden, sondern der Zeitpunkt der Kenntniserlangung (oder der Erkennbarkeit) im Hinblick auf die anspruchsbegründenden Tatsachen.1435) Die Zuordnung eines Haftungssachverhalts am Maßstab der Kenntnis/Erkennbarkeit anstelle der Anspruchsentstehung stellt sicher, dass die Präklusionswirkung nicht in solchen Fällen ausscheidet, in denen Anspruchsentstehung und Kenntniserlangung zufällig in verschiedenen Entlastungsperioden fallen.1436) Von der Präklusionswirkung sind Ansprüche1437) der Gesellschaft wegen Ver- 814 letzung der Vorschriften zur Kapitalaufbringung und -erhaltung ebenso wenig erfasst wie solche wegen Insolvenzverschleppung.1438) Nach dem Rechtsgedanken von § 3 Abs. 4 StaRUG sollten von der Präklusionswirkung ebenso ___________ 1432) MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 147; Michalski/Römermann, GmbHG, § 46 Rn. 281; Ulmer/Habersack/Löbbe/Hüffer/Schürnbrand, § 46 Rn. 73; Scholz/K. Schmidt, GmbHG, § 46 Rn. 94; zurückhaltender: BeckOK GmbHG/Schindler, Stand: 1.8.2020, § 46 Rn. 68. 1433) MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 147; Michalski/Römermann, GmbHG, § 46 Rn. 282; BeckOK GmbHG/Schindler, Stand: 1.8.2020, § 46 Rn. 68. 1434) MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 146. 1435) BeckOK GmbHG/Schindler, Stand: 1.8.2020, § 46 Rn. 69; vgl. auch OLG Hamburg, v. 26.11.1999 – 11 U 182/98, juris Rn. 36; Ruchatz, GmbHR 2016, 681, 683 f. 1436) Hierzu: Ruchatz, GmbHR 2016, 681, 683. 1437) Zum gegenständlichen Umfang der Präklusion: Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 46 Rn. 56; MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 149 ff.; Baumbach/Hueck/ Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 41; Michalski/Römermann, GmbHG, § 46 Rn. 286 ff. (Ansprüche) und Rn. 2889 f. (sonstige Rechte); BeckOK GmbHG/Schindler, Stand: 1.8.2020, § 46 Rn. 67. 1438) Scholz/K. Schmidt, GmbHG, § 46 Rn. 95. In diesem Fall wirkt auch ein Handeln des Geschäftsführers im (stillschweigenden) Einverständnis aller Gesellschafter nicht haftungsausschließend: OLG München BeckRS 2018, 20350 Rn. 64 = GmbHR 2018, 1058 = ZInsO 2018, 23102310 = GWR 2019, 72 m. Anm. Schäfer; KG BeckRS 2017, 153615 Rn. 26 f.; OLG Köln BeckRS 2016, 20545 Rn. 58 = ZInsO 2017, 1491 = GWR 2917, 18 m. Anm. Otte-Gräbener.

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Restrukturierungsverschleppungshaftungs-Ansprüche der Gesellschaft nach § 3 Abs. 1 StaRUG1439) sein. 815 Soweit Verzicht, Vergleich oder Entlastung1440) Ansprüche der Gesellschaft ausschließen, gilt dies auch zu Gunsten des D&O-Versicherers. Die Gesellschaft kann diese Wirkung nicht auf den Geschäftsführer beschränken. Besteht grundsätzlicher D&O-Versicherungsschutz, wofür regelmäßig die Gesellschaft bezahlt, wahrt die Gesellschaft ihr Interesse an der Erhaltung ihrer Ansprüche aus § 43 Abs. 2 GmbHG am besten, wenn sie grundsätzliche keine Beschlüsse zur Entlastung der Geschäftsführer fasst. Ein Anspruch auf Entlastung steht dem Geschäftsführer nicht zu.1441) Allerdings soll der Geschäftsführer bei grundloser oder unberechtigter Entlastungsverweigerung zur Amtsniederlegung, ggf. kombiniert mit außerordentlicher Kündigung seines Anstellungsvertrages, berechtigt sein.1442) Diese Auffassung ist zweifelhaft, weil sie dem Geschäftsführer mittelbar eine Position verschafft, im Jahresturnus von der Gesellschaft einen „Anspruchsverzicht“ zu verlangen. Ein solches „Recht“ steht anderen (potentiellen) Schuldnern auch bei Dauerschuldverhältnissen nicht zu; anspruchsbegrenzend wirkt dort primär nur die Verjährung – diese aber mit grundsätzlich längeren Fristen (§§ 195, 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB). Jedenfalls soweit die Gesellschaft dem Geschäftsführer einen D&OVersicherungsschutz zur Verfügung stellt und im Anstellungsvertrag des Geschäftsführers klargestellt ist, dass die Gesellschaft keine Entlastungsbeschlüsse erteilt, sollte der Geschäftsführer auf ausbleibende Entlastungsbeschlüsse nicht mit Amtsniederlegung und Kündigung seines Anstellungsvertrages reagieren dürfen. c) Vertragliche Verfallklauseln in Anstellungsvertrag 816 Anstellungsverträge von GmbH-Geschäftsführern enthalten oft sog. Verfallklauseln, auch Ausschlussklauseln genannt, z. B.: 11.1: „Sämtliche Ansprüche aus diesem Dienstverhältnis sowie sämtliche Ansprüche, die mit diesem Dienstverhältnis in Zusammenhang stehen, müssen innerhalb von sechs Monaten nach ihrer Fälligkeit schriftlich geltend gemacht werden. Werden sie nicht form- und/oder fristgerecht geltend gemacht, so verfallen sie. Aus-genommen von dem Verfall sind jedoch Ansprüche bei Haftung aufgrund unerlaubter Handlung. 11.2: „Lehnt die in Anspruch genommene Partei den Anspruch ab oder erklärt sie sich nicht innerhalb von drei Wochen nach Geltendmachung des Anspruchs, so verfällt der Anspruch wiederum, wenn er nicht innerhalb von ___________ 1439) Ultsch, Rn. 761. 1440) Krit. zu (vorschnellen?) Entlastungen bei Gesellschaften der öffentlichen Hand: Faßbender, NZG 2015, 501, 508. 1441) BGH NJW 1986, 129, 130; Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, § 46 Rn. 28; a. A.: Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 46. 1442) Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, § 46 Rn. 28.

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drei Monaten nach der Ablehnung oder dem Ablauf der vorstehend vorgesehenen Dreiwochenfrist gerichtlich geltend gemacht wird.“ Ist eine solche Verfallklausel wirksam1443) vereinbart,1444) stellt sich die Frage, 817 ob dem Verfall nur vertragliche Ansprüche aus dem Dienstverhältnis unterliegen oder auch Ansprüche aus § 43 Abs. 2 GmbHG.1445) Jedenfalls soweit sich die Verfallklausel nach ihrem Wortlaut nicht nur auf 818 „Ansprüche aus diesem Dienstverhältnis“ bezieht, sondern auch auf „Ansprüche, die mit diesem Dienstverhältnis in Zusammenhang stehen“, erfasst sie auch die Organhaftungsansprüche wie solche aus § 43 Abs. 2 GmbHG. Schwieriger ist die Auslegung von Klauseln, nach deren Wortlaut nur An- 819 sprüche aus dem Dienstverhältnis dem Verfall unterliegen sollen. Jedenfalls soweit sich der Anstellungsvertrag auch auf organschaftliche Rechte und Pflichten wie die Pflicht zur Befolgung von Weisungen der Gesellschaft sowie von Gesetz und Satzung oder die Verschwiegenheitspflicht bezieht, unterliegen auch Organhaftungsansprüche wie solche aus § 43 Abs. 2 GmbHG dem Verfall.1446) Für diesen Gleichlauf spricht, dass die Haftung aus dem Geschäftsführervertrag und diejenige aus § 43 Abs. 2 GmbHG keine voneinander unabhängige Bedeutung haben, insbesondere nicht in Anspruchskonkurrenz zueinander stehen, und dass § 43 Abs. 2 GmbHG als weitere Spezialregelung die vertragliche Haftungsgrundlage in sich aufnimmt.1447) Der Verfall von Ansprüchen tritt üblicherweise dann ein, wenn diese nicht 820 innerhalb der in der Verfallfrist vorgesehenen Frist1448) nach Fälligkeit gel___________ 1443) § 46 Nr. 5 und 8 Alt. 1 GmbHG. Einzelheiten, insbesondere beim Auseinanderfallen der Kompetenz für den Abschluss des Anstellungsvertrags (§ 46 Nr. 5 GmbHG) und der Kompetenz für die Geltendmachung von Ansprüchen nach § 46 Nr. 8 Alt. 1 GmbHG: OLG Brandenburg NZG 1999, 210 m. Anm. Brandes; BeckOK GmbHG/ Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 363; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 107; Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 43 Rn. 149; Henssler/Strohn/ Oetker, § 43 GmbHG Rn. 73 – jeweils m. w. N. Zur Zuständigkeit der Gesellschafterversammlung für den Abschluss des Anstellungsvertrags: BGH NZG 2019, 861, 862 Rn. 18 = WM 2019, 1348 = DStR 2019, 1532; zur satzungsmäßigen Kompetenzübertragung auf den Aufsichtsrat: BGH NJW 2019, 3718, 3720 Rn. 21 = NZA-RR 2019, 524 = NZG 2019, 1154. 1444) Zur Disponibilität der Geschäftsführerhaftung: Ultsch, Rn. 815 ff. 1445) Zu den Grenzen von Verfallklauseln insbesondere unter dem Gesichtspunkt existenzvernichtender Eingriffe: Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 107; Roth/ Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 43 Rn. 148; Henssler/Strohn/Oetker, § 43 GmbHG Rn. 73; MünchKomm-GmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 332. 1446) BGH NZG 2002, 1170, 1171; OLG Hamm BeckRS 2016, 121343 Rn. 114; LG Essen BeckRS 2016, 133477 Rn. 101. 1447) OLG Brandenburg NZG 1999, 210, 211; LG Essen BeckRS 2016, 133477 Rn. 60; vgl. hierzu: Ultsch, Rn. 762. 1448) Zur Wirksamkeit der vereinbarten Fristen, sechs Monate: BGH NZG 2002, 1170, 1171; OLG Stuttgart BeckRS 2003, 30471650; OLG Brandenburg NZG 1999, 210; OLG Hamm BeckRS 2016, 121343 Rn. 55 m. H. a.; BGH NZG 2008, 314, 315 f. Rn. 12 (in Individualvereinbarung); OLG Hamm BeckRS 2016, 121343 Rn. 56 ff. (in Allgemeinen Geschäftsbedingungen).

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis

tend gemacht werden. Fällig ist ein Anspruch ab dem Zeitpunkt, von dem an der Gläubiger die Leistung verlangen kann und ab dem die Verjährung beginnt.1449) Für den Beginn einer vertraglich vereinbarten Ausschlussfrist ist es daher ausreichend, dass der Gläubiger Kenntnis von den anspruchsbegründenden Tatsachen hat; eine Kenntnis von Einzelheiten zur Schadenshöhe ist nicht erforderlich. Vielmehr genügt die Kenntnis der Tatsachen, die eine Haftung dem Grunde nach ergeben.1450) 821 Die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung zu Verfallklauseln in Arbeitsverträgen scheint etwas strengere Voraussetzungen an die Fälligkeit von Schadensersatzansprüchen zu stellen. Danach sind Schadensersatzansprüche dann fällig, wenn der Schaden für den Gläubiger feststellbar ist und geltend gemacht werden kann. Feststellbar ist der Schaden, sobald der Gläubiger vom Schadensereignis Kenntnis erlangt oder bei Beachtung der gebotenen Sorgfalt hätte erlangen können. Geltend gemacht werden können Schadensersatzforderungen, sobald der Gläubiger in der Lage ist, sich den erforderlichen Überblick ohne schuldhaftes Zögern zu verschaffen und seine Forderungen wenigstens annähernd zu beziffern. Zur Fälligkeit der Forderungen reicht es aus, dass der Gläubiger die Ansprüche so deutlich bezeichnen kann, dass der Schuldner erkennen kann, aus welchem Sachverhalt und in welcher ungefähren Höhe er in Anspruch genommen werden soll.1451) 822 Ob das BAG die Erkennbarkeit der ungefähren Höhe von Schadensersatzansprüchen nur bei eigentlichen Arbeitsverträgen oder auch bei Geschäftsführer-Anstellungsverträgen als Voraussetzung der Fälligkeit und damit des Beginns einer Verfallfrist für notwendig erachtet, ist noch nicht abschließend geklärt. Insoweit kann es bei Vorliegen einer Verfallfrist von Bedeutung sein, ob die Arbeitsgerichte oder die ordentlichen Gerichte über Organhaftungsansprüche entscheiden.1452) 823 Sind Ansprüche nach § 43 Abs. 2 GmbHG aufgrund einer Verfallklausel ausgeschlossen und unterliegen deliktische Ansprüche keinem Verfall, ist zu beachten, dass anders als bei § 43 Abs. 2 GmbHG1453) die Darlegungs- und Beweislast für deliktische Ansprüche vollständig bei der Gesellschaft liegt.1454)

___________ 1449) BGH NJW 2014, 847, 848 Rn. 22; BGH NJW 2007, 1581, 1582 Rn. 16; OLG Hamm BeckRS 2016, 121343 Rn. 114; LG Essen BeckRS 2016, 133477 Rn. 77; Palandt/ Grüneberg, BGB, § 271 Rn. 1. 1450) BGH NZG 2008, 314, 316 Rn. 12; OLG Hamm BeckRS 2016, 121343 Rn. 114; OLG Stuttgart BeckRS 2003 30471650; LG Essen BeckRS 2016, 133477 Rn. 77. 1451) BAG NZA 2007, 262, 265 Rn. 30; BAG NZA 2006, 257; BAG BeckRS 2003, 41610; BAG NZA 2003, 268, 271 m. w. N.; BAG BeckRS 1995, 30369675; BAG NZA 1985, 124. 1452) Ultsch, Rn. 885 f. 1453) Ultsch, Rn. 775 ff. 1454) BGH NZG 2002, 1170, 1172.

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C. Organhaftung GmbH: Die Innenhaftung des GmbH-Geschäftsführers

d) Vertragliche Haftungsbeschränkung im Voraus? Haftungsprivilegierungen1455) gegenüber dem allgemeinen Sorgfaltsmaßstab 824 (§ 43 Abs. 1 GmbHG) kommen immer wieder in der Praxis vor, etwa bei Gesellschaften der öffentlichen Hand, insbesondere von Kommunen.1456) Hintergrund ist offenbar das Bestreben, eigene Mitarbeiter mit der Geschäftsführung zu betrauen. Als (ehemalige) Beamte sind diese einen Haftungsausschluss bei einfacher Fahrlässigkeit1457) gewohnt (§ 48 BeamtStG) und erwarten einen solchen (offenbar) auch bei privatwirtschaftlicher Betätigung,1458) wenn sie das Amt eines GmbH-Geschäftsführers übernehmen. Typisch sind etwa folgende Formulierungen in den Anstellungsverträgen:

825

„Die Gesellschaft macht gegen die Geschäftsführerin keine vermögensrechtlichen Ansprüche geltend und stellt sie von solchen Ansprüchen Dritter gegen sie frei, soweit diese Ansprüche nicht auf vorsätzlichem oder grob fahrlässigem Verhalten der Geschäftsführerin beruhen.“1459)

Bei vorherigen Haftungsbeschränkungen stellt sich in der Praxis eine Reihe 826 von Fragen: x

Ist eine Abmilderung des Haftungsmaßstabs nach § 43 Abs. 1 GmbHG im Voraus überhaupt möglich? Einigkeit besteht immerhin dahingehend, dass ein vorheriger Haftungsaus- 827 schluss bei Vorsatz nicht in Betracht kommt (§ 276 Abs. 3 BGB). Eine vorherige Haftungsbeschränkung kommt richtigerweise auch dann nicht in Betracht, soweit die Verletzung von Vorschriften zur Sicherung des Stammkapitals oder der Insolvenzantragspflicht1460) betroffen ist.1461) Strittig ist, ob eine Haftung für grobe Fahrlässigkeit „absoluter Mindeststandard“ ist,1462) im Übrigen Haftungserleichterungen aber möglich sein sollen; teilweise wird eine satzungsmäßige Regelung oder zumindest die Zustimmung aller Gesellschafter für erforderlich gehalten.1463) Nach anderer Ansicht sind vor-

___________ 1455) Zu verfassungsrechtlichen Grenzen einer haftungsrechtlichen Inanspruchnahme: Fleischer, ZIP 2014, 1305, 1307. 1456) LG München I BeckRS 2015, 10365: Anstellungsvertrag der Geschäftsführerin einer Klinik in der Rechtsform einer GmbH mit einer Kommune als Alleingesellschafterin. 1457) MünchKomm-BGB/Papier/Shirvani, § 839 Rn. 369. 1458) Krit. Faßbender, NZG 2015, 501, 507 f. 1459) LG München I BeckRS 2015, 10365. 1460) Ultsch, S. 263. 1461) Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, § 42 Rn. 92; vgl. auch: BGH NJW 2000, 576, 576; anders aber: BGH NJW 2002, 3777, 3778; zustimmend im Hinblick auf die Verletzung von Vorschriften zur Sicherung des Stammkapitals und ablehnend im Hinblick auf die Insolvenzantragspflicht: Janert, BB 2013, 3016, 3018 f. 1462) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 41; ablehnend Werner, GmbHR 2014, 792, 796 zum Meinungsstand: Bayer, GmbHR 2014, 897, 903 f.; zu Haftungsprivilegien de lege ferenda: Bayer/Scholz, NZG 2014, 926, 929. 1463) Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 43 Rn. 119.

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herige Haftungsmilderungen überhaupt nicht zulässig.1464) Für diese Ansicht sprechen erhebliche Gründe, so dass in der Praxis erhebliche Rechtsunsicherheit besteht. Auch die allgemeine Geschäftsführerhaftung nach § 43 Abs. 2 GmbHG dient dem Schutz des Gesellschaftsvermögens und damit mittelbar Gläubigerinteressen. Gesetzliche Sorgfaltspflichten schützen das Gesellschaftsvermögen vor Vermögensminderungen verursacht durch unsorgfältiges Verhalten der Geschäftsführer – und damit jedenfalls mittelbar auch die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen der Gesellschaftsgläubiger. Anders als der nachträgliche Verzicht auf einen konkreten Schadensersatzanspruch kann ein vorheriges Absenken der Geschäftsführerpflichten als „Freibrief“1465) für sorgloses Verhalten missverstanden werden, auch im Hinblick auf die Pflicht des Geschäftsführers, zwingendes Recht konsequent zu beachten. Die Herabsetzung des Haftungsmaßstabs würde die Legalitätspflicht des Geschäftsführers faktisch aushöhlen. x

Kompetenzfragen

828

Soweit vorherige Haftungsbeschränkungen als zulässig angesehen werden, ist umstritten, ob hierfür eine gesellschaftsvertragliche Grundlage erforderlich ist oder ob die Haftungsbeschränkung auch durch einfachen Gesellschafterbeschluss oder im Anstellungsvertrag geregelt werden kann.1466) Der BGH hält ungeachtet der fehlenden Publizität auch eine Regelung im Anstellungsvertrag für ausreichend.1467) Gesellschaftsintern zuständig über die Entscheidung einer Haftungsreduktion ist grundsätzlich die Gesellschafterversammlung (§ 46 Nr. 8 GmbHG), so dass der anstellungsvertraglichen Haftungsbeschränkung in der Regel ein Gesellschafterbeschluss zugrunde liegen muss.1468)

829

Verfügt die GmbH über einen mitbestimmten Aufsichtsrat, ist umstritten, ob die Entscheidung über die Geltendmachung von (möglicherweise) bestehenden Schadenersatzansprüchen in die (Personal-)Kompetenz des Aufsichtsrats nach § 31 MitbestG1469) fällt oder aber gem. § 46 Nr. 8 Alt. 1 GmbHG bei der Gesellschafterversammlung verbleibt.1470) Richtigerweise bleibt die Entscheidungskompetenz über einen vorherigen Ausschluss künftiger Schadenersatzansprüche durch Reduktion des Sorgfaltsmaß___________ 1464) Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaften, § 42 Rn. 92; Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 434; BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 299.8. 1465) Vgl. Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 41. 1466) Zum Streitstand: Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 43 Rn. 66. 1467) BGH NJW 2002, 3777 f. = ZIP 2002, 2128; LG Kaiserslautern BeckRS 2004, 11895; Deilmann/Dornbusch, NZG 2016, 201, 207. 1468) Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 43 Rn. 66. 1469) Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 52 Rn. 303. 1470) Für die Zuständigkeit der Gesellschafterversammlung etwa Scholz/K. Schmidt, GmbHG, § 46 Rn. 144; Gach/Pfüller, GmbHR 1998, 64, 73; wohl auch, Baumbach/Hueck/ Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 59; offenlassend etwa Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, § 46 Rn. 35; für die Zuständigkeit des mitbestimmten Aufsichtsrats tendenziell wohl Michalski/Römermann, GmbHG, § 46 Rn. 395. Nähere Begründungen für die jeweils vertretenen Auffassungen finden sich durchgängig nicht.

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stabs auch in der mitbestimmten GmbH bei der Gesellschafterversammlung. Schließlich ist auch bei der mitbestimmten GmbH die Gesellschafterversammlung für den nachträglichen Verzicht auf Ersatzansprüche zuständig.1471) Die Zuständigkeit des mitbestimmten GmbH-Aufsichtsrats ließe sich nur aus einer Anlehnung der Kompetenzen an das Aktienrecht herleiten; im Aktienrecht ist allerdings ein vorheriger Verzicht nicht möglich (§ 93 Abs. 4 Satz 3 AktG). Und selbst soweit ein nachträglicher Verzicht auf Ersatzansprüche im Aktienrecht zulässig ist, kann darüber nicht (allein) der Aufsichtsrat entscheiden; vielmehr bedarf es eines Hauptversammlungsbeschlusses (§ 93 Abs. 4 Satz 3 AktG). x

Verlängerung von Anstellungsverträgen Enthält ein Geschäftsführeranstellungsvertrag eine Haftungsreduktion und 830 wird dieser verlängert, können für den Geschäftsführer unangenehme Überraschungen entstehen, wenn die ursprünglich nicht mitbestimmte GmbH während der Amtszeit des Geschäftsführers wächst, also mitbestimmungspflichtig geworden ist und daher einen Aufsichtsrat gebildet hat. Die Verlängerung des Anstellungsvertrags wird der Geschäftsführer angesichts der gesellschaftsinternen Zuständigkeit hierfür in der mitbestimmten GmbH mit dem Aufsichtsrat1472) vereinbaren. Holt der Aufsichtsrat vor Abschluss der Vertragsverlängerung nicht die für die Haftungsmilderung notwendige Zustimmung der Gesellschafterversammlung1473) ein, fehlt es an dem für die Wirksamkeit der Haftungsreduktion notwendigen Gesellschafterbeschluss. Trotz Verlängerung des Anstellungsvertrages mit der ursprünglich wirksamen Haftungsbeschränkung sieht sich der Geschäftsführer nun auch Ansprüchen der Gesellschaft wegen einfach fahrlässigen Pflichtverletzungen ausgesetzt. Er mag gegen die Aufsichtsratsmitglieder einen Freistellungsanspruch (entsprechend § 179 BGB1474)) haben; im Verhältnis zur Gesellschaft nutzt ihm dies in der Regel allerdings nichts, von Fällen abgesehen, in denen eine Inanspruchnahme des Geschäftsführers durch die Gesellschaft rechtsmissbräuchlich (§ 242 BGB)1475) sein sollte.

___________ 1471) MünchKomm-GmbHG/Spindler, § 52 Rn. 426. 1472) Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 52 Rn. 303. 1473) Vgl. etwa: LG Kaiserslautern BeckRS 2004, 11895. 1474) Zur Haftung eines Geschäftsführers nach § 179 BGB bei Vornahme von Rechtsgeschäften mit anderen Geschäftsführern ohne Gesellschafterbeschluss: BGH NJW 1990, 387 = GmbHR 1990, 33; zu etwaigen Nachforschungs- und Erkundigungsobliegenheiten unter dem Gesichtspunkt von § 179 Abs. 3 Satz 1 BGB: BGH NJW 1990, 387, 388 = GmbHR 1990, 33; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 62. 1475) Etwa im Fall des Vertretenen unter dem Gesichtspunkt der culpa in contrahendo (§§ 280, 311 Abs. 2 BGB) bei Mängel in der Vertretungsmacht: BGH NJW 1985, 1778, 1780 f.; zur Haftung für schuldhaftes Nichtverhindern vollmachtloser Vertretung: OLG Hamm NJOZ 2010, 2604, 2608; allerdings dürfen über eine Haftung aus culpa in contrahendo die Regelungen über die Vertretungsmacht und gesellschaftsrechtlichen Kompetenzen nicht umgangen werden (Einzelheiten str. vgl. Palandt/ Ellenberger, BGB, § 179 Rn. 9; BeckOK BGB/Schäfer, Stand: 1.8.2020, § 177 Rn. 37 ff.; MünchKomm-BGB/Schubert, § 177 Rn. 58 ff.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis

x

Beweislastfragen Soweit in dem Anstellungsvertrag des Geschäftsführers ein Haftungsausschluss für leichte Fahrlässigkeit vorgesehen ist und dieser wirksam sein sollte, hat grundsätzlich der Geschäftsführer zu beweisen, dass er schuldlos oder nur einfach fahrlässig gehandelt hat.1476) In der Praxis können davon abweichende Beweislastregelungen in Anstellungsverträgen durchaus vorkommen, etwa in folgender Klausel:

831

„Die Gesellschaft macht gegen den Geschäftsführer keine … Ansprüche geltend …, es sei denn die Ansprüche beruhen auf vorsätzlichem oder grob fahrlässigem Verhalten des Geschäftsführers.“

832

Soweit eine solche Klausel nach allgemeinen Grundsätzen als Regelung zur Umkehr der Beweislast1477) auszulegen sein sollte, ist für den Geschäftsführer dennoch Vorsicht geboten. Aufgrund einer solchen Beweislastregelung würde der Geschäftsführer auch bei grober Fahrlässigkeit nicht haften, wenn die Gesellschaft den Nachweis der groben Fahrlässigkeit nicht führen kann.1478) Hält man eine Haftung für grobe Fahrlässigkeit für den „absoluten Mindeststandard“,1479) bestehen erhebliche Zweifel an der Zulässigkeit abweichender Beweislastregelungen,1480) zumal Beweislastnormen zum materiellen Recht gehören.1481) x

Haftungsbeschränkungen bei D&O-Versicherungsschutz Soweit Haftungsbeschränkungen Ansprüche der Gesellschaft ausschließen, gilt dies auch zu Gunsten des D&O-Versicherers. Die Gesellschaft kann diese Wirkung nicht auf den Geschäftsführer beschränken. Sorgt – und bezahlt – die Gesellschaft für einen D&O-Versicherungsschutz, be-

833

___________ 1476) BeckOK BGB/Lorenz, Stand: 1.8.2020, § 280 Rn. 98. 1477) Großzügig: Werner, GmbHR 2014, 792, 798. 1478) Unterschiedliche Regelungen in den Anstellungsverträgen verschiedener Geschäftsführer können zu Störungen im Gesamtschuldnerausgleich führen: MünchKommBGB/Heinemeyer, § 426 Rn. 63 (hierzu: hierzu: Ultsch, Rn. 869 ff.). 1479) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 41. 1480) BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 326; a. A. sofern keine Gläubigergefährdung: Jula, GmbHR 2001, 806, 808 f. 1481) Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 116 Rn. 30; plastisch: Art. 18 Abs. 1 Rom I-VO für Beweislastnormen des Schuldvertragsrecht; diese materiellrechtliche Qualifikation gilt unabhängig von der Frage, ob das Rechtsverhältnis zwischen der GmbH und ihren Geschäftsführern unter den Anwendungsbereich der Rom I-VO fallen; zum Spannungsfeld von Art. 8 und 1 Abs. 2 lit. f Rom I-VO: MünchKomm-BGB/ Martiny, Rom I-VO Art. 8 Rn. 21; BeckOGK/Knöfel, 1.1.2020, Rom I-VO Art. 8 Rn. 18; zum europarechtlichen Arbeitnehmerbegriff: BGH DStR 2019, 1473, 1475 Rn. 22 ff. = DB 2019, 1138 = ZInsO 2019, 1122; EuGH ZInsO 2016, 179 (Holterman Ferho Exploitatie u. a./Spies von Büllesheim) = IPRax 2016, 151; EuGH NZA 2011, 143 Rn. 39 ff. und 51 (Dita Danosa/LKB Lizzings SIA) = AG 2011, 165; vgl. ausdrücklich zu § 43 GmbHG: MünchKomm-BGB, Internationales Wirtschaftsrecht Teil 10. Internationales Handels- und Gesellschaftsrecht [Kaufleute, Juristische Personen und Gesellschaften] Rn. 630; Commandeur/Kleinebrink, NZA-RR 2017, 449.

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C. Organhaftung GmbH: Die Innenhaftung des GmbH-Geschäftsführers

stehen erhebliche Zweifel an der Sinnhaftigkeit von Haftungsbeschränkungen.1482) Dies gilt umso mehr, als D&O-Versicherungsbedingungen in der Praxis einen Ausschluss des Versicherungsschutzes auch bei wissentlichen Pflichtverletzungen enthalten1483) und grobe Fahrlässigkeit in der Regel das Bewusstsein der Gefährlichkeit des Handelns voraussetzt.1484) Insbesondere bei Verletzung von „Kardinalpflichten“ kann das Vorliegen einer wissentlichen Pflichtverletzung indiziert werden.1485) In der Praxis liegt bei grob fahrlässigem Verhalten die Annahme einer wissentlichen Pflichtverletzung1486) nahe, so dass in diesen Fällen D&O-Versicherungsschutz nur (sehr) eingeschränkt besteht. Praxistipp: Als Alternative zu Haftungsbeschränkungen kommt eine Freistellung durch Dritte (etwa einem Mehrheitsgesellschafter) in Betracht. In diesen Fällen haftet der Geschäftsführer der Gesellschaft gegenüber nach Maßgabe von § 43 GmbHG. Er kann im Schadensfall allerdings Regress bei dem Befreiungsschuldner nehmen.1487)

e) Mitverschulden der Gesellschaft? Nach § 254 BGB sind Schadensersatzansprüche zu kürzen, soweit dem Ge- 834 schädigten ein (relevantes) Mitverschulden trifft. Dies gilt grundsätzlich auch, wenn dem Geschädigten das Verhalten eines Dritten zuzurechnen ist (§ 254 Abs. 2 Satz 2 BGB); § 278 BGB findet entsprechende Anwendung.1488) Da das seiner Gesellschaft zum Schadensersatz verpflichtet Organ nicht ein- 835 wenden kann, das Verschulden anderer als Gesamtschuldner mithaftender Organe habe zur Entstehung des Schadens beigetragen,1489) führt ein Mitverschulden anderer Geschäftsführer (Solidarhaftung nach § 43 Abs. 2 GmbHG) ___________ 1482) Ähnlich zum (nachträglichen) Haftungsverzicht: Ehmann/Stretz, Rn. 704. Zur (un-) beschränkten Arbeitnehmerhaftung bei D&O-Versicherungsschutz: Erne/Buksch, GWR 2017, 371. 1483) OLG Düsseldorf NJOZ 2020, 1033 Rn. 100 ff. = VersR 2020, 968; hierzu: Fortmann, jurisPR-VersR 4/2020 Anm. 4; Beckmann, in: Beckmann/Matusche-Beckmann, § 28 Rn. 117; OLG München DStR 2015, 2799 f. 1484) BGH NJW-RR 1989, 991; OLG Schleswig NJW-RR 2010, 957, 958; LG Landshut BeckRS 2011, 20294. 1485) Vgl. BGH NZI 2015, 271, 272 = ZIP 2015, 184 und Jüngel, Anm. zu BGH NZI 2015, 271, 273. 1486) Zur Darlegungs- und Beweislast für den Ausschlusstatbestand der wissentlichen Pflichtverletzung: BGH WM 2015, 185 f. = ZIP 2015, 184. 1487) Zur Haftungsfreistellung im Innenverhältnis durch vertragliche Vereinbarung des Geschäftsführers mit einem Dritten, insbes einem beherrschenden Gesellschafter: Habersack, in: Festschrift Ulmer, 2003, S. 151, 171 f.; Deilmann/Dornbusch, NZG 2016, 201, 207 sowie Fleischer, ZIP 2014, 1305, 1309 m. w. N. Zum fürsorgerechtlichen Freistellungsanspruch gem. Art. 83 BayBG: VG München BeckRS 2019, 21969 Rn. 29 ff. sowie Rn. 32 (zur Nachrangigkeit des fürsorgerechtlichen Freistellungsanspruchs). 1488) Palandt/Grüneberg, BGB, § 254 Rn. 48 ff. 1489) BGH NZG 2015, 38, 39 = ZIP 2015, 166; Palandt/Grüneberg, BGB, § 254 Rn. 49.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis

nicht zu einer Anspruchskürzung zu Lasten der Gesellschaft.1490) Auch ein Mitverschulden von Mitgliedern eines Aufsichtsrats muss sich die Gesellschaft nicht zurechnen lassen.1491) 836 Handelt der Geschäftsführer aufgrund Weisung der Gesellschafterversammlung, ist zu differenzieren. Bei einer rechtmäßigen Weisung entfällt die Haftung des Geschäftsführers vollständig.1492) In diesem Fall stellt sich die Frage nicht, ob das Verhalten der Gesellschafterversammlung der Gesellschaft zuzurechnen ist. Anders allerdings im Falle einer nichtigen, ggf. auch bei einer anfechtbaren Weisung: Hier wird in der Literatur diskutiert, ob der Schadensersatzanspruch der Gesellschaft wegen eines Mitverschuldens der Gesellschafterversammlung zu kürzen ist; Einzelheiten sind streitig.1493) 837 Das Mitverschulden eines Arbeitnehmers an sich mindert den Schadensersatzanspruch der Gesellschaft nicht.1494) Besonderes Augenmerk verdient aber die arbeitsrechtliche Haftungsprivilegierung von Arbeitnehmern („innerbetrieblicher Schadensausgleich“),1495) die jedenfalls bei einfacher Fahrlässigkeit ggf. nur beschränkt haften. Diese Haftungsfreistellung des Arbeitnehmers soll sich auch auf den Anspruch des Arbeitgebers gegen einen Zweitschädiger auswirken: der Schadenersatzanspruch des Arbeitgebers gegen den Zweitschädiger ist zu kürzen, soweit die Haftungsquote im Innenverhältnis der beiden Schädiger auf den Arbeitnehmer entfällt.1496) Ob dies auch dann gilt, wenn neben dem Arbeitnehmer der Geschäftsführer und nicht ein außenstehender Dritter1497) haftet, ist in Rechtsprechung und Literatur1498) noch nicht abschließend geklärt. Selbst wenn man diese Frage bejahen sollte, wäre bei der „Quotelung“ zu Lasten des Geschäftsführers zu berücksichtigen, dass gerade ihm die Überwachung der Angestellten obliegt. f) Verjährung 838 Ansprüche der Gesellschaft aus § 43 GmbHG gegen Geschäftsführer verjähren in fünf Jahren (§ 43 Abs. 4 GmbHG). Dabei ist es ohne Bedeutung, ob die Pflichtverletzung fahrlässig oder vorsätzlich war oder auf einer „böslichen“ ___________ 1490) BGH NZG 2015, 38, 39 f. Rn. 19 ff. = BKR 2015, 71 = ZIP 2015, 166 = DStR 2015, 237; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 64. 1491) Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 466. 1492) Ultsch, Rn. 767 ff. 1493) Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 467. 1494) Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 43 Rn. 116; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 64. 1495) Palandt/Weidenkaff, BGB, § 611 Rn. 156 ff. 1496) OLG Karlsruhe OLGZ 69, 158, 159; Palandt/Grüneberg, BGB, § 426 Rn. 27; bei Personenschäden im Sozialversicherungsrecht: BGH NZA 2015, 689, 693; zur gestörten Gesamtschuld bei Haftungsprivilegierungen allgemein: Walker, JuS 2015, 865, 865 ff. 1497) OLG Karlsruhe OLGZ 69, 158, 158 f. 1498) BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 260.

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Handlungsweise beruhte.1499) Stellt die Pflichtverletzung zugleich eine unerlaubte Handlung nach den §§ 823 ff. BGB gegenüber der Gesellschaft dar, so besteht Anspruchskonkurrenz.1500) Die Verjährung des deliktsrechtlichen Anspruchs richtet sich nach den §§ 195, 199 BGB.1501) Auch wenn das schadensursächliche Verhalten zugleich den Tatbestand einer – der regelmäßigen Verjährungsfrist unterliegenden – unerlaubten Handlung erfüllt, unterliegt der Anspruch aus § 43 Abs. 2 GmbHG der Verjährungsfrist des § 43 Abs. 4 GmbHG.1502) Eine Verlängerung der Verjährungsfrist auf bis zu 30 Jahre (§ 202 Abs. 2 BGB) 839 nach Anspruchsentstehung ist durch Satzungsregelung oder Vereinbarung im Anstellungsvertrag zulässig.1503) Eine Verkürzung der Verjährungsfrist durch Satzung oder Anstellungsver- 840 trag ist zulässig, soweit die Haftung aus § 43 Abs. 2 GmbHG disponibel1504) ist, d. h. jedenfalls nicht für Vorsatz (§ 202 Abs. 1 BGB)1505) und auch nicht bei der Haftung nach § 43 Abs. 3 GmbHG.1506) Jedenfalls bedarf die Abkürzung der Verjährungsfrist durch anstellungsvertragliche Regelung entsprechend § 46 Nr. 8 Var. 1 GmbHG eines Gesellschafterbeschlusses.1507) Strittig ist, welche Verjährungsfrist bei Ansprüchen der GmbH gegen Or- 841 gane gilt, die auf einer Verletzung von „rein GmbH-rechtliche[n] Normen [beruhen, die] ausnahmsweise als Schutzgesetz i. S. v. § 823 Abs. 2 BGB zugunsten der GmbH anzusehen sind“.1508) Der BGH wendet hier (grundsätz-

___________ 1499) Scholz/Schneider, GmbHG, § 43 Rn. 278. 1500) BGH BeckRS 2014, 07705; BGH BB 1989, 1637, 1640 = ZIP 1989, 1390; BGH BB 1992, 726, 727; Woedtke, NZG 2013, 484, 485. 1501) BGH NJW 2001, 223 f. = ZIP 2000, 2164; BGH NJW 2009, 2127, 2130 = ZIP 2009, 802; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 101; Scholz/Schneider, GmbHG, § 43 Rn. 279, nur bei parallelen deliktischen Ansprüchen kann sich Gesellschaft auf von § 43 Abs. 5 GmbHG abweichende Verjährung berufen: OLG München BeckRS 2013, 03726. 1502) OLG Brandenburg BeckRS 2019, 483 Rn. 63 = GmbHR 2019, 474. 1503) MünchKomm-GmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 332; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 106; Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 43 Rn. 147; BeckOK GmbHG/ Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 357. 1504) Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 43 Rn. 147; BeckOK GmbHG/Ziemons/ Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 357. Zur Disponibilität der Geschäftsführerhaftung: Ultsch, Rn. 824 ff. 1505) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 107; GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 359. 1506) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 107. 1507) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 107; Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 43 Rn. 149. 1508) Vgl. hierzu: Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 101 insbesondere Fn. 381.

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lich) nicht die Fünfjahresfrist nach § 43 Abs. 4 GmbHG, sondern die deliktsrechtliche Frist nach §§ 195, 199 BGB an.1509) 842 Die fünfjährige Verjährungsfrist1510) nach § 43 Abs. 4 GmbHG beginnt mit Entstehung des jeweiligen Anspruchs (§ 200 BGB).1511) Der Beginn der Verjährungsfrist setzt daher den Eintritt eines Schadens aufgrund einer pflichtwidrigen Handlung oder Unterlassung voraus; auf die Kenntnis der Gesellschaft hiervon kommt es nicht an.1512) 843 Schadensersatzansprüche entstehen (erst) mit Schadenseintritt. Das Setzen der Schadensursache und das Entstehen einer risikobehafteten Situation allein genügen nicht.1513) Es muss eine konkrete Verschlechterung der Vermögenslage eingetreten sein.1514) Die Anspruchsentstehung und damit der Beginn der Verjährung setzen voraus, dass ein Schaden eingetreten ist, auch wenn er in seiner Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist (Grundsatz der Schadenseinheit). Maßgebend ist der Zeitpunkt, in dem der Schaden dem Grunde nach entstanden oder zumindest die Verschlechterung der Vermögenslage eingetreten ist. Eine bloße Vermögensgefährdung begründet noch keinen Schaden,1515) auch wenn sie Grund für die Abberufung des Geschäftsführers und die Kündigung des Anstellungsvertrags sein kann. Schließt der Geschäftsführer einen für die Gesellschaft nachteiligen Vertrag, entsteht der Schaden bereits mit Vertragsschluss.1516) Auf den Eintritt einer endgültigen Vermögenseinbuße kommt es nicht an.1517) So entstehen Schadensersatzansprüche einer Gesellschaft gegen ihre Organe wegen vorschriftswidriger Anlage von Gesellschaftsvermögen bereits mit Vornahme der Anlage selbst und nicht erst, wenn die Anlage einen Verlust erbracht hat.1518) Dementsprechend soll-

___________ 1509) LG Bonn BeckRS 2015, 18552; BGH NZG 2011, 624, 626; a. A. die wohl h. L.: vgl. etwa Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 43 Rn. 68; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 101; Henssler/Strohn/Oetker, § 43 GmbHG Rn. 71. 1510) Zur Haftungsbeschränkung durch Vereinbarung einer Ausschluss- oder Verjährungsfrist: Werner, GmbHR 2014, 792, 796 f.; ausführlich: Sturm, Die Verjährung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Leitungsorganmitglieder gem. §§ 93 Abs. 6 AktG, 43 Abs. 4 GmbHG, 34 Abs. 6 GenG, S. 462 ff. 1511) Scholz/Schneider, GmbHG, § 43 Rn. 281. 1512) OLG München BeckRS 2018, 14085 Rn. 33 = AG 2018, 758; Scholz/Schneider, GmbHG, § 43 Rn. 280. 1513) Palandt/Ellenberger, BGB, § 199 Rn. 15. 1514) LG Stuttgart BeckRS 2015, 12647 Rn. 43; BGHZ 100, 228, 231 = ZIP 1987, 776. 1515) OLG Brandenburg BeckRS 2020, 17754 Rn. 28; MünchKomm-GmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 263; BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 309. 1516) BGH NJW 2012, 3647, 3653; BGH WM 2010, 1493, 1495 = ZIP 2010, 1548; OLG Brandenburg BeckRS 2018, 3731 Rn. 47 = GmbHR 2018, 578 = GWR 2018, 177 m. Anm. Torka/Raschke; BeckOK BGB/Henrich, Stand: 1.8.2020, § 199 Rn. 15.; MünchKomm-BGB/Grothe, § 199 Rn. 26. 1517) MünchKomm-BGB/Grothe, § 199 Rn. 26; RG JW 1932, 1648. 1518) MünchKomm-BGB/Grothe, § 199 Rn. 26.

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te die Schadensentstehung bei der „Annahme“1519) einer nach dem Insolvenzrecht (§§ 129 ff. InsO) anfechtbaren Leistung bereits in der Leistungsannahme bestehen, auch wenn das insolvenzrechtliche Anfechtungsrecht erst ab Eröffnung des Insolvenzverfahrens geltend gemacht werden kann.1520) Lässt der Geschäftsführer pflichtwidrig Ansprüche gegen Dritte verjähren, tritt der Schaden mit Eintritt der Verjährung ein.1521) Nicht erforderlich ist es, dass der Schaden bereits der Höhe nach beziffert werden kann.1522) Es genügt somit, dass die Gesellschaft bereits eine Feststellungsklage erheben kann.1523) Praxistipp: Anders als bei der regelmäßigen Verjährung beginnt der Fristenlauf nicht erst zum Ende des jeweiligen Jahres („Ultimoverjährung“), sondern bereits mit der Schadensentstehung. Daher verjähren Ansprüche aus § 43 Abs. 2 GmbHG – entgegen einem in der Praxis weit verbreiteten Missverständnis – nicht zum Jahresende, sondern unterjährig.1524)

Bei dauernden und wiederholten Beeinträchtigungen ist zu differenzieren: x

844

Dauerverhalten Als Dauerverhalten ist ein solches Tun oder Unterlassen anzusehen, das 845 ununterbrochen verletzt, solange der dadurch hervorgerufene Zustand andauert. Der auf einer solchen Verletzung beruhende Anspruch ist im Normalfall für die Zwecke des Verjährungsrechts als nicht entstanden

___________ 1519) Schaden durch die konkrete Form einer Leistungsannahme denkbar, wenn „Leistungsannahme“ auf andere Weise nicht anfechtbar gewesen wäre. 1520) Sonst droht die Fünf-Jahres-Frist nach § 43 Abs. 4 GmbHG „ausgehöhlt“ zu werden: Insolvenzanfechtung bis zehn Jahre vor Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens (§ 133 Abs. 1 InsO), im Falle der Gewährung oder Ermöglichung einer Sicherung oder Befriedigung bis zu vier Jahr (§ 133 Abs. 2 InsO) möglich. 1521) BGH NZG 2018, 1301 Rn. 14 ff. = DStR 2018, 2648 = NJW 2019, 596. Henne/ Dittert, DStR 2019, 227, 229 ff. Zu Zinsschäden und Grundsatz der Schadenseinheit: Bayer/Scholz, NZG 2019, 2019, 204, 208. Zur Organhaftung bei Verzicht auf Schadensersatzansprüche gegenüber Arbeitnehmern: Eufinger, GWR 2018, 267. 1522) OLG Brandenburg BeckRS 2018, 3731 Rn. 46 = GmbHR 2018, 578 = GWR 2018, 177 m. Anm. Torka/Raschke; Scholz/Schneider, GmbHG, § 43 Rn. 281; zu Besonderheiten bei nicht voraussehbaren Schadensfolgen: BGH NJW 2015, 1252; RGZ 102, 143, 144; BGH NJW 1995, 1614 f.; BGH NJW 1987, 1887, 1888 = ZIP 1987, 776; GroßKommAktG/Hopt/Roth, § 93 Rn. 595; MünchKomm-AktG/Spindler, § 93 Rn. 326; Fezer, Markenrecht, § 20 MarkG Rn. 43; a. A. aber: Sturm, Die Verjährung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Leitungsorganmitglieder gem. §§ 93 Abs. 6 AktG, 43 Abs. 4 GmbHG, 34 Abs. 6 GenG, S. 551, 365 ff. (kein neuer Verjährungsbeginn selbst bei unvorhersehbaren Spätschäden). 1523) BAG NZA 2010, 1418, 1419 = ZIP 2010, 1361; BGHZ 100, 228, 231 = ZIP 1987, 776; BGH WM 1971, 1548, 1549; OLG Brandenburg BeckRS 2018, 3731 Rn. 46 = GmbHR 2018, 578 = GWR 2018, 177 m. Anm. Torka/Raschke; OLG Bremen GmbHR 1964, 8, 9. 1524) BeckOK BGB/Henrich, Stand: 1.8.2020, § 200 Rn. 3; HandKommBGB/Dörner, § 200 Rn. 2; Jauernig/Mansel, BGB, § 200 Rn. 1.

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anzusehen, solange der Eingriff andauert.1525) Bei Dauerhandlungen beginnt die Verjährung nicht, solange der Eingriff noch andauert.1526) Im Falle der Nachholbarkeit der unterlassenen Handlung beginnt die Verjährung nicht schon dann, wenn die Verhinderungshandlung spätestens hätte erfolgen müssen, sondern erst dann, wenn die Nachholbarkeit endet.1527) x

Wiederholte Verhaltensweisen Bei wiederholten Verhaltensweisen selbständiger Art entsteht mit jeder einzelnen Handlung oder Unterlassung ein neuer Schadensersatzanspruch.1528) Mit jeder einzelnen Pflichtverletzung und dem dadurch verursachten Schaden entsteht ein neuer Anspruch, der seiner eigenen, neuen Verjährung unterliegt; der „Gesamtschaden“ wird also aufgeteilt, so dass insoweit der Grundsatz der Schadenseinheit relativiert wird.1529) Dies gilt auch dann, wenn sämtliche tatbestandsmäßigen Handlungen (Pflichtverletzungen) denselben Schaden nach sich ziehen.1530) Eine Schadensvertiefung oder -erweiterung durch die späteren Pflichtverletzungen ist nicht erforderlich.1531) Der strafrechtliche Begriff der fortgesetzten Handlung ist auf das Privatrecht nicht übertragbar.1532)

846

x

Dauernde Beeinträchtigung durch einmalige Verhaltensweise

___________ 1525) OLG Stuttgart BeckRS 2015, 10938; BGH NJW 1973, 2285, 2285; MünchKommBGB/Grothe, § 199 Rn. 13; Sturm, Die Verjährung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Leitungsorganmitglieder gem. §§ 93 Abs. 6 AktG, 43 Abs. 4 GmbHG, 34 Abs. 6 GenG, S. 373. 1526) OLG Stuttgart BeckRS 2015, 10938; BGH NJW 2010, 1292, 1293; BGH NJW 1973, 2285, 2285; bei § 1004 BGB: OVG Saarlouis KommJuR 2014, 383, 384. 1527) LG München I NZG 2014, 345, 346 = ZIP 2014, 570. 1528) RGZ 134, 335, 339 f. insbesondere 341; BGHZ 71, 86, 94; BGH NJW 1981, 573; BGH NJW 1985, 1023, 1024; BGH NJW 1986, 2309, 2311 f.; BGH NJW 1986, 2827, 2829; BGH NJW 1993, 648, 650; BGH BB 2002, 1507, 1508; OLG Stuttgart BeckRS 2015, 10938; MünchKomm-BGB/Grothe, § 199 Rn. 14; Sturm, Die Verjährung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Leitungsorganmitglieder gem. §§ 93 Abs. 6 AktG, 43 Abs. 4 GmbHG, 34 Abs. 6 GenG, S. 371 f. 1529) BGH NJW 2015, 2407, 2408; BGH NJW-RR 2011, 842, 844; OLG Hamm NZG 2010, 589, 591; Palandt/Ellenberger, BGB, § 199 Rn. 22; unzureichend daher die Erwägung, wann sich das erste schadensstiftende Ereignis ereignet hat: OLG Brandenburg BeckRS 2020, 17754 Rn. 65 ff. 1530) Staudinger/Peters/Jacoby, BGB, 2019, § 199 Rn. 28; in diesem Sinne auch BGH BeckRS 2013, 9015; BeckOK BGB/Henrich, Stand: 1.8.2020, § 199 Rn. 7; BGH NJW 2015, 2407, 2408 = ZIP 2015, 1395; BGH NJW-RR 2011, 842, 844 = ZIP 2011, 1012; a. A. OLG Saarbrücken BeckRS 2008, 09089. 1531) OLG Düsseldorf BeckRS 2013, 09015; BeckOK BGB/Henrich, Stand: 1.8.2020, § 199 Rn. 7. 1532) OLG Düsseldorf BeckRS 2014, 17537; KG BeckRS 2013, 14606; BGHZ 71, 86, 94; Palandt/Ellenberger, § 199 Rn. 22; MünchKomm-AktG/Spindler, § 93 Rn. 326; Sturm, Die Verjährung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Leitungsorganmitglieder gem. §§ 93 Abs. 6 AktG, 43 Abs. 4 GmbHG, 34 Abs. 6 GenG, S. 372.

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Von Dauerhandlungen und wiederholten Handlungen zu unterscheiden 847 ist die einmalige Handlung, die eine dauernde Beeinträchtigung nach sich zieht. Hier entsteht der Anspruch auf Beseitigung oder Schadensersatz bereits mit Beginn der Beeinträchtigung.1533) x

Die Abgrenzung ist insbesondere schwierig bei einer „punktuellen“ scha- 848 densverursachenden Pflichtverletzung des Geschäftsführers, an die sich ein Zeitraum anschließt, in dem der Geschäftsführer den Schaden hätte verhindern können, dies aber schuldhaft unterlässt. Hier stellt sich vor allem die Frage, ob ein Dauerverhalten oder ein wiederholtes Verhalten (Unterlassen) vorliegt. Wiederholt der Schädiger die pflichtwidrige Handlung, liegt eine wiederholte Verhaltensweise vor, so dass jede einzelne Pflichtverletzung und der dadurch verursachte Schaden einer eigenen, neuen Verjährung unterliegt.1534) Bereits bei positivem Tun ist die Frage nicht eindeutig geklärt, wann mehrere (eigenständige) pflichtwidrige Handlungen vorliegen;1535) zum Teil wird ein späteres Fehlverhalten nicht als eine weitere, selbstständig verjährende Pflichtwidrigkeit, sondern als (bloßes) „auf der ursprünglichen Fehleinschätzung beruhendes weiteres Versäumnis“ angesehen.1536) Wächst der Schaden durch fortgesetztes Unterlassen von verhindernden Maßnahmen, beginnt die Verjährung erst mit Abschluss des pflichtwidrigen Unterlassens.1537) Das pflichtwidrige Unterlassen endet mit dem Zeitpunkt, bis zu dem eine pflichtgemäße Handlung den Schadenseintritt hätte verhindern können.1538) Ist die pflichtgemäße Handlung nachholbar, beginnt die Verjährung mit Verstreichenlassen dieser Möglichkeit.1539) Gerade bei einem Unterlassen ist die trennscharfe Unterscheidung zwischen einem Dauerverhalten und wiederholten Verhaltensweisen äußerst schwierig.1540) Richtigerweise ist danach zu differenzieren, ob ein bloßes „Dauerunterlassen“ vorliegt oder ob – ggf. wegen zeitlicher Zäsuren – mehrere selbständige („anlassbedingte“)1541) Unter-

___________ 1533) MünchKomm-BGB/Grothe, § 199 Rn. 15; Sturm, Die Verjährung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Leitungsorganmitglieder gem. §§ 93 Abs. 6 AktG, 43 Abs. 4 GmbHG, 34 Abs. 6 GenG, S. 371. 1534) MünchKomm-AktG/Spindler, § 93 Rn. 326. 1535) Vgl. Sturm, Die Verjährung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Leitungsorganmitglieder gem. §§ 93 Abs. 6 AktG, 43 Abs. 4 GmbHG, 34 Abs. 6 GenG, S. 373. 1536) BeckOK BGB/Henrich, Stand: 1.8.2020, § 199 Rn. 7 mit dem Beispiel, dass ein Rechtsanwalt pflichtwidrig eine aussichtslose Klage erhebt und nach Klageabwiesung in der ersten Instanz Rechtsmittel einlegt. 1537) MünchKomm-AktG/Spindler, § 93 Rn. 327; Hölters/Hölters, AktG, § 93 Rn. 337. 1538) GroßKommAktG/Hopt/Roth, § 93 Rn. 591 f.; Hölters/Hölters, AktG, § 93 Rn. 337. 1539) Hölters/Hölters, AktG, § 93 Rn. 337. 1540) Vgl. nur: MünchKomm-BGB/Grothe, § 199 Rn. 13; Staudinger/Peters/Jacoby, BGB, 2019, § 199 Rn. 29; GroßKommAktG/Hopt/Roth, § 93 Rn. 595; OLG Düsseldorf BeckRS 2014, 17537; BGH BB 2002, 1507, 1508; RGZ 80, 436, 438; Sturm, Die Verjährung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Leitungsorganmitglieder gem. §§ 93 Abs. 6 AktG, 43 Abs. 4 GmbHG, 34 Abs. 6 GenG, S. 376; Jenne/Miller, AG 2019, 112, 116. 1541) BGH NZG 2018, 1301, 1302 Rn. 18.

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lassungstatbestände vorliegen. In der Rechtsprechung und Literatur fehlen allgemein anerkannte, eindeutige Abgrenzungskriterien: x

Nicht (allein) entscheidend kann es sein, ob der Gesamtschaden schon bereits mit dem ersten Unterlassen eintritt. Es ist anerkannt, dass auch dann eine wiederholte Verhaltensweise vorliegen kann, wenn die selbständigen tatbestandsmäßigen Handlungen denselben Schaden nach sich ziehen; eine Schadensvertiefung oder -erweiterung durch die späteren Pflichtverletzungen ist gerade nicht erforderlich.1542)

x

Bei „Zuständen“ stellt sich zudem immer die Frage, was denn der „Gesamtschaden“ ist, also ob nacheinander eintretende Schäden selbständige „Gesamtschäden“ sind oder wegen des Grundsatzes der Schadenseinheit zusammenzufassen sind. Eine prozessrechtliche Abgrenzung anhand des Streitgegenstandsbegriffs1543) lehnt der BGH ausdrücklich ab.1544)

x

Beruhen eine Reihe von Maßnahmen auf einem einheitlichen „Tatplan“, ist nach einer BGH-Entscheidung, die in der Literatur Zustimmung erfahren hat, ein einheitliches Geschehen im Sinne eines Dauerverhaltens anzunehmen, so dass der Verjährungslauf erst mit Beendigung des Dauerverhaltens beginnt.1545)

x

Soweit die Literatur überhaupt Abgrenzungskriterien diskutiert, wird vorgeschlagen, darauf abzustellen, ob eine „soziale Handlungseinheit“ vorliegt (dann Dauerunterlassen) oder ob mehrere soziale Handlungseinheiten vorliegen (dann wiederholtes Unterlassen).1546) Zu beachten seien „zeitliche Einschnitte“, die für die Pflichtenlage der Organe (Schädiger) von Bedeutung sind sowie Zeitpunkte, „die das Leben einer [Gesellschaft] rechtlich untergliedern“.1547)

x

Bei den von der Rechtsprechung als Dauerhandlungen qualifizierten Verhaltensweisen handelte es um Ansprüche auf Beseitigung einer Störung; soweit Ansprüche auf Ersatz der aus Dauerhandlungen folgenden Schäden betroffen waren, hat die Rechtsprechung das „Dauerverhalten“ in nach Tagen getrennte Einzelhandlungen aufgeteilt.1548)

___________ 1542) Staudinger/Peters/Jacoby, BGB, 2019, § 199 Rn. 28; in diesem Sinne auch: BGH NJW 2015, 2407, 2408 = ZIP 2015, 1395; OLG Düsseldorf BeckRS 2013, 09015; BeckOK BGB/Henrich, Stand: 1.8.2020, § 199 Rn. 7. 1543) Vgl. etwa OLG Karlsruhe WM 2012, 1026, 1027. 1544) BGH WM 2013, 2216, 2218 f.; lediglich im Rahmen der Hemmungswirkung Streitgegenstand bildender prozessualer Anspruch relevant: BGH NZG 2016, 273, 274. 1545) BGH NJW 2008, 3361, 3363; Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 532; MünchKommGmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 331b; BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 365; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 105; vgl. etwa für den Unterlassungsanspruch § 1004 BGB: VG Neustadt a. d. Weinstraße BeckRS 2014, 53128. 1546) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rn. 203; GroßKommAktG/Hopt/Roth, § 93 Rn. 593; Fleischer, AG 2014, 457, 462. 1547) KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rn. 203. 1548) Bayer/Scholz, NZG 2019, 201, 208.

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Da die Verjährung mit dem objektiven Entstehen des Anspruchs beginnt 849 und eine Kenntnis nicht Voraussetzung ist, stellt sich die Frage, ob das Verschweigen des Geschäftsführers gegenüber der Gesellschaft über eigene Pflichtverletzungen wiederum eine Pflichtverletzung darstellt. Das ist grundsätzlich zu verneinen, da kein Organ verpflichtet ist, sich selbst anzuzeigen.1549) III. Geltendmachung und Strategie 1. Gesellschafterbeschluss Nach § 46 Nr. 8 Alt. 1 GmbHG bedarf es für die Geltendmachung von An- 850 sprüchen gegen Geschäftsführer eines Gesellschafterbeschlusses,1550) der die ihm vorgeworfene Pflichtverletzung und die betreffende Angelegenheit hinreichend genau umreißen muss.1551) Das Erfordernis einer Beschlussfassung gilt bei der Geltendmachung jeglicher1552) Art von Ersatzansprüchen der Gesellschaft gegen den Geschäftsführer wegen Pflichtverletzungen, auch bei deliktischen1553) Ansprüchen. Entbehrlich ist ein Beschluss zur Geltendmachung insbesondere in folgen- 851 den Fällen: x

bei einer GmbH & Co. KG,1554)

x

bei einer Gesellschaft, über deren Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet ist,1555)

___________ 1549) Hölters/Hölters, AktG, § 93 Rn. 339; Fleischer, AG 2014, 457, 461; detailliert: Sturm, Die Verjährung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Leitungsorganmitglieder gem. §§ 93 Abs. 6 AktG, 43 Abs. 4 GmbHG, 34 Abs. 6 GenG, S. 453 ff. 1550) BGH NZG 2003, 81, 81 f. = ZIP 2002, 2314; zur Kompetenzabgrenzung bei einer GmbH mit einem Aufsichtsrat: Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, § 46 Rn. 35; Beschluss auch im Außenverhältnis als materielle Anspruchsvoraussetzung: OLG München, BeckRS 2012, 19388. 1551) OLG Brandenburg BeckRS 2019, 483 Rn. 49 = GmbHR 2019, 474; OLG München BeckRS 2018, 1152 Rn. 14 = GWR 2018, 272 m. Anm. Reichard; OLG Düsseldorf BB 1995, 11; OLG Düsseldorf BeckRS 2019, 40843 Rn. 30; LG Karlsruhe NZG 2001, 169, 171 (keine „übertriebenen“ Anforderungen); MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 249. 1552) Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 58. 1553) BGH NZG 2004, 962, 964 = NJW-RR 2004, 1408 = ZIP 2004, 1708 = WM 2004, 1925; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 58. 1554) BGH NZG 2013, 1021, 1022 f. Rn. 20 = ZIP 2013, 1712 = DNotZ 2014, 138 = DStR 2013, 2071 = BB 2013, 2257 m. Anm. Wilsing = NJW 2013, 3636 m. Anm. Bryant. 1555) BGH NZG 2013, 1021, 1023 Rn. 20 = ZIP 2013, 1712 = DNotZ 2014, 138 = DStR 2013, 2071 = BB 2013, 2257 m. Anm. Wilsing = NJW 2013, 3636 m. Anm. Bryant; BGH NZG 2004, 962, 964; BGH NJW-RR 1992, 800, 801 = GmbHR 1992, 303 = MDR 1992, 565; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 60; Michalski/Römermann, GmbHG, § 46 Rn. 405 und Rn. 408; MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 241; BeckOK GmbHG/Schindler, Stand: 1.8.2020, § 46 Rn. 101. Zur Erforderlichkeit eines Gesellschafterbeschlusses im Falle drohender Insolvenz, wenn Geltendmachung der Ansprüche zur Abwendung der Insolvenz unentbehrlich ist: Michalski/Römermann, GmbHG, § 46 Rn. 400; MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 242.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis

x

bei einer masselosen Liquidation der Gesellschaft,1556)

x

bei Klagen von Gesellschaftsgläubigern, denen die von ihnen gepfändeten Ersatzanspruch überwiesen worden sind,1557)

x

bei Klagen der Gesellschaft gegen ihren Geschäftsführer aus abgetretenem Recht.1558)

852 Ob ein Gesellschafterbeschluss auch bei Gesellschafterklagen (actio pro socio oder actio pro sociotate)1559) erforderlich ist, ist umstritten.1560) 853 Einer förmlichen Beschlussfassung bedarf nicht bei Einpersonengesellschaften.1561) Erforderlich ist allerdings, dass sich der Wille des Alleingesellschafters, den Geschäftsführer in Anspruch zu nehmen, hinreichend manifestiert.1562) In diesem Fall ist auch keine Dokumentation nach § 48 Abs. 3 GmbHG notwendig.1563) ___________ 1556) BGH NZG 2004, 96, 964; BeckOK GmbHG/Schindler, Stand: 1.8.2020, § 46 Rn. 101; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 60; 303 = MDR 1992, 565; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 60; Michalski/Römermann, GmbHG, § 46 Rn. 339. 1557) Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 60; Michalski/Römermann, GmbHG, § 46 Rn. 405; BeckOK GmbHG/Schindler, Stand: 1.8.2020, § 46 Rn. 102; zur Rechtslage bei „freihändiger Abtretung“: BGH NZG 2004, 962, 964 = NJW-RR 2004, 1408 = ZIP 2004, 1708 = WM 2004, 1925; BGH BeckRS 1983, 31072124 = ZIP 1983, 689 = GmbHR 1983, 300 = WM 1983, 498; BGHZ 28, 355 = NJW 1959, 194 = JZ 1959, 62 = MDR 1959, 105; BeckOK GmbHG/Schindler, Stand: 1.8.2020, § 46 Rn. 102. 1558) OLG Brandenburg BeckRS 2019, 483 Rn. 50 = GmbHR 2019, 474 (zu erworbenen Forderungen aus § 43 Abs. 2 GmbHG). 1559) Gegen ein Bedürfnis für die Zulassung von Gesellschafterklagen: Kumkar, NZG 2020, 1012, 1017 m. H. a. Lutz, NZG 2015, 424, 427. 1560) Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 59; MünchKomm-GmbHG/ Liebscher, § 46 Rn. 238; Michalski/Römermann, GmbHG, § 46 Rn. 504 und 528 f.; vgl. auch BGH NJW 1981, 1512, 1514 = ZIP 1981, 399 einerseits und BGH BeckRS 1982, 00651 Rn. 9 ZIP 1982, 1203 andererseits. Zur Entbehrlichkeit eines Beschlusses bei einer Gesellschaftsklage beim Vorliegen einer Pattsituation zwischen den Gesellschaftern einer Zwei-Personen-GmbH: OLG Düsseldorf BeckRS 2012, 9864 = DStR 2012, 1350, 1350 f.; vgl. hierzu: Michalski/Römermann, GmbHG, § 46 Rn. 401 f. Vgl. auch Kumkar, NZG 2020, 1012, 1018. 1561) BGH NJW 1997, 741, 742 = GmbHR 1997, 163, 164 = ZIP 1997, 199; BGH NJW 1995, 1750, 1751 f. = BGH ZIP 1995, 643, 645 = DB 1995, 1169 = GmbHR 1995, 373; BGH BeckRS 1983, 31072124 = ZIP 1983, 689 = GmbHR 1983, 300 = WM 1983, 498; OLG München BeckRS 2018, 1152 Rn. 13 = GWR 2018, 272 m. Anm. Reichard; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 63; Michalski/ Römermann, GmbHG, § 46 Rn. 394; MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 242. 1562) BGH NJW 1997, 741, 742 = GmbHR 1997, 163, 164 = ZIP 1997, 199; BGH NJW 1995, 1750, 1751 f. = BGH ZIP 1995, 643, 645 = DB 1995, 1169 = GmbHR 1995, 373; BGH BeckRS 1983, 31072124 = ZIP 1983, 689 = GmbHR 1983, 300 = WM 1983, 498; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 63; Michalski/Römermann, GmbHG, § 46 Rn. 394; MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 242. 1563) BGH NJW 1997, 741, 742 = GmbHR 1997, 163, 164 = ZIP 1997, 199; BGH NJW 1995, 1750, 1752 = BGH ZIP 1995, 643, 645 = DB 1995, 1169 = GmbHR 1995, 373; OLG Düsseldorf BeckRS 2019, 40843 Rn. 30; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 63; MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 242.

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C. Organhaftung GmbH: Die Innenhaftung des GmbH-Geschäftsführers

Der Beschluss ist materielle Voraussetzung1564) für die Geltendmachung, auch 854 im Außenverhältnis; ohne wirksamen Beschluss ist eine Klage nicht etwa unzulässig,1565) sondern unbegründet,1566) falls der Beschluss nicht während des Schadensersatzprozesses nachgeholt wird.1567) Die Geltendmachung von Ansprüchen gegen Geschäftsführer ist der Gesell- 855 schafterversammlung als dem obersten Gesellschaftsorgan vorbehalten und nicht dem Entschluss der Geschäftsführer überlassen, weil die Gesellschaft durch die Geltendmachung ihre inneren Gesellschaftsverhältnisse aufdecken muss, dies kann für Ansehen und Kredit der Gesellschaft möglicherweise abträgliche Wirkung haben.1568) Deshalb ist auch dann ein Gesellschafterbeschluss nach § 46 Nr. 8 Alt. 1 GmbHG erforderlich, wenn der in Anspruch zu nehmende Geschäftsführer bereits aus seinem Amt abberufen ist.1569) Unter einer Geltendmachung des Ersatzanspruchs ist nicht nur die Anspruchs- 856 erhebung einschließlich einer eventuellen Mahnung1570) nach § 286 Abs. 1 BGB zu verstehen, sondern auch die Aufrechnung mit einem Ersatzanspruch1571) sowie arg. e. con. Maßnahmen der „Erledigung“ wie etwa Verzicht, Erlasses oder Vergleich.1572)

___________ 1564) OLG Brandenburg BeckRS 2019, 483 Rn. 47 = GmbHR 2019, 474; BGH NZG 2003, 81, 81 f. = ZIP 2002, 2314; BGH BeckRS 1983, 31072124 = ZIP 1983, 689 = GmbHR 1983, 300 = WM 1983, 498; Bayer, GmbHR 2014, 897, 900. 1565) BGH NZG 2004, 962, 964 = NJW-RR 2004, 1408 = ZIP 2004, 1708 = WM 2004, 1925; BGH NJW 1959, 194 195 = JZ 1959, 62 = MDR 1959, 105 = BGHZ 28, 355; anders noch OLG München HRR 1940 Nr. 1357. 1566) BGH DNotZ 2014, 138, 141 (Umkehrschluss aus der Lage bei Ansprüchen der KG); BGH NJW 1959, 194, 194; BGH NZG 2004, 962, 964 = NJW-RR 2004, 1408 = ZIP 2004, 1708 = WM 2004, 1925 (mit insolvenzbedingten Besonderheiten); MünchKommGmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 249 f.; Bayer, GmbHR 2014, 897, 900; Geißler, GmbHR 2020, 293, 299. 1567) BGH NZG 2004, 962, 964 = NJW-RR 2004, 1408 = ZIP 2004, 1708 = WM 2004, 1925 (ggf. sogar bis während des Revisionsverfahrens); OLG Düsseldorf BeckRS 2019, 40843 Rn. 30; Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, § 46 Rn. 40; zur actio pro societate im Falle eines ablehnenden Beschlusses: Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, § 46 Rn. 41; Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 43 Rn. 98. 1568) BGH NZG 2004, 962, 964 = NJW-RR 2004, 1408 = ZIP 2004, 1708 = WM 2004, 1925; BGHZ 28, 355, 357 = NJW 1959, 194 = JZ 1959, 62 = MDR 1959, 105. 1569) BGH NZG 2004, 962, 964 = NJW-RR 2004, 1408 = ZIP 2004, 1708 = WM 2004, 1925; BGH BeckRS 1983, 31072124 = ZIP 1983, 689 = GmbHR 1983, 300 = WM 1983, 498; BGHZ 28, 355 = NJW 1959, 194 = JZ 1959, 62 = MDR 1959, 105; OLG Düsseldorf BeckRS 2019, 40843 Rn. 30; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, § 46 Rn. 59; a. A. OLG Brandenburg BeckRS 2010, 20227; OLG Brandenburg NJW-RR 1998, 1196, 1197 (Beschlussfassung entbehrlich). 1570) Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 60; MünchKomm-GmbHG/ Liebscher, § 46 Rn. 244. 1571) OLG Karlsruhe NZG 2013, 1177, 1178 Rn. 15 = ZIP 2013, 1767; Baumbach/Hueck/ Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 60; MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 244. 1572) Ultsch, Rn. 809.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis

857 Verjährungshemmung nach § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB tritt auch ohne Beschluss ein.1573) Dies hat nicht nur bei der Klage zu gelten, sondern auch bei anderen verjährungshemmenden Maßnahmen, wie etwa beim Mahnbescheid (§ 204 Abs. 1 Nr. 3 BGB) oder dem Güteantrag1574) (§ 204 Abs. 1 Nr. 4 BGB). Im Falle der Aufrechnung kann der Gesellschafterbeschluss auch noch nach Eintritt der Verjährung gefasst werden.1575) 858 Im Schadensersatzprozess der Gesellschaft gegen den Geschäftsführer sind Beschlussmängel zu berücksichtigen.1576) Bei Nichtigkeit des Beschlusses ist die Klage abzuweisen.1577) 859 Auch wenn die Gesellschaft über einen (fakultativen oder obligatorischen) Aufsichtsrat verfügt, entscheiden die Gesellschafter über die Geltendmachung von Ersatzansprüchen.1578) Allerdings kann diese Kompetenz die Satzung der Gesellschaft auf andere Organe, insbesondere auf den Aufsichtsrat übertragen.1579) 2. Vertretung der Gesellschaft 860 Durch Beschluss nach § 46 Nr. 8 Alt. 2 GmbHG bestimmen die Gesellschafter auch die Vertretung der Gesellschaft für die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen.1580) Diese Vorschrift gilt sowohl für Aktiv- wie auch für Passivprozesse.1581) Sofern die Gesellschaft über einen Aufsichtsrat1582) ___________ 1573) OLG München WM 2016, 164, 169 = ZIP 2016, 621; BGH NJW 1999, 2115; Lutter/ Hommelhoff/Bayer, GmbHG, § 46 Rn. 40 (str.), a. A. Sturm, Die Verjährung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Leitungsorganmitglieder gem. §§ 93 Abs. 6 AktG, 43 Abs. 4 GmbHG, 34 Abs. 6 GenG, S. 403. 1574) Derzeit noch wenig geklärt und untersucht, ist die Frage, ob und inwieweit auf die Wirksamkeit des Güteantrags die Vorschriften des materiellen Rechts oder des Prozessrechts anwendbar sind, z. B. im Hinblick auf Vollmachtsfragen (§ 174 BGB oder § 80 ZPO) etc. 1575) BGH BeckRS 9998, 41074 = DStR 1997, 1735 m. Anm. Goette; Baumbach/Hueck/ Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 60 m. H. a. § 215 BGB. 1576) BGH NJW 1999, 2115, 2116; zum Vorgehen bei bloßer Anfechtbarkeit: Baumbach/ Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 64; Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, § 46 Rn. 41; Beschluss „als materielle Anspruchsvoraussetzung erforderlich“: OLG München WM 2016, 164, 167 = ZIP 2016, 621. 1577) BGH NJW 1999, 2115, 2116; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 64. 1578) Henssler/Strohn/Mollenkopf, § 46 GmbHG Rn. 40; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 59 m. H. a. Besonderheiten bei mitbestimmtem Aufsichtsrat; Geißler, GmbHR 2020, 293, 299 (mit Überblick über den Meinungsstand). 1579) OLG Brandenburg BeckRS 2019, 483 Rn. 48 = GmbHR 2019, 474; BeckOK GmbHG/Schindler, Stand: 1.8.2020, § 46 Rn. 125; MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 291; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 294; vgl. auch BGH NJW 2019, 3718, 3720 Rn. 21 = DStR 2019, 2095 = NZG 2019, 1154 = MDR 2019, 1457 = NZA-RR 2019, 524 (zur Übertragung der Kompetenz für den Abschluss des Geschäftsführer-Anstellungsvertrags). 1580) Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 65. 1581) BGH NJW 2019, 3155, 3157 Rn. 30 = DStR 2019, 1755 = NZG 2019, 979; BGH NJW 2012, 1656, 1657 Rn. 12 = DB 2012, 973 = ZIP 2012, 824 = GmbHR 2012, 638. 1582) Zum obligatorischen Aufsichtsrat kraft Mitbestimmung: Geißler, GmbHR 2020, 293.

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C. Organhaftung GmbH: Die Innenhaftung des GmbH-Geschäftsführers

verfügt,1583) vertritt dieser die Gesellschaft gegenüber dem in Anspruch genommenen Geschäftsführer (§§ 52 Abs. 1 GmbHG, 112 AktG i. V. m. § 51 ZPO),1584) soweit die Gesellschafterversammlung nicht einen besonderen Vertreter bestellt.1585) Nur bei mitbestimmten Gesellschaften ist die Prozessvertretung der Gesellschaft durch den Aufsichtsrat zwingend, §§ 25 MitbestG, 112 AktG.1586) Strittig ist, ob es einer Beschlussfassung über die Vertretung der Gesellschaft 861 nach § 46 Nr. 8 Alt. 2 GmbHG auch dann bedarf, wenn der in Anspruch genommene Geschäftsführer bereits aus dem Amt geschieden ist.1587) Nach jüngster Rechtsprechung gilt § 46 Nr. 8 Alt. 2 GmbHG zwar auch für Prozesse mit ausgeschiedenen Geschäftsführern.1588) Solange die Gesellschafterversammlung aber von ihrer Befugnis nach § 46 Nr. 8 Alt. 2 GmbHG, einen besonderen Vertreter zu bestellen, keinen Gebrauch macht, wird die Gesellschaft vorbehaltlich einer die Vertretungsbefugnis anders regelnden Satzungsbestimmung im Prozess mit ihren gegenwärtigen oder ausgeschiedenen Geschäftsführern durch einen oder mehrere bereits zuvor oder neu bestellte weitere Geschäftsführer vertreten; eines entsprechenden, zumindest stillschweigend gefassten Beschlusses der Gesellschafterversammlung bedarf es für die Fortdauer der Vertretungsbefugnis der anderen Geschäftsführer nicht.1589) 3. Gesamtschuld bei mehreren Geschäftsführern Verfügt eine Gesellschaft über mehrere Geschäftsführer, haften diese ge- 862 samtschuldnerisch, soweit sie für denselben Schaden verantwortlich sind.1590) Voraussetzung für die Haftung eines Mitgeschäftsführers ist, dass er selbst den Haftungstatbestand nach § 43 Abs. 2 GmbHG erfüllt.1591) Eine Zurech___________ 1583) OLG Brandenburg BeckRS 2009, 18749; zur Zulässigkeit, den Beiratsvorsitzenden als Vertreter der Gesellschaft im Prozess gegen den Geschäftsführer zu bestimmen: BGH NZG 2016, 429. 1584) OLG Brandenburg BeckRS 2019, 483 Rn. 33 = GmbHR 2019, 474; Baumbach/Hueck/ Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 66; OLG Brandenburg BeckRS 2009, 18749. 1585) Zur streitigen Frage der analogen Anwendbarkeit von § 147 Abs. 2 Satz 1 AktG bei der mitbestimmten GmbH: Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, § 46 Rn. 43; Baumbach/ Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 66. 1586) BeckOK GmbHG/Schindler, Stand: 1.8.2020, § 46 Rn. 105; MünchKomm-GmbHG/ Liebscher, § 46 Rn. 264. 1587) Verneinend: Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, § 46 Rn. 59; OLG Brandenburg BeckRS 2010, 20227; OLG Brandenburg NJW-RR 1998, 1196, 1197; bejahend: BGH NJW 2012, 1656, 1657 Rn. 12 = DB 2012, 973 = GmbHR 2012, 638; BGHZ 28, 355 = NJW 1959, 194 = JZ 1959, 62 = MDR 1959, 105 (allerdings ohne Differenzierung nach den beiden Alternativen von § 46 Nr. 8 GmbHG); zum Streitstand: MünchKommGmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 269. 1588) BGH NJW 2019, 3155, 3157 Rn. 30 = DStR 2019, 1755 = NZG 2019, 979. 1589) BGH NJW 2019, 3155, 3157 Rn. 30 = DStR 2019, 1755 = NZG 2019, 979. 1590) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 58. 1591) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 59.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis

nung von Fremdverschulden für Mitgeschäftsführer1592) oder Arbeitnehmer1593) scheidet aus.1594) Bei horizontaler Delegation1595) aufgrund Ressortaufteilung haftet primär der ressortverantwortliche Geschäftsführer,1596) die übrigen Mitgeschäftsführer haften nur bei Verletzung von Überwachungs- oder Organisationspflichten.1597) 863 Die Geschäftsführer haften nicht quotal, sondern als Gesamtschuldner. Die Gesellschaft kann von jedem gesamtschuldnerisch haftenden Geschäftsführer vollen Ersatz verlangen.1598) Unter den Gesamtschuldnern besteht grundsätzlich eine Ausgleichspflicht im Innenverhältnis.1599) Insoweit gilt zwischen den Mitgeschäftsführern § 254 BGB analog; entscheidend sind also ihre Verursachungsbeiträge, sofern nicht ausnahmsweise in Satzung oder Anstellungsverträgen eine anderweitige Regelung getroffen ist.1600) Unabhängig von den Verursachungsbeiträgen mehrerer Geschäftsführer kann im Innenverhältnis der unentgeltlich tätige Geschäftsführer gegenüber dem vergüteten mithaftenden Geschäftsführer privilegiert sein.1601) 864 Grundsätzlich tritt die Verletzung bloßer Beaufsichtigungspflichten voll hinter die Schädigung durch den unmittelbaren Täter zurück;1602) bei klarer Ressortverteilung ist im Innenverhältnis typischerweise der ressortverantwortliche Geschäftsführer alleinverantwortlich.1603) 865 Soweit ein gesamtschuldnerisch haftender Mitgeschäftsführer die Gesellschaft befriedigt hat und er im Innenverhältnis Ausgleich verlangen kann, geht auf ihn der Schadensersatzanspruch im Wege der cessio legis nach § 426 Abs. 2 BGB über. Darüber hinaus besteht unter den mithaftenden Geschäftsführern der Anspruch nach § 426 Abs. 1 BGB und zwar bereits mit Begründung der ___________ 1592) BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.8.2020, § 43 Rn. 251 f.; Ehmann/Stretz, Rn. 728 f. mit taktischen Erwägungen. 1593) BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.8.2020, § 43 Rn. 249 f. und 250 zum Streit bei fehlerhafter vertikaler Delegation (hierzu: Ultsch, Rn. 795 ff.). 1594) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 59. 1595) Ultsch, Rn. 798 ff. 1596) Ehmann/Stretz, Rn. 708. 1597) Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 43 Rn. 29; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 59. 1598) Ultsch, Rn. 835. 1599) Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 43 Rn. 29; Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 60; zu hieraus entstehenden Interessenskonflikten unter potenziell haftender Mitgeschäftsführer: Ehmann/Stretz, Rn. 728. 1600) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 62; Freund, NJW 2013, 2545, 2546. 1601) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 62; zum Außenverhältnis: Ultsch, Rn. 786. 1602) Baumbach/Hueck/Beurskens, GmbHG, § 43 Rn. 62; Freund, NJW 2013, 2545, 2546; MünchKomm-BGB/Heinemeyer, § 426 Rn. 23 m. w. N.; Ehmann/Stretz, Rn. 731. 1603) Bayer/Scholz, NZG 2014, 926, 934.

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C. Organhaftung GmbH: Die Innenhaftung des GmbH-Geschäftsführers

Gesamtschuld.1604) Dieser ist zunächst auf Schuldbefreiung,1605) nach Befriedigung der Gesellschaft auf Zahlung gerichtet.1606) Wird ein Mitgeschäftsführer von der Gesellschaft in Anspruch genommen, 866 sollte er zeitnah von mithaftenden Geschäftsführern Schuldbefreiung nach § 426 Abs. 1 BGB verlangen. Bei schuldhafter Verletzung des Befreiungsanspruchs kann ein Schadensersatzanspruch gegen die „vergebens“ auf Befreiung in Anspruch genommenen Mitgeschäftsführer entstehen und zwar unter dem Gesichtspunkt des Verzugs.1607) Gegenüber dem Zahlungsanspruch aus § 426 Abs. 1 BGB kommt dem Schadensersatzanspruch Bedeutung zu, wenn durch die unterbliebene Freistellung besondere Schäden entstehen, etwa bei kostspieliger Aufnahme von Krediten.1608) Die für die Verzugsbegründung nach § 286 Abs. 1 Satz 1 BGB erforderliche Mahnung kann in der Praxis Schwierigkeiten bereiten, wenn der Freistellungsberechtigte den Umfang der begehrten Freistellung nicht bezeichnet oder das Freistellungsverlangen das im Innenverhältnis geschuldete Maß überschreitet.1609) Zur eigenen Sicherheit sollte der Freistellungsberechtigte den Freistellungsumfang realistisch schätzen und nicht unverhältnismäßig mehr verlangen; sonst riskiert er die Unwirksamkeit seiner Mahnung.1610) Der Ausgleichsanspruch nach § 426 Abs. 1 BGB hat auch insoweit Bedeutung, 867 weil er nach herrschender Meinung einer selbständigen Verjährung unterliegt.1611) Maßgeblich ist die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren nach § 195 BGB,1612) deren Beginn sich nach § 199 BGB richtet, also insbesondere Kenntnis der anspruchsbegründenden Tatsachen bzw. deren grob fahrlässige Unkenntnis voraussetzt (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB). Gerade wegen des subjektiven Erfordernisses (Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis) kann der Anspruch aus § 426 Abs. 1 BGB noch unverjährt sein, während hinsichtlich des Regressanspruchs aus §§ 426 Abs. 2 BGB, 43 Abs. 2 GmbHG –

___________ 1604) BGH NZG 2015, 1353, 1356 Rn. 34 = ZIP 2015, 2268; BGH NJW 2010, 60, 61 = ZIP 2009, 1821; BGH NJW-RR 2008, 256, 257 = ZIP 2007, 2313; Zahn, ZfBR 2007, 627, 627; MünchKomm-BGB/Heinemeyer, § 426 Rn. 75 und 13 m. w. N. 1605) Zum Übergang von Freistellungsansprüchen in Schadensersatzansprüche: MünchKommBGB/Heinemeyer, § 426 Rn. 75; Zahn, ZfBR 2007, 627, 631. 1606) MünchKomm-BGB/Heinemeyer, § 426 Rn. 13. 1607) MünchKomm-BGB/Heinemeyer, § 426 Rn. 75; Zahn, ZfBR 2007, 627, 631. 1608) MünchKomm-BGB/Heinemeyer, § 426 Rn. 75. 1609) Zu Voraussetzungen und Wirksamkeit einer Mahnung: MünchKomm-BGB/Ernst, § 286 Rn. 53. 1610) OLG Brandenburg BeckRS 2016, 04683 Rn. 37; BGH NJW 2006, 3271, 3272; BGH NJW 1991, 1286, 1288; BeckOK BGB/Lorenz, Stand: 1.8.2020, § 286 Rn. 28. 1611) BGH NJW-RR 2015, 1058 = ZIP 2015, 1189 Rn. 19; BGH NJW 2010, 62, 63 = ZIP 2009, 2299; zum Meinungsstand: Pfeiffer, NJW 2010, 23, 23 f. 1612) BGH NJW-RR 2015, 1058 = ZIP 2015, 1189 Rn. 19; BGH NJW 2010, 62, 63 = ZIP 2009, 2299.

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infolge seines kenntnisunabhängigen Beginns der fünfjährigen Frist nach § 43 Abs. 4 GmbHG1613) – bereits Verjährung eingetreten ist. 868 Nimmt die Gesellschaft mehrere Mitgeschäftsführer als Gesamtschuldner in Anspruch, sollte die Haftungsabwehr durch die Geschäftsführerkollegen möglichst koordiniert und einheitlich erfolgen.1614) Das gemeinsame Abwehrinteresse der in Anspruch Genommenen und deren Interesse, Kosten zu sparen, führt in der Praxis dazu, dass die in Anspruch genommenen Geschäftsführerkollegen gemeinsam den gleichen Anwalt1615) mit ihrer Haftungsabwehr beauftragen wollen. Ob dies möglich ist, hängt vom konkreten Inhalt der anwaltlichen Beauftragungen ab. Dabei ist zu beachten, dass es zwar das gemeinsame primäre Interesse der Gesamtschuldner ist, mögliche Ansprüche der Gesellschaft abzuwehren. Hinter dieser gemeinsamen Verteidigungslinie existieren aber regelmäßig Interessenskonflikte, da im Innenverhältnis unter den Gesamtschuldner grundsätzlich eine Ausgleichspflicht besteht.1616) Solche aktuellen Interessenskonflikte unter Mitgeschäftsführern stehen der Beauftragung eines gemeinsamen Rechtsanwalts entgegen (§§ 356 StGB, 43a Abs. 4 BRAO, 3 BORA), soweit das Mandat des Anwalts nicht auf die Abwehr des Anspruchs im gemeinsamen Interesse der Mitgeschäftsführer beschränkt ist.1617) Ob bei einer dahingehenden Beschränkung der Mandate die Beauftragung eines gemeinsamen Anwalts auch in Zukunft noch möglich sein wird, ist zweifelhaft. Die Novellierung der BRAO möchte dem Rechtsanwalt die Tätigkeit voraussichtlich untersagen, wenn er „von einer anderen Partei eine für die Rechtssache bedeutsame vertrauliche Information erhalten hat“, § 43a Abs. 4 Nr. 2 BRAO-Entwurf.1618) Die wirksame Verteidigung eines Mandanten setzt aber voraus, dass dieser seinen Anwalt „ungefiltert“ alle Informationen über den Haftungssachverhalt zukommen lassen kann. Unter diesen Informationen sind nicht selten auch solche, die sich im Innenverhältnis auf den Umfang der Ausgleichspflicht zwischen den Geschäftsführer auswirken können.

___________ 1613) Ultsch, Rn. 838 ff. 1614) Gädtke, Rn. 1060 f. unter Darlegung der Vorteile einer einheitlichen Abwehrstrategie. 1615) Zur Organisation des D&O-Versicherers einer gemeinsamen „Sockelverteidigung“ zur einheitlichen Haftungsabwehr: Gädtke, Rn. 1060. 1616) Ultsch, Rn. 863. 1617) BGH NJW 2019, 1147, 1149 Rn. 21 = ZIP 2019, 423 = WM 2019, 728 = VersR 2019, 682. 1618) Referentenentwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Berufsrechts der anwaltlichen und steuerberatenden Berufsausübungsgesellschaften sowie zur Änderung weiterer Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden Berufe, Stand: 29.12.2020, abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/ RefE_AenderungBerufsrecht.html); ablehnend: BRAK Stellungnahme Nr. 82 von Dezember 2020, S. 19, abrufbar unter: https://brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/ stellungnahmen-deutschland/2020/dezember/stellungnahme-der-brak-2020-82.pdf; kritisch: Römermann, AnwBl 2020, 588, 602.

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4. Gestörte Gesamtschuld „Störungen“ beim Gesamtschuldnerausgleich unter an sich haftenden Mit- 869 geschäftsführern können in der Praxis eintreten, wenn die Gesellschaft mit ihren Geschäftsführern einen unterschiedlichen Sorgfaltsmaßstab vereinbart hat (etwa teilweiser Haftungsausschluss bei einfacher Fahrlässigkeit,1619) sie gegenüber einem haftenden Geschäftsführer auf den Schadensersatzanspruch verzichtet oder ihn entlastet1620) hat, oder wenn die Gesellschaft ihren Schadensersatzanspruch nicht gegen alle der haftenden Geschäftsführer geltend macht und gegenüber anderen die Verjährung eintreten lässt. Letzteres ist deshalb von Bedeutung, weil verjährungshemmende Tatbestände bei Gesamtschuldnern nur Einzelwirkung haben (§ 425 Abs. 1 und 2 BGB), also nur gegen denjenigen Gesamtschuldner wirken, gegenüber dem sie vorgenommen werden. Wird ein nichtprivilegierter Gesellschaftsführer von der Gesellschaft in Anspruch genommen und leistet dieser vollständig Schadensersatz, besteht das Risiko, dass sein Ausgleichsbegehren gegenüber einem privilegierten Mitgeschäftsführer von diesem zurückgewiesen wird. Wie diese Störungen im Gesamtschuldnerausgleich zu lösen sind, ist nach 870 wie vor nicht eindeutig. Richtigerweise ist nach der Art der Störung zu differenzieren: Der (nachträgliche) Erlass gegenüber einem Mitgeschäftsführer soll grundsätz- 871 lich nur Einzelwirkung haben (vgl. § 423 BGB: Frage der Auslegung); er berührt dann die Ausgleichspflicht des „privilegierten“ Mitgeschäftsführer nicht.1621) Gleiches gilt konsequenterweise auch für den Verzicht, den Vergleich1622) oder die Entlastung. Das Unterlassen verjährungshemmender Handlungendurch die Gesellschaft 872 hat praktisch die gleiche Wirkung wie ein Verzicht oder Vergleich. Daher sollte auch der Eintritt der Verjährung des Anspruchs der Gesellschaft bei einem Mitgeschäftsführer seiner Ausgleichspflicht nicht entgegenstehen,1623) jedenfalls soweit die Untätigkeit der Gesellschaft und das Verstreichenlassen der Verjährungsfrist gegenüber einem Mitgeschäftsführer keinen Rechtsmissbrauch darstellen.1624) Erkennt man in besonderen Fallkonstellationen einen Rechtsmissbrauch, sollte dies auch für Erlass, Verzicht und Entlastung gelten. Eine sichere und gefestigte Rechtsprechung ist hierzu allerdings nicht vorhanden.

___________ 1619) Zur Zulässigkeit von Haftungsbeschränkungen: Ultsch, Rn. 824 ff. 1620) Ultsch, Rn. 809 ff. 1621) Palandt/Grüneberg, BGB, § 426 Rn. 19; MünchKomm-BGB/Heinemeyer, § 426 Rn. 9. 1622) Ehmann/Stretz, Rn. 747 mit Hinweis auf anderweitige Regelungsmöglichkeiten. 1623) BGH NJW 2010, 62, 63 = ZIP 2009, 2299. 1624) Vgl. hierzu: Pfeiffer, NJW 2010, 23, 24 m. w. N. zum Meinungsstand.

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873 Bei anfänglichen „Störungstatbeständen“, wie Haftungsreduktionen oder Beweisabreden,1625) sind Einzelheiten stark umstritten. Nach der Rechtsprechung sollen diese, sofern sie auf einer Vereinbarung beruhen,1626) nur im Innenverhältnis zwischen Gesellschaft und Geschäftsführer wirken, letzteren aber nicht von einer Ausgleichspflicht befreien.1627) Die überwiegende Literatur bevorzugt eine andere Lösung durch Auslegung1628) der Privilegierungsabrede: Möchte die Gesellschaft den betreffenden Mitgeschäftsführer ohne Zustimmung seiner Kollegen endgültig, also auch vom Innenregress befreien, dann hat sie die übrigen Mitgeschäftsführer in dem Umfang mit zu befreien, in dem der Privilegierte intern regresspflichtig wäre.1629) Eine solche Regelung hat dann konsequenterweise Außenwirkung; der Anspruch der Gesellschaft gegen die nichtprivilegierten Geschäftsführer ist um den Haftungsanteil des freigestellten Mitgeschäftsführers zu kürzen.1630) 874 Soweit die Privilegierung in den Anstellungsverträgen der Mitgeschäftsführer verabredet sein soll, kann die Auslegung der Abrede AGB-Grundsätzen unterliegen, also im Zweifel gegen den Verwender ausgelegt werden (§ 305c Abs. 2 BGB).1631) § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB findet auf Anstellungsverträge keine Anwendung.1632) Vor diesem Hintergrund sollte sich die Gesellschaft stets hüten, selbständig Haftungsprivilegierungen vorzuschlagen, also Verwender der entsprechenden Klausel i. S. v. §§ 305 Abs. 1 Satz 1, 305c Abs. 2 BGB zu sein. Dies gilt nach § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB auch bei „Einmalklauseln“,1633) da Geschäftsführer wie Arbeitnehmer Verbraucher i. S. v. § 13 BGB1634) sind. 875 All diese Gesichtspunkte sind von der Gesellschaft von Anfang an zu beachten, wenn sie eine Strategie zur Geltendmachung ihr entstandener Schäden entwickelt. Zur Sicherheit ist der Gesellschaft anzuraten, gegen alle (potentiell) haftenden Geschäftsführer (gleichermaßen) vorzugehen. Tut sie dies nicht, ___________ 1625) MünchKomm-BGB/Heinemeyer, § 426 Rn. 63 (hierzu: Ultsch, Rn. 807 f.). Zu summenmäßigen Haftungsfreistellungen: MünchKomm-BGB/Heinemeyer, § 426 Rn. 64 sowie de lege ferenda: Bayer/Scholz, NZG 2014, 926, 929 ff. 1626) Anders bei gesetzlichen Privilegierungen wie etwa § 1664 BGB: LG Münster BeckRS 2015, 12026; BGH NJW 2004, 2892, 2893; Palandt/Grüneberg, BGB, § 426 Rn. 22; Hager, NJW 1989, 1640, 1646 f. 1627) BGH NJW-RR 2004, 1243, 1245; BGH NJW 1989, 2386, 2387; BGH NJW 1954, 875, 876. 1628) MünchKomm-BGB/Heinemeyer, § 426 Rn. 61; Palandt/Grüneberg, BGB, § 426 Rn. 20. 1629) MünchKomm-BGB/Heinemeyer, § 426 Rn. 61; Palandt/Grüneberg, BGB, § 426 Rn. 20. 1630) MünchKomm-BGB/Heinemeyer, § 426 Rn. 61; Palandt/Grüneberg, BGB, § 426 Rn. 20. 1631) Zum europarechtlichen Hintergrund: EuGH BeckRS 2015, 80063 Rn. 34. 1632) BeckOK BGB/Becker, Stand: 1.5.2020, § 310 Rn. 32; Bauer/Arnold, ZIP 2006, 2337, 2338 (für Vorstandsverträge). 1633) Hierauf weist zu Recht hin: Fleischer, NZG 2010, 561, 562. 1634) OLG Dresden BeckRS 2013, 08324; BAG NZG 2010, 1063; BGH NJW 2004, 3039, 3040; Fleischer, NZG 2010, 561, 562 m. w. N.; Ultsch, Der einheitliche Verbraucherbegriff, S. 235 ff.; Ultsch, in: Schwarz/Peschel-Mehner, 46. Lfg., 2018, 3-G 1.6.1 Rn. 44 sowie 3-G 1.6.7 Rn. 60 ff.

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können ggf. zusätzliche Verteidigungsmöglichkeiten von Mitgeschäftsführern entstehen. Umgekehrt formuliert: in Anspruch genommene Geschäftsführer sollten die (unterlassene) Inanspruchnahme ihrer Geschäftsführerkollegen im Auge haben und prüfen, inwieweit sich hieraus Einwendungen gegen die Forderung der Gesellschaft ergeben. 5. Regressfragen: Streitverkündung und Streitverkündungsvertrag Verklagt die Gesellschaft mehrere Geschäftsführer als Streitgenossen (§§ 59, 876 60 ZPO) und hat die Klage Erfolg, so wird jeder Beklagte (gesamtschuldnerisch) zur Zahlung des vollen Schadens verurteilt. Den Urteilen zugrunde liegende (tatsächliche und rechtliche) Feststellung entfalten keine Bindungswirkung: im Verhältnis zur Gesellschaft nicht, weil nur die Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch (§ 322 Abs. 1 ZPO: der „Tenor“) in Rechtskraft erwächst, unter den Mitgeschäftsführern nicht, weil sie in keinem Prozessrechtsverhältnis stehen. Besonderheiten gelten, soweit ein verurteilter Mitgeschäftsführer die Gesellschaft befriedigt. Hier kommt es zur cessio legis nach § 426 Abs. 2 BGB, der titulierte Anspruch der Gesellschaft gegen die Geschäftsführerkollegen geht auf den Schadensersatzleistenden über, soweit er im Innenverhältnis nicht selbst verpflichtet ist. Die cessio legis führt zur Rechtskrafterstreckung nach § 325 Abs. 1 ZPO.1635) Allerdings ist über den Umfang der cessio legis noch nicht erkannt, so dass eine Titelumschreibung nach § 727 Abs. 1 ZPO in der Regel an der fehlenden Beweisbarkeit1636) durch öffentliche oder öffentlich beglaubigte Urkunden scheitern wird.1637) Daher kann die Klausel nur im Wege der Klage nach § 731 ZPO umgeschrieben werden; allerdings herrscht Uneinigkeit darüber, ob die cessio legis nach § 426 Abs. 2 BGB eine Rechtsnachfolge i. S. v. §(§ 727,) 731 ZPO darstellt.1638) Selbst wenn eine Klage nach § 731 ZPO möglich sein sollte, stünde dies nach herrschender Mei-

___________ 1635) BeckOK ZPO/Gruber, Stand: 1.9.2020, § 325 Rn. 10; Musielak/Voit/Lackmann, ZPO, 17. Aufl., § 727 Rn. 8, 5. 1636) Zur Beweislast bei Abweichung vom Grundfall des kopfteiligen Ausgleichs: BGH NJW 2001, 365, 366; BGH NJW 1988, 133, 134; OLG München BeckRS 2015, 09714 Rn. 19 f.; OLG Hamm NJW-RR 2010, 755, 756; OLG Köln NJW-RR 1996, 557, 577. 1637) OLG Karlsruhe BeckRS 2004, 09639; OLG Schleswig BeckRS 1998, 12708; KG NJW 1955, 913, 913; Musielak/Voit/Lackmann, ZPO, 17. Aufl., § 727 Rn. 8; vgl. auch OLG Stuttgart BeckRS 2013, 06694; krit. MünchKomm-ZPO/Wolfsteiner, § 727 Rn. 23. wegen kopfteiligem Ausgleich als Grundregel, soweit Kläger hiervon nicht abweichen möchte. 1638) Bejahend: OLG Karlsruhe BeckRS 2004, 09639; BayObLG NJW 1970, 1800, 1801; OLG Schleswig BeckRS 1998, 12708; KG NJW 1955, 913, 913; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 40. Aufl., § 727 Rn. 12; Musielak/Voit/Lackmann, ZPO, 17. Aufl., § 727 Rn. 8; MünchKomm-ZPO/Wolfsteiner, § 727 Rn. 23; verneinend: OLG Düsseldorf NJWRR 2000, 1596, 1596; wohl grundsätzlich bejahend: KG BeckRS 2007, 15890; zweifelnd: BGH BeckRS 2002, 03740.

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nung einer gewöhnlichen Leistungsklage des Ausgleichsberechtigten gegen seine mitverurteilten Geschäftsführerkollegen nicht entgegen.1639) 877 Bei Regressklagen kann die Differenzierung zwischen gewöhnlicher Leistungsklage und der Klage auf Erteilung der Vollstreckungsklausel nach § 731 ZPO taktische Bedeutung haben, insbesondere wenn der Mitgeschäftsführer in der Zwischenzeit seinen Wohnsitz nach § 7 BGB und damit seinen allgemeinen Gerichtsstand nach § 13 ZPO verlegt hat. Für eine Klage aus § 731 ZPO1640) ist das Prozessgericht („Erstgericht“) ausschließlich (§ 802 ZPO) zuständig; der Wohnsitz der in Regress zu nehmenden Kollegen ist ohne Bedeutung. 878 Ebenso wie bei einer Klage nach § 731 ZPO muss der Ausgleichsberechtigte bei einer gewöhnlichen Leistungsklage gegen mitverurteilte Geschäftsführerkollegen den Umfang seines Ersatzanspruchs darlegen und beweisen, sofern er vom Schaden weniger als die ihn nach Kopfteilen treffende Summe tragen möchte. Trotz Rechtskrafterstreckung binden die tatsächlichen und rechtlichen Feststellungen des Erstgerichts zu den Tatbeiträgen der Geschäftsführer nicht. Dies kann nur über das Institut der Streitverkündung nach §§ 72 ff. ZPO erreicht werden, da die Interventionswirkung nach § 68 ZPO die tatsächlichen und rechtlichen Feststellungen des Vorprozesses umfasst.1641) Jedoch bezieht sich die Interventionswirkung nach § 68 ZPO nur auf die tragenden Feststellungen des Erstgerichts, also auf diejenigen, auf denen das Ersturteil beruht. Haftet ein Mitgeschäftsführer – wie nach § 43 Abs. 1 GmbHG vorgesehen – für jegliche Art von Fahrlässigkeit und stellt das Erstgericht insoweit grobe Fahrlässigkeit fest, gilt für den Folgeprozess nur die Fahrlässigkeit als festgestellt; im Übrigen liegt eine überschießende Feststellung vor, die außerhalb der Interventionswirkung liegt.1642) Anders aber, wenn ein Geschäftsführer privilegiert ist, etwa für einfache Fahrlässigkeit nicht haftet, das Erstgericht ihn jedoch unter Feststellung grober Fahrlässigkeit verurteilt. Dann beruht das Ersturteil auf dieser Feststellung, die grobe Fahrlässigkeit wird von der Interventionswirkung erfasst. ___________ 1639) BGH NJW 1987, 2863, 2863; LG Osnabrück JurBüro 1991, 1401, 1401; Saenger/Kindl, ZPO, § 731 Rn. 1; BeckOK ZPO/Ulrici, Stand: 01.09.2020, § 731 Rn. 5; dogmatisch zweifelhaft wegen des von Amts wegen zu berücksichtigenden Verbots „ne bis in idem“: BGH WuB VII A § 322 ZPO 1.09 m. Anm. Ultsch; vgl. auch MünchKomm-ZPO/ Wolfsteiner, § 731 Rn. 1 („erneute Klage eigentlich ausgeschlossen“); Musielak/Voit/ Lackmann, ZPO, 17. Aufl., § 731 Rn. 1; Musielak/Voit/Musielak, ZPO, 17. Aufl., § 325 Rn. 7 und Musielak/Voit/Foerste, ZPO, 17. Aufl., § 265 Rn. 5; MünchKommZPO/Gottwald, § 325 Rn. 31; LAG Hessen BeckRS 2013, 65743; OLG Köln BeckRS 2013, 16599 (Klage auf Schaffung eines neuen Titels und Klage auf Erteilung einer Vollstreckungsklausel alternativ nebeneinander); a. A. Hellwig, Anspruch und Klagerecht, 1900, S. 176 f. 1640) Zuständigkeiten betonend: a. A. Hellwig, Anspruch und Klagerecht, 1900, S. 177. 1641) MünchKomm-ZPO/Schultes, § 68 Rn. 6. 1642) MünchKomm-ZPO/Schultes, § 68 Rn. 15; BGH MDR 2004, 464, 465; BGH VIZ 2004, 176, 177; BGH FamRZ 2008, 1435, 1437; BGH NJW 2015, 559, 560; BGH NJW 2015, 1824, 1825.

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Je nach Lage des Einzelfalls kann also eine Streitverkündung1643) unter den 879 beklagten Mitgeschäftsführern sinnvoll sein. Soweit diese den Eindruck vermeiden wollen, zwischen ihnen herrsche nun Streit, die Gesellschaft habe sie also erfolgreich „auseinanderdividiert“, können die Mitgeschäftsführer eine privatrechtliche Streitverkündungsvereinbarung1644) schließen, von der die Gesellschaft im Erstprozess keine Kenntnis erlangt. Da die Streitverkündung nach überwiegender Auffassung nur zu Gunsten des 880 Streitverkünders1645) wirkt, kann es für den Streitverkündungsempfänger zweckmäßig sein, eine „Gegenstreitverkündung“ auszusprechen, auf Grund deren er dann auch von der Interventionswirkung profitiert. Nimmt die Gesellschaft nicht alle Mitgeschäftsführer klageweise in Anspruch 881 und droht die Verjährung gegenüber den anderen Mitgeschäftsführern, kann der in Anspruch Genommene seinen Regressanspruch gegen die Mitgesamtschuldner sichern, indem er diesen den Streit verkündet (§ 204 Abs. 1 Nr. 6 BGB). 6. Gerichtliche Zuständigkeit Im Hinblick auf die Rechtswegzuständigkeit für Haftungsklagen der Gesell- 882 schaft gegen Geschäftsführer ist zu unterscheiden. Für Streitigkeiten zwischen der Gesellschaft und ihrem noch amtierenden 883 Geschäftsführer aus dem Organverhältnis und/oder dem Anstellungsvertrag sind die ordentlichen Gerichte zuständig (§ 13 GVG), sofern die Parteien keine Vereinbarung nach § 2 Abs. 4 ArbGG geschlossen haben.1646) Ist der Geschäftsführer noch im Amt, kann dahinstehen, ob der konkrete Anstellungsvertrag einen freien Dienstvertrag oder (ausnahmsweise) einen Arbeitsvertrag darstellt.1647) Nach § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG gilt1648) der amtierende Geschäftsführer nicht als Arbeitnehmer. Innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit sind ab einem Streitwert von über EUR 5.000 die Landgerichte zur Entscheidung befugt (§ 23 Nr. 1 GVG), darunter die Amtsgerichte (§ 71 Abs. 1 GVG). Hängt die Organhaftung von kartellrechtlichen Vorfragen ab,

___________ 1643) Zur Zulässigkeit der Nebenintervention eines D&O-Versicherers: OLG Frankfurt/M. BeckRS 2015, 11212 Rn. 15 – 18. 1644) Bacher, in: Geigel, Kap. 39 Rn. 173 f. 1645) BGH NJW 2015, 1824, 1825 Rn. 7; BGH NJW 1997, 2385, 2386; BGH NJW 1987, 1894, 1895; OLG Köln NJW-RR 1995, 1085, 1085; Musielak/Voit/Weth, ZPO, 17. Aufl., § 68 Rn. 5; a. A. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 50 Rn. 56. 1646) Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 6 Rn. 163; ErfKommArbR/Preis, BGB § 611a Rn. 88. 1647) BAG GmbHR 2013, 253, 254; BAG GmbHR 1999, 816, 817 f.; ErfKommArbR/Preis, BGB § 611 Rn. 88. 1648) Zur Rechtsnatur dieser oft ungenau als Fiktion bezeichneten Vorschrift: Roth/ Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 6 Rn. 163.

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ist die ausschließliche Zuständigkeit der Landgerichte nach Maßgabe von § 87 Satz 1 GWB1649) zu beachten. 884 Örtlich1650) zuständig sind die Gerichte am Sitz der Gesellschaft (Erfüllungsort für die Pflicht zur Unternehmensleitung: § 29 ZPO1651) und am Wohnsitz1652) des beklagten Geschäftsführers (§ 13 ZPO i. V. m. § 7 BGB). Erfüllt die Sorgfaltspflichtverletzung nach dem Tatsachenvortrag der klagenden Gesellschaft gleichzeitig den Tatbestand einer unerlaubten Handlung nach §§ 823 ff. BGB, ist zusätzlich der deliktische Gerichtsstand nach § 32 ZPO1653) gegeben und zwar auch für den Anspruch aus § 43 GmbHG. Entscheidend ist der vom Kläger geltend gemachte prozessuale Anspruch,1654) über den das angerufene Gericht umfassend entscheidet (§ 17 Abs. 2 Satz 1 GVG analog).1655) Gerichtsstandsvereinbarungen nach § 38 Abs. 1 ZPO sind unzulässig, weil Geschäftsführer nicht zum Kreis der prorogationsbefugten Personen gehören und insbesondere keine Kaufleute sind.1656) Unter den verschiedenen zuständigen Gerichten hat der Kläger die Wahl (§ 35 ZPO).1657) 885 Schadensersatzklagen der Gesellschaft gegen ihren (ehemaligen) Geschäftsführer stellen Handelssachen i. S. v. § 95 Abs. 1 Nr. 4 lit. a GVG1658) dar. Der ___________ 1649) Vgl. etwa: Immenga/Mestmäcker/Schmidt, Wettbewerbsrecht, § 87 GWB Rn. 21 ff.; Bauer, FD-ArbR 2017, 393433: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/MeyerLindemann/Dicks, Kartellrecht, GWB § 87 Rn. 24. 1650) Zur internationalen Zuständigkeit insbesondere nach Art. 7 Abs. 1 lit. a Brüssel Ia-VO: Anliker, Die internationale Zuständigkeit bei gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten im Rechtsrahmen des europäischen Binnenmarktes, S. 155. 1651) BGH NJW-RR 1992, 800, 801 = GmbHR 1992, 303 = MDR 1992, 565; OLG München NZG 2017, 235 Rn. 6 = GWR 2017, 119 m. Anm. Richard; zum Gerichtsstand für Ansprüche wegen Zahlungen nach Insolvenzreife: BGH NZI 2019, 775 = GWR 2019, 368; OLG Frankfurt/M. BeckRS 2019, 27049 Rn. 15; OLG München NZG 2019, 354 Rn. 11; Geißler, GmbHR 2020, 293, 300. Bei den Ansprüchen aus § 43 Abs. 2 GmbHG und § 64 GmbHG soll es sich um zwei verschiedene Streitgegenstände handeln: OLG München BeckRS 2018, 20350 Rn. 74 ff. = GmbHR 2018, 1058 = ZInsO 2018, 2310 = GWR 2019, 72 m. Anm. Schäfer. 1652) Geißler, GmbHR 2020, 293, 300. 1653) Musielak/Voit/Heinrich, ZPO, § 32 Rn. 11. 1654) BeckOK ZPO/Toussaint, Stand: 1.1.2020, § 32 Rn. 15; Musielak/Voit/Wittschier, ZPO, § 17 GVG Rn. 9. 1655) LG Düsseldorf BeckRS 2016, 00627; BGH NJW 2003, 828, 829 f.; BayObLG NJWRR 1996, 508, 509; BeckOK ZPO/Toussaint, Stand: 1.1.2020, § 32 Rn. 15. 1656) Zur Rechtslage bei internationalem Bezug im Anwendungsbereich von Art. 25 Brüssel Ia-VO und Art. 23 LugÜ 2007: BeckOK ZPO/Spohnheimer, 38. Ed. 1.9.2020, Brüssel Ia-VO Art. 20 Rn. 16; Musielak/Voit/Stadler, 17. Aufl., EuGVVO n. F. Art. 20 Rn. 2. Zur Schadenersatzpflicht wegen Verletzung einer Gerichtsstandsvereinbarung: BGH ZIP 2020, 90 = EuZW 2020, 143 m. Anm. Antomo = NJW 2020, 399 m. Anm. Wais = BB 2019, 3023 = WuB 2020, 328 m. Anm. Ultsch. 1657) Geißler, GmbHR 2020, 293, 300. 1658) OLG München NJW-RR 2020, 967, 968 Rn. 34 (mit Abgrenzung zur Zuständigkeit der Zivilkammern unter Hinweis auf den Streitgegenstand: Rn. 36 ff.); OLG Stuttgart NJW-RR 2005, 699, 699; Saenger/Rathmann, ZPO, § 95 GVG Rn. 6; MünchKommZPO/Zimmermann, § 95 GVG Rn. 12.

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Kläger hat also zu wählen, ob er die Klage beim Landgericht zur Zivilkammer oder zur Kammer für Handelssachen erhebt (§ 96 Abs. 1 GVG). Erhebt er die Klage zur Zivilkammer, verweist diese den Rechtsstreit auf Antrag des Beklagten (§ 98 Abs. 1 Satz 1 GVG) an die Kammer für Handelssachen. Die Kammern für Handelssachen sind mit einem Berufsrichter (als Vorsitzenden) und zwei ehrenamtlichen Richtern besetzt (§ 105 Abs. 1 GVG). Diese Handelsrichter (§ 45a DRiG) werden auf Vorschlag der Industrie- und Handelskammern ernannt (§ 108 GVG). Nach § 109 Abs. 1 Nr. 3 GVG muss ein Handelsrichter Kaufmann,1659) Vorstandsmitglied oder Geschäftsführer einer kaufmännischen juristischen Person sein.1660) Den Kammern für Handelssachen wird – im Allgemeinen zu Recht – auf Grund ihrer Besetzung mit Handelsrichtern besondere Sachkunde im kaufmännischen Bereich nachgesagt1661) (vgl. auch § 114 GVG). Maßgeblich für die Wahl des Spruchkörpers sind prozesstaktische Erwägungen, Erfahrungen mit der konkret zuständigen Kammer für Handelssachen und Fragen der Zweckmäßigkeit.1662) Bei Schadensersatzprozessen gegen bereits ausgeschiedene Geschäftsführer – 886 diese sind in der Praxis am weitesten verbreitet – hat die jüngste Rechtsprechung des BAG zur Verunsicherung geführt. Die „Fiktion“ des § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG endet mit der Abberufung des Geschäftsführers.1663) Nach diesem Zeitpunkt richtet sich die Rechtswegzuständigkeit nach allgemeinen Grundsätzen.1664) Die Abberufung ist auch dann vom Gericht zu berücksichtigen, wenn sie erst nach Klageerhebung erfolgt, soweit noch keine rechtskräftige Rechtswegentscheidung ergangen ist.1665) Liegen die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG nicht mehr vor, soll dies auch für Ansprüche gelten, die in einem Zeitraum begründet wurden, als die Voraussetzungen noch vorlagen.1666) Allerdings ist die Reichweite der neueren BAG-Entscheidungen noch nicht abschließend geklärt. Teilweise wird vertreten, dass sich diese Rechtsprechung nur auf sog. sic-non-Fälle bezöge,1667) also wenn der ___________ 1659) Zur Ablehnung eines Handelsrichters, der dem Aufsichtsrat einer Prozesspartei angehört (Genossenschaft, §§ 41, 34 Abs. 1 Satz 2 a. E. GenG) wegen Besorgnis der Befangenheit. nach § 42 ZPO: OLG Frankfurt/M. NJW-RR 2018, 1404 = NZG 2019, 597 m. H. a. BGH MDR 2015, 608 (Handelsrichter als Aufsichtsratsmitglied einer Prozesspartei). 1660) An Seeplätzen können Handelsrichter auch aus dem Kreis der Schifffahrtskundigen ernannt werden (§ 110 GVG). 1661) Rosener, in: Festschrift Glossner, 1994, S. 271, 279. 1662) Vgl. Thomas, in Hülshörster/Mirow, S. 163, 172. 1663) BAG NZA 2015, 60, 61 = ZIP 2015, 98; BAG NZA 2015, 180, 181; hierzu: Stagat, NZA 2015, 193, 195; LAG Hamm BeckRS 2016, 65933 Rn. 26. 1664) BAG NZA 2015, 60, 61 = ZIP 2015, 98; BAG NZA 2015, 180, 181; hierzu: Stagat, NZA 2015, 193, 195. 1665) BAG NZA 2015, 60, 61 = ZIP 2015, 98; BAG NZA 2015, 180, 181; hierzu: Stagat, NZA 2015, 193, 195. 1666) BAG NZA 2015, 1342, 1344. 1667) LAG Sachsen NZA-RR 2015, 493, 494, aufgehoben durch: BAG NZA 2015, 1342, 1344; LAG Mecklenburg-Vorpommern NZA-RR 2016, 100, 100.

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Arbeitnehmerstatus des Geschäftsführers „doppeltrelevant“ (für die Zulässigkeit und die Begründetheit) der Klage ist.1668) Das BAG hat eine dahingehende Einschränkung abgelehnt.1669) 887 Wenn nach der neueren BAG-Rechtsprechung die „Fiktion“ des § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG mit der Organstellung endet, richtet sich der Rechtsweg danach, ob der Anstellungsvertrag einen freien Dienstvertrag oder einen Arbeitsvertrag1670) darstellt.1671) Im Regelfall1672) liegt ein freier Dienstvertrag vor1673) und dies wohl auch bei Fremd- oder Minderheits-Gesellschafter-Geschäftsführern.1674) Es bleibt also auch beim ausgeschiedenen Geschäftsführer bei der Rechtswegzuständigkeit der ordentlichen Gerichte. 888 Beruht das die Haftung des (Fremd-1675))Geschäftsführers begründende Verhalten auf einer Verletzung von Geschäftsgeheimnissen, kann neben dem Anspruch der Gesellschaft aus § 43 Abs. 2 GmbHG ein Schadensersatzanspruch1676) der Gesellschaft nach § 10 GeschGehG1677) treten.1678) So etwa wenn der Geschäftsführer ein Geschäftsgeheimnis grundlos und gegen das Interesse der Gesellschaft offenlegt, § 4 Abs. 2 Nr. 3 GeschGehG. Im An___________ 1668) ErfKommArbR/Koch, ArbGG § 2 Rn. 36 f. 1669) BAG NZA 2015, 1342, 1344; kritisch: MünchKomm-GmbHG/Jaeger/Steinbrück, § 35 Rn. 282a Fn. 669. 1670) Maßgeblich ist insoweit allein der nationale Arbeitnehmerbegriff und das gilt auch in Fällen mit Auslandberührung: BAG NZA 2019, 490, 492 Rn. 14 = DZWir 2019, 37 = NZG 2019, 754; BAG NZA 2015, 1342, 1343 = NJW 2015, 3469 = GmbHR 2015, 1211 m. Anm. Grobys – jeweils m. w. N. 1671) LAG Hamm BeckRS 2016, 65933 Rn. 27. 1672) LAG Hamm BeckRS 2016, 65933 Rn. 28; Bauer, FD-ArbR 2017, 393433; Ausnahmen denkbar, wenn die Gesellschafterversammlung in besonders starkem Umfang von ihrem Weisungsrecht Gebrauch macht (vgl. allerdings zu Grenzen des Weisungsrechts im Hinblick auf die Intensität der Weisungen: Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, § 37 Rn. 18a); Geißler, GmbHR 2020, 293, 300. 1673) BGH NJW 1968, 396; BGH NJW 1978, 1435, 1436; BGH NJW 1981, 1270, 1271 f. = ZIP 1981, 367; BAG NZA 2006, 366, 367 = ZIP 2006, 821; BAG NZA 1987, 845 f. = ZIP 1988, 91; BGH NJW 2000, 1864, 1865; BGH NZA 2010, 889; Goette, DStR 2003, 2175 (Anm. zu BGH DStR 2003, 2174); Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 6 Rn. 78; ErfKommArbR/Preis, BGB § 611a Rn. 89; Lücke, NJOZ 2009, 3469, 3476; Michalski/Lenz, GmbHG, § 35 Rn. 120; MünchKomm-GmbHG/Jaeger/Steinbrück, § 35 Rn. 278. 1674) Hildebrand, Arbeitnehmerschutz von geschäftsführenden Gesellschaftsorganen im Lichte der Danosa-Entscheidung des EuGH, S. 22 ff.˺m. w. N.; zu – für den Rechtsweg irrelevanten – europarechtlichen Fragen: Lunk, NZA 2015, 917, 917 ff.; Commandeur/ Kleinebrink, NZA-RR 2017, 449. 1675) MünchKomm-StGB/Joecks/Miebach, § 23 GeschGehG Rn. 74; vgl. auch BeckOK GmbHG/Dannecker/N. Müller, Stand: 1.8.2020, § 85 Rn. 84; 1676) Köhler/Bornkamm/Feddersen/Alexander, UWG, § 10 GeschGehG Rn. 1; Scholtyssek/ Judis/Krause, CCZ 2020, 23, 28; Ohly, GRUR 2019, 441, 449; Holthausen, NZA 2019, 1377, 1378; Preis/Seiwerth, RdA 2019, 351, 352; Dann/Markgraf, NJW 2019, 1774, 1778. 1677) Zur Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 23 GeschGehG: MünchKomm-StGB/ Joecks/Miebach, § 23 GeschGehG Rn. 2. 1678) Köhler/Bornkamm/Feddersen/Alexander, UWG, § 10 GeschGehG Rn. 49.

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wendungsbereich des GeschGehG sind die Zuständigkeitsregeln nach § 15 GeschGehG zu beachten. § 15 Abs. 1 GeschGehG sieht für Klagen vor den ordentlichen Gerichten,1679) durch die Ansprüche nach dem GeschGehG geltend gemacht werden, die ausschließliche (sachliche) Zuständigkeit der Landgerichte ohne Rücksicht auf den Streitwert vor. Für solche Klagen ist in § 15 Abs. 2 GeschGehG ein ausschließlicher örtlicher Gerichtsstand vorgesehen, nämlich grundsätzlich1680) am allgemeinen Gerichtsstand des Beklagten (§ 15 Abs. 2 Satz 1 GeschGehG). Bei Klagen gegen den Geschäftsführer ist dies grundsätzlich das Gericht an dessen Wohnsitz, § 13 ZPO.1681) Soweit das für Ansprüche aus § 43 Abs. 2 GmbHG zuständige Gericht nicht mit dem zuständigen Gericht für Ansprüche nach dem GeschGehG übereinstimmt, stellt sich die Frage, ob die Grundsätze des Gerichtsstands des Sachzusammenhangs gelten, also ob (bei einheitlichem1682) Streitgegenstand) das für Ansprüche aus § 43 Abs. 2 GmbHG zuständige Gericht auch über Ansprüche nach dem GeschGehG entscheiden darf. Trotz bestehender Kritik in der Literatur1683) geht der BGH (mittlerweile) grundsätzlich von einer umfassenden Kognitionsbefugnis der Gerichte aus.1684) Überträgt man diese für §§ 29, 32 ZPO entwickelten Grundsätze, dürfte Folgendes gelten: x

Das für Ansprüche nach dem GeschGehG ausschließlich zuständige Gericht ist auch für Ansprüche aus § 43 Abs. 2 GmbHG zuständig.

Ob auch das für Ansprüche aus § 43 Abs. 2 GmbHG zuständige Gericht über Ansprüche aus dem GeschGehG entscheiden darf, ist wegen der ___________ x

1679) Zur Rechtswegzuständigkeit: Francken, NZA 2019, 1665, 1666. 1680) Zur örtlichen Zuständigkeit, wenn der Beklagte im Inland keinen allgemeinen Gerichtsstand hat: § 15 Abs. 2 Satz 2 GeschGehG (Begehungsort der Handlung). Auch diese stellt einen ausschließlichen Gerichtsstand dar: Köhler/Bornkamm/Feddersen/ Alexander, UWG, § 15 GeschGehG Rn. 24 m. H. a. BT-Drucks. 19/4724, 35. Der Anwendungsbereich von § 15 Abs. 2 Satz 2 GeschGehG ist enger, als es prima facie erscheint. Hat der Beklagte keinen Wohnsitz/Sitz im Inland, kommt es darauf an, ob er seinen Wohnsitz/Sitz in einem Mitgliedsstaat der europäischen Union hat. Ist dies der Fall, ist die vorrangige Brüssel Ia-VO einschlägig, die etwa in Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO auch die örtliche Zuständigkeit regelt (Köhler/Bornkamm/Feddersen/Alexander, UWG, § 15 GeschGehG Rn. 26) und damit einen Rückgriff auf § 15 Abs. 2 Satz 2 GeschGehG sperrt (Art. 5 Brüssel Ia-VO: zum Anwendungsbereich der Brüssel Ia-VO: BeckForm Zwangsvollstreckung/Ultsch, Form. R.II.1 Anm. 3 ff.). Entsprechendes gilt im Anwendungsbereich des Luganer Übereinkommens vom 30.10.2007 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung in Zivil- und Handelssachen – LugÜ 2007 – (ABl. L 339, 1), vgl. Art. 2 LugÜ 2007 (zum Anwendungsbereich des LugÜ 2007: BeckForm Zwangsvollstreckung/Ultsch, Form. R.VI.1 Anm. 1). § 15 Abs. 2 Satz 2 GeschGehG findet daher nur dann Anwendung, wenn der Beklagte keinen Wohnsitz/Sitz in einem Mitgliedsstaat der europäischen Union (Art. 6 Brüssel Ia-VO) der Schweiz, Norwegen oder Island (Art. 2 und 4 LugÜ) hat. 1681) Köhler/Bornkamm/Feddersen/Alexander, UWG, § 15 GeschGehG Rn. 22. 1682) BeckOK ZPO/Toussaint, Stand: 1.9.2020, § 12 ZPO Rn. 23; MünchKomm-ZPO/ Patzina, § 12 Rn. 36, vgl. auch BayObLG NJW-RR 1996, 508, 509. 1683) Musielak/Voit/Heinrich, ZPO, § 12 Rn. 10; MünchKomm-ZPO/Patzina, § 12 Rn. 50. 1684) BGH NJW 2003, 828, 829 f. = JZ 2003, 687; zustimmend: OLG Brandenburg BeckRS 2013, 4176; BeckOK ZPO/Toussaint, Stand: 1.9.2020, § 12 ZPO Rn. 23.

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ausschließlichen Zuständigkeiten nach § 15 Abs. 1 und 2 GeschGehG allerdings zweifelhaft. Bedauerlicherweise lässt der schweigende Gesetzgeber1685) hier den Rechtsanwender im Dunkeln stehen. Da bei einem Verstoß des Geschäftsführer gegen das GeschGehG regelmäßig auch ein Anspruch aus § 43 Abs. 2 GmbHG bestehen dürfte, wird diese Frage nur in wenigen Fällen relevant sein, etwa wenn die Fünfjahresfrist nach § 43 Abs. 4 GmbHG, deren Lauf kenntnisunabhängig beginnt, bereits abgelaufen ist, die für § 10 GeschGehG geltende Dreijahresfrist1686) wegen fehlender Erkennbarkeit der Ansprüche noch nicht abgelaufen ist, §§ 195, 199 BGB. 889 Wollen die Parteien vermeiden, dass über einen möglichen Streit zwischen Gesellschaft und Geschäftsführer „öffentlich“ verhandelt wird (§ 169 Satz 1 GVG), können sie ein Schiedsverfahren1687) vereinbaren.1688) Schadensersatzansprüche der Gesellschaft sind als vermögensrechtliche Ansprüche objektiv schiedsfähig (§ 1030 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Die Schiedsvereinbarung hat die Form des § 1031 ZPO zu erfüllen. Da der Geschäftsführer nicht Unternehmer (§ 14 BGB), sondern Verbraucher nach § 13 BGB1689) ist, sind die Voraussetzungen von § 1031 Abs. 5 ZPO zu wahren. Insbesondere ist die Schiedsvereinbarung von beiden Parteien eigenhändig zu unterzeichnen (§ 1031 Abs. 5 Satz 1 ZPO), elektronische Form nach § 126a BGB1690) genügt (§ 1031 Abs. 5 Satz 2 ZPO). Die Schiedsklausel darf nicht im Anstellungsvertrag „versteckt“ sein; die Urkunde (bei elektronischer Form: das Dokument) darf keine anderen Vereinbarungen als die Schiedsabrede und deren Verfahrensregelungen enthalten (§ 1031 Abs. 5 Satz 3 ZPO). 7. D&O-Versicherung 890 Schäden lassen sich nicht immer vermeiden. Daher liegt es nahe, dass die Gesellschaft sich gegen Schäden1691) versichert. Gegen Schäden aus der Tätigkeit der Geschäftsleiter (ggf. auch der leitenden Angestellten) soll eine sog. D&OVersicherung1692) helfen. ___________ 1685) BT-Drucks. 19/4724, 34 f. 1686) Köhler/Bornkamm/Feddersen/Alexander, UWG, § 10 GeschGehG Rn. 44. 1687) Rieder, Rn. 566. 1688) Geißler, GmbHR 2020, 293, 300; zur Organhaftung und Schiedsverfahren: Leuering, NJW 2014, 657. Zur Organhaftung und D&O-Versicherung im Schiedsverfahren: Schumacher, NZG 2016, 969. 1689) Musielak/Voit/Voit, ZPO § 1031 Rn. 9; MünchKomm-ZPO/Münch, § 1031 Rn. 48; zu § 13 BGB und Schiedsvereinbarung: Ultsch, Der einheitliche Verbraucherbegriff, S. 262 ff. 1690) Hierzu: Ultsch, in: Schwarz/Peschel-Mehner, 46. Lfg., 2018, 2-G 2.1.2.15 Rn. 169. 1691) Zum (nicht bestehenden) Deckungsschutz bei insolvenzrechtswidrig geleisteter Zahlungen nach § 64 GmbHG: OLG Düsseldorf ZIP 2018, 1542 = r + s 2018, 534 m. Anm. Czaplinski/Friesen = NZI 2018, 758 m. Anm. Lehmann/Rettig = GWR 2018, 353 m. Anm. Stretz; Henne/Dittert, DStR 2019, 227, 227 ff.; Geissler, GWR 2018, 407; Markgraf/Henrich, NZG 2018, 1290; Cyrus, NZG 2018, 7, 8 f. Zu Patentverletzungen und D&O-Versicherung: Cepl/Schneider, r + s 2020, 9. 1692) Directors’ and Officers’ Liability Insurance.

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a) Grundlagen Dieser Versicherungstyp ist – stark verkürzt dargestellt1693) – ein Konstrukt 891 aus dem US-amerikanischen Kapitalmarkt.1694) Versichert werden damit nicht unmittelbar Schädigungen der Gesellschaft, wie etwa bei Sachversicherungen (Hausratversicherung, Wohngebäudeversicherung etc.), sondern die Risiken, dass der Gesellschaft aus der Geschäftsleitertätigkeit1695) ein Schaden entsteht.1696) Versicherungsschutz wird für Vermögensschäden1697) auf der Grundlage gesetzlicher Haftpflichtbestimmungen1698) gewährt. Voraussetzung ist also, dass eine Haftung des Geschäftsleiters gegenüber seiner Gesellschaft besteht; es handelt sich um eine Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung.1699) Versichert wird dabei nicht nur das Ausfallrisiko, etwa weil der Geschäftsleiter den von ihm geschuldeten Schadensersatz nicht erbringen kann. Vielmehr soll die Versicherung die Schadensersatzleistung wirtschaftlich erbringen; primärer Nutznießer1700) der Versicherung ist also der Geschäftsleiter, die versicherte Person. Versicherungsnehmer ist die Gesellschaft, die also auch die Versicherungsprämien1701) zu tragen hat. Es handelt sich daher um eine Versicherung auf fremde Rechnung.1702) Die D&O-Versicherung schützt also den Geschäftsleiter als versicherte Per- 892 son gegen Ansprüche, insbesondere seiner Gesellschaft. Diesen Schutz kann die Versicherung durch Befriedigung der Gesellschaft vornehmen oder durch Abwehr des Schadensersatzanspruchs der Gesellschaft gegenüber dem Organ.1703) Bei D&O-Versicherungen besteht ein Dreiecksverhältnis zwischen Versicherung, versicherter Person (Geschäftsführer) und Gesellschaft. Dabei besteht typischerweise ein Interessenkonflikt: ___________ 1693) Zur geschichtlichen Entwicklung in Deutschland: MünchKomm-VVG/Ihlas, Bd. 3, 2. Teil, Kapitel 3 Directors & Officers Versicherung Nr. 320 Rn. 2 ff. 1694) MünchKomm-VVG/Ihlas, Bd. 3, 2. Teil, Kapitel 3 Directors & Officers Versicherung Nr. 320 Rn. 3; Peltzer, NZG 2009, 970, 971, insbesondere die Nachweise in Fn. 10. 1695) Zu Schäden, die der Gesellschaft nicht „in Ausübung“ sondern nur „bei Gelegenheit“ der versicherten Tätigkeit zugefügt werden: OLG München r +s 2017, 589 m. Anm. Schimikowski = FD-VersR 2017, 395118 m. Anm. Grams. 1696) Policen auf Basis des Anspruchserhebungsprinzips (Claims made): MünchKomm-VVG/ Ihlas, Bd. 3, 2. Teil, Kapitel 3 Directors & Officers Versicherung Nr. 320 Rn. 244 ff. 1697) Zur Ausschluss mittelbarer Schäden durch die D&O-Versicherungsbedingungen: OLG Düsseldorf BeckRS 2018, 27354 Rn. 38 ff. = VersR 2019, 159, 162. 1698) Beckmann, in: Beckmann/Matusche-Beckmann, § 28 Rn. 65. 1699) Holthausen/Held, GmbHR 2020, 741, 742. 1700) Mittelbar begünstigt ist die Gesellschaft (Ausfallrisiko): Werner, Compliance Berater 2014, 388. 1701) Krit. Wagner, ZHR 178 (2014), 227, 279; zur steuerlichen Behandlung der Versicherungsprämien: MünchKomm-VVG/Ihlas, Bd. 3, 2. Teil, Kapitel 3 Directors & Officers Versicherung Nr. 320 Rn. 35. 1702) Werner, Compliance Berater 2014, 388; Beckmann, in: Beckmann/Matusche-Beckmann, § 28 Rn. 48; Holthausen/Held, GmbHR 2020, 741, 742. 1703) Peltzer, NZG 2009, 970, 971.

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893 Die Gesellschaft als Versicherungsnehmerin finanziert den Versicherungsschutz und begehrt im Haftungsfall eine möglichst umfassende und schnelle Regulierung. Im Gegensatz dazu versuchen die Versicherungen oft, einen Schadensersatzanspruch gegen den Geschäftsleiter abzuwehren, zumindest die Zahlung zeitlich hinauszuzögern. Die Interessenlage des Geschäftsführers ist ambivalent: sein primäres Interesse wird es sein, selbst nicht für die Schäden aufkommen zu müssen, entweder durch Abwehr des gegen ihn gerichteten Schadensersatzanspruches oder durch Übernahme des von ihm geschuldeten Schadensersatzes durch die Versicherung. Prima facie skurril ist dabei, dass die Gesellschaft den Versicherungsschutz bezahlt und bei einem erlittenen Schaden oft beobachten muss, dass die Versicherung die Prämien aufwendet, um den gegenüber dem Geschäftsleiter von der Gesellschaft geltend gemachten Schadensersatzanspruch abzuwehren.1704) 894 Die D&O-Versicherungsbedingungen sehen umfassende Ausschlusstatbestände vor;1705) in der Praxis besonders wichtig ist der Ausschlusstatbestand der „wissentlichen Pflichtverletzung“.1706) Dieser Ausschlusstatbestand erfordert nicht eine vorsätzliche Schadensverursachung. Ausreichend ist ein bewusstes Abweichen von einer bestehenden Pflicht.1707) Die Verletzung von „Kardinalpflichten“ kann das Vorliegen einer wissentlichen Pflichtverletzung indizieren.1708) b) Anspruch des Geschäftsführers auf angemessenen D&OVersicherungsschutz? 895 Um die Geschäftsführer vor einer (ausufernden?) Haftung zu entlasten, sehen Geschäftsführer-Anstellungsverträge vor, dass die Gesellschaft1709) gegenüber ihren Geschäftsleitern verpflichtet ist, für angemessenen D&O-Versicherungsschutz zu sorgen.1710) Sinnvollerweise sollte dabei der Begriff „angemessen“ konkretisiert werden, etwa im Hinblick auf den Mindestbetrag ___________ 1704) Peltzer, NZG 2009, 970, 971; Armbrüster, NJW 2016, 897. 1705) Notthoff, NJW 2003, 1350, 1353; MünchKomm-VVG/Ihlas, Bd. 3, 2. Teil, Kapitel 3 Directors & Officers Versicherung Nr. 320 Rn. 588 ff.; Beckmann, in: Beckmann/ Matusche-Beckmann, § 28 Rn. 116 ff. 1706) OLG Düsseldorf NJOZ 2020, 1033 Rn. 100 ff. = VersR 2020, 968; hierzu: Fortmann, jurisPR-VersR 4/2020 Anm. 4; Notthoff, NJW 2003, 1350, 1353; Beckmann, in: Beckmann/ Matusche-Beckmann, § 28 Rn. 117; OLG München DStR 2015, 2799, 2799 f.; MünchKomm-VVG/Ihlas, Bd. 3, 2. Teil, Kapitel 3 Directors & Officers Versicherung Nr. 320 Rn. 591 ff. Zur wissentlichen Pflichtverletzung bei Gewährung von unbesicherten oder nicht ausreichend besicherten Darlehen in Zeiten der Krise der eigenen Gesellschaft (drohende Insolvenz): LG Wiesbaden r + s 2019, 455. 1707) Notthoff, NJW 2003, 1350, 1353; MünchKomm-VVG/Ihlas, Bd. 3, 2. Teil, Kapitel 3 Directors & Officers Versicherung Nr. 230 Rn. 589 ff. 1708) Vgl. BGH NZI 2015, 271, 272 und Jüngel, Anm. zu BGH NZI 2015, 271, 273. 1709) Zur Zuständigkeit der Gesellschafterversammlung: MünchKomm-VVG/Ihlas, Bd. 3, 2. Teil, Kapitel 3 Directors & Officers Versicherung Nr. 320 Rn. 46. 1710) Müller, NZA-Beilage 2014, 30, 36.

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C. Organhaftung GmbH: Die Innenhaftung des GmbH-Geschäftsführers

und die gedeckten Risiken.1711) Es besteht – anders als im Aktienrecht – keine Verpflichtung zur Vereinbarung eines Selbstbehalts.1712) Ohne Vereinbarung im Anstellungsvertrag (sog. Verschaffungsklausel) hat der 896 Geschäftsführer keinen Anspruch auf Abschluss einer D&O-Versicherung durch die Gesellschaft.1713) c) Schadensfall Grundsätzlich besteht kein Direktanspruch der Gesellschaft gegenüber dem 897 Versicherer. Die Gesellschaft hat also in einem ersten Schritt den Geschäftsführer (gerichtlich) in Anspruch zu nehmen;1714) erst in einem zweiten Schritt stellt sich die Frage nach der Deckung1715) und damit nach der Haftung des D&O-Versicherers.1716) Je nach Ausgestaltung der Versicherungs-Police kann der Gesellschaft die Be- 898 fugnis zustehen, eine direkte Auseinandersetzung mit dem D&O-Versicherer aus eigenem Recht herbeizuführen (Company-Reimbursement-Klausel).1717) Ggf. kommt auch eine Abtretung1718) des dem Geschäftsführer gegen den D&O-Versicherer zustehenden Freistellungsanspruchs an die Gesellschaft in ___________ 1711) Müller, NZA-Beilage 2014, 30, 36 f.; BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 391 ff. 1712) Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 43 Rn. 176. 1713) Kort, DStR 2006, 799, 801; BeckOK GmbHG/Ziemons/Pöschke, Stand: 1.5.2020, § 43 Rn. 391; MünchKomm-VVG/Ihlas, Kapitel 3 Directors & Officers Versicherung Nr. 230 Rn. 31. Zum Anspruch des Geschäftsführers einer insolvent gewordenen Gesellschaft auf Aufrechterhaltung einer zu seinen Gunsten abgeschlossenen Haftpflichtversicherung: BGH NZI 2016, 580 = AG 2016, 581 = NZG 2016, 838 = GWR 2016, 342 m. Anm. Schulteis; Lehmann, r + s 2018, 6, 12 ff. 1714) Zum Beitritt des D&O-Versicherers als Nebenintervenient auf Seiten des in Anspruch genommenen Gesellschaftsorgans trotz vertraglicher Prozessführungsbefugnis des D&O-Versicherers: OLG Hamm BeckRS 2019, 19580 = r + s 2019, 698 m. Anm. Fortmann; OLG Frankfurt/M. VersR 2016, 1010 Rn. 16. Der Beitritt des D&OVersicherers auf Seiten der Gesellschaft ist als Verstoß gegen die versicherungsvertraglichen Treue- und Rücksichtnahmepflichten des D&O-Versicherers unzulässig: OLG München BeckRS 2009, 05218. 1715) Zum Umfang der Bindungswirkung eines Urteils im Haftpflichtprozess gegen einen GmbH-Geschäftsführer für den Deckungsprozess gegen den D&O-Versicherer: OLG Düsseldorf NJOZ 2020, 1033. Zur Kenntnis von Pflichtverletzungen vor Vertragsschluss und Nichterfüllung der Auskunftsobliegenheit im Deckungsprozess: High Court of Justice (Queen’s Bench Division) BeckRS 2018, 24357. Zum Klagerecht des Versicherungsnehmers in Innenhaftungsfällen: BGH NJW 2017, 2466 = ZInsO 2017, 1898 = LMK 2017, 392034 m. Anm. Koch; Lehmann, r + s 2018, 6, 10 ff. 1716) Gädtke, Rn. 1014 ff. 1717) Lange, VersR 2011, 429; MünchKomm-VVG/Ihlas, Bd. 3, 2. Teil, Kapitel 3 Directors & Officers Versicherung Nr. 320 Rn. 63 ff.; Cepl/Schneider, r + s 2020, 9, 18 f.; Gädtke, Rn. 1016. 1718) Zur Anwendbarkeit von § 108 Abs. 2 VVG auf D&O-Versicherungen: Werner, Compliance Berater 2014, 388, 390; Harzenetter, NZG 2016, 728; Armbrüster, NJW 2016, 2155.

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Betracht.1719) Wenn es der Gesellschaft (aber nur) um eine Haftung des D&O-Versicherers geht, stellt sich in der Praxis die Frage, ob überhaupt ein Versicherungsfall eingetreten ist, wenn dieser nach den Versicherungsbedingungen die Inanspruchnahme der versicherten Person, also des Geschäftsführers, voraussetzt.1720) 899 Bei nicht ausreichender Versicherungssumme stellt sich die Frage, wie die Versicherungssumme auf die verschiedenen versicherten Personen „aufgeteilt“ wird.1721) Dies ist ebenso wenig abschließend geklärt wie die Frage, ob – wie in den Versicherungsbedingungen vorgesehen1722) – Verteidigungskosten zu Lasten der Versicherungssumme gehen dürfen.1723) 900 Der Gesellschaft als Versicherungsnehmerin treffen zahlreiche Obliegenheiten, auch im Schadensfall.1724) Der Versicherer verlangt von der Gesellschaft umfassende Informationen, um den Schadensersatzanspruch gegen die die Information schuldende Gesellschaft abzuwehren. Kommt die Gesellschaft dem nicht nach, riskiert sie den Vorwurf der Obliegenheitsverletzung und damit den Verlust des Versicherungsschutzes. Sinnvollerweise ist der Umfang der Informationsobliegenheiten gerade vor oder während eines Rechtsstreits1725) unter dem Gesichtspunkt der prozessualen Waffengleichheit1726) zu begrenzen. In einem Haftungsrechtsstreit stellen sich verschiedene strategische Fragen insbesondere im Hinblick auf eventuelle Streitverkündungen.1727)

___________ 1719) Gädtke, Rn. 1023. 1720) Nunmehr bejahend: BGH BeckRS 2016, 7881 Rn. 32 ff. = r + s 2016, 412 m. Anm. Kuballa = GWR 2016, 252 m. Anm. Herb = FD-VersR 2016, 378219 m. Anm. Günther; BGH BeckRS 2016, 8173 Rn. 24 ff. = BB 2016, 1359 = NJW 2016, 2184 = NZG 2016, 745; anders noch das Berufungsgericht: OLG Düsseldorf r + s 2014, 122 = BeckRS 2014, 2977; OLG Düsseldorf NJOZ 2014, 1807 = DB 2013, 2442; hierzu: Gädtke, Rn. 1019 und Lehmann, r + s 2018, 6, 7 ff. Zur Rechtslage bei der Allgemeinen Haftpflichtversicherung: BGH VersR 2016, 783 = NJW 2016, 3453 = r + s 2016, 455; Lehmann, r + s 2018, 6, 6 ff. 1721) Armbrüster, VersR 2014, 1; Werner, Compliance Berater 2014, 388, 391 f.; Armbrüster, NJW 2016, 897, 897 f.; Armbrüster, NJW 2016, 897; Armbrüster, NJW 2016, 2155. 1722) Vgl. etwa: Schilling, VW 2014, 22; Werner, Compliance Berater 2014, 388, 391; Armbrüster, NJW 2016, 897, 898. 1723) OLG Frankfurt/M. VersR 2012, 432 = BeckRS 2012, 22 = r + s 2011, 509; Grooterhorst/ Looman, r + s 2014, 157; HK-VVG/Schimikowski, § 101 Rn. 4; Werner, Compliance Berater 2014, 388, 391; Armbrüster, NJW 2016, 897, 898 einerseits und Münchener Anwaltshandbuch VersicherungsR/Sieg, § 17 Rn. 140; MünchKomm-VVG/Ihlas, Bd. 3, 2. Teil, Kapitel 1 Directors & Officers Versicherung Nr. 230 Rn. 520 andererseits. 1724) Gädtke, Rn. 1007; Beckmann, in: Beckmann/Matusche-Beckmann, § 28 Rn. 155 ff. 1725) Zulässigkeit der Nebenintervention eines D&O-Versicherers: BeckRS 2015, 11212. 1726) Zur prozessualen Waffengleichheit: vgl. etwa BGH WuB VII A § 448 ZPO 1.98 m. Anm. Ultsch. 1727) Ehmann/Stretz, Rn. 739.

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C. Organhaftung GmbH: Die Innenhaftung des GmbH-Geschäftsführers

8. Einstweiliger Rechtschutz: Arrest Kommt es beim haftenden Geschäftsführer nach Eintritt eines Haftungsfalls 901 zu bemerkenswerten Vermögensverschiebungen,1728) schafft er sein Vermögen beiseite1729) oder verschleiert er es,1730) und ist zu befürchten, dass die spätere Vollstreckung aus einem gegen den Geschäftsführer erwirkten Schadensersatzurteil vereitelt oder erschwert wird,1731) können Sicherungsmaßnahmen im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes erforderlich werden.1732) In solchen Fällen sollte die Gesellschaft zur Sicherung ihrer Ansprüche die Beantragung eines Arrestes1733) erwägen (§§ 916 ff. ZPO). Die Anordnung des Arrestes setzt neben der Dringlichkeit (Arrestgrund) einen Arrestanspruch voraus.1734) Das ist der zu sichernde materiell-rechtliche Anspruch1735) der Gesellschaft auf Schadensersatz aus § 43 Abs. 2 GmbHG. Obwohl ein Gesellschafterbeschluss nach § 46 Nr. 8 Alt. 1 GmbHG an sich materielle Voraussetzung für die Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs ist, entfällt dieses Erfordernis1736) wegen der Eilbedürftigkeit von Maßnahmen auf dem Gebiet des einstweiligen Rechtsschutzes. Eine gerichtliche Arrestanordnung durch Beschluss oder Endurteil1737) kann ohne Gesellschafterbeschluss nach § 46 Nr. 8 Alt. 1 GmbHG also nicht nur beantragt werden,1738) sondern auch ergehen.1739) Allerdings ist in der Praxis noch nicht abschließend geklärt, ob die Gesellschaft den Gesellschafterbeschluss nach § 46 Nr. 8 Alt. 1 GmbHG alsbald nachholen muss.1740) Aus Gründen der Vorsicht sollte dies geschehen.

___________ 1728) Baumann/Doukoff/Ultsch, BeckOF Prozess, Stand: 1.7.2020, Nr. 1.2.1 Rn. 16. 1729) Vgl. etwa: OLG Düsseldorf NJW-RR 1994, 453, 454; OLG München BeckRS 2007, 16157 (Weiterveräußerung von Vermögenswerten). 1730) Vgl. etwa: OLG Frankfurt/M. FamRZ 1996, 747, 749; OLG Frankfurt/M. BeckRS 2010, 25762 (falsche Auskunft über eigenes Vermögen). 1731) OLG Frankfurt/M. BeckRS 2011, 08475, OLG Köln BeckRS 2011, 05576; LG Konstanz BeckRS 2013, 11552. 1732) Zum dinglichen Arrest gegen den ehemaligen Geschäftsleiter der „Gorch-Fock-Werft” (Aktiengesellschaft): LG Hamburg BeckRS 2019, 22897 (zum Arrestgrund Rn. 79 ff.). 1733) Baumann/Doukoff/Ultsch, BeckOF Prozess, Stand: 1.7.2020, Nr. 1.2.1 Rn. 4. 1734) Baumann/Doukoff/Ultsch, BeckOF Prozess, Stand: 1.7.2020, Nr. 1.2.1 Rn. 10. 1735) Baumann/Doukoff/Ultsch, BeckOF Prozess, Stand: 1.7.2020, Nr. 1.2.1 Rn. 11. 1736) Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 60; BeckOK GmbHG/Schindler, Stand: 1.8.2019, § 46 Rn. 100; MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 245 (mit Einschränkungen); zur dogmatischen Begründung: Michalski/Römermann, GmbHG, § 46 Rn. 431. 1737) Baumann/Doukoff/Ultsch, BeckOF Prozess, Stand: 1.11.2020, Nr. 1.2.1 Rn. 32. 1738) Ultsch, Rn. 850 ff. 1739) Fastrich, DB 1981, 925, 926; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, GmbHG, § 46 Rn. 60. 1740) Vgl. hierzu: MünchKomm-GmbHG/Liebscher, § 46 Rn. 245; Michalski/Römermann, GmbHG, § 46 Rn. 432.

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D. Kapitalmarkthaftung Beteiligtenstellungen und Bindungswirkungen in Musterverfahren I. Einführung und Problembeschreibung Ferdinand Kruis

902 In „Kapitalmarkthaftungsfällen“ stehen seit dem 1.11.2018 nach überwiegender Meinung zwei Musterverfahren zur Verfügung. Zum einen das Musterverfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz („KapMuG“),1741) zum anderen das allgemeine Musterverfahren nach den §§ 606 ff. ZPO.1742) Beide Verfahren unterscheiden sich in wesentlichen Gesichtspunkten, allerdings hat der Gesetzgeber darauf verzichtet, den jeweiligen sachlichen Anwendungsbereich der beiden Musterverfahren voneinander abzugrenzen. Richtigerweise ist deshalb, wie nachfolgend noch im Einzelnen dargelegt wird, davon auszugehen, dass in Kapitalmarkthaftungsfällen beide Verfahrensarten Anwendung finden können.1743) Inhaltlich unterscheiden sich beide Verfahren deutlich, was sich insbesondere auch auf die Stellung der Beteiligten sowie die Bindungswirkungen der Entscheidungen und damit auf die prozesstaktischen Möglichkeiten der Beteiligten auswirkt. Im Folgenden werden die Verfahrensarten zunächst kurz dargestellt, bevor im Anschluss auf die verschiedenen Beteiligten, die ihnen auferlegten Bindungen und die daraus folgenden prozesstaktischen Möglichkeiten eingegangen wird. 903 Den Fragen, die sich gerade bei einer Vielzahl von Beteiligten stellen, wird dabei auch anhand eines Beispielsfalles nachgegangen. Steht eine Kapitalmarkthaftung im Raum, z. B. nach einem Börsengang oder in Zusammenhang mit dem Angebot einer geschlossenen Beteiligung, geht es im Regelfall eben nicht nur um Haftungsansprüche von Anlegern gegen den Emittenten oder den Anlageberater, sondern auch um Rückgriffs- bzw. Ausgleichsansprüche der zunächst in Anspruch genommenen Beteiligten. II. Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz 904 Mit dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz steht seit 2005 ein prozessuales Instrument zur Verfügung, das dem Ziel dienen soll, die Verfolgung vor allem von Schadensersatzansprüchen von Kapitalanlegern zu vereinfachen und kostengünstiger zu gestalten.1744) Die Grundidee besteht darin, Rechts___________ 1741) Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz vom 16.6.2005 (BGBl. I 2005, 2437), grundlegend reformiert durch Gesetz vom 28.6.2012 (BGBl. I 2010, 2182), derzeit geltend bis zum 31.12.2023 gemäß Gesetz vom 16.10.2020 (BGBl. I 2020, 2186). 1742) BGBl. I 2018, 1151. 1743) Wie hier Schneider, BB 2018, 1986, 1996; Weinland, Die neue Musterfeststellungsklage – Einführung, Rn. 32 f.; zweifelnd dagegen Heigl/Normann, in: Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungsklage, S. 61 (möglicher Vorrang des KapMuG als lex specialis). Ausdrücklich für KapMuG als vorrangige Sonderregelung Waßmuth/Asmus, ZIP 2018, 657, 659. 1744) Eingehend zu Zielsetzung und Konzeption des Gesetzes Reuschle, Das KapitalanlegerMusterverfahrensgesetz, 2006; KK-KapMuG/Hess, 2. Aufl., Einleitung Rn. 17 ff., 27 ff.

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D. Kapitalmarkthaftung

und/oder Tatsachenfragen, die sich in einer Vielzahl von gleichgerichteten Verfahren stellen, vor die Klammer zu ziehen, um sie einheitlich und mit Wirkung für alle erfassten Ausgangsverfahren durch ein Oberlandesgericht entscheiden zu lassen. Mit der zunehmenden Zahl von Musterverfahren ist auch das lange Zeit kaum beachtete Thema der verschiedenen möglichen Beteiligungsformen an einem typischen KapMuG-Verfahren und der daraus folgenden Bindungen in den Mittelpunkt prozesstaktischer Überlegungen getreten. Im Folgenden soll deshalb beleuchtet werden, inwieweit sich ungeachtet des grundsätzlich „gestaltungsfeindlichen“ Charakters von Verfahrensrecht Schlussfolgerungen für eine aktive Verfahrensgestaltung ableiten lassen. Die Darstellung beschränkt sich dabei auf das „erstinstanzliche“ Musterverfahren vor dem Oberlandesgericht, d. h. ohne Einbeziehung des Rechtsbeschwerdeverfahrens gem. §§ 20, 21 KapMuG. Der Ablauf eines Musterverfahrens lässt sich wie folgt beschreiben: Werden 905 Schadensersatzklagen wegen der Unrichtigkeit einer öffentlichen Kapitalmarktinformation oder wegen der Verwendung einer unrichtigen, unvollständigen oder irreführenden öffentlichen Kapitalmarktinformation oder wegen der Unterlassung der gebotenen Aufklärung über einen solchen Mangel erhoben,1745) haben die Parteien die Möglichkeit, einen „Musterverfahrensantrag“ des Inhalts zu stellen, dass Rechts- oder Tatsachenfragen, die sich in einer Vielzahl gleichgelagerter Verfahren stellen, vorab einheitlich vom Oberlandesgericht entschieden werden sollen (§§ 1 – 3 KapMuG). Kommen zehn gleichgerichtete Anträge zusammen, fertigt das Landgericht, bei dem der erste bekannt gemachte Musterverfahrensantrag gestellt wurde, den sog. Vorlagebeschluss, durch den das Musterverfahren vor dem Oberlandesgericht eingeleitet wird (§ 6 KapMuG). Der Beginn des Musterverfahrens hat zur Folge, dass alle erstinstanzlichen 906 Verfahren, in denen feststeht,1746) dass die im Vorlagebeschluss genannten Rechts- oder Tatsachenfragen („Feststellungsziele“) entscheidungserheblich sein werden, ausgesetzt werden müssen und dies ohne Rücksicht darauf, ob in dem jeweiligen Ausgangsverfahren ein Musterverfahrensantrag gestellt wurde (§ 8 KapMuG). Die Parteien der ausgesetzten Verfahren werden dann am Musterverfahren beteiligt, wobei aus den Klägern der ausgesetzten Verfahren zunächst der sog. Musterkläger bestimmt wird (§ 9 Abs. 2 KapMuG), dem die Führung des Musterverfahrens in erster Linie übertragen ist. Die anderen Kläger werden „Beigeladene des Musterverfahrens“, womit sie eine einem Nebenintervenienten ähnliche Rechtsstellung erhalten.1747) Hinsichtlich der Beklagten der ausgesetzten Ausgangsverfahren sieht § 9 Abs. 5 KapMuG vor, dass diese ohne Unterschied „Musterbeklagte“ werden, wobei bei einer ___________ 1745) Auf die weiteren Anwendungsfälle in § 1 Abs. 1 Nr. 3 KapMuG, die bisher in der Praxis keine größere Bedeutung erlangt haben, soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. 1746) BGH ZIP 2019, 1615. 1747) Eingehend KK-KapMuG/Reuschle, 2. Aufl., § 14 Rn. 17 ff.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis

Mehrheit von Musterbeklagten die §§ 61 ff. ZPO zur Streitgenossenschaft gelten. 907 Das Musterverfahren selbst wird sodann nach den allgemeinen Regeln der ZPO für das erstinstanzliche Verfahren vor den Landgerichten durchgeführt (§ 11 Abs. 1 Satz 1 KapMuG). Es endet mit einem „Musterentscheid“ (§ 16 KapMuG), der im Wege der stets zulässigen Rechtsbeschwerde zum BGH angefochten werden kann (§ 20 KapMuG). Der rechtskräftige Musterentscheid bindet gem. § 22 Abs. 1 KapMuG alle Beteiligten des Musterverfahrens sowie die Prozessgerichte der ausgesetzten Verfahren. Zudem erwächst er in Rechtskraft (§ 22 Abs. 2 KapMuG). 908 Für Anspruchsteller, die den Ausgang des Musterverfahrens zunächst abwarten möchten, besteht die Möglichkeit, ihren (potentiellen) Anspruch gem. § 10 KapMuG zunächst nur zum Musterverfahren „anzumelden“. Die Anmeldung bewirkt keine Beteiligung am Musterverfahren und auch keine Bindung an dessen Ausgang, bis zu dessen rechtskräftiger Beendigung wird die Verjährung des Anspruchs jedoch gehemmt (§ 204 Abs. 1 Nr. 6a BGB). 909 Ein Musterverfahren nach dem KapMuG zeichnet sich durch zahlreiche Eigenheiten aus, auf die an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann. Stattdessen soll das oben genannte, immer mehr ins Zentrum des Interesses tretende Thema untersucht werden, welche Personen in typischen Anwendungsfällen auf welche Weise in ein Musterverfahren einbezogen sind oder von einem solchen Verfahren in ihren Interessen zumindest in einer Weise berührt werden, dass sich die Frage nach der Möglichkeit einer Beteiligung bzw. Einbeziehung stellt. Bei den Regelungen des KapMuG handelt es sich um originäres Zivilprozessrecht. Ein wesentlicher Unterschied gegenüber dem „normalen“ Zivilprozess besteht allerdings darin, dass einerseits der Anwendungsbereich des Gesetzes in sachlicher und persönlicher Hinsicht stark eingeschränkt ist, andererseits, sofern der Anwendungsbereich eröffnet ist, eine Zwangswirkung vorgesehen ist, die für die Betroffenen eine Bindung an die Ergebnisse des Musterverfahrens vorschreibt und ihnen die Entscheidungsbefugnis entzieht, ob sie sich an dem Verfahren beteiligen wollen oder nicht (Beteiligungsobliegenheit). Eine weitere Besonderheit folgt schließlich aus speziellen Regeln zur ausschließlichen örtlichen Zuständigkeit in § 32b ZPO. 910 Die soeben zunächst nur in ihren Grundsätzen beschriebenen Besonderheiten erhellen bereits, dass sich insbesondere bei einer Vielzahl von verfahrensmäßig oder materiell Beteiligten eine ganze Reihe von schwierigen Fragen stellen kann. Diese hat der Gesetzgeber allerdings nur für die Aktivseite eines Musterverfahrens im Ansatz näher geregelt. So ist, wie oben bereits kurz dargelegt, nach § 9 Abs. 2 KapMuG vorgesehen, dass nach Einleitung eines Musterverfahrens das Oberlandesgericht aus dem Kreise der Kläger der ausgesetzten Verfahren nach billigem Ermessen einen Musterkläger auswählt, wobei es dessen Eignung, das Verfahren im Interesse auch der Beigeladenen angemessen zu führen, die Höhe des von ihm verfolgten Anspruchs

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sowie eine etwaige Einigung mehrerer Kläger auf einen Musterkläger zu berücksichtigen hat. Die anderen Kläger der ausgesetzten Verfahren erhalten dagegen nach § 9 Abs. 3 KapMuG die Rolle eines Beigeladenen.1748) Die – sehr naheliegende – Möglichkeit, dass auch auf der Passivseite mehrere 911 Parteien beteiligt sind, hatte der Gesetzgeber in der ersten Gesetzesfassung vollständig übersehen und dementsprechend in dieser Hinsicht keinerlei Regelungen in das Gesetz aufgenommen.1749) Die geltende Fassung sieht nun zwar vor, dass jeder Beklagte eines ausgesetzten Verfahrens im Musterverfahren die Rolle eines (Mit-)Musterbeklagten erhält (§ 9 Abs. 5 KapMuG). Doch abgesehen davon, dass damit – z. B. bei einem sukzessiven Hinzutreten weiterer Musterbeklagter – erhebliche Probleme verbunden sein können,1750) sind mit dieser Regelung die möglichen Beteiligungskonstellationen auf der Passivseite noch nicht abschließend behandelt. III. Allgemeine Musterfeststellungsklage Ein gänzlich anderes Konzept verfolgt die in den §§ 606 ff. ZPO neu geregel- 912 te allgemeine Musterfeststellungsklage. Ausgangspunkt sind in diesem Fall nicht individuelle Klagen, vielmehr muss eine entsprechend qualifizierte Verbraucherschutzeinrichtung i. S. v. § 606 Abs. 1 Satz 2 ZPO die Initiative ergreifen und eine Musterfeststellungsklage erheben, die gegen (mindestens einen) Unternehmer gerichtet ist. Gegenstand der Klage ist nach § 606 Abs. 1 Satz 1 ZPO die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens von tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für das Bestehen oder Nichtbestehen von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen zwischen Verbrauchern und einem Unternehmer (Feststellungsziele). Die Einleitung einer solchen Musterfeststellungsklage durch einen Unternehmer (im Sinne einer negativen Feststellungsklage) ist nicht möglich. Da die Erhebung einer solchen Musterfeststellungsklage unabhängig davon 913 ist, ob individuelle Klagen gegen den Unternehmer erhoben wurden, können sich (vermeintlich) betroffene Verbraucher an dem Verfahren „beteiligen“, indem sie i. S. v. § 608 ZPO ihre von den Feststellungszielen abhängenden Ansprüche oder Rechtsverhältnisse zur Eintragung in das beim Bundesamt für Justiz geführte Klageregister anmelden („Anmeldung zum Musterverfahren“). Die Klage ist zudem nur zulässig, wenn binnen zwei Monaten nach Bekanntmachung der Musterfeststellungsklage mindestens 50 Verbraucher ihre Ansprüche oder Rechtsverhältnisse wirksam angemeldet haben. Tatsächlich werden die Verbraucher durch die Anmeldung nicht Verfahrensbeteiligte und können aus der Anmeldung oder aus ihren behaupteten Ansprüchen auch kein Recht zur Nebenintervention ableiten (vgl. § 610 Abs. 6 ZPO). Sie ___________ 1748) Dazu unten Rn. 942 ff. 1749) Dazu Rimmelspacher, in: Festschrift Canaris, Bd. 2, S. 343, 348 ff. 1750) Siehe unten Rn. 946 ff.

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sind aber an das Ergebnis des Musterverfahrens gebunden, sofern sie die Anmeldung nicht bis zum Ablauf des Tages des Beginns der mündlichen Verhandlung erster Instanz zurücknehmen (§ 608 Abs. 3 ZPO). Werden die Feststellungsziele im Sinne der Verbraucher entschieden, können diese auf dieser Grundlage ihre Individualansprüche gegen den Unternehmer geltend machen. Sofern dieser die Ansprüche nicht freiwillig erfüllt, ist hierzu ein neuer (Individual-)Prozess erforderlich. IV. Beispielsfall 914 Die börsennotierte A-AG (Emittentin) mit Sitz in Frankfurt bringt eine große Anzahl von Aktien an die Börse. Diese stammen zu drei Vierteln aus einer Kapitalerhöhung, zu einem Viertel aus dem Bestand des Mehrheitsgesellschafters, der B-GmbH mit Sitz in München. Für die Börseneinführung wird ein Prospekt erstellt, für den die Emittentin sowie die I-Investmentbank AG mit Sitz in Hamburg, die den Börsengang begleitet, die Verantwortung übernehmen. In die Vorarbeiten eingebunden ist ferner die W-Wirtschaftsprüfungs AG mit Sitz in Hannover. 915 Nach einiger Zeit ergibt sich, dass eine wesentliche Information im Prospekt falsch gewesen sein soll, weshalb Erwerber der an der Börse eingeführten Aktien Schadenersatzklagen erheben. Ihr Vorwurf geht dahin, das Vorstandsmitglied V der A-AG habe – nach ihrer Überzeugung vorsätzlich – falsche Angaben in den Prospekt einfließen lassen. Die anderen Vorstandsmitglieder sollen dies aufgrund eigener grober Fahrlässigkeit nicht bemerkt haben. 916 Vor diesem Hintergrund möchten die Kläger K 1 – K 14, bei denen es sich um Kapitalanlagegesellschaften handelt, die jeweils mehrere Millionen Euro investiert haben, Schadensersatzklagen gegen die „Prospektverantwortlichen“ erheben. Der Kläger K 15 ist dagegen ein Privatanleger aus Landshut, der seine Aktien der A-AG im Wert von EUR 10.000 auf ausdrückliches Anraten seines Bankberaters gekauft hat. Er ist der Meinung, dass dieser die Prospektunrichtigkeit hätte erkennen können, im Übrigen aber die Empfehlung bereits nicht anlegergerecht war, weshalb seiner Ansicht nach Schadensersatzansprüche auch gegen die Bank, die ihren Sitz in ebenfalls in Landshut hat, bestehen. Ferner gibt es, wie bekannt geworden ist, auch noch eine vierstellige Zahl weiterer Privatanleger, die ebenfalls im Rahmen der Kapitalerhöhung Aktien der A-AG erworben haben. 917 Die anderen Beteiligten stellen sich dagegen die Frage, wer, sollten sich die Vorwürfe hinsichtlich der Unrichtigkeit des Prospekts bewahrheiten, am Ende den Schaden tragen soll. Es geht also von Anfang an auch um die Sicherung bzw. Durchsetzung etwaiger Rückgriffs- oder Ausgleichsansprüche. 918 In einer solchen Konstellation stehen somit vielfältige Ansprüche im Raum. Sie lassen sich überblicksmäßig wie folgt zusammenfassen: a) Die Kläger K 1 – K 15 könnten „Prospekthaftungsansprüche“ gem. § 9 Abs. 1 Satz 1 WpPG gegen die Emittentin und die I-Investmentbank AG 324

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als Verantwortliche i. S. v. § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WpPG und gegen die Mehrheitsgesellschafterin als Veranlasserin i. S. v. § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpPG geltend machen. Daneben kommen als Schuldner auch noch das Vorstandsmitglied V – aus § 9 Abs. 1 Satz 1 WpPG1751) oder aus § 826 BGB – und die W-Wirtschaftsprüfungs AG – ebenfalls aus § 9 Abs. 1 Satz 1 WpPG1752) – in Betracht. Der Kläger K 15 überlegt wiederum, ob er zusätzlich oder u. U. alleine seine Bank wegen der von ihm angenommenen Verletzung eines Beratungsvertrages in Anspruch nehmen soll. Der Anleger K 14 wiederum scheut das Prozessrisiko und fragt sich, ob seine Interessen nicht vorerst zumindest durch ein „Anspruchsanmeldung“ ausreichend gewahrt sind. b) Die „Schutzgemeinschaft für geschädigte Kapitalanleger“, die als entsprechend qualifizierte Einrichtung anerkannt ist, stellt sich die Frage, ob und ggf. wie sie den betroffenen Privatanlegern helfen kann. c) Die Emittentin möchte im Falle einer Verurteilung Regress bei ihren Vorstandsmitgliedern wegen Verletzung der Vorstandspflichten (§ 93 Abs. 2 Satz 1 AktG) nehmen. d) Die Mehrheitsgesellschafterin B-GmbH möchte für den Fall, dass (i) sich die Prospektvorwürfe bewahrheiten und (ii) ihr keine Exkulpation (§ 12 Abs. 1 WpPG) gelingt, Ausgleichsansprüche nach § 426 Abs. 1 BGB gegen die Emittentin und das angeblich vorsätzlich handelnde Vorstandsmitglied offenhalten. Gleiches gilt für die I-Investmentbank AG, die sich zudem Ausgleichsansprüche (§ 426 Abs. 1 BGB) gegen die Mehrheitsgesellschafterin offenhalten möchte. e) Die übrigen Mitglieder des Vorstands der A-AG möchten sich für den Fall, dass sie persönlich in Anspruch genommen werden, Rückgriffsansprüche (§ 426 Abs. 1 BGB) gegen das Vorstandsmitglied offenhalten, das möglicherweise vorsätzlich gehandelt hat. Inwieweit sich die verschiedenen Interessen der oben genannten, im weitesten 919 Sinne beteiligten Personen in spezifischen prozessualen Situationen konkretisieren, hängt natürlich vor allem von der Einschätzung der jeweiligen materiell-rechtlichen Lage ab. Im Folgenden soll analysiert werden, welche prozessualen Aspekte von den Beteiligten zu bedenken und berücksichtigen sind. Für die nachfolgende Analyse wird folgendes Szenario unterstellt: Die Kläger K 1 – K 12 erheben gleichzeitig Klage und reichen bereits mit der 920 Klage einen gleichgerichteten und auch im Übrigen zulässigen Musterverfahrensantrag auf Durchführung eines Kapitalanleger-Musterverfahrens ein, mit dem die „Unrichtigkeit des Börsenzulassungsprospekts“ festgestellt werden ___________ 1751) Zur Frage, ob einzelne Vorstandsmitglieder aus § 21 WpPG in Anspruch genommen werden können, siehe Groß, Kapitalmarktrecht, 7. Aufl., § 9 WpPG Rn. 35. 1752) Zur Anwendbarkeit von § 9 WpPG insoweit siehe Groß, a. a. O., Rn. 36 f.

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soll. Hinsichtlich der in Anspruch zu nehmenden Beklagten konnten sich die Kläger jedoch nicht einigen. Die Kläger K 1 – K 6 richten ihre Klage gegen die Emittentin A-AG, die I-Investmentbank AG sowie die Mehrheitsaktionärin. Die Kläger K 7 – K 11 nehmen dagegen nur die I-Investmentbank AG in Anspruch, der Kläger K 12 nur das Vorstandsmitglied, das (vermutlich) vorsätzlich die Unrichtigkeit des Prospekts verursacht hat. Kläger K 13 nimmt wiederum die Emittentin A-AG sowie die W-Wirtschaftsprüfungs AG in Anspruch, die Klage wird allerdings erst eingereicht, nachdem das Musterverfahren bereits begonnen, ein Musterkläger bestimmt und im Musterverfahren bereits eine Reihe von Zeugen einvernommen wurden. 921 Der Kläger K 14 ist skeptisch hinsichtlich der Erfolgsaussichten und beschränkt sich zunächst auf eine Anmeldung seines Anspruchs zum Musterverfahren, wobei er als Anspruchsgegner die Emittentin A-AG, die I-Investmentbank AG, die Mehrheitsaktionärin sowie die W-Wirtschaftsprüfungs AG benennt. 922 Einen ganz anderen Weg wählt schließlich der Kläger K 15, der nur gegen seine Bank vorgehen möchte, gegen die er Klage erhebt, bevor die Kläger K 1 – 12 ihrerseits Klage einreichen. Seine Klage verbindet er ebenfalls mit einem Musterverfahrensantrag, mit dem die Unrichtigkeit des Prospekts festgestellt werden soll. 923 Kurze Zeit später erhebt die „Schutzgemeinschaft für geschädigte Kapitalanleger“ eine allgemeine Musterfeststellungsklage, mit der ebenfalls Prospektfehler festgestellt werden sollen. Dieser Klage schließen sich binnen drei Wochen rund 60 Privatanleger an, indem sie Ansprüche zum Klageregister anmelden. Die Kläger K 14 und K 15 überlegen nun, ob sie sich vielleicht dieser Klage anschließen sollen. V. Vorbemerkung I: Das Verhältnis der beiden Verfahrensarten 924 Zunächst ist das Verhältnis der beiden Musterverfahren zueinander zu klären. Diesbezüglich steht fest, dass der Gesetzgeber Schadensersatzansprüche von Kapitalanlegern jedenfalls nicht ausdrücklich aus dem Anwendungsbereich der §§ 606 ff. ZPO ausgenommen hat. Soweit Ansprüche von Verbrauchern betroffen sind, stehen also zwei konkurrierende Verfahrensarten zur Verfügung. Denkbar wäre, dass im konkreten Fall, d. h., wenn beide Verfahren gegen denselben Unternehmer und mit zumindest teilweise identischen Feststellungszielen eingeleitet wurden, einem Verfahren der Vorrang zukommen soll. Aber dafür gibt es keine belastbaren Anhaltspunkte: 925 Ein Vorrang der §§ 606 ff. ZPO in der Weise, dass nach Erhebung einer allgemeinen Musterfeststellungsklage ein Musterverfahren i. S. d. KapMuG unzulässig würde, kann nicht angenommen werden. Ausgangspunkt eines Musterverfahrens nach dem KapMuG sind individuelle Klageverfahren, deren Einleitung allein durch die Erhebung einer allgemeinen Musterfeststellungsklage durch einen Verbraucherverband unstreitig nicht ausgeschlossen wird (arg. e. § 610 Abs. 3 ZPO). Zudem dient das Musterverfahren nach dem KapMuG 326

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auch der Durchsetzung solcher Ansprüche, die Anlegern zustehen, die keine Verbraucher sind. Umgekehrt kann aber auch kein genereller Vorrang des KapMuG vor den 926 §§ 606 ff. ZPO angenommen werden. Denn um von der Bindungswirkung eines Musterentscheids nach dem KapMuG zu profitieren, müssten betroffene Verbraucher eine Individualklage erheben, die dann mit Blick auf das KapMuG-Musterverfahren ausgesetzt werden müsste. Eine bloße Anspruchsanmeldung gem. § 10 Abs. 2 – 4 KapMuG würde zwar i. V. m. § 204 Abs. 1 Nr. 6a BGB zu einer Hemmung der Verjährung führen, nicht aber wie eine Anmeldung i. S. v. § 608 ZPO gem. § 613 Abs. 1 Satz 1 ZPO zu einer Bindung des beklagten Unternehmers und des Anmelders an das Ergebnis des Musterverfahrens. Im Ergebnis wird man deshalb davon ausgehen müssen, dass die beiden Mus- 927 terverfahren grundsätzlich und damit auch in dem obigen Beispielsfall parallel nebeneinander durchgeführt werden können. Folgt man dieser Einschätzung, stellt sich alleine noch die Frage, ob ein Musterverfahren i. S. d. §§ 606 ff. ZPO, sobald ein Musterverfahren nach dem KapMuG eingeleitet wird, gem. § 8 Abs. 1 KapMuG auszusetzen ist, falls die Feststellungsziele ganz oder teilweise übereinstimmen. Nach dem Wortlaut von § 8 Abs. 1 KapMuG liegt ein solches Verständnis nicht fern. Allerdings wäre für diesen Fall vom Gesetzgeber noch eine nähere Abstimmung der beiden Verfahren aufeinander zu erwarten gewesen. So ist beispielsweise die Reglung zur vergleichsweisen Beendigung des Musterverfahrens und der Ausgangsverfahren in den §§ 17 – 19, 23 KapMuG ersichtlich nicht darauf ausgelegt, auch die nur angemeldeten Ansprüche einzubeziehen, während in § 611 ZPO die Geltung eines Vergleichs für die angemeldeten Ansprüche gerade das Kernstück der gesetzlichen Regelung bildet. Im Ergebnis ist daher die Annahme überzeugend, dass beide Verfahren unabhängig voneinander durchgeführt werden können und sich nicht beeinflussen. Eine Aussetzung einer allgemeinen Musterfeststellungsklage gem. § 8 Abs. 1 KapMuG findet nicht statt. VI. Vorbemerkung II: Örtliche Zuständigkeit für Individualverfahren und Musterverfahren Bei der Prüfung, wer in der oben beschriebenen Konstellation welche verfah- 928 rensrechtlichen Rollen einnehmen kann, ist zwar nicht unter dogmatischen, aber unter praktischen Gesichtspunkten bei der örtlichen Zuständigkeit anzusetzen, da sich bereits aus dieser Frage erhebliche Konsequenzen und Gestaltungsmöglichkeiten ergeben können. Dabei ist wiederum zwischen den Individualklagen und den Musterverfahren zu unterscheiden. Hinsichtlich der Klagen der Kläger K 1 – 6 und K 13 ist die örtliche Zustän- 929 digkeit unproblematisch, sie ergibt sich aus § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO. Danach ist für Klagen, mit denen ein Schadensersatzanspruch wegen falscher, irreführender oder unterlassener öffentlicher Kapitalmarktinformation geltend

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gemacht wird, das Gericht am Sitz des betroffenen Emittenten ausschließlich zuständig, wenn sich dieser Sitz im Inland befindet und die Klage zumindest auch gegen den Emittenten gerichtet wird. Diese Voraussetzungen sind erfüllt, zuständig ist damit das LG Frankfurt/M.1753) 930 Nicht so eindeutig ist die Lage dagegen für die Klagen der Kläger K 7 – 12, da sie sich nicht zumindest auch gegen die Emittentin, die A-AG, richten, wie es der Wortlaut für eine Zuständigkeitsbegründung nach § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO verlangt. Allerdings besteht Einigkeit, dass es sich bei dieser scheinbaren weiteren Voraussetzung um ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers handelt. Immer dann, wenn der Beklagte wegen seiner unmittelbaren Verantwortlichkeit für die betreffende öffentliche Kapitalmarktinformation in Anspruch genommen wird, ist gem. § 32b Abs. 1 Nr. 1 ZPO die (ausschließliche) Zuständigkeit am Sitz des Emittenten, hier der A-AG, eröffnet,1754) was wiederum zur Zuständigkeit des LG Frankfurt/M. führt. 931 Der Kläger K 14 beschränkt sich auf eine Anmeldung zum Musterverfahren, um den weiteren Lauf der Verjährungsfrist zu hemmen. Zuständigkeitsfragen stellen sich hier nicht, da die Anmeldung zu einem Musterverfahren voraussetzt, dass ein solches bereits eingeleitet wurde und die Anmeldung gegenüber dem Oberlandesgericht erfolgt. 932 Gänzlich anders ist die Lage für den Kläger K 15. Da sich seine Klage ausschließlich gegen seine beratende Bank richtet, käme eine Zuständigkeit am Sitz des Emittenten gem. § 32b Abs. 1 Nr. 2 ZPO nur in Frage, wenn sich die Klage zugleich auch gegen den Emittenten richten würde.1755) Dies ist aber nicht der Fall, so dass es bei der Zuständigkeit des LG Landshut verbleibt. 933 Die örtliche Zuständigkeit für ein Musterverfahren nach dem KapMuG richtet sich danach, bei welchem erstinstanzlichen Gericht der erste veröffentlichte Musterverfahrensantrag eingereicht wird. Im Beispielsfall können alle Kläger K 1 – 13 und K 15 einen Musterverfahrensantrag einreichen. Für die Klagen 1 – 13 ist der Anwendungsbereich des KapMuG nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG eröffnet, da mit den Klagen die unmittelbare Verantwortlichkeit der Beklagten für eine unrichtige öffentliche Kapitalmarktinformation geltend gemacht wird. Für die Klage des Klägers K 15 folgt die Eröffnung des Anwendungsbereichs aus § 1 Abs. 1 Nr. 2 KapMuG, da die Klage auf die unterlassene Aufklärung über die Unrichtigkeit einer öffentlichen Kapital___________ 1753) Die sachliche Zuständigkeit ergibt sich unabhängig vom Streitwert aus § 71 Abs. 2 Nr. 3 GVG. 1754) BGH WM 2013, 1643 = ZIP 2013, 1688; siehe näher auch Wieczorek/Schütze/ Reuschle, ZPO, 5. Aufl., § 32b Rn. 43 ff., 48 f. 1755) Abweichend nur LG Neuruppin, 12.6.2014 – 5 O 127/13, wonach es für die Anwendung von § 32b Abs. 1 Nr. 2 ZPO ausreichen soll, dass eine zweite, separate Klage gegen den Emittenten gerichtet wird; siehe dazu auch VerfGH Brandenburg, 19.6.2015 – 24/15.

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marktinformation gestützt wird.1756) Der Umstand, dass zur Begründung der Klage in diesem Fall zudem vorgebracht wird, die Beratung sei nicht anlegergerecht erfolgt, steht der Teilnahme an einem Musterverfahren zur Klärung der Richtigkeit des Prospekts und auch schon der Stellung eines zulässigen Musterverfahrensantrags nur temporär entgegen, solange eine Haftung der beklagten Bank aus diesem weiteren Grund nicht ausgeschlossen werden kann. Sobald definitiv feststeht, dass auch die Entscheidung über die gegen die Bank geltend gemachten Schadensersatzansprüche von der Entscheidung über die Prospektvorwürfe abhängt, weil sich die anderen Vorwürfe einer individuellen Falschberatung zur Überzeugung des Gerichts als unzutreffend erwiesen haben, kann auch in diesem Verfahren ein Musterfeststellungsantrag gestellt werden oder eine Aussetzung nach § 8 Abs. 1 KapMuG erfolgen.1757) Für die Frage, welches Oberlandesgericht für die Durchführung eines – dann 934 alle Individualverfahren erfassenden – Musterverfahrens zuständig sein wird, kommt es also darauf an, ob zulässige Musterverfahrensanträge zuerst beim LG Frankfurt/M. (dann Zuständigkeit des OLG Frankfurt/M.) oder beim LG Landshut (dann Zuständigkeit des OLG München) gestellt werden. Hinsichtlich eines Musterverfahrens nach den §§ 606 ff. ZPO sieht dagegen 935 § 32c ZPO eine örtliche Zuständigkeit des Gerichts am allgemeinen Gerichtsstand des Beklagten vor, sofern sich dieser im Inland befindet. Richtet sich die Klage gegen zwei oder mehrere Unternehmer, deren allgemeine Gerichtsstände sich in unterschiedlichen Gerichtsbezirken befinden, ist das zuständige Gericht gem. § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO durch den BGH zu bestimmen. Abweichende Gerichtsstände gibt es ansonsten nur dann, wenn sich der allgemeine Gerichtsstand nicht im Inland befindet. In diesem Fall ist zunächst zu prüfen, ob deutsche Gerichte international zuständig sind, worüber i. d. R. nach der EuGVVO zu entscheiden ist. Steht die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte fest, ist die örtliche Zuständigkeit zu prüfen. Auch diese kann sich aus der EuGVVO ergeben, ansonsten folgt sie aus den allgemeinen Vorschriften.1758) § 32c kommt in diesem Zusammenhang allerdings keine Bedeutung zu, da die Vorschrift in Fällen, in denen sich der allgemeine Gerichtsstand des Beklagten nicht in Deutschland befindet, nicht anwendbar ist. Sachlich zuständig ist für eine Klage nach den §§ 606 ff. ZPO stets das Oberlandesgericht, wobei durch Rechtsverordnung innerhalb eines Bundeslandes die Musterverfahren bei einem Oberlandesgericht oder einem Obersten Landesgericht konzentriert werden können (§ 119 Abs. 3 GVG).

___________ 1756) Zur Ausdehnung des Anwendungsbereichs auf diesen Fall BT-Drucks. 17/8799, S. 16. 1757) BGH ZIP 2019, 1615; anders noch OLG München ZIP 2013, 2077; BT-Drucks. 17/8799, S. 20; KK-KapMuG/Kruis, 2. Aufl., § 8 Rn. 28. 1758) Näher zu den verschiedenen Konstellationen Wieczorek/Schütze/Kruis, ZPO, 5. Aufl., § 32c.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis Praxistipp: Da in der Regel die Senate für Kapitalanleger-Musterverfahren und ihre Besetzungen den auf diesem Gebiet tätigen Anwälten gut bekannt sind, besteht ggf. bereits auf dieser Stufe eine Gelegenheit zur „Auswahl“ des „besseren“ Senats, indem darauf geachtet wird, vor welchem Ausgangsgericht der erste Musterverfahrensantrag gestellt wird. § 32b ZPO eröffnet somit einen „Gestaltungsspielraum“ für die Beteiligten. Dieser ist auch deshalb besonders hervorzuheben, da ein Musterverfahrensantrag nach § 2 Abs. 1 KapMuG nicht nur vom Kläger, sondern ebenso – gerichtet auf das Nichtvorliegen anspruchsbegründender oder das Vorliegen anspruchsausschließender Voraussetzungen – vom Beklagten gestellt werden kann. Erfährt z. B. in dem obigen Beispielsfall die A-AG von der Klage in Landshut, könnte sie sich mit der dortigen Beklagten ins Benehmen setzen, damit diese nach Möglichkeit den ersten Musterverfahrensantrag stellt und so die Zuständigkeit des OLG München an Stelle des OLG Frankfurt/M. bewirkt, sofern man sich davon einen Vorteil verspricht. Da, wie unten noch darzustellen ist, das Musterverfahren letztendlich auch dazu dienen kann, wichtige Fragen etwaiger Regressansprüche zwischen den Beklagten oder der Beklagten gegenüber Dritten zu klären, besteht auf diese Weise die Möglichkeit, entscheidende Teile der prozessualen Aufarbeitung eines (potentiellen) Haftungsfalles zu den „besseren“ Gerichten zu verlagern. Im Fall einer allgemeinen Musterfeststellungsklage lässt sich dagegen in den allermeisten Fällen keine Verfahrenssteuerung durch die „Auswahl“ des „besten“ Gerichtsstandes erreichen, da die Beklagtenseite das Verfahren nicht einleiten kann und auch der Klägerseite eine Wahl zwischen verschiedenen Gerichtsständen allenfalls dann offensteht, wenn sich der allgemeine Gerichtsstand des beklagten Unternehmers im Ausland befindet. Umso mehr ist in aus Sicht des Beklagten geeigneten Fällen die Einleitung eines Musterverfahrens nach dem KapMuG in Erwägung zu ziehen, da der Anreiz für einen Verbraucherverband, eine allgemeine Musterfeststellungsklage zu erheben, nachlassen dürfte, sobald die Einleitung eines Kapitalanleger-Musterverfahrens beantragt ist.

VII. Gesetzliche Beteiligte und deren Bindung nach Einleitung eines Musterverfahrens nach dem KapMuG 1. Rechtsstellung der gesetzlichen Beteiligten im Musterverfahren 936 Kommt es in dem obigen Beispielsfall zu einem Musterverfahren nach dem KapMuG, sind die genannten Kläger und Beklagten in einer Weise beteiligt, die der Gesetzgeber vorausgesehen und geregelt hat, d. h. als Musterkläger, Beigeladene oder Musterbeklagte, § 9 Abs. 1 Nr. 1 – 3 KapMuG.1759) Für alle diese Personen sieht das Gesetz zugleich eine grundsätzliche Bindung an das Ergebnis des Musterverfahrens vor (dazu unten Rn. 962 ff.). a) Musterkläger 937 Nach § 9 Abs. 2 KapMuG ist vom Oberlandesgericht ein Kläger der ausgesetzten Ausgangsverfahren zum Musterkläger zu bestimmen. Das Gesetz ___________ 1759) Ausführlich dazu Wieczorek/Schütze/Kruis, ZPO, 4. Aufl., § 9 KapMuG Rn. 4 ff., 35 ff. und 46 ff.

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geht davon aus, dass es jeweils nur einen Musterkläger gibt, also auch dann, wenn der Musterkläger in seinem Ausgangsrechtsstreit einer von mehreren Klägern ist.1760) In der Führung des Musterverfahrens unterliegt der Musterkläger keinen Einschränkungen, wobei nach § 11 Abs. 1 Satz 1 KapMuG mit Ausnahme explizit genannter Bestimmungen auf das Musterverfahren vor dem Oberlandesgericht grundsätzlich1761) die Vorschriften über das erstinstanzliche Verfahren vor den Landgerichten Anwendung finden. Der Musterkläger unterliegt keinen Weisungen der Beigeladenen, d. h. der 938 Kläger der anderen ausgesetzten Verfahren. Nicht einmal eine Verpflichtung zur Abstimmung oder Konsultation besteht, mag eine solche auch regelmäßig sinnvoll sein. Da die Durchführung eines Musterverfahrens zudem völlig ohne Einfluss auf die materielle Rechtslage und damit auf die Darlegungsund Beweislast ist,1762) kann das Musterverfahren verloren werden, wenn der Musterkläger zu entscheidungserheblichen Punkten nicht oder nicht rechtzeitig (§ 296 ZPO – Präklusion)1763) vorträgt. Allerdings kann die Missachtung der Interessen der Beigeladenen zu seiner Abberufung führen. Auch wenn somit die verfahrensrechtliche Stellung des Musterklägers relativ einfach konzipiert zu sein scheint und der Stellung eines „normalen“ Klägers entspricht, sind einige Fragen ungeklärt. aa) Auswirkungen einer Auswechslung des Musterklägers Dies gilt zunächst für die Auswirkungen einer Auswechslung des Muster- 939 klägers. Diese kann Folge davon sein, dass der Musterkläger wegfällt (§ 13 Abs. 1 und 2 KapMuG) oder dass das Oberlandesgericht ihn von seinen Aufgaben entbindet, weil er das Musterverfahren nicht angemessen führt und ein Beigeladener dies beantragt (§ 9 Abs. 4 KapMuG). In diesem Fall stellt sich zunächst die Frage, in welchem Umfang der neue 940 Musterkläger an die vorgefundene Prozesslage gebunden ist, wie dies allgemeinen Grundsätzen bei einem Parteiwechsel entsprechen würde.1764) Ausdrückliche Regelungen zu dieser Frage finden sich im Gesetz nicht. In einer solchen Konstellation wird man abwägen müssen: Die Ablösung des zunächst bestimmten Musterklägers nach § 9 Abs. 4 KapMuG erfolgt gerade vor dem Hintergrund, dass dieser das Musterverfahren unter Berücksichti___________ 1760) A. A. für den Fall der notwendigen Streitgenossenschaft im Ausgangsverfahren Rimmelspacher, in: Festschrift Canaris, Bd. 2, S. 343, 347. 1761) Zu den anwendbaren Vorschriften im Einzelnen Wieczorek/Schütze/Kruis, ZPO, 4. Aufl., § 11 KapMuG Rn. 18 ff.; teilw. abweichend KK-KapMuG/Vollkommer, 2. Aufl., § 11 Rn. 55 ff. 1762) Der Beibringungsgrundsatz ist jedoch teilweise eingeschränkt, § 22 Abs. 1 Satz 2 KapMuG. 1763) Zur Anwendbarkeit der Präklusionsregeln KK-KapMuG/Vollkommer, 2. Aufl., § 11 Rn. 108. 1764) Siehe Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, 41. Aufl., Vorb § 50 Rn. 21.

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gung der Interessen der Beigeladenen nicht angemessen geführt hat. Insofern scheidet die Möglichkeit aus, dass der neue Musterkläger in der Weise an die vorgefundene prozessuale Lage gebunden sein könnte, dass es ihm ohne Ausnahme verwehrt wird, die prozessualen Versäumnisse des ersten Musterklägers zu beheben. Andererseits erschiene es auch nicht richtig, der Klägerseite durch eine von ihr betriebene Auswechslung des bisherigen Musterklägers die Möglichkeit zu eröffnen, das Musterverfahren nochmals „komplett“ von vorne zu beginnen. Richtigerweise sollte daher auf den Maßstab des § 22 Abs. 3 KapMuG zurückgegriffen werden. In dem Umfang, in dem sich der neue Musterkläger, wäre er Beigeladener geblieben, oder ein anderer Beigeladener, der den Antrag auf Ablösung gestellt hat, im Folgeverfahren auf eine Einschränkung der Bindungswirkung berufen könnte, muss er auch im Musterverfahren von einer Bindung an die vorgefundene Prozesslage befreit sein. Praxistipp: Durch die Auswechslung des Musterklägers kann die Möglichkeit geschaffen werden, prozessuale Versäumnisse zu heilen. Dafür bedarf es aber einer sorgfältigen „Auswahl“1765) des neuen Musterklägers, jedenfalls aber der Beigeladenen, die eine Ablösung beantragen, um insbesondere die Nachholung versäumter Angriffs- und Verteidigungsmittel zu ermöglichen.

bb) Nebenintervention auf Seiten des Musterklägers 941 Schließlich ist, soweit ersichtlich, noch nicht beleuchtet worden, wie sich eine Nebenintervention auf Seiten des Musterklägers auswirkt, die im Ausgangsverfahren erklärt worden ist, wobei es sich um eine einfache wie eine streitgenössische (§ 69 ZPO) Nebenintervention handeln kann. Das Gesetz sieht insoweit keine besonderen Regelungen vor. Allerdings hat der BGH inzwischen für die im Ausgangsrechtsstreit auf der Beklagtenseite erfolgte Nebenintervention entschieden, dass diese sich im Musterverfahren ohne Weiteres fortsetzt und der Streithelfer dort gem. § 11 Abs. 1 Satz 1 KapMuG i. V. m. § 67 Halbs. 2 ZPO seine Beteiligtenrechte ausüben kann.1766) Für eine Nebenintervention im Ausgangsverfahren auf Seiten des späteren Musterklägers dürfte damit nichts Anderes gelten. Es stellt sich allerdings die Frage, ob eine Nebenintervention auf Seiten des Musterklägers weiterhin eine „streitgenössische“ sein kann, wenn sie dies im Ausgangsverfahren war. Denn dies hätte zur Folge, dass der Streithelfer z. B. auch in Widerspruch zum Musterkläger Angriffs- und Verteidigungsmittel vorbringen dürfte.1767) Würde man ___________ 1765) Auch die Auswahl eines neuen Musterklägers erfolgt selbstverständlich durch das Oberlandesgericht. Allerdings hat dieses auch insoweit zu beachten, ob eine Einigung der Kläger der Ausgangsverfahren auf einen neuen Musterkläger vorliegt, § 9 Abs. 4, Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 KapMuG. 1766) BGHZ 216, 27. 1767) Zu den Befugnissen des streitgenössischen Nebenintervenienten allgemein siehe Thomas/ Putzo/Hüßtege, ZPO, 41. Aufl., § 69 Rn. 7.

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dies bejahen, stünden dem streitgenössischen Nebenintervenienten im Musterverfahren mehr Befugnisse zu als den Beigeladenen, die, obwohl sie nicht (nur) Streithelfer des Musterklägers sind,1768) sondern ihren eigenen Prozess führen, sich nach § 14 Satz 2 KapMuG mit den Handlungen des Musterklägers nicht in Widerspruch setzen dürfen. Einem Nebenintervenienten des Ausgangsverfahrens ein Mehr an Rechten einzuräumen als den Klägern der anderen Ausgangsverfahren ginge jedoch zu weit. Aufgrund der Besonderheiten des Musterverfahrens ist somit auf Seiten des Musterklägers selbst dann nur eine einfache Nebenintervention anzunehmen, wenn es sich im Ausgangsverfahren um eine streitgenössische Nebenintervention handelte. Aus demselben Grund ist schließlich anzunehmen, dass den Streithelfern des Musterklägers auch im Übrigen gegenüber den Beigeladenen keine herausgehobene Stellung zukommen kann, insbesondere können sie sich gegenüber den Beigeladenen nicht auf § 14 Satz 2 KapMuG berufen.1769) b) Beigeladene Die anderen Kläger der Ausgangsverfahren erhalten die Stellung eines „Bei- 942 geladenen“, § 9 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 KapMuG. Damit können sie zwar ebenfalls alle Prozesshandlungen vornehmen, allerdings nur insoweit, wie die eigenen Handlungen mit denen des Musterklägers nicht in Widerspruch stehen (§ 14 Satz 2 KapMuG). Die Rechtsstellung ähnelt damit einerseits einem einfachen Nebenintervenienten.1770) Andererseits ist zu bedenken, dass die Bindung des Beigeladenen nach § 22 KapMuG – anders als im Fall der „echten“ Nebenintervention – nicht gegenüber der unterstützten Partei, sondern gegenüber der Gegenseite eintritt, was den konzeptionellen Unterschied der beiden Beteiligungsformen belegt. Ferner hat der Gesetzgeber in dieser Konstellation zutreffend erkannt, dass 943 damit zu rechnen ist, dass ein Ausgangsverfahren in vielen Fällen erst ausgesetzt werden wird, wenn das Musterverfahren bereits begonnen hat und u. U. schon weiter fortgeschritten ist. Gem. § 14 Satz 1 KapMuG hat deshalb ein Beigeladener, der erst später hinzutritt, das Musterverfahren in der Lage „anzunehmen“, in der es sich im Zeitpunkt der Aussetzung des von ihm geführten Rechtsstreits befindet. Diese Einschränkung der Mitwirkungsrechte wird in § 22 Abs. 3 Nr. 1 KapMuG durch eine gelockerte Bindung an das Ergebnis des Musterverfahrens kompensiert (dazu unten Rn. 972 f.). Nicht ausgeschlossen ist, dass auf Seiten des Beklagten, der im Musterverfah- 944 ren die Rolle eines Beigeladenen hat, im Ausgangsverfahren eine Nebenin-

___________ 1768) Zur Stellung des Beigeladenen, der gerade nicht Streithelfer des Musterklägers ist, siehe KK-KapMuG/Reuschle, 2. Aufl., § 14 Rn. 1, 13 ff. 1769) Wieczorek/Schütze/Kruis, ZPO, 4. Aufl., § 9 KapMuG Rn. 57. 1770) KK-KapMuG/Reuschle, 2. Aufl., § 14 Rn. 15.

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tervention stattgefunden hat. Nach der Rechtsprechung des BGH1771) setzt sich diese im Musterverfahren fort. Allerdings darf sich der Nebenintervenient dort nicht nur nicht mit den Handlungen und Erklärungen „seiner“ Hauptpartei in Widerspruch setzten (vgl. § 67 Halbs. 2 ZPO). Er muss auch den Vorrang des Musterklägers gem. § 14 Satz 2 KapMuG hinnehmen. c) Musterbeklagte aa) Gesetzlicher Regelungsbestand 945 Problematisch ist die Konstellation auf der Beklagtenseite. Diesbezüglich hat der Gesetzgeber in § 9 Abs. 5 KapMuG angeordnet, dass alle Beklagten der ausgesetzten Verfahren als „Musterbeklagte“ am Musterverfahren beteiligt sind. Nähere Regelungen zur Ausgestaltung dieser Konstellation finden sich im Gesetz nicht, so dass davon ausgegangen werden muss, dass alle „Mitmusterbeklagten“ Streitgenossen i. S. v. § 61 ZPO sind.1772) Soweit sie von den Feststellungszielen des Musterverfahrens in gleicher Weise betroffen sind, handelt es sich um eine notwendige Streitgenossenschaft (§ 62 ZPO).1773) Grundsätzlich können also alle Musterbeklagten unabhängig voneinander alle Prozesshandlungen vornehmen und insbesondere Angriffs- und Verteidigungsmittel geltend machen. Soweit sie gleichermaßen von dem oder den Feststellungszielen betroffen sind, kann jedoch nur eine einheitliche Sachentscheidung ihnen gegenüber ergehen. Vor diesem Hintergrund gilt insbesondere, dass Angriffs- und Verteidigungsmittel, die von einem Musterbeklagten vorgebracht sind, als für alle Musterbeklagten vorgebracht gelten, sofern diese dem Vortrag nicht widersprechen.1774) Ferner müsste davon ausgegangen werden, dass auch die Insolvenz eines Musterbeklagten gem. § 11 Abs. 1 Satz 1 KapMuG i. V. m. § 240 ZPO zur Unterbrechung des gesamten Musterverfahrens, also auch in Bezug auf die anderen Musterbeklagten, führt.1775) bb) Nachträgliches Hinzutreten neuer Musterbeklagter 946 Schwerwiegender erscheinen die Probleme, die durch das nachträgliche Hinzutreten eines neuen Musterbeklagten – in unserem Beispielsfall die W-Wirtschaftsprüfungs AG – entstehen können, wenn bis zu diesem Zeitpunkt bereits wesentliche Verfahrensschritte des Musterverfahrens durchgeführt wurden. Denn es stellt sich die Frage, ob die schon durchgeführten Verfahrensschritte, z. B. Beweisaufnahmen, wiederholt werden müssen. Viel spricht dafür, dass genau dies der Fall ist, da § 22 Abs. 1 KapMuG die uneingeschränkte ___________ 1771) BGHZ 216, 27. 1772) BT-Drucks. 15/5091, S. 25. 1773) KK-KapMuG/Reuschle, 2. Aufl., § 9 Rn. 33 ff.; a. A. Rimmelspacher, in: Festschrift Canaris, Bd. 2, S. 343, 345. 1774) BGH NJW 2015, 2125 Rn. 14. 1775) So allgemein zur Unterbrechung in Fällen der notwendigen Streitgenossenschaft Thomas/ Putzo/Hüßtege, ZPO, 41. Aufl., § 62 Rn. 18 m. w. N.; a. A. wohl BAG NJW 1972, 1388.

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Bindung aller Musterbeklagten an das Ergebnis des Musterverfahrens vorsieht, was zwingend voraussetzt, dass alle Musterbeklagten auch in Bezug auf alle Verfahrensschritte ihre Beteiligungsrechte ausüben konnten. Soweit diese Konstellation in der Literatur überhaupt behandelt wird, wird 947 angenommen, dass das nachträgliche Hinzutreten eines weiteren Musterbeklagten wie eine gewillkürte Parteierweiterung auf Beklagtenseite zu behandeln sei.1776) Nach der Rechtsprechung des BGH ist ein neuer Beklagter, der erst aufgrund einer gewillkürten Parteierweiterung nachträglich in den Prozess einbezogen wird, an die bisherigen Prozessergebnisse und insbesondere an die Ergebnisse einer Beweisaufnahme nicht gebunden, so dass diese zu wiederholen ist, wenn er dies verlangt und anderenfalls seine Verteidigungsrechte verletzt würden.1777) Dies kann zu einer erneuten Einvernahme von Zeugen, aber auch zu einer Ergänzung oder einer Neuerstellung von Sachverständigengutachten führen.1778) Zudem kann der neue Beklagte Verteidigungsmittel vorbringen, mit denen die bisherigen Musterbeklagten möglicherweise präkludiert wären.1779) Kompensiert wird dieses Risiko einer erheblichen Verfahrensverzögerung im 948 Falle der gewillkürten Parteierweiterung im normalen Verfahren dadurch, dass die Rechtsprechung § 263 ZPO zumindest entsprechend zur Anwendung bringt und die Erweiterung nur im Falle der Sachdienlichkeit zulässt. Ist eine erhebliche Verfahrensverzögerung zu erwarten, kann das Gericht die Sachdienlichkeit verneinen, die Parteierweiterung ist dann unzulässig. Berücksichtig man die Rechtsprechung zur gewillkürten Parteierweiterung kommen grundsätzlich folgende Lösungsmöglichkeiten in Betracht: Zum einen könnte daran gedacht werden, nach Beginn des Musterverfahrens 949 die Aussetzung eines Ausgangsrechtsstreits gem. § 8 KapMuG in analoger Anwendung von § 263 ZPO von einer Prüfung der Sachdienlichkeit abhängig zu machen, wenn der Beklagte bisher noch nicht am Musterverfahren beteiligt ist. Hierfür spricht, dass eine ansonsten drohende ganz erhebliche Verzögerung des Musterverfahrens eine Vielzahl von Beteiligten treffen würde, die u. U. zu dem neuen Beklagten in keinerlei Beziehung stehen. Gegen diese Lösung spricht jedoch, dass nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG die Aussetzung zwingend und von Amts wegen erfolgt,1780) eine Sachdienlichkeitsprüfung also eindeutig nicht vorgesehen ist. Das Ausgangsgericht dürfte zudem regelmäßig zu einer Einschätzung, ob angesichts des bisherigen Verlaufs des Musterverfahrens vor dem Oberlandesgericht Sachdienlichkeit anzunehmen ist, auch nicht in der Lage sein. ___________ 1776) KK-KapMuG/Reuschle, 2. Aufl., § 9 Rn. 34. 1777) BGHZ 131, 76; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, 41. Aufl., Vorb § 50 Rn. 25. 1778) Dies gilt auch dann, wenn der neue Beklagte zuvor an dem Verfahren bereits als Nebenintervenient beteiligt war. 1779) BGHZ 131, 76. 1780) KK-KapMuG/Kruis, 2. Aufl., § 8 Rn. 18.

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950 Eine andere Möglichkeit bestünde darin, eine Aussetzung stets vorzunehmen,1781) dem neuen Musterbeklagten in analoger Anwendung von § 68 ZPO und § 22 Abs. 3 KapMuG aber nur eine eingeschränkte Bindung durch den Musterentscheid aufzuerlegen. Dieser könnte dann zwar keine Wiederholung einer Beweisaufnahme o. Ä. verlangen, wohl aber in seinem Ausgangsverfahren geltend machen, er sei durch die Lage des Verfahrens zur Zeit seines Eintritts daran gehindert worden, bestimmte Verteidigungsmittel geltend zu machen. Gegen diese Lösung spricht allerdings, dass die Bindungswirkung des Musterentscheids einerseits noch weiter fragmentiert würde und andererseits gleichwohl die Gefahr bestünde, dass die Rechte des betreffenden Musterbeklagten zumindest faktisch erheblich beeinträchtigt werden. Vor allem aber spricht dagegen, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit gesehen hatte,1782) dass Parteien erst nachträglich zum Musterverfahren hinzutreten, gleichwohl aber von einer weiteren Regelung abgesehen hat. 951 Vor diesem Hintergrund lässt die gesetzliche Regelung somit nur eine Lösung zu. Wird ein Beklagter in ein laufendes Musterverfahren einbezogen, erhält er durch die Aussetzung seines Ausgangsrechtsstreits gem. § 9 Abs. 5 KapMuG die Stellung eines Musterbeklagten. Ist es zur effektiven Wahrnehmung seiner Verteidigungsrechte erforderlich, sind somit alle Prozesshandlungen und vor allem bereits durchgeführte Beweisaufnahmen zu wiederholen oder zu ergänzen. Ebenso kann er Angriffs- und Verteidigungsmittel vorbringen, mit denen andere Musterbeklagte bereits präkludiert sind. Daraus können sich de lege lata ganz erhebliche Verzögerungen für das Musterverfahren ergeben, die nach der Entscheidung des Gesetzgebers aber in Kauf zu nehmen sind. Rechtspolitisch erscheint diese Lösung zweifelhaft, da Verfahrensbeteiligte versucht sein könnten, durch die Initiierung und Aussetzung weiterer Ausgangsverfahren mit neuen Beklagten ein Musterverfahren zu verzögern. Im Extremfall könnte § 9 Abs. 5 KapMuG sogar dazu führen, dass ein mehrmonatiger Verfahrensgang wiederholt werden muss. Die anderen Parteien, die bereits am Musterverfahren beteiligt sind, können dies auch nicht durch eine Streitverkündung an die potentiell später noch hinzukommenden Musterbeklagten verhindern, selbst wenn sie ihnen bekannt wären. Denn zum einen fehlt es für eine Streitverkündung, mit der lediglich Verfahrensverzögerungen vermieden werden sollen, an einem rechtlichen Interesse i. S. v. § 72 ZPO. Und zum anderen würde dem Streitverkündeten durch eine Nebenintervention keine einem Musterbeklagten identische Position verschafft.

___________ 1781) Dass die Voraussetzungen einer Aussetzung nach § 8 Abs. 1 KapMuG vorliegen, wird jeweils vorausgesetzt. 1782) BT-Drucks. 17/8799, S. 21.

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D. Kapitalmarkthaftung Praxistipp: Musterverfahren zeichnen sich häufig durch eine hohe Koordination der Parteiinteressen auf beiden Seiten aus, die durch die einheitliche Mandatierung von Prozessvertretern oder durch Absprachen zum Vorgehen erreicht wird. Die Notwendigkeit einer solchen Koordination zeigt sich auch hier, da es im Gesamtinteresse der Musterklägerseite bzw. der Musterbeklagtenseite liegen kann, die Aussetzung von Ausgangsverfahren mit „neuen“, bisher nicht am Musterverfahren beteiligten Beklagten zu beschleunigen bzw. zu verzögern, um ggf. eine Wiederholung von Teilen des Musterverfahrens zu erzwingen.

cc) Nebenintervention auf Seiten eines Musterbeklagten Wie der BGH inzwischen geklärt hat, setzt sich eine im Ausgangsverfahren 952 erklärte Nebenintervention auf Beklagtenseite bzw. die Wirkung einer im Ausgangsverfahren erfolgten Streitverkündung im Musterverfahren fort. Das Musterverfahren selbst ist dagegen weder interventionsfähig, noch kann in diesem Verfahrensstadium eine Streitverkündung erfolgen.1783) Wegen der besonderen Bedeutung dieser Konstellation wird hierauf im letzten Abschnitt nochmals gesondert eingegangen. d) Anspruchsanmelder Einfach ist dem Grunde nach die Rechtslage hinsichtlich eines „Betroffenen“, 953 der lediglich eine Anspruchsanmeldung i. S. v. § 10 Abs. 2 – 4 KapMuG vorgenommen hat. Er ist am Musterverfahren nicht beteiligt. Er kann damit weder auf dessen Verlauf Einfluss nehmen, noch wirkt das Ergebnis von Rechts wegen für bzw. gegen ihn oder seinen Prozessgegner in einem späteren Verfahren. Die Folgen der Anmeldung beschränken sich von Gesetzes wegen auf die Hemmung der Verjährung, § 204 Abs. 1 Nr. 6a BGB. Für einen Anspruchsanmelder stellt sich allerdings die Frage, ob er sich nicht 954 als Nebenintervenient des Musterklägers am Musterverfahren beteiligen kann. Dies hätte für ihn den Vorteil, dass er auf den Verlauf des Verfahrens Einfluss nehmen könnte. Ein solches Recht zur Nebenintervention ist jedoch zu verneinen. Dem Anmelder fehlt es an einem rechtlichen Interesse an einem Obsiegen des Musterklägers i. S. v. § 66 ZPO, da der Musterentscheid für ihn keine rechtliche Bindungswirkung entfaltet und die Hemmung der Verjährung vom Ausgang des Verfahrens unabhängig ist. Umgekehrt ergeben sich im Fall einer Anspruchsanmeldung für die An- 955 spruchsgegner erhebliche Gestaltungsmöglichkeiten: Aus Sicht der Anspruchsgegner, gegen die sich die Anspruchsanmeldung rich- 956 tet, ist es „ärgerlich“, dass der Anmelder mit einem sehr geringen Kosten-

___________ 1783) BGHZ 216, 27.

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aufwand1784) den Ausgang des Musterverfahrens abwarten und bei entsprechendem Ausgang zwar nicht rechtlich, aber faktisch von diesem profitieren kann. Denn die Chance, dass in einem nachfolgenden Prozess die Gerichte zu einer von einem rechtskräftigen Musterentscheid abweichenden Einschätzung kommen, ist bei realistischer Betrachtung gering. 957 Will der Anspruchsgegner dies nicht hinnehmen, besteht für ihn die Möglichkeit, eine negative Feststellungsklage (§ 256 Abs. 1 Alt. 2 ZPO) zu erheben. Eine solche Klage ist zulässig, da der Anmelder sich durch die Anspruchsanmeldung eines entsprechenden Anspruchs berühmt, was das Feststellungsinteresse begründet.1785) Die Anmeldung selbst hindert eine negative Feststellungsklage nicht, denn durch sie wird keine (entgegenstehende) Rechtshängigkeit des Anspruchs begründet. 958 Die Erhebung der negativen Feststellungsklage hat für den Anspruchsgegner mehrere interessante Konsequenzen: Da durch eine negative Feststellungsklage nicht das Bestehen eines Schadensersatzanspruches geltend gemacht wird, sondern gerade sein Nichtbestehen, ist der Anwendungsbereich von § 1 Abs. 1 KapMuG nach fast einhelliger Ansicht nicht eröffnet.1786) Das Verfahren kann daher nicht nach § 8 Abs. 1 KapMuG ausgesetzt werden, da für eine Aussetzung auf dieser Grundlage für das betreffende Verfahren der Anwendungsbereich des KapMuG eröffnet sein muss.1787) Ebenso wenig kommt mangels Vorgreiflichkeit eine Aussetzung nach § 148 ZPO in Betracht.1788) Der Anmelder ist also gezwungen, alleine und bei vollem Kostenrisiko (auch hinsichtlich aufwendiger Beweisaufnahmen) und bei unveränderter Darlegungs- und Beweislast1789) die inhaltlich identischen Fragen „auszufechten“, die Gegenstand des Musterverfahrens sind. Dieser Konsequenz, mit der ihm alle Vorteile der Anspruchsanmeldung genommen werden, kann der Anmelder nur entgehen, wenn er seinerseits eine Leistungsklage erhebt, die, sobald mündlich verhandelt wurde, zu einer Unzulässigkeit der negativen Feststellungsklage und zu einer Aussetzung und Beteiligung am Musterverfahren führen kann.

___________ 1784) Für die Anmeldung fällt eine 0,5 Verfahrensgebühr nach Nr. 1902 KV GKG sowie eine 0,8 Verfahrensgebühr nach Nr. 3338 VV RVG an. 1785) Zöller/Greger, ZPO, 33. Aufl., § 256 Rn. 14a. 1786) Siehe KK-KapMuG/Kruis, 2. Aufl., § 1 Rn. 13; Mormann, Zuständigkeitsrechtlicher Schutz vor Kapitalanlegerklagen in den USA, S. 241 ff.; a. A. zu § 32b ZPO a. F. LG Göttingen, v. 26.7.2011 – 2 O 1096/11, juris. Die Eröffnung des Anwendungsbereichs bei positiven Feststellungsklagen ist dagegen inzwischen anerkannt, vgl. BGH ZIP 2015, 2437. 1787) KK-KapMuG/Kruis, 2. Aufl., § 1 Rn. 2; § 8 Rn. 14; zur alten Gesetzesfassung siehe BGH ZIP 2011, 493; BGH ZIP 2009, 1393 f. 1788) BGH ZIP 2009, 1393; BGH ZIP 2014, 1045. 1789) Diese ändert sich alleine durch die „Einkleidung“ als negative Feststellungsklage nicht, vgl. MünchKomm-ZPO/Becker-Eberhard, 5. Aufl., § 256 Rn. 73 m. w. N.

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Bereits diese Konsequenz macht die negative Feststellungsklage zu einer in- 959 teressanten Gestaltungsmöglichkeit für den Anspruchsgegner. Noch interessanter ist es allerdings, wenn der Anmelder keine Leistungsklage erhebt. Für die negative Feststellungsklage besteht kein ausschließlicher Gerichtsstand nach § 32b Abs. 1 ZPO,1790) weshalb so die Möglichkeit eröffnet wird, ein weiteres Gericht (z. B. am Wohnsitz des Anspruchsanmelders) mit den betreffenden Fragen zu befassen. Ist der Anspruchsanmelder nicht in der Lage, das Verfahren sachgerecht zu führen, besteht u. U. aufgrund der strukturellen Schwerfälligkeit eines Musterverfahrens zudem die Möglichkeit, dieses zu „überholen“ und mit einer früheren Entscheidung eines anderen Gerichts auf das Verfahren Einfluss zu nehmen. Praxistipp: Eine einfache Anspruchsanmeldung zum Musterverfahren eröffnet dem Anspruchsgegner besonders viele Gestaltungen bzw. Möglichkeiten, den Anmelder mittels einer negativen Feststellungsklage unter Druck zu setzen. Richtet sich die Anmeldung gegen verschiedene Musterbeklagte und entschließen sich diese zu einem koordinierten Vorgehen, kann zudem auch noch ein besonders hohes Kostenrisiko für den Anmelder geschaffen werden. Im Rahmen der Erarbeitung einer Gesamtstrategie sollte möglichst frühzeitig festgelegt werden, ob und ggf. in welchen Fällen in dieser Weise auf Anspruchsanmeldungen reagiert werden soll.

e) Nebenintervention der Parteien der Ausgangsverfahren? Fraglich ist weiter, ob Parteien eines Ausgangsverfahrens, das noch nicht nach 960 § 8 Abs. 1 KapMuG ausgesetzt ist, eine Nebenintervention zum Musterverfahren erklären können, um dort frühzeitig Angriffs- und Verteidigungsmittel geltend machen zu können. Das nach § 66 Abs. 1 ZPO erforderliche rechtliche Interesse soll sich nach einer Ansicht daraus ergeben, dass die Möglichkeit besteht, im Falle einer späteren Aussetzung von der Bindungswirkung des Musterentscheids erfasst zu werden.1791) Nimmt man diese Möglichkeit an, kann allerdings ein Nebenintervenient, der später zum Beigeladenen wird, ab dem Zeitpunkt seines Streitbeitritts keine gelockerte Bindungswirkung i. S. v. § 22 Abs. 3 Nr. 1 KapMuG mehr geltend machen.1792) Ob diese Möglichkeit eines „antizipierenden Streitbeitritts“ indes tatsächlich 961 besteht, erscheint zweifelhaft. Zum einen würde damit die vom Ausgangsgericht gem. § 8 Abs. 1 KapMuG vorzunehmende Prüfung der Vorgreiflichkeit umgangen und, sofern es zu einem Zwischenstreit (§ 71 ZPO) über die Zulässigkeit des Streitbeitritts kommt, sachwidrig auf das Oberlandesgericht verlagert. Zum anderen hat der Beitretende in dieser Konstellation kein eigent___________ 1790) Str., zum Meinungsstand siehe Wieczorek/Schütze/Reuschle, ZPO, 5. Aufl., § 32b Rn. 29 f. 1791) Dafür KK-KapMuG/Vollkommer, 2. Aufl., § 11 Rn. 80. 1792) Vollkommer, NJW 2007, 3094, 3098.

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liches Interesse daran, der von ihm unterstützten Partei zum Erfolg zu verhelfen, vielmehr will er seine eigene erwartete Beteiligung am Musterverfahren erfolgreich gestalten. Dies dürfte kein Anwendungsfall von § 66 Abs. 1 ZPO sein, was jedoch keine Partei eines Ausgangsverfahrens daran hindern sollte, diesen Weg auszuprobieren und ggf. im Rahmen eines Zwischenstreits klären zu lassen. Praxistipp: In dieser wie auch in zahlreichen anderen Konstellationen liegen noch keine Stellungnahme seitens der Rechtsprechung vor. Dies spricht dafür, alle denkbaren Gestaltungen auszuprobieren und zwar insbesondere dann, wenn damit verbundene Verzögerungen des Musterverfahrens aus eigener Sicht nicht negativ ins Gewicht fallen.

2. Bindung der gesetzlichen Beteiligten und der Ausgangsgerichte an den Musterentscheid a) Gesetzlicher Regelungsbestand 962 Für alle Beteiligen i. S. v. § 9 Abs. 1 Nr. 1 – 3 KapMuG sowie die Gerichte der Ausgangsverfahren sieht das Gesetz eine grundsätzliche Bindung an das Ergebnis („Feststellungen“1793)) des Musterverfahrens vor. So bestimmt § 22 Abs. 1 KapMuG zum einen, dass der Musterentscheid die Prozessgerichte aller ausgesetzten Verfahren bindet. Darüber hinaus gilt nach dem Gesetzeswortlaut, dass der Musterentscheid für und gegen alle Beteiligten des Musterverfahrens, d. h. den Musterkläger, die Musterbeklagten sowie die Beigeladenen, wirkt und dies unabhängig davon, ob der jeweilige Beteiligte alle im Musterverfahren festgestellten Tatsachen selbst ausdrücklich geltend gemacht hat. Nach § 22 Abs. 2 KapMuG erwächst der Musterentscheid zudem in Rechtskraft, soweit über die Feststellungsziele des Musterverfahrens entschieden ist. 963 Einen Vorbehalt enthält § 22 Abs. 3 KapMuG, wonach die Beigeladenen in ihrem jeweiligen Rechtsstreit mit der Behauptung, dass der Musterkläger das Musterverfahren mangelhaft geführt habe, gegenüber den Musterbeklagten gehört werden, d. h. sich auf eine mangelhafte Prozessführung seitens des Musterklägers berufen können, wenn sie durch die Lage des Musterverfahrens zur Zeit der Aussetzung des von ihnen geführten Rechtsstreits (Zeitmoment) oder durch Erklärungen und Handlungen des Musterklägers gehindert worden sind, Angriffs- oder Verteidigungsmittel geltend zu machen, oder wenn Angriffs- oder Verteidigungsmittel, die ihnen unbekannt waren, vom Musterkläger absichtlich oder durch grobes Verschulden nicht geltend gemacht wurden (Umstandsmomente). ___________ 1793) Dazu zählt auch die Ablehnung einer begehrten Feststellung, durch die dann das kontradiktorische Gegenteil feststeht.

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Die Regelung in § 22 KapMuG wirft zahlreiche in Literatur und Rechtspre- 964 chung bisher kaum geklärte Fragen auf,1794) so z. B. ob zwischen der Bindung der Beteiligten und der Bindung der Ausgangsgerichte ein Unterschied besteht, wie sich die Rechtskraft des Musterentscheids zur Bindungswirkung verhält1795) und in Person welcher Beteiligten die Rechtskraftwirkung eintritt.1796) b) Bindung der Prozessgerichte Das Gesetz spricht in § 22 Abs. 1 Satz 1 KapMuG zunächst von der Bindung 965 der Prozessgerichte, womit offensichtlich zum Ausdruck gebracht werden soll, dass diese die Feststellungen des Musterentscheids ihrer Urteilsfindung zugrunde legen müssen. Dabei ist richtigerweise von einer Bindung an den Tenor und die den Tenor tragenden tatsächlichen Feststellungen auszugehen.1797) Diesbezüglich stellt sich die Frage, ob ein Unterschied zur Wirkung des 966 Musterentscheids für und gegen alle Beteiligten des Musterverfahrens, die durch § 22 Abs. 1 Satz 2 KapMuG angeordnet wird, besteht. Diese Frage ist nicht rein akademisch: So kann z. B. eine subjektive Klagehäufung im Ausgangsprozess dazu führen, dass einer der Kläger Musterkläger des Musterverfahrens wird, während die anderen „nur“ Beigeladene sind. Bei der Fortsetzung des Ausgangsrechtsstreits könnten die Kläger, die Beigeladene des Musterverfahrens waren, unter Berufung auf § 22 Abs. 3 KapMuG geltend machen, wegen einer mangelhaften Prozessführung des Musterklägers dürfe das Prozessgericht aus ihrer Sicht nachteilige Feststellungen des Musterentscheids nur im Verhältnis zum Kläger, nicht aber ihnen gegenüber zur Grundlage des Urteils machen. Voraussetzung dafür wäre, dass die in § 22 Abs. 1 Satz 1 KapMuG angeordnete Bindung des Gerichts eine solche Differenzierung nicht ausschließt. Richtigerweise muss wohl davon ausgegangen werden, dass die Bindung des 967 Gerichts jedenfalls gegenüber dem Vorbehalt § 22 Abs. 3 KapMuG zurückstehen muss, soll letztgenannte Vorschrift nicht leerlaufen.1798) In anderen Konstellationen kommt § 22 Abs. 1 Satz 1 KapMuG dagegen eine eigene Wirkung zu, so z. B. dann, wenn nach Fortsetzung des Verfahrens ein Parteiwechsel stattfindet. In diesem Fall kann die Vorgreiflichkeit des Muster___________ 1794) Umfassend dazu Wieczorek/Schütze/Kruis, ZPO, 4. Aufl., § 22 KapMuG Rn. 16 ff., 20 ff., 26 ff. und 37 ff. 1795) Zu möglichen Ansätzen KK-KapMuG/Hess, 2. Aufl., § 22 Rn. 4 ff., 10 ff. 1796) Für eine Beschränkung der Rechtskraft auf das Verhältnis von Musterkläger zu Musterbeklagten wohl KK-KapMuG/Hess, 2. Aufl., § 22 Rn. 4 ff., 10 ff.; dagegen spricht aber wohl der Wortlaut von § 325a ZPO, der gegenüber der „normalen“ Rechtskraft gerade von den „weitergehenden Wirkungen“ des Musterentscheids spricht. 1797) So ausdrücklich BT-Drucks. 15/5091, S. 31. Näher Hanisch, Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) – Anwendungsfragen und Rechtsdogmatik, S. 372 ff. 1798) Wie hier Haufe, Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) Streitgegenstand des Musterverfahrens und Bindungswirkung des Musterentscheids, S. 286 f. (zu § 16 KapMuG a. F.).

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entscheids wegen der Bindung des Prozessgerichts nicht in Abrede gestellt werden, selbst wenn die neu eingetretene Partei am Musterverfahren nicht beteiligt war. Der Musterkläger, aber auch die Beigeladenen können sich also nicht etwa dadurch der Verbindlichkeit negativer Entscheidungen des Musterverfahrens entziehen, indem sie den streitbefangenen Anspruch abtreten und im Wege eines Parteiwechsels aus dem Ausgangsprozess ausscheiden. Bindung des Prozessgerichts und Bindung der Beteiligten durch die Ergebnisse des Musterentscheids sind damit nicht deckungsgleich. Aufgrund kumulativer Bindungswirkung sind „Gestaltungen“ nach Rechtskraft des Musterentscheids enge Grenzen gesetzt. c) Bindung des Musterklägers 968 In der Führung des Musterverfahrens unterliegt der Musterkläger keinen Einschränkungen (siehe oben Rn. 937 ff.) und ist dementsprechend grundsätzlich auch ohne Einschränkungen an das Ergebnis des Musterverfahrens gebunden. Zum einen entfaltet der Musterentscheid ohne jede Einschränkung Bindungswirkungen für das eigene Ausgangsverfahren des Musterklägers, das unter Beachtung der Entscheidung über die Feststellungsziele fortzuführen ist. Gebunden ist insoweit das Prozessgericht, aber auch der Musterkläger, für und gegen den der Musterentscheid „wirkt“ (§ 22 Abs. 1 Satz 2 KapMuG). Unter dieser „Wirkung“ ist, wie sich aus den weiteren Regelungen in § 22 Abs. 1 Satz 2 und 3 KapMuG ergibt, eine rein innerprozessuale Bindungswirkung im Ausgangsverfahren zu verstehen. 969 Zum anderen erwachsen die Feststellungen des Musterentscheids aber auch in Rechtskraft, § 22 Abs. 2 KapMuG i. V. m. § 325a ZPO. Ganz augenscheinlich ging es dem Gesetzgeber hier um ein „Mehr“ gegenüber der bloßen Verbindlichkeit für den Ausgangsprozess. Dies wird durch die Aussage in den Gesetzesmaterialien bestätigt, wonach die explizite Anordnung der Rechtskraftfähigkeit dem Musterentscheid zur Anerkennungsfähigkeit im Europäischen Justizraum verhelfen soll,1799) was überhaupt nur denkbar ist, wenn die Bindung an den Musterentscheid über die Bindung im Ausgangsprozess, der ja mit einem eigenen Urteil abgeschlossen wird, hinausgeht und sich auch nicht in der formellen Unanfechtbarkeit des Musterentscheids erschöpft.1800) 970 Was bedeutet dies konkret? Hat z. B. der Musterkläger nur eine Teilklage erhoben, bleibt er auch in einem Prozess über die Restforderung gegen den Musterbeklagten, der in seinem Ausgangsrechtsstreit Beklagter war, an die Feststellungen im Musterentscheid gebunden, mögen sie für ihn nun günstig ___________ 1799) BT-Drucks. 15/5091, S. 34. 1800) A. A. Hanisch, Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) – Anwendungsfragen und Rechtsdogmatik, S. 382 ff., zu § 16 KapMuG a. F., wonach der „Rechtskraft“ des Musterentscheids keinerlei Bedeutung zukommen soll. Ähnlich Rösler, ZZP 126 (2013), 295, 306.

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oder ungünstig sein.1801) Unklar ist dagegen, ob die Rechtskraftwirkung auch im Verhältnis zwischen dem Musterkläger und den anderen Musterbeklagten eintritt, d. h. gegenüber jenen, die nicht im Ausgangsverfahren des Musterklägers, sondern in anderen Ausgangsverfahren Beklagte waren. Dem Wortlaut nach ist dies zu bejahen. Hierfür spricht auch, dass § 325a ZPO von den gegenüber § 325 ZPO „weitergehenden“ Wirkungen des Musterentscheids spricht, was impliziert, dass die materielle Rechtskraft im Sinne einer über das Ausgangsverfahren hinausgehenden Bindungswirkung nicht nur im Verhältnis zwischen dem Musterkläger und „seinem“ Musterbeklagten eintritt.1802) Lässt man die Beigeladenen an der Rechtskraftwirkung nicht teilnehmen,1803) entfaltet damit für den Musterkläger (und korrespondierend für die Musterbeklagten) der Musterentscheid in positiver wie in negativer Hinsicht eine weit größere Bindungswirkung als für die Beigeladenen. Praxistipp: Den Beteiligten eröffnen sich Gestaltungsmöglichkeiten, auch wenn diese in der Praxis möglicherweise nur schwierig zu handhaben sind. So könnte der Musterkläger z. B. davon absehen, gegen einzelne potentielle Anspruchsgegner Klage zu erheben, wenn er sicher weiß, dass andere Anspruchsinhaber diese in Anspruch genommen haben, und er damit rechnet, dass auch diese Verfahren ausgesetzt werden. Denn in diesem Fall käme ihm die Wirkung des Musterentscheids gegenüber diesen weiteren Anspruchsgegnern in Form der Rechtskraft zugute, ohne dass er jetzt schon das mit einer gesonderten Klageerhebung verbundene Kostenrisiko übernehmen müsste. Umgekehrt können potentielle Anspruchsgegner, die bisher nur von anderen, nicht aber vom Musterkläger in Anspruch genommen wurden, bei für sie günstigen Feststellungen durch das Oberlandesgericht erreichen, dass aufgrund der Rechtskraft auch eine spätere Inanspruchnahme durch den Musterkläger ausgeschlossen ist.

Über eine Bindungswirkung der im Musterentscheid getroffenen Feststel- 971 lungen im Verhältnis zwischen dem Musterkläger und den Beigeladenen sagt das Gesetz nichts, weshalb davon ausgegangen werden muss, dass es eine solche Wirkung von Gesetzes wegen und entsprechenden den allgemeinen zivilprozessualen Regeln nicht gibt. d) Bindung der Beigeladenen Die Beigeladenen trifft gem. § 22 Abs. 1 Satz 2 KapMuG im Verhältnis zu ihren 972 Prozessgegnern in den Ausgangsverfahren (nicht aber untereinander oder im Verhältnis zum Musterkläger) wiederum die innerprozessuale Verbindlichkeit der Feststellungen des Musterentscheids, mit denen die Bindung des Ausgangsgerichts korrespondiert. Nach § 22 Abs. 3 KapMuG können sich die ___________ 1801) Eine weitergehende Wirkung für spätere Prozesse dagegen verneinend Haufe, Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) Streitgegenstand des Musterverfahrens und Bindungswirkung des Musterentscheids, S. 222, 286 (zu § 16 KapMuG a. F.). 1802) A. A. KK-KapMuG/Hess, 2. Aufl., § 22 Rn. 10 ff. 1803) Dazu siehe unten Rn. 973.

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Beigeladenen allerdings in ihrem Rechtsstreit darauf berufen, dass der Musterkläger das Musterverfahren mangelhaft geführt hat und sie durch die Lage des Musterverfahrens zur Zeit der Aussetzung des von ihnen geführten Rechtsstreits oder durch Erklärungen und Handlungen des Musterklägers gehindert worden sind, Angriffs- oder Verteidigungsmittel geltend zu machen, oder Angriffs- oder Verteidigungsmittel, die ihnen unbekannt waren, vom Musterkläger absichtlich oder durch grobes Verschulden nicht geltend gemacht wurden. Praxistipp: Wegen dieser gelockerten Bindung sollten Beklagte der Ausgangsverfahren, sofern deren Aussetzung ohnehin erfolgen muss, darauf achten, dass die Aussetzung nicht unnötig verzögert wird. Denn da die Beigeladenen sich auf die für sie positiven Aspekte des Musterentscheids in jedem Fall berufen können, sollten sie auch an die für sie negativen Teile gebunden sein.

973 Schließlich stellt sich die Frage, ob und ggf. in welchem Umfang die (materielle) Rechtskraftwirkung des Musterentscheids auch in der Person der Beigeladenen eintritt. Richtigerweise ist davon auszugehen, dass § 22 Abs. 2 KapMuG nicht für die Beigeladenen und ihr Verhältnis zu ihren Prozessgegnern gilt. Wie oben dargelegt wurde, kommt der Rechtskraftwirkung gegenüber der ohnehin bestehenden innerprozessualen Bindung nur dann eine eigene Bedeutung zu, wenn es zu weiteren Verfahren zwischen Parteien kommen sollte. Da aber die Bindung der Beigeladenen in einem potentiellen weiteren Verfahren nicht über die innerprozessuale Bindungswirkung im ersten Verfahren hinausgehen kann, müsste die Rechtskraftwirkung ebenfalls durch den Vorbehalt des § 22 Abs. 3 KapMuG eingeschränkt werden. Dagegen spricht aber nicht nur der Wortlaut von § 22 Abs. 3 KapMuG. Mit dem Charakter einer materiell rechtkräftigen Entscheidung ist eine solche Einschränkung aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit auch nicht zu vereinbaren. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass die Rechtskraftwirkung des Musterentscheids nicht für und gegen die Beigeladenen eintritt. e) Bindung der Musterbeklagten 974 In der Person der Musterbeklagten treten korrespondierend zu den Folgen für den Musterkläger ebenfalls die innerprozessuale Bindungswirkung sowie – im Verhältnis zum Musterkläger, nicht aber zu den Beigeladenen – die Wirkungen der materiellen Rechtskraft gem. § 22 Abs. 2 KapMuG ein. Hinsichtlich der Frage eventueller Gestaltungsmöglichkeiten kann auf die Ausführungen zum Musterkläger verwiesen werden. 975 Über eine Bindungswirkung der im Musterentscheid getroffenen Feststellungen im Verhältnis zwischen verschiedenen Musterbeklagten sagt das Gesetz wiederum nichts, weshalb davon ausgegangen werden muss, dass es eine solche Wirkung von Gesetzes wegen und entsprechenden den allgemeinen zivilprozessualen Regeln nicht gibt. Gerade an einer solchen Bindungswir-

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kung können aber Musterbeklagte Interesse haben, um interne Ausgleichsansprüche abzusichern. Wie diesbezüglich zu verfahren ist, soll daher an anderer Stelle noch geklärt werden. f) Bindung des Anspruchsanmelders Einfach ist die prozessuale Situation für solche potentiellen Anspruchsinhaber, 976 die sich nur zu einer Anmeldung ihres Anspruchs zum Musterverfahren entschließen. Der Musterentscheid hat für sie in keiner Hinsicht eine rechtliche Bindung zur Folge. VIII. Gesetzliche Beteiligte und deren Bindung im Fall eines allgemeinen Musterverfahrens 1. Rechtsstellung der Beteiligten im Musterverfahren a) Verbrauchereinrichtungen als Kläger Kläger einer allgemeinen Musterfeststellungsklage i. S. d. §§ 606 ff. ZPO kann 977 nur eine qualifizierte Verbraucherschutzeinrichtung sein, die die besonderen Voraussetzungen von § 606 Abs. 1 Satz 2 ZPO erfüllt.1804) Nicht ausdrücklich geregelt ist im Gesetz, ob eine einheitliche Musterfeststellungsklage auch von mehreren qualifizierten Einrichtungen gemeinsam erhoben werden kann. Für eine solche Möglichkeit spricht allerdings schon § 610 Abs. 5 Satz 1 ZPO, wonach auf die Musterfeststellungsklage die im ersten Rechtszug für das Verfahren vor den Landgerichten geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden sind, soweit aus dem Gesetz nichts Abweichendes ergibt. Damit gelangen auch die §§ 59, 60 ZPO zur Anwendung, die eine gemeinsame Klage mehrerer Kläger zulassen. Da die Feststellungen gegenüber dem Beklagten nur einheitlich getroffenen werden können, handelt es sich um den Fall einer notwendigen Streitgenossenschaft. b) Unternehmer als Beklagter Eine Musterfeststellungsklage i. S. d. §§ 606 ff. ZPO kann nur gegen einen 978 Unternehmer als Beklagten gerichtet werden. Die gesetzliche Definition des Unternehmers ergibt sich aus § 14 Abs. 1 BGB.1805) Nicht ausdrücklich geregelt ist auch insoweit, ob eine Musterfeststellungsklage gegen mehrere Unternehmer gerichtet werden kann. Für eine solche Möglichkeit spricht zunächst wiederum § 610 Abs. 5 Satz 1 i. V. m. §§ 59, 60 ZPO. Zudem erscheint es gerade für Fälle einer (möglichen) Gesamtschuldnerschaft mehrerer Unternehmer sinnvoll, einzelne Anspruchsvoraussetzungen gemeinschaftlich feststellen zu können und den Kläger sowie die Anmelder nicht auf zwei ge___________ 1804) Dazu z. B. näher Heigl/Normann, in: Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungsklage, S. 44 ff. 1805) Heigl/Normann, in: Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungsklage, S. 52 f.

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trennte Musterverfahren zu verweisen. Auch in diesem Fall handelt es sich um eine notwendige Streitgenossenschaft, da die Entscheidung zu den einzelnen Anspruchsvoraussetzungen einheitlich ausfallen muss. c) Anspruchsanmelder 979 Wie im Bereich des KapMuG kennt das Gesetz im Rahmen des allgemeinen Musterverfahrens die Figur des Anspruchsanmelders. Gem. § 608 Abs. 1 ZPO können Verbraucher bis zum Ablauf des Tages vor Beginn des ersten Termins zur mündlichen Verhandlung Ansprüche oder Rechtsverhältnisse, die von den Feststellungszielen abhängen, zur Eintragung in das vom Bundesamt für Justiz geführte Klageregister anmelden. Wer Verbaucher ist, ergibt sich aus der Legaldefinition in § 29c Abs. 2 ZPO.1806) Die Anmeldung kann bis zum Ablauf des Tages des Beginns der mündlichen Verhandlung in der ersten Instanz zurückgenommen werden. Die Rechtsposition eines Anmelders weist zunächst einige Übereinstimmungen mit der Anspruchsanmeldung im Zusammenhang mit einem Kapitalanleger-Musterverfahren auf. So führt auch diese Anmeldung zu einer Hemmung der Verjährung (§ 204 Abs. 1 Nr. 1a BGB) und ebenso ist der Anmelder auch in diesem Fall nicht am Musterverfahren beteiligt. Der wesentliche Unterschied besteht in der Bindungswirkung, die in § 613 ZPO vorgesehen ist und zu der nachfolgend noch Stellung genommen wird. 980 Hat ein Verbraucher vor der Bekanntmachung der Musterfeststellungsklage im Klageregister bereits eine Klage gegen den Beklagten erhoben, die die Feststellungsziele und den Lebenssachverhalt der Musterfeststellungsklage betrifft, und meldet er danach seinen Anspruch oder sein Rechtsverhältnis zum Klageregister an, muss das Gericht das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung oder sonstigen Erledigung der Musterfeststellungsklage oder wirksamen Rücknahme der Anmeldung aussetzen. Mit Blick auf das Musterverfahren unterscheidet sich die Rechtsstellung dieser Anmelder nicht von der solcher Anmelder, die keine Klage erhoben haben. d) Streithelfer als Verfahrensbeteiligte? 981 Schließlich stellt sich die Frage, ob im Rahmen der allgemeinen Musterfeststellungsklage Raum für Streitverkündung und Nebenintervention ist. Eine Sonderregelung hat der Gesetzgeber in § 610 Abs. 6 ZPO nur für Verbraucher getroffen, weshalb im Übrigen § 610 Abs. 5 Satz 1 ZPO dafür zu sprechen scheint, dass die §§ 66 – 74 ZPO ohne Einschränkung zur Anwendung kommen. Tatsächlich ist jedoch eine differenzierte Betrachtung angezeigt: aa) Streitverkündung und Nebenintervention auf Klägerseite 982 Streitverkündung und Nebenintervention auf Seiten des klagenden Verbraucherverbandes sind gem. § 610 Abs. 5 Satz 1 i. V. m. §§ 66 ff. ZPO grund___________ 1806) Schneider, BB 2018, 1986, 1989.

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sätzlich möglich, allerdings dürfte diese Konstellation keine große praktische Bedeutung erlangen. Dies liegt vor allem daran, dass nach § 610 Abs. 6 ZPO die §§ 66 – 74 ZPO im Verhältnis zwischen den Parteien der Musterfeststellungsklage und Verbrauchern, die entweder einen Anspruch oder ein Rechtsverhältnis angemeldet haben oder in anderer Weise behaupten, einen Anspruch gegen den Beklagten zu haben, vom Beklagten in Anspruch genommen zu werden oder in einem Rechtsverhältnis zum Beklagten zu stehen, keine Anwendung finden. Damit ist diesen Dritten, die tatsächlich ein Interesse an dem Ausgang des Rechtsstreits haben könnten, die Nebenintervention versagt. Theoretisch bliebe die Nebenintervention somit von Gesetzes wegen noch 983 für solche Verbraucher möglich, die sich keines Anspruchs gegen den Beklagten berühmen bzw. von diesem nicht in Anspruch genommen werden. Allerdings fehlt solchen Verbrauchern auch das gem. § 66 Abs. 1 ZPO für einen Streitbeitritt erforderliche rechtliche Interesse. Spätestens in einem Zwischenstreit würde somit die Unzulässigkeit einer gleichwohl erklärten Nebenintervention festgestellt. Denkbar ist schließlich, dass ein weiterer Verbraucherverband den Versuch 984 unternimmt, sich als Nebenintervenient auf Klägerseite an die Klage „anzuhängen“. Auch einer solchen Nebenintervention stünde nicht schon § 610 Abs. 6 ZPO entgegen. Allerdings würde auch in diesem Fall das nach § 66 Abs. 1 ZPO erforderliche rechtliche Interesse fehlen. Da (i) die Verbraucherverbände in derartigen Fällen fremde Rechte durchzusetzen versuchen und (ii) die Entscheidung in einem Musterfeststellungsverfahren weder Bindungswirkung gegenüber anderen Verbraucherverbänden entfaltet noch erneute Musterfeststellungsklagen ausschließt, werden eigene Rechte eines nicht beteiligten Verbraucherverbandes durch das Verfahren und dessen Entscheidung nicht berührt. Selbst wenn man also grundsätzlich Streitverkündung und Nebenintervention in einer allgemeinen Musterfeststellungsklage für zulässig erachtet (dazu sogleich), wären davon mit Blick auf die Klägerseite allenfalls theoretisch anmutende Konstellationen erfasst. bb) Streitverkündung und Nebenintervention auf Beklagtenseite Auf Beklagtenseite sind Streitverkündung und Nebenintervention dagegen 985 weitestgehend zulässig. Ausgeschlossen ist ein derartiges Vorgehen wiederum nur, soweit das Verhältnis zwischen einem Verbraucher i. S. v. § 610 Abs. 6 ZPO und einem Beklagten betroffen ist. Dagegen werden Streitverkündung und Nebenintervention im Verhältnis zu anderen Unternehmern (z. B. Lieferanten) oder den Organmitgliedern des Beklagten durch das Gesetz nicht ausgeschlossen. Schließlich steht insoweit auch die Rechtsprechung des BGH zur Unzulässigkeit von Streitverkündung und Nebeninter-

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vention in einem Kapitalanleger-Musterverfahren1807) nicht entgegen. Denn der BGH hat die Unzulässigkeit von Streitverkündung und Nebenintervention im Musterverfahren ausdrücklich alleine aus dem Umstand abgeleitet, dass diese Prozesshandlungen in den jeweiligen Ausgangsverfahren möglich seien und auch für das Musterverfahren wirken würden. Da es eine solche Trennung im Rahmen der allgemeinen Musterfeststellungsklage jedoch nicht gibt, bleiben Streitverkündung und Nebenintervention zulässig, soweit sie nicht ausdrücklich in § 610 Abs. 6 ZPO ausgeschlossen wurden.1808) e) Ausgesetzte Verfahren mit einem Unternehmer als Kläger 986 Werden gegen den beklagten Unternehmer auch von anderen Unternehmern Ansprüche geltend gemacht, ist für solche Kläger eine Anspruchsanmeldung i. S. v. § 608 ZPO nicht möglich, da diese nur Verbrauchern zur Verfügung steht. Diese (potentiellen) Anspruchsinhaber müssen also eine Klage erheben, um ihre Forderungen durchzusetzen. Gem. § 148 Abs. 2 ZPO kann das Gericht ein solches Verfahren jedoch auf Antrag des Klägers aussetzen, um den Ausgang des Musterverfahrens abzuwarten, wenn die Entscheidung über die Klage von der Klärung der Feststellungsziele abhängt. Dabei handelt es sich um eine Ermessensentscheidung des Gerichts. Erfolgt eine Aussetzung, führt dies allerdings nicht dazu, dass der klagende Unternehmer an dem Musterverfahren zu beteiligen wäre. 2. Bindungswirkungen 987 Die Bindungswirkungen eines rechtskräftigen Musterfeststellungsurteils sind vor allem in § 613 Abs. 1 ZPO geregelt. Danach ist zwischen den verschiedenen Beteiligtenverhältnissen zu differenzieren. a) Bindungswirkung zwischen den Parteien des Musterverfahrens 988 Zwischen dem Kläger und dem Beklagten eines Musterverfahrens erwächst das formell rechtskräftige Musterfeststellungsurteil auch in materielle Rechtskraft i. S. v. § 322 ZPO, ohne dass dies einer besonderen Erwähnung oder Regelung bedürfte.1809) Inhaltlich sind die Wirkungen jedoch begrenzt, da das Urteil (wenn man von Kostenerstattungsansprüchen absieht) kein zwischen den Parteien bestehendes Rechtsverhältnis betrifft.

___________ 1807) BGHZ 216, 27. 1808) Wie hier i. E. auch de Lind van Wijngaarden, in: Nordholtz/Mekat, Musterfeststellungsklage, S. 148 f. 1809) Wie hier Schneider, BB 2018, 1986, 1993.

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b) Bindungswirkung zwischen dem Beklagtem und angemeldeten Verbrauchern Gem. § 613 Abs. 1 ZPO bindet ein rechtskräftiges Musterfeststellungsurteil 989 ferner alle Gerichte, die im Anschluss zur Entscheidung eines Rechtsstreits zwischen einem angemeldeten Verbraucher und dem Beklagten berufen sind, soweit die Entscheidung die Feststellungsziele und den Lebenssachverhalt der Musterfeststellungsklage betrifft. Dies gilt nicht, wenn der angemeldete Verbraucher seine Anmeldung wirksam zurückgenommen hat, was nur bis zum Ablauf des Tages der ersten mündlichen Verhandlung möglich ist. Bei dieser Bindungswirkung handelt es sich um das Herzstück des neuen allgemeinen Musterverfahrens,1810) wobei es nicht darauf ankommt, ob in der Musterfeststellungsklage zugunsten oder zum Nachteil der Verbraucher entschieden wurde. Nicht ganz eindeutig ist, ob man auch insoweit von „Rechtskraftwirkung“ 990 sprechen kann, da die Bindungswirkung erheblichen Bedingungen und Einschränkungen unterliegt. Die wichtigste besteht darin, dass als Adressaten der Bindungswirkung nicht der Beklagte und der betroffene Verbraucher genannt werden, sondern alleine die Gerichte, die nachfolgend über Klagen zu befinden haben. Außerhalb solcher Prozesse tritt also keine Bindung ein. Die Bindung ist zudem auf die Entscheidung über die Feststellungsziele beschränkt, weshalb den Parteien alle anderen Angriffs- und Verteidigungsmittel (z. B. alternativer Sachverhalts- und Rechtsvortrag) erhalten bleiben. Und schließlich setzt die Bindungswirkung voraus, dass zwischen dem Lebenssachverhalt des Musterfeststellungsverfahrens und dem Lebenssachverhalt der späteren Klage Identität besteht. Die Bindung an eine negative Entscheidung kann ein angemeldeter Verbrau- 991 cher schließlich nicht dadurch umgehen, dass er nach Rechtskraft des Musterfeststellungsurteils seinen Anspruch abtritt. Zwar erwähnt § 613 Abs. 1 ZPO nur einen späteren Prozess zwischen dem Beklagten und dem angemeldeten Verbraucher, ein etwaiger Zessionar muss sich jedoch die Entscheidung im Musterfeststellungsverfahren gem. § 404 BGB bzw. § 325 Abs. 1 ZPO analog entgegenhalten lassen. Praxistipp: Die Regelungen der §§ 606 ff. ZPO sind wegen ihrer verbraucherschützenden Zielsetzung weitgehend nicht dispositiv ausgestaltet und lassen vergleichsweise wenig Raum für prozesstaktische Gestaltungen der Parteien. Umso wichtiger ist es deshalb, z. B. die Voraussetzungen für Eintritt und Umfang der Bindungswirkung gem. § 613 Abs. 1 ZPO genau zu prüfen. So kommt es zunächst darauf an, dass die Anmeldungen zum Musterverfahren nicht nur tatsächlich, sondern vor allem rechtlich wirksam vorgenommen wurden,1811) woran nicht wenige Anmelder scheitern dürften. Des Weiteren muss hinzukommen, dass

___________ 1810) Vgl. BT-Drucks. 19/2507, S. 27. 1811) BT-Drucks. 19/2507, S. 27.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis sich Anmeldung, Musterfeststellungsklage und spätere Individualklage auf denselben Lebenssachverhalt beziehen. Als prozesstaktische Maßnahme könnte im Einzelfall erwogen werden, gegen einen Anmelder eine negative Feststellungsklage zu erheben. Da die Anmelder sich mit der Anmeldung eines entsprechenden Anspruchs berühmen, ist das erforderliche rechtliche Interesse i. S. v. § 256 Abs. 1 ZPO an einer alsbaldigen Feststellung an sich gegeben. Das Gesetz sieht – anders als in § 610 Abs. 6 ZPO für eine Streitverkündung – auch keinen ausdrücklichen Ausschluss vor. Es stellt sich allenfalls die Frage, ob das Feststellungsinteresse u. U. deswegen zu verneinen ist, weil durch das Musterverfahren wesentliche Feststellungen zu erwarten sind. Diese Rechtsfrage ist ungeklärt, es gibt jedoch gute Gründe, eine negative Feststellungsklage weiterhin für zulässig zu halten, da ihr Gegenstand zwangsläufig weiterreicht als die Feststellungsziele des Musterverfahrens. Schließlich stellt sich für einen Prozess zwischen zwei Unternehmern die Frage, ob eine Aussetzung nach § 148 Abs. 2 ZPO beantragt werden sollte. Letztendlich ist dies eine Frage des Einzelfalles. In der Regel dürfte es aber für einen Unternehmer nicht sachgerecht sein, die Durchsetzung seiner Rechte faktisch in die Hände eines Verbraucherverbandes zu geben. Zudem dürften Musterverfahren nicht selten merkliche Verfahrensdauern aufweisen, insbesondere kann es durch Vergleichsverhandlungen zu erheblichen Verzögerungen kommen. Eine Aufhebung der Aussetzung ist zwar möglich, allerdings dürfte das Gericht hierzu nur bei Vorliegen besonderer Gründe bereit sein, also nicht schon deswegen, weil sich das Musterverfahren aus Klägersicht unangemessen verzögert oder nachteilig entwickelt.

IX. Insbesondere: Einbeziehung Dritter und außenstehender Rechtsverhältnisse inein Musterverfahren nach dem KapMuG 1. Einführung und Problemstellung 992 Gerade ein Musterverfahren nach dem KapMuG zeichnet sich aufgrund der vom Gesetzgeber gewollten Breitenwirkung, aufgrund des thematischen Anwendungsbereichs und angesichts der regelmäßig sehr hohen Schäden mehr noch als gewöhnliche Verfahren oder allgemeine Musterverfahren dadurch aus, dass das Ergebnis nicht nur für die Beteiligten von Bedeutung ist, deren Rechtsstellung im Verfahrensrecht unmittelbar angelegt ist. Vom Ergebnis des Kapitalanleger-Musterverfahrens wird vielmehr häufig auch abhängen, ob eine Musterpartei Rückgriffsansprüche gegen Dritte oder Ausgleichsansprüche gegen andere Musterparteien in erheblichem Umfang geltend machen muss. Im oben dargelegten Beispielsfall läge es z. B. nahe, dass dann, wenn im Musterverfahren ein Prospektfehler festgestellt wird und es auf dieser Grundlage auch zu einer Verurteilung in den Ausgangsverfahren kommt, die I-Investmentbank Ausgleichsansprüche gegen die Emittentin und die Emittentin wiederum Schadensersatzansprüche gegen ihre Vorstandsmitglieder geltend machen. Ferner läge es nahe, dass die anderen Vorstandsmitglieder sich Rückgriffsansprüche gegen das Vorstandsmitglied offen halten wollen, das vorsätzlich gehandelt haben soll.

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Auch wenn die letztendliche Entscheidung über einen Schadensersatzan- 993 spruch der klagenden Anleger wegen unrichtiger Darstellungen im Prospekt und damit über die Notwendigkeit der Geltendmachung von Ausgleichs- oder Rückgriffsansprüchen durch das Urteil in den Ausgangsverfahren getroffen wird, kann das Musterverfahren die Vorentscheidung hierfür bedeuten. Denn hier wird regelmäßig entschieden, ob Fehler auf Seiten des Emittenten vorgekommen sind und ob und ggf. in welcher Form schuldhaftes Handeln vorgelegen hat. Es stellt sich deshalb die Frage, in welcher Weise die an den Ausgleichs- und Rückgriffsrechtsverhältnissen beteiligten Personen am Musterverfahren beteiligt und an dessen Ausgang gebunden werden können bzw. sollen. Nach der in § 9 KapMuG zum Ausdruck kommenden Konzeption hat der 994 Gesetzgeber als Beteiligte des Musterverfahrens nur die Kläger und Beklagten der Ausgangsverfahren im Blick gehabt. Eine Beteiligung und Bindung an das Ergebnis des Musterverfahrens ist deshalb nur möglich, wenn die Betroffenen entweder ohnehin schon am Verfahren vor dem Oberlandesgericht beteiligt sind oder über die nach § 11 Abs. 1 Satz 1 KapMuG anwendbaren allgemeinen Vorschriften durch Streitverkündung und Nebenintervention in das Musterverfahren einbezogen werden können. 2. Anwendbarkeit des KapMuG auf Rückgriffs- und Ausgleichsansprüche? Bevor auf die Möglichkeiten von Streitverkündung und Nebenintervention 995 einzugehen ist, ist allerdings zu überlegen, ob Rückgriffs- oder Ausgleichsansprüche in den Anwendungsbereich von § 1 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 KapMuG fallen. Wäre dies der Fall, könnten die Rückgriffs- bzw. Ausgleichsberechtigten jeweils (positive) Feststellungsklagen1812) erheben, die dann mit Blick auf das inhaltlich vorgreifliche Musterverfahren nach § 8 Abs. 1 KapMuG auszusetzen wären und zu einer Bindung der Anspruchsgegner an den Ausgang des Musterverfahrens führen würden. Zumindest auf den ersten Blick ist dies dem Wortlaut nach nicht ausge- 996 schlossen. So könnte z. B. die schuldhafte Aufnahme einer unzutreffenden wesentlichen Information in einen Börsenzulassungsprospekt und dessen anschließende Veröffentlichung durch die Vorstandsmitglieder eines Emittenten sprachlich durchaus als Grundlage für eine Haftung wegen (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 KapMuG) bzw. wegen Verwendung (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 KapMuG) einer unrichtigen öffentlichen Kapitalmarktinformation angesehen werden, wenn dem Emittenten daraus in der Folgezeit ein Schaden erwächst und deshalb die Vorstandsmitglieder wegen Verletzung ihrer Pflichten in Anspruch genommen werden sollen. Indes ging der Gesetzgeber von Anfang an1813) davon aus, ___________ 1812) Musterverfahren sind auch für (positive) Feststellungsklagen eröffnet, siehe BGH ZIP 2015, 2437. 1813) Eingehend dazu KK-KapMuG/Kruis, 2. Aufl., § 1 Rn. 76 ff.

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dass das Gesetz nur für solche Schadensersatzansprüche gelten sollte, die von Kapitalanlegern in dieser Eigenschaft geltend gemacht werden. An dieser Konzeption hat der Gesetzgeber auch anlässlich der Reform des Gesetzes im Jahr 2012 festgehalten,1814) was gegen eine solche Ausdehnung des Anwendungsbereichs spricht. 997 Hinzu kommt, dass die gegenwärtige Konzeption des KapMuG auf eine solche Konstellation nicht vorbereitet ist. Würde z. B. im obigen Beispielsfall die Emittentin, nachdem Anleger gegen sie Prospekthaftungsklagen erhoben haben, gegen ihre verantwortlichen Vorstandsmitglieder eine Feststellungsklage hinsichtlich einer entsprechenden Schadensersatzpflicht einreichen und wäre diese Klage musterverfahrensfähig i. S. v. § 1 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 KapMuG, würde eine Aussetzung nach § 8 Abs. 1 KapMuG dazu führen, dass die Emittentin aufgrund der Klage der Anleger als Musterbeklagte, aufgrund ihrer eigenen Klage gegen die Vorstandsmitglieder dagegen als Beigeladene auf Musterklägerseite am Musterverfahren beteiligt wäre. Dies kann nicht richtig sein und führt zu der Konsequenz, dass insoweit der Anwendungsbereich als nicht eröffnet angesehen werden muss. 3. Streitverkündung und Nebenintervention im Zusammenhang mit Kapitalanleger-Musterverfahren a) Grundsätzliche Notwendigkeit einer Streitverkündung 998 Es lassen sich zwei typische Konstellationen unterscheiden, in denen es im Zusammenhang mit einem Musterverfahren zu Streitverkündungen und Nebeninterventionen kommen kann. Zum einen kann es darum gehen, Ausgleichsansprüche (z. B. § 426 Abs. 1 BGB) zwischen mehreren Musterbeklagten (z. B. zwischen der begleitenden Emissionsbank und dem Emittenten) abzusichern, zum anderen kann (z. B. von der Emittentin) das Ziel verfolgt werden, im Falle einer Verurteilung zu Schadensersatzleistungen an klagende Anleger bei den Vorstandsmitgliedern wegen Verletzung ihrer Sorgfaltspflichten oder bei einer begleitenden Emissionsbank wegen eines Beratungsfehlers Rückgriff nehmen zu können. Die Vorstandsmitglieder sind wiederum regelmäßig nicht selbst Beklagte der Ausgangsverfahren und damit auch nicht Musterbeklagte des Verfahrens vor dem Oberlandesgericht. 999 Dass in der zweiten genannten Konstellation eine Streitverkündung erforderlich ist, um die Rückgriffsansprüche gegen die Vorstände zu sichern, liegt auf der Hand. Dies gilt aber auch in der ersten Konstellation. Denn ungeachtet des Umstandes, dass in unserem Beispielsfall Emittentin und Emissionsbank beide bereits als (Mit-)Musterbeklagte am Musterverfahren beteiligt sind, kennt das Gesetz keine Vorschrift, die eine Bindungswirkung des Musterentscheids im Verhältnis zwischen den Musterbeklagten statuiert. Da auch in den Ausgangsverfahren bei einer subjektiven Klagehäufung auf Beklagten___________ 1814) BT-Drucks. 17/8799, S. 1, 13 f.; siehe auch Halfmeier, ZIP 2011, 1900 f.

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seite ein stattgebendes Urteil zwischen den Beklagten keine Wirkungen entfaltet, eine solche vielmehr durch eine Streitverkündung herbeigeführt werden muss,1815) kann eine solche Bindung auch nicht aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen abgeleitet werden. Die Lösung für die oben skizzierten Konstellationen muss somit mit den 1000 Mitteln der Streitverkündung (§§ 72 ff. ZPO) und Nebenintervention (§§ 66 ff. ZPO) gesucht werden. b) Streitverkündung und Nebenintervention nur in den Ausgangsverfahren; Rechtsfolgen Lange war umstritten, ob Streitverkündung und Nebenintervention in den 1001 Ausgangsverfahren zu erfolgen haben und dann kraft Gesetzes auch für das Musterverfahren wirken oder ob im Musterverfahren gesonderte Streitverkündungen und Nebeninterventionen zulässig und erforderlich sind.1816) Der BGH hat sich in einer Entscheidung im Jahr 2017 für die erste Ansicht entschieden:1817) Danach sind Streitverkündung und Nebenintervention nur in Ausgangsverfahren zulässig, ihre Wirkungen erstrecken sich allerdings dann nicht nur auf das Ausgangsverfahren, sondern auch auf ein etwaiges Musterverfahren. Im Musterverfahren ist dagegen weder eine Streitverkündung zulässig, noch kann eine Nebenintervention in Bezug auf das Musterverfahren erklärt werden. Ob diese Entscheidung letztendlich überzeugen kann, sei dahingestellt, im Rahmen der „Prozessplanung“ ist sie jedenfalls zu beachten, zumal die Zustellung einer Streitverkündungsschrift im Musterverfahren unzulässig ist und zu unterbleiben hat, wie der BGH ausdrücklich festgestellt hat. Aus dieser Entscheidung können zwei wesentliche Schlüsse gezogen werden: 1002 Zum einen kann es für die Zulässigkeit einer Streitverkündung im Ausgangsverfahren nicht darauf ankommen, ob dieses Verfahren ggf. schon gem. § 8 Abs. 1 KapMuG wegen des Musterverfahrens ausgesetzt wurde. Die Aussetzung hindert, wie sich auch aus § 249 Abs. 2 ZPO ergibt, die Streitverkündung an einen Dritten nicht.1818) Zum anderen muss sich die Interventionswirkung i. S. v. § 68 ZPO nicht nur auf die Entscheidungen in den Ausgangsverfahren, sondern auch auf den rechtskräftigen Musterentscheid beziehen, der – beschränkt auf die Feststellungsziele – ebenfalls eine Sachentscheidung1819) und nicht nur eine Entscheidung rein prozessualen Charakters darstellt. Die Annahme einer Interventionswirkung auf der Grundlage einer ___________ 1815) Zöller/Althammer, ZPO, 33. Aufl., § 72 Rn. 1 m. w. N. 1816) Für die Zulässigkeit von Streitverkündung und Nebenintervention im Musterverfahren Vorauflage sowie z. B. KK-KapMuG/Vollkommer, 2. Aufl., § 11 Rn. 77 ff. 1817) BGHZ 216, 27. 1818) Zöller/Greger, ZPO, 33. Aufl., § 249 Rn. 6. 1819) Der Musterentscheid ist demenstprechend nicht nur der formellen, sondern auch der materiellen Rechtskraft fähig, vgl. Wieczorek/Schütze/Kruis, ZPO; 4. Aufl., § 22 KapMuG Rn. 51.

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Entscheidung, die nicht das gesamte Sachentscheidungsprogramm abarbeitet, ist dem Gesetzes auch sonst nicht unbekannt, so z. B. im Falle von Grundund Teilurteilen oder bei der Entscheidung über eine Zwischenfeststellungsklage gem. § 256 Abs. 2 ZPO. c) Rechtsstellung der Nebenintervenienten im Musterverfahren 1003 Die Rechtsstellung der Nebenintervenienten im Musterverfahren richtet sich nach der Rechtsstellung der unterstützten Hauptpartei. Dies gilt auch bei einer Nebenintervention auf Seiten des Musterklägers,1820) wobei in diesem Fall allerdings § 14 Satz 2 KapMuG nicht zugunsten des Streithelfers gilt. 1004 Die Streithelfer können dementsprechend auch gem. § 15 KapMuG die Erweiterung des Musterverfahrens um zusätzliche Feststellungsziele beantragen. Zu beachten ist dabei allerdings, dass nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KapMuG das zusätzliche Feststellungsziel für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits der unterstützten Partei entscheidungserheblich sein muss. Feststellungsziele, die alleine für das der Streitverkündung zugrundeliegende Rückgriffs- oder Ausgleichsverhältnis von Bedeutung sind, sind dagegen unzulässig. E. D&O-Streitigkeiten I. Einleitung Thomas Gädtke

1005 Der Begriff „D&O-Streit(igkeit)“ bezeichnet Auseinandersetzungen um die potentielle Schadensersatzpflicht von Organmitgliedern aufgrund einer Verletzung von Organpflichten, für die eine spezielle Vermögensschadenhaftpflichtversicherung (die sog. D&O-Versicherung) besteht. Er verweist also zugleich auf die haftungs- wie die deckungsrechtliche Komponente von Organhaftungsansprüchen und impliziert damit, was für die strategische Verfolgung oder Abwehr solcher Ansprüche entscheidend ist: die Berücksichtigung des Umstands, dass Gesellschafts- und Versicherungsrecht in ihnen auf vielfältige Weise ineinandergreifen und den Eigenarten beider Bereiche hinreichend Rechnung getragen werden muss.1821) Werden D&O-Streitigkeiten (schieds-)gerichtlich ausgetragen, stellen sich darüber hinaus besondere prozessuale Probleme. Der vorliegende Beitrag beschreibt die Struktur des D&OStreits und diskutiert einige der sich bei der Abwicklung solcher Streitigkeiten stellenden Schwierigkeiten.

___________ 1820) Anders Vorwerk/Wolf/Lange, KapMuG, 2. Aufl., § 9 Rn. 40: Beteiligungsrechte nur wie Beigeladene. 1821) Vgl. dazu im Rahmen der Diskussion um die Reform des Organhaftungsrechts Gädtke, VP 2/2015, 26 ff.

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E. D&O-Streitigkeiten

II. Die Struktur des D&O-Streits Die D&O-Versicherung ist eine Ausprägung der Haftpflichtversicherung 1006 (§§ 100 ff. VVG),1822) für die das sog. Trennungsprinzip gilt. Ob das Organmitglied dem Anspruchsteller – einem Dritten oder der Gesellschaft, deren (ehemaliges) Organ er ist – haftet, ist danach grundsätzlich im Haftpflichtprozess zu entscheiden, ob der Versicherer dem Organmitglied Versicherungsschutz zu gewähren hat, ist im Deckungsprozess zu beurteilen.1823) Die rechtskräftige Entscheidung des Haftpflichtprozesses ist für den Deckungsprozess bindend.1824) Das gilt nicht nur für den Tenor der Entscheidung, sondern auch für die Einzelfeststellungen im Urteil, soweit die Sachverhaltsumstände sowohl für die Entscheidung der Haftpflichtfrage als auch für die Beurteilung der Deckung gleichermaßen relevant sind, also Voraussetzungsidentität besteht.1825) Letzteres ist in der Praxis aufgrund des Deckungsausschlusses für wissentlich begangene Pflichtverletzungen1826) vor allem für die Frage relevant, ob das Organmitglied vorsätzlich gehandelt hat, und für einzelne Tatbestände (z. B. § 826 BGB) noch ungeklärt. D&O-Versicherungen werden regelmäßig von der Gesellschaft zum Schutz 1007 ihrer Organmitglieder abgeschlossen (sog. Unternehmenspolice), daneben stellen sie wirtschaftlich – jedenfalls hinsichtlich der in D&O-Streitigkeiten im Vordergrund stehenden Innenhaftungsansprüche (vgl. Rn. 1009) – zugleich ein Schutzinstrument zugunsten der Gesellschaft dar. Strukturell ist die D&O-Versicherung daher eine Haftpflichtversicherung in Form einer Versicherung für fremde Rechnung (vgl. §§ 43 ff. VVG). Vertragspartner des Versicherers ist die Gesellschaft, die grundsätzlich auch über die Rechte aus der Police verfügt (§ 45 Abs. 1 VVG) und aufgrund ihrer Stellung als Vertragspartei Obliegenheiten gegenüber dem Versicherer zu erfüllen hat. Materiell-rechtlich stehen die Rechte aus der D&O-Versicherung, d. h. die Ansprüche auf Rechtsschutz und Freistellung, den Organmitgliedern zu (§ 44 Abs. 1 Satz 1 VVG). Ob diese – abweichend von § 45 Abs. 1 VVG – auch über diese Rechte verfügen können, wird in den einzelnen D&O-Policen unterschiedlich geregelt; gerade Großunternehmen halten häufig an der Regelung in § 45 Abs. 1 VVG fest.1827) Zwischen der Gesellschaft und den Organmitgliedern als versicherten Personen entsteht mit Abschluss der D&O___________ 1822) OLG München VersR 2005, 540, 541 f.; Prölss/Martin/Voit, VVG, AVB D&O Abs. A_1 A-1 Rn. 14. 1823) Prölss/Martin/Lücke, VVG, § 100 Rn. 46; Bruck/Möller/R. Koch, VVG, Vorbem. zu §§ 100 – 112 Rn. 60 f., zu Ausnahmen Rn. 99 f. 1824) St. Rspr., vgl. etwa BGH VersR 2011, 1003, 1004. Zu Ausnahmen vgl. etwa Prölss/ Martin/Lücke, VVG, § 100 Rn. 58 ff. 1825) BGH VersR 2011, 1003, 1004. 1826) Dazu Bruck/Möller/Gädtke, VVG, Ziff. 5 AVB-AVG Rn. 32 ff. 1827) Unzutreffend daher Bruck/Möller/Baumann, VVG, AVB-AVG Ziff. 10 Rn. 6, auch Einf. AVB-AVG Rn. 11.

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Versicherung ein gesetzliches Treuhandverhältnis,1828) das erstere im Schadenfall zur Einziehung und Auskehrung der Versicherungssumme an die versicherte Person verpflichtet. Aus diesem Treuhandverhältnis können dem Organmitglied ggf. Schadensersatzansprüche erwachsen, sofern die Gesellschaft als Versicherungsnehmerin beispielsweise ihre Obliegenheiten nicht erfüllt und der Versicherer sich aufgrund derartiger Obliegenheitsverletzungen zulässigerweise auf Leistungsfreiheit beruft.1829) 1008 Grafisch lassen sich die Rechtsbeziehungen wie folgt darstellen: Haftpflicht-/ Regressanspruch V N

vP Abwehr

Abwehr

Abwehr/Freistellung

Haftpflichtprozess: V N

vP (VR)

VR V Treuhandverhältnis vP N deckungsrechtl. Anspruch

Verfügungsbefugnis

Deckungsprozess: VN

VR

(vP)

VR

1009 Die Grafik geht von den sog. Innenhaftungsfällen aus, also Fällen, in denen die Gesellschaft (Versicherungsnehmerin) ihre eigenen, meist ehemaligen Organmitglieder (versicherte Personen) auf Schadensersatz in Anspruch nimmt (vgl. §§ 93, 116 AktG, § 43 GmbHG). Das hat zwei Gründe: Zum einen sind D&O-Streitigkeiten nach dem deutschen Haftungsrecht zumeist Innenhaftungsfälle.1830) Geschädigte Dritte können regelmäßig nur gegen die Gesellschaft, nicht aber gegen deren Organmitglieder vorgehen. Ist ein solcher Anspruch erfolgreich oder hat das Verhalten des Organmitglieds unmittelbar zu einem Schaden der Gesellschaft geführt, besteht nach der ARAG/GarmenbeckEntscheidung des BGH1831) im Regelfall eine Verpflichtung der Gesellschaft, im Innenverhältnis Regress beim verantwortlichen Organmitglied zu neh-

___________ 1828) Vgl. dazu etwa Prölss/Martin/Klimke, VVG, § 46 Rn. 4 ff. 1829) Vgl. zu diesem Thema z. B. Lange, VersR 2010, 162 ff. 1830) Münchener Anwaltshandbuch VersicherungsR/Sieg, § 17 Rn. 13. 1831) BGH NJW 1997, 1926 ff. = ZIP 1997, 883 ff.

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E. D&O-Streitigkeiten

men.1832) Zum anderen sorgen die Innenhaftungsfälle für eine eigentümliche Spannung innerhalb der D&O-Versicherung, die aus den Interessenkonstellationen im Haftpflicht- und im Deckungsverhältnis resultiert: x

Im Haftpflichtprozess sind die Interessen des Organmitglieds und des Versicherers, der das Organmitglied vorbehaltlich berechtigter deckungsrechtlicher Einwände von begründeten Haftungsansprüchen freizustellen hat, auf die erfolgreiche Verteidigung gegen die Haftungsansprüche gerichtet. Das Organmitglied wird dabei durch den Versicherer aktiv unterstützt und gleichermaßen kontrolliert. In der Praxis verfolgen die Versicherer hierzu verschiedene Wege (vgl. dazu Kapitel V. Rn. 1050 ff.) und nehmen entsprechende Klauseln in die Versicherungspolicen auf, die ihnen die „Verfahrensherrschaft“ bei der Haftungsabwehr sichern.

x

Im Deckungsprozess – nach erfolgreicher Durchsetzung eines Haftungsanspruchs – sind hingegen die Interessen von Gesellschaft und Organmitglied gleichermaßen auf die Einstandspflicht des Versicherers gerichtet.

Der Umstand, dass die Inanspruchnahme des Organmitglieds nur ein „Durch- 1010 gangsstadium“ zur Zahlungspflicht des Versicherers ist, gibt immer wieder Anlass zu der Befürchtung, die D&O-Versicherung könne ein Instrument kollusiven Zusammenwirkens von Gesellschaft und Organmitglied zu Lasten des Versicherers werden (sog. freundliche Inanspruchnahme1833)) – ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch die Diskussionen um die verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten in der D&O-Versicherung zieht.1834) Explizit zeigt es sich in der Auseinandersetzung um den sog. Direktanspruch, der aus Sicht der Gesellschaft eines der interessantesten Gestaltungsmittel im Rahmen von D&OStreitigkeiten darstellt. Aus der Struktur des D&O-Streits ergibt sich eine Reihe von systematischen 1011 Problemen. Im Folgenden werden aus der jeweiligen Perspektive (Gesellschaft, Organmitglied, Versicherer) einige dieser Schwierigkeiten diskutiert: die Wege zur Anspruchsdurchsetzung aus Sicht der Gesellschaft (Kapitel III. Rn. 1012 f.), die Frage, ob es vorteilhaft ist, den Haftungs- und/oder den ___________ 1832) Münchener Anwaltshandbuch VersicherungsR/Sieg, § 17 Rn. 13. Außenhaftungsfälle beruhen vor allem auf deliktischen Ansprüchen gegen Organmitglieder. Hierzu werden von Insolvenzverwaltern geltend gemachte Ansprüche wegen Insolvenzverschleppung gezählt, vgl. Münchener Anwaltshandbuch VersicherungsR/Sieg, § 17 Rn. 10. Ein weiteres prominentes Beispiel für einen Außenhaftungsfall ist die Klage Dr. Kirchs gegen Dr. Breuer, vgl. BGH NJW 2006, 830 ff. = ZIP 2006, 317 ff.; OLG München ZIP 2013, 558 ff. 1833) Vgl. MünchKomm-VVG/Ihlas, D&O, Rn. 646. 1834) Die D&O-Versicherung wurde zunächst nur mit diversen Spielarten an Innenverhältnisausschlüssen angeboten. Nach der Reform des VVG zum 1.1.2008 wurde der Direktanspruch in der D&O-Versicherung aufgrund der Missbrauchsgefahren als unzulässig bezeichnet. Ihre bislang letzte Fortsetzung haben die Versuche, die (vermeintliche) Manipulationsanfälligkeit der D&O-Versicherung in den Griff zu bekommen, in zwei Urteilen des OLG Düsseldorf (vgl. dazu Rn. 1019 ff.) zum Erfordernis einer „ernstlichen Inanspruchnahme“ gefunden. Dagegen BGH VersR 2016, 786, 790.

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Deckungsprozess als Schiedsverfahren durchzuführen (Kapitel IV. Rn. 1041 ff.) sowie die Frage, wie das Verhältnis zwischen Organmitglied und Versicherer bei der Anspruchsabwehr aussehen kann (Kapitel V. Rn. 1050 ff.). III. Perspektive der Gesellschaft: Drei Wege der Anspruchsdurchsetzung 1012 Nach der ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung des BGH haben die zuständigen Organe der Gesellschaft  Aufsichtsrat oder Gesellschafterversammlung  bei der Entscheidung der Frage, ob sie Schadensersatzansprüche gegen ein Organmitglied geltend machen, grundsätzlich eine zweistufige Prüfung zu vollziehen. Auf der ersten Stufe ermitteln sie die materiell-rechtlichen Erfolgsaussichten einer Inanspruchnahme und prognostizieren, ob und in welcher Höhe potentiell bestehende Ansprüche durchsetzbar wären.1835) Für diese Prognose spielt es regelmäßig eine entscheidende Rolle, ob die Gesellschaft über eine D&O-Versicherung verfügt, die für die potentiellen Schadensersatzansprüche einstandspflichtig wäre.1836) Auf der zweiten Stufe prüfen sie, ob es Gründe gibt, die es rechtfertigen, von einer Inanspruchnahme abzusehen, obwohl die Prozessrisikoanalyse auf der ersten Stufe ergeben hat, dass der Gesellschaft voraussichtlich Schadensersatzansprüche gegen das Organmitglied zustehen.1837) Die Organe haben insoweit eine Ermessensentscheidung zu treffen. Inwieweit das Ermessen des Aufsichtsrats einer AG reicht und ob die Entscheidung justitiabel ist, ist dabei sehr umstritten.1838) 1013 Hat sich die Gesellschaft zur Inanspruchnahme ihres Organmitglieds entschieden, ist im Regelfall jedenfalls dessen schriftliche Inanspruchnahme notwendig, um den Versicherungsfall auszulösen. Im Anschluss daran wird die Gesellschaft meist außergerichtlich ausloten, ob auf Seiten des Organmitglieds und der Versicherer die Bereitschaft zu einer außergerichtlichen Vereinbarung über die Schadenskompensation besteht. Scheitern diese Verhandlungen, wird die Gesellschaft prüfen, welcher Weg zur Realisierung der Einstandspflicht von Organmitglied und Versicherern aus ihrer Sicht im jeweiligen Einzelfall am günstigsten ist. Zur Anspruchsdurchsetzung kommen dabei grundsätzlich drei Wege in Betracht: 1. Rechtskräftige Feststellung der Haftung vor Entscheidung über die Deckung 1014 Dem Trennungsprinzip entsprechend besteht der übliche Weg für die Gesellschaft bei Innenhaftungsansprüchen darin, den Schadensersatzanspruch gegen ___________ 1835) Vgl. z. B. Goette, in: Festschrift Hoffmann-Becking, 2013, S. 377, 379 ff. 1836) Goette, in: Festschrift Hoffmann-Becking, 2013, S. 377, 386. 1837) BGH NJW 1997, 1926, 1928 = ZIP 1997, 883. 1838) Vgl. z. B. LG Essen NZG 2012, 1307 ff. = ZIP 2012, 2061; Habersack, NZG 2016, 321, 322 ff.; J. Koch, NZG 2014, 934 ff.; Goette, in: Gedächtnisschrift Martin Winter, 2011, 153 ff.; ders., in: Festschrift Hoffmann-Becking, 2013, S. 377 ff.; Schnorbus/ Ganzer, WM 2015, 1832 ff.

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ihr Organmitglied zunächst im Haftungsprozess rechtskräftig feststellen zu lassen, bevor sie in einem zweiten Schritt den D&O-Versicherer auf Basis des rechtskräftigen Urteils gegen das Organmitglied auf Zahlung in Anspruch nehmen kann. Dieser Regressweg birgt  anders als die beiden nachfolgend diskutierten 1015 Möglichkeiten  keine rechtlichen Risiken hinsichtlich seiner Zulässigkeit, kann aber in der Praxis erhebliche Nachteile haben. Die Feststellung der Haftung in einem öffentlichen Rechtsstreit ist unter Umständen langwierig und öffentlichkeitswirksam. Sie kann damit die Reputation des Unternehmens wie der Organmitglieder nachhaltig beschädigen. Sofern die deckungsrechtliche Situation nicht eindeutig ist, besteht außerdem das Risiko, dass die Gesellschaft über einen längeren Zeitraum Ressourcen im Unternehmen bindet und erhebliche Kosten aufwendet, ohne die Haftungsansprüche am Ende tatsächlich durchsetzen zu können, wenn der D&O-Versicherer für sie letztlich nicht einstandspflichtig ist. 2. Company Reimbursement Aufgrund dieser Nachteile bevorzugt die Gesellschaft in der Regel eine di- 1016 rekte Auseinandersetzung mit dem D&O-Versicherer. Häufig wird dabei diskutiert, ob die Gesellschaft mittels einer Anwendung der sog. Company Reimbursement-Klausel,1839) die in D&O-Policen üblicherweise enthalten ist, eine solche direkte Auseinandersetzung aus eigenem materiellen Recht herbeiführen kann. Die Company-Reimbursement-Klausel bewirkt grundsätzlich eine Verlagerung des deckungsrechtlichen Anspruchs vom Organmitglied auf die Gesellschaft für den Fall, dass das Organmitglied nicht (zuerst) durch den Versicherer, sondern durch die Gesellschaft vom Haftungsanspruch eines Dritten, also einem Außenhaftungsanspruch, freigestellt wird.1840) Die in der Praxis verwendeten Company-Reimbursement-Klauseln sind allerdings unterschiedlich gefasst und werfen häufig Auslegungsprobleme auf. Teilweise setzen sie allein voraus, dass die Gesellschaft das Organmitglied entlastet, einen Vergleich mit ihm schließt, es freistellt oder auf berechtigte Ansprüche verzichtet. Damit stellt sich die Frage, ob auch bei Innenhaftungsansprüchen die Möglichkeit besteht, das Organmitglied von einer bestehenden Schadensersatzpflicht freizustellen, um anschließend aus eigenem materiellen Recht in Höhe der Versicherungssumme gegen den D&O-Versicherer vorzugehen. Diese Frage ist bislang nicht abschließend geklärt.1841) ___________ 1839) Beispiel: Ziff. A-3 AVB D&O (Musterbedingungen des GdV Allgemeine Versicherungsbedingungen für die Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung von Aufsichtsräten, Vorständen und Geschäftsführern (AVB D&O), derzeit in der Fassung vom Mai 2020; frühere Bezeichnung war AVB-AVG). 1840) Lange, D&O-Versicherung, § 20 Rn. 3. 1841) Bejahend Mitterlechner/Wax/Witsch, D&O-Versicherung, § 4 Rn. 22; ablehnend Lange, D&O-Versicherung, § 20 Rn. 25.

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1017 Selbst wenn sich die in den jeweiligen D&O-Bedingungen enthaltene Klausel im Einzelfall so auslegen lässt, dass auch Innenhaftungsansprüche von ihr erfasst werden, ist ihre Anwendung auf Basis der derzeitigen Rechtslage mit erheblichen rechtlichen Risiken verbunden: 1018 Für den Abschluss eines Vergleichs mit dem Organmitglied ist  neben der bei Aktiengesellschaften erforderlichen Zustimmung der Hauptversammlung  die Zustimmung des D&O-Versicherers erforderlich. Dass ein D&O-Versicherer, der nicht bereit ist, Haftungs- und Deckungsansprüche in einem Gesamtvergleich zu erledigen, einem Haftungsvergleich zustimmt, der das Ziel hat, direkte Ansprüche der Gesellschaft gegen ihn selbst zu ermöglichen, ist regelmäßig nicht zu erwarten.1842) Wird der Haftungsvergleich trotz fehlender Zustimmung geschlossen, ist der D&O-Versicherer nur in dem Umfang zur Leistung verpflichtet, wie es der Fall wäre, wenn der Vergleich mit dem Organmitglied nicht geschlossen worden wäre.1843) Die Gesellschaft müsste in einem Rechtsstreit mit dem Versicherer damit nach wie vor nachweisen, dass neben dem Deckungsanspruch gegen den D&O-Versicherer auch der behauptete Haftungsanspruch gegen das Organmitglied besteht. Insoweit ist bislang nicht geklärt, wem im Direktprozess zwischen Gesellschaft und Versicherer die Beweislast für den Nachweis der schuldhaften Pflichtverletzung obliegt.1844) Diese trifft im Haftpflichtprozess grundsätzlich das Organmitglied, das jedoch am Prozess zwischen Gesellschaft und D&OVersicherer nicht als Partei beteiligt ist. Die direkte Auseinandersetzung mit dem D&O-Versicherer birgt also für die Gesellschaft die Gefahr einer verschlechterten Beweislastsituation. Die von ihr häufig verfolgte Absicht, die Auseinandersetzung mit dem (ehemaligen) Organmitglied möglichst schnell zu beenden, lässt sich auf diesem Weg ebenfalls nur sehr bedingt realisieren, da das Organmitglied als Zeuge am Prozess beteiligt und dem Versicherer aufgrund der bestehenden Auskunftsobliegenheiten auch zur Mitwirkung an der Haftungsabwehr verpflichtet ist. 1019 Gebannt scheint dagegen mittlerweile das weitere Risiko, dass der D&OVersicherer bei Abschluss eines Haftungsvergleichs vor einer formellen Inanspruchnahme des Organmitglieds unter Bezugnahme auf zwei sehr um-

___________ 1842) Anders ist dies, wenn die jeweiligen Klauseln ganz bewusst so gefasst sind, um einen Direktanspruch der Gesellschaft bei Innenhaftungsfällen zu ermöglichen. 1843) Vgl. z. B. Bruck/Möller/R. Koch, VVG, § 106 Rn. 30. 1844) Vgl. zum Streitstand zur Beweislastverteilung beim Direktanspruch Bruck/Möller/ Baumann, VVG, Ziff. 10 Rn. 49; Grooterhorst/Looman, NZG 2015, 215, 217 f.

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strittene Entscheidungen des OLG Düsseldorf1845) bereits das Bestehen eines Versicherungsfalls verneint. Ein Versicherungsfall liegt nach § 100 VVG grundsätzlich vor, wenn ein Dritter Schadensersatzansprüche geltend macht. Diese Voraussetzung ist nach der Rechtsprechung des BGH erfüllt, wenn sich der Dritte oder die Gesellschaft dazu entschlossen haben, gerade gegen die versicherte Person Schadenersatzansprüche geltend zu machen, und er bzw. sie diesen Entschluss in einer Art und Weise zu erkennen gibt, die von der versicherten Person als ernstliche Erklärung der Inanspruchnahme verstanden werden kann.1846) Damit wird vor allem die Abgrenzung einer Inanspruchnahme von anderen Aufforderungen bezweckt, wie etwa dem Verlangen, einen Verzicht auf die Einrede der Verjährung zu erklären, bei dem sich die Frage stellt, ob es konkludent bereits eine Inanspruchnahme enthält.1847) Die AVB der D&O-Versicherer definieren den Versicherungsfall regelmäßig als schriftliche Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs gegen ein Organmitglied aufgrund einer Organpflichtverletzung. Weitere Voraussetzungen bestehen nicht. Diese schriftliche Geltendmachung reicht vom Auslegungshorizont eines 1020 durchschnittlichen Versicherungsnehmers aus, um die Ernsthaftigkeit der Inanspruchnahme nachzuweisen, sie jedenfalls zu indizieren.1848) Das OLG Düsseldorf hatte hingegen die Auffassung vertreten, dass die Antwort auf die Frage, ob eine ernstliche Inanspruchnahme vorliege, über die schriftliche Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs hinaus einer tatrichterlichen Würdigung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls unterliegen solle. Es stipulierte damit eine zusätzliche Voraussetzung, die in den Versicherungsbedingungen keine Grundlage findet und die Feststellung des Versicherungsfalls zu einer Billigkeitsprüfung anhand von teilweise wenig überzeugenden Kriterien1849) macht, bei der – anders als im Rahmen von § 242 BGB – denjenigen die Beweislast trifft, der zur Verfügung über den deckungsrechtlichen Freistellungsanspruch berechtigt ist (d. h. Gesellschaft oder Organmitglied). Das Motiv des OLG Düsseldorf, potentielle Fälle einer ___________ 1845) OLG Düsseldorf VersR 2013, 1522, 1523 f. sowie RuS 2014, 122, 123 mit kritischer Anmerkung von Schimikowski. Vgl. dazu etwa R. Koch, VersR 2013, 1525 ff.; Sieg, ZWH 2014, 124 ff.; Staudinger/Richters, BB 2013, 2725 ff.; Lenz/Weitzel, PHi 2013, 170 ff. Der BGH teilt die Auffassung des OLG Düsseldorf nicht und hat die beiden Entscheidungen daher aufgehoben und den Streit an das OLG Düsseldorf zurückverwiesen, vgl. BGH VersR 2016, 786 ff. (IV ZR 304/13) sowie die weitere, gleichlautende Entscheidung des BGH BeckRS 2016, 07881 (IV ZR 51/14). Wie das OLG Düsseldorf hat auch das OLG München (25 U 3606/17) bei Abtretung des deckungsrechtlichen Anspruchs den Nachweis einer ernsthaften Inanspruchnahme gefordert; dies steht im Widerspruch zur vorgenannten Rechtsprechung des BGH und ist wenig überzeugend. Vgl. dazu noch unten Fn. 1850. 1846) BGH RuS 2004, 411, 412. 1847) Weitere Beispiele z. B. bei Römer/Langheid/Rixecker/Langheid, VVG, § 100 Rn. 28. 1848) So zutreffend R. Koch, VersR 2013, 1525, 1526. Ebenso BGH VersR 2016, 786, 790, dazu R. Koch, VersR 2016, 765, 766. 1849) Vgl. dazu die Gründe des OLG Düsseldorf VersR 2013, 1522, 1524 f.

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freundlichen Inanspruchnahme, insbesondere in Fällen, in denen die versicherte Person ihren Freistellungsanspruch gegen den D&O-Versicherer an die Gesellschaft abgetreten hat, zu unterbinden, ist zwar nachvollziehbar. Der gewählte systematische Ansatz schießt allerdings über das Ziel hinaus. Dies hat der BGH in seinen Revisionsentscheidungen zu den beiden Entscheidungen des OLG Düsseldorf deutlich herausgearbeitet.1850) Weder könne die versicherte Person der üblichen Versicherungsfalldefinition entnehmen, dass der Versicherungsfall nur eintreten solle, wenn mit der Inanspruchnahme des Schädigers auch ein Zugriff auf dessen persönliches Vermögen bezweckt sei, noch werde die Versicherungsnehmerin aus der Möglichkeit einer freundlichen Inanspruchnahme den Schluss ziehen, dass sich daraus im Bedingungswerk ergänzende, ungeschriebene Verschärfungen bei den Voraussetzungen des Versicherungsfalls ergäben.1851) Einzelfälle von freundlicher Inanspruchnahme lassen sich mit § 242 BGB – mit entsprechender Verteilung der Beweislast1852) – begegnen, wie es auch sonst im Zivilrecht bei missbräuchlichem Verhalten der Fall ist. 3. Direktanspruch 1021 Die Gesellschaft kann ihren D&O-Versicherer nach herrschender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur1853) direkt auf Zahlung in Anspruch nehmen, wenn ihr das Organmitglied seine Ansprüche aus der D&O-Versicherung abtritt. In diesem Fall ist es nicht erforderlich, zunächst einen Haftpflichtprozess gegen das Organmitglied zu führen, um Ersatzansprüche gegen die Versicherer feststellen zu lassen. Vielmehr werden Haftung und Deckung in einem Prozess gegen den D&O-Versicherer geklärt. Dieser Um___________ 1850) BGH VersR 2016, 786, 790. Hingegen will das OLG München (Beschl. v. 4.3.2019 – 25 U 3606/17) danach differenzieren, ob zuerst eine schriftliche Inanspruchnahme des Schädigers erfolgte und danach der Anspruch aus dem Versicherungsvertrag abgetreten wurde oder ob der deckungsrechtliche Anspruch vor der eigentlichen Inanspruchnahme als künftiger Anspruch abgetreten wird. Im letzteren Fall soll nach Auffassung des OLG München nur dann eine zulässige Abtretung vorliegen, wenn das Kriterium der ernsthaften Inanspruchnahme, wie es das OLG Düsseldorf (VersR 2013, 1522, 1523 f.) propagiert hat, erfüllt ist. Diese Auffassung des OLG München ist aber schon deswegen nicht überzeugend, weil der BGH deutlich gemacht hat, dass eine ernsthafte Inanspruchnahme nicht deswegen verneint werden kann, weil der Geschädigte von Anfang an vornehmlich oder sogar ausschließlich eine Schadenskompensation aus der Versicherungsleistung erstrebt. Es kann daher keinen Unterschied machen, ob der Deckungsanspruch vor oder nach der schriftlichen Inanspruchnahme abgetreten wird. 1851) BGH VersR 2016, 786, 790. 1852) Vgl. BGH VersR 2016, 786, 789. 1853) BGH VersR 2016, 786, 788 f., dazu Lehmann, RuS 2018, 6 ff.; Brinkmann, ZIP 2017, 301, 302 ff.; darüber hinaus z. B. Bruck/Möller/Baumann, VVG, Ziff. 10 AVB-AVG Rn. 8 ff., 31; MünchKomm-VVG/Wandt, § 108 Rn. 108; Prölss/Martin/Lücke, VVG, § 108 Rn. 8, Terno, SpV 2014, 2, 5 ff.; Klimke, RuS 2014, 105, 114 f.; Grooterhorst/Looman, NZG 2015, 215, 216; Lange, D&O-Versicherung, § 21 Rn. 20 ff.; grundsätzlich auch Bruck/ Möller/R. Koch, VVG, § 100 Rn. 160 ff.; ablehnend z. B. Armbrüster, RuS 2010, 441, 448; Schimmer, VersR 2008, 875, 877 f.

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stand verleitet die betroffenen Organmitglieder häufig zu der unrealistischen Erwartung, dass die Angelegenheit mit der Abtretung ihrer Freistellungsansprüche für sie erledigt sei und Gesellschaft und Versicherer die Frage der Schadenskompensation „unter sich ausmachen“. Das Organmitglied ist zwar nicht Partei des Direktprozesses und damit weniger im Fokus, bleibt aber natürlich ein wichtiger Zeuge.1854) Es ist außerdem aufgrund der fortbestehenden Obliegenheiten gegenüber dem D&O-Versicherer zur Mitwirkung und Auskunft bei der Haftungsabwehr verpflichtet. Darüber hinaus stellen sich im Einzelnen schwierige rechtliche Fragen zu den Rechtsfolgen, wenn die Gesellschaft die Deckungsansprüche an das Organmitglied rückabtritt (was sie sich meist ausdrücklich vorbehält) oder sie sich aus den Deckungsansprüchen nicht befriedigen kann.1855) Voraussetzungen und Wirkung der Abtretung und des daraus folgenden Di- 1022 rektanspruchs sind in fast allen Einzelheiten umstritten.1856) Im Folgenden werden nur drei, bislang nicht oder nur am Rande diskutierte Probleme aufgegriffen: a) Abtretung bei Verfügungsbefugnis der Gesellschaft Nach mittlerweile überwiegender Auffassung1857) kann das versicherte Or- 1023 ganmitglied den ihm zustehenden deckungsrechtlichen (Freistellungs-)Anspruch gegen den D&O-Versicherer an die Gesellschaft abtreten und dieser damit ein direktes Vorgehen gegen den D&O-Versicherer ermöglichen. Teilweise wird allerdings danach differenziert, ob die Gesellschaft (als Versicherungsnehmerin) gemäß der zugrunde liegenden D&O-Police über den Freistellungsanspruch verfügen kann.1858) Eine Abtretung der Versicherungsnehmerin an sich selbst soll dann unzulässig sein.1859) Das ist jedoch nicht überzeugend. Zum einen ist nicht ersichtlich, weshalb 1024 die Gesellschaft schlechtergestellt sein sollte, wenn ihr die Verfügungsbefugnis über die deckungsrechtlichen Ansprüche des Organmitglieds zusteht, als wenn diesem die Verfügungsbefugnis in Abweichung von der gesetzlichen Ausgangslage eingeräumt wurde. Zum anderen kann das Organmitglied nach § 44 Abs. 2 VVG trotz fehlender vertraglicher Einräumung über die Rechte aus dem Versicherungsvertrag verfügen, wenn die Gesellschaft als Versicherungsnehmerin der Verfügung zustimmt (Alt. 1) oder das Organmitglied im Besitz des Versicherungsscheins ist (Alt. 2). Die Gesellschaft kann einer Ver___________ 1854) Vgl. bereits oben Abschnitt III. 2. 1855) Vgl. dazu im Einzelnen z. B. Baumann, VersR 2010, 984, 989 ff.; Lange, RuS 2011, 185, 196 f.; Grooterhorst/Looman, NZG 2015, 215, 219 f.; Armbrüster, RuS 2010, 441, 450 f. 1856) Vgl. die Darstellung bei Lange, D&O-Versicherung, § 21 Rn. 20 ff. Die Entscheidung des BGH VersR 2016, 786 ff., thematisiert einen Teil dieser Streitpunkte und dürfte insoweit klärende Wirkung haben. 1857) Vgl. oben Fn. 1850 bzw. Fn. 1853. 1858) Bruck/Möller/R. Koch, VVG, § 100 Rn. 160 ff., insb. Rn. 163. 1859) Bruck/Möller/R. Koch, VVG, § 100 Rn. 163.

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fügung des Organmitglieds über seinen Freistellungsanspruch also zunächst zustimmen und dieses den Freistellungsanspruch anschließend an die Versicherungsnehmerin abtreten. Damit ist die Abtretung des Freistellungsanspruchs auch bei Verfügungsbefugnis der Gesellschaft möglich. b) Erforderlichkeit einer Zustimmung der Hauptversammlung bei der AG 1025 Nach ganz überwiegend vertretener Auffassung erfolgt die Abtretung des deckungsrechtlichen Anspruchs grundsätzlich erfüllungshalber (vgl. § 364 Abs. 2 BGB) und soll als solche zumindest mit der stillschweigenden Vereinbarung verbunden sein, dass die Gesellschaft ihren Schaden zunächst mittels einer Durchsetzung des abgetretenen Anspruchs gegen den D&O-Versicherer zu kompensieren sucht und nur dann (wieder) gegen das Organmitglied vorgeht, wenn die Durchsetzung dieses Anspruchs fehlgeschlagen ist.1860) Diese stillschweigende Vereinbarung wird in der versicherungsrechtlichen Literatur als pactum de non petendo betrachtet.1861) In der Kommentarliteratur zum bürgerlichen Recht ist allerdings umstritten, ob die Leistung erfüllungshalber zu einer Stundung oder einem pactum de non petendo führt.1862) Die Wirkung eines pactum de non petendo wird ebenfalls nicht einheitlich beurteilt.1863) 1026 Sowohl eine Stundung1864) des Anspruchs der Gesellschaft als auch ein pactum de non petendo1865) bedürfen nach der aktienrechtlichen Literatur grundsätzlich der Zustimmung der Hauptversammlung. Damit stellt sich die Frage, ob für die Abtretung der deckungsrechtlichen Ansprüche des Organmitglieds aufgrund der in ihr enthaltenen Abrede (Stundung oder pactum de non petendo) ebenfalls die Zustimmung der Hauptversammlung erforderlich ist. Richtigerweise ist diese Frage zu verneinen: aa) Leistung erfüllungshalber 1027 Die Leistung erfüllungshalber führt nicht zum Erlöschen des ursprünglichen Anspruchs. Sie gewährt dem Gläubiger lediglich  bei Weiterbestehen der ___________ 1860) Bruck/Möller/R. Koch, VVG, § 108 Rn. 63; Lange, RuS 2011, 185, 188; Prölss/Martin/ Lücke, VVG, § 108 Rn. 27; Hösker, VersR 2013 952, 956; Thomas, Die Haftungsfreistellung von Organmitgliedern, S. 464; Baumann, VersR 2010, 984, 989. 1861) Lange, RuS 2011 185, 188; Grooterhorst/Looman, NZG 2015, 215, 220; Thomas, Die Haftungsfreistellung von Organmitgliedern, S. 464 (Fn. 144). 1862) Vgl. die unterschiedlichen Auffassungen von Palandt/Grüneberg, BGB, § 364 Rn. 8; MünchKomm-BGB/Fetzer, § 364 Rn. 14, Staudinger/Olzen, BGB, Neubearbeitung 2016, § 364 Rn. 26, jeweils mit weiteren Verweisen auf die Rechtsprechung des BGH. 1863) Für vorübergehenden Verzicht auf die Geltendmachung einer Forderung z. B. MünchKomm-BGB/Fetzer, § 364 Rn. 14; Palandt/Ellenberger, BGB, § 205 Rn. 2; Palandt/ Grüneberg, BGB, § 271 Rn. 13, § 397 Rn. 4; für vorübergehenden Verzicht auf die gerichtliche Geltendmachung einer Forderung MünchKomm-BGB/Grothe, § 205 Rn. 5. 1864) Vgl. etwa GroßkommAktG/Hopt, 4. Aufl., § 93 Rn. 375 m. w. N.; Hölters/Hölters, AktG, § 93 Rn. 309; Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl., § 93 Rn. 287; MünchKommAktG/Spindler, § 93 Rn. 293. 1865) Hölters/Hölters, AktG, § 93 Rn. 309; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rn. 171; Spindler/ Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl., § 93 Rn. 287.

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bisherigen Forderung  eine zusätzliche Befriedigungsmöglichkeit. Welche Rechte der Gläubiger hinsichtlich des erfüllungshalber geleisteten Gegenstands im Einzelnen erwirbt und welcher Rechte er sich hinsichtlich des ursprünglichen Anspruchs begibt, hängt grundsätzlich von der Auslegung der getroffenen Verwertungs- und Tilgungsabrede ab.1866) Wird im Rahmen der Abtretung des deckungsrechtlichen Freistellungsan- 1028 spruchs keine explizite Regelung zum Umgang mit dem Haftungsanspruch getroffen, ist von einem pactum de non petendo in Form eines zeitlich befristeten Verzichts auf die gerichtliche Geltendmachung von Haftungsansprüchen gegen das Organmitglied auszugehen. Die Abtretung des deckungsrechtlichen Anspruchs durch das Organmitglied ist nicht darauf gerichtet, die Fälligkeit des Haftungsanspruchs bei verbleibender Erfüllbarkeit hinauszuschieben, ihn also zu stunden.1867) Es geht vielmehr um ein Stillhalteabkommen. Dabei kann dem pactum de non petendo nicht die Wirkung eines zeitlich befristeten Verzichts der Gesellschaft auf die Geltendmachung des Organhaftungsanspruchs beigemessen werden. Ein solcher Verzicht würde sich nämlich auch auf die außergerichtliche Geltendmachung der Haftungsansprüche beziehen, was dazu führte, dass während dieser Zeit keine Inanspruchnahme des Organmitglieds und damit kein Versicherungsfall vorläge. Konsequenterweise bestünde dann aber auch kein Freistellungsanspruch des Organmitglieds, der nach Abtretung an die Gesellschaft einen Zahlungsanspruch gegen die D&O-Versicherer begründen könnte. Die Abtretung kann also nur einen zeitlich befristeten Verzicht auf die gerichtliche Geltendmachung von Haftungsansprüchen gegen das Organmitglied beinhalten. bb) Parallele zu § 50 AktG Nach der Kommentarliteratur zu § 50 AktG löst die Leistung erfüllungshal- 1029 ber keine Zustimmungspflicht der Hauptversammlung aus, sofern der Wert dieser Leistung nicht hinter dem Wert des ursprünglichen Anspruchs zurückbleibt.1868) Anders wird die Sachlage bei einer Stundung oder einem pactum de non petendo des ursprünglichen Anspruchs ohne eine Leistung erfüllungshalber beurteilt: Im Fall einer Stundung sei die Zustimmung der Hauptversammlung erforderlich, wenn die „Gesellschaft für längere Zeit auf die Geltendmachung des Anspruchs verzichtet“.1869) Dies führe zu Zinsverlusten, die den Barwert der Forderung schmälerten.1870) Umstritten ist dabei, ob auch eine ___________ 1866) Vgl. die in Fn. 1862 genannten Nachweise. 1867) Vgl. zur Definition der Stundung etwa BGH NJW 1998, 2060, 2061. 1868) MünchKomm-AktG/Pentz, § 50 Rn. 13 f.; GroßkommAktG/Ehricke, 4. Aufl., § 50 Rn. 17; GroßkommAktG/Hopt, 4. Aufl., § 93 Rn. 375; KK-AktG/Arnold, 3. Aufl., § 50 Rn. 9; KK-AktG/Kraft, 2. Aufl., § 50 Rn. 9. 1869) KK-AktG/Arnold, 3. Aufl., § 50 Rn. 12; KK-AktG/Kraft, 2. Aufl., § 50 Rn. 12. 1870) KK-AktG/Arnold, 3. Aufl., § 50 Rn. 12; KK-AktG/Kraft, 2. Aufl., § 50 Rn. 12.

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kurzzeitige Stundung in den Anwendungsbereich des § 50 AktG fällt.1871) Das Zustimmungserfordernis bei einem pactum de non petendo wird meist ohne nähere Begründung bejaht.1872) 1030 Diese unterschiedliche Behandlung lässt sich durch die bei der Leistung erfüllungshalber bestehende Verpflichtung des Gläubigers erklären, zunächst Befriedigung aus dem erfüllungshalber hingegebenen Gegenstand zu suchen. Der Anspruch des Gläubigers bleibt in voller Höhe bestehen, der Vermögenswert ist der Gesellschaft also nicht entzogen, in seiner Realisierung richtet er sich nun jedoch zunächst auf den erfüllungshalber hingegebenen Gegenstand. Als Reflex aus seiner auftragsähnlichen1873) Verpflichtung hierzu ist die Realisierung der Forderung zugleich auf den erfüllungshalber hingegebenen Gegenstand begrenzt und im Übrigen temporär ausgesetzt. Dieser Umstand unterscheidet die Sachlage bei der Leistung erfüllungshalber von der Sachlage bei einer Stundungsabrede oder der Vereinbarung eines pactum de non petendo ohne derartige Leistung. In diesen Fällen fehlt es an einem zusätzlich zum Zwecke der Befriedigung des Anspruchs hingegebenen Gegenstand, vielmehr wird allein das Recht der Gesellschaft, den Anspruch geltend zu machen, für die Dauer der Stundung oder des pactum de non petendo ausgeschlossen. cc) § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG 1031 Auf Basis einer Parallele zu § 50 AktG entfällt auch im Rahmen von § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG die Zustimmungspflicht der Hauptversammlung zur Abtretung des dem Organmitglied zustehenden deckungsrechtlichen Anspruchs an die Gesellschaft. Das gilt grundsätzlich auch dann, wenn der Organhaftungsanspruch betragsmäßig höher als die zur Verfügung stehende Versicherungssumme ist: Der Gläubiger, der auf den Haftungsanspruch, d. h. einen teilbaren Zahlungsanspruch, eine deckungsrechtliche Forderung im maximalen Wert der Versicherungssumme hin erfüllungshalber annimmt, will auch nur in Höhe der Versicherungssumme die Durchsetzung seines Zahlungsanspruchs temporär aussetzen, um sich insoweit aus der erfüllungshalber hingegebenen Forderung zu befriedigen. Die Reichweite des pactum de non petendo ist vorsorglich in der Abtretungsvereinbarung zu regeln. 1032 Gegen eine Zustimmungspflicht der Hauptversammlung spricht darüber hinaus, dass der Organhaftungsanspruch nach Abtretung des deckungsrechtlichen Anspruchs und dessen direkter Geltendmachung im Verfahren gegen die D&O-Versicherer inzident geprüft wird. Er wird also nur in anderer Gestalt durchgesetzt; denn der deckungsrechtliche Anspruch setzt voraus, dass der Organhaftungsanspruch begründet ist. ___________ 1871) Dafür KK-AktG/Arnold, 3. Aufl., § 50 Rn. 12; dagegen GroßkommAktG/Ehricke, 4. Aufl., § 50 Rn. 20; KK-AktG/Arnold, 3. Aufl., § 50 Rn. 12; KK-AktG/Kraft, 2. Aufl., § 50 Rn. 12. 1872) Vgl. z. B. MünchKomm-AktG/Penz, § 50 Rn. 13 sowie oben Fn. 1865. 1873) MünchKomm-BGB/Fetzer, § 364 Rn. 13.

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E. D&O-Streitigkeiten

Auch bei einer wirtschaftlichen Betrachtung ist diese Lösung überzeugend. 1033 Durch die Abtretung des deckungsrechtlichen Anspruchs wird der Gesellschaft kein Vermögen entzogen. Das pactum de non petendo soll vielmehr gerade die Durchsetzung des deckungsrechtlichen Anspruchs gegen die D&O-Versicherer ermöglichen, die in der Regel den Haftungsanspruch gegen das versicherte Organ erst substantiell werthaltig machen. Sofern diese Ansprüche nicht durchsetzbar sein sollten, erlischt das pactum de non petendo, was dazu führt, dass die ursprünglichen Haftungsansprüche wieder gegen das Organmitglied geltend gemacht werden können. Der in den Organhaftungsansprüchen enthaltene Vermögenswert wird der Gesellschaft damit zu keinem Zeitpunkt entzogen.1874) c) Ordnungsgemäße Vertretung der AG im Prozess Die Frage, wer die AG vertritt, wenn diese einen Direktanspruch gerichtlich 1034 geltend macht, wird unterschiedlich beurteilt. Teilweise wird die Zuständigkeit des Vorstands unter Bezugnahme auf dessen allgemeine Vertretungszuständigkeit (§ 78 AktG) angenommen.1875) Teilweise wird aus § 112 AktG eine Zuständigkeit des Aufsichtsrats abgeleitet, die darauf beruhen soll, dass auch bei Inanspruchnahme des D&O-Versicherers im Wege des Direktanspruchs eine Gefahr mangelnder Unbefangenheit des Vorstands bestehe.1876) Nach der Rechtsprechung des BGH ist der Aufsichtsrat das für die Vertre- 1035 tung der Gesellschaft zuständige Organ, wenn bei Vertretung durch den Vorstand eine abstrakte Gefährdung der Interessen der AG vorläge. Ob das der Fall ist, ist durch eine typisierende Betrachtung zu ermitteln; das Vorliegen einer konkreten Gefährdung der Belange der Gesellschaft ist nicht erforderlich.1877) Insbesondere die rechtlichen Rahmenbedingungen sprechen dabei für die 1036 Zuständigkeit des Vorstands: Der Direktprozess wird formal nicht  wie es für eine Anwendung von § 112 AktG erforderlich ist  gegen ein Vorstandsmitglied geführt. Verfahrensgegner ist vielmehr der D&O-Versicherer, das Vorstandsmitglied ist allein als Zeuge am Verfahren beteiligt. Die direkte Inanspruchnahme des D&O-Versicherers setzt außerdem voraus, dass der Aufsichtsrat zuvor die Abtretung der deckungsrechtlichen Ansprüche des versicherten Organmitglieds annimmt und dieses schriftlich in Anspruch nimmt. Ohne vorherige Beteiligung des Aufsichtsrats kann der Direktprozess daher nicht durchgeführt werden; die Geltendmachung der deckungs___________ 1874) Im Ergebnis ebenso Grooterhorst/Looman, NZG 2015, 215, 220; Thomas, Die Haftungsfreistellung von Organmitgliedern, S. 461; skeptisch dagegen Schumacher, NZG 2016, 969, 973. 1875) So wohl Münchener Anwaltshandbuch VersicherungsR/Sieg, § 17 Rn. 182. 1876) Bruck/Möller/Baumann, VVG, AVB-AVG Ziff. 10 Rn. 48. 1877) Vgl. dazu und zu Nachweisen auf die Rechtsprechung MünchKomm-AktG/Habersack, § 112 Rn. 1.

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rechtlichen Ansprüche durch den Vorstand ist damit der Vollzug der durch das vorherige Handeln des Aufsichtsrats eröffneten Möglichkeit eines direkten Vorgehens gegen den D&O-Versicherer. Gegen die Annahme einer abstrakten Gefährdung der Gesellschaftsbelange spricht weiter, dass es im Interesse der Gesellschaft und ihres aktuellen Vorstands liegt, vom Versicherer eine möglichst hohe Deckung des erlittenen Schadens zu erlangen. Schließlich lässt sich die Vertretung durch den Vorstand als konsequente Fortsetzung seiner Zuständigkeit für den Abschluss der D&O-Versicherung1878) ansehen, bei dem er ebenfalls mit den ggf. später gegenläufigen Interessen von Organmitgliedern der Mutter- und Tochtergesellschaften befasst ist. 1037 Die für die Annahme einer abstrakten Gefährdung sprechenden Überlegungen resultieren aus den möglichen Konsequenzen der im Direktprozess vorgenommenen inzidenten Haftungsprüfung.1879) Die Prozessführung durch den Vorstand könnte dann beeinträchtigt sein, wenn im Falle einer Haftung Regressansprüche des in Anspruch genommenen Vorstandsmitglieds gegen weitere Vorstandsmitglieder im Rahmen eines Gesamtschuldnerinnenausgleichs in Betracht kämen. Denkbar wäre dies zunächst für Haftungsansprüche, die die Versicherungssumme übersteigen. Derartige Ansprüche werden allerdings im Direktprozess, der auf Zahlung der Versicherungssumme gerichtet ist, nicht geltend gemacht. Sollten sie bestehen und nach der Beitreibbarkeitsanalyse des Aufsichtsrats1880) durchsetzbar sein, wären sie Gegenstand eines separaten Prozesses; ggf. hätte sich die Gesellschaft dann auch für einen anderen Regressweg zu entscheiden. Deckt die Versicherungssumme den Schaden der Gesellschaft vollständig ab, geht ein potentieller Regressanspruch des in Anspruch genommenen Organmitglieds bei bestehender Einstandspflicht des Versicherers auf diesen über (§ 86 VVG). Ein Regress des D&OVersicherers (und damit auch eine potentielle Streitverkündung) gegen ein weiteres Organmitglied wäre nur dann denkbar, wenn dieses nicht seinerseits unter der Police des D&O-Versicherers versichert, sondern der Versicherungsschutz ausgeschlossen wäre,1881) z. B. aufgrund einer wissentlichen Pflichtverletzung. Dass ein einzelnes Organmitglied imstande ist, die Prozessführung im Direktprozess zu beeinflussen, um eine potentielle eigene wissentliche Pflichtverletzung zu kaschieren, die zudem im Regelfall aufgrund der Haftungsanalyse des Aufsichtsrats bereits bekannt sein wird, erscheint zu hypothetisch, um daraus eine abstrakte Gefährdung der Interessen der AG und damit eine Zuständigkeit des Aufsichtsrats für den Direktprozess abzuleiten.

___________ 1878) Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl., § 93 Rn. 234; Dreher/Thomas, ZGR 2009, 31, 48 ff. 1879) Vgl. auch Mitterlechner/Wax/Witsch, D&O-Versicherung, § 10 Rn. 52. 1880) Goette, in: Festschrift Hoffmann-Becking, 2013, S. 377, 386. 1881) Vgl. Prölss/Martin/Armbrüster, VVG, § 86 Rn. 35, auch 46, 55.

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E. D&O-Streitigkeiten

Teilweise wird die Zuständigkeit des Aufsichtsrats qua abstrakter Gefähr- 1038 dungslage damit begründet, dass die Gesellschaft oder der D&O-Versicherer eine Zwischenfeststellungs(wider)klage auf Bestehen oder Nichtbestehen des Haftungsanspruchs gegen das Vorstandsmitglied erheben könnte „und damit jedenfalls faktisch eine erhebliche Ausstrahlungswirkung“ für dessen Schadensersatzpflicht verbunden sei.1882) Auch dieses Argument überzeugt nicht. Einerseits ist nicht ersichtlich, inwiefern das Zwischenurteil, das eine Bindungswirkung inter partes, d. h. zwischen Gesellschaft und D&O-Versicherer, über das Haftpflichtverhältnis zwischen Gesellschaft und Vorstandsmitglied erzeugt, ein zusätzliches Argument zur Beurteilung der potentiellen abstrakten Gefährdungslage liefern soll; für letztere ist es inhaltlich irrelevant, ob die inzidente Haftungsprüfung auch in Rechtskraft erwächst. Eine grundsätzlich mögliche Erstreckung1883) der Zwischenfeststellungsklage auf das betroffene Vorstandsmitglied ist jedenfalls aufgrund des pactum de non petendo nicht zulässig.1884) Andererseits erscheint es nur schwer nachvollziehbar, inwiefern eine mögliche „faktische Ausstrahlung“, die sich nur auf einen Folgeprozess zwischen Gesellschaft und Vorstandsmitglied beziehen kann, eine abstrakte Gefährdungslage für den (vorgelagerten) Deckungsprozess begründen soll. Die besseren Gründe sprechen daher für die Zuständigkeit des Vorstands.1885) 1039 Wird die Gesellschaft im Prozess durch den Vorstand vertreten und dies – anders als hier vertreten – vom angerufenen Gericht als Vertretungsmangel angesehen, ist eine Heilung des Fehlers dadurch möglich, dass der Aufsichtsrat die Prozessführung des Vorstands genehmigt und als gesetzlicher Vertreter in den Prozess eintritt.1886) Im umgekehrten Fall, wenn also der Aufsichtsrat die Gesellschaft im Direktprozess vertritt und das zuständige Gericht die Anwendbarkeit von § 112 AktG ablehnen sollte, muss das Gleiche gelten. Die Heilungsmöglichkeit besteht auch im Schiedsverfahren.1887) Ob derartigen Zuständigkeitsproblemen von vornherein mit einer Doppel- 1040 vertretung von Aufsichtsrat und Vorstand begegnet werden kann, ist unklar. ___________ 1882) Bruck/Möller/Baumann VVG, AVB-AVG Ziff. 10 Rn. 48 i. V. m. Baumann, VersR 2010, 984, 990 f. 1883) MünchKomm-ZPO/Becker-Eberhard, § 256 Rn. 89. 1884) Es fehlt schon am Abhängigkeitsverhältnis i. S. v. § 256 Abs. 2 ZPO, da das Haftungsverhältnis zwischen Gesellschaft und Vorstandsmitglied zwar präjudiziell für die Beurteilung des Zahlungsanspruchs der Gesellschaft gegenüber dem D&O-Versicherer ist, aber es für eine entsprechende Zwischenfeststellungsklage keiner Parteierweiterung bedarf. Das in diesem Fall erforderliche Feststellungsinteresse scheidet wegen des Vorrangs der Leistungsklage aus. In jedem Fall dürfte die Parteierweiterung aber am pactum de non petendo scheitern, womit das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis fehlte. Das Organmitglied selbst kann, selbst wenn es per Nebenintervention beitreten sollte, keine Zwischenfeststellungswiderklage erheben. Vgl. zu den prozessualen Grundsätzen MünchKomm-ZPO/Becker-Eberhard, § 256 Rn. 89. 1885) Im Ergebnis ebenso Brinkmann, ZIP 2017, 301, 304. 1886) Vgl. z. B. BGH WM 2009, 702, 703 = ZIP 2009, 717. 1887) Vgl. OLG Frankfurt/M. BeckRS 2008, 13119, Tz. II.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis

Das AktG sieht eine solche Doppelvertretung ausdrücklich bei Anfechtungsund Nichtigkeitsklagen vor (vgl. §§ 246 Abs. 2 Satz 2, 249 Abs. 1 Satz 1 AktG). Damit soll eine Kollusion von klagendem Aktionär und Vorstand vermieden werden.1888) Dass das AktG eine solche Doppelvertretung nur in den genannten Fällen vorsieht, könnte allerdings im Umkehrschluss auch dafür sprechen, dass sie in anderen Fällen gerade nicht zulässig sein soll.1889) Diese Ambiguität zeigt sich an ihrer unterschiedlichen Beurteilung im Freigabeverfahren zur Aufhebung der Registersperre eines angefochtenen SqueezeOut-Beschlusses (§§ 327e Abs. 2, 319 Abs. 6 AktG) durch verschiedene Oberlandesgerichte.1890) Das OLG Hamm hat allerdings auch angenommen, dass eine unzulässige Doppelvertretung durch Vorstand und Aufsichtsrat die Prozesshandlungen des zuständigen Organs nicht unwirksam werden lässt, sondern dessen Handlungen als wirksame Vertretung der Gesellschaft anzusehen sind.1891) IV. D&O-Streitigkeiten als Schiedsverfahren? 1041 D&O-Streitigkeiten betreffen häufig sensible Themen und berühren Geschäftsgeheimnisse der Gesellschaft, was nahelegt, sie nichtöffentlich im Schiedsverfahren zu verhandeln. Dennoch haben Schiedsverfahren bislang weder in Organhaftungs- noch in Deckungsstreitigkeiten größere praktische Bedeutung erlangt.1892) Als auf Geldzahlungen gerichtete, vermögensrechtliche Ansprüche sind Organhaftungsansprüche gem. § 1030 Abs. 1 ZPO generell tauglicher Gegenstand eines Schiedsverfahrens.1893) Bei der Entscheidung über die Aufnahme einer Schiedsklausel in die Anstellungs- bzw. Versicherungsverträge oder einer späteren Vereinbarung über die Durchführung eines Schiedsverfahrens sind folgende Umstände mit zu berücksichtigen.1894)

___________ 1888) Vgl. BGH NJW 1960, 1006, 1007; Hölters/Englisch, AktG, § 246 Rn. 36 m. w. N. 1889) In dieser Richtung MünchKomm-AktG/Spindler, § 78 Rn. 18 unter Bezug auf Faßbender, AG 2006, 872: „Zunächst ist festzustellen, dass § 246 Abs. 2 S. 2 als Ausnahmeregelung zu § 78 Abs. 1 grundsätzlich eng auszulegen ist, sodass bereits die Analogiefähigkeit bezweifelt werden kann.“ 1890) Für eine Doppelvertretung OLG Düsseldorf NZG 2004, 328, 328 = ZIP 2004, 359; dagegen und für die Vertretungsbefugnis des Vorstands OLG Hamm BeckRS 2005, 05914. Für eine – im Hinblick auf die noch nicht höchstrichterlich geklärte Rechtslage – vorsorgliche Doppelvertretung Brinkmann, ZIP 2017, 301, 304. 1891) Vgl. OLG Hamm BeckRS 2005, 05914 Tz. B.I. 1892) Thümmel, in: Festschrift Rolf A. Schütze, 2014, S. 633. Zu D&O-Streitigkeiten als Schiedsverfahren vgl. z. B. Krieger, Organhaftung und Schiedsverfahren, S. 181 ff., in: VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2017; Schumacher, NZG 2016, 969 ff., dort 972 ff. zur Durchführung eines Schiedsverfahrens nach Abtretung des deckungsrechtlichen Anspruchs an die Gesellschaft; Werner, VersR 2015, 1084 ff. 1893) Michalski/Haas/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 245; Herresthal, ZIP 2014, 345, 346. 1894) Vgl. schon Gädtke/Ruttmann, VP 9/2015, 16 ff.

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E. D&O-Streitigkeiten

1. Vertraulichkeit von Schiedsverfahren Die Vertraulichkeit gehört zu den Vorteilen, die dem Schiedsverfahren üb- 1042 licherweise attestiert werden.1895) Sie kann bei Innenhaftungsansprüchen zum einen Reputationsschäden auf Seiten der Gesellschaft oder des betroffenen Organmitglieds durch die Presseberichterstattung über den Schadensfall vorbeugen, zum anderen Geheimhaltungsinteressen der Gesellschaft wahren. Generell sind Organmitglieder zwar über das Ende ihrer Amtszeit hinaus zur Verschwiegenheit verpflichtet.1896) Die Verschwiegenheitsverpflichtung tritt allerdings hinter das berechtigte Interesse des Organmitglieds an einer ordnungsgemäßen Verteidigung gegen die gegen ihn geltend gemachten Haftungsansprüche zurück.1897) Bei einer Austragung des Streits vor ordentlichen Gerichten droht damit eine Veröffentlichung von internen Vorgängen bis hin zu Geschäftsgeheimnissen der Gesellschaft. Dagegen haben bei einem Schiedsverfahren grundsätzlich weder Unbeteiligte Zugang zum Verfahren noch wird der Schiedsspruch oder ein Vergleich veröffentlicht. Grenzen ergeben sich dabei aus den bestehenden Veröffentlichungspflichten der beteiligten Parteien, z. B. aus § 15 WpHG1898) oder im Rahmen der Durchführung der Hauptversammlung.1899) Die Vertraulichkeit kann sich darüber hinaus auch auf die materielle Rechts- 1043 lage auswirken, da sie bei der Prüfung von Organhaftungsansprüchen nach Maßgabe der ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung des BGH1900) in die Abwägung der für und wider die Inanspruchnahme sprechenden Faktoren einzubeziehen ist. Der Umstand, dass die Gefahr eines Bekanntwerdens von Geschäftsgeheimnissen bzw. einer negativen Presseberichterstattung aufgrund der Vertraulichkeit im Schiedsverfahren weitaus geringer als in Verfahren vor den ordentlichen Gerichten ist, kann sich gerade bei ungewissen Erfolgsaussichten im Abwägungsprozess zugunsten einer Inanspruchnahme auswirken, d. h. deren Wahrscheinlichkeit erhöhen.1901) Dies gilt gleichermaßen für Inanspruchnahmen von Vorstand oder Aufsichtsrat1902) in der AG wie bei Ansprüchen gegenüber dem Geschäftsführer einer GmbH, mit dem ___________ 1895) Speziell zu Organhaftungsstreitigkeiten etwa Habersack/Wasserbäch, AG 2016, 2; Schumacher, NZG 2016, 969; im Übrigen vgl. z. B. Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, Kap. 1 Rn. 8 ff.; Lachmann, Handbuch für die Schiedsgerichtspraxis, Rn. 119 ff. 1896) Vgl. Krieger/Schneider, Handbuch Managerhaftung, § 3 Rn. 33; Leuering, NJW 2014, 657, 658. 1897) Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 4. Aufl., § 93 Rn. 168; MünchKomm-AktG/Spindler, § 93 Rn. 150. 1898) Thümmel, in: Festschrift Rolf A. Schütze, 2014, S. 634; Leuering, NJW 2014, 657, 658. 1899) Vgl. zur Befürchtung, die strengen Anforderungen von Vergleich und Verzicht gem. § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG könnten im Schiedsverfahren umgangen werden, Scholz/Weiß, AG 2015, 523 ff. 1900) BGH NJW 1997, 1926, 1928. 1901) So Leuering, NJW 2014, 657, 658. 1902) Spindler/Stilz/Spindler, AktG, 4. Aufl., § 93 Rn. 160.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis

Unterschied, dass deren Gesellschafter grundsätzlich wesentlich freier über die Inanspruchnahme oder den Verzicht auf sie entscheiden können, als dies in der AG der Fall ist.1903) 1044 Bei Außenhaftungsansprüchen nutzt der Dritte die Öffentlichkeit des Verfahrens häufig als Druckmittel und hat daher kein Interesse an der Vertraulichkeit des Schiedsverfahrens.1904) Zudem handelt es sich bei den geltend gemachten Ansprüchen mangels direkter vertraglicher Beziehungen zum jeweiligen Organmitglied im Regelfall um deliktische Ansprüche, weshalb der Abschluss einer Schiedsvereinbarung regelmäßig erst nach Entstehung der jeweiligen Streitigkeit in Betracht kommt. Eine Einigung auf ein institutionelles oder ein Ad-hoc-Schiedsverfahren mit Zustimmung des D&O-Versicherers ist allerdings in einer derartigen Konstellation eher unwahrscheinlich. Sofern das D&O-Versicherungsprogramm der Gesellschaft nicht nur eine Grundversicherung, sondern auch mehrere Exzedentenversicherungen umfasst, und somit eine Vielzahl von D&O-Versicherern zu beteiligen sind, wird ein solcher Verständigungsversuch außerdem regelmäßig zu einem erheblichen Aufwand führen. 1045 Bei Deckungsstreitigkeiten wiederum besteht in der Regel auf allen drei Seiten – Gesellschaft, versichertes Organmitglied, Versicherer – ein Interesse an der Wahrung der Vertraulichkeit. Das Interesse des Versicherers gründet sich dabei unter anderem darauf, dass die in der Auseinandersetzung streitigen Klauseln des Versicherungsvertrags häufig in einer Vielzahl von Policen verwendet werden und durch ein Schiedsverfahren ein veröffentlichtes Präjudiz für eine Vielzahl von Vertragsverhältnissen vermieden werden kann.1905) Für die Wahl des Schiedsverfahrens spricht darüber hinaus, dass in Deckungsstreitigkeiten über D&O-Versicherungen die Sachkunde der Schiedsrichter und deren Vertrautheit mit den Regelungstechniken der D&O-Versicherung von besonderer Bedeutung ist und dies bei einer Auswahl der Schiedsrichter durch die Parteien (anders als vor ordentlichen Gerichten) sichergestellt werden kann. 2. Regelungen zur Beweislast 1046 Teilweise wird als Argument für die Wahl des Schiedsverfahrens als Konfliktlösungsmechanismus angeführt, dass die vielfach als unbefriedigend empfundene Darlegungs- und Beweislast ausgeschiedener Organmitglieder1906) im ___________ 1903) Hasselbach, DB 2010, 2037, 2038; Kleindiek, in: Festschrift Graf von Westphalen, 2010, S. 387, 393. 1904) Thümmel, in: Festschrift Rolf A. Schütze, 2014, S. 633, 636. 1905) Thümmel, in: Festschrift Rolf A. Schütze, 2014, S. 633, 638. 1906) Vgl. zu den Bedenken gegen die Beweislastsituation z. B. Haarmann/Weiß, BB 2014, 2115, 2119; Grooterhorst, AG 2011, 389, 392˺f.; Paefgen, NZG 2009, 891; Bachmann, Gutachten E zum 70. Deutschen Juristentag Hannover 2014, E 24, E 35˺ff., E 122, der sich im Ergebnis jedoch nicht anschließt; Hopt, ZIP 2013, 1793, 1803 (ohne Entscheidung).

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E. D&O-Streitigkeiten

Schiedsverfahren zumindest teilweise ausgeglichen werden könne. Zwar lässt sich die Darlegungs- und Beweislastumkehr mangels Dispositivität der gesetzlichen Regelungen1907) auch im Schiedsverfahren nicht insgesamt wirksam abbedingen. Die Parteien eines Schiedsverfahrens können sich aber im Rahmen ihrer grundsätzlichen Hoheit über die Verfahrensgestaltung (§ 1042 Abs. 3 ZPO) über die Beweismittel und Beweiserhebungsmethoden einigen.1908) Ihnen steht es daher beispielsweise frei, ein Verfahren hinsichtlich der gegenseitigen Urkundenvorlage (disclosure) zu vereinbaren, um die typische Beweisnot des ausgeschiedenen Organmitglieds zu beseitigen oder das anspruchsstellende Unternehmen bereits in der Schiedsvereinbarung zu verpflichten, im Falle eines Schiedsverfahrens alle Dokumente vorzulegen, die im Zusammenhang mit dem Haftungsfall stehen.1909) Ob ein Wille auf Seiten der Gesellschaft besteht, einer solchen Modifikation der Gesetzeslage zuzustimmen (und sich damit im Falle der Inanspruchnahme eines Vorteils zu begeben), dürfte allerdings zweifelhaft sein. Im Übrigen lässt sich die Beweisnot der Organmitglieder auch über andere Regelungen beheben (z. B. Regeln der sekundären Darlegungs- und Beweislast, Auskunftsobliegenheiten des Unternehmens in den D&O-Versicherungsbedingungen). 3. Nachteile von Schiedsverfahren Neben der für Organmitglieder unter Umständen ambivalenten Wirkung der 1047 Vertraulichkeit des Verfahrens hat die Durchführung eines Schiedsverfahrens grundsätzlich den Nachteil, dass wichtige prozessuale Instrumente der Zivilprozessordnung nur dann zur Verfügung stehen, wenn zwischen allen Beteiligten entsprechende Vereinbarungen getroffen wurden. So sind etwa die Streitverkündung mit Interventionswirkung, die Einbeziehung Dritter in das Verfahren, die Verbindung von Verfahren und die Nebenintervention nur dann möglich, wenn alle Beteiligten ihre Zustimmung erteilen.1910) Bei Organhaftungsstreitigkeiten kann dies durchaus problematisch sein, da die Beteiligung mehrerer Parteien am Verfahren etwa aufgrund der gesamtschuldnerischen Haftung der Geschäftsleitung oder auch aufgrund einer möglichen Nebenintervention des D&O-Versicherers eher die Regel als die Ausnahme ist. Die Anpassung der schiedsverfahrensrechtlichen Regeln an die Erfordernisse eines Organhaftungsstreits ist daher durch entsprechende Vereinbarungen zwischen den Parteien herzustellen.1911) ___________ 1907) MünchKomm-AktG/Spindler, § 93 Rn. 213; für die GmbH: Michalski/Haas/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 492. 1908) Waclawik, Prozessführung im Gesellschaftsrecht, Rn. 737. 1909) Vgl. Leuering, NJW 2014, 657, 660. 1910) Herresthal, ZIP 2014, 345, 346; Habersack/Wasserbäch, AG 2016, 2, 3; Schumacher, NZG 2016, 969, 971. 1911) Vgl. im Einzelnen Thümmel, in: Festschrift Rolf A. Schütze, 2014, S. 633, 642; Umbeck, SchiedsVZ 2009, 143, 148.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis

1048 Schiedsabreden für die Geltendmachung von Organhaftungsansprüchen sind darüber hinaus aufgrund der möglicherweise mit ihnen verbundenen stärkeren Kostenbelastung bzw. der Unterschiede des Schiedsverfahrens gegenüber den ordentlichen Verfahren mit den D&O-Versicherern abzustimmen. Soll die Durchführung eines Schiedsverfahrens nachträglich für einen konkreten Fall zwischen Gesellschaft und Organmitglied vereinbart werden, kann dies bei Bestehen eines umfangreich gelayerten D&O-Programms problematisch und u. U. zu einem langwierigen Vorgang werden.1912) 1049 Gerade in komplexen Verfahren kann sich im Übrigen der bekannte Umstand als Nachteil erweisen, dass der Schiedsspruch nur in Ausnahmefällen zum Gegenstand eines weiteren Verfahrens zu dessen Überprüfung gemacht werden kann. Kürzt das Schiedsgericht die relevante Prüfung aus vermeintlichen rechtlichen Gründen ab, ist die rechtliche Handhabe dagegen vergleichsweise gering (vgl. § 1059 ZPO). V. Die Organisation der Anspruchsabwehr durch den D&O-Versicherer 1050 Die Organisation der Anspruchsabwehr durch den D&O-Versicherer ist in der Praxis eine häufige Quelle von Auseinandersetzungen zwischen dem Organmitglied und dem D&O-Versicherer bzw. den jeweils tätigen Anwälten. Ihren Ursprung haben diese Streitigkeiten in dem Umstand, dass sich die jeweiligen Befugnisse nicht trennscharf gegeneinander abgrenzen lassen. Besonders deutlich wird dies, wenn mehrere Organmitglieder in Anspruch genommen wurden. 1051 Im üblichen Fall, d. h. nach einer Inanspruchnahme des Organmitglieds und einem Vorgehen nach dem Trennungsprinzip, teilen das Organmitglied und der D&O-Versicherer das Interesse an einer möglichst effektiven Haftungsabwehr. Grundsätzlich hat der Versicherer zwar nach überwiegender Auffassung1913) ein Erfüllungswahlrecht: Er kann entweder Rechtsschutz zur Abwehr der Ansprüche gewähren oder aber die versicherte Person sofort von den Ansprüchen freistellen. Dass der Versicherer einen Anspruch von vornherein – etwa auf ein vom Anspruchssteller erstelltes Gutachten hin – erfüllt, ist in der Praxis jedoch selten der Fall; vielmehr übt der Versicherer sein Wahlrecht regelmäßig zugunsten der Haftungsabwehr aus. In diesem Fall gewährt er dem Organmitglied vorläufige Deckung in Form der Übernahme der bei der Verteidigung anfallenden Kosten, die insbesondere für die Tätigkeit des Anwalts anfallen, der das Organmitglied im Rahmen der Anspruchsabwehr berät und vertritt. Das bedeutet, dass er seiner Hauptleistungspflicht aus dem Versicherungsvertrag auf Gewähr von Rechtsschutz nachkommt, sich aber vorbehält, die Zahlungen im Rahmen der Haftungsabwehr später zurück___________ 1912) Vgl. bereits oben IV. 1. Rn. 1042. 1913) Vgl. z. B. Römer/Langheid/Rixecker/Langheid, VVG, § 100 Rn. 5 f.; dagegen Prölss/ Martin/Lücke, VVG, § 100 Rn. 2.

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E. D&O-Streitigkeiten

zufordern, wenn sich herausstellen sollte, dass ein Ausschlusstatbestand des Versicherungsvertrags erfüllt ist. Dieses Vorgehen ist zulässig1914) und der Tatsache geschuldet, dass der Versicherer zu Beginn des Verfahrens, in einem Stadium, in dem er in aller Regel nur wenig über die Fakten des Falls weiß und diese zunächst mit Hilfe der Auskunftsobliegenheiten in Erfahrung bringen muss, noch nicht beurteilen kann, ob er tatsächlich einstandspflichtig ist, das Organmitglied aber unmittelbar auf Rechtsschutz angewiesen ist. Nach der BGH-Rechtsprechung muss der Versicherer zur Erfüllung der 1052 Rechtsschutzverpflichtung alles tun, was zur Abwehr des Haftungsanspruchs notwendig ist.1915) Er hat die aus der Prüfung und Abwehr folgende Arbeitslast und Verantwortung allein zu tragen und im Haftpflichtprozess die Interessen des Versicherten so zu wahren, wie das ein von diesem beauftragter Anwalt tun würde.1916) Das gilt selbst dann, wenn eine Kollision zwischen den Interessen der versicherten Person und denen des Versicherers nicht zu vermeiden ist. In diesem Fall muss der Versicherer seine eigenen Interessen hintanstellen.1917) Damit ist jedoch nur der Rahmen der Haftungsabwehr abgesteckt. Die De- 1053 tails der Befugnisse im Verhältnis zwischen D&O-Versicherer und Organmitglied werden in den Versicherungsbedingungen geregelt. Ein Beispiel einer solchen Klausel stellt Ziff. A-6.2 AVB D&O1918) dar. Dort heißt es: „Der Versicherer ist bevollmächtigt, alle ihm zur Abwicklung des Schadens oder Abwehr der Schadensersatzansprüche zweckmäßig erscheinenden Erklärungen im Namen der versicherten Personen abzugeben. Kommt es in einem Versicherungsfall zu einem Rechtsstreit über Schadensersatzansprüche gegen versicherte Personen, ist der Versicherer zur Prozessführung bevollmächtigt. Er führt den Rechtsstreit im Namen der versicherten Personen.“

Gebräuchlicher sind allerdings Klauseln, die dem Versicherer weniger weit- 1054 gehende Befugnisse und dem versicherten Organmitglied mehr Mitsprachrechte als Ziff. 4.5 AVB-AVG einräumen. In der Praxis reizen die Versicherer die ihnen eingeräumten Befugnisse zudem häufig nicht vollständig aus,1919) sondern streben eine einvernehmliche Haftungsabwehr mit dem Organmitglied und dessen Anwalt an und sind insbesondere bei der Erteilung von Weisungen zurückhaltend. Grundsätzlich bestehen für den Versicherer drei Möglichkeiten, die Haftungsabwehr zu organisieren:1920) ___________ 1914) Vgl. BGH RuS 2007, 191, 193. 1915) St. Rspr., vgl. z. B. BGH NJW 1993, 68, 69, und BGH RuS 2007, 239, 240. 1916) BGH NJW 1993, 68, 69, und BGH RuS 2007, 239, 240. 1917) BGH NJW 1993, 68, 69, und BGH RuS 2007, 239, 240. 1918) Musterbedingungen des GdV (Allgemeine Versicherungsbedingungen für die Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung von Aufsichtsräten, Vorständen und Geschäftsführern (AVB D&O)) in der Fassung vom Mai 2020. 1919) Was rechtlich zulässig ist, vgl. auch Bruck/Möller/R. Koch, VVG, AHB 2012 Ziff. 25 Rn. 61. 1920) Zum Organisationsrecht des Versicherers bzw. der entsprechenden Verpflichtung vgl. Lange, D&O-Versicherung, § 14 Rn. 47 ff.

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Teil 2 Streitigkeiten aus dem Organverhältnis

1. Haftungsabwehr durch den Anwalt des Organmitglieds und den Monitoring Counsel 1055 Das Organmitglied mandatiert nach Abstimmung mit dem D&O-Versicherer einen Anwalt seiner Wahl, der seine Interessen im Rahmen der Haftungsabwehr wahrnimmt (im Folgenden vereinfachend als „Defense Counsel“1921) bezeichnet). Dies wird häufig im Anschluss an seine schriftliche Inanspruchnahme erfolgen, kann aber auch früher der Fall sein, z. B. wenn sich die Inanspruchnahme abgezeichnet hat oder das Organmitglied bereits im Rahmen der Aufklärung des Schadenfalls vor seiner Inanspruchnahme vom Unternehmen zum Sachverhalt befragt werden soll. Im ersteren Fall ist die Inanspruchnahme dem Versicherer regelmäßig unverzüglich anzuzeigen1922) und jede Maßnahme, die zur Haftungsabwehr vorgenommen wird, mit ihm abzustimmen. Dazu gehört nicht erst die inhaltliche Einlassung zu den Haftungsansprüchen, sondern bereits die Beauftragung des Defense Counsel1923) ebenso wie z. B. die Abgabe eines befristeten Verzichts auf die Einrede der Verjährung durch das Organmitglied. Auch bei einer Mandatierung vor einer Inanspruchnahme ist die Abstimmung mit dem Versicherer grundsätzlich empfehlenswert und erforderlich, wenn die Police (wie häufig) eine Klausel vorsieht, die den Versicherer zur Übernahme von Kosten einer vorsorglichen Rechtsberatung zur Abwehr von Organhaftungsansprüchen verpflichtet und das Organmitglied von dieser Möglichkeit Gebrauch machen will. Die Kosten für die Tätigkeit des Defense Counsel trägt der Versicherer als Teil seiner Hauptleistungspflicht zur Gewähr von Rechtsschutz. Dass das Organmitglied zusätzlich einen sog. Coverage Counsel1924) zu seiner deckungsrechtlichen Beratung mandatiert, ist selten. Insoweit besteht keine Pflicht zur Abstimmung mit dem Versicherer, weil die deckungsrechtliche Beratung nicht zur Rechtsschutzverpflichtung des Versicherers gehört. Das Organmitglied hat daher auch keinen Anspruch auf Übernahme der Anwaltskosten für diese Art der Beratung. Übernimmt der Defense Counsel jedenfalls partiell auch die deckungsrechtliche Beratung, z. B. hinsichtlich der Erfüllung der Auskunftsobliegenheiten, sind entsprechende Tätigkeiten nicht von der vorläufigen Zusage zur Kostenübernahme durch den Versicherer umfasst. 1056 Die Organisation der Haftungsabwehr über einen Defense Counsel stellt in der Praxis den Regelfall dar. Der Versicherer bleibt im Hintergrund und überwacht die Maßnahmen der Haftungsabwehr durch die Mitarbeiter seiner Schadenabteilungen. In komplexen Schadenfällen mit hohem Streitwert mandatiert der D&O-Versicherer häufig selbst einen Anwalt, der ihm diese Aufga___________ 1921) Vgl. auch Lange, D&O-Versicherung, § 14 Rn. 33 ff. 1922) Vgl. in den AVB-AVG Ziff. 7.3.2.1; das Unverzüglichkeitsgebot wird in der Praxis teilweise durch eine präziser definierte Frist ersetzt. 1923) Die Anwaltswahl wird in den D&O-Versicherungsbedingungen meist ausdrücklich geregelt. 1924) Vgl. Lange, D&O-Versicherung, § 14 Rn. 46.

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be weitgehend abnimmt, d. h. die Verteidigung gegen die Haftungsansprüche durch den Defense Counsel für ihn inhaltlich überprüft und Schriftsätze und alle weiteren Verteidigungshandlungen in Abstimmung mit ihm freigibt (sog. Monitoring Counsel).1925) Der Monitoring Counsel übt oft erheblichen Einfluss auf die Haftungsabwehr aus, bleibt aber häufig ebenfalls im Hintergrund, so dass sich der Anspruchsteller (jedenfalls zunächst) allein mit dem Organmitglied und dessen Defense Counsel auseinandersetzt. Regelmäßig berät der Monitoring Counsel den Versicherer zugleich auch in deckungsrechtlicher Hinsicht. Da er die Interessen des Versicherers wahrnimmt, werden die Kosten seiner Tätigkeit nicht aus der Versicherungssumme beglichen.1926) Versicherer und Monitoring Counsel müssen die Interessen des Organmit- 1057 glieds so wahren, wie das der vom Organmitglied beauftragte Anwalt (vernünftigerweise) tun würde; sie müssen dabei möglicherweise abweichende Interessen des Versicherers hintanstellen.1927) Ein Beispiel für eine solche Interessenkollision sind Streitverkündungen an andere Organmitglieder durch das in Anspruch genommene Organmitglied. Solche Streitverkündungen stehen jedenfalls dann regelmäßig nicht im Interesse des Versicherers, wenn die Streitverkündeten ebenfalls unter die D&O-Versicherung des Versicherers fallen. In diesem Fall wird aus Sicht des Versicherers häufig nur die Abwicklung komplizierter, ohne dass sich an seiner potentiellen Einstandspflicht etwas änderte. Aus Sicht der versicherten Person ist die Streitverkündung jedoch unter Umständen erforderlich, um eine Bindungswirkung für einen potentiellen Regressanspruch gegen andere Organmitglieder zu erzielen, der notwendig werden kann, wenn der Versicherer letztlich die Deckung des Schadens ablehnt oder der Schaden die Versicherungssumme übersteigt. Darüber hinaus gibt es weitere Konstellationen, in denen sich die besondere 1058 Treuepflicht zwischen Versicherer und Versicherungsnehmer bzw. versicherter Person1928) auf die Erfüllung der Rechtsschutzverpflichtung auswirken und die Handlungsmöglichkeiten des Versicherers begrenzen kann. Das kann etwa der Fall sein, wenn neben versicherten auch (der Höhe oder dem Grunde nach) unversicherte Ansprüche gegen das Organmitglied geltend gemacht werden und die Prozessführung oder Weisungserteilung durch den Versicherer zugleich auch in die Verteidigung gegen unversicherte Ansprüche eingriffe. Schwierig ist die Situation, wenn der Versicherer auf die Haftungsabwehr Einfluss nimmt, obwohl Deckungseinwendungen im Raum stehen, die der Versicherer jedoch mangels ausreichender Sachverhaltskenntnis noch nicht abschließend beurteilen kann. In dieser Situation muss der Versicherer auf ___________ 1925) Lange, D&O-Versicherung, § 14 Rn. 46. 1926) Lange, D&O-Versicherung, § 14 Rn. 46. Zum Streit um die Wirksamkeit von Kostenanrechnungsklauseln vgl. insbesondere Terno, RuS 2013, 577 ff. 1927) BGH VersR 1992, 1504; BGH VersR 2001, 1150; Prölss/Martin/Lücke, VVG, Ziff. 5 AHB, Rn. 24. 1928) Vgl. MünchKomm-VVG/Looschelders, § 1 Rn. 149.

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die Haftungsabwehr Einfluss nehmen können, ohne sein Recht zu verlieren, sich anschließend, sofern der Haftpflichtprozess entsprechende Anhaltspunkte liefert, auch auf Deckungsausschlüsse zu berufen. Anderenfalls würde er seine Pflicht zur Gewähr von Rechtsschutz verletzen. Bis er konkrete Anhaltspunkte für die Verwirklichung eines Ausschlusstatbestands hat, muss er die Verteidigung dementsprechend so führen, als sei der Ausschlusstatbestand nicht anwendbar. Relevant ist dies insbesondere für den Ausschluss der wissentlichen Pflichtverletzung: Solange der Versicherer keine konkreten Anhaltspunkte für eine solche wissentliche Pflichtverletzung hat, muss er im Haftungsprozess davon ausgehen, dass allenfalls eine fahrlässige Pflichtverletzung im Raum steht. Erweist der Haftungsprozess später, dass das Organmitglied wissentlich handelte, muss sich der Versicherer darauf auch berufen können. Die Treuepflicht gebietet es allerdings, es dem versicherten Organmitglied anzuzeigen, sobald der Versicherer zu der Erkenntnis gelangt ist, dass ein Deckungsausschluss anwendbar ist und er deshalb den Versicherungsschutz versagen will. 1059 Schwierigkeiten können sich den Organmitgliedern insbesondere auch im gelayerten D&O-Versicherungsprogramm stellen. Ein typischer Fall ist die Abstimmung einer Erklärung zum befristeten Verzicht auf die Einrede der Verjährung. Da die Versicherungsbedingungen der Exzedentenpolicen regelmäßig „follow form“ zur Grundpolice ausgestaltet sind, d. h. die Bedingungen der Grundversicherung für anwendbar erklären, soweit in der Exzedentenversicherung keine anderweitigen Regelungen getroffen werden, sind derartige Erklärungen regelmäßig mit allen Versicherern abzustimmen. Dies kann zu erheblichen Problemen führen, wenn die D&O-Versicherer die Abgabe des Verjährungsverzichts wie zumeist nur unter bestimmten Bedingungen als deckungsunschädlich erachten und diese differieren, sie unterschiedlicher Auffassung sind, ob die Verzichtserklärung überhaupt abgegeben werden soll, oder schlicht gar nicht auf die Abstimmungsbemühungen reagieren. In dieser Konstellation kann es nicht zu Lasten des Organmitglieds gehen, wenn die Versicherer keine einheitliche Entscheidung treffen. Es ist ihm auch nicht zuzumuten, aus diesem Grund die Erhebung einer Klage oder die Einleitung sonstiger verjährungshemmender Maßnahmen durch den Anspruchsteller zu riskieren. Richtig erscheint daher, ihm in einer solchen Konstellation analog § 82 Abs. 2 Satz 2 VVG das Recht zu gewähren, selbst eine Entscheidung nach eigenem pflichtgemäßen Ermessen über die Abgabe der Verjährungsverzichtserklärung herbeizuführen. 2. „Sockelverteidigung“ und Nebenintervention des D&O-Versicherers 1060 Werden mehrere Organmitglieder in Anspruch genommen, wird der D&OVersicherer bzw. der von ihm beauftragte Monitoring Counsel im Regelfall eine einheitliche Haftungsabwehr organisieren. Damit soll vermieden werden, dass die in Anspruch genommenen Organmitglieder sich von vornherein durch gegenseitige Schuldzuweisungen schwächen. Vielmehr wird – als kleins-

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ter gemeinsamer Nenner – eine Verteidigungsstrategie zu bestimmen versucht, mit der die Haftung für alle Organmitglieder gleichermaßen abgewehrt werden kann. Es wird dementsprechend nur eine Erwiderung auf die außergerichtlichen Inanspruchnahmen der Organmitglieder bzw. nur eine Klageerwiderung auf die Klageschrift gegen verschiedene Organmitglieder verfasst, in der die für alle Organmitglieder gleichermaßen relevanten tatsächlichen und rechtlichen Verteidigungsargumente vorgetragen werden (sog. Sockelverteidigung).1929) Der Versicherer kann insoweit entweder einen der Defense Counsels beauftragen, diesen einheitlichen Vortrag auszuarbeiten, oder seinen Monitoring Counsel, der in einem Haftungsprozess zulässigerweise1930) als Nebenintervenient auftreten und dort die Federführung bei der Haftungsabwehr übernehmen kann. Die Anwälte der (übrigen) Organmitglieder machen sich den Vortrag des ausgewählten Defense oder Monitoring Counsels nach Prüfung und Abstimmung in ihren eigenen Schriftsätzen zu eigen und ergänzen allenfalls noch weitere Details, die für ihre Mandanten günstig sind, soweit sie der einheitlichen Linie nicht schaden und andere Organmitglieder nicht belasten. Letzteres wird vom Monitoring Counsel kontrolliert. Diese Vorgehensweise hat eine Reihe von Vorteilen.1931) Ein einheitlicher Vor- 1061 trag reduziert (bei der üblichen Abrechnung auf Stundensatzbasis) die auf die Versicherungssumme anzurechnenden Anwaltskosten, was im Hinblick auf eine möglicherweise erforderliche Freistellung von begründeten Haftpflichtansprüchen im Interesse aller Organmitglieder steht. Die Vermeidung von unterschiedlichem Sachvortrag und gegenseitigen Schuldzuweisungen verstärkt im Übrigen das Gewicht der Verteidigung gegen die Inanspruchnahme. Nicht zuletzt wird es auch das mit den Haftungsvorwürfen befasste Gericht wertschätzen, wenn der Verteidigungsvortrag strukturiert und gebündelt erfolgt. In Fällen, in denen eine Vielzahl von Organmitgliedern in Anspruch genommen wird, wird daher mittlerweile standardmäßig eine Sockelverteidigung durchgeführt. 3. Erteilung einer Prozessvollmacht an den D&O-Versicherer Eine dritte Möglichkeit besteht grundsätzlich darin, dass der D&O-Versi- 1062 cherer – wie es in Ziff. 4.5 AVB-AVG vorgesehen ist – selbst zur Prozessführung für die versicherten Organmitglieder bevollmächtigt wird. Er kann damit im Namen des Organmitglieds einen Anwalt bestellen und durch diesen alle Prozesserklärungen abgeben lassen. Obwohl diese Alternative bei mehreren ___________ 1929) Vgl. auch Lange, D&O-Versicherung, § 14 Rn. 59 f. 1930) OLG Frankfurt/M. RuS 2015, 347, 347; OLG Nürnberg, v. 27.9.2010 – 12 W 1302/10 (nicht veröffentlicht); OLG Hamm RuS 1997, 55, 55; Lange, D&O-Versicherung, § 14 Rn. 59; Prölss/Martin/Lücke, VVG, Ziff. 5 AHB Rn. 25; ablehnend (aber nicht überzeugend) Herdter, VP 3/2014, 46 ff. 1931) Vgl. dazu auch Fehre/Hardt, PHi 2013, 74 ff.

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in Anspruch genommen Organmitgliedern gegenüber der Sockelverteidigung den Vorteil einer weiteren Kostenersparnis hätte und ebenso wie diese ein koordiniertes Vorgehen ermöglichte, spielt sie jedenfalls in der Praxis der D&O-Versicherung kaum eine Rolle. Abgesehen davon, dass entsprechende Klauseln wie Ziff. 4.5 AVB-AVG Wirksamkeitsprobleme aufwerfen,1932) bietet diese Alternative keine ausreichende Handhabe dagegen, dass Interessenkonflikte zwischen Versicherer und Organmitglied nicht zu Lasten des letzteren entschieden werden.

___________ 1932) Bruck/Möller/Baumann, VVG, AVB-AVG Ziff. 4 Rn. 64 ff.

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Teil 3 M&A-Streitigkeiten A. Schiedsverfahren Markus Rieder

Unternehmenskaufverträge, die in Deutschland geschlossen werden, enthal- 1063 ten typischerweise Schiedsvereinbarungen.1933) Die praktische Bedeutung der Schiedsgerichtsbarkeit zur Lösung von Post-M&A-Streitigkeiten ist mittlerweile so groß, dass verschiedentlich eine diesbezügliche Erosion der staatlichen Gerichtsbarkeit beklagt wird.1934) In der Tat sucht man vielfach vergeblich nach Rechtsprechung zu zentralen rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit Post-M&A-Streitigkeiten. Gleichwohl lohnt vorab eine genauere Analyse der Vor- und Nachteile der staatlichen Gerichtsbarkeit und der Schiedsgerichtsbarkeit für die Lösung von Streitigkeiten, die sich aus M&A-Transaktionen ergeben (nachfolgend I, Rn. 1064 ff.). Die weiteren Abschnitte dieses Kapitels beschäftigen sich mit dem Abschluss der Schiedsvereinbarung (nachfolgend II, Rn. 1068 ff.), der Konstituierung des Schiedsgerichts (nachfolgend III, Rn. 1079 ff.), der Durchführung des Schiedsverfahrens (nachfolgend IV, Rn. 1092 ff.), der Erledigung des Rechtsstreits durch Schiedsspruch oder auf andere Weise (nachfolgend V, Rn. 1123) und Fragen des einstweiligen Rechtsschutzes (nachfolgend VI, Rn. 1124). Abschließend werden einige praktisch bedeutsame Sonderkonstellationen erörtert (nachfolgend VII, Rn. 1125 ff.). Im Übrigen wird an geeigneter Stelle auf die Ausführungen zu Schiedsverfahren im Zusammenhang mit gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten (Teil 1 F.) zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen. I. Staatliche Gerichtsbarkeit vs. Schiedsverfahren1935) Wie bereits in Teil 1 F (dort Rn. 563 ff.) ausgeführt, gilt allgemein, dass die 1064 Schiedsgerichtsbarkeit eine Reihe möglicher Vorteile gegenüber der staatlichen Gerichtsbarkeit aufweist, insbesondere im Hinblick auf die Vertraulichkeit des Verfahrens, die Möglichkeit maßgeschneiderter Verfahrensregeln, mögliche Kosten- und Geschwindigkeitsvorteile und, insbesondere im internationalen Kontext, die Anerkennung und Vollstreckung nach den Regeln des New Yorker Übereinkommens. Gleichermaßen gibt es Fälle, die sich besser für eine Erledigung durch die staatlichen Gerichte eignen, beispielsweise im Falle eines vergleichsweise geringen Streitwertes oder weil eine Partei Wert auf eine Grundsatzentscheidung durch öffentliches Urteil legt und insoweit auch den Zugang zur Rechtsmitteln und zur höchstrichterlichen Rechtsprechung ___________ 1933) Sachs, SchiedsVZ 2004, 123 ff.; Demuth, SchiedsVZ 2012, 271 ff.; Weißhaupt, WM 2013, 782, 786; Maier-Reimer/Niemeyer, NJW 2015, 1713, 1719; Busse, SchiedsVZ 2005, 118, 119; aus „Nutzerperspektive“ Reul, ASA Special Series No. 24, 2005, 85 ff. 1934) Kästle, NZG 2014, 288, 295; ferner etwa Louven/Merbrey, NZG 2014, 1321. 1935) Zur Abgrenzung von Schiedsgutachtenverfahren in M&A-Fällen vgl. Teil 3 C III 2., Rn. 1273 ff.

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Teil 3 M&A-Streitigkeiten

wünscht. Die Anwendung dieser allgemeinen Grundsätze auf Post-M&AStreitigkeiten kann in zwei Schritten geschehen: 1065 Im ersten Schritt richtet sich der Blick auf die typischen Streitfelder in der Folge von M&A-Transaktionen.1936) Diese betreffen häufig den Kaufpreis, insbesondere wenn kein Festkaufpreis vereinbart ist, sondern eine Kaufpreisanpassung auf den Übertragungsstichtag stattfindet.1937) Aber auch bei einem Festpreis können Streitigkeiten entstehen, etwa wenn der Verkäufer zwischen Unterzeichnung und Vollzug des Kaufvertrages Handlungen vornimmt, die zu einem im Kaufvertrag nicht vorgesehenen bzw. nicht gestatteten Wertabfluss (leakage) führen.1938) Ein weiteres häufiges Streitfeld betrifft im Vertrag abgegebene Garantien (representations and warranties) zu den übertragenen Anteilen bzw. zur Geschäftstätigkeit und zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der Zielgesellschaft.1939) Auch spezifisch auf den Vollzug des Vertrages bezogene Streitigkeiten sind nicht selten, etwa weil sich der Käufer unter Berufung auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage oder das Vorliegen eines im Vertrag definierten material adverse change (MAC)1940) weigert, das Unternehmen abzunehmen, oder weil die Erfüllung von Bedingungen wie beispielsweise kartellrechtlicher Auflagen im Zusammenhang mit der Zusammenschlusskontrolle der Transaktion in Streit gerät.1941) Schließlich spielen gesetzliche Ansprüche, etwa aus culpa in contrahendo oder Delikt, häufig eine wichtige Rolle. 1066 Führt man sich diese Arten der Auseinandersetzung vor Augen, fällt es im zweiten Schritt nicht schwer, die möglichen Vorteile der Schiedsgerichtsbarkeit gegenüber staatlichen Gerichten bei der Lösung von Post-M&AStreitigkeiten zu erkennen. Besondere Bedeutung kommt insoweit häufig der ___________ 1936) Vgl. hierzu etwa Rieder, in: Festschrift Schütze, S. 491 ff. m. w. N. Gelegentlich treten auch Streitigkeiten im Vorfeld eines eigentlichen Unternehmenskaufvertrages auf, beispielsweise aus einem Letter of Intent oder wegen Abbruchs von Vertragsverhandlungen (break-up fees etc.); hierzu Sachs, SchiedsVZ 2004, 123, 126; von Segesser, ASA Special Series No. 24, 2005, 17, 21 ff.; instruktives Fallbeispiel bei OLG München NZG 2013, 257 = ZIP 2013, 23. 1937) Peter, ASA Special Series No. 24, 2005, 55 ff. 1938) Zu diesbezüglichen Vertragsgestaltungen siehe Münchener Vertragshandbuch Bd. 4/ Rieder, S. 327 ff.; Jaletzke, in: Jaletzke/Henle, S. 19 ff.; Kästle/Oberbracht, Unternehmenskauf – Share Purchase Agreement, S. 60 ff.; Schrader, in: Beck’sches Formularbuch M&A, S. 160 ff. 1939) Tschäni, ASA Special Series No. 24, 2005, 67 ff. – Klauseln dieser Art beispielsweise bei Münchener Vertragshandbuch Bd. 4/Rieder, S. 365 ff.; Jaletzke/Henle/Ziegler, in: Jaletzke/Henle, S. 100 ff.; Lips/Stratz/Rudo, in: Beck’sches Mandatshandbuch Unternehmenskauf, 2004, § 4 Rn. 123; Kästle/Oberbracht, Unternehmenskauf – Share Purchase Agreement, S. 153 ff.; Schrader, in: Beck’sches Formularbuch Mergers & Acquisitions, S. 285 ff. 1940) Hierzu Münchener Vertragshandbuch Bd. 4/Rieder, S. 358 ff.; Zimmer/Henle, in: Jaletzke/Henle, S. 75 f., 86 ff.; Kästle/Oberbracht, Unternehmenskauf – Share Purchase Agreement, S. 124. 1941) Hierzu Sachs, SchiedsVZ 2004, 123, 128; von Segesser, ASA Special Series No. 24, 2005, 17, 25 ff.

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A. Schiedsverfahren

Vertraulichkeit von Schiedsverfahren zu (die allerdings gesondert vereinbart werden muss), da regelmäßig weder der Käufer noch der Verkäufer ein Interesse daran haben, Probleme der Zielgesellschaft, die beispielsweise Auslöser für eine Kaufpreisanpassung, einen Garantiefall oder gar einen material adverse change sein mögen, in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung, womöglich vor den Augen der interessierten Konkurrenz oder Kundschaft, auszutragen.1942) Gerade im grenzüberschreitenden Kontext spielt Englisch als Verfahrenssprache eine wesentliche Rolle, was vor den staatlichen Gerichten üblicherweise nicht möglich ist.1943) Auch die Qualifikation der Entscheider, insbesondere die Auswahl von Schiedsrichtern, die Erfahrungen im Bereich des Unternehmenskaufs haben, wird häufig als Grund für die Präferenz der Schiedsgerichtsbarkeit über der staatlichen Gerichtsbarkeit angeführt.1944) Schließlich spielt die internationale Vollstreckbarkeit auch bei Post-M&ASchiedsverfahren eine bedeutende Rolle bei der Wahl der Verfahrensart.1945) Vor diesem Hintergrund hat sich in Deutschland eine Marktpraxis heraus- 1067 gebildet, die beim Unternehmenskauf weitgehend, in manchen Bereichen sogar nahezu ausschließlich auf die Schiedsgerichtsbarkeit zur Lösung von Post-M&A-Streitigkeiten setzt.1946) Dass dies nicht zwingend so sein muss, zeigt der Blick auf die durchaus abweichende Praxis in anderen Ländern. So ist beispielsweise in den USA bei Post-M&A-Streitigkeiten keine eindeutige Präferenz für die staatliche oder die Schiedsgerichtsbarkeit zu erkennen. Dies mag u. a. daran liegen, dass in den USA eine deutlich ausgefeiltere Kasuistik der staatlichen Gerichte, beispielsweise in den Bundesstaaten New York und Delaware, zu Fragen des Unternehmenskaufs vorliegt. II. Schiedsvereinbarung Die für Schiedsvereinbarungen im unternehmerischen Verkehr erforderli- 1068 che Schriftform (§ 1031 Abs. 1 ZPO) lässt sich beim Unternehmenskauf, der in der Praxis stets mindestens schriftlich, häufig sogar in notariell beurkundeter Form abgeschlossen wird, ohne weiteres einhalten. Insoweit stellen sich beim Unternehmenskauf grundsätzlich keine Formprobleme. Dies gilt auch, wenn der Unternehmenskauf selbst der notariellen Beurkundung bedarf, beispielsweise wegen § 15 GmbHG. Auch in diesem Fall reicht für die ___________ 1942) Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 143 ff.; Redfern/Hunter, Rn. 1.105. 1943) Wolff, JuS 2008, 108, 109; MünchKomm-ZPO/Münch, § 1045 Rn. 1 ff.; Kreindler/Schäfer/ Wolff, Schiedsgerichtsbarkeit, Rn. 616; Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 1402. 1944) Kreindler/Rust, in: Beck’sches Rechtsanwalts-Handbuch, § 7 Rn. 26; Berger, WM 2012, 1701, 1702; Redfern/Hunter, Rn. 4.58, 4.65. 1945) Kreindler/Rust, in: Beck’sches Rechtsanwalts-Handbuch, § 7 Rn. 31 ff.; Kreindler/ Schäfer/Wolff, Schiedsgerichtsbarkeit, Rn. 14; Redfern/Hunter, Rn. 11.42. 1946) Vgl. die Gestaltungsempfehlungen in den gängigen Formularbüchern: Münchener Vertragshandbuch Bd. 4/Rieder, S. 313 ff.; Kästle/Oberbracht, Unternehmenskauf – Share Purchase Agreement, S. 300: hierzu auch Teil 3 B. III 2 Rn. 1179 und speziell zu Kaufpreisanpassungsstreitigkeiten Teil 3 C. III 2 Rn. 1273 ff.

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Teil 3 M&A-Streitigkeiten

Schiedsvereinbarung die Schriftlichkeit nach § 1031 Abs. 1 ZPO.1947) Ein dynamischer Verweis auf eine Schiedsordnung in ihrer jeweils bei Einleitung des Schiedsverfahrens gültigen Fassung ist, wie der BGH zwischenzeitlich klargestellt hat, ebenfalls möglich, unabhängig davon, ob der Unternehmenskauf selbst der notariellen Beurkundung bedarf oder nicht.1948) 1069 Anders ist es bei Beteiligung von Verbrauchern; dann sind die besonderen Formanforderungen nach § 1031 Abs. 5 ZPO zu beachten. Das bedeutet beim privatschriftlichen Unternehmenskauf, dass die Schiedsvereinbarung in einer von den Parteien eigenhändig unterzeichneten Urkunde enthalten sein muss, welche andere Vereinbarungen als solche, die sich auf das schiedsrichterliche Verfahren beziehen, nicht enthalten darf. Dies geschieht am besten durch Abschluss einer gesonderten Schiedsabrede i. S. v. § 1029 Abs. 2 Alt. 1 ZPO, um sämtlichen Formdiskussionen von vorneherein den Boden zu entziehen. Bei notariell beurkundetem Unternehmenskaufvertrag gilt das Erfordernis einer eigenen Urkunde nicht (§ 1031 Abs. 5 Satz 3 Halbs. 2 ZPO); insoweit bedarf es keines diesbezüglichen Schutzes, da die Aufklärung des Verbrauchers über die möglichen Nachteile einer Schiedsvereinbarung durch den beurkundenden Notar erfolgt. 1070 Wer Verbraucher und wer Unternehmer ist, bemisst sich nach §§ 13, 14 BGB. Verbraucher ist danach „jede natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu Zwecken abschließt, die überwiegend weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden können“ (§ 13 BGB). Unternehmer ist demgegenüber „eine natürliche oder juristische Person oder eine rechtsfähige Personengesellschaft, die bei Abschluss eines Rechtsgeschäfts in Ausübung ihrer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit handelt“ (§ 14 BGB). Wer beim Unternehmenskauf als Privatperson Anteile kauft oder verkauft, ist – abgesehen von Existenzgründerfällen – häufig Verbraucher, nicht Unternehmer,1949) so dass § 1031 Abs. 5 ZPO zu prüfen und einzuhalten ist. 1071 Beim Unternehmenskauf empfiehlt sich im Übrigen die Wahl einer institutionellen Schiedsordnung; Ad-hoc-Schiedsverfahren sind insoweit – anders als etwa bei gesellschaftsrechtlichen Binnenstreitigkeiten (Kapitel 1 F Rn. 557) – eher selten, insbesondere bei Verfahren mit internationalem Bezug.1950) Gerade bei Post-M&A-Streitigkeiten haben die Parteien typischerweise ein gesteigertes Interesse an einer raschen Streiterledigung. Dazu kann das Vorhandensein einer Schiedsinstitution maßgeblich beitragen, etwa durch zeitnahe Unterstützung bei der Benennung oder Ablehnung von Schiedsrich___________ 1947) BGH NJW 2014, 3652, 3654 = ZIP 2014, 1852; BGH NJW 1978, 212. 1948) BGH NJW 2014, 3652, 3654 = ZIP 2014, 1852; ferner etwa Böttcher/Fischer, NZG 2011, 601, 603 ff.; Hilgard/Haubner, BB 2014, 970 ff. 1949) Zur Existenzgründerrechtsprechung siehe BGH WM 2005, 755, 756 = ZIP 2005, 622. 1950) Sachs, SchiedsVZ 2004, 123, 125; Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 103; Kreindler/ Schäfer/Wolff, Schiedsgerichtsbarkeit, Rn. 272.

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tern. Im internationalen Verkehr kommt hinzu, dass eine oder beide Parteien in die Gerichtsbarkeit des Schiedsortes und deren Neutralität weniger Vertrauen haben mögen als gegenüber einer Schiedsinstitution. In der Praxis werden daher bei Unternehmenskäufen mit Bezug zu Deutschland häufig die DIS-SchO oder die ICC-SchO gewählt.1951) Zur Gestaltung von Schiedsvereinbarungen gelten dieselben Grundsätze, 1072 die bereits in Kapitel 1 F (dort Rn. 581 ff.) vorgestellt wurden. Empfehlenswert ist insbesondere die Festlegung des Schiedsortes, der Zahl der Schiedsrichter, der Verfahrenssprache und des anwendbaren materiellen Rechts. Dass der Schiedsort nicht nach touristischen Aspekten gewählt werden sollte, leuchtet unmittelbar ein, wenn man sich seine Bedeutung vor Augen führt, die insbesondere darin besteht, das anwendbare Schiedsverfahrensrecht (lex arbitri) und die Zuständigkeit der staatlichen Gerichte für Unterstützungsleistungen während des Verfahrens und eine mögliche Aufhebung eines Schiedsspruchs zu bestimmen. Bei einer in Deutschland belegenen Zielgesellschaft spricht in der Regel nichts gegen einen deutschen Schiedsort. Umgekehrt spricht aus rechtlicher Sicht auch nichts gegen einen neutralen Schiedsort, wie beispielsweise einen Ort in der Schweiz oder Paris. Der Sitz einer der Parteien als Schiedsort scheidet oftmals wegen Neutralitätsbedenken der anderen Partei aus. Für Post-M&A-Streitigkeiten werden nicht selten Dreier-Schiedsgerichte 1073 gewählt. Dies ist wegen der Komplexität der sich regelmäßig stellenden Sachund Rechtsfragen in den meisten Fällen sehr sinnvoll. Hinzu kommt, dass sich Streitparteien jedenfalls unter psychologischen Gesichtspunkten üblicherweise „besser fühlen“, wenn sie eine Person im Schiedsgericht selbst benannt haben. Die Verfahrenssprache orientiert sich häufig an der Sprache des Unter- 1074 nehmenskaufvertrages. Im internationalen Kontext ist dies vorwiegend Englisch.1952) Soweit im Schiedsverfahren verwendete Unterlagen, z. B. für Zwecke des Urkundsbeweises, in einer anderen Sprache abgefasst sind, ist regelmäßig eine Übersetzung erforderlich, es sei denn, die Parteien vereinbaren, dass Unterlagen auch in einer anderen Sprache vorgelegt werden können. Letzteres bedingt dann allerdings, dass die Schiedsrichter auch dieser Sprache mächtig sind. Das anwendbare materielle Recht ist im engeren Sinne kein Inhalt der 1075 Schiedsvereinbarung, sondern des Hauptvertrages. Gleichwohl ist es üblich, das anwendbare materielle Recht im räumlich-textlichen Zusammenhang mit der Streitschlichtungsklausel zu regeln. Beim Unternehmenskauf besteht in___________ 1951) Wolff, JuS 2008, 108, 109; Sachs, SchiedsVZ 2004, 123, 125; Kreindler/Schäfer/Wolff, Schiedsgerichtsbarkeit, Rn. 289, 307; Pörnbacher/Baur, BB 2011, 2627. 1952) Sachs, SchiedsVZ 2004, 123, 125; Wolff, JuS 2008, 108, 109; Illmer, ZRP 2011, 170, 172; Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, § 1045 Rn. 1.

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soweit weitgehende Wahlfreiheit, was das schuldrechtliche Geschäft anbelangt.1953) Dies muss nicht notwendigerweise das Recht des Gesellschaftsstatuts sein, was praktisch auch häufig gar nicht möglich wäre, wenn in einer Transaktion unmittelbar oder mittelbar mehrere Gesellschaften unterschiedlicher Herkunft veräußert werden. Vielfach stellen die Parteien darauf ab, welches Recht ihnen am besten vertraut ist. Ob das stets die beste Wahl ist, darf allerdings bezweifelt werden. Parteien, die rechtsvergleichend erfahren oder beraten sind, können insoweit eine gezieltere Auswahl treffen. So mag der Umstand eine Rolle spielen, dass das deutsche Recht einerseits den Ausschluss der Haftung bis zur Vorsatzgrenze zulässt (§§ 276 Abs. 3, 444 BGB), andererseits aber auch eine Reihe von Werkzeugen und Mechanismen entwickelt hat, um diese Grenze überwinden zu können (Aufklärungspflichten,1954) Wissenszurechnung1955) etc.). Andere Rechtsordnungen mögen beispielsweise der Annahme von Aufklärungspflichten zurückhaltender gegenüberstehen als die deutsche Rechtsprechung, was auch aus Sicht eines deutschen Verkäufers Anlass geben kann, über die Wahl eines anderen materiellen Rechts nachzudenken. 1076 In letzter Zeit häufiger diskutiert wird die Anwendbarkeit der AGB-Kontrolle auf Unternehmenskaufverträge und wie eine ggf. unerwünschte AGBKontrolle vermieden werden kann.1956) Virulent wird das AGB-Problem beispielsweise, wenn der Verkäufer ein auktionsartig ausgestaltetes Verfahren anwendet und jedem Bieter denselben Vertragsentwurf vorgibt.1957) Ferner mögen Parteien, die häufig als Käufer oder Verkäufer auftreten, standardmäßig bestimmte Klauseln immer wieder verwenden, insbesondere im Zusammenhang mit Garantien und den zugehörigen Rechtsfolgenbestimmungen.1958) 1077 Ob in solchen Fällen AGB vorliegen und daher eine AGB-Kontrolle vorzunehmen sein kann, ist höchstrichterlich bislang ungeklärt. In der jüngeren Literatur fehlt es nicht an Ideen und Vorschlägen, die vielfach beim Unternehmenskauf als unerwünscht bzw. unangemessen empfundene AGB-Kontrolle ___________ 1953) Anderes gilt für die dingliche Übertragung der verkauften Anteile oder Gegenstände, die sich idR. zwingend nach dem Belegenheitsprinzip, d. h. dem Recht der Belegenheit der Sache, richtet; Schneider/Korn, WM 2015, 62, 63; Land, BB 2013, 2697, 2699; MünchKomm-BGB/Martiny, Bd. 12, Rom I-VO Art. 3 Rn. 8; MünchKomm-BGB/ Wendehorst, Bd. 12, EGBGB Art. 43 Rn. 3. 1954) Speziell für den Unternehmenskauf geht der BGH von weitergehenden Aufklärungspflichten als im „Normalfall“ aus, vgl. BGH BB 2001, 428: „gesteigerte Aufklärungsund Sorgfaltspflicht“. 1955) Vgl. hierzu die Trilogie der Grundsatzentscheidungen BGH NJW 1990, 975; BGH NJW 1996, 1339 = ZIP 1996, 548 und BGH NJW 2001, 359 = ZIP 2001, 26; Hoenig/ Klingen, NZG 2013, 1046 ff. Zum aktuellen Stand der Diskussion vgl. Kapitel 3 B Rn. 1146 ff. 1956) Aus der Lit. hierzu etwa Kästle, NZG 2014, 288 ff.; Kirchner/Giessen, BB 2015, 515 ff.; Wittuhn/Quecke, NZG 2014, 131 ff.; Schiffer/Weichel, BB 2011, 1283 ff.; Habersack/ Schürnbrand, in: Festschrift Canaris, Bd. 1, S. 359 ff. 1957) Schiffer/Weichel, BB 2011, 1283, 1288 f. 1958) Maier-Reimer/Niemeyer, NJW 2015, 1713, 1714 f.

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für nicht anwendbar zu befinden.1959) Eine Möglichkeit, das Problem zu umgehen, wäre die Wahl eines materiellen Rechts, das eine AGB-Kontrolle nach deutschem bzw. europäischem Muster nicht vorsieht, wie beispielsweise das schweizerische materielle Recht.1960) Ein weiterer, allerdings nicht unumstrittener Gestaltungsvorschlag geht dahin, die Zuständigkeit eines Schiedsgerichts zu vereinbaren, und hinsichtlich des anwendbaren materiellen Rechts vorzusehen, dass zwar deutsches Recht zur Anwendung gelangen soll, allerdings mit Ausnahme der Vorschriften über die AGB-Kontrolle (§§ 305 – 310 BGB).1961) Da die Parteien das Schiedsgericht ermächtigen können, ohne Rücksicht auf rechtliche Bestimmungen allein nach den Grundsätzen der Billigkeit zu entscheiden (§ 1051 Abs. 3 Satz 1 ZPO), sprechen – gleichsam a maiore ad minus – gute Gründe dafür, dass die Parteien eine lediglich partielle Rechtswahl im vorgenannten Sinne treffen können, d. h. eine bestimmte Rechtsordnung als anwendbares materielles Recht bestimmen, davon aber definierte Einzelregelungen ausnehmen dürfen.1962) Im internationalen Geschäftsverkehr, einschließlich des Unternehmenskaufs, ist ein solches Vorgehen in Bezug auf ein anderes Regelwerk längst zum praktischen Standard geworden: üblicherweise schließen die Parteien beispielsweise die Anwendbarkeit des UN-Kaufrechts ausdrücklich aus. Über die vorgenannten Punkte hinausgehende Regelungen sind in Schieds- 1078 vereinbarungen meist entbehrlich – less is more; insbesondere ist von pauschalen und unspezifizierten Verweisen auf die ZPO abzuraten (vgl. bereits Kapitel 1 F Rn. 587 ff.). Im Einzelfall mag sich eine kombinierte Klausel aus ADR- und Schiedsverfahren anbieten, beispielsweise durch Vorschaltung eines Verhandlungs-, Mediations- oder Schlichtungsverfahrens. Allerdings ist in der Praxis festzustellen, dass die Popularität solcher kombinierter Klauseln zwischenzeitlich wohl wieder etwas abgenommen hat. Dies liegt möglicherweise nicht zuletzt daran, dass sie ihr eigenes Streitpotential in sich bergen können, zum Beispiel wenn zwischen den Parteien Uneinigkeit darüber herrscht, ob die dem Schiedsverfahren vorgeschalteten konsensualen Einigungsschritte ordnungsgemäß durchgeführt sind und ein Schiedsverfahren nunmehr statthaft ist oder nicht. Im Zweifel ist die vertragliche Festlegung vorgeschalteter ADR-Versuche entbehrlich. Sind die Parteien auch nach Entstehung des Konfliktes noch dazu bereit, werden sie es ohnehin versuchen. Fehlt eine echte Einigungsbereitschaft, bedeutet ein vorgeschaltetes, von einer ___________ 1959) Kästle, NZG 2014, 288 ff.; Maier-Reimer/Niemeyer, NJW 2015, 1713 ff.; krit. hierzu Wittuhn/Quecke, NZG 2014, 131, 135. 1960) Kondring, RiW 2010, 184, 185; Kessel/Stomps, BB 2009, 2666; Müller/Griebeler/Pfeil, BB 2009, 2658, 2662. 1961) So namentlich Pfeiffer, NJW 2012, 1169, 1170; Kästle, NZG 2014, 288, 295; krit. hierzu Saenger/Saenger, ZPO, § 1051 Rn. 4. 1962) Musielak/Voit/Voit, ZPO, § 1051 Rn. 2; Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, Kap. 55 Rn. 6.

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Partei aber letztlich nicht (mehr) gewolltes ADR-Verfahren häufig nur zusätzliche Kosten und Zeitverlust. III. Konstituierung des Schiedsgerichts 1079 Die Herangehensweise bei der Auswahl von Schiedsrichtern sollte auch bei Post-M&A-Schiedsverfahren dem allgemein zu empfehlenden Prozedere (vgl. Kapitel 1 F Rn. 591 ff.) folgen, d. h. im ersten Schritt sollte ein Anforderungsprofil erstellt, dann eine überschaubare Liste in Frage kommender Kandidaten, ggf. mit Priorisierung zusammengestellt und schließlich der oder die Wunschkandidaten auf seine/ihre Verfügbarkeit hin angesprochen werden. 1080 Das zu erstellende Anforderungsprofil kann sich angesichts der thematischen Bandbreite möglicher Post-M&A-Streitigkeiten (vgl. Rn. 1066) von Fall zu Fall erheblich unterscheiden. Wichtig ist, die identifizierten Kriterien angemessen zu bewerten und zu gewichten. Insbesondere sollte Zurückhaltung bei der Definition von absoluten „K.O.-Kriterien“ geübt werden. Das Anforderungsprofil ist ein Gesamtpaket an Eigenschaften, von denen häufig die eine mehr und die andere weniger ausgeprägt sein kann („bewegliches System“), ohne dass ein Kandidat von vorneherein auszuschließen ist. 1081 In tatsächlicher Hinsicht kann der Streit eine gewisse Vertrautheit mit dem Geschäftsfeld oder der Branche der Zielgesellschaft und/oder der Parteien erfordern oder zumindest nützlich erscheinen lassen. Dies mag beispielsweise der Fall sein, wenn es um die rechtlichen Implikationen bestimmter Geschäftspraktiken geht. Vielfach ist aber Industrie- oder Branchenkenntnis gerade kein Muss. Die Streitparteien selbst neigen bisweilen dazu, die Bedeutung von Industrie- oder Branchenkenntnis zu überschätzen, so dass der juristische Berater hier ggf. korrigierend zur Seite stehen sollte. 1082 Ein gewisses betriebs- und finanzwirtschaftliches Verständnis dürfte demgegenüber in den meisten Fällen von erheblichem Nutzen sein, beispielsweise wenn es um die zutreffende Kaufpreisberechnung oder die Quantifizierung von Schäden aus Garantieverletzungen geht. Letzteres hat häufig durch eine Neubewertung des Zielunternehmens, beispielsweise unter Zugrundelegung der Ertragswert- oder Discounted Cash Flow-Methode zu geschehen. Obgleich hierfür in der Regel Sachverständigengutachten erstellt werden, sollte ein Schiedsrichter gleichwohl willens und in der Lage sein, solche Berechnungen und ihre Erläuterungen nachzuvollziehen und auf Plausibilität hin zu prüfen. 1083 In rechtlicher Hinsicht sollte ein Schiedsrichterkandidat sowohl mit dem Recht des Unternehmenskaufs und verwandter Materien als auch mit einschlägigen schiedsverfahrensrechtlichen Maßstäben vertraut sein. In vielen Fällen reicht zur Beurteilung des Falles – entgegen einem landläufigen Fehlurteil der Transaktionsbeteiligten und ihrer Transaktionsanwälte – die Lektüre des Unternehmenskaufvertrags und der darin enthaltenen Anspruchsgrundlagen gerade nicht aus. Zumeist werden sich zumindest Fragen der Vertragsauslegung stellen, bei denen es nicht nur auf den Wortlaut (Verbot der 388

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Buchstabeninterpretation, § 133 BGB), sondern auch die Umstände des Vertragsschlusses und die Interessenlage der Parteien ankommt (Gebot der beiderseits interessengerechten Auslegung).1963) Häufig kommen aber auch noch außerhalb des Vertragstextes liegende Anspruchsgrundlagen und Rechtsmaterien zur Anwendung, beispielsweise in Bezug auf vorvertragliche Informations- und Aufklärungspflichten, Kausalitätsmaßstäbe, Fragen der Wissenzurechnung und -zusammenrechnung sowie teils komplexe Probleme der Schadensberechnung. Ein gutes zivil-, insbesondere schuld- und schadensrechtliches Gesamtverständnis ist daher in der Regel sehr wichtig. Hinzu kommen möglicherweise Spezialrechtsmaterien, aus denen sich die 1084 geltend gemachten Garantieverstöße ableiten, wie beispielsweise gewerblicher Rechtsschutz, Arbeitsrecht, Steuerrecht u. v. a. m. Inwieweit ein Schiedsrichterkandidat mit solchen Materien vertraut sein soll, ist eine Frage des Einzelfalles. Soweit sich eine Post-M&A-Streitigkeit beispielsweise ausschließlich um die Verletzung einer Steuerfreistellung oder einer IP-Garantie dreht, mag es naheliegen, einen Kandidaten zu suchen, der einschlägige steuer- bzw. IPrechtliche Vorkenntnisse hat. Anders wird es sein, wenn ein größerer Strauß von Garantiebestimmungen im Raum steht; denn dann würde es den Kandidatenkreis zu sehr einengen (oder ggf. auf Null reduzieren), wollte man spezifische Vorkenntnisse in allen berührten Rechtsmaterien erwarten. In prozessrechtlicher Hinsicht sollte auch ein parteibenannter Schiedsrichter 1085 mit den Regeln der gewählten Verfahrensordnung und mit internationalen schiedsverfahrensrechtlichen Gepflogenheiten, beispielsweise im Rahmen der Beweiserhebung (kontinentaler vs. anglo-amerikanischer Stil, IBA Rules of Evidence etc.) vertraut sein. Die vorstehend erörterten Anforderungen an die üblicherweise zu wün- 1086 schenden materiell- und prozessrechtlichen Kenntnisse und Fähigkeiten eines Schiedsrichterkandidaten sprechen häufig gegen die Wahl eines Nicht-Juristen (vgl. bereits Kapitel 1 F Rn. 594). Nicht zwingend erforderlich ist in der Regel, dass der Schiedsrichterkandidat 1087 selbst bereits mit der Verhandlung und Durchführung von Unternehmenskäufen – etwa als Transaktionsanwalt – vertraut ist. Zwar gibt es eine Reihe sehr fähiger Schiedsrichterkandidaten, die ehedem selbst in der M&A-Praxis tätig waren, und solche Kandidaten können häufig eine wesentliche Perspektive beispielsweise zu Fragen der Vertragsverhandlung und -auslegung beisteuern. Ein zwingendes Kriterium ist dies aber zumeist nicht, zumal es eine Reihe von Fällen gibt, bei denen die tatsächlichen und rechtlichen Schwerpunkte gerade nicht auf Themen liegen mögen, die Transaktionserfahrung voraussetzen würden. ___________ 1963) BGH NJW-RR 1992, 1386; BGH NJW 1994, 2228; BGH NJW 2000, 2508; BGH NJW 2002, 747; BGH NJW-RR 2007, 1309; Palandt/Ellenberger, BGB, § 133 Rn. 18.

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1088 Schließlich sollte hinreichendes Augenmerk auf Punkte gelegt werden, die zwar als Selbstverständlichkeit erscheinen mögen, in der Praxis aber durchaus zu Schwierigkeiten führen können. Dies gilt naheliegender Weise für die Verfahrenssprache; dieser sollte ein Kandidat unbedingt hinreichend mächtig sein, um sich in Beratungen des Schiedsgerichts, in mündlichen Verhandlungen, bei Beweisaufnahmen (Befragung von Zeugen und Sachverständigen), aber auch ggf. bei der Abfassung des Schiedsspruchs hinreichend artikulieren zu können. 1089 Ferner gilt dies für die zeitliche Verfügbarkeit des Kandidaten. Der beste Kandidat ist von geringem Nutzen, wenn er oder sie nicht über genügend Zeit verfügt, um die Verfahrensakte selbst gründlich zu lesen und den Fall zu analysieren, oder wenn zeitnahe Terminierungen an einem überfüllten Terminkalender scheitern. Gerade für parteibenannte Schiedsrichter ist es besonders wichtig, dass sie das Gebot höchstpersönlicher Amtsausübung sehr ernst nehmen. Andernfalls können sie der üblicherweise bestehenden Erwartungshaltung, den Positionen, die die sie benennende Partei vorbringt, im Schiedsgericht Gehör zu verschaffen, von vorneherein nicht nachkommen. Diese Erwartungshaltung ist legitim; sie hat als solche nichts mit fehlender Neutralität zu tun.1964) Abzuraten ist demgegenüber von der Benennung eines Kandidaten, der bekanntermaßen einen Hang zur eher parteilichen Amtsführung hat. Das Risiko, dass sich der Kandidat mit einer solchen Haltung im Schiedsgericht selbst isoliert und daher bei der verbleibenden Mehrheit aus Obmann und von der Gegenseite benanntem Schiedsrichter kein Gehör mehr findet, ist groß.1965) 1090 Fällt die Wahl – was meist sinnvoll ist – auf einen Juristen, kommen verschiedene juristische Berufsgruppen in Betracht, vom Profi-Schiedsrichter bis hin zu Gelegenheits-Schiedsrichtern mit unterschiedlichsten Hauptberufen, seien es Rechtsanwälte, Hochschullehrer, amtierende oder pensionierte Richter oder Notare. Eine generelle Präferenz oder Hintanstellung einer bestimmten Berufsgruppe ist bei Post-M&A-Fällen – wie auch sonst – nicht angebracht, wenngleich in der Praxis Rechtsanwälte und Hochschullehrer besonders häufig als Schiedsrichter für Post-M&A-Fälle benannt werden.1966) 1091 Es mag beispielsweise sein, dass der Gelegenheits-Schiedsrichter, der ansonsten im M&A-Transaktionsgeschäft tätig ist, die identifizierten Anforderungen am besten erfüllt. Das kann etwa dann der Fall sein, wenn es um die Auslegung und Anwendung komplexer Vertragsbestimmungen geht, die für Unternehmenskäufe typisch sind (beispielsweise Kaufpreisanpassungsmechanismen oder umfangreiche Steuerfreistellungsklauseln). Umgekehrt mag die ___________ 1964) Mankowski, SchiedsVZ 2004, 304, 309; Stein/Jonas/Schlosser, ZPO, § 1036 Rn. 27; Elsing, SchiedsVZ 2019, 16, 18 f. 1965) Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 125; Kreindler/Schäfer/Wolff, Schiedsgerichtsbarkeit, Rn. 509; Elsing, SchiedsVZ 2019, 16, 19 f. 1966) Sachs, SchiedsVZ 2004, 123, 125.

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Wahl möglicherweise eher auf einen Hochschullehrer fallen, wenn der Fall seinen Schwerpunkt voraussichtlich gerade nicht auf vertraglichen Bestimmungen, sondern den gesetzlichen Regeln haben wird (Mängelgewährleistung, culpa in contrahendo, Wissenszurechnung etc.). Ein aktiver oder pensionierter Richter kann sich beispielsweise besonders als Obmann eignen, wenn die Parteien übereinstimmend eine Herangehensweise wünschen, die dem Verfahren vor den deutschen staatlichen Gerichten angenähert ist (Relationstechnik, zurückhaltende Vorlagepraxis bei Urkunden). Komplexe internationale Fälle können dagegen bei einem Schiedsprofi als Obmann besonders gut aufgehoben sein, der auch über die entsprechende administrative Unterstützung und Logistik verfügt, um einen großen Fall effektiv voranzutreiben und zum Abschluss zu bringen. IV. Durchführung des Schiedsverfahrens Nach einigen grundlegenden Überlegungen, insbesondere zu Strukturierungs- 1092 fragen (nachfolgend 1., Rn. 1093 ff.) beschäftigt sich dieser Abschnitt mit den Schriftsätzen der Parteien (nachfolgend 2., Rn. 1099 ff.), Beweismitteln in Post-M&A-Schiedsverfahren (nachfolgend 3., Rn. 1102 ff.) und der Durchführung der mündlichen Verhandlung (nachfolgend 4., Rn. 1120 ff.). 1. Grundlagen Soweit keine zwingenden Vorschriften des Zehnten Buchs der ZPO ein- 1093 schlägig sind und die Parteien keine Verfahrensvereinbarungen getroffen haben, liegt die Durchführung des Schiedsverfahrens im Verfahrensermessen des Schiedsgerichts (§ 1042 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Zwingende Vorschriften über die Durchführung des schiedsrichterlichen Verfahrens enthält die ZPO allenfalls am Rande (beispielsweise §§ 1042, 1048 ZPO). In der Phase bis zur Konstituierung des Schiedsgerichts sind auch diesbezügliche Verfahrensvereinbarungen der Parteien in der Praxis eher die Ausnahme. Dem Schiedsgericht stehen daher bei der Gestaltung von Post-M&A-Schieds- 1094 verfahren in der Praxis erhebliche Freiräume offen. Es kann einen Verfahrensstil wählen, der dem deutschen staatlichen Gerichtsverfahren angenähert ist. Genauso gut kann es das Verfahren nach Art eines anglo-amerikanischen Prozesses gestalten, oder Mischformen und Mittelwege anwenden. Mit Schiedsverfahren weniger vertraute Parteien und ihre Vertreter sind insoweit gerade bei Post-M&A-Schiedsverfahren, die häufig internationale Bezüge aufweisen, nicht selten überrascht. Gleichwohl gibt es bei Fehlen einer entsprechenden Vereinbarung keinerlei Anspruch auf eine bestimmte Art und Weise der Verfahrensgestaltung, und dahingehende Wünsche oder Verlangen einer Partei sollten sorgsam erwogen werden, um das Schiedsgericht nicht unnötig zu befremden oder gar zu verärgern. Soweit die Parteien keine Verfahrensvereinbarung getroffen haben, können 1095 aus Sicht des Schiedsgerichts bei der Wahl des Verfahrensstils verschiedene

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Überlegungen eine Rolle spielen. So kann für das Schiedsgericht beispielsweise die Herkunft der Kaufvertragsparteien, der Zielgesellschaft und weiterer Beteiligter, sowie deren Verwurzelung in der einen oder anderen Rechts- und Prozesstradition eine Rolle spielen. Streiten zwei rein deutsche Parteien über den Verkauf einer deutschen Zielgesellschaft nach deutschem materiellen Recht, liegt es sicherlich ferner, einen internationalen oder anglo-amerikanischen Verfahrensstil zu wählen, als wenn die Parteien unterschiedlichen Rechtskreisen entstammen oder gar beide der anglo-amerikanischen Prozesstradition nahestehen. Umgekehrt mag es ebenso wenig naheliegen, bei ausschließlich ausländischen Kaufvertragsparteien genuin deutsche ZPO-Verfahrenstechniken wie beispielsweise die Relationstechnik, hohe Substantiierungsanforderungen oder die Grundsätze der sekundären Darlegungs- und Beweislast übermäßig zu strapazieren. 1096 Ein wesentlicher Treiber bei der Wahl des Verfahrensstils ist in der Praxis der Erfahrungshintergrund der Schiedsrichter selbst, namentlich des Vorsitzenden. Schiedsrichter, die häufiger als Vorsitzende agieren, entwickeln häufig über die Jahre eine gewisse Vorstellung davon, wie ein Schiedsverfahren üblicherweise abzulaufen hat. Diese Grundvorstellungen äußern sich oftmals in dem Entwurf des Vorsitzenden zur ersten prozessleitenden Verfügung (Procedural Order No. 1 – PO 1), und für eine Partei ist es in der Regel schwierig, wesentliche Abweichungen davon durchzusetzen, es sei denn, dies geschähe im Einvernehmen mit der Gegenpartei. 1097 Abgesehen von grundsätzlichen Fragen des Verfahrensstils stellt sich üblicherweise die Frage nach der sinnvollen Abfolge der Verfahrensschritte. In Post-M&A-Verfahren ist es praktisch üblich, zumal wenn es sich um administrierte Verfahren handelt, dass eingangs des Verfahrens, in der Regel nach Konstituierung des Schiedsgerichts, ein Verfahrensplan aufgestellt wird, der auf einen Schiedsspruch hinführt. In ICC-Verfahren ist dies sogar verbindlich vorgeschrieben (procedural timetable, vgl. Art. 24.2 ICC-SchO). In geeigneten Fällen kann es sich ferner anbieten, das Verfahren in Phasen einzuteilen, beispielsweise zu Haftungsgrund (liability) und Haftungsumfang (quantum), ggf. ergänzt durch eine diesen beiden vorangestellte Phase zur Zuständigkeit des Schiedsgerichts (jurisdiction), falls diese streitig ist. 1098 Gerade in Post-M&A-Schiedsverfahren ist ein solcher Verfahrensplan zur effizienten Verfahrensstrukturierung häufig sinnvoll. So sind Fragen der Schadensberechnung bei Garantieverletzungen üblicherweise sehr komplex, insbesondere wenn für Zwecke der Schadensermittlung eine Neubewertung des Zielunternehmens erforderlich ist, die den Wert des Unternehmens im mangelhaften mit dem Wert im mangelfreien Zustand vergleicht. Solange noch nicht einmal feststeht, ob überhaupt eine Garantie verletzt worden ist, mag es weder für das Schiedsgericht noch für die Parteien lohnend erscheinen, sich hierzu mit komplexen Gutachten zur Unternehmensbewertung zu beschäftigen. Steht fest, welche Garantien verletzt wurden (und welche nicht), kann in der nächsten Phase eine fokussiertere Schadensbetrachtung erfolgen. 392

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2. Schriftsätze der Parteien Da die Parteien vorab üblicherweise keine Vereinbarungen zur Häufigkeit, 1099 Taktung, Länge und inhaltlichen Gestaltung von Schriftsätzen treffen und das deutsche Schiedsverfahrensrecht hierzu ebenfalls schweigt, liegen Vorgaben für die Schriftsatzgestaltung im Wesentlichen im Ermessen des Schiedsgerichts, das sich häufig in den Bestimmungen der ersten prozessleitenden Verfügung (PO 1) konkretisiert. Anzahl und Detailtiefe der vorbereitenden Schriftsätze hängen von den Umständen des Einzelfalls ab, insbesondere von der Komplexität der Thematik und von der Herangehensweise der Parteien bei den verfahrenseinleitenden Schriftsätzen. Reicht der Schiedskläger eine Schiedsklage ein, die den Substantiierungsan- 1100 forderungen des deutschen staatlichen Gerichtsverfahrens nachgebildet ist, und gestaltet der Schiedsbeklagte seine Schiedsklageerwiderung entsprechend, kann es sich in einfacher gelagerten Fällen anbieten, auf weitere vorbereitende Schriftsätze zu verzichten und stattdessen frühzeitig eine erste mündliche Verhandlung durchzuführen. Sind die einleitenden Schriftsätze dagegen – wie international üblich – eher substantiierungsarm, wird das Schiedsgericht jedenfalls eine detaillierte Schiedsklagebegründung und -beantwortung verfügen. Je nach Komplexität der Materie mag eine weitere Schriftsatzrunde sinnvoll sein (Replik und Duplik). Hinzu kommen mögliche Widerklageanträge der Schiedsbeklagten und die entsprechende schriftsätzliche Reaktion des Schiedsklägers hierauf. Welche Herangehensweise der Schiedskläger bei der Detaillierung der Schieds- 1101 klage wählt, sollte wiederum von seinen taktischen und strategischen Erwägungen abhängen (und nicht nur von der Prozessrechtstradition, der sein Verfahrensbevollmächtigter entstammt). Ist der Sachverhalt weitgehend ausermittelt, steht die Fallstrategie fest und möchte der Schiedskläger den Gegner durch eine besonders gut vorbereitete und vertieft ausgearbeitete Schiedsklage beeindrucken, kann sich ein Herangehen anbieten, wie es im staatlichen Zivilverfahren vorgeschrieben ist. Häufig ist es allerdings in PostM&A-Schiedsverfahren so, dass der Sachverhalt bei Ablauf der üblicherweise kurzen vertraglichen Gewährleistungsfristen (häufig lediglich 12 – 18 Monate) noch nicht vollständig ausermittelt ist und/oder sich die Schadenshöhe noch in Entwicklung befindet. In solchen Fällen mag es ratsamer sein, eine allgemeine, mehr im Stil anglo-amerikanischer notice-pleadings gefasste Schiedsklage einzureichen und sich noch nicht auf sämtliche tatsächlichen und rechtlichen Details festzulegen, um größeren Spielraum für künftige Sachverhaltsentwicklungen zu haben, ohne sich die Blöße geben zu müssen, seine Anspruchsbegründung ständig zu ändern. 3. Beweismittel in Post-M&A-Schiedsverfahren Wie in den meisten Schiedsverfahren spielen die einer Partei zu Gebote ste- 1102 henden Beweismittel auch in Post-M&A-Schiedsverfahren bei der Verfah-

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rensgestaltung durch die Parteien und bei der Entscheidung durch das Schiedsgericht eine herausragende Rolle. Jedenfalls bei der aus Sicht der Parteien gebotenen ex ante-Betrachtung wird es kaum einen Fall geben, der sich ausschließlich um Rechtsfragen dreht, oder bei dem sämtliche Sachverhaltsfragen unstreitig sind. 1103 Das Schiedsgericht ist nicht auf den Kanon der Strengbeweismittel beschränkt, der die Beweisaufnahme vor den staatlichen Gerichten prägt. § 1042 Abs. 4 Satz 2 ZPO erstreckt das Verfahrensermessen des Schiedsgerichts ausdrücklich auf die Zulässigkeit der Beweiserhebung, deren Durchführung und die Beweiswürdigung. In der Praxis spielen in Post-M&A-Schiedsverfahren v. a. drei Kategorien von Beweismitteln eine tragende Rolle, nämlich Dokumente (dazu a), Rn. 1104 ff.), Zeugen (dazu b), Rn. 1110 ff.) und Sachverständige (dazu c), Rn. 1115 ff.). Weitere mögliche Beweismittel wie Inaugenscheinnahmen und amtliche Auskünfte sind ebenfalls denkbar, kommen bei Post-M&A-Verfahren praktisch allerdings selten vor. Die nachfolgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die Besonderheiten der jeweiligen Beweismittel in Post-M&A-Schiedsverfahren und erheben nicht den Anspruch, diese Beweismittel für Zwecke des Schiedsverfahrens erschöpfend zu erörtern. a) Dokumente 1104 Dokumente sind in Post-M&A-Schiedsverfahren üblicherweise ein Kernbestandteil der Beweisführung beider Parteien. Dies beginnt bereits mit dem Unternehmenskaufvertrag und dessen Auslegung. Zu beweisrechtlich relevanten Dokumenten gehören nicht nur Urkunden im herkömmlichen Sinn verkörperter Gedankenerklärungen, sondern schriftliche Äußerungen jedweder Art und Form, einschließlich elektronischer Dokumente, wie beispielsweise E-Mails, Excel-Listen und Powerpoint-Präsentationen. 1105 Gerade die E-Mail-Korrespondenz ist zu einem nicht mehr hinweg zu denkenden Wesensmerkmal des modernen Geschäftsverkehrs geworden und spielt daher auch bei streitigen Auseinandersetzungen über Unternehmenskäufe eine tragende Rolle. Häufig ergeben sich beispielsweise aus der E-MailKorrespondenz innerhalb der Zielgesellschaft mögliche Hinweise auf Garantieverletzungen oder aufklärungsbedürftige Umstände. Der E-Mail-Verkehr zwischen Veräußerer und Erwerber kann Aufschluss über das Verständnis der Parteien zu einschlägigen Vertragsbestimmungen geben. 1106 Zugang zu Dokumenten ist daher für beide Parteien essentiell. Für den Erwerber ist dies regelmäßig vergleichsweise einfach zu bewerkstelligen, soweit es sich um in der Zielgesellschaft vorhandene Informationen handelt, da er die Kontrolle über das Zielunternehmen hat und sich daher im Regelfall unschwer Zugang zu den Informationen aus der Zielgesellschaft beschaffen kann, die für seine Verfahrensführung von Bedeutung sind. Der Veräußerer ist demgegenüber nach Vollzug des Unternehmenskaufvertrages regelmäßig von Informationen in der Zielgesellschaft abgeschnitten. Darüber hinaus ist

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es für beide Parteien häufig von Interesse, Zugang zu Dokumenten aus der Sphäre des jeweils anderen zu erlangen. Der Erwerber mag in der Pflicht sein, ein wie auch immer geartetes Wissen, Kennenmüssen oder Vertretenmüssen des Veräußerers hinsichtlich garantie- oder aufklärungsrelevanter Umstände zu begründen. Umgekehrt kann die Kenntnis bzw. das Kennenmüssen des Erwerbers von solchen Umständen Ansprüche mindern oder ausschließen. Aus diesen Gründen stellt sich in Post-M&A-Schiedsverfahren regelmäßig die 1107 Frage nach der Offenlegung von Dokumenten durch die nicht beweisbelastete Partei (disclosure).1967) Welche Herangehensweise das Schiedsgericht hierbei wählt, steht in Ermangelung einer Parteivereinbarung in seinem Ermessen. Es kann sich dabei von den Grundsätzen des staatlichen Gerichtsverfahrens leiten lassen (insbesondere § 142 ZPO), namentlich wenn das Schiedsverfahren insgesamt stilistisch dem deutschen staatlichen Gerichtsverfahren angenähert ist. Das Schiedsgericht kann insoweit aber auch die deutlich großzügigere Herangehensweise des anglo-amerikanischen Rechtskreises anwenden, die im Wesentlichen darauf abstellt, ob ein herausverlangtes Dokument vernünftigerweise zu zulässigen Beweisen führen kann (Ausforschung). Eine Kompromisslösung, der Schiedsgerichte bei Post-M&A-Schiedsverfahren 1108 mittlerweile häufig folgen, stellen die IBA Rules on the Taking of Evidence in International Arbitration (i. d. F. v. 2010) dar („IBA Rules“). Diese gestatten in ihrem Art. 3 dokumentenbezogene Herausgabeverlangen der Parteien gegen die jeweils andere Partei, setzen aber u. a. voraus, dass herausverlangte Dokumente möglichst konkret bezeichnet werden (Art. 3.3(a)) und entscheidungserheblich sein müssen (Art. 3.3(b) – „relevant to the case and material to its outcome“). Einen alternativen Rsegelungskatalog bieten die 2018 neu ins Leben gerufenen Rules on the Efficient Conduct of Proceedings in International Arbitration („Prague Rules“). Bezüglich der Herausgabe von Dokumenten stellen aber auch diese in Art. 4 primär auf die Entscheidungserheblichkeit der angeforderten Dokumente ab. In der Praxis geben Schiedsgerichte hierfür auch in Post-M&A-Schiedsverfahren häufig die Verwendung tabellarischer Aufstellungen und standardisierten Einwendungen gegen Herausgabeverlangen auf, wie beispielsweise den nach seinem „Erfinder“ benannten Redfern-Schedule. Auch hier gelten die Ausführungen aus Kapitel 1 F zur Beweiswürdigung von 1109 Dokumenten (dort Rn. 607 f.), beispielsweise bei der Würdigung von E-MailVerkehr in der Zielgesellschaft oder der Vertragsparteien, oder bei der Würdigung von Präsentationen im Rahmen des Verkaufsprozesses. b) Zeugen Der Zeugenbeweis spielt in Post-M&A-Schiedsverfahren praktisch eine große 1110 Rolle, gerade wenn es darum geht, ein komplexes Geschehen im Zusammen___________ 1967) Fletcher, ASA Special Series No. 24, 2005, 247, 253 ff.

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hang zu schildern oder Dokumente in den richten Kontext zu setzen. Die im staatlichen Verfahren wesentliche Unterscheidung zwischen Zeugen- und Parteivernehmung ist im Zehnten Buch der ZPO nicht angelegt und spielt auch in der Praxis normalerweise keine Rolle (vgl. Kapitel 1 F Rn. 609). 1111 In Post-M&A-Schiedsverfahren werden Zeugen häufig einer der Parteien nahe stehen, und zwar üblicherweise der benennenden Partei. Der Erwerber wird sich zur Begründung etwaiger Mängel oder Garantieverletzungen häufig auf Manager und Mitarbeiter der Zielgesellschaft berufen, die sich seit Vollzug des Kaufvertrages in der Kontrolle des Erwerbers befindet. Soweit es um Vertretenmüssen oder gar Vorsatz des Veräußerers geht, kommt es vielfach auf dessen Management bzw. Mitarbeiter an. 1112 Hinzu kommt, dass es in Schiedsverfahren üblich ist, Zeugen auf ihre Aussage vor dem Schiedsgericht vorzubereiten, beispielsweise durch Erläuterung der Bedeutung einer Aussage vor dem Schiedsgericht, Bekanntgabe möglicher Beweisthemen, Besprechung von Antworten auf mögliche Fragen oder simulierte Vernehmungssituationen (mock trials, vgl. zum Ganzen Kapitel 1 F Rn. 613). Solange dabei keinerlei Einfluss auf den Zeugen ausgeübt wird, unwahre Aussagen zu tätigen, sind Vorbereitungsmaßnahmen dieser Art ohne weiteres zulässig und vielfach zweckmäßig oder gar erforderlich, um den Zeugen zu einer Aussage zu bewegen, zumal das Erscheinen vor dem Schiedsgericht freiwillig ist (vgl. Kapitel 1 F Rn. 610). 1113 Die Nähe zu einer Partei oder die Vorbereitung auf die Zeugenaussage begründen daher in keiner Weise die Unzulässigkeit des Zeugenbeweises. Diese Umstände sind allerdings bei der Würdigung von Zeugenaussagen zu berücksichtigen. Ggf. kann es sich aus Sicht des Schiedsgerichts auch anbieten, insoweit etwas härtere Kreuzverhöre zuzulassen, als dies vor deutschen staatlichen Gerichten die Regel ist, wenngleich Schiedsgerichte üblicherweise Kreuzverhöre US-amerikanischen Zuschnitts wenig goutieren bzw. von vorneherein nicht zulassen. Nicht praxisgerecht wäre es dagegen, wollte ein Schiedsgericht einer Zeugenaussage allein deshalb jeden Beweiswert absprechen, weil der Zeuge einer Partei nahe steht oder eine Vorbereitung des Zeugen auf seine Aussage im vorstehend beschriebenen Sinn stattgefunden hat. 1114 Praxistaugliche und in Post-M&A-Schiedsverfahren häufig angewandte Konzepte für Fragen des Zeugenbeweises enthält Art. 4 IBA Rules, der die Zulässigkeit von Vorbereitungsmaßnahmen ausdrücklich bejaht (Art. 4.3 IBA Rules) und im Übrigen stark auf die international weit verbreitete Praxis von vorbereitenden schriftlichen Zeugenaussagen (written witness statements) abstellt (Art. 4.4 – 4.8 IBA Rules). c) Sachverständige 1115 Der Sachverständigenbeweis ist das einzige Beweismittel, das im Zehnten Buch der ZPO mit einer eigenen Vorschrift ausdrücklich geregelt wird (§ 1049 ZPO). Die ZPO bleibt insoweit dem Leitbild des schiedsgerichtlich bestellten 396

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Sachverständigen verhaftet und erwähnt von den Parteien beauftragte Sachverständige lediglich beiläufig (§ 1049 Abs. 2 Satz 2 ZPO). In der Praxis von Post-M&A-Schiedsverfahren spielen Sachverständige häufig eine tragende Rolle, und zwar sowohl Parteigutachter als auch schiedsgerichtlich bestellte Gutachter. Kaum eine Partei wird es bei einem bedeutsamen Streit aus einem Unter- 1116 nehmenskauf darauf ankommen lassen, was ein schiedsgerichtlich bestellter Sachverständiger zu der maßgeblichen Fragestellung – ob beispielsweise eine Garantie verletzt oder wie hoch der daraus folgende Schaden anzusetzen ist – zu einem häufig nicht näher prognostizierbaren Zeitpunkt im Lauf des Verfahrens feststellen wird. Stattdessen stellt die Vorbereitung der Anspruchsbegründung bzw. -erwiderung mithilfe professionellen externen Sachverstandes häufig einen zentralen Arbeitsstrang aus Sicht der Parteien und ihrer Bevollmächtigten dar.1968) Gerade bei der Frage der Schadensberechnung ist dies häufig nahezu alter- 1117 nativlos, zumal wenn der Schaden, wie dies die Rechtsprechung im Grundsatz fordert, durch eine Neubewertung des Unternehmens (Vergleich des Unternehmenswertes im mangelhaften und mangelfreien Zustand) zu berechnen ist.1969) Hierzu werden sich beide Parteien betriebswirtschaftlichen Sachverstandes bedienen, beispielsweise von Wirtschaftsprüfern oder sog. forensic accountants. Aber auch die Frage, ob eine Garantie verletzt ist, mag sachverständiger 1118 Würdigung bedürfen, beispielsweise wenn die Verletzung von Rechnungslegungsstandards im Rahmen einer Bilanzgarantie oder die Verletzung anwendbaren ausländischen Rechts im Zusammenhang mit einer Rechtstreuegarantie (Compliance) geltend gemacht wird. Soweit das Schiedsgericht einen eher internationalen Verfahrensstil pflegt, können selbst zu Fragen des anwendbaren deutschen Rechts Stellungnahmen von Sachverständigen erforderlich werden, beispielsweise zu Fragen des gewerblichen Rechtsschutzes oder des Steuerrechts. Art. 5 IBA Rules enthalten ausführliche Praxisempfehlungen für parteibe- 1119 nannte Sachverständige, Art. 6 IBA Rules behandeln den vom Schiedsgericht bestellten Sachverständigen. Auch diese Bestimmungen der IBA Rules haben mittlerweile in der Praxis von Post-M&A-Schiedsverfahren breite Akzeptanz gefunden. 4. Mündliche Verhandlung Obgleich § 1047 ZPO vom Grundsatz der fakultativen mündlichen Verhand- 1120 lung ausgeht, ist die Durchführung einer mündlichen Verhandlung in der Praxis ___________ 1968) Ähnlich Fletcher, ASA Special Series No. 24, 2005, 247, 249 ff. 1969) Vgl. OLG Köln ZIP 2009, 2063.

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von Post-M&A-Schiedsverfahren eindeutig die Regel. In Ermangelung näherer gesetzlicher Regelungen und soweit keine Verfahrensvereinbarung der Parteien vorliegt, liegen Fragen der Terminierung und Gestaltung mündlicher Verhandlungen im Verfahrensermessen des Schiedsgerichts (§ 1042 Abs. 4 Satz 1 ZPO). 1121 So kann das Schiedsgericht beispielsweise versuchen, den Fall im Rahmen eines umfassenden, ggf. auch mehrere Tage oder Wochen währenden Hauptverhandlungstermins zu erledigen. Alternativ kommen gestaffelte Verhandlungstermine mit thematischen Schwerpunkten in Betracht. Letzteres liegt besonders nahe, wenn das Schiedsgericht einen Phasenplan (z. B. mit den Phasen Zuständigkeit, Haftungsgrund, Haftungsumfang) verfolgt. Dann mag sich (mindestens) ein Verhandlungstermin pro Phase anbieten. 1122 Für die inhaltliche Gestaltung einzelner Verhandlungstermine hat das Schiedsgericht erneut Ermessen. Insoweit gelten in Bezug auf Post-M&A-Verfahren keine Besonderheiten. Das Schiedsgericht kann die Parteien bzw. ihre Vertreter beispielsweise auffordern, mündliche Plädoyers zum gesamten Fall oder einzelnen Aspekten des Falles zu halten, an die sich Fragen des Schiedsgerichts anschließen können. Das Schiedsgericht kann auch von sich aus Hinweise zum Sach- und Streitstand und zu etwaigen vorläufigen Ansichten, die sich das Schiedsgericht insoweit gebildet hat, geben. Zu berücksichtigen ist, dass die Hinweispflicht des § 139 ZPO im Schiedsverfahren nicht gilt.1970) In jedem Fall bietet es sich an, den Ablauf einer mündlichen Verhandlung durch eine vorab den Parteien rechtzeitig bekannt gegebene Agenda zu strukturieren. V. Schiedsspruch und andere Formen der Erledigung 1123 Hinsichtlich der Erledigung von Schiedsverfahren durch Schiedsspruch oder auf andere Art und Weise gelten bei Post-M&A-Schiedsverfahren die allgemeinen Grundsätze; insoweit kann auf die Ausführungen in Kapitel 1 F (dort Rn. 616 ff.) verwiesen werden. Schiedsgerichte haben deutsches und europäisches Kartellrecht zu beachten und zu prüfen; verstoßen sie dagegen, kommt eine Aufhebung des Schiedsspruchs wegen Verstoßes gegen den ordre public in Betracht.1971) VI. Einstweiliger Rechtsschutz 1124 Fragen des einstweiligen Rechtsschutzes können sich bei Post-M&A-Schiedsverfahren in ähnlicher Weise stellen wie generell in Schiedsverfahren. Daher ist insoweit zunächst auf die in Kapitel 1 F (dort Rn. 625 ff.) ausgeführten allgemeinen Grundsätze zu verweisen, insbesondere die Parallelität von einst___________ 1970) Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 1300; Musielak/Voit/Voit, ZPO, § 1042 Rn. 13; OLG München SchiedsVZ 2011, 230, 232; a. A. Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, Kap. 15 Rn. 5. 1971) EuGH, Rs. C-126/97, Slg. I 1999, 3055 – Eco Swiss; BGH GRUR 1966, 576.

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weiligem Rechtsschutz vor den staatlichen Gerichten und vor dem Schiedsgericht (§§ 1033, 1041 ZPO). Vorläufige Anordnungen im Zusammenhang mit Post-M&A-Schiedsverfahren können sich beispielsweise beziehen auf die Verhinderung einer Anteilsübertragung, das Verbot von leakage Transaktionen zwischen Signing und Closing, die Einhaltung sonstiger Verpflichtungen (covenants) in diesem Zeitraum, den Zugriff auf Treuhandgelder, die Ziehung von Sicherheiten (Bürgschaft, Letter of Credit), Vertraulichkeitsverletzungen, die Leistung einer Kostensicherheit (allerdings in der Praxis nur in Ausnahmefällen und unter besonderen Voraussetzungen) oder die Sicherung von Beweismitteln.1972) VII. Sonderkonstellationen Praktisch immer wieder vorkommende Sonderkonstellationen im Zusam- 1125 menhang mit M&A-Schiedsverfahren sind Überlegungen zu sog. fast-trackVerfahren, namentlich bei Streitigkeiten über Material Adverse Change-Klauseln (sog. MAC-Klauseln, nachfolgend 1., Rn. 1126 ff.), und der Umgang mit Compliance-Problemen, beispielsweise Korruptionsvorfällen in der Zielgesellschaft (nachfolgend 2., Rn. 1132 ff.). Hinsichtlich der Beteiligung Dritter und der Führung mehrerer paralleler Verfahren gelten die in Kapitel 1 F (dort Rn. 629 ff. und Rn. 632 ff.) ausgeführten Grundsätze entsprechend. 1. Fast-track-Verfahren, insbesondere bei MAC-Streitigkeiten a) Problemstellung Ein besonderes Gestaltungsinstrument, das in den letzten Jahren in Unter- 1126 nehmenskaufverträgen zunehmend Verbreitung gefunden hat, sind sog. Material Adverse Change-Klauseln (abgekürzt MAC-Klauseln).1973) MACKlauseln, die ein Tansplantat aus der US-amerikanischen Vertragsgestaltungspraxis darstellen, gestatten dem Käufer typischerweise die Lösung vom Unternehmenskaufvertrag, wenn sich zwischen Vertragsschluss und geplantem Vollzug gravierende, vertraglich ggf. qualitativ und/oder quantitativ näher umschriebene Veränderungen ergeben, die dem Käufer ein Festhalten am Vertrag unzumutbar erscheinen lassen. In der Sache weisen MAC-Klauseln daher eine gewisse Nähe zu den Grundsätzen des deutschen Rechts über die Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) auf, wobei allerdings zwei wesentliche Unterschiede zu beachten sind. Zum einen kann die Aufgreifschwelle für einen MAC anders bzw. geringer sein als für eine Grundlagenstörung. Zum anderen ist die Rechtsfolge der Grundlagenstörung primär ___________ 1972) von Segesser, ASA Special Series No. 24, 2005, 17, 40 ff.; Fletcher, ASA Special Series No. 24, 2005, 247, 261 ff. 1973) Formulierungsbeispiele bei Münchener Vertragshandbuch Bd. 4/Rieder, S. 358 ff.; Zimmer/ Henle, in: Jaletzke/Henle, S. 75 f., 86 ff.; Kästle/Oberbracht, Unternehmenskauf – Share Purchase Agreement, S. 124.

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Vertragsanpassung und lediglich als ultima ratio die Vertragsaufhebung, während bei MAC-Klauseln typischerweise letzteres der Fall ist. 1127 Entsteht zwischen den Parteien Streit über die Frage, ob ein MAC vorliegt, tritt die missliche Situation ein, dass sich der Vollzug des Unternehmenskaufvertrages auf längere, ggf. nicht näher absehbare Zeit verzögern kann. Ein reguläres Schiedsverfahren über das Vorliegen eines MAC kann erhebliche Zeit in Anspruch nehmen, zumal wenn die den behaupteten MAC begründenden Umstände komplexer Natur sind oder der sachverständigen Begutachtung bedürfen. Ein langer Schwebezustand zur Frage der Vollzugspflicht ist häufig allseitig unerwünscht. Der Verkäufer möchte den Verkauf vollziehen. Der Käufer dürfte regelmäßig – nicht zuletzt mit Blick auf eine etwaige Fremdfinanzierung – ebenfalls ein Interesse an einer raschen Klärung der Frage haben, ob er nun zur Abnahme des Unternehmens verpflichtet ist oder nicht. Schließlich kann ein längerer Schwebezustand zu der Frage, wer nun eigentlich langfristig Eigentümer des Unternehmens ist, für die Zielgesellschaft, ihre Mitarbeiter, Kunden und weitere Stakeholder außerordentlich belastend sein. b) Gestaltungsmöglichkeiten 1128 Vor diesem Hintergrund gibt es seit Längerem Überlegungen, Streitigkeiten über das Vorliegen eines MAC einem isolierten, besonders zügig durchzuführenden Schiedsverfahrensregime zu unterwerfen (sog. fast-track arbitration).1974) Erforderlich hierfür ist entweder die Bezugnahme auf ein beschleunigtes Verfahren, wie es in einigen Schiedsordnungen angeboten wird,1975) oder aber eine zusätzliche Schiedsvereinbarung, die ausschließlich für das MACVerfahren gilt und spezifische Gestaltungselemente aufzuweisen hat. Empfohlen wird beispielsweise, das Schiedsgericht bereits bei Vertragsschluss als stand-by Spruchkörper zu installieren, damit im Fall eines Streits keine Zeit für die Konstituierung des Schiedsgerichts verloren geht.1976) Im Interesse weiterer Zeitersparnis wird ferner dazu geraten, ein Ad-hoc-Schiedsverfahren, beispielsweise unter Zugrundelegung der UNCITRAL-Regeln, zu vereinbaren, wenn man nicht auf Regeln über das beschleunigte Verfahren einer Schiedsordnung zurückgreift.1977) 1129 Entscheidend für die Abkürzung und Verdichtung des Verfahrens sind nach wenigen Wochen bemessene, kurze Fristen für die Schiedsklageerhebung, Klageerwiderung, ggf. weitere Schriftsätze, die Durchführung der mündlichen Verhandlung einschließlich Beweisaufnahme und die Absetzung des Schieds___________ 1974) Exemplarisch Borris, BB 2008, 294 ff.; ferner Berger, SchiedsVZ 2008, 105, 110; Broichmann, in: Festschrift Pöllath+Partners, S. 115 ff.; von Segesser, ASA Special Series No. 24, 2005, 17, 38 ff.; Wächter, M&A-Litigation, Rn. 318. 1975) Siehe beispielsweise Art. 28 Swiss Rules; Art. 30 und Anlage VI ICC-SchO; Art. 1.4 und Anlage 4 DIS-SchO. 1976) Borris, BB 2008, 294, 296. 1977) Borris, BB 2008, 294, 296.

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spruchs.1978) Auch eine Konzentration und ggf. Reduzierung der zulässigen Beweismittel ist zu erwägen, wie beispielsweise der weitgehende Verzicht auf document disclosure oder Sachverständigengutachten.1979) Bei idealtypischer Betrachtung können auf diese Weise Verfahrensdauern 1130 von nicht mehr als drei Monaten erzielt werden.1980) Zu beachten ist allerdings, dass stets unvorhergesehene Umstände eine gewisse Verlängerung des Zeitplans erzwingen können (beispielsweise aufgrund Ablehnung eines Schiedsrichters). Die fast-track-Schiedsklausel sollte daher tunlichst nicht so formuliert sein, dass ihre Gültigkeit in Frage steht, wenn die vorgesehene Gesamtverfahrensdauer überschritten wird;1981) denn dies kann zu gerade nicht erwünschten langanhaltenden weiteren Streitigkeiten darüber führen, ob das Schiedsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt wurde und ein etwaiger Schiedsspruch verbindlich ist oder nicht (vgl. § 1059 Abs. 2 Nr. 1c ZPO). Es versteht sich von selbst, dass die notwendige starke Verfahrenskonzentra- 1131 tion und -verkürzung zu einer Beschränkung von Angriffs- und Verteidigungsmitteln einer (oder aller) Parteien führen können. Rechtliches Gehör einerseits und Effizienz des Verfahrens andererseits müssen daher im Vorfeld sorgfältig gegeneinander abgewogen werden. 2. Compliance, insbesondere Korruption im Zielunternehmen a) Problemstellung Eine in den letzten Jahren zunehmend ernster werdende Problematik betrifft 1132 die Feststellung von Compliance-Verstößen und Compliance-Verdachtsfällen im Zielunternehmen zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Transaktionsverlauf. Praktisch häufig sind Korruptionsfälle, also Situationen, in denen der Verdacht besteht (oder gar der Nachweis erbracht ist), dass das Zielunternehmen den Absatz seiner Produkte durch korrupte Geschäftspraktiken fördert (beispielsweise durch Einschaltung dubioser Berater), oder aber dass sich Angehörige des Zielunternehmens beim Bezug von Lieferungen und Leistungen bestechen lassen. Ein weiteres sensibles Feld betrifft Verstöße gegen das Kartellrecht, beispielsweise durch unzulässige Absprachen oder abgestimmtes Verhalten in Bezug auf die Preisbildung. Daneben gibt es eine Fülle weiterer Compliance-relevanter Felder, von Arbeits- und Produktsicherheit über Datenschutz bis hin zu Fragen der Steuerehrlichkeit und der Einhaltung von Umweltstandards, die in den letzten Jahren vermehrt nationale

___________ 1978) Borris, BB 2008, 294, 297. 1979) Borris, BB 2008, 294, 297. 1980) Borris, BB 2008, 294, 297. 1981) Borris, BB 2008, 294, 297.

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und internationale Aufmerksamkeit erlangt haben (u. a. die sogenannte „DieselThematik“).1982) 1133 Werden solche (Verdachts)Fälle im Zuge der Vertragsverhandlungen aufgedeckt, besteht die Möglichkeit zu vertraglicher Vorsorge, beispielsweise durch einen reduzierten Kaufpreis, durch Freistellungs- und Garantieerklärungen oder durch Abstandnahme vom Vertragsschluss. Zu Post-M&A-Schiedsverfahren kann es dagegen kommen, wenn Compliance-(Verdachts)Fälle nach Vollzug der Transaktion oder zwischen Vertragsschluss und Vollzug auftreten. In materiell-rechtlicher Hinsicht stellt sich in diesen Fällen die Frage, ob Garantiebestimmungen des Kaufvertrages einschlägig sind, ob der Käufer – ggf. über die ausdrücklichen vertraglichen Rechtsbehelfe hinaus – vom Vertrag zurücktreten bzw. dessen Rückabwicklung verlangen kann, ob ihm weitergehende Schadensersatzansprüche bis hin zu entgangenem Gewinn zustehen u. v. a. m.1983) 1134 Praktisch stellt sich häufig die Frage, ob nur der nachgewiesene ComplianceVerstoß Rechtsbehelfe begründet, oder ob dies auch bereits bei Vorliegen eines konkreten, nicht kurzfristig auszuräumenden Verdachts der Fall sein kann („Verdacht als Mangel“), wofür gute Gründe sprechen.1984) b) Wirksamkeit der Schiedsvereinbarung und Zuständigkeit des Schiedsgerichts 1135 Compliance-(Verdachts)Fälle in Post-M&A-Schiedsverfahren geben darüber hinaus zu einer Reihe von prozessualen Fragestellungen Anlass. So stellt sich beispielsweise die Frage, ob sich Korruptions- und ähnliche Straftaten im Zielunternehmen auf die Wirksamkeit der Schiedsvereinbarung im Unternehmenskaufvertrag auswirken. Dies ist im Regelfall zu verneinen. Die Schiedsvereinbarung ist ohnehin vom Hauptvertrag getrennt zu betrachten (§ 1040 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Hinzu kommt, dass Hauptvertrag der Unternehmenskauf ist, und nicht etwa der einzelne durch Korruption o. Ä. induzierte Geschäftsabschluss innerhalb des Zielunternehmens. 1136 Etwas anderes kann gelten, wenn das Schiedsverfahren gezielt zur Verschleierung einer Straftat (wie beispielsweise Korruption) missbraucht wird, wenn also beispielsweise das Zielunternehmen lediglich zum Schein verkauft wird und durch das Schiedsverfahren eine Geldzahlung (z. B. Kaufpreis) legitimiert werden soll, die in der Sache eine Bestechungszahlung darstellt.1985) Dass solche Fälle selten sind, liegt auf der Hand. ___________ 1982) Zum Ganzen siehe die Standardwerke zu Rechtsfragen der Compliance, etwa Hauschka, Corporate Compliance; Inderst/Bannenberg/Poppe, Compliance; Klindt/Pelz/Theusinger, NJW 2010, 2385 ff.; Wiederholt/Walter, BB 2011, 968 ff. 1983) Louven/Mehrbrey, NZG 2014, 1321 ff. 1984) Rieder/Schönemann, NJW 2011, 1169, 1171; Faust, in: Festschrift Picker, S. 185, 196 ff.; krit. Grunewald, in: Festschrift Konzen, S. 131, 138. 1985) Vgl. hierzu allgemein Hilgard, BB 2015, 1091 ff.

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c) Anzeige und Amtsniederlegung? Ein weiterer praktisch relevanter Problemkreis betrifft die Frage, wie Schieds- 1137 richter mit dem Verdacht von Straftaten umgehen sollen, der ihnen im Lauf des Schiedsverfahrens bekannt wird. Nach zutreffender herrschender Meinung sind Schiedsrichter – anders als staatliche Gerichte – aufgrund der aus dem Schiedsrichtervertrag folgenden Verschwiegenheitsverpflichtung nicht befugt, den Verdacht von Straftaten (unterhalb der Schwelle von § 138 StGB) bei der Staatsanwaltschaft anzuzeigen.1986) Denkbar ist allerdings, dass einem Schiedsrichter im Einzelfall die Fortfüh- 1138 rung seines Amtes nicht zumutbar ist und daher ein wichtiger Grund zur Kündigung des Schiedsrichtervertrages vorliegt (§§ 314, 626 BGB).1987) Die Amtsniederlegung ist ohnehin jederzeit wirksam möglich,1988) wenngleich eine Niederlegung ohne wichtigen Grund missliche Folgen für die Vergütungsansprüche des Schiedsrichters bzw. etwaige diesbezügliche Rückerstattungspflichten bei bereits vereinnahmten Gebühren und Vorschüssen haben kann (Rechtsgedanke § 628 BGB).1989) Wann Unzumutbarkeit vorliegt, ist eine Frage des Einzelfalls. Nicht jeder 1139 Gesetzesverstoß im Zielunternehmen (oder gar der bloße Verdacht eines solchen) betrifft die Amtsführung des Schiedsrichters im Rahmen eines Schiedsverfahrens über den Unternehmenskaufvertrag. Im Gegenteil sind solche Verstöße häufig ausdrücklich Gegenstand vertraglicher Garantieerklärungen (z. B. Compliance-Garantie).1990) Über daraus folgende Ansprüche zu judizieren ist gerade der Kern des Auftrags an die Schiedsrichter. Anders mag es sein, wenn das Zielunternehmen ausschließlich oder vorwiegend unlauteren Zwecken dient (Briefkastenfirma, schwarze Kasse etc.). Nicht leicht zu beantworten ist die Frage, wie Schiedsrichter in solchen Fällen 1140 hinreichende tatsächliche Gewissheit erlangen können, ob ein Kündigungsgrund vorliegt, wenn die Fakten nicht evident „auf dem Tisch liegen.“ Auf Grundlage des im Schiedsverfahren geltenden beschränkten Untersuchungsgrundsatzes1991) wird man das Schiedsgericht für befugt halten dürfen, auch insoweit in gewissem Umfang Ermittlungen anzustellen.1992) Dabei ist zu beachten, dass für die Kündigung des Schiedsrichtervertrages, der ein Dauerschuldverhältnis ___________ 1986) Rieder/Schönemann, NJW 2011, 1169, 1174 m. w. N. 1987) Rieder/Schönemann, NJW 2011, 1169, 1170. 1988) Altenkirch, SchiedsVZ 2014, 113, 115; Rieder/Schönemann, NJW 2011, 1169, 1174. 1989) Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 4369; Altenkirch, SchiedsVZ 2014, 113, 116 ff. 1990) Formulierungsbeispiel bei Münchener Vertragshandbuch Bd. 4/Rieder, S. 373. 1991) MünchKomm-ZPO/Münch, § 1042 Rn. 108; Nedden/Herzberg/Stumpe/Haller, § 27 DIS-SchO Rn. 4 (seit 1.3.2018: Art. 28 DIS-SchO); Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 1281 ff.; Quinke, SchiedsVZ 2013, 129, 132. 1992) Saenger/Saenger, ZPO, § 1042 Rn. 16; Lachmann, Schiedsgerichtspraxis, Rn. 1281 ff.; Quinke, SchiedsVZ 2013, 129, 132.

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ist, kein Tatnachweis erforderlich ist, sondern der konkrete, nicht kurzfristig ausräumbare Verdacht ausreichen kann (Verdachtskündigung).1993) d) Beweis- und Verfahrensfragen 1141 Ferner stellt sich in Compliance-(Verdachts)Fällen die Frage nach Beweislast und Beweismaß. Erstere ist – jedenfalls nach deutschem Verständnis – eine materiell-rechtliche Frage; nach dem allgemeinen Günstigkeitsgrundsatz1994) trägt derjenige die Beweislast, der aus dem Vorliegen eines Compliance-(Verdachts-)Falls eine ihm günstige Rechtsfolge ableiten will. 1142 Da es sich häufig um Vorgänge aus der Sphäre des Beweisgegners handelt, kann die Anwendung der im deutschen staatlichen Gerichtsverfahren entwickelten Grundsätze über die sekundäre Darlegungs- und Beweislast1995) in Betracht kommen. Allerdings ist zu bedenken, dass wesentlicher Geltungsgrund dieser Regeln der Grundsatz ist, dass im staatlichen Gerichtsverfahren jede Seite selbst für die Gewinnung der für die Prozessführung erforderlichen Informationen verantwortlich ist, eine Seite nicht gehalten ist, ihrem Gegner die Waffen für dessen Prozesssieg an die Hand zu geben und nur beschränkte Möglichkeiten der Informationsgewinnung beim Prozessgegner bestehen (vgl. aber § 142 ZPO). Je mehr ein Schiedsgericht wechselseitige Anträge auf Dokumentenvorlage (disclosure) gestattet, umso weniger mag Anlass bestehen, der beweisbelasteten Partei durch die Grundsätze über die sekundäre Darlegungs- und Beweislast „unter die Arme zu greifen.“1996) 1143 Zur Frage des Beweismaßes für die Annahme von Compliance-(Verdachts-) Fällen ist zu beachten, dass das deutsche Schiedsverfahrensrecht keine allgemeine Beweismaßregel enthält; § 286 ZPO gilt lediglich im staatlichen Gerichtsverfahren. Das Schiedsgericht ist in der Beweiswürdigung frei (§ 1042 Abs. 4 Satz 2 ZPO). Gleichwohl orientieren sich Schiedsgerichte mit Sitz in Deutschland häufig an dem in § 286 ZPO vorgezeichneten Beweismaß, wonach die entscheidungserheblichen Tatsachen grundsätzlich zur Überzeugung des Schiedsgerichts nachgewiesen sein müssen, wenn auch Restzweifel verbleiben dürfen.1997) Regelmäßig bietet es sich an, dieses Beweismaß auch für den Nachweis eines Compliance-Verstoßes bzw. den Nachweis eines hinreichenden Compliance-Verdachtsfalles anzunehmen.1998) Ein strengeres Beweismaß, wie es etwa im Strafprozess zur Anwendung kommt, ist nicht veranlasst.1999) ___________ 1993) Rieder/Schönemann, NJW 2011, 1169, 1170. 1994) BGH NJW 2005, 2395, 2396; Kreindler/Schäfer/Wolff, Schiedsgerichtsbarkeit, Rn. 863. 1995) Rieder/Schönemann, NJW 2011, 1169, 1174; Rieder, in Festschrift Geimer, 557, 560 ff. 1996) Rieder/Schönemann, NJW 2011, 1169, 1774 f. 1997) MünchKomm-ZPO/Münch, § 1042 Rn. 119; Saenger/Saenger, ZPO, § 1042 Rn. 18; Musielak/Voit/Foerste, ZPO, § 286 Rn. 18; Elsing, SchiedsVZ 2011, 114, 120. 1998) Rieder/Schönemann, NJW 2011, 1169, 1173. 1999) MünchKomm-ZPO/Münch, § 1042 Rn. 110; Elsing, SchiedsVZ 2011, 114, 120.

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Abschließend ist aus praktischer Hinsicht darauf hinzuweisen, dass der 1144 Nachweis von Compliance-Verstößen häufig nur unter Rückgriff auf den Indizienbeweis geführt werden kann, zumal, wenn es sich um Korruptionsfälle handelt. Denn typischerweise werden die Zahlungswege, beispielsweise durch Einschaltung von „Beratern“ und ähnlichen Intermediären so verschleiert, dass ein direkter Nachweis einer korrupten Zahlung an einen Amts- bzw. Entscheidungsträger nicht geführt werden kann (kein Zugriff auf Unterlagen zu ausländischen Bankkonten Dritter etc.). Indizien, die Schiedsgerichte in der Praxis bisweilen haben ausreichen lassen, sind beispielsweise extrem hohe Provisionszahlungen, das Fehlen jeglicher Leistungsnachweise für die vorgeblich erbrachten Leistungen, ggf. verbunden mit dem Umstand, dass eine Partei die Sachaufklärungsversuche des Schiedsgerichts unterläuft, indem sie sich beispielsweise weigert, angeforderte aussagekräftige Belege vorzulegen oder an einer sachverständigen Begutachtung mitzuwirken.2000) In verfahrensmäßiger Hinsicht ist zu überlegen, wie das Schiedsgericht mit 1145 der häufig gegebenen Parallelität behördlicher Ermittlungen bzw. Strafverfahren einerseits und des Schiedsverfahrens andererseits praktisch umgehen soll. Zwar ist das Schiedsgericht aus rechtlicher Sicht gehalten, zu einer eigenen Beurteilung zu gelangen und daher an Ergebnisse behördlicher oder gar strafgerichtlicher Verfahren nicht gebunden. Aus Gründen der Verfahrensökonomie und mit Blick auf ggf. weiterreichende Ermittlungsmöglichkeiten staatlicher Behörden und Gerichte kann sich allerdings gleichwohl eine Aussetzung des Schiedsverfahrens für eine gewisse Dauer anbieten.2001) B. Post Merger Litigation I. Vorbemerkung Stephan Brandes

Post-Merger-Streitigkeiten sind Auseinandersetzungen mit Bezug zu einem 1146 verkauften Unternehmen, die nach Vollzug des Kaufvertrages, also nach Übertragung der gekauften Geschäftsanteile oder Vermögensgegenstände entstehen. In aller Regel wird es sich um Differenzen zwischen Verkäufer und Käufer handeln. Für den Fall, dass der Unternehmenskauf in Form eines Share Deals, also einer Übertragung von Geschäftsanteilen durchgeführt wurde, rechnen zu den Post-Merger-Streitigkeiten ferner solche, die im Anschluss an den Vollzug des Vertrages zwischen der Zielgesellschaft, also dem erworbenen Unternehmen selbst und dem Verkäufer geführt werden. Seit Risiken aus Gewährleistungen und vertraglichen Freistellungsansprüchen vermehrt versichert werden, treten die Anbieter entsprechender Policen, die im Markt als „R&W Insurances“ (representation and warranties) oder „W&I ___________ 2000) Näher Rieder/Schönemann, NJW 2011, 1169, 1174; instruktiv Arbitration Case No. 6497, Yearbook Commercial Arbitration, 1999, Vol. XXIVa, S. 71. 2001) Ähnlich Sachs, SchiedsVZ 2004, 123, 129 speziell für kartellrechtliche Ermittlungen.

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Insurances“ (warranties and indemnities)2002) bezeichnet werden, als weitere Akteure potentieller Post-Merger-Streitigkeiten hinzu. 1147 Abzugrenzen sind Post-Merger-Streitigkeiten damit von Auseinandersetzungen, die vor Vollzug des Kaufvertrages, also entweder im Zeitraum zwischen Vertragsschluss und Vollzug oder sogar schon vor Abschluss des bindenden Kaufvertrages anhängig gemacht werden. Solche Auseinandersetzungen werden als Pre-M&A-Streitigkeiten oder Pre-Closing-Litigation bezeichnet. Angesprochen sind damit vor allen Dingen Klagen auf Erfüllung der Hauptleistungspflichten aus dem Unternehmenskaufvertrag, also auf Zahlung des Kaufpreises bzw. Lieferung des gekauften Unternehmens, wenn eine Seite ihre vertraglichen Verpflichtungen – aus welchem Grunde auch immer – nicht erfüllt. Zum anderen fallen in den Bereich der Pre-Closing-Litigation Klagen bei Nichtzustandekommen von M&A-Transaktionen sowie Klagen aufgrund der Verletzung vorvertraglicher Vereinbarungen wie Term Sheets, Memoranda of Understanding, Letters of Intent und ähnliche, vorvertragliche Bindungen unterschiedlicher Intensität begründende Dokumente, die in einem M&A-Prozess dem Verkäufer dazu dienen, von den Kaufinteressenten schrittweise ein immer stärkeres Commitment einzufordern, um unter den verschiedenen Interessenten eine Auswahl treffen zu können.2003) Ferner gehören hierher Klagen aus der Verletzung von Non-Disclosure Agreements (NDA), also von Vertraulichkeitsvereinbarungen, die im M&A-Prozess zwischen dem Kaufinteressenten und dem Verkäufer bzw. der Zielgesellschaft abgeschlossen werden, um die Vertraulichkeit der im Rahmen der Due Diligence offengelegten Dokumente zu schützen. Derartige „Pre-Closing“- oder „Pre M&A“-Streitigkeiten sind nicht Gegenstand dieses Beitrags. 1148 Die häufigste Ursache von Post-Merger-Streitigkeiten ist, dass das gekaufte Unternehmen nach Auffassung des Käufers nicht die im Kaufvertrag vereinbarte Beschaffenheit aufweist oder nicht den bei Berechnung des Kaufpreises zugrunde gelegten Wert hat. Zu den Post-Merger-Streitigkeiten gehören daher vor allem Klagen, die auf die Verletzung vertraglicher Garantien und Zusicherungen des Verkäufers gestützt werden. Ferner fallen in diese Kategorie Ansprüche, die der Käufer aus der Verletzung einer Aufklärungs- und Informationspflicht des Verkäufers herleitet. 1149 Wird das verkaufte Unternehmen nach Vollzug des Vertrages von Dritten in Anspruch genommen, beispielsweise vom Staat auf Zahlung rückständiger Steuern oder Abgaben oder von einem Kunden wegen eines fehlerhaften Produktes, so kann zwischen Verkäufer und Käufer Streit darüber entstehen, ob der Verkäufer den Käufer bzw. das verkaufte Unternehmen von derarti___________ 2002) Dazu Wiegand, in: Beck’sches Handbuch M&A, § 84. 2003) Zu solchen Vorvereinbarungen Engelhardt/v. Maltzahn, in: Holzapfel/Pöllath, Unternehmenskauf in Recht und Praxis, Rn. 627 ff.; Weber, in: Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, Rn. 9.31 ff.; Stratz/Hettler, in: Beck’sches Mandatshandbuch Unternehmenskauf, § 1 Rn. 101 ff.; Beisel/Klumpp, Unternehmenskauf, § 1 Rn. 67.

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gen Ansprüchen freizustellen hat, wenn die von den Dritten geltend gemachten Ansprüche ihre Wurzeln in der Zeit vor Übertragung des Unternehmens auf den Käufer haben, also noch im Verantwortungsbereich des Verkäufers liegen. Derartige Auseinandersetzungen gehören ebenfalls in den Bereich der Post-Merger-Litigation. Entstehen zwischen Käufer und Verkäufer Differenzen über eine nachträgliche 1150 Anpassung des Kaufpreises nach Maßgabe von im Kaufvertrag enthaltenen Kaufpreisanpassungsklauseln, handelt es sich auch dabei um eine Post-MergerStreitigkeit. Aus derartigen Klauseln können sich nach dem Vollzug des Vertrages sowohl Ansprüche des Käufers auf Rückzahlung eines Teiles des Kaufpreises wie auch Ansprüche des Verkäufers auf Nachzahlungen des Käufers ergeben. Klagen aufgrund derartiger Kaufpreisanpassungsklauseln sind nicht Gegenstand dieses Kapitels; ihnen ist in diesem Handbuch ein gesonderter Beitrag gewidmet.2004) Eine erfolgversprechende Anspruchsverfolgung durch den Käufer eines Un- 1151 ternehmens setzt voraus, dass dieser rechtzeitig Kenntnis von den anspruchsbegründenden Tatsachen erhält. Dies sicherzustellen ist in erster Linie eine Managementaufgabe, der der erste Abschnitt dieses Kapitels gewidmet ist. Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit den Parametern, die im Vorfeld der klageweisen Geltendmachung von Ansprüchen bei Post M&A-Streitigkeiten zu bedenken sind. Im dritten Abschnitt werden Ansprüche der Zielgesellschaft gegen den Verkäufer untersucht. Der vierte Abschnitt beschäftigt sich mit der Verjährung von Ansprüchen, bevor im fünften Abschnitt Fragen im Zusammenhang mit einem möglichen Vergleichsschluss erörtert werden. II. Claims Management M&A-Verträge enthalten eine Vielzahl unterschiedlichster Anspruchsgrund- 1152 lagen. Neben den üblichen Garantiekatalogen sind dies vor allem konkrete Handlungspflichten für den Zeitraum zwischen Signing und Closing sowie für den Zeitraum danach, sowie Ansprüche auf Freistellung von konkreten Verbindlichkeiten und Risiken, die im Rahmen des Due Diligence Prozesses identifiziert bzw. aufgedeckt wurden. Die Geltendmachung derartiger Ansprüche ist im Regelfall nicht nur Gegenstand von Haftungsbegrenzungen, die im Vertrag im Einzelnen benannt sind, sondern ist auch an die Einhaltung bestimmter Formalien und Fristen gebunden, namentlich Verjährungsund Präklusionsfristen.2005) Die erfolgversprechende Geltendmachung von Ansprüchen aus M&A- 1153 Verträgen setzt nicht nur voraus, dass der Anspruchsberechtigte diese Fristen im Auge behält; er muss auch dafür sorgen, dass alle relevanten Informatio___________ 2004) Vgl. dazu nachfolgender Abschnitt C, Rn. 1234 ff. 2005) Vgl. dazu B II 2 d) Rn. 1171 f.

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nen umgehend an ihn weitergeleitet werden. Die Koordinierung und Steuerung der Maßnahmen, die erforderlich sind, um die Ansprüche des Käufers aus einem M&A-Vertrag nachzuhalten, wird als Claims Management bezeichnet. Im Bereich des Anlagenbaus sowie bei der Abwicklung komplexer Lieferverträge in der Industrie gehört die Einrichtung eines Claims Management heute zum Standard Prozedere.2006) 1154 Obwohl die Integration eines gekauften Unternehmens derartigen Projekten an Komplexität nicht nachstehen dürfte, kann man Entsprechendes vom Claims Management bei Unternehmenskäufen nicht behaupten. Während die Prozesse zur Vorbereitung und zum Abschluss von Transaktionen mit großer Sorgfalt und Professionalität durchgeführt werden, ist die Geltendmachung von Ansprüchen aus derartigen Verträgen im Zeitraum nach dem Vollzug häufig noch eine Frage von Opportunitäten. Studien haben ergeben, dass die meisten Unternehmen in Deutschland nicht auf die Betreuung von Post-M&A-Streitigkeiten vorbereitet sind.2007) Eine Überprüfung, inwieweit das erworbene Unternehmen dem vorher verhandelten Soll-Zustand entspricht, wird in der Praxis nur selten durchgeführt. Mögliche Ansprüche werden eher zufällig entdeckt, etwa im Rahmen der Abschlussprüfung oder im Falle der Geltendmachung von Ansprüchen durch Dritte.2008) Die Zurückhaltung vieler Unternehmen bei der systematischen Verfolgung von Ansprüchen aus M&A-Verträgen mag eine Nachwirkung der Konsenskultur der achtziger und frühen neunziger Jahre sein, in denen es als unschicklich galt, den Vertragspartner nach Durchführung einer Transaktion zu verklagen.2009) 1155 Vor einer solchen Praxis kann in Zeiten immer strenger werdender Anforderungen der Rechtsprechung an die von den Geschäftsführern eines Unternehmens zu beachtenden Sorgfaltspflichten nur gewarnt werden. Ansprüche des Unternehmens gegen Dritte sind grundsätzlich geltend zu machen und durchzusetzen.2010) Allerdings scheidet ein Pflichtwidrigkeitsvorwurf nach der Business Judgement Rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, § 43 Abs. 2 Satz 3 GmbHG) aus, wenn der Geschäftsleiter eine fundierte Ermessensentscheidung auf Basis aller verfügbaren Erkenntnisquellen getroffen hat. Vor diesem Hintergrund kann die Einrichtung eines Claims Managements, das Ansprü-

___________ 2006) Die DIN 69905 versteht unter Nachforderungsmanagement die „Überwachung und Beurteilung von Abweichungen bzw. Änderungen und deren wirtschaftlichen Folgen zwecks Ermittlung und Durchsetzung von Ansprüchen“. 2007) Alvarez & Marsal/Baker & McKenzie, Post-M&A-Dispute Study, 2013/2014, S. 13. 2008) Alvarez & Marsal/Baker & McKenzie, Post-M&A-Dispute Study, 2013/2014, S. 5. 2009) Alvarez & Marsal/Baker & McKenzie, Post-M&A-Dispute Study, 2013/2014, S. 7. 2010) Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, § 93 Rn. 88; MünchKomm-GmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 101; GroßKommAktG/Hopt/Roth, § 93 Rn. 199; KK-AktG/Mertens/Cahn, § 93 Rn. 89.

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che aus M&A-Verträgen nach Closing einem aktiven Monitoring unterwirft, für die Geschäftsleitung haftungsentlastende Wirkung entfalten.2011) Dass sich die Einrichtung eines Claims Management in der Praxis bezahlt 1156 macht, belegen die Erfahrungen solcher Unternehmen, die regelmäßig M&ATransaktionen durchführen und eine aktive Überwachung möglicher Kaufpreisanpassungen sowie die Einhaltung der Garantien und Freistellungen auch nach dem Closing betreiben.2012) So berichteten zwei Drittel der an einer Studie teilnehmenden Unternehmen, die oft und sehr häufig standardisierte Verfahren und Prozesse zur Identifikation möglicher Ansprüche einsetzen, hierdurch überdurchschnittlich häufig auf relevante Mängel und Ansprüche aufmerksam geworden zu sein.2013) Nach Aussage der Teilnehmer der Studie kam es desto häufiger zu signifikanten Anpassungen des Kaufpreises nach Closing, je intensiver die betreffenden Unternehmen den M&A-Prozess auch nach dem Closing aktiv steuerten.2014) 1. Ziele des Claims Managements Die Ursache von Post-M&A-Streitigkeiten besteht in der Mehrzahl der Fälle 1157 darin, dass sich die Annahmen, die der Käufer seiner Kalkulation des Kaufpreises zugrunde gelegt hat, nach Vollzug des Kaufvertrages als unzutreffend erweisen. Dass die Wertbestimmung eines Unternehmens eine komplexe Angelegenheit ist, zeigen die gängigen Methoden der Kaufpreisermittlung.2015) Denn die Ermittlung der zukünftigen Ertragskraft eines Unternehmens beruht auf einer Vielzahl von Annahmen hinsichtlich der Chancen in der Zukunft und der Risiken, die der Käufer aus der Vergangenheit mit übernimmt. Der Validierung dieser Planannahmen dient im Vorfeld des Vertragsschlusses die Due Diligence.2016) Doch auch wenn die Due Diligence eine wichtige Informationsquelle des 1158 Käufers beim Unternehmenskauf darstellt, darf sie nicht zu dem Trugschluss verleiten, dass sie dem Käufer ein abschließendes und vollständiges Bild über die Chancen- und Risikolage des zu erwerbenden Unternehmens vermittelt. Zum einen ist ein Unternehmen zu komplex, um es in einem Datenraum ___________ 2011) So auch Mehrbrey, Die Notwendigkeit eines Post Closing Claim Managements, M&A Review 2018. 2012) Alvarez & Marsal/Baker & McKenzie, Post-M&A-Dispute Study, 2013/2014, S. 15. 2013) Alvarez & Marsal/Baker & McKenzie, Post-M&A-Dispute Study, 2013/2014., S. 20. 2014) Alvarez & Marsal/Baker & McKenzie, Post-M&A-Dispute Study, 2013/2014., S. 20. 2015) Drukarczyk/Schüler, Unternehmensbewertung, 7. Aufl., 2016; Kranebitter/Meier, Unternehmensbewertung für Praktiker, 3. Aufl., 2017; Keim/Jeromin, in: Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, Kapitel 3; Zwirner/Mugler, in: Beck’sches Mandatshandbuch Unternehmenskauf, § 4; Beisel/Klumpp, Unternehmenskauf, § 3. 2016) Dazu Greitemann/Funk, in: Holzapfel/Pöllath, Unternehmenskauf in Recht und Praxis, Rn. 685 ff.; Weber, in: Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, Rn. 9.43 ff.; Hörtnagl/ Zwirner, in: Beck’sches Mandatshandbuch Unternehmenskauf, § 2; Beisel/Klumpp, Unternehmenskauf, § 2.

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vollständig durchleuchten zu können; hinzu tritt, dass der Käufer in der Due Diligence darauf angewiesen ist, dass Verkäufer und Zielgesellschaft die Risiken, die im Unternehmen schlummern, auch wirklich ehrlich und vollständig offenlegen. Die Interessenlage des Käufers entspricht in der Due Diligence nicht der des Verkäufers, der an einem besonders hohen Kaufpreis interessiert und daher möglicherweise nicht gewillt ist, sich hinsichtlich wesentlicher Risiken, die sich auf die Kaufpreisbildung nachteilig auswirken könnten, wenn sie bekannt würden, in allzu großer Offenheit zu üben. Auch das Management der Zielgesellschaft wird nicht eine uneingeschränkt verlässliche Informationsquelle sein; denn in der Praxis ist es nicht selten, dass der Verkäufer das Management der Zielgesellschaft dadurch zu – aus seiner Sicht – konstruktiver Zusammenarbeit im Verkaufsprozess motiviert, indem er diesem eine Prämie in Aussicht stellt, die sich an der Höhe des zu erzielenden Kaufpreises orientiert. 1159 Aus den genannten Gründen muss der Käufer vor der Fehlvorstellung gewarnt werden, dass ihm die Due Diligence ein vollständiges und verlässliches Bild der Chancen- und Risikolage des Unternehmens vermittelt. Er muss vielmehr damit rechnen, dass sich die seiner Kaufpreisermittlung zugrunde gelegten Annahmen und Parameter nach Vollzug des Kaufvertrages als unzutreffend erweisen. Diesem Risiko Rechnung zu tragen, dienen die im Kaufvertrag vereinbarten Garantien, Kaufpreisanpassungsklauseln und Freistellungen. Allerdings wird der Käufer dieses Instrumentarium nur dann zu seinem Vorteil nutzen können, wenn er die Validierung der kaufpreisbestimmenden Annahmen nicht dem Zufall überlässt, sondern die im Rahmen der Due Diligence identifizierten Risiken konsequent nachhält. a) Validierung der kaufpreisbestimmenden Annahmen des Käufers 1160 Anknüpfungspunkt für die Unternehmensbewertung des Käufers sind in der Praxis häufig die von der Zielgesellschaft aufgestellten Bilanzen. Die in der Praxis vermutlich noch häufigste Methode der Bewertung besteht darin, ein aus der Bilanz abgeleitetes EBITDA oder EBIT – gewichtet oder nicht – mit einem bestimmten Faktor zu multiplizieren. Von dem so ermittelten Unternehmenswert (Enterprise Value) werden dann die Finanzverbindlichkeiten zum Vollzugsstichtag in Abzug gebracht und die Cashbestände – sofern sie über ein notwendiges Minimum hinausgehen – hinzu addiert, was dann dem Eigenkapitalwert (Equity Value) entspricht.2017) 1161 Sind die Bilanzen falsch, beispielsweise weil wesentliche Verbindlichkeiten nicht bilanziert oder die Bildung von nach den einschlägigen Rechnungsstandards erforderlichen Rückstellungen unterblieben ist, so entspricht der tatsächliche Unternehmenswert nicht dem, welchen der Käufer aufgrund der ihm zur Verfügung gestellten Informationen errechnet hat. Doch müssen gar ___________ 2017) Bergjan, in: Holzapfel/Pöllath, Unternehmenskauf in Recht und Praxis, Rn. 811 ff.

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nicht unbedingt Bilanzierungsfehler vorliegen, um Wertannahmen des Käufers vor Vertragsschluss nachträglich zu erschüttern. Gleiches kann eintreten, wenn sich nach Vollzug des Vertrages herausstellt, dass bei Aufstellung der Bilanzen Bewertungs- und Beurteilungsspielräume nach den einschlägigen Rechnungslegungsstandards in einer anderen Weise ausgeübt worden sind als dies den Vorstellungen des Käufers entsprach. Insbesondere der Wechsel in der Konzernrechnungslegung vom HGB zu IFRS oder US-GAAP2018) ist in der Praxis Ursache einer steigenden Anzahl von Auseinandersetzungen über Kaufpreisanpassungen. Denn anders als das vom strengen Niederstwertprinzip geprägte HGB beinhalten die internationalen Rechnungslegungsstandards in sehr viel stärkerem Maße Elemente der Prognose, der Bewertung und der Einschätzung der Profitabilität von Projekten als Ganzes. Gerade die auf subjektive Prognosen abstellenden Bewertungsvorschriften der internationalen Rechnungslegungsstandards haben sich damit als eine häufige Streitquelle bei der Bestimmung kaufpreisbestimmender Kennzahlen erwiesen.2019) Ob die Bilanzen des verkauften Unternehmens Bilanzierungsfehler enthalten 1162 oder ob Bewertungsspielräume in einer von den Vorstellungen des Käufers abweichenden Weise ausgeübt worden sind, wird der Käufer häufig erst nach Vollzug des Unternehmenskaufvertrages und Übernahme des Unternehmens mit hinreichend verlässlicher Sicherheit feststellen können. Mängel in den Bilanzen des erworbenen Unternehmens werden in der Praxis häufig erst im Rahmen der nächsten turnusgemäßen Jahresabschlussprüfung entdeckt.2020) So zeigt sich häufig erst im Rahmen der nächsten Inventur, ob beispielsweise bei der Erhebung und Bewertung des Umlaufvermögens geschummelt wurde. Die Prüfung des Jahresabschlusses hat nicht die Zielsetzung, die Unternehmensbewertung im Rahmen einer M&A-Transaktion zu überprüfen. Sie bietet daher keine Gewähr dafür, dass wirklich alle kaufpreisbestimmenden Faktoren untersucht werden. Da die Geltendmachung von Ansprüchen auf Anpassung des Kaufpreises nach dem Unternehmenskaufvertrag ggf. Ausschluss- und Verjährungsfristen unterworfen ist, empfiehlt es sich, die wesentlichen kaufpreisbestimmenden Annahmen bereits unmittelbar nach Vollzug des Kaufvertrages und nicht erst im Rahmen der nächsten Jahresabschlusserstellung einer kritischen Würdigung zu unterziehen. b) Überwachung der wesentlichen Risikofelder Jeder Unternehmenskauf ist mit Risiken verbunden, denen der Erwerber 1163 durch einen Katalog von Zusicherungen, Garantien und Freistellungen im Kaufvertrag Rechnung tragen wird. Diese Risiken erstmals zu identifizieren ist Aufgabe der Due Diligence. Dem Claims Management obliegt es, diese Risikofelder nach dem Vollzugsstichtag laufend zu überwachen und – für ___________ 2018) Alvarez & Marsal/Baker & McKenzie, Post-M&A-Dispute Study, 2013/2014, S. 8. 2019) Alvarez & Marsal/Baker & McKenzie, Post-M&A-Dispute Study, 2013/2014, S. 8. 2020) Alvarez & Marsal/Baker & McKenzie, Post-M&A-Dispute Study, 2013/2014, S. 14.

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den Fall, dass sich eines der genannten Risiken materialisiert – das im Vertrag vorgesehene Prozedere für die Freistellung bzw. Schadloshaltung des Erwerbers bzw. des erworbenen Unternehmens in Gang zu setzen. 1164 Die Risikostruktur kann je nach Unternehmen unterschiedlich sein. Während z. B. Unternehmen der chemischen Industrie in aller Regel ein erhöhtes Umweltgefährdungspotenzial aufweisen, kommt in den Bereichen der Pharmabzw. der Automobilindustrie dem Thema Produkthaftung eine entscheidende Rolle zu. Der Käufer wird Wert darauf legen, dass seine Ergebnisplanungen, auf denen seine Unternehmensbewertung beruht, nicht in Zukunft durch den Eintritt von Risiken belastet wird, die ihre Ursache noch im Zeitraum vor dem Vollzugsstichtag haben. Hat beispielsweise ein Hersteller für ein Produkt langfristige Garantien gegeben, so wird er den damit verbundenen Vertriebserfolg bereits ergebniswirksam in der Vergangenheit verbucht haben; das Risiko, dass sich ein Garantiefall materialisiert, liegt aber noch in der Zukunft und wird damit das Ergebnis des Erwerbers belasten. In solchen Fällen ist es sachgerecht, wenn sich der Erwerber im Kaufvertrag von derartigen Risiken freistellen oder sie sonst bei der Kaufpreisbemessung berücksichtigen wird. Da umgekehrt der Kaufvertrag die Geltendmachung von derartigen Freistellungsansprüchen an bestimmte Voraussetzungen, beispielsweise die Einhaltung von Ausschlussfristen knüpfen wird, ist es wichtig, dass der Erwerber das Monitoring derartiger Risiken ordnungsgemäß organisiert, um sicherzustellen, dass im Falle eines Risikoeintritts eine umgehende Berichterstattung an die für die Geltendmachung von Ansprüchen berufene Stelle erfolgt. Ansonsten wird es für die Realisierung derartiger Ansprüche zu spät sein. 2. Aufgaben des Claims Managements 1165 Welche Aufgaben das Claims Management im Einzelnen zu erfüllen hat, ist im Idealfall schon unmittelbar nach Vertragsschluss, spätestens aber nach Vollzug des Vertrages festzulegen. Die Festlegung der einzelnen Aufgabenfelder des Claims Managements hängt dabei von der Risikoanalyse ab. a) Fristenkontrolle 1166 Ein Aufgabenfeld, das Bestandteil jeden Claims Managements sein sollte, ist eine ordnungsgemäße Fristenkontrolle. Je nach Anspruchsgrundlage können sich unterschiedliche Verjährungsfristen ergeben, die der Erwerber im Blick behalten muss.2021) 1167 Will der Erwerber vermeiden, derartige Fristen zu versäumen, muss er die Fristen für jeden einzelnen Anspruch oder jede einzelne Anspruchsgruppe notieren. Aufgabe des Claims Management ist es, denjenigen Personen, die über die Geltendmachung von Ansprüchen aus dem Unternehmenskaufvertrag zu entscheiden haben, rechtzeitig vor Ablauf der entsprechenden Fristen ___________ 2021) Vgl. dazu unter B V Rn. 1212 ff.

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Hinweise zu geben. Nicht selten scheitert die erfolgversprechende Geltendmachung von Ansprüchen daran, dass Fristen versäumt oder die Suche nach etwaigen Ansprüchen aus dem Kaufvertrag erst unmittelbar vor Ablauf der Verjährungsfrist in Gang gesetzt wird, so dass eine erfolgversprechende Geltendmachung an einer mangelhaften Aufbereitung des Sachverhaltes scheitert. b) Einrichtung eines Mängel-Reportings Die fristwahrende Erhebung von Ansprüchen setzt neben der Kenntnis der 1168 Fristen auch die Kenntnis des relevanten Sachverhalts voraus. Diese Kenntnis kann in einem Unternehmen oder einer Unternehmensgruppe an den unterschiedlichsten Stellen vorhanden sein. All das nützt wenig, wenn denjenigen Personen, die über die Geltendmachung von Ansprüchen zu entscheiden haben, die Mängel verborgen bleiben, weil es an einem entsprechenden Reporting innerhalb des Unternehmens fehlt.2022) Aufgabe des Claims Managements ist es, diejenigen Personen zu identifizie- 1169 ren, die innerhalb der Gruppe am ehesten mit den spezifischen Risiken, die in der Due Diligence beziehungsweise den Vertragsverhandlungen identifiziert worden sind, konfrontiert werden. Diese Personen sind anzuweisen, alle Mängel, die ihnen bekannt werden, an die für das Claims Management zuständige Stelle zu berichten und damit das für die Geltendmachung der Ansprüche erforderliche Wissen zu bündeln. Wurden beispielsweise im Rahmen der Due Diligence Gewährleistungsrisiken identifiziert, für die der Veräußerer im Kaufvertrag eine vertragliche Garantie übernommen hat, so wird der Erwerber derartige Ansprüche nur dann geltend machen können, wenn die im Vertrieb tätigen Mitarbeiter der Zielgesellschaft entsprechende Mängelrügen von Kunden dem Claims Management melden. Dessen Aufgabe ist es, den Vertrieb entsprechend zu instruieren, die einzuhaltenden Abläufe festzulegen und durch entsprechende Schulungsmaßnahmen zu implementieren. c) Post-Closing Due Diligence Häufig wird es dem Käufer eines Unternehmens im Rahmen der im Vorfeld 1170 des Vertragsschlusses durchgeführten Due Diligence nicht gelingen, sämtliche Risiken, die im Unternehmen schlummern, aufzudecken. Dafür wird es im Rahmen eines M&A-Prozesses nicht selten an der Zeit, aber auch an der Bereitschaft des Verkäufers zur Gewährung entsprechender tiefgehender Einblicke fehlen. Soweit es dem Käufer im Rahmen der Vertragsverhandlungen gelungen ist, sich das Risiko durch Gewährung einer entsprechenden Zusicherung oder Gewährleistung abdecken zu lassen, ist ihm zu empfehlen, unverzüglich nach Vollzug des Kaufvertrages Beweissicherung zu betreiben und eine aktive Untersuchung in die Wege zu leiten, ob die entsprechende ___________ 2022) Greitemann/Funk, in: Holzapfel/Pöllath, Unternehmenskauf in Recht und Praxis, Rn. 754 f.

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Gewährleistung oder Zusicherung eingehalten oder verletzt ist.2023) So kann der Erwerber beispielsweise zur Überprüfung einer etwaigen Umweltgarantie des Verkäufers Probebohrungen veranlassen, wo er sich im Rahmen der vor Vertragsschluss durchgeführten Due-Diligence mit der Einsicht von im Datenraum zur Verfügung gestellten Unterlagen zufrieden gegeben hat. d) Rechtzeitige Anzeige von Mängeln 1171 Neben der Verjährung wird die Haftung des Veräußerers für Mängel des Unternehmens in der Praxis häufig dadurch beschränkt, dass der Erwerber die Mängel innerhalb einer bestimmten Frist und in einer bestimmten Form gegenüber dem Veräußerer anzeigen muss.2024) Unterlässt er diese Anzeige, kann dies zum Verlust des Anspruches oder zu einer Beschränkung der Haftung des Veräußerers der Höhe nach führen. Nicht selten ist zudem im Vertrag geregelt, dass sich die im Kaufvertrag vereinbarte Haftungshöchstgrenze für Ansprüche gegen den Verkäufer Jahr für Jahr sukzessive um einen bestimmten Betrag verringert, wenn der Käufer nicht vor Ablauf der entsprechenden Jahresfristen eine den im Kaufvertrag festgelegten formalen Anforderungen gerecht werdende Mängelrüge abgegeben hat. 1172 Deswegen hat das Claims Management neben der Einhaltung der Verjährungsfristen auch darauf zu achten, dass Mängel nicht nur rechtzeitig innerhalb des Unternehmens an die zuständige Stelle weitergemeldet, sondern dort auch umgehend entsprechend aufbereitet und gegenüber dem Veräußerer angezeigt werden. III. Klageweise Geltendmachung durch den Käufer 1173 Die Mängelanzeige des Erwerbers führt in der Praxis zunächst dazu, dass die Parteien des Kaufvertrages Verhandlungen über den vom Käufer geltend gemachten Anspruch aufnehmen werden. Soweit die vertraglichen Regelungen die Regulierung des Anspruchs mit hinreichender Klarheit regeln, werden die Parteien eine gerichtliche oder schiedsgerichtliche Auseinandersetzung über den Anspruch in der Regel zu vermeiden suchen. Bestehen dagegen unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der Auslegung des Vertrages oder ist eine Partei vertragsreuig, steht der Käufer vor der Entscheidung, den geltend gemachten Anspruch klageweise durchzusetzen. Dem wird der Käufer eine Kosten-Nutzenanalyse zugrunde legen, in der neben den zu erwartenden Kosten des Verfahrens2025) eine Vielzahl von unterschiedlichen Parametern Berücksichtigung finden. ___________ 2023) Greitemann/Funk, Holzapfel/Pöllath, Unternehmenskauf in Recht und Praxis, Rn. 755. 2024) Wächter, M&A Litigation, Rn. 12.439; Engelhardt, in: Holzapfel/Pöllath, Unternehmenskauf in Recht und Praxis, Rn. 931. 2025) näher dazu Mehrbrey, M&A Review 2018; auf die Kosten geht dieser Beitrag nicht näher ein.

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1. Festlegung des Klageziels Zunächst ist das Klageziel zu bestimmen. In der Regel geht es dem Kläger 1174 um monetäre Kompensation, die in einer Herabsetzung des Kaufpreises, in Schadensersatzzahlungen oder in der Freistellung von Ansprüchen Dritter bestehen kann. Ein Anspruch auf Herabsetzung des Kaufpreises kann sich aus vertraglich 1175 vereinbarten Kaufpreisanpassungsklauseln ergeben. Wird beispielsweise bei einem Asset Deal vereinbart, dass der Kaufpreis für das Vorratsvermögen nach Vollzug der Transaktion im Wege einer Stichtagsinventur zu überprüfen ist, so kann sich ein Rückzahlungsanspruch des Käufers ergeben, wenn die Inventur zu dem Ergebnis führt, dass das Vorratsvermögen im Rahmen der Kaufpreisfindung ursprünglich zu hoch bewertet wurde. Ebenfalls zu einer Herabsetzung des Kaufpreises führt es, wenn der Käufer aufgrund behaupteter Mängel des Unternehmens Minderung verlangt. Üblicherweise kann der Käufer bei Mängeln des Unternehmens nur Schadensersatz und ggf. auch Nachbesserung fordern. Weitergehende Rechte wie Minderung und auch der Rücktritt vom Vertrag werden in aller Regel ausgeschlossen.2026) Verlangt der Käufer Schadensersatz, setzt dies den Nachweis des ursächlichen 1176 Zusammenhanges zwischen einer behaupteten Vertrags- oder Garantieverletzung und einem dem Käufer beziehungsweise dem verkauften Unternehmen entstandenen Schaden voraus. Steuerlich führt eine Schadensersatzleistung des Verkäufers beim Käufer zu einer Minderung der Anschaffungskosten.2027) Freistellungsansprüche gegenüber Dritten sind im Vertrag in aller Regel po- 1177 sitiv geregelt. Das gilt vor allem dann, wenn im Rahmen der Due Diligence spezifische oder konkrete Risiken identifiziert wurden, die nicht bereits bei der Bemessung des Kaufpreises in Abzug gebracht worden sind. Besteht beispielsweise ein Risiko aus einem schwebenden Passivprozess der Zielgesellschaft, so wird der Verkäufer in aller Regel nicht bereit sein, die eingeklagte Summe kaufpreismindernd zu berücksichtigen, soweit in der Bilanz der Zielgesellschaft aufgrund einer positiven Einschätzung der Prozessaussichten auf die Bildung einer Rückstellung verzichtet wurde. Umgekehrt wird der Käufer sich nicht mit der Erklärung des Verkäufers zufrieden geben, das Prozessrisiko sei mit dem Kaufpreis abgegolten, sondern sich für den Fall, dass die Zielgesellschaft in dem Prozess unterliegt, einen Freistellungsanspruch gegenüber dem Verkäufer sichern. Eine Rückabwicklung des Kaufvertrages wird in aller Regel nicht den Inte- 1178 ressen der Parteien entsprechen. Gleichwohl kann eine auf Rückabwicklung ___________ 2026) Vgl. Engelhardt/Farkus, in: Holzapfel/Pöllath, Unternehmenskauf in Recht und Praxis, Rn. 1192; Weber, in: Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, Rn. 9.249 ff.; Lips, in: Beck’sches Mandatshandbuch Unternehmenskauf, § 3 Rn. 207; Meyer-Sparenberg, in: Beck’sches Handbuch M&A, § 44 Rn. 10 ff. 2027) Engelhardt, in: Holzapfel/Pöllath, Unternehmenskauf in Recht und Praxis, Rn. 950.

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des Kaufvertrages gerichtete Klage vom Käufer aus prozesstaktischen Gründen in Erwägung gezogen werden. Eine Klage auf Rückabwicklung setzt den Verkäufer erheblich unter Druck und kann seine Bereitschaft zu einem Vergleichsschluss befördern. Denn dieser hat an einer Rückabwicklung ungeachtet des Umstandes, dass er dann den gesamten Kaufpreis zurückzahlen müsste, schon deswegen kein Interesse, weil er nach dem Vollzug des Vertrages keinen Einfluss mehr auf das Unternehmen hat und befürchten muss, am Ende eines langjährigen Verfahrens ein deutlich schlechteres Unternehmen zurückzubekommen als er ursprünglich verkauft hat. Zwar wird die Rechtsfolge der Rückabwicklung vertraglich im Allgemeinen ausgeschlossen; ein vertraglich vereinbarter Haftungsausschluss ist indessen unwirksam, wenn der Käufer nachweist, vom Verkäufer arglistig getäuscht worden zu sein, oder wenn der Verkäufer vorsätzlich eine vorvertragliche Aufklärungspflicht verletzt hat.2028) 2. Bestimmung des zuständigen Spruchkörpers 1179 Ist das Klageziel festgelegt, muss der Kläger bestimmen, welcher Spruchkörper für die Durchsetzung seines Anspruches zuständig ist. Es ist heute Standard, das anwendbare Recht und den Gerichtsstand positiv im Vertrag zu regeln. 1180 In internationalen M&A-Verträgen haben sich Schiedsklauseln durchgesetzt. Das hängt damit zusammen, dass ein Schiedsspruch aufgrund des New Yorker Übereinkommens über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche vom 10.6.1958, welches 156 Staaten ratifiziert haben, nahezu überall auf der Welt vollstreckt werden kann.2029) 1181 Ist ein staatlicher Gerichtsstand vereinbart und hat die Gegenpartei ihren Sitz im Ausland, sollte der Kläger zunächst prüfen, ob ein staatliches Urteil am Sitz des Beklagten überhaupt vollstreckt werden kann. Ist dies nicht der Fall, so lohnt sich eine Klage nur, wenn der Prozessgegner über im Inland oder in einem Drittstaat gelegenes Vermögen verfügt, auf das der Kläger ggf. Zugriff hat. 1182 Enthält der Vertrag eine Schiedsklausel, muss der Kläger prüfen, ob der von ihm geltend gemachte Anspruch auch tatsächlich von der Schiedsklausel erfasst ist. Dazu gehört auch die Vorfrage, ob die Schiedsklausel als solche überhaupt wirksam ist. Deckt die Schiedsklausel den geltend zu machenden Anspruch ab, sollte der Kläger sich Gedanken machen, ob und unter welchen Voraussetzungen der Schiedsspruch im Sitzstaat des Prozessgegners vollstreckt werden kann. Selbst wenn der Sitzstaat des Prozessgegners das New Yorker Übereinkommen ratifiziert hat, ist die Praxis der Anerkennung ausländischer Schiedssprüche in den Vertragsstaaten ungeachtet des einheitlichen Regelungsregimes recht unterschiedlich.2030) Gerade wenn es sich um Klagen mit ___________ 2028) Vgl. dazu B III 3 a) Rn. 1184 f. und B III 4 c) Rn. 1207 f. 2029) F I 2 Rn. 563. 2030) Kröll, SchiedsVZ 2009, 40.

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einem höheren Streitwert handelt, ist es dringend empfehlenswert, hierfür ausländischen Rechtsrat hinzuzuziehen. 3. Begründung des Klageanspruchs Zur Begründung der Klage sind zunächst die maßgeblichen Anspruchsgrund- 1183 lagen, auf die der Kläger sein Klageziel stützt, zu identifizieren. Diese können sowohl vertraglicher als auch außervertraglicher Art sein. a) Ansprüche wegen Verletzung von Aufklärungspflichten Das Bestreben des Verkäufers, das Haftungsregime im Kaufvertrag so ab- 1184 schließend zu regeln, dass Ansprüche gegenüber dem Verkäufer durch den Käufer ausschließlich aus dem Vertrag hergeleitet werden können, lässt sich im deutschen Kaufrecht nicht lückenlos umsetzen.2031) Eine in der Praxis bedeutsame Grundlage für die Begründung von Ansprüchen bei Unternehmenskaufverträgen sind die Regelungen zur Verletzung vorvertraglicher Pflichten des Verkäufers (§§ 311 Abs. 2, 241 Abs. 2, 280 Abs. 1 Satz 1 BGB). Hauptanwendungsfall sind die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Verletzung von Aufklärungspflichten des Verkäufers. Das gilt vor allem dann, wenn das Haftungsregime des Kaufvertrages verkäuferfreundlich ausgestaltet und die Haftung des Verkäufers in vielfältiger Hinsicht vertraglich beschränkt ist. Denn gelingt dem Käufer der Nachweis, dass der Verkäufer vorsätzlich eine vorvertragliche Aufklärungspflicht verletzt hat, gelten diese Haftungsbeschränkungen nicht.2032) Im Bereich des Unternehmenskaufrechts hat der BGH die vorvertraglichen 1185 Aufklärungspflichten des Verkäufers deutlich ausgeweitet.2033) Der Verkäufer hat den Kaufinteressenten beim Unternehmenskauf auch ungefragt über solche Umstände aufzuklären, die den Vertragszweck des Kaufinteressenten vereiteln können und daher für seinen Kaufentschluss von wesentlicher Bedeutung sind.2034) So ist eine vorvertragliche Aufklärungspflicht nach dem BGH bereits dann verletzt, wenn der Verkäufer den Erwerber nicht darauf hinweist, dass er die Kaufpreisberechnung gegenüber der übereinstimmenden Annahme beider Parteien bei den Verhandlungen geändert hat.2035) Der Verkäufer hat ungefragt sämtliche Verbindlichkeiten des Unternehmens zu offenbaren, wenn deren Vorhandensein die Überlebensfähigkeit des Unternehmens wegen drohender Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung ernst___________ 2031) Lips, in: Beck’sches Mandatshandbuch Unternehmenskauf, § 3 Rn. 188. 2032) Vgl. dazu unter B III 4 c) Rn. 1207 f. 2033) Wagner, DStR 2002, 958 ff.; Geldsetzer, M&A Review 2005, 475 ff. 2034) BGH NJW 2001, 2163, 2164 = ZIP 2001, 918; BGH NJW 2002, 1042, 1043 = ZIP 2002, 440; BGH NJW-RR 1996, 429 = ZIP 1996, 120; Wagner, DStR 2002, 958, 962; Schuppen/Lennertz, M&A Review 2003, 476; Geldsetzer, M&A Review 2005, 475, 476; Kersting, JZ 2008, 714, 715; Hübner, BB 2010, 1483, 1485; Koppmann, BB 2014, 1673. 2035) BGH DB 1981, 1816.

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haft gefährdet.2036) Ihn trifft auch eine Aufklärungspflicht bezüglich Kosten oder Fehlbeträgen, die in Folge einer bestimmten Kostenquote entstehen und dadurch den Vertragszweck vereiteln oder erheblich gefährden können.2037) Bei der Beurteilung der Aufklärungspflichten hat der Verkäufer auch die Geschäftsgewandtheit und Sachkunde sowie die Ziele des Käufers zu berücksichtigen.2038) 1186 Da ein im Rahmen der Due Diligence von der Zielgesellschaft eingerichteter Datenraum nach der Lebenserfahrung selten sämtliche, für die Kaufentscheidung bedeutsamen Risiken offenlegen wird, ist es für den Käufer keineswegs unmöglich, durch entsprechende Suche solche Umstände aufzudecken, bei denen nach der Rechtsprechung zu vorvertraglichen Aufklärungspflichten beim Unternehmenskauf eine Offenlegung hätte erfolgen müssen. Namentlich im Bereich intern aufgeklärter aber noch nicht von außen aufgedeckter Compliance-Verstöße wird seitens der Zielgesellschaft wenig Bereitschaft bestehen, die dafür maßgeblichen Unterlagen in einem Datenraum offenzulegen. Wird dieses Wissen im Rahmen der Due Diligence dem Käufer vorenthalten, so dürfte dies im Regelfall zu einer Verletzung einer vorvertraglichen Aufklärungspflicht durch den Verkäufer führen. 1187 Zwar können Käufer und Verkäufer eine Haftung des Verkäufers aufgrund der Verletzung von Aufklärungspflichten vertraglich abbedingen; dies gilt jedoch nicht für solche Fälle, in denen der Verkäufer vorsätzlich gehandelt hat (§ 276 Abs. 3 BGB).2039) Die Schwelle zum Vorsatz kann schnell überschritten sein. Denn nach der Rechtsprechung kommt es für die Frage, ob eine Aufklärungspflicht gegenüber dem Käufer vorsätzlich verletzt wurde, nicht nur auf den Sach- und Kenntnisstand der an den Vertragsverhandlungen beteiligten Personen des Verkäufers und seiner Organe an; vielmehr hat die Rechtsprechung Grundsätze entwickelt, nach denen sich eine Körperschaft auch bei Unkenntnis der handelnden Personen die Kenntnis sonstiger, im Unternehmen vorhandener Wissensträger zurechnen lassen muss, wenn versäumt wurde, die organisatorischen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass das relevante Wissen an die Entscheidungsträgern weitergeleitet wird.2040) Diese Lehre der Wissenszurechnung kommt nach der Rechtsprechung auch im Rahmen der Arglisthaftung zur Anwendung,2041) es findet also nicht nur ___________ 2036) BGH DStR 2002, 1098 = ZIP 2002, 853. 2037) BGH NZG 2002, 299. 2038) BGH ZIP 1991, 321; BGH ZIP 2002, 440; Weißhaupt, WM 2013, 782, 785. 2039) BGH NJW-RR 1990, 78, 79; BGHZ 180, 205, 210 ff.; BGH NJW-RR 1988, 10, 11; BGH NJW 2013, 1671, 1673; Huber, AcP 202 (2002) 179, 182; Weber, in: Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, Rn. 9.249; Lips, in: Beck’sches Mandatshandbuch Unternehmenskauf, § 3 Rn. 188.; Meyer-Sparenberg, in: Beck'sches Handbuch M&A, § 44 Rn. 117. 2040) BGHZ 132, 30, 37 = ZIP 1996, 548; zust. Drexl, ZHR 161 (1997), 491 ff.; Lorenz, JZ 1994, 549; Taupitz, JZ 1996, 734; Waltermann, AcP 192 (1992), 181; ders., NJW 1993, 889. 2041) BGHZ 109, 327 ff.; BGHZ 132, 30 = ZIP 1996, 548.

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die Zurechnung eines kognitiven, sondern de facto auch eines voluntativen Elementes statt.2042) Ob diese Grundsätze auch hinsichtlich der Zurechnung des Wissens von 1188 Wissensträgern in Tochtergesellschaften gelten und daher auch Wissensträger in der Zielgesellschaft mit einschließen, ist umstritten. Das Schrifttum beurteilt eine konzerndimensionale Wissenszurechnung unter Hinweis auf das Nichtvorhandensein einer Pflicht zur Konzernleitung und mit Blick auf das Fehlen einer dogmatischen Grundlage für die Zurechnung von Wissen über die gesellschaftsrechtlichen Grenzen hinweg mit Zurückhaltung.2043) Eine Zurechnung „von unten nach oben“ wird in Sonderfällen erwogen, z. B. bei Personalunion, oder bei aktivem Datenaustausch zwischen den Konzernunternehmen, aber nur soweit eine rechtlich abgesicherte Möglichkeit des Zugriffs auf die Daten des abhängigen Unternehmens besteht.2044) b) Gewährleistungsansprüche Da sich die gesetzlichen Regelungen der kaufrechtlichen Gewährleistung im 1189 Fall von Unternehmenskaufverträgen regelmäßig als wenig sachgerecht erweisen, tragen die Vertragsparteien ihren individuellen Regelungsbedürfnissen meist durch die Vereinbarung vertraglicher Gewährleistungen Rechnung. Unternehmenskaufverträge enthalten daher typischerweise mehr oder weniger umfassende Gewährleistungskataloge des Verkäufers im Hinblick auf bestimmte Beschaffenheitsmerkmale des verkauften Unternehmens sowie positive Regelungen über die Rechtsfolgen für den Fall ihres Nichtvorliegens unter Ausschluss der gesetzlichen Vorschriften. In der Vertragspraxis steht der Haftungsübernahme des Unternehmensverkäufers in Form von Garantien regelmäßig eine Beschränkung der Rechtsfolgen im Garantiefall – etwa hinsichtlich der Höhe und Zeitdauer der vom Verkäufer geschuldeten Gewährleistung oder hinsichtlich der Rücktrittsmöglichkeiten – gegenüber. Enthält der Kaufvertrag hinsichtlich des Risikos, dessen Kompensation der 1190 Käufer verlangt, keine ausdrückliche Gewährleistung, so kann sich für den Käufer die Prüfung der Frage empfehlen, ob Ansprüche gleichwohl aus einer Bilanzgarantie2045) hergeleitet werden können. War die Zielgesellschaft nach handelsrechtlichen Grundsätzen verpflichtet, für ein bestimmtes Risiko eine Rückstellung zu bilden und ist diese Rückstellung unterblieben, oder ist eine bestimmte Verbindlichkeit nicht passiviert worden, so ist die Bilanz mögli___________ 2042) Krit. Flume, AcP 197 (1997), 441, Dauner-Lieb, in: Festschrift Kraft, 1998, S. 43; Altmeppen, BB 1999, 749. 2043) MünchKomm-AktG/Spindler, § 78 Rn. 103; Spindler/Speier, BB 2005, 2031, 2032; MünchKomm-GmbHG/Jaeger/Stephan/Tieves, § 35 Rn. 225. 2044) Spindler/Stilz/Fleischer, AktG, 2. Aufl., § 78 Rn. 56d ff.; GroßKommAktG/Habersack, § 78 Rn. 27; MünchKomm-AktG/Spindler, § 78 Rn. 103; MünchKomm-GmbHG/Jaeger/ Stephan/Tieves, § 35 Rn. 225; BGHZ 123, 224. 2045) Dazu Wächter, BB 2016, 711; ders., NJW 2013, 1270; Hennrichs, NZG 2014, 1001.

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cherweise unrichtig und eine auf die Richtigkeit der Bilanz abgegebene Garantie falsch. 1191 Der Standardfall einer Bilanzgarantie ist die Zusicherung, dass der Jahresabschluss mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Vorschriften des HGB und den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung unter Wahrung der Bewertungs- und Bilanzkontinuität erstellt worden ist und unter Beachtung dieser Grundsätze ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens zu einem bestimmten Stichtag vermittelt. Derartige Bilanzgarantien werden im Schrifttum auch als „subjektive Bilanzgarantien“ bezeichnet,2046) wodurch dem Umstand Rechnung getragen wird, dass es für die Beurteilung, ob die Bilanz richtig oder falsch ist, auf die subjektive Kenntnis des Kaufmanns zu dem Zeitpunkt ankommt, an dem die Bilanz aufgestellt wird. Mit anderen Worten: die subjektive Bilanzgarantie enthält die Zusicherung, dass der Bilanzersteller, was die Aufklärung der für die Bilanz relevanten faktischen Umstände anging, die vom Bilanzrecht verlangte Sorgfalt beziehungsweise sonstigen Regeln angewandt hat und die gewonnenen Erkenntnisse nach den Regeln des jeweiligen Bilanzrechts in Zahlen überführt hat.2047) 1192 Ist dementsprechend eine tatsächlich bestehende Verbindlichkeit in der Bilanz nicht erfasst worden oder wurde ein Risiko, für das nach den Regeln des Bilanzrechts eine Rückstellung hätte gebildet werden müssen, in der Bilanz nicht gebildet, so ist die Bilanzgarantie nur dann verletzt, wenn der Bilanzersteller zum Zeitpunkt der Aufstellung der Bilanz die für die Bildung der Rückstellung beziehungsweise die Passivierung der Verbindlichkeit maßgeblichen Umstände kannte. Eine für die Praxis durchaus bedeutsame, wissenschaftlich aber noch nicht geklärte Frage ist dabei, ob auch insoweit die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze der Wissenszurechnung2048) zum Tragen kommen, ob also dem tatsächlich unwissenden Bilanzersteller das Wissen von Wissensträgern innerhalb des Unternehmens zugerechnet wird, das bei ordnungsgemäßer Organisation des Informationsflusses im Unternehmen an diesen weitergegeben worden wäre. 1193 Weniger häufig sind sog. „objektive“ oder „harte“ Bilanzgarantien. Diesen kommt eine über die Einhaltung der bilanzrechtlichen Regelungen hinausgehende Bedeutung zu; ihr Ziel ist die Zusicherung, dass die Bilanz die wirtschaftlichen Fakten objektiv richtig abbildet.2049) Ob eine Zusicherung in diesem objektivierten Sinne tatsächlich vorliegt, ist eine Frage der Auslegung und nicht immer einfach zu beantworten.2050) Wird beispielsweise eine Ga___________ 2046) Vgl. Wächter, M&A Litigation, Rn. 5.142 ff. 2047) Wächter, M&A Litigation, Rn. 5.147 ff. 2048) Vgl. dazu vorstehend unter B III 3 a) Rn. 1184 f. 2049) Wächter, M&A Litigation, Rn. 5.154 ff. 2050) Dazu OLG Frankfurt/M. BB 2016, 721 mit krit. Anm. Wächter, BB 2016, 711.

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rantie auf die Höhe des Eigenkapitals2051) zu einem bestimmten Bilanzstichtag abgegeben, so ist damit noch nicht abschließend geklärt, ob ein Risiko, das zum Zeitpunkt des Bilanzstichtages bereits vorhanden war und Anlass für die Bildung einer entsprechenden Rückstellung gegeben hätte, deren Bildung tatsächlich nicht erfolgt ist, zur Unrichtigkeit der Garantie führt. Denn wenn das Risiko für den Bilanzersteller nicht erkennbar war, kann dieser sich auf den Standpunkt stellen, das Eigenkapital sei unter Berücksichtigung der bilanziellen Regeln ordnungsgemäß ermittelt worden, eine Rückstellung habe also nicht gebildet werden müssen. Der Käufer wird dagegen argumentieren, dass es nicht auf die Einhaltung der Regelungen über die Bilanzerstellung ankomme; vielmehr sei der objektive Wert des Eigenkapitals maßgeblich. c) Freistellungsansprüche Während Gegenstand von Garantien in der Regel das Nichtvorhandensein 1194 abstrakt umschriebener Risiken ist, richten sich Freistellungsansprüche2052) auf konkret identifizierte Risiken, die im Rahmen der Due Diligence oder der Kaufvertragsverhandlungen von Käuferseite identifiziert worden sind. So ist es in der Praxis nicht selten, dass der Verkäufer bestimmte Zusicherungen z. B. hinsichtlich des Nichtvorhandenseins von Bodenverunreinigungen auf dem Betriebsgelände dadurch qualifiziert, dass er bestimmte Risiken selbst offenlegt, z. B. eine Bodenverunreinigung an einer bestimmten Stelle. Diese Qualifizierung führt dazu, dass die Zusicherung hinsichtlich der offengelegten Bodenverunreinigung nicht unrichtig ist. Gleichwohl wird der Käufer ein Interesse daran haben, eine Regelung hinsichtlich des Risikos zu treffen, dass er aufgrund behördlicher Anordnung zur Beseitigung der fraglichen Bodenverunreinigung herangezogen wird. Für einen solchen Fall können die Parteien im Kaufvertrag eine Regelung vereinbaren, der zufolge der Verkäufer den Käufer beziehungsweise die Zielgesellschaft von den Kosten freizustellen hat, die diese im Fall einer behördlichen Anordnung ggf. für die Beseitigung der Bodenverunreinigung aufwenden muss. Ähnliche Freistellungsansprüche können sich z. B. auch auf Gewährleistungs- oder Produkthaftungsrisiken2053) beziehen, die im Rahmen des Due Diligence Prozesses oder der Kaufvertragsverhandlungen aufgedeckt beziehungsweise offengelegt worden sind. Häufig Gegenstand von Freistellungsverpflichtungen sind Steuern,2054) die 1195 sich auf Veranlagungszeiträume beziehen, die vor dem für die Bewertung des Unternehmens beziehungsweise für den Vollzug des Unternehmenskaufvertrages maßgeblichen Stichtag liegen. ___________ 2051) Weber, in: Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, Rn. 9.265. 2052) Lips, in: Beck’sches Mandatshandbuch Unternehmenskauf, § 3 Rn. 244; Meyer-Sparenberg, in: Beck’sches Handbuch M&A, § 45 Rn. 136; dazu auch Schütt, NJW 2016, 980. 2053) Lips, in: Beck’sches Mandatshandbuch Unternehmenskauf, § 3 Rn. 246. 2054) Lips, in: Beck’sches Mandatshandbuch Unternehmenskauf, § 3 Rn. 246.

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4. Haftungsbeschränkungen 1196 Ein weiterer wichtiger Prüfungspunkt bei der Vorbereitung einer Klage gilt der Frage, welchen vertraglichen Beschränkungen die Haftung des Verkäufers nach dem Unternehmenskaufvertrag unterworfen ist. 1197 Da die gesetzlichen Regelungen hinsichtlich der Gewährleistung für einen Unternehmenskauf in der Praxis wenig geeignet sind, da sie mit ihrem grundsätzlich käuferfreundlichen Inhalt dem Bedürfnis nach Interessenausgleich der Vertragsparteien und den Besonderheiten jedes individuellen Unternehmenskaufvertrages kaum gerecht werden können, ist es in der Praxis üblich, im Kaufvertrag ein eigenständiges Haftungsregime zu schaffen, das nach Möglichkeit abschließend regelt, nach welchen Anspruchsgrundlagen der Veräußerer im Rahmen der Gewährleistung (im weitesten Sinne) haften soll, diese Haftung bestimmten Beschränkungen unterwirft und im Übrigen die gesetzlichen Anspruchsgrundlagen ausschließt. 1198 Insbesondere das Recht auf Rückabwicklung des Vertrages sowie die Wahl des sog. „großen Schadensersatzes“ werden im Regelfall ausgeschlossen.2055) Gleiches gilt für das Recht des Käufers auf Minderung des Kaufpreises. An dessen Stelle tritt der sog. „kleine Schadensersatzanspruch“ des Erwerbers, bei dem sich der Schaden des Käufers grundsätzlich nach der Differenz zwischen dem vertraglich vereinbarten Sollzustand des Unternehmens und seinem tatsächlichen Istzustand richtet.2056) a) Kenntnis des Käufers 1199 Der Verkäufer wird häufig bestrebt sein, sich gegen Ansprüche wegen Unternehmenswertbeeinträchtigungen damit zu verteidigen, dass der Käufer Kenntnis von ihnen gehabt habe oder hätte erlangen können. Inwieweit der Verkäufer mit einem solchen Einwand durchdringt, hängt davon ab, inwieweit der Käufer sich eigene Kenntnis entgegenhalten lassen muss. 1200 Bei der kaufrechtlichen Gewährleistung ist es für den Verkäufer vorteilhaft, wenn der Vertrag schweigt, da in diesem Fall § 442 BGB zur Geltung kommt. In der Praxis ist die kaufrechtliche Gewährleistung allerdings bedeutungslos; auch § 442 BGB wird in aller Regel abbedungen. 1201 Üblich ist es, im Vertrag selbst zu regeln, inwieweit der Käufer sich bei der Geltendmachung von Ansprüchen eigenes Wissen, das bei Vertragsschluss vorhanden war, entgegenhalten lassen muss.2057) Derartige Kenntnisklauseln können an § 442 BGB orientiert sein, aber auch stark davon abweichen. Nicht selten sind Klauseln, die eine etwaige relevante Kenntnis des Käufers ___________ 2055) Weber, in: Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, Rn. 9.262. 2056) Meyer-Sparenberg, in: Beck'sches Handbuch M&A, § 45 Rn. 22 ff. 2057) Lips, in: Beck’sches Mandatshandbuch Unternehmenskauf, § 3 Rn. 234.; Meyer-Sparenberg in: Meyer-Sparenberg/Jäckle, Beck'sches M&A-Handbuch, § 45 Rn. 70 ff.

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auf diejenigen Informationen beschränken, die Inhalt von Anlagen des Kaufvertrages sind oder die im Datenraum offengelegt worden sind. Weitere Regelungsgehalte derartiger vertraglicher Bestimmungen sind die 1202 Frage, ob auf Käuferseite positive Kenntnis erforderlich war oder ob auch grob fahrlässige Unkenntnis ausreicht, und das Wissen welchen Personenkreises sich der Käufer für diese Frage zurechnen lassen muss. Eine in der Praxis durchaus gängige Vorgehensweise besteht darin, den Kreis der für die Zurechnung relevanten Personen auf die Organe des Käufers und den mit der Durchführung der Due Diligence und der Kaufvertragsverhandlungen befassten Personenkreis zu beschränken. Fehlt es an derartigen Regelungen, so wird man im Regelfall davon ausgehen müssen, dass die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze der Wissenszurechnung zum Tragen kommen. Der Käufer wird sich in einem solchen Fall also neben dem Wissen seiner Organe und der handelnden Personen auch das Wissen solcher Personen zurechnen lassen müssen, das bei ordnungsgemäßer Organisation des Informationsflusses im Unternehmen an die Organe bzw. die handelnden Personen weitergegeben worden wäre.2058) Enthält der Vertrag – wie üblich – einen Katalog selbständiger Garantien, 1203 fehlt es aber an einer Kenntnisklausel, so stellt sich die Frage, ob § 442 BGB oder der diesem zugrunde liegende Rechtsgedanke analog anwendbar ist. Das ist letztlich eine Frage der Vertragsauslegung, wird im Regelfall aber zu verneinen sein.2059) Auch der Rechtsgedanke des venire contra factum proprium (§ 242 BGB) wird einer Anspruchsgeltendmachung durch den Käufer in einem solchen Fall in aller Regel nicht entgegenstehen.2060) b) Betragsmäßige Haftungsbeschränkungen Von erheblicher praktischer Bedeutung für die Beschränkung der Haftung 1204 des Verkäufers sind De-Minimis-Regelungen. Diese sehen vor, dass eine Haftung im Einzelfall erst bei Überschreitung eines bestimmten Mindestbetrages in Betracht kommt. Ergänzt werden diese durch Freibeträge oder Freigrenzen.2061) Dabei ist die Haftung des Veräußerers insgesamt bis zu einem bestimmten Betrag (Freibetrag, Selbstbehalt, Sockelbetrag) ganz ausgeschlossen. Gehaftet wird erst für (einzeln oder kumulativ) darüber hinausgehende Ansprüche. Eine solche Regelung erkennt letztlich an, dass Unschärfen beim Unternehmenskauf unvermeidlich sind. ___________ 2058) Zur Wissenszurechnung auf Verkäuferseite vgl. bereits vorstehend B III 4 c) Rn. 1207 f. 2059) Wächter, M&A Litigation, Rn. 9.7 ff.; Mellert, BB 2011, 1667, 1671; Hilgard, BB 2013, 963; Rasner, WM 2006, 1425, 1431. 2060) Wächter, M&A Litigation, Rn. 9.17 ff.; Mellert, BB 2011, 1667, 1671; Hilgard, BB 2013, 963. 2061) Weber, in: Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, Rn. 9.262; Lips, in: Beck’sches Mandatshandbuch Unternehmenskauf, § 3 Rn. 235.

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1205 Auch die Ausgestaltung als Freigrenze ist möglich. In diesem Fall greift die volle Haftung, sobald ein bestimmter Betrag überschritten wird. Eine Freigrenze wird allerdings den Käufer motivieren, bei Auftreten erster Ansprüche nach weiteren Ansprüchen zu suchen, um die Grenze der Durchsetzbarkeit zu erreichen.2062) Freigrenze und Freibetrag lassen sich auch kombinieren. Möglich sind etwa Regelungen, dass für Bagatelleinzelfälle eine niedrigere Freigrenze, aber insgesamt ein deutlich höherer Freibetrag zur Anwendung kommt. Einzelfälle, die unter der niedrigeren Freigrenze liegen, bleiben dann unberücksichtigt. 1206 Auch Haftungshöchstgrenzen („Cap“) sind in der Praxis üblich.2063) Wird ein degressives Cap dergestalt vereinbart, dass der Haftungshöchstbetrag jährlich um einen bestimmten Betrag oder um einen bestimmten Prozentsatz sinkt,2064) wenn ein Anspruch nicht innerhalb des jeweils abgelaufenen Jahres geltend gemacht wird, so kann die Kombination von Haftungshöchstbeträgen mit Schwellenwerten für den Käufer das Dilemma begründen, dass er möglicherweise einen Anspruch anmelden oder sogar Klage erheben muss, bevor er wissen kann, ob der Schwellenwert überhaupt erreicht wird.2065) c) Unwirksamkeit von Haftungsbeschränkungen 1207 Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass vertragliche Haftungsbeschränkungen bei Arglist oder bei vorsätzlicher Verletzung von vorvertraglichen Aufklärungspflichten nicht gelten. Das ist für die Taktik des Käufers von erheblicher Bedeutung, wenn es ihm in den Kaufvertragsverhandlungen nicht gelungen ist, ein käuferfreundliches Haftungsregime durchzusetzen. Der Käufer, dessen Ansprüche aus der Verletzung vertraglicher Garantien an den im Kaufvertrag vereinbarten Haftungsbeschränkungen scheitern würde, wird stets bestrebt sein, dem Verkäufer nachzuweisen, dass dieser bei den Kaufvertragsverhandlungen relevantes Wissen, das für die Kaufentscheidung des Käufers wesentlich war, vorsätzlich zurückgehalten hat. Der Verweis auf den Vorrang des vertraglich vereinbarten Haftungsregimes gegenüber der Haftung aus c. i. c. ist dem Verkäufer in diesem Fall abgeschnitten; er gilt bei Vorsatz nicht.2066) IV. Geltendmachung von Ansprüchen durch die Zielgesellschaft 1208 Entspricht das gekaufte Unternehmen nicht den Erwartungen des Käufers, so führt der Weg über eine mögliche Kompensation keineswegs zwingend ___________ 2062) Engelhardt, in: Holzapfel/Pöllath, Unternehmenskauf in Recht und Praxis, Rn. 937; Hilgard, BB 2004, 1233 ff.; Roschmann, ZIP 1998, 1941, 1947. 2063) Lips, in: Beck’sches Mandatshandbuch Unternehmenskauf, § 3 Rn. 236. 2064) Vgl. oben B II 2 d) Rn. 1171. 2065) Hilgard, BB 2004, 1233, 1234. 2066) Vgl. oben B III 3 a) Rn. 1184 ff.

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immer über einen Anspruch, den der Käufer gegenüber dem Verkäufer geltend macht. Ein taktisch versierter Käufer wird darüber hinaus stets auch prüfen, ob der Zielgesellschaft Ansprüche gegenüber dem Verkäufer zustehen, insbesondere aus seiner Stellung als ehemaliger Gesellschafter. Die im Kaufvertrag vereinbarten Haftungsbeschränkungen gelten für derartige Ansprüche nicht. Denkbar ist allerdings, dass der Verkäufer sich im Kaufvertrag gegen solche Ansprüche der Zielgesellschaft dadurch abgesichert hat, dass eine Vereinbarung getroffen wurde, durch die der Käufer verpflichtet ist, den Verkäufer von Ansprüchen der Zielgesellschaft freizustellen, die nach Vollzug des Kaufvertrages geltend gemacht werden. Geht der Käufer aufs Ganze und verlangt Rückabwicklung des Vertrages, so wird ihn die Freistellungsklausel allerdings auch nicht davon abhalten, gleichzeitig eine Klage durch die Zielgesellschaft anzustrengen. Besonders groß sind die Gefahren einer Inanspruchnahme des Veräußerers 1209 dann, wenn zwischen Veräußerer und Zielgesellschaft ein Beherrschungsund/oder Gewinnabführungsvertrag bestand.2067) Nicht selten nutzt der Käufer nach der Anteilsübertragung den gesetzlichen Verlustausgleichsanspruch des erworbenen Unternehmens, um beim Kaufpreis nachzubessern. Dabei macht er sich seinen Einfluss auf die Organe der Zielgesellschaft zunutze, um möglichst negative Ergebnisse zu erzielen. Beliebte Übung ist es, im Jahresabschluss für das letzte Geschäftsjahr der Organschaft, der nicht selten erst nach Anteilsübertragung aufgestellt werden kann, Ermessensspielräume und Bilanzierungswahlrechte soweit wie möglich zu Lasten des ehemals herrschenden Unternehmens auszuüben. Noch erheblich gravierender können die wirtschaftlichen Auswirkungen eines solchen Vorgehens für das ehemals herrschende Unternehmen sein, wenn der Käufer Hand an die Bilanzen der dem Vollzug des Kaufvertrages vorausgegangenen Geschäftsjahre legt. In der Praxis lässt sich vermehrt feststellen, dass Jahresabschlüsse zurückliegender Geschäftsjahre unter Hinweis auf tatsächliche oder vermeintliche Bilanzierungsfehler geöffnet werden, nicht selten im Anschluss an die Durchführung umfangreicher und kostspieliger Ermittlungen. Von dem Risiko eines möglichen Scheiterns der steuerlichen Organschaft abgesehen kann sich die frühere Organträgerin erheblichen Ansprüchen auf Zahlung von Verlustausgleich oder Rückzahlung in der Vergangenheit abgeführter Gewinne ausgesetzt sehen. Veranlasst der Käufer die Zielgesellschaft, die Bilanzen zu öffnen und ggf. neu aufzustellen, so führt ein niedrigerer Gewinn bzw. höherer Verlustausweis in diesen Bilanzen automatisch zu einem Rückzahlungsanspruch der Zielgesellschaft gegen den ehemaligen Gesellschafter gem. § 62 Satz 1 AktG. Ist das erworbene Unternehmen eine Aktiengesellschaft, können die Kapi- 1210 talerhaltungsvorschriften auch ohne Bestehen eines Beherrschungs- und/ oder Gewinnabführungsvertrages eine lohnende Quelle für die Begründung ___________ 2067) Dazu Brandes, Lib. Amic. M. Winter, 2011, 43 ff.

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von Ansprüchen der Zielgesellschaft gegen den Veräußerer sein. Bei der Aktiengesellschaft führt jede Einlagenrückgewähr zu einem Rückgewährungsanspruch der AG gem. § 62 Satz 1 AktG.2068) Eine Einlagenrückgewähr liegt dabei nicht nur dann vor, wenn tatsächlich eine Rückzahlung der Einlage erfolgt, sondern bei jeder Form von sog. verdeckten Gewinnausschüttungen. Ist es in der Vergangenheit zwischen der Zielgesellschaft und dem Veräußerer bzw. seinen sonstigen Konzerngesellschaften zu Leistungsverkehr gekommen, was in einem Konzern nicht unwahrscheinlich ist, so kann es für den Erwerber eine lohnende Übung sein, das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung, das in diesem Leistungsverkehr vereinbart wurde, auf seine Angemessenheit zu überprüfen. 1211 Weitere Ansprüche der Zielgesellschaft können sich aus konzernrechtlichen Vorschriften ergeben. Zu denken ist in etwa an eine Haftung auf Nachteilsausgleich bei schädigenden Einwirkungen oder eine Haftung aus § 317 AktG. V. Verjährung 1212 Eine erfolgsversprechende Anspruchsverfolgung setzt voraus, dass der Prozessgegner nicht mit Aussicht auf Erfolg die Einrede der Verjährung erheben kann. 1. Vertragliches Verjährungsregime 1213 Üblicherweise enthalten M&A-Verträge Regelungen zur Verjährung von Ansprüchen aus dem Kaufvertrag.2069) Dabei können die gesetzlichen Gewährleistungsfristen im Grundsatz sowohl verkürzt (§ 202 Abs. 1 BGB) als auch verlängert werden (§ 202 Abs. 2 BGB).2070) Manche M&A-Verträge enthalten einheitliche Verjährungsfristen, die sich auf sämtliche Ansprüche aus dem Vertrag beziehen. In der Praxis häufiger anzutreffen sind Verträge, die hinsichtlich des Beginns oder des Endes der Verjährungsfristen je nach Anspruchsgrundlage differenzieren.2071) Für Ansprüche, die sich auf die Eigentümerstellung des Veräußerers beziehen wie die sog. „Title“-Garantien und für Ansprüche aus Risiken, die sich ggf. erst nach Ablauf einer längeren Zeit materialisieren oder die schwer erkennbar sind, wird üblicherweise eine längere Verjährungsfrist vereinbart; für Umstände und Angaben, die der Erwerber leicht selbst überprüfen kann, gelten dagegen kürzere Verjährungsfristen. Ansprüche auf Freistellung von Steuerrisiken verjähren in der Praxis häufig erst nach Ablauf einer bestimmten Frist nach endgültiger Festsetzung der Steuern. ___________ 2068) Bei der GmbH ist dies erst der Fall, wenn die durch die §§ 30, 31 GmbH gezogenen Grenzen überschritten sind. 2069) Meyer-Sparenberg, in: Beck'sches Handbuch M&A, § 45 Rn. 110 ff. 2070) Brüggemeier, WM 2002, 1376, 1383. 2071) Weber, in: Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, Rn. 9.268 f.; Lips, in: Beck’sches Mandatshandbuch Unternehmenskauf, § 3 Rn. 233.

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Problematisch ist in der Praxis nicht selten die Bestimmung des Verjährungs- 1214 beginns bei Freistellungsansprüchen.2072) Für gesetzliche Freistellungsansprüche i. S. d. § 257 Satz 2 BGB hat der BGH – unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung2073) – entschieden, dass für den Verjährungsbeginn auf die Fälligkeit des Drittanspruchs abzustellen sei.2074) Ob diese Rechtsprechung auch auf vertragliche Freistellungsansprüche anzuwenden ist, ist im Schrifttum umstritten. Die herrschende Ansicht geht ungeachtet der geänderten BGH-Rechtsprechung für vertragliche Freistellungsansprüche von sofortiger Fälligkeit i. S. v. § 271 BGB aus.2075) Nach der Gegenauffassung beginnt die Verjährung erst, wenn der Drittanspruch fällig wird2076) und wenn die Geltendmachung eines Drittanspruchs droht.2077) 2. Gesetzliche Verjährungsfristen Enthält der Vertrag – was in der Praxis eher unüblich ist – keine Regelungen 1215 hinsichtlich der Verjährung, so gelten die gesetzlichen Gewährleistungsfristen. Für die kaufrechtlichen Gewährleistungsansprüche des Erwerbers gilt – soweit diese nicht abbedungen worden sind – grundsätzlich die Verjährungsfrist von zwei Jahren gem. § 438 Abs. 1 Nr. 3 BGB. Haben die Parteien die kaufrechtlichen Gewährleistungsansprüche abbedungen und stattdessen einen Katalog von selbstständigen Garantien vereinbart, es aber unterlassen, auch hinsichtlich der Verjährung eine vertragliche Sonderregelung zu treffen, so gilt grundsätzlich die dreijährige Regelverjährung gem. § 195 BGB mit Verjährungsbeginn gem. § 199 BGB.2078) Die dreijährige Regelverjährung gilt auch für Ansprüche wegen einer vorver- 1216 traglichen Pflichtverletzung. Rücktritts- und Minderungsrechte des Käufers (§§ 437 Nr. 2, 440, 323 BGB) 1217 unterliegen als Gestaltungsrechte keiner Verjährung. Die Ausübung beider Rechte ist jedoch nach § 438 Abs. 4, 5, § 218 Abs. 1 BGB unwirksam, wenn der Anspruch des Käufers auf Leistung oder auf Nacherfüllung verjährt ist. Die Verjährung beginnt beim Sachkauf gem. § 438 Abs. 2 BGB mit der Über- 1218 gabe bzw. Ablieferung der Sache, also regelmäßig mit dem Vollzug des Kaufvertrages. Für den Rechtskauf gibt es keine ausdrückliche Regelung. ___________ 2072) Dazu Link, BB 2012, 856 ff. 2073) BGH NJW 1984, 2151, 2152 ff. 2074) BGH NJW-RR 2010, 333 = ZIP 2010, 1299; BGH NJW 2010, 2197 = ZIP 2010, 1295; BGH BB 2011, 1807. 2075) Rutschmann, NZG 2010, 776, 777 ff.; ders., DStR 2010, 555, 559; vgl. auch Weber, in: Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, Rn. 9.105. 2076) Jagersberger, NZG 2010, 136, 138. 2077) Staudinger/Bittner, BGB, § 257 Rn. 27. 2078) Palandt/Weidenkaff, BGB, § 443 Rn. 23; MünchKomm-BGB/Westermann, § 443 Rn. 22; Wächter, M&A-Litigation, Rn. 5.254; Beisel/Klumpp, Unternehmenskauf, § 16 Rn. 93.

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1219 Ansprüche der Zielgesellschaft aus aktienrechtlichem Kapitalerhaltungsrecht verjähren gem. § 62 Abs. 3 AktG erst nach 10 Jahren. Gleiches gilt für den Anspruch auf Verlustausgleich bei Bestehen eines Beherrschungs- und/oder Gewinnabführungsvertrages (§ 302 Abs. 4 AktG). Ansprüche aus § 317 AktG verjähren nach fünf Jahren (§§ 317 Abs. 4, 309 Abs. 5 AktG). 3. Hemmung der Verjährung 1220 Ist im Vertrag nichts geregelt, gilt bzgl. der Hemmung der Verjährung § 203 BGB. Danach wird die Verjährung auch dann gehemmt, wenn die Parteien Verhandlungen über den Anspruch führen. 1221 In der Praxis wird § 203 BGB im Regelfall abbedungen. Macht der Kaufvertrag eine Anspruchserhebung durch den Erwerber von der Abgabe einer sog. „Claim-Notice“ abhängig, kann vereinbart werden, dass diese gleichzeitig zur Hemmung der Verjährung führt. Das ist indes keineswegs zwingend. Manche Verträge sehen auch vor, dass zur Hemmung der Verjährung die Erhebung einer Klage erforderlich ist. VI. Vergleich 1222 Kommt es im Nachgang eines Unternehmenskaufes zu Streitigkeiten zwischen den Parteien, so wird deren Bestreben in aller Regel darauf gerichtet sein, einen kostspieligen und langwierigen Prozess zu vermeiden und eine gütliche Einigung zu erreichen. In vielen Fällen wird den Parteien eine solche bereits im Vorfeld einer Klageerhebung gelingen. Selbst wenn es zum Prozess kommt, lehrt die Erfahrung, dass die Parteien nach Austausch einiger Schriftsätze und ggf. einer Erörterung durch den zuständigen Spruchkörper die Chancen und Risiken eines Prozesses kritischer einschätzen und mit erhöhter Kompromissbereitschaft erneut Gespräche miteinander aufnehmen. 1. Typische Vergleichsinhalte 1223 Was im Einzelnen im Vergleich zu regeln ist, hängt stark von dem der Auseinandersetzung zugrunde liegenden Sachverhalt ab und entzieht sich einer generalisierenden Darstellung. Der Sache nach ist der Vergleich eine vertragliche Regelung zwischen den Parteien, die in aller Regel dazu führt, dass der Regelungsgehalt des Unternehmenskaufvertrages in einzelnen Punkten abgeändert oder ergänzt wird. Dadurch werden bestehende Rechte und Pflichten der Parteien in dem Unternehmenskaufvertrag modifiziert bzw. es werden neue Rechte und Pflichten begründet, die in der Vergleichsvereinbarung im Einzelnen zu regeln sind. 1224 Waren Ursache der Streitigkeiten Unklarheiten im bisherigen Vertragskonvolut, so sind diese in der Vergleichsvereinbarung entsprechend klarzustellen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für Rechte und Pflichten der Parteien explizit zu regeln. Dabei ist darauf zu achten, dass weitere Unklar-

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heiten vermieden werden, um zu verhindern, dass es bei der Abwicklung der Vergleichsvereinbarung erneut zu einem Rechtsstreit kommt. Zwingender Regelungsgehalt des Vergleiches muss sein, welches Schicksal 1225 die Klageanträge der Parteien erfahren. Werden diese zurückgenommen oder für erledigt erklärt, so ist im Vergleichstext eine entsprechende Verpflichtung der Parteien zu regeln und festzulegen, von welchen Voraussetzungen diese abhängig sein soll. Vielfach werden die Parteien daran interessiert sein, über den Gegenstand 1226 des eigentlichen Rechtsstreits hinaus eine generelle Befriedigung ihrer Geschäftsbeziehungen herbeizuführen. Daher werden häufig Klauseln vereinbart, die vorsehen, dass mit dem Vergleich sämtliche Ansprüche zwischen den Parteien, ob bekannt und unbekannt, die zum Zeitpunkt des Vergleichsschlusses bestehen, endgültig erledigt und abgegolten sein sollen. Lässt sich eine Partei auf eine solche vertragliche Regelung ein, obwohl tatsächlich noch anderweitige Ansprüche bestehen, so hat eine solche, auch als „Ausgleichsquittung“ bezeichnete Klausel, die Wirkung eines negativen Schuldanerkenntnisses.2079) Beabsichtigen die Parteien, eine solche Regelung in den Vergleich mit aufzunehmen, so bedarf es sorgfältiger Prüfung, ob sich aus den Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien Ansprüche ergeben können, die bisher nicht Gegenstand des Rechtsstreits oder der Vergleichsverhandlungen waren. Sollen bestimmte Ansprüche von der Ausgleichsquittung ausgenommen werden, so ist dies im Vergleich explizit zu regeln. Ein weiterer Regelungsgegenstand, der zum Standard einer Vergleichsrege- 1227 lung gehört, sind Bestimmungen bzgl. der Aufteilung der Prozesskosten. Empfehlenswert ist ferner eine Vereinbarung hinsichtlich des anwendbaren 1228 Rechts und des Gerichtsstandes. Fehlt es an einer solchen Regelung, wird es im Zweifel dem Willen der Parteien entsprechen, die im Unternehmenskaufvertrag vereinbarten Regelungen auch für den Vergleich gelten zu lassen. Häufig werden Bestimmungen mit Blick auf die zu wahrende Vertraulich- 1229 keit der Vergleichsvereinbarung und ihres Inhalts vereinbart oder Regelungen zur Kommunikation des Vergleichsinhalts gegenüber Presse und Öffentlichkeit getroffen. 2. Prozessuale Fragen des Vergleichsschlusses Führen die Parteien Vergleichsverhandlung während des laufenden Verfah- 1230 rens, so ist zu bedenken, dass Vergleichsgespräche und -verhandlungen nicht selten mit einem beträchtlichem zeitlichen Aufwand verbunden sind und entsprechend Ressourcen binden, die eigentlich für die Arbeit an der Vorbereitung der Schriftsätze benötigt werden. Unterbreitet die Partei, die ihre Schriftsätze gerade eingereicht hat, der anderen Partei einen Vergleichsvor___________ 2079) MünchKomm-BGB/Schlüter, § 397 Rn. 15.

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schlag, so kann dies ein taktisches Manöver sein, um die Gegenpartei davon abzuhalten, ihre ganzen Ressourcen auf die Erstellung des Erwiderungsschriftsatzes zu konzentrieren. Um dem zu begegnen, kann es für die Gegenpartei ratsam sein, die Aufnahme von Vergleichsgesprächen von einer Zustimmung zu einem Ruhen oder einer Aussetzung des Verfahrens abhängig zu machen. Im deutschen Zivilprozess wird ein Ruhen des Verfahrens (§ 251 ZPO) in aller Regel angeordnet, wenn die Parteien Vergleichsgespräche führen und einen entsprechenden Antrag bei Gericht stellen. Die Möglichkeit einer Aussetzung des Verfahrens auf Betreiben der Parteien ist auch in den meisten Schiedsordnungen möglich und liegt im Ermessen des Schiedsgerichts. 1231 Schließen die Parteien einen Vergleich, so haben sie darüber zu entscheiden, ob sie eine gerichtliche Protokollierung des Vergleiches wünschen. Ein gerichtlich protokollierter Vergleich hat dieselben Wirkungen wie ein Urteil, ermöglicht also den Parteien, unmittelbar aus dem Vergleich die Zwangsvollstreckung zu betreiben. Ein außergerichtlich protokollierter Vergleich hat dagegen lediglich die Wirkung eines schuldrechtlichen Vertrages. Erfüllt eine Partei ihre Pflichten nicht, so muss erneut geklagt werden. Umgekehrt schließt ein gerichtlich protokollierter Vergleich die Erhebung einer erneuten Klage aus. 1232 Verpflichten sich die Parteien lediglich zu einer Rücknahme der Klage, so steht dies nach deutschem Zivilprozessrecht der Erhebung einer erneuten Klage prozessual nicht entgegen; die Erhebung einer erneuten Klage aufgrund desselben Sachverhaltes kann aber daran scheitern, dass der Anspruch aufgrund der Wirkungen des Vergleichsschlusses nicht mehr besteht und die Klage damit als unbegründet abzuweisen wäre. Andere Rechtsordnungen sehen die Rücknahme einer Klage „with prejudice“ vor. Willigt die Partei in eine derart qualifizierte Klagerücknahme ein, so kann dies zur Unzulässigkeit einer erneuten Klage führen. 1233 Die meisten Schiedsordnungen sehen die Möglichkeit vor, das Schiedsgericht dazu zu veranlassen, aufgrund des Vergleichsschlusses einen Schiedsspruch mit vereinbartem Wortlaut zu erlassen (§ 1053 Abs. 1 Satz 2 ZPO, § 32 DIS-SchO, Art. 26 ICC-SchO).2080) Ein solcher hat zwar nicht die Wirkungen wie ein gerichtlich protokollierter Vergleichsschluss, da er keinen vollstreckbaren Titel darstellt; der Schiedsspruch mit vereinbartem Wortlaut kann aber – so wie jeder andere Schiedsspruch – nach den einschlägigen Regelungen ggf. für vollstreckbar erklärt werden. C. Kaufpreisanpassungsstreitigkeiten bei M&A-Transaktionen I. Einführung und Abgrenzung zu Post Merger Litigation Daniel Wiegand

1234 Neben der im vorstehenden Kapitel beschriebenen „Post Merger Litigation“ wegen der Verletzung von Verkäufergarantien im Unternehmensvertrag oder ___________ 2080) Beisel/Klumpp, Unternehmenskauf, § 18 Rn. 10.

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C. Kaufpreisanpassungsstreitigkeiten bei M&A-Transaktionen

anderweitiger Haftung des Verkäufers wegen nicht erwartungsgerechter Beschaffenheit des erworbenen Unternehmens (Rn. 1152 ff.) treten in der M&APraxis häufig auch Streitigkeiten über die genaue und endgültige Abrechnung des Kaufpreises auf. Bei vielen großen M&A-Transaktionen steht nämlich beim Vertragsschluss der endgültige Kaufpreis noch nicht fest, sondern ergibt sich erst aus einer Kaufpreisformel. Das Erfordernis einer solchen nachträglichen Kaufpreisbestimmung kann sich zum einen daraus ergeben, dass der Vollzug der Transaktion z. B. wegen noch erforderlicher kartellrechtlicher Freigaben erst nach einiger Zeit erfolgen kann und die Parteien den Kaufpreis aufgrund des bei Vertragsabschluss noch nicht bekannten Wertes des Zielunternehmens bei Vollzug bestimmen wollen (sog. Closing Accounts Methode), in anderen Fällen auch daraus, dass die Parteien ihre unterschiedlichen Preisvorstellungen dadurch überbrücken, dass ein Teil des Kaufpreises von zukünftigen Entwicklungen des Zielunternehmens abhängt (sog. Earn-OutKlauseln).2081) In der Kaufpreisformel finden sich in der Regel verschiedene Elemente, die 1235 aus der Bilanz des Zielunternehmens zu einem bestimmten Stichtag oder – seltener – aus der Gewinn-und Verlustrechnung des Zielunternehmens für eine bestimmte Periode zu entnehmen sind und über deren Berechnung Streit zwischen den Parteien entstehen kann. Unternehmenskaufverträge sehen daher bei der Verwendung von Kaufpreisformeln typischerweise detaillierte Regeln für die Aufstellung von Abrechnungsbilanzen und die Streitbeilegung bei Meinungsverschiedenheiten vor. Da es typischerweise schwerpunktmäßig um Fragen der richtigen Bilanzierung von Sachverhalten geht, wird die Streitentscheidung in der Regel einem Wirtschaftsprüfer als neutralem Schiedsgutachter i. S. v. § 317 BGB anvertraut und landet – anders als in Fällen der sonstigen Post Merger Litigation – nur selten bei einem Schiedsgericht. Daher erlangen Kaufpreisanpassungsstreitigkeiten selten große Aufmerksamkeit und sind auch in der juristischen Literatur bisher vergleichsweise wenig behandelt werden.2082) Wirtschaftlich geht es jedoch teilweise um erhebliche Summen (häufig um größere Beträge als bei der Verletzung von Verkäufergewährleistungen)2083) und auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht stellen sich einige interessante Fragen. In dem folgenden Beitrag soll zuerst ein Überblick über die wichtigsten in 1236 der M&A-Praxis verbreiteten Kaufpreisanpassungsmechanismen (und damit über mögliche Streitgegenstände) gegeben werden (dazu Rn. 1237 ff.) und anschließend das typische Verfahren zur Ermittlung von Kaufpreisanpassungen beschrieben werden (Rn. 1263 ff.). ___________ 2081) Umfassend zu Kaufpreisformeln in Unternehmensverträgen: Ziegenhain, in: Beck’sches Handbuch M&A, § 13 m. z. N.; Kiem, Kaufpreisregelungen beim Unternehmenskauf, 2. Aufl., 2018. 2082) Vgl. immerhin Habersack/Tröger, DB 2009, 44 ff., Frey/Müller, in: Festschrift Tschäni, 2010, S. 192. 2083) Dazu oben Rn. 1189 ff.

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II. Typische Kaufpreisanpassungsregeln (Kaufpreisformeln) 1. Festkaufpreise und variable Kaufpreise 1237 Vereinbaren die Parteien einen festen Kaufpreisbetrag, der am Tage des Vollzuges der Transaktion Zug um Zug gegen Übertragung des Unternehmens durch den Käufer zu begleichen ist, scheidet eine Kaufpreisanpassung und eine spätere Streitigkeit darüber naturgemäß aus. Festkaufpreise finden sich in der Unternehmenskaufpraxis typischerweise in drei Fallkonstellationen: x

Erwerb aus der Insolvenz auf Grundlage eines sog. „All-in“ Kaufpreises.2084) Hier liegt es im Interesse des Insolvenzverwalters sowie der Insolvenzgläubiger, fixierte Kaufpreiserlöse einplanen zu können, die keiner weiteren Anpassung unterliegen.

x

Kleine Transaktionen, die zeitgleich mit Unterzeichnung des Unternehmenskaufvertrages unmittelbar vollzogen werden können. Dies ist nur dann der Fall, wenn keine Kartellfreigaben erforderlich sind, weil die relevanten Umsatzschwellen nicht erreicht werden.2085) Hier besteht aufgrund der zeitlichen Kongruenz von schuldrechtlichem Verpflichtungsgeschäft und dinglichem Vollzug kein Risiko für Wertveränderungen des Zielunternehmens, die eine Kaufpreisanpassung erfordern würden.2086)

x

Verkauf des Zielunternehmens zu einem in der Vergangenheit liegenden wirtschaftlichen Stichtag. In diesem Fall erfolgt die Bewertung und Kaufpreisbestimmung auf Basis eines bereits vorliegenden, historischen Jahres- oder Zwischenabschlusses des Zielunternehmens (z. B. Verkauf im April 2020 auf Basis des Jahresabschlusses zum 31.12.2019). Sämtliche Bewertungsparameter (Vermögensgegenstände und Verbindlichkeiten des übernommenen Unternehmens) sind dann bei Vertragsschluss bekannt und eine Kaufpreisanpassung erübrigt sich. Allerdings muss der Käufer bei diesem Konzept das Risiko negativer Wertveränderungen des Zielunternehmens zwischen Stichtag und Vollzug übernehmen und durch Garantien sicherstellen, dass keine Wertabflüsse erfolgen. Daher wird dieser Ansatz heute als „Locked Box“-Verfahren bezeichnet.2087)

___________ 2084) Vgl. Hörtnagl/Marxer, in: Petersen/Zwirner/Brösel, E. 12. Rn. 8. 2085) In Deutschland ist nach § 35 Abs. 1 GWB eine Freigabe des Zusammenschlusses durch das Bundeskartellamt erforderlich, wenn die beteiligten Unternehmen im letzten Jahr insgesamt weltweit Umsatzerlöse von mehr als 500 Mio. Euro und im Inland mindestens ein beteiligtes Unternehmen Umsatzerlöse von mehr als 25 Mio. Euro und ein anderes beteiligtes Unternehmen Umsatzerlöse von mehr als 5 Mio. Euro erzielt haben. 2086) Die Kosten für Ermittlung einer Kaufpreisanpassung stehen in diesen Fällen häufig auch nicht in angemessenem Verhältnis zur Kaufpreissumme, vgl. Bruski, BB 2005 (BB-Spezial 7), 19 (19); Picot, in: Picot, § 4 Rn. 125. 2087) Ab dem Stichtag ist das Zielunternehmen wie eine verschlossene Kiste, aus der nichts mehr entnommen werden darf (und auch nichts mehr hereingelegt werden darf). Ausführlich dazu Ziegenhain, in: Beck’sches Handbuch M&A, § 13 Rn. 15 ff.

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C. Kaufpreisanpassungsstreitigkeiten bei M&A-Transaktionen

Wenn keine der vorgenannten Konstellationen vorliegt, in denen sich ein 1238 Festkaufpreis anbietet, werden die Parteien einen variablen Kaufpreis wählen, der auf Grundlage einer noch zu erstellenden Stichtagsbilanz des Zielunternehmens zu ermitteln ist (sog. „Effective Date Accounts“ oder „Closing Accounts“).2088) Die Stichtagsbilanz wird in der Regel auf den Tag des Vollzugs der M&A-Transaktion (wenn dieser zu einem Monatsende erfolgt) oder auf das letzte Monatsende vor Vollzug erstellt. Im Unternehmenskaufvertrag wird ein bei Vollzug fälliger vorläufiger Kaufpreis vereinbart (z. B. auf Basis der Werte aus der letzten vorliegenden Bilanz oder einer Schätzung der Werte zum zukünftigen Stichtag), der dann anhand der Werte in der Stichtagsbilanz anzupassen ist. In den allermeisten Fällen fließen nicht alle Bilanzpositionen in die Kauf- 1239 preisanpassung ein. Die in der Historie häufige Kaufpreisanpassung auf Basis des bilanziellen Eigenkapitals des Zielunternehmens (die zu einer Berücksichtigung aller Bilanzpositionen führt, weil das Eigenkapital die Residualgröße ist2089) findet man heutzutage nur noch vereinzelt bei kleineren Transaktionen und bei Transaktionen im Finanzsektor.2090) Der praktisch bedeutendste Anwendungsfall eines variablen Kaufpreises ist die sog. „Cash Free/ Debt Free“-Kaufpreisformel, bei der ein ohne Berücksichtigung der Verschuldung („Debt“) und liquider Mittel („Cash“) des verkauften Unternehmens ermittelter Gesamtunternehmenswert (sog. „Enterprise Value“)2091) zum Marktwert des verkauften Eigenkapitals zum Stichtag (sog. „Equity Value“)2092) übergeleitet wird (dazu gleich Rn. 1241 ff.) Schließlich gibt es auch erfolgsbezogene Kaufpreisanpassungen, bei denen 1240 der Kaufpreis in Folge zukünftiger Umsätze, Ergebnisse oder sonstiger Entwicklungen des Zielunternehmens auf Basis vertraglich vereinbarter Parameter angepasst wird (sog. Earn-Out-Klauseln, dazu unten Rn. 1258 ff.).2093) 2. Cash Free/Debt Free Kaufpreisformeln a) Grundprinzip Bei der Cash Free/Debt Free-Kaufpreisformel sind alle Bilanzpositionen, die 1241 als Cash (Liquide Mittel) oder Debt (Verschuldung) zu qualifizieren sind, ___________ 2088) Beisel/Klumpp, Unternehmenskauf, 7. Aufl., § 11 Rn. 5; Lehmann, CFL 2011, 31, 32 f. 2089) Vgl. hierzu: Baumbach/Hopt/Merkt, § 266 Rn. 14 ff. 2090) Schrader, in: Beck’sches Formularbuch M&A, Form. C.II.1 Anm. 26; kritisch zu dieser Methode Hörtnagl/Zwirner/Busch, in: Beck’sches Mandatshandbuch Unternehmenskauf, § 5 Rn. 25, 50. 2091) Zu den gängigen Bewertungsmethoden bei Unternehmenskäufen vgl. statt vieler Aders, in: Beck’sches Handbuch M&A, §§ 11 und 12. 2092) Der Marktwert des Eigenkapitals ist der Wert des Unternehmens, der den Inhabern der Eigenkapitalanteile zusteht (und nicht den Kreditgebern, Pensionären u. a.). Er ist nicht zu verwechseln mit dem bilanziellen Eigenkapital. 2093) Vertiefend etwa Hilgard, BB 2010, 2912 ff.; Ihlau/Gödecke, BB 2010, 687 ff.; Werner, DStR 2012, 1662 ff.

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Grundlage der genauen Bestimmung des Kaufpreises und damit der Kaufpreisanpassung. Mit anderen Worten ist die Nettoverschuldung vom Gesamtunternehmenswert abzuziehen. Der Grund hierfür liegt darin, dass der Gesamtunternehmenswert (d. h. der Enterprise Value) unter Außerachtlassung der bestehenden Verschuldung des Unternehmens ermittelt wird, um auf diese Weise eine Vergleichbarkeit von Kaufpreisen für Unternehmen herzustellen.2094) Denn nur ein Vergleich der Gesamtunternehmenswerte lässt eine Aussage über die Ertragskraft eines Unternehmens zu, wie sie unabhängig von der Finanzierungsform besteht. Der sog. Enterprise Value berücksichtigt aber nicht, dass ein Teil der zukünftigen Erträge oder Cash Flows nicht den Anteilsinhabern zusteht, sondern für die Bedienung von Bankverbindlichkeiten oder ähnlichen Fremdverbindlichkeiten verwendet werden muss. Daher ist der Wert der Anteile, die bei einer M&A-Transaktion das Kaufobjekt bilden, um den Wert dieser Verbindlichkeiten zum Stichtag der Übertragung gemindert. Umgekehrt erhöht sich der Wert der verkauften Anteile (d. h. der sog. Equity Value), um den Betrag der liquiden Mittel (Cash), der am Stichtag bereits im Unternehmen vorhanden ist und den Anteilseigners zusätzlich zu künftigen Cash Flows zur Bedienung von Verbindlichkeiten oder Zahlung von Dividenden zur Verfügung steht. 1242 In der Kaufpreisformel wird typischerweise in einem ersten Schritt der Enterprise Value um Cash-Positionen erhöht und in einem zweiten Schritt um Debt-Positionen vermindert:2095) „Der vom Käufer für die verkauften Geschäftsanteile an der Gesellschaft zu zahlende Kaufpreis berechnet sich wie folgt: 1. EUR [·] („Grundkaufpreis“ oder „Enterprise Value“) plus 2. den Betrag der Liquiden Mittel der Gesellschaft zum Stichtag, die auf Basis der Stichtagsbilanz zu ermitteln sind minus 3. den Betrag der zum Stichtag bestehenden Finanzverbindlichkeiten [und Sonstigen Relevanten Verbindlichkeiten] der Gesellschaft, die auf Basis der Stichtagsbilanz zu ermitteln sind“

___________ 2094) Eine Cash Free/Debt Free Anpassung ist daher bei einer Bestimmung des Unternehmenswerts nach dem Ertragswertverfahren oder der DCF-Nettomethode nicht erforderlich, da Zins- und Schuldendienst bei dieser Methode bereits mitberücksichtigt sind: hierzu ausf. Hörtnagl/Marxer, in: Petersen/Zwirner/Brösel, E. 12. Rn. 18, 56; Mirow, CFL 2011, 145, 147. 2095) Vgl. auch Lappe/Schmitt, DB 2007, 153, 156; Lips, in: Beck’sches Mandatshandbuch Unternehmenskauf, § 3 Rn. 161; Picot, in: Picot, § 4 Rn. 149 ff; Semler, in: Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, Teil VII Rn. 160; Schrader, in: Beck’sches Formularbuch M&A, Form. C.II.1 Anm. 26.

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C. Kaufpreisanpassungsstreitigkeiten bei M&A-Transaktionen

b) Relevante Bilanzpositionen Die Definition der Cash-Positionen ist in den Verhandlungen typischerweise 1243 wenig umstritten, da in der M&A-Praxis weitgehend Einigkeit darüber besteht, dass nur kurzfristig verfügbare liquide Mittel als „Cash“ zu qualifizieren sind und kaufpreiserhöhende berücksichtigt werden können: „Liquide Mittel“ sind die in § 266 Abs. 2 B III 2 und Abs. 4 HGB genannten Vermögensbestandteile, nämlich sonstige Wertpapiere (z. B. Wechsel), Schecks, Kassenbestand, Bundesbankguthaben sowie Guthaben bei Kreditinstituten“.2096)

In relevanten Fällen findet sich manchmal eine Regelung, nach der sog. 1244 „Trapped Cash“ nicht zu berücksichtigen ist. Mit „Trapped Cash“ sind liquide Mittel gemeint, die innerhalb der Unternehmensgruppe nicht frei transferiert werden können, z. B. wegen Beschränkungen internationaler Geldtransfers2097). Die Definition der Debt-Positionen ist schwieriger und häufig Gegenstand 1245 kontroverser Verhandlungen. Unstreitig sind klassische Finanzierungsverbindlichkeiten gegenüber Banken und anderen Kreditgebern, das sog. „Financial Debt“: „Finanzverbindlichkeiten“ sind alle Verbindlichkeiten gegenüber Kreditinstituten und ähnlichen Darlehensgebern und gegenüber verbundenen Unternehmen, soweit sie nicht auf Lieferungen und Leistungen beruhen.

Aus der Sicht des Käufers sollen typischerweise zahlreiche weitere zu künf- 1246 tigen Liquiditätsabflüssen führende Bilanzpositionen als „Other Debt“ oder „Sonstige Relevante Verbindlichkeiten“ und damit als Abzugsposten definiert werden. Zu nennen sind hier beispielsweise: aa) Nicht ausgeschüttete Dividenden Eindeutig und wenig streitanfällig ist der Fall einer nach dem Stichtag noch 1247 an den Verkäufer auszuschüttenden Dividende. Andernfalls würde der Käufer für eine Cash-Position zahlen, die sich der Verkäufer qua Dividende nach dem Stichtag noch vereinnahmt.2098) bb) Nicht gedeckte Pensionsverbindlichkeiten Ausgangspunkt bei der Behandlung von Pensionsverbindlichkeiten ist, dass das 1248 Zielunternehmen nicht gedeckte Pensionszusagen gegenüber Arbeitnehmern und Organmitgliedern aus den zukünftigen Cash Flows bedienen muss und ___________ 2096) Zahlungsansprüche der Zielgesellschaft gegen den Verkäufer aus Cash Pooling oder sonstigen Ausleihungen werden in der Regel zusätzlich ausdrücklich als „Liquide Mittel“ definiert. 2097) Der in der heutigen M&A Praxis häufigste Fall sind Cash-Bestände in einer chinesischen Tochtergesellschaft, die wegen der Devisenbeschränkungen nicht ohne weiteres an die Muttergesellschaft ausgeschüttet werden können. 2098) Hilgard, DB 2007, 559, 560.

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die zur Bedienung der Pensionsverpflichtungen benötigten Cash Flows nicht den Anteilseignern zur Verfügung stehen. Damit sind nicht gedeckte Pensionsverbindlichkeiten aus Sicht einer Cash Free/Debt Free-Bewertung vergleichbar mit Kreditverbindlichkeiten oder nicht ausgeschütteten Dividenden, aber ungleich schwerer genau zu beziffern.2099) Dabei sind nur die sog. leistungsorientierten Versorgungspläne (sog. Defined Benefit Plan) relevant, weil bei diesen Plänen eine Verpflichtung des Unternehmens zur künftigen Erfüllung von in der Vergangenheit zugesagten Leistungen an aktive und frühere Arbeitnehmer besteht.2100) Für diese zukünftigen Verpflichtungen aus Pensionszusagen sind Rückstellungen in der Bilanz zu bilden, die dem abgezinsten Barwert der zu erwartenden Zahlungsabflüsse an die Betriebsrentenempfänger entsprechen müssen. Die Berechnung der Rückstellungen ist eine Wissenschaft für sich und erfordert in der Regel ein sog. versicherungsmathematisches Gutachten.2101) Die verschiedenen Rechnungslegungsvorschriften führen zudem oft zu erheblichen Unterschieden in der Bewertung.2102) Oft werden die Pensionsverpflichtungen wegen ihres erheblichen Umfangs und zur Sicherung der Ansprüche der Arbeitnehmer ganz oder teilweise durch spezielle Pensionsvermögen abgesichert. Der durch derartige Aktiva („Pension Assets“) nicht gedeckte Teil der Pensionsverpflichtungen wird als „Unfunded Pension Liabilities“ bezeichnet und im Rahmen der Cash Free/Debt Free-Kaufpreismechanik als Debt oder „Sonstige Relevante Verbindlichkeit“ und damit als Abzugsposten behandelt. 1249 Wegen der Schwierigkeiten bei der Berechnung verzichten die Parteien allerdings manchmal auf eine aufwendige Neubewertung der nicht gedeckten Pensionsverbindlichkeiten zum Stichtag, die ein neues versicherungsmathematisches Gutachten erfordern würde, und damit auf eine Kaufpreisanpassung wegen Differenzen zwischen vorläufiger und endgültiger Bewertung der Pensionsverbindlichkeiten, sondern einigen sich vorab auf einen Pauschalabzug, welcher dann schon in den bei Vollzug fälligen vorläufigen Kaufpreis einfließt. cc) Steuerverbindlichkeiten und Steuerrückstellungen 1250 Im Falle der Nichtzahlung von Steuern durch das Zielunternehmen, die den Zeitraum vor dem wirtschaftlichen Stichtag betreffen, ist die Cash-Position um den Betrag der ausstehenden Steuern überhöht ist. Dem Verkäufer soll ___________ 2099) Dazu ausf. Koesling, in: Kiem, § 7 Rn. 111 ff. 2100) Bei sog. beitragsorientierten Plänen („Defined Contribution Plans“) leistet die Gesellschaft dagegen laufend Beitragszahlungen in ein Sondervermögen (z. B: Pensionsfonds) und dem Begünstigten stehen nur die Ansprüche zu, die sich aus der Summe von eingezahltem Kapital und Kapitalerträgen ergeben. Diese Pensionsmodelle sind für Kaufpreisformeln irrelevant, weil die laufenden Beitragszahlungen das Cash vermindert haben. 2101) Bei der Berechnung sind u. a. zu berücksichtigen: Höhe der zukünftigen Lohn- und Gehaltszahlungen, Lebenserwartung der Pensionäre, Abzinsungsfaktor. 2102) Dazu Baumbach/Hopt/Merkt, § 249 Rn. 14 ff. und § 253 Rn. 3 ff. m. w. N.

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jedoch nur das Cash kaufpreiserhöhend vergütet werden, das nach Begleichung aller Steuern, die den Zeitraum vor dem wirtschaftlichen Stichtag betreffen, verblieben ist. Sofern und soweit Steuern zum Stichtag nicht beglichen sind, kann man diese entweder kaufpreisreduzierend als Debt-Position in der Kaufpreisklausel behandeln oder alternativ über eine Steuerfreistellung des Verkäufers erfassen.2103) Jedenfalls bei Transaktionen mit einem Stichtag nach dem Unterzeichungstag ist jedoch richtige Berechnung der Rückstellung für ausstehende Steuern von einer Vielzahl von Annahmen abhängig und daher bei der Aufstellung und Prüfung der Stichtagsbilanz besonders streitanfällig ist. Aus diesem Grund sind Steuerfreistellungen der gängigere Weg in der M&A-Praxis, häufig werden diese mit einer Kaufpreisanpassung kombiniert und zwar dergestalt, dass die Freistellung nur für solche Steuernachzahlungen gilt, die nicht bereits kaufpreisreduzierend berücksichtigt wurden. dd) Leasingverbindlichkeiten Zukünftige Verpflichtungen des verkauften Unternehmens aus einem Miet- 1251 oder Leasingverhältnis sind nach den Regelungen des HGB in der Bilanz als Verbindlichkeit zu bilanzieren, wenn das zugrunde liegende Rechtsverhältnis nach den anwendbaren Bilanzierungsregeln als Finanzierungsleasing zu qualifizieren ist.2104) Bei Bilanzierung nach International Financial Reporting Standards (IFRS) schreibt der neue IFRS 16 seit 1.1.2019 vor, bei fast all Leasingverhältnissen in der Bilanz des Leasingnehmers die Leasingverpflichtungen einerseits und andererseits der Right-of-use auszuweisen.2105) Sofern eine Aktivierung des Leasinggegenstände nicht erfolgt ist, tauchen die Leasingzahlungen in der Gewinn- und Verlustrechnung bzw. in der künftigen Ergebnisplanung als Aufwand auf; dieser Aufwand reduziert damit künftige Ergebnisse bzw. Cash Flows und somit bei Berwertung nach der herrschenden Discounted Cash Flow Methode den Enterprise Value. Diese sog. Operating Leases als Form einer Off-Balance-Sheet-Finanzierungen sind in einer Cash Free/Debt Free-Kaufpreisformel nicht nochmals als Abzugsposten zu berücksichtigen, da es andernfalls zu einem doppelten Abzug käme.2106) ee) Weitere Positionen Darüber hinaus werden je nach Umständen des Einzelfalls weitere „verschul- 1252 dungsähnliche“ Positionen („Debt Like Items“) als Abzugsposten und damit als Kaufpreisanpassungsparameter definiert, weil sie entweder zu künftigen ___________ 2103) Vgl. Kästle/Oberbracht, Unternehmenskauf – Share Purchase Agreement, S. 80. 2104) Dann wird das Leasing bilanziell so behandelt, als ob das Unternehmen ein Darlehen aufgenommen und den geleasten Gegenstand gekauft hätte, vgl. Ziegenhain, in: Beck’sches Handbuch M&A, § 13 Rn. 36 f.; Schrader, in: Beck’sches Formularbuch M&A, Form. C.II.1 Anm. 36. 2105) Ausnahmen bilden Leasingverbindlichkeiten mit einer Laufzeit von weniger als zwölf Monaten, sowie geringwertige Leasingverträge. 2106) Matzen, in: Knott/Mielke, Rn. 806.

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Cash-Abflüssen für historische Risiken außerhalb des gewöhnlichen Geschäftsbetriebs führen, wie z. B. Rückstellungen für Abfindungszahlungen, Rückstellungen für größere Rechtsstreitigkeiten und Altlasten, oder weil sie zu einer künstlichen Erhöhung der Cash-Position zum Stichtag geführt haben (z. B. Factoring, unterlassene Investitionen) c) Working Capital Anpassung 1253 In den meisten Fällen erfolgt bei einer Cash Free/Debt Free-Kaufpreisformel neben der Anpassung des Enterprise Value um die soeben beschriebenen Cashund Debt-Positionen zum zukünftigen Stichtag auch eine Anpassung bezogen auf das sog. Working Capital (Nettoumlaufvermögen) des verkauften Unternehmens zum Stichtag. Diese dient in erster Linie dazu, eine Manipulation der Cash-Positionen durch den Verkäufer zu unterbinden, indem dieser beispielsweise Forderungen aus Lieferungen und Leistungen kurz vor dem wirtschaftlichen Stichtag durch Factoring oder Gewährung von außergewöhnlichen Skonti an Kunden in Cash umwandelt.2107) Dadurch wird die kaufpreisrelevante Cash Position „künstlich“ erhöht und der Käufer erhält weniger Forderungen, die zukünftigen Cash Flow generieren. Auch die umgekehrte Manipulation zugunsten des Käufers durch das Management der Zielgesellschaft, z. B. durch beschleunigte Zahlung von Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen kurz vor dem Stichtag und entsprechende Reduktion der Cash Position, ist denkbar und durch eine Working Capital Anpassung zu verhindern.2108) 1254 In der Kaufpreisformel wird daher der nach Cash/Debt-Anpassung ermittelte Kaufpreis um Veränderung des Working Capital gegenüber einer zwischen den Parteien vorab vereinbarten Zielgröße „nach oben“ oder „nach unten“ adjustiert: „Der vom Käufer für die verkauften Geschäftsanteile an der Gesellschaft zu zahlende Kaufpreis berechnet sich wie folgt: 1. EUR [·] („Grundkaufpreis“ oder „Enterprise Value“) plus 2. den Betrag der Liquiden Mittel der Gesellschaft zum Stichtag, die auf Basis der Stichtagsbilanz zu ermitteln sind minus 3. den Betrag der zum Stichtag bestehenden Finanzverbindlichkeiten und Sonstigen Relevanten Verbindlichkeiten der Gesellschaft, die auf Basis der Stichtagsbilanz zu ermitteln sind plus

___________ 2107) Lappe/Schmitt, DB 2007, 153, 156; Schrader, in: Beck’sches Formularbuch M&A, Form. C.II.1 Anm. 26; weitere Beispiele finden sich etwa bei Hilgard, DB 2007, 559 ff. 2108) Beispielrechnungen bei Ziegenhain, in: Beck’sches Handbuch M&A, § 13 Rn. 39 ff. Vgl. auch Hörtnagl/Zwirner/Busch, in: Beck’sches Mandatshandbuch Unternehmenskauf, § 5 Rn. 47; v. Braunschweig, DB 2002, 1815, 1817.

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C. Kaufpreisanpassungsstreitigkeiten bei M&A-Transaktionen 4. den Betrag, um den das Nettoumlaufvermögen der Gesellschaft am Stichtag, das auf Basis der Stichtagsbilanz zu ermitteln ist, den Betrag von EUR [·] überschreitet bzw. minus 5. den Betrag, um den das Nettoumlaufvermögen der Gesellschaft am Stichtag, das auf Basis der Stichtagsbilanz zu ermitteln ist, den Betrag von EUR [·] unterschreitet“.

Ebenso wie bei der Anpassung um Cash und Debt ist die entscheidende Frage, 1255 welche Bilanzpositionen als Bestandteil des Nettoumlaufvermögens definiert werden. Unstreitig gehören Vorräte, Forderungen aus Lieferungen und Leistungen und Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen dazu (sog. Trade Working Capital): „‚Nettoumlaufvermögen‘ ist die Summe der Vorräte (§ 266 Abs. 2 B I HGB) der Gesellschaft zuzüglich der Forderungen der Gesellschaft aus Lieferungen und Leistungen (§ 266 Abs. 2 B II 1 HGB) abzüglich der Verbindlichkeiten der Gesellschaft aus Lieferungen und Leistungen (§ 266 Abs. 3 C 4 HGB).“

Je nach Zuschnitt des verkauften Unternehmens wird die Definition des Wor- 1256 king Capital auf weitere Bilanzpositionen ausgedehnt, wie z. B. „sonstige Vermögensgegenstände“, „sonstige Rückstellungen“, „sonstige Verbindlichkeiten“ Je umfangreicher die in die Bestimmung des Working Capital einbezogenen Bilanzpositionen sind, desto stärker rückt die Working Capital Anpassung jedoch in die Nähe einer Kaufpreisanpassung auf Basis des Eigenkapitals. )

Während als Cash und Debt definierte Bilanzpositionen unmittelbar zu einer 1257 Kaufpreisanpassung führen, kommt es bei der Working Capital-Anpassung – wie aus dem Zweck der Anpassung und der o. g. Formulierung ersichtlich – auf die Abweichung von einer Zielgröße an. Die Festlegung dieser Zielgröße erfolgt zumeist auf der Basis des sog. normalisierten Working Capitals,2109) d. h. dem Jahresdurchschnitt des Nettoumlaufvermögens über einen bestimmten Betrachtungszeitraum, ggf. angepasst an zwischenzeitliches Umsatzwachstum.2110) Mit anderen Worten bleiben unterjährige Höhen und Tiefen des Working Capitals (z. B. wegen Vorratsaufbau vor dem Weihnachtsgeschäft) unberücksichtigt. Früher war es üblich, eine Bandbreite für das Working Capital vorzusehen, um unnötige Streitigkeiten über die Kaufpreisabrechnung wegen geringfügiger Abweichungen vom „normalen“ Nettoumlaufvermögen zu vermeiden. In der jüngsten M&A-Praxis hat sich jedoch ein fixer Euro-Betrag als Zielgröße etabliert, weil ansonsten eine der beiden Vertragsparteien einen Vorteil daraus ziehen kann, dass sich das Working Capital am unteren oder oberen Ende der Bandbreite bewegt, ohne dass hieraus eine Korrektur des Kaufpreises resultieren würde. Das erhöht natürlich wiederum ___________ 2109) Hörtnagl/Zwirner/Busch, in: Beck’sches Mandatshandbuch Unternehmenskauf, § 5 Rn. 48; Meyding/Adolphs, BB 2012, 2383, 2385. 2110) Koesling, in: Kiem, § 8 Rn. 30.

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die Zahl möglicher Streitigkeiten um eine Kaufpreisanpassung, weil jeder Euro Abweichung beim Working Capital Auswirkungen auf den Kaufpreis hat. 3. Earn-Out- und Mehrerlösmechanismen a) Anpassungsmodelle und Zweck 1258 Neben den Kaufpreisanpassungen auf Grundlage des genauen Wertes des Unternehmens zum Stichtag des Übergangs gibt es auch die von der zukünftigen Entwicklung des Unternehmens abhängigen Kaufpreisanpassungen. Diese kommen zum Einsatz, wenn zwischen Verkäufer und Käufer unterschiedliche Auffassungen über die Unternehmensentwicklung und damit über den Wert des Unternehmens bestehen. Der Käufer wird in der Regel darauf setzen, diesen ergebnisabhängigen Teil des Kaufpreises nicht vorab finanzieren zu müssen, sondern bestenfalls aus laufenden Cash Flows des Unternehmens begleichen zu können. In so einem Fall verständigen sich die Parteien darauf, dass neben der Hauptzahlung beim Vollzug der Transaktion weitere Kaufpreisanteile in Abhängigkeit von der Erreichung bestimmter Umsatz- oder Ergebnisziele zu bezahlen sind (sog. „Earn-Outs“).2111) Neben dieser herkömmlichen Form des Earn-Outs finden sich bei Transaktionen unter Beteiligung von Finanzinvestoren in der jüngeren Vergangenheit auch vermehrt Klauseln, die auf die Weiterveräußerung des Unternehmens und den dabei vom Käufer erzielten Gewinn abstellen, die sog. Mehrerlösklauseln.2112) b) Herkömmlicher Earn-Out-Mechanismus 1259 Beim herkömmlichen Earn-Out erhält der Verkäufer eine (oft nach oben gedeckelte) Kaufpreisanpassung, wenn Umsatz oder Gewinn des erworbenen Unternehmens in den ersten 1 bis 3 Jahren nach Vollzug bestimmte Finanzkennzahlen erreicht. In den meisten Fällen wird auf das EBIT oder das EBITDA der Zielgesellschaft abgestellt, weil diese Kennzahlen bezogen auf die generierten Cash Flows aussagekräftiger sind als der Umsatz oder andere Kennzahlen2113): „Der Basiskaufpreis erhöht sich um 50 % des Betrages, um den das gemäß Anlage [·] zu bestimmende EBITDA für das am 31. Dezember 2021 ablaufende Geschäftsjahr der Gesellschaft einen Betrag von EUR [·] überschreitet, maximal jedoch um EUR [·]“.

1260 Andererseits sind diese Ergebniskennzahlen auch relativ manipulationsanfällig, weil sie relativ weit „unten“ in der Gewinn-und Verlustrechnung stehen und der Käufer daher an vielen Schrauben drehen kann, um die Zahlung des Earn-Out zu vermeiden. Daher wird oft auch der Umsatz als Anknüp___________ 2111) Vertiefend etwa Hilgard, BB 2010, 2912 ff.; Ihlau/Gödecke, BB 2010, 687 ff.; Labbé, FB 2004, 117 ff.; Werner, DStR 2012, 1662 ff. 2112) Zu bilanziellen und steuerrechtlichen Aspekten ausf. Link, BB 2014, 554 ff. 2113) v. Braunschweig, DB 2010, 713, 716; vgl. auch noch König, in: Kiem, § 14 Rn. 14.

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fungspunkt genommen, weil er in der Gewinn- und Verlustrechnung ganz „oben“ steht und abgesehen von Periodenverschiebungen relativ wenig durch „bilanzpolitische Maßnahmen“ steuerbar ist.2114) Aus Käufersicht ist ein Nachteil der umsatzbasierten Berechnungsmethode, dass der Umsatz nur eine geringe Aussagekraft bezüglich der Ertragskraft des Unternehmens besitzt.2115) Manchmal werden Earn-Outs auch an den Eintritt bestimmter Ereignisse wie z. B. die Zulassung eines Medikaments oder den erfolgreichen Abschluss eines Projekts geknüpft. Earn-Out-Vereinbarungen sehen in der Regel vor, dass Geschäftsvorfälle, die ausschließlich der Beeinflussung der Finanzkennzahl dienen, „neutralisiert“ werden, d. h. sie werden „zurückgedreht“ indem man sie für Zwecke der Berechnung des Earn-Out außer Betracht lässt. Mit Blick auf die unternehmerische Freiheit des Erwerbers sowie die erheblichen praktischen Schwierigkeiten bei der Abgrenzung von „regulären“ und „manipulierten“ Geschäftsvorfällen sind derartige Regelungen naturgemäß besonders streitanfällig. c) Mehrerlösmechanismus Von einem sog. Mehrerlösmechanismus spricht man, wenn dem Verkäufer 1261 im Fall einer durch den Käufer innerhalb eines bestimmten Zeitraums erfolgenden Weiterveräußerung des Unternehmens (oder Unternehmensteilen) ein Teil des hierbei erzielten Veräußerungserlöses zusteht.2116) Solche Mehrerlösklauseln werden in jüngerer Vergangenheit insbesondere von Private Equity Investoren2117) genutzt. Neben dem bereits genannten Zweck, unterschiedliche Auffassungen des Verkäufers und des Käufers über die zukünftige Entwicklung des Unternehmens und damit über den Gesamtwert des Unternehmens zu überbrücken, werden Mehrerlösmechanismen auch dafür eingesetzt, den Verkäufer bei schnellem Weiterverkauf an „Mitnahmegewinnen“ des Käufers zur Gesichtswahrung teilhaben zu lassen (daher werden sie zum Teil auch „Anti-Embarassment“-Klauseln genannt). Als Anknüpfungspunkt wird zumeist auf die Kapitalrendite des Käufers ab- 1262 gestellt, berechnet etwa auf Basis der Internal Rate of Return (IRR)2118) oder schlicht auf das Verhältnis von Nettoveräußerungserlös zu eingesetztem Kapital („Money Multiple“). Dabei gilt als eingesetzes Kapital jede Form von im Zusammenhang mit der Transaktion durch den Käufer eingesetzten eigenen Mitteln. Umfasst sind also auch Gesellschafterdarlehen und andere mit ___________ 2114) König, in: Kiem, § 14 Rn. 12; Ihlau/Gödecke, BB 2010, 687, 688. 2115) Ihlau/Gödecke, BB 2010, 687, 688. 2116) Kästle/Oberbracht, Unternehmenskauf – Share Purchase Agreement, S. 101 f.; Hofer, BB 2013, 972, 975; Schmidt-Hern/Behme, NZG 2012, 81, 81 ff.; Werner, DStR 2012, 1662, 1663. 2117) Siehe den Beitrag von Egbers (Rn. 1287 ff.) mit allgemeinen Erläuterungen zum Geschäftsmoedell der Private Equity Investoren, 2118) König, in: Kiem, § 14 Rn. 39.

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Eigenkapital vergleichbare Instrumente. Der so ermittelte Betrag wird, üblicherweise nach Abzug von Transaktionskosten und Steuern, mit dem Betrag verglichen, den der Käufer im Zeitpunkt der Weiterveräußerung erlöst. Überschreitet der erlöste Betrag den eingesetzten Betrag um einen vorher vereinbarten Faktor, partizipiert der Verkäufer in vereinbarter Höhe am Verkaufserlös. Die Höhe des Faktors und der Beteiligung des Verkäufers am Verkaufserlös sind dabei Verhandlungssache, so dass unterschiedlichste Ausgestaltungen denkbar sind. III. Verfahren zur Ermittlung von Kaufpreisanpassungen 1. Erstellung von Stichtagsabschlüssen 1263 Die endgültige Ermittlung des Kaufpreises und damit der Kaufpreisanpassung erfolgt in der Regel auf Grundlage einer Abrechnungsbilanz, die in Fällen der Kaufpreisanpassung zum wirtschaftlichen Stichtag der Transaktion (z. B. aufgrund einer Cash Free/Debt Free Kaufpreisformel) auf diesen wirtschaftlichen Stichtag aufgestellt wird (sog. Closing Accounts oder Effective Date Accounts). Bei Earn-Out-Mechanismen wird auf einen späteren Jahresabschluss für die Earn-Out-Periode abgestellt, bei Mehrerlösklauseln müssen dagegen „nur“ Kapitaleinsatz und Erlös des Käufers gegeneinander verglichen werden (was in der Regel einfacher und weniger streitanfällig ist). 1264 Im Unternehmenskaufvertrag wird geregelt, dass eine Partei die Aufstellung des Stichtagsabschlusses (oder der Earn-out-Abrechnung) übernimmt und die andere Partei das Recht, diesen sorgfältig zu prüfen und Einwendungen dagegen zu erheben. Können sich die Parteien in einem vereinbarten Zeitraum nicht über den richtigen Inhalt der Stichtagsbilanz (und damit die Grundlage der Kaufpreisanpassung) einigen, wird ein Schiedsgutachter oder ein Schiedsgericht zur Entscheidung angerufen. a) Aufstellung des Stichtagsabschlusses 1265 In den Verhandlungen über Kaufpreisanpassungen beanspruchen typischerweise beide Parteien das Recht der Aufstellung des maßgeblichen Stichtagsabschlusses für sich, weil sich beide einen Vorteil davon versprechen („Wer schreibt, der bleibt“). Ab Vollzug des Unternehmenskaufs hat der Käufer die Sachherrschaft über das Zielunternehmen und dessen Bücher, so dass es ihm leichter fällt, die erforderlichen Informationen und Daten zu sammeln.2119) Andererseits kennt er das Unternehmen und die Historie (auch bzgl. Bewertungs- und Bilanzierungswahlrechten) noch nicht. Es ist daher in der Praxis mindestens genauso häufig (und im zuletzt sehr verkäuferfreundlichen Markt zumeist) der Fall, dass der Verkäufer die Aufstellung über___________ 2119) Dazu Rn. 1269 ff. und Bruski, BB 2005 (BB-Spezial 7), 19, 29; Koesling, in: Kiem, § 12 Rn. 41; Semler, in: Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, Teil VII Rn. 163. Beim Earn-out oder Mehrerlös kann nur der Käufer die Abrechnung aufstellen.

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nimmt. Da dieser gerade keinen Zugriff mehr auf das Unternehmen haben wird, muss er im Unternehmenskaufvertrag mit hinreichend weitgehenden Einsichts- und Informationsrechten ausgestatten werden.2120) Die mit der Aufstellung betraute Partei darf Bewertungsspielräume nur in 1266 Konformität mit den anwendbaren Bewertungsgrundsätzen und im Einklang mit der bisherigen Praxis nutzen, um ein möglichst unangreifbares Ergebnis zu liefern. Der Versuchung, ein günstiges Ergebnis zu „errechnen“, steht stets die drohende Möglichkeit des Widerspruchs der anderen Seite gegenüber.2121) b) Anwendbare Bilanzierungsregeln Um die im ersten Teil (Rn. 1237 ff.) beschriebenen Parameter für eine Kauf- 1267 preisanpassung berechnen zu können, muss aus dem Kaufvertrag deutlich hervorgehen, welche Rechnungslegungsgrundsätze (z. B. HGB, IFRS, US GAAP) heranzuziehen sind, in aller Regel sind das diejenigen, die das Zielunternehmen in den letzten Jahren regelmäßig angewendet hat. Darüber hinaus ist die Bilanzierungs- und Bewertungskontinuität einzuhalten; bei Unternehmensverkäufen aus einem Konzern heraus werden die im Konzern verwendeten Accounting Manuals oder Reporting Guidelines zur Konkretisierung der Vorgaben herangezogen. Um eine schnelle Konfliktbeilegung durch Einsetzung und Entscheidung eines 1268 Schiedsgutachters2122) zu erreichen, sollten die Parteien diesem zusätzlichen zu den allgemeinen und historischen Bilanzierungsregeln möglichst noch genauere Vorgaben zu den anwendbaren Bilanzierungsregeln (sog. Specific Accounting Principles) machen. Das können Regelungen zur Ermittlung von Standardkosten oder speziellen Korrekturen bei der Vorratsbewertung, bei Abweichungen vom Vorsichtsprinzip, oder bei speziellen Vereinbarungen zur Bildung und Berechnung von Rückstellungen sein (z. B. die Nichtberücksichtigung von Ereignissen, die durch den Verkauf ausgelöst werden, wie Kündigungen von Kunden oder Handelsvertretern, die nicht mit dem neuen Eigentümer zusammenarbeiten wollen). Auch Sonderregelungen für den zu

___________ 2120) Diese Informations- und Einsichtsrechte setzen sich logischerweise auch dann fort, wenn es um die Vorbereitung von Einigungsverhandlungen nach einer Notice of Objection bzw. die Stellungnahmen vor einem Schiedsgutachter oder -gericht geht. 2121) Insofern herrscht im Idealfall „Waffengleichheit“ zwischen den Parteien. Welche Partei dagegen im Streitfall Klägerin, welche Partei Beklagte ist, worauf es etwa unter Gesichtspunkten der Beweislastverteilung ankommen kann, kann zumeist dahinstehen, da derartige prozessrechtliche Aspekte im regelmäßig vereinbarten Schiedsgutachterverfahren nicht zum Tragen kommen; vgl. näher unten Rn. 1281 ff. 2122) Vgl. unten Rn. 1273 ff.

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berücksichtigenden Zeitraum für werterhellender Tatsachen können Konfliktpotential vermeiden.2123) c) Überprüfung durch die andere Partei und Einwendungen 1269 Im nächsten Verfahrensschritt wird derjenigen Partei, die nicht das Privileg der Aufstellung des Abschlusses hatte, das Recht eingeräumt, ihre Einwendungen gegen den Stichtagsabschluss und die Berechnung der Kaufpreisanpassung innerhalb einer bestimmten Frist geltend zu machen (sog. Notice of Objection). Die M&A-Praxis stellt diesbezüglich hohe Substantiierungserfordernisse: „Ist der Käufer mit der Berechnung der Kaufpreisanpassung und/oder mit der zugrunde liegenden Stichtagsbilanz nicht einverstanden, so hat er dem Verkäufer innerhalb von 20 Werktagen nach Erhalt der Bilanz eine schriftliche Widerspruchsanzeige zu übersenden, in welcher er schriftlich und detailliert die Gründe für seinen Widerspruch darlegt. Diese Widerspruchsanzeige muss eine Auflistung der Bilanzpositionen, gegen die Widerspruch eingelegt wird, sowie eine überarbeitete Version der Stichtagsbilanz enthalten, die die aus der Sicht des Käufers notwendigen Berichtigungen kenntlich macht“

1270 Die Pflicht zur detaillierten Darlegung von Einwendungen in einer Notice of Objection soll vermeiden, dass allein wegen des Lästigkeitswerts einer Einwendung und eines möglichen anschließenden Verfahrens eine möglicherweise nicht berechtigte Kaufpreisanpassung erreicht wird. Außerdem werden die strittigen Berechnungsbestandteile und die Positionen der Parteien dazu frühzeitig festgelegt – das liegt im Parteiinteresse an einer schnellen Beilegung des Konflikts, da schon früh im Verfahren der Streitgegenstand definiert und begrenzt wird.2124) 1271 Die Notice of Objection ist der erste Schritt zu einer streitigen Kaufpreisanpassung. Aus Sicht der Litigation-Praxis sind dabei folgende praktische und rechtliche Gesichtspunkte zu beachten: Erscheint eine schnelle Einigung möglich (und liegen die Positionen der Parteien nicht allzu weit auseinander), spricht aus taktischer Sicht manches dafür, möglichst genau und mit umfangreicher Dokumentation auf die Gründe für den Widerspruch einzugehen. Besteht dagegen zwischen den Parteien kaum mehr Verhandlungsbereitschaft (etwa dann, wenn Manipulationsvorwürfe hinsichtlich der Berechnung der Kaufpreisanpassungsparameter im Raum stehen) so kann es Sinn machen, den Kern der Informationen aus taktischen Gründen für das gutachterliche oder schiedsgerichtliche Verfahren zurückzuhalten. ___________ 2123) Also abweichend von der Grundregel des § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB; die Käuferpartei ist häufig daran interessiert, Tatsachen, von denen sie erst bei Überprüfung des Stichtagsabschlusses Kenntnis erlangt, noch wertaufhellend in der Stichtagsbilanz zu berücksichtigen, während insbesondere der Verkäufer die Beendigung des relevanten Zeitraumes spätestens zum Zeitpunkt der Übergabe der Stichtagsbilanz für angemessen halten wird; vgl. ausführlich Koesling, in: Kiem, § 12 Rn. 28 f., 42. 2124) Frey/Müller, in: Bilanzgarantien bei M&A-Transaktionen: Beiträge der 1. Leipziger Konferenz 'Mergers & Acquisitions' am 16. und 17.5.2014 in Leipzig, S. 201.

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Wird die im Unternehmenskaufvertrag festgelegte Frist für den Widerspruch 1272 nicht eingehalten oder genügt die Notice of Objection nicht den inhaltlichen Substantiierungserfordernissen, so sieht der Unternehmenskaufvertrag in der Regel vor, dass die nicht bzw. nicht frist- oder ordnungsgemäß gerügte Kaufpreisanpassungsberechnung zwischen den Parteien bindend wird.2125) Bei Eingang einer frist- und formgerechten Notice of Objection finden in der Regel Verhandlungen zwischen Verkäufer und Käufer statt bzw. sind im Unternehmenskaufvertrag vorgesehen. Ziel einer solchen Verhandlungsphase ist es, die Einleitung eines kostenintensiven und langwierigen formellen schiedsgutachterlichen Verfahrens oder Schiedsverfahrens durch Erreichung einer einvernehmlichen Einigung zu verhindern. Auch hier können prozesstaktische Erwägungen den Ausschlag dahingehend geben, sich auf schriftliche, dokumentierte und nachvollziehbare Kommunikation zu beschränken. Dadurch kann eventuell eine bessere Ausgangslage für ein sich anschließendes Schiedsgutachterverfahren aufgebaut werden, insbesondere dann, wenn im Schiedsgutachterverfahren nur beschränkte Möglichkeiten gegeben sind, erneut Stellung zur eigenen Einschätzung der Berechnungsdetails zu beziehen. 2. Entscheidung durch Schiedsgutachter oder schiedsgerichtliches Verfahren Bis zu diesem Punkt spielt sich die Auseinandersetzung um die Kaufpreisanpas- 1273 sung ausschließlich zwischen den Parteien bzw. deren Parteivertretern ab. Der nächste Schritt, der in der M&A-Vertragspraxis für den Fall der Nichteinigung vorgesehen wird, ist die Entscheidung durch einen Schiedsgutachter nach § 317 BGB oder – deutlich seltener – durch ein schiedsgerichtliches Verfahren. Bei unklar formulierten M&A-Verträgen kann bisweilen zweifelhaft sein, ob 1274 eine Schiedsgutachterabrede (dazu sogleich) oder eine echte Schiedsklausel gewollt ist,2126) welche die Entscheidung über die Kaufpreisanpassung einem Schiedsgericht zuweist. Unklarheiten entstehen dann, wenn der zur Entscheidung Befugte nicht nur mit der Bestimmung einzelner Bilanzpositionen betraut werden, sondern insgesamt über streitige Fragen bei der vorzunehmenden Kaufpreisanpassung entscheiden soll.2127) Für die Auslegung ist i. S. d. §§ 133, 157 BGB maßgeblich, ob die Parteien 1275 eine gerichtliche Überprüfung der Bestimmung der Kaufpreisanpassung durch den Dritten noch zulassen wollen. Ist dies der Fall, so liegt eine Schiedsgutachtervereinbarung zur Bestimmung der Kaufpreisanpassung nach ___________ 2125) Ob und in einem welchem Umfang eine solche Bindungswirkung eingetreten ist, kann seinerseits Gegenstand einer Auseinandersetzung vor dem Schiedsgericht oder Schiedsgutachter werden. 2126) Zur richtigen Formulierung von Schiedsgutachtervereinbarungen vgl. ausführlich Frey/ Müller, in: Bilanzgarantien bei M&A-Transaktionen: Beiträge der 1. Leipziger Konferenz ‘Mergers & Acquisitions’ am 16. und 17.5.2014 in Leipzig, S. 206 ff. 2127) Witte/Mehrbrey, NZG 2006, 241 (241).

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§ 317 BGB vor2128) Im Zweifel ist aufgrund der geringeren Beschränkung von Rechtsschutzmöglichkeiten von einer einfachen Schiedsgutachterabrede auszugehen.2129) a) Auswahl und Beauftragung des Schiedsgutachters 1276 Das Schiedsgutachterverfahren unterliegt keiner unbedingten gesetzlich vorgesehenen Form. Die meisten Gesichtspunkte, die für die beteiligten Parteien wesentlich sind, werden Gegenstand entsprechender Regelungen im Unternehmenskaufvertrag und/oder der Beauftragungsvereinbarung mit dem Gutachter (Terms of Engagement) sein. 1277 Als Schiedsgutachter i. S. v. § 317 BGB werden regelmäßig neutrale Wirtschaftsprüfer berufen. Werden sich die Parteien bei der Formulierung des Unternehmenskaufvertrages noch nicht über einen Schiedsgutachter einig (obwohl eine frühzeitige Festlegung zur Verkürzung der Verfahrensdauer empfehlenswert ist), oder fällt der bestimmungsgemäße Schiedsgutachter nachträglich in seiner Funktion aus (etwa wegen eines nicht absehbaren Interessenkonflikts), so wird in aller Regel einer weiteren neutralen Instanz (Appointing Authority), etwa der Industrie- und Handelskammer oder dem Institut der Wirtschaftsprüfer e. V. die Benennung des Schiedsgutachters überlassen.2130) 1278 Die Beauftragung des Schiedsgutachters sollte durch eine einvernehmliche Mandatierung der beteiligten Transaktionsparteien erfolgen. Hierzu wird ein gesondertes Vertragswerk zur Beauftragung erstellt (Terms of Engagement). Die Ausgestaltung des schiedsgutachterlichen Verfahrens liegt grundsätzlich im Ermessen des von den Parteien beauftragten Schiedsgutachters2131) und im praktisch häufigsten Fall, dass eine große Wirtschaftsprüfungsgesellschaft als Schiedsgutachter agiert, wird diese ihre Standard Terms of Engagement vorgeben und dazu auch nur begrenzt verhandlungsbereit sein. Allerdings werden häufig schon im Unternehmenskaufvertrag Regelungen zu maximaler Verfahrensdauer, Informationsrechten der Parteien und des Schiedsgutachters aufgenommen. Insbesondere muss geregelt werden, dass der Schiedsgutachter die im Unternehmenskaufvertrag vertraglich vereinbarten Bilanzierungsgrundsätze (dazu oben Rn. 1267) anzuwenden hat,2132) und nicht etwa nach seiner eigenen Interpretation bestimmter IFRS- oder HGB-Regeln entscheiden kann. Besonders wichtig ist das bei Earn-out Regelungen, die vom ___________ 2128) Palandt/Grüneberg, BGB, § 317 Rn. 8; Werner, DStR 2012, 1662, 1666. 2129) Dazu etwa BGH BB 1982, 1077, 1078 Rn. 22; OLG München SchiedsVZ 2006, 286, 288; Witte/Mehrbrey, NZG 2006, 241, 242. 2130) Semler, in: Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, Rn. 7.167 sowie König, in: Kiem, § 13 Rn. 54. 2131) Kasolowsky/Schnabl, SchiedsVZ 2012, 84, 88; MünchKomm-BGB/Würdinger, § 317 Rn. 54; Palandt/Grüneberg, BGB, § 317 Rn. 7. 2132) König, in: Kiem, § 13 Rn. 42; Werner, DStR 2012, 1662, 1666.

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künftigen Ergebnis des erworbenen Geschäfts abhängen. Eine typische Klausel lautet etwa wie folgt: „Wenn und soweit sich die Parteien nicht gemäß Ziffer […] über den Widerspruch des Käufers gegen den Stichtagsabschluss einigen, sind sowohl der Verkäufer als auch der Käufer berechtigt, den Widerspruch und alle streitigen Gegenstände bezüglich der Positionen [Cash], [Debt] und [Working Capital] an [KPMG, München] („Sachverständiger“) zu verweisen. Verkäufer und Käufer sind verpflichtet, den Sachverständigen gemeinsam zu beauftragen, als Schiedsgutachter die richtigen Werte für [Cash], [Debt] und [Working Capital]zu ermitteln, soweit diese Positionen zwischen den Parteien streitig sind. Falls (i) der Sachverständige den Auftrag nicht annimmt und (ii) Verkäufer und Käufer sich nicht innerhalb von fünf (5) Bankarbeitstagen auf einen Ersatz einigen können, wird der Sachverständige vom Vorstand des Instituts der Wirtschaftsprüfer in Deutschland e. V. mit für die Parteien bindender Wirkung benannt. Der Sachverständige soll angewiesen werden, das Verfahren auf faire und unparteiische Art und Weise durchzuführen und dem Verkäufer und dem Käufer die Möglichkeit zu geben, ihre Argumente schriftlich und in mindestens einer Anhörung vorzutragen und seine Entscheidung in einem schriftlichen Sachverständigengutachten innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens von längstens zwei (2) Monaten zu treffen. Der Verkäufer und der Käufer haben dafür Sorge zu tragen, dass dem Sachverständigen im Rahmen des gesetzlich Zulässigen jegliche Unterstützung sowie Zugang zu allen Informationen, die der Sachverständige zur Bestimmung der Werte für [Cash], [Debt] und [Working Capital] benötigt, gewährt wird. Insbesondere sind dem Sachverständigen auf Verlangen alle relevanten Bücher und Geschäftsunterlagen der Zielgesellschaften, unterstützende Unterlagen zum Stichtagsabschluss und die Arbeitspapiere der Wirtschaftsprüfer zugänglich zum machen“.

Haftungsregelungen, Honorar und Kostenverteilung für das Schiedsgut- 1279 achterverfahren (in der Regel entsprechend § 91 ZPO im Verhältnis des Obsiegens/Unterliegens oder 50/50) werden ebenfalls in die Terms of Engagement aufgenommen, zum Teil finden sich auch dazu schon Vorgaben im Unternehmenskaufvertrag geregelt. b) Gegenstand des Schiedsgutachtens Der Schiedsgutachter soll möglichst eine abschließende Streitbeilegung hin- 1280 sichtlich streitiger Positionen des Stichtagsabschlusses (bzw. der sonstigen Grundlage der streitigen Kaufpreisanpassung) herbeiführen, so dass der endgültige Kaufpreis zwischen den Parteien verbindlich festgelegt wird. Dementsprechend soll der Schiedsgutachter zwischen den beiden Positionen der Parteien, die im Entwurf des Stichtagsabschlusses und in der Notice of Objection (einschl. des revidierten Stichtagsabschlusses) zum Ausdruck gekommen sind, eine Entscheidung treffen und keine völlige Neubewertung des Sachverhalts vornehmen: Wenn beispielsweise die Höhe einer im Rahmen der Cash Free/ Debt Free-Kaufpreisklausel relevanten Unfunded Pension Liability (dazu oben Rn. 1248 f.) im Streit ist und der Verkäufer diese im Stichtagsabschluss mit 5 Mio. EUR bewertet, der Käufer aber in der Notice of Objection eine Bewertung in Höhe von 6 Mio. EUR geltend gemacht hat (und damit einen um 1 Mio. niedrigeren Kaufpreis), weil Renten- und Gehaltsanpassungen bei der Berech-

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nung nicht richtig berücksichtigt wurden, kann nicht der Schiedsgutachter plötzlich einen Wert von 7 Mio. EUR annehmen, weil der Abzinsungsfaktor seiner Meinung nach ein anderer sein sollte. Das entspricht dem Dispositionsgrundsatz im Zivilprozess, ist aber im Schiedsgutachterverfahren nicht selbstverständlich und daher vertraglich ausdrücklich zu regeln (vgl. vorstehendes Klauselbeispiel, wonach der Schiedsgutachter für die Bestimmung der maßgeblichen Bilanzpositionen nur zuständig ist „soweit streitig“). c) Ablauf des Schiedsgutachterverfahrens und Entscheidung des Schiedsgutachters 1281 Die professionellen Schiedsgutachter legen in der Regel einen Verfahrensablauf fest, der einem Schiedsverfahren absolut ähnlich ist: Nach Abschluss der Terms of Engagement mit beiden Parteien und Einzahlung eines Vorschusses auf das Honorar des Schiedsguteachter durch beide Parteien, werden Käufer und Verkäufer aufgefordert, ihre Positionen in Stellungnahmen darzulegen (die mit Schritsätzen vergleichbar sind). Diejenige Partei, die Widerspruch gegen die Stichtagsbilanz eingelegt hat, darf (vergleichbar dem Kläger im Schiedsverfahren) ihre Argumente zuerst vortragen, anschließend erfolgt der Erwiderung der anderen Parteien, meistens gefolgt von einer weiteren Runden von schriftlichen Stellungnahmen. Ob danach eine mündliche Verhandlung erfolgt, ist von Art und Umfang der streitigen Sachverhalte abhängig. In Unternehmenskaufverträgen wird eine solche Verhandlung oft vorgesehen, in der Praxis aber nicht immer durchgeführt, weil die streitigen Themen oft eher technische Fragen der richtigen Anwendung von Bilanzierungsregelungen sind und eine mündliche Verhandlung dafür (anders als bei der Aufklärung von Sachverhaltsfragen) keinen Erkenntnisgewinn verspricht. 1282 Die „Entscheidung“ des Schiedsgutachters erfolgt in Form einer schriftlichen Stellungnahme, die alle zwischen den Parteien strittigen Positionen und die Argumente aus den schriftlichen Stellungnahmen abhandelt und die aus Sicht des Gutachters richtigen Werte für die Positionen und richtige Anwendung der maßgeblichen Bilanzierungsregeln darlegt. Dabei sollte auch eine endgültige Berechnung der Kaufpreisanpassung erfolgen. 1283 Die Entscheidung des Schiedsgutachters ist – darin liegt der Hauptunterschied zum Schiedsspruch – nicht auf die verbindliche Entscheidung einer Rechtsfrage gerichtet,2133) so dass das Schiedsgutachten des Wirtschaftsprüfers nach § 319 Abs. 1 Satz 2 BGB der (beschränkten) inhaltlichen Kontrolle durch ordentliche Gerichte unterliegt.2134) Bei „offenbarer Unbilligkeit“ kann die Bestimmung des Schiedsgutachters durch ein Gericht aufgehoben und ___________ 2133) Beisel/Klumpp, Unternehmenskauf, § 18 Rn. 1 f. 2134) BGH NZG 2004, 518; Palandt/Grüneberg, BGB, § 317 Rn. 8; die Entscheidung nach § 319 Abs. 1 Satz 2 BGB kann durch Vereinbarung auch einem Schiedsgericht übertragen werden: BGHZ 6, 335 = NJW 1952, 1296, 1297; MünchKomm-BGB/Würdinger, § 319 Rn. 23 ff.

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durch Urteil ersetzt werden. Die Schwelle der „offenbaren Unbilligkeit“ ist in der Praxis, in der Regel werden Entscheidungen einer anerkannten Wirtschaftsprüfungsgesellschaft im Rahmen des Schiedsgutachterverfahrens akzeptiert und auf die Anrufung eines Schiedsgerichts verzichtet, zumal auch fraglich ist, ob dieses größere Expertise mitbringen würde (siehe unten). d) Schiedsverfahren statt Schiedsgutachten? Für ein schiedsgerichtliches Verfahren spricht, dass sich im Rahmen des 1284 schiedsgutachterlichen Verfahrens auch Vertragsauslegungsfragen stellen können, die der Schiedsgutachter als Wirtschaftsprüfer mangels rechtlicher Expertise womöglich nicht abschließend entscheiden kann. In einem solchen Fall kann die Anrufung eines Gerichts nach § 319 Abs. 1 BGB wegen „offenbarer Unbilligkeit“ in Betracht kommen. Ob die Parteien eines Unternehmenskaufvertrages besser beraten sind, von vornherein ein Schiedsgericht als Entscheidungsgremium vorzusehen, ist zweifelhaft. Zwar stellt das Schiedsgutachten keinen vollstreckungsfähigen Titel dar, da es die Parteien lediglich schuldrechtlich bindet2135), dafür kommt ein Schiedsgutachter in der Regel deutlich schneller zu einer abschließenden Entscheidung, weil die langwierige Konstitution des Schiedsgerichts entfällt. Außerdem können die Parteien auch mit der Einsetzung eines bestimmten 1285 Schiedsgutachters2136) sicherstellen, dass dieser nicht nur über Fachwissen und Erfahrung in Bewertungsfragen verfügt, sondern auch ausreichend M&AErfahrung und Know-how mitbringt, um nicht nur die verschiedenen Auffassungen zu den in den Streit stehenden Positionen der Stichtagsbilanz beurteilen, sondern auch den größeren Kontext der Kaufpreisanpassung (einschließlich Vertragsauslegungsfragen) einordnen zu können. Das gewährleistet eine praxisbezogene Entscheidung über die relevanten Fragen der Kaufpreisanpassung und vor allem auch ein einfacheres und unkomplizierteres Verfahren als bei Einsetzung eines Schiedsgerichts. Obwohl das Gutachterverfahren selbst im Ermessen des beauftragten Schiedsgutachters liegt, können die Parteien durch vertragliche Regelung im Unternehmensvertrag wesentlichen Einfluss auf den Aufwand des Verfahrens nehmen, was Zeit und Streitschlichtungskosten sparen kann.2137) Wenn – was bei fehlgeschlagenen oder überteuerten M&A-Transaktionen 1286 nicht selten ist – allerdings neben Auseinandersetzungen über die Kaufpreisanpassungen auch noch Streitigkeiten aus Gewährleistungen oder sonstige ___________ 2135) Beisel/Klumpp, Unternehmenskauf, § 18 Rn. 5 ff.; ausf. zu den Vor- und Nachteilen: Kasolowsky/Schnabl, SchiedsVZ 2012, 84, 86 f.; König, in: Kiem, § 13 Rn. 16 ff. 2136) Bei größeren Transaktionien in der Regel einer der „Big4“ der globalen Wirtschaftsprüfergesellschaften (Deloitte, Ernst&Young, KPMG, PwC). 2137) Kasolowsky/Schnabl, SchiedsVZ 2012, 84, 88; MünchKommBGB/Würdinger, § 317 Rn. 54; Palandt/Grüneberg, BGB, § 317 Rn. 7; König, in: Kiem, § 13 Rn. 42; Werner, DStR 2012, 1662, 1666.

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Teil 3 M&A-Streitigkeiten

Post Merger Litigation dazu kommt, müssen ggf. mehrere Verfahren (Schiedsgutachter für die Kaufpreisanpassung und Schiedsgericht für die Gewährleistungsansprüche) parallel geführt werden. D. Private Equity I. Einleitung Bernd Egbers

1287 Private Equity fungiert als Oberbegriff für alle Formen des Beteiligungskapitals, das zur Unterstützung des Wachstums in Unternehmen investiert wird. Darunter fallen vor allem Leveraged Buy-Outs („LBOs“), Management BuyOuts („MBOs“), Management Buy-Ins („MBIs“) sowie Mezzanine-Kapital. Private Equity Fonds investieren mittel- bis langfristig in Unternehmensbeteiligungen, den Wiederverkauf seiner Beteiligung strebt ein Private Equity Haus regelmäßig innerhalb einer üblichen Halteperiode von 5 bis 7 Jahren an. 1288 Im Gegensatz zu Corporate M&A-Transaktionen zeichnen sich Private EquityTransaktionen im Wesentlichen durch den (hohen) Einsatz von Fremdkapital aus. 1289 Der Private Equity Fonds (auch „Sponsor“ genannt) nutzt dabei die Hebelwirkung des Fremdkapitals (den sog. „Leverage-Effekt“), um die Rendite seines eingesetzten (Eigen-)Kapitals zu steigern; die Rendite des eingesetzten Eigenkapitals nimmt mit steigender Verschuldung zu, solange die Gesamtkapitalrendite (d. h. die Rendite des insgesamt eingesetzten Eigen- und Fremdkapitals) größer ist als der Fremdkapitalzins.2138) 1290 Im Folgenden finden Sie eine sehr vereinfachte Darstellung einer üblichen Akquisitionsstruktur wie sie regelmäßig in Private Equity getriebenen Unternehmensübernahmen zu finden ist. Dabei nutzt der Private Equity Fonds bzw. die den Fonds verwaltende Gesellschaft regelmäßig mindestens zwei neu gegründete oder erworbene Zweckgesellschaften, um die Transaktion durchzuführen. So wird auch gewährleistet, dass es keinen Rückgriff aus der Unternehmensgruppe oder sogar von den Fremdkapital zur Verfügung stellenden Kreditgebern auf den Private Equity Fonds gibt. Die NewCo/Käufergesellschaft schließt mit dem Verkäufer den Kaufvertrag („Sale and Purchase Agreement“ oder „SPA“) über den Erwerb der entsprechenden Geschäftsanteile an der Zielgesellschaft. Die zur Kaufpreiszahlung benötigten finanziellen Mittel stellt zu einem geringeren Teil (siehe oben „Leveraged-Effekt“) der Private Equity Fonds in Form von „echtem Eigenkapital“ oder als Gesellschafterdarlehen zur Verfügung. Der größere Teil der Finanzierung wird entweder durch eine Konsortialfinanzierung oder eine Unitranche oder sonstige Finanzierungsmittel bei Fremdkapitalgebern in Anspruch genommen.

___________ 2138) Diem, Akquisitionsfinanzierungen, § 1 Rn. 14.

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D. Private Equity

Zu Streitfällen kann es im Rahmen von Private Equity-Transaktionen grund- 1291 sätzlich in jedem bestehenden Rechtsverhältnis kommen: bei den Investoren (meistens als LP’s organisiert) und der den Fonds verwaltenden Gesellschaft (meist eine GmbH), zwischen dem Fonds bzw. der neu aufgesetzten Käufergesellschaft/NewCo und dem Verkäufer der Unternehmensbeteiligung sowie zwischen dem Fonds/NewCo und den Fremdkapitalgebern. Management der Zielgesellschaft

Gesellschafterdarlehen

Private Equity Fund

HoldCo

BankenKonsortium

Darlehensvertrag §§ 488 ff. BGB

NewCo Käufer

Kaufvertrag

Verkäufer

§§ 433 ff. BGB

Target Zielgesellschaft

OpCo 1

OpCo 2

OpCo 3

Aufgrund des Einsatzes von Fremdkapital ergeben sich, zusätzlich zu den an 1292 anderer Stelle dieses Buches bereits dargestellten Spannungen im Verhältnis des Käufers zum Verkäufer einer Unternehmensbeteiligung (z. B. aufgrund von Garantieverletzungen unter dem Kaufvertrag), noch etwaige Risikoallokationen zwischen den Fremdkapitalgebern und dem Käufer sowie zu bzw. aus dem operativen Geschäft der zu erwerbenden Zielgesellschaft/Gruppe. Diese sollen im Folgenden näher erläutert werden. Bezüglich der auch in sonstigen M&A-Transaktionen auftretenden Spannungen zwischen Käufer und Verkäufer wird auf Teil 3 (M&A) dieses Buches verwiesen. Das Rechtsverhältnis zwischen Fremdkapitalgebern und der NewCo als Dar- 1293 lehensnehmer wird in der Regel durch Abschluss eines Darlehensvertrags gem. § 488 BGB begründet. Dies ist jedoch nicht zwingend. So gibt es mittlerweile viele verschiedene „Typen“ von Fremdkapitalgebern, wie z. B. sog. Kreditfonds („Debt-Fonds“), die in der Regel nicht über eine Banklizenz verfügen und somit auch kein typisches Bankgeschäft betreiben dürfen. Diese Investoren-/Kapitalgebergruppen sind auf Investitionen in solche Art von Finanzprodukten ausgelegt. Rechtlich gibt es verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten, einem solchen Fremdkapitalgeber die Investition in diese Finanzprodukte zu ermöglichen. So kann die NewCo z. B. Inhaberschuldverschrei-

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Teil 3 M&A-Streitigkeiten

bungen ausgeben, die dann von dem Debt-Fonds vollständig übernommen werden. Auf diese Art stellt der Debt-Fonds der NewCo das für die bevorstehende Akquisition notwendige Fremdkapital zur Verfügung. 1294 Typische Bankfinanzierungen bei grenzüberschreitenden LBO-Transaktionen basieren jedoch in der Regel auf Darlehensverträgen, die einem von der Loan Market Association2139) entwickelten und ihren Mitgliedern zur Verfügung gestellten Muster folgen (sog. SFA, „Senior Facilities Agreement“ bzw. FA, „Facilities Agreement“.2140) Dabei dient das Muster des sog. „LMA Standard“-Vertrages als Grundlage, die auf die jeweilige Transaktion und ihre Bedürfnisse angepasst und modifiziert wird und meist vollständig Gegenstand von Verhandlungen ist. Vorteil dieser Art der Dokumentation ist es, dass dieser Standard der überwiegenden Anzahl der Marktteilnehmer bekannt ist und regelmäßig den Anforderungen der Beteiligten Rechnung trägt. Zudem gewährleistet die Dokumentation, basierend auf einem englischsprachigen Standard, dass die überwiegend grenzüberschreitenden Transaktionen sowohl sprachlich als auch inhaltlich effektiver bearbeitet werden können. 1295 Inhaltlich spielt es hingegen eine untergeordnete Rolle, ob das Rechtsverhältnis zwischen dem Akquisitionsvehikel und dem Fremdkapitalgeber durch einen auf dem LMA Standard basierten Darlehensvertrag beruht oder durch Inhaberschuldverschreibungen begründet ist. Die Regelungen sind weitgehend vergleichbar, sodass für die Zwecke der folgenden Erörterungen exemplarisch auf die Regelungen des LMA-Musters2141) verwiesen wird. 1296 Der Darlehensvertrag reflektiert grundsätzlich das Spannungsfeld der Interessen von Darlehensgeber und Darlehensnehmer. Allein aus diesem Spannungsfeld können sich, ebenso wie zwischen Darlehensnehmer (= Käufer) und dem Verkäufer im Rahmen des Kaufvertrages, zwischen Darlehensgeber und Darlehensnehmer Differenzen im Rahmen der Finanzierungsdokumentation sowie deren Auslegung ergeben. ___________ 2139) Die LMA ist ein im Jahr 1996 gegründeter Interessenverband mit Sitz in London aus derzeit über 750 institutionellen Mitgliedern aus 55 verschiedenen Ländern wie beispielsweise Banken, Finanzinvestoren und internationale Rechtsanwaltskanzleien mit dem Ziel, den europäischen Markt für syndizierte Kredite durch eine allgemein anerkannte Muster-Vertragsdokumentation zu fördern und damit eine gängige Marktpraxis im Primär- und Sekundärmarkt für syndizierte Kredite zu etablieren (http:// www.lma.eu.com). 2140) Vollständig: „Senior Multicurrency Term and Revolving Facilities Agreement for Leveraged Acquisition Finance Transactions (SFA)“, welches speziell für LBO-Transaktionen entwickelt wurde, basierend auf englischem Recht. Speziell für den deutschen Markt entwickelte die LMA das „Multicurrency Term and Revolving Facilities Agreement (FA)“, welches auf die Erfordernisse deutschen Rechts angepasst wurde; letzteres unterliegt deutschem Recht. 2141) Soweit nicht anders gekennzeichnet, wird auf die Regelungen des „Senior Multicurrency Term and Revolving Facilities Agreement for Leveraged Acquisition Finance Transactions (SFA)“, welches speziell für LBO-Transaktionen entwickelt wurde, verwiesen.

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Hinzu kommt, dass für die finanzierenden Fremdkapitalgeber auch die Pro- 1297 zessrisiken der zu erwerbenden Zielgruppe eine Rolle spielen. Ausgangspunkt dieser Risikobetrachtung ist der Ansatz der Fremdfinanzierer, dass diese einen Großteil des Kaufpreises der Akquisition finanzieren und damit faktisch auch die Zielgruppe als solche. Deutlich wird dies spätestens dadurch, dass die Fremdkapitalgeber zusätzlich zu dem Akquisitionskredit üblicherweise auch den Betriebsmittelkredit zur Verfügung stellen, der insbesondere den Betriebsmittelbedarf eben dieser Zielgruppe decken soll. Demnach besteht ein großes Interesse der Fremdfinanzierer darin, (i) im Wesentlichen alleiniger Gläubiger der Zielgruppe zu sein und (ii) dass keine wesentlichen Vermögenswerte die finanzierte Gruppe verlassen. Hinzu kommt, dass, anders als bei dem einmaligen Aufeinandertreffen von Käufer und Verkäufer, ein Finanzierungsverhältnis ein Dauerschuldverhältnis darstellt, welches üblicherweise über eine Laufzeit von ca. 5 bis 7 Jahren besteht. Nicht selten sind während der Laufzeit Anpassungen der Finanzierungsdo- 1298 kumentation notwendig, wenn z. B. Add-On Akquisitionen geplant sind und weiteres Fremdkapital erforderlich wird, oder bereits vor Ende der Laufzeit eine Refinanzierung oder Rekapitalisierung gewünscht bzw. sinnvoll ist. Ausgehend von dieser Risikobetrachtung spielt somit für die Fremdfinanzierer 1299 nicht nur das direkte Vertragsverhältnis mit dem Darlehensnehmer (= Akquisitionsvehikel) eine Rolle, sondern auch das Risikoprofil der zu erwerbenden Zielgruppe. Diese stellt über die Laufzeit des Rechtsverhältnisses die Basis für die Cashflows dar, die zur Rückführung der Finanzierung benötigt werden. Sollte die akquirierte Unternehmensgruppe einmal in Zahlungsschwierigkeiten geraten, so sind die Fremdfinanzierer regelmäßig auch mit allen wesentlichen Vermögenswerten der Gruppe besichert. Der LMA-Vertrag beinhaltet ein sog. Garantenkonzept, wonach alle wesent- 1300 lichen Gesellschaften (in der Regel alle Gesellschaften der Gruppe, die 5 % oder mehr des EBITDA oder der Vermögenswerte der Gruppe ausmachen) der erworbenen Zielgruppe nach Erwerb innerhalb eines gewissen Zeitraumes der Vertragsdokumentation als „Garant“ beitreten müssen. Dies bedeutet, dass diese Gesellschaften nicht nur im Rahmen des Darlehensvertrages eine Garantie für die ausstehenden Forderungen der Finanzierungsparteien unter den Finanzierungsdokumenten abgeben, sondern vielmehr auch Sicherheiten über all ihre Vermögenswerte zur Besicherung dieser Forderungen bestellen. Dies kann jedoch gerade bei den Gesellschaften der Zielgruppe mit den 1301 Grundsätzen der Kapitalerhaltung kollidieren.2142) Gem. § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG darf das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Vermögen ___________ 2142) Die Schilderung der Regelungen zur Kapitalerhaltung erfolgt anhand einer GmbH, da Unternehmen, die unter der Rechtsform einer GmbH firmieren, in der Praxis am häufigsten Ziel von Private Equity-Transaktionen sind.

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der Gesellschaft nicht an die Gesellschafter ausgezahlt werden. Auszahlungen umfassen Leistungen jeder Art, denen keine vollwertige Gegenleistung gegenübersteht und die wirtschaftlich das zur Erhaltung des Stammkapitals notwendige Gesellschaftsvermögen schmälern. Der Begriff wird weit ausgelegt: Er umfasst offene und verdeckte, unmittelbare und mittelbare Zuwendungen an Gesellschafter sowie Umgehungsgeschäfte, auch die Bestellung von Sicherheiten aus dem Gesellschaftsvermögen für Forderungen Dritter gegen die Gesellschafter kann eine Zuwendung darstellen. 1302 Ausnahmen bestehen nur bei Leistungen, die bei Bestehen eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrags erfolgen (gem. § 291 AktG) oder bei solchen Leistungen, die durch einen vollwertigen Gegenleistungs- oder Rückgewähranspruch gegen den Gesellschafter gedeckt sind (gem. § 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG). Als Rechtsfolgen von Verstößen gegen den Grundsatz der Kapitalerhaltung müssen zum einen Zahlungen, welche den Vorschriften zur Kapitalerhaltung zuwider geleistet worden sind, der Gesellschaft rückerstattet werden. Zum anderen haftet der Geschäftsführer bei Zahlungen unter Verstoß gegen die Grundsätze der Kapitalerhaltung bzw. bei Verstößen gegen seine Überwachungspflicht, welche einen Verstoß gegen § 30 GmbHG zur Folge hat, gem. § 43 Abs. 2, 3 GmbHG persönlich. 1303 Um eine Haftung des Geschäftsführers des Zielunternehmens bzw. der Geschäftsführer der wesentlichen Gruppenunternehmen aufgrund eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Kapitalerhaltung zu verhindern, wird üblicherweise eine Regelung in den Kreditvertrag aufgenommen, welche das Recht des Sicherungsnehmers, die Sicherheiten für Gesellschafterverbindlichkeiten in Anspruch zu nehmen, einschränkt (sog. „Limitation Language“). In der Regel wird in der Limitation Language vereinbart, dass die Sicherheiten nur insoweit in Anspruch genommen bzw. verwertet werden können, als dadurch beim Sicherungsgeber keine Unterbilanz entsteht oder vertieft wird. 1304 Folge des Garantenkonzepts ist, dass es für die Kreditgeberseite unerheblich ist, bei welcher der Gesellschaften der NewCo bzw. der wesentlichen Gesellschaften der Zielgruppe sich Vermögenswerte befinden. Solange sie sich innerhalb der Garantengruppe befinden, stehen sie als Sicherungsgut zur Verfügung. 1305 Um dennoch sicherzustellen, dass aus der Garantengruppe keine Vermögenswerte über die Laufzeit des Vertrages abfließen, die nicht anderweitig ersetzt werden oder parallel eine Anpassung des Kreditrisikos durch z. B. entsprechende Rückführung der Darlehensvaluta erfolgt, werden diese Konzepte mit weiteren Regelungen wie Zusicherungen, Auflagen und erweiterten Kündigungsgründen flankiert. 1306 Somit bedarf es für die Beurteilung des Kreditrisikos seitens der Fremdfinanzierer neben den Regelungen, die sicherstellen sollen, dass keine Vermögenswerte aus der Gruppe abfließen, auch der Betrachtung von Prozessrisiken der zu erwerbenden oder erworbenen Unternehmensgruppe, die möglicher454

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weise einen Einfluss auf die Vermögenswerte der Gruppe bzw. die Gruppe als solche haben. Dies hat die LMA in ihrem Vertragsmuster an verschiedenen Stellen reflek- 1307 tiert. So (i) gibt der Kreditgeber eine Zusicherung ab, dass keine wesentlichen Prozesse bestehen, (ii) verpflichtet er sich, die Kreditgeber zu informieren sobald ein wesentliches Prozessrisiko auftritt und (iii) stellt ein wesentliches Prozessrisiko einen Kündigungsgrund unter dem Kreditvertrag dar. II. Zusammenfassung Charakteristisch für Private Equity-Transaktionen ist der hohe Einsatz von 1308 Fremdkapital zum Erwerb der Zielgesellschaft/-gruppe. Durch den hohen Einsatz von Fremdkapital soll eine hohe Verzinsung des eingesetzten Eigenkapitals erreicht werden (sog. „Leverage-Effekt“). Das Fremdkapital wird in aller Regel in Form eines Darlehensvertrags von einem Konsortium von Banken dem Akquisitionsvehikel/NewCo zur Verfügung gestellt. Letztere erwirbt die Geschäftsanteile des Zielunternehmens vom Verkäufer. Dieser Darlehensvertrag (der sog. Senior-Kreditvertrag, „Senior Facilities Agreement“) basiert regelmäßig auf einem Muster der LMA. Im Rahmen einer solchen Unternehmensübernahme und deren fortlaufender 1309 Finanzierung dürfen Rechtsstreitigkeiten gerade auch bei Private Equity gesteuerten Transaktionen nicht außer Betracht bleiben, jedenfalls nicht, sofern sie einen wesentlichen Einfluss auf die Zielgruppe bzw. deren Vermögenswerte haben. Daher geben NewCo sowie sonstige wesentliche Gesellschaften der Zielgruppe Zusicherungen (sog. „Representations“) über die finanzielle Lage des Unternehmens sowie sonstige kreditentscheidende Umstände ab und unterwerfen sich gewissen Handlungs- bzw. Unterlassungspflichten (sog. „Undertakings“ oder „Covenants“). Diese umfassen auch Zusicherungen über das Nichtbestehen von erheblichen Prozessrisiken, sowie die Pflicht, Rechtsstreitigkeiten, welche wesentlich nachteilig für die Vermögenslage der Zielgruppe sein können, den Banken unverzüglich mitzuteilen. Im Falle eines Verstoßes hat das Bankenkonsortium unmittelbar das Recht, den Kredit zu kündigen und fällig zu stellen. Des Weiteren kann alleine die Anhängigkeit eines Prozesses, dessen negativer Ausgang wesentliche Nachteile für die Vermögenslage der finanzierten Gruppe haben kann, einen Kündigungsgrund darstellen.2143) Gemein ist jeglichen Verstößen gegen Zusicherungen bzw. Auflagen zu Pro- 1310 zessrisiken sowie dem Bestehen von Prozessrisiken an sich, dass sie dann einen Kündigungsgrund (sog. „Event of Default“) darstellen, wenn die potentiell nachteiligen Änderungen für die Zielgruppe bzw. deren Vermögenswerte wesentlich sind bzw. sein können (sog. „Material Adverse Effect“). Durch die ___________ 2143) Vgl. Clause 28.17 des Senior Multicurrency Term and Revolving Facilities Agreement for Leveraged Acquisition Finance Transactions.

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jeweilige Verweisung auf den sog. Material Adverse Effect spielt dessen Definition eine zentrale Rolle bei der Beurteilung, ob Kündigungsgründe vorliegen. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Kündigungsgründe nach dem LMAMuster mit dem Leitbild des § 490 BGB im Einklang stehen. Danach kann ein Darlehensvertrag ebenfalls außerordentlich gekündigt werden, wenn eine wesentliche Verschlechterung eintritt oder einzutreten droht, durch die die Rückzahlung des Darlehens, auch unter Verwertung bestellter Kreditsicherheiten, gefährdet wird. 1311 Primär streben die Banken jedoch nicht eine Kündigung der Kredite an, sondern eine Erfüllung der Darlehensverträge. In der Praxis treten deshalb im Falle von anhängigen Gerichtsverfahren beide Seiten frühzeitig in Verhandlungen ein, um die genaueren Umstände und die Auswirkungen zu eruieren. Stellt sich dabei heraus, dass die Rückzahlung des Darlehens durch Einleitung und Umsetzung operativer und vertraglicher Maßnahmen nicht gefährdet ist, verzichten die Kreditgeber in aller Regel auf das Kündigungsrecht (sog. „Waiver“2144)). 1312 Während der Aufarbeitungs- und Informationsphase vereinbaren die Parteien üblicherweise zunächst ein sog. „Stillhalten“ („Standstill Agreement“), sodass zunächst Kündigungsrechte bis zur umfassenden Aufklärung der Situation nicht ausgeübt werden. Dieses mündet dann später häufig in der Anpassung der Vertragsdokumentation unter Aufnahme bestimmter Maßnahmen, zu deren Umsetzung sich die Parteien verpflichten. III. Spannungsverhältnis Darlehensgeber – Darlehensnehmer 1313 Das Rechtsverhältnis zwischen Darlehensgeber und Darlehensnehmer ist, wie bereits dargelegt, im Wesentlichen durch einen Darlehensvertrag gem. § 488 BGB dokumentiert, der dem LMA-Muster folgt. Dieser sieht eine Vielzahl von Regelungen vor, die ausgehend von der Risikoposition der Finanzierungsparteien das Gleichgewicht zwischen Darlehensvaluta, und damit des Kreditrisikos auf der einen Seite, und der finanzierten Gruppe, und somit der haftenden Vermögensmasse auf der anderen Seite, erhalten soll. 1314 Rechtsstreitigkeiten vor einem ordentlichen Gericht zwischen Darlehensgeber und Darlehensnehmer spielen – wie bereits eingangs erwähnt – im Rahmen der Akquisitionsfinanzierung eine eher untergeordnete Rolle. 1315 Allerdings sind von dem Kreditnehmer Zusicherungen zu bestimmten Sachverhalten abzugeben, die den Zeitraum bis zum Vertragsschluss erfassen sollen. Für den Zeitraum ab Vertragsschluss sieht der Vertrag dann entsprechende Verhaltenspflichten vor. Hinzu kommen vereinbarte Finanzkennzahlen, die die Banken als eine Art Frühwarnsystem bei einer negativen Geschäftsentwicklung der finanzierten Gruppe frühzeitig in eine entsprechende ___________ 2144) Gemeint ist ein Waiver im untechnischen Sinne, nicht ein Waiver i. S. d. Clause 40 SFA.

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Verhandlungsposition mit dem Darlehensnehmer bringen. Flankiert werden diese Pflichten von entsprechenden Informationspflichten. Somit sind die Finanzierungsparteien fortlaufend und regelmäßig über die Unternehmensund Geschäftsentwicklung der einzelnen Gruppengesellschaften sowie der finanzierten Gruppe als Ganzes informiert und jederzeit in der Lage, bei negativer Geschäftsentwicklung oder eines solchen wesentlichen Geschäftsvorfalles zeitnah zu reagieren und das Gespräch mit den Beteiligten zu suchen. Die finanzierenden Banken können nur auf Basis von konkret vorhandenen 1316 Informationen zur wirtschaftlichen Lage des Kreditnehmers bzw. durch die rechtliche Absicherung dahingehend, dass der Kreditnehmer bestimmte Handlungen während der Kreditlaufzeit vornimmt bzw. unterlässt, einerseits eine Kreditvergabe rechtfertigen und andererseits davon ausgehen, dass die Bedienung und Rückführung des Kredits gewährleistet ist. Prozessrisiken auf Seiten des Darlehensnehmers können auf dessen wirtschaftliche Leistungsfähigkeit durchschlagen. Die Kreditgeber haben deshalb ein essentielles Interesse daran, sowohl zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses als auch während der Laufzeit des Kreditvertrags jederzeit über bestehende Prozessrisiken informiert zu sein. Im Einzelnen beinhaltet das LMA-Muster folgende Regelungen:

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1. Zusicherungen – Representations Representations, also Zusicherungen, werden regelmäßig von allen Kredit- 1318 nehmern und Garanten gegenüber jedem Kreditgeber abgegeben.2145) Neben allgemeinen Zusicherungen2146) sichern die Kreditnehmer und Garanten die Richtigkeit und Vollständigkeit der Grundlagen der Kreditvergabe, u. a. des „Information Memorandum“2147) sowie der veröffentlichten Bilanzen2148) zu. Ebenso wird zugesichert, dass alle Finanzplanungen und -projektionen im Rahmen der Transaktion auf aktuellen Daten und vernünftigen Erwägungen beruhen.2149) Zudem enthält der LMA Standard-Vertrag auch eine Zusicherung hinsichtlich bestehender Gerichtsverfahren, die wie folgt lautet: 24.1 General (a) Each Obligor makes the representations and warranties set out in this Clause 24 to each Finance Party.

___________ 2145) Diem, Akquisitionsfinanzierungen, § 22 Rn. 1. 2146) U. a. hinsichtlich des wirksamen Bestehens der entsprechenden Parteien, der Steuerpflicht sowie sonstigen Grundlagen der Geschäftstätigkeit. 2147) Clause 24.12 SFA. 2148) Clause 24.13 SFA. 2149) Clause 24.12(c) SFA.

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Teil 3 M&A-Streitigkeiten 24.14 No proceedings pending or threatened2150) No litigation, arbitration or administrative proceedings or investigations of, or before, any court, arbitral body or agency which, if adversely determined, are reasonably likely to have a Material Adverse Effect have (to the best of its knowledge and belief (having made due and careful enquiry)) been started or threatened against it or any of its Subsidiaries.

1319 Zu beachten ist dabei, dass es bei den Zusicherungen nicht darum geht, ob der Geschäftsführer des jeweiligen Unternehmens diese Zusicherung in der Form wirklich abgeben kann; hier wird oft argumentiert, dass dieses nur „nach bestem Wissen“ zugesichert werden kann. Das ist zwar in der Regel auch nachvollziehbar und entspricht ggf. auch den tatsächlichen Umständen. Allerdings geht es bei den Zusicherungen nicht darum, ob diese wirklich in der jeweiligen Form abgegeben werden können. Vielmehr beziehen sich die Zusicherungen auf die Umstände, die Grundlage der Kreditentscheidung der Fremdkapitalgeber sind und spiegeln damit lediglich die Risikoverteilung wider, nach der der Darlehensnehmer das Risiko für die Richtigkeit dieser Informationen übernehmen muss. Trifft eine dieser Grundlagen nicht zu, ist also eine Zusicherung falsch, so haben die Fremdkapitalgeber die Möglichkeit, den Kredit zu kündigen und sich von dem Kreditengagement zu trennen. 1320 Im Hinblick auf Litigation besteht die wesentliche Zusicherung darin, dass keine Rechtsstreitigkeiten, Verwaltungs- oder sonstige Ermittlungsverfahren gegen den Kreditnehmer bzw. seine Tochterunternehmen angedroht, anhängig oder eingeleitet sind, die eine „wesentliche nachteilige Änderung“ der Vermögensverhältnisse des Darlehensnehmers herbeiführen könnten (sog. „Material Adverse Effect“).2151) 1321 Eine Qualifizierung von Zusicherungen, Verhaltenspflichten und Kündigungsgründen mit dem Verweis auf den „Material Adverse Effect“ ist ein übliches Vorgehen, um (i) den Geschäftsbetrieb nicht zu sehr zu beeinträchtigen und (ii) im Hinblick auf § 490 BGB nur solche Tatbestände zu erfassen, die die Qualität einer Kreditrisikoerhöhung beinhalten. 1322 Darüber hinaus sichern lt. LMA-Vertrag alle Garanten im Hinblick auf Insolvenzverfahren folgendes zu: 24.8 Insolvency No: (a) corporate action, legal proceeding or other procedure or step described in paragraph (a) of Clause 28.7 (Insolvency proceedings); or

___________ 2150) Clause 24.14 SFA; ähnlich der Wortlaut in dem Muster, welcher deutschem Recht unterliegt. Dort heißt es in Clause 19.13 FA unter gleichlautender Überschrift: No litigation, arbitration or administrative proceedings of or before any court, arbitral body or agency which, if adversely determined, might reasonably be expected to have a Material Adverse Effect has or have (to the best of its knowledge and belief) been started or threatened against it or any of its Subsidiaries. 2151) Vgl. die entsprechenden Verweise in Clause 24.14 SFA bzw. Clause 19.13 FA.

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D. Private Equity (b) creditor’s process described in Clause 28.8 (Creditor’s process), has been taken or, to the knowledge of the Parent, threatened in relation to a member of the Group; and none of the circumstances described in Clause 28.6 (Insolvency) applies to a member of the [Restricted] Group.

Diese Zusicherung soll im Wesentlichen vermeiden, dass Darlehen an insol- 1323 vente Gruppengesellschaften bzw. eine insolvente Gruppe vergeben werden. 2. Auflagen – Undertakings bzw. Covenants Neben den Zusicherungen unterliegen die Kreditnehmer nach dem LMA- 1324 Muster auch umfangreichen Auflagen (sog. „Undertakings“ oder „Covenants“). Auflagen sind im Gegensatz zu den Zusicherungen in die Zukunft gerichtet und bestehen aus Verpflichtungen der Kreditnehmer und Garanten zu einem bestimmten Tun oder Unterlassen.2152) In Bezug auf Prozessführungen und entstehende Prozessrisiken bestehen entsprechende Informationspflichten (sog. „Information Undertakings“).2153) 25.9 Information: miscellaneous2154) The Parent shall supply to the Agent (in sufficient copies for all the Lenders, if the Agent so requests): (…) (c) promptly upon becoming aware of them, the details of any litigation, arbitration or administrative proceedings which are current, threatened or pending against any member of the [Restricted] Group, and which, if adversely determined, are reasonably likely to have a Material Adverse Effect [or which would involve a liability, or a potential or alleged liability, exceeding £[ ] (or its equivalent in other currencies)]; (e) promptly upon becoming aware of the relevant claim, the details of any claim which is current, threatened or pending against the Vendor or any other person in respect of the Acquisition Documents and details of any disposal or insurance claim which will require a prepayment under Clause 12.2 (Disposal, Insurance and Acquisition Proceeds);

Zunächst werden Kreditnehmer und Garanten u. a. verpflichtet, die Darle- 1325 hensgeberseite über Tatsachen zu informieren, die finanzielle Schwierigkeiten eines Kreditnehmers oder Garanten – oder eine Gefährdung von Sicherheiten – indizieren. Dies umfasst u. a. die Verletzung einer Gewährleistung aus dem Unternehmenskaufvertrag.2155) Auf Seiten des Darlehensnehmers können natürlich auch Prozessrisiken zu 1326 finanziellen Schwierigkeiten führen. Es besteht deshalb die Pflicht, die Finanzierer unverzüglich von jeglichen angedrohten bzw. anhängigen Gerichtsverfahren, Schiedsverfahren oder administrativen Verfahren in Kenntnis zu setzen, wenn diese im Falle eines negativen Ausgangs mit hinreichen___________ 2152) Diem, Akquisitionsfinanzierungen, § 22 Rn. 1. 2153) Clause 25.8(b) SFA bzw. Clause 20.4 FA. 2154) Clause 25.9 SFA. 2155) Diem, Akquisitionsfinanzierungen, § 22 Rn. 7.

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der Wahrscheinlichkeit eine wesentliche nachteilige Änderung der Vermögensverhältnisse der Unternehmensgruppe („Material Adverse Effect“) nach sich ziehen. Diese Beurteilung ist gerade bei anhängigen Verfahren, dessen Ausgang schwer zu prognostizieren ist, in der Praxis schwer praktikabel, sodass im Hinblick auf diese Informationspflicht alternativ ein Schwellenwert aufgenommen wird, der die entsprechende Informationspflicht auslöst.2156) Dieses vereinfacht die operative Umsetzung dieser Pflicht für die Geschäftsführung des betroffenen Unternehmens. 3. Verweisungen bei Zusicherungen und Auflagen auf den sog. „Material Adverse Effect“ 1327 Gemein ist den Zusicherungen und Auflagen betreffend die Prozessrisiken, dass sie im Hinblick auf ihre Erheblichkeit, d. h. ab wann ein Verstoß vorliegt bzw. eine Informationspflicht ausgelöst wird, auf den sog. „Material Adverse Effect“ abstellen. 1328 Wann ein Material Adverse Effect vorliegt, wird in jedem Kreditvertrag speziell definiert. Die Definition aus dem LMA Standard-Vertrag lautet wie folgt: „Material Adverse Effect“2157) means [in the reasonable opinion of the Majority Lenders] a material adverse effect on: (a) [the business, operations, property, condition (financial or otherwise) or prospects of the Group taken as a whole; or (b) [the ability of an Obligor to perform [its obligations under the Finance Documents]/[its payment obligations under the Finance Documents and/or its obligations under Clause 26.2 (Financial condition)]]/[the ability of the Obligors (taken as a whole) to perform [their obligations under the Finance Documents]/[their payment obligations under the Finance Documents and/ or their obligations under Clause 26.2 (Financial condition)]]; or (c) the validity or enforceability of, or the effectiveness or ranking of any Security granted or purporting to be granted pursuant to any of, the Finance Documents or the rights or remedies of any Finance Party under any of the Finance Documents.]

1329 Ein „Material Adverse Effect“ liegt demnach nicht nur vor, wenn der vorliegende Umstand eine wesentliche Auswirkung auf die Fähigkeit der Darlehensnehmer zur Rückzahlung der Darlehensverbindlichkeiten hat, sondern auch dann, wenn eine wesentliche nachteilige Änderung, u. a. auf den Geschäftsbetrieb, die Substanz des Geschäfts oder die Geschäftsaussichten der Gruppe als Ganzes vorliegt. Auch wesentliche nachteilige Änderungen auf die Wirksamkeit bestellter Sicherheiten (bzw. Hindernisse bei der Vollstreckung von Sicherheiten) können einen Material Adverse Effect darstellen. ___________ 2156) Vgl. Clause 25.9(c) letzter Halbsatz SFA bzw. Clause 20.4 FA; letztere sieht für das deutsche Recht keinen Platzhalter für die Definition eines Schwellenwerts vor, ab welchem von einem Material Adverse Effect ausgegangen werden kann. 2157) Definitions, SFA, p. 26.

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Diese Regelung ist eine konsequente Fortsetzung des oben bereits beschrie- 1330 benen Finanzierungskonzeptes, nach dem zu jeder Zeit sichergestellt sein muss, dass die unter den Finanzierungsverträgen gewährten Fremdmittel im Verhältnis zu der finanzierten Unternehmensgruppe und deren Vermögenswerten stehen. 4. Folgen falscher Zusicherungen und Auflagen Gemäß der Systematik des LMA-Musters (vgl. Clause 28) liegt sowohl im Falle 1331 falscher Zusicherungen als auch beim Verstoß gegen Auflagen ein Kündigungsgrund (sog. „Event of Default“) vor. Der entsprechende Kündigungsgrund bei Vorliegen einer falschen Zusiche- 1332 rung ist im LMA-Muster wie folgt formuliert: 28. EVENTS OF DEFAULT Each of the events or circumstances set out in this Clause 28 is an Event of Default (save for Clause 28.20 (Acceleration) [and Clause 28.21 (Clean-Up Period)]). 28.4 Misrepresentation Any representation or statement made or deemed to be made by an Obligor in the Finance Documents or any other document delivered by or on behalf of any Obligor under or in connection with any Finance Document is or proves to have been incorrect or misleading when made or deemed to be made.

Erweist sich also eine Zusicherung, z. B. dass keine wesentlichen Prozessrisiken 1333 anhängig sind,2158) als unrichtig, liegt nach dem LMA-Muster ein Kündigungsgrund vor.2159) Folglich sind die Finanzierungsparteien dann berechtigt, u. a. den Darlehensvertrag zu kündigen und alle geschuldeten Beträge fällig zu stellen (sog. „Acceleration“2160)). Auch die Verletzung der entsprechenden Informationspflicht führt nach 1334 dem LMA-Muster zu einem Kündigungsgrund, der dort wie folgt lautet: 28. EVENTS OF DEFAULT Each of the events or circumstances set out in this Clause 28 is an Event of Default (save for Clause 28.20 (Acceleration) [and Clause 28.21 (Clean-Up Period)]). 28.2 Financial covenants and other obligations (a) Any requirement of Clause 26 (Financial covenants) is not satisfied [or an Obligor does not comply with the provisions of Clause 25 (Information Undertakings)] [and/or Clause 27 (General Undertakings)].

___________ 2158) Clause 24.14 SFA. 2159) Clause 28.4 SFA; hat ein Prozessrisiko einen „Material Adverse Effect“ i. S. d. Clause 24.14 SFA, so liegt zwangsläufig auch ein eigenständiger Event of Default im Sinne einer „Material Adverse Change“ gem. Clause 28.19 SFA (bzw. Clause 23.4 FA) vor. 2160) Vgl. Clause 28.20(a) und (b) SFA bzw. Clause 23.13 FA.

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1335 Unterlässt es der Kreditnehmer demnach, die Kreditgeber über ein wesentliches Prozessrisiko zu informieren, könnten die Kreditgeber – ebenso wie bei falschen Zusicherungen – den Kredit fällig stellen und sofortige Rückzahlung verlangen.2161) 1336 Allerdings besteht der Rechtsprechung in Deutschland zufolge bereits ohne diese konkreten vertraglichen Regelungen eine entsprechende Verpflichtung der Vertragspartner, den anderen Teil von sich aus über die Umstände aufzuklären, die zur Vereitelung des Vertragszwecks geeignet und daher für die Entschließung des anderen Teils von wesentlicher Bedeutung sind; diese Wahrheits- und Offenlegungspflicht setzt voraus, dass der Vertragspartner die Mitteilung der betreffenden Tatsache nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrsauffassung erwarten durfte.2162) 1337 Demnach kann bereits das Verschweigen von Rechtsstreitigkeiten eine arglistige Täuschung darstellen, welche zu einer Anfechtung des Rechtsgeschäftes und damit der Finanzierungsverträge berechtigt.2163) Es gilt jedoch zu bachten, dass eine Anfechtbarkeit aufgrund arglistiger Täuschung nicht ausschließlich auf vorsätzliches Verhalten zurückgeführt wird, sondern auch fahrlässig herbeigeführt werden kann. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Herleitung der fahrlässigen Arglisthaftung alleine praktischen Bedürfnissen folgt: ließe man eine Anfechtbarkeit wegen fahrlässiger Arglist nicht zu, was dogmatisch korrekt ist, könnte sich ein Verantwortlicher positiv auf sein eigenes Fehlverhalten berufen (nicht geschaffene Wissensorganisation zur Absicherung, Abfrage und Offenlegung von Informationen) und somit die Arglisthaftung umgehen.2164) Daher ist stets auf eine ordnungsgemäße Wissensorganisation zu achten, bzw. die Wissensorganisationspflicht vertraglich entsprechend einzuschränken. 1338 Werden also offenbarungspflichtige Umstände (hier Prozessrisiken) erheblichen finanziellen oder entscheidungsträchtigen Umfangs nicht offengelgt, besteht neben der vertraglichen Beendigungsmöglichkeit ggf. auch die Möglichkeit einer Anfechtung wegen (fahrlässiger) arglistiger Täuschung. 5. Kündigungsgründe 1339 Zusätzlich zu den vorgenannten Regelungen betreffend das Bestehen von Rechtstreitigkeiten bei Vertragsschluss und die fortlaufende Informationspflicht über etwaige (gerichtliche) Verfahren mit der bei negativen Abweichungen festgelegten Rechtsfolge des Vorliegens eines Kündigungsgrundes sieht ___________ 2161) Zu den kompletten Rechtsfolgen: vgl. die sog. Acceleration-Clause (Clause 28.20). 2162) BGH NJW-RR 1991, 439, 440. 2163) BGH NJW 1980, 2460, 2461. 2164) MüKO-BGB, Schubert, § 166, Rn. 48.; früher gegenteilig MüKO-BGB, Schramm, 6. Aufl. 2012, § 166 Rn. 30.

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das Kreditvertragsmuster der LMA weitere Kündigungsgründe vor, welche zu einer Kündigung der Kredite berechtigen.2165) a) Wesentliche Prozessrisiken im Zusammenhang mit der Transaktion als isolierter Kündigungsgrund Neben Verstößen gegen die Zusicherungen bzw. Mitteilungspflichten bei 1340 Prozessrisiken (vgl. oben) kann das Vorliegen eines Prozessrisikos auch einen isolierten Kündigungsgrund darstellen. Diesen sieht das LMA-Muster wie folgt vor: 28. EVENTS OF DEFAULT Each of the events or circumstances set out in this Clause 28 is an Event of Default (save for Clause 28.20 (Acceleration) [and Clause 28.21 (Clean-Up Period)]). 28.17 Litigation Any litigation, arbitration, administrative, governmental, regulatory or other investigations, proceedings or disputes are commenced or threatened in relation to the Transaction Documents or the transactions contemplated in the Transaction Documents or against any member of the Group or its assets which have or are reasonably likely to have a Material Adverse Effect.

Gerichtsverfahren, Schiedsgerichtsverfahren oder sonstige hoheitliche Ermitt- 1341 lungen oder Verfahren bzw. Streitigkeiten gegen jegliche der Gesellschaften des Darlehensnehmers – inklusive dessen Tochtergesellschaften – die im Zusammenhang mit den Transaktionsdokumenten stehen (oder auch mit der geplanten Transaktion), stellen gemäß Clause 28.17 des LMA-Musters einen eigenständigen Kündigungsgrund dar, wenn sie mit hinreichender Wahrscheinlichkeit geeignet sind, eine wesentliche nachteilige Änderung herbeizuführen.2166) Demnach sind alle aus etwaig bestehenden oder entstehenden Prozessen bzw. 1342 Prozessrisiken resultierenden Kündigungsgründe, sei es über eine falsche Zusicherung, die fehlende Information oder das einfache Vorliegen oder Entstehen mit einem Verweis auf den „Material Adverse Effect“ insoweit „qualifiziert“, dass jeder dieser Umstände nur dann zu einer Kündigung berechtigt, wenn der jeweilige Verstoß geeignet ist, eine „wesentliche nachteilige Veränderung“ zur Folge zu haben. b) „Material Adverse Effect“ als Auffangtatbestand Gemäß Clause 28.19 des LMA-Muster-Kreditvertrags ist das Vorliegen eines 1343 Umstandes (unabhängig davon, ob dieser Prozessrisiken betrifft oder anderes), welcher geeignet ist, eine „wesentliche nachteilige Veränderung“ zur Folge zu haben, bereits ein „eigenständiger“ Kündigungsgrund. ___________ 2165) Clause 28 SFA bzw. Clause 23 FA. 2166) Vgl. Clause 28.17 SFA.

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1344 Dieser „Auffangtatbestand“, der im Wesentlichen wieder ein Ausfluss des § 490 BGB ist, lautet im LMA-Muster wie folgt: 28.19 Material adverse change Any event or circumstance occurs which the Majority Lenders reasonably believe has or is reasonably likely to have a Material Adverse Effect.

1345 Demnach könnte man die Frage stellen, ob die konkreteren auf Prozessrisiken bezogenen Kündigungsgründe überhaupt erforderlich sind, da sie gleichzeitig auch unter dem allgemeinen Kündigungsgrund gemäß Clause 28.19 des LMA-Musters zu subsumieren sind. Allerdings haben die spezifischen Vorschriften zu den Prozessrisiken nicht nur den Hintergrund, bei entsprechenden Verstößen einen Kündigungsgrund zu schaffen, sondern sollen vielmehr auch den Vertragsparteien die wesentlichen Grundlagen des Darlehensverhältnisses bewusst machen. Zudem enthalten sie konkrete Verpflichtungen, die nicht ohne Weiteres allein aus dem allgemeinen Kündigungsgrund nach Clause 28.19 des LMA-Musters abzuleiten sind. c) Zwischenergebnis 1346 Eine falsche Zusicherung über das Nichtbestehen wesentlicher Prozessrisiken stellt ebenso einen Kündigungsgrund dar wie ein Verstoß gegen die Auflage, über das Entstehen von jeglichen wesentlichen Prozessrisiken informieren zu müssen. Selbst wenn letzteres ordnungsgemäß erfolgt, liegt dennoch allein im Bestehen von wesentlichen Prozessrisiken ein Kündigungsgrund (vgl. Clause 28.17 SFA); zudem erfasst auch die weite Formulierung von Clause 28.19 SFA zusätzlich Prozessrisiken, die eine wesentlich nachteilige Auswirkung auf die finanzierte Gruppe bzw. ihre Vermögensgegenstände haben. IV. Rechtsfolge: Kündigung gemäß Clause 28.20 SFA 1347 Folge des Vorliegens eines – oder mehrerer – Kündigungsgründe ist, dass gem. Clause 28.20 des Mustervertrages der LMA die Kreditgeber die Kredite kündigen und sofortige Rückzahlung verlangen können. Die Regelung ist wie folgt formuliert: 28.20 Acceleration On and at any time after the occurrence of an Event of Default [which is continuing] the Agent may, and shall if so directed by the Majority Lenders, by notice to the Parent: (a) cancel the Available Commitment of each Lender and/or each Ancillary Commitment of each Ancillary Lender at which time each such Available Commitment and Ancillary Commitment shall immediately be cancelled and the Facility shall immediately cease to be available for further utilisation; (d) declare that cash cover in respect of each Letter of Credit is immediately due and payable at which time it shall become immediately due and payable; (h) exercise or direct the Security Agent to exercise any or all of its rights, remedies, powers or discretions under the Finance Documents.

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Das Recht zur sofortigen Rückzahlung muss vom Agenten der Banken aus- 1348 geübt werden, wenn die Mehrheit der finanzierenden Banken sich zur Ausübung entschließt. Vorgenannte Regelung zur Kündigung gilt jedoch nicht uneingeschränkt. 1349 Das Recht zur sofortigen Kündigung kann im Einzelfall eingeschränkt sein, wenn der individuell vorliegende Kündigungsrund auf einer sog. „Clean-Up Representation“, auf einem „Clean-Up Undertaking“ bzw. einem sog. „Clean-Up Default“ beruht und innerhalb einer festgelegten Zeit (sog. „CleanUp Period“) beseitigt werden kann. Hintergrund dieser Regelung ist, dass der Geschäftsführer des Akquisitionsvehikels und der Sponsor zum Zeitpunkt der Übernahme der Unternehmensgruppe trotz umfassender Prüfung („Due Diligence“) der Unternehmensgruppe, einige Umstände erst nach der Übernahme des Unternehmens feststellt. Je größer und internationaler die übernommene Unternehmensgruppe ist, desto größer auch das Risiko solcher nicht bekannten Umstände. Um in einem solchen Fall zu vermeiden, dass der Kredit unmittelbar fällig gestellt werden kann, wird regelmäßig eine Übergangsfrist eingeräumt (sog. „Clean-Up Period“), in der der neue Eigentümer die Möglichkeit hat, solche Umstände zu beseitigen und einen Zustand herzustellen, der mit den Finanzierungsdokumenten übereinstimmt. Dieses gilt auch für etwaig bestehende vorher nicht erkannte Prozessrisiken. 1350 Ob allerdings ein Prozessrisiko während einer Clean-Up Period geheilt werden kann, hängt von den jeweiligen Umständen ab. Möglicherweise lässt sich während der Clean-Up Period eine gütliche Einigung erzielen oder das Prozessrisiko genauer spezifizieren. Ist dieses nicht möglich, so sind die Fremdkapitalgeber nach fruchtlosem Ablauf der Frist berechtigt, von ihrem Kündigungsrecht Gebrauch zu machen und die Kredite fällig zu stellen. V. Umgang mit Prozessrisiken und Verfahren im Rahmen von Akquisitionsfinanzierungen in der Praxis Prozessrisiken auf Seiten des Darlehensnehmers, die eine wesentliche nach- 1351 teilige Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse der akquirierten Unternehmensgruppe mit sich bringen oder bringen können, ermöglichen den Darlehensgebern wie oben dargestellt gemäß den LMA-Mustern regelmäßig ein Recht auf eine Kündigung der Kredite. Darin manifestiert sich – vertraglich verankert – nichts anderes als der Rechts- 1352 gedanke des § 490 BGB: § 490 BGB sieht ein außerordentliches Kündigungsrecht des Darlehensgebers bei Gefährdung des Rückzahlungsanspruchs vor. Ein außerordentliches Kündigungsrecht besteht, wenn ein drohender Vermögensverfall vorliegt, also wenn sich die aus dem Vermögensverfall folgende Gefährdung der Rückzahlung sichtbar abzeichnet,2167) wozu objektive Kriterien vorliegen müssen. Ebenso berechtigt bereits die drohende wesentliche ___________ 2167) Vgl. BT-Drucks. 14/6040, S. 254; 14. Wahlperiode, 14.5.2001.

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Verschlechterung der Werthaltigkeit einer gestellten Sicherheit zur Kündigung des Kredits.2168) Unschwer ist zu erkennen, dass ein anhängiger Prozess, der zu einer wesentlichen nachteiligen Änderung der Vermögensverhältnisse des Darlehensnehmers führen kann, regelmäßig auch einen außerordentlichen Kündigungsgrund im Rahmen der gesetzlichen Regelung des § 490 BGB darstellt. 1353 Insofern besteht im Falle des Bestehens eines Beendigungsgrundes keine erheblich abweichende Rechtslage zum gesetzlichen Kündigungsrecht. Die LMA-Muster erreichen jedoch eine Konkretisierung der Pflichten und eine laufende Information über Prozessrisiken. 1. Vorgehen bei Gerichtsprozessen im Rahmen von Akquisitionsfinanzierungen 1354 In der Praxis streben im Rahmen einer Akquisitionsfinanzierung die Banken jedoch primär nicht eine Kündigung der Kredite, sondern eine Erfüllung der Darlehensverträge an. 1355 Um eine unkoordinierte Kündigung durch einzelne Konsortialmitglieder zu verhindern, verpflichten sich die Kreditgeber regelmäßig untereinander, die Kredite nur dann zu kündigen bzw. Sicherheiten nur dann zu verwerten, wenn sie dies mit einer Mehrheit (meist Zweidrittelmehrheit, bezogen auf die Konsortialkredite) beschlossen haben.2169) 1356 Treten Umstände ein, die einen Kündigungsgrund darstellen, so kommt es selten sofort zu einer Kündigung der Kredite. Vielmehr stellt das Vorliegen eines Kündigungsgrundes einen Anlass dar, um sich unter den Vertragsparteien über die zugrundeliegenden Umstände auszutauschen und gemeinsame Lösungen und weiteres Vorgehen zu besprechen. 1357 Um in dieser Situation keine Rechte zu verwirken, wird häufig ein sog. „Standstill Agreement“, eine Stillhaltevereinbarung zwischen den Parteien geschlossen, in der auf die Ausübung der Kündigungsrechte für eine gewisse Zeit (häufig ca. 3 Monate, abhängig von den Umständen) verzichtet wird, ohne auf dieses Recht vollständig zu verzichten. Vielmehr lebt das Kündigungsrecht nach fruchtlosem Ablauf der sog. „Standstill Period“/Stillhalteperiode wieder auf, und die Kreditgeber sind berechtigt, die Kredite fällig zu stellen. Diese Stillhalteperiode wird dazu genutzt, ggf. Sanierungsgutachten zu erstellen oder sonstige Restrukturierungsmaßnahmen zu vereinbaren. 1358 Bei eher kleineren Verstößen wie z. B. eine minimale Überschreitung des Schwellenwertes für Prozessrisiken, kann der Kreditnehmer auch von den Kreditgebern einen Verzicht auf das Kündigungsrecht erfragen (sog. „Waiver“). Wird dieser erteilt, so stellt dieser Verstoß gegen die Vorschriften des Kre___________ 2168) Diem, Akquisitionsfinanzierungen, § 23 Rn. 10 f. 2169) Diem, Akquisitionsfinanzierungen, § 6 Rn. 18.

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ditvertrages keinen Kündigungsgrund mehr dar, und eine Fälligstellung der Kredite seitens der Banken auf dieser Grundlage ist nicht mehr möglich. 2. Weitere Ansprüche der Banken An das Vorliegen von Kündigungsgründen sind weitere vertragliche Rechts- 1359 folgen geknüpft wie z. B. die Erhöhung der Marge.2170) Regelmäßig wird in den LMA-Verträgen ein sog. Margenraster (sog. „Mar- 1360 gin Ratchet“) vereinbart. Danach richtet sich die Marge nach dem jeweils aktuellen Verschuldungsgrad (die sog. „Leverage Ratio“) der Unternehmensgruppe. Für den Zeitraum des Bestehens und Andauerns eines Kündigungsgrundes gilt allerdings regelmäßig die höchste im Margenraster genannte Marge plus einer „Strafmarge“ von 100 Basispunkten.2171) Ist der Kündigungsgrund bzw. dessen zugrunde liegenden Umstände beseitigt, findet das Margenraster wieder Anwendung. Eine weitere Rechtsfolge, die sich aus dem Kreditvertrag ergibt, ist das Verbot 1361 der weiteren Inanspruchnahme von Krediten während des Vorliegens eines Kündigungsgrundes. 3. Wechselwirkungen mit gesetzlichen Kündigungsrechten Schon nach den gesetzlichen Regelungen ist die Ausübung eines Kündi- 1362 gungsrechts der Kreditgeber durch das Gebot der Rücksichtnahme eingeschränkt, was sich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) herleitet. Demnach kann ein Kreditgeber einen Kredit nicht zur Unzeit kündigen, sich nicht widersprüchlich verhalten und darf ein zuvor – in zurechenbarer Weise – geschaffenes Vertrauen des Kunden nicht enttäuschen.2172) Zu beachten ist deshalb, dass die vertraglich vereinbarten Kündigungsgründe 1363 – bzw. deren Nichtausübung – durchaus Einfluss auf die Rechtslage haben können. Zwar soll gemäß dem LMA-Muster das Unterlassen, ein bestimmtes Recht einzufordern, nicht dazu führen, dass man das entsprechende Recht verliert.2173) Dennoch kann dies nicht gesetzliche Wertungen außer Kraft setzen. Wenn die Kreditgeber also z. B. bei der Verletzung einer Auflage mehrmals einen zeitlich befristeten Waiver erteilen, kann dies zur Folge haben, dass sie nach gewisser Zeit und „Übung“ einen Vertrauenstatbestand schaffen und in diesem und ggf. auch bei ähnlich gelagerten Verstößen ihre Kündigungsmöglichkeit verlieren.2174) ___________ 2170) Diem, Akquisitionsfinanzierungen, § 22 Rn. 75. 2171) Vgl. die Definition „Margin“ des SFA. 2172) OLG Hamm NJW-RR 1991, 242 f. 2173) Vgl. Clause 40 SFA bzw. 34 FA, Remedies and Waivers. 2174) Diem, Akquisitionsfinanzierungen, § 23 Rn. 28.

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1364 Ein Kündigungsgrund besteht ebenfalls nicht, wenn die Umstände, die zur Kündigung berechtigen würden, dem Kreditgeber schon im Zeitpunkt der Kreditgewährung bekannt waren.2175) Hat also ein Kreditnehmer eine falsche Zusicherung zu einem Prozessrisiko abgegeben, von welchem die Banken wussten, ist eine Kündigung wegen eines Verstoßes gegen § 242 BGB ausgeschlossen. 1365 Aufgrund von § 242 BGB kann die Kündigung eines Kredits auch dann ausgeschlossen sein, wenn auch in sonstiger Weise kein schutzwürdiges Interesse der Banken besteht. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn dem Kreditgeber zweifelsfrei werthaltige und von keinem Wertverlust bedrohte Sicherheiten zur Verfügung stehen, die die Hauptforderung und künftige Zinsen decken. Teilweise wird vertreten, dass dies jedoch nur solange gilt, wie die Aussicht besteht, dass der Kreditnehmer seine Krise ohne Insolvenzverfahren überwinden kann.2176) Stellen sich Prozessrisiken allerdings als dergestalt gravierend dar, dass ein Insolvenzverfahren überwiegend wahrscheinlich ist, ist den Kreditgebern nicht zuzumuten, dieses abzuwarten, um dann Befriedigung zu suchen. Es muss bereits vorher eine Kündigung und Verwertung der Sicherheiten möglich sein. E. Moderne ADR-Verfahren – Corporate Dispute Management I. Corporate Litigation aus Unternehmenssicht: wenige Lichtblicke, viele Schattenseiten Jörn Gendner/Alexander Steinbrecher

1366 Corporate Litigation hat sich im deutschsprachigen Raum als griffige Bezeichnung für die Beratung und Vertretung in gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten etabliert. Der Begriff legt nahe, dass Litigation, also die Beilegung von gesellschaftsrechtlichen Konflikten durch gerichtliche Entscheidung, die Regel ist, während die außergerichtliche Streitbeilegung im Gesellschaftsrecht die Ausnahme ist. 1367 Praktisch ist diese Regel auch im Jahre 2021 zutreffend, denn die weit überwiegende Anzahl von gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten wird vor staatlichen Gerichten und privaten Schiedsgerichten ausgefochten. 1368 Ob diese Regel auch aus Gesellschafter- und Unternehmenssicht richtig ist, darf aus Praktikersicht aus zahlreichen Gründen bezweifelt werden. 1369 Die Kritik an der (schieds-) gerichtlichen Beilegung von gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzungen ist beharrlich (I.). Es gibt seit Jahren alternative Verfahren der Streitbeilegung, die überraschenderweise in der anwaltlichen Praxis kaum genutzt werden. Die Möglichkeiten und Grenzen, die außergerichtliche Verfahren zur Beilegung von gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten von ___________ 2175) BGH NJW-RR 2002, 1273 = ZIP 2002, 1241. 2176) Diem, Akquisitionsfinanzierungen, § 23 Rn. 30.

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E. Moderne ADR-Verfahren – Corporate Dispute Management

Personen- und Kapitalgesellschaften aus Unternehmenssicht bieten können, werden nachfolgend erläutert (II.). Wie sich zeigen wird, hängt die Realisierung der Vorteile, die außergerichtliche gegenüber gerichtlichen Streitbeilegungsverfahren haben, entscheidend von der Einigungsbereitschaft der Parteien und der konkreten Ausgestaltung des jeweiligen ADR-Verfahrens ab. Den Schwerpunkt dieses Beitrags bilden die Erläuterungen zu ausgewählten ADR-Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten in Personen- und Kapitalgesellschaften (III.). In der Zukunft werden Unternehmen, die in gesellschaftsrechtliche Streitig- 1370 keiten involviert sind, die Ausnahme zur Regel machen: sie werden im Rahmen des rechtlich Machbaren und wirtschaftlich Vernünftigen ihre Interessen zuvörderst in ADR-Verfahren zu realisieren versuchen. Verfahren vor privaten Schiedsgerichten oder staatlichen Gerichten werden die Ultima Ratio und damit die Ausnahme bleiben. In diesem Sinne wird sich Corporate Litigation begrifflich und praktisch zu Corporate Dispute Management weiterentwickeln (IV.). Die gegenwärtige Praxis der gesellschaftsrechtlichen Streitbeilegungspraxis lässt 1371 sich – provokativ – darauf reduzieren, dass es aus Unternehmenssicht neben Lichtblicken auch viele Schattenseiten gibt. Zweifelsohne bieten staatliche Gerichte und private Schiedsgerichte den strei- 1372 tenden Gesellschaftern, Gesellschaften sowie ihren Geschäftsführern oder Vorständen Vorteile. Gerade im internationalen Vergleich zeigen sich deutsche Gerichte als ver- 1373 hältnismäßig schnelle und kostengünstige Foren für die Entscheidung von gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzungen.2177) Dies gilt – schenkt man Statistiken Glauben – auch und gerade im Vergleich zu privaten Schiedsgerichten, deren Nimbus als effiziente Streitentscheidungsinstitution in der Praxis mehr und mehr dahinschwindet. Auch die Qualität der Gerichtsurteile zu gesellschaftsrechtlichen Fragestel- 1374 lungen ist in Deutschland – im internationalen Vergleich – hoch. Den streitenden Gesellschaftern, Gesellschaften, Geschäftsführern, Vorstän- 1375 den und Aufsichtsräten stehen zudem hochqualifizierte und erfahrene Anwälte zur Seite. Es gibt in Deutschland mehr und mehr ausgewiesene Corporate Litigator, die hochspezialisiert auf die Prozessführung in gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten sind. ___________ 2177) Laut WJP Rule of Law Index 2020 belegt Deutschland im weltweiten Vergleich der Justizsysteme den sechsten Platz. Die durchschnittliche Dauer von Verfahren vor deutschen Zivilgerichten in 2018 betrug laut EU-Justizbarometer in der ersten Instanz mehr als 200 Tage. Das OLG Naumburg, v. 30.5.2013 – 1 ESV 4/12 – hat entschieden, dass die angemessene Verfahrensdauer eines Zivilprozesses, der ohne Beweisaufnahme entschieden werden kann, durchschnittlich ein Jahr pro Instanz beträgt.

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1376 Vor diesem Hintergrund mag es nicht überraschen, dass die Entscheidung von gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten durch staatliche Gerichte und private Schiedsgerichte praktisch die Regel und die Durchführung von außergerichtlichen Streitbeilegungsverfahren die Ausnahme ist. 1377 Sieht man genauer hin und untersucht, warum Unternehmen, die als Gesellschafter oder Gesellschaften an derlei Streitigkeiten beteiligt sind, noch so regelmäßig und häufig auf staatliche Gerichte und private Schiedsgerichte als Streitentscheidungsforum zurückgreifen, zeigt sich ein anderes Bild mit vielen Schattenseiten. 1378 Empirische Studien belegen seit Jahren, dass Unternehmen in Deutschland der gerichtlichen Streitentscheidung abgeneigt sind, weil der Zivilprozess und das Schiedsgerichtsverfahren in den seltensten Fällen die Interessen der Streitparteien zu erfüllen vermögen.2178) Es scheint ein weit verbreitetes Handlungsmuster zu geben: wenn ein gesellschaftsrechtlicher Konflikt zwischen Gesellschaftern oder zwischen Gesellschafter oder Organ und Gesellschaft auftritt, versuchen die Streitparteien meistens die Auseinandersetzung eigenverantwortlich und außergerichtlich in Verhandlungen beizulegen. Gelingt dies den streitenden Parteien nicht, eskalieren sie die gesellschaftsrechtliche Auseinandersetzung in der noch weit überwiegenden Anzahl der Fälle an staatliche Gerichte oder private Schiedsgerichte. Die Gründe hierfür sind vielschichtig: 1379 Wenn Verhandlungen zumindest aus Sicht einer der Streitparteien gescheitert sind, ist diese scheinbar nicht mehr kompromiss- oder gar einigungsbereit. Die Folge: die widerstreitenden Positionen werden „mit der Härte des Rechts“ vor Gericht ausgefochten. Diesem Verhaltensmuster liegen – das zeigen empirische Studien anschaulich – regelmäßig Irrtümer bzw. Fehleinschätzungen zumindest einer der Streitparteien zugrunde. Denn nicht nur in gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzungen überschätzen Parteien ihre juristischen Erfolgsaussichten. Es mag ernüchternd klingen, aber Gerichtsverfahren sind sehr häufig reine Glücksspiele.2179) Dass diese Erkenntnis nahe an der Wahrheit zu liegen scheint, belegen deutsche Gerichtsstatistiken eindringlich: Kläger gehen nur in der Hälfte der Gerichtsverfahren als Sieger aus dem Gerichtssaal.2180) Hinzu kommt eine weitere Fehleinschätzung von Streitparteien: Dass Menschen ihre Fertigkeiten und Fähigkeiten regelmäßig überschätzen, ist in unzähligen psychologischen Untersuchungen nachgewiesen worden. Dass dies gleichermaßen für die Verhandlungsfähigkeiten von Menschen gilt, also auch von Gesellschaftern, Geschäftsführern, Vor___________ 2178) Pwc/EUV (2016), S. 39 f. 2179) Risse, NJW 2018, 2848, 2853 erläutert, wie Heuristiken die richterliche Entscheidungsfindung beeinflussen und zu irrationalen Urteilen führen: „Juristen tappen in die gleichen Entscheidungsfallen wie jeder Mensch.“ 2180) Vgl. Wolf, NJW 2015, 1656, 1658.

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ständen und die sie beratenden Rechtsanwälte, mag erklären, warum Parteien nach gescheiterten Verhandlungen direkt zu Gericht gehen. Zu den Schattenseiten der Corporate Litigation zählt die lange Dauer von 1380 staatlichen Gerichtsverfahren und privaten Schiedsgerichtsverfahren. Es ist keine Seltenheit, dass mehr als ein Jahr vergeht, bis ein erstinstanzliches Urteil vorliegt. Und in vielen Fällen ist es die Regel, dass endgültige Urteile und Schiedssprüche erst nach mehreren Jahren gefällt werden. Es überrascht daher wenig, dass allein die Gerichts- und Anwaltskosten in gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten im Vergleich zum Streitwert sehr hoch sind – und in Extremfällen den Streitwert gar übersteigen. Statistiken der International Chamber of Commerce2181) und der American Arbitration Association2182) zeigen, dass die Kosten der Streitparteien für Anwälte, Privatgutachten und Zeugen mehr als 80 % der Gesamtkosten von Schiedsverfahren ausmachen. Diese Kosten sind überwiegend zeitabhängig: je länger ein Schieds- oder Gerichtsverfahren über eine gesellschaftsrechtliche Streitigkeit dauert, desto höher sind die Kosten, die die Parteien tragen müssen. Es überrascht daher wenig, dass Parteien unzufrieden mit den hohen Kosten und der langen Dauer von (schieds-) gerichtlichen Streitbeilegungsverfahren sind.2183) II. Möglichkeiten und Grenzen der Mediation und anderer ADR-Verfahren Die kritische Haltung von Unternehmen gegenüber Corporate Litigation 1381 wirft die praktische Frage auf, ob es nicht bessere Alternativen gibt, als gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten nahezu ausschließlich in staatlichen Gerichtsverfahren und privaten Schiedsgerichtsverfahren auszufechten. Die rationale Abwägung zwischen der rechtlichen Machbarkeit, der wirtschaftlichen Vernunft und den unternehmerischen Interessen legt häufig die nüchterne Erkenntnis nahe, dass außergerichtliche Verfahren aus Unternehmenssicht regelmäßig vorzugswürdig sind. Natürlich sind ADR-Verfahren auch bei gesellschaftsrechtlichen Konflikten kein Allheilmittel. Es ist eine praxisferne Erwartung, dass sich jede gesellschaftsrechtliche Streitigkeit schneller, kostengünstiger und besser in einem ADR-Verfahren beilegen ließe. Die Chancen und Risiken von Mediation und ADR-Verfahren müssen bei 1382 gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzungen nüchtern analysiert werden, bevor die Parteien eine informierte Entscheidung darüber treffen können, ob ___________ 2181) ICC Comission on Arbitration and ADR, Effective Management of Arbitration, S. 5. 2182) American Arbitration Association, Understand and control your arbitration costs, im Internet abrufbar unter https://www.adr.org/sites/default/files/document_repository/ AAA173_Commercial_Arbitration_Infographic.pdf (letzter Abruf am 21.5.2021). 2183) Vgl. nur die empirischen Studien der School of International Arbitration an der Queen Mary University in Zusammenarbeit mit White & Case LLP: 2015 International Arbitration Survey: Improvements and Innovations in International Arbitration, S. 7 sowie 2018 International Arbitration Survey: The Evolution of International Arbitration, S. 8.

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und – falls ja – welches konkrete Streitbeilegungsverfahren aufgrund seiner spezifischen Charakteristika am besten geeignet ist.2184) Unternehmensjurist:innen und Rechtsanwält:innen können mithilfe einer kostenlosen, internetbasierten Verfahrensauswahlsoftware in wenigen Schrittten das geeigneteste Verfahren für die Beilegung eines konkreten Rechtstreitigkeits auswählen.2185) Mangelnde (Verfahrens-)Kenntnis und mangelnde Verfahrensauswahlanalyse sind weiterhin die Hauptgründe, warum Parteien und die sie beratenden Rechtsanwälte, ADR-Verfahren nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, bevor ein staatliches Gerichts- oder privates Schiedsverfahren eingeleitet wird.2186) 1383 In der Praxis werden durchgängig die kurze Dauer und die geringen Kosten von ADR-Verfahren als wesentliche Vorteile gegenüber langwierigen und kostspieligen (Schieds-)Gerichtsverfahren hervorgehoben. Richtig daran ist, dass in ADR-Verfahren schlichtweg weniger Kostenfaktoren von den Parteien zu tragen sind: So entfallen von vorneherein Gerichtskosten und Honorare für Schiedsrichter. Und mangels Anwaltszwangs in einer Mediation oder in einem anderen ADR-Verfahren, können die Parteien zudem Kosten sparen, wenn sie auf die Vertretung durch Rechtsanwälte verzichten.2187) Als Kostenfaktor fällt in aller Regel lediglich das Honorar des Mediators, des Schiedsgutachters oder Adjudikators an.2188) 1384 Die kurze Dauer von ADR-Verfahren ist ein weiterer Vorteil. Die Verfahrensdauer hat unmittelbaren Einfluss auf die gesamten Verfahrenskosten. Denn je länger ein ADR-Verfahren dauert, desto größer werden die zeitabhängigen Kosten sein. Während in staatlichen Gerichtsverfahren und private Schiedssverfahren mehrere Jahre bis zum Vorliegen einer endgültigen und rechtlich bindenden Entscheidung vergehen können, liegen in ADR-Verfahren zwischen der Einleitung und dem Abschluss nur Wochen oder wenige Monate. Eine Mediation2189) kann ebenso wie ein Mini-Trial2190) oder ein Dispute Board Verfahren2191) binnen Tagen oder Wochen erfolgreich durchgeführt werden. Die Betonung liegt auf kann. Denn es hängt entscheidend von Einigungswillen, um nicht zu sagen von der Kompromissfähigkeit der Parteien ___________ 2184) Instruktiv zur Systematik der Verfahrensauswahl Hagel/Steinbrecher, in: Gläßer/ Kirchhoff/Wendenburg, S. 53 ff. 2185) Der Round Table Mediation und Konfliktmanagement der deutschen Wirtschaft hat das Dispute Resolution Comparison Tool entwickelt; es ist online nutzbar unter www.rtmkm.de (letzter Aufruf am 21.5.2021). Vgl. hierzu Wendenburg/Gendner/ Zimdars/Hagel, ZKM 2019, 63 ff. 2186) Steinbrecher, Systemdesign, S. 70 m. w. N. 2187) In der Praxis nehmen zumindest die Unternehmensjuristen beratend an der Vorbereitung und Durchführung der ADR-Verfahren bei. 2188) In aller Regel ist zwischen den Parteien – unabhängig vom Ausgang des ADR-Verfahrens – Kostenteilung vereinbart. Vgl. hierzu auch die Kostentragungsregelungen in den institutionellen Verfahrensordnungen der DIS und ICC. 2189) Vgl. die Mediationsordnung der DIS und die Mediation-Rules der ICC. 2190) Vgl. die CPR Minitrial Procedure und die CPR European Minitrial Procedure. 2191) Vgl. die Dispute Board Rules der ICC.

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ab, wie schnell in einem ADR-Verfahren eine Konfliktklärung durch die Parteien erzielt werden kann. Damit ist bereits ein Hindernis für die Mediation und andere ADR-Ver- 1385 fahren benannt: die Parteien müssen willens sein, ihre gesellschaftsrechtliche Auseinandersetzung außergerichtlich beizulegen. Ohne Einigungswillen und ein Mindestmaß an Kompromissbereitschaft wird jede Mediation scheitern. Aus demselben Grund werden auch andere ADR-Verfahren nicht zum Abschluss kommen, denn zumindest die nicht einigungsbereite Partei wird der Empfehlung oder Entscheidung des Schiedsgutachters, Dispute Boards oder des Mini-Trial-Panels nicht folgen. Es liegt in der Verfahrensnatur, dass Mediations- und andere konsensorientierte ADR-Verfahren freiwillig durchzuführen sind.2192) Denn jeder Zwang zur Durchführung oder gar zum Abschluss eines ADR-Verfahrens stünde im Widerspruch zur Freiwilligkeit und mithin zur Einigungsbereitschaft der Parteien. Angesichts dieses Umstandes sind die vielzitierten Erfolgsprognosen von 70 1386 oder gar 80 Prozent aller Mediationen2193) mit Vorsicht zu beurteilen. Die Mediation und andere ADR-Verfahren stoßen zudem an ihre Grenzen, 1387 wenn ausschließlich Rechtsansprüche den Verfahrensgegenstand oder das Verfahrensinteresse der Parteien bilden. Denn dann mag es zumindest im Interesse einer Partei sein, dass über den Rechtsanspruch gerichtlich entschieden wird. An der nötigen Kompromissbereitschaft dieser Partei wird es in einem solchen Fall praktisch fehlen. Dieser Umstand dürfte erklären, warum beispielsweise so selten ADR-Verfahren zur Beilegung von gesellschaftsrechtlichen Beschlussmängelstreitigkeiten geführt werden. III. Praxis der ADR-Verfahren zur Beilegung von gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass ADR-Verfahren zwar keine 1388 Allheilmittel sind, aber im Einzelfall sehr wohl von großem Nutzen für die streitenden Parteien sein können, um eine konkrete gesellschaftsrechtliche Auseinandersetzung schnell, kostengünstig und interessenorientiert zu klären. Welche ADR-Verfahren insoweit das größte Anwendungspotential haben, wird nachfolgend erläutert. Den Schwerpunkt bildet dabei die Mediation als konsensuales Konfliktbearbeitungsverfahren (1.). Aber auch Verfahren der Streitentscheidung, namentlich das Schiedsgutachten und die Early Neutral Evaluation (2.) sowie Dispute Boards (3.) und der Mini-Trial (4.) sind häufig geeignet, um gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten außergerichtlich beizulegen.

___________ 2192) Diop/Steinbrecher, BB 2011, 131, 133. 2193) Duve/Eidenmüller/Hacke/Fries, S. 68.

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1. Mediation 1389 Obwohl die Möglichkeit, Vergleichsverhandlungen durch Hinzuziehen eines neutralen Dritten strukturieren und fachlich versiert leiten zu lassen heutzutage allgemein bekannt ist, kann sich die Mediation (und auch die Schlichtung) in Gesellschafterstreitigkeiten – von einigen Ausnahmen abgesehen2194) – in der Praxis nur schwer durchsetzen.2195) Aus Sicht der Konfliktparteien besteht offenbar noch häufig kein hinreichender Bedarf für die Durchführung von Mediationsverfahren,2196) sofern den Gesellschaftern überhaupt bewusst ist, dass ihr konkreter Konflikt für eine Mediation geeignet ist. Damit verschenken die Parteien jedoch in vielen Fällen eine wertvolle und zeitsowie kostenschonende Gelegenheit, ihre Konflikte unter ganzheitlicher Berücksichtigung ihrer Interessen und mit Blick auf ihre bestehende geschäftliche Verflechtung und gesellschaftsrechtliche Verbindung auch nachhaltig zu lösen. a) Begrifflichkeiten und Grundzüge 1390 Die seit Inkrafttreten des Mediationsgesetzes (MediationsG) am 26.7.2012 gültige Legaldefinition beschreibt die Mediation als ein vertrauliches und strukturiertes Verfahren, bei dem die Parteien mithilfe eines oder mehrerer Mediatoren freiwillig und eigenverantwortlich eine einvernehmliche Beilegung ihres Konfliktes anstreben (§ 1 Abs. 1 MediationsG). Der oder die Mediatoren haben keine eigene Entscheidungskompetenz (§ 1 Abs. 2 MediationsG), sie vermitteln nur.2197) Die Parteien bleiben also zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens handelnde Subjekte in ihrem Konflikt, von ihnen allein hängt das Verhandlungsergebnis ab.2198) Auch steht es jeder Partei jederzeit frei, den Mediationsprozess für gescheitert zu erklären und den Verhandlungstisch zu verlassen.2199) Ohne eine grundlegende Einigungsbereitschaft der Parteien ist also jede Mediation zum Scheitern verurteilt. 1391 Die Mediatoren führen die Parteien durch die Mediation (§ 1 Abs. 2 MediationsG) und übernehmen dabei lediglich die – freilich elementare – Aufgabe, dem Einigungsprozess die in bilateralen Verhandlungen oft fehlende zielführende Struktur zu geben und die Parteien dabei zu unterstüt___________ 2194) Zu denken ist hier z. B. an emotionsgeladene Konflikte im Rahmen der Übernahme von familiengeführten Unternehmen durch die nachfolgende Generation. Beispiele dieser Kategorie dürfen in keiner Mediatorenausbildung fehlen. 2195) Lutz, Der Gesellschafterstreit, 3. Teil, II.2., Rn. 577, S. 344. 2196) Lutz, Der Gesellschafterstreit, 3. Teil, II.2., Rn. 577, S. 344. 2197) Risse, NJW 2000, 1614, 1615. 2198) § 2 Abs. 5 Satz 1 Mediationsgesetz; siehe auch Hagen/Lenz, Wirtschaftsmediation, Pkt. 1.2.1, S. 5. 2199) In der Praxis ist die Androhung einer der Parteien, die Mediation beenden zu wollen, oft erst der Beginn wirklich ernsthafter Gespräche, sofern der Mediator in der Lage ist, die Gründe für diese vehemente Grenzziehung (ggf. in einem Einzelgespräch) herauszuarbeiten.

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zen, zunächst die für ihren Konflikt relevanten Themen zu identifizieren, die Kommunikation neu zu gestalten und interessengerechte Lösungsoptionen zu erarbeiten.2200) Eine der Kernaufgaben der Mediatoren ist es dabei, den Parteien Möglichkeiten aufzuzeigen, die zumeist rein normativ geprägte Positionsebene zu verlassen, um auf der Interessenebene Möglichkeiten der Verständigung auszuloten.2201) Ein wesentliches Merkmal ist dabei die Allparteilichkeit der Mediatoren. Im Unterschied zu Neutralität meint Allparteilichkeit nicht passive Zurückhaltung, sondern aktives Gewährleisten der mediativen Grundhaltung der Offenheit und Vorurteilslosigkeit, Äquidistanz zu und Unparteilichkeit gegenüber den Parteien.2202) Die Mediatoren unterstützen die Parteien also aktiv dabei, Ihre Positionen und die dahinter liegenden Interessen herauszuarbeiten und zu artikulieren und können und sollen – z. B. bei einer offensichtlichen Asymmetrie der Ausdrucksfähigkeiten der Parteien – durch entsprechende Fragetechniken dafür Sorge tragen, dass die Positionen und Interessen aller Beteiligten adäquat zur Sprache kommen und von der anderen Seite verstanden werden. Mediationen folgen in ihrem Ablauf einer festen Struktur,2203) wobei die 1392 einzelnen Prozessabschnitte nicht immer die gleiche Tiefe und Intensität aufweisen müssen. x

In Vorgesprächen klärt der Mediator noch einmal, ob die Mediation das geeignete Verfahren ist. Zugleich stellt er sicher, dass die Parteien Inhalt und Ablauf des Mediationsverfahrens verstanden haben und stellt sich möglichen Fragen der Parteien zu seinem Vorgehen und seiner Person. Mediatoren und Parteien halten die Rahmenbedingungen im Mediatorenvertrag fest.2204)

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Sodann bekommen die Medianden die Gelegenheit, den Konflikt aus ihrer Sicht sowie Ihre Positionen zu schildern. Dies kann auch im Vorfeld der eigentlichen Mediationssitzung durch Einreichen kurzer „Positionspapiere“ an den Mediator erfolgen.2205) Auf dieser Grundlage werden in der ersten Mediationssitzung zunächst die unstreitigen Zahlen, Daten und Fakten (sog. „ZDF-Sammlung“) sowie die für den Konflikt relevanten und in der Mediation zu behandelnden Themen herausgearbeitet und festgehalten.

___________ 2200) Vgl. Trenczek, in: Trenczek/Berning/Lenz, Kap. 1.1.3.2, S. 47. 2201) Trenczek, in: Trenczek/Berning/Lenz, Kap. 1.1.3.2.3, S. 51. 2202) Trenczek, in: Trenczek/Berning/Lenz, Kap. 1.1.3.2.2, S. 51; Klowait/Gläßer/Hagel, MediationsG, § 1 Rn. 21 – 23. 2203) In der Literatur werden verschiedene Phasenmodelle vorgeschlagen. Gängig sind Einteilungen in drei, fünf oder sechs Phasen; Übersicht hierzu siehe MünchHdb. GesR Bd. 7/Hagel, 135 Rn. 22 ff. 2204) Im Unterschied dazu ist die Mediationsvereinbarung die Absprache zwischen den Parteien, den Konflikt durch Mediation beilegen zu wollen. 2205) In der Praxis empfiehlt sich hier dringend eine verbindliche Seitenbegrenzung, üblicherweise zwischen 10 und 15 Seiten.

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Danach folgt – als ein Kernelement der Mediation und als Grundlage für die zukunftsgerichtete und perspektivische Bearbeitung des Konflikts – das Herausarbeiten der hinter den Positionen stehenden Interessen der Parteien. Besonders in dieser Phase kommt es auf den virtuosen Umgang des Mediators mit den Kommunikations- und Fragetechniken an, die ihm seine besondere Ausbildung zur Verfügung stellt.

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Auf Grundlage der Zahlen, Daten, Fakten und der herausgearbeiteten Interessen entwickeln die Medianden nun gemeinsam mit Unterstützung des Mediators Lösungsansätze. Dies ist die kreativste Phase der Mediation, in der verschiedene Kreativtechniken2206) zur Anwendung kommen.

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Die so erarbeiteten Lösungsmöglichkeiten werden dann gemeinsam verhandelt, bewertet und auf praktische Umsetzbarkeit geprüft.2207) Gegebenenfalls werden unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten kombiniert.

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Auf dieser Grundlage wird ein Lösungspaket geschnürt, das die Parteien dann mit Hilfe des Mediators in der Abschlussphase in einer Abschlussvereinbarung festhalten.

b) Anwendungsmöglichkeiten von Mediation 1393 Kennzeichen nahezu aller gesellschaftsrechtlichen Verhältnisse ist deren Auslegung auf gewisse, in vielen Fällen auch unbestimmte Dauer.2208) Der gemeinsam verfolgte Gesellschaftszweck ist dabei im Regelfall von einem komplexen Zusammenspiel stark differierender Individualinteressen der Gesellschafter unterlegt, die nicht immer rein rechtlicher Natur sind.2209) Damit eignen sich gesellschaftsrechtliche Konflikte a priori gut für die Mediation.2210) 1394 Dies gilt bereits bei Gründung der Gesellschaft und im Rahmen der Verhandlungen zum Abschluss des Gesellschaftsvertrages. Gerade in der Gründungsphase einer Gesellschaft und beim Aushandeln des Gesellschaftsvertrages kommt es auf eine ausgewogene Berücksichtigung der unterschiedlichen Interessen an. Schon in dieser frühen Phase sollten die Gesellschafter über die Einschaltung eines Mediators nachdenken, der die Parteien darin unterstützen kann, ihre Interessen von Beginn an klar herauszuarbeiten, um auf dieser Basis zu interessengerechten Vertragsregelungen zu gelangen (sog. „Deal-Mediation“2211)). ___________ 2206) Beispiele und Erläuterungen siehe Lenz, in: Trenczek/Berning/Lenz, Kap. 3.12.6 13 S. 379 ff.; Novak, in: Trenczek/Berning/Lenz, Kap. 3.13, S. 385 ff; siehe auch Wikipedia unter dem Stichwort „Kreativitätstechniken“. 2207) Methodische Vorschläge siehe Lenz, in: Trenczek/Berning/Lenz, Kap. 3.12.7, S. 381 ff. 2208) MünchHdb. GesR Bd. 7/Hagel, 135 Rn. 48. 2209) Vgl. Schröder-Frerkes, in: Büchner/Groner/Häusler, Teil B. Gesellschaftsrecht, Rn. 1. 2210) Bisle, NWB Nr. 27, 1989, 1992; Fritz/Pielsticker/Schroeder/Stegmann, MediationsG, Teil 5, Kap. G, Rn. 22. 2211) Diop/Steinbrecher, BB 2012, 3023, 3027; MünchHdb. GesR Bd. 7/Hagel, 135 Rn. 29 m. w. N.

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Doch auch für die gesamte Bandbreite gesellschaftsrechtlicher Konflikte 1395 nach Abschluss des Gesellschaftsvertrages stellt die Mediation ein gutes, in vielen Fällen sogar sehr gutes Konfliktlösungsinstrument dar.2212) Ob Streitigkeiten der Gesellschafter über die Tätigkeit der Geschäftsführer (insbesondere bei Beteiligung von Minderheitsgesellschaftern), Konflikte im Zusammenhang mit der Gesellschafterversammlung oder dem Ausschluss eines Gesellschafters, Konflikte bei Liquidation oder Veräußerung der Gesellschaft, Konflikte zwischen Altgesellschaftern und Erben eines verstorbenen Gesellschafters, Unklarheiten im Zusammenhang mit der Ausschüttung von Unternehmensgewinnen oder Konflikte zwischen Groß- und Kleinaktionären,2213) eine Vielzahl gesellschaftsrechtlicher Konflikte zeichnet sich dadurch aus, dass die Gesellschafter zum einen oft persönlich betroffen und zum anderen trotz der schwelenden Konflikte auch in Zukunft durch die Gesellschaft eng miteinander verbunden sind. Zudem können Auseinandersetzungen innerhalb der Gesellschaft das Bild der 1396 Gesellschaft nach außen oder gegenüber der Belegschaft empfindlich schädigen, so dass ein erhöhtes Geheimhaltungsinteresse besteht. Darüber hinaus kann auch das operative Geschäft durch Störungen der internen Entscheidungsprozesse oder Ressourcenbindung nachhaltig beeinträchtigt werden, so dass eine schnelle Lösung des Konflikts im Extremfall existentiell für den Fortbestand der Gesellschaft sein kann. Alle diese Aspekte – Emotionalität, Beziehungsgeflecht, Zukunftsorientierung, Geheimhaltungsinteresse und zeitlicher Druck – können von einer Mediation, anders als bei staatlichen Gerichtsverfahren, berücksichtigt und in die Konfliktlösung einbezogen werden. Die grundsätzliche Frage der Mediationsfähigkeit für Streitgegenstände im 1397 Gesellschaftsrecht stellt sich dabei von vorneherein nicht,2214) denn anders als das schiedsgerichtliche Verfahren ist die Mediation kein Drittentscheidungsverfahren, das an die Stelle des staatlichen Prozesses tritt. So fehlt es für das Mediationsverfahren insbesondere an einer mit § 1032 Abs. 1 ZPO vergleichbaren Regelung, durch welche der Zugang zu staatlichen Gerichten ausgeschlossen wird. Mediation ersetzt also nicht die gesetzlich vorgesehene Klärung bestimmter gesellschaftsrechtlicher Konstellationen durch staatliche Gerichte, sondern tritt neben oder zeitlich vor sie.2215) Es kommt dementsprechend nicht darauf an, ob der vom Gesetzgeber beabsichtigte Schutzzweck durch das gewählte alternative Verfahren der Mediation ebenfalls erfüllt wird. Dennoch existieren für die Mediation im Gesellschaftsrecht Grenzen. Nicht 1398 einsetzbar ist Mediation in Fällen, in denen die zu verhandelnden Ansprüche ___________ 2212) Siehe die ausführliche Übersicht bei MünchHdb. GesR Bd. 7/Hagel, 135 Rn. 123. 2213) Eine ausführlichere Beschreibung dieser Konfliktfelder findet sich bei Schröder-Frerkes, in: Büchner/Groner/Häusler, Teil B. Gesellschaftsrecht, Rn. 8 ff. 2214) Fritz/Pielsticker/Schroeder/Stegmann, MediationsG, Teil 5, Kap. G, Rn. 31. 2215) Zur Problematik des dilatorischen Klageverzichts in Mediationsklauseln im Zusammenhang mit satzungsmäßigen oder gesetzlichen Ausschlussfristen siehe unten Rn. 1407.

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nicht zur (alleinigen) Disposition der Parteien stehen, z. B. aus Gründen des Gläubigerschutzes. Zu nennen sind hier Streitigkeiten zwischen Gesellschaftern und Gesellschaft über die Höhe der Bareinlage nach verdeckter Sacheinlage, über die Differenzhaftung bei Überbewertung der Sacheinlage (§ 9 GmbHG) oder über die Ausfallhaftung für anders nicht aufzubringende Einlagen (§ 24 GmbHG).2216) Aus diesem Grund sind auch Haftungsansprüche der Gesellschaft gegen die Geschäftsführer gem. § 43 Abs. 3 Satz 2 GmbHG oder gegen die Gesellschafter und Geschäftsführer gem. § 9a GmbHG nur eingeschränkt der Mediation zugänglich. Ein Verzicht oder Vergleich über diese Ansprüche ist gem. § 9b GmbHG nämlich dann unwirksam, wenn – aber auch nur soweit – sie zur Befriedigung der Gläubiger erforderlich sind.2217) Unter diese Regelung fallende Verzichts- oder Vergleichsvereinbarungen sind kraft Gesetzes auflösend bedingt und im Falle einer nachträglichen Erforderlichkeit ohne weiteres endgültig unwirksam.2218) 1399 Ebenfalls nicht geeignet für Mediation sind hoch eskalierte Konflikte. Nach Glasl gibt es neun Konfliktstufen.2219) Der Hauptanwendungsbereich für Mediation sind dabei die Konfliktstufen 4 (diese ist dadurch gekennzeichnet, dass die Parteien beginnen, den Konflikt als „Win-Lose-Situation“ wahrzunehmen und bereits Imagekampagnen gegen den Gegner starten) bis 6 (das Geschehen wird beherrscht von Drohung und Gegendrohung). Mit Stufe 7 des Eskalationsmodells haben die Parteien die Grenze zur „Lose-LoseSituation“ überschritten. Man will sich vordringlich gegenseitig schädigen, ein eigener Schaden wird einkalkuliert und hingenommen. Auf dieser Ebene ist eine Mediation zwar nicht völlig aussichtlos, kann aber nur dann gelingen, wenn der Mediator es schafft, durch strenge Verhaltens- und Gesprächsregeln wieder eine Kommunikationsebene herzustellen, die es den Parteien erlaubt, wieder den Menschen hinter dem Gegner zu sehen.2220) Es ist Aufgabe der Mediatoren, in den Vorgesprächen mit den Parteien die Eskalationsstufe des Konfliktes zu erkennen, um das Mediationsverfahren entsprechend auszurichten und zu gestalten. 1400 Bei Mediationen, die Ersatzansprüche einer Aktiengesellschaft gegen Vorstandsmitglieder, die ihre Pflichten verletzen (§ 93 AktG), zum Gegenstand haben, sind die Vorgaben des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG zu beachten: Danach sind (Mediations-)Vergleiche nichtig, sofern sie vor Ablauf von drei Jahren seit Entstehung der entsprechenden Ansprüche abgeschlossen werden.2221) ___________ 2216) MünchHdb. GesR Bd. 7/Hagel, § 135 Rn. 123; Heckschen, NotBZ 2002, 200, 203; Dendorfer/Krebs, MittBayNot 2/2008, 85, 91; Töben, RNotZ 2013, 321, 337. 2217) MünchKomm-GmbHG/Herrler, § 9b, Rn. 24; Töben, RNotZ 2013, 321, 337. 2218) MünchKomm-GmbHG/Herrler, § 9b, Rn. 24. 2219) Ausführliche Darstellung der Konfliktstufen bei Glasl, Konfliktmanagement, S. 243 ff. 2220) Fritz/Pielsticker/Etscheit, MediationsG, Teil 5, Kap. A Rn. 92. 2221) MünchKomm-AktG/Spindler, § 93 Rn. 286.

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Die Hauptversammlung muss dem Vergleich zudem zustimmen.2222) Eine solche Frist und das Zustimmungserfordernis gelten auch für Ansprüche im Zusammenhang mit der Gründung der AG (§§ 50 und 53 AktG) oder Ansprüche gegen das herrschende Unternehmen und seine gesetzlichen Vertreter innerhalb eines Konzerns (§§ 302 Abs. 3, 309 Abs. 3, 310 Abs. 4, 317 Abs. 4 und 318 Abs. 4 AktG). Es kann aber durchaus sinnvoll sein, mit der Durchführung der Mediation schon vor Ablauf der Dreijahresfrist zu beginnen, sofern andere Aspekte als die konkrete Einigung über besagte Ansprüche im Mittelpunkt einer Mediation stehen sollen – zum Beispiel die Beseitigung persönlicher Konflikte zwischen den beteiligten Individuen oder eine gemeinsame Evaluierung der Rechtslage mithilfe eines Mediators.2223) c) Ausgewählte Aspekte der Mediationspraxis aa) Mediatorenauswahl Mediatoren müssen von allen Konfliktbeteiligten akzeptiert und respektiert 1401 werden. Es muss sich um eine oder mehrere Personen handeln, die das Vertrauen der Konfliktparteien genießen oder sich erwerben und deren Kompetenz nicht bestritten wird.2224) Die Prozesssicherheit des Mediators ist dabei unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen der Mediation. Er muss jederzeit in der Lage sein, der Mediationssitzung auch in unübersichtlichen Verhandlungssituationen durch klare Führung mit dem erforderlichen Fingerspitzengefühl und empathischer Zugewandtheit die unbedingt erforderliche Struktur zu geben. Ob der Mediator darüber hinaus auch noch über eigenes Expertenwissen in 1402 dem dem Konflikt zugrunde liegenden Sachgebiet (z. B. als Baurechtsexperte oder technischer Sachverständiger) benötigt, ist nicht eindeutig zu beantworten. Grundsätzlich sind die Verfasser der Auffassung, dass der Mediator keine fachspezifischen Kenntnisse benötigt, da seine Aufgabe im Wesentlichen darin besteht, den Verhandlungsprozess zwischen den Parteien zu strukturieren und unterstützend zu begleiten. Eine Entscheidung in der Sache steht ihm nach § 1 Abs. 2 MediationsG nicht zu. Das erforderliche Fachwissen bringen zunächst einmal die Parteien mit. Sollte zu Einzelaspekten des Konfliktes die Bewertung durch einen neutralen Dritten erforderlich werden, so kann dies durch Hinzuziehen eines gemeinsam bestimmten Sachverständigen im Rahmen der Mediation erfolgen. Gleichwohl zeigt die Praxis, dass ein völlig fachfremder Mediator, dem es bereits am grundlegenden Verständnis oder an Kenntnissen des Fachvokabulars des streitigen Sachgebietes fehlt, es schwer haben wird, die nötige Akzeptanz und den Respekt der Parteien zu erwerben. In der Praxis nicht zu unterschätzen ist auch der Umstand, von welcher Par- 1403 tei der Name eines möglicherweise geeigneten Mediators ins Spiel gebracht ___________ 2222) MünchKomm-AktG/Spindler, § 93 Rn. 283. 2223) Behme, AnwBl 1/2017, 16, 20. 2224) Trenczek, in: Trenczek/Berning/Lenz, Kap. 2.12.2, S. 183.

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wurde. Den Parteien fällt es nämlich oft schwer, einen von der Gegenseite vorgeschlagenen Mediator zu akzeptieren. Die Ablehnung erfolgt dabei in vielen Fällen reflexhaft2225) und bei näherer Betrachtung ohne tatsächliche und inhaltlich nachvollziehbare Gründe. 1404 Zur Entschärfung dieses Aspekts hat sich die Durchführung einer CoMediation bewährt, wobei jede der Parteien einen Mediator auswählt. Dabei sollten die Parteien aber vorher abklären, ob die Mediatoren nachweislich Erfahrungen mit Co-Mediation haben und auch bereit sind zusammen zu arbeiten,2226) um spätere Abstimmungsprobleme zu vermeiden. Seine praktischen Grenzen findet dieses Verfahren unter Umständen dort, wo – wie oft in gesellschaftlichen Kontexten – mehr als zwei Parteien betroffen sind. In diesen Fällen und in Fällen, in denen die Parteien aus Kosten- oder sonstigen Gründen keine Co-Mediation wünschen, kann auf Mediatorenlisten von Verbänden und Institutionen2227) zurückgegriffen oder die Auswahl des Mediators auch einer neutralen Stelle2228) übertragen werden. Die Gefahr der reflexhaften Ablehnung eines vorgeschlagenen Mediators kann auch auf diese Weise minimiert werden. Alternativ zu einer klassischen Co-Mediation kann es sich auch anbieten, dem Mediator von Beginn an einen Sachverständigen zur Seite zu stellen, der sein Fachwissen und seine Erfahrung in die Mediation einbringt, ohne die Rolle und Aufgabe eines Mediators auszuüben.2229) bb) Besonderheiten im Falle von Beschlussmängelstreitigkeiten 1405 Grundsätzlich können auch Beschlussmängelstreitigkeiten im Rahmen einer Mediation verhandelt werden.2230) Die im Zusammenhang mit Schiedsgerichtsverfahren bei Beschlussmängelstreitigkeiten vorgebrachten Bedenken greifen im Hinblick auf die Mediation nicht.2231) Voraussetzung ist allerdings, dass alle Gesellschafter an der Mediation mitwirken, da ein im Zuge einer Einigung zu fassender Aufhebungs- oder Änderungsbeschluss von allen Gesellschaftern gefasst werden muss,2232) so dass die Durchführung einer Mediation bei größeren Gesellschaften an praktische Grenzen stoßen könnte.2233) ___________ 2225) Gendner, in: DisputeResolution, Ausgabe 02/25.6.2014, S. 36, 38. 2226) Diop/Steinbrecher, BB 2012, 3023, 3025. 2227) Diese werden z. B. von Verbänden (z. B. BMWA, BM, BFMA, IMI), regionalen IHKs, Anwaltskammern oder Streitbeilegungsinstitutionen (z. B. DIS, ICC) angeboten. 2228) Wie z. B. DIS oder ICC. 2229) Diop/Steinbrecher, BB 2012, 3023, 3025. 2230) MünchKomm-GmbHG/Wertenbruch, Anh. § 47 Rn. 454; Dendorfer/Krebs, MittBayNot 2008, 85, 90; Casper/Risse, ZIP 2000, 437, 440 f.; Heckschen, NotBZ 2002, 200. 2231) Siehe oben Rn. 577 f. sowie Rn. 1397 ff. 2232) Lutz, Der Gesellschafterstreit, 3. Teil, II.2. Rn. 579, S. 345. 2233) Zwar bestünde die Möglichkeit, dass sich Gesellschafter mit gleichgelagerten Interessen in der Mediation auf einen gemeinsamen Vertreter einigen, die Vertretung mehrerer Beteiligter durch eine Person erschwert jedoch die Mediation.

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Die gesetzliche Anfechtungsfrist für Beschlüsse beträgt bei Aktiengesell- 1406 schaften gem. § 246 Abs. 1 AktG einen Monat nach Beschlussfassung. Da diese Frist wegen § 23 Abs. 5 AktG nicht verlängerbar ist und es sich um eine gesetzliche Ausschlussfrist handelt, also weder Verhandlungen noch Mediation eine Hemmung bewirken würden, und es zudem praktisch so gut wie ausgeschlossen ist, innerhalb des zur Verfügung stehenden Monats eine Mediation zu organisieren und zum Abschluss zu bringen (unabhängig davon, ob die Satzung bereits eine Mediationsklausel beinhaltet oder nicht), bleibt dem anfechtenden Gesellschafter nur die Möglichkeit, innerhalb der Monatsfrist Klage zu erheben.2234) Parallel dazu bleibt es den Parteien dann unbenommen, eine Mediation durchzuführen und das Gerichtsverfahren ruhen zu lassen (dies geschieht bei vom Gericht vorgeschlagener Mediation gem. § 278a ZPO ohne Antrag der Parteien oder auf Antrag gem. § 251 ZPO). Sofern bei einer GmbH die Satzung eine Frist zur Erhebung der Anfech- 1407 tungsklage für Gesellschafter- und Beschlussmängelstreitigkeiten vorsieht, kann diese – selbst im Einvernehmen der Gesellschafter – nicht ohne weiteres verlängert werden.2235) Eine Vereinbarung zur Fristenhemmung – z. B. während einer Mediation – würde hier grundsätzlich (Sonderregelungen ausgenommen) einen Satzungsverstoß darstellen, der zur Anfechtbarkeit der Stillhaltevereinbarung führen würde.2236) Auch in diesen Fällen ist es also anzuraten, zunächst fristwahrend Anfechtungsklage zu erheben und nachfolgend mit den anderen Gesellschaftern ein pactum de non petendo für den Zeitraum der Durchführung des Mediationsverfahrens zu vereinbaren.2237) Dies hat auch den Vorteil, dass ein in der Mediation ausgehandelter Vergleich unmittelbar durch das bereits formal mit der Sache befasste Gericht protokolliert und damit zu einem vollstreckbaren Titel erhoben werden kann.2238) Da bei der GmbH – anders als bei einer Aktiengesellschaft – die Länge der 1408 Anfechtungsfrist nach oben frei bestimmt werden kann (als Untergrenze gilt in Anlehnung an § 246 AktG eine Mindestfrist von einem Monat ab Mitteilung des Beschlusses an den Gesellschafter2239)), besteht jedoch auch die Möglichkeit, die Frist von Beginn an so zu gestalten, dass die Durchführung eines Mediationsverfahrens vor deren Ende ermöglicht wird2240) (dies dürfte ___________ 2234) Behme, AnwBl 1/2017, 16, 18; Töben, RNotZ 2013, 321, 335. 2235) Dendorfer/Krebs, MittBayNot 2008, 85, 90. 2236) Lutz, Der Gesellschafterstreit, 3. Teil, II.2. Rn. 580, S. 346. 2237) Casper/Risse, ZIP 2000, 437, 443 f. 2238) Prozessual ist hierfür der Beitritt der übrigen Gesellschafter zum Zwecke des Vergleichsschlusses erforderlich. Zudem ersetzt ein gerichtlich protokollierter Vergleich eine notarielle Beurkundung (§ 127a BGB), so dass etwaige im Rahmen der Einigung vorgesehenen Satzungsänderungen oder Anteilsübertragungen kostengünstig ohne teuren Notar umgesetzt werden können, siehe Casper/Risse, ZIP 2000, 437, 444. 2239) BGH NJW 1995, 1218, 1219; OLG Düsseldorf NZG 2005, 980; BeckOK HGB/Klimke, § 119 Rn. 83. 2240) Töben, RNotZ 2013, 321, 335.

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eine Frist von mindestens drei Monaten erfordern). Die vielfach vorgeschlagene Lösung, den Beginn der Anfechtungsfrist an den Abschluss eines Mediationsverfahrens zu koppeln,2241) erscheint praktisch nicht ratsam, da dies zum einen mit erheblichen Unsicherheiten verbunden ist und zum anderen zur Vermeidung von Missbrauch ohnehin eine Maximalfrist erforderlich ist,2242) da andernfalls alle Beschlüsse auch nach Jahren noch angegriffen werden könnten, solange – zum Beispiel aufgrund einer Verweigerungshaltung des anfechtungswilligen Gesellschafters – keine Mediation durchgeführt wurde.2243) cc) Ausgestaltung von Mediationsklauseln in Gesellschaftsverträgen oder Satzungen 1409 Sorgfältig formulierte Mediationsklauseln regeln sowohl die Durchführung des Mediationsverfahrens als auch das Vorgehen zur Auswahl des Mediators und die Folgen für den Fall der Nichteinleitung oder der Verweigerung eines Mediationsverfahrens.2244) 1410 Um einen möglichst flexiblen Umgang mit allen zur Verfügung stehenden ADR-Verfahren zu ermöglichen, sollte die vertragliche Streitbeilegungsklausel für den Fall des Scheiterns von Verhandlungen den Weg zu einem für den konkreten Fall sinnvollen Streitbeilegungsverfahren nach Absprache zwischen den Parteien öffnen, wobei als Rückfallebene – sofern sich die Parteien nicht auf ein Verfahren einigen können – die Mediation vorgesehen sein sollte. Da die Parteien aber gerade in gesellschaftsrechtlichen Konflikten oft unter erheblichem zeitlichen Druck stehen, erscheint es sinnvoll, für „typische“ und absehbare Situationen bereits in der Streitbeilegungsklausel konkrete Konfliktlösungsmechanismen festzulegen, um unnötige Verzögerungen zu vermeiden. So können sich die Gesellschafter z. B. für den Fall des Ausscheidens eines Gesellschafters durch Tod oder Ausschluss von vornherein darauf verständigen, die Frage eines möglicherweise zu zahlenden Ausgleichs oder einer Abfindung einem neutralen Experten (Schiedsgutachten2245)) zu übertragen. 1411 Es ist möglich, in der Mediationsklausel den ordentlichen Rechtsweg für die Dauer der Mediation auszuschließen. Dies wird als Prozessvertrag mit dilatorischem Klageverzicht (pactum de non petendo) bis zur Beendigung des Mediationsverfahrens für zulässig erachtet.2246) In prozessualer Hinsicht führt dies dazu, dass ein entgegen einer solchen Mediationsklausel angerufenes Ge___________ 2241) Dendorfer/Krebs, MittBayNot 2008, 85, 91 m. w. N. 2242) So z. B. der Formulierungsvorschlag in Münchener Anwaltshandbuch GmbHR/Seibt, § 2 Satzung Rn. 530, Ziff. 2. 2243) Siehe Caspar/Risse, ZIP 2000, 437, 441. 2244) Dendorfer/Krebs, MittBayNot 2/2008, 85, 90. 2245) Siehe hierzu unten Rn. 1429 ff. 2246) Dendorfer/Krebs, MittBayNot 2/2008, 85, 90; Böttcher-Laskawy, DB 2004, 1247, 1249 m. w. N.

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richt die Klage als derzeit unzulässig abweisen müsste.2247) Die Rechtsprechung hat dies für die Wirkung von Schlichtungsklauseln entschieden.2248) Eine analoge Anwendung dieser Rechtsprechung auf Mediationsklauseln, die Schlichtungsklauseln sehr ähnlich sind, ist anzunehmen.2249) Im Hinblick auf die nötige Rechtssicherheit wird jedoch empfohlen, die Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes auszunehmen.2250) Zudem ist hier zu beachten, dass gesetzliche oder satzungsmäßige Ausschlussfristen von einem solchen pactum de non petendo nicht erfasst werden.2251) Um hier die notwendige Klarheit herzustellen, sollte die Mediationsklausel Klagen zur Wahrung von Ausschlussfristen ausdrücklich zulassen und sich die Gesellschafter zugleich zur Stellung eines Antrags auf Ruhen des Verfahrens verpflichten.2252) Sofern die Mediationsklausel auch für Beschlussmängelstreitigkeiten bei 1412 Kapitalgesellschaften gelten soll, sollte sie die Beteiligung aller Gesellschafter an der Mediation ermöglichen.2253) Mediationsklauseln in Gesellschaftsverträgen von Personengesellschaften sind 1413 grundsätzlich formfrei möglich,2254) während Mediationsklauseln, die Bestandteil des Gesellschaftsvertrages oder der Satzung einer Kapitalgesellschaft sind, nach § 2 Abs. 1 GmbHG (bzw. § 23 Abs. 1 AktG) notariell zu beurkunden sind. Sie entfalten dann auch Wirkung für später hinzutretende Gesellschafter, die Organe der Gesellschaft und die Gesellschaft selbst.2255) dd) Vertraulichkeit Vertraulichkeit ist eines der wohl wichtigsten Grundprinzipien der Media- 1414 tion. Ohne die Sicherheit, dass im Rahmen der Mediation offengelegte Informationen in einem gegebenenfalls folgenden gerichtlichen Verfahren nicht gegen sie verwendet werden können, werden die Parteien sich schwer damit tun, ihre hinter dem Konflikt stehenden Interessen mit der erforderlichen Offenheit in die Verhandlung einzubringen. Praxisrelevant ist dabei, dass die gesetzliche Verschwiegenheitspflicht des § 4 MediationsG nur für den Mediator und alle in die Durchführung des Mediationsverfahrens eingebundenen Personen gilt (worunter nur die Hilfspersonen des Mediators, also beispiels___________ 2247) So die ganz herrschende Meinung, siehe nur Klowait/Gläßer/Schmitz-Vornmoor, MediationsG, Teil 1, Rn. 149; Bülow, in: Walz, Kap. 6, Rn. 78; Tochtermann, JuS 2005, 133, 133. 2248) BGH, v. 29.10.2008 – XII ZR 165/06, NJW-RR 2009, 637; OLG Frankfurt/M, v. 6.5.2014 – 5 U 116/13, BeckRS 2014, 9185. 2249) Klowait/Gläßer/Dendorfer-Ditges, MediationsG, Teil 3, N, Rn. 26. 2250) Böttcher/Laskawy, DB 2004, 1247, 1250. 2251) Siehe oben Rn. 1405 ff. 2252) Böttcher/Laskawy, DB 2004, 1247, 1251. 2253) Schröder, GmbHR 2014, 960, 962. 2254) MünchHdb. GesR Bd. 7/Hagel, § 135 Rn. 99. 2255) MünchHdb. GesR Bd. 7/Hagel, § 135 Rn. 101.

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weise dessen Bürokräfte oder sonstige berufliche Gehilfen, zu verstehen sind2256)), nicht jedoch für die Parteien selbst, deren Vertreter und andere von den Parteien nach § 2 Abs. 4 MediationsG hinzugezogene Dritte.2257) Die Parteien sollten also in der Mediationsvereinbarung und/oder im Mediatorenvertrag eine weitreichende Vertraulichkeit einschließlich eines Verwertungsverbots von ausschließlich durch das Mediationsverfahren erlangten Informationen in Folgeverfahren festschreiben.2258) ee) Einzelgespräche mit den Parteien (Caucuses) 1415 Da der Mediator keine eigenen Entscheidungen trifft,2259) hat er auch die Möglichkeit zu Einzelgesprächen mit den Parteien (sog. Caucuses), wozu allerdings die ausdrückliche Zustimmung aller Beteiligten erforderlich ist (§ 2 Abs. 3 Satz 3 MediationsG).2260) Dies kann gerade mit Parteien, die wenig Erfahrung mit Mediation haben, ein Problem darstellen, denn der von gerichtlichen Verfahren herrührende Reflex, die Gegenseite nicht mit „dem Richter“ alleine reden zu lassen, ist häufig sehr ausgeprägt. Es empfiehlt sich daher, diesen Punkt in der Mediationsvereinbarung explizit zu regeln, und deutlich zu machen, dass der Mediator die ihm mitgeteilten Informationen weder der Gegenseite von sich aus offenbaren darf,2261) noch diese in eine eigene Entscheidung umsetzen kann.2262) In den Einzelgesprächen kann der Mediator die Parteien bei der Einschätzung des bisherigen Verhandlungsverlaufs und ihrer Position durch einen Realitätscheck unterstützen,2263) die ohne diesen neutralisierenden Faktor in den meisten Fällen von Überoptimismus geprägt ist, oder individuelle Verhandlungsblockaden bei den Parteien aufspüren und gezielt zu lösen versuchen.2264) ff) Vollstreckbarkeit von Mediationsvergleichen 1416 Als rein schuldrechtliche Verträge sind Abschlussvereinbarungen, die das Ergebnis der Mediationsverhandlung in verbindlicher Form festhalten, aus sich ___________ 2256) So die Gesetzesbegründung BT-Drucks. 17/5335, 17; Klowait/Gläßer/Goltermann, MediationsG, § 4 Rn. 20. 2257) Klowait/Gläßer/Hagel, MediationsG, § 1 Rn. 8. 2258) Diop/Steinbrecher, BB 2012, 3023, 3023 f. 2259) Dies gilt auch für Mediationen mit dem sog. „Evaluative Approach“, in denen der Mediator zwar zu Einzelfragen oder auch zum Gesamtkonflikt seine fachliche Bewertung abgeben kann, jedoch nicht in der Sache entscheidet. Bei Hybridverfahren, in denen die Mediation im Falle ihres Scheiterns in ein Entscheidungsverfahren wie z. B. Arbitration (MedArb) oder Adjudication (MedAdj) übergeht, trifft der Mediator seine Entscheidung nicht mehr in seiner Funktion als Mediator, sondern als Schiedsrichter oder Adjudicator. 2260) Ausführlich zur Caucus-Mediation Eidenmüller, ZIP 2016, Beilage zu Heft 22, S. 18 ff. 2261) Fritz/Pielsticker/Etscheit, MediationsG, Teil 5, Kap. B, Rn. 26. 2262) Risse, NJW 2000, 1614, 1616. 2263) Lenz, in: Trenczek/Berning/Lenz, Kap. 3.10.211., Rn. 7. 2264) Diob/Steinbrecher, BB 2012, 3023, 3025; Praxisbeispiel „Das innere Team“ von Berning/ Lenz, in: Trenczek/Berning/Lenz, Kap. 7.1.11, S. 660.

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selbst heraus nicht vollstreckbar.2265) Dies erscheint grundsätzlich auch nicht von vordringlicher Bedeutung zu sein, schließlich handelt es sich um die von allen Beteiligten gemeinsam erarbeitete und für konsensfähig erachtete Konfliktlösung, so dass die Chancen nicht schlecht stehen, dass sich die Konfliktparteien an dieses Ergebnis auch gebunden fühlen und es umsetzen. Gleichwohl gibt es gerade auch im gesellschaftsrechtlichen Kontext Konstellationen, in denen Verpflichtungen weit in die Zukunft reichen und ihre Durchsetzung, z. B. durch Wechsel der Entscheidungsträger oder andere Umstände, wesentlich erschwert sein könnte.2266) Insofern sollten die Parteien gemeinsam entscheiden, ob sie das Ergebnis der 1417 Mediation nicht gleich in einer vollstreckungsfähigen Form festhalten wollen. Dafür stehen grundsätzlich vier Möglichkeiten zur Verfügung, nämlich der Anwaltsvergleich nach §§ 796a, 796b ZPO, die vollstreckbare notarielle Urkunde nach § 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO, der Vergleich vor einer anerkannten Gütestelle nach § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO und – sofern formal bereits ein Gericht mit der Sache betraut war – auch der Prozessvergleich nach § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO. Zu beachten ist, dass dies nicht für Vergleiche gilt, die die Abgabe einer Willenserklärung beinhalten oder den Bestand eines Mietverhältnisses über Wohnraum betreffen.2267) Die gelegentlich vorgeschlagene Vorgehensweise, den Mediator im Anschluss an die Einigung formal zum Schiedsrichter zu bestellen, der die zuvor ausgehandelte vorläufige Vereinbarung als Schiedsspruch mit vereinbartem Wortlaut gem. § 1053 ZPO festhält, begegnet weitreichenden Bedenken2268) und ist daher in der Praxis nicht zu empfehlen. Für Vergleiche im Rahmen von internationalen Mediationen mit handels- 1418 rechtlichem Hintergrund wurde von der UNCITRAL2269) ein Übereinkommen zur internationalen Vollstreckung von Mediationsvergleichen erarbeitet, das am 7.8.2019 von 46 Staaten in Singapur unterzeichnet wurde (Singapur Übereinkommen).2270) Nach dem Vorbild des New Yorker Übereinkommens über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche soll durch das Singapur-Übereinkommen ein oft angeführtes Hindernis bei der Anwendung der Mediation bei internationalen Streitigkeiten beseitigt werden, nämlich das Fehlen eines grenzüberschreitenden Durchsetzungsmechanismus.2271)

___________ 2265) Klowait/Gläßer/Gläßer, § 2 Rn. 310. 2266) Duve/Eidenmüller/Hacke/Fries, S. 247. 2267) Siehe im Einzelnen: Klowait/Gläßer/Gläßer, § 2 Rn. 312 ff. 2268) Klowait/Gläßer/Gläßer, § 2 Rn. 317; Duve/Eidenmüller/Hacke/Fries, S. 247f.; MünchKomm-ZPO/Münch, § 1053 Rn. 14. 2269) United Nations Commission on International Trade Law. 2270) Englische Textversion abrufbar unter (zuletzt abgerufen am 13.5.2021): https:// uncitral.un.org/sites/uncitral.un.org/files/singapore_convention_eng.pdf. 2271) Alexander, ZKM 5/2019, 160, 161.

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1419 Der Anwendungsbereich des Abkommens umfasst nur Handelssachen („commercial disputes“), explizit ausgenommen sind familienrechtliche, erbrechtliche, verbraucherrechtliche oder arbeitsrechtliche Konflikte (Art. 1 Abs. 2). Ebenfalls nicht Gegenstand des Übereinkommens sind gerichtlich protokollierte Vergleiche, die bereits auf anderer Rechtsgrundlage vollstreckbar sind (Art. 1 Abs. 3). 1420 Die erforderliche Internationalität ist dann gegeben, wenn entweder mindestens zwei der Konfliktparteien ihren jeweiligen Sitz in unterschiedlichen Staaten haben oder wenn die Konfliktparteien in einem anderen Staat residieren, als dem, in dem ein erheblicher Teil der sich aus dem Vergleich ergebenden Verpflichtungen zu erfüllen ist, beziehungsweise zu dem der Streitgegenstand den engsten Bezug aufweist (Art. 1 Abs. 1). 1421 Deutschland oder die Europäische Union haben das Übereinkommen allerdings bislang nicht unterzeichnet und es ist noch nicht absehbar, ob beziehungsweise wann dies erfolgt. gg) Exkurs: Collaborative Law 1422 Eine in den USA bereits verbreitete, in Deutschland jedoch noch recht unbekannte Variation in der Verhandlungsführung stellt das sog. Collaborative Law dar, eine besondere Form der Anwaltsmediation.2272) Dies ist ein konsensorientiertes Verfahren, in dem die Rechtsanwälte der Parteien gemeinsam die Verfahrensleitung übernehmen, dabei jedoch auch weiterhin die Interessen ihrer jeweiligen Partei vertreten, sich aber zugleich auch verpflichten, die Parteien nicht außerhalb des Mediationsverfahrens, also z. B. in einem anschließenden Zivilprozess, zu vertreten (sog. Disqualifikationsklausel).2273) Dies baut bei allen Beteiligten einen zusätzlichen Lösungsdruck auf, insbesondere auch bei den teilnehmenden Anwälten, die aus wirtschaftlicher Sicht durchaus ein – freilich niemals offen geäußertes – Interesse an der Durchführung eines Nachfolgeprozesses und damit an einem Scheitern einer Mediation haben können. 1423 Diese Form der „Mediation ohne Mediator“2274) stellt erhebliche Anforderungen an die begleitenden Rechtsanwälte. Sie müssen nicht nur – wie als Parteivertreter im Rahmen einer klassischen Mediation – vom bisherigen Positionsdenken und kompetitiven Verhandlungsmustern Abschied nehmen, sondern darüber hinaus noch in enger Kooperation mit dem Parteivertreter der Gegenseite die Verhandlung im Interesse beider Parteien „quasimediatorisch“ führen. Diese Doppelrolle erfordert ein hohes Maß an Souveränität und Übersicht. ___________ 2272) Hagen, in Hagen/Lenz, Pkt. 1.5, S. 18; Mähler/Mähler, in: Beck’sches RechtsanwaltsHandbuch, Teil B.2., § 48 Rn. 45 f. 2273) Engel, ZKM 6/2013, 170, 171; siehe zum Ganzen Georg Fialka, NetV 2006, 33 ff. 2274) Engel, ZKM 6/2013, 170, 171.

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In Betracht kommt diese Art des Verfahrens insbesondere dann, wenn der 1424 Konfliktgegenstand rechtliche Beratung auf beiden Seiten erfordert, gleichzeitig aber eine rein positionsorientierte Verhandlung von vorneherein nicht erfolgversprechend erscheint. Sofern die am Verfahren wegen der rechtlichen Implikationen sowieso eng in das Verfahren einzubeziehenden Rechtsanwälte in der Lage sind, durch kooperatives Zusammenwirken die Verhandlungen ähnlich einer Co-Mediation zu gestalten, können die Kosten für einen zusätzlichen Mediator gespart werden. Grundvoraussetzung sind aber auf alle Fälle im Cooperative Law geschulte Rechtsanwälte, die den besonderen Anforderungen dieser Verfahrensart gewachsen sind. Nicht geeignet erscheint dieses Verfahren in Fällen, in denen zur Wahrung 1425 von Ausschlussfristen unabhängig von der Mediationswilligkeit der Parteien fristwahrend Klage zu erheben ist. In diesen Fällen wären beide Parteien von vorneherein gezwungen, jeweils zwei Anwälte zu beauftragen, was die Vorteile des Collaborative Laws wieder nahezu komplett nivelliert. 2. Schiedsgutachten und Early Neutral Evaluation Bei allen Vorteilen und den vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten der Me- 1426 diation, die wir im vorangegangenen Abschnitt vorgestellt haben, ist es wichtig festzustellen, dass sich professionelle und handhabbare Konfliktmanagementsysteme, die für sich in Anspruch nehmen, eine systematische Zusammenfassung von Instrumenten und Prozessen zum sinnvollen Umgang mit Konflikten darzustellen, nicht nur auf ein einziges Instrument wie die Mediation beschränken können.2275) Gerade streitentscheidende Verfahren wie das Schiedsgutachten und die Early Neutral Evaluation können sinnvolle Alternativen zum konsensualen Verfahren der Mediation darstellen oder dieses unter Umständen auch punktuell ergänzen. a) Begrifflichkeiten und Grundzüge Häufig sind es ganz konkrete Tatsachen- oder Rechtsfragen zu abgrenzbaren 1427 Sachverhalten, die den Ausgangpunkt für umfangreiche Streitigkeiten bilden. Mit dem Instrument des Schiedsgutachtens existieren für die Parteien Möglichkeiten, ein Ausweiten von Konflikten auf niedriger Stufe durch Klärung dieser zentralen Tatsachen- oder Rechtsfragen durch einen neutralen Dritten zu verhindern.2276) In komplexen Konfliktsituationen gibt die Early Neutral Evaluation den 1428 Parteien die Möglichkeit, ihre Positionen und Argumente in einem frühen Stadium des Konflikts durch die unverbindliche Einschätzung des Falles durch einen neutralen Dritten realistisch einzuschätzen. Der Hauptunter___________ 2275) Vgl. Stubbe, SchiedsVZ 2006, 150, 151. 2276) Kasolowsky/Schnabl, SchiedsVZ 2012, 84.

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schied zum Schiedsgutachten liegt dabei in der besonderen Schnelligkeit und Unverbindlichkeit dieses Verfahrens. aa) Schiedsgutachen 1429 Im Gegensatz zur Mediation handelt es sich bei einem Schiedsgutachten um ein evaluatives Verfahren, an dessen Ende eine Entscheidung eines neutralen Dritten über eine durch die Parteien festgelegte konkrete Tatsachen- oder Rechtsfrage steht. Das Ergebnis des Schiedsgutachtens ist also nicht vom Einigungswillen der Parteien abhängig, wie etwa bei einer Mediation, sondern schafft – nachdem sich die Parteien erst einmal über das „Ob“ eines Schiedsgutachtens und dessen Untersuchungsgegenstand verständigt haben – durch Bewertung der streitigen Tatsachen- oder Rechtsfrage durch einen neutralen Dritten punktuell Klarheit. Dies können die Parteien dann als Grundlage für weitere Verhandlungen oder ggf. eine anschließende Mediation verwenden. In anderen Fällen bestimmt das Schiedsgutachten unmittelbar den Inhalt eines Anspruchs der Höhe nach und kann ohne weitere Zwischenschritte umgesetzt werden. 1430 Die Parteien sind frei darin, den Entscheidungsmaßstab des Schiedsgutachters nach Belieben zu bestimmen. Fehlt eine solche Vorgabe, entscheidet der Schiedsgutachter nach billigem Ermessen (§ 317 Abs. 1 BGB). Sofern für die zu begutachtenden Sachverhalte normierte Richtlinien oder Bewertungsmaßstäbe und -verfahren existieren,2277) ist zu empfehlen, deren Anwendung bereits in der Schiedsgutachtervereinbarung, spätestens jedoch im Werkvertrag mit dem Schiedsgutachter so konkret wie möglich vorzugeben.2278) 1431 Für die Auswahl und die Benennung des Schiedsgutachters gilt Ähnliches wie für die Auswahl eines Mediators: Können sich die Parteien nicht auf eine Person einigen, besteht die Möglichkeit, die Auswahl einer unabhängigen Stelle, wie z. B. Architekten-, Wirtschaftsprüfer-, Rechtsanwalts- oder Industrie- und Handelskammern zu übertragen. Anders als ein Mediator muss jedoch ein Schiedsgutachter selbstverständlich über besondere Sachkenntnis in dem zu bewertenden Sachverhaltsbereich verfügen.2279) Eine gleichzeitige Beauftragung von zwei, jeweils von den Parteien vorgeschlagenen, Sachverständigen ähnlich einer Co-Mediation dürfte jedoch schon aufgrund der unterschiedlichen Aufgaben und Herangehensweisen von Schiedsgutachtern einerseits und Mediatoren andererseits nur in Ausnahmefällen praktikabel sein.

___________ 2277) Z. B. Wertermittlung nach der Wertermittlungsverordnung, Ertrags- oder Substanzwertverfahren, Buchwert o. Ä. 2278) Siehe auch Schwarzmann, in: Walz, Kap. 22, Rn. 27. 2279) Greger, ZKM 2013, 43, 43 nennt das Schiedsgutachten pointiert „Konfliktmanagement mit Sachverstand“.

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Hinsichtlich der Bindungswirkung des Schiedsgutachtens haben die Parteien 1432 umfassende Gestaltungsfreiheit: Das Schiedsgutachten kann bindend, einseitig bindend,2280) vorläufig bindend2281) oder nicht bindend ausgestaltet werden.2282) Haben sich die Parteien auf ein bindendes Schiedsgutachten verständigt, sind 1433 die Feststellungen des Schiedsgutachters auch für das entscheidende Gericht in einem Folgeprozess maßgeblich, es sei denn, dass sich eine Fehlerhaftigkeit des Schiedsgutachtens in analoger Anwendung des § 319 BGB einem sachkundigen und unbefangenen Beobachter bei eingehender Prüfung sofort aufdrängen muss2283) oder wenn die Ausführungen des Schiedsgutachters so lückenhaft sind, dass eine solche Prüfung nicht möglich ist.2284) Zu beachten ist hier, dass bindende Schiedsgutachten über Ersatzansprüche 1434 der Gesellschaft gegen Vorstandsmitglieder einer AG erst nach Ablauf einer Frist von drei Jahren nach der Entstehung des Anspruchs vereinbart werden können und der Zustimmug der Hauptversammlung bedürfen. In einem vom OLG München entschiedenen Fall2285) sollte der „ordnungsgemäße Geschäftsgang durch den Vorstand“ durch das in Auftrag gegebene Schiedsgutachten überprüft und für die Parteien bindend festgestellt werden. Das Gericht argumentierte hier, dass das Schiedsgutachten gerade wegen seiner bindenden Wirkung einen faktischen Einfluss auf die Höhe etwaiger Schadensersatzansprüche hat und daher vergleichbare wirtschaftliche Folgen wie ein Vergleich oder ein Verzicht nach sich ziehen kann, so dass die Regelungen des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG anzuwenden sind. Entsprechendes dürfte auch für Ansprüche im Zusammenhang mit der Gründung der AG (§§ 50 und 53 AktG) oder Ansprüche gegen das herrschende Unternehmen und seine gesetzlichen Vertreter innerhalb eines Konzerns (§§ 302 Abs. 3, 309 Abs. 3, 310 Abs. 4, 317 Abs. 4 und 318 Abs. 4 AktG) gelten. Unverbindliche oder vorläufig bindende Schiedsgutachten stehen per de- 1435 finitionem in einem Folgeprozess in vollem Umfang zur Überprüfung des Gerichts und ggf. einzusetzender gerichtlicher Sachverständiger. Zu beachten ist, dass auch von den Parteien als bindend vorgesehene Schieds- 1436 gutachten, sofern sie reine Rechtsfragen betreffen (also z. B. Ausführungen ___________ 2280) Dies ist häufig bei formalisierten Schlichtungsstellen der Fall, z. B. Schlichtungsstelle Energie, bei denen sich die Mitgliedsunternehmen den Schiedsgutachterentscheidungen bei Streitigkeiten mit Verbrauchern einseitig unterwerfen, siehe Chatzinerantzis, in: Schulz, S. 686 Rn. 899. 2281) Zu vorläufig bindenden Schiedsgutachten hat die DIS eine Schiedsgutachtenordnung herausgebracht, auf die die Parteien in der vertraglichen Streitbeilegungsklausel veweisen können. Abrufbar unter https://www.disarb.org/werkzeuge-und-tools/dis-regeln#c353 (zuletzt abgerufen am 13.5.2021). 2282) Stubbe, SchiedsVZ 2006, 150, 152 f. 2283) Greger, ZKM 2013, 43, 44; BGH MDR 1981, 1005; BGH NJW 1979, 1885; BGH MDR 1983, 839 f. = NJW 1983, 2244 f. 2284) Greger, ZKM 2013, 43, 44; BGH NJW 2001, 3775, 3777 = MDR 2001, 1281. 2285) OLG München, v. 9.8.2018 – 23 U 1669/17, BeckRS 2018, 20331.

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über die Wirksamkeit oder Auslegung bestimmter Vertragsklauseln oder AGB, die Subsumption des Sachverhalts unter gesetzliche oder vertragliche Bestimmungen oder normative Wertungen enthalten), zur vollen Überprüfung des Gerichts in einem Folgeprozess stehen. Die Richter sind verpflichtet, Rechtsfragen, die Grundlage ihres Urteils werden, selbst zu bewerten.2286) 1437 Unabhängig von der vertraglich vereinbarten Bindungswirkung handelt es sich bei Schiedsgutachten grundsätzlich nicht um vollstreckungsfähige Titel. Vielmehr steht ein Schiedsgutachten lediglich einer vertraglichen Vereinbarung zwischen den Parteien gleich.2287) Hierin liegt ein wesentlicher Nachteil dieses Konfliktlösungsverfahrens, der sich jedoch nur unter bestimmten Umständen auswirkt, nämlich dann, wenn der Konflikt so sehr eskaliert ist, dass sich die Partei, zu deren Ungunsten das Schiedsgutachten ausfällt, mit großer Wahrscheinlichkeit nicht an die Entscheidung des Schiedsgutachters halten wird. In diesen Fällen bleibt der anderen Partei zur Durchsetzung ihrer Rechte nur der Gang zum staatlichen Gericht oder privaten Schiedsgericht,2288) so dass die Vorteile der Einschaltung eines Schiedsgutachters (Kosten-, Zeitund Ressourcenschonung) nicht mehr zum Tragen kommen. bb) Early Neutral Evaluation 1438 Im Unterschied zum Schiedsgutachten befasst sich eine Early Neutral Evaluation (ENE) nicht nur mit abgrenzbaren Einzelaspekten eines Konflikts. In einer ENE wird der Konflikt vielmehr in seiner Gesamtheit betrachtet und bewertet, üblicherweise jedoch in einem sehr frühen Stadium des Konflikts und auf Grundlage einer von den Parteien nicht bis ins letzte Detail aufgearbeiteten und ausgeschriebenen Tatsachen- und Rechtsdarstellung. Dabei entfaltet die Einschätzung des neutralen Dritten keine formale Bindungswirkung und dient den Parteien nur dazu, in einer möglichst frühen Phase von komplexen Konflikten eine realistische Einschätzung der Stärken und Schwächen ihrer Positionen zu erhalten, um so den weiteren Verhandlungsprozess zu unterstützen.2289) 1439 Da der neutrale Dritte den Fall nicht nur punktuell im Hinblick auf Einzelaspekte, sondern in seiner Gesamtheit bewertet, werden in der Regel angesehene Juristen mit besonderem Fachwissen auf dem streitgegenständlichen Gebiet eingesetzt.2290)

___________ 2286) Greger, ZKM 22013, 43, 44. 2287) Kasolowsky/Schnabl, SchiedsVZ 2012, 84, 86. 2288) Kasolowsky/Schnabl, SchiedsVZ 2012, 84, 86. Zur Abgrenzung von Schiedsgutachten und Schiedsverfahren vgl. OLG München, v. 1.6.2005 – 34 Sch 5/05, NJOZ 2005, 2895 f. 2289) Mähler/Mähler, in: Beck’sches Rechtsanwalts-Handbuch, § 48 Rn. 10 ff. 2290) Chatzinerantzis, in: Schulz, S. 702 Rn. 966.

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Für den Ablauf des Verfahrens gibt es zwar keine allgemeine Verfahrensord- 1440 nung, so dass die Parteien das Verfahren flexibel auf die jeweiligen Bedürfnisse des Einzelfalls abstimmen können. In der Praxis bewährt hat sich jedoch folgende Vorgehensweise: Zunächst stellt jede Partei in einem kurzen Eingangsplädoyer ihre Sichtweise und Position des Konflikts dar. Im Folgenden hat der neutrale Dritte die Möglichkeit, durch gezielte Fragen an beide Parteien ein klares Verständnis über Streitpunkte, Argumente sowie Stärken und Schwächen der Parteienstandpunkte zu erlangen. In dieser Phase können auch Übereinstimmungen der Parteien festgehalten werden. Mit dem so erlangten Wissen über die Konfliktlage zieht sich der neutrale Dritte zurück und erstellt seine Bewertung des Falles, einschließlich seiner Einschätzung der Erfolgswahrscheinlichkeiten für die jeweiligen Standpunkte und Argumente der Parteien. Bevor er seine Bewertung verliest, gibt er den Parteien noch einmal die Möglichkeit, sich ohne seine Einschätzung zu vergleichen. Gelingt dies nicht, verliest er seine Würdigung des Falles. Auf dieser Grundlage erfolgt ein weiterer gemeinsamer und von dem neutralen Dritten unterstützter Versuch, eine Einigung zu erzielen.2291) b) Anwendungsmöglichkeiten von Schiedsgutachten und Early Neutral Evaluation Parteien eines Gesellschaftsvertrages können für alle Fragen im Rahmen des 1441 Gesellschaftsverhältnisses die Einholung eines Schiedsgutachtens oder die Durchführung einer ENE vereinbaren, wenn sie über die streitige Tatsachenoder Rechtsfrage verfügen können.2292) Sofern konkrete Tatsachen- oder Rechtsfragen zu abgrenzbaren Sachverhalten 1442 Kern oder Ursprung von Konflikten sind und deren Regelung der alleinigen Verfügungsbefugnis der Parteien unterliegt, bietet sich die Einholung eines Schiedsgutachtens an. Dies gilt z. B. für die Bewertung von Gesellschaftsanteilen bei Ausscheiden eines Gesellschafters und die Bestimmung der Abfindung für seinen Anteil2293) oder im Zusammenhang mit der Vererbung von Gesellschaftsanteilen. Auch Streitigkeiten über einen angemessenen Aufwendungsersatz oder im Zusammenhang mit der Gewinnfeststellung zur Festlegung der Ausschüttung von Unternehmensgewinnen sind gut für die Einholung eines Schiedsgutachtens geeignet. Ebenso können isolierte Haftungsfragen, z. B. ob eine Pflichtverletzung eines Geschäftsführers vorliegt, durch ein Schiedsgutachten entschieden werden.2294) Dies gilt jedoch nur dann, wenn die Parteien an einer weiteren gedeihlichen Zusammenarbeit in___________ 2291) Hilber, BB-Beilage Nr. 2 (zu BB 2001, Heft 16), 22, 25. 2292) Vgl. Schröder-Frerkes, in: Büchner/Groner/Häusler, Teil B. Gesellschaftsrecht, Rn. 84 m. w. N. 2293) Schwarz, in: Walz, Kap. 22, Rn. 52/53; MünchHdb. GesR Bd. 7/Schmitz-Herscheidt, § 51 Rn. 70. 2294) Vgl. Kasolowsky/Schnabl, SchiedsVZ 2012, 84, 87; zu beachten sind hier die einzuhaltenden Fristen für die Vereinbarung bindender Schiedsgutachten, siehe oben Rn. 1434.

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teressiert sind. Ist der Konflikt dagegen bereits so verhärtet, dass abzusehen ist, dass die unterlegene Partei das Ergebnis des Schiedsgutachtens nicht hinnehmen wird, treten die Nachteile dieser Form der Konfliktlösung, insbesondere die fehlende Vollstreckbarkeit, in den Vordergrund. 1443 Praxisrelevant sind Schiedsgutachten auch bei Streitigkeiten über Kaufpreisregelungen in Unternehmenskaufverträgen.2295) 1444 Die Early Neutral Evaluation (ENE) ist hingegen insbesondere dann sinnvoll, wenn es den Parteien aufgrund der Komplexität der Streitsituation und dem Erfordernis besonderer Sachkenntnis bei deren Bewertung – ggf. weiter verstärkt durch eine enge persönliche und emotionale Verstrickung in den Konflikt – nicht (mehr) gelingt, Stärken und Schwächen der eigenen Position und die Erfolgsaussichten realistisch einzuschätzen. Eine gerichtliche Klärung scheint in diesen Situationen aufgrund der hieraus resultierenden erheblichen Abweichung der widerstreitenden Ansichten über die Tatsachenoder Rechtslage aus der subjektiven Sicht der Parteien häufig unausweichlich. Hier bietet die ENE eine kostengünstige und zeitsparende Möglichkeit, Positionen und Argumente sowie die jeweiligen Erfolgsaussichten durch die Einschätzung eines neutralen Dritten unter Betrachtung des gesamten Konflikts einem Realitätscheck zu unterziehen,2296) um so unüberbrückbar erscheinende Gräben zwischen den Verhandlungspositionen zumindest soweit zu schließen, dass weitere Verhandlungen (wieder) sinnvoll erscheinen. 1445 Da eine Early Neutral Evaluation der Natur nach ein kontradiktorisches Verfahren ist,2297) ist jedoch zu bedenken, dass durch sie – anders als bei einer Mediation – eher das Gegeneinander der Parteien betont wird. Diese werden während des Verfahrens geneigt sein, den neutralen Dritten für sich zu gewinnen und von der Richtigkeit ihrer Position zu überzeugen. Es besteht also insbesondere in sensiblen Bereichen das Risiko, dass sich Fronten im Zuge des Verfahrens weiter verhärten oder neue Fronten geschaffen werden, die weiteren Zündstoff für die langfristige Beziehung der Parteien schaffen könnten.2298) 3. Dispute Boards 1446 Spätestens seitdem die Deutsche Institution für Schiedsgerichtsbarkeit (DIS) im Jahr 2010 eine Verfahrensordnung2299) für die Adjudikation veröffent___________ 2295) Instruktiv Habersack/Tröger, DB 2009, 44 ff. siehe zu Schiedsgutachtervereinbarungen und Schiedsklauseln bei streitigen Kaufpreisregeln in M&A-Transaktionen Witte/ Mehrbrey, NZG 2006, 241 ff. 2296) Mähler/Mähler, in Heussen/Hamm, Beck’sches Rechtsanwaltshandbuch, § 48 Rn. 10: „Inzwischen wird ENA vielfach außergerichtlich zur Vorbereitung von Vergleichsverhandlungen genutzt, weil damit die Gerichtsgebühren gespart werden können.“ 2297) Hilber, BB-Beilage Nr. 2 (zu BB 2001, Heft 16), 22, 26. 2298) Vgl. Hilber, BB-Beilage Nr. 2 (zu BB 2001, Heft 16), 22, 26. 2299) Ausführlich zur DIS-AVO Köntges/Mahnken, SchiedsVZ 2010, 310.

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licht hat, gibt es einen etablierten deutschten Begriff für die angelsächsische Adjudication.2300) Das Verfahren der Adjudication geht auf eine weitreichende Gesetzgebungsreform im Vereinigten Königreich in den 1990er Jahren zurück.2301) In den USA ist dieses außergerichtliche Verfahren seit vielen Jahren unter dem Namen Dispute Adjudication Board bekannt.2302) a) Begrifflichkeiten und Grundzüge Dispute Board ist ein Oberbegriff für Verfahren, bei denen ein Experten- 1447 gremium aus einem oder mehreren Mitgliedern2303) eine Entscheidung über die Streitigkeit(en) der Parteien fällt. Handelt es sich bei der Entscheidung um eine rechtlich unverbindliche Empfehlung, dann bezeichnet man das Gremium als Dispute Review Board (kurz: DRB); trifft das Gremium – zumindest vorläufig – eine rechtlich bindende Entscheidung, dann nennt man das Gremium Dispute Adjudication Board (kurz: DAB). Diese Begrifflichkeiten entsprechen den Dispute Board Regeln der Internationalen Handelskammer (International Chamber of Commerce, ICC) in Paris, die am 1.10.2015 in neuer und überarbeiteter Fassung erlassen wurden.2304) Seiner Grundstruktur nach ist das Dispute Board ein Streitentscheidungsver- 1448 fahren. Damit weist es Ähnlichkeiten mit dem Schiedsgutachtenverfahren auf, denn hier wie dort wird eine streitige Sach- und/oder Rechtslage durch einen sachverständigen und neutralen Dritten entschieden.2305) Da die Verfahrensregeln beim Dispute Board – anders als beim privaten Schiedsgerichtsverfahren oder staatlichen Gerichtsverfahren – weniger förmlich sind, liegt der grundsätzliche Praxisvorteil von Dispute Boards in einer frühen, schnellen und kostengünstigeren Entscheidung der Streitigkeit. Umfangreiche Schriftsatzrunden entfallen dabei ebenso wie eine förmliche Beweisaufnahme. Diese schnelle Streitentscheidung verhindert eine zeitliche und in___________ 2300) Vgl. Schulze-Hagen, BauR 2007, 1950, und Schramke, BauR 2007 1983, 1986 zu den Diskussionen des Deutschen Baugerichtstages über die Adjudikation. 2301) Housing Grants, Construction and Regeneration Act 1996. Vgl. hierzu Steinbrecher, Systemdesign, S. 55. 2302) Grundlgegend Oelsner, Dispute Boards – Verfahren zum projektbegleitenden Streitmanagement, 2014; Mahnken/Aldinger, in: Roquette/Schweiger, Kapitel G, Teil IV; zahlreiche praktische Hinweise zur Streitbeilegung durch Dispute Adjudication Boards geben Büstgens/Schmidt-Ahrendts/Hombeck, BauR 2020, 1385. 2303) Zu den Vor- und Nachteilen von einem oder drei Mitgliedern des Dispute Boards siehe Stubbe/Wietzorek, SchiedsVZ 2011, 328, 329 f. Stubbe/Wietzorek (a. a. O., 330 f.) plädieren alternativ für eine Zweierbesetzung nach dem von ihnen entwickelten „1+1-Modells“. 2304) Im Internet abrufbar unter www.iccwbo.org (letzter Abruf am 21.5.2021). Die ICC Dispute Board Rules sehen auch sog. Combined Dispute Boards vor, die hinsichtlich der Bindungswirkung der Entscheidung des Boards eine Kombination aus DAB und DRB vorsehen: die Entscheidung ist lediglich empfehlender Natur; auf Antrag einer Partei, dem die andere Partei nicht widerspricht, oder nach bestimmten Kriterien trifft das Board keine Empfehlung, sondern eine Entscheidung. Siehe hierzu Artikel 6 der ICC Dispute Board Rules. 2305) Siehe oben Rn. 1441 ff.

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haltliche Verfestigung und Verkomplizierung der Streitigkeit. Die Parteien können mithilfe eines Dispute Boards eine Eskalation der Auseinandersetzung in einen unnötigen Rechtsstreit, über den gemeinhin nur (Schieds-)Gerichte entscheiden würden, vermeiden. Damit haben Dispute Boards nicht nur streitentscheidenden, sondern auch präventiven Charakter für die Streitbeilegungspraxis. 1449 Das Wesenswerkmal von Dispute Boards ist die jederzeitige Verfügbarkeit des Entscheidungsgremiums für die Parteien. Denn typischerweise erfolgt die Auswahl und Benennung der Mitglieder des Gremiums (Boards) bereits bei Abschluss des Vertrages, welcher die Geschäftsbeziehung regelt. Die Parteien verlieren dadurch im Streitfall keine unnötige Zeit für die Besetzung des Dispute Boards. Pointiert lassen sich Dispute Boards – stark vereinfachend – als „Richter auf Abruf“ beschreiben. Vor diesem Hintergrund finden Dispute Boards in der Praxis bei langfristigen und komplexen Geschäftsbeziehungen und Projekten Anwendung.2306) In solchen Geschäftsbeziehungen sind Auseinandersetzungen nämlich unausweichliche Realität und die Parteien haben ein Interesse daran, dass Streitigkeiten und deren Beilegung die Geschäftsbeziehung nicht lahmlegen. 1450 Hinzu kommt ein ganz praktischer Vorteil: wenn das Dispute Board von Beginn an integraler Bestandteil der Geschäftsbeziehung von Gesellschaftern und Gesellschaften ist, dann sind seine Mitglieder auf dem Laufenden und mit den relevanten Einzelheiten der Geschäftsbeziehung vertraut; nur dann können sie – der Grundidee eines Dispute Boards entsprechend – schnell und praktisch umsetzbare Entscheidungen zur Beilegung der Streitigkeit treffen, so dass die Geschäftsbeziehung geringstmöglich tangiert wird. 1451 Möglich ist es aber auch, dass die Parteien der gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzung das Dispute Board ad hoc einsetzen. Dadurch sparen die Parteien Kosten für die „Bereithaltung“ der Mitglieder des Dispute Boards. Allerdings müssen die Parteien in dieser Verfahrensvariante nach Auftreten einer gesellschaftsrechtlichen Streitigkeit Zeit und Energie investieren, um geeignete Board-Mitglieder zu identifizieren, auszuwählen und zu benennen.2307) Dieser Prozess kann Wochen, wenn nicht gar Monate in Anspruch nehmen. 1452 Für das Grundverständnis von Dispute Boards ist ein Aspekt bedeutsam: die Bindungswirkung der Entscheidung. Den Parteien stehen prinzipiell zwei Varianten zur Auswahl: entweder sie vereinbaren, dass die Entscheidung des Dispute Boards lediglich empfehlend ist.2308) Oder sie verständigen sich darauf, ___________ 2306) Dispute Boards haben sich vor allem bei internationalen Bau- und Anlagenbauprojekten praktisch etabliert, vgl. hierzu Roquette, SchiedsVZ 2018, 233, 234 ff. mit Erläuterungen zu den FIDIC Dispute Adjudication/Avoidance Boards. 2307) Köntges/Mahnken, SchiedsVZ 2010, 310, 315. 2308) Siehe Art. 4 der ICC Dispute Board Rules.

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dass die Entscheidung des Dispute Boards rechtlich bindend ist.2309) In der Praxis hat sich bezüglich der zweiten Varianten die Regel etabliert, dass die Bindungswirkung nur vorläufig ist; die Parteien müssen typischerweise binnen einer festzulegenden Frist der Entscheidung des Dispute Boards widersprechen, andernfalls wird die Entscheidung endgültig rechtlich bindend.2310) Der typische Verfahrensablauf von Dispute Boards lässt sich zur einfachen 1453 Veranschaulichung wie folgt zusammenfassen:2311) x

Die Parteien vereinbaren vertraglich die Durchführung eines permanenten oder ad hoc Dispute Boards (z. B. nach Maßgabe der Musterklausel der ICC Dispute Board Rules oder der DIS-Adjudikationsregeln).

x

Die Parteien benennen die Mitglieder des Dispute Boards.

x

Die benannten Mitglieder des Dispute Boards schließen jeweils mit allen Parteien einen Vertrag über die Tätigkeit als Dispute Board (sog. Dispute Board Member Agreement).

x

Eine Partei leitet das Verfahren durch Übermittlung ihrer schriftlichen Fallbeschreibung (sog. Statement of Case) an die Gegenpartei ein, wobei die Gegenpartei darauf binnen 30 Tagen schriftlich antworten muss.

x

Bei einem permanenten Dispute Board sind die Parteien verpflichtet, die Mitglieder des Dispute Boards fortwährend über die Vertrags- oder Projektabwicklung informiert zu halten und mit den Dispute-Board-Mitgliedern zu kooperieren, damit das Dispute Board jederzeit arbeitsfähig ist.

x

Die Mitglieder des Dispute Boards führen zu diesem Zweck persönliche, telefonische oder Video-Besprechungen mit den Parteien. Diese Besprechungen sind von den Mitgliedern des Dispute Boards zu protokollieren. Außerhalb dieser Besprechungen können die Parteien mit dem Dispute Board in vereinbarter Form schriftlich oder elektronisch kommunizieren.

x

Soweit die Parteien nichts anderes schriftlich vereinbart haben, ist das Dispute Board berechtigt, die Verfahrenssprache festzulegen, relevante Unterlagen von den Parteien einzufordern, zu Besprechungen einzuladen sowie die Parteien, ihre Vertreter bzw. Verfahrensbevollmächtigten und Zeugen anzuhören, Sachverständige auszuwählen sowie Verfahrensverfügungen zu erlassen (sog. procedural orders) und Empfehlungen bzw. Entscheidungen zum Streitgegenstand zu treffen.

x

Die Mitglieder des Dispute Boards hören die Parteien an und entscheiden anschließend in der Regel binnen 90 Tagen nach Einleitung des Verfah-

___________ 2309) Siehe Art. 5 der ICC Dispute Board Rules. 2310) Siehe Art. 5 Nr. 3 und 5 der ICC Dispute Board Rules. 2311) Die nachfolgende, stark vereinfachte Darstellung basiert auf den ICC Dispute Board Rules.

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rens, wobei Inhalt und Bindungswirkung der Entscheidung – wie bereits erläutert – beim DAB, DRB und CDB variieren. Die Parteien können vereinbaren, dass die Entscheidung des Dispute Boards vor Bekanntmachung vom International Centre for ADR der ICC zu überprüfen ist. b) Anwendungsmöglichkeiten von Dispute Boards 1454 Sinn und Zweck von Dispute Boards ist die frühzeitige und schnelle Streitentscheidung in Auseinandersetzungen mit dem Ziel der geringstmöglichen zeitlichen und inhaltlichen Beeinträchtigung der zugrundeliegenden Geschäftsbeziehung. Somit eignen sich Dispute Boards für eine Vielzahl von gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten, insbesondere bei Konflikten zwischen Gesellschaftern. Denn die Gesellschafter vereinbaren typischerweise die auf gewisse Dauer angelegte Zusammenarbeit zur Erfüllung des Gesellschaftszwecks. Paradebeispiel dürften insoweit Streitigkeiten von den Gesellschaftern eines Gemeinschaftsunternehmens, eines Konsortiums oder einer Arbeitsgemeinschaft sein, gleich welcher Gesellschaftsrechtsform. Denn in diesen Fallkonstellationen kann eine frühzeitige und schnelle Entscheidung oder Empfehlung des Dispute Boards verhindern, dass die Streitigkeiten unnötig eskalieren und zu einer tatsächlichen und rechtlichen Gemengelage führen, die bei einer langen gerichtlichen oder schiedsgerichtlichen Auseinandersetzung, die erfolgreiche operative Arbeit der Gesellschaft nachhaltig stört oder gar paralysiert. 1455 Gleiches gilt für Gesellschaften, die konzernverbunden sind. Wenngleich diese Gesellschaften in aller Regel rechtlich selbständig sind und – je nach konkreter Ausgestaltung – auch mehr oder weniger wirtschaftlich und organisatorisch selbständig agieren, liegen ihre Zwecke und Interessen zumindest auch in der Erfüllung der übergeordneten Zwecke und Interessen der Konzernmuttergesellschaft. Aus Sicht der Konzernmuttergesellschaft ist es daher kaum opportun, wenn ihre konzernverbundenen Tochter- oder Enkelgesellschaften Auseinandersetzungen vor privaten Schiedsgerichten oder staatlichen Gerichten führen, auch wenn dies aufgrund ihrer juristischen Eigenständigkeit prozessrechtlich zulässig wäre. Daher bietet sich das Dispute Board sowohl für die Beilegung von Streitigkeiten zwischen konzernverbundenen Gesellschaften als auch für die Entscheidung von Auseinandersetzungen zwischen Konzernmuttergesellschaft und ihren verbundenen Gesellschaften an. 1456 Während die Mediation praktisch nahezu universell geeignet ist, um gesellschaftsrechtliche Auseinandersetzungen schnell, vertraulich und interessenorientiert außergerichtlich beizulegen, dürfte der praktische Anwendungsbereich von Dispute Boards zur Beilegung von gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten kleiner sein. Dies hängt in erster Linie damit zusammen, dass es sich bei Dispute Boards um ein streitentscheidendes kontradiktorisches Konflikt-

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bearbeitungsverfahren handelt. Der Streitgegenstand sollte daher einer Entscheidung zugänglich sein, sei es in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht.2312) Hinzu kommt, dass der Streitgegenstand einen gewissen tatsächlichen (bei- 1457 spielsweise technischen oder wirtschaftlichen) und/oder juristischen Komplexitätsgrad haben sollte; denn nur dann lohnt sich die Investition der Parteien in ein Entscheidungsgremium, welches mit Experten besetzt ist. Angesichts dessen erscheinen Dispute Boards eher ungeeignet zur Entscheidung von Streitigkeiten im Zusammenhang mit der Gesellschafterversammlung oder Konflikten zwischen Aktionären bzw. zwischen Aktionär und Aktiengesellschaft. Folglich dürften die Fälle, in denen vereinbart wird, eine Beschlussmängelstreitigkeit von einem Dispute Board zu entscheiden, die Ausnahme bleiben.2313) Es gibt ferner gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten, bei denen Dispute Boards 1458 nicht anwendbar sind. Das gilt, wie im Rahmen der Darstellung der Mediation bereits erläutert,2314) für Ansprüche, die nicht zur (alleinigen) Disposition der Parteien stehen, z. B. aus Gründen des Gläubigerschutzes. Dies gilt auch für Streitigkeiten zwischen Gesellschaftern und Gesellschaft über die Höhe der Bareinlage nach verdeckter Sacheinlage, über die Differenzhaftung bei Überbewertung der Sacheinlage (§ 9 GmbHG) oder über die Ausfallhaftung für anders nicht aufzubringende Einlagen (§ 24 GmbHG) sowie für Haftungsansprüche der Gesellschaft gegen die Geschäftsführer (§ 43 Abs. 3 Satz 2 GmbHG) oder gegen die Gesellschafter und Geschäftsführer (§ 9a GmbHG). Ein Verzicht oder Vergleich über diese Ansprüche ist gem. § 9b GmbHG nämlich dann unwirksam, wenn sie zur Befriedigung der Gläubiger erforderlich sind.2315) 4. Mini-Trial Noch weithin unbekannt in Deutschland ist das Verfahren des Mini-Trial. 1459 Der Begriff geht auf eine Wortschöpfung eines Redakteurs der New York Times in den USA zurück, der über eine Patentrechtsstreitigkeit zweier Unternehmen berichtete.2316) Wesensmerkmal des Mini-Trials ist, dass Vertreter der in Streit befindlichen Parteien an der Entscheidungsfindung un___________ 2312) Dieser Aspekt dürfte praktisch weniger ins Gewicht fallen, wenn die Parteien vereinbaren, dass die Entscheidung des Dispute Boards lediglich empfehlend und damit rechtlich nicht bindend ist. Denn sofern die Parteien nicht vereinbaren, der Empfehlung zu folgen, wird es erforderlich sein, dass die Parteien auf der Basis der Empfehlung ein weiteres außergerichtliches Streitbeilegungsverfahren (z. B. Verhandeln oder Mediation) durchführen oder aber eine rechtlich bindende Entscheidung einholen, indem ein privates Schiedsgerichtsverfahren oder ein staatliches Gerichtsverfahren eingeleitet wird. 2313) Zur Anwendung der Mediation auf Beschlussmängelstreitigkeiten siehe oben unter Rn. 1405 ff. 2314) Siehe oben Rn. 1398. 2315) Töben, RNotZ 2013, 321, 337. 2316) Mähler/Mähler, in: Heussen/Hamm, Beck’sches Rechtsanwalts-Handbuch, § 48 Rn. 14.

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mittelbar mitwirken. Wie sich zeigen wird, ist die Grundstruktur des MiniTrial-Verfahrens mit der von Dispute Boards vergleichbar. a) Begrifflichkeiten und Grundzüge 1460 Beim Mini-Trial handelt es sich ebenfalls um ein Streitentscheidungsverfahren. Anders als bei einem Dispute Board sind die Mitglieder des Entscheidungsgremiums keine neutralen Experten, sondern Entscheidungsträger aus den am Streit beteiligten Unternehmen bzw. Gesellschaften.2317) Anders als der Begriff des Mini-Trials nahe legt, handelt es sich bei diesem Verfahren nicht (nur) um ein „kleines Gerichtsverfahren“. Das Verfahren des Mini-Trials verbindet vielmehr Elemente der Prozessrisikoanalyse und der Early Neutral Evaluation mit einer Vergleichsverhandlung. Der Mini-Trial bezweckt, den Entscheidungsträgern der streitenden Parteien die Gelegenheit zu geben, auf der Basis einer neutralen Einschätzung zum wahrscheinlichen Ausgang des über den Streitgegenstand möglicherweise noch zu führenden (Schieds-)Gerichtsverfahrens Vergleichsverhandlungen zu führen.2318) Die Einschätzung des Mini-Trial-Gremiums ist folglich typischerweise nicht rechtlich bindend, sondern lediglich empfehlend. 1461 Der Name „Mini-Trial“2319) bringt zum Ausdruck, wie die Einschätzung des Mini-Trial-Gremiums zustande kommt: in einem (kleinen) Quasi-Gerichtsverfahren, bei dem die Unternehmensjuristen oder externen Rechtsanwälte der Parteien in Anwesenheit der Entscheidungsträger ihre Tatsachen- und Rechtsansichten vortragen, wobei eine förmliche Beweisaufnahme zu den strittigen Tatsachen in der Regel nicht erfolgt. Die Mitglieder des Mini-TrialGremiums ziehen sich nach den komprimierten Parteivorträgen üblicherweise zu einer Beratung zurück und Verkünden anschließend ihr Votum. Die Ähnlichkeiten zum Verfahren der Early Neutral Evaluation2320) sind evident. Das Mini-Trial-Gremium kann nicht nur seine Einschätzung zur Sach- und Rechtslage abgeben, sondern auch mit Zustimmung der Parteien die anschließenden Vergleichsverhandlungen der Parteien führen. 1462 Anders als im Verfahren der Early Neutral Evaluation oder Dispute Boards, ist das Mini-Trial-Gremium nicht mit unabhängigen, neutralen Dritten besetzt, sondern mit hochrangigen Entscheidungsträgern der streitenden Parteien.2321) Ihre Neutralität basiert darauf, dass sie trotz Zugehörigkeit zu den Streitparteien bislang nicht in die Verhandlungen oder andere Verfahren der ___________ 2317) Steinbrecher, Systemdesign, S. 55. 2318) Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft, S. 252. 2319) Erstmalig durchgeführt wurde – laut Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft, S. 252 Fn. 18 – ein Mini-Trial zur Beilegung eines Patentrechtsstreits zwischen den US-amerikanischen Unternehmen Telecredit, Inc., und TRW, Inc. 2320) Siehe oben Rn. 1438 ff. 2321) Vgl. Mähler/Mähler, in: Heussen/Hamm, Beck’sches Rechtsanwalts-Handbuch, § 48 Rn. 14.

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Streitbeilegung in der betreffenden Auseinandersetzung involviert waren. Da sie hochrangige Unternehmensvertreter sind (z. B. Bereichsleiter, Geschäftsführer oder Vorstand), ist zudem gewährleistet, dass sie zumindest eine gewisse Distanz zum betreffenden Streit und dem ihm zugrunde liegenden Sachverhalt haben. In der US-amerikanischen Praxis ist es üblich, dass dem Mini-Trial-Gremium 1463 auch ein unabhängiger, neutraler Experte angehört, der dem Gremium vorsitzt.2322) Dies bietet sich aus zwei Gründen an: einerseits erhöht dies die Neutralität des Mini-Trial-Gremiums und dessen fachliche Expertise; andererseits besteht dadurch das Gremium typischerweise aus drei Mitgliedern, nämlich jeweils einem Parteivertreter und dem neutralen Dritten. Dadurch kann das Mini-Trial-Gremium Mehrheitsentscheidungen treffen, falls eine einstimmige Entscheidung nicht zustande kommt. Führt der Mini-Trial nicht zur Beilegung der Streitigkeit, dann steht es den Par- 1464 teien frei, die Streitigkeit in einem anderen ADR-Verfahren zu bearbeiten oder (schieds-)gerichtlich endgültig und rechtsverbindlich entscheiden zu lassen.2323) Der typische Verfahrensablauf eines Mini-Trial lässt sich zur einfachen Ver- 1465 anschaulichung wie folgt zusammenfassen2324): x

Die Parteien vereinbaren vertraglich die Durchführung eines Mini-Trial.

x

Die Parteien benennen jeweils einen hochrangigen Entscheidungsträger aus ihrem Unternehmen bzw. ihrer Gesellschaft als Mitglied des Mini-Trial; zudem einigen sich die Parteien auf einen neutralen Dritten als Vorsitzenden des Mini-Trial-Gremiums.

x

Die Parteien tauschen kurze schriftsätzliche Stellungnahmen zum jeweiligen Streitfall aus.

x

Die Parteien präsentieren dem Mini-Trial-Gremium in einer Anhörung ihre Einschätzung zur Sach- und Rechtslage.

x

Auf der Basis dieser Anhörung diskutieren bzw. verhandeln die Entscheidungsträger der Parteien als Mitglieder des Mini-Trial mögliche Ergebnisse für eine vergleichsweise Einigung der Parteien. Auf Verlangen teilt der neutrale Dritte als Vorsitzender des Mini-Trial den Entscheidungsträgern seine Einschätzung mit; auf dieser Grundlage können die Entscheidungsträger ihre Verhandlungen fortführen.

x

Die Entscheidungsträger erzielen entweder eine Vergleichsvereinbarung oder bitten den neutralen Dritten als Vorsitzenden um Vermittlung.

___________ 2322) Vgl. die Mini-Trial Procedures der American Arbitration Association (AAA). 2323) Vgl. Ziffer 8 der AAA Mini-Trial Procedures. 2324) Die nachfolgende, stark vereinfachte Darstellung basiert auf den AAA Mini-Trial Procedures.

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x

Können die Entscheidungsträger mit Unterstützung des neutralen Dritten keine vergleichsweise Einigung erzielen, dann können die Parteien den Mini-Trial entweder ergebnislos beenden oder aber die Streitigkeit in einem anderen ADR-Verfahren bearbeiten oder eine (schieds-)gerichtliche Entscheidung über die Streitigkeit herbeiführen.

b) Anwendungsmöglichkeiten von Mini-Trials 1466 Das Verfahren des Mini-Trials eignet sich grundsätzlich zur Klärung von allen gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten, auf die auch Dispute Boards anwendbar sind.2325) 1467 Besonders vielversprechend ist die Anwendung dementsprechend bei Auseinandersetzungen zwischen Gesellschaftern bzw. zwischen Gesellschafter und Gesellschaft. 1468 Im Vergleich zu Dispute Boards liegt der praktische Nutzen von Mini-Trials besonders in der Entscheidung von (betriebs-)wirtschaftlichen oder technischen Sachkonflikten der Gesellschaft. Denn die Entscheidungsträger der Streitparteien sind unmittelbar an der Entscheidungsfindung beteiligt. Je weniger diese Sachkonflikte einer rein juristischen Beurteilung zugänglich sind, desto interessengerechter wird es für die streitenden Parteien sein, dass hochrangige Entscheidungsträger aus den Gesellschaften der Parteien selbst eine empfehlende Entscheidung treffen und die anschließenden Verhandlungen der Parteien auf dieser Basis führen. Aber auch in stark gesellschaftsrechtlich geprägten Streitigkeiten, etwa bei Streitigkeiten der Gesellschafter über die Tätigkeit der Geschäftsführer, Konflikte im Zusammenhang mit dem Ausschluss eines Gesellschafters, Konflikte bei Liquidation oder Veräußerung der Gesellschaft, Unklarheiten im Zusammenhang mit der Ausschüttung von Unternehmensgewinnen oder Konflikte zwischen Groß- und Kleinaktionären, ist der Mini-Trial eine praktisch sinnvolle Verfahrensalternative. Denn er bietet den Parteien die Möglichkeit, die eigene Rechtsauffassung neutral und kritisch hinterfragen zu lassen. Der Mini-Trial zielt auf eine fundierte und begründete Prozessrisikoanalyse ab, weil die Mitglieder des Entscheidungsgremiums in ihrer Meinungsbildung berücksichtigen, wie die Erfolgsaussicht der divergierenden Rechtsansichten der Parteien vor einem staatlichen Gericht oder privaten Schiedsgericht zu bewerten ist. Es ist dieser (juristische) Realitätstest, der die Parteien dazu bewegen kann, im Rahmen eines MiniTrials eine vergleichsweise Einigung zu erzielen, anstatt ein langwieriges und teures (Schieds-)Gerichtsverfahren mit ungewissem Ausgang zu führen. 1469 Ebenso wenig wie Dispute Boards ist der Mini-Trial für all diejenigen gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten geeignet, bei denen es um gesellschafts-

___________ 2325) Siehe oben Rn. 1446 ff.

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rechtliche Ansprüche geht, die nicht zur (alleinigen) Disposition der Parteien stehen.2326) IV. Ausblick in die Zukunft: Von Corporate Litigation zu Corporate Dispute Management Wie sich gezeigt hat, gibt es eine Vielzahl von unterschiedlichen außerge- 1470 richtlichen Verfahren, mit deren Hilfe Parteien ihre gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzungen beilegen können. Dass dies im Einzelfall – im Vergleich zur Durchführung eines privaten Schiedsgerichtsverfahrens oder staatlichen Gerichtsverfahrens – immense Kosten und Zeit spart, dürfte auch dem größten Kritiker von ADR-Verfahren einleuchten. Die Bereitschaft, gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten zunächst in ADR-Verfahren zu bearbeiten, bevor ein Zivilprozess oder Schiedsverfahren eingeleitet wird, erfordert ein aktives Umdenken in den Köpfen der Gesellschaftsorgane, der Gesellschafter und der sie beratenden Rechtsanwälte. Sie sollten die gesellschaftsrechtliche Streitigkeit nicht als Entscheidungsgegenstand, sondern als Gestaltungsgegenstand begreifen.2327) In dem so verstandenen Sinne können die Parteien nämlich selbst erreichen, dass ein Konflikt, der gesellschaftsrechtlich beurteilbar ist, nicht zwingend eine gesellschaftsrechtliche Entscheidung durch ein Gericht oder Schiedsgericht erfordert. Jede gesellschaftsrechtliche Rechtsstreitigkeit resultiert aus einem Interessenkonflikt. Aber nicht jeder dieser Konflikte muss zu einer gesellschaftsrechtlichen Streitigkeit vor Gericht eskalieren. Entscheidend ist zu verstehen, dass die Eskalation eines Konflikts hin zu einer Corporate Litigation das Ergebnis von bewusst ausgeübter Gestaltungsfreiheit der betroffenen Parteien und der sie beratenden Rechtsanwälte ist. Gesellschafter können im Gesellschaftsvertrag vereinbaren, dass zunächst einzelne oder mehrere ADR-Verfahren erfolglos bleiben müssen, bevor ordentliche Klage oder Schiedsklage erhoben werden darf.2328) Die Parteien einer gesellschaftsrechtlichen Streitigkeit können somit aktiv beeinflussen, dass ein staatliches Gerichtsverfahren oder ein privates Schiedsgerichtsverfahren immer nur die Ultima Ratio ist.2329) Dies setzt allerdings voraus, dass die Parteien überhaupt wissen, welche ADR- 1471 Verfahren zur Beilegung von gesellschaftsrechtlichen Konflikten geeignet sind. Zudem müssen die Parteien verstehen, wie diese ADR-Verfahren in der Praxis funktionieren. Erst dann können sie ihre Gestaltungsfreiheit in gesell___________ 2326) Siehe oben Rn. 1458. 2327) Vgl. Steinbrecher, Systemdesign, S. 299: „ein Konflikt ist kein Entscheidungs-, sondern ein Gestaltungsgegenstand“. 2328) Umfassend zu Eskalationsklauseln Arntz, Eskalationsklauseln: Recht und Praxis mehrstufiger Streiterledigungsklauseln, 2013, sowie ders., RIW 2014, 801 ff. 2329) Ausführlich zum Spannungsverhältnis zwischen ADR-Verfahren und staatlicher Justizgewährleistung siehe Papier, IWRZ 2016, 14 ff. Zum Verhältnis der Außergerichtlichen Streitbeilegung und gerichtlichen Streitentscheidung siehe auch Hirsch/Gerhardt, ZRP 2016, 28 ff.

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schaftsrechtlichen Auseinandersetzungen auch konkret nutzen. Dies erfordert vor allem von den Rechtsanwält:innen, die Gesellschaften und Gesellschafter beraten und in Streitbeilegungsverfahren vertreten, Aufklärungsarbeit gegenüber ihren Mandant:innen. Denn es dürfte illusorisches Wunschdenken sein, dass ein Geschäftsführer einer mittelständischen Gesellschaft selbst auf die pragmatische und interessengerechte Idee kommt, im Streitfall zunächst eine Klärung in einer Mediation, in einem Dispute Board oder durch ein Schiedsgutachten zu erreichen. Und erst wenn diese Verfahren die gesellschaftsrechtliche Streitigkeit nicht beilegen können, bleibt im Zweifel keine andere Wahl, als die gesellschaftsrechtliche Streitigkeit (schieds-) gerichtlich entscheiden zu lassen. 1472 Die Wahl des geeigneten ADR-Instruments ist für die effektive Streitbeilegung genauso wichtig wie die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Konflikt selbst. Sofern die Parteien und ihre Anwälte nicht über die notwendige Erfahrung im Umgang mit den zur Verfügung stehenden ADR-Verfahren verfügen bzw. nicht (mehr) in der Lage sind, sich über das geeignete Verfahren zu verständigen – was sehr häufig der Fall ist, sobald der Konflikt erst einmal aufgebrochen ist –, bietet die Konfliktmanagementordnung (kurz KMO) der DIS2330) hierfür ein Instrument zur Auswahl des für den konkreten Konflikt geeigneten ADR-Verfahrens. 1473 Auf Antrag der Parteien (auch ein einseitiger Antrag ist möglich, erforderlich ist dann aber eine schriftliche Einverständniserklärung der anderen Partei, § 1, Ziff. 1.2 DIS-KMO) bestellt der Generalsekretär der DIS einen Konfliktmanager, nachdem er die Parteien formlos angehört hat, wobei er ggf. deren übereinstimmenden Wünsche berücksichtigt. In dem dann folgenden Erörterungstermin bestimmen die Parteien unter fachkundiger Anleitung des Konfliktmanagers das geeignete Verfahren für die Konflikterledigung und erstellen gemeinsam einen Konfliktmanagementplan. Eng gesteckte Fristen der DIS-KMO sorgen dafür, dass das Konfliktmanagementverfahren nicht als reine Verzögerungstaktik missbraucht wird.2331) 1474 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der Begriff der Corporate Litigation in Bezug auf die Streitbeilegung im Gesellschaftsrecht zu eng gefasst und durch den Begriff des Corporate Dispute Managements zu ersetzen ist. 1475 Unternehmen können ihre gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten effizienter und effektiver gestalten – neudeutsch: managen. Sie können die Risiken, die aus gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten resultieren, minimieren und die

___________ 2330) Die Konfliktmanagementordnung der DIS ist als Anlage 6 Bestandteil der seit dem 1.3.2018 gültigen DIS-Schiedsgerichtsordnung. 2331) Siehe ausführlich zum Ganzen Scherer, SchiedsVZ 2010, 122 ff.

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E. Moderne ADR-Verfahren – Corporate Dispute Management

daraus erwachsenen Chancen maximieren.2332) Das gelingt ihnen, wenn sie gemeinsam mit ihren Rechtsanwält:innen das gesamte Spektrum der außergerichtlichen und gerichtlichen Streitbeilegungsverfahren ausschöpfen. Dazu müssen die Parteien – idealerweise gemeinsam – eine informierte Entscheidung über die Auswahl des für den jeweiligen gesellschaftsrechtlichen Konflikt bestgeeigneten Streitbeilegungsverfahrens treffen.2333) Diese Auswahl können die Streitparteien im Konfliktfall ad hoc treffen. Allerdings lehrt die Erfahrung, dass es ungleich schwieriger ist, sich auf ein ADR-Verfahren zu verständigen, wenn die Streitigkeit bereits ausgebrochen ist. Zielführender ist es, die Verfahrensauswahl entweder während der Vertragsgestaltung mithilfe von vertraglichen Eskalationsklauseln2334) zu treffen. Oder die Streitparteien vereinbaren, im Falle einer gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzung die Verfahrensauswahlentscheidung mit Hilfe eines neutralen Dritten zu treffen.2335) Die beratenden Anwälte haben hierbei eine zentrale Rolle und Verant- 1476 wortung. Sie haben nicht nur berufsrechtlich die Aufgabe, ihre Mandanten „konfliktvermeidend und streitschlichtend zu begleiten“ (§ 1 Abs. 3 BORA). Sie müssen ihre Mandanten folglich in gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten darüber informieren, dass es außergerichtliche Verfahrensalternativen gibt, wie sie praktisch ablaufen und welche Vor- und Nachteile sie im konkreten Konfliktfall bieten. Der (vorschnelle) Gang zum staatlichen Gericht oder privaten Schiedsge- 1477 richt sollte daher auch bei gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten die Ausnahme von der Regel bleiben. Denn es gibt eine Vielzahl von außergerichtlichen Verfahren, die im Erfolgsfall schnell, kostengünstig, interessengerecht und frei von Kollateralschäden und Nebenkriegsschauplätzen den konkreten gesellschaftsrechtlichen Konflikt klären können. Corporate Litigation findet dann nur noch statt, wenn die (schieds-)gerichtliche Entscheidung wirklich alternativlos ist.

___________ 2332) Vgl. das Zitat von Edward Dauer: „Winning a lawsuit is not the goal. Minimizing risks and maximizing profit is.” Den Zusammenhang von Konfliktmanagement und Risikomanagement bei Kapitalgesellschaften erläutert ausführlich Knobloch, in: Gläßer/ Kirchhoff/Wendenburg, S. 375 ff. 2333) Instruktiv zur Systematik der Verfahrensauswahl Hagel/Steinbrecher, in: Gläßer/ Kirchhoff/Wendenburg, S. 53 ff. 2334) Ausführlich hierzu siehe Fn. 1985. 2335) Siehe hierzu die Konfliktmanagementordnung der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit (DIS), wonach ein Konfliktmanager die Parteien bei der Verfahrensauswahlentscheidung unterstützt; instruktiv dazu Scherer, SchiedsVZ 2010, 122.

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Teil 4 Restrukturierung A. Organhaftung in Krise und Insolvenz I. Einleitung Luidger Röckrath

In der Krise einer Gesellschaft treffen die Geschäftsleiter eines Unternehmens 1478 besondere Sorgfaltspflichten.2336) Bei Vorliegen eines Insolvenzgrundes müssen sie ihr Handeln primär an den Interessen der Gläubiger ausrichten, um im Insolvenzfall eine bestmögliche Befriedigung aller Gläubiger sicherzustellen. Werden diese Pflichten verletzt, droht den Geschäftsleitern persönliche Haftung.2337) Zentral ist das Zahlungsverbot bei materieller Insolvenzreife. Ansprüche we- 1479 gen Verletzung des Zahlungsverbots sind wegen der relativ geringen Voraussetzungen und der Verteilung der Darlegungs- und Beweislast für Insolvenzverwalter vergleichsweise einfach geltend zu machen. Da oft eine D&O-Versicherung zugunsten der Geschäftsleiter besteht, ist die erfolgreiche Geltendmachung zur effektiven Massemehrung geeignet.2338) Gerade bei der Insolvenz kleiner und mittlerer Unternehmen werden fast immer und nicht selten erfolgreich Ansprüche wegen Verletzung des Zahlungsverbots gegen Geschäftsleiter geltend gemacht. Bei den größten Insolvenzen ist das Bild etwas anders, da sich die Organmitglieder in der Krise eher durch Anwälte und/oder Wirtschaftsprüfer zu der Frage beraten lassen, ob Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung vorliegt und daher die Pflicht besteht, einen Insolvenzantrag zu stellen. Derartige Haftungsfälle sind zwar wenig spektakulär und über sie wird kaum 1480 in der allgemeinen Presse berichtet. Das Haftungsrisiko ist aber beträchtlich und wird von Geschäftsleitern trotz offenkundiger Krise oft nicht ernst genug genommen. Vielmehr wird in der Krise oft in einer Weise agiert, die das Haftungsrisiko geradezu heraufbeschwört, falls sich die Hoffnung auf Rettung als trügerisch erweist. II. Einführung in die zentralen einschlägigen Anspruchsgrundlagen Seit der 1. Auflage des vorliegenden Werks gab es umfangreiche gesetzgebe- 1481 rische Aktivitäten, die die Organhaftung in Krise und Insolvenz teilweise modifizieren und teilweise Rechtsprechung kodifizieren. Zunächst führte die Covid-Pandemie im Frühjahr 2020 zu einer zeitweiligen Aussetzung der Antragspflicht und des Zahlungsverbots. Schließlich trat nach einem bemer___________ 2336) Ausführlich Tresselt, in: A. Schmidt, Sanierungsrecht, 2. Aufl., S. 20 ff. 2337) Vgl. überblicksartig Kruth/Jakobs, DStR 2019, 999; zu Spannungen zwischen gesellschafts- und insolvenzrechtlichem Pflichtenkreis K. Schmidt, ZIP 2018, 853. 2338) Zur Frage, ob Ansprüche wegen Verletzung des Zahlungsverbots durch eine D&OVersicherung gedeckt sind, vgl. unten Rn. 1545.

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Teil 4 Restrukturierung

kenswert kurzen Gesetzgebungsverfahren am 1.1.2021 das Sanierungs- und lnsolvenzrechtsfortentwicklungsgesetzes (SanInsFoG) in Kraft. Ein Kernbestandteil ist das Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (StaRUG), mit dem insbesondere die Rechtstrukturierungsrichtlinie ((EU) 2019/1023) umgesetzt wurde. In diesem Zusammenhang wurden auch gänzlich neue Haftungstatbestände im Rahmen des präventiven Restrukturierungsverfahren geschaffen (insbesondere § 43 StaRUG), auf die vorliegend nur knapp behandelt werden (unten 4.). 1482 Im vorliegenden Zusammenhang von besonderer Bedeutung ist die Zusammenführung und teilweise Modifizierung der bisher in verschiedenen Gesetzen enthaltenen Regelgungen zum Zahlungsverbot rechtsformübergreifend in § 15b InsO sowie gewisse Modifikationen bei den Insolvenzgründen (§§ 18, 19 Inso) und der Insolvenzantragspflicht (§ 15a InsO). 1. Erstattung von unter Verstoß gegen das Zahlungsverbot geleisteten Zahlungen 1483 Zentral ist das bei Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung einer Kapitalgesellschaft (GmbH/AG) oder einer Personengesellschaft, bei der kein Gesellschafter eine natürliche Person ist, geltende Zahlungsverbot nach § 15b InsO. Die früher in verschiedenen Gesetzen enthaltenden Regelungen wurden mit dem SanInsFoG in § 15b InsO zusammengefasst. Das Zahlungsverbot richtet sich an die § 15a Abs. 1 Satz 1 antragspflichtigen Mitglieder des Vertretungsorgans, d. h. Geschäftsführer einer GmbH (vgl. § 64 Satz 1 GmbHG a. F.), die Vorstandsmitglieder einer AG (vgl. § 92 Abs. 2 Satz 1 AktG a. F.) oder Genossenschaft (vgl. §§ 99 Satz 1, 34 Abs. 3 Nr. 4 GenG a. F.) und die organschaftlichen Vertreter juristischer Personen, die ihrerseits vertretungsberechtigte Gesellschafter einer Personen(handels)gesellschaft sind (§ 15b Abs. 6 InsO, vgl. §§ 130a Abs. 1 Satz 1, 177a Satz 1 HGB a. F.). Die Anwendbarkeit auf EU-Auslandsgesellschaften und deren Organe hat der EuGH schon zum früheren Recht bestätigt.2339) Vereinsvorstände haften nicht analog zu diesen Vorschriften, weil § 42 Abs. 2 BGB insoweit keine planwidrige Regelungslücke enthält (vgl. § 15a Abs. 7 InsO).2340) 1484 Der neue § 15b InsO gilt nach zutreffender Ansicht unabhängig davon, wann das Insolvenzverfahren beantragt wurde, für alle Zahlungen ab dem 1.1.2021; für frühere Zahlungen gilt das alte Recht (Art. 25 SanInsFoG). Auch wenn der Insolvenzantrag am oder nach dem 1.1.2021 gestellt wurde, kann nicht

___________ 2339) EuGH, v. 10.12.2015 – C-594/14, ZIP 2015, 2468; nach BGH, Vorlagebeschl. v. 2.12.2014 – II ZR 119/14, ZIP 2015, 68; BGH, v. 15.3.2016 – II ZR 119/14, ZIP 2016, 821; vgl. dazu Servatius, DB 2015, 1087; Mock, IPrax 2016, 237; Mankowski, NZG 2016, 281. 2340) BGH, v. 8.2.2010 – II ZR 156/09, ZIP 2010, 1080.

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rückwirkend das neue Recht Anwendung finden (Art. 103m EGInsO gilt insoweit nicht).2341) a) Insolvenzreife als Voraussetzung des Zahlungsverbots Mit dem Eintritt eines zum Antrag verpflichtenden Insolvenzgrundes (Zah- 1485 lungsunfähigkeit oder Überschuldung) ist es Geschäftsleitern grundsätzlich verboten, weitere Zahlungen aus dem Gesellschaftsvermögen zu tätigen. Die Zahlungsverbote greifen ab Eintritt der Zahlungsunfähigkeit bzw. Über- 1486 schuldung ein. Auch wenn die Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags wegen laufender und nicht aussichtsloser Sanierungsbemühungen nach § 15a Abs. 1 InsO für bis zu drei bzw. sechs Wochen suspendiert sein kann, haben die Geschäftsleiter bereits die Pflicht, das Gesellschaftsvermögen für den Fall des Scheiterns der Sanierungsbemühungen im Interesse der Gläubiger zu sichern.2342) Masseverkürzungen im Vorfeld des Insolvenzverfahrens sollen verhindert und bei Verstößen gegen das Zahlungsverbot wieder rückgängig gemacht werden. aa) Zahlungsunfähigkeit nach § 17 Abs. 2 InsO Zahlungsunfähigkeit liegt vor, wenn der Schuldner nicht in der Lage ist, seine 1487 fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen (§ 17 Abs. 2 Satz 1 InsO). Die Fälligkeit bestimmt sich grundsätzlich nach den zivilrechtlichen Regeln 1488 (§ 271 BGB). Gestundete Forderungen sind nicht fällig. Insolvenzrechtlich ist zusätzlich erforderlich, dass die Leistung durch den Gläubiger ernsthaft eingefordert wird. Dazu reicht es aber aus, „wenn eine Gläubigerhandlung feststeht, aus der sich der Wille, vom Schuldner Erfüllung zu verlangen, im Allgemeinen ergibt.“2343) Hält der Gläubiger nur deswegen still, weil er befürchtet, im Insolvenzfall nur eine geringe Quote zu erhalten, beseitigt dies die Fälligkeit in der Regel nicht. Grund der Nichtzahlung muss ein objektiver Mangel an Zahlungsmitteln sein. 1489 Kennt der Geschäftsleiter die Verbindlichkeit nicht oder übersieht er den Zahlungstermin versehentlich, bleibt dies außer Betracht. Ebenso, wenn er die Forderung für unbegründet hält. Die Zahlungsunfähigkeit ist von der bloßen Zahlungsstockung abzugrenzen. 1490 Kann eine Liquiditätsunterdeckung voraussichtlich innerhalb kurzer Zeit behoben werden, liegt lediglich eine Zahlungsstockung vor. Maßgeblicher Zeitraum zur Beseitigung ist die Insolvenzantragsfrist von drei Wochen. Bei der Prognose („voraussichtlich“) werden den fälligen Verbindlichkeiten die innerhalb von drei Wochen mit hoher Wahrscheinlichkeit verfügbaren Mittel ge___________ 2341) Bitter, ZIP 2021, 321, 332; a. A. wohl Baumert, NZG 2021, 443, 445. 2342) Habersack/Foerster, ZHR 178 (2014), 387, 394. 2343) BGH, v. 19.7.2007 – IX ZB 36/07, ZIP 2007, 1666, 1668 (Rn. 18).

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genübergestellt. Der Schuldner erhält also die Möglichkeit, durch kurzfristige Einnahmen, Kreditaufnahme oder Liquidierung von Vermögenswerten die bereits fälligen Verbindlichkeiten zu begleichen. In die Bewertung fließen dann aber auch die binnen dieser drei Wochen fällig werdenden Verbindlichkeiten mit ein. 1491 Schließlich gibt es eine Wesentlichkeitsschwelle. Die Rechtsprechung geht von einem Schwellenwert von 10 % der Gesamtverbindlichkeiten aus. Eine Überschreitung der 10 % Grenze löst eine widerlegliche Vermutung aus. Eine Widerlegung der Vermutung ist in der Regel möglich, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine (nahezu) vollständige Beseitigung der Liquiditätslücke in überschaubarer Zeit zu erwarten und den Gläubigern ein Zuwarten billigerweise zumutbar ist.2344) Spiegelbildlich wird auch unterhalb dieser Schwelle von 10 % eine Zahlungsunfähigkeit anzunehmen sein, wenn deren Beseitigung über einen längeren Zeitraum nicht absehbar ist. 1492 Zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit2345) bedarf es einer Liquiditätsbilanz. Die am Stichtag verfügbaren und innerhalb der Karenzzeit von drei Wochen voraussichtlich zufließenden Mittel werden den am Prüfungsstichtag fälligen Verbindlichkeiten und den in den drei Wochen fällig werdenden Verbindlichkeiten gegenübergestellt.2346) 1493 Nach § 17 Abs. 2 Satz 2 InsO wird Zahlungsunfähigkeit vermutet, wenn die Zahlungen eingestellt werden. Die Zahlungseinstellung lässt sich nicht durch den Nachweis einzelner erfolgter Zahlungen widerlegen. Das gilt auch, wenn erhebliche Forderungen beglichen werden. Erst bei einer vollständigen Wiederaufnahme der Zahlungen entfällt die Vermutungswirkung der Zahlungseinstellung. Auf die Wesentlichkeitsschwelle von 10 % kommt es bei der Wiederaufnahme nicht an. 1494 Der Insolvenzverwalter kann einen Liquiditätsstatus aus den Angaben der Buchhaltung des Schuldners ableiten. Der Geschäftsführer muss dann im Einzelnen darlegen und ggf. beweisen, welche der in den Liquiditätsstatus eingestellten Verbindlichkeiten trotz entsprechender Verbuchung zu den angegebenen Zeitpunkten nicht fällig und eingefordert gewesen sein sollen.2347) Wenn der Geschäftsführer seine Pflicht zur Führung und Aufbewahrung von Büchern und Belegen verletzt hat und dem Gläubiger deshalb die Darlegung

___________ 2344) BGH, v. 13.6.2006 – IX ZB 238/05, ZIP 2006, 1457, 1458 (Rn. 6); BGH, v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, ZIP 2005, 1426, 1430 ff. (Rn. 28 ff.); dazu Weber/Küting/Eichenlaub, GmbHR 2014, 1009, 1010; vgl. auch IDW S 11; dazu Steffan/Solmecke, WPg 2015, 429; Zabel/Pütz, ZIP 2015, 912. 2345) Vgl. dazu allgemein Baumert, NJW 2019, 1486. 2346) BGH, v. 19.12.2017 – II ZR 88/16, ZIP 2018, 283 (Rn. 34 ff.): Absage an die sogenannte Bugwellentheorie; so schon Weber/Küting/Eichenlaub, GmbHR 2014, 1009, 1011. 2347) BGH, v. 19.12.2017 – II ZR 88/16, ZIP 2018, 283 (Rn. 8 ff., insbesondere 23).

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näherer Einzelheiten nicht möglich ist, gelten die Voraussetzungen der Zahlungseinstellung nach den Grundsätzen der Beweisvereitelung als bewiesen.2348) Der Nachweis für eine Zahlungseinstellung kann auch mit Indizien geführt 1495 werden. Indizien sind beispielsweise nicht eingehaltene Zahlungszusagen, gehäufte Mahnungen, zurückgegebene Lastschriften, Pfändungs- und Vollstreckungsversuche oder nicht beglichene Steuern und Abgaben (insbesondere Sozialabgaben für Arbeitnehmer). Der BGH sieht auch in einer dauerhaft schleppenden Zahlungsweise ein Indiz für eine Zahlungseinstellung, insbesondere wenn das Unternehmen einen Forderungsrückstand (Bugwelle) vor sich herschob und am Rande des finanzwirtschaftlichen Abgrundes operierte.2349) Der Indizienbeweis ist in Anfechtungs- und Organhaftungsprozessen von Insolvenzverwaltern von großer Bedeutung. bb) Überschuldung nach § 19 InsO Überschuldung liegt vor, wenn das gesamte Vermögen des Schuldners die 1496 bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich (§ 19 Abs. 2 Satz 1 InsO). Der Überschuldungsbegriff besteht aus zwei gleichwertigen Elementen: der rechnerischen Überschuldung und dem Fehlen einer positiven Fortführungsprognose.2350) Die rechnerische Überschuldung wird anhand eines Überschuldungsstatus 1497 festgestellt, in dem verwertbare Vermögensgegenstände und Verbindlichkeiten stichtagsbezogen gegenübergestellt werden. Die Aktiva des Unternehmens müssen zu dem Wert angesetzt werden, der bei der Liquidation erzielt werden kann. Der Überschuldungsstatus ist von der Handelsbilanz hinsichtlich Ansatz und Bewertung zu unterscheiden. Verwertbare Vermögensgegenstände, die in der Handelsbilanz nicht aktiviert sind (z. B. selbstgeschaffene immaterielle Vermögenswerte), müssen aktiviert werden, wenn sie veräußerbar sind. Stille Reserven sind aufzudecken. In der Praxis ist die Aufstellung eines Überschuldungsstatus seit der Einfüh- 1498 rung des neuen Überschuldungsbegriffs mit dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz im Jahr 2008 oft entbehrlich. Solange eine positive Fortführungsprognose besteht, ist eine Überschuldung ausgeschlossen (vgl. § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO). Die Fortführungsprognose ist eine Liquiditätsprognose, bei welcher der Geschäftsleitung ein gewisser Beurteilungsspielraum2351) zukommt. ___________ 2348) So zum Schadensersatz wegen Insolvenzverschleppung BGH, v. 24.1.2012 – II ZR 119/10, ZInsO 2012, 648. 2349) BGH, v. 18.7.2013 – IX ZR 143/12, ZIP 2013, 2015; OLG München, v. 6.11.2013 – 7 U 571/13, GmbHR 2014, 139. 2350) Weber/Küting/Eichenlaub, GmbHR 2014, 1009, 1014; Tresselt/Schlott, KSzW 2017, 192 f.; zu den Grundlagen der Fortführungsprognose auch Riegger/Spahlinger, in: Festschrift Wellensiek, 2011, S. 119 ff. 2351) Zur Frage, ob dieser an die aktienrechtliche „Business Judgement Rule“ angelehnt werden.

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Es ist zu prüfen, ob die Gesellschaft mit mindestens überwiegender Wahrscheinlichkeit in der Lage sein wird, ihre im Prognosezeitraum fällig werdenden Verbindlichkeiten zu begleichen. Der Ertragsfähigkeit des Unternehmens kommt insoweit lediglich eine mittelbare Bedeutung zu.2352) Bei der Fortführungsprognose ist auf der Grundlage des Unternehmenskonzepts eine integrierte Unternehmensplanung zu erstellen, aus der die voraussichtliche Liquiditätsentwicklung im Prognosezeitraum abzuleiten ist. Dabei kann nicht nur die Binnenfinanzierung aus dem laufenden Geschäft, sondern auch eine Zufuhr von Liquidität durch die Gesellschafter oder Kreditgeber berücksichtigt werden, wenn sie überwiegend wahrscheinlich ist. Die wohl herrschende Meinung in der Literatur empfiehlt, einen Betrachtungszeitraum, der das laufende und das darauf folgende Geschäftsjahr umfasst.2353) Der BGH hat einzelfallbezogen auch deutlich kürzere Prognosezeiträume bis zu fünf Monaten ausreichen lassen.2354) Der Gesetzgeber hat nunmehr einen Zeitraum von zwölf Monaten vorgegeben und zwar als starre Regel, wie der Vergleich mit dem Wortlaut des § 18 InsO zeigt.2355) 1499 Eine handelsbilanzielle Überschuldung lässt nicht ohne weiteres auf eine insolvenzrechtliche Überschuldung schließen. Eine handelsbilanzielle Überschuldung ist aber ein deutliches Krisenanzeichen, bei dessen Vorliegen die Geschäftsleitung jedenfalls gehalten ist, das Vorliegen von Insolvenzgründen besonders sorgfältig zu prüfen. 1500 Ist eine rechnerische Überschuldung festgestellt, muss der Geschäftsleiter eine positive Fortführungsprognose darlegen. Der Wortlaut des § 19 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 InsO („es sei denn“) legt eine Beweislastumkehr nahe.2356) Der Geschäftsleiter hat allerdings nur die tatsächlichen Umstände darzulegen und notfalls zu beweisen, aus denen sich eine günstige Prognose ergibt.2357) Die Richtigkeit der positiven Prognose muss nicht nachträglich bewiesen werden.2358) b) Zahlung aus dem Gesellschaftsvermögen 1501 Zahlungen im Sinne des Zahlungsverbots sind Barauszahlungen, Überweisungen von im Guthaben (kreditorisch) geführten Konten, Abbuchungen im Lastschriftverfahren aber auch die Einlösung eines ausgestellten Schecks. Auch die Teilnahme am Cash-Pooling, wenn die Mutter-Gesellschaft selbst ___________ 2352) Tresselt/Schlott, KSzW 2017, 192, 196. 2353) Kübler/Prütting/Bork/Pape, InsO, § 19 Rn. 40; Nerlich/Römermann/Mönning, InsO, § 19 Rn. 45; Uhlenbruck/Mock, InsO, § 19 Rn. 225 m. w. N. 2354) BGH, v. 13.7.1992 – II ZR 269/91, ZIP 1992, 1382. 2355) Bitter, ZIP 2021, 321, 324. 2356) Schmidt/Schmidt, InsO, § 19 Rn. 55. 2357) BGH, v. 18.10.2010 – II ZR 151/09, ZIP 2010, 2400, 2401. 2358) Schmidt/Schmidt, InsO, § 19 Rn. 55.

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nicht in der Lage ist, die Verlustausgleichszahlungen zu leisten,2359) fällt unter den Zahlungsbegriff. Überweisungen und Abbuchungen von einem debitorisch geführten Konto 1502 sind keine erstattungspflichtigen Zahlungen. Es kommt lediglich zu einem masseunschädlichen Gläubigertausch.2360) Zahlung ist dagegen die Einzahlung auf ein debitorisch geführtes Konto,2361) auch wenn dadurch eine Kreditlinie wieder auflebt, da hierdurch das Aktivvermögen der Gesellschaft zugunsten der Bank vermindert wird und zur bevorzugten Befriedigung dieses Gesellschaftsgläubigers führt. Im Stadium der Insolvenzreife ist der Geschäftsleiter verpflichtet, Zahlungseingänge auf Konten auf Guthabenbasis umzuleiten.2362) Nicht abschließend geklärt ist der Umgang mit Zahlungen auf Forderungen, die zuvor als Sicherheit an die kontoführende Bank abgetreten wurden (meist durch Globalzession).2363) Derartige Mittelzuflüsse stünden aufgrund des Absonderungsrechts der Gläubigergesamtheit ohnehin nicht zur Verfügung.2364) Im Einklang mit den insolvenzrechtlichen Wertungen fordert der BGH, dass die Forderung bereits bei Eintritt der Insolvenzreife entstanden und werthaltig war. Eine Masseschmälerung liegt dagegen vor, wenn die Forderung durch fortgesetzte Geschäftstätigkeit nach Insolvenzreife werthaltig wird.2365) Eine masseschmälernde Zahlung kann allerdings ausscheiden, wenn durch die Reduzierung des Debetsaldos bereits sicherungsabgetretene Forderungen zu Gunsten des Gesellschaftsvermögens frei werden.2366) Gleiches gilt, wenn die Forderung aus einer Veräußerung von ihrerseits sicherungsübereigneter Ware resultiert.2367) Verboten sind Schmälerungen der Masse, die der gleichmäßigen Befriedigung 1503 aller Gläubiger zur Verfügung stehen soll. Keine Zahlung liegt daher vor, wenn ein ausgleichender Gegenwert in das Gesellschaftsvermögen gelangt.2368) Nach der bisherigen Rechtsprechung war strittig, ob der Gegenwert im Zeitpunkt des Insolvenzantrages noch vorhanden sein musste. Der BGH hat zwischenzeitlich klargestellt, dass es bei der Bewertung des in die Masse gelangten Vermögensgegenstandes auf den Zeitpunkt des Leistungszuflusses ___________ 2359) OLG Düsseldorf, v. 20.12.2013 – I-17 U 51/12, ZIP 2015, 73 (Babcock Borsig). 2360) BGH, v. 25.1.2010 – II ZR 258/10, ZIP 2010, 470; BGH, v. 23.7.2007 – II ZR 310/05, ZIP 2007, 1006; Kruth, NZI 2014, 981, 984. 2361) BGH, v. 11.2.2020 – II ZR 427/18, ZIP 2020, 666 (Rn. 15). 2362) BGH, v. 23.6.2015 – II ZR 366/13, ZIP 2015, 1480 (Rn. 17 f.); OLG Brandenburg, v. 12.1.2016 – 6 U 123/13, ZInsO 2016, 852, 855. 2363) Überblick bei Habersack/Foerster, ZGR 2016, 153. 2364) OLG Hamburg, v. 6.3.2015 – 11 U 222/13, DB 2015, 1095. 2365) BGH, v. 3.5.2016 – II ZR 318/15; kritisch Kreuzberg, NZG 2016, 371. 2366) BGH, v. 23.6.2015 – II ZR 366/13, ZIP 2015, 1480; Casper, ZIP 2016, 793. 2367) BGH, v. 8.12.2015 – II ZR 68/14, ZIP 2016, 364; vgl. dazu Anmerkung Altmeppen, ZIP 2016, 366; Poertzgen, NZI 2016, 272; Poertzgen, ZInsO 2016, 1182, 1184. 2368) BGH, v. 31.3.2003 – II ZR 150/02, ZIP 2003, 1005.

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ankommt.2369) Maßgeblich ist damit, dass der zugeflossene Gegenwert nach wirtschaftlicher Betrachtung einer einzelnen masseschmälernden Zahlung zugeordnet werden kann.2370) Außerdem muss der in die Masse gelangende Gegenwert für die Gläubiger verwertbar sein, was bei Arbeits- und Dienstleistungen, Energieversorgungs- und Telekommunikationsdienstleistungen sowie der Lieferung geringwertiger Gegenstände zum alsbaldigen Verbrauch regelmäßig ausgeschlossen ist. 1504 Zwischen Abfluss und Zufluss an Masse muss ein unmittelbarer wirtschaftlicher Zusammenhang bestehen. Ob der zeitlichen Reihenfolge von Leistung und Gegenleistung maßgebliche Bedeutung zukommt, ist höchstrichterlich noch nicht geklärt.2371) Jedenfalls auf das Kriterium eines engen zeitlichen Zusammenhangs – analog der Privilegierung in § 142 InsO – kommt es nach dem BGH nicht an.2372) Allerdings bezieht sich diese Entscheidung auch nur auf die Anwendbarkeit von § 142 InsO in der besonderen Konstellation einer Rückgewähr des weggebenen Gegenstands infolge erfolgreicher Anfechtung, die den Schutzzweck des § 64 Satz 1 GmbHG vollständig entfallen lässt. Ob dies eine allgemeine Absage an ein Kriterium des zeitlichen Zusammenhangs darstellt, ist umstritten.2373) Zuletzt hat der BGH entschieden, dass eine Vorleistung des Zahlungsempfängers grundsätzlich nicht zur Kompensation geeignet ist.2374) 1505 Durch diese Klarstellungen des BGH dürfte es nur in relativ wenigen Fällen erfolgversprechend sein, sich auf eine die Masseschmälerung ausgleichende Gegenleistung zu berufen. Die an die Entscheidung des BGH aus 2014 zur Berücksichtigung der Gegenleistung je nach Sichtweise geknüpften Hoffnungen bzw. Befürchtungen sind zu relativieren. Durch die Modifikation der Rechtsfolge in § 15b Abs. 4 InsO hat sich die Thematik aber deutlich entschärft (dazu unten). 1506 Keine Zahlung ist die Begründung einer Verbindlichkeit. Diese kann zwar die Befriedigungschancen der Gläubiger ebenso beeinträchtigen wie der Ab___________ 2369) BGH, v. 18.11.2014 – II ZR 231/13, ZIP 2015, 71; dazu Altmeppen, ZIP 2015, 949; ders., NZG 2016, 521; Gehrlein, ZInsO 2015, 477, 482; Theiselmann/Verhoeven, DB 2015, 671; Bitter, ZIP 2016, S006; Habersack/Foerster, ZGR 2016, 153, 171. 2370) Vgl. zuletzt BGH, v. 11.2.2020 – II ZR 427/18, ZIP 2020, 666 (Rn. 31) zur Berücksichtigung von Rückflüssen aufgrund Insolvenzanfechtung. 2371) Gegen eine Berücksichtigung von Gegenleistungen, die vor der haftungsbegründenden Zahlung erfolgt sind, spricht sich das OLG München, v. 22.6.2017 – 23 U 3769/16, ZIP 2017, 1368, 1370 f. aus; dem folgt auch Berbuer, NZI 2018, 919, 924; für eine Berücksichtigung etwa Baumert, NZG 2016, 379, 380 f. 2372) BGH, v. 4.7.2017 – II ZR 319/15, ZIP 2017, 1619. 2373) Vgl. nur gegen einen zeitlichen Zusammenhang Kordes, NZG 2017, 1140, 1141 und dafür MünchKomm-GmbHG/H.-F. Müller, § 64 Rn. 149 f. 2374) BGH, Urt. v. 27.10.2020 – II ZR 355/18, ZIP 2020, 2453; dazu Gehrlein, NZG 2021, 59 und kritisch Altmeppen, ZIP 2021, 1.

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fluss von Mitteln. Eine derartige Auslegung der Zahlungsverbote würde aber die Wortlautgrenze übersteigen.2375) c) Haftungsausschlüsse aa) Fehlende Erkennbarkeit des Insolvenzgrundes Das Verschulden des Geschäftsleiters, der nach Eintritt der Insolvenzreife 1507 eine Zahlung veranlasst, wird widerlegbar vermutet (vgl. § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG).2376) Diese Vermutung korreliert mit den laufenden Kontroll- und Überwachungspflichten des Geschäftsleiters. Auch ohne konkrete Krisenanzeichen muss der Geschäftsleiter ein Risikomanagementsystem einrichten, um Entwicklungen, die den Fortbestand des Unternehmens gefährden, frühzeitig erkennen zu können.2377) In der Krise des Unternehmens intensivieren sich diese Pflichten, der Geschäftsleiter muss vor dem Hintergrund einer möglichen Insolvenzantragspflicht die vorhandenen Mittel und Verbindlichkeiten der Gesellschaft stets im Blick behalten. Unter strengen Voraussetzungen kann sich der insoweit beweisbelastete Ge- 1508 schäftsleiter durch fehlende Erkennbarkeit des Insolvenzgrundes exkulpieren. Der Verweis auf unvollständige oder fehlerhafte Geschäftsunterlagen genügt den Anforderungen nicht. Die Exkulpation gelingt regelmäßig nur, wenn der Geschäftsleiter – mangels eigener Sachkunde – fachkundige Beratung durch Wirtschaftsprüfer, Rechtsanwälte oder Steuerberater nachweisen kann und deren Einschätzung einer Plausibilitätsprüfung standhält.2378) Dies ist nur der Fall, wenn sich der Geschäftsleiter unter umfassender Darstellung der Verhältnisse der Gesellschaft und Offenlegung der erforderlichen Unterlagen von einem unabhängigen, für die Insolvenzprüfung fachlich qualifizierten Berufsträger beraten lässt.2379) Der Geschäftsführer genügt seinen Pflichten nicht schon dadurch, dass er einen entsprechenden Prüfungsauftrag unverzüglich erteilt, vielmehr muss er auch auf eine unverzügliche Vorlage des Prüfungsergebnisses hinwirken.2380) Die Erfüllung der sich aus § 64 GmbHG ergebenden Pflichten obliegt allen 1509 Geschäftsführern einer GmbH persönlich und kann nicht im Wege der Geschäftsverteilung auf einen einzelnen Geschäftsführer übertragen werden. Ein arbeitsteiliges Handeln bzw. eine Ressortverteilung auf der Ebene der Geschäftsführung ist jedoch nicht ausgeschlossen. Die Aufgabenzuweisung muss klar und eindeutig sein, aber nicht notwendig schriftlich dokumentiert ___________ 2375) BGH, v. 30.3.1998 – II ZR 146/96, ZIP 1998, 776. 2376) BGH, v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, ZIP 2019, 261 (Rn. 12); BGH, v. 24.9.2019 – II ZR 248/17, ZInsO 2020, 141 (Rn. 20 f.). 2377) Vgl. zur AG MünchKomm-AktG/Spindler, § 91 Rn. 87. 2378) BGH, v. 14.5.2007 – II ZR 48/06, ZIP 2007, 1265. 2379) BGH, v. 28.2.2012 – II ZR 244/10, ZIP 2012, 867. 2380) BGH, v. 27.3.2012 – II ZR 171/10, ZInsO 2012, 1177.

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werden.2381) Die Aufgabenverteilung entbindet denjenigen, dem hiernach nur bestimmte andere Aufgaben zur Erledigung zugewiesen sind, allerdings nicht von seiner eigenen Verantwortung für die ordnungsgemäße Führung der Geschäfte der Gesellschaft. Soweit es um die Wahrnehmung der nicht übertragbaren Aufgaben geht, ist ein strenger Maßstab an die Erfüllung der in einem solchen Falle besonders weitgehenden Kontroll- und Überwachungspflichten gegenüber einem Mitgeschäftsführer anzulegen. Sowohl die Vornahme konkreter Aufklärungsmaßnahmen erst zum Zeitpunkt der Krise als auch eine bloß jährliche Kontrolle der Geschäftszahlen genügt nicht. Vielmehr müssen sich ressortfremde Geschäftsleiter regelmäßig unterjährig durch gezieltes Nachfragen mit der wirtschaftlichen und finanziellen Lage der Gesellschaft beschäftigen und die Angaben plausibilisieren.2382) Für die Mitglieder des Vorstands einer AG kann insoweit nichts anderes gelten. bb) Erlaubte/privilegierte Zahlungen 1510 Mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsleiters vereinbare Zahlungen sind vom Zahlungsverbot ausgenommen (§ 15b Abs. 1 Satz 2 InsO, früher §§ 64 Satz 2 GmbHG a. F., 92 Abs. 2 Satz 2 AktG a. F., 130a Abs. 1 Satz 2 HGB a. F.). Der BGH versteht darunter Zahlungen, die im (wohlverstandenen) Interesse der Gläubigergesamtheit liegen und – aus ex ante-Sicht – mehr Vor- als Nachteile versprechen.2383) 1511 Der Gesetzgeber hat dies nun – teilweise abweichend von der Rechtsprechung – in § 15b Abs. 2 und 3 InsO konkretisiert. Demnach sind Zahlungen, die im ordnungsgemäßen Geschäftsgang erfolgen, vor Ablauf der Antragsfrist grundsätzlich privilegiert, während Zahlungen danach in der Regel nicht mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar sind (§ 15b Abs. 2, 3 InsO). Nach Antragstellung sind auch Zahlungen privilegiert, die mit Zustimmung eines vorläufigen Insolvenzverwalters erfolgen (§ 15b Abs. 2 Satz 3 InsO). 1512 Masseneutrale Zahlungen wurden in der Regel darunter gefasst, nach der neueren Rechtsprechung dürfte aber insoweit schon keine Zahlung aus dem Gesellschaftsvermögen vorliegen. Erlaubt ist auch die Bedienung von Aussonderungs- und Absonderungsrechten (häufig bei Kreditsicherheiten). Diese Mittel wären der Insolvenzmasse nach §§ 47 ff. InsO ohnehin entzogen. Die Gläubigergesamtheit wird also durch diese Zahlungen nicht schlechter gestellt. 1513 Zahlungen zur Erhaltung der Sanierungschancen können innerhalb der Dreiwochenfrist des § 15a Abs. 1 Satz 1 InsO ausnahmsweise erlaubt sein. Dabei handelt es sich um Zahlungen, die zur Aufrechterhaltung des Geschäftsbe___________ 2381) BGH, v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, ZIP 2019, 261 (Rn. 14 ff.); mit Anm. Peitsmeyer/ Klesse, NZG 2019, 501; Graewe/Pellens. BB 2019, 1478. 2382) Fleischer, DB 2019, 472, 478. 2383) BGH, v. 5.11.2007 – II ZR 262/06, ZIP 2008, 72.

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triebes notwendig sind, vor allem Miet- und Nebenkosten, Löhne, Steuern und (Sozial-)Abgaben fallen darunter. Auch diese Zahlungen unterliegen dem Zahlungsverbot, solange nicht eine konkrete Chance auf Sanierung und Fortführung in Insolvenzverfahren besteht.2384) Zum Nachweis2385) der noch vorhandenen Sanierungschancen bedarf es zumindest eines schlüssigen Sanierungskonzeptes. Über die konkreten Anforderungen an ein solches besteht jedoch (erhebliche) Unsicherheit. Jedenfalls zulässig sollen Zahlungen sein, die der Sorgfalt eines besonnenen vorläufigen Insolvenzverwalters entsprechen.2386) Die Problematik von „Pflichtenkollisionen“ bei Abführung von Steuern und 1514 Sozialabgaben, die teilweise strafrechtlich bewehrt ist (vgl. § 266a StGB), wird von der Rechtsprechung zunehmend zu Lasten der Zahlungsverbote gelöst.2387) Nunmehr gibt es eine ausdrückliche gesetzliche Regelung. Eine Verletzung steuerrechtlicher Zahlungspflichten liegt nach § 15b Abs. 8 Satz 1 InsO nicht vor, wenn zwischen dem Eintritt des Insolvenzrunds und der Entscheidung des Insolvenzgerichts über den Insolvenzantrag Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nicht oder nicht rechtzeitig erfüllt werden, sofern die Antragspflichtigen ihren Verpflichtungen nach § 15a InsO nachkommen.2388) Ob dies auch für sozialversicherungsrechtliche Pflichten gilt, ist streitig.2389) cc) § 2 Abs. 1 Nr. 1 COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz („COVInsAG“) Durch ein befristetes Sondergesetz angesichts der COVID-19-Pandemie war 1515 die Insolvenzantragspflicht zunächst bis zum 30.9.2020 ausgesetzt (§ 1 Abs. 1 COVInsAG).2390) Dies gilt nicht, wenn die Insolvenzreife nicht auf den Folgen der Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus (COVID-19-Pandemie) beruht oder wenn keine Aussichten darauf bestehen, eine bestehende Zahlungsunfähigkeit zu beseitigen. War der Schuldner am 31.12.2019 nicht zahlungsunfähig, wird vermutet, dass die Insolvenzreife auf den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie beruht und Aussichten darauf bestehen, eine bestehende Zahlungsunfähigkeit zu beseitigen.

___________ 2384) Zum Ausnahmecharakter des Sanierungsprivilegs BGH, v. 21.5.2019 – II ZR 337/17, ZIP 2019, 1719, 1721 (Rn. 18). 2385) Vgl. BGH, v. 5.2.2007 – II ZR 51/06 zur Beweislast des Geschäftsleiters. 2386) Roth/Altmeppen, GmbHG, § 64 Rn. 32, Scholz/K. Schmidt. GmbHG, § 64 Rn. 53; vgl. auch OLG Celle, v. 7.5.2008 – 9 U 191/07 mit dem Hinweis, dass Chancen für eine Sanierung und Veräußerung durch den Insolvenzverwalter nicht geschmälert werden dürfen; vgl auch unten Rn. 1614. 2387) Vgl. im Einzelnen Baumbach/Hueck/Haas, GmbHG, § 64 Rn. 74. 2388) Vgl. Schmittmann, ZInsO 2021, 211. 2389) Bitter, ZIP 2021, 321, 327 f.; a. A. Baumert, NZG 2021, 443, 449. Wenig beachtet wurde bisher die Frage des Verhältnisses der Zahlungsverbote zu den strafbewehrten Pflichten nach dem BauFordSiG, dazu soweit ersichtlich nur Heidland, ZInsO 2010, 737, 743 f. 2390) Vgl. dazu Gehrlein, DB 2020, 713, 718 f.; Hölzle/Schulenberg, ZIP 2020, 633; Thole, ZIP 2020, 650; Bitter, ZIP 2020, 685, 690; Tresselt/Kienast, COVuR 2020, 21.

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1516 Die Regelung wurde bis 31.12.2020 verlängert, allerdings war ab dem 1.10.2020 nur noch die Antragspflicht wegen Überschuldung ausgesetzt (§ 1 Abs. 2 COVInsAG).2391) Sodann wurde dieAussetzung der Antragspflicht bis zum 30.4.2021 verlängert, soweit im Zeitraum vom 1.11.2020 bis zum 28.2.2021 ein Antrag auf die Gewährung finanzieller Hilfeleistungen im Rahmen staatlicher Hilfsprogramme zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie gestellt worden ist (§ 1 Abs. 3 COVInsAG). 1517 Soweit nach § 1 COVInsAG die Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags ausgesetzt ist, gelten Zahlungen, die im ordnungsgemäßen Geschäftsgang erfolgen, insbesondere solche Zahlungen, die der Aufrechterhaltung oder Wiederaufnahme des Geschäftsbetriebes oder der Umsetzung eines Sanierungskonzepts dienen, als mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar (§ 2 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 COVInsAG).2392) d) Rechtsfolge 1518 Hat der Geschäftsleiter eine verbotene Zahlung trotz Erkennbarkeit eines Insolvenzgrundes geleistet, ist er zur Erstattung dieser Zahlung an die Gesellschaft2393) verpflichtet (§ 15b Abs. 4 Satz 1 InsO). Haften mehrere Geschäftsleiter für verbotene Zahlungen sind sie Gesamtschuldner. 1519 Nach der Rechtsprechung zur früheren Rechtslage war Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Zahlungsverbot die Pflicht zur Erstattung der Zahlung, nicht die Leistung von Schadensersatz.2394) Zu ersetzen sind nach Eintritt der Insolvenzreife erfolgte Zahlungen, auf die Berechnung eines „Insolvenzverschleppungsschadens“ kommt es nicht an. Dies sollte auch für den jüngeren § 130a Abs. 2 Satz 1 HGB a. F., der von Schadensersatz sprach, gelten. Weil es sich nicht um einen Schadensersatzanspruch handelt, finden auch die Grundsätze des rechtmäßigen Alternativverhaltens keine Anwendung.2395) Durch die Addition aller verbotenen Zahlungen konnte es zu Ersatzpflichten kommen, die den Schaden der Gesellschaft um ein Vielfaches übersteigen können. Dies wurde in der Literatur teilweise kritisiert.2396) 1520 Nach dem neuen Regelungskonzept begründet die einzelne verbotene Zahlung nur noch die Vermutung für einen Gesamtgläubigerschaden. Ist dieser ___________ 2391) Ganter, NZI 2020, 1017. 2392) Born, NZG 2020, 521, 526; Sämisch/Deichgräber/Quitzau, ZInsO 2020, 1234. 2393) § 64 Satz 1 GmbHG ist kein Schutzgesetz i. S. d. § 823 Abs. 2 BGB, daher besteht kein unmittelbarer Anspruch eines Gläubigers, vgl. BGH, v. 19.11.2019 – II ZR 233/18, ZIP 2020, 318; kritisch dazu Altmeppen, ZIP 2020, 937. 2394) St. Rspr., vgl. BGH, v. 8.1.2001 – II ZR 88/99, ZIP 2001, 235; BGH, v. 6.8.2019 – X ARZ 317/19, ZIP 2019, 1659 (Rn. 18); BGH, v. 21.5.2019 – II ZR 337/17, ZIP 2019, 1719; kritisch Altmeppen, ZIP 2020, 937. 2395) BGH, v. 11.2.2020 – II ZR 427/18, ZIP 2020, 666 (Rn. 18, 23); kritisch Altmeppen, ZIP 2020, 987. 2396) Vgl. K. Schmidt, ZIP 2005, 2177.

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geringer, beschränkt sich die Ersatzpflicht nach § 15b Abs. 4 S. 2 InsO auf den Ersatz dieses Schadens. Hierdurch wird vermieden, dass die Inanspruchnahme über dasjenige hinausgeht, was zur Erhaltung der Masse im Interesse der Gläubiger erforderlich ist.2397) Wie sich dies in der Praxis auswirkt, wird entscheidend davon abhängen, welche Anforderungen die Gerichte insoweit an die Darlegungslast des Geschäftsleiters stellen.2398) Ist die verbotene Auszahlung zugleich nach §§ 129 ff. InsO anfechtbar (sie- 1521 he Teil 4 C, Rn. 1637 ff.), hat der Insolvenzverwalter ein Wahlrecht. Er kann den Zahlungsempfänger als Anfechtungsgegner und den Geschäftsleiter nach seiner Wahl in Anspruch nehmen. Der Geschäftsleiter hat kein Leistungsverweigerungsrecht. Fließt die Zahlung aufgrund der Anfechtung tatsächlich an die Insolvenzmasse zurück, ist dies auf den Erstattungsanspruch gegen den Geschäftsleiter anzurechnen. Vor tatsächlicher Rückzahlung ist § 255 BGB entsprechend anzuwenden. Der Insolvenzverwalter kann den Erstattungsanspruch nur Zug-um-Zug gegen Abtretung des Rückzahlungsanspruches nach §§ 143, 129 ff. InsO geltend machen.2399) Begleitend ist der Insolvenzverwalter zur Auskunft über möglicherweise anfechtbare Zahlungen verpflichtet (siehe unten Rn. 1561). Da der durch die verbotene Zahlung vorweg befriedigte Gläubiger im Insol- 1522 venzverfahren seine Quote erhalten hätte, entsprach der zu ersetzende Nachteil der Gläubigergesamtheit nicht der zu erstattenden Zahlung. Es wäre zu einer Bereicherung der Masse. Zum Ausgleich konnte der Geschäftsleiter gegen die Masse eine Insolvenzforderung in gleicher Höhe und im gleichen Rang wie die verbotenerweise beglichene Forderung geltend machen.2400) Diese Konstruktion ist nach Aufassung des Gesetzgebers wegen § 15b Abs. 4 Satz 2 InsO fortan entbehrlich. Der Anspruch wird von vornherein entsprechend gekürzt. e) Haftung von Mitgliedern des Aufsichtsrats Die Überwachungspflicht des Aufsichtsrats schließt die Pflicht ein, Ver- 1523 stöße gegen das Zahlungsverbot zu verhindern. Insoweit kommt auch eine Haftung eines Aufsichtsratsmitglieds in Betracht (vgl. nunmehr den Verweis auf § 15b InsO in § 116 Satz 1 AktG, der wegen Streichung § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG a. F. erforderlich wurde). Für einen fakultativen Aufsichtsrat einer ___________ 2397) Vgl. Gehrlein, DB 2020, 2393. 2398) Bitter, ZIP 2021, 321, 329; Baumert, NZG 2021, 443, 447 f. 2399) BGH, v. 8.1.2001 – II ZR 88/99, ZIP 2001, 235, 238 ff.; a. A. Poertzgen, ZInsO 2018, 1357, 1359 ff., der sich für eine Anspruchskürzung analog § 254 BGB für den Fall, dass der Insolvenzverwalter ohne sachlichen Grund die Geltendmachung eines begründeten Anfechtungsanspruchs unterlässt, sowie für eine Angleichung der Verjährungfrist ausspricht. 2400) BGH, v. 8.1.2001 – II ZR 88/99, ZIP 2001, 235, 238 ff. Vgl. Grigoleit/Grigoleit/ Tomasic, AktG, § 92 Rn. 37.

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GmbH gilt allerdings die Einschränkung, dass die in § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG enthaltene Modifikation des Schadensbegriffs nicht gilt. Die Mitglieder des fakultativen Aufsichtsrats sind deshalb nur dann ersatzpflichtig, wenn durch die Zahlung ausnahmsweise ein eigener Schaden der Gesellschaft entstanden ist.2401) Daran ist wohl auch nach neuer Rechtslage festzuhalten.2402) f) Internationale und örtliche Zuständigkeit am Sitz der Gesellschaft; anwendbares Recht 1524 Nach Art. 6 Abs. 1 EuInsVO 2015 sind für auf die Zahlungsverbote gestützte Klagen die Gerichte des Mitgliedsstaats international ausschließlich2403) zuständig, in dem das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Gesellschaft eröffnet wurde.2404) Eine örtliche Zuständigkeit besteht nach § 29 ZPO (auch) am Sitz der Gesellschaft, da der Anspruch auf der organschaftlichen Sonderbeziehung beruht und am Sitz der Gesellschaft zu erfüllen ist.2405) Da § 64 Satz 1 und 2 GmbHG a. F. vom EuGH als insolvenzrechtliches Gläubigerschutzinstrumentarium angesehen wurden, richtete sich das anwendbare Recht nach dem Insolvenzstatut des Art. 7 Abs. 1, 2 EuInsVO; es gilt also das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung.2406) Dies gilt erst recht unter der neuen Rechtslage. 2. Haftung wegen verspäteter Antragstellung 1525 Daneben besteht eine Haftung für verspätete Insolvenzantragstellung nach §§ 823 Abs. 2 BGB i. V. m. 15a InsO (Insolvenzverschleppungshaftung). Nach § 15a Abs. 1 Satz 1 InsO sind die Geschäftsleiter bei Vorliegen von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung zur Stellung des Insolvenzantrages verpflichtet (zum Verhältnis Insolvenzantragspflicht und Weisung des Gesellschafters, siehe oben Teil 2 C, Rn. 769). Der Insolvenzantrag ist innerhalb einer Höchstfrist von drei bzw. sechs Wochen („spätestens“) zu stellen. So sollen kurzfristige Sanierungsmöglichkeiten erhalten bleiben. Diese Höchstfrist darf jedoch nicht voll ausgeschöpft werden, wenn keine ernsthaften Sanierungschancen mehr bestehen. Soweit die Insolvenzantragspflicht nach § 1 COVInsAG ausgesetzt ist, scheidet auch eine Verschleppungshaftung aus.2407) ___________ 2401) BGH, v. 20.9.2010 – II ZR 78/09, ZIP 2010, 1988 (Doberlug); dazu K. Schmidt, GmbHR 2010, 1319; OLG Hamburg, v. 6.3.2015 – 11 U 222/13, ZIP 2015, 867. 2402) Bitter, ZIP 2021, 321, 332; a. A. Baumert, NZG 2021, 443, 448. 2403) EuGH, v. 14.11.2018 – C-296/17, ZIP 2018, 2327. 2404) Vgl. auch Erwägungsgrund 35; zur früheren im Ergebnis entsprechenden Rechtslage, vgl. EuGH, v. 4.12.2014 – C-295/13, ZIP 2015, 196, 197 ff. (Rn. 24 ff.) und LG Darmstadt, Vorlagebeschl. v. 15.5.2013 – 15 O 29/12, NZI 2013, 712. 2405) BGH, v. 6.8.2019 – X ARZ 317/19, ZIP 2019, 1659 (Rn. 14 ff.); so auch OLG München, 18.5.2017 – 34 AR 80/17, ZIP 2018, 100. 2406) EuGH, v. 10.12.2015 – C-594/14, NJW 2016, 223 m. Anm. Mock, IPrax 2016, 237; BGH, v. 15.3.2016 – II ZR 119/14, ZInsO 2016, 847. 2407) Bitter, ZIP 2020, 685, 687; eingehend Gehrlein, DB 2020, 713, 717 f.

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Da mit der Insolvenzantragspflicht auch die weitere Teilnahme der insolven- 1526 ten Gesellschaft am Geschäftsverkehr verhindert werden soll, können Gläubiger, die mit der insolventen Gesellschaft in Geschäftsbeziehung stehen, ihre Schäden, die sie durch die verspätete Antragstellung erleiden, vom Geschäftsleiter ersetzt verlangen.2408) Dabei ist zwischen Alt- und Neugläubigern zu differenzieren: Altgläubiger sind solche, die bereits vor Eintritt der Insolvenzreife Forderungen gegen die Gesellschaft hatten. Ihr Schaden besteht in dem Quotenschaden, also der Verschlechterung der Insolvenzquote gegenüber der Quote, die bei rechtzeitiger Insolvenzantragstellung erzielbar gewesen wäre. Neugläubiger2409) sind dagegen erst mit der bereits insolventen Gesellschaft Geschäftsbeziehungen eingegangen.2410) Sie haben Anspruch auf Ersatz des negativen Interesses, da sie bei rechtzeitiger Insolvenzantragstellung nicht in Rechtsbeziehungen mit der Gesellschaft getreten wären. Hier kann der in voller Höhe ersatzpflichtige Geschäftsleiter im Gegenzug verlangen, dass ihm gegen Leistung von Schadensersatz Zug um Zug die Insolvenzforderung gegen die Gesellschaft analog § 255 BGB abgetreten wird, da es ansonsten zu einer Bereicherung des Neugläubigers käme. Der Quotenschaden der Altgläubiger ist als Gesamtschaden vom Insolvenz- 1527 verwalter geltend zu machen (§ 92 InsO). In der Praxis kommt die Inanspruchnahme der Geschäftsleiter auf Ersatz der Quotenschäden der Altgläubiger kaum vor, da die fiktive Quote bei rechtzeitiger Antragstellung trotz der prozessualen Schätzmöglichkeit nach § 287 ZPO nur schwer darlegbar ist. Die Neugläubiger können hingegen ihre Forderungen selbst in voller Höhe gegen die Geschäftsleiter geltend machen.2411) Nach der Rechtsprechung des II. Senats besteht keine Binnenhaftung für den Verschleppungsschaden gegenüber der Gesellschaft.2412) Der Geschäftsleiter hat bereits für eine fahrlässig unterlassene Antragstel- 1528 lung einzustehen. Entlasten kann sich der Geschäftsleiter durch den Nachweis fehlender Erkennbarkeit des Insolvenzgrundes. Es gilt entsprechend das oben zum Zahlungsverbot Ausgeführte. ___________ 2408) Ob daneben auch eine Organinnenhaftung besteht, ist streitig, vgl. dazu und den damit einhergehenden Friktionen eingehend Meixner, ZInsO 2019, 1826, 1829 ff. 2409) BGH, v. 19.11.2019 – II ZR 53/18, NZI 2020, 167; BGH, v. 17.12.2020 – IX ZR 21/19, ZIP 2021, 205. 2410) Für einen weiten Schutzbereich des § 15a InsO, der nicht nur Neugläubiger, sondern auch Neugesellschafter sowie Zweiterwerber von Fremdkapitalpositionen (also Übernehmer bestehender Forderungen gegen die Gesellschaft) nach Eintritt der Insolvenzreife erfasst: Schirrmacher/Schneider, ZIP 2018, 2463. 2411) MünchKomm-InsO/Klöhn, § 15a Rn. 158, 256; Bitter, ZInsO 2018, 625, 647 ff.; für eine einheitliche Innenhaftung, Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, AktG, § 92 Rn. 45 f. 2412) BGH, v. 30.3.1998 – II ZR 146/96, ZIP 1998, 776. Vgl. dagegen zur Haftung von Steuerberatern gegenüber der Gesellschaft auf den Verschleppungsschaden BGH, v. 6.6.2013 – IX ZR 204/12, ZIP 2013, 1332; BGH, v. 26.1.2017 – IX ZR 285/14, ZIP 2017, 427; kritisch dazu Meixner, DStR 2018, 966 ff., und 1025 ff.; Brügge, VersR 2018, 705 ff.

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3. Haftung wegen Insolvenzverursachung 1529 Mit der sog. Insolvenzverursachungshaftung (§ 15b Abs. 5 InsO, früher §§ 64 Satz 3 GmbHG a. F., 92 Abs. 2 Satz 3 AktG a. F.) wird das Zahlungsverbot zeitlich vorverlagert. Zahlungen an Gesellschafter sind nicht erst ab Eintritt der Insolvenzreife erstattungspflichtig, sondern bereits, wenn sie zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen müssen. Im Genossenschaftsrecht gilt dies nicht (§ 15b Abs. 5 Satz 2 InsO). Dies entspricht der bisherigen Rechtslage. 1530 Zeigen sich aufgrund der laufenden Kontroll- und Überwachungspflichten des Geschäftsleiters Anhaltspunkte dafür, dass der Gesellschaft die Zahlungsunfähigkeit droht, hat der Geschäftsleiter Zahlungen an den Gesellschafter dahingehend zu überprüfen, ob diese die Zahlungsunfähigkeit auslösen muss. 1531 Erfasst sind alle Zahlungen aus dem Gesellschaftsvermögen an einen Gesellschafter, die zu einem Abfluss des Gesellschaftsvermögens führen. Gegenleistungen des Gesellschafters sind jedoch zu berücksichtigen. Erhält die Gesellschaft einen gleichwertigen (liquide verwertbaren) Vermögensgegenstand, ist eine Insolvenzverursachungshaftung ausgeschlossen. Die Zahlung muss die Zahlungsunfähigkeit kausal herbeigeführt haben. Hierfür bedarf es eines engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhangs, der aus praktischen Erwägungen heraus kaum länger als ein Jahr sein dürfte.2413) 1532 Auch Zahlungen auf fällige Forderungen des Gesellschafters können – zumindest theoretisch – die Insolvenzverursachungshaftung auslösen. Der praktische Anwendungsbereich dürfte jedoch gering sein.2414) Solange die Gesellschaft noch zahlungsfähig ist, kann die Zahlung auf eine fällige Verbindlichkeit kaum die Zahlungsunfähigkeit herbeiführen, da mit der vorhandenen Liquidität die Höhe der fälligen Verbindlichkeiten in gleichem Maße abnimmt. Ist die Gesellschaft dagegen bereits zahlungsunfähig, kann die Zahlung an den Gesellschafter nicht mehr zur Zahlungsunfähigkeit führen. In letztem Fall fällt die Zahlung nicht in den Anwendungsbereich des § 64 Satz 3 GmbHG a. F.,2415) sie wäre aber vom Zahlungsverbot des § 64 Satz 1 GmbHG a. F. erfasst.2416) Nach neuerer Rechtsprechung des BGH erfasst die Haftung aber auch Fälle, bei denen die Geschäftsführer auf eine fällige und durchsetzbare Forderung eines Gesellschafters zahlen, und dadurch mittelbar eine Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft herbeiführen. Diese kann eintreten, wenn externe Kreditgeber eigene Darlehen an das Belassen der Gesell___________ 2413) Vgl. Henssler/Strohn/Arnold, GmbHG § 64 Rn. 58. 2414) Grigoleit/Grigoleit/Tomasic, AktG, § 92 Rn. 54 sieht die relevante Funktion in den haftungsverschärfenden Rahmenbedingungen (Schadensvermutung und Liquiditätsentzug als Schaden). 2415) BGH, v. 9.10.2012 – II ZR 298/11, ZIP 2012, 2391 (Rn. 7). 2416) Nolting-Hauff/Greulich, GmbHR 2013, 169, 173.

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schafterfinanzierung knüpfen und bei Zahlung ihrerseits Kreditrückführung verlangen und so die Grundlage für das Finanzierungskonzept der Gesellschaft zerschlagen wird.2417) 4. Neue Haftungstatbestand nach dem StaRUG Im Kontext des neuen Restrukturierungsrahmens nach dem StaRUG gelten 1533 besondere Pflichten, deren Verletzung eine Haftung der Geschäftsleiter begründen kann. Dies kann im vorliegenden Zusammenhang nur angerissen werden, weil eine eingehende Darstellung des StaRUG den Rahmen des vorliegenden Sammelwerks sprengen würde.2418) Der Schuldner betreibt die Restrukturierungssache mit der Sorgfalt eines or- 1534 dentlichen und gewissenhaften Sanierungsgeschäftsführers und wahrt dabei die Interessen der Gesamtheit der Gläubiger (§ 32 Abs. 1 StaRUG). § 43 StaRUG macht diese Pflicht zu einer Pflicht der Geschäftsleiter, für deren Verletzung sie dem Schuldner in Höhe des den Gläubigern entstandenen Schadens haften, es sei denn sie haben die Pflichtverletzung nicht zu vertreten. Während der Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache ruht die Insolvenz- 1535 antragspflicht und wird durch eine Anzeigepflicht ersetzt (§ 42 StaRUG). Die Verletzung der Anzeigepflicht ist strafbar, woraus sich i. V. m. § 823 Abs. 2 BGB auch eine Haftung ergeben kann.2419) 5. Haftung wegen Verletzung nicht insolvenzbezogener Pflichten Über die zentralen Organhaftungsnormen § 43 Abs. 2, 3 GmbHG und § 93 1536 Abs. 2 AktG sowie das allgemeine Deliktsrecht (§§ 823 Abs. 1, 2, 826 BGB) haften Geschäftsleiter auch für nicht insolvenzbezogene Pflichtverletzungen. In der Insolvenz kann die Inanspruchnahme des Organmitglieds so auch auf Sachverhalte und Rechtshandlungen gestützt werden, die deutlich vor der Krise des Unternehmens stattgefunden haben. Dieses Risiko wird durch die objektive Verjährungsfrist von fünf Jahren, die im Dezember 2010 für börsennotierte Aktiengesellschaften (§ 93 Abs. 6 AktG) und Banken auf zehn Jahre verlängert wurde, noch erheblich vergrößert. Zu den allgemeinen Haftungsvoraussetzungen kann auf das entsprechende 1537 Kapitel in diesem Handbuch zur AG und GmbH verwiesen werden (Teil 2 B, Rn. 682 ff. und C, Rn. 757 ff.). ___________ 2417) BGH, v. 9.10.2012 – II ZR 298/11, ZIP 2012, 2391, 2392 (Rn. 13); siehe auch: NoltingHauff/Greulich, GmbHR 2013, 169, 173 f.; kritisch: Haas, NZG 2013, 41, 43. 2418) Vgl. zum Ganzen eingehend: Tresselt/Glöckler, NWB Sanieren 3/2021 und Teil 2 ebendort demnächst, insbesondere auch zur richtlinienkonformen Auslegung und zu „Vorwirkungen“ der §§ 32, 43 StaRUG; Bitter, ZIP 2021, 321, 332 ff.; Kuntz, ZIP 2021, 597; Scholz, ZIP 2021, 219; Kranzfelder/Ressmann, ZInsO 2021, 191. 2419) Bitter, ZIP 2021, 321, 333.

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1538 Die Insolvenz von Arcandor zeigt, welche Haftungsrisiken sich daraus ergeben können. Der Insolvenzverwalter verfolgt Haftungsansprüche gegen frühere Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats, die sich aus verschiedensten, teilweise Jahre zurückliegenden Sachverhalten ergeben sollen.2420) Die Sachverhalte liegen teilweise länger als fünf Jahre vor der Insolvenz. Um einer Verjährung zu entgehen, stützt sich der Insolvenzverwalter auf verschiedenste Ansätze. Soweit Ansprüche gegen frühere Organmitglieder verjährt sind, wird z. B. versucht, Ansprüche gegen spätere Organmitglieder wegen der Nichtverfolgung von Ersatzansprüchen entgegen den ARAG/GarmenbeckGrundsätzen2421) geltend zu machen.2422) III. Praktische und taktische Überlegungen 1539 Die praktischen und taktischen Überlegungen bei der Geltendmachung von Organhaftungsansprüchen in der Insolvenz bzw. der Verteidigung dagegen hängen von der Perspektive der beteiligten Parteien ab: der Insolvenzverwalter auf der einen und die Organe bzw. der D&O-Versicherer auf der anderen Seite. 1. Perspektive des Insolvenzverwalters a) Ermittlung der Hintergründe der Insolvenz 1540 Im Insolvenzverfahren muss sich der Insolvenzverwalter zunächst einen Überblick über das Unternehmen verschaffen. Ihm stehen dafür umfassende Einsichtsrechte in Geschäftsunterlagen und Auskunftsrechte gegen die Geschäftsleiter zu (§§ 22 Abs. 3, 97, 101 Abs. 1 InsO). Weitere Informationen kann der Insolvenzverwalter durch Einsichtnahme in Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft (§ 475 StPO)2423) oder Steuerakten des Finanzamtes2424) erlangen. 1541 Das Insolvenzverfahren wird nur eröffnet, wenn im Eröffnungszeitpunkt ein Insolvenzgrund vorliegt (§ 16 InsO). Für die Verfolgung von Ansprüchen gegen Organmitglieder und von Anfechtungsansprüchen gegen Dritte ist hingegen relevant, wie lange vor dem Antrag Zahlungsunfähigkeit oder Über-

___________ 2420) LG Essen, v. 9.9.2013 – 44 O 164/10; dazu Fleischer/Bauer, ZIP 2015, 1901. 2421) BGH, v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, ZIP 1997, 883 (ARAG/Garmenbeck). 2422) LG Essen, v. 24.4.2012 – 41 O 45/10, ZIP 2012, 2061. 2423) OLG Köln, v. 16.10.2014 – 2 Ws 396/14, ZInsO 2014, 2501; dazu, ob ein Insolvenzverwalter Verletzter i. S. d. § 406e StPO ist, vgl. OLG Jena, v. 27.6.2011 – 1 Ws 237/11, ZIP 2012, 484. 2424) BFH, v. 19.3.2013 – II R 17/11, ZIP 2013, 1133: zwar sieht die Abgabenordnung (AO) kein Einsichtsrecht vor, das Finanzamt kann aber dem Steuerpflichtigen, dessen Rechte und Pflichten der Insolvenzverwalter nach §§ 80 Abs. 1 InsO, 34 Abs. 1, 3 AO übernimmt, im Verwaltungsverfahren nach pflichtgemäßem Ermessen Einsicht gewähren.

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schuldung vorlag.2425) Der Insolvenzverwalter kann zur Feststellung der Insolvenzgründe auf die Unterlagen der Buchhaltung und der Finanzplanung zurückgreifen, die er beim Unternehmen vorfindet. Im Idealfall lässt sich daraus ein Liquiditätsstatus bzw. ein Überschuldungsstatus für verschiedene Zeitpunkte in der Vergangenheit, ggf. mit sachverständiger Hilfe, rekonstruieren. Bei kleineren Unternehmen ist allerdings teilweise zu beobachten, dass in der 1542 Krise des Unternehmens die Verlässlichkeit der Buchhaltung und der Dokumentation von Geschäftsvorgängen abnimmt. Dann gewinnt der indirekte Beweis für das Vorliegen von Insolvenzgründen an Bedeutung. Zentral sind die Forderungsanmeldungen der Gläubiger. Ergeben sich daraus erhebliche Forderungen, die seit einiger Zeit vor dem Insolvenzantrag fällig waren, ergibt sich daraus ein gewichtiges Indiz für eine Zahlungsunfähigkeit. Mahnungen, Zahlungsaufforderungen, Vollstreckungsversuche deuten auf eine Zahlungseinstellung hin. b) Prüfung der Inanspruchnahme von (ehemaligen) Organen Bei der Prüfung stehen die typischen insolvenzbezogenen Pflichtverletzun- 1543 gen, insbesondere Verstöße gegen das Zahlungsverbot, in der Regel im Vordergrund.2426) Die Insolvenz kann auch Anlass sein, ältere Vorgänge aufzuarbeiten, wenn sich Hinweise auf Pflichtverletzungen und mögliche Ansprüche der Gesellschaft ergeben. Zwar reicht es (zunächst) aus, wenn der Insolvenzverwalter die einzelnen 1544 Zahlungen und ihren Grund vorträgt. Bei der Auswahl der verbotenen Zahlungen, deren Erstattung der Insolvenzverwalter geltend macht, sollten jedoch zu erwartende Verteidigungslinien (insbesondere eine mögliche Gegenleistung für die Zahlung) im Auge behalten werden. Auch die Durchsetzbarkeit eines Anspruchs muss bereits im Vorfeld der 1545 Klageerhebung geprüft werden, da die persönliche Leistungsfähigkeit der Geschäftsleiter in der Regel begrenzt sein dürfte. Die Deckung des Schadensfalls durch eine D&O-Versicherung ist dann entscheidend. Da die D&OVersicherung von der Gesellschaft abgeschlossen wird, lässt sich die Deckung anhand der Unternehmensunterlagen prüfen. Nach dem claims-made sind in der Regel alle Schadensfälle, aus denen in einer Versicherungsperiode Ansprüche geltend gemacht werden, unabhängig davon gedeckt, wann die schadensbegründende Pflichtverletzung erfolgt ist. Um auch eine künftige Inanspruchnahme zu versichern, sollte der Insolvenzverwalter die D&O___________ 2425) Für die Anfechtung (unten Teil 4 C, Rn. 1637) ist wegen § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO auch der Eintritt einer drohenden Zahlungsunfähigkeit von großer Relevanz. 2426) Für eine Abkehr von der aktuell fast ausschließlich herangezogenen Haftung aufgrund von Verstößen gegen Zahlungsverbote und für ein haftungsrechtliches Instrumentarium aufgrund von Insolvenzverschleppung spricht sich K. Schmidt, ZHR 183 (2019), 2, 4 ff. aus.

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Versicherung ggf. verlängern oder auf ausreichend lange Nachhaftungsfristen hinwirken. In Anstellungsverträgen für Geschäftsleiter ist eine angemessene D&O-Versicherung oft vertraglich zugesichert. Nimmt der Insolvenzverwalter eine Verlängerung vertragswidrig nicht vor, kann der Geschäftsleiter mit eigenen Schadensersatzansprüchen aufrechnen.2427) 1546 Während früher allgemein angenommen wurde, dass Erstattungsansprüche wegen Verletzung des Zahlungsverbots durch eine D&O-Versicherung gedeckt sind, hatte das OLG Düsseldorf dies für den Anspruch aus § 64 GmbHG a. F.2428) unter Verweis darauf, dass es sich nicht um einen Schadensersatzanspruch, sondern um einen Anspruch eigener Art handele, abgelehnt.2429) Im Hinblick auf die dadurch entstandene Rechtsunsicherheit ist beim Neuabschluss von D&O-Versicherungen eine entsprechende Klarstellung zu empfehlen.2430) Der BGH hat dagegen jüngst entschieden, dass der Erstattunganspruch aus § 64 GmbHG a. F. ein gesetzlicher Haftpflichtanspruch auf Schadensersatz im Sinne der typischerweise verwendeten allgemeinen Versicherungsbedingungen ist und daher im konkreten Fall grundsätzlich vom D&O-Versicherungsschutz umfasst war.2431) Dies gilt erst recht für den neuen § 15b InsO. c) Vergleichsverhandlungen 1547 Organhaftungsansprüche werden oft durch Vergleich geregelt. 1548 Dem Insolvenzverwalter ist es zum einen an einem raschen Massezufluss gelegen. Ein streitiges Verfahren kann jedoch leicht mehrere Jahre dauern. Selbst nach dem Obsiegen ist die Zahlung mangels Direktanspruch gegen den Versicherer nicht gewährleistet. Wendet die Versicherung einen Deckungsausschluss (Deckungshöchstgrenze erreicht, Vorsatzausschluss, etc.) ein und lässt es auf einen Deckungsprozess ankommen, kann der Insolvenzverwalter mangels Leistungsfähigkeit des Geschäftsleiters häufig nicht in voller Höhe vollstrecken. Auch der D&O-Versicherung ist meist an einem Vergleichsschluss gelegen. In der Praxis greifen vollständige Deckungsausschlüsse ___________ 2427) Eine Haftung des Insolvenzverwalters nach § 60 InsO wegen Nichtfortführung einer D&O-Versicherung lehnt der BGH ab, BGH, v. 14.4.2016 – IX ZR 161/15, ZIP 2016, 1126. 2428) Etwas anderes gilt hingegen wegen des klaren Gesetzestextes für den Anspruch aus §§ 92 Abs. 2 Satz 1, 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG, vgl. MünchKomm-AktG/Spindler, § 93 Rn. 251. 2429) OLG Düsseldorf, Urt. v. 20.7.2018 – I-4 U 93/16, ZIP 2018, 1542 – nach Rücknahme der Nichtzulassungsbeschwerde rechtskräftig; ebenso OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2020 – 4 U 134/18, ZIP 2020, 2018; zuvor schon ähnlich in einem Beschluss nach § 91a ZPO OLG Celle, v. 1.4.2016 – 8 W 20/16, BeckRS 2016, 125428; dazu Jaschinski/Wentz, GmbHR 2018, 1289, 1295; kritisch Armbrüster/Schilbach, ZIP 2018, 1853 und Möhrle, AG 2019, 243, 245 f.; Altmeppen, ZIP 2020, 937. 2430) Vgl. Tresselt, in: A. Schmidt, Sanierungsrecht, S. 66 ff. 2431) BGH, Urt. v. 18.11.2020 – IV ZR 217/19, ZIP 2020, 2510.

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selten durch. Eine Vergleichssumme bleibt in der Regel deutlich unter der Deckungshöchstsumme. In der Vergleichsvereinbarung sind die Besonderheiten des Anspruchs auf 1549 Erstattung verbotener Zahlungen zu berücksichtigen. Leistet der Geschäftsleiter eine Erstattung an die Gesellschaft für verbotene Zahlungen, so erhält er eine Insolvenzforderung in gleicher Höhe, mit der er an der Verteilung teilnimmt.2432) Erstattet die D&O-Versicherung den Betrag, ist im Vergleich zu klären, wem diese Insolvenzforderung zustehen soll. Ist eine endgültige Abgeltung der Ansprüche gewollt, kann z. B. die voraussichtliche Quote wirtschaftlich in der Vergleichshöhe berücksichtigt und zugleich eine spätere Rückerstattung ausgeschlossen werden. Im Einzelfall bestehen für Vergleiche Zustimmungserfordernisse. Beabsich- 1550 tigt der Insolvenzverwalter einen Vergleich mit erheblichem Streitwert zu schließen, muss er die Zustimmung des Gläubigerausschusses bzw. sekundär der Gläubigerversammlung einholen (§ 160 Abs. 2 Nr. 3 InsO). Gelingt ein Vergleichsschluss nicht, gelten die Zustimmungserfordernisse auch für die Klageerhebung. Starre Grenzen für erhebliche Streitwerte gibt es nicht. Maßgeblich ist die verfügbare Insolvenzmasse.2433) Beispielsweise kommt es darauf an, ob ein Prozess ohne nennenswerte Massereduzierung finanziert werden kann. Bei Verstoß gegen das Zustimmungserfordernis des § 160 InsO bleiben Vergleich bzw. Klageerhebung wirksam. Der Insolvenzverwalter setzt sich wegen pflichtwidrigen Handelns aber möglicherweise einer Haftung nach § 60 Abs. 1 InsO aus, sollte sich sein Verhalten für die Masse als nachteilig erweisen. 2. Perspektive des Organs/der D&O-Versicherung a) Haftungsvermeidung im Vorfeld In den vergangenen Jahren haben die Kontroll- und Überwachungspflichten 1551 des Geschäftsleiters an Stellenwert gewonnen. Mit ihnen sind die generellen Anforderungen an Geschäftsleiter gestiegen. aa) Umgang mit Krisenanzeichen Bei Vorliegen von Krisenanzeichen (z. B. erhebliche Verluste, mittelfristig 1552 negative Ertragslage, bilanzielle Unterdeckung, etc.) müssen die Geschäftsleiter die finanzielle Situation der Gesellschaft laufend im Blick behalten und sicherstellen, dass sie den Tatbestand einer Zahlungsunfähigkeit oder Über-

___________ 2432) Vgl. unten Rn. 1664. 2433) Vgl. Uhlenbruck/Zipperer, InsO, § 160 Rn. 27.

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schuldung rechtzeitig erkennen, um die rechtlich gebotenen Konsequenzen daraus zu ziehen.2434) 1553 Eine positive Fortführungsprognose schließt als solche eine Überschuldung aus. Mit fortgeschrittener Krise wird die dafür erforderliche Liquiditätsprognose jedoch unsicherer. In jedem Fall muss der Geschäftsleiter Prognosegrundlagen und -ergebnis umfassend dokumentieren, um später einen Entlastungsbeweis führen zu können.2435) Wenn die Fortführungsprognose negativ ausfällt, ist ein Überschuldungsstatus nach Liquidationswerten zu erstellen und zu dokumentieren. 1554 In der Praxis stützen sich Insolvenzverwalter bei der Geltendmachung von Ansprüchen auf Erstattung verbotener Zahlungen allerdings eher auf eine Zahlungsunfähigkeit. Streit darüber, wann Zahlungsunfähigkeit eingetreten ist, entsteht meist durch Unklarheiten auf der Passivseite, während sich die verfügbaren liquiden Mittel meist relativ einfach feststellen lassen. Die Buchhaltung spiegelt die rechtliche Fälligkeit der Forderungen nicht immer richtig wieder. In der Praxis ist bei Liquiditätsengpässen zudem oft zu beobachten, dass Gläubiger aufgrund mündlicher Zusage demnächst zu erwartender Zahlung faktisch stillhalten, oft in dem Wissen, dass sie bei Vollstreckungsmaßnahmen oder Stellen eines Gläubigerantrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht besser stünden. Hier liegt ein großes Haftungsrisiko für Organmitglieder. Im Streitfall dürfte schwer nachweisbar sein, dass die Forderung vom Gläubiger stillschweigend gestundet bzw. im insolvenzrechtlichen Sinne nicht (mehr) ernsthaft eingefordert wurde. Eine schriftliche Dokumentation zumindest in Form eines E-Mail-Wechsels empfiehlt sich. 1555 Zeichnet sich ein Insolvenzgrund ab, darf der Geschäftsleiter die eingeräumte Maximalfrist des § 15a Abs. 1 Satz 1 InsO von drei bzw. sechs Wochen nicht ohne weiteres voll ausnutzen. An die Sanierungsbemühungen werden hohe Anforderungen gestellt. Hierzu bedarf es regelmäßig eines Sanierungsgutachtens, welches mit der Rechtsprechung des BGH in Einklang steht. bb) Sanierungsbemühungen zur Abwehr des Insolvenzgrundes 1556 Während der Sanierungsbemühungen gilt es ausreichend liquide Finanzmittel zur Begleichung fälliger Verbindlichkeiten bereitzuhalten. Mit Erreichen eines fortgeschrittenen Krisenstadiums reduzieren Banken häufig die verfügbare Kreditlinie, Lieferanten leisten nur gegen Vorkasse. Zusätzliche Finanzmittel können durch Gesellschafterdarlehen oder durch den kurzfristigen Verkauf von Vermögen zufließen.

___________ 2434) Vgl. allgemein zu Selbstschutzmaßnahmen des Geschäftsführers einer kriselnden GmbH Lange, GmbHR 2015, 1009, 1133, 1254. 2435) Tresselt, in: A. Schmidt, Sanierungsrecht, S. 37.

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Liegen Anzeichen einer Krise oder gar eines Insolvenzgrundes vor, ist rasche 1557 Unterstützung durch Wirtschaftsprüfer und spezialisierte Rechtsanwälte geboten, die ggf. innerhalb weniger Wochen eine Aussage zum Zustand des Unternehmens treffen können. Der Geschäftsleiter muss dabei auf eine rasche Bearbeitung und eine unverzügliche Vorlage der Prüfungsergebnisse hinwirken. Die unverzügliche Auftragserteilung genügt nicht.2436) Der Geschäftsleiter darf auch nicht ohne weiteres das Ergebnis der Prüfung abwarten. Er muss auch während der laufenden Überprüfung anderen Hinweisen auf Insolvenzgründe nachgehen und ggf. Insolvenzantrag stellen.2437) b) Verhalten nach Geltendmachung von Organhaftungsansprüchen aa) Beschaffung von Informationen und Auskünften Mit seinem Ausscheiden verliert ein Geschäftsleiter den unmittelbaren Zu- 1558 griff auf die Unterlagen der Gesellschaft. Die Mitnahme von Unterlagen oder einer elektronischen Kopie von Daten des Unternehmens ist regelmäßig ausgeschlossen. Bei der Abwehr organhaftungsrechtlicher Ansprüche trägt der Geschäftsleiter hinsichtlich zahlreicher entlastender Umstände die Beweislast (mangelnde Erkennbarkeit des Insolvenzgrundes, Rechtfertigung einer Zahlung, etc.). Zu diesem Zweck stehen dem Geschäftsleiter Auskunftsund Einsichtsrechte zu. Der Umfang dieser Rechte ist im Einzelnen umstritten. Generell muss der Geschäftsleiter die zur Verteidigung erforderlichen Unterlagen erhalten.2438) Wie die Erforderlichkeit zu bestimmen ist, hat der BGH offengelassen. Die Auffassungen in der Literatur betonen ebenfalls den Gedanken der Erforderlichkeit, unterscheiden sich jedoch im Detail. Nach einer Ansicht umfasst das Einsichtsrecht alle Unterlagen, die erforderlich sind, um darzulegen und zu beweisen, dass mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsleiters gehandelt wurde.2439) Andere Stimmen in der Literatur werten solche Unterlagen als erforderlich, die für die Beurteilung einzelner Tatbestandsvoraussetzungen des streitgegenständlichen Anspruchs relevant sein können.2440) Eine strengere Ansicht verlangt unter Verweis auf die Reichweite der Beweislastumkehr, dass nur diejenigen Unterlagen vom Einsichtsrecht erfasst werden, die die Frage klären, ob die Grenzen der Sorgfalt eines ___________ 2436) BGH, v. 27.3.2012 – II ZR 171/10, ZIP 2012, 1174. 2437) Anders IDW-Standard S 11, ZInsO 2015, 1136, 1137 (Rn. 6): „dürfen sie das Ergebnis der Beurteilung abwarten“. Die als Referenz angeführte Entscheidung des BGH (Urt. v. 27.3.2012 – II ZR 171/10, ZIP 2012, 1174 [Rn. 19 f.]) trifft diese Aussage jedoch nicht. 2438) Vgl. BGH, v. 4.11.2002 – II ZR 224/00, ZIP 2002, 2314 (Rn. 9); BGH, v. 7.7.2008 – II ZR 71/07, ZIP 2008, 1821 (Rn. 5); Foerster, ZHR 2012, 221, 232 f. m. w. N.; Grooterhorst, AG 2011, 389 ff.; MünchKomm-AktG/Spindler, § 93 Rn. 212 m. w. N.; Spindler/StilzFleischer, AktG § 93 Rn. 224 m. w. N; diese Beweisproblematik besteht im selben Umfang für den Geschäftsführer einer GmbH: vgl. MünchKomm-GmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 90 m. w. N. 2439) Ulmer/Habersack/Löbbe/Paefgen, GmbHG, § 43 Rn. 211; Scholz/U. H. Schneider, GmbHG, § 43 Rn. 242 m. w. N. 2440) Deilmann/Otte, BB 2011, 1291, 1293.

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ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters eingehalten wurden.2441) Ein Anspruch auf Einsicht in interne Untersuchungsergebnisse oder Gutachten zur Aufarbeitung des Sachverhalts, die der Insolvenzverwalter nach dem Ausscheiden des Geschäftsleiters veranlasst hat, besteht nicht.2442) Stellt der Insolvenzverwalter zur Verteidigung notwendige Unterlagen nicht zur Verfügung, ist unklar, ob sich hierdurch die Darlegungs- und Beweislast zulasten des Insolvenzverwalters verschiebt: Nach einigen Stimmen im Schrifttum tritt eine Darlegungs- und Beweislastumkehr zulasten des Insolvenzverwalters ein.2443) Auf der anderen Seite des Spektrums steht die Ansicht, dass der Insolvenzverwalter lediglich die sekundäre Darlegungslast dafür trägt, dass eine Zahlung nicht mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsleiters vereinbar war.2444) Foerster vertritt eine vermittelnde Ansicht, nach der die Rechtsfolgen der §§ 427, 444 ZPO zur Anwendung kommen sollen, wenn der Insolvenzverwalter das Einsichtsrecht des Organs verletzt.2445) 1559 Anhand der erhaltenen Unterlagen gilt es insbesondere, masseneutrale Zahlungen und Stundungsvereinbarungen zu offengebliebenen Verbindlichkeiten zu ermitteln. 1560 Informationen zur Versicherungspolice muss der Geschäftsleiter ggf. vom Insolvenzverwalter erfragen. Das claims-made-Prinzip kann dazu führen, dass Pflichtverletzungen nicht abgedeckt sind, die während der Versicherungsperiode geschehen sind, aber erst nach Ende der Versicherungsdeckung geltend gemacht werden. Der Geschäftsleiter sollte sich deswegen eine Verlängerung der D&O-Versicherung oder Nachhaftungsfristen bis zur Verjährung von Schadensersatzansprüchen vertraglich zusichern lassen. 1561 Auf der anderen Seite ist der Geschäftsleiter dem Insolvenzverwalter zu umfangreichen Auskünften über die wirtschaftliche Lage des Unternehmens verpflichtet, §§ 101 Abs. 1, 97 InsO. Der Geschäftsleiter muss die Vermögensverhältnisse des Unternehmens aufklären und an der Prüfung von Forderungen und Verbindlichkeiten mitwirken. Ein Auskunftsverweigerungsrecht hat der Geschäftsleiter selbst dann nicht, wenn er sich dadurch der Gefahr aussetzt, eigene strafbare Handlungen zu offenbaren oder sich zivilrechtlichen Forderungen auszusetzen.2446) ___________ 2441) MünchKomm-AktG/Spindler, § 93 Rn. 212; K. Schmidt/Lutter/Krieger/Sailer-Coceani, AktG, § 93 Rn. 44 m. w. N.; Krieger, in: Festschrift U. H. Schneider, 2011, S. 717, 725 f. 2442) Detaillierter Überblick zum Informationsanspruch des Geschäftsleiters bei Krieger, in: Festschrift Schneider, 2011, S. 717 ff. 2443) Hölters/Hölters, AktG, § 93 Rn. 270; wohl auch MünchKomm-AktG/Spindler, § 93 Rn. 212. 2444) LG München I, v. 14.9.2007 – 14 HKO 1877/07, ZIP 2007, 1960; vgl. auch Krieger, in: Festschrift U. H. Schneider, S. 717, 734; ebenso wohl Meckbach, NZG 2015, 580, 583. 2445) Vgl. Foerster, ZHR 176 (2012), 221, 241 ff. 2446) BVerfG, v. 13.1.1981 – 1 BvR 116/77, ZIP 1981, 361.

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bb) Koordination der Abwehr von Organhaftungsansprüchen Werden – wie in der Regel – mehrere Geschäftsleiter (und ggf. Aufsichts- 1562 ratsmitglieder) in Anspruch genommen, stellt sich die Frage, wie die Abwehr untereinander und mit dem D&O-Versicherer koordiniert werden kann. Bei der Abwehr von Organhaftungsansprüchen sind die Interessen der beklagten Organmitglieder zumindest teilweise gleichlaufend (dazu ausführlich Teil 3 E, Rn. 1050 ff.). Es bietet sich daher eine sog. Sockelverteidigung an (siehe oben Rn. 1060). 1563 Gegenstand einer derartigen Sockelverteidigung bei insolvenzbezogenen Organhaftungsansprüchen kann z. B. die zentrale Frage sein, wann der Insolvenzgrund eingetreten ist. Die Sockelverteidigung wird oft vom D&O-Versicherer geleistet, der sich als Streithelfer (§ 66 ZPO) der beklagten Organmitglieder am Gerichtsverfahren beteiligt. Das erforderliche rechtliche Interesse ist wegen der Einstandspflicht des Versicherers ohne weiteres gegeben. Die Sockelverteidigung spart Kosten (soweit die Anwälte auf Stundenbasis abrechnen) und vermeidet widersprüchlichen Vortrag der einzelnen Organmitglieder zu demselben Sachverhalt durch ihre jeweils eigenen Anwälte. Hinsichtlich der individuellen Beteiligung der Organmitglieder und der 1564 subjektiven Voraussetzungen der Haftung dürften die Interessen jedoch oft divergieren. Insoweit ist ergänzender Vortrag zur Sockelverteidigung durch die individuellen Vertreter erforderlich. cc) Vergleichsverhandlungen mit D&O-Versicherern Häufig ist die D&O-Versicherung bei Vergleichsverhandlungen federfüh- 1565 rend, weil in der Regel nur von der Versicherung eine substantielle Zahlung erwartet werden kann. Sie verhandelt mit dem Insolvenzverwalter einen Haftungs- und mit den beklagten Geschäftsleitern einen Deckungsvergleich. Ungeachtet einer bestehenden D&O-Versicherung kann ein Vergleich auch 1566 bei einem Eigenbeitrag im Interesse des Organmitglieds sein. Wegen der Verteilung der Darlegungs- und Beweislast bleibt ein nicht unerhebliches Prozessrisiko. Im Falle einer Verurteilung ist auch bei vorhandener D&OVersicherung eine persönliche Inanspruchnahme nicht ausgeschlossen, nämlich dann, wenn die Deckungshöchstsumme überschritten oder die D&OVersicherung Einwände gegen die Deckung erhebt. Der Versicherer kann bei erheblicher Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung ebenfalls ein großes Interesse an einem Vergleich haben, wenn die Vergleichssumme unterhalb der Deckungshöchstsumme bleibt. Ob nach einer Verurteilung im Haftungsprozess im Deckungsprozess eine Einstandspflicht z. B. mit dem Einwand der wissentlichen Pflichtverletzung abgewendet werden kann, dürfte in der Regel schwer zu prognostizieren sein. Oft verlangen die D&O-Versicherungen im Zuge der Vergleichsverhandlun- 1567 gen einen Eigenbeitrag des Geschäftsleiters, auch wenn der Pflichtselbstbehalt nach § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG nicht eingreift. Luidger Röckrath

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1568 Die Höhe des Eigenbeitrags ist Verhandlungssache. Seit der Einführung des § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG ist für Vorstände von Aktiengesellschaften ein Pflichtselbstbehalt gesetzlich vorgeschrieben. Er beträgt mindestens 10 % des Schadens, höchstens jedoch das Eineinhalbfache der festen jährlichen Vergütung. Für Vergleiche ist der gesetzliche Selbstbehalt jedoch nicht bindend, da eine Pflichtverletzung nicht feststeht. Für GmbH-Geschäftsführer und Aufsichtsräte gibt es keinen gesetzlich vorgeschriebenen Selbstbehalt. B. Streitigkeiten im Bereich Kapitalerhaltung I. Rechtliche Grundlagen Ingo Theusinger/Christian Dolff

1569 Die §§ 62, 57 AktG und §§ 31, 30 GmbHG sollen das Kapital der AG bzw. GmbH vor einem unberechtigtem Zugriff durch die Gesellschafter schützen. Sie flankieren die Vorschriften zur Kapitalaufbringung mit dem Ziel, dass das einmal aufgebrachte (Garantie)Vermögen weder offen noch versteckt wieder an die Gesellschafter zurückfließt. Auch wenn die Reichweite des Schutzes dieser Normen unterschiedlich ist – in der GmbH ist lediglich das Stammkapital vor dem Zugriff der Gesellschafter geschützt, während in der AG das gesamte Vermögen geschützt ist –, bilden beide Normen grundlegende Prinzipien des deutschen Kapitalgesellschaftsrechts ab. Sie stehen in der Praxis bei Auseinandersetzungen um unzulässige Vermögensverschiebungen im Fokus und werden daher hier näher behandelt. 1570 Kommt es zu einer Verletzung der Kapitalerhaltungsvorschriften, ist regelmäßig auch eine Schadensersatzhaftung der Vorstandsmitglieder bzw. Geschäftsführer und Aufsichtsratsmitglieder denkbar. Deren haftungsrechtliche Verantwortlichkeit wird in diesem Kapitel allerdings nicht weiter beleuchtet.2447) 1. §§ 62, 57 AktG 1571 § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG verbietet jede Leistung der AG an die Aktionäre, wenn sie nicht aus dem Bilanzgewinn erfolgt oder ausnahmsweise gesetzlich zugelassen ist. Gem. § 62 Abs. 1 Satz 1 AktG sind gegen § 57 AktG verstoßende Leistungen zurückzugewähren. 1572 Unter den Begriff der Leistung fällt jede Vermögensverschiebung und grundsätzlich auch die Übertragung von Verbindlichkeiten des Aktionärs auf die Gesellschaft. Sie ist gem. § 57 Abs. 1 Satz 1 AktG unzulässig, wenn die Gesellschaft dafür keine angemessene Gegenleistung erhält.2448) Zur Konkretisierung der Angemessenheit können für einzelne Vermögensgegenstände etwaige Marktpreise oder bei Gegenständen des Anlagevermögens u. U. die ___________ 2447) Siehe dazu oben unter Teil 2 B. 2448) Hüffer/Koch, AktG, § 57 Rn. 8; dort ebenfalls zum Verhältnis zwischen „Drittvergleich“ und „Vollwertigkeit“; siehe hierzu auch bereits Kiefner/Theusinger, NZG 2008, 801, 806.

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Wiederbeschaffungswerte angesetzt werden.2449) Sind Unternehmen oder Unternehmensteile Gegenstand der Leistung an den Aktionär, so sind regelmäßig die herkömmlichen Bewertungsmethoden bei der Ermittlung der Angemessenheit der Gegenleistung heranzuziehen.2450) Besteht auf der Grundlage dieser Wertermittlung ein Missverhältnis, liegt eine Verletzung des § 57 AktG nahe, ist aber keineswegs zwingend. Stets ist das gesamte Geschäft in den Blick zu nehmen und zu beurteilen, ob anderweitige Vorteile, die unmittelbar mit dem Geschäft verbunden sind, ein etwaiges Missverhältnis ausgleichen können.2451) Auf subjektive Erwägungen des Vorstands, der beispielsweise Leistung und Gegenleistung irrig für ausgeglichen hält, kommt es nach heute herrschender Meinung hingegen nicht an.2452) Diese Grundsätze gelten unabhängig davon, ob die Leistung offen oder ver- 1573 deckt erfolgt.2453) In der Praxis finden sich verdeckte Zuwendungen allerdings deutlich häufiger. Dabei wird versucht, die Zuwendung an den Aktionär durch andere Geschäfte zu verschleiern. Als eine Form der Verschleierung lassen sich Leistungen durch und an Dritte 1574 verstehen. Der Wortlaut des § 57 AktG spricht zwar lediglich von Leistungen an Aktionäre. Sein Sinn und Zweck gebietet aber eine weite Auslegung, erforderlich ist eine wirtschaftliche Betrachtung. Erfasst sind daher sowohl das Handeln Dritter für Rechnung oder auf Veranlassung der AG sowie Leistungen an einen Dritten, die entweder im Hinblick auf seine frühere oder künftige Aktionärseigenschaft erfolgen oder dem Aktionär zuzurechnen sind.2454) Letzteres ist beispielsweise dann der Fall, wenn Leistungen an eine Gesellschaft erfolgen, deren Alleingesellschafter der Aktionär ist, oder Leistungen von dortan den Aktionär weitergeleitet werden.

___________ 2449) MünchKomm-AktG/Bayer, § 57 Rn. 51 ff.; Böckmann, in: Mehrbrey, § 6 Rn. 342; BeckOGK AktG/Cahn/v. Spannenberg, § 57 Rn. 21 ff.; Hüffer/Koch, AktG, § 57 Rn. 10; Bürgers/Körber/Westermann, AktG, § 57 Rn. 14. 2450) MünchKomm-AktG/Bayer, § 57 Rn. 61, 130; Hüffer/Koch, AktG, § 57 Rn. 10; weitergehend BeckOGK AktG/Cahn/v. Spannenberg, § 57 Rn. 24. 2451) Vgl. BeckOGK AktG/Cahn/v. Spannenberg, § 57 Rn. 23. 2452) Für die GmbH: BGH, v. 1.12.1986 – II ZR 306/85, NJW 1987, 1194; BGH, v. 13.11.1995 – II ZR 113/94, NJW 1996, 589 = ZIP 1996, 68; für die AG: OLG Koblenz, 5.4.2007 – 6 U 342/04, AG 2007, 408; MünchKomm-AktG/Bayer, § 57 Rn. 66; Böckmann, in: Mehrbrey, § 6 Rn. 343; Hüffer/Koch, AktG, § 57 Rn. 11 m. w. N. zur Gegenansicht. 2453) MünchKomm-AktG/Bayer, § 57 Rn. 47; Böckmann, in: Mehrbrey, § 6 Rn. 342; BeckOGK AktG/Cahn/v. Spannenberg, § 57 Rn. 16; Hüffer/Koch, AktG, § 57 Rn. 7 f.; Bürgers/Körber/Westermann, AktG, § 57 Rn. 14. 2454) MünchKomm-AktG/Bayer, § 57 Rn. 112 ff.; Böckmann, in: Mehrbrey, § 6 Rn. 343 f.; Hüffer/Koch, AktG, § 57 Rn. 17 ff.; Bürgers/Körber/Westermann, AktG, § 57 Rn. 8. Eingehend zu Konstellationen unter Einbeziehung Dritter BeckOGK AktG/Cahn/v. Spannenberg, § 57 Rn. 59 ff.

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1575 Vom Verbot nicht erfasst sind die Zahlung des Kaufpreises beim zulässigen Erwerb eigener Aktien (§ 57 Abs. 1 Satz 2 AktG),2455) Leistungen die bei Bestehen eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrags erfolgen2456) und Leistungen, die durch einen vollwertigen Gegenleistungs- oder Rückgewähranspruch gedeckt sind (§ 57 Abs. 1 Satz 3 AktG). Ebenfalls nicht tatbestandlich sind Zahlungen auf Aktionärsdarlehen (§ 57 Abs. 1 Satz 4 AktG). In der Praxis wirft insbesondere die Gewährung von Darlehen durch die Gesellschaft Fragen auf, die unter Rn. 1588 ff. im Überblick behandelt werden. 1576 Verstößt eine Leistung gegen § 57 AktG, ist sie gem. § 62 Abs. 1 AktG zurückzugewähren. Bei verbotswidrigen Leistungen an Dritte ist insoweit zu unterscheiden: Steht der Dritte einem Aktionär gleich, richtet sich der Anspruch in analoger Anwendung des § 62 AktG unmittelbar gegen ihn, andernfalls gegen den Aktionär.2457) Der Rückgewähranspruch gem. § 62 Abs. 1 AktG verjährt gem. § 62 Abs. 3 Satz 1 AktG in zehn Jahren seit Empfang der Leistung. Gem. § 62 Abs. 3 Satz 2 AktG gilt § 54 Abs. 4 Satz 2 AktG entsprechend, so dass Verjährung im Falle der Insolvenz nicht vor Ablauf von sechs Monaten ab Eröffnung des Verfahrens eintritt. 2. §§ 31, 30 GmbHG 1577 Gem. § 30 Abs. 1 GmbHG darf das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Gesellschaftsvermögen nicht an die Gesellschafter ausgezahlt werden. Die Geschäftsführer dürfen also keine Leistungen an oder zu Gunsten von Gesellschaftern erbringen, wenn und soweit eine Unterdeckung besteht oder dadurch herbeigeführt oder vertieft wird.2458) 1578 Eine Unterdeckung liegt vor, wenn das Aktivvermögen der Gesellschaft abzüglich der Summe aller Verbindlichkeiten einschließlich Rückstellungen, aber ohne Rücklagen, in seinem rechnerischen Wert unter die Ziffer des Stammkapitals sinkt.2459)

___________ 2455) Verstößt der derivative Erwerb eigener Aktien also gegen die §§ 71, 71a – e AktG, stellt die Zahlung des Erwerbspreises grundsätzlich eine unzulässige Einlagenrückgewähr dar. 2456) Erfolgen gegen § 57 AktG verstoßende Leistungen im Rahmen eines faktischen Konzerns, verdrängen Ansprüche aus §§ 311, 317 AktG die Ansprüche aus § 62 AktG bis zum Ende des Geschäftsjahres, weil die herrschende Gesellschaft die Möglichkeit hat, diese Nachteile auszugleichen. 2457) MünchKomm-AktG/Bayer, § 62 Rn. 18; BeckOGK AktG/Cahn, § 62 Rn. 15; Hüffer/Koch, AktG, § 62 Rn. 5; Bürgers/Körber/Westermann, AktG, § 62 Rn. 5 f. 2458) Liese, in: Hauschka, § 7 Rn. 136. Siehe auch eingehend zum Ganzen: Sernetz/Kruis, Kapitalaufbringung und -erhaltung in der GmbH. Grundlegend: Schmolke, Kapitalerhaltung in der GmbH nach dem MoMiG, 2009. 2459) Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 30 Rn. 10; MünchKomm-GmbHG/Ekkenga, § 30 Rn. 196; Baumbach/Hueck/Fastrich, GmbHG, § 30 Rn. 19; Michalski/Heidinger, GmbHG, § 30 Rn. 27; MünchHdb. GesR Bd. 7/Wiegand-Schneider, § 37, Rn. 120. Beispiel nach Liese, in: Hauschka, § 7 Rn. 137.

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Beispiel: Eine GmbH hat ein Stammkapital von EUR 100.000,00. Im Geschäftsjahr 2016 stehen dem Aktivvermögen (ausschließlich Rücklagen) in Höhe von EUR 250.000,00 Verbindlichkeiten in Höhe von EUR 260.000,00 gegenüber. Die Gesellschaft weist eine Unterbilanz in Höhe von EUR 10.000,00 auf. Auszahlungen an Gesellschafter sind erst nach Beseitigung der Unterbilanz wieder zulässig. Der Begriff der Zahlung in § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG wird – wie bei § 57 1579 AktG – weit ausgelegt. Er ist nicht auf Geldleistungen beschränkt, sondern erfasst Leistungen aller Art, denen keine gleichwertige Gegenleistung gegenübersteht und die bei wirtschaftlicher Betrachtung das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Gesellschaftsvermögen verringern.2460) Auch bei der Ermittlung der Angemessenheit der Gegenleistung gelten ähn- 1580 liche Grundsätze wie bei § 57 AktG. Die Gegenleistung ist grundsätzlich angemessen, wenn sie dem Verkehrswert, d. h. dem Marktwert, des Vermögensgegenstandes entspricht. Besteht ein Missverhältnis, liegt eine Verletzung des § 30 GmbH nahe; allerdings ist zu bedenken, dass stets das gesamte Geschäft betrachtet werden muss und daher auch in unmittelbarem Zusammenhang gewährte Vorteile in die Betrachtung einfließen. Auch § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG erfasst aufgrund seines Schutzzwecks unter 1581 bestimmten Voraussetzungen Leistungen der Gesellschaft an Dritte. Dabei ist zu unterscheiden: Leistungen an Dritte, die im wirtschaftlichen Ergebnis unmittelbar dem Gesellschafter zu Gute kommen, fallen unter § 30 GmbHG.2461) Differenzierter sind die Fälle zu beurteilen, in denen die Leistung unmittelbar an einen Dritten erbracht wird und auch diesem zu Gute kommt. In solchen Situationen ist zu ermitteln, ob zwischen dem Dritten und dem Gesellschafter ein Näheverhältnis besteht, das eine Zurechnung der Leistung an den Gesellschafter rechtfertigt.2462) Der Schutz des § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG greift nicht ein, wenn Leistungen 1582 bei Bestehen eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags erfolgen oder durch einen vollwertigen Gegenleistungs- oder Rückgewähranspruch gegen den Gesellschafter gedeckt sind, § 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG. Verstößt eine Leistung gegen § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG, steht der Gesell- 1583 schaft ein Rückgewähranspruch gem. § 31 Abs. 1 GmbHG zu. Dieser Anspruch richtet sich grundsätzlich gegen den Gesellschafter. Umstritten und ___________ 2460) Aufgrund des vergleichbaren Schutzzwecks beider Normen können die vorstehend zu § 57 AktG entwickelten Kriterien auch zur Auslegung der §§ 31, 30 GmbHG herangezogen werden. 2461) Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 30 Rn. 31 f.; MünchKomm-GmbHG/Ekkenga, § 30 Rn. 170 ff.; Baumbach/Hueck/Fastrich, GmbHG, § 30 Rn. 25; Michalski/Heidinger, GmbHG, § 30 Rn. 109; Leistikow, in: Mehrbrey, § 17 Rn. 75. 2462) Siehe hierzu ausführlich MünchKomm-GmbHG/Ekkenga, § 30 Rn. 170 ff.

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noch nicht höchstrichterlich geklärt ist hingegen, wer passivlegitimiert ist, wenn die Leistung an einen Dritten erfolgt, der dem Gesellschafter zuzurechnen ist.2463) Ferner ist der konkrete Inhalt des Anspruchs zu klären, der seinerseits vom Inhalt des betroffenen Leistungsaustauschs abhängt: Grundsätzlich kann die Gesellschaft Wiederauffüllung des Gesellschaftsvermögens verlangen. Dies kann durch Rückgewähr des übertragenen Gegenstandes oder durch Wertersatz erfolgen. Der konkrete Inhalt des Rückgewähranspruchs ist unproblematisch zu bestimmen bei Geldleistungen oder der Erbringung von Dienstleistungen. Sie können nur in Geld zurückgewährt werden. Bei Erwerbsgeschäften, die gegen § 30 GmbHG verstoßen, kommen dagegen zwei Lösungen in Betracht: Wertersatz oder Rückabwicklung des Erwerbsgeschäfts. Rechtsprechung und herrschende Lehre halten grundsätzlich die Rückgewähr in natura, bei Austauschgeschäften also deren Rückabwicklung für erforderlich.2464) Der vorstehend erläuterte Rückgewähranspruch nach § 31 Abs. 1 GmbHG ist begrenzt auf den Teil der Leistung, der verbotswidrig erfolgte. Beispiel: Eine GmbH verfügte vor einer Auszahlung in Höhe von EUR 100.000,00 an einen Gesellschafter über ungebundenes Vermögen in Höhe von EUR 50.000,00. Der Anspruch aus § 31 Abs. 1 GmbHG besteht lediglich in Höhe von EUR 50.000,00. Dies schließt allerdings nicht aus, dass die übrigen EUR 50.000,00 nach anderen Anspruchsgrundlagen zurückgefordert werden können. 1584 Der Anspruch ist zugleich nicht beschränkt auf die Höhe der Stammkapitalziffer. Der Rückforderungsanspruch kann die Stammkapitalziffer beispielsweise dann überschreiten, wenn die Gesellschaft vor der Auszahlung bereits bilanziell überschuldet war. Stets ist der Rückgewähranspruch aber begrenzt auf die Höhe des dem Gesellschafter zugeflossenen Vermögens.2465) Andernfalls bestünde eine Nachschusspflicht, die dem GmbH-Gesetz fremd ist. Im Übrigen hat der BGH unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung2466) inzwischen entschieden, dass der Rückgewähranspruch selbst dann bestehen bleibt, wenn die Unterbilanz nachträglich entfällt, weil das Stammkapital anderweitig aufgefüllt wurde.2467) 1585 Der Gesellschafter kann sich gegen den Anspruch insbesondere mit dem Einwand verteidigen, er habe sich in gutem Glauben befunden, § 31 Abs. 2 GmbHG. Gutgläubig in diesem Sinne handelt, wer die Umstände, die zur ___________ 2463) Vgl. Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 30 Rn. 51 ff.; MünchKomm-GmbHG/ Ekkenga, § 31 Rn. 28 ff.; Baumbach/Hueck/Fastrich, GmbHG, § 31 Rn. 9 ff.; Michalski/ Heidinger, GmbHG, § 31 Rn. 22 ff. 2464) Siehe hierzu ausführlich MünchKomm-GmbHG/Ekkenga, § 31 Rn. 3 ff. 2465) Lutter/Hommelhoff/Hommelhoff, GmbHG, § 31 Rn. 9. 2466) BGH, v. 11.5.1987 – II ZR 226/86, NJW 1988, 139 = ZIP 1987, 1113. 2467) BGH, v. 29.5.2000 – II ZR 118/98, BGHZ 144, 136 = ZIP 2000, 1251; BGH, v. 18.6.2007 – II ZR 86/06, BGHZ 173, 1 = ZIP 2007, 1705.

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kapitalschutzrechtlichen Unzulässigkeit des Vorgangs führen, weder kennt noch grob fahrlässig kennen musste.2468) Maßgeblicher Zeitpunkt für den „guten Glauben“ ist der Empfang der Leistung.2469) Der Einwand, in gutem Glauben gehandelt zu haben, greift allerdings dann nicht durch, wenn die Rückerstattung zur Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger erforderlich ist, § 31 Abs. 2 GmbHG. Ist die Erstattung vom Empfänger nicht zu erlangen, haften die übrigen Gesellschafter im Verhältnis ihrer Gesellschaftsanteile solidarisch, soweit der Betrag zur Befriedigung der Gläubigerinteressen erforderlich ist, § 31 Abs. 3 GmbHG. Ansprüche gem. § 31 Abs. 1 GmbHG verjähren innerhalb von zehn Jahren, 1586 Ansprüche gem. § 31 Abs. 3 GmbHG binnen fünf Jahren, § 31 Abs. 5 GmbHG. Die Verjährung beginnt mit dem Ablauf des Tages, an dem die verbotswidrige Zahlung geleistet wurde, § 31 Abs. 5 Satz 2 GmbHG. Gem. § 31 Abs. 5 Satz 3 GmbHG gilt § 19 Abs. 6 Satz 4 GmbHG entsprechend, so dass Verjährung im Falle der Insolvenz nicht vor Ablauf von sechs Monaten ab Eröffnung des Verfahrens eintritt. II. Typische Fallgestaltungen Die Fälle, in denen es zu Verstößen gegen die Kapitalerhaltungsvorschriften 1587 kommt, ähneln sich bei AG und GmbH. Stets ist allerdings zu bedenken, dass die Kapitalerhaltung in der GmbH nicht so streng ist wie in der AG, da aus dem ungebundenen Vermögen der GmbH Leistungen an den Gesellschafter ohne angemessene Gegenleistung abfließen dürfen. Bei der Darlehensgewährung an Gesellschafter, beispielsweise beim Cash-Pooling, und mit ihr zusammenhängenden Leistungen, wie der Stellung von Sicherheiten, sowie bei Leistungsbeziehungen zwischen Gesellschaft und Gesellschafter stellen sich mit Blick auf die Kapitalerhaltung im Ergebnis sowohl in der AG als auch in der GmbH dieselben Fragen (dazu unter Rn. 1588 ff.). Besonderheiten der Konzernierung werden ebenfalls kurz beleuchtet (ebenfalls unter Rn. 1599 ff.).2470) Schließlich folgt ein kurzer Überblick über Fallgestaltungen bei der AG, insbesondere den Abkauf von Anfechtungsklagen sowie die Übernahme des Prospekthaftungsrisikos. Sie runden den Überblick über typische Fälle, in denen die Kapitalerhaltung in der Praxis relevant wird, ab (dazu unter Rn. 1610 ff.).

___________ 2468) Roth/Altmeppen/Altmeppen, GmbHG, § 31 Rn. 22; MünchKomm-GmbHG/Ekkenga, § 31 Rn. 43 f.; Baumbach/Hueck/Fastrich, GmbHG, § 31 Rn. 18a; Michalski/Heidinger, GmbHG, § 31 Rn. 47; Leistikow, in: Mehrbrey, § 17 Rn. 77. 2469) MünchKomm-GmbHG/Ekkenga, § 31 Rn. 46.; Baumbach/Hueck/Fastrich, GmbHG, § 31 Rn. 18a; Michalski/Heidinger, GmbHG, § 31 Rn. 54. MünchHdb. GesR Bd. 7/ Wiegand-Schneider, § 37 Rn. 154. 2470) Fragen der allgemeinen Sorgfaltspflicht werden an dieser Stelle ausgeblendet.

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1. Darlehen an Gesellschafter a) Darlehen 1588 Darlehensvergaben an Aktionäre bzw. an Gesellschafter einer GmbH sind an weitgehend identischen Kriterien zu messen, insbesondere der Kapitalerhaltung und der Einhaltung der allgemeinen Sorgfaltspflichten. Bei der Entscheidung über das Ob der Kreditvergabe sind Geschäftsführer der GmbH jedoch anders als Vorstände einer AG weisungsgebunden. 1589 Zahlreiche Einzelheiten sind umstritten, folgende Leitlinien lassen sich allerdings aus Rechtsprechung und Literatur herausarbeiten:2471) aa) Grundsätzliche Zulässigkeit 1590 Die GmbH darf Darlehen aus ihrem ungebundenen Vermögen ausreichen, wenn dabei die allgemeinen Sorgfaltspflichten eingehalten werden. Sog. „limitation languages” sind noch immer der sicherste Weg, einen Verstoß gegen Kapitalerhaltungsvorschriften zu verhindern. 1591 Darlehen aus dem gebundenen Vermögen einer GmbH und Darlehen einer AG an ihre jeweiligen Gesellschafter sind generell zulässig, wenn sie durch einen vollwertigen Rückgewähranspruch gedeckt sind (§§ 57 Abs. 1 Satz 3 Alt. 2 AktG; 30 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 GmbHG).2472) Bei der Darlehensvergabe ist der Rückzahlungsanspruch vom Zinsanspruch als Gegenleistungsanspruch zu unterscheiden. bb) Vollwertigkeit des Rückzahlungsanspruchs; Verzinsung 1592 Der Darlehensrückzahlungsanspruch muss vollwertig, die Bonität des Schuldners also so beschaffen sein, dass er seine Gesamtverbindlichkeiten unter Einschluss derjenigen aus dem jeweiligen Neudarlehen decken kann. Die Vollwertigkeit fehlt dagegen, wenn ein konkretes Ausfallrisiko besteht.2473) 1593 Eine Besicherung eines an sich vollwertigen Rückzahlungsanspruchs ist nicht erforderlich.2474) Jedoch kann die Besicherung eine fehlende Vollwertigkeit des Rückzahlungsanspruchs ausgleichen. Aufgrund der Trennung zwischen Rückzahlungs- und Zinsanspruch kann eine erhöhte Verzinsung allerdings keine Vollwertigkeit herstellen. 1594 Ein konkretes Ausfallrisiko ist anhand der Umstände des Einzelfalls von einem noch zu tolerierenden Risiko abzugrenzen. Gute Gründe sprechen dafür, ein konkretes Ausfallrisiko auszuschließen, wenn der Schuldner über ein In___________ 2471) Vgl. den umfassenden Überblick bei Mülbert/Sajnovits, WM 2015, 2345. Siehe auch schon zum Folgenden: Theusinger/Czernicky, CCZ 2009, 146, 154 ff. 2472) BGH, v. 31.5.2011 – II ZR 141/09, NJW 2011, 2719 = ZIP 2011, 1306 – Telekom III. 2473) BGH, v. 1.12.2008 – II ZR 102/07, BGHZ 179, 71 = ZIP 2009, 70 – MPS. 2474) BGH, v. 1.12.2008 – II ZR 102/07, BGHZ 179, 71 = ZIP 2009, 70 – MPS.

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vestment Grade-Rating verfügt.2475) Da aber viele unterschiedliche Faktoren die Darlehensgewährung an einen Gesellschafter bestimmen können, sollte ein konkretes Ausfallrisikos nicht nur an Hand der Bewertung von Ratingagenturen, sondern auch anders ermittelt werden, beispielsweise durch CashFlow-Betrachtungen des Schuldners. Entscheidend ist eine realistische Mittelplanung, die eine belastbare Grundlage für die Prognose bietet. Der Zinsanspruch muss regelmäßig, zumindest bei Darlehen mit Laufzeit 1595 von mehr als einem Jahr, marktüblich sein.2476) Dies ergibt sich aus dem Deckungsgebot und auch aus den allgemeinen Sorgfaltspflichten. Eine nicht marktübliche Verzinsung kann unter Umständen durch andere Vorteile ausgeglichen werden, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Darlehensgewährung stehen. cc) Maßgeblicher Zeitpunkt Vollwertigkeit und Deckung müssen bei Ausreichung des Darlehens (falls 1596 abweichend: auch im Moment des Vertragsschlusses) gegeben sein, nachträgliche Verschlechterungen sind für die Beurteilung unbeachtlich.2477) dd) Geschäftsleiterpflichten Der Geschäftsleiter muss beurteilen, ob der Rückzahlungsanspruch gegen 1597 den Gesellschafter bei Ausreichung des Darlehens vollwertig und die Verzinsung marktüblich ist. Dabei steht dem Geschäftsleiter ein Beurteilungsspielraum zu.2478) Zudem muss er sorgfältig prüfen, ob die Ausreichung des Darlehens im Unternehmenswohl erfolgt. Dies kann bspw. dann ausscheiden, wenn die Gesellschaft auf die abfließende Liquidität angewiesen ist. Außerdem muss der Geschäftsleiter während der Laufzeit des Darlehens lau- 1598 fend etwaige Änderungen des Kreditrisikos überprüfen und auf Verschlechterungen durch Anforderung von Sicherheiten oder Kündigung reagieren.2479) Im Darlehensvertrag sollten daher regelmäßig entsprechende Einsichts- und Informationsrechte hinsichtlich der für die Bestimmung der Vollwertigkeit relevanten Kennzahlen vorgesehen und Mechanismen einer etwaigen späteren Sicherheitenbestellung vorgezeichnet werden. ___________ 2475) Ausführlich zum Rating Mülbert/Sajnovits, WM 2015, 2345, 2348. 2476) Str., zum Streitstand Mülbert/Sajnovits, WM 2015, 2345, 2349 f. 2477) BGH, v. 1.12.2008 – II ZR 102/07, BGHZ 179, 71 = ZIP 2009, 70 – MPS; siehe auch MünchKomm-GmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 287; Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 496. 2478) Mülbert/Sajnovits, WM 2015, 2345, 2346. Zur Frage, ob die business judgment rule eingreifen kann Mülbert/Sajnovits, WM 2015, 2345, 2353 ff. 2479) BGH, v. 1.12.2008 – II ZR 102/07, BGHZ 179, 71 = ZIP 2009, 70 – MPS; ausführlich; MünchKomm-GmbHG/Fleischer, § 43 Rn. 287; Michalski/Ziemons, GmbHG, § 43 Rn. 497.

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b) Insbesondere: Konzern-Konstellationen aa) Faktischer Konzern 1599 Im faktischen AG-Konzern richtet sich die Praxis der Kreditvergabe nach § 57 AktG. Vollwertigkeit und Deckung des Darlehensrückzahlungsanspruchs orientieren sich an den soeben dargestellten Kriterien.2480) Daneben sind auch im faktischen Konzern die allgemeinen Sorgfaltspflichten sowie die Regeln zum Schutz der abhängigen Gesellschaft (§§ 311 ff. AktG) zu beachten. Allerdings wird die Auslegung der §§ 311 ff. AktG bei der Ausreichung von Darlehen an Gesellschafter durch § 57 AktG bestimmt. 1600 Insoweit gelten folgende Grundsätze: Reicht die abhängige AG ein unbesichertes Darlehen an das herrschende Unternehmen aus und ist der Rückzahlungsanspruch vollwertig, liegt darin kein Nachteil i. S. d. § 311 AktG. Eine Besicherung ist dann ebenfalls nicht erforderlich.2481) Bleibt die Verzinsung hinter dem Marktüblichen zurück, so liegt darin ggf. ein (gesondert zu prüfender) Verstoß gegen das für Gegenleistungsansprüche geltende Deckungsgebot. Der Nachteil kann in der Differenz der tatsächlichen zur marktüblichen Verzinsung liegen. 1601 Ist der Rückzahlungsanspruch nicht vollwertig (konkretes Ausfallrisiko und keine Besicherung), ist die Übernahme dieses konkreten Ausfallrisikos ein nach dem MPS-Urteil nicht ausgleichsfähiger Nachteil.2482) 1602 Für die GmbH gelten grundsätzlich §§ 30, 31 GmbHG und nicht §§ 311 ff. AktG analog. Flankiert und unter Umständen sogar verschärft werden können diese Regeln durch das aus der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht abgeleitete Schädigungsverbot. bb) Besonderheiten im Vertragskonzern 1603 Besteht ein Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrag besteht der Kapitalschutz in der vorstehend skizzierten Form nicht, § 57 Abs. 1 Satz 3 Alt. 1 AktG, § 30 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 GmbHG. Die Gesellschaften sind – so der Gedanke – in solchen Fällen hinreichend durch das Vertragskonzernrecht, insbesondere den Verlustausgleichsanspruch, geschützt. Allerdings dürfen die Geschäftsleiter der abhängigen Gesellschaft nur rechtmäßige nachteilige Weisungen befolgen. Als Grenze gilt nach überwiegender Auffassung der Schutz der Lebensfähigkeit der Gesellschaft (Stichwort: Existenzvernich-

___________ 2480) Zusammenfassung der Ausführungen des MPS-Urteils (BGH, v. 1.12.2008 – II ZR 102/07, BGHZ 179, 71 = ZIP 2009, 70) bei Theusinger/Cernicky, CCZ 2009, 146, 151. 2481) BGH, v. 1.12.2008 – II ZR 102/07, BGHZ 179, 71 = ZIP 2009, 70 – MPS. 2482) BGH, v. 1.12.2008 – II ZR 102/07, BGHZ 179, 71 = ZIP 2009, 70 – MPS.

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tender Eingriff).2483) Eine solche Existenzgefährdung mag etwa dann vorliegen, wenn der geforderte Liquiditätsabfluss so groß ist, dass er die Zahlungsunfähigkeit der abhängigen AG heraufbeschwört. Innerhalb dieser weiten Grenzen können Darlehen bei Bestehen eines Be- 1604 herrschungs- oder Gewinnabführungsvertrags nach wohl überwiegender Ansicht unabhängig von der Vollwertigkeit des Verlustausgleichsanspruchs gewährt werden.2484) Damit bedarf es im Vertragskonzern der Überprüfung der Werthaltigkeit des 1605 Verlustausgleichsanspruches nur in den Fällen, in denen ein Ausfall des Verlustausgleichsanspruches die Lebensfähigkeit der Gesellschaft bedrohen würde. Die Werthaltigkeitsprüfung des Verlustausgleichsanspruchs folgt den Kriterien, die auch zur Bestimmung der Vollwertigkeit i. S. d. § 57 AktG herangezogen werden. c) Bestellung von Sicherheiten zu Gunsten von Gesellschaftern Bei aufsteigenden Sicherheiten bezieht sich das Vollwertigkeitsgebot auf den 1606 Rückgriffsanspruch, der der AG im Fall der Inanspruchnahme der Sicherheit gegenüber dem Aktionär und Schuldner der besicherten Forderung zusteht. Die besseren Gründe sprechen dafür, bei der Prüfung der Vollwertigkeit zweistufig vorzugehen und dabei an den Zeitpunkt der Sicherheitenbestellung anzuknüpfen: Auf einer ersten Stufe ist zu prüfen, ob überhaupt mit einer Inanspruchnahme aus der Sicherheit zu rechnen ist. Ist dies zu verneinen, ist der Vorgang bilanzneutral, da keine Notwendigkeit besteht, eine etwaige Inanspruchnahme aus der Sicherheit auf der Passivseite durch Bildung einer entsprechenden Rückstellung abzubilden; die etwaige Inanspruchnahme wird rechnungslegungstechnisch erst „unterm Strich” als Eventualverbindlichkeit erfasst. Ist hingegen mit einer Inanspruchnahme zu rechnen (mit der Folge, dass eine entsprechende Rückstellung zu bilden ist), ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob der Gewährung der Garantie ein werthaltiger Rückgriffsanspruch „neutralisierend” gegenübersteht.2485) Einzelheiten – insbesondere der Zeitpunkt für die Feststellung einer unzuläs- 1607 sigen Leistung im GmbH-Recht (Bestellung oder Verwertung der Sicherheit) – sind insbesondere bei der GmbH umstritten und können hier nicht erörtert werden.2486) ___________ 2483) Vgl. ausführlich zum Ganzen Emmerich/Habersack/Emmerich, Aktien- und GmbHKonzernrecht, § 308 Rn. 60 ff. m. w. N.; Einzelheiten dieser Fragestellung können im Rahmen dieses Beitrags nicht näher untersucht werden. 2484) Gegen eine Vollwertigkeitsprüfung: MünchKomm-AktG/Bayer, § 57 Rn. 137; BeckOGK AktG/Cahn/v. Spannenberg, § 57 Rn. 143; Schmidt/Lutter/Fleischer, AktG, § 57 Rn. 35 ff.; für eine Vollwertigkeitsprüfung: Hüffer/Koch, § 57 Rn. 21. 2485) Siehe hierzu Wand/Tillmann/Heckenthaler, AG 2009, 148; Theusinger/Kiefner, NZG 2008, 801. 2486) Eingehend Baumbach/Hueck/Fastrich, GmbHG, § 30 Rn. 58 ff.; Theusinger/Kapteina, NZG 2011, 881.

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2. Weitere Leistungsbeziehungen zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern 1608 Leistungsbeziehungen zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern unterliegen nicht per se dem Verdacht, dass auf diese Weise Vermögen unzulässig verschoben wird. Denn bereits aus steuerlichen Gründen werden die beteiligten Parteien bemüht sein, den Leistungsaustausch angemessen zu gestalten. 1609 In den Fällen, die gerichtlich entschieden wurden, zeigen sich allerdings gewisse Muster: Häufig werden Dienstleistungsverträge und Verträge im Zusammenhang mit Veränderungen im Gesellschafterkreis dazu genutzt, um gegen §§ 57 AktG bzw. 30 GmbHG verstoßende Leistungen zu verschleiern.2487) 3. Besonderheiten bei der AG 1610 § 57 AktG erfasst auch den sog. und früher weit verbreiteten Abkauf von Anfechtungsklagen. Im wirtschaftlichen Ergebnis einigen sich der Kläger und die Beklagte darauf, dass der Kläger gegen Zahlung einer bestimmten Summe seine Anfechtungsklage zurücknimmt. In jedem Einzelfall ist zu entscheiden, ob es sich dabei um eine – auch unter dem Gesichtspunkt des § 57 AktG – zulässige vergleichsweise Beilegung eines Beschlussmängelstreits handelt oder aber um eine gem. § 57 AktG unzulässige Leistung. Die Abgrenzung ist schwierig. Weder Rechtsprechung noch Literatur haben bislang griffige Formeln entwickelt. Angesichts der rückläufigen Zahlen von Anfechtungsklagen2488) kann die Praxis mit der bestehenden Situation jedenfalls umgehen. 1611 Auch in der Übernahme des Prospekthaftungsrisikos bei der Platzierung von Altaktien des Großaktionärs an der Börse kann eine nach § 57 AktG unzulässige Leistung liegen.2489) Wenn der Aktionär die Gesellschaft von diesem Risiko freistellt und die Freistellung werthaltig ist, liegt jedenfalls keine unzulässige Einlagenrückgewähr vor. Denn dann gleicht der Aktionär das Risiko, das durch die Prospekthaftung entsteht, aus. Einzelheiten, insbesondere bei der gemeinsamen Platzierung von jungen Aktien und Altaktien, sind umstritten.2490) III. Typische Situationen, in denen Verletzungen der Kapitalerhaltungsvorschriften geltend gemacht werden 1612 Typischerweise wird die Verletzung von Kapitalerhaltungsvorschriften immer dann geltend gemacht, wenn sich das Machtgefüge innerhalb der Gesell___________ 2487) BGH, v. 1.12.1986 – II ZR 306/85, NJW 1987, 1194 = ZIP 1987, 575 (Übernahme von Bauleistungen durch eine GmbH zu unangemessenen Konditionen); OLG Frankfurt/M., v. 30.11.1995 – 6 U 192/91, BB 1996, 445 (Überlassen eines Markenzeichens an Aktionär bei dessen Ausscheiden). Weitere Beispiele bei MünchKomm-AktG/ Bayer, § 57 Rn. 68; Hüffer/Koch, AktG, § 57 Rn. 12. 2488) Empirie bei Baums/Drinhausen/Keinath, ZIP 2011, 2329; Bayer/Hoffmann/Sawada, ZIP 2012, 897 und Bayer/Hoffmann, ZIP 2013, 1193. 2489) BGH, v. 31.5.2011 – II ZR 141/09, NJW 2011, 2719 = ZIP 2011, 1306 – Telekom III. 2490) Im Einzelnen Krämer/Gillessen/Kiefner, CFL 2011, 328; Mülbert/Wilhelm, in: Festschrift Hommelhoff, 2012, S. 303 jeweils m. w. N.

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schaft verändert, insbesondere in der Insolvenz, anlässlich einer Neubesetzung von Organen und bei einem Wechsel des Mehrheitsgesellschafters. IV. Durchsetzung von Ansprüchen Ansprüche wegen der Verletzung von Kapitalerhaltungsvorschriften richten 1613 sich regelmäßig gegen die Gesellschafter, unter Umständen auch gegen den Gesellschaftern nahestehende Dritte (oben Rn. 1574 und 1581). Prozessuale Besonderheiten gegenüber anderen Ansprüchen gegen Gesellschafter sind selten und belasten eher die Anspruchsgegner als die Gesellschaft. 1. Zuständigkeitsfragen Klagen gegen Aktionäre, Gesellschafter oder ihnen nahestehende Dritte sind 1614 an deren allgemeinem Gerichtsstand gem. §§ 12, 13 ZPO zu erheben. Daneben besteht der Gerichtsstand der Mitgliedschaft nach §§ 22, 17 ZPO.2491) Klagen der Gesellschaft gegen Aktionäre oder Gesellschafter sind regelmä- 1615 ßig Handelssachen nach § 95 Abs. 1 Nr. 4a GVG, weil die sachliche Zuständigkeit der Landgerichte in aller Regel eröffnet ist. Die Gesellschaft kann zwischen der Zivilkammer und der Kammer für Handelssachen wählen (§ 96 Abs. 1 GVG); erhebt sie Klage zur Zivilkammer, kann der Beklagte nach §§ 98 Abs. 1 Satz 1, 101 Abs. 1 Satz 2 GVG innerhalb der Frist zur Klageerwiderung Verweisung an die Kammer für Handelssachen beantragen. 2. Aktiv- und Passivlegitimation; Vertretung der Gesellschaft Rückgewähransprüche stehen der Gesellschaft zu. Bei der GmbH & Co. KG 1616 steht der Erstattungsanspruch der KG zu, wenn die nach § 30 GmbHG verbotenen Leistungen aus dem Vermögen der KG stammen.2492) Die GmbH macht diesen Anspruch als Komplementärin geltend, kann aber 1617 nur auf Leistung in das Vermögen der KG klagen. Nach anderer Auffassung macht die GmbH einen eigenen Anspruch geltend.2493) Der Unterschied hat nicht nur Bedeutung für die Aktivlegitimation, sondern auch für die ggf. erforderliche actio pro socio. Passivlegitimiert ist der Aktionär oder Gesellschafter, der die Leistung 1618 empfangen hat (dazu und zu Zweifeln bei Leistungen an nahestehende Dritte oben Rn. 1574 ff.). Die Vertretung der Gesellschaft richtet sich nach den allgemeinen Grund- 1619 sätzen. Ansprüche der AG auf Rückgewähr hat grundsätzlich der Vorstand ___________ 2491) Zöller/Schultzky, ZPO, § 22 Rn. 6. 2492) BGH, v. 19.2.1990 – II ZR 268/88, BGHZ 110, 342 = ZIP 1990, 578. 2493) Baumbach/Hueck/Fastrich, GmbHG, § 31 Rn. 7; Scholz/Verse, GmbHG, § 31 Rn. 91.

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geltend zu machen. Es bedarf keines gesonderten Beschlusses. Aktionären hingegen steht kein eigenes Verfolgungsrecht zu.2494) 1620 Für Klagen der GmbH auf Rückgewähr ist schließlich kein Gesellschafterbeschluss nach § 46 Nr. 8 Var. 1 GmbHG erforderlich.2495) 3. Darlegungs- und Beweislast a) Klagen gegen Aktionäre 1621 Die Beweislast folgt den allgemeinen Regeln. Der Aktionär muss darlegen und beweisen, dass er die Leistung als Gewinnanteil aufgrund eines Gewinnverwendungsbeschlusses erhalten hat. Die AG muss dagegen den bösen Glauben des Aktionärs nachweisen.2496) Im Gegensatz zur GmbH (dazu sogleich) schadet dem Aktionär bereits einfache Fahrlässigkeit; der Aktionär muss noch bei Leistungsempfang gutgläubig sein.2497) b) Klagen gegen GmbH-Gesellschafter 1622 Auch im Recht der GmbH ist die Gesellschaft für die Voraussetzungen des Rückzahlungsanspruchs darlegungs- und beweisbelastet. Abweichendes gilt nur dann, wenn der Gesellschafter einwendet, die Auszahlung im guten Glauben erhalten zu haben (§ 31 Abs. 2 GmbHG). Hier muss der Gesellschafter seinen guten Glauben bei Erhalt der Leistung darlegen und ggf. beweisen. Entsprechend § 932 Abs. 2 BGB schaden dem Gesellschafter Kenntnis und grob fahrlässige Unkenntnis der tatsächlichen Umstände aus denen sich die Unzulässigkeit der Auszahlung ergibt. Die Gesellschaft muss dagegen beweisen, dass die Leistung zur Befriedigung der Gläubiger erforderlich ist. Umstritten ist, ob dieser Beweis sich auf den Auszahlungszeitpunkt oder den Zeitpunkt der Geltendmachung des Erstattungsanspruchs beziehen muss.2498) 1623 Will die GmbH die übrigen Gesellschafter gem. § 31 Abs. 3 GmbHG auf den Ausfall in Anspruch nehmen, muss sie beweisen, dass sie vom Empfänger (voraussichtlich) keine Erstattung erlangen kann und dass der eingeklagte

___________ 2494) Böckmann, in: Mehrbrey, § 6 Rn. 352; Hüffer/Koch, AktG, § 62 Rn. 15; MünchHdb. GesR Bd. 7/Lieder, § 26, Rn. 292; Bürgers/Körber/Westermann, AktG, § 62 Rn. 10. 2495) BGH, v. 8.12.1986 – II ZR 55/86, NJW 1987, 779 = ZIP 1987, 370. 2496) BGH, v. 5.4.2016 – II ZR 268/14, AG 2016, 786; MünchKomm-AktG/Bayer, § 62 Rn. 76; BeckOGK AktG/Cahn, § 62 Rn. 29; Hüffer/Koch, AktG, § 62 Rn. 14; Bürgers/ Körber/Westermann, AktG, § 62 Rn. 9. 2497) MünchKomm-AktG/Bayer, § 62 Rn. 69, 75; BeckOGK AktG/Cahn, § 62 Rn. 28; Hüffer/Koch, AktG, § 62 Rn. 13; Bürgers/Körber/Westermann, AktG, § 62 Rn. 9. 2498) Zum Ganzen auch Baumbach/Hueck/Fastrich, GmbHG, § 31 Rn. 18a ff. m. w. N. Ausführlich zum maßgeblichen Zeitpunkt: MünchKomm-GmbHG/Ekkenga, § 31 Rn. 57.

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Betrag zur Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger erforderlich ist.2499) Das Recht der AG kennt keine Ausfallhaftung der übrigen Aktionäre. 4. Klagearten a) Klagen der Gesellschaft gegen Gesellschafter Die Gesellschaft nimmt den Gesellschafter und/oder den ihm nahe stehenden 1624 Dritten, der die verbotene Zuwendung erhalten hat, im Wege der Leistungsklage auf Rückgewähr in Anspruch. Geldzahlungen sind also vom Gesellschafter zurückzuerstatten, der Gesellschaft aufgebürdete Verpflichtungen sind aufzuheben. Hat der Gesellschafter einen Gegenstand erhalten, ist der Gegenstand zurückzugeben. Bei Dienstleistungen, Nutzungen oder Unmöglichkeit der Herausgabe ist der 1625 Wert zu ersetzen bzw. Schadensersatz in Geld zu leisten.2500) Neben dem gesellschaftsrechtlichen Anspruch auf Rückgewähr sind weder dingliche Herausgabeansprüche noch bereicherungsrechtliche Ansprüche gegeben, weil sowohl das Verfügungsgeschäft als auch das Verpflichtungsgeschäft wirksam sind.2501) Feststellungsanträge dürften selten sein, weil der Abfluss aus dem Vermö- 1626 gen der Gesellschaft in der Regel feststeht, wenn der Erstattungsanspruch geltend gemacht wird. Die Solidarhaftung der übrigen Gesellschafter gem. § 31 Abs. 3 GmbHG ist 1627 insgesamt auf den Betrag der Stammkapitalziffer beschränkt.2502) Bei Klagen nach § 31 Abs. 3 GmbHG ist dies bei der Höhe des Zahlungsan- 1628 trags zu berücksichtigen. Zahlt ein Gesellschafter nach § 31 Abs. 3 GmbHG, kann er sich bei den Geschäftsführern, die die Auszahlung verschuldet haben, als Gesamtschuldner schadlos halten (§ 31 Abs. 6 GmbHG). Im Verhältnis dieser Geschäftsführer ist an den Gesamtschuldnerregress und ggf. erforderliche Streitverkündungen zu denken. Nach umstrittener Ansicht ist der Rückgewähranspruch ab Verzugseintritt 1629 zu verzinsen. Die Gegenansicht wendet § 62 Abs. 2 AktG analog an (5 % ab Fälligkeit).2503) ___________ 2499) MünchKomm-GmbHG/Ekkenga, § 31 Rn. 54 f.; Baumbach/Hueck/Fastrich, GmbHG, § 31 Rn. 22; Michalski/Heidinger, GmbHG, § 31 Rn. 75; Leistikow, in: Mehrbrey, § 17 Rn. 78. 2500) Vgl. MünchKomm-GmbHG/Ekkenga, § 31 Rn. 3, 11; HüfferKoch, AktG, § 62 Rn. 9 ff. 2501) Für die AG: BGH, v. 12.3.2013 – II ZR 179/12, BGHZ 196, 312 = ZIP 2013, 819. Für die GmbH: BGH, v. 23.6.1997 – II ZR 220/95, BGHZ 136, 125 = ZIP 1997, 1450; BGH, v. 25.6.2001 – II ZR 38/99, BGHZ 148, 167 = ZIP 2001, 1458. Nachweise aus dem Schrifttum zur AG bei Hüffer/Koch, AktG, § 57 Rn. 32. Zur GmbH bei Baumbach/ Hueck/Fastrich, GmbHG, § 30 Rn. 67. 2502) BGH, v. 11.7.2005 – II ZR 285/03, NZG 2005, 845 = ZIP 2005, 1638. 2503) Vgl. Hüffer/Koch, AktG, § 62 Rn. 11.

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b) Klagen von Gesellschaftsgläubigern (AG) 1630 Anders als in der GmbH können in der AG die Gläubiger der Gesellschaft den Anspruch der Gesellschaft im eigenen Namen geltend machen (gesetzliche Prozessstandschaft), wenn keine Befriedigungsmöglichkeit bei der Gesellschaft besteht. Das hat insbesondere Bedeutung für die Einwendungen, die der Beklagte Aktionär dem Gläubiger entgegenhalten kann. Der Aktionär kann dem klagenden Gläubiger alle Einwendungen der AG gegen den Gläubiger sowie alle eigenen Einwendungen gegen die AG entgegenhalten. Eigene Einwendungen gegen den Gläubiger kann der Aktionär dagegen nicht vorbringen; anders nur, wenn der Gläubiger ihm versprochen hatte, ihn nicht in Anspruch zu nehmen. Der Gläubiger muss nach ganz herrschender Meinung auf Leistung an die AG klagen. Alles andere würde den Zweck der Kapitalerhaltung unterlaufen.2504) 1631 Gläubiger einer GmbH können aufgrund eines Titels gegen die Gesellschaft Ansprüche der Gesellschaft gegen Gesellschafter gem. § 31 GmbHG pfänden und an sich überweisen lassen. c) Klagen des Insolvenzverwalters oder Sachwalters 1632 Auch der Insolvenzverwalter kann (in der AG nach § 62 Abs. 2 Satz 2 AktG, in der GmbH nach § 148 InsO) einen Anspruch der Gesellschaft geltend machen. Seine Klagebefugnis endet erst mit Ende des Insolvenzverfahrens. Ist bereits ein Rechtsstreit anhängig, wird dieser gem. § 240 ZPO unterbrochen; der Insolvenzverwalter kann, muss ihn aber nicht aufnehmen. Die Klagebefugnis der Gläubiger einer AG ruht unabhängig von der Aufnahme bis zum Ende des Insolvenzverfahrens.2505) 5. Einstweiliger Rechtsschutz 1633 Einstweiliger Rechtsschutz ist im Zusammenhang mit Rückzahlungsansprüchen nach §§ 62 AktG, 31 GmbHG und Schadensersatzansprüchen nach §§ 93 AktG, 43 GmbHG ohne weiteres vorstellbar. Die Bedenken gegen vorläufigen Rechtsschutz im Gesellschaftsrecht (dazu insbesondere Rn. 127 ff.) richten sich nicht gegen die hier in Rede stehenden Zahlungsansprüche, weil keine Eingriffe in die Willensbildung der Gesellschaft zu befürchten sind. Etwas Anderes gilt jedoch, wenn der Antragsteller einen Beschluss über eine Zuwendung oder die Vollziehung eines solchen Beschlusses verhindern will.

___________ 2504) Hüffer/Koch, AktG, § 62 Rn. 15 ff.; MünchHdb. GesR Bd. 7/Lieder, § 26 Rn. 292. Zur herrschenden Meinung: MünchKomm-AktG/Bayer, § 62 Rn. 88; Bürgers/Körber/ Westermann, AktG, § 62 Rn. 11. Zur Gegenansicht: BeckOGK AktG/Cahn, § 62 Rn. 31 m. w. N. 2505) MünchKomm-AktG/Bayer, § 62 Rn. 109 f.; BeckOGK AktG/Cahn, § 62 Rn. 42; Hüffer/Koch, AktG, § 62 Rn. 18; Bürgers/Körber/Westermann, AktG, § 62 Rn. 15.

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C. Insolvenzanfechtung

Zur Sicherung von Geldforderungen kommt in aller Regel der Arrest nach 1634 §§ 916 ff. ZPO in Betracht. Arrestanspruch ist die Forderung der Gesellschaft gegen den Gesellschafter oder den nahestehenden Dritten. Arrestgrund für den dinglichen Arrest ist die drohende Verschlechterung der Vollstreckungsmöglichkeiten. Die Gesellschaft muss unmittelbar bevorstehende Verschlechterungen der Vermögenslage darlegen. Der Arrest kann allerdings nicht dazu eingesetzt werden, um das allgemeine Risiko, dass der Schuldner in die Insolvenz fällt, zu beseitigen oder jedenfalls zu minimieren.2506) Die Voraussetzungen des persönlichen Arrests (§ 918 ZPO) werden in der Praxis selten vorliegen. Die Hauptsacheklage muss für den Erlass eines Arrests nicht anhängig sein. 1635 Daher kann der Arrestschuldner nach § 926 Abs. 1 ZPO beim Arrestgericht beantragen, der Gesellschaft eine Frist zur Erhebung der Hauptsacheklage zu setzen. Erhebt die Gesellschaft innerhalb dieser Frist keine Klage, wird der Arrest auf erneuten Antrag des Arrestschuldners nach § 926 Abs. 2 ZPO aufgehoben. Erweisen sich Arrest oder einstweilige Verfügung als von Anfang an unbe- 1636 gründet, steht dem Gegner ein verschuldensunabhängiger Schadensersatzanspruch zu (§ 945 Abs. 1 ZPO), auf den der beratende Anwalt stets hinweisen sollte. C. Insolvenzanfechtung I. Grundlagen und Bedeutung der Insolvenzanfechtung 1. Zweck der Insolvenzanfechtung Stephan Kolmann

Die Regeln zur Insolvenzanfechtung (§§ 129 ff. InsO) bezwecken, Vermögens- 1637 verschiebungen im Vorfeld der Insolvenzverfahrenseröffnung, welche die Befriedigungsaussichten der Gesamtheit der Gläubiger verschlechtert haben, rückgängig zu machen. Insoweit gelten eher wirtschaftliche als formalrechtliche Maßstäbe. Aus Sicht der Gläubigergesamtheit dient die Insolvenzanfechtung – neben 1638 der Inanspruchnahme von Geschäftsführungsorganen – als zentrales Instrument der Massemehrung, insbesondere mit der Zielsetzung, angesichts der wirtschaftlichen Situation des Schuldners ungerechtfertigte Sondervorteile zu beseitigen. Gegenläufig sind die an der Rechtssicherheit sowie am Vertrauensschutz orientierten Interessen des Anfechtungsgegners, den erlangten Vermögensvorteil behalten zu können. Das Gesetz operiert als Ergebnis einer Abwägung mit verschiedenen Ele- 1639 menten und unterschiedlichen Hürden im objektiven und/oder subjektiven ___________ 2506) BGH, v. 19.10.1995 – IX ZR 82/94, BGHZ 131, 95. Weitere Beispiele für zulässige Arrestgründe bei Zöller/Vollkommer, ZPO, § 917 Rn. 5 ff.

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Anfechtungstatbestand sowie über differenziert ausgestaltete „Verdachtsperioden“, um diesen Interessenkonflikt auszugleichen. Mit dieser Maßgabe lässt sich sagen, dass die Insolvenzanfechtung den Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung auch im Vorfeld der Verfahrenseröffnung zu verwirklichen sucht. Denn setzt sich die Rückgewährverpflichtung des Einzelnen zum Schutz der Gesamtheit der Gläubiger durch, lebt die Forderung des Gläubigers gegen den Schuldner wieder auf (vgl. § 144 InsO), allerdings nur in dem Rang, den sie ohne die anfechtbare Rechtshandlung gehabt hätte. 2. Zur rechtspolitischen Diskussion 1640 Ob rechtspolitisch die Insolvenzanfechtung diesen Zweck erfüllt, wird naturgemäß unterschiedlich beurteilt und ist Gegenstand einer umfassenden rechtspolitischen Diskussion. Denjenigen, die in der Insolvenzanfechtung ein Gegenmittel zur Bekämpfung von ausgeplünderten Vermögensmassen sehen und für den Erhalt der Ordnungsfunktion des Insolvenzverfahrens plädieren, kann die Reichweite der Insolvenzanfechtung sowie das Bemühen, Anfechtungssachverhalte aufzuspüren, nicht weit genug gehen. Andere, gerade die institutionellen Gläubiger, die nahezu standardmäßig mit Anfechtungsthemen konfrontiert sind, gelangen insoweit zu einer gänzlich anderen Beurteilung. Letztere Einschätzung beruht im Wesentlichen auf einer als zu extensiv empfundenen Interpretation des § 133 Abs. 1 InsO durch den BGH, aber auch auf der Behandlung einer Befriedigung mittels Zwangsvollstreckung als inkongruent i. S. v. § 131 InsO. Insoweit hat die Anfechtungsreform 2017,2507) die insbesondere durch Änderungen in §§ 133, 142 und 143 InsO eine gewisse Neujustierung vornahm, die Diskussion etwas beruhigt. Auch die Rechtsprechung des BGH lässt eine gewisse Zurückhaltung bei Vermutungs- und Indizwirkung gegenüber früherer Rechtspraxis erkennen und nimmt damit vor allem der Vorsatzanfechtung etwas an Schärfe.2508) 1641 Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang ferner die Bemühungen des Gesetzgebers im Rahmen des Gesetzes zur Abmilderung der Folgen der COVID19-Pandemie,2509) Unterstützungsmaßnahmen zum Erhalt von Unternehmen anfechtungsrechtlich zu privilegieren. Mittels gesetzlicher Fiktion gilt etwa die Rückführung von „neuen Krediten“2510) (einschließlich neuer Gesellschafterfremdfinanzierungen),2511) die während des Zeitraums, als die Insolvenzan-

___________ 2507) Gesetz zur Verbesserung der Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und dem Anfechtungsgesetz v. 29.3.2017, BGBl. I, 854, in Kraft getreten am 5.4.2017. 2508) Vgl. BGH, v. 22.6.2017 – IX ZR 111/14, ZIP 2017, 1379; BGH, v. 28.3.2019 – IX ZR 7/18, ZIP 2019, 1537. 2509) Gesetz vom 27.3.2020, BGBl. I, 569; gelungener Überblick bei Hölzle/Schulenberg, ZIP 2020, 633. 2510) Vgl. hierzu Bitter, ZIP 2020, 685, 695 ff. 2511) Hierzu umfassend Servatius, Der Konzern 2020, 281 ff.

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tragspflicht ausgesetzt war,2512) gewährt wurden, als nicht gläubigerbenachteiligend i. S. v. § 129 InsO (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 2 COVInsAG) und ist somit nicht anfechtbar, und zwar rückwirkend mit Blick auf sämtliche Anfechtungsnormen.2513) Kongruente Deckungshandlungen, die sich nicht auf Kreditgewährungen beziehen, sind nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 Satz 1 COVInsAG im Grundsatz unanfechtbar, doch gibt es hierzu eine Rückausnahme, sofern dem anderen Teil (einem Insolvenzgläubiger) im Sinne von positiver Kenntnis bekannt war, dass die Sanierungs- und Finanzierungsbemühungen des Schuldners nicht zur Beseitigung der eingetretenen Zahlungsunfähigkeit geeignet gewesen sind.2514) Eine weitere Privilegierung ist künftig für bestimmte Rechtshandlungen zu erwarten, die während der Rechtshängigkeit einer Restrukturierungssache vorgenommen werden (vgl. § 93 RefESanInsFoG). Denn allein der Umstand, dass eine Restrukturierungssache rechtshängig ist oder dass die Schuldnerin Instrumente des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens in Anspruch nimmt, soll zulasten des Geschäftspartners, der während dieser Zeit die Geschäftsbeziehung fortsetzen möchte, kein Indiz in einem etwaigen späteren Insolvenzverfahren dafür sein, dass die Schuldnerin mit dem Vorsatz handelte, ihre Gläubiger zu benachteiligen. Zusammenfassend lässt sich ein Trend erkennen, dass der Gesetzgeber sanierungsfeindliche Tendenzen der Insolvenzanfechtung zugunsten des Unternehmenserhalts eindämmen will. 3. Überblick zu den Voraussetzungen und Rechtsfolgen einer Insolvenzanfechtung Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich zur bloßen Orientierung 1642 auf eine schematische Darstellung. Zu Details wird auf die einschlägigen Handbücher und Kommentierungen verwiesen. a) Rechtshandlung Gegenstand einer Insolvenzanfechtung sind Rechtshandlungen, die vor (Aus- 1643 nahme: § 147 InsO) Insolvenzverfahrenseröffnung vorgenommen wurden oder als in diesem Zeitraum vorgenommen fingiert werden (§ 140 InsO). Erst auf Ebene der einzelnen Anfechtungstatbestände wird differenziert, von wem die fragliche Rechtshandlung stammen muss (vgl. insbesondere § 133 Abs. 1 InsO: Rechtshandlung des Schuldners).2515) ___________ 2512) Vgl. hierzu § 2 Abs. 1 Nr. 1 COVInsAG i. V. m. Verordnungsermächtigung zur Verlängerung für das BMJV in § 4 COVInsAG. 2513) Hölzle/Schulenberg, ZIP 2020, 633, 642. 2514) Hölzle/Schulenberg, ZIP 2020, 633, 642; Thole, ZIP 2020, 650, 657. 2515) Zu einschränkenden Tendenzen des BGH, wann die Mitwirkung des Schuldners bei Zwangsvollstreckungsmaßnahmen als dessen Rechtshandlung zu werten ist, vgl. BGH, v. 16.1.2014 – IX ZR 31/12, ZIP 2014, 275; BGH, v. 1.6.2017 – IX ZR 48/15, ZIP 2017, 1281; BGH, v. 22.6.2017 – IX ZR 111/14, ZIP 2017, 1379; BGH, v. 14.9.2017 – IX ZR 108/16, ZIP 2017, 1962; vgl. hierzu Thole, ZRI 2020, 338.

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b) Gläubigerbenachteiligung, § 129 InsO 1644 Diese Rechtshandlungen müssen zu einer objektiven Gläubigerbenachteiligung (§ 129 InsO) im Sinne einer Kürzung der Befriedigungsaussichten aus der (späteren) Haftungsmasse geführt haben, ob durch Verringerung der Vermögenssubstanz oder durch Mehrung der Verbindlichkeiten. Im Allgemeinen genügt eine mittelbare Gläubigerbenachteiligung im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der letzten Tatsacheninstanz des Anfechtungsprozesses, wobei weder ein Vorteilsausgleich erfolgt, noch hypothetische Kausalverläufe Beachtung finden. Eine unmittelbare Gläubigerbenachteiligung verlangt das Gesetz lediglich im Fall von §§ 132 und 133 Abs. 2 InsO. 1645 Jüngere Entscheidungen des BGH haben die Frage thematisiert, ob eine bereits eingetretene Gläubigerbenachteiligung wieder entfallen oder beseitigt werden kann. Dies ist grundsätzlich und unabhängig vom Bewusstsein des potenziellen Anfechtungsgegners von einer etwaigen Anfechtbarkeit möglich. Es setzt jedoch voraus, dass die Schuldnerin Vermögenswerte erhält, die bestimmungsgemäß die anfechtbare Leistung vollständig ausgleichen und dem Gläubigerzugriff offenstehen, ohne dass hierdurch andere Ansprüche der Schuldnerin berührt werden.2516) c) Kein Bargeschäft, § 142 InsO 1646 Eine objektive Gläubigerbenachteiligung scheidet bei sog. Bargeschäften (§ 142 InsO) aus. Es geht um Konstellationen, bei denen mit einem Masseabfluss ein entsprechender Gegenwert als Massezufluss korrespondiert, so dass in einer Saldobetrachtung lediglich eine „Vermögensumschichtung“2517) stattfindet, aber keine Verkürzung der Befriedigungsaussichten im Sinne einer objektiven Gläubigerbenachteiligung eintritt. Ein solches Bargeschäftsprivileg wird jedoch nur unter engen Voraussetzungen gewährt. Zusammenfassend bedarf es einer rechtsgeschäftlichen Verknüpfung sowie einer objektiven Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung. Ferner muss der Leistungsaustausch in engem zeitlichem Zusammenhang (Unmittelbarkeit) erfolgen. Bei der Vorsatzanfechtung gem. § 133 Abs. 1 InsO scheitert ein Bargeschäft bereits am Wortlaut des § 142 InsO, nach herrschender Meinung ist es ferner bei inkongruenten Deckungsgeschäften unanwendbar. 1647 Bei den am oder nach dem 5.4.2017 eröffneten Insolvenzverfahren setzt infolge der Anfechtungsreform 2017 die Anfechtbarkeit eines Bargeschäfts zudem voraus (die Bezugnahme auf § 133 Abs. 1 bis 3 InsO ist redaktioneller ___________ 2516) Vgl. bereits RGZ 14, 311, 314; BGH, v. 25.1.2018 – IX ZR 299/16, ZIP 2018, 385 Rn. 11; BGH, v. 2.5.2019 – IX ZR 67/18, ZIP 2019, 1128 Rn. 14 (keine Beseitigung der Gläubigerbenachteiligung, wenn zugleich mit Rückzahlung eine parallel bestehende Einlagepflicht erfüllt werden soll); vgl. auch Thole, ZRI 2020, 338, 339 f. 2517) BGH ZIP 2005, 1243, 1245; BGH ZIP 1993, 1653.

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Art), dass der andere Teil erkannt hat, dass die Schuldnerin unlauter handelte (und die Schuldnerin also auch tatsächlich unlauter agierte; vgl. § 142 Abs. 1 InsO n. F.). Insbesondere die Insolvenzanfechtung kongruenter Deckungshandlungen gem. § 133 Abs. 3 InsO wird dann mangels Feststellung einer solchen Kenntnis in manchen Fällen versperrt sein.2518) Inkongruente Deckungsanfechtungen im Zeitraum des § 131 InsO sind weiterhin nicht durch § 142 InsO privilegiert. § 142 Abs. 2 InsO n. F. erweitert den Bezugszeitraum, um den „engen zeitlichen Zusammenhang“ zu bestimmen, um die Gepflogenheiten des Geschäftsverkehrs. d) Vorliegen eines Anfechtungstatbestandes, §§ 130 – 137 InsO Das Gesetz enthält vier Haupttatbestände, die sich zumindest im Grundsatz2519) 1648 nicht gegenseitig ausschließen, sondern selbstständig nebeneinander stehen und auch kumuliert erfüllt sein können. Für die jeweils genannten Fristberechnungen innerhalb der Anfechtungs- 1649 tatbestände gilt § 139 InsO. Bei der Anfechtung gegenüber nahestehenden Personen (§ 138 InsO) sieht das Gesetz Beweiserleichterungen vor (vgl. §§ 130 Abs. 3, 131 Abs. 2 Satz 2, 132 Abs. 3, 133 Abs. 2 Satz 1 InsO). aa) Besondere Insolvenzanfechtung Hierzu zählen die kongruenten Sicherungen oder Befriedigungen (= De- 1650 ckungen) eines Insolvenzgläubigers (§ 130 InsO),2520) inkongruente Deckungen eines Insolvenzgläubigers (§ 131 InsO) sowie die unmittelbar nachteilige Rechtshandlung des Schuldners (§ 132 InsO). Die besondere Insolvenzanfechtung beruht auf dem tragenden Gedanken, 1651 dass mit Offenbarwerden der Krise (= Anfechtungszeitraum der §§ 130 – 132 InsO) das schuldnerische Vermögen der Allgemeinheit seiner persönlichen Gläubiger verfangen ist.2521) Sie zielt damit vornehmlich auf eine Durchsetzung des Gläubigergleichbehandlungsgrundsatzes. bb) Vorsatzanfechtung, § 133 InsO Die Vorsatzanfechtung gem. § 133 InsO stellt in der Rechtspraxis das schärfste 1652 Schwert des Insolvenzverwalters dar. Sie ist nur bei Rechtshandlungen des Schuldners anwendbar, dann aber – vorbehaltlich der Privilegierungen für Deckungen – rückwirkend für einen Zeitraum von bis zu zehn Jahre vor Antragstellung. Bei allen Deckungen außerhalb der Dreimonatsfrist der §§ 130, ___________ 2518) Kritisch zur Kenntnis der Unlauterkeit z. B. Huber, in Gottwald/Haas, InsRHdb, 6. Aufl., § 46 Rn. 91 f. 2519) Bzgl. der Ausnahmen sei auf die einschlägige Kommentarliteratur verwiesen. 2520) Eingeschränkt durch § 137 InsO bei Wechsel- und Scheckzahlungen. 2521) BGH NJW 1972, 870.

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131 InsO, ob kongruent oder inkongruent,2522) hat die Anfechtungsreform 2017 den Anfechtungszeitraum auf vier Jahre verkürzt (§ 133 Abs. 2 InsO), um das Anfechtungsrisiko in diesem praktisch sehr bedeutsamen Bereich kalkulierbarer zu gestalten. Weitere Erleichterungen sind für kongruente Deckungen vorgesehen (vgl. § 133 Abs. 3 InsO; dazu sogleich). 1653 Der Nachweis des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes des Schuldners sowie der Kenntnis des anderen Teils betrifft sog. innere Tatsachen. Im Anfechtungsprozess ist daher regelmäßig, sofern nicht schon die Vermutungsregel des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO, die auf drohende Zahlungsunfähigkeit abstellt, greift, aufgrund objektiver Anhaltspunkte (Beweisanzeichen) im Rahmen der Beweiswürdigung gem. § 286 ZPO festzustellen, ob sich hieraus Rückschlüsse für den Benachteiligungsvorsatz sowie die Kenntnis des anderen Teils ergeben können. Insoweit hat die höchstrichterliche Rechtsprechung jeweils eine Vielzahl von Grundsätzen entwickelt,2523) die entsprechend vorzutragen und tatrichterlich umfassend zu würdigen sind.2524) Solche Indizien sind nicht auf die bei kriselnden Unternehmen häufig anzutreffenden Druckzahlungen beschränkt. Auch bei kongruenten Deckungen kommt eine Vorsatzanfechtung in Betracht. 1654 Hinsichtlich seiner Hilfs-Vermutungsregel, dass die Kenntnis von Umständen, die zwingend auf eine mindestens drohende Zahlungsunfähigkeit schließen lassen, der Kenntnis der drohenden Zahlungsunfähigkeit selbst und vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz (vgl. § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO) gleichstehen,2525) hat der BGH bei bargeschäftsähnlichem Leistungsaustausch allerdings eine Kehrtwende vorgenommen. Der Schluss von der Kenntnis der drohenden Zahlungsunfähigkeit auf den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz setze voraus, dass der Gläubiger wisse, dass der Schuldner unrentabel arbeite und weitere Verluste erwirtschafte und deshalb die Belieferung mit gleichwertigen Waren für die übrigen Gläubiger ohne Nutzen sei.2526) Praktisch vorweggenommen wurde damit der durch die Anfechtungsreform 2017 eingefügte § 133 Abs. 3 Satz 1 InsO, wonach bei kongruenten Deckungen in Abweichung von der Grundregel des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO nicht schon die drohende, sondern nur die bereits eingetretene Zahlungsunfähigkeit den Anknüpfungspunkt darstellt. 1655 Zu den weit verbreiteten Ratenzahlungsvereinbarungen bzgl. kongruenter Deckungen enthält § 133 Abs. 3 Satz 2 InsO zudem eine Negativvermutung, um die Anfechtung zu erschweren. In einer ersten Entscheidung zu § 133 ___________ 2522) Kritisch zur Privilegierung inkongruenter Deckungen z. B. Ganter, NZI 2019, 481. 2523) Überblick z. B. bei Huber, in: Gottwald/Haas, InsRHdb, 6. Aufl., § 48; KPB/Bork, InsO, § 133 Rn. 26 ff. 2524) Zu den einzelnen Arbeitsschritten lehrreich Huber, in: Gottwald/Haas, InsRHdb, 6. Aufl., § 48 Rn. 25, 52; ders., in: Festschrift Schroeder, 2017, S. 419 ff., 428 ff. 2525) BGH ZIP 2007, 1511 Rn. 25; ZIP 2003, 1799. 2526) BGH ZIP 2017, 1232; dazu Huber, ZIP 2018, 519, 521 f.

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Abs. 3 Satz 2 InsO führt der BGH jedoch aus, dass der Insolvenzverwalter sich auf alle Umstände berufen kann, die über die Gewährung der Zahlungserleichterung und die darauf gerichtete Bitte des Schuldners hinausgehen, ferner durch den Nachweis, dass der Anfechtungsgegner Umstände kannte, die bereits vor Gewährung von Zahlungserleichterungen bestanden und aus denen nach der gewährten Zahlungserleichterung wie schon zuvor zwingend auf eine Zahlungsunfähigkeit zu schließen war.2527) Somit dürften sich gegenüber der früheren Rechtslage kaum praktische Änderungen ergeben. Entgeltliche Verträge mit nahestehenden Personen mit unmittelbar gläu- 1656 bigerbenachteiligender Wirkung, die innerhalb der letzten zwei Jahre vor Antragstellung abgeschlossen wurden, sind unter den erleichterten Voraussetzungen des § 133 Abs. 4 InsO anfechtbar. Im Kern handelt es sich dabei um eine Beweiserleichterung gegenüber Absatz 1.2528) cc) Anfechtung unentgeltlicher Leistungen, § 134 InsO Für die Frage, ob der Schuldner eine Leistung (ggf. teilweise) entgeltlich oder 1657 unentgeltlich erbringt, kommt es auf die objektiven Wertrelationen an, nicht auf subjektive Vorstellungen oder Absichten. Im Zwei-Personen-Verhältnis geht es damit vorrangig um die Aufgabe eines Vermögenswertes ohne kompensierende Gegenleistung. Hierunter fallen beispielsweise Scheingewinne in einem Schneeballsystem2529) oder die Auszahlung der Versicherungssumme aufgrund Einräumung eines widerruflichen Bezugsrechts für eine Risikooder Kapitallebensversicherung.2530) Besondere praktische Bedeutung erlangt § 134 InsO jedoch im Drei-Personen-Verhältnis bei der Tilgung/Besicherung einer fremden Schuld.2531) dd) Anfechtung von Gesellschafterfremdfinanzierungen sowie bei stillen Gesellschaftern, §§ 135, 136 InsO § 135 Abs. 1 und 2 InsO flankieren die Grundentscheidung des § 39 Abs. 1 1658 Nr. 5 InsO, wonach Forderungen aus Gesellschafterfremdfinanzierung (insbesondere Darlehen und wirtschaftlich entsprechende Forderungen) im Insolvenzfall nur als nachrangige Forderungen berücksichtigt werden. Adressaten sind nicht nur die unmittelbaren Gesellschafter einer Schuldner-Gesellschaft ohne natürlichen Vollhafter, auf welche weder das Kleinbeteiligungs- noch das Sanierungsprivileg (§ 39 Abs. 4, 5 InsO) Anwendung finden, sondern auch die solchen Gesellschaftern wirtschaftlich entsprechenden Dritten. Könnten ___________ 2527) BGH, v. 7.5.2020 – IX ZR 18/19, ZIP 2020, 682; ausdrücklich Huber, in: Gottwald/ Haas, InsRHdb, 6. Aufl., § 48 Rn. 44a. 2528) Vgl. hierzu Bork, in: Bork, Kap. 5 Rn. 57 ff. 2529) BGH ZIP 2009, 186 (Phoenix); BGH ZIP 2010, 1457; hierzu auch Baumert/Schmitt, NZI 2012, 394. 2530) Vgl. BGH ZIP 2003, 2307; OLG Düsseldorf ZIP 2008, 2031. 2531) Ausführlich z. B. Thole, KTS 2011, 219, 224 ff.; Huber, ZInsO 2010, 977, 978.

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Sicherungen und Befriedigungen aus Gesellschafterfremdfinanzierungen im Vorfeld der Insolvenzverfahrenseröffnung nicht durch Insolvenzanfechtung rückgängig gemacht werden, liefe die Grundregel des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO häufig ins Leere. 1659 Bei § 135 Abs. 2 InsO geht es um die ansatzweise auch in § 44a InsO verankerte Umgehungskonstellation, dass ein Gesellschafter bzw. ein ihm gleichzustellender Dritter einem außenstehenden Kreditgeber Sicherheit gewährt, damit dieser die Gesellschaft fremdfinanziert. Konkret betrifft § 135 Abs. 2 InsO das Freiwerden des Gesellschafters von seinem Verwertungsrisiko in Ansehung der Sicherheit, weil die Gesellschaft im Vorfeld der Verfahrenseröffnung den vom Dritten eingeräumten Kredit zurückgeführt hat. 1660 § 136 InsO betrifft Sonderabsprachen zur Einlagenrückgewähr oder zur Verlustbeteiligung eines stillen Gesellschafters. e) Rechtsfolgen der Insolvenzanfechtung aa) Rückgewähr- oder Wertersatzanspruch, § 143 InsO 1661 Der Insolvenzanfechtungsanspruch entsteht erst mit Verfahrenseröffnung als ein gesetzliches auf Rückgewähr gerichtetes Schuldverhältnis.2532) Zeitgleich tritt Fälligkeit ein, ohne dass es einer besonderen Erklärung des Anfechtungsberechtigten bedarf. Eine Geldschuld ist infolge des mit Anfechtungsreform 2017 neu eingefügten § 143 Abs. 1 Satz 3 InsO jedoch nur noch unter den Voraussetzungen des Schuldnerverzugs oder des § 291 ZPO zu verzinsen.2533) 1662 Der Anfechtungsanspruch ist primär auf Rückgewähr in Natur des durch die anfechtbare Rechtshandlung Erlangten gerichtet (§ 143 Abs. 1 Satz 1 InsO). Es handelt sich nach herrschender Meinung um einen schuldrechtlichen Anspruch, der in der Insolvenz des Anfechtungsgegners Aussonderungswirkung hat.2534) Bei Unmöglichkeit der Rückgewähr in Natur besteht ersatzweise ein Wertersatzanspruch nach Maßgabe der verschärften Bereicherungshaftung (§ 143 Abs. 1 Satz 2 InsO i. V. m. §§ 818 Abs. 4, 819 Abs. 1, 292, 987 ff. BGB). 1663 Korrespondierend zu § 135 Abs. 2 regelt § 143 Abs. 3 InsO eine Erstattungspflicht bis zur Höhe der freigewordenen Sicherheit2535) bzw. eine Ersetzungsbefugnis (Abs. 3 Satz 3). ___________ 2532) BGH ZIP 2015, 2282 Rn. 11; BGH ZIP 2014, 2303 Rn. 10; BGH ZIP 2008, 455 Rn. 8; BGH ZIP 2007, 1274 Rn. 10. 2533) Vgl. hierzu sowie zu den Folgen auch für Altfälle (bis 5.4.2017) Huber, in: Gottwald/ Haas, InsRHdb, 6. Aufl., § 52 Rn. 16; Cymutta, ZInsO 2017, 471; BGH ZIP 2018, 1033; Zinssatz des § 288 Abs. 1 BGB, vgl. BGH ZIP 2018, 1033 Rn. 33. 2534) Vgl. BGH ZIP 2003, 2307. – Zum Fall der Doppelinsolvenz vgl. BGH ZIP 2017, 1336 Rn. 11 ff. 2535) Zu den Auswirkungen bei Befriedigung des Dritten nach Insolvenzverfahrenseröffnung vgl. BGH ZIP 2012, 2417.

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bb) Wiederaufleben der Forderung, § 144 InsO § 144 InsO bestimmt einerseits, dass mit Rückgewähr/Wertersatz die ur- 1664 sprüngliche Forderung des Anfechtungsgegners wieder auflebt und zur Insolvenztabelle angemeldet werden kann (§§ 38 ff., 174 ff. InsO). Zusammen mit der ursprünglichen Forderung leben auch frühere Neben- und Vorzugsrechte i. S. v. § 401 BGB auf, ferner die nicht-akzessorischen Sicherheiten. Andererseits muss wegen des Verbots der ungerechtfertigten Bereicherung die Insolvenzmasse die vom Anfechtungsgegner erbrachten Gegenleistungen zurückgewähren, sofern sie noch unterscheidbar in der Insolvenzmasse vorhanden sind; andernfalls kann ein Erstattungsanspruch nur als Insolvenzforderung geltend gemacht werden (§ 144 Abs. 2 InsO). cc) Verjährung, § 146 InsO Der Anfechtungsanspruch verjährt nach den Regelungen über die regelmäßige 1665 Verjährung nach dem BGB (§ 195 BGB), also grundsätzlich nach Ablauf von drei Jahren, beginnend mit dem Ende des Jahres der Verfahrenseröffnung (Anspruchsentstehung). II. Ausgewählte „corporate“-Anfechtungskonstellationen Nachfolgend sollen ausgewählte Sachverhaltskonstellationen und Fragestel- 1666 lungen zu den skizzierten Anfechtungstatbeständen, die besonders „corporatetypisch“ erscheinen, näher erläutert werden. 1. § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO a) Überbrückungskredit In der Praxis kommt es häufiger als vielleicht gedacht vor, dass die Verzöge- 1667 rung von Zahlungseingängen aus Kundenforderungen zu Liquiditätsengpässen führt. Um gleichwohl Verbindlichkeiten fristgerecht zu bedienen, wird gerade in Cash-Pool-Konstellationen der Gesellschafterkreis bereit sein, einen Überbrückungskredit (Ausweitung der Linie) einzuräumen, der binnen weniger Tage, wenn die Kundenforderung eingegangen ist, zurückgeführt wird. Im Falle eines Eröffnungsantrags vor Ablauf eines Jahres stellt sich die Frage, ob dieser Vorgang im späteren Insolvenzverfahren einem Anfechtungsrisiko gem. § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO unterliegt. Der BGH verneint eine Privilegierung des Überbrückungskredits, sondern 1668 behandelt generell auch das Kurzfrist-Darlehen als Fremdfinanzierungshilfe i. S. v. §§ 39 Abs. 1 Nr. 5, 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO.2536) Wenn es aber darum geht, die Verbindlichkeiten aus Verkehrsgeschäften als einem Gesellschafterdarlehen wirtschaftlich entsprechende Forderung zu qualifizieren, gelten ___________ 2536) BGH ZIP 2013, 734 Rn. 14.

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großzügigere Maßstäbe (jedenfalls keine Stundungswirkung vor Ablauf der Bargeschäftsfristen des § 142 InsO).2537) Die Problematik wird durch eine aktuelle Entscheidung des BGH weiter verschärft, wonach unter Hinweis auf §§ 488 Abs. 3 Satz 2, 271a BGB die Stundung erst dann darlehensgleich werden soll, wenn sie regelmäßig mehr als drei Monate andauert.2538) Insoweit erscheint fragwürdig, ob es wertungsmäßig tatsächlich eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigt, wenn einerseits der sofort erhaltene Kaufpreis umgehend erneut als Darlehen gewährt, andererseits der Kaufpreis von vornherein gestundet wird.2539) Bei der Problematik geht es im Kern um die weiterhin ungeklärten Wertungsgrundlagen des Sonderrechts der Gesellschafterfremdfinanzierung.2540) Erwägenswert erscheint, unter Berufung auf den vom BGH bislang womöglich2541) verkannten Normzweck der Sonderregeln zur Gesellschafterfremdfinanzierung kurzfristigen Überbrückungskrediten eine für die Qualifikation als Gesellschafterfremdfinanzierung gem. § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO erforderliche Finanzierungsfunktion abzusprechen, so dass ihre Rückgewähr jedenfalls nicht einem Anfechtungsrisiko gem. § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO unterliegt.2542) Weitergehend sollten ferner für Darlehen wie auch für die wirtschaftlich vergleichbaren Finanzierungshilfen normzweckorientiert gleiche Anforderungen hinsichtlich der Dauer der Finanzierung gelten. Denn wirtschaftlich austauschbare Sachverhalte sollten gleich behandelt werden. b) Übertragung der Fremdfinanzierungshilfe 1669 Aus der Fristenlösung des § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO leiten der BGH sowie die herrschende Literaturansicht ab, dass ein Anfechtungsrisiko bei Befriedigungen immer dann besteht, wenn irgendwann innerhalb der Jahresfrist – nicht notwendigerweise in der Person des letzten Gläubigers – Forderungsinhaberschaft und Gesellschafterstellung zusammentrafen.2543) 1670 Das Anfechtungsrisiko trifft dann nicht nur den Neu-Erwerber (Zessionar) einer Forderung, sondern aus Gründen des Umgehungsschutzes auch den Gesellschafter-Ex-Forderungsinhaber (Zedenten) als Gesamtschuldner.2544) Die Zahlung geht ebenfalls auf eine Willensentschließung des Gesellschafters zur Durchsetzung dessen eigener wirtschaftlicher Interessen zurück. Der Gesellschafter-Ex-Forderungsinhaber soll seine Forderung nicht entgegen ___________ 2537) Vgl. BGH ZIP 2015, 589. 2538) BGH NZG 2019, 1192 Rn. 15 ff.; ablehnend Scholz/Bitter, GmbHG, 12. Aufl., Anh. § 64 Rn. 209a; Hk-GmbHG/Kolmann, Anhang § 30 Rn. 116a; Haas/Kolmann/Kurz, in: Gottwald/Haas, InsRHdb, 6. Aufl., § 90 Rn. 480. 2539) Scholz/Bitter, GmbHG, Anh § 64 Rn. 45; ders/Laspeyres, ZInsO 13, 2289, 2291. 2540) Überblick zu den Lösungsansätzen bei Hk-GmbHG/Kolmann, Anh § 30 Rn. 19 ff. 2541) Vgl. jüngst aber BGH ZIP 2019, 666 Rn. 50; BGH NZG 2019, 1026 Rn. 25. 2542) Vgl. Hk-GmbHG/Kolmann, Anh § 30 Rn. 107 ff.; im Anschluss an Scholz/Bitter, GmbHG, Anh § 64 Rn. 45. 2543) Vgl. hierzu Hk-GmbHG/Kolmann, Anh. § 30 Rn. 45 ff. m. w. N. 2544) BGH WM 2013, 568 Rn. 28; Bork/Schäfer/Thiessen, GmbHG, Anh § 30 Rn. 44.

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der gesetzlichen Wertung (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO) zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil verwerten können. Ob sich das Anfechtungsrisiko für den Zedenten der Höhe nach auf die tat- 1671 sächlich für die Forderung (vom Zessionar) erhaltene Gegenleistung beschränkt, erscheint offen, dürfte jedoch zu verneinen sein.2545) Die zwar aus Anlass eines offensichtlichen Missbrauchsfalls entwickelte, aber hierauf nicht beschränkte Begründung des BGH deutet ferner darauf hin, dass das Anfechtungsrisiko den Zedenten innerhalb der Jahresfrist auch dann trifft, wenn er gemeinsam mit den Ansprüchen aus Finanzierungshilfe auch seine Beteiligung übertragen hat.2546) Eine denkbare Gestaltungsempfehlung im Rahmen von M&A-Transaktionen mag darin bestehen, vor Anteilsübertragung die Finanzierungshilfen in die Kapitalrücklage gem. § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB einzubringen.2547) 2. Sicherheitenbestellung, § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO Nach Auffassung des BGH sind die Anfechtungstatbestände des § 135 Abs. 1 1672 Nr. 1 und Nr. 2 InsO je selbstständig zu betrachten.2548) Dies führt insbesondere dazu, dass die Befriedigung aus einer Sicherheitenverwertung, auch wenn sie außerhalb der Jahresfrist der Nr. 2 erfolgte, im wirtschaftlichen Ergebnis anfechtbar bleibt, weil bzw. solange der Anfechtungsgegner die Rückgewähr der (verwerteten) Sicherheit gem. Nr. 1 bzw. Wertersatz hierfür schuldet (vgl. auch § 143 Abs. 1 Satz 2 InsO, §§ 819, 818 Abs. 4, 292, 989 BGB).2549) Der BGH differenziert auch nicht zwischen anfänglichen oder nachträglichen Sicherheiten, d. h. er dürfte beide Konstellationen gleich behandeln.2550) Lediglich die außerhalb der Jahresfrist erfolgte Befriedigung „von der Gesellschaft selbst“, also ohne Inanspruchnahme der Sicherheit, soll nach Auffassung des BGH unanfechtbar sein. Unanfechtbar ist ferner die vor der Zehnjahresfrist des § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO bestellte Sicherheit.

___________ 2545) BGH WM 2013, 568, geht auf eine solche Beschränkung nicht ein, obgleich der Zedent vom Zessionar weniger erhalten hatte als der Zessionar von der Gesellschaft. 2546) Ebenso Kleindiek, in: HK-InsO, § 39 Rn. 42; Mairose, RNotZ 2015, 9, 13 f. 2547) Vgl. hierzu Greven, BB 2014, 2309; Mairose, RNotZ 2015, 9, 15 f.; Reinhard/Schützler, ZIP 2013, 1898, 1901 ff.; Lauster, WM 2013, 2155, 2159 f.; Schniepp/Hensel, DB 2015, 479; Heckschen/Kreusslein, RNotZ 2016, 351, 355 f.; Primozic, NJW 2016, 679, 680. 2548) BGH ZIP 2013, 1579 Rn. 10 ff.; dem BGH zustimmend Bork, EWiR 2013, 521 f.; Hölzle, ZIP 2013, 1992, 1994; Thole, NZI 2013, 745, 746; Gehrlein, NZI 2014, 481, 485. 2549) BGH ZIP 2013, 1579 Rn. 14, 21. 2550) Für eine Differenzierung indes Thole, NZI 2013, 745, 756; deutlich Marotzke, ZInsO 2013, 641, 650, 654 ff. (Hinweis auf § 142 InsO); so auch Bitter, ZIP 2013, 1497, 1506 f.; Mylich, ZIP 2013, 2444, 2450; wie hier, im Ergebnis die Anwendbarkeit des Bargeschäftsprivilegs gem. § 142 InsO auch bei anfänglichen Besicherungen ablehnend, jedoch BGH NJW 2019, 1289 Rn. 42 ff.; Hk-GmbHG/Kolmann, Anh. § 30 Rn. 147, jeweils m. w. N.

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1673 Mit dem dargestellten Verständnis wendet sich der BGH gegen die bis dahin einhellige Auffassung2551) im Schrifttum, die insoweit von einer „Sperrwirkung“ von Nummer 2 gegenüber Nummer 1 ausging. Die Entscheidung verdient aus einer Vielzahl von praktischen, dogmatischen und systematischen Gründen keine Zustimmung.2552) 3. Cash-Pooling, § 134 InsO 1674 Nach Auffassung des BGH handelt es sich um eine unentgeltliche Leistung, wenn der Dritte (späterer Insolvenzschuldner) durch seine Leistung eine wegen materieller Insolvenz (Zahlungsunfähigkeit, Überschuldung) des eigentlichen Schuldners wertlose Gläubigerforderung zum Erlöschen gebracht hat.2553) Solche Konstellationen treten typischerweise bei Cash-pool-Konstellationen auf, wenn der Gläubiger das Geld nicht von seinem Schuldner, sondern von einer Finanzierungsgesellschaft innerhalb der bereits ingesamt kriselnden Gruppe erhalten hat und der Insolvenzverwalter der Cash-poolGesellschaft die geleisteten Zahlungen zurückverlangt. Auf die Kenntnis des Zahlungsempfängers von der Wertlosigkeit seiner Forderung kommt es nicht an. Vielmehr entscheidet allein eine objektive Gesamtbetrachtung der wirtschaftlichen Situation des Schuldners der Verbindlichkeit.2554) Eine bestehende Aufrechnungsmöglichkeit des Zahlungsempfängers im Verhältnis zum Schuldner der Verbindlichkeit kann die Forderung jedoch als werthaltig qualifizieren. Dies nimmt der Leistung des späteren Insolvenzschuldners dann die Unentgeltlichkeit.2555) 1675 Vorstehende Abgrenzungskriterien gelten auch für die Steuerbegleichung seitens der umsatzsteuerlichen Organgesellschaft für den insolvenzreifen Organträger.2556) 4. Sanierungsbemühungen, § 133 Abs. 1 InsO 1676 Die am Sanierungsprozess Beteiligten unterliegen im Hinblick auf die erhaltenen Leistungen dann, wenn der Sanierungsversuch letztlich scheiterte, unter folgenden Voraussetzungen keinem Anfechtungsrisiko gem. § 133 Abs. 1 InsO:2557) Insgesamt muss trotz etwaiger Indizien wie Inkongruenz oder ___________ 2551) Statt vieler Baumbach/Hueck/Fastrich, GmbHG, Anh. § 30 Rn. 64; Bork/Schäfer/ Thiessen, GmbHG, Anh. § 30 Rn. 68; Bitter, ZIP 2013, 1497, 1500. 2552) Ausführlich hierzu HK-InsO/Kleindiek, § 135 Rn. 9 ff., 12 ff.; Hk-GmbHG/Kolmann, Anh. § 30 Rn. 13. 2553) BGH ZIP 2005, 767, 768 (Cash-Pool-System); BGH ZIP 2006, 957 (Cash-Pool-System II). 2554) BGH ZIP 2009, 2241. 2555) Vgl. BGH ZIP 2013, 1131 Rn. 8. 2556) BGH ZIP 2009, 2455. 2557) St. Rspr., vgl. BGH ZIP 2009, 922 Rn. 17; BGH ZIP 2012, 137 Rn. 11; BGH ZIP 2013, 174 Rn. 17; Kayser, WM 2013, 298 f.; ders., ZIP 2018, 2189; Ehlers, ZInsO 2013, 105. – Zusammenfassend Thole, in: HK-InsO, § 133 Rn. 24.

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drohender Zahlungsunfähigkeit der spätere Insolvenzschuldner bei Vornahme seiner Rechtshandlung von einem anfechtungsrechtlich unbedenklichen Willen getragen gewesen und das Bewusstsein der Benachteiligung anderer Gläubiger in den Hintergrund getreten sein. Eine bloße Hoffnung auf Sanierung genügt jedoch nicht. Vielmehr bedarf es konkreter Tatsachen, die den späteren Insolvenzschuldner zu der Erwartung berechtigten, dass die Bemühungen um die Unternehmensrettung erfolgversprechend sind und in absehbarer Zeit zu einer Befriedigung aller Gläubiger führen werden. Eine solche Einschätzung muss auf einem schlüssigen, von den erkannten und erkennbaren tatsächlichen Gegebenheiten ausgehenden, realistischen Sanierungskonzept beruhen. Insoweit kommt es auf die Beurteilung durch einen unvoreingenommenen, nicht notwendigerweise unbeteiligten branchenkundigen Fachmann an, dem die vorgeschriebenen oder üblichen Buchhaltungsunterlagen zeitnah vorliegen. Ob das Sanierungskonzept zusätzlich schon in den Anfängen in die Tat umgesetzt sein muss, erscheint zweifelhaft, weil andernfalls Sanierungsdienstleister schon im Vorfeld des Vollzugs einer (erfolgversprechenden!) Restrukturierungsmaßnahme diskriminiert würden. Anfechtungsfest sind die erhaltenen Zahlungen auf der Grundlage eines 1677 schlüssigen Sanierungskonzepts jedoch nur bei Kenntnis von den wesentlichen Konzeptgrundlagen, einschließlich der Maßnahmen zur Krisenüberwindung.2558) Zu einer eigenen fachmännischen Überprüfung des Sanierungskonzepts ist der Gläubiger allerdings nicht verpflichtet; er darf sich auf die Angaben des späteren Insolvenzschuldners bzw. seiner Berater verlassen, solange er keine Anhaltspunkte für eine Täuschung oder dafür hat, dass der Plan keine überwiegende Erfolgsaussicht hat. Hinsichtlich der Beurteilung der Schlüssigkeit können an die Kenntnis des Anfechtungsgegners jedoch nicht die gleichen Anforderungen wie an diejenigen des späteren Insolvenzschuldners gestellt werden:2559) Die Vermutungswirkung des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO wird bereits dann widerlegt, wenn der Anfechtungsgegner konkrete Umstände darlegt, die es naheliegend erscheinen lassen, dass ihm ein etwaiger Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des späteren Insolvenzschuldners (weil das Sanierungskonzept nicht schlüssig war) nicht bekannt war. Bei einer erforderlichen Umschuldung ist das Beweisanzeichen einer (dro- 1678 henden) Zahlungsunfähigkeit nur dann entkräftet, wenn der spätere Insolvenzschuldner die sichere Erwartung haben durfte, dass die Ablöseverhandlungen in Bälde abgeschlossen, die Darlehensverbindlichkeiten mit den neu zugeführten Mitteln getilgt und die übrigen dann fälligen Zahlungspflichten erfüllt werden konnten.2560)

___________ 2558) Hierzu sowie zum Nachfolgenden BGH NZI 2016, 636 Rn. 28 ff. 2559) BGH ZIP 2019, 1537. 2560) BGH ZIP 2013, 79 Rn. 15.

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III. Der Anfechtungsprozess 1679 Im Regelfall wird der Anspruchsberechtigte versuchen, den Anfechtungsgegner zu einer freiwilligen Erfüllung des Anfechtungsanspruchs zu veranlassen, ggf. im Rahmen einer außergerichtlichen Einigung (§ 779 BGB).2561) Ansonsten bedarf es gerichtlicher Geltendmachung vor Ablauf der Verjährungsfrist. Dies wird in der Hauptsache (hierzu nachfolgend Rn. 1680 ff.) durch Klageerhebung erfolgen, bleibt aber auch durch Widerklagte, durch Replik sowie durch die Einrede möglich, dass der Kläger den gegen den Anfechtungsberechtigten eingeklagten Anspruch anfechtbar erworben habe. 1. Zur Zulässigkeit a) Schiedsfähigkeit, Schiedsabreden 1680 Anfechtungsansprüche sind grundsätzlich schiedsfähig. Unproblematisch können der anspruchsberechtigte Insolvenzverwalter und der Anfechtungsgegner vereinbaren, dass ein Schiedsgericht über die Insolvenzanfechtung entscheiden soll. 1681 Weil der Anfechtungsanspruch aber erst mit Verfahrenseröffnung entsteht und dort unmittelbar in die Verfügungsgewalt des Insolvenzverwalters fällt, gehen frühere Schiedsvereinbarungen des Schuldners, wonach etwaige Anfechtungssachverhalte der Schiedsgerichtsbarkeit unterliegen sollen, ins Leere, d. h. sie binden den Insolvenzverwalter nicht.2562) Mangels Dispositionsbefugnis kann der Schuldner nicht über einen etwaigen künftigen Rückgewähranspruch (§ 143 InsO) verfügen. 1682 Einer bei Verfahrenseröffnung schon eingeleiteten Schiedsklage aufgrund eines Absonderungsrechts, welche (allein) gemäß einer Vereinbarung mit dem Schuldner erhoben wurde, kann der Insolvenzverwalter Ansprüche aus Insolvenzanfechtung weder im Wege der Einrede, noch durch eine Schieds(wider)klage entgegen halten. Die Einrede der Insolvenzanfechtung (§ 146 Abs. 2 InsO) kann der Insolvenzverwalter nur im Verfahren auf Vollstreckbarerklärung oder Aufhebung des Schiedsspruchs erheben, welcher der auf das Absonderungsrecht gestützten Schiedsklage stattgegeben hat.2563)

___________ 2561) Zur Zulässigkeit bzw. zu den Grenzen eines Verzichts/Erlasses im Rahmen eines Vergleichs vgl. Thole, ZIP 2014, 1653, 1654; Huber, in: Gottwald/Haas, InsRHdb, 6. Aufl., § 51 Rn. 4. 2562) BGH ZIP 2008, 478 Rn. 17; so schon ZInsO 2004, 84; zur fehlenden Bindung des Insolvenzverwalters an Schiedsvereinbarungen des Schuldners, die unmittelbar oder als entscheidungserhebliche Vorfrage ein insolvenzspezifisches Recht des Verwalters betreffen, vgl. BGH NZI 2018, 106. 2563) BGH ZIP 2008, 478.

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b) Internationale Zuständigkeit Die Internationalisierung der Wirtschaft in den letzten Jahren lässt erwarten, 1683 dass grenzüberschreitende Aspekte auch bei der Geltendmachung von Anfechtungsansprüchen in ihrer Bedeutung weiter zunehmen. Bei der Frage, ob die Gerichte eines Staates für die Entscheidung über eine Anfechtungsklage international zuständig sind, bedarf es in mehrfacher Hinsicht einer Differenzierung: Für den Anwendungsbereich der EuInsVO gilt: Die am 26.6.2017 in Kraft 1684 getretene EuInsVO 20152564) hat die bislang nur durch EuGH-Rechtsprechung2565) entwickelten Leitlinien zur internationalen Zuständigkeit2566) für sog. Annexverfahren kodifiziert und erweitert. Nunmehr bestimmt Art. 6 Abs. 1 EuInsVO 2015, dass die Gerichte des Mitgliedstaates, in dessen Hoheitsgebiet das Insolvenzverfahren nach Art. 3 EuInsVO eröffnet wurde, zuständig sind „für alle Klagen, die unmittelbar aus dem Insolvenzverfahren hervorgehen und in engem Zusammenhang damit stehen“. Der Sache nach handelt es sich um eine direkte internationale Entscheidungszuständigkeit sowie um eine Zuständigkeitskonzentration bei den Gerichten des Verfahrenseröffnungsstaates im Sinne eines „vis attractiva concursus“. Unklar ist, ob Art. 6 Abs. 1 EuInsVO 2015 auch eine ausschließliche interna- 1685 tionale Zuständigkeit begründet. Dies wird von der h. M. bejaht,2567) und zwar unterschiedslos, ob es sich für den Insolvenzverwalter um Aktiv- oder um Passivprozesse handelt. Die Vorschrift gilt für Haupt- und Territorialverfahren gleichermaßen.2568) Mit Blick auf Territorialverfahren und Anfechtungsklagen wird man allerdings einschränken müssen, dass der Anfechtungsanspruch Teil der Insolvenzmasse des Territorialverfahrens sein muss.2569) Zu den Annexverfahren zählen zunächst die in Art. 6 Abs. 1 EuInsVO 2015 1686 ausdrücklich genannten Anfechtungsklagen. Als Annexverfahren sollten fer___________ 2564) Vgl. hierzu Kolmann/Ch. Keller, in: Gottwald/Haas, InsRHdb, 6. Aufl., § 129 Rn. 3 m. w. N. 2565) Grundlegend EuGH NJW 2009, 2189 (Deko Marty) zu Art. 3 EuInsVO a. F. sowie unter Fortführung von EuGHE 1979, 733 (Gourdain/Nadler) zu Art. 1 Abs. 2 lit. a) EuGVÜ (nunmehr: EuGVVO). Zur Fortgeltung der Entscheidungen zum EuGVÜ für die EuGVVO vgl. EuGH NZI 2009, 570 (Alpenblume). 2566) Vgl. Vorauflage. 2567) Vgl. EuGH ZIP 2018, 2327 (Wiemer & Trachte); GA Wahl, ZIP 2018, 1739 (jeweils noch zu Art. 3 EuInsVO a. F. analog); ausführliche Darstellung des Meinungsstreits bei Kolmann/Ch. Keller, in: Gottwald/Haas, InsRHdb, 6. Aufl., § 129 Rn. 94 f.; anders noch GA Collomer, ZIP 2009, 2882; BGH NJW 2016, 2328 Rn. 35 (implizit, weil dort einer Gerichtsstandsvereinbarung der Vorrang einer etwaigen internationalen Zuständigkeit nach Art. 3 EuInsVO analog eingeräumt wird). 2568) EuGH EuZW 2015, 593 (Nortel); Kolmann/Ch. Keller, in: Gottwald/Haas, InsRHdb, 6. Aufl., § 129 Rn. 93. 2569) Vgl. Kolmann/Ch. Keller, in: Gottwald/Haas, InsRHdb, 6. Aufl., § 130 Rn. 144 f., 163 ff.

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ner auch solche Verfahren gelten, in denen das Anfechtungsrecht einredeweise geltend gemacht wird.2570) Anders verhält es sich aber, wenn der Insolvenzverwalter dem Aufrechnungseinwand des Beklagten mit der Vorschrift des § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO entgegnet.2571) Im Allgemeinen kommt es nach der Rechtsprechung des EuGH in Abgrenzung zu Art. 1 Abs. 2 lit. a EuGVVO auf eine gemischt materiellrechtliche-formelle Betrachtungsweise an, ob der Rechtsstreit als Annexverfahren gewertet werden kann:2572) Neben der Kernfrage, ob es um die durch Verfahrenseröffnung begründete Sonderbefugnisse geht, ist ein enger inhaltlicher Zusammenhang des Streitgegenstands zu insolvenzrechtlichen Fragestellungen erforderlich; z. B. eine den Zielen des Insolvenzverfahrens dienende Anspruchsgrundlage zum Schutz oder zur Mehrung der Masse. Partei des Prozesses muss ferner eine mit insolvenzrechtlichen Befugnissen ausgestattete Person (namentlich ein Insolvenzverwalter) sein. Hieran fehlt es etwa, wenn der Insolvenzverwalter über den Anfechtungsanspruch durch Abtretung verfügt hat und nunmehr der Zessionar außerhalb des Insolvenzverfahrens klageweise Rückgewähransprüche gegenüber dem Anfechtungsgegner geltend macht.2573) 1687 In den Anwendungsbereich der EuInsVO fallen auch Anfechtungsklagen aus einem EuInsVO-Verfahren heraus gegen einen Anfechtungsgegner, der den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen, also im Regelfall seinen (Wohn-)Sitz, außerhalb des Gebiets eines Mitgliedstaates der EuInsVO hat. Der räumliche Sollgeltungsanspruch eines in einem Mitgliedstaat der EuInsVO eröffneten Insolvenzverfahrens beschränkt sich also nicht auf die sonstigen Mitgliedstaaten der EuInsVO, sondern ein solches Verfahren erhebt weltweiten Geltungsanspruch.2574) Somit richtet sich die internationale Entscheidungszuständigkeit für Anfechtungsklagen und sonstige Annexverfahren nach Art. 6 Abs. 1 EuInsVO auch, wenn der Anfechtungsgegner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen (regelmäßig also (Wohn-)Sitz) nur in einem Drittstaat hat.2575) Die Problematik der faktischen Rechtsdurchsetzung verlagert sich auf die Anerkennungs- und Vollstreckungsebene, wenn ein entsprechendes Urteil im Drittstaat vollstreckt werden muss. 1688 Art. 6 Abs. 2 und 3 EuInsVO 2015 schaffen allerdings für den Insolvenzverwalter eine internationale Wahlzuständigkeit für zivil- oder handelsrechtliche ___________ 2570) Haas, ZIP 2013, 2381, 2389. 2571) BGH NZI 2015, 1033; vgl. auch EuGH NZI 2014, 919 Rn. 27 (Nickel & Goeldner). 2572) Vgl. hierzu Kolmann/Ch. Keller, in: Gottwald/Haas, InsRHdb, 6. Aufl., § 129 Rn. 107 ff.; abw. Mankowski, NZI 2020, 41, 43 f. (Gleichlauf mit Art. 7 EuInsVO); aus der Rechtsprechung des EuGH NZI 2009, 570 Rn. 29 (Alpenblume); ZInsO 2012, 1039 (F-Tex); ZIP 2013, 1932 (ÖFAB); NZI 2015, 88 (H); NZI 2018, 232 Rn. 23 (Valach); NZI 2018, 45 Rn. 22 (Tünkers); NZI 2019, 302 Rn. 34 (NK); NZI 2020, 123 Rn. 27 (Tiger). 2573) EuGH ZInsO 2012, 1039 (F-Tex). 2574) Vgl. hierzu Kolmann/Ch. Keller, in: Gottwald/Haas, InsRHdb, 6. Aufl., § 129 Rn. 17, 96. 2575) EuGH ZIP 2014, 181; BGH ZIP 2014, 1132; anders noch BGH ZIP 2012, 1467.

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Klagen (vgl. Art. 1 EuGVVO), die in einem Sachzusammenhang mit einer Annexklage stehen, sofern für die Zivil- oder Handelssache eine Zuständigkeit nach der EuGVVO besteht. Die Anfechtungsklage gegen einen Gesellschafter kann dann zusammen mit einer gegen denselben Gesellschafter gerichteten Klage auf Erstattung verbotener Zahlungen (§ 62 AktG; § 31 GmbHG) verbunden und bei den Gerichten des Mitgliedstaates, in dem der Beklagte seinen (Wohn-)Sitz hat, erhoben werden.2576) Art. 6 Abs. 1 EuInsVO 2015 regelt nur die internationale Zuständigkeit, doch 1689 dem nationalen Gesetzgeber bleibt überlassen, die sachliche, örtliche und funktionelle Zuständigkeit zu normieren. Art. 102c § 6 Abs. 1 EGInsO enthält insoweit eine Regelung zur örtlichen Zuständigkeit und bestimmt zur Vermeidung eines negativen Kompetenzkonflikts, dass die Gerichte am Sitz des Insolvenzgerichts örtlich zuständig sind.2577) Bei Insolvenzverfahren außerhalb des (persönlichen oder sachlichen oder 1690 räumlichen) Anwendungsbereichs der EuInsVO richtet sich die internationale Entscheidungszuständigkeit für eine Anfechtungsklage nach den allgemeinen Regeln. Hiernach sind die Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit doppelfunktional auch zur Begründung einer internationalen Entscheidungszuständigkeit anzuwenden. c) Rechtsweg Eine Entscheidung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichte des Bun- 1691 des2578) hat trotz der grundsätzlich bürgerlich-rechtlichen Natur (§ 13 GVG) des Insolvenzanfechtungsanspruchs zum Rechtsweg bei Anfechtungsklagen eine Differenzierung gebracht.2579) Für Klagen des Insolvenzverwalters gegen einen Arbeitnehmer auf Rückgewähr vom Schuldner geleisteter Vergütungen soll entgegen früherer Erkenntnisse2580) der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten eröffnet sein, auch wenn die Befriedigung durch Pfändung erfolgte.2581) Für Lohnzahlungen durch einen Dritten anstelle des Arbeitgebers ist hingegen der ordentliche Rechtsweg eröffnet.2582) Auch Anfechtungsklagen gegen Sozialversicherungsträger2583) und Finanzämter2584) sind ___________ 2576) Kritisch sowie zu Einzelheiten z. B. FK-InsO/Wenner/Schuster, EuInsVO Art. 6 Rn. 26 f.; Kolmann/Ch. Keller, in: Gottwald/Haas, InsRHdb, 6. Aufl., § 129 Rn. 101 ff. 2577) Kolmann/Ch. Keller, in: Gottwald/Haas, InsRHdb, InsRHdb, 6. Aufl., § 129 Rn. 97. 2578) GmS-OGB NJW 2011, 1211; hierzu auch Huber, ZInsO 2011, 519 f. 2579) Ausführlich auch zur verfassungsrechtlichen Problematik, Kreft, ZIP 2013, 241; nach Auffassung von Huber, in: Gottwald/Haas, InsRHdb, 6. Aufl., § 51 Rn. 29a sind die verfassungsrechtlichen Bedenken durch die Anfechtungsreform 2017 erledigt. 2580) Vgl. LAG Mainz NZI 2005, 644. 2581) GemS-OGB NJW 2011, 1211 Rn. 5. 2582) BGH ZIP 2012, 1681. 2583) BGH ZIP 2011, 683; str; zur Beitragszahlung an eine Sozialeinrichtung des privaten Rechts vgl. BGH ZIP 2013, 30. 2584) Vgl. BFH ZIP 2012, 2451; BFH ZIP 2014, 690.

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nicht bei den Sozial- bzw. Finanzgerichten zu erheben, sondern als bürgerlichrechtliche Streitigkeiten (§ 13 GVG) im ordentlichen Rechtsweg zu klären. 1692 Klagt der Insolvenzverwalter eine Forderung ein mit dem Argument, dass eine zuvor vorgenommene Auf-/Verrechnung nicht insolvenzfest war (vgl. § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO), bleibt es bei dem Rechtsweg für die ursprüngliche Forderung. Allein durch den Einwand der anfechtbaren Auf-/Verrechnung wird also kein Rechtsweg zur ordentlichen Gerichtsbarkeit begründet.2585) d) Sachliche, funktionelle und örtliche Zuständigkeit aa) Sachliche Zuständigkeit 1693 Nach allgemeinen Grundsätzen entscheidet der Klageantrag und damit der Streitwert (vgl. § 143 Abs. 1 Satz 1 bzw. Satz 2 InsO), ob das Amts- oder das Landgericht sachlich zuständig ist (§§ 23 Nr. 1, 71 Abs. 1 GVG). Auch dann, wenn die angefochtene Rechtshandlung ein Handelsgeschäft betrifft, stellt der Anfechtungsprozess keine Handelssache (§ 95 GVG) dar, so dass eine Zuständigkeit der Kammer für Handelssachen ausscheidet.2586) bb) Funktionelle Zuständigkeit 1694 Beim Landgericht als Gericht 1. Instanz entscheidet grundsätzlich der originäre Einzelrichter (§ 348 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Ausnahmen ergeben sich aus § 348 Abs. 1 Satz 2, ferner im Falle der Vorlage an die Kammer oder bei gemeinsamem Antrag der Prozessparteien (§ 348 Abs. 3 ZPO). Hierauf wird in der Gerichtspraxis nicht immer mit der gebotenen Sorgfalt geachtet. cc) Örtliche Zuständigkeit 1695 Es gelten zunächst die allgemeinen Gerichtsstände (§§ 12 – 19 ZPO). Im Einzelfall kommt wahlweise (§ 35 ZPO) ferner der besondere Gerichtsstand des Anfechtungsgegners (§§ 20, 21, 23 ZPO)2587) sowie der ausschließliche dingliche Gerichtsstand (§ 24 ZPO)2588) in Betracht. Anfechtungsansprüche gem. § 135 InsO gegen Gesellschafter, aber auch gegen ihnen gleichgestellte Dritte kann der Insolvenzverwalter ferner am Sitz der Gesellschaft verfolgen (§ 22 ZPO). § 19a ZPO soll nach herrschender Meinung2589) grundsätzlich nur für Passivprozesse gegen den Insolvenzverwalter gelten. Der Anfechtungs___________ 2585) Vgl. hierzu Huber, in: Gottwald/Haas, InsRHdb, 6. Aufl., § 51 Rn. 29c. 2586) BGH ZInsO 2002, 1136, 1138; BGH ZIP 1987, 1132, 1134; Ahrens/Gehrlein/ Ringstmeier/Gehrlein, § 129 InsO Rn. 129; anders aber bei einem Streit über eine aus insolvenzrechtlichen Gründen ggf. nicht erloschene Forderung aus einem Handelsgeschäft (vgl. § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO), KG ZIP 2018, 2387. 2587) BGH ZIP 2013, 374 Rn. 13. 2588) Vgl. zum Streitstand MünchKomm-InsO/Kirchhof, § 146 Rn. 33; ebenfalls für enge Ausnahmekonstellation Jacoby, in: Bork, Kap. 14 Rn. 5. 2589) BGH ZIP 2003, 1419, 1420.

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anspruch beruht allerdings weder auf einem vertraglichen Verhältnis, noch auf einer unerlaubten Handlung. Folglich scheiden die besonderen Gerichtsstände der §§ 29, 32 ZPO grundsätzlich2590) aus. Vom Schuldner für den Anfechtungsstreitigkeit getroffene Zuständigkeits- 1696 vereinbarungen (§§ 38 ff. ZPO) binden den Insolvenzverwalter nicht. Diesem steht es jedoch frei, selbst mit dem Anfechtungsgegner entsprechende Vereinbarungen abzuschließen. e) Klageart, Klageantrag Grundsätzlich wird der Insolvenzverwalter den Anfechtungsanspruch (§ 143 1697 InsO) mit einer Leistungsklage verfolgen. Der Streitgegenstand wird durch den Antrag bestimmt. Insoweit beinhalten der Primäranspruch auf Rückgewähr (§ 143 Abs. 1 Satz 1 InsO) sowie der Sekundäranspruch auf Wertersatz (§ 143 Abs. 1 Satz 2 InsO, §§ 818 ff. BGB; vgl. Rn. 1661 ff.) unterschiedliche Streitgegenstände,2591) die sich materiell-rechtlich wechselseitig ausschließen. Bedeutung kommt dem insbesondere bei Verjährungsfragen zu. Ggf. bietet sich für den Insolvenzverwalter eine Eventualklagehäufung (Hilfsantrag) an2592) oder auch eine Stufenklage, durch welche der Insolvenzverwalter einen etwaigen Auskunftsanspruch2593) mit dem Rückgewähranspruch verbindet (§ 254 ZPO). Eine Umstellung vom Rückgewähr- auf den Wertersatzanspruch wegen Unmöglichkeit der Rückgewähr ist während des Verfahrens zulässig (§ 264 Nr. 3 ZPO), ohne dass die sonstigen Voraussetzungen einer Klageänderung (§§ 263 bzw. 533 ZPO) erfüllt sein müssen. Bei Zahlungsansprüchen lautet der Antrag auf Zahlung in die Insolvenz- 1698 masse,2594) bei Rückübertragungsansprüchen mangels eigener Rechtspersönlichkeit der Insolvenzmasse2595) auf Übereignung/Übertragung an den Schuldner. Der aus dem Vermögen des Schuldners weggegebene, veräußerte oder aufgegebene Vermögensgegenstand muss ebenso bestimmt bezeichnet werden wie die konkrete Art und Weise der geschuldeten Rückgewähr. Ein Antrag mit dem Ziel, den Anfechtungsgegner allgemein zum Verzicht auf Rechte ___________ 2590) Ausnahme bei § 32 ZPO: objektive Klagehäufung, d. h. alternative Begründung über Insolvenzanfechtung wie über Schadensersatz aufgrund unerlaubter Handlung, vgl. LG Detmold ZInsO 2005, 445. 2591) BGH NJW 1970, 44, 45. 2592) Jacoby, in: Bork, Handbuch des Insolvenzanfechtungsrechts, Kap. 14 Rn. 9. 2593) Vgl. zum Auskunftsanspruch gegenüber einem Dritten als potentieller Anfechtungsgegner BGH ZIP 1999, 316; BGH ZIP 1998, 1539, 1540; zur Abgrenzung BGH ZIP 2009, 1823. – Zum öffentlich-rechtlichen Auskunftsanspruch nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) des Bundes oder (idR eingeschränkt) auch der Länder vgl. BFH ZInsO 2013, 500; BVerwG ZInsO 2012, 2140; ausführlich Schmittmann, ZInsO 2019, 1501 ff.; zu Art. 15 DSGVO vgl. BVerwG, v. 16.9.2020 – 6 C 10.19. 2594) Zur Unschädlichkeit des Antrags auf Leistung „an den Insolvenzverwalter“, sofern die Klageerhebung für die Masse erkennbar ist, vgl. BGH WM 1961, 387, 389. 2595) BGH NJW 1987, 1691 = ZIP 1987, 725.

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aus der angefochtenen Rechtshandlung oder aus einem erwirkten Titel zu verurteilen, kann der gebotenen Bestimmtheit nicht genügen.2596) 1699 Das gem. § 256 ZPO erforderliche Interesse einer Feststellungs-/Feststellungswiderklage besteht beispielsweise, wenn der Rückgewähranspruch noch nicht beziffert werden kann, jedoch verjährungshemmende Maßnahmen erforderlich sind.2597) Eine solche Feststellungsklage kommt ferner in Betracht, wenn das entsprechende Urteil voraussichtlich zur Streitbeilegung führt, weil der Anfechtungsgegner schon auf den Feststellungsanspruch hin leisten wird,2598) beispielsweise in Fällen einer Weiterveräußerung.2599) 1700 Denkbar ist die Erhebung der Anfechtungsklage ferner als Vollstreckungsabwehrklage (§ 767 ZPO)2600) sowie als Drittwiderspruchsklage (§ 771 ZPO).2601) 2. Zur Begründetheit a) Anfechtungsgegner 1701 Dies ist zunächst derjenige, der durch die anfechtbare Rechtshandlung etwas aus dem Vermögen des Insolvenzschuldners erlangt hat.2602) Einzelne Anfechtungstatbestände stellen weitere Voraussetzungen auf: So muss es sich bei §§ 130, 131 InsO um einen Insolvenzgläubiger, bei § 135 InsO um einen Gesellschafter bzw. einen dem Gesellschafter wirtschaftlich entsprechenden Dritten handeln; Anfechtungsgegner der Insolvenzanfechtung gem. § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO ist ferner derjenige, bei dem innerhalb des Zeitraums von einem Jahr vor dem maßgeblichen Eröffnungsantrag Kreditgeberrolle und Gesellschafterstellung zusammenfielen.2603) Aber auch derjenige, der innerhalb dieser Frist eine verstrickte Forderung erworben und von der Gesellschaft Befriedigung erlangt hatte, unterliegt einem Anfechtungsrisiko.2604) 1702 Derartige Einschränkungen gelten bei § 133 InsO hingegen nicht.2605) Deshalb gibt es dort bei den sog. mittelbaren Zuwendungen eine praktisch wichtige Erweiterung des potentiellen Kreises von Anfechtungsgegnern. Um ___________ 2596) BGH NJW 1992, 624 = ZIP 1991, 1014; BGH NJW 1993, 3267 = ZIP 1993, 1653. 2597) Jacoby, in: Bork, Handbuch des Insolvenzanfechtungsrechts, Kap. 14 Rn. 10. 2598) BGH ZIP 2007, 1274. 2599) BGH ZIP 1996, 184; Huber, in: Gottwald/Haas, InsRHdb, 6. Aufl., § 51 Rn. 30. 2600) Vgl. hierzu Jacoby, in: Bork, Kap. 14 Rn. 19 ff. 2601) Vgl. hierzu Jacoby, in: Bork, Kap. 14 Rn. 21 ff. 2602) BGH ZIP 1999, 1764. 2603) BGH WM 2013, 568 (zur Abtretung der Kreditforderung); hierzu sowie zur Ausdehnung auf eine kombinierte Übertragung von Forderung und Gesellschafterstellung Hk-GmbHG/Kolmann, 4. Aufl., Anh. § 30 Rn. 52 f. 2604) BGH ZIP 2013, 582 Rn. 24. 2605) Zur Anfechtbarkeit bei einem mit mehreren Personen abgeschlossenen Rechtsgeschäft vgl. Huber, in: Gottwald, InsRHdb, 5. Aufl., § 51 Rn. 58.

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C. Insolvenzanfechtung

mittelbare Zuwendungen handelt es sich, wenn der Schuldner über den Umweg einer Mittelsperson willentlich den Leistungsgegenstand einem Dritten zukommen lässt, für den dies jedoch als Leistung des Schuldners erkennbar ist.2606) In diesen Konstellationen lässt der BGH eine Anfechtung auch gegenüber dem Leistungsmittler zu, der kollusiv mit dem Schuldner zum Zwecke der Benachteiligung der Gläubiger zusammenwirkte.2607) Hierzu gehört beispielsweise der Drittschuldner, den der Schuldner angewiesen hat, direkt an einen Gläubiger zu zahlen;2608) aber auch der Treuhänder, der einen Geldbetrag von einem separaten Konto nach Anweisung des Schuldners verteilt;2609) ferner die Bank, die nicht nur als reine Zahlstelle fungiert,2610) sondern bei der selektiven Begünstigung einzelner Gläubiger mitwirkt.2611) Potentielle Anfechtungsgegner sind ferner der Gesamtrechtsnachfolger so- 1703 wie sonstige Rechtsnachfolger nach Maßgabe der § 145 Abs. 1 bzw. 2 InsO. b) Klagebegründung Die Klagebegründung muss den Gegenstand der Anfechtung sowie die Tat- 1704 sachen bezeichnen, aus denen der Kläger die Anfechtungsberechtigung herleitet.2612) Hierzu bedarf es eines Vortrags von Tatsachen oder gar nur von vermuteten Tatsachen2613) oder Indizien,2614) der die Voraussetzungen (mindestens) eines Anfechtungsgrunds erfüllt. Dabei genügt es, wenn der Kläger erkennen lässt, dass er im Hinblick auf eine bestimmte Rechtshandlung eine Gläubigerbenachteiligung auf Kosten des Anfechtungsgegners wieder ausgleichen will.2615) Eine Subsumtion des Lebenssachverhalts unter einen konkreten Anfechtungstatbestand ist hingegen nicht notwendiger Klageinhalt, sondern Aufgabe des Gerichts. Eine nach diesen Regeln verfasste Klage hemmt die Verjährung (vgl. Rn. 1665) 1705 des Anfechtungsanspruchs2616) sogar dann, wenn der Kläger sein Begehren ___________ 2606) BGH ZIP 2008, 2183 Rn. 21. – Zur Abgrenzung gegenüber der Leistungskette vgl. BGH ZIP 2009, 769. 2607) Ausführlich zur Problematik Thole, ZRI 2020, 338, 341 ff. 2608) BGH ZIP 2008, 190. 2609) BGH ZIP 2012, 1038. 2610) Vgl. hierzu beispielsweise BGH ZIP 2013, 1826 (zu bloßen Umbuchungen und Verrechnungen im Cash-pool); BGH ZIP 2013, 2271 (zu Zahlungen im Lkw-Maut-Gebührenabrechnungsverfahren). 2611) BGH ZIP 2013, 371; vgl. auch BGH ZIP 2013, 1127; zum Inkassounternehmen BGH, v. 24.9.2015 – IX ZR 308/14; zum Zwangsverwalter vgl. BGH, v. 19.4.2018 – IX ZR 289/14 Rn. 16. 2612) Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier/Gehrlein, § 129 InsO Rn. 131 f. 2613) Vgl. hierzu BGH ZIP 2002, 1408; zur sekundären Behauptungs-/Darlegungslast LAG Hessen ZInsO 2013, 1032; ausführlich Huber, in: Festschrift Gerhardt, S. 379 ff. 2614) Zum Indizienbeweis im Anfechtungsprozess vgl. Huber, ZInsO 2012, 53. 2615) BGH ZIP 2008, 1291. 2616) BGH ZIP 2008, 888 Rn. 12.

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Teil 4 Restrukturierung

überhaupt nicht auf eine Insolvenzanfechtung gestützt hat.2617) Klarstellungen, Ergänzungen oder Berichtigungen des Tatsachenvortrags können auch nach Ablauf der Anfechtungsfrist vorgenommen werden, soweit dies nicht auf eine Auswechslung des Anfechtungsgrunds hinausläuft. 3. Sonstiges a) Prozesskostenhilfe2618) 1706 Grundsätzlich besteht nicht nur bei einer natürlichen, sondern auch bei einer juristischen Person als Schuldner unter den Voraussetzungen der §§ 114, 116 ZPO ein Anspruch auf Prozesskostenhilfe des Insolvenzverwalters sowie auf Beiordnung eines Rechtsanwalts, selbst wenn der Insolvenzverwalter Volljurist ist.2619) 1707 Mutwilligkeit i. S. v. § 114 ZPO liegt vor, wenn bereits Massearmut eintrat2620) und diese auch nicht nach erfolgreicher Durchsetzung der Anfechtung aufgehoben werden kann.2621) Eine Teilklage kann mutwillig sein, wenn der Insolvenzverwalter ohne nachvollziehbare Gründe von der Geltendmachung der Gesamtforderung absieht.2622) 1708 Den am Gegenstand wirtschaftlichen Berechtigten darf nicht zumutbar sein, die Kosten des Rechtsstreits aufzubringen. Der Insolvenzverwalter persönlich zählt nicht zu diesem Kreis, weil er nur die mit dem Amt verbundenen Kompetenzen wahrnimmt.2623) Unzumutbarkeit kann sich aber schon daraus ergeben, dass trotz Leistungsfähigkeit des Insolvenzgläubigers2624) die Höhe der vorzuschießenden Kosten zu der zu erwartenden Quotenerhöhung im Erfolgsfall außer Verhältnis steht.2625) Der bloße Hinweis auf eine erfolgte Anzeige der Masseunzulänglichkeit genügt nicht.2626) b) Beteiligung Dritter 1709 Insoweit gelten die allgemeinen Regeln der §§ 66 ff. ZPO. Das Recht der Nebenintervention eines Insolvenzgläubigers folgt bereits aus § 18 Abs. 1 AnfG.

___________ 2617) Vgl. auch BGH ZIP 2004, 671. 2618) Ausführlich Huber, in: Gottwald, InsRHdb, 5. Aufl., § 51 Rn. 37. 2619) BGH ZIP 2006, 825. 2620) BGH ZInsO 2012, 736. 2621) BGH ZIP 2012, 2526. 2622) BGH ZIP 2011, 246. 2623) BGH ZIP 2003, 2036. 2624) Zu mehreren Insolvenzgläubigern vgl. KG ZIP 2003, 270. 2625) BGH ZIP 1997, 1553, 1554; vgl. aber zum Fiskus BGH ZInsO 2004, 501; BVerwG ZIP 2006, 1542. 2626) BGH ZIP 2019, 1486.

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D. Schuldverschreibungsgesetz (SchVG)

Mitglieder des Gläubigerausschusses, die nicht auch Insolvenzgläubiger sind (vgl. § 67 Abs. 3 InsO), sind nicht zur Streithilfe berechtigt.2627) c) Grundurteil Ein Grundurteil (§ 304 ZPO) kommt in Betracht, wenn der Kläger als Wert- 1710 ersatz eine Geldleistung verlangt, also beim Sekundäranspruch des § 143 Abs. 1 Satz 2 InsO,2628) nicht aber beim Anspruch auf Rückgewähr eines veräußerten Gegenstands. d) Kosten Es gelten die §§ 91 ff. ZPO. Im Falle der Masseinsuffizienz besteht vorbe- 1711 haltlich § 826 BGB keine persönliche Haftung des Insolvenzverwalters für die Kosten des obsiegenden Anfechtungsgegners.2629) Denn der Insolvenzverwalter streitet nicht für sein Vermögen, sondern für die Insolvenzmasse. § 61 InsO setzt eine rechtsgeschäftliche Begründung von Verbindlichkeiten voraus; der prozessuale Kostenerstattungsanspruch steht dem nicht gleich. Eine insolvenzspezifische Pflicht (§ 60 InsO) wird durch das prozessuale Unterliegen nicht verletzt. D. Schuldverschreibungsgesetz (SchVG) I. Einleitung Sacha Lürken

Das Schuldverschreibungsgesetz (SchVG) regelt die Rechte von Gläubigern 1712 von inhaltsgleichen Schuldverschreibungen (vgl. § 793 BGB) aus Gesamtemissionen, auch Anleihen genannt, gegenüber dem Emittenten und, soweit in den Bedingungen der Anleihe Mehrheitsbeschlüsse vorgesehen sind, auch unter den Anleihegläubigern. Es löste nach langer Entstehungsgeschichte das Schuldverschreibungsgesetz von 1899 (SchVG [1899])2630) aufgrund dessen erkannter Untauglichkeit für außerinsolvenzliche Restrukturierungen ab. Wesentlicher Regelungsgehalt des SchVG ist – sofern dies die Anleihebedin- 1713 gungen vorsehen (§ 5 Abs. 1 SchVG) („Opt-in-Modell“) – die Möglichkeit zur Kollektivbindung von Anleihegläubigern durch Mehrheitsbeschlüsse in einer Gläubigerversammlung. Die Regelungen im SchVG zu den Formalia der Gläubigerversammlung außerhalb eines Insolvenzverfahrens sind dabei im Wesentlichen an die Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft ange___________ 2627) Jacoby, in: Bork, Kap. 14 Rn. 11. 2628) BGH NJW 1995, 1093, 1095 = ZIP 1995, 297. 2629) BGH ZIP 2005, 131, 132. 2630) Gesetz, betreffend die gemeinsamen Rechte der Besitzer von Schuldverschreibungen (RGBl. 1899, 691) in der im BGBl. Teil III, Gliederungsnummer 4134-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, zuletzt geändert durch Artikel 53 des Gesetzes vom 5.10.1994 (BGBl. I, 2911).

Sacha Lürken

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Teil 4 Restrukturierung

lehnt, wobei jedoch aufgrund der unterschiedlichen Rechtsbeziehung (Gläubiger statt Aktionäre) Besonderheiten zu beachten sind. 1714 Kritisiert wird – zutreffend – die im Vergleich zu sonstigen Wirtschaftsgesetzen „recht geringe“ Regelungsdichte, die einen „komplizierten Regelungsauftrag für die Richter“ darstelle.2631) Die Instanzgerichte sind diesem Regelungsauftrag in der anfänglichen Rechtsprechung bedauerlicherweise nicht immer in besonders sanierungsfreundlicher Weise nachgekommen; neuere Entscheidungen des BGH und auch vereinzelt von Instanzgerichten zeigen jedoch Tendenzen auf, den Sanierungsgedanken des SchVG ernst zu nehmen. 1. Anwendungsbereich a) Sachlicher Anwendungsbereich 1715 Das SchVG ist anwendbar auf (§ 1 Abs. 1 SchVG) x

inhaltsgleiche Schuldverschreibungen aus Gesamtemissionen,

x

die nach deutschem Recht begeben2632) sind.

1716 Weggefallen im Vergleich zum alten SchVG (1899) sind x

das Erfordernis der Begebung im Inland,

x

das Erfordernis der im Voraus bestimmten Nennbeträge und

x

der Mindestanforderungen an Höhe und Stückelung der Anleihen.

1717 Das SchVG ist auch auf Genussscheine mit Verlustbeteiligung anwendbar,2633) nicht jedoch (mangels Verbriefung) auf Genussrechte.2634) Keine Rolle für die Einordnung als „Schuldverschreibung“ spielen die wertpapierrechtliche Einordnung (Namens- oder Inhaberschuldverschreibung),2635) die Art der Verbriefung (als Globalurkunde oder in mehreren Stücken) oder die Art der Verwahrung.2636) 1718 Ob § 1 Abs. 1 SchVG ein „Reinheitsgebot“ zu entnehmen ist, wonach für sämtliche Anleihebedingungen deutsches Recht gewählt oder nach Kollisionsnormen maßgeblich sein muss oder ob sich die Anwendbarkeit deutschen Rechts allein auf das Leistungsversprechen beziehen muss, ist nach wie vor unklar. Im Fall Pfleiderer hatte das LG Frankfurt/M.2637) unter Hinweis auf ___________ 2631) Florstedt, ZIP 2012, 2286, 2287. 2632) Emittent kann dabei auch eine Auslandsgesellschaft sein, dazu Rn. 1723. 2633) BGH ZIP 2014, 1876 Rn. 9, dazu EWiR 2014, 611 (Müller-Eising). 2634) BGH ZIP 2018, 882 Rn. 15, dazu EWiR 2018. 341 (Seibt). 2635) Kusserow, RdF 2012, 4, 9. 2636) Langenbucher/Bliesener/Spindler/Bliesener/Schneider, Kap. 17 § 1 SchVG Rn. 13; Hopt/Seibt/Artzinger-Bolten/Wöckener, § 1 Rn. 20. 2637) LG Frankfurt/M. ZIP 2011, 2306, dazu EWiR 2012, 61 (Armbrüster).

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D. Schuldverschreibungsgesetz (SchVG)

eine Bestimmung in Anleihebedingungen, welche für den vertraglichen Nachrang der Anleiheforderung niederländisches Recht für anwendbar beschrieb, die Anwendbarkeit des SchVG abgelehnt. Der BGH hat sich trotz Gelegenheit dazu2638) bislang nicht geäußert; die Problematik dürfte aber nur wenige Anleihen betreffen. Eine „inhaltsgleiche Gesamtemission“ liegt auch vor, wenn eine Anleihe- 1719 emission nachträglich durch Aufstockung (Tap Offering) erhöht wird.2639) Nach § 1 Abs. 2 SchVG findet das Gesetz keine Anwendung auf

1720

x

Pfandbriefe;

x

Schuldverschreibungen, die von der deutschen öffentlichen Hand emittiert oder garantiert werden. Für Anleihen des Bundes (nicht: der Länder oder Gemeinden) mit einer Laufzeit von mehr als einem Jahr gelten §§ 4a ff. BSchWG;2640)

x

Schuldverschreibungen, die von Staaten des Euro-Raums begeben werden. Auch hierfür gelten §§ 4a ff. BSchWG.

b) Zeitlicher Anwendungsbereich Das SchVG ist anwendbar auf nach dem 5.8.2009 begebende Schuldver- 1721 schreibungen (§ 24 Abs. 1 Satz 1 SchVG). Auf vor dem 5.8.2009 begebene Anleihen (Altanleihen) findet das SchVG von 1899 weiterhin Anwendung (§ 24 Abs. 1 Satz 2 SchVG). Allerdings können durch Beschluss von Anleihegläubigern mit qualifizierter Mehrheit und Zustimmung des Emittenten die Anleihebedingungen einer Altanleihe geändert werden, um die im SchuldVG vorgesehenen Instrumentarien nutzen zu können („Opt-in“). Aufgrund des unterschiedlichen sachlichen Anwendungsbereichs von SchVG 1722 und dem Schuldverschreibungsgesetz von 18992641) hatten die Gerichte in den ersten Entscheidungen zum SchVG Probleme mit „Opt-in“-Beschlüssen. Im Fall Pfleiderer lehnte das OLG Frankfurt/M.2642) (wie zuvor schon im Fall Q-Cells das LG Frankfurt/M.2643) die Anwendung des SchVG ab, da die Altanleihe im Ausland begeben und somit das SchVG (1899) nicht auf diese Anleihe anwendbar sei; m. a. W., es verstand den Begriff „Schuldverschrei___________ 2638) BGH ZIP 2014, 1876, Rn. 9, dazu EWiR 2014, 611 (Müller-Eising); BGH ZIP 2015, 473, dazu EWiR 2015, 239 (Just/Maiwald). 2639) Amtl. Begr. RegE, BT-Drucks. 16/12814, S. 18; Hartwig-Jacob, in: FK-SchVG, § 1 Rn. 119 ff.; Langenbucher/Bliesener/Spindler/Bliesener/Schneider, Kap. 17 § 1 SchVG Rn. 13; Hopt/Seibt/Artzinger-Bolten/Wöckener, § 1 Rn. 22. 2640) Bundesschuldenwesengesetz v. 12.7.2006 (BGBl. I, 1466). 2641) Siehe oben Rn. 1716. 2642) OLG Frankfurt/M. ZIP 2012, 725, dazu EWiR 2012, 259 (Paulus). 2643) LG Frankfurt/M. ZIP 2012, 474.

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Teil 4 Restrukturierung

bung“ in § 24 Abs. 2 Satz 1 SchVG nicht wie in § 1 Abs. 1 SchVG, sondern wie in § 1 SchVG (1899) definiert. 1723 Zusätzlich begründete es seine Meinung damit, dass ein nachträglicher „Optin“ dann einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot (Art. 20 GG) darstelle, wenn der Gläubiger (aufgrund der Nichtanwendbarkeit des SchVG [1899]) bei Emission nicht mit einer nachträglichen Änderung seiner Rechte durch Mehrheitsbeschluss rechnen musste. Dieser – in der Literatur zuvor bereits auf einhellige Ablehnung gestoßene2644) – Auffassung – die zur Insolvenz der betroffenen Emittenten führte – erteilte der BGH in seiner ersten Entscheidung zum SchVG2645) eine deutliche Abfuhr. 1724 Der Beschluss zum Opt-in kann mit evtl. Beschlüssen zur Änderung von Anleihebedingungen nach § 5 SchVG verbunden werden; es ist nicht nötig, hierzu zwei separate Gläubigerversammlungen abzuhalten.2646) 1725 Ein nachträglicher Opt-in für vor dem 5.8.2009 begebene Anleihen kann auch noch im eröffneten Insolvenzverfahren beschlossen werden,2647) zumindest mit dem Ziel der Bestellung eines gemeinsamen Vertreters für die gemeinsame Wahrnehmung der Rechte der Anleihegläubiger (§ 19 Abs. 3 SchVG). Unklar bleibt, ob bei einem nachträglichen Opt-in im Insolvenzverfahren auch die Anwendbarkeit von § 5 SchVG beschlossen und damit Mehrheitsbeschlüsse der Anleihegläubiger im Insolvenzverfahren („Versammlung in der Versammlung“) ermöglicht werden könnte. In der Literatur wird teilweise vertreten, § 5 SchVG sei unanwendbar,2648) teilweise werden Beschlüsse mit Weisungen an den gemeinsamen Vertreter für zulässig erachtet, aber keine Beschlüsse zur Änderung der Anleihebedingungen,2649) teilweise sämtliche nach § 5 SchVG möglichen Beschlüsse auch im Insolvenzverfahren

___________ 2644) Langenbucher/Bliesener/Spindler/Bliesener/Schneider, Kap. 17 § 24 SchVG Rn. 8; Hartwig-Jacob/Friedl, in: FK-SchVG, § 24 Rn. 13; Hopt/Seibt/Artzinger-Bolten/ Wöckener, § 24 Rn. 6 f.; Oulds CFL 2012, 353; Paulus, EWiR 2012, 259; ders., WM 2012, 1109, 1112; Baums/Schmidtbleicher, ZIP 2012, 204; Keller, BKR 2012, 15; Friedl, BB 2012, 1309; Weckler, NZI 2012, 480; Meier/Schauenburg, CFL 2012, 161; Lürken, GWR 2012, 227. 2645) BGH ZIP 2014, 1876, Rn. 9 ff., dazu EWiR 2014, 611 (Müller-Eising). 2646) Otto, DNotZ 2012, 809, 811; Kusserow, WM 2011, 1645, 1648; im Fall BGH ZIP 2014, 1876, dazu EWiR 2014, 611 (Müller-Eising) waren Opt-In Beschluss und Beschluss zur Änderung der Anleihebedingungen verbunden worden, ohne dass der BGH dies beanstandet hätte. 2647) BGH ZIP 2017, 2312 m. Anm. Thole; dazu EWiR 2017, 757 (Lürken); zuvor schon AG Fürth, v. 19.2.2013 – IN 948/11 – Solar Millennium AG (abrufbar unter www.bundesanzeiger.de); a. A. zuvor noch OLG Dresden ZIP 2016, 87 = NZI 2016, 149 m. Anm. Brenner/Moser, dazu EWiR 2016, 117 (Knauthe). 2648) Langenbucher/Bliesener/Spindler/Bliesener/Schneider, Kap. 17 § 19 SchVG Rn. 30; Thole, ZIP 2014, 293, 295. 2649) Westpfahl/Seibt, in: A. Schmidt, Sanierungsrecht, 2. Aufl., Anh. zu § 39 InsO Rn. 53; FK-SchVG/Friedl, § 19 Rn. 37.

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D. Schuldverschreibungsgesetz (SchVG)

für zulässig erachtet.2650) Der BGH zitiert die letztere Auffassung bejahende Literatur als „zutreffend“,2651) bemerkt an anderer Stelle2652)aber, dass eine Modifizierung der Anleihebedingungen nach Insolvenzeröffnung Probleme aufwerfen könnte. Es ist nicht aber einsichtig, wieso Anleihegläubiger nicht wie jeder andere Insolvenzgläubiger mit dem Schuldner bzw. Insolvenzverwalter Modifizierungen ihrer Forderungen vereinbaren und so bspw. auch bei einer Einstellung des Insolvenzverfahrens nach § 213 InsO durch Herabsetzung der Anleihe auf das für den Schuldner tragbare Maß mitwirken sollen dürfen. Eine „gläubigerfreundliche Modifizierung“ ist nicht zu befürchten, da der Emittent (im Regelverfahren der Insolvenzverwalter2653)) der Änderung zustimmen muss.2654) Beispiel für einen Beschluss zum nachträglichen „Opt-in“ und gleichzeitiger 1726 Beschlussfassung zur Bestellung eines gemeinsamen Vertreters: Die Emittentin schlägt den Gläubigern vor, Folgendes zu beschließen: a) Das Gesetz über Schuldverschreibungen aus Gesamtemissionen vom 31. Juli 2009 in seiner jeweils gültigen Fassung (das „SchVG“) findet auf die ¼ [ ] [ ] % [Inhaber-]Schuldverschreibungen (ISIN: [ ]) (die „Anleihe“) Anwendung. b) Die Emissionsbedingungen der Anleihe werden wie folgt geändert: (i) In die Bedingungen der ¼ [ ] [ ] % [Inhaber-]Schuldverschreibungen wird folgender neuer § [ ] eingefügt § [ ] Anwendbarkeit des Schuldverschreibungsgesetzes 2009; Änderungen der Emissionsbedingungen durch Mehrheitsbeschluss; Gemeinsamer Vertreter; Mehrheitsbeschlüsse (a) Das Gesetz über Schuldverschreibungen aus Gesamtemissionen vom 31. Juli 2009 in seiner jeweils gültigen Fassung (das „SchVG“) ist auf die [Schuldverschreibungen] anwendbar. (b) Die Gläubiger können nach Maßgabe der §§ 5 ff. SchVG in seiner jeweiligen gültigen Fassung durch Mehrheitsbeschluss in einer Gläubigerversammlung oder im Wege einer Abstimmung ohne Versammlung Änderungen der Anleihebedingungen beschließen. ___________ 2650) Hopt/Seibt/Knapp, § 19 SchVG Rn. 59; Brenner/Moser, NZI 2016, 151; Lürken/Ruf, in: Theiselmann, Praxishandbuch des Restrukturierungsrechts, Kap. 5 Rn. 186; Kessler, GWR 2016, 148; Wilken/Schaumann/Zenker, Anleihen in Restrukturierung und Insolvenz, 2015, Rn. 619; Kessler/Rühle, BB 2014, 907, 913. 2651) BGH ZIP 2017, 2312 Rn. 21, dazu EWiR 2017, 757 (Lürken). 2652) BGH ZIP 2017, 2312 Rn. 27, dazu EWiR 2017, 757 (Lürken). 2653) OLG Stuttgart ZIP 2017, 142, dazu EWiR 2017, 151 (Dimassi). 2654) A. A. Antoniadis, NZI 2018, 136.

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Teil 4 Restrukturierung

(c) Die Gläubiger können zur Wahrnehmung ihrer Rechte einen gemeinsamen Vertreter für alle Gläubiger bestellen. Der gemeinsame Vertreter hat die Aufgaben und Befugnisse, die ihm durch Gesetz eingeräumt sind. Er hat ferner die Aufgaben und Befugnisse, die ihm von den Gläubigern durch Mehrheitsbeschluss im Einzelfall eingeräumt werden. Die Gläubiger sind befugt, dem gemeinsamen Vertreter im Rahmen des gesetzlich Zulässigen sämtliche ihnen zustehenden Befugnisse im Hinblick auf die Emissionsbedingungen und die Schuldverschreibungen, einschließlich sämtlicher Befugnisse zu Änderungen der Emissionsbedingungen, zur Geltendmachung oder einem Verzicht auf Rechte der Gläubiger und zu den Maßnahmen nach § 5 Abs. 3 SchVG, zu übertragen. Kosten und Aufwendungen (einschließlich einer angemessenen Vergütung) des gemeinsamen Vertreters trägt die Emittentin. (d) Die Gläubiger beschließen grundsätzlich mit der einfachen Mehrheit der an der Abstimmung teilnehmenden Stimmrechte. Beschlüsse, durch welche der wesentliche Inhalt der Emissionsbedingungen, insbesondere in den Fällen des § 5 Absatz 3 Nummer 1 bis 9 SchVG, geändert wird, bedürfen zu ihrer Wirksamkeit einer Mehrheit von mindestens [75] % der an der Abstimmung teilnehmenden Stimmrechte. Der Versammlungsleiter bestimmt Art und Form der Abgabe und Auszählung der Stimmen.“ [(ii) In die Bedingungen der ¼ [ ] [ ] % [Inhaber-]Schuldverschreibungen wird folgender neuer § [ ] eingefügt: § [ ] der Anleihebedingungen gilt entsprechend für die folgenden von den nachfolgend genannten Personen bestellten Sicherheiten: [ ]“ c) [ ] wird zum gemeinsamen Vertreter für alle Gläubiger der ¼ [ ] [ ] % [Inhaber-]Schuldverschreibungen bestellt. Die Bestellung ist bis zum [ ] (einschließlich) wirksam. [Die Haftung des gemeinsamen Vertreters ist [auf grobe Fahrlässigkeit und Vorsatz und bei grober Fahrlässigkeit] auf [das [ ]fache seiner jährlichen Vergütung] / [höchstens ¼ [ ]] beschränkt, es sei denn, er handelt vorsätzlich [oder grob fahrlässig]]. c) Persönlicher Anwendungsbereich 1727 Das SchVG gilt grundsätzlich für sämtliche Emittenten unabhängig von deren Rechtsform oder Sitz. 1728 Ein Novum im deutschen Recht – und anders als etwa im Insolvenzrecht bei der Enthaftung des Insolvenzschuldners im Rahmen eines Insolvenzplans (§ 254 Abs. 2 InsO) ist die Möglichkeit, die Wirkung eines den Emittenten enthaftenden Beschlusses auf Sicherungsgeber (z. B. garantiegebende Tochter- oder Muttergesellschaften) durch Mehrheitsbeschluss zu erstrecken, wenn

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D. Schuldverschreibungsgesetz (SchVG)

dies in den Anleihebedingungen und in dem Beschluss der Anleihegläubiger vorgesehen ist (§ 22 SchVG). d) Abweichende Vereinbarungen Anders als noch im SchVG (1899) sind die Vorschriften über die Gläubiger- 1729 organisation und -maßnahmen (§§ 5 – 21 SchVG) nur anwendbar, wenn die Anleihebedingungen dies vorsehen („Opt-in-Klausel“).2655) Bei nach dem 5.8.2009 begebenen Anleihen, deren Bedingungen Änderungen durch Mehrheitsbeschluss nicht vorsehen („Nulloption“2656), ist kein nachträglicher „Optin“ möglich.2657) Sehen die Anleihebedingungen eine Änderung durch Mehrheitsbeschluss 1730 vor, sind die Vorschriften des SchVG halbzwingend, d. h., die Anleihebedingungen können nicht zum Nachteil der Gläubiger von den §§ 5 – 21 SchVG abweichen (§ 5 Abs. 1 Satz 2 SchVG);2658) umgekehrt können die Anleihebedingungen aber zugunsten der Anleihegläubiger divergieren, z. B. durch Aufstellung höherer Mehrheitserfordernisse. Möglich sind auch bilaterale Vereinbarungen mit einzelnen Anleihegläubigern, 1731 solange sie den einzelnen Anleihegläubiger nicht begünstigen, z. B. in Form von Veräußerungs- oder Kündigungssperren (Lock-up Agreements).2659) Diese haben jedoch keinen Einfluss auf die Anleihebedingungen als solche, sondern begründen nur bei Verstoß einen schuldrechtlichen Anspruch gegen den vertragsschließenden Anleihegläubiger. Denkbar sind solche Vereinbarungen etwa bei Verhandlungen mit einer Gruppe von Anleihegläubigern (Bondholder Ad hoc Committee). e) Verhältnis zu allgemeinen Rechtsvorschriften Zusätzlich oder außerhalb des Anwendungsbereichs des SchVG unterliegen 1732 Anleihebedingungen den Beschränkungen der §§ 307 ff. BGB2660) und bei Inhaberschuldverschreibungen §§ 793 ff. BGB. Offen ist, ob für das Transparenzgebot § 3 SchVG lex specialis zu § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB ist.2661) ___________ 2655) Schlitt/Schäfer, AG 2009, 477, 479. 2656) Horn, BKR 2009, 446, 449. 2657) Oulds, CFL 2012, 353, 357. 2658) OLG Stuttgart ZIP 2018, 1727, Rn. 77, dazu EWiR 2019, 41 (Müller-Eising). 2659) Schlitt/Schäfer, AG 2009, 477, 481. 2660) BGH ZIP 2019, 679; dazu EWiR 2019, 307 (Lau); BGH ZIP 2018, 882; dazu EWiR 2018, 341 (Seibt); Horn, BKR 2009, 446, 453; Horn, ZHR 173 (2009), 12, 37 ff.; Schmidt/Schrader, BKR 2009, 397, 402; Schwenk, jurisPR-BKR 1/2009 Anm. 4; a. A. Langenbucher/Bliesener/Spindler/Bliesener/Schneider, Kap. 17, § 3 SchVG Rn. 29; Hopt/Seibt/Artzinger-Bolten/Wöckener, § 3 Rn. 72; Sester, AcP 209 (2009), 628, 666: Analogie zur Bereichsausnahme nach § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB; a. A. für Fremdemissionen Preuße/Dippel/Preuße, SchVG, § 3 Rn. 34 ff. 2661) BGH ZIP 2018, 882 Rn. 33, dazu EWiR 2018, 341 (Seibt).

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Teil 4 Restrukturierung

1733 Anleihen können ferner nach der Rechtsprechung aus wichtigem Grund gekündigt werden (§ 314 BGB).2662) 2. Regelungsgehalt 1734 Wesentlicher Regelungsgehalt des SchVG sind die Vorschriften über Mehrheitsbeschlüsse der Gläubigerversammlung (§§ 5 – 21 SchVG). Das SchVG sieht im Wesentlichen folgende Maßnahmen vor, welche die Gläubigerversammlung beschließen kann: x

Änderung von Anleihebedingungen durch Mehrheitsbeschluss der Gläubigerversammlung (§ 5 Abs. 3 SchVG);

x

Abstimmung über das Entfallen der Wirkung einer Kündigung (§ 5 Abs. 5 SchVG);

x

Erstreckung auf Mitverpflichtete (§ 22 SchVG);

x

Bestellung eines gemeinsamen Vertreters und ggf. Ermächtigung zur Ausübung von Gläubigerrechten (§ 7 SchVG).

1735 Die Gläubigerversammlung kann als physische Versammlung (§§ 5 – 17 SchVG) oder – ebenfalls ein Novum im deutschen Recht – als Abstimmung ohne Versammlung (§ 18 SchVG) (sog. „virtuelle Versammlung“) abgehalten werden. Die Anleihebedingungen können eine der beiden Möglichkeiten ausschließen (§ 5 Abs. 6 Satz 2 SchVG). Die Vorschriften über die physische Versammlung gelten dabei grundsätzlich auch für die virtuelle Versammlung (§ 18 Abs. 1 SchVG). 1736 Die Gläubigerversammlung ist nur beschlussfähig, wenn mindestens 50 % des Werts der ausstehenden Anleihe anwesend sind. Der Vorsitzende kann eine zweite Versammlung einberufen, die dann auch ohne Quorum beschlussfähig ist, es sei denn, es wird über eine wesentliche Änderung von Anleihebedingungen beschlossen; dann müssen mindestens 25 % des Werts der ausstehenden Anleihe anwesend sein. a) Änderung von Anleihebedingungen 1737 Vorbehaltlich x

einer Einschränkung in den Anleihebedingungen (§ 5 Abs. 3 Satz 2 SchVG),

x

des Verbots der Begründung von neuen Leistungspflichten (§ 5 Abs. 1 Satz 2 SchVG),

x

des Verbots der Ungleichbehandlung von Gläubigern (§ 5 Abs. 2 Satz 2 SchVG)

___________ 2662) Dazu unten Rn. 1822 ff.

574

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D. Schuldverschreibungsgesetz (SchVG)

sieht das Gesetz folgende Möglichkeiten zur Änderung von Anleihebedingungen vor: x

Zinsstundung, -herabsetzung und/oder -verzicht (§ 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SchVG);

x

Stundung und/oder Verringerung der Hauptforderung (§ 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und 3 SchVG);

x

Nachrangerklärung (§ 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 SchVG);

x

Umwandlung oder Umtausch in Geschäftsanteile, andere Wertpapiere oder andere Leistungsversprechen (§ 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 SchVG);

x

Freigabe oder Austausch von Sicherheiten (§ 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 SchVG);

x

Währungsänderung (§ 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 SchVG);

x

Verzicht oder Beschränkung von Kündigungsrechten (§ 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 8 SchVG);

x

Schuldneraustausch (§ 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 9 SchVG);

x

Änderung oder Aufhebung von Nebenbestimmungen (§ 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 10 SchVG).

Durch die Verwendung von „insbesondere“ wird klargestellt, dass die im Ge- 1738 setz genannten möglichen Änderungen der Anleihebedingungen nur beispielhaft sind.2663) Daher ist, sofern in den Anleihebedingungen vorgesehen, auch ein vollständiger Verzicht auf die Hauptforderung möglich.2664) Für sämtliche wesentlichen Beiträge – das sind jedenfalls die in § 5 Abs. 3 1739 Satz 1 SchVG genannten Regelbeispiele mit Ausnahme der Änderung oder Aufhebung von Nebenbestimmungen (§ 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 10 SchVG) – bedarf es einer qualifizierten Mehrheit, d. h. der Stimmen von mindestens 75 % der Anleihegläubiger (§ 5 Abs. 4 Satz 1 SchVG) oder einer entsprechenden Ermächtigung des gemeinsamen Vertreters (§ 8 Abs. 2 Satz 2 und 3 SchVG). b) Bestellung eines gemeinsamen Vertreters Das SchVG unterscheidet zwischen dem

1740

x

bereits in den Anleihebedingungen bestellten gemeinsamen Vertreter („Vertragsvertreter“)

x

durch Beschluss der Gläubigerversammlung bestellten gemeinsamen Vertreter („Wahlvertreter“).

___________ 2663) Begr. RegE BT-Drucks. 16/12814, S. 18. 2664) A. A. Kuder/Obermüller, ZInsO 2009, 2025, 2026; offen Vogel, ZBB 2010, 211, 212.

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575

Teil 4 Restrukturierung

1741 Der Vertragsvertreter im Vergleich zum Wahlvertreter weniger Befugnisse, insb. kann er nicht ohne ermächtigenden Beschluss der Anleihegläubigerversammlung auf Rechte der Anleihegläubiger verzichten (§ 8 Abs. 2 SchVG);2665) auch ist – anders als beim Wahlvertreter – die Bestellung von Organen und Arbeitnehmern des Emittenten oder mit ihm verbundener Unternehmen nichtig (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SchVG). 1742 Die Befugnisse des Wahlvertreters ergeben sich aus Gesetz und den Beschlüssen der Gläubigerversammlung. Ist der gemeinsame Vertreter zur Geltendmachung der Rechte der Gläubiger ermächtigt, hat dies verdrängende Wirkung, soweit nicht ausdrücklich anderweitig bestimmt (§ 7 Abs. 2 Satz 3 SchVG). Soweit der gemeinsame Vertreter zu Maßnahmen ermächtigt werden soll, die eine qualifizierte Mehrheit erfordern (also insb. Sanierungsbeiträge i. S. d. § 5 Abs. 3 SchVG), bedarf auch dieser Beschluss der qualifizierten Mehrheit. 1743 Gemeinsamer Vertreter kann jede geschäftsfähige Person oder sachkundige2666) juristische Person sein (§ 7 Abs. 1 SchVG). Folgende Personen, die in einem bestimmten Näheverhältnis zum Emittenten oder einzelnen Großgläubigern stehen, müssen die entsprechenden Umstände offenlegen (§ 7 Abs. 2 SchVG): x

Organe und Angestellte des Emittenten oder eines mit ihm verbundenen Unternehmens;

x

Inhaber von 20 % oder mehr des Eigenkapitals des Emittenten oder eines mit ihm verbundenen Unternehmens;

x

Finanzgläubiger des Emittenten mit einer Forderung in Höhe von 20 % oder mehr des Nennwerts der Anleihe oder Organe oder Mitarbeiter eines solchen Finanzgläubigers;

x

Personen, die aufgrund einer besonderen persönlichen Beziehung unter dem bestimmenden Einfluss eines der Vorgenannten stehen.

1744 Die fehlende Offenlegung solcher Umstände stellt eine Ordnungswidrigkeit dar (§ 23 Abs. 2 SchVG). Fraglich ist, ob bei fehlender Offenlegung die Bestellung des gemeinsamen Vertreters angefochten werden kann; der Wortlaut des Gesetzes spricht eher dagegen.2667)

___________ 2665) Insoweit könnte man den Vertragsvertreter auch als „vorläufigen gemeinsamen Vertreter“ bezeichnen, vgl. Bredow/Vogel, ZBB 2009, 153, 156. 2666) Beispielhaft werden Rechtsanwalts- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften genannt, Begr. RegE BT-Drucks. 16/12184, S. 19. 2667) Vgl. auch Begr. RegE BT-Drucks. 16/12184, S. 19: „Als gemeinsamer Vertreter kommen auch Personen in Betracht, die der Interessensphäre des Schuldners zuzurechnen sind. (…) Für die Gläubiger ergibt sich daraus grds. kein Nachteil (…).“

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D. Schuldverschreibungsgesetz (SchVG)

II. Rechtsschutz im Zusammenhang mit Einberufung einer Gläubigerversammlung/Abstimmung ohne Versammlung § 9 Abs. 2, Abs. 3 SchVG regeln Rechtsmittel im Zusammenhang mit der Ein- 1745 berufung der Gläubigerversammlung. 1. Antrag auf Ermächtigung zur Einberufung einer Gläubigerversammlung (§ 9 Abs. 2 SchVG) Grundsätzlich wird die Gläubigerversammlung vom Emittenten (im eröffneten 1746 Insolvenzverfahren vom Insolvenzverwalter)2668) oder von einem gemeinsamen Vertreter einberufen (§ 9 Abs. 1 SchVG). Nicht immer ist der Emittent aber willens, eine Gläubigerversammlung einzuberufen, und oft gibt es noch keinen gemeinsamen Vertreter. In diesen Fällen eröffnet § 9 Abs. 2, Abs. 3 SchVG die Möglichkeit der Einberufung der Gläubigerversammlung durch Anleihegläubiger auch gegen den Willen des Emittenten. Gläubigerversammlung i. S. d. § 9 Abs. 2 SchVG ist dabei nur die erste Gläubi- 1747 gerversammlung i. S. d. § 15 Abs. 3 Satz 1 SchVG, nicht die aufgrund Nichterreichens des 50 %-Quorums in der ersten Versammlung einberufene zweite Versammlung i. S. d. § 15 Abs. 3 Satz 2 SchVG.2669) Sehen die Anleihebedingungen statt einer Gläubigerversammlung ausschließlich eine Abstimmung ohne Versammlung vor (§ 5 Abs. 6 Satz 2 SchVG), kann das Gericht gleichwohl zur Einberufung einer Gläubigerversammlung ermächtigen.2670) a) Statthaftigkeit Das Einberufungserzwingungsverfahren nach § 9 Abs. 2, Abs. 3 SchVG ist 1748 sowohl außerhalb des Insolvenzverfahrens als auch im eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen des Emittenten statthaft. § 19 Abs. 1 SchVG verweist zwar für die Anleihegläubigerversammlung grundsätzlich auf die Vorschriften der Insolvenzordnung (InsO). § 19 Abs. 2 SchVG sieht vor, dass das Insolvenzgericht von Amts wegen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine Anleihegläubigerversammlung „nach den Vorschriften dieses Gesetzes“ einzuberufen hat, um die Gläubiger über die Bestellung eines gemeinsamen Vertreters beschließen zu lassen, sofern nicht bereits ein gemeinsamer Vertreter bestellt ist. Dies beschränkt aber nicht die Statthaftigkeit weiterer Einberufungsverlangen und -erzwingungsverfahren, zumindest soweit diese auf die Beschlussfassung über die Bestellung eines gemeinsamen Vertreters gerichtet sind.2671) ___________ 2668) OLG Stuttgart ZIP 2017, 142, dazu EWiR 2017, 151 (Dimassi). 2669) BGH ZIP 2015, 473, dazu EWiR 2015, 239 (Just/Maiwald). 2670) OLG Frankfurt/M., v. 7.6.2017 – 20 W 159/17 (zitiert nach juris). 2671) BGH ZIP 2017, 2312 Rn. 20, dazu EWiR 2017. 757 (Lürken); OLG Zweibrücken, v. 20.3.2013 – 3 W 9/13, BeckRS 2013, 15224 m. Anm. Moser, BB 2014, 84 und m. Anm. Lürken, GWR 2013, 499.

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Teil 4 Restrukturierung

1749 Ein Einberufungserzwingungsverfahren setzt die Anwendbarkeit von § 9 Abs. 2, Abs. 3 SchVG voraus; für ab dem 5.8.2009 begebene Anleihen ist es daher nach der Rechtsprechung nur statthaft, wenn in den Anleihebedingungen bereits für die Anwendbarkeit des SchVG optiert wurde.2672) b) Antragsberechtigter 1750 Antragsberechtigt sind Anleihegläubiger, die zusammen 5 % oder mehr der Anleihe halten (§ 9 Abs. 2 Satz 1 SchVG). 1751 Umstritten ist, wie mit Änderungen des Gläubigerkreises nach Stellung des Einberufungsverlangens an den Emittenten umzugehen ist. Nach einer Ansicht muss das 5 %-Quorum nur bei Einberufungsverlangen und Einreichung des Erzwingungsantrags vorliegen; ein nachträgliches Absinken soll unschädlich sein.2673) Nach herrschender Auffassung muss die 5 %-Schwelle aber auch zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung über den Einberufungserzwingungsantrag vorliegen.2674) Umstritten ist dann wiederum, ob diese 5 %-Schwelle bei Abrutschen des ursprünglichen Antragstellers auch durch andere (dem Verfahren beitretende) Gläubiger erreicht werden darf2675) oder ob diese Gläubiger zunächst ein Einberufungsverlangen beim Emittenten stellen müssen2676). Verweigert der Emittent jedoch die Einberufung unabhängig vom Erreichen des Quorums, bleibt das Einberufungserzwingungsverfahren statthaft.2677) 1752 In teleologischer Reduktion des Wortlauts sind Gläubiger von Anleihen, deren Bedingungen eine wirksame Nachrangabrede (§ 39 Abs. 2 InsO) enthalten, im eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögens des Emittenten nicht antragsberechtigt, es sei denn, das Insolvenzgericht hat auch Nachranggläubiger zur Anmeldung von Forderungen aufgefordert (§ 174 Abs. 3 InsO) oder es ist zu erwarten, dass für diese eine Gruppe in einem Insolvenzplan gebildet wird (§ 225 InsO).2678) Die Nachrangabrede kann allerdings wegen Verstoß gegen das Transparenzgebot (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB) unwirksam sein, wenn sie nicht so formuliert ist, dass „aus ihr die Rangtiefe, die vorinsolvenzliche Durchsetzungssperre, deren Dauer und die Erstreckung auf die Zinsen klar und unmissverständlich hervorgehen. Dies erfordert auch, dass die Voraussetzungen der vorinsolvenzlichen Durchsetzungssperre hinreichend deutlich erläutert werden, ___________ 2672) LG Hamburg ZIP 2017, 2418, dazu EWiR 2018, 215 (Knauthe); vgl. auch Rn. 1729. 2673) Schmidtbleicher, in: FK-SchVG, § 9 Rn. 26; Hopt/Seibt/Binder, § 9 Rn. 36. 2674) So noch die 1. Aufl., 2013 Langenbucher/Bliesener/Spindler/Bliesener/Schneider, Kap. 17 § 9 SchVG Rn. 17; anders jetzt 2. Aufl., 2016 Rn. 12. 2675) So noch die 1. Aufl. 2013 Langenbucher/Bliesener/Spindler/Bliesener/Schneider, Kap. 17 § 9 SchVG Rn. 18; anders jetzt 2. Aufl., 2016 Rn. 12. 2676) So Schmidtbleicher, in: FK-SchVG, § 9 Rn. 27; Hopt/Seibt/Binder, § 9 Rn. 36. 2677) OLG Zweibrücken, v. 20.3.2013 – 3 W 9/13, BeckRS 2013, 15224 m. Anm. Moser, BB 2014, 84 und m. Anm. Lürken, GWR 2013, 499. 2678) LG Bonn ZIP 2014, 983, dazu EWiR 2014, 395 (Friedl).

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D. Schuldverschreibungsgesetz (SchVG)

insbesondere die Klausel klarstellt, inwieweit die Ansprüche […] bereits dann nicht mehr durchsetzbar sind, wenn die Gesellschaft zum Zeitpunkt des Leistungsverlangens bereits zahlungsunfähig oder überschuldet ist oder dies zu werden droht.“2679) Dann sind die Anleihegläubiger Insolvenzgläubiger i. S. d. § 38 InsO und antragsberechtigt. c) Antragsbefugnis Antragsbefugt sind vorgenannte Gläubiger, „deren berechtigtem Verlangen nicht 1753 entsprochen worden ist“ (§ 9 Abs. 2 Satz 1 SchVG). Ein berechtigtes Verlangen setzt neben dem Erreichen der Mindestanleihenquote von 5 % voraus, dass x

die Einberufung schriftlich beim Emittenten oder – sofern bestellt – beim gemeinsamen Vertreter2680) beantragt und abgelehnt wurde;

x

ein berechtigtes Interesse an der Einberufung besteht.

Ein berechtigtes Interesse liegt vor:

1754

x

für eine Versammlung zur Bestellung oder Abberufung eines gemeinsamen Vertreters;

x

für eine Versammlung, mit der über das Entfallen einer Kündigung beschlossen werden soll;

x

bei einem sonstigen berechtigten Interesse;

x

bei anderen in den Anleihebedingungen geregelten Fällen (§ 9 Abs. 1 Satz 3 SchVG).

Ein Verlangen zur Bestellung eines gemeinsamen Vertreters ist auch dann 1755 berechtigt, wenn bereits eine frühere Gläubigerversammlung stattgefunden hat, in der kein gemeinsamer Vertreter bestellt wurde.2681) Dies gilt auch nach Insolvenzeröffnung. Ein sonstiges berechtigtes Interesse liegt stets vor, wenn die Gläubiger Be- 1756 schlüsse nach § 5 Abs. 3 SchVG fassen wollen.2682) Es dürfte darüber hinaus auch vorliegen, wenn Gläubiger einer vor dem 5.8.2009 begebenen Anleihe über einen nachträglichen „Opt-in“ beschließen wollen. Das berechtigte Interesse entfällt nicht allein deshalb, weil für die Wirksamkeit des Beschlusses über den „Opt-in“ die Zustimmung des Schuldners erforderlich ist (§ 24 Abs. 2 Satz 1 SchVG).2683) Denn nach dem Wortlaut ist die Zustimmung nur ___________ 2679) BGH ZIP 2019, 679, Rn. 36; dazu EWiR 2019, 307 (Lau). 2680) Lehnt der gemeinsame Vertreter die Einberufung ab, müssen die Anleihegläubiger nicht erst nochmal die Einberufung beim Emittenten beantragen (und umgekehrt), vgl. Veranneman/Wasmann/Steber, § 9 Rn. 21. 2681) OLG Zweibrücken, v. 20.3.2013 – 3 W 9/13, BeckRS 2013, 15224 m. Anm. Moser, BB 2014, 84 und m. Anm. Lürken, GWR 2013, 499. 2682) Schmidtbleicher, in: FK-SchVG, § 9 Rn. 32; Hopt/Seibt/Binder, § 9 Rn. 28. 2683) A. A. AG Bonn, v. 14.11.2013 – 99 IN 153/13, BeckRS 2014, 05719.

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für die Wirksamkeit des Beschlusses erforderlich und muss daher erst vorliegen, wenn ein solcher Beschluss gefasst worden ist. Der Emittent hat auch kein schutzwürdiges Interesse, durch eine vorab erklärte, endgültige Verweigerung der Zustimmung eine Versammlung der Anleihegläubiger zu verhindern. Denn der „Opt-in“ dient ja u. a. der Ermöglichung von Beschlüssen zur Änderung der Anleihebedingungen, von denen der Emittent bei einer Krise nur profitieren kann. Eine Verweigerung der Zustimmung käme der vorsätzlichen Nichtwahrnehmung einer Sanierungschance gleich. 1757 Das Einberufungsverlangen bzw. die -ermächtigung erledigt sich nicht dadurch, dass der Emittent oder gemeinsame Vertreter vor der von der Gläubigerminderheit einberufenen Gläubigerversammlung selbst eine Versammlung einberuft.2684) d) Zuständigkeit 1758 Sachlich zuständig ist unabhängig vom Streitwert das Amtsgericht (§§ 375 Nr. 16 FamFG i. V. m. 23a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 4 GVG). 1759 Die örtliche Zuständigkeit richtet sich bei einem inländischen Emittenten nach dem Sitz des Emittenten (§ 9 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 SchVG). Sind in einem Landgerichtsbezirk mehrere Amtsgerichte errichtet, so ist das Amtsgericht am Sitz des Landgerichts zuständig (§ 376 Abs. 1 FamFG); durch Rechtsverordnung können die Landesregierungen die Zuständigkeit abweichend regeln. Für Anträge gegen ausländische Emittenten ist das AG Frankfurt/M. örtlich zuständig (§ 9 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 SchVG). e) Rechtsmittel 1760 Außerhalb eines Insolvenzverfahrens ist gegen den Beschluss, mit dem Einberufungsverlangen entsprochen oder ein solches abgelehnt wird, die sofortige Beschwerde statthaft (§ 9 Abs. 3 Satz 2 SchVG). 1761 Aufgrund der §§ 19 Abs. 1 SchVG i. V. m. 6 InsO soll nach Ansicht des LG Bonn2685) im eröffneten Insolvenzverfahren die Beschwerde unzulässig sein. Das OLG Zweibrücken2686) hat hingegen auch in einem eröffneten Insolvenzverfahren über eine Beschwerde gegen einen Beschluss, mit dem das nach Insolvenzeröffnung gestellte Einberufungsverlangen eines Anleihegläubigers abgewiesen worden war, entschieden. 2. Anträge im Zusammenhang mit der Tagesordnung 1762 Die Bekanntmachung der Einberufung der Gläubigerversammlung hat eine Tagesordnung mit Beschlussgegenständen und -vorschlägen zu enthalten ___________ 2684) OLG Frankfurt/M., v. 7.6.2017 – 20 W 159/17 (zitiert nach juris). 2685) LG Bonn ZIP 2014, 983. 2686) OLG Zweibrücken, v. 20.3.2013 – 3 W 9/13, BeckRS 2013, 15224 m. Anm. Moser, BB 2014, 84 und m. Anm. Lürken, GWR 2013, 499.

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D. Schuldverschreibungsgesetz (SchVG)

(§ 13 Abs. 1, Abs. 2 SchVG). Die Regelung ist eng an §§ 121 Abs. 3, 122, 124 AktG angelehnt. Grundsätzlich können Anleihegläubiger: x

Ergänzung der Tagesordnung um neue Punkte verlangen (§ 13 Abs. 3 SchVG);

x

Gegenanträge zu bereits gestellten Tagesordnungspunkten stellen (§ 13 Abs. 4 SchVG).

a) Ergänzungsantrag (§ 13 Abs. 3 SchVG) Der Ergänzungsantrag ist gerichtet auf die Aufnahme eines neuen Beschluss- 1763 gegenstandes durch den Einberufenden, egal ob Emittent oder gemeinsamer Vertreter. Leistet der Einberufende dem Ergänzungsantrag nicht Folge, so kann der an- 1764 tragstellende Gläubiger ein Erzwingungsverfahren nach § 9 Abs. 2, Abs. 3 SchVG einleiten (§ 13 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 SchVG). aa) Antragsberechtigter Antragsberechtigt sind Anleihegläubiger, die zusammen 5 % oder mehr der 1765 Anleihe halten (§ 13 Abs. 3 Satz 1 SchVG). Auf die vorstehenden Ausführungen kann verwiesen werden. bb) Antragsfrist Eine Frist zur Stellung eines Ergänzungsantrags ist nicht vorgesehen. Da 1766 nach § 13 Abs. 3 Satz 2 SchVG die neuen Beschlussgegenstände aber am dritten Tag vor der Gläubigerversammlung bekannt gemacht sein müssen, sollten antragstellende Anleihegläubiger den Ergänzungsantrag rechtzeitig vorher stellen, um ggf. noch das Erzwingungsverfahren durchführen zu können. Anderenfalls bleibt nur der Weg, einen Antrag auf Einberufung einer weiteren Gläubigerversammlung zu stellen (§ 9 Abs. 1 SchVG). b) Gegenantrag (§ 13 Abs. 4 SchVG) Der – praktisch häufigere – Gegenantrag ist auf eine abweichende Beschluss- 1767 fassung zu einem bereits bekannt gemachten Beschlussvorschlag gerichtet (z. B. Bestellung einer anderen Person als des vom Einberufenden Vorgeschlagenen zum gemeinsamen Vertreter). Ein Gegenantrag muss nicht begründet werden.2687) Der Emittent (nicht der 1768 Einberufende) muss angekündigte Gegenanträge auf seiner Internetseite bekannt machen (§ 13 Abs. 4 SchVG), jedoch nicht öffentlich im Bundesanzeiger. ___________ 2687) Müller, in: Heidel, § 13 SchVG Rn. 5; Langenbucher/Bliesener/Spindler/Bliesener/ Schneider, Kap. 17 § 13 SchVG Rn. 10; Hopt/Seibt/Binder, § 13 Rn. 19.

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aa) Antragsberechtigter 1769 Antragberechtigt ist jeder Anleihegläubiger. Ein Quorum ist im Gegensatz zum Ergänzungsverlangen nicht erforderlich. bb) Antragsfrist 1770 Eine Frist zur Stellung von Gegenanträgen ist nicht vorgesehen. Ein Gegenantrag kann nur in der Gläubigerversammlung gestellt werden; zuvor ist er nur angekündigt. c) Antrag auf Unterlassung des Abhaltens einer Gläubigerversammlung 1771 Ob Anleihegläubiger bei behaupteter Unanwendbarkeit der §§ 5 ff. SchVG die Unterlassung einer Gläubigerversammlung verlangen können, ist unklar. Die Problematik hat sich allerdings entschärft, da sich bei nach dem 5.8.2009 begebenen Anleihen die Anwendbarkeit unmittelbar aus den Anleihebedingungen ergeben wird und bei „Opt-in“-Versammlungen der BGH weitestgehend Rechtssicherheit hinsichtlich der Anwendbarkeit auf nicht dem SchVG (1899) unterliegende Anleihen hergestellt hat. In den wenigen verbleibenden Fällen (etwa bei Streit um das „Reinheitsgebot“)2688) dürfte es jedoch auch an einem Verfügungsgrund fehlen, denn bei Unanwendbarkeit des SchVG sind entsprechende „Scheinbeschlüsse“ ohnehin unwirksam. III. Rechtsschutz gegen Beschlüsse der Gläubigerversammlung 1772 Erstmals geregelt ist im neuen Schuldverschreibungsrecht auch der Rechtsschutz gegen die von der Gläubigerversammlung gefassten Beschlüsse (§ 20 SchVG). Er ist an die aktienrechtliche Anfechtungsklage (§§ 243 ff. AktG) angelehnt.2689) 1773 Unklar ist, ob neben der Anfechtungsklage auch eine Nichtigkeitsklage möglich ist.2690) In den bislang bekannten Fällen, in denen beide Klagearten verbunden wurden, sind die befassten Gerichte hierauf nicht eingegangen. 1774 Nach Insolvenzeröffnung ist gegen Beschlüsse der Anleihegläubigerversammlung nur noch der Antrag auf Aufhebung durch das Insolvenzgericht (§ 19 Abs. 1 SchVG i. V. m. § 78 InsO) statthaft.2691) ___________ 2688) Vgl. oben Rn. 1718. 2689) Begr. RegE BT-Drucks. 16/12814, S. 25 f.; zum Reformbedarf des schuldverschreibungsrechtlichen Beschlussmängelrechts siehe Arbeitskreis Reform des Schuldverschreibungsrechts, ZIP 2014, 845, 854; Baums, ZHR 177 (2013), 807, 815. 2690) Bejahend Friedl, in: FK-SchVG, § 20 Rn. 99; Preuße/Vogel, SchVG, § 20 Rn. 8; Hopt/Seibt/ Kiem, § 20 Rn. 45; Baums, ZBB 2009, 1, 4; wie hier: Maier-Reimer, NJW 2010, 1317, 1319; Otto, DNotZ 2012, 809, 825; die gesetzliche Regelung einer auf wenige Gründe beschränkten Nichtigkeitsklage fordernd H. Schneider, ILF Working Paper Series No. 135, S. 24. 2691) BGH ZIP 2017. 2312, dazu EWiR 2017. 757 (Lürken).

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D. Schuldverschreibungsgesetz (SchVG)

1. Anfechtungsklage (§ 20 Abs. 1, 2 SchVG) a) Anfechtungsberechtigter Anfechtungsberechtigt ist jeder Anleihegläubiger, x

1775

der die Anleihe vor der Bekanntmachung der ersten2692) Gläubigerversammlung bzw. der Abstimmung außerhalb einer Versammlung erworben hat und a) entweder in der Gläubigerversammlung Widerspruch zur Niederschrift erklärt hat oder b) bei virtueller Gläubigerversammlung innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntmachung des Beschlusses (§ 18 Abs. 5 SchVG) Widerspruch erhoben hat, dem nicht abgeholfen wurde (§ 20 Abs. 2 Nr. 1 SchVG); oder

x

der an der Abstimmung nicht teilgenommen hat, wenn er nicht zugelassen wurde, die Versammlung nicht ordnungsgemäß einberufen wurde oder Bekanntmachungsmängel vorlagen (§ 20 Abs. 2 Nr. 2 SchVG), ohne dass es auf den Zeitpunkt des Erwerbs der Anleihe ankäme.

Ebenso wie im Aktienrecht kann eine Beschlussmängelklage eines Anleihe- 1776 gläubigers rechtsmissbräuchlich sein. Auf die hierzu im Aktienrecht entwickelten Indizien kann verwiesen werden.2693) Ein Rechtsmissbrauch kommt insbesondere dann in Betracht, wenn die Anfechtungsklage erkennbar dem Ziel dient, die Emittentin zu einer Leistung zu veranlassen, auf die er keinen Anspruch hat, wenn er sich dabei von der Vorstellung leiten lässt, dass die Emittentin die Leistung erbringen werde, um den Lästigkeitswert der Anfechtungsklage abzukaufen. Dies kann der Fall sein, wenn der Anfechtungskläger einen in keinem Verhältnis zum Nennwert der Anleihe stehenden Betrag verlangt oder wenn der Anfechtungskläger zu seiner rechtlichen Vertretung Beträge aufwendet, die in keinem Verhältnis zur Höhe der gehaltenen Anleihe stehen.2694) b) Anfechtungsgründe Die Anfechtungsklage ist begründet, wenn durch den Beschluss x

Gesetze oder

x

die Anleihebedingungen

1777

___________ 2692) Maßgeblich ist die Bekanntmachung der ersten Gläubigerversammlung auch dann, wenn der angefochtene Beschluss erst in einer zweiten Versammlung gefasst wurde, OLG Karlsruhe, v. 30.9.2015 – 7 AktG 1/15, BB 2015, 2509 = ZIP 2015, 2116. 2693) Vgl. hierzu insb. OLG FrankfurtZIP 2010, 2505 (Zapf). 2694) OLG Karlsruhe ZIP 2015, 2116.

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verletzt werden. Wird die Gesetzesverletzung auf eine Verletzung des Auskunftsrechts in der Versammlung (§ 16 Abs. 1 SchVG) gestützt, begründet dies nur bei falschen oder vorenthaltenen objektiv abstimmungsrelevanten Informationen eine Anfechtung. Bei Rechtsverletzungen aufgrund technischer Störungen bei einer virtuellen Versammlung ist die Anfechtung nur begründet, wenn der Emittent die technischen Störungen grob fahrlässig oder vorsätzlich zu vertreten hat (§ 20 SchVG). 1778 Die Anfechtungsgründe entsprechen damit denen des § 243 AktG; auf die hierzu ergangene Rechtsprechung wird man sich auch für Anfechtungen von Anleihegläubigerbeschlüssen beziehen können. Bei Informationsmängeln ist jedoch zu beachten, dass anders als im aktienrechtlichen Beschlussmängelanfechtungsrecht nicht auf eine Beeinträchtigung der Mitgliedschaftsrechte, sondern allein auf Fremdkapitalgeberinteressen abzustellen ist.2695) 1779 Nicht mehr im SchVG erscheint hingegen – anders als noch im SchuldVG (1899) – das Erfordernis, dass der Beschluss der Wahrung der gemeinsamen Interessen aller Anleihegläubiger dient. Es ist daher davon auszugehen, dass keine materielle Inhaltskontrolle hinsichtlich einer sachlichen Rechtfertigung des Beschlusses stattfindet, sofern die durch das SchVG selbst vorgegebenen Grenzen (§ 5 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 Satz 2 SchVG) eingehalten sind.2696) c) Anfechtungsfrist 1780 Die Anfechtungsklage ist binnen einer Frist von einem Monat nach Bekanntmachung des Beschlusses zu erheben (§ 20 Abs. 3 Satz 1 SchVG). 1781 Wurden Änderungen der Anleihebedingungen bereits vollzogen, tritt jedenfalls nach Ablauf der Monatsfrist ein Bestandsschutz dahingehend ein, dass selbst bei nachträglicher Feststellung der Anfechtbarkeit oder Nichtigkeit des Beschlusses die Änderung der Anleihebedingungen wirksam ist und der Kläger auf einen Schadensersatzanspruch verwiesen wird.2697) Dafür spricht

___________ 2695) Simon, CFL 2010, 159, 161. 2696) Langenbucher/Bliesener/Spindler/Bliesener/Schneider, Kap. 17 § 20 SchVG Rn. 22; Müller, in: Heidel, § 20 SchVG Rn. 6; Hopt/Seibt/Kiem, § 20 Rn. 76; Wilken/Schaumann/ Zenker, Anleihen in Restrukturierung und Insolvenz, Rn. 421; Simon, CFL 2010, 159, 162; a. A.: Preuße/Vogel, SchVG, § 5 Rn. 19; Baums, ZBB 2009, 1, 6; Horn, ZHR 173 (2009), 12, 62; Maier-Reimer, NJW 2010, 1317, 1321: § 243 Abs. 2 AktG analog; wiederum anders Friedl, in: FK-SchVG, § 20 Rn. 38: Inhaltskontrolle mit geringeren Maßstäben als § 243 Abs. 2 AktG; besonders strikt Schönhaar, Die kollektive Wahrnehmung der Gläubigerrechte in der Gläubigerversammlung nach dem neuen SchVG, S. 254, der eine echte Verhältnismäßigkeitsprüfung fordert, und Schmidtbleicher, Die Anleihegläubigermehrheit, S. 365, der auf einen Vergleich der Bewertung der Anleihe mit und ohne Beschluss abstellt. Im Ergebnis führte die Ansicht von Schmidtbleicher zu einem Spruchverfahren im Schuldverschreibungsrecht. 2697) LG Frankfurt/M., v. 23.2.2012 – 3-05 O 66/12, n v.

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der uneingeschränkte Verweis in § 20 Abs. 3 Satz 4 SchVG auf § 246a AktG, der dessen Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 umfassen sollte.2698) d) Zuständigkeit Zuständig ist für die Anfechtungsklage das Landgericht am Sitz des inländi- 1782 schen Schuldners oder bei einem ausländischen Schuldner das LG Frankfurt/M. die Zuständigkeit ist ausschließlich (§ 20 Abs. 3 Satz 3 SchVG). Diese Anordnung der ausschließlichen Zuständigkeit des Emittentensitzgerichts kann mit den Anleihebedingungen oder höherrangigem Recht in Konflikt geraten: x

Bei reinen Inlandssachverhalten (deutscher Emittent und deutscher Gläubiger) ist eine von § 20 Abs. 3 Satz 3 SchVG abweichende Gerichtsstandsvereinbarung unwirksam (§ 40 Abs. 2 Satz 1 ZPO). In vielen Anleihebedingungen finden sich noch regelmäßig Gerichtsstandsvereinbarungen, die vom Emittentensitz abweichen. Die Anfechtungsklage kann demnach nur am Emittentensitzgericht erhoben werden.

x

Bei Klagen mit EU-Auslandsbezug – also bei Klagen gegen Beschlüsse für ausländische Emittenten und/oder von im EU-Ausland ansässigen Anleihegläubigern – sind die Vorgaben der als EU-Primärrecht vorrangig geltenden EuGVVO2699) zu beachten. Sofern die schuldverschreibungsrechtliche Anfechtungsklage als Verbraucherstreitigkeit i. S. d. Art. 17 EuGVVO anzusehen wäre, führte dies – wegen Art. 19 EuGVVO auch bei derogierender Gerichtsstandsklausel in den Anleihebedingungen – zu einem Wahlrecht des Anleihegläubigers hinsichtlich des Gerichtsstands für die Beschlussmängelklage an seinem Wohnort oder dem Emittentensitz (Art. 18 Abs. 1 EuGVVO). Es spricht allerdings vieles dafür, dass bei Anleihen (außer im Ausnahmefall von Direktemissionen) schon gar kein „Vertrag“ i. S. d. Art. 17 EuGVVO zwischen Emittent und Anleger vorliegt.2700) Jedenfalls wird man aber nicht (außer im Ausnahmefall von Direktemissionen, welche sich gezielt an Verbraucher in anderen EU-Mitgliedstaaten richten) von einem „Ausrichten“ der Tätigkeit des Emittenten auf den Mitgliedsstaat des Gläubigers i. S. d. Art. 17 Abs. 1 Buchst. c) EuGVVO sprechen können.

___________ 2698) Wohl a. A. Baums, ZBB 2009, 1, 5 unter Hinweis auf die Unterschiede zwischen dem Registerverfahren und dem Vollzug von Beschlüssen nach dem SchVG. Allerdings dürfte der Unterschied überwindbar sein, wenn man als Vollzugsorgan den Versammlungsleiter bzw. das Clearing System ansieht. 2699) Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 v. 12.12.2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. 2700) So OLG Oldenburg ZIP 2016, 1244 (1246); OLG Köln ZIP 2016, 1249 (1253); ÖOGH, v. 30.7.2015 – 8 Ob 67/15h), ECLI:AT:OGH0002:2015:0080OB00067.15H.0730.000, jeweils unter Berufung auf EuGH, v. 28.1.2015 – C-375/13, ZIP 2015, 1456 – Kolassa; schon zuvor Thole, WM 2012, 1793, 1795 m. w. N.

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1783 Eine andere Lösung wäre, die schuldverschreibungsrechtliche Anfechtungsklage als verbandsrechtliche Streitigkeit i. S. d. Art. 24 Nr. 2 EuGVVO zu betrachten, und damit eine ausschließliche Zuständigkeit am Sitz des Emittenten anzunehmen. Dies würde v. a. der Gefahr widersprechender Entscheidungen entgegen wirken. Allerdings tendiert der EuGH zu einer restriktiven Auslegung des Art. 24 Nr. 2 EuGVVO.2701) 1784 Funktional zuständig sind die Kammern für Handelssachen, sofern solche eingerichtet sind (§ 20 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 2 SchVG). e) Urteilswirkungen 1785 Wird die Anfechtungsklage abgewiesen, entfaltet das abweisende Urteil Rechtskraft nur inter partes. 1786 Ob hingegen das Urteil, mit dem der Anfechtungsklage stattgegeben wird, Wirkung nur inter partes oder aber wie im Aktienrecht (§§ 248; 241 Nr. 5 AktG) erga omnes hat, ist umstritten.2702) Im Ergebnis bejaht aber auch die eine Rechtskraft nur inter partes annehmende Wirkung eine Verpflichtung des Emittenten zur materiellen Gleichstellung der anderen Anleihegläubiger über das Gleichbehandlungsgebot (§ 4 SchVG). 2. Nichtigkeitsklage a) Statthaftigkeit 1787 Teilweise wird die Statthaftigkeit einer Nichtigkeitsklage gegen Gläubigerversammlungsbeschlüsse unter Verweis auf das abschließende Rechtsbehelfssystem des § 20 SchVG abgelehnt.2703) Nach a. A. ist die Nichtigkeitsklage als allgemeine Feststellungsklage (§ 256 ZPO)2704), gerichtet auf Feststellung der Unwirksamkeit des Beschlusses, zu behandeln. Die Frage der Statthaftigkeit ist v. a. relevant bei der Klagefrist und der Frage, ob nach Ablauf der Klagefrist auch ein nichtiger Beschluss ggf. wirksam werden kann.

___________ 2701) EuGH, v. 2.10.2008 – C-372/07, Slg. 2008, I-7403, Nicole Hasset ./. South Eastern Health Board, Tz. 23, dazu EWiR 2009, 143 (Becker). 2702) Nur inter partes: Müller, in: Heidel, § 20 SchVG Rn. 3; Langenbucher/Bliesener/Spindler/ Bliesener/Schneider, Kap. 17 § 20 SchVG Rn. 54; Preuße/Preuße/Vogel, SchVG, § 20 Rn. 3; Hopt/Seibt/Kiem, § 20 Rn. 141; Rechtskrafterstreckung erga omnes: Friedl, in: FKSchVG § 20 Rn. 78; Maier-Raimer, NJW 2010, 1317, 1321; Baums, ZBB 2009, 1, 3. 2703) Langenbucher/Bliesener/Spindler/Bliesener/Schneider, Kap. 17 § 20 SchVG Rn. 12; Müller, in: Heidel, § 20 SchVG Rn. 2; Wilken/Schaumann/Zenker, Anleihen in Restrukturierung und Insolvenz, Rn. 456. 2704) Friedl, in: FK-SchVG, § 20 Rn. 99; Preuße/Vogel, SchVG, § 20 Rn. 8; Hopt/Seibt/Kiem, § 20 Rn. 45; Meier-Reimer, NJW 2010, 1313, 1319; Baums, ZBB 2009, 1, 4; Horn, ZHR 2009, 12, 62.

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b) Nichtigkeitsgründe Bejaht man grundsätzlich die Statthaftigkeit einer Nichtigkeitsklage, besteht 1788 Unklarheit, welche Rechtsmängel zur Nichtigkeit eines Beschlusses der Gläubigerversammlung führen können. aa) Nach SchVG Ein Beschluss unter Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot (§ 5 Abs. 2 1789 Satz 2 SchVG) ist nach der ausdrücklichen Gesetzesformulierung nichtig.2705) Sonstige Verstöße gegen Bestimmungen des SchVG führen aber nur zur Anfechtbarkeit, nicht zur Nichtigkeit.2706) bb) Sonstige Der BGH hat ausdrücklich offengelassen, ob Gläubigerversammlungsbe- 1790 schlüsse an so schwerwiegenden Mängeln leiden können, dass sie nicht nur anfechtbar, sondern nichtig sind. Insbesondere offengelassen wurde, ob auf die aktienrechtlichen Nichtigkeitsgründe (§ 241 AktG) rekurriert werden kann.2707) Richtigerweise wird eine Übertragung der aktienrechtlichen Nichtigkeitsgründe ausscheiden. Dies gilt insbesondere für Ladungsmängel (§ 241 Nr. 2 AktG), da § 20 Abs. 2 Nr. 2 SchVG diese ausdrücklich (nur) als Anfechtungsgrund bestimmen.2708) In folgenden Fällen ist ein Gläubigerbeschluss als nichtig anzusehen:

1791

x

Bei einem „Scheinbeschluss“ (bspw. wenn die Anleihebedingungen gar keine Mehrheitsbeschlüsse vorsehen oder bei Nichtanwendbarkeit des SchVG);

x

bei Formnichtigkeit (§ 125 BGB) wegen fehlender oder fehlerhafter Beurkundung eines Beschlusses.

Alle übrigen Verfahrens- oder sonstigen Gesetzesmängel müssen mit der 1792 Anfechtungsklage geltend gemacht werden. c) Klagefrist Die Nichtigkeitsklage ist ebensowenig wie im geltenden Aktienrecht2709) an 1793 eine Frist gebunden. Da die Nichtigkeitsklage im SchVG anders als im Akti___________ 2705) BGH ZIP 2014, 1876, Rn. 21, dazu EWiR 2014, 611 (Müller-Eising). 2706) Wilken/Schaumann/Zenker, Anleihen in Restrukturierung und Insolvenz, Rn. 455. 2707) BGH ZIP 2014, 1876, Rn. 20, dazu EWiR 2014, 611 (Müller-Eising). 2708) A. A. Preuße/Vogel, SchVG, § 20 Rn. 14. 2709) Nach § 249 Abs. 2 AktG-E i. d. F. der „Aktienrechtsnovelle 2014“ (BT-Drucks. 18/4349) sollen künftig im aktienrechtlichen Beschlussmängelverfahren Nichtigkeitsklagen nur noch innerhalb eines Monats nach Bekanntmachung einer Anfechtungsklage erhoben werden können.

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enrecht aber nicht gesetzlich geregelt ist, ist die Frist des § 20 Abs. 3 Satz 1 SchVG analog anzuwenden.2710) 1794 Die Heilung eines nach § 5 Abs. 2 Satz 2 SchVG nichtigen Beschlusses durch Vollzug nach Fristablauf (§ 21 SchVG) ist nicht möglich.2711) Offen ist, ob sonstige Nichtigkeitsgründe durch Vollzug als geheilt gelten.2712) d) Zuständigkeit 1795 Für die Nichtigkeitsklage gelten die allgemeinen Zuständigkeitsvorschriften. Sind Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage vor demselben Gericht anhängig, wird sich trotz fehlenden Verweises auf § 249 Abs. 3 Satz 3 AktG eine Verbindung der Verfahren nach § 147 ZPO anbieten. e) Urteilswirkungen 1796 Hier gelten die Ausführungen zur Urteilswirkung von Anfechtungsklagen entsprechend. 3. Freigabeverfahren (§ 20 Abs. 3 SchVG) 1797 Die Erhebung einer Anfechtungsklage hindert den Vollzug des Beschlusses (§ 20 Abs. 3 Satz 4 SchVG); der Versammlungs-/Abstimmungsleiter kann den Beschluss nicht an die Verwahrstelle weiterleiten, und es können keine auf dem Beschluss beruhenden neuen Anleihebedingungen ausgegeben werden (Vollzugssperre).2713) Die Regelung ist aus dem aktienrechtlichen Beschlussmängelverfahren übernommen. Ihre Umsetzung im Schuldverschreibungsrecht lässt aber Zweifelsfragen offen. So ist nicht klar, ob die nach § 21 Abs. 1 Satz 3 SchVG abzugebende Versicherung des Versammlungs-/Abstimmungsleiters wie im Registerverfahren z. B. nach § 16 UmwG erst nach Ablauf der einmonatigen Klagefrist abgegeben werden kann.2714) Falls man dies bejaht,2715) wäre eine faktische einmonatige Wartefrist die Folge, was dem Sanierungszweck des SchVG zuwiderlaufen kann. Läge z. B. beim Emittenten einer Unternehmensanleihe ohne den Beschluss ein Insolvenzgrund vor, so wären die ___________ 2710) LG Frankfurt/M., v. 23.2.2012 – 3-05 O 66/12, n. v. 2711) BGH ZIP 2014, 1876, dazu EWiR 2014, 611 (Müller-Eising). 2712) In diese Richtung: BGH ZIP 2014, 1876, Rn. 18, dazu EWiR 2014, 611 (Müller-Eising): „Die Änderung der Anleihebedingungen durch einen Mehrheitsbeschluss der Gläubiger wird wirksam, wenn sie in der Urkunde oder den Anleihebedingungen vollzogen ist“; LG Frankfurt/M., v. 23.2.2012 – 3-05 O 66/12, n. v.; Langenbucher/Bliesener/ Spindler/Bliesener/Schneider, Kap 17 § 20 SchVG Rn. 59. 2713) Krit. zum Vollzugsverbot Baums, ZBB 2009, 1, 7. 2714) Vgl. Lutter/Winter, UmwG, § 16 Rn. 9. 2715) So Friedl, in: FK-SchVG, § 20 Rn. 73; Verannemann/Gärtner, § 21 Rn. 7; Hopt/Seibt/ Kiem, § 21 Rn. 8; Maier-Reimer, NJW 2010, 1317, 1321, Wilken/Schaumann/Zenker, Anleihen in Restrukturierung und Insolvenz, Rn. 446; wohl auch Bredow/Vogel, ZBB 2009, 153, 156.

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Organe des Emittenten verpflichtet, spätestens innerhalb von drei Wochen Insolvenzantrag zu stellen (§ 15a InsO); müsste nun der Versammlungs/Abstimmungsleiter stets die Widerspruchs- oder Klagefrist abwarten, wäre eine Notsanierung von Unternehmensanleihen praktisch unmöglich.2716) Da auch – anders als z. B. in § 16 UmwG – eine Benachrichtigungspflicht bei nachträglicher Erhebung der Anfechtungsklage nicht vorgesehen ist, müssen der Versammlungsleiter und der Emittent riskieren, entweder einen – möglicherweise aufgrund einer späteren Anfechtung dann aufgehobenen – Versammlungsbeschluss zu vollziehen oder aber die Klagefrist abzuwarten, was für den Emittenten möglicherweise zu spät wäre. Es spricht also i. S. d. mit dem SchVG bezweckten Sanierungsgedankens viel dafür, dass der Versammlungs-/Abstimmungsleiter nicht die Widerspruchs- oder Klagefrist abwarten muss, um die Versicherung nach § 21 Abs. 1 Satz 3 SchVG abzugeben.2717) In der Praxis werden die Organe der Emittenten allerdings regelmäßig die Monatsfrist zur Erhebung von Anfechtungsklagen abwarten. Eine isolierte Nichtigkeitsklage sollte mangels gesetzlichen Verbots keine 1798 Vollzugssperre auslösen, da für die Nichtigkeitsklage de lege lata keine Anfechtungsfrist gilt; der Beschluss könnte dann niemals vollzogen werden. Wurde die Nichtigkeitsklage gemeinsam mit einer Anfechtungsklage eingereicht, sollte aber das Freigabeverfahren wie im aktienrechtlichen Beschlussmängelverfahren2718) sich auch auf die geltend gemachten Nichtigkeitsgründe erstrecken. Ist eine Anfechtungsklage erhoben, kann die Vollzugssperre durch ein Frei- 1799 gabeverfahren „nach Maßgabe des § 246a AktG“ beseitigt werden (§ 20 Abs. 3 Satz 4 SchVG).2719) a) Antragsberechtigter Antragsberechtigt ist ausschließlich der Emittent, nicht andere Anleihegläu- 1800 biger. Der Antrag kann gestellt werden, wenn Anfechtungsklage erhoben ist (vgl. Wortlaut § 20 Abs. 3 Satz Halbs. 1: „die Erhebung der Klage […] nicht entgegen steht“); wegen der Möglichkeit zur Einsichtnahme vor Zustellung (§ 20 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 2 SchVG i. V. m. § 246 Abs. 3 Satz 5 AktG) sollte auch der Freigabeantrag bereits vor Zustellung zulässig sein.

___________ 2716) Die beschlussfassenden Anleihegläubiger könnten eine Insolvenz des Emittenten vermeiden, indem sie für ihre Forderungen für die Dauer des Anfechtungsprozesses eine Nichtvollstreckungsvereinbarung (Standstill) abschließen; dies hängt aber von den Umständen des Einzelfalls ab. 2717) So auch Simon, Corporate Finance Law 2010, 159, 164. 2718) Hüffer/Koch, AktG, § 249 Rn. 15a. 2719) Ein Freigabeverfahren ist nunmehr auch in das Beschwerdeverfahren gegen einen Insolvenzplan eingefügt worden (§ 253 Abs. 4 InsO).

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b) Zuständigkeit 1801 Die örtliche Zuständigkeit bestimmt sich nach § 20 Abs. 3 Satz 3 SchVG, also wie bei der zugrunde liegenden Anfechtungsklage. 1802 Sachlich zuständig ist seit der Änderung des § 20 Abs. 3 Satz 4 SchVG wie im aktienrechtlichen Freigabeverfahren in einziger Instanz das Oberlandesgericht am Sitz des Emittenten oder bei Auslandsemittenten das OLG Frankfurt/M. Diese Zuständigkeitsregelungen kollidieren auch nicht mit Art. 17 ff. EuGVVO, da man das Freigabeverfahren als „Widerklage“ wird subsumieren können (Art. 18 Abs. 3 EuGVVO),2720) wenn der Anfechtungskläger selbst Klage am Gerichtsstand nach § 20 Abs. 3 Satz 3 SchVG erhoben hat. c) Rechtsschutzbedürfnis 1803 Das Rechtsschutzbedürfnis für einen Freigabeantrag entfällt, wenn der Emittent die Beschlüsse (rechtswidrig) bereits vollzogen hat; die offenen Fragen sind dann im Anfechtungsprozess zu klären.2721) d) Begründetheit 1804 Der Freigabeantrag ist begründet (§ 20 Abs. 3 Satz 4 SchVG i. V. m. § 246a Abs. 2 AktG), wenn x

Die Anfechtungsklage offensichtlich unzulässig oder unbegründet ist;

x

Der Anfechtungskläger nicht binnen einer Woche nach Zustellung des Antrags nachgewiesen hat, dass er seit Bekanntmachung der Gläubigerversammlung einen Betrag von mindestens EUR 1.000 (in Schuldverschreibungen)2722) hält; oder

x

der Emittent wesentliche Nachteile zu befürchten hat, die die Nachteile des Anfechtungsklägers durch den Vollzug überwiegen, es sei denn, es liegt ein besonders schwerer Rechtsverstoß vor.

1805 Das OLG Köln hat ein überwiegendes Vollzugsinteresse des Emittenten jedenfalls dann gesehen, wenn bei Nichtvollzug die Zahlungsunfähigkeit des Emittenten droht und die Anleihegläubiger keine Nachteile zu befürchten haben, weil ihnen durch den Gläubigerversammlungsbeschluss statt unbesicherter Anleihen besicherte Anleihen (wenn auch mit niedrigerem Nennwert) angeboten werden. Reine Informationsmängel führten nicht zu einem das Vollzugsinteresse ausschließenden besonders schweren Rechtsverstoß.2723) ___________ 2720) Otto, DNotZ 2012, 809, 824. 2721) OLG München, v. 16.11.2016 – 22 AR 113/16, BB 2017. 974. 2722) Langenbucher/Bliesener/Spindler/Bliesener/Schneider, Kap. 17 § 20 SchVG Rn. 62; Hopt/ Seibt/Kiem, § 20 Rn. 171. 2723) OLG Köln ZIP 2014, 268 – SolarWorld; krit. Florstedt, ZIP 2014, 1513, 1519.

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e) Beschlusswirkungen Gibt das OLG den Vollzug der Beschlüsse frei, so kann der Emittent diese 1806 vollziehen. Mit Vollzug werden die Beschlüsse wirksam (§ 2 Satz 3 SchVG).2724) Der klagende Anleihegläubiger ist bei Erfolg seiner Anfechtungsklage auf einen Schadensersatzanpruch in Geld verwiesen; Rückgängigmachung kann er nicht verlangen (§ 20 Abs. 3 Satz 4 Halbs. 2 i. V. m. § 246a Abs. 4 AktG). 4. Antrag auf Aufhebung durch das Insolvenzgericht (§ 19 Abs. 1 SchVG i. V. m. § 78 InsO) Nach Insolvenzeröffnung ist statthaftes Rechtsmittel gegen Beschlüsse der 1807 Anleihegläubigerversammlung nur noch der Antrag auf Aufhebung durch das Insolvenzgericht (§ 19 Abs. 1 SchVG i. V. m. § 8 InsO).2725) Antragsberechtigt ist jeder Anleihegläubiger. Mit dem Antrag ist – anders als bei der Anfechtungsklage2726) – keine aufschiebende Wirkung verbunden. Der Antrag ist begründet, wenn der Mehrheitsbeschluss dem gemeinsamen Interesse aller Anleihegläubiger widerspricht. Umstritten ist, ob im eröffneten Insolvenzverfahren neben der Bestellung 1808 eines gemeinsamen Vertreters nach § 19 Abs. 2 SchVG auch Mehrheitsbeschlüsse nach § 5 Abs. 3 SchVG gefasst werden können.2727) Falls man dies bejaht, stellt sich die Frage nach dem Rechtsmittel gegen solche Beschlüsse. Nach einer Ansicht erfolgen diese Beschlüsse außerhalb des Insolvenzverfahrens und daher ist die Anfechtungsklage statthaft.2728) Der BGH scheint aber auch hiergegen als Rechtsmittel den Antrag auf Aufhebung nach § 19 Abs. 1 SchVG i. V. m. § 78 Abs. 1 InsO zu sehen; vorsichtshalber ist zu raten, beide Rechtsmittel zu erheben.2729) Gegen die Versagung der Beschlussaufhebung steht dem Anleihegläubiger 1809 die sofortige Beschwerde zu (§ 19 Abs. 1 SchVG i. V. m. § 78 Abs. 2 Satz 2 InsO). IV. Zahlungsklage aus Anleihe Aufgrund der Besonderheiten der Anleihe als verbriefte Forderung können 1810 auch im Zahlungsprozess Besonderheiten gelten. ___________ 2724) BGH ZIP 2014, 1876, Rn. 18, dazu EWiR 2014, 611 (Müller-Eising). 2725) BGH ZIP 2017. 2312, Rn. 12. ff., dazu EWiR 2017. 757 (Lürken). 2726) Es besteht daher im eröffneten Insolvenzverfahren auch keine Notwendigkeit für die Statthaftigkeit eines Freigabeantrags (§ 20 Abs. 3 SchVG); anders zuvor OLG Dresden, v. 1.12.2014 – 3 VA 5/14, n. v. 2727) Zum Meinungsstand vgl. Rn. 1725. 2728) Mit guten Gründen Moser, WuB I G 7 5.18; Hopt/Seibt/Knapp, § 19 Rn. 66; Veranneman/ Rattunde, § 19 Rn. 70. 2729) Moser, WuB I G 7 5.18.

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1. Statthafte Klageart – Leistungsklage und Klage im Urkundenprozess 1811 Für die Durchsetzung von Forderungen aus Anleihen gelten grundsätzlich die Vorschriften über die allgemeine Leistungsklage (§ 253 ZPO). 1812 Grundsätzlich können Forderungen aus Anleihen auch im Urkundenprozess (§ 592 ZPO) geltend gemacht werden.2730) Bei globalverbrieften Anleihen kann allerdings die Vorlage der Anleiheurkunde im Original (§ 420 ZPO) praktische Schwierigkeiten bereiten, da der Anleihegläubiger hierzu zunächst seinen Anspruch auf Auslieferung von Einzelurkunden gem. § 7 DepotG geltend machen muss. Praktisch wird eine Klage im Urkundenprozess daher nur dann sinnvoll sein, wenn über die Klageforderung einzelne Wertpapierurkunden oder Zinsscheine ausgestellt wurden.2731) 2. Zuständigkeit 1813 Für die internationale und örtliche Zuständigkeit gelten grundsätzlich die allgemeinen Vorschriften der §§ 12 ff. ZPO und Art. 4 ff. EuGVVO. Sofern also nicht besondere Gerichtsstände oder eine wirksame Gerichtsstandsklausel eingreifen, sind grundsätzlich die Gerichte am Sitz des Emittenten zuständig. 1814 Ein Verbraucher als Anleihegläubiger kann sich i. d. R. nicht auf Art. 17 ff. EuGVVO berufen und Klage an seinem Wohnsitz erheben, wenn er nicht ausnahmsweise (bspw. bei einer Direktemission) die Anleihe unmittelbar vom Emittenten, sondern von einem Dritten erworben hat.2732) 1815 Eine Gerichtsstandsklausel, die wirksam zwischen dem Emittenten und dem Ersterwerber (i. d. R. Emissionsbank) der Anleihe getroffen wurde, kann auch dem Anleihegläubiger entgegengehalten werden. Ist die Gerichtsstandsklausel nicht in den Anleihebedingungen selbst enthalten, sondern wird in den Anleihebedingungen auf eine Gerichtsstandsklausel im Anleiheprospekt verwiesen, ist zusätzlich erforderlich, dass der Anleihegläubiger die Möglichkeit hatte, von dem Prospekt Kenntnis zu nehmen.2733) 3. Prozessfähigkeit 1816 Ist ein gemeinsamer Vertreter bestellt, so bleibt außerhalb des Insolvenzverfahrens grundsätzlich jeder einzelne Anleihegläubiger zur Geltendmachung seiner Forderung einzeln berechtigt. ___________ 2730) OLG Frankfurt/M., v. 31.8.1995 – 16 U 111/94, WM 1995, 2079. 2731) In den bislang erfolgreich im Urkundenprozess eingeklagten Forderungen aus Inhaberschuldverschreibungen hatte der Gläubiger Originale der teilverbrieften Inhaberschuldverschreibungen vorlegen können (OLG Frankfurt/M., v. 23.6.2009 – 8 U 130/07, BeckRS 2009, 20253; AG Frankfurt/M., v. 28.11.2006 – 30 C 1595/05, BeckRS 2006, 14647). 2732) OLG Oldenburg ZIP 2016, 1244, 1246; OLG Köln ZIP 2016, 1249, 1253; ÖOGH, v. 30.7.2015 – 8 Ob 67/15h, ECLI:AT:OGH0002:2015:0080OB00067.15H.0730.000, jeweils unter Berufung auf EuGH, v. 28.1.2015 – C-375/13, ZIP 2015, 1456 – Kolassa; schon zuvor Thole. WM 2012, 1793, 1795 m. w. N. 2733) EuGH, v. 20.4.2016 – C-366/13 – Profit Investment SIM SpA ./. Commerzbank, Tz. 36.

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Der gemeiname Vertreter ist ausschließlich2734) zur Geltendmachung der 1817 Forderungen aus der Anleihe berechtigt: x

Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens (§ 19 Abs. 3 1. HS SchVG);

x

falls der gemeinsame Vertreter durch Beschluss der Anleihegläubigerversammlung zur Geltendmachung der Rechte der Anleihegläubiger ermächtigt ist, ohne dass der Beschluss etwas anderes vorsieht (§ 7 Abs. 2 Satz 3 SchVG).

4. Begründetheit a) Aktivlegitimation Der Nachweis der Aktivlegitimation erfolgt bei – wie regelmäßig – global- 1818 verbrieften Anleihen durch Vorlage des Originals eines zeitnahen Depotauszugs, aus dem sich der vollständige Name und die vollständige Anschrift des Gläubigers, der Nennwert der von ihm gehaltenen Schuldverschreibungen sowie deren Kennzeichnung (WKN bzw. ISIN) ergibt.2735) Dies ist aber nicht abschließend. Die Forderung aus der Anleihe kann auch isoliert durch Abtretung nach § 398 BGB erworben werden, so dass die Vorlage von Abtretungsverträgen vom ursprünglichen Inhaber ausreicht.2736) Im eröffneten Insolvenzverfahren muss der gemeinsame Vertreter die (Glo- 1819 bal-)Urkunde zur Geltendmachung der Anleiheforderungen nicht vorlegen (§ 19 Abs. 3 Halbs. 2 SchVG). b) Fälligkeit der Anleiheforderung aa) Fälligkeit aufgrund Kündigung Die Anleihe begründet ein Dauerschuldverhältnis, auf das grundsätzlich die 1820 Vorschriften des BGB-Schuldrechts Anwendung findet. Das Kündigungsrecht aus wichtigem Grund (§ 314 BGB) kann nicht vollständig ausgeschlossen werden, die Anleihebedingungen können aber konkretisieren, welche Umstände einen wichtigen Grund darstellen,2737) und die Ausübung des Kündigungsrechts an ein bestimmtes Quorum binden (Gesamtkündigung, § 5 Abs. 5 SchVG). Ist dem gemeinsamen Vertreter in den Anleihebedingungen oder durch Beschluss der Gläubigerversammlung auch die Ausübung der ___________ 2734) Der gemeinsame Vertreter handelt als rechtsgeschäftlicher Vertreter der Anleihegläubiger, so dass es sich nicht um eine Frage der Aktivlegitimation oder Prozessführungsbefugnis handelt (BGH ZIP 2018, 882, Rn. 22 ff.; dazu EWiR 2018, 341 (Seibt); BGH ZIP 2016, 1684 Rn. 12, dazu EWiR 2016, 705 (Knof). 2735) OLG Frankfurt/M., v. 28.11.2008 – 8 U 243/07, BeckRS 2009, 27236; vgl. auch BGH, v. 13.11.2012 – XI ZR 161/12, Rn. 9. 2736) BGH ZIP 2013, 1270, 1272, dazu EWiR 2013, 575 (Hoffmann-Theinert). 2737) OLG Frankfurt/M. ZIP 2014, 2176, dazu EWiR 2014, 771 (Just); Thomas, ZHR 171 (2007), 684, 706.

Sacha Lürken

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Teil 4 Restrukturierung

Kündigungsrechte übertragen worden, so kann der einzelne Anleihegläubiger diese nicht mehr geltend machen (§§ 8 Abs. 4, 7 Abs. 2 Satz 3 SchVG) oder nach erfolgter Kündigung Zahlung verlangen.2738) bb) Kündigungsgründe in Anleihebedingungen 1821 Anleihebedingungen enthalten regelmäßig Regelungen über die vorzeitige Kündigung durch Anleihegläubiger oder Emittenten. Typische Kündigungsgründe sind: x

Zahlungsverzug des Emittenten;

x

Veräußerung des wesentlichen Vermögens des Emittenten oder seiner Tochtergesellschaft;

x

Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über den Emittenten oder wesentliche Tochtergesellschaften;

x

Verstoß gegen sonstige Bestimmungen der Anleihebedingungen, z. B. Negativverpflichtung (d. h. Besicherung von anderen Kapitalmarkt- oder sonstigen Finanzverbindlichkeiten, ohne die Anleihe gleichrangig zu besichern).

1822 Sofern solche Anleihebedingungen Regelungen zu Sachverhalten enthalten, die auch einen wichtigen Grund für eine Kündigung darstellen können, so haben diese Regelungen – wenn sie der Inhaltskontrolle nach §§ 3 SchVG, 307 ff. BGB standhalten – allerdings Vorrang.2739) Ein Kündigungsrecht, welches statt auf das Vorliegen der materiellen Insolvenz auf die Beantragung von Insolvenzverfahren abstellt, stellt keine unangemessene Benachteiligung dar.2740) 1823 Enthalten Anleihebedingungen die (häufige) Regelung, dass ein Kündigungsrecht vorliegt, wenn „der Emittent eine allgemeine Schuldenregelung zu Gunsten seiner Gläubiger anbietet oder trifft“

so soll nach Ansicht des OLG Frankfurt/M.2741) und des LG Bonn2742) eine hierauf gestützte Kündigung wirksam sein, wenn der Emittent eine Anleihegläubigerversammlung einberuft, mit der über den Umtausch der Anleihe in andere Rechte beschlossen werden soll. Diese Auslegung ist abzulehnen, da ___________ 2738) OLG München ZIP 2015, 2174, 2175; dazu Lürken, GWR 2015, 496. 2739) OLG Köln ZIP 2015, 1924; OLG Frankfurt/M. ZIP 2014, 2176, dazu EWiR 2014, 771 (Just). Das Revisionsurteil BGH ZIP 2016, 308 lässt dies offen. 2740) OLG Frankfurt/M. ZIP 2014, 2176, 2178, dazu EWiR 2014, 771 (Just). 2741) OLG Frankfurt/M. ZIP 2014, 2176, 2178, dazu EWiR 2014, 771 (Just); auf die Revision des Emittenten wurde das Urteil des OLG aufgehoben und das klageabweisende Urteil des LG wieder hergestellt (BGH, v. 8.12.2015 – XI ZR 488/14, ZIP 2016, 308; dazu Wilken, DB 2016, 521), ohne dass der BGH sich hierzu geäußert hat (siehe unten Rn. 1823). 2742) LG Bonn ZInsO 2014, 1807.

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D. Schuldverschreibungsgesetz (SchVG)

sonst die ebenfalls in den Anleihebedingungen eröffnete Möglichkeit zur Abänderung von Anleihebedingungen praktisch ins Leere geht.2743) cc) Gesetzliche Kündigungsgründe (§§ 314, 490 BGB) Nach mittlerweile herrschender Meinung ist auf Anleihen zwar das Kündi- 1824 gungsrecht aus wichtigem Grund (§ 314 BGB) anwendbar, nicht aber das darlehensvertragliche Sonderkündigungsrecht des § 490 BGB.2744) Eine Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Emittenten stellt 1825 jedoch alleine bei einer unbesicherten Anleihe keinen wichtigen Grund dar: x

Zunächst einmal kann sich der Gläubiger nicht auf eine drohende Insolvenz berufen, wenn die Anleihebedingungen in wirksamer Weise strengere Voraussetzungen vorsehen, z. B. das Kündigungsrecht an die Stellung eines Insolvenzantrags knüpfen.2745)

x

Selbst wenn es an einer Regelung zu Kündigungsgründen bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Emittenten fehlt, so kann bei einer unbesicherten Anleihe ein wichtiger Grund nicht allein in der Vermögensverschlechterung des Emittenten gesehen werden, da dieses Risiko über Zins und ggf. Börsenpreis abgegolten ist.2746) So gibt es kein Kündigungsrecht nach § 314 BGB, wenn der Gläubiger die Anleihe weit unter Nennwert erworben hat und kurz nach Erwerb kündigt. In einem solchen Fall sind in den niedrigen Kurs die wirtschaftlichen Probleme des Emittenten bereits eingepreist.2747)

x

Jedenfalls ist ein Kündigungsrecht ausgeschlossen, wenn der Emittent zu einer Gläubigerversammlung i. S. d. § 5 SchVG mit dem Ziel der Änderung seiner Anleihebedingungen zur Abwendung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten eingeladen hat oder eine solche Einladung ankündigt. Denn dann muss der Anleihegläubiger sein Individualinteresse zurückstellen, bis die Gläubigerversammlung – ggf. bei Nichterreichen des Quorums (§ 15 Abs. 3 Satz 1 SchVG) auch erst in einer zweiten Versammlung – über den Beschlussvorschlag entschieden hat („Primat der Gläubigerversammlung“).2748)

___________ 2743) LG Frankfurt/M., v. 22.1.2014 – 2-17 O 104/13, n. v.; Seibt/Schwarz, ZIP 2015, 401, 407; Wilken/Schaumann/Zenker, Anleihen in Restrukturierung und Insolvenz, Rn. 388; Lürken, GWR 2014, 505; a. A. LG Bonn ZInsO 2014, 1807; Just, EWiR 2014, 771 unter Berufung auf die Unklarheitenregelung des § 305c BGB. 2744) BGH ZIP 2016, 1279, 1280, Rn. 30, dazu EWiR 2016, 457 (Seibt); OLG Frankfurt/M. ZIP 2014, 2176, dazu EWiR 2014, 771 (Just); zu § 313 BGB auch BGH ZIP 2014, 1778, Rn. 32, dazu EWiR 2014, 669 (Kühler); BGH ZIP 2013, 1570, dazu EWiR 2013, 533 (Priester). 2745) Siehe oben Rn. 1813. 2746) BGH ZIP 2016, 1279, 1282, Rn. 37, dazu EWiR 2016, 457 (Seibt). 2747) OLG München ZIP 2015, 2174, 2175; dazu Lürken, GWR 2015, 496. 2748) BGH ZIP 2016, 1279, 1282, Rn. 38 ff., dazu EWiR 2016, 457 (Seibt).

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Teil 4 Restrukturierung

dd) Entfallen von Kündigungsgründen (§ 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 8, Abs. 5 SchVG) 1826 Auch bereits entstandene Kündigungsrechte können nach dem SchVG beschränkt sein: x

§ 5 Abs. 5 Satz 1 SchVG erlaubt in Anleihebedingungen eine Regelung, wonach zur Ausübung von Kündigungsrechten ein Quorum nötig ist (das 25 % der Anleihe nicht übersteigen darf).

x

§ 5 Abs. 5 Satz 2 SchVG sieht die Möglichkeit der Rücknahme von Wirkungen einer „solchen“ Kündigung durch Mehrheitsbeschluss vor.

x

§ 5 Abs. 3 Nr. 8 SchVG sieht einen Verzicht oder eine Beschränkung von Kündigungsrechten durch Mehrheitsbeschluss der Gläubigerversammlung vor.

1827 Die Rücknahme von Einzelkündigungen durch Mehrheitsbeschluss nach § 5 Abs. 5 Satz 2 SchVG ist nach der Rechtsprechung nicht möglich.2749) § 5 Abs. 5 Satz 2 SchVG spricht von „solchen“ Kündigungen und nimmt damit auf Satz 1 Bezug, der die Möglichkeit von Gesamtkündigungen in den Anleihebedingungen regelt. Anders wäre dies jedoch, wenn auch das Recht zur Kündigung aus wichtigem Grund (§ 314 BGB) in den Anleihebedingungen als Gesamtkündigungsrecht ausgestaltet ist.2750) 1828 Fraglich ist, ob nach § 5 Abs. 3 Nr. 8 SchVG nicht nur ein (Einzel-)Kündigungsverzicht für die Zukunft, sondern auch das Entfallen der Wirkungen von bereits ausgesprochenen Einzelkündigungen möglich ist. Jedenfalls sofern der Beschluss der Gläubigerversammlung ausdrücklich auch rückwirkend Kündigungsrechte einschränkt, sollte dies möglich sein.2751) Seibt/Schwarz schlagen als Alternative die Wahl eines gemeinsamen Vertreters durch die Gläubigerversammlung mit der Anweisung zur Vereinbarung einer Novation der Anleihe mit dem Emittenten vor.2752) Ob dieser Weg den Streit um die Befugnis der Gläubigerversammlung zu vermeiden hilft, muss sich erweisen; der gemeinsame Vertreter kann nicht mehr Rechtsmacht haben als die Gläubigerversammlung selbst. ee) Bindung an Beschluss der Gläubigerversammlung trotz Kündigung 1829 Von der Frage, ob und wie die Wirkungen einer Kündigung eingeschränkt werden abzugrenzen ist die Frage, ob Anleihen trotz vorheriger Kündigung ___________ 2749) OLG Köln ZIP 2015, 1924, 1928; LG Bonn ZInsO 2014, 1807, 1810; a. A. Paulus, WM 2012, 1109, 1112. 2750) Horn, BKR 2009, 446, 450. 2751) In diese Richtung OLG Köln ZIP 2015, 1924, 1927; a. A. OLG Frankfurt/M. ZIP 2014, 2176, 2180, dazu EWiR 2014, 771 (Just); LG Bonn, v. 25.3.2014 – 10 O 299/13, ZInsO 2014, 1807. 2752) Seibt/Schwarz, ZIP 2015, 401, 412.

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D. Schuldverschreibungsgesetz (SchVG)

von den Wirkungen eines nach Kündigung gefassten Beschlusses der Gläubigerversammlung erfasst werden. Bisweilen wurde dies abgelehnt, da die Kündigung zur Beendigung des Schuldverhältnisses zwischen Gläubiger und Emittent führe. Nach der Rechtsprechung des BGH2753) bindet ein wirksamer Beschluss der Anleihegläubigerversammlung die Gläubiger gekündigter oder sonst bereits fälliger Anleihen. c) Fälligkeit nach Anleihebedingungen Wird nach Erhebung der Klage ein die Anleihebedingungen ändernder Gläu- 1830 bigerversammlungsbeschluss (bspw. Laufzeitverlängerung) gefasst und wirksam, so erfasst dies auch die bereits fällige Anleihe; die Leistungsklage wird dann unbegründet.2754) Hat der Gläubiger gegen den Gläubigerversammlungsbeschluss Anfechtungs- 1831 klage erhoben und ist diese erfolgreich, der Beschluss im Freigabeverfahren aber für vollziehbar erklärt worden, so kann der Gläubiger Schadensersatz verlangen (§ 20 Abs. 3 Satz 4 Halbs. 2 SchVG i. V. m. § 246a Abs. 4 AktG). d) Anspruchsausschluss und -verjährung Der Rückzahlungsanspruch aus der Anleihe erlischt innerhalb des in den An- 1832 leihebedingungen festgelegten Zeitraums nach Fälligkeit (der – auch in AGB – auf ein Jahr abgekürzt werden kann, § 801 Abs. 3 BGB2755), spätestens aber 30 Jahre nach Fälligkeit (§ 801 Abs. 1 Satz 1 BGB). Wird die Anleiheurkunde innerhalb dieses Zeitraums dem Emittenten zur Einlösung vorgelegt, so verjährt der Anspruch innerhalb von zwei Jahren von dem Ende der Vorlagefrist an (§ 801 Abs. 1 Satz 2 BGB). Für den Zinsanspruch gilt:

1833

x

Sind über die Zinsen separate Urkunden ausgestellt, so gilt – mangels abweichender Regelung – eine Vorlagefrist von vier Jahren (§ 801 Abs. 2 BGB).

x

Sind – wie in jüngeren Anleihen regelmäßig – über Zinsen keine separaten Urkunden ausgestellt, so gilt nicht § 801 Abs. 1 Satz 2 BGB analog, sondern die Zinsansprüche unterliegen der Regelverjährung von drei Jahren nach Fälligkeit (§§ 195, 198 BGB).2756)

x

In einem freiwilligen Umtauschangebot liegt kein Anerkenntnis i. S. d. § 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB, wenn dieses lediglich im Vergleichswege erfolgt.2757)

___________ 2753) BGH ZIP 2016, 308; für anderweitig fällige Anleihen bereits BGH ZIP 2014, 1876, Rn. 18, dazu EWiR 2014, 611 (Müller-Eising). 2754) Vgl. oben Rn. 1822. 2755) AG Syke NJW 2003, 1045. 2756) BGH ZIP 2016, 1017. 2757) BGH, Urt. v. 6.11.2018 – XI ZR 369/18, BeckRS 2018, 31360.

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Teil 4 Restrukturierung

e) Tenorierung 1834 Besonderheiten gelten aufgrund §§ 793 ff. BGB auch hinsichtlich der Tenorierung des Zahlungsanspruchs. Ist die Klage erfolgreich, muss bei Inhaberschuldverschreibungen wegen des Gegenanspruchs des Emittenten aus § 797 BGB der Tenor auf Zahlung der Klagesumme gegen Mitteilung der Zahlung an seine Depotbank zwecks Ausbuchung der Inhaberschuldverschreibung aus seinem Depot in Höhe der Zahlung lauten. Ist in den Anleihebedingungen die Zahlstelle zur Entgegennahme der Inhaberschuldverschreibung bevollmächtigt, kann das Gegenrecht auch durch Übertragung der Inhaberschuldverschreibung an die Zahlstelle erfüllt werden. Dabei handelt es sich nicht um eine Zug-um-Zug-Verurteilung i. S. d. § 765 ZPO (siehe aber unten IV. zur Vollstreckung).2758) 1835 Hat der gemeinsame Vertreter Rechte aus der Anleihe als Vertreter der Anleihegläubiger geltend gemacht, so sind die Anleihegläubiger im Rubrum unter einer Sammelbezeichnung zu benennen.2759) f) Vollstreckung 1836 Zur Vollstreckung eines Zahlungstitels aus der Anleihe gegen Aushändigung der Anleiheurkunde (§ 797 BGB, siehe oben Rn. 1834) muss der Gläubiger Anleiheurkunden in Höhe des zu vollstreckenden Betrags dem Vollstreckungsorgan vorlegen. Eine Depotbestätigung reicht nicht aus. Ist die Anleihe wie regelmäßig globalverbrieft, muss der Anleihegläubiger daher vor Vollstreckung seinen Auslieferungsanspruch gem. § 7 DepotG geltend machen.2760)

___________ 2758) BGH ZIP 2013, 1270, 1271, Rn. 10, dazu EWiR 2013, 575 (Hoffmann-Theinert); BGH ZIP 2008, 2382, 2383. 2759) BGH ZIP 2018, 882, Rn. 19, dazu EWiR 2018, 341 (Seibt). 2760) BGH ZIP 2016, 891.

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Stichwortverzeichnis

Abfindungsklauseln

372 Abberufung als Organ 643 ff. – Dauer 643 – einseitige Suspendierung 646 – einstweilig Verfügung 645 – Form 643, 651 – Wirksamkeit 644, 648, 649, 650 Abkauf von Anfechtungsklagen 1610 Abtretung Deckungsanspruch/ Freistellungsanspruch 1021 ff. – Verfügungsbefugnis der Gesellschaft 1008, 1023 f. – Zustimmung der Hauptversammlung 1025, 1029 – Leistung erfüllungshalber 1025 ff., 1029 ff. – pactum de non petendo 1025 ff. Acceleration 1332 ff., 1340, 1347 ff. Actio pro socio 267, 305 Ad hoc-Publizität bei Beschlussmängelklagen 10 Ad-hoc-Schiedsverfahren 557, 1128 Adjudikator 1383 ADR-Verfahren 1366 ff. s. a. Schiedsverfahren – Collaborative Law 1422 ff. – Dispute Board 1447 ff. – Early Neutral Evaluation 1426 ff. – Kombinierte Klausel 1078 – Mediation 1389 ff. – Schiedsgutachten 1635 ff. AGB-Kontrolle 1076 f., 1732 Akquisition 1290, 1293, 1295, 1297 ff., 1308, 1314, 1349, 1354 Aktiengesellschaft 1406, 1408, 1457 – Beschlussmängel s. dort

– Beschlussmängelklagen 1 ff. – gemeinsamer Vertreter im Spruchverfahren 136 – Treuegebot 85 Aktionäre – Anfechtungsbefugnis 46 ff. – Erscheinen/Nichterscheinen in der Hauptversammlung 52 ff. – Informationsrechte 89 – Klagebefugnis 47 s. a. Anfechtungsbefugnis Aktiv- und Passivlegitimation 1616 ff. All-in Kaufpreis 1237 Allgemeine Feststellungsklage 101 f. Allparteilichkeit 1391 Alternative Streitbeilegung (ADR) 1381 ff. Altgesellschafter 1395 Altgläubiger 1526 Amtsniederlegung Schiedsrichter 1137 ff. Anfechtung (Insolvenzanfechtung) 1637 ff. Anfechtungsbefugnis 46 ff., 1775 – Aktionäre 46 ff. – Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat 62 – Vorstand 61 Anfechtungsfrist 1406 ff. Anfechtungsklage 515, 522, 543, 1775 ff. – Abkauf 1610 – Anfechtungsbefugnis 1775 – Begründetheit 1777 – Beschlussmängel s. Beschlussmängel – Freigabeverfahren s. Freigabeverfahren – rechtsmissbräuchliche 1776 – SchVG 1775 ff. – Urteilswirkung 1785 f. 599

Stichwortverzeichnis

– Vollzugssperre 1797 – Zuständigkeit 1782 Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage AG 11 ff. – Abkauf 1610 – Anerkenntnis 36 – Anfechtungsbefugnis 46 ff. – Begründetheit 45 ff. – Beklagte 16 – Beschlussmängel s. dort – Beweislast 28 ff. – Fristen 63 ff. – Kläger 11 ff. – Klageantrag 23 ff. – Klagebefugnis 47 s. a. Anfechtungsbefugnis – Klagefrist 63 ff. – Klagerücknahme 37 – Kosten 39 – Nebenintervention 18 ff. – Publizitätspflichten 9 f. – Parteien 11 ff. – Rechtsmittel 44 – Rechtsschutzbedürfnis 5 f. – SchVG 1775 ff. – Schiedsfähigkeit 141 f., 634 – Streitgegenstand 2 – Streitwert 40 ff. – Urteil 33 ff. – Verfahrensgrundsätze 27 ff. – Vergleich 38 – Zuständigkeit 22 – Zustellung 26 Anfechtungsprozess – AG 11 ff., 506 ff., 576 ff. – GmbH 506 ff., 576 ff. – Insolvenz 1679 ff. – SchVG 1772 ff. Angemessenheit der Gegenleistung 1572, 1580 Ankereffekt 710 f. Anlagebedingungen (geschlossene Fonds) 390 Anlagestrategie (geschlossene Fonds) 390

600

Anleihe 640; 1810 ff. – Begriff, Rechtsnatur 1712 – Kündigung 1820 ff. – Verjährung 1831 – Zahlungsklage 1810 ff. Anleihebedingungen 1729 ff., 1737, 1718, 1815 – Änderung s. Gläubigerversammlungsbeschluss – AGB-Recht 1732 – Gerichtsstandsklausel 1815 – Rechtswahl 1718 Anleihegläubigerversammlung s. Gläubigerversammlung Anspruchsabwehr/Haftungsabwehr 1050 ff., 1055 ff., 1058 ff. Anspruchsanmeldung Musterverfahren 953 ff., 976 Anspruchsgegner 1576, 1583, 1613 Anspruchshöhe 1583 f., 1627 Anspruchskonkurrenz 1625 Anstellungsverhältnis 636 f., 661 Anstellungsvertrag 636 f., 652 ff., 830 – außerordentliche Kündigung 671, 673 f. – Frist 673 – Kündigungsgründe 674 – Befristung 653 f. – Form 652 – Fortsetzungsklausel 654 – Kündigung 668 ff. – Form 668 – Wirksamkeit 669 f. – Zurückweisung 669, 672 – Ruhendstellung 654 – Wirksamkeit 655 Anträge s. Klageantrag/-anträge Anwaltsmediation 1422 Anwaltszwang 1383 ARAG/Garmenbeck 682, 1009, 1012, 1043, 1538 Arbeitnehmer 837 Arbeitnehmerstellung 638

Stichwortverzeichnis

Arrest 1634 Aufklärungspflichten 1075 ff. Auflösungsklage 360 ff. Ausfallrisiko 1594 Aufhebungsvertrag 675 ff. – Form 675 – vergütungsregulatorische Vorgaben 677 – wechselseitiger Anspruchsausgleich 676 Auflösungsklage 360 Auflösungskündigung 361 Aufsichtsrat 828 – Anfechtungsbefugnis der Mitglieder 62 – Vertretung der AG 17 Aufsichtsratshaftung – Innenhaftung 753 ff. – Außenhaftung 756 Aufsichtsratswahlen – Anfechtbarkeit 84 – Nichtigkeit 75 Ausfallhaftung 1398 Auskunftsrecht 312 ff., 419 ff. s. a. Kontrollrechte und Informationsrechte – Auskunftsklage; Streitwert 424 – einstweiliger Rechtsschutz 324 – geschlossene Fonds 419 – zum Jahresabschluss (geschlossene Fonds) 425 Ausscheiden von Gesellschaftern (geschlossene Fonds) 482 ff. Ausschluss/Ausschließung eines Gesellschafters 282, 367 ff., 477 Ausschlussfrist 289 – Beschlussmängel AG 66 – Beschlussmängel Personengesellschaft 289 ff. – Beschlussmängel geschlossene Fonds 463 – gesetzlich/satzungsmäßig 1406, 1411, 1425 – materielle 289

Ausschüttung von Unternehmensgewinnen 1395, 1442, 1468 Austrittskündigung 361 Außergerichtliche Streitbeilegung 1366 ff., 1376, 1470 ff. Außenhaftung 759 Austauschverträge mit Gesellschaftern 1608 f. Autonome Auslegung 502, 513, 523, 539

Bankenkonsortium

1291 Bareinlage 1398, 1458 Bargeschäft 1646 Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag 34, 90, 131, 532, 1209 ff., 1302, 1582, 1603 Beiladung KapMuG 910, 942 ff., 972 Beschlussmängel 285 s. a. Beschlussmängelklagen und Beschlussmängelstreitigkeiten – Anfechtungsausschlüsse 91 ff. – Anfechtungsgründe 83 ff. – Ausschlussfristen 66, 289 – Beurkundungsmängel 69 – Einberufungsmängel 68, 285 – Einstweiliger Rechtsschutz 127 ff., 295 ff. – Entsprechenserklärung 89 – Geltendmachung 287 – Gesetz- oder Satzungsverstoß 85 f. – Heilung 79 ff., 98, 471 – Inhaltsmängel 70, 90 – Nichtigkeitsgründe 67 ff., 467 ff. – Ordnungsvorschriften 286 – Prozessvoraussetzungen 287 – Relevanzkriterium 97 – Schiedsfähigkeit 293 f. – Sittenwidrigkeit 71 – System der Beschlussmängelklagen 2 ff. – Verfahrensfehler 89

601

Stichwortverzeichnis

– Verstoß gegen Richterrecht 85 – Verwirkung 289 Beschlussmängelklagen 1 ff., 293, 428 ff. s. a. Beschlussmängelstreitigkeiten – Anfechtungsklage s. Anfechtungsklage – Anträge 440 – Ad-hoc Publizität 10 – allgemeine Feststellungsklage 101 f. – Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage 11 ff. – Anerkenntnis; -urteil 36, 453 – Ausschlussfristen; materiellrechtlich 64, 463 ff. – Bekanntmachungspflichten 9 – Darlegungs- und Beweislast 116, 444 – Einstweiliger Rechtsschutz 8, 127 ff. – Feststellungsinteresse 292 – Freigabeverfahren 7, 106 ff. – Gläubigerversammlung 1775 ff. – Hauptversammlung 1 ff. – Kammer für Handelssachen 22 – Klagearten 2 ff. – Klagerücknahme 453 – Mitteilungs- und Veröffentlichungspflichten nach WpHG 49, 92 – Nebenintervention 18 ff., 110 f. – Nichtigkeitsklage s. Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage – positive 49, 103 f. – Rechtsschutzbedürfnis 5 f. – Rechtskraftwirkung 449 – Schiedsfähigkeit 293 – SchVG 1772 ff. – Societas Europaea 1 – Streitgenossenschaft 13

602

– Vergleich 454 Beschlussmängelstreitigkeiten 1 ff., 290, 428 ff., 1387, 1405 ff., 1412, 1457 s. a. Beschlussmängelklagen – im Schiedsverfahren 576 Beschränkung der Vorstandshaftung 702 ff. Bestätigungsbeschluss AG 99 Bestellung von Sicherheiten 1606 f. Bestellung zum Organmitglied 643, 647 – Dauer 643, 647 – Form 643, 647 Betriebliche Altersversorgung 658 ff. – Abfindungsverbot 658 – Kapitalwahlrecht 658 – unverfallbare Anwartschaft 659 f. Beurkundungsmangel 69, 80 Beweislastregelung 831 Beweislastumkehr 712 ff, 1046, 1500, 1558 Beweislastverteilung 116, 269, 719, 805 Beweismaß 779 – Schiedsverfahren 1143 Beweisregeln Schiedsverfahren 604 ff. Bilanzgarantie 1118, 1190 ff. – harte 1193 – objektive 1193 – subjektive 1191 Bindungswirkung – KapMuG 965 ff., 972, 974 ff. – Dispute Boards 1452 f. – Early Neutral Evaluation 1438 – Schiedsgutachten 1432 ff. Brexit 492 Brüssel Ia-VO 488, 494 ff. Brüssel I-VO 494 Buchwertklauseln 372 Bürgermeister 773

Stichwortverzeichnis

Business Judgement Rule 270, 788, 804, 1597

Cash Free/Debt Free 1239, 1241 Cash Pooling 1587 ff., 1674 f. Caucuses 1415 ff. Cap (Haftungshöchstgrenze) 1206 Claims-made Prinzip 1545, 1560 Claims Management 1152 ff. – Aufgaben 1165 – Fristenkontrolle 1166 f. – Haftungshöchstgrenzen („Cap“) 1206 – Kaufpreisanpassung s. dort – Mängelanzeige 1171 – Mängel-Reporting 1168 – Risikoüberwachung 1163 ff. – Ziele 1157 Clean-Up 1332, 1334, 1340, 1349 f. Closing Accounts 1238 Co-Mediation 1404, 1424, 1431 Collaborative Law 1422 ff. Companies House 534 Company Reimbursement 898, 1016 ff. Complianceverstöße (in Schiedsverfahren) 1132 ff. Corporate Dispute Management 1370, 1470 ff. Corporate Litigator 1375 Covenant 1309, 1324 ff., 1334 Coverage Counsel 1055 COVID 19-Gesetz 96, 1515, 1641 Darlegungs- und Beweislast

116, 269, 333, 444 f., 774 ff., 1046, 1141 f., 1479, 1565, 1621 ff. Darlehen an Gesellschafter 1588 ff. Darlehen im faktischen Konzern 1599 ff. Darlehen im Vertragskonzern 1603 ff. Dauerverhalten 845 Deal-Mediation 1394

Debt-Fonds 1293 Deckungsanspruch 1021 ff. Deckungsausschlüsse 1051, 1058 – wissentliche Pflichtverletzung 1006, 1037, 1058 Deckungseinwendungen 1058 Deckungsprozess 1008 Defense Counsel 1055 ff. Defined Benefit Plan 1248 Delegation – horizontale 800 – vertikale 795 Debt-Positionen 1245 Differenzhypothese 779, 803 Direktanspruch/Direktprozess 1010, 1021 ff. – Beweislast 1018 – Vertretung der AG 1034 ff. DIS – Deutsche Institution für Schiedsgerichtsbarkeit 557 DIS – Ergänzende Regeln für gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten (DIS-ERGeS) 579 DIS Konfliktmanagementordnung (KMO) 1472 DIS Schiedsordnung 557, 1071 Disclosure 1142 Dispute Board 1384 f., 1388, 1446 ff., 1459 ff., 1471 Dispute Management 1366 ff. D&O-Streitigkeit 1005 ff. D&O-Versicherung – Abtretung 1023 ff. – Anspruch 895 – Defense Counsel 1055 ff. – Organhaftung 682 f., 815, 833, 1479, 1539, 1545, 1548 ff., 1560, 1562, 1565 ff. – Direktanspruch 1021 ff. – Prozessvollmacht 1062 – Sockelverteidigung 1060 ff. – Schiedsverfahren 1041 ff. Dokumentationspflicht des Vorstands 727 Dreierschiedsgericht 589, 1073

603

Stichwortverzeichnis

Drittanstellung 637 – Zulässigkeit 637 Drittgeschäfte 302 Drittvergleich 1581, 1595 Dutco-Entscheidung 630 Due Diligence 1147 ff., 1349 – Post Closing 1170

Early Neutral Evaluation

1388, 1426 ff., 1438 ff., 1460 ff. Earn Out 1258 EBITDA, EBIT 1300 Effective Date Accounts 1238 Ehegattengesellschaft 378 ff. Eigenbeitrag 1566 f. Einberufungsmangel 57, 68, 76 f., 89 Einstimmigkeitsprinzip 276 Einstweiliger Rechtsschutz 8, 127 ff., 297, 324, 355 ff., 486 – Beschlussmängel AG 8, 127 ff. – Entziehung der Geschäftsführungsbefugnis 355 ff. – Freigabeverfahren 106 ff. – Informationserzwingung 324 – Geschäftsführerhaftung 901 – Kapitalerhaltung 1633 – Schiedsverfahren 625, 1124 – Stimmbindungsvertrag 297 – Unterlassungsansprüche 348 – Verhinderung mangelhafter Beschlussfassungen AG 128 – Verhindern von Durchführungsmaßnahmen AG 129 Einwendungen 1585, 1630 Einzelgeschäftsführung 341 Einzelschiedsrichter 588 Enterprise Value 1239, 1241 f. Entlastung 90, 283, 810 ff., 871 Entlastungsperiode 812 Entnahmesperre 334 Entsprechenserklärung 89 Enterprise Value 1239 Entzug Geschäftsführungsbefugnis 477

604

Entziehungsklage 350 ff. Equity Value (Eigenkapitalwert) 1239, 1241 f. Erfüllungshalber 1025 ff. Erfüllungsort 498, 539, 543 Erga-omnes-Wirkung 501 f., 510, 515 Eskalationsmodell 1399 Ermittlungsakten 1540 Event of Default 1310, 1331 f., 1334, 1340, 1347 s. a. Kündigungsgrund EuGVO s. Brüssel Ia-VO EuGVVO s. Brüssel Ia-VO EuInsVO 497, 1524, 1685 Europäische Union 491, 494, 525 EWR 525 Existenzvernichtender Eingriff 1603 ff. Exzedentenversicherer/ Exzedentenversicherung/ Exzedentenpolice 1044, 1059

Facilities Agreement (FA)

1294, 1308, 1346 Fast-track Schiedsverfahren 1126 ff. Fehlerhaftes Anstellungsverhältnis 655 Feststellungsklage 101 f., 235, 287, 516, 543 Financial Debt 1245 Fonds, geschlosse 381 ff. Fortführungsprognose 1496, 1498, 1500, 1553 Fortsetzungsklausel Anstellungsvertrag 654 Freigabeverfahren 7, 106 ff., 1797 ff. – Anträge 113 – Antragsbefugnis 1800 – Begründetheit 125 ff., 1804 – Beschlusswirkung 1806 – gerichtliche Zuständigkeit 112 – GmbH 192

Stichwortverzeichnis

– – – – –

Interessenabwägung 125 Parteien 109 ff. Schadensersatz 124 SchVG 1797 ff. Unanfechtbarkeit der Entscheidung 123 – Verfahrensgrundsätze 115 ff. – Zulässigkeit 107 f. Freistellungsanspruch 1007 f., 1020, 1021 ff., 1023 f Fristenkontrolle 1166 f. s. a. Claims Management Fürsorgepflicht der Gesellschaft 703

Garantenkonzept

1300 Geheimhaltungsinteresse 1396 Gelayerte D&O-Versicherung 1059 Gemeinsamer Vertreter (SchVG) 1740 ff. – Bestellung 1740 – Befugnisse 1742, 1820 Genussschein 1717 Gerichtliche Zuständigkeit 22, 201, 379, 417, 439, 487 ff., 882, 1758, 1782, 1795, 1801, 1813 – Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage AG 22 – Freigabeverfahren 112 – Haftungsklage 882 ff. Gerichtsstand 1614 f. – allgemeiner 498, 538, 543 – ausschließlicher s. Zuständigkeit, ausschließliche – besonderer 498, 539 ff., 543 – internationaler 487 ff. – Mitgliedschaft 533, 544 – Niederlassung 541 Gerichtsstandsvereinbarung 496, 499, 531, 535 f., 544, 547 f., 1815 Gesamtgeschäftsführung 341, 798 – Widerspruchsrecht 341 ff. Gesamtschuld 731 ff. – Geschäftsführer 862 ff.

– gestörte 869 ff. – Streitverkündung 876 ff. Gesamtunternehmenswert 1241 Gesamtverantwortung – Geschäftsführer 798 ff. – Vorstand 707 ff. Geschäftsführer – Abberufung 282, 350 ff. – Außenhaftung 759 – D&O-Versicherung 890 ff. – drohende Zahlungsunfähigkeit 769 – Entsendung durch öffentliche Hand 770 – Haftung 223, 762 ff. s. a. dort – Haftungsfreistellung 769 – Innenhaftung 759 ff. – Insolvenzantrag 769 – Kompetenzverteilung 766 – Pflichtenkatalog 766 – Pflichtverletzung 785 ff. – Regressansprüche 265 – ungewöhnliche Geschäfte 769 – Zusammenarbeit mit Gesellschafterversammlung 767 ff. Geschäftsführungbefugnis 768 – Delegation 795 ff. – Entziehung 282, 350 ff. Geschäftsführungstreitigkeiten 340 ff. – Entziehungsklage 350 ff. Geschäftsgrundlage 1126 Geschäftsleiterpflichten 1597 f. Geschlossene Fonds 381 ff. Gesellschaft – Auflösung 497, 505, 543 – börsennotierte 9 – Haftungsansprüche 1398, 1442, 1458 – Informationsanspruch 321 ff. – Kündigung 516 – Liquidation 505, 1395, 1468

605

Stichwortverzeichnis

– Nichtigkeit 504 f. – stille 504 – Veräußerung 1395, 1468 Gesellschafter – Abfindung 505, 522 – akzessorische Haftung 307 – Ausscheiden 482 ff., 1410, 1442 – Ausschluss 282, 367 ff., 513, 522 – Entlastung 283 – Haftung 222 – Rechte und Pflichten 301 ff. – Stimmausübung 281 – Stimmrechtsvertretung 281 Gesellschafterbeschluss 275 ff. – anfechtbarer 231 ff., 275 ff., 428 ff., 506 ff., 769 – Beteiligung der öffentlichen Hand 770 ff. – kommunalaufsichtliche Genehmigung 774 – Haftungsausschluss 807 – nichtiger 769 – rechtswidriger 769 – Wirksamkeit 275 – Stimmbindungsvertrag 297 ff. – Stimmrechtsausschluss 282 – ungewöhnliche Geschäfte 769 – Vollzugsabwehr 295 Gesellschafterdarlehen 1658, 1666 ff. Gesellschafterfremdfinanzierung 1658 ff. Gesellschafterliste 160, 214, 566 Gesellschafterstreit 275 ff., 308 Gesellschaftervereinbarung 181, 567 Gesellschafterversammlung 506, 767, 769, 807 – Einberufung 511 – Weisungen 767, 769 Gesellschafterwechsel 303 Gesellschaftsanteile, Vererbung 1442

606

Gesellschaftsgläubiger als Kläger 1630 f. Gesellschaftsstreit 308 Gestaltungswirkung 33 ff. Gewährleistungsansprüche 1189 ff. – Bilanzgarantie 1190 Gewillkürter Parteiwechsel 310 Gewinn- und Entnahmeansprüche 332 ff. Gläubigerbenachteiligung 1644 Gläubigergleichbehandlung 1639 Gläubigerschutz 1398, 1458 Gläubigerversammlung (SchVG) 1735 ff., 1746 ff.; 1763 ff. – Beschlussfassung 1737 ff. – Einberufungsverlangen 1746 ff. – Ergänzungsantrag 1763 ff. – Gegenantrag 1767 ff. Gleichbehandlungsgebot 277 Gleichwertigkeitsgrundsatz 555 GmbH & Co. KG – actio pro socio 243, 267 – Auflösungsklage 273 – Beschlussmängel 235 – beteiligungsgleiche 226 – Business Judgement Rule 270 – einstweiliger Rechtsschutz 246 – Erbfolge 227 – Fortsetzungsbeschluss 229 – Haftung Geschäftsführer 223 – Haftung Gesellschafter 222 – Haftung Kommanditisten 249 – Haftungsvergütung 238 – Informationsklage 242 – Informationsrecht 239 – kollektives 243 – Regressansprüche 265 – Schadensschätzung 269 – Schutzwirkung Organverhältnis 265 – Treuepflicht 228, 237 – Unterlassungsanspruch 254 – Vor-GmbH 219 – Vorlagepflicht 252

Stichwortverzeichnis

– Wettbewerbsverbot 247 – Widerspruchsrecht 251 – Zustimmungsklage 261 GmbH & Co. Investment KG 385 ff. Großbritannien 492, 530, 548 Grundkaufpreis 1242 Gründungstheorie 525 Gutgläubiger Zahlungs- bzw. Leistungsempfänger 1585

Haager Gerichtsstandübereinkommen 535, 544 Haftpflichtprozess 1009 Haftungs- und Deckungsvergleich 704, 745 Haftung des Vorstands 682 ff. Haftung des Geschäftsführers 223, 762 ff. – Ausschluss und Begrenzung 807 – einstweiliger Rechtschutz 901 – Entlastung 810 – Gesamtschuld 862 – Gesellschafterbeschluss 850 – Mitverschulden 834 – nach Ausscheiden 805 – rechtmäßiges Alternativerhalten 801 ff. – Regress 876 ff. – Streitverkündung 876 – Verjährung 811, 838 ff., 867 – Verzicht 809 Haftungsausschluss 824 ff. Haftungsbeschränkung Geschäftsführer 824 ff. Haftungsfreistellung 769 Haftungsmasse 699, 709, 1644 Haftungsprivilegierungen 824 Haftungsvergleich 1017 ff. Hauptniederlassung 496, 538 Hauptverwaltung 496, 538 – Beschlussmängel AG s. dort – Beschlussmängelklagen 1 ff. Heilung 79 ff., 98

IBA Rules on the Taking of Evidence in International Arbitration (IBA Rules) 604, 1108 ICC Schiedsordnung 557 IDW S 11 1491 IFRS 1161, 1251, 1267, 1278 Inanspruchnahme – ernstliche 1019 f. – freundliche 1010 – von Organen 682 Informationsrechte 89, 239 ff., 310 ff., 415 ff. s. a. Auskunfts- und Kontrollrechte Innenhaftung/Innenhaftungsanspruch 759, 1009, 1016 f., 1042 Insolvenz 497 Insolvenzanfechtung 1637 ff. – Anfechtungsgegner 1701 – Fristberechnung 1649 – Kapitalerhaltung 1521 – Klageart 1697 ff. – mittelbare Zuwendung 1702 – Prozesskostenhilfe 1706 ff. – Rechtsfolgen 1661 ff. – Rechtsweg 1691 ff. – Reform 1640 – Schiedsfähigkeit 1680 – Streitgegenstand 1697 – Verjährungsfrist 1665 – Verjährungshemmung 1705 – Zuständigkeit 1693 ff. – internationale 1683 ff. Insolvenzantrag 1479, 1486, 1490, 1503, 1507, 1525 f., 1542, 1557 Insolvenzgrund 1478, 1485, 1507 f., 1518, 1528, 1541, 1555, 1557 f., 1563 Insolvenzverschleppung 497, 1525 Insolvenzverursachungshaftung 1529 ff. Insolvenzverwalter als Kläger 1632 Institutionelles Schiedsverfahren 557 Inter omnes Wirkung 33

607

Stichwortverzeichnis

Interessenkonflikt des Aufsichtsrats 1026 Internationales Privatrecht, IPR 487, 499, 504, 506, 524 ff. Investmentaktiengesellschaft 406

Jahresabschlussstreitigkeiten 327 ff., 336 f.

Kammer für Handelssachen

22, 885, 1615, 1693 Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz s. KapMuG Kapitalerhaltung 1569 ff. – Debt Equity 1301 ff. – Geschäftsleiterpflichten 1552 Kapitalersetzende Gesellschafterdarlehen 497 Kapitalmarkthaftung 902 ff. KapMuG 902 ff. – Ablauf 905 ff. – Anspruchsanmeldung 953 ff., 976 – Anwendungsbereich 995 ff. – außenstehende Rechtsverhältnisse 992 ff. – Ausgleichsansprüche 995 ff. – Beigeladener 942 ff., 974 ff. – Bindung an Musterentscheid 962 ff. – Einbeziehung Dritter 992 ff. – Musterbeklagter 945 ff., 974 ff. – Musterkläger 937 ff., 968 ff. – Nebenintervention 941, 960 f., 998 ff., 1003 ff. – örtliche Zuständigkeit 928 ff. – Prozessgericht 965 – Rechtskraft 962, 964, 967, 969 f., 973 ff. – Rückgriffsansprüche 995 ff. – Streitverkündung 941, 960 f., 998 ff. Kaufpreis s. a. unten – Fest- 1237

608

– variabler 1238 ff. – vorläufiger 1238 Kaufpreisanpassung 1236 – Earn-Out 1258 ff. – Eigenkapital 1239 – erfolgsbezogene 1240 – Ermittlung 1236 – Locked Box 1237 – relevante Bilanzpositionen 1243 ff. – Schiedsgutachten 1273 ff. – Schiedsverfahren 1284 ff. – Stichtag 1237 f. – Stichtagsabschlüsse 1263 ff. – Überprüfung 1269 ff. – Verfahren 1263 ff. – Working Capital Anpassung 1253 ff. Kaufpreisanpassungsregeln 1237 ff. Kaufpreisformel 1234, 1237 ff. – Cash Free/Debt Free 1239, 1241 ff., 1253 – Debt Like Items 1252 – Leasingverbindlichkeiten 1251 – Pensionsverbindlichkeiten 1248 – Steuerverbindlichkeiten, -rückstellungen 1250 Kausalität der Pflichtverletzung 715 Klageanspruch 1183 ff. – Freistellung 1194 – Gewährleistung 1189 – Haftungsbeschränkung 1196 f. – Verletzung von Aufklärungspflichten 1184 Klageantrag/-anträge – Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage AG 23 ff. – positive Beschlussfeststellungsklage AG 103 f. – Freigabeverfahren AG 113 – Spruchverfahren AG 138 Klageart 2 ff., 1624 ff. Klagefrist 63 ff., 1787, 1793 f.

Stichwortverzeichnis

Klageverzicht 1411 Klageziel 1174 ff. – Freistellung 1177 – Kaufpreisherabsetzung 1175 – Rückabwicklung 1178 – Schadenersatz 1176 Kombinierte ADR- und Schiedsklausel 1078 Kommunalaufsichtliche Genehmigung 774 Konfliktmanagementordnung (KMO) 1472 Konfliktstufen 1399 Konstituierung (des Schiedsgerichts) 587 ff. Kontrollrechte 312 ff., 419 ff. s. a. Auskunftsrechte Koppelungsklausel 636, 661 ff. – auflösende Bedingung 664 – ungleiche Kündigungsfristen 663 – Zweckbefristung 664 Korruption 1132 ff. Krisenanzeichen 1499, 1507, 1552 Kündigung Anstellungsvertrag 667 ff. Kündigungsgrund (Private Equity) 1305, 1307, 1309 f., 1321, 1331 ff., 1339 ff., 1345 ff., 1352, 1356, 1358 ff., 1363 f. s. a. Event of Default

Ladungsfehler

183 Leakage 1065 Leasingverbindlichkeit 1250 Legalitätspflicht 766, 787 – Geschäftsführer 787 – Vorstand 683, 689 ff., 717 Leistungen an Dritte 1574, 1581 f. Leistungen Dritter 1574 Leistungsempfänger 1571, 1574, 1581 f. Leitungsermessen 804 Leistungsklage 522

Leverage Ratio 1360 s. a. Verschuldungsgrad Leveraged Buy-Out (LBO) 1287 Leverage-Effekt 1289, 1308 Limitation Language 1303, 1590 Limited 488, 490, 525, 530, 550 Liquiditätsbilanz 1492 LLP 530 Loan Market Association (LMA) 1294 f., 1300, 1307 f., 1310, 1313, 1316 f., 1322, 1324, 1328, 1331 ff., 1339 ff., 1347, 1351, 1353, 1360, 1363 Locked Box-Verfahren 1237 Luganer Übereinkommen 494 ff.

M&A-Streitigkeiten 1065 Management Buy-In (MBI) 1287 Management Buy-Out (MBO) 1287 Mängel-Reporting 1168 s. a. Claims Management Margenraster 1360 s. a. Margin Ratchet Margin Ratchet 1360 s. a. Margenraster Material Adverse Change (MAC) 1065, 1126 ff., 1344 Material Adverse Effect 1310, 1318, 1320 f., 1324, 1326 ff., 1340, 1342, 1344 Mehrerlösmechanismus 1258, 1261 Mediation 547, 1389 ff., 1426 ff., 1456, 1458, 1471 Mediationsfähigkeit 1397 Mediationsgesetz 1390 f., 1402, 1414 Mediationsklausel 1406, 1409 ff. Mediator 1383, 1390 ff., 1399, 1401 ff., 1409, 1414 f., 1423 f., 1431 Mediatorenauswahl 1401 ff. Mediatorenlisten 1404 Mediationsvereinbarung 1414 f. Mediatorenvertrag 1392, 1414 609

Stichwortverzeichnis

Mehrparteienschiedsverfahren 629 Mini-Trial 1384 f., 1388, 1459 ff. Missbrauch Anfechtungsklage – AG 1610 – SchVG 1776 Mitteilungs- und Veröffentlichungspflichten nach WpHG – Beschlussmängel AG 49, 92 Mitverschulden 834 ff. Monitoring Counsel 1055 ff., 1060 Musterbeklagter s. KapMuG Musterentscheid 907, 966, 962 ff. Musterkläger s. KapMuG Musterverfahren s. KapMuG Musterverfahrensgesetz s. KapMuG

Nachvertragliches Wettbewerbsverbot 665, 666 – geltungserhaltende Reduktion 666 – Karenzentschädigung 665 – Kundenschutzklauseln 665 – Salvatorische Klausel 666 – Sittenwidrigkeit 665 Nebenintervention – Beschlussmängelklagen AG 18 ff., 110 f. – Beschlussmängelklagen geschlossene Fonds 436 – D&O-Versicherers 1005 ff., 1047, 1060 ff. – KapMuG 941, 960 f., 998 ff. Nettoumlaufvermögen 1255 Neugläubiger 1526 New Yorker Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche vom 10.6.1958 560 Nichtigkeitsklage 2 ff., 515, 543 – SchVG 1787 ff. – Begründetheit 1788 ff. – Statthaftigkeit 1787 – Urteilswirkung 1796 – Zuständigkeit 1795

610

Niederlassungsfreiheit 525 Notice of Objection 1271 f.

Öffentliche Hand

770, 824, 1720 Opt-in s. Schuldverschreibungsgesetz (SchVG) Ordnungsvorschriften 286 Organeigenschaft 506 Organhaftung – D&O 1005 ff. – Fonds 481 – Geschäftsführer 757 ff. – GmbH & Co. KG 265 ff. – Krise, Insolvenz 1478 ff. – Vorstand 682 ff. Organstellung 642, 661 Organstreitigkeit 1005 ff.

Pactum de non petendo

1025 ff., 1407, 1411 Pension Assets 1248 Pensionsverbindlichkeit 1248 ff. Personengesellschaft 275 ff. – actio pro socio 305 – Auflösungsklage 360 ff. – Beendigung 360 ff. – Auskunfts- und Kontrollrechte 312 ff. – Ehegattengesellschaft 378 ff. – Einstimmigkeitsprinzip 276 – Geschlossene Fonds 381 ff. – Gewinn- und Entnahmeansprüche 332 ff. – Gesellschafterausschluss 367 – Gesellschafterbeschlüsse 275 ff. – Gesellschafterrechte 301 ff. – Kernbereichslehre 278 – Kopfteilprinzip 276 – Kündigung 376 ff. – Mehrheitsbeschluss 276 ff. – Parteifähigkeit 303 – Sozialansprüche 301 ff.

Stichwortverzeichnis

– Streitgenossenschaft 306 ff. – Stimmrechtsausschluss 282 – Stimmrechtsvertretung 281 – Treuepflicht 279 – Wettbewerbsverbot 338 ff. Pfändungsgläubiger, Kündigung 376 Pflichtenkollision 1514 Pflichtverletzung – Geschäftsführer 785 ff. – Krise, Insolvenz 1478 ff., 1536 ff. – Vorstands 688 ff. Positive Beschlussfeststellungsklage 49 Post Merger Litigation 1146 ff. Präklusion 811 Private company limited by shares s. Limited Private Equity 1287 ff. Procedural Order 599, 1096, 1453 Prorogation s. Gerichtsstandsvereinbarung Prospekthaftung KapMuG 914 ff. Prospekthaftung Kapitalerhaltung 1611 Prozesskostenhilfe 1706 ff. Prozessrisikoanalyse des Aufsichtsrats 695 f. Prozessstandschaft 1630 f. Prozessvertretung 678, 679 Prozessvollmacht D&O 1062 Publikums-KG 398 ff.

Quotenschaden

1526 f.

Rechtmäßiges Alternativverhalten 801 ff. Rechtshandlung 1643 Rechtskraft – KapMuG 969 ff. Rechtsschutzbedürfnis 5 ff. Rechtsschutzverpflichtung 1052 ff. Rechtswahl 1075 Rechtsweg 32, 641

– Arbeitsgerichte 640 f. – ordentliche Gerichte 640 Redfern Schedule 1108 Reflexwirkung (int. Zuständigkeit) 529 Registerrechtliche Streitigkeit 499, 534 Regressansprüche 265 ff. Relevanztheorie 97 Representation 1309, 1318 ff., 1332, 1349 s. a. Zusicherung Reputationsschaden 1015 Ressortverantwortung 708 Ressortzuweisung 657 Ressourcenbindung 1396 Rückabwicklung 1133, 1178 Rückgriffsansprüche KapMuG 995 ff. Rügelose Einlassung 496, 531, 537, 544, 547 Ruhen des Gerichtsverfahrens 1406, 1411

Sachverständiger

1402, 1404, 1435 Sale and Purchase Agreement (SPA) 1290 Sanierungsbemühungen 1676 f. Sanierungskonzept 1498, 1513, 1555 Satzungsdurchbrechende Beschlüsse 168 Schaden 769, 779 Schadenseinheit 843 Scheinauslandsgesellschaft 490, 530, 547 f., 550 Schiedsabrede 569 Schiedsfähigkeit 293 f., 570, 577 Insolvenzanfechtung 1680 ff. Schiedsgericht – Konstituierung 587 ff. – Verfahrensermessen 559, 604 Schiedsgutachten 1273 ff., 1388, 1410, 1426 ff., 1441 ff., 1448, 1471

611

Stichwortverzeichnis

Schiedsgutachter 1273 ff., 1276, 1383, 1385, 1430 ff. – Wirtschaftsprüfer 1235 Schiedsklausel 569 Schiedsort 558, 582, 1072 Schiedsrichter – Anforderungsprofil 592, 1080 – Unabhängigkeit 590 – Unparteilichkeit 590 Schiedsspruch 617 – Aufhebung 619 – Verfahrensermessen 559, 604 Schiedsvereinbarung 551 f., 568 ff.; 1068 ff. – Form 571, 1069 – persönliche Reichweite 575 – Rechtsnatur 574 Schiedsverfahren 1041 ff. – AGB-Kontrolle 1076 f. – Aufrechnung 603 – Beschlussmängelstreitigkeiten 576 – beschränkter Untersuchungsgrundsatz 605 – Beweismaß 1143 – Beweismittel 1102 ff. – Beweislast 1046 – Complianceverstöße 1132 – einstweiliger Rechtsschutz 625, 1124 – Dispute Board 1446 ff. – Early Neutral Evaluation 1426 ff. – Fast-track-Verfahren 1126 ff. – Gleichbehandlung 559 – Indizienbeweis 1144 – institutionelles 557 – Konsolidierung 632 – Kreuzverhör 611 – mündliche Verhandlung 615, 1120 ff. – Nachteile 1047 ff. – Normenhierarchie 556 – rechtliches Gehör 559 – Relationstechnik 601

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– Sachverständige 614, 1115 ff. – sekundäre Darlegungs- und Beweislast 1046, 1142 – Verfahrensförderung 559 – Verfahrensplan 1097 – Verfahrenssprache 1066, 1074, 1088 – Verfahrensstil 1094 – Vergleich 564, 620 ff. – Vertraulichkeit 563, 1042 ff., 1066 – Widerklage 603 – Zeugenvorbereitung 613, 1112 Schuldverschreibungsgesetz (SchVG) 1712 ff. – Opt-in 1713, 1721 ff. – Opt-in in Insolvenzverfahren 1725 – sachliche Anwendbarkeit 1715 ff. – zeitliche Anwendbarkeit 1721 ff. Schutzschrift 204 Schweiz 526 f. Sicherheiten 1606 f., 1672 f. Sittenwidrigkeit 71, 172, 665 Sitz 22, 496, 501, 524 ff., 538, 543 Sitztheorie 526, 538 Sockelverteidigung 1060 ff., 1563 f. Solidarhaftung 835, 1623, 1627 Sorgfaltsmaßstab 785 Sorgfaltspflicht des Vorstands 683 ff. Sozialansprüche 301 ff. Sponsor 1289 Spruchverfahren 131 ff., 513, 543 – Antragsbefugnis 134 – Antragsbegründung 137 – Antragsfrist 138 – Antragsgegner 135 – Antragsteller 134 – Begründetheit 140 – Bewertungsrüge 140 – gemeinsamer Vertreter der Aktionäre 136

Stichwortverzeichnis

– Parteien 134 ff. – Verfahrensgrundsätze 139 Staatliche Gerichte 1370, 1372 ff., 1397, 1437, 1470 Stand-by-Spruchkörper 1128 Standstill Agreeement 1312, 1357 s. a. Stillhaltevereinbarung Statement of Case 1453 Steuerakten 1540 Steuerverbindlichkeit 1250 Stillhaltevereinbarung 1312, 1357 s. a. Standstill Agreement Stimmbindungsvertrag 297 ff. – einstweiliger Rechtsschutz 297 ff. Stimmrechtsvertretung 281 Stimmrechtsauschluss 282 Streitbeilegungsklausel 1410 Streitbeilegungsverfahren 1369, 1376, 1410, 1470 ff. Streitgegenstand 521, 545 Streitgenossenschaft 291, 306 ff. Streitverkündung 876, f. 941 – D&O-Streit 1047, 1057 – KapMuG 998 ff. Streitwert 40 ff. – Spaltung 43 Stundungsvereinbarung 1559 Suspendierung eines Vorstandsmitglieds 646

Tap Offering 1719 Torpedo(-klage) 510 Trapped Cash 1244 Trennungsgrundsatz 573 Trennungsprinzip 1006, 1014, 1051 Treuegebot AG 85 Treuepflicht 279 Treuhand 401 ff. Überbrückungskredit 1667 Übernahme des Prospekthaftungsrisikos 1611 Übernahmeklage 369

Überschuldung 1479, 1483 ff., 1496 ff., 1525, 1541, 1552 f. Überschuldungsstatus 1497 f., 1541, 1553 Überwachungspflicht – des Aufsichtsrats 692, 1523 – des Geschäftsführers 794 ff. – des Vorstands 708, 723, 1302, 1509 Ultra vires 512 Ultimoverjährung 843 Umschuldung 1678 Umweltgarantie 1170 UNCITRAL Modellgesetz 555 Undertaking 1309, 1324, 1334, 1349 Unentgeltliche Leistung 1657, 1674 f. Unfair prejudice 516 Unfunded Pension Liabilies 1248 Ungewöhnliche Geschäfte 769 Unterbilanz 1577 Unterdeckung 1578 Unterlassungsansprüche 348, 427, 475 Unternehmensgegenstand 767 Unternehmensbewertung 140, 1160 ff. – Bilanzierungsfehler 1162 Unternehmensgeheimnis 700 Unternehmensinteresse 688 ff., 744 Unternehmensverträge 511, 532 Untreue; wichtiger Grund 354 UNÜ (= New Yorker UNÜbereinkommen über Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche) 551 Urkundenprozess 641, 680 f. Urteilswirkung 1785 ff. US-GAAP 1161

Verbotene Leistungen

1572,

1579 Verbraucher 639, 1069

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Stichwortverzeichnis

Verdacht als Mangel 1134 Verdeckte Zuwendungen 1573 Verein 504 Vererbung von Gesellschaftsanteilen 1442 Verfahrensdauer Schiedsverfahren 1130 Verfahrensfehler 89 ff., 182, 445 Verfügungsanspruch 202 Verfügungsgrund 202 Vergleich – Beschlussmängel 9, 32, 38, 117, 448, 454 – D&O 1565 ff. – Mediation 1407 – Mini-Trial 1460 ff. – Organhaftung 809, 871 ff., 1016 ff., 1547 ff. – Schiedsverfahren 616, 620 ff. Vergütungsregulatorische Vorgaben 677 Verjährung 811, 838 ff., 1576, 1586 Verjährungsverzicht 1019, 1055, 1059 Versammlungsleiter 89, 145 ff. Verschonung des Vorstands 702 ff., 745 Verschuldungsgrad 1360 Verschwiegenheitspflicht 1414 Versicherungssumme/Deckungssumme 1056 f., 1061 Vertraulichkeit 1042, 1414 Vertretung der Gesellschaft 17, 102, 413 ff., 1619 Vertretungsmacht, organschaftliche – Entziehung 511, 513 Verwertungsverbot 1414 Verwirkung 196, 289, 463 Verzicht – Organhaftung 809 ff., 1547 ff. – Waiver 1311 Verzinsung Darlehen an Gesellschafter 1595 Vollbeendigung 274

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Vollstreckbarer Titel 1407 Vollstreckbarkeit 1442 Vollstreckung (international) 491 Vollwertiger Gegenleistungs- oder Rückgewährungsanspruch 1575, 1582, 1592 ff. Vollzugsinteresse 132 Vorfrage 518, 520 f. Vor-GmbH 220 f. Vorsatzanfechtung 1652 ff. Vorstand – Anfechtungsbefugnis 61 ff. Vorstandshaftung 682 ff. – Innenhaftung 688 ff. – Außenhaftung 749 ff. – Vergleich 741

Wahlbeschlüsse AG 84 Waiver 1311, 1358, 1363 Weisung 767, 807 Wesentlichkeitsschwelle (Zahlungsunfähigkeit) 1491, 1493 Wettbewerbsverbot 247 ff., 283, 338 ff., 665 ff. Widerspruch zur Niederschrift 58 f. Widerspruchsrecht eines Gesellschafters 251, 341 ff., 426 f. Working Capital (Nettoumlaufvermögen) 1253, 1257 Written witness statement 1114 Zahlung Kapitalerhaltung 1579 ff. Zahlungseinstellung 1493 f., 1542 Zahlungsstockung 1490 Zahlungsunfähigkeit 1479, 1483 ff., 1490 ff., 1525, 1529 ff., 1541, 1552, 1554 – drohende 769 – Wesentlichkeitsschwelle 1491, 1493

Stichwortverzeichnis

Zahlungsverbot 1479, 1483, 1486, 1501, 1505 f., 1510, 1513, 1518 f., 1523, 1528 f., 1532, 1543 Zerrüttung; wichtiger Grund 354 Zeugen, Schiedsverfahren 609 ff. Zielunternehmen 1235 – Bilanz 1235 Zurückweisung einer Kündigung 669 Zusicherung 1305, 1307, 1309 f., 1315, 1318 ff., 1323 f., 1327, 1331 ff., 1335, 1340, 1342, 1346, 1364 s. a. Representation

Zuständigkeit 22, 1614 ff. – ausschließliche 22, 488, 499 ff., 534, 536, 549 ff. – gerichtliche s. Gerichtliche Zuständigkeit – internationale 487 ff. – örtliche 22, 542 f. Zustimmung – Hauptversammlung 1025, 1029 – Kommanditisten 251 Zweipersonengesellschaft 355 Zwischenfeststellungsklage 1038

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