Corona und Grundgesetz [1 ed.] 9783428582624, 9783428182626

Eine solche Aufhebung von Grundrechten hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie gegeben: Bei »Corona« kam es

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Corona und Grundgesetz [1 ed.]
 9783428582624, 9783428182626

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Recht und Politik

Beiheft 7

Zeitschrift für deutsche und europäische Rechtspolitik

Corona und Grundgesetz Herausgegeben von Robert Chr. van Ooyen und Hendrik Wassermann

Duncker & Humblot · Berlin

Corona und Grundgesetz

Recht und Politik Zeitschrift für deutsche und europäische Rechtspolitik

Begründet von Dr. jur. h. c. Rudolf Wassermann (1925–2008) Redaktion: Hendrik Wassermann (verantwortlich) Heiko Holste Robert Chr. van Ooyen

Beiheft 7

Corona und Grundgesetz Herausgegeben von Robert Chr. van Ooyen Hendrik Wassermann

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 2567-0603 ISBN 978-3-428-18262-6 (Print) ISBN 978-3-428-58262-4 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhalt Zur Einführung: Freiheit, Demokratie und Grundgesetz im Pandemie-Notstand Robert Chr. van Ooyen und Hendrik Wassermann

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Pandemie und Parlament Wolfgang Zeh

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Notstandsverfassung und Corona-Virus. Rückblick und Ausblick Jörn Ipsen

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Grundrechtsschutz in der Corona-Pandemie Oliver Lepsius

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Grundrechte unter Quarantäne? Christoph Gusy

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Grenzenloser Infektionsschutz in der Corona-Krise? Konturen eines grundrechtssensiblen Pandemie-Krisenrechts Stephan Rixen

67

Über die Versammlungsfreiheit in der Corona-Krise – eine Zwischenbilanz Horst Meier

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„Zwangstracking“ – Ein rechtliches No-Go? Christian Hamann

80

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei Freiheitsbeschränkungen infolge der Coronavirus SARS CoV-2 Pandemie Martin H. W. Möllers

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Entschädigung und Schadensersatz für staatlich angeordnete Betriebsschließungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie Sophie Thürk und Thomas Winter

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Die rechtsstaatlichen Schwächen des neuen § 28a Infektionsschutzgesetz als zentrale Eingriffsnorm zur Bekämpfung von Covid-19 Marco Buschmann

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Die „Stunde der Exekutive“. Rechtliche Kritik einer politischen Vokabel Tristan Barczak

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Autorinnen und Autoren des Heftes

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Zur Einführung: Freiheit, Demokratie und Grundgesetz im Pandemie-Notstand* Von Robert Chr. van Ooyen und Hendrik Wassermann Eine solche Aufhebung von Grundrechten hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie gegeben. Recht und Politik hat dies daher in den vergangenen Monaten des „Corona-Lockdowns“ in einer Fortsetzungsreihe von Aufsätzen kritisch begleitet. Diese sind im vorliegenden Beiheft zusammengestellt, erweitert um neue Beiträge. Bonn ist nicht Weimar – und Berlin erst recht nicht: Weder hat es infolge politischer und ökonomischer Krisen eine permanente Entgrenzung von verfassungsrechtlichen Notstandskompetenzen in der Staatspraxis gegeben noch ein „Sturmreifschießen“ durch rechte, republikfeindliche Denker in der Staatstheorie. Bis heute ist der „Staatsnotstand“ periodisch zwar auch in der Bundesrepublik präsent gewesen: Die verfassungsrechtlich „unorthodoxe“ Bewältigung der Flutkatastrophe von 1962 hatte der Gesetzgeber vor Augen, als er 1968 die Notstandsverfassung zur Zeit der ersten Großen Koalition ins Grundgesetz einfügte. Geraune zu „übergesetzlichen Notständen“ wurde später im „Fall Daschner“1 und bei einem prophylaktischen Flugzeugabschuss im Rahmen von „9/11-Szenarios“ nach 2001 laut, war ebenso 1992 von Bundeskanzler Kohl vernehmbar, angesichts dramatisch steigender Flüchtlingszahlen und der anfänglichen Weigerung der SPD, eine Änderung von Art. 16 GG mitzutragen. Aber ob Kommunistenverfolgung der 50er Jahre, Notstandsgesetze und 68er-Proteste oder ob RAF-Bekämpfung und die 9/11-Sicherheitspakete seit den „Ottokatalogen“2 – trotz Überreaktionen und einzelner staatlicher Exzesse blieb die liberale Demokratie der Bundesrepublik stabil. Ebenso waren Staatsrechtler in der Minderheit, die als „SchmittEpigonen“ die Legitimität gegen die Legalität ausspielen wollten, ein neues „FreundFeind-Recht“ und das „Bürger-Opfer“ forderten, bisweilen auch die Folter wiederentdeckten, auch wenn Otto Depenheuers spezielle Sichtweisen des „wehrhaften Rechtsstaats“ als „Nachtlektüre“ die „Notstandsträume“ eines Bundesinnenminister *

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Vgl. van Ooyen, „Schönwetterdemokratie“? Der Grundrechte-Shutdown im Corona-Notstand als Lackmustest des Grundgesetzes, in: Ders., Öffentliche Sicherheit und Freiheit, 3. Aufl., 2020, S. 45 ff. Androhung von Folter durch die Polizei in einem Entführungsfall des Jahres 2002 (Jakob von Metzler). Benannt nach dem damaligen Bundesinnenminister Otto Schily (SPD).

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beflügelt und die eine oder andere „rustikale Lösung“ von 9/11 wohl sogar Befürworter im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts gefunden hat3. Dies schien auch für die das Recht tragende politische Kultur zu gelten. Ernst Fraenkel etwa mahnte zwar noch in den 60er Jahren, dass es hierzulande im Unterschied zu anglo-amerikanischen Ländern viel stärker auf den „Erlaß detaillierter Normen“ ankäme, da wegen des Etatismus in Deutschland eine politische Tradition des Misstrauens gegenüber Staatsnotständen fehlte4. Das aber war vor über 60 Jahren und diese obrigkeitsstaatliche Diagnose schien wie aus einem anderen, fernen Zeitalter. Eine immer wieder boomende deutsche Wirtschaft tat ihr übriges: Selbst die schwere Weltfinanzkrise 2008 wurde weich abgefedert und blieb für die große Mehrheit der Bevölkerung im Arbeits- und Freizeitleben ebenso kaum spürbar wie die sprunghaftüberraschende Zuwanderung von über einer Million Menschen 2015 – von sinkenden Sparbuchzinsen, dauerblockierten Turnhallen der örtlichen Sportvereine und Überstunden in manchen öffentlichen Verwaltungen mal abgesehen. Im Gegenteil, während der „Flüchtlingskrise“ konnte aus vollen Haushalten verteilt werden und die meisten verzeichneten seit Jahren ordentliche Tarifabschlüsse und damit einhergehende (Konsum‐)Zuversicht, zumindest jenseits des Niedriglohnsektors, der Mini-Jobber und Alleinerziehenden, der armen Rentner und der „abgehängten“ Regionen. Die demokratische Stabilität der Bundesrepublik unterscheidet sich daher drastisch von Weimarer Zuständen; das gilt aber eben auch für die Dramatik und das Ausmaß bisheriger Belastungen. So betrachtet hat die Bundesrepublik in ihrer Geschichte gar keinen „harten“ Test der Demokratie bestehen müssen, wenigstens nicht in dem Ausmaß, den Weimar zu bewältigen hatte – zum Glück. Bei der Verhängung der „Corona-Maßnahmen“ im ersten „Lockdown“ kam es jedoch vorübergehend zu einer Art „Ausnahmezustand“ durch flächendeckende und vollständige Verbote der Ausübung von Grundrechten; dies gestützt auf Generalklauseln, regelrechte Blanko-Ermächtigungen und gesetzesdurchbrechende Verordnungsgebung, bei denen sich Bundestag und Landtage aus dem öffentlich wahrnehmbaren Entscheidungsprozess abmeldeten, und zwar – ob FDP oder Grüne, die sonst gerne die Rechte des freien Unternehmers bzw. die Menschen- und Bürgerrechte reklamieren – einschließlich ihrer parlamentarischen Opposition. So ist der Exekutive vollständig der politische Raum überlassen worden, den sie in einer Krise mit ihren „Maßnahmen“ ohnehin dominiert. Dabei zeigt sich nicht nur, dass die existierenden verfassungsrechtlichen Regelungen zum Notstand sich nur schwer auf den Fall einer Pandemiebekämpfung sinnvoll anwenden lassen. Das Grundgesetz ist fast „pandemie-blind“. Denn lediglich der „Ka3

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Vgl. Hofmann, Schäubles Nachtlektüre, in: Die Zeit 33/2007, S. 7, gemeint ist das Buch von Depenheuer: Selbstbehauptung des Rechtsstaats, 2007 bzw. die „Luftsicherheits-Plenarentscheidung“. Fraenkel, „Martial Law“ und Staatsnotstand in England und USA, in: Ders. (Hg.), Der Staatsnotstand, 1965, S. 163. Recht und Politik, Beiheft 7

Zur Einführung

tastrophennotstand“ in Art. 35 GG scheint einen direkten Anknüpfungspunkt zu bieten. Zugleich aber wird in Art. 11 GG die „Seuchengefahr“ ausdrücklich von den beiden in Art. 35 GG genannten Katastrophenfällen unterschieden. Und jenseits der bloßen Kompetenzzuweisung bei der Gesetzgebung zugunsten des Bundes in Art. 74 GG wird die „Bekämpfung von Seuchengefahr“ nur noch beim Gesetzesvorbehalt zur Einschränkung der Freizügigkeit im eben diesem Art. 11 GG genannt. Bedeutet das, dass alle anderen Grundrechte, die gar keinen solch expliziten „Seuchenvorbehalt“ kennen, in diesem Falle dann auch nicht einschränkbar wären? Dann wäre die vorübergehende Aufhebung nahezu aller Freiheitsrechte bis hin zur Vernichtung beruflicher Existenzen ohne geregelte Entschädigung und der Ausschaltung von öffentlichem Protest durch absolute Versammlungsverbote verfassungswidrig – von den aberwitzigen exekutiven Kontakt-Verbotsexzessen des „illegalen“ Sitzens auf einer Parkbank ganz zu schweigen. Infolge der flächendeckenden Verbote von Demonstrationen, Kontakten außerhalb der eigenen vier Wände, Gottesdiensten, kulturellen Veranstaltungen drohte eine Fundamentalverschiebung der Grundrechtsarchitektur, die das Grundgesetz auf den Kopf stellte: Nicht die Beschränkung durch die öffentliche Gewalt schien mehr begründungspflichtig, sondern auf einmal die Ausübung des Grundrechts. Dabei meint es eine freiheitliche Verfassung genau umgekehrt. Selbst das Bundesverfassungsgericht hat, sich wegduckend, das erst einmal durchgewunken und den Schutz von Freiheit und Demokratie einfach dem üblichen Rechtsweg überlassen. Entsprechende Verfassungsbeschwerden (bzw. Anträge auf einstweilige Anordnungen) sind ab- und an die Verwaltungsgerichte verwiesen worden – als ob es um abgelehnte Baugenehmigungen ginge. Die Verwaltungsgerichte waren dann tatsächlich die ersten, die sich den exzessiven Grundrechtseingriffen wegen Verstoßes gegen die Verhältnismäßigkeit im Einzelfall entgegen stellten. Da bemühen wir uns in Deutschland seit Jahrzehnten um saubere Gesetzestechnik, filigrane Grundrechtsdogmatik bzw. korrekte und grundrechtsschonende Rechtsanwendung – und beim ersten bösen Pandemiefall rutschte das alles direkt und komplett weg. Wie konnten die Verfassungs- und Verwaltungsorgane bloß annehmen, dass das mit dem Grundgesetz vereinbar, ja schon nur die vollständige Aufhebung des Demonstrationsrechts in einer Demokratie überhaupt zulässig wäre? Doch nur, wenn man glaubte, das Grundgesetz gelte bloß in „normalen“ Zeiten. Dieser Maßstabsverlust scheint dann doch sehr an genau das zu erinnern, was Carl Schmitt als „Souveränität“ des „Ausnahmezustands“ beschrieben hat5. Mindestens genauso erschreckend wie der „Grundrechte-Shutdown“ in der ersten Phase der Pandemie ist die damit einhergehende totale Zustimmung der Bevölkerung und Öffentlichkeit gewesen: von Opposition auch hier, ein paar kritische Jurist*innen und Journalist*innen ausgenommen, öffentlich wahrnehmbar über viele Wochen und Monate keine Spur; bei den Medien, namentlich dem öffentlich-rechtlichen Fernse5

Vgl. Schmitt, Politische Theologie, 7. Aufl., 1996, S. 13.

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Robert Chr. van Ooyen und Hendrik Wassermann

hen, grenzenlose Zustimmung in den bei Katastrophen üblichen Sensations-Sendeformaten; dazu die täglichen „Lagemeldungen“ von der „Corona-Front“ durch Verlesung der Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) – fast wie im Krieg. Die Frage nach der Legalität und Legitimität des schrankenlosen „Grundrechte-Shutdowns“ wird einfach (zu) lange so gut wie gar nicht thematisiert. Völlig überraschend ist dieser Befund angesichts der Traditionsstränge in der deutschen politischen Kultur allerdings nicht6. Regelmäßige Umfragen zum sog. „Institutionenvertrauen“, bei denen die von „oben“, autoritativ entscheidenden Institutionen Polizei und Gerichte bis heute am besten abschneiden – weit vor den demokratischen Institutionen wie Parlamente und Parteien –, haben hier immer schon Skepsis aufkommen lassen. Ein unpolitischer, obrigkeitsstaatlicher Etatismus, der in der Krise plötzlich vollständig in seine dunkle Seite des regellosen „Ausnahmezustands“ und exekutiven „Maßnahmestaats“ umschlagen kann, scheint daher subkutan kontinuierlich präsent zu sein. Erst allmählich hat sich dann Protest geregt, der sich seitdem, ähnlich wie schon bei der „Flüchtlingskrise“, sogleich in zwei radikale Lager aufspaltet. Während seinerzeit sich bald irrational-idealistische „Refugee-Welcomer“ und irrational-fremdenfeindliche Flüchtlingsgegner gegenüberstanden, sind es jetzt „Untertanen“ auf der einen Seite und andererseits – um eine Formulierung des früheren Bundespräsidenten Gauck aufzunehmen – „Spinner“, die die Demonstrationen und Proteste in der öffentlichen Wahrnehmung meist dominieren: Verschwörungstheoretiker, Reichsbürger, sonstige Rechtsextremisten und Freaks oder auch einfach nur, wie im Falle der Ausschreitungen von Stuttgart und Frankfurt, gewalttätige junge Männer mit „Corona-Lagerkoller“. Durch den „Grundrechte-Shutdown“ haben Verfassungsorgane, Verwaltungsbehörden, Medien und die Bevölkerung in der ersten Phase des Corona-Notstands als „Hüter der Verfassung“ versagt7. Das ist kein genuin deutsches Phänomen, zumal nicht in Zeiten allgemeiner Legitimationskrisen der parlamentarischen Parteiendemokratien und ihren Rufen nach autoritärem „Durchgreifen“; das macht es aber auch nicht besser und bleibt beängstigend.

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Zu den aus demokratischer Sicht problematischen Traditionsbeständen des „Etatismus“, „Formalismus“, der „Konfliktscheu“ und des „Unpolitischen“ in der deutschen politischen Kultur m.w.N. Sontheimer/Bleek, Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, 11. Aufl., 1999, S. 177 ff. Zu den „vielen“ Hütern einer Verfassung vgl. Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, 2. Aufl., 2019; auch Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: Ders., Verfassung als öffentlicher Prozess, 1978, S. 155 ff. Recht und Politik, Beiheft 7

Pandemie und Parlament Von Wolfgang Zeh

I. Unterwerfung, Kritik und Protest Die Corona-Politik, genauer: die Administration ihrer Entscheidungen in Bund, Ländern und Kommunalbehörden, hat in zunehmendem Maße Proteste ausgelöst. Das scheint auf den ersten Blick nicht überraschend, auf den zweiten doch, und bei parlamentszentrierter Betrachtung des Phänomens dann wieder nicht. Überraschen konnte zunächst, wie lange es gedauert hat, bis die schockierte Unterwerfungsbereitschaft unter jegliche exekutive Aktivität durch differenziertere Wahrnehmungen wenn nicht abgelöst, so doch modifiziert und begleitet wurde. Inzwischen ist umfassende Kritik allgemein angesagt, in Wissenschaft, Medien, Publizistik und „auf der Straße“. Eigentlich war das nicht ohne weiteres zu erwarten, denn die staatlichen Aktivitäten zur Eindämmung der Pandemie sind als solche nicht unplausibel, auch relativ erfolgreich im Vergleich mit der Entwicklung in anderen Staaten. Obwohl ein großer Teil der Bevölkerung das gewiss so sieht, wachsen zugleich Unmut und Widerstand. Es geht eben nicht nur um das Was und Wieviel in der Corona-Politik, sondern wesentlich auch um das Wie und Wer. Die Kritik der nicht fachlich involvierten und nicht „zuständigen“ Allgemeinheit äußert sich unter anderem in Demonstrationen, die neben den individuellen Belastungen und Befürchtungen auch die verfassungsrechtliche Lage zum Gegenstand machen. Sie treten mit dem Anspruch auf, unter anderem eben jenes Versammlungsrecht ausüben zu können, welches verfassungsrechtlich gewährleistet und pandemiepolitisch unerwünscht ist. Man demonstriert, um demonstrieren zu dürfen – so der Subtext bei der Berufung auf „Widerstand“ und „Querdenken“. Das allgemeine Befremden über den anscheinend nicht erwarteten Befund, dass Akteure mit spezifischer eigener Agenda – Populisten, „Pegida“-Aktivisten, „Reichsbürger“, Esoteriker, Impfgegner, Verschwörungsgläubige usw. – sich zu Verfassungswächtern stilisieren, dispensiert nicht von der Pflicht, den Ursachen nachzugehen. Bis vor kurzem war der „Querdenker“ eine angesehene, medial gefeierte Figur – besonders, wenn er sich genau längs der von ihm erwarteten Position äußerte –, und jeder beliebige politische Protest wurde zum „Widerstand“ mit teils insinuiertem, teils ausdrücklichem Bezug auf das Widerstandsrecht des Artikel 20 Absatz 4 GG erhöht. Begriffe wie „Aufbegehren“, „ziviler Ungehorsam“, „begrenzte Regelverletzung“ und ähnliches

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Duncker & Humblot, Berlin

Wolfgang Zeh

galten als schicke Attribute der politisch engagierten bürgerlichen Mitte. Die Übernahme solcher Attitüden durch „Corona-Leugner“ – eine hoffentlich nur fahrlässige Bezugnahme auf den strafgesetzlich sanktionierten „Holocaust-Leugner“ – sollte zu denken geben. Denn das „Quer“ bei diesem Protest scheint sich nicht lediglich auf abweichende Meinungen unter dem Dach eines als solchen akzeptierten Pluralismus zu beziehen, sondern auf den demokratischen Entscheidungsprozess selbst. Damit werden verunsicherte, verängstigte, um ihren Betrieb, ihren Arbeitsplatz oder das Fortkommen ihrer Kinder besorgte Bürger in Stellung gebracht gegen ein „System“ aus politischen Institutionen und öffentlichen Diskursen, die ihre Nöte scheinbar nicht recht ernst nehmen. Da reichen Appelle nicht aus, etwa die Aufforderung, sich nicht mit Extremisten und Spinnern „gemein zu machen“ und an Demonstrationen nicht teilzunehmen, weil die unterwandert seien. Das kommt höchstens als weiterer Beleg dafür an (oder wird so angedient), dass „die da oben“ den betroffenen Bürgern kein eigenes Urteil und keine Mitsprache zubilligen. Es reicht auch nicht aus, im öffentlichen Diskurs immer weitere Schubladen zu öffnen, in die unerfreuliche Varianten des Protestgeschehens wegsortiert werden können. Und die unvermeidliche Übernahme der Problembearbeitung durch die Justiz kann eine umfassende inhaltliche Auseinandersetzung der staatlichen Gemeinschaft nicht ersetzen.

II. Legitimationsdefizit in der Ausnahmesituation Eine Pandemie geht, schon vom Begriff her, alle an. Folglich: Quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet.1 Die von der Pandemie und ihrer politischen Bearbeitung betroffenen „omnes“ sind heute alle Bürger, die Gesellschaft als Ganzes. Sie sind repräsentiert, gegenwärtig gemacht in ihren Erwartungen, Interessen und Werten, im Parlament und nur dort. Nur die Parlamente sind in allgemeinen Wahlen „ab omnibus“ gewählt und zu Entscheidungen für alle legitimiert. Die Exekutive, ihrerseits erst vom Parlament legitimiert und gesetzlich gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG), ist nicht im gleichen Sinn als „Volksvertretung“ zu betrachten. In der Corona-Politik von Bund und Ländern wurde die Institutionenordnung des Staates zunächst nicht verfassungssystematisch reflektiert und thematisiert. Es ging um schnelle Maßnahmen, um staatliches Reagieren auf eine unbekannte Lage, die nicht zuletzt durch eine hypertrophe Medienaktivität zugespitzt wurde. In der anfänglichen Panik drängte sich das Vorliegen eines „Ausnahmezustands“ und „Notstands“ auf, in dem traditionell die „Stunde der Exekutive“ schlägt und nicht die des Parlaments. Man wähnte sich im 1

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Was alle betrifft, muss von allen behandelt und gebilligt werden. Der aus dem Codex Justinianus stammende Satz meinte natürlich weder im römischen Recht noch bei seiner Popularisierung im europäischen Mittelalter alle Bürger, sondern die ab dem 14. Jhdt. in den „parlements“ versammelten Fürsten und (später) Ständevertreter. Er prägte jedoch die weitere Entwicklung zu Volksvertretungen und umschreibt bis heute einen Kerngedanken der parlamentarischen Repräsentation. Zur geschichtlichen Entwicklung in Mitteleuropa vgl. Moraw, Hoftag und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, S. 3 ff. Recht und Politik, Beiheft 7

Pandemie und Parlament

„Belagerungszustand“, und die Kriegsrhetorik mancher Akteure passte dazu. Gefragt war „kraftvolles Handeln“. Einer Regierungsführung, die das darstellte, war die öffentliche Zustimmung sicher. Umfragen der Meinungsforschung ergaben anfangs bis zu 80 Prozent Zustimmung zu den „Lock Down“-Verfügungen. Was die Einschränkung nahezu aller Freiheitsrechte und Mitwirkungsbefugnisse des Grundgesetzes bedeuten würde, stand nicht im Fokus. Erste Besorgnisse darüber stießen auf Unverständnis und Unwillen, etwa mit der Unterstellung, wer jetzt an der Exekutive herumnörgele, nehme den Tod unzähliger Mitbürger in Kauf.

III. Diskussion um Grundrechte und Rechtsstaat Mittlerweile zeigt sich insoweit ein verändertes Bild. In Wissenschaft und Publizistik setzte eine Diskussion um die Einschränkung von Grundrechten und Rechtsstaatsgrundsätzen und insbesondere auch darüber ein, wer dazu in welchen Verfahren befugt und ermächtigt sein könne. Der Blick richtet sich zunehmend auf die Parlamente in Bund und Ländern.2 Mit der Grundrechte-Diskussion tritt ein entscheidender Mangel der Corona-Politik ins Bewusstsein: die nicht ausreichende, nicht repräsentativ rückführbare Legitimation des Staatshandelns. Wodurch sind administrative Einheiten, besonders auch die Ministerpräsidentenkonferenz, zu ihren Entscheidungen ermächtigt? Wie kommt es, dass sich die Rolle des Bundestags darauf beschränkt, auf Pressekonferenzen oder durch Regierungserklärungen von geplanten Maßnahmen zu erfahren, die er dann kommentieren und kritisieren darf ? Durch wen sind wesentliche Entscheidungen, die alle Bürger nachhaltig binden und belasten, zu treffen – etwa nicht mehr, wie vom Bundesverfassungsgericht mit seiner „Wesentlichkeitstheorie“ seit langem festgelegt, vom Parlament? Es handelt sich auf den ersten Blick um eine Frage der Staatsorganisation, nicht unmittelbar der Freiheitsrechte. Aber das täuscht: Sie hat, wie alle diese Fragen, entscheidenden Einfluss auf die Geltungskraft und Wahrnehmung der Grundrechte, und im Pandemie-Fall noch mehr als sonst. Nachdem die zunächst unterdrückten „Bauchschmerzen“ über diese Lage von Abgeordneten selbst artikuliert wurden3, wandte sich Bundestagspräsident Schäuble im Oktober an die Fraktionen mit 2

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Eine frühe Warnung kam von dem ehemaligen Verfassungsrichter Papier in FAZ.net vom 02. 04. 2020, auch referiert bei Möllers, Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei Freiheitsbeschränkungen infolge der Coronavirus SARS CoV-2 Pandemie, Recht und Politik 3/2020, 286 ff., 298. Diese Zeitschrift hat sich Verdienste erworben durch grundlegende Beiträge in „Schwerpunkten“ zur Corona-Pandemie mit jeweils mehreren Aufsätzen schon in RuP 2/2020 und sodann in den Heften 3 und 4/2020; dort sind wesentliche Aspekte behandelt, die mittlerweile die Diskussion, zunehmend auch in den Parlamenten selbst, bestimmen. Auch wird dort in mehreren Beiträgen die nur noch schwer überschaubare Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zusammengestellt und eingeschätzt, u. a. bei Lepsius, Grundrechtsschutz in der Corona-Pandemie, RuP 2020, 258 ff., und besonders auch in dem o.g. Aufsatz von Möllers. Als Beispiel s. das Interview des Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion des Bundestages Brinkhaus in Spiegel online vom 23. 04. 2020, „So geht das nicht“. Damit wurden zahlreicher

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dem Hinweis, der parlamentarische Gesetzgeber habe „wesentliche Entscheidungen selbst zu treffen und nicht der Verwaltung zu überlassen“4.

IV. Parlamentarismus und Gesetzgebung Die bereits zuvor und dann intensiver einsetzende Debatte darüber, ob das in schneller Folge geänderte Infektionsschutzgesetz des Bundes (aktueller Stand: Artikel 1 Drittes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite v. 18. November 2020, BGBl. I S. 2379) den verfassungsrechtlichen Erfordernissen genügt, ist im Blick auf die Kompetenzverteilung angemessen, geht jedoch an einem wesentlichen Punkt vorbei. Die Rolle des Bundestages – Entsprechendes gilt für die Landesparlamente – wird hierbei nur aus dem Blickwinkel der Gesetzgebung betrachtet. Die öffentliche Diskussion dreht sich um die Frage, in welchem Maße die Exekutive selbständig handeln darf. Daraus lässt sich, insoweit folgerichtig, die Forderung ableiten, die Eingriffsmöglichkeiten in Grund- und Freiheitsrechte sollten, entsprechend den diesen beigegebenen Gesetzesvorbehalten, zunächst durch Gesetze bestimmt und begrenzt werden. Erst auf dieser Grundlage sei dann die Verwaltung zu entsprechenden Maßnahmen befugt. Das ist nicht falsch, aber nicht entscheidend für die Rolle, die das Parlament in der öffentlichen, gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Pandemie zu übernehmen hat (hier steht der Bundestag als pars pro toto, die Landesparlamente sind mit gemeint). Der Bundestag versteht sich in erster Linie als „Organ der Gesetzgebung“ (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) und unterschätzt dabei die wichtigste Aufgabe, die er in der gesellschaftlichen Willensbildung zu übernehmen hat. Die Funktion der Gesetzgebung ist und bleibt gewiss wichtig, sie ist die Gewähr für die Unumgehbarkeit der parlamentarischen Verhandlung vor den (wesentlichen) staatlichen Entscheidungen. Die Bundesgesetze werden gemäß Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG „vom Bundestage beschlossen“, ohne seinen Beschluss geht nichts (oder sollte nichts gehen). Insoweit ist die Auseinandersetzung über den Inhalt eines Infektionsschutzgesetzes einschließlich der Reichweite von Ermächtigungen zu Rechtsverordnungen an die Regierungen von Bund und Ländern gemäß Art. 80 Abs. 1 GG unvermeidlich. Was aber gesellschaftlich vermisst wird und zu wachsendem Unbehagen führt, ist nicht gesetzgeberische Kompetenz, sondern etwas anderes.

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gewordene Beschwerden einzelner Abgeordneter zusammengefasst, die sich darüber beklagten, nicht hinreichend „beteiligt“ zu sein. Zitiert im Handelsblatt vom 21. 10. 2020, Onlineausgabe. Recht und Politik, Beiheft 7

Pandemie und Parlament

V. Parlamentsaufgaben jenseits der Gesetzgebung Die Funktion der Normsetzung ist nicht mehr, wie noch in der konstitutionellen Monarchie, die einzige oder wichtigste im Parlamentarismus. Die legislative Funktion kann nicht mehr, wie noch immer in vielen Darstellungen von Parlamentsaufgaben üblich, an die erste Stelle gesetzt werden. Der Bundestag ist auch unverzichtbar, wenn er kein Gesetz beschließt. Diejenigen weiteren Parlamentsaufgaben, die oft im Sinne von „außerdem“ nach der Gesetzgebung aufgeführt werden, sind in Wahrheit an die erste Stelle getreten. Es handelt sich um Funktionen, mit denen das Parlament die staatliche Willensbildung zur öffentlichen Angelegenheit macht. Das Handeln des Staates muss mit der gesellschaftlichen Meinungsbildung integrativ verknüpft werden. Dadurch hält das Parlament zugleich die Gesellschaft – verfassungsjuristisch das „Volk“ des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG – im geistig-politischen Verkehr mit sich selbst. Lehrbuchhaft werden diese Aufgaben als Veröffentlichungsfunktion, Vermittlungsfunktion, Kommunikationsfunktion, auch als Responsivität bezeichnet, jedoch in der Regel so, als handle es sich um einzelne abgrenzbare Kompetenzen.5 In der politischen und verfassungspolitischen Wirklichkeit bilden sie jedoch die entscheidende Querschnittsfunktion, die nicht in den anderen Parlamentsaufgaben – Gesetzgebung, Kreation der Regierung, Regierungskontrolle, Staatshaushalt – nur auftaucht und mitspielt, sondern diese substantiell bestimmt und zugleich durch sie ausgeübt wird. Die „klassischen“ Parlamentsaufgaben erhalten ihre Legitimationsfunktion erst durch den Repräsentationsgehalt, der ihnen von jener Querschnittsfunktion vermittelt wird. Im parlamentarischen Regierungssystem des Grundgesetzes wird Demokratie durch „government by discussion“ verwirklicht. Im Zentrum der „discussion“ steht der Bundestag. Er allein „verhandelt öffentlich“ (Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG), nicht das Kabinett und nicht die Verfassungsgerichte, die ihr Urteil und dessen Begründung vertraulich beraten. Das „verhandeln“ bezieht sich auf die Plenarsitzungen, aber die legitimierende „discussion“ findet nicht nur dort statt. Es wäre missverständlich anzunehmen, es genüge die Beobachtung und Bewertung des in einer Plenarsitzung dargebotenen Pro und Contra der Beratungsgegenstände durch die Öffentlichkeit. Zwar kann die Öffentlichkeit einer parlamentarischen Debatte Anhaltspunkte und Hinweise für die eigene Meinungsbildung entnehmen, aber der vom Parlament teils angestoßene, teils aufgenommene und verarbeitete Diskurs ist umfassender. Er bezieht Medien, Verbände, Interessen, Wissenschaft in unzähligen gesellschaftlichen Organi5

Die Bedeutung dieser parlamentarischen Aufgaben ist an sich nicht neu, jedoch in der deutschen Staatslehre, wohl infolge ihres aus dem Konstitutionalismus entwickelten Verständnisses als Staatsrechtslehre, über lange Zeit nicht voll erfasst; in England mit seiner von weiter her kommenden parlamentarischen Tradition hat schon 1867 Walter Bagehot in The English Constitution auf die „teaching function“ und die „informing function“ des Unterhauses aufmerksam gemacht, wenn auch in einem Sinne – Parlament als Sender, Öffentlichkeit als Empfänger –, der den heutigen Bedingungen noch nicht voll entspricht; zum gegenwärtigen Rang der „Legitimation durch Kommunikation“ vgl. etwa Oberreuter, Republikanische Demokratie. Der Verfassungsstaat im Wandel, Baden-Baden 2012, S. 137 und passim.

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sationsformen ein, er findet überall und immer statt, vor, während und nach der Willensbildung des Staates und seinen (u. a. gesetzlichen oder haushaltsrechtlichen) Entscheidungen. Erst daraus ergibt sich – über den von den Parlamentswahlen ausgehenden formellen und gestuften Legitimierungsprozess der staatlichen Organe hinaus – die parlamentarische Repräsentation im demokratisch materiellen Sinne.6

VI. Demokratische Repräsentation des gesellschaftlichen Pluralismus In Art. 38 Abs. 1 GG ist parlamentarische Repräsentation mit der Wendung umschrieben, die Abgeordneten seien „Vertreter des ganzen Volkes“. Mit der Bezeichnung als Vertreter wird der Gehalt dieser Repräsentation jedoch nicht voll erfasst. Die Formel „ganzes Volk“ stellt zwar klar, dass es nicht darauf ankommt, durch die allgemeinen Wahlen dieser und jener Partei, verschiedenen sozialen Schichten, Berufsgruppen, Regionen, Wirtschaftsstrukturen usw. eine „Vertretung“ durch Abgeordnete zu verschaffen. Parlamentarische Repräsentation bedeutet, in der staatlichen Willensbildung etwas nicht Anwesendes und nicht direkt Mitwirkendes dennoch gegenwärtig zu machen. Das nicht Anwesende in diesem Sinne sind die Auffassungen, Überzeugungen, Wertvorstellungen, Hoffnungen und Interessen der Menschen in ihrer Gesamtheit, nicht als Summe, sondern als dasjenige, was diese Gesamtheit bei aller Differenzierung ausmacht und kennzeichnet. Die Repräsentation im Parlament kann sie nicht im Detail wiedergeben, sondern nur im Profil, als verkleinertes und konzentriertes Abbild – aber das muss sie. Nicht die Menschen als Wähler, Gruppen, Organisationen, können anwesend sein, aber das, was sie antreibt und ihr Denken und Handeln bestimmt. Das ist es, was die Abgeordneten aufzunehmen und in die staatliche Willensbildung zu überführen haben. Demokratische Repräsentation ist dabei nicht dem Parlament allein aufgegeben. Das parlamentarische Regierungssystem nach dem Grundgesetz verlängert die Wählerentscheidung der Parlamentswahl durch die nachfolgende Kreation der Regierung durch die Parlamentsmehrheit in das Regierungshandeln hinein. Das Volk ist nicht mehr nur im Parlament „vertreten“, es ist auch beim Regieren präsent. Eben dies vermittelt das Parlament: Es hat – spätestens in den nächsten Wahlen, und das bedeutet: permanent – zu verantworten, wie das Land regiert und verwaltet wird. Der Bundestag wäre auch dann rechenschaftspflichtig, wenn er überhaupt nichts beschließen würde. Selbst wenn

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Hierzu grundlegend – und nach wie vor unerreicht – Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, § 34, bes. auch Rn. 34: „Die Herstellung inhaltlicher Repräsentation ist als (dialektischer) Prozeß zwischen Repräsentierten und Repräsentanten zu begreifen. Sie wird hervorgerufen durch Darstellung und Aktualisierung dessen, was im Sinne der Gesamtheit der Bürger glaubwürdig als sinnvoll und notwendig erscheint, wie auch dessen, was von den Bürgern als verbindend Gemeinsames der Ordnung ihres Zusammenlebens gewusst und empfunden wird.“ Recht und Politik, Beiheft 7

Pandemie und Parlament

er die Pandemiebekämpfung vollständig der Exekutive überließe, müsste er sie debattieren, erklären und Verantwortung für sie übernehmen. Daher greift es zu kurz, wenn die Frage, wer die wesentlichen Entscheidungen in der Corona-Politik zu treffen hat, als ein Problem der „Gewaltenteilung“ zwischen Parlament und Regierung aufgefasst wird. Es geht darum, dass die „Organe der vollziehenden Gewalt“ (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) alleine nicht in der Lage sind, jene Nachvollziehbarkeit ihrer Entscheidungen und Entscheidungsgründe zu erzeugen, die ihre Maßnahmen für die Allgemeinheit angemessen und überzeugend wirken lassen. Das liegt nicht nur daran, dass in der Corona-Politik ein hohes Maß an wissenschaftlicher, medizinischer Expertise gefragt ist, die den „Laien“ im politischen Diskurs nicht zur Verfügung steht. Es liegt auch an den Entscheidungsmechanismen von Regierungen und Behörden, die eben das nicht bieten (können), was den parlamentarischen Prozess auszeichnet. Sie entwickeln ihre Ergebnisse intern und treten den Betroffenen mit Verfügungen und – teils sanktionsbewehrten – Geboten und Auflagen entgegen, die unter normalen Umständen als die ihnen gemäße Handlungsform akzeptiert sein mögen, denen aber unter den aktuellen Umständen plötzlich etwas fehlt. Es fehlt die öffentliche Begründung, Erläuterung und Rechtfertigung, das heißt die Lieferung von Überlegungen und Argumenten, die Betroffene sich zu eigen machen können. Ob und inwieweit sie das tun, ist nicht von vornherein klar, es muss sich zeigen – aber es muss wenigstens der „Stoff“ für die eigene geistige Mitwirkung und Auseinandersetzung vorhanden sein.

VII. Schwerpunktverschiebung der Parlamentsaufgaben Hier liegt, abgesehen von der Gesetzgebung, das entscheidende Alleinstellungsmerkmal des Parlaments. Es ist seiner Natur nach kontrovers und kommunikativ aufgestellt. Es entwickelt Denkrichtungen, Meinungen und Argumentationsmodelle im Zuge der öffentlichen Willensbildung. Wünsche und Einschätzungen der Öffentlichkeit werden aufgenommen und artikuliert. Das geschieht in allen seinen Tätigkeiten, ob die parlamentarische Verhandlung sich auf die Gesetzesberatung bezieht, auf die Kontrolle der Regierung, auf das Staatsbudget, oder auch gar nicht auf einen Beschluss zielt.7 Hier liegt der eigentliche Grund, warum die staatliche Arbeit an der Pandemie ein diskursives und kontroverses Fundament im Bundestag braucht (und von Anfang an gebraucht hätte). Entsprechendes gilt für die Landesparlamente. Ihre Hauptaufgabe besteht heute, angesichts ihrer weniger umfangreichen Gesetzgebungsaufgaben, vielleicht mehr noch als für den Bundestag in der kommunikativen und integrativen Vermittlung dessen, was die jeweilige Regierung macht – nicht nur im Land, sondern auch in Kooperation und Konflikt mit dem Bund, mit Europa und mit anderen Ländern. Die Corona-Politik hat 7

Zu der Vielzahl von Gegenständen und Anlässen von öffentlichen Verhandlungen im Bundestag vgl. etwa Ismayr, Der Deutsche Bundcstag, 3. Aufl. 2012, bes. S. 207 ff., 289 ff.

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die Besonderheiten des „kooperativen“ Föderalismus in Deutschland wieder ins Licht gerückt. Existenz und Zusammenarbeit der Konferenz der Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin werden mit der Frage nach ihrer verfassungsrechtlichen Basis neu diskutiert; das wäre kaum geschehen ohne den Eindruck, dass sie an die Stelle der Parlamente und des Bundesrates getreten sei.8 Besonders unter dem föderalen Aspekt der Pandemiebekämpfung kommt es für die Landesparlamente darauf an, ihre Aufgaben in der Landespolitik auf die öffentliche Kontrolle und Mitsteuerung der Exekutive zu konzentrieren. Das wird auch bezüglich anderer Felder der Landesaufgaben zunehmend geschehen müssen. Der Sorge um die rechtliche Eigenstaatlichkeit der Länder infolge der in der Vergangenheit an den Bund und die EU abgeflossenen (und durch die Föderalismusreform partiell restituierten) Legislativbefugnisse ist am besten dadurch zu begegnen, dass die Rolle des Parlaments als diskursiv allzuständiges Forum für die öffentlichen Angelegenheiten, für das, was alle angeht, ernst genommen wird. Die Pandemie bietet den Landtagen hierzu besondere Möglichkeiten, verlangt aber auch ihre Nutzung. Die Diskussion über parlamentarische Defizite der Corona-Politik ist nunmehr vom Landtag Mecklenburg-Vorpommern auf der Grundlage einer allen Landtagen übermittelten Ausarbeitung aus dem Landtag Rheinland-Pfalz aufgegriffen worden.9

VIII. Grundrechte und Coronamaßnahmen in der Abwägung Die öffentliche Wahrnehmung und Diskussion der Corona-Politik knüpft vor allem an die Schwere der Grundrechtseinschränkungen an.10 Besonders auch in öffentlichen Kundgebungen wird regelmäßig der fast vollständige Katalog der in Art. 2 bis 14 GG

8 Der Eindruck ist dadurch entstanden, dass der Bund praktisch keine unmittelbaren Vollzugskompetenzen für die Pandemiemaßnahmen besitzt (sie stehen nach Art. 83 GG den Ländern zu), eine gemeinsame Beratung und Koordination des in Betracht Kommenden aber notwendig war und ist. Die Ministerpräsidentenkonferenz bildet, zusammen mit den Fachministerkonferenzen der für übereinstimmende oder ähnliche Aufgaben zuständigen Ressorts der Länder und mit einem Unterbau von mehreren hundert Arbeitsgruppen und -kreisen, Kommissionen, Gesprächsrunden, Abteilungs- und Referatsleitertreffen usw., ein wesentliches Instrument der Abstimmung zwischen den Ländern und mit dem Bund; ohne diese Tätigkeit wäre der immer wieder – auch aktuell – aufkeimende Unmut über den föderalen „Flickenteppich“ vermutlich noch weiter verbreitet. 9 Einladung des Vorsitzenden des Rechtsausschusses vom 3. November 2020 zu einem Expertengespräch am 2. Dezember zum Thema „Die Rolle der Landesparlamente bei Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie“; Landtag Rheinland-Pfalz, Wissenschaftliche Dienste, Die Rolle der Landesparlamente bei Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vor dem Hintergrund des Artikel 80 Abs. 4 GG, 6. Oktober 2020, Az. 52 – 1725. 10 Grundlegend Lepsius, Grundrechtsschutz in der Corona-Pandemie, RuP 2020, 258 ff., mit der Feststellung einer durch die bisherige Handhabung entstandenen „Parallelrechtsordnung“, bestehend aus Verordnungsrecht, in der sämtliche Mechanismen des Grundrechtsschutzes – durch Gesetzgebung, Gewaltenteilung, Rechtsprechung, Föderalismus – unterlaufen würden; 18

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niedergelegten Freiheits-, Schutz- und Beteiligungsrechte nebst deren Beschränkung oder Verletzung in den Mittelpunkt gerückt.11 Das liegt zwar nahe, da viele Teilnehmer konkrete Beeinträchtigungen und Belastungen geltend machen können. Jedoch fehlt es dabei – wie von einer Versammlung dieser Art auch nicht anders zu erwarten – an einer Auseinandersetzung mit den Gründen der Beschränkungen. Sie findet in den fachlichwissenschaftlichen Kritiken statt, unter Begriffen wie Erforderlichkeit, Übermaßverbot, Angemessenheit und Abwägung. Diese Auseinandersetzung übernehmen Demonstrationsteilnehmer natürlich nicht in die eigenen Gedanken und Gefühle, die von Bedürfnissen, Sorgen, Verärgerung oder auch Aggressionen bestimmt sind. Sie finden sie aber auch nicht in den staatlichen und behördlichen Begründungen der Einschränkungen. Sie finden im Grunde nur eine einzige Rechtfertigung: Krankheit, Leid und Tod unvorstellbaren Ausmaßes, wenn die Anordnungen nicht befolgt werden. Darin wird keine Abwägung erkennbar, sondern das Interesse der Exekutive an deren Vermeidung. Deshalb erscheint manchem Bürger der unablässige Verweis auf die Bedrohungen durch die Pandemie als schwarze Pädagogik: Entweder ihr folgt klaglos den Vorgaben, oder die Lage wird entsetzlich. Im Gegensatz dazu setzt eine ernsthafte Abwägung voraus, dass ausgesprochen und erklärt wird, welche Rechtsgüter welchen anderen gegenüberstehen. Das kann nicht dadurch geschehen, dass jeweils jedem einzelnen rechtlichen Interesse – z. B. Freiheit der Berufsausübung, Sicherung von Arbeitsplätzen, Rettung unternehmerischer Existenzen, Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen, kulturelles Leben, psychische Gesundheit der Bevölkerung – die kollektive Wucht eines vorausgesetzten Gesamtinteresses an Leben und körperlicher Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) entgegengestellt wird. So entsteht nur der Eindruck, der einzelne Anspruch müsse selbstverständlich dem Gesamtinteresse untergeordnet werden. Diese Herangehensweise dürfte wohl hinter dem befremdlichen Sprachgebrauch stehen, nach dem die eine oder andere Betätigung wieder oder noch nicht „erlaubt“ oder „gewährt“ werden könne, in welcher Lage „die Zügel wieder angezogen“ werden müssten und dergleichen. Grund- und Freiheitsrechte dürfen nicht als Erzeugnis behördlicher Genehmigungen und Versagungen dargestellt werden, denn das sind sie nicht. Aus der administrativen Perspektive ist eine andere Umgangsform vielleicht nicht zu erwarten und zu verlangen. Gerade deshalb ist der Bundestag gefordert. In seinen Verhandlungen können alle rechtlichen Interessen differenziert ausgesprochen und verglichen werden. Ein Parlament hat keine politische Leitung, die inhaltliche Vorgaben machen könnte; es ist keine behördenähnliche Einheit, für die verbindliche Erklärungen abgegeben werden. Alle Gesichtspunkte können und müssen kontrovers zur Debatte stehen. Das kann in der aktuellen Situation auch unangenehm sein, etwa wenn sich unterschiedliche Gewichbei Rixen, Grenzenloser Infektionsschutz in der Corona-Krise, RuP 2020, 109 ff., lautet der Befund „Entgrenzung“ (S. 114). 11 Vgl. die Auflistung bei Möllers (Fn. 2), S. 291, in der die konkreten Eingriffsermächtigungen in zahlreichen Bestimmungen des Infektionsschutzgesetzes aufgeführt sind. Recht und Politik, Beiheft 7

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tungen des Lebens- und Gesundheitsschutzes zeigen oder einzelne Grundrechte unterschiedlich miteinander abgewogen werden. Das Parlament ist der einzige Ort, an dem Interessen gegenüber der staatlichen Willensbildung artikuliert, vor allem aber gewichtet und nach Möglichkeit zum Ausgleich gebracht werden können. Sie werden dadurch überhaupt erst zu Entscheidungen zusammengeführt, die den Anforderungen demokratischer Legitimität genügen.

IX. Grundrechte in der Gesamtwirkung Bei einer Befassung des Parlaments geht es um noch mehr als um eine Abwägung von einzelnen Rechtsgütern. Mindestens ebenso wichtig ist die Bedeutung, die den Grundrechten und ihren Beschränkungen in der gesamten Wirkung zukommt. Sie geht über die individuelle Inanspruchnahme weit hinaus. Es handelt sich nicht nur darum, ob jemand vorübergehend nicht „feiern“ oder „Essen gehen“ kann; gegenüber solchen Forderungen liegt es nur zu nahe, eine Berufung auf die Menschenrechte übertrieben bis albern zu finden. Gesellschaftlich bedeutsam ist aber nicht nur der individuelle Gebrauch der Rechte, sondern ihre Vorwirkung, die sie im Zusammenspiel als Wertesystem – so das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung – gemeinsam entfalten. Ihre Potenzialität, ihre fraglose Verfügbarkeit bewirkt die gesellschaftliche Dynamik auf der Grundlage staatsbürgerlicher Sicherheit und Freiheit, der Deutschland seine soziale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung über 70 Jahre maßgeblich mitverdankt. Der Blick in andere Staaten mit weniger unverbrüchlicher Geltung von Grundrechten und Rechtsstaat zeigt, wie viel davon abhängt. Gesellschaftlicher, kultureller und wirtschaftlicher Erfolg wird durch die Garantie von bürgerlichen Freiheiten bedingt. Diesen Zusammenhang in jede Abwägung einzubeziehen, ihn öffentlich zu vertreten und zu erklären gehört zu den Aufgaben des Bundesstages in der CoronaPolitik.

X. Politik unter Unsicherheit Bei alledem ist in Rechnung zu stellen, dass die Auseinandersetzung mit der Pandemie und ihren Folgen, aktuell und langfristig, auf absehbare Zeit nicht wirklich bewältigt und abgeschlossen sein wird. Das gilt für den Bundestag besonders; seine Verantwortung wird weiterbestehen, unabhängig davon, ob, wie schnell und wie nachhaltig die Coronakrise überwunden sein wird. Wenn derzeit die Beschäftigung damit von der Hoffnung geprägt ist, sie werde – vielleicht infolge demnächst einsetzbarer Impfstoffe – bald der Vergangenheit angehören, ändert das nichts daran, dass die Auseinandersetzung weitergehen muss. Sie ist vor allem notwendig für eine Revision der Vorstellungen darüber, wie der Staat in dieser und gegebenenfalls in vergleichbaren Krisen vorzugehen hat. Überprüft werden muss u. a. auch die Vorstellung, oberste Maxime der Politik sei die Wirkungssicherheit ihrer Entscheidungen. Dem Verlangen nach einem zuverlässigen Kausalbezug vom Instrument zum Erfolg liegt ein Vollzugsdenken zugrunde. Es

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führt zur instrumentellen Auffassung von Grund- und Freiheitsrechten: Wie viel kann beibehalten, wie viel muss drangegeben werden, wenn die Maßnahmen wirken sollen? Die Konfrontation damit, dass Politik vor allem auch bedeutet, unter Unsicherheit entscheiden zu müssen, wird unter Pandemie-Bedingungen regelmäßig verdrängt. Man verweist auf die wissenschaftliche Beratung und fördert den Glauben, deren vermeintliche Sachgerechtheit oder gar Wahrheit sei durch die Politik einfach „umzusetzen“, als gäbe es „das Richtige“, das von Experten herausgefunden und dann vollzogen werden kann – das Ergebnis wäre dann gelungene Politik. In diesem Punkt macht sich eine allgemeine, von weiter her kommende Entwöhnung von der Politik als solcher bemerkbar. Das ist auch spürbar in dem zunehmenden Unwillen, den gewählten Vertretern zuzugestehen, dass sie entscheiden müssen, ohne alle Folgen übersehen und kontrollieren zu können. Die politischen Akteure empfinden das, nach einem seit langem anhaltenden, durch Meinungsforschung und Medien angetriebenen Befund von „Verdrossenheit“ und „Vertrauensverlust“, bereits ihrerseits als Zumutung. Sie glauben ihr entgehen zu können, indem sie unübersichtliche Entwicklungen „in den Griff“ und „unter Kontrolle“ bekommen, ihre „Hausaufgaben machen“, endlich „liefern“ und die „Probleme lösen“ (die Assoziation zum „erlösen“ liegt nahe). Alle Entschlossenheit und Handlungsbereitschaft evoziert aber nur die Fabel von Hase und Igel: Der Politiker, als der Hase, mag sich abhetzen wie er will, am Ziel liegt wieder der Igel in seiner Ackerfurche und ruft „zu wenig, zu spät!“ Die regelmäßig ausbleibende Belohnung für zunächst öffentlich begrüßte Macht- und Steuerungsbehauptungen ist gerade in der Corona-Politik deutlich sichtbar geworden. Gerade deshalb könnte die Pandemie helfen, politische und diskursive Gewohnheiten in Frage zu stellen, die dem gesellschaftlichen Frieden nicht gut bekommen. Wir sollten uns wohl bewusst machen, dass Politik niemals von allem Leid erlösen, nicht alle Lebensrisiken vertreiben kann. Manche Probleme lassen sich mit den Mitteln von Planung und Administration nicht einmal erreichen. Ein solcher Lernprozess könnte schmerzhaft sein. Er könnte zunächst ein Tal von Ungläubigkeit und Enttäuschung durchwandern müssen, bevor sich, im Rückblick, die Erkenntnis verbreitet, dass der Staat hinsichtlich seiner normativen, finanziellen und administrativen Aktivitäten in der Pandemie im Grunde nicht mehr wissen und tun konnte als er gewusst und getan hat. Das setzt allerdings voraus, dass der Staat über alle Zweifel hinaus versichern und beglaubigen kann, er betrachte die gegen die Pandemie ergriffenen Maßnahmen und Verfahren nicht als willkommene Ergänzung seines Arsenals. Die Corona-Politik lässt sich insgesamt nur als absolute Ausnahme rechtfertigen.

XI. Grundsatzaussprachen im Bundestag Der Bundestag ist die Institution, die zu einem solchen Lernprozess beitragen und die Chance ergreifen könnte, die darin für sein eigenes Ansehen und seine Bedeutung liegt. Was kann er dazu tun?

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Zunächst muss er seine repräsentative Verantwortung wirklich annehmen, und zwar über die Verpflichtung hinaus, die wesentlichen Regelungen durch Gesetz zu beschließen und der Exekutive vorzugeben. Der Bundestag ist zur öffentlichen Debatte nicht nur dann berufen, wenn „Vorlagen“, vorzugsweise der Regierung, zu verhandeln sind. Er hat sich über Jahrzehnte angewöhnt und seine Geschäftsordnung strikt darauf ausgerichtet (vgl. § 75 GOBT), seine Tagesordnung mit Gegenständen zu füllen, die ihm durch das unaufhörliche Verlangen nach normativen Regelungen aufgegeben sind („der Gesetzgeber muss endlich handeln“). Die Pandemie gibt Anlass zu verstehen, dass das Parlament tiefgehende, schicksalhafte Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens als solche aufgreifen und selbst zur Sprache bringen muss, unabhängig davon, ob es schon Beschlussvorlagen gibt oder Beschlüsse überhaupt möglich sind.12 Das Parlament darf bei wachsender öffentlicher Unruhe, Erregung, Angst und Panik nicht den Eindruck erzeugen, nicht betroffen oder nicht gefragt zu sein. Das führt nur dazu, dass sich der Blick immer wieder auf die Exekutive richtet – einerseits hilfesuchend, andererseits ablehnend und aggressiv. In dem wachsenden Katastrophendiskurs war von Anfang an eine Orientierungsdebatte im Bundestag notwendig, gut vorbereitet, ausführlich und mit grundsätzlichen Beiträgen. Sie hätte die verfassungsrechtliche Dimension für Grund- und Freiheitsrechte, die möglichen wirtschaftlichen, finanziellen und in das bürgerliche Leben tief eingreifenden Folgen wenigstens in Umrissen erörtern und damit früher klarstellen können, was auf das Land zukommen könne. Vor allem hätte die regellos aufschießende öffentliche Debatte zumindest moderiert sowie Bürgern und Medien die Wahrnehmung vermittelt werden können, dass der Bundestag sich in höchstem Maße gefordert sehe. Manche im weiteren Verlauf folgende Kritik wäre dann vielleicht maßvoller ausgefallen, zwar vielleicht stärker an den Bundestag als an die Regierung adressiert worden, aber das entspräche dem grundlegenden Primat des Parlaments für grundsätzliche Fragen des staatlichen Zusammenlebens. Vielleicht hätte auch in den öffentlichen Versammlungen der Ton nicht so einfach auf „Widerstand“ gestimmt werden können, wenn zu sehen gewesen wäre, dass alle politischen Kräfte im Bundestag, insbesondere auch die Opposition, sich der Schwere der Eingriffe und der Folgen bewusst waren.13 12 Dass eine nicht von Regierungsseite vorstrukturierte Auseinandersetzung mit öffentlich tiefgehend, etwa mit ethischen oder religiösen Werten diskutierten Streitfragen möglich ist, hat der Bundestag bei anderen Themen bewiesen, z. B. auf den Feldern Gentechnologie oder Sterbehilfe; zwar ging es dabei letztlich doch um die Frage, welche gesetzliche Regelung beschlossen werden solle, aber die ins Grundsätzliche gehenden Debatten wurden allgemein als angenehm und angemessen empfunden, auch weil sie nicht wie der Vollzug von Vorgaben wirkten. 13 Diese Vermutung stellt nicht eine der beliebten „Ex-post-Prognosen“ dar; der Verf. hat vor vielen Monaten auf den dringenden Bedarf an einem Hervortreten des Bundestages in der Pandemiepolitik aufmerksam zu machen versucht (vgl. ZParl 2/2020, 469 ff., Zum ausnahmslosen Primat des Parlaments). Deutschland hat eigentlich Erfahrung mit dem Phänomen, dass sich außerparlamentarische Opposition formiert, wenn innerparlamentarisch nicht alle Meinungen und Forderungen präsent sind. 22

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Der Bundestag ist jederzeit in der Lage und selbstverständlich befugt, „vorlagenlose“ Debatten zu führen. Er kann sich darauf mit einfacher Mehrheit – bei einem Thema wie diesem vorzugsweise aber im Konsens aller Fraktionen – verständigen. Eine solche Debatte kann auch auf der Grundlage einer Beschlussvorlage aus dem Bundestag selbst geführt werden. Sie zielt dann auf einen sog. schlichten Parlamentsbeschluss, dem keine rechtliche Bindungswirkung zukommt,14 der aber erhebliche politische Bindungen und Prägungen entfalten kann. Er kann gegenüber der Regierung politische Aufträge dazu enthalten, wie in der betreffenden Angelegenheit verfahren werden soll, oder/und grundsätzliche Standpunkte und Bewertungen des Bundestages formulieren. In jedem Fall ist er mit an die Öffentlichkeit gerichtet, der dadurch Argumente, Schlussfolgerungen und politische Einstellungen vermittelt werden. Es mag sein, dass in der Logik des parlamentarischen Regierungssystems die Mehrheit des Bundestages, die als Koalition die Regierung ins Amt gebracht hat und unterstützt, wenig Interesse daran hat, die „eigene“ Regierung durch solche Richtungsbeschlüsse öffentlich unter Druck zu setzen. Aber die ungewöhnlich breitenwirksame und die Gesellschaft umtreibende Corona-Politik bietet Grund genug, die in „normalen“ Zeiten gewohnten Spielregeln darauf zu überprüfen, ob mit ihnen die erforderliche repräsentative Legitimation des Staatshandelns gesichert werden kann.

XII. Öffentliche Begleitung und Beaufsichtigung durch Ausschüsse Der Bundestag kann auf weitere Verfahrensformen zurückgreifen, wenn er seine Aufsicht über die Maßnahmen der Verwaltung verdeutlichen möchte. Seine Ausschüsse können öffentlich tagen (§ 69 Abs. 1 Satz 2 GOBT), nicht nur für die Schlussberatung einer „überwiesenen Vorlage“ (§ 69a) und für Anhörungen von Sachverständigen (§ 70), sondern auch im Rahmen des sog. Selbstbefassungsrechts (§ 62 Abs. 1 Satz 3). Danach können sie sich „mit anderen Fragen aus ihrem Geschäftsbereich befassen“. Das dient bewusst der Auseinandersetzung mit Plänen und Aktivitäten des Ministeriums, für das sie jeweils zuständig sind, also z. B. der Gesundheitsausschuss für das Gesundheitsministerium. Dabei können sie gemäß Art. 43 Abs. 1 GG „die Anwesenheit jedes Mitglieds der Bundesregierung verlangen“, und dies auch dann, wenn ein Mitglied „in einer öffentlichen Sitzung gehört werden soll“ (§ 68 GOBT). Hier bieten 14 Die im Unterschied zum Gesetzesbeschluss fehlende Rechtswirkung für Dritte ist der Grund für diese herkömmliche Bezeichnung; sie sagt über die inhaltliche und politische, u. U. keineswegs „schlichte“ Substanz nichts aus. Zur Klarstellung sei erwähnt, dass die im allgemeinen Sprachgebrauch vorkommenden „Entschließungen“ des Bundestages ein etwas anderer Fall als der hier empfohlene sind, weil sie nur „unselbständig“, also zu einem anderen Punkt der Tagesordnung (z. B. Gesetz, Regierungserklärung) beantragt werden können. Ein selbständiger Beschluss kann auch von einzelnen Abgeordneten beantragt werden, sofern das von mindestens fünf vom Hundert der Mitglieder des BT unterstützt wird (oder von einer Fraktion, vgl. § 76 Abs. 1 GOBT). Es handelt sich in diesem Fall um eine „Vorlage“, die „als Verhandlungsgegenstand“ auf die Tagesordnung gesetzt werden kann (75 Abs. 1 GOBT). Recht und Politik, Beiheft 7

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sich hervorragende Möglichkeiten, die Sorgfalt des Bundestages im Umgang mit der Pandemie auch öffentlich besser sichtbar zu machen. Die Nutzung dieser Verfahrensformen geschieht entsprechend den Bedingungen des parlamentarischen Regierungssystems – Koalition gegen Opposition – herkömmlich eher maßvoll und nicht konfrontativ. Es sollte auch hier überlegt werden, ob diese Spielregeln für die besondere Repräsentationsaufgabe in der Coronakrise etwas modifiziert angewandt werden können. Nach § 56 GOBT kann der Bundestag ferner eine Enquete-Kommission einsetzen. Sie dient „zur Vorbereitung von Entscheidungen über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe“. Sie besteht neben Abgeordneten aus externen Mitgliedern, die von den Fraktionen aus wissenschaftlichen Einrichtungen rekrutiert werden. Die Praxis dieses – in neuerer Zeit weniger häufig eingesetzten – Instruments zeigt, dass es (auch) hier nicht nur und nicht einmal in erster Linie auf den Bericht zur Vorbereitung von Entscheidungen ankommt, sondern auf die Wirkung der Beratungen auf Medien und allgemeine Öffentlichkeit und besonders auch auf die Meinungsbildung in den fachlich involvierten Kreisen.15

XIII. Parlamentarische Erklärung zur Zukunft der Grundrechte Der Bundestag kann schließlich eine „freie“ Debatte im Plenum auch im Sinne einer Zwischenbilanz der Corona-Politik oder einer vorläufigen Bewertung des gesamtstaatlichen Handelns anberaumen. Dabei wären die Aktivitäten der Bundesländer durchaus einzubeziehen. Vor allem wäre eine Aussprache des Bundestages darüber wünschenswert, wie mit den Grundrechtsverbürgungen in zukünftigen Krisen und besonders schwerwiegenden staatlichen Entscheidungslagen umgegangen werden soll. Eine unbedingte, uneingeschränkte und von allen politischen Kräften getragene und beglaubigte Versicherung, dass die Verfahrensweisen der Pandemiebekämpfung eine Ausnahme darstellen, deren Wiederholung mit allen Kräften entgegen getreten werde, könnte zur Mäßigung nicht nur eines teilweise hysterisch gewordenen öffentlichen Streits beitragen, sondern auch zur Beruhigung unzähliger Mitbürger, die sich öffentlich nicht äußern, auf deren Zuversicht in die rechtsstaatliche demokratische Ordnung es aber vor allem ankommt. Sie haben darauf Anspruch, weil sie diese Ordnung tragen. 15 Enquete-Kommissionen haben immer wieder dokumentieren können, dass der Bundestag sich eines Themas auch dann angenommen hat, wenn (noch) keine Entscheidungen anstanden oder möglich waren, das Thema aber die Öffentlichkeit umgetrieben und beunruhigt hat; so z. B. die Enqueten über Sekten und Psychogruppen oder über die Bedeutung von Jugendprotesten in der Demokratie. Das Instrument wurde – wie ein Teil der oben skizzierten erweiterten Möglichkeiten für die Ausschüsse – schon 1968 während der damaligen großen Koalition eingeführt mit der ausdrücklichen Absicht, dem Bundestag eigene, von der Exekutive unabhängige Expertise und gezieltere Kontrollmöglichkeiten gegenüber der Regierung zu verschaffen. 24

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Notstandsverfassung und Corona-Virus* Rückblick und Ausblick Von Jörn Ipsen, Osnabrück Nach dem Ausbruch des Corona-Virus, der auch in Deutschland eine unübersehbare Zahl schwerer Infektionen und zahlreiche Todesfälle verursacht hat, haben Regierungen und Parlamente Maßnahmen zu seiner Eindämmung getroffen. Erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik sind alle Einwohner – gleich welchen Alters – fühlbaren Einschränkungen unterworfen. Das öffentliche Leben ist zum Erliegen gekommen, soziale Kontakte sind vorübergehend verboten oder eingeschränkt worden. Es unterliegt keinem Zweifel, dass sich Staat und Gesellschaft gegenwärtig in einem Ausnahmezustand befinden, der mit dem verfassungsrechtlichen Begriff des „Notstands“ bezeichnet werden könnte.

I. Grundzüge der Notstandsverfassung Für Notstandsfälle enthält das Grundgesetz eine Reihe von Vorschriften, die mit dem 17. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. Juni 19681 in das Grundgesetz eingefügt worden sind. Vorausgegangen waren mehrere Entwürfe, die jedoch sämtlich an der fehlenden verfassungsändernden Mehrheit im Bundestag scheiterten.2 Erst die 1966 gebildete Große Koalition aus CDU/CSU und SPD verfügte über eine hinreichende Mehrheit. Gegen erhebliche Widerstände, die sich insbesondere in öffentlichen Demonstrationen und Publikationen wie „Notstand der Demokratie“ manifestierten3, wurde die Notstandsnovelle von Bundestag und Bundesrat beschlossen und trat am 25. Juni 1968 in Kraft. In der Folgezeit haben sich nur die Kommentatoren des Grundgesetzes mit der Notstandsnovelle beschäftigen müssen, während es um dieses Thema im Übrigen eigentümlich ruhig blieb, was daran gelegen haben mag, dass sich die von der Agitation beschworenen Gefahren für die Demokratie nicht verwirklichten. Vielmehr wurde nach den Bundestagswahlen 1969 eine Regierungskoalition aus SPD und FDP gebil* 1 2 3

Zuerst in: RuP 2/2020, 118 – 132. BGBl. I 1968, S. 709. Vgl. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band II, 1980, S. 1322 ff. Vgl. nur N. Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, 2008, S. 88 ff.; J. Ipsen, Der Staat der Mitte. Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, 2009, S. 286.

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Duncker & Humblot, Berlin

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det, die sich auf die Fahnen geschrieben hatte, mehr Demokratie zu wagen.4 Angesichts des ersten landesweiten Ausnahmezustandes in der Geschichte der Bundesrepublik besteht deshalb aller Anlass, sich die Grundzüge der Notstandsverfassung zu vergegenwärtigen. 1. Der Verteidigungsfall (Art. 115 a ff. GG) Der Verteidigungsfall wird in Art. 115 a Abs. 1 GG dahin definiert, dass das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht. Die Feststellung trifft der Bundestag mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen unter Zustimmung des Bundesrates. Sofern der Bundestag nicht zusammentreten kann oder beschlussunfähig bleibt, wird die Feststellung des Verteidigungsfalls durch den „Gemeinsamen Ausschuss“ getroffen. Der Gemeinsame Ausschuss ist ein besonderes Verfassungsorgan, das auch im Normalzustand besteht und sich zu einem Drittel aus Mitgliedern des Bundesrates und zwei Dritteln aus Bundestagsabgeordneten zusammensetzt (Art. 53 a GG). Die Feststellung des Verteidigungsfalls hat eine Reihe rechtlicher Konsequenzen, die in Art. 115 b GG ff. festgelegt sind. Zunächst geht die Befehls- und Kommandogewalt vom Verteidigungsminister, der diese Kompetenz in Friedenszeiten innehat (Art. 65 a GG), auf den Bundeskanzler über (Art. 115 b GG). Die föderale Struktur der Bundesrepublik wird weitgehend aufgehoben. Die Gesetzgebungskompetenzen der Länder werden zur konkurrierenden Bundesgesetzgebung (Art. 115 c GG). Auch kann die Bundesregierung den Landesregierungen und Landesbehörden allgemein Weisungen erteilen (Art. 115 f Abs. 1 Nr. 2 GG). Für die Bundesgesetzgebung ist ein vereinfachtes Verfahren vorgesehen, in dem Bundestag und Bundesrat die Gesetze gemeinsam beraten (Art. 115 d GG). Ist der Bundestag am Zusammentreten gehindert oder nicht beschlussfähig, so tritt an seine Stelle der Gemeinsame Ausschuss, dem damit die Stellung eines Notparlaments zukommt und der sämtliche Kompetenzen wahrnimmt, die nach der Verfassung dem Bundestag und Bundesrat zustehen (Art. 115 e Abs. 1 GG). Seine Kompetenzen sind nur insoweit begrenzt, als er das Grundgesetz nicht ändern oder außer Kraft setzen darf (Art. 115 e Abs. 2 GG). Ausdrücklich ist bestimmt, dass auch im Verteidigungsfall die Stellung des BVerfG nicht beeinträchtigt werden darf (Art. 115 g GG). 2. Der Spannungsfall (Art. 80 a Abs. 1 GG) Dem Verteidigungsfall kann ein „Spannungsfall“ vorausgehen, der im Grundgesetz nicht definiert wird, aber als „außenpolitische Gefahrenlage“ zu verstehen ist, die sich zum Verteidigungsfall entwickeln kann. Mit der gleichen Mehrheit, wie sie nach Art. 115 a GG erforderlich ist, kann der Bundestag den Eintritt des Spannungsfalles feststellen, ohne dass es der Zustimmung des Bundesrates bedürfte (Art. 80 a Abs. 1 4

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Nach wie vor unübertroffen die Darstellung von A. Baring, Machtwechsel. Die Ära Brandt/ Scheel, 1982, passim. Recht und Politik, Beiheft 7

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Satz 1 GG). Der Spannungsfall ist die Voraussetzung für eine Reihe von Maßnahmen (insbesondere nach Art. 12 a GG), die in der Vergangenheit als „Mobilmachung“ bezeichnet worden sind. 3. Der Bündnisfall Art. 80 a Abs. 3 GG lässt Mobilmachungsmaßnahmen auch zu, wenn ein Bündnisorgan mit Zustimmung der Bundesregierung einen entsprechenden Beschluss fasst. Der Bundestag hat die Möglichkeit, die Aufhebung der Maßnahmen zu verlangen (Art. 80 a Abs. 3 Satz 2 GG). Während Art. 80 Abs. 3 GG seinem Wortlaut nach einen Beschluss des Bundestages nicht voraussetzt, ist der mit dem Bündnisfall zwangsläufig verbundene Einsatz der Streitkräfte nach der Rechtsprechung des BVerfG nur mit einem entsprechenden Mandat des Bundestages zulässig.5 Nach der Absicht des verfassungsändernden Gesetzgebers sollten der Bündnisfall und seine nationalen Rechtsfolgen lediglich von der Zustimmung der Bundesrepublik im NATO-Rat6 abhängig gemacht und das Parlament auf ein Aufhebungsrecht – und zwar mit qualifizierter Mehrheit – beschränkt werden. 4. Dienstverpflichtungen (Art. 12 a GG) Art. 12 a GG ermöglicht in seinem ersten Absatz die Einführung der Wehrpflicht, der Bundesgrenzschutzpflicht und der Dienstpflicht in einem Zivilschutzverband.7 Art. 12 a Abs. 2 GG enthält nähere Bestimmungen über die Kriegsdienstverweigerung, die bereits durch Art. 4 Abs. 3 GG gewährleistet ist. Die folgenden Absätze und die mit ihnen begründeten Dienstleistungspflichten beziehen sich in erster Linie auf den Verteidigungsfall und beschränken sich auf Wehrpflichtige, die nicht zum Wehr- oder Ersatzdienst herangezogen worden sind (Art. 12 a Abs. 3 Satz 1 GG). Dieselbe Personengruppe kann nach Art. 12 a Abs. 5 auch im Spannungsfall zu Dienstleistungen herangezogen werden, zu deren Vorbereitung auch die Teilnahme an Ausbildungsveranstaltungen zur Pflicht gemacht werden kann (Art. 12 a Abs. 5 Satz 2 GG). Frauen vom vollendeten 18. bis zum vollendeten 55. Lebensjahr können zu Dienstleistungen im zivilen Sanitäts- und Heilwesen sowie in der (ortsfesten) militärischen Lazarettorganisation verpflichtet werden (Art. 12 a Abs. 4 Satz 1 GG). Sie dürfen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden (Art. 12 a Abs. 4 Satz 2 GG). Weitergehend enthält Art. 12 a Abs. 6 Satz 1 GG die Ermächtigung an den Gesetzgeber, zur Sicherung des Bedarfs an Arbeitskräften in den in Art. 12 a Abs. 3 Satz 2 GG genannten Bereichen allgemein – also ohne Begrenzung 5 6 7

Grundlegend BVerfGE 90, 286. Ersichtlich war in Art. 80 a Abs. 3 die NATO gemeint, weil die Bundesrepublik keinem anderen (Militär‐) Bündnis angehörte. Die entsprechenden Dienstleistungspflichten sind durch § 2 WPflG suspendiert worden und leben nur im Spannungs- oder Verteidigungsfall wieder auf.

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auf bestimmte Personenkreise – die Berufsfreiheit partiell – nämlich die Ausübung des Berufs oder den Arbeitsplatz aufzugeben – einzuschränken. Die Bindung an den Arbeitsplatz beschränkt sich auf die in Art. 12 a Abs. 3 Satz 2 GG aufgezählten Sachbereiche und ist bei den Streitkräften, im Bereich ihrer Versorgung, bei der öffentlichen Verwaltung und im Bereich der Versorgung der Zivilbevölkerung, hier jedoch nur zur Deckung des lebensnotwendigen Bedarfs bzw. zur Sicherstellung des Schutzes der Zivilbevölkerung zulässig.8 Art. 12 a GG enthält Ermächtigungen für den Gesetzgeber, Dienstpflichten einzuführen, begründet diese Pflichten aber nicht unmittelbar. Die Verpflichtungen nach Art. 12 a Abs. 3 – 6 GG sind durch das Gesetz zur Sicherstellung von Arbeitsleistungen für Zwecke der Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung (Arbeitssicherstellungsgesetz) vom 9. Juli 1968 (BGBl. I S. 787) konkretisiert worden. Von der Anwendung des Gesetzes ist bislang kein Gebrauch gemacht worden. 5. Der Staatsnotstand (Art. 91 GG) Im Gegensatz zum Verteidigungsfall, in dem die Bedrohung von außen kommt, ist der Staatsnotstand durch eine innere Bedrohung gekennzeichnet. Die traditionelle Dichotomie von „Krieg“ und „Aufruhr“ ist in leicht veränderter begrifflicher Form ins Grundgesetz übernommen worden. Das Grundgesetz umschreibt diese Lage als „drohende Gefahr“ für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes (Art. 91 Abs. 1 GG). Die Tatbestandsvoraussetzungen erfassen einen Angriff auf die Staatsform im weiteren Sinne ebenso wie auf den Staat selbst. Gemeint sind Revolutionen, Staatsstreiche, „Putsche“ und andere Gewaltakte, die darauf abzielen, der Bundesrepublik eine andere Staatsform zu geben oder den Staat in seiner gegenwärtigen Existenz zu beseitigen. Allerdings muss für die genannten Schutzgüter eine wirkliche Gefahr bestehen; solange verfassungsfeindliche Bestrebungen keine reale Gefahr bilden, stehen gegen sie nur die gewöhnlichen Mittel des Staatsschutzes (insbesondere des Strafrechts) zur Verfügung. Der Einsatz von Bundesgrenzschutz9 (Bundespolizei) und Streitkräften (Bundeswehr) ist im Falle des inneren Notstands zulässig. Soweit die Länder zu einer Bekämpfung nicht in der Lage sind, kann die Bundesregierung alle Kräfte ihren Weisungen unterstellen (Art. 91 Abs. 2 GG). Unter besonderen Voraussetzungen – wenn die Polizeikräfte sowie der Bundesgrenzschutz (Bundespolizei) zur Bekämpfung bewaffneter Aufständischer nicht ausreichen – können die Streitkräfte eingesetzt werden (Art. 87 a Abs. 4 Satz 1 GG).

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Vgl. J. Ipsen, in: Bonner Kommentar, Art. 12 a Rn. 308. Das GG enthält noch immer den Begriff „Bundesgrenzschutz“, während durch Bundesgesetz der Begriff „Bundespolizei“ eingeführt worden ist (Bundespolizeigesetz v. 19. 10. 1994, BGBl. I S. 2978). Recht und Politik, Beiheft 7

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6. Der Katastrophenfall (Art. 35 Abs. 2 und 3 GG) Der Katastrophenfall unterscheidet sich von den anderen Notstandsfällen darin, dass hier kein Interessengegensatz denkbar ist, alle Bemühungen vielmehr darauf gerichtet sein müssen, die Katastrophe oder den Unglücksfall abzuwenden. Es kommt deshalb darauf an, möglichst viele Kräfte in möglichst kurzer Zeit zu mobilisieren, ohne dass die bundesstaatliche Ordnung hinderlich sein darf. Im Katastrophenfall stehen grundsätzlich die Polizeikräfte der Länder, die Bundespolizei und die Streitkräfte zur Verfügung. Sofern sich der Katastrophenfall auf ein Land beschränkt, kann das Land Polizeikräfte anderer Länder, die Bundespolizei und die Streitkräfte anfordern (Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG). Der Einsatz der Bundeswehr hat sich aufgrund entsprechender Erfahrungen bei der Hamburger Flutkatastrophe (1962) als unabdingbar herausgestellt; gegen ihn bestehen schon deshalb keine Bedenken, weil die Streitkräfte unbewaffnet sind und als „Helfer in der Not“ tätig werden. Sofern mehr als ein Bundesland von einer Naturkatastrophe betroffen ist, kann die Bundesregierung in beschränktem Umfang den Einsatz der Bundespolizei und der Streitkräfte selbst regeln (Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG). Der Bund wird im Rahmen des Art. 35 Abs. 3 GG ohne Anforderung tätig und erfüllt damit auf dem Gebiet eines Landes Aufgaben der Gefahrenabwehr, ohne dass dessen Zustimmung vorliegen müsste. Damit ist das föderative System partiell außer Kraft gesetzt. Art. 35 Abs. 3 Satz 2 GG sieht deshalb ausdrücklich vor, dass Maßnahmen der Bundesregierung jederzeit auf Verlangen des Bundesrates aufzuheben sind. 7. Bilanz Unsere Durchsicht der notstandsrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes erweist sich als dürftig. Die Artikel, die den Verteidigungsfall (Art. 115 a GG oder den Spannungsfall (Art. 80 a GG) voraussetzen, sind für einen pandemischen Notstand ersichtlich nicht einschlägig. Auch die Bestimmung über den „inneren Notstand“ (Art. 91 GG) ist nicht anwendbar, weil es sich hierbei um eine völlig andere Gefährdung des Staates als die gegenwärtig vorliegende handelt. Einen Anknüpfungspunkt bietet allein Art. 35 Abs. 2 und 3 GG mit dem Begriff der „Naturkatastrophe“. Hierzu zählen nach übereinstimmender Auffassung in den Grundgesetzkommentaren auch Massenerkrankungen.10 Damit ist uns allerdings noch nicht geholfen, weil Bundespolizei und Bundeswehr nach aller Erfahrung nur im Konsens mit dem jeweiligen Bundesland eingesetzt würden, wie überhaupt die zur Bekämpfung der Pandemie ergriffenen Maßnahmen sämtlich im föderalen Konsens erfolgt sind.

10 So Th. v. Danwitz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG. Grundgesetz, Hrsg. v. P. M. Huber und A. Voßkuhle, 7. Auflage 2018, Art. 35, Rn. 70; H. Bauer, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. II, 2015, Art. 35 Rn. 29; M. Gubelt, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz. Kommentar, Bd. 1, 6. Auflage 2012, Art. 35 Rn. 25, jew. m.w.N. Recht und Politik, Beiheft 7

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II. Änderungen des Infektionsschutzgesetzes In einer in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellosen Aktion hat der Bundestag weitgehende Änderungen des Infektionsschutzgesetzes beschlossen. Das Infektionsschutzgesetz ist ein Bundesgesetz, für das dem Bund die Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG (Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen) zusteht. Da mit dem Zusammentritt des Bundestages eine erhöhte Gefahr gegenseitiger Ansteckung mit dem Corona-Virus bestand, wurde die Geschäftsordnung um die Bestimmung ergänzt, dass der Bundestag beschlussfähig ist, wenn mehr als ein Viertel der Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist (§ 126 a GOBT). Diese Bestimmung findet ab dem 30. September 2020 keine Anwendung mehr (§ 126 a Abs. 5 Satz 1 GOBT). Ausschüsse sind ebenfalls beschlussfähig, wenn mehr als ein Viertel der Mitglieder an der Sitzung teilnehmen oder über elektronische Kommunikationsmittel an den Beratungen teilnehmen können (§ 126 a Abs. 2 GOBT). Die Novelle zum Infektionsschutzgesetz ist vom Bundestag am 25. März beschlossen worden; die Zustimmung des Bundesrates erfolgte zwei Tage später. Das Gesetz trat am 28./30. März 2020 in Kraft.11 Mit der Gesetzesnovelle ist § 5 InfSG unter der Überschrift „Epidemische Lage von nationaler Tragweite“ neu gefasst worden. Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 stellt der Deutsche Bundestag „eine epidemische Lage von nationaler Tragweite“ fest. Die zunächst der Bundesregierung zugedachte Feststellungskompetenz ist in dem Gesetzentwurf von CDU/CSU und SPD durch die des Bundestages ersetzt worden.12 Die Parallele zu Art. 115 a Abs. 1 Satz 1 GG ist augenfällig. Wie die Feststellung des Verteidigungsfalls13 ist auch die Feststellung nach § 5 Abs. 1 Satz 1 InfSG konstitutiv, bildet also die Voraussetzung für die in den folgenden Absätzen aufgeführten Ermächtigungen zu Anordnungen und Verordnungen, die sich zusammen mit der Generalklausel des § 28 InfSG zur Grundlage eines klinischen Notstandsrechts fügen. Die Bestimmungen sind hier nicht im Einzelnen zu referieren, lassen indes erkennen, welche Vorschriften des geltenden Rechts als potentiell der wirksamen Bekämpfung der Pandemie, insbesondere der flächendeckenden Krankenversorgung hinderlich angesehen werden. Da das Infektionsschutzgesetz von den Bundesländern als landeseigene Angelegenheit ausgeführt wird (Art. 84 Abs. 1 Satz 1 GG), hätten die Rechtsverordnungen nach § 5 Abs. 2 InfSG grundsätzlich der Zustimmung des Bundesrates bedurft (Art. 80 Abs. 2 GG). Die Zustimmungsbedürftigkeit wird jedoch nach § 5 Abs. 2 Nr. 3, 4, 7 und 8 InfSG ausdrücklich ausgeschlossen, womit der Gesetzgeber von der Vorbehaltsklausel des Art. 80 Abs. 2 GG („vorbehaltlich anderweitiger bundesgesetzlicher Regelung“) 11 Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 587). 12 BT-Drucks. 19/18111, S. 6. 13 Vgl. nur W. Heun, in: H. Dreier (Hrsg.), GG. Grundgesetz Kommentar, Bd. III, 2. Auflage 2008, Art. 115 a Rdnr. 8. 30

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Gebrauch gemacht hat. Die verfassungsrechtlich erforderliche Zustimmung des Bundesrates zu dem Änderungsgesetz ist – wie erwähnt – am 27. März 2020 erfolgt. Angesichts der weiträumigen Ermächtigungen der Novelle ist von Interesse, welche Medienberichten zufolge für erforderlich gehaltenen Bestimmungen keinen Eingang in den interfraktionellen Gesetzentwurf und damit in das Änderungsgesetz gefunden haben. So ist erwogen worden, Ärztinnen, Ärzte, Angehörige von Gesundheitsfachberufen und Medizinstudierende zu verpflichten, bei der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten mitzuwirken. Durch Änderungen in der Approbationsordnung für Ärzte sollten die Einsatzmöglichkeiten von Medizinstudierenden ohne Nachteile für den Studienfortschritt erweitert werden können. Pflegefachpersonen und weitere in der Pflege tätige Personen sollten darüber hinaus verpflichtet werden können, bei der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten mitzuwirken.

III. Die einzelnen Maßnahmen Das Infektionsschutzgesetz wird von den Ländern als landeseigene Angelegenheit unter Aufsicht des Bundes ausgeführt (Art. 84 Abs. 1 Satz 1 GG). Die Landesregierungen werden ermächtigt, durch Rechtsverordnung „entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen“ (§ 32 Satz 1 InfSG). Sie können die Verordnungsermächtigung auf andere Stellen übertragen (§ 32 Satz 2 InfSG). Aufgrund dieser Ermächtigung sind in den Bundesländern Rechtsverordnungen ergangen, die detaillierte Gebote und Verbote zur Eindämmung des Corona-Virus enthalten. Sie sind jeweils nach ihrer Veröffentlichung in den Gesetz- und Verordnungsblättern der Länder in Kraft getreten und bestimmen seitdem in einem noch nicht dagewesenen Ausmaß das öffentliche und private Leben in der Bundesrepublik. Die Vermittlung durch die Medien lässt nicht immer erkennen, dass die Bundesländer aufgrund der Verfassung gewisse Spielräume bei der Verordnungsgebung haben. Bund und Länder haben sich indes auf übereinstimmende Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus geeinigt und die Dauer der zu erlassenden Maßnahmen zunächst begrenzt. Ausdrücklich ist das Bundesgesundheitsministerium berechtigt, Empfehlungen abzugeben, um ein koordiniertes Vorgehen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland zu ermöglichen (§ 5 Abs. 6 InfSG). Die Verordnungen enthalten eine Vielzahl von Geboten und Verboten, deren Nichtbefolgung als Ordnungswidrigkeiten – in Einzelfällen auch als Straftaten – verfolgt werden können. Zu den Geboten gehört, dass jede Person physische Kontakte zu anderen Menschen, die nicht zu den Angehörigen des eigenen Hausstands gehören, auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren hat.14 Neben dieser Generalklausel finden 14 Soweit Bestimmungen wörtlich oder sinngemäß zitiert werden, entstammen diese der Niedersächsischen Verordnung über die Beschränkung sozialer Kontakte zur Eindämmung der Corona-Pandemie vom 2. April 2020 (Nds. GVBl., S. 55), die am 4. April 2020 in Kraft getreten ist. Entsprechende Vorschriften finden sich in den Eindämmungs-Verordnungen der anderen Bundesländer. Recht und Politik, Beiheft 7

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sich detaillierte Bestimmungen über die Schließung von Einrichtungen, die von Kulturzentren bis zu Autowaschanlagen reichen. Zu den geschlossenen Einrichtungen gehören auch Einzelhandelsgeschäfte, soweit sie nicht der Versorgung mit Lebensmitteln, Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs dienen und ausdrücklich in der Verordnung aufgeführt sind. An die Betreiber des Beherbergungsgewerbes ist das Verbot gerichtet, Personen zu touristischen Zwecken zu beherbergen. Verboten sind überdies: 1. Zusammenkünfte in Vereinseinrichtungen und sonstigen Sport- und Freizeiteinrichtungen sowie die Wahrnehmung von Angeboten in Volkshochschulen, Musikschulen und sonstigen öffentlichen und privaten Bildungseinrichtungen im außerschulischen Bereich, 2. der kurzfristige Aufenthalt zu touristischen Zwecken in Zweitwohnungen, 3. Zusammenkünfte in Kirchen, Moscheen, Synagogen und die Zusammenkünfte anderer Glaubensgemeinschaft einschließlich der Zusammenkünfte in Gemeindezentren, 4. alle öffentlichen Veranstaltungen ausgenommen Sitzungen der kommunalen Vertretungen und Gremien sowie des Landtages und seiner Ausschüsse und Gremien. Auch der Besuch von Zusammenkünften ist mit Ausnahme der Sitzungen kommunaler Vertretungen und Gremien verboten.15 Andere Verhaltensweisen sind ausdrücklich erlaubt, so etwa die körperliche und sportliche Betätigung im Freien, soweit der vorgeschriebene Abstand (1,5 Meter) eingehalten wird. Restaurants, Gaststätten und Imbissstuben dürfen nicht betrieben werden, allerdings dürfen Speisen abgeben, nicht jedoch in einem Umkreis von 50 Metern verzehrt werden. Die örtlich zuständigen Behörden können weitergehende Anordnungen treffen, soweit es im Interesse des Gesundheitsschutzes erforderlich ist und den vorstehenden Regelungen nicht widerspricht. Sie können insbesondere für bestimmte öffentliche Plätze, Parkanlagen und ähnliche Orte in ihrem Zuständigkeitsbereich generelle Betretungsverbote erlassen.16 Die nach dem Infektionsschutzgesetz zuständigen Behörden und die Polizei sind gehalten, die Bestimmungen dieser Verordnung durchzusetzen und Verstöße zu ahnden.17

15 So § 1 Abs. 5 der Niedersächsischen Verordnung über die Beschränkung sozialer Kontakte zur Eindämmung der Corona-Pandemie vom 02. 04. 2020 (Nds. GVBl., S. 55). 16 So § 11 der Niedersächsischen Verordnung über die Beschränkung sozialer Kontakte zur Eindämmung der Corona-Pandemie v. 02. 04. 2020. 17 So § 12 Abs. 2 der Verordnung. 32

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IV. Verfassungsrechtliche Fragestellungen des Notstands 1. Bestimmungen der Notstandsverfassung des Grundgesetzes Die Skizze der Notstandsbestimmungen des Grundgesetzes hat ergeben, dass sie für einen durch eine Pandemie verursachten Ausnahmezustand nicht einschlägig sind. Weder besteht ein Verteidigungs- noch ein Spannungsfall, so dass die Art. 115 a ff. ebenso wenig anwendbar sind, wie die Ermächtigungen des Art. 12 a Abs. 3 – 6 GG. Einschlägig ist lediglich Art. 35 Abs. 3 GG, wobei ein möglicher Einsatz von Bundespolizei und Streitkräften zwar zulässig ist, zur Bekämpfung des Corona-Virus aber nur begrenzte Wirkung entfalten kann. Begrifflich kommt allein Art. 11 Abs. 2 GG in Betracht, der durch die Notstandsnovelle 1968 geändert worden ist, dessen „Seuchenvorbehalt“ indes schon in der Ursprungsfassung des Grundgesetzes enthalten war. Man wird deshalb nicht um die Erkenntnis herumkommen, dass das Grundgesetz Bestimmungen über eine Pandemie nur in Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 – als Gesetzgebungskompetenz des Bundes – und eben in Art. 11 Abs. 2 – als Gesetzesvorbehalt – aufweist. Angesichts des seinerzeit verfolgten Grundsatzes „enumeratio ergo limitatio“ stellt sich umgekehrt die Frage, ob aus der Notstandsverfassung im Rückschluss Grenzen für gesetzgeberische Maßnahmen im Ausnahmezustand abzuleiten sind. Hierbei ist an die zunächst vorgesehene Verpflichtung verschiedener Berufsgruppen zu denken, die eine auffällige Parallele zu Art. 12 a Abs. 3 und 4 GG aufweist. Außerhalb des Verteidigungs- und Spannungsfalls ist ein Arbeitszwang jedoch nur im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht zulässig (Art. 12 Abs. 2 GG). Hierzu werden unter Berufung auf die Entstehungsgeschichte die gemeindlichen Hand- und Spanndienste, die Pflicht zur Deichhilfe und die Feuerwehrdienstpflicht gerechnet18, wobei die Feuerwehrdienstpflicht jedenfalls dann entfällt, wenn sie auf Männer beschränkt ist.19 Medizinische Dienstleistungen sind kein Gegenstand herkömmlicher Dienstleistungspflichten gewesen, so dass Art. 12 Abs. 2 GG der erwogenen Heranziehung unterschiedlicher Berufsgruppen zur Bekämpfung des Virus entgegensteht. Man mag dies bedauern, weil bei steigender Zahl von Infektionen ein zunehmender Bedarf an Klinikpersonal entsteht und hierfür die medizinnahen Berufsgruppen fraglos in Betracht kämen. Angesichts der Entstehungsgeschichte der Notstandsverfassung kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass neben Art. 12 a GG und den singulären Fällen der „herkömmlichen“ Dienstleistungspflichten die Begründung weiterer Pflichten einer Ergänzung des Grundgesetzes bedürfte. Die von Bundestagspräsident Schäuble in die Diskussion eingeführte Schaffung eines „Notparlaments“20 hat ihr Vorbild im „Gemeinsamen Ausschuss“ (Art. 53 a GG), wäre ebenfalls nur durch eine Ergänzung des Grundgesetzes möglich. Fraglich ist allerdings, ob ein derart singulärer Notstandsfall, wie ihn die gegenwärtige Pandemie bedeutet, 18 So BVerfGE 22, 380 (383). 19 So BVerfGE 92, 91 (109). 20 Vgl. Süddeutsche Zeitung v. 04./05. April 2020, S. 6. Recht und Politik, Beiheft 7

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Anlass zu einer derartigen Grundgesetzänderung geben sollte. Der Bundestag hat in Gestalt des § 126 a GOBT einen Weg gefunden, auch im Krisenfall handlungsfähig zu bleiben und die Ausnahmevorschrift richtigerweise zeitlich begrenzt.21 Ob mit der zunächst erwogenen Weisungsbefugnis der Bundesregierung das Grundgesetz überanstrengt worden wäre, soll hier offen bleiben. Mit ihr wäre von Art. 84 Abs. 5 Satz 1 GG Gebrauch gemacht worden, nach dem der Bundesregierung durch (zustimmungsbedürftiges) Gesetz die Befugnis verliehen werden kann, den Landesbehörden für „besondere Fälle“ Einzelweisungen zu erteilen. Ob es sich bei der Ausführung des Infektionsschutzgesetzes lediglich um „besondere Fälle“ gehandelt hätte, ist zweifelhaft. Der Bundestag hat sich in § 5 Abs. 6 InfSG auf die Formulierung beschränkt, dass die Bundesregierung Empfehlungen abgeben kann. Damit ist die verfassungsrechtliche Problematik vermieden worden. 2. Die Gesetzesvorbehalte der Grundrechtsartikel Das Grundgesetz kennt – dies im Unterschied zur Weimarer Reichsverfassung22 – im Grundrechtsteil keinen generellen Notstandsvorbehalt. Art. 12 a bildet gegenüber der durch Art. 12 GG gewährleisteten Berufsfreiheit keinen Eingriffs- oder Einschränkungsvorbehalt, sondern ist eine Ausnahmevorschrift, auf deren Grundlage die Berufsfreiheit für die Dauer der Dienstleistungspflichten (Wehrdienst, Ersatzdienst usw.) suspendiert wird.23 Die seinerzeit regierungsamtlich vertretene Lesart ging dahin, dass die im Notstand erforderlichen Grundrechtseinschränkungen durch die bestehenden Gesetzesvorbehalte gedeckt seien. Zutreffend dürfte sein, dass die ausdrückliche Aufnahme weiterer Gesetzesvorbehalte den Protest gegen die Notstandsgesetze weiter beflügelt haben würde. Der Versuch, den Widerstand der Gewerkschaften durch die Änderung des Art. 9 Abs. 3 GG zu besänftigen, spricht für sich.24 Unsere beispielhafte Aufzählung der gegen die Pandemie ergriffenen Maßnahmen zeigt schon auf den ersten Blick, dass hiermit eine ganze Reihe von Grundrechtseingriffen verbunden ist. Nach § 28 Abs. 1 Satz 4 InfSG können die Grundrechte der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) durch das Infektionsschutzgesetz eingeschränkt werden. Diese Grundrechte werden auch in der Verordnungsermächtigung benannt (§ 32 Satz 3 InfSG). Es wäre 21 Vgl. oben S. 123. 22 Nach Art. 48 Abs. 2 Satz 2 konnten die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte bei einer erheblichen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ganz oder teilweise außer Kraft gesetzt werden. 23 So J. Ipsen, Staatsrecht II. Grundrechte, 22. Auflage 2019, Rn. 690. 24 Nach Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG dürfen Notstandsmaßnahmen (Art. 12 a, 35 Abs. 2 und 3, 87 a Abs. 4 und 91) sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen geführt werden. Nach zutreffender Auslegung bedeutet diese Ergänzung lediglich, dass (rechtmäßige) Arbeitskämpfe keinen Notstandsfall nach diesen Vorschriften auslösen können. 34

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deshalb naheliegend, die aufgrund der Ermächtigung des Infektionsschutzgesetzes ergangenen Rechtsverordnungen im Einzelnen daraufhin zu prüfen, welche Grundrechte eingeschränkt werden und ob diese Einschränkungen den zusätzlich an sie zu stellenden Anforderungen – insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit25 – genügen, um dann zu einem abschließenden Urteil über deren Verfassungsmäßigkeit zu gelangen. Offensichtlich ist, dass die in § 28 InfSG aufgeführten Grundrechte durch die landesrechtlichen Verordnungen eingeschränkt werden. Hinzu treten die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und die Gewährleistung des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 GG). Für diese Grundrechte ist das Zitiergebot (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG) nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht anzuwenden, möge die Begründung auch nicht stets überzeugen.26 Allerdings werden durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie auch Grundrechte eingeschränkt, die keinem Gesetzesvorbehalt unterliegen, insbesondere die Versammlungsfreiheit in geschlossenen Räumen und die Freiheit der ungestörten Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2 GG). Nun hat das BVerfG in seiner Rechtsprechung schon immer Mittel und Wege gefunden, Einschränkungen vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte zu rechtfertigen. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist die Kunstfreiheit, die faktisch den Einschränkungen des Art. 5 Abs. 2 GG unterworfen wird, wiewohl dessen Anwendung stets bestritten worden ist.27 Die Diskussion über immanente Grundrechtsschranken und sogenanntes „kollidierendes Verfassungsrecht“ kann hier nicht in ihrer Breite aufgenommen werden. Bemerkt sei jedoch, dass die dogmatischen Figuren des „kollidierenden Verfassungsrechts“28 oder der „Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang“29 schon deshalb nicht zu überzeugen vermögen, weil Gesetzesvorbehalte stets dem Schutz verfassungsrechtlich geschützter Rechtsgüter dienen und sie bei der postulierten Verfassungsimmanenz lediglich deklaratorischen Charakter hätten. Als Beispiel sei in diesem Zusammenhang das durch die Eindämmungsverordnungen erlassene Verbot von Zusammenkünften in Kirchen, Moscheen, Synagogen sowie die Zusammenkünfte anderer Glaubensgemeinschaften herangezogen.30 Die ungestörte Religionsausübung wird durch Art. 4 Abs. 2 GG gewährleistet. Unbeschadet der Frage, ob auch Riten nichtreligiöser Weltanschauungsgemeinschaften von Art. 4 Abs. 2 GG geschützt sind, fallen jedenfalls Gottesdienste in den Schutzbereich des Grundrechts und sind während der Geltungsdauer der Eindämmungsverordnungen verboten. 25 26 27 28 29 30

Vgl. letzthin BVerfG, Urt. v. 26. 02. 2020 – 2 BvR 2347/15 u. a. –, Rdziff. 223 ff. m.w.N. Vgl. H. Dreier, in: H. Dreier (Hrsg.), GG. Kommentar, Art. 19 I Rn. 25 ff. m.w.N. Vgl. J. Ipsen, Staatsrecht II, S. 144 f. Vgl. BVerfGE 52, 223 (246 f.); 93, 1 (21) st. Rspr. Vgl. BVerfGE 108, 282 (297); 138, 296 (333). So § 1 Abs. 5 Satz 1 der „Niedersächsischen Verordnung über die Beschränkung sozialer Kontakte zur Eindämmung der Corona-Pandemie“ v. 02. 04. 2020 (Nds. GVBl., S. 55).

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Auch andere Zusammenkünfte in geschlossenen Räumen, selbst wenn sie der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung dienen und somit nach der Rechtsprechung des BVerfG unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG fallen, unterliegen keinem Gesetzesvorbehalt.31 Auch hier behilft man sich zur Rechtfertigung gesetzlicher Einschränkungen der „kollidierenden Verfassungsrechtsgüter“32, wobei zweifelhaft ist, ob es sich nicht um eine Frage des „Schutzbereichs“ handelt. Ebenso wie die religiösen Zusammenkünfte sind sie schlechthin verboten. Ein Grundrecht, das durch die Eindämmungsmaßnahmen ebenfalls nachhaltig eingeschränkt wird, ist die Berufsfreiheit. Eine Vielzahl unterschiedlicher Einrichtungen und Geschäfte sind geschlossen, so dass deren Inhaber, Betreiber oder Angestellte ihrem Beruf nicht nachgehen können, also einem – wenn auch temporären – Berufsverbot unterliegen, das sich unter Umständen als existenzgefährdend auswirken kann. Eingriffe in die nach Art. 11 Abs. 1 GG gewährleistete Freizügigkeit im Bundesgebiet sind ebenfalls offensichtlich. Die Inseln in Nord- und Ostsee sind für den Besucherverkehr größtenteils gesperrt und stellen damit Einschränkungen der Freizügigkeit dar. Werden darüber hinaus Ausgehverbote erlassen bzw. das Verlassen der Wohnung von triftigen Gründen abhängig gemacht, so liegen hierin Eingriffe in die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) vor. Dass Quarantäne-Maßnahmen Eingriffe in die Bewegungsfreiheit darstellen, ist ohnehin offensichtlich. Man könnte die Reihe der durch die Eindämmungsmaßnahmen eingeschränkten Grundrechte nahezu beliebig fortsetzen, denn zu den unmittelbaren Eingriffswirkungen treten deren mittelbare Auswirkungen. So haben Einschränkungen der Freizügigkeit – etwa die Sperrung von Inseln für dort nicht ansässige Personen – Auswirkungen auch auf die Nutzung ihres Eigentums, wenn sie dort Ferienhäuser oder -wohnungen besitzen. Das Verbot jeglicher Zusammenkünfte und die Beschränkungen von Kontakten im öffentlichen Raum haben Rückwirkungen auch auf die Kommunikationsrechte, insbesondere die Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG. Dass durch die Eindämmungsmaßnahmen die allgemeine Entfaltungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) – unmittelbar und mittelbar – eingeschränkt sich, bedarf keiner weiteren Darlegung. 3. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Es entspricht gesicherter Rechtsprechung des BVerfG, dass die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte keine unbegrenzten Eingriffsbefugnisse ermöglichen, sondern dass gesetzgeberische Maßnahmen im Einzelfall dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Übermaßverbot) entsprechen müssen. Das Übermaßverbot wiederum lässt sich aufgliedern in das Erfordernis eines legitimen Zwecks, der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit (Angemessenheit, Proportionalität) der Maß-

31 Die enge Auslegung des Versammlungsbegriffs durch den Ersten Senat des BVerfG (BVerfGE 104, 92 (104)) ist umstritten, soll aber hier zugrunde gelegt werden. 32 So W. Höfling, in: M. Sachs (Hrsg.), GG, Art. 8 Rn. 80. 36

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nahme.33 Das legitime Ziel sämtlicher in der Vergangenheit ergriffener Maßnahmen ist die Eindämmung der verheerenden Folgen des Corona-Virus und damit der Schutz von Leben und Gesundheit der Bürger und bedarf keiner weiteren Begründung. Da das Virus von Mensch zu Mensch übertragen wird, sind die Einschränkungen sozialer Kontakte ebenso fraglos geeignet, das Ziel einer Eindämmung der Verbreitung des Virus zu erreichen. Fraglich könnte die Erforderlichkeit der getroffenen Maßnahmen sein, wobei stets auf die Erkenntnisse ex ante abzustellen ist und mit der Gewinnung neuer Erkenntnisse möglicherweise auch andere Maßnahmen geboten sind. Die Erforderlichkeit der Eindämmungsmaßnahmen kann nur im Vergleich mit anderen Maßnahmen beurteilt werden, setzt also Alternativen voraus, für die ein entsprechendes Erfahrungswissen vorliegen muss. Dass Eindämmungsmaßnahmen erforderlich sind, bedarf keiner weiteren Darlegung; fraglich kann nur sein, ob sämtliche angeordneten Maßnahmen dem Erforderlichkeitsgrundsatz entsprechen. Da es nach Auffassung der maßgeblichen Sachverständigen zur Eindämmung sozialer Kontakte keine Alternative gibt34, stellt sich deren Zulässigkeit sogleich als Frage der Angemessenheit, also der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es einer erneuten Qualifizierung der oben genannten Eindämmungsmaßnahmen. Sie sind grundrechtsdogmatisch Eingriffe oder Einschränkungen von Handlungsmöglichkeiten und anderen Schutzgütern, zu denen Gesetzesvorbehalte oder vorbehaltsähnliche Konstruktionen ermächtigen (sollen). Sie sind indes nur als Gesamtheit zu sehen und stellen nichts anderes als eine temporäre Suspendierung der grundrechtlich gewährleisteten Freiheiten dar. Um es zu wiederholen: Sind Zusammenkünfte in Kirchen, Moscheen oder Synagogen verboten, so ist die grundrechtlich gewährleistete Religionsausübungsfreiheit (Art. 4 Abs. 2 GG) während der Geltungsdauer der Verordnung suspendiert; denn die Teilnahme an einem Gottesdienst wäre eine Ordnungswidrigkeit, die mit einem Bußgeld geahndet werden könnte. Ebenso bedeutet die Schließung von Einrichtungen, Läden, Restaurants usw., dass deren Betreiber, Inhaber und Angestellte vorübergehend ihren Beruf nicht ausüben dürfen und deshalb ihr Grundrecht der Berufsausübungsfreiheit vorübergehend suspendiert ist. Für die anderen Grundrechtseinschränkungen – insbesondere nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 11 Abs. 1 GG – gilt das Gleiche. Die Eindämmungsmaßnahmen lassen sich in ihrer Verfassungskonformität folglich nur beurteilen, wenn sie in ihrer jeweiligen Interdependenz, mithin als einheitliches Ganzes 33 St. Rspr. des BVerfG. Eine geradezu schulmäßige Prüfung des Übermaßverbots findet sich im jüngsten Urteil des Zweiten Senats zu § 217 StGB; vgl. oben Fn. 25. 34 Die Romanautorin Juli Zeh hat sich unter der Überschrift „Es gibt immer eine Alternative“ für eine sog. „Herdenimmunität“ als „möglicherweise sinnvolle Alternative“ ausgesprochen und den handelnden Politikern „ziemliche Kopflosigkeit“ attestiert (Süddeutsche Zeitung v. 04./ 05. 04. 2020, S. 17). Angesichts täglich steigender Infektionen und Todesfälle ist es schwer begreiflich, dass eine Juristin (die Juli Zeh auch ist), es für eine „Alternative“ hält, dass der Staat sehenden Auges eine noch größere Zahl schwerer Infektionen und damit von Todesopfern in Kauf nimmt. Darauf lässt sich nur erwidern: si tacuisses. Recht und Politik, Beiheft 7

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in den Blick genommen werden. Dass hierbei landesspezifische Unterschiede bestehen, ist eine Folge des föderalistischen Staatsaufbaus und als solche zu respektieren. Eine derart ganzheitliche Betrachtung kann nicht ohne Auswirkungen auf die Prüfung der Verhältnismäßigkeit bleiben. Lässt sich das mit den Eindämmungsverordnungen verfolgte legitime Ziel nur dadurch erreichen, dass soziale Kontakte soweit als möglich unterbunden werden, so wird man schwerlich an der Angemessenheit der getroffenen Maßnahmen zweifeln können.

V. Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts Das BVerfG hat in Gestalt der 2. und 3. Kammer des 1. Senats drei Beschlüsse gefällt, mit denen Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt wurden. Der erste Beschluss erging am 7. April 2020.35 Der Antrag wurde zwar als zulässig angesehen, obwohl der Rechtsweg nicht erschöpft war. Die Kammer hielt die Verweisung auf den Rechtsweg für den Antragsteller allerdings als unzumutbar, weil der zuständige Verwaltungsgerichtshof entsprechende Anträge bereits zurückgewiesen hatte. Damit war der Weg geöffnet, in der Sache zu entscheiden, wobei betont wurde, dass nur eine Folgenabwägung vorzunehmen sei. Nach ständiger Rechtsprechung war die Konstellation, dass die einstweilige Anordnung erginge, die Verfassungsbeschwerde aber keinen Erfolg hätte, mit der Möglichkeit abzuwägen, dass die beantragte einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte.36 Die Kammer geht davon aus, dass nach Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung die Gefahr der Ansteckung mit dem Virus, der Erkrankung vieler Personen, der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtungen bei der Behandlung schwerwiegender Fälle und schlimmstenfalls des Todes von Menschen sich nach derzeitigen Erkenntnissen erheblich erhöhen würde.37 Die Folgen der angegriffenen Schutzmaßnahme seien demgegenüber zwar schwerwiegend, aber nicht untragbar. Gegenüber den Gefahren für Leib und Leben wögen die Einschränkungen der persönlichen Freiheit weniger schwer. Insofern sei auch zu berücksichtigen, dass die angegriffenen Regelungen von vornherein befristet und für die Ausgangsbeschränkungen zahlreiche Ausnahmen vorgesehen seien.38 Obwohl das Gericht betont, im Verfahren der einstweiligen Anordnung die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegzunehmen, ist nicht zu übersehen, dass die Folgenabwägung strukturell nichts anderes bedeutet als die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Bemerkenswert ist dabei, dass die zeitliche Beschränkung der Maßnahmen ebenso in Rechnung gestellt wird wie die zahlreichen Ausnahmen, die freilich gerade auf den Beschwerdeführer nicht zutreffen mussten. 35 36 37 38 38

BVerfG, 3. Kammer des 1. Senats, Beschl. v. 07. 04. 2020 – 1 BvR 755/20 –. So BVerfG, a.a.O., S. 4. So BVerfG, a.a.O., S. 4. So BVerfG, a.a.O., S. 5. Recht und Politik, Beiheft 7

Notstandsverfassung und Corona-Virus

In den beiden Beschlüssen der 2. Kammer des 1. Senats vom 10. April 202039 wurden Bestimmungen landesrechtlicher Verordnungen angegriffen, die ein Verbot von Zusammenkünften in Kirchen, Moscheen und Synagogen enthielten. Die Kammer sieht hierin zwar einen „schwerwiegenden Eingriff in die Glaubensfreiheit“, hält diesen indes „zum Schutz von Gesundheit und Leben“ für „derzeit vertretbar“, zumal das Verbot öffentlicher Gottesdienste befristet sei.40 Betont wird allerdings, dass auch weiterhin eine „strenge Prüfung“ der Verhältnismäßigkeit des Verbots von Gottesdiensten vorzunehmen und zu untersuchen sei, ob es angesichts neuer Erkenntnisse über die Verbreitung des Virus gelockert werden könne.41

VI. Zusammenfassung und Ausblick Die Bestimmungen der Notstandsverfassung des Grundgesetzes sind angesichts der Bedrohung durch das Corona-Virus nicht einschlägig und – soweit anwendbar – nicht hilfreich. Gesetzgeberische und administrative Maßnahmen waren wegen der rasanten Ausbreitung des Virus und der täglich zunehmenden Krankheits- und Todesfälle unabweisbar. Dass die Staatsorgane sich hierbei des Sachverstandes der Wissenschaft bedient haben, verdient alle Anerkennung, vermag indes die Verantwortung der politischen Entscheidungsträger nicht zu mindern. Insofern kann im Rückblick allenfalls kritisiert werden, dass die Eindämmungsmaßnahmen zu spät erfolgt sind und ein früheres Einschreiten möglicherweise die Verbreitung des Virus hätte verlangsamen können, was zu beurteilen dem medizinischen Laien allerdings nicht zusteht. Wie stets in Notstandsfällen erwächst ein zunehmender Handlungsdruck auf die zuständigen Staatsorgane, der geeignet ist, sie zur Überschreitung verfassungsrechtlicher Grenzen zu veranlassen. Beispiele hierfür sind die im Vorfeld der Novelle zum Infektionsschutzgesetz erwogenen Dienstverpflichtungen, die im Widerspruch zu Art. 12 Abs. 2 GG stehen. Die temporäre Suspendierung grundrechtlich geschützter Freiheiten ist in der Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik ohne Beispiel, wie auch die Pandemie als solche beispiellos ist. Wenngleich es nicht ausgeschlossen ist, dass einzelne Vorschriften der Eindämmungsverordnungen durch Gerichte für rechtswidrig erklärt werden, halten die ergriffenen Maßnahmen einer verfassungsrechtlichen Prüfung am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips stand. Diese Prüfung – auch durch die Kammern des BVerfG – deutet darauf hin, dass sich eine Art „parakonstitutionelles“ Notstandsrecht bilden könnte. Dieses wäre dadurch gekennzeichnet, dass die unterschiedlichen Eingriffsmöglichkeiten in Grundrechte – mit oder ohne Gesetzesvorbehalt – eingeebnet werden, ihre Befristung und ständige Überprüfung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit aber eine Sicherung gegen Missbrauch bilden würde.

39 BVerfG, 2. Kammer des 1. Senats, Beschl. v. 10. 04. 2020 – 1 BvQ 28/20 u. 1 BvQ 31/20 –. 40 So BVerfG, 2. Kammer des 1. Senats, Beschl. v. 10. 04. 2020 – 1 BvQ 31/20 –, S. 7. 41 So BVerfG, a.a.O. Recht und Politik, Beiheft 7

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Grundrechtsschutz in der Corona-Pandemie* Von Oliver Lepsius Nach Art. 1 Abs. 3 GG binden die Grundrechte die Gesetzgebung, die vollziehende und die rechtsprechende Gewalt. Bindung meint nicht nur Begrenzung. Es hieße die Aufwertung und Bedeutung der Grundrechte, die Art. 1 Abs. 3 GG ausdrückt, verkennen, wollte man Grundrechten lediglich eine limitierende Wirkung zuerkennen, sie nur als subjektive Abwehrrechte verstehen. Darin erschöpft sich Art. 1 Abs. 3 GG jedenfalls nicht und wäre es so, bedürfte es nicht des Art. 19 Abs. 4 GG, der individuellen Rechtsschutz grundrechtlich absichert. Von Anbeginn haben wir in der Bundesrepublik die Rechtsordnung materiell aus den Grundrechten begründet: Die Rechtsordnung ist nicht nur legitim, weil sie von zuständigen Organen in dafür vorgesehenen Verfahren geschaffen ist, sondern auch, weil sie in der Werthaftigkeit einer grundrechtlichen Ordnung verwurzelt ist. Entsprechend haben Grundrechte – und das ist durchaus eine Eigenheit der deutschen Verfassungsordnung – eine Doppelfunktion: Sie sind individuelle Freiheitsrechte und objektive Gestaltungsvorgaben.1 Für diese Doppelnatur steht seit 1958 das Lüth-Urteil Pate.2 Auf die Ausgestaltung der Doppelnatur haben die Rechtsprechung des BVerfG und die Verfassungsrechtswissenschaft siebzig Jahre Sorgfalt und Kreativität verwendet.3 Grundrechtsschutz ist folglich keine Einbahnstraße, die beim Individuum beginnt, sondern ein Versprechen des Grundgesetzes, das von allen Staatsgewalten umgesetzt werden muss. Die Rechtsordnung als solche, nicht nur die Rechtsstellung des Einzelnen, soll eine freiheitliche sein. Bevor auf die konkreteren Fragen eingegangen werden kann, ob und wie sich die Lage der Grundrechte in Zeiten der Corona-Pandemie verändert hat, müssen wir uns zunächst der Grundrechtswirkung im verfassungs* 1

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Zuerst in: RuP 3/2020, 258 – 281. Überblicke über die Funktionen etwa bei Horst Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993; ders., in: H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Band I, 3. Aufl. 2013, Vorbem. Vor Art. 1 GG Rn. 82 – 108; Wolfgang Kahl, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 24; Hans D. Jarass, Die Grundrechte: Abwehrrechte und objektive Grundsatznormen, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG, Band I, 2001, S. 35 – 53. BVerfGE 7, 198 – Lüth [1958], siehe Paolo Ramadori, Grundrechte als objektive Werte: Das Lüth-Urteil (I), in: D. Grimm (Hrsg.), Vorbereiter – Nachbereiter, 2020, S. 39 – 71; Helmuth Schulze-Fielitz, Das Lüth-Urteil – nach 50 Jahren, in: JURA 2008, 52 – 57; T. Henne/A. Riedlinger (Hrsg.), Das Lüth-Urteil in (rechts‐)historischer Sicht, 2005. Zum Anspruch der Verfassung Uwe Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, 2013, § 3.

Recht und Politik, Beiheft 7 (2021), 40 – 63

Duncker & Humblot, Berlin

Grundrechtsschutz in der Corona-Pandemie

rechtlichen Normalzustand zuwenden. Erst danach ist in einem zweiten Schritt die Analyse der Corona-geprägten Gegenwart möglich.

I. Grundrechtsschutz im verfassungsrechtlichen Normalzustand 1. Grundrechtsschutz durch Gesetze Das Grundgesetz bezieht den Schutz der Grundrechte zunächst auf die Norm des Gesetzes. Gesetze werden vom Grundgesetz nicht nur als Ermächtigungsgrundlage für Freiheitseingriffe verstanden, sondern auch als Mittel zur Ausgestaltung von Grundrechten. Man denke nur an Eigentum, das ohne Gesetze normativ nicht existierte und dann auch nicht grundrechtlich geschützt werden könnte. Generell gilt, dass grundrechtliche Schutzbereiche maßgeblich erst einmal durch Gesetze ausgestaltet werden – „geprägt werden“, wie es oft heißt. Das Gesetz hat die Aufgabe, der grundrechtlichen Freiheit zur Wirkung in der Rechtsordnung zu verhelfen. Vom Gesetz erwarten wir, dass es auf der Seite der Grundrechte steht und ihnen Resonanz im einfachen Rechts verschafft. Wenn das einfache Recht ein grundrechtsgeprägtes ist, erhöht dies die Wirkmächtigkeit der Grundrechte gegenüber einer Konzeption, in der Grundrechte lediglich als Abwehrrechte auf der Ebene des Verfassungsrechts wirken. Um Grundrechte einfachrechtlich zu verwirklichen, müssen Gesetze Grundrechtskonflikte bewältigen, denn die Ausgestaltung des einen Grundrechts hat Effekte auf ein anderes Grundrecht. Gesetzliche Grundrechtsausgestaltung setzt einen Ausgleich konfligierender Belange voraus. Rechte zeichnen sich dadurch aus, dass sie an anderer Stelle Pflichten auslösen. Gestalten Gesetze Grundrechte aus, müssen sie auch die damit verbundenen Pflichten normieren, die wiederum andere verfassungsrechtlich geschützte Belange und Rechtsgüter betreffen. Das grundrechtsausgestaltende Gesetz muss folglich Rechtsgüterkonflikte bewältigen. Gesetze sind dann das primäre Mittel, um Grundrechtskonflikte auszugleichen. Ob eine gesetzliche Regelung in ein Grundrecht eingreift, ist oft eine Frage der Perspektive: Was für den einen ein Eingriff ist, stellt sich aus der Perspektive des anderen als Ausgestaltung dar. Das Grundgesetz thematisiert diese Doppelfunktion des Gesetzes für die Grundrechte (Ausgestaltung und Ausgleich) typischerweise über die Gesetzesvorbehalte in den Grundrechtsartikeln. Rechtsprechung und Lehre haben aus den staatsorganisationsrechtlichen Bezügen weitere Kriterien entwickelt, die die Ausgestaltungs- und Ausgleichsaufgabe des Gesetzes untermauern und einfordern.4 Genannt sei vor allem die

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Überblicke etwa bei Oliver Lepsius, Gesetz und Gesetzgebung, in: Handbuch des Verfassungsrechts, i.E. 2020, Rn. 46 – 68; Franz Reimer, Das Parlamentsgesetz als Steuerungsmittel und Kontrollmaßstab, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Band I, 2. Aufl. 2012, § 9 B. II/III; Helmuth Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Band II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 113 ff. m.w.N.

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Wesentlichkeitslehre.5 Der Gesetzgeber müsse die wesentlichen Dinge selbst regeln und dürfe sie nicht an andere Gewalten delegieren, weder an die Exekutive (Verordnungsermächtigung) noch an die Judikative (unbestimmte Rechtsbegriffe, Generalklauseln). Das Wesentliche wurde vom BVerfG als das jedenfalls grundrechtlich Relevante bestimmt. Mit anderen Worten: Betreffen Regelungsgegenstände mehrere Grundrechte, deren Schutzbereiche konfligieren, bedarf es einer gesetzlichen Grundentscheidung dieses Konflikts. Überließe man diese Grundentscheidung anderen Gewalten, verkürzte das bereits die breite Wirkung der Grundrechte, die das Grundgesetz bezweckt. 2. Grundrechtsschutz durch Gesetzgebung Diese inhaltlichen Funktionen des Grundrechtsschutzes durch Gesetze (Ausgestaltung und Ausgleich) werden durch die Organisation und das Verfahren der Gesetzgebung unterstützt. Gesetzgebung ist zuvörderst Aufgabe der Parlamente (Bundestag, Landtage), weil in ihnen die auszugleichenden Interessen mittels Repräsentation vertreten sind. Die Verfassungsordnung kennt kein Organ, das die Gesellschaft besser und pluraler abbildet als ein Parlament. Deshalb ist dieses Organ kraft seiner Zusammensetzung und Legitimation am geeignetsten, die konfligierenden Belange bereits auf einer generell-abstrakten Regelungsstufe zu artikulieren und zu schlichten. Die Idee des „Parlamentsvorbehalts“, die von der Karlsruher Rechtsprechung regelmäßig hervorgehoben wird,6 drückt die Zuweisung der politisch wichtigen (Abwägungs‐)Entscheidungen an dieses Organ aus. Dort sind die organisatorischen Vorbedingungen für die normative Bewältigung von Grundrechtskonflikten am besten. Überdies trägt das parlamentarische Verfahren der Ausgestaltung und Abwägung am besten Rechnung: Parlamente verhandeln und entscheiden öffentlich, so dass Transparenz herrscht und die zivilgesellschaftlichen Kontrollen eingreifen können. Parlamente entscheiden nach dem Mehrheitsprinzip, was notgedrungen zu Kompromissen führt, denn Mehrheiten müssen gebildet werden; sie existieren nicht prima facie. Kompromissbereitschaft erhöht die Wahrscheinlichkeit, die Mehrheitsentscheidung des Organs beeinflussen zu können. Für Ausgestaltung und Ausgleich sind dies günstige Bedingungen. Mit den nicht öffentlich tagenden Ausschüssen verfügen Parlamente zudem über Gliederungen, die das gegenseitige Nachgeben ausloten und Kompromisse vorbereiten. Und schließlich ist die parlamentarische Entscheidung abänderbar, ohne dass deswegen das Parlament sein Gesicht verliert, während andere Gewalten immer in der Gefahr stehen, die Glaubwürdigkeit oder Expertise zu verlieren, wenn sie sich nachträglich korrigieren. Das Parlament ist das einzige Organ, das sich durch Kompromisse institutionell gerade nicht kompromittiert – und das ist eine weitere günstige Bedingung für das ständige Tarieren von Ausgestaltung und Ausgleich. 5 6

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Leitentscheidungen sind BVerfGE 40, 237 (250) – Strafvollzugsverordnung [1975]; BVerfGE 49, 89 (125) – Kalkar [1978]; 68, 1 (86) – Nachrüstung [1984]. Leitentscheidungen sind BVerfGE 40, 237(249 f.) – Strafvollzugsverordnung [1975]; 83, 130 (142, 150) – Josefine Mutzenbacher [1990]; 108, 282 (312) – Kopftuch I [2003]; 147, 253 (310) – Studienplatzvergabe Humanmedizin [2017]. Recht und Politik, Beiheft 7

Grundrechtsschutz in der Corona-Pandemie

3. Grundrechtsschutz durch Gewaltenteilung Sodann fördert die Trennung von gesetzgebender und vollziehender Gewalt den Grundrechtsschutz, weil dadurch institutionell zwischen der Ebene der generell-abstrakten Normerzeugung (Gesetz) und jener der individuell-konkreten Rechtserzeugung (Verwaltungsakt, Urteil) getrennt werden muss. Dieselbe Norm (das Gesetz) wird dadurch in zwei unterschiedlichen Regelungssituationen legitimiert, zum einen auf der abstrakten Konfliktebene (Rechtsgüterausgleich für eine Vielzahl für Fälle) und zum anderen auf der konkreten Vollzugsebene (Tatsachensubsumtion im Einzelfall). In dieser Trennung liegt ein spezifischer freiheitlicher Mehrwert, der als Normkonkretisierung ausgedrückt wird. Auf der Ebene der Rechtfertigung des Gesetzes werden Konflikte nämlich anders behandelt als auf der Ebene der Rechtfertigung der einzelnen Maßnahme. Über gesetzliche Regelungen lassen sich andere Verständigungen erzielen als über einzelne Eingriffsakte, weil im ersten Fall gesellschaftliche Belange und im zweiten Fall individuelle Interessen auf dem Spiel stehen. Beide Ebenen unterscheiden sich in der Eingriffsintensität: Typischerweise greift das Gesetz selbst nicht in Grundrechte ein (es sei denn, das Gesetz ist ausnahmsweise self-executing), sondern bedarf für einen Eingriff des Vollzugsaktes. Erst dieser führt dann zur tatsächlichen Verkürzung der geschützten Freiheit. Die Freiheitsverkürzung durch den Vollzugsakt setzt wiederum einen konkreten Fall voraus. Der Sachverhalt, also die Tatsachen im Einzelfall leiten die Subsumtion des generell-abstrakten Gesetzes an. Auf dasselbe Gesetz können folglich ganz unterschiedliche Eingriffe gestützt werden, weil die faktischen Anwendungsbedingungen des Gesetzes entsprechend vielfältig sein können. Anders ausgedrückt: Subsumtion und Normkonkretisierung ermöglichen über die Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls Freiheitsgewinne – oder auch Freiheitsverluste, jedenfalls eine Tarierung und Taxierung der Grundrechtswirkung. 4. Grundrechtsschutz durch Rechtsprechung Erst wenn diese drei Stufen der Grundrechtsverwirklichung und des Grundrechtsschutzes durchlaufen sind, kommt die gerichtliche Rechtsschutzfunktion ins Spiel. Institutionell sind Gerichte Organe des individuellen Rechtsschutzes, nicht des objektiven Schutzes der Grundrechte. Einen solchen Schutz könnten sie in der Breite auch gar nicht erbringen (sie entscheiden nur Fälle und dies rückwirkend und auf Antrag). Eine Rechtsordnung, die für den Grundrechtsschutz nur auf Gerichte vertraute, wäre keine sehr freiheitliche. Denn wie viele Grundrechtskonkretisierungen ergehen täglich mit Rechtskraft und wie wenige davon werden gerichtlich überprüft (und können und sollen auch überprüft werden angesichts der Knappheit der Ressource Rechtsprechung und des mit Rechtsprechung einhergehenden Zeitverlustes bei der Grundrechtskonkretisierung). Eine freiheitliche Ordnung muss daher den Grundrechtsschutz systemisch schon vorher gewährleisten. In Deutschland bewirkt die Verfassungskontrolle des BVerfG einen objektiven Freiheitsschutz, der über die Gewähr subjektiven Rechtsschutzes hinausgeht. Das BVerfG hält daran fest, dass die Verfassungsbeschwerde zumindest auch der objektiven FortRecht und Politik, Beiheft 7

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bildung des Verfassungsrechts dient.7 Auch Normenkontrollverfahren sind objektivrechtlich ausgerichtet. Es darf als eine große Leistung des BVerfG bezeichnet werden, eine dynamische Kontrolle entwickelt zu haben, die mit einem graduellen Maßstab operiert, der individuellem und systemischem Schutz der Grundrechte dient: Je intensiver der Eingriff, desto höher die Rechtfertigungshürden. Verantwortlich dafür ist vor allem der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der den zentralen materiellen Prüfungsmaßstab liefert.8 Er erfasst alle obigen grundrechtlichen Sicherungen in einer richterlichen Kontrollperspektive: die Doppelfunktionalität des Gesetzes (Eingriff und Ausgestaltung) auf der abstrakten Ebene genauso wie die Tatsachenrelevanz auf der Vollzugsebene. Analysiert man die Prüfungstechnik der Verhältnismäßigkeitsprüfung näher, wird man feststellen, dass Verhältnismäßigkeit keine abstrakte Prüfung ermöglicht, sondern präzisere Ergebnisse bringt, wenn ein Vollzugsakt vorhanden ist. Die Relationierung von Zweck und Mittel setzt einen konkreten Normbezug voraus: Dann können die konfligierenden Schutzgüter präzise bestimmt und auch in der Intensität, in der sie betroffen sind, taxiert werden. Dann kann das gewählte Mittel am Maßstab dieser Schutzgüter auf seine Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit weiter überprüft werden. Ohne Tatsachen kann man keine belastbare Aussage über die Geeignetheit des Mittels treffen und auch nicht ermitteln, ob es mildere, gleichgeeignete Mittel gegeben hätte, dasselbe Ziel zu erreichen (Erforderlichkeit). Und auch die Stufe der Angemessenheit profitiert von einer tunlichst konkreten Konfliktsituation, denn dann kann zwischen den normativ gleichberechtigten Grundrechten eines im Einzelfall, im Angesicht der Intensität der betroffenen Schutzgüter bevorzugt werden.9 Nichts ist irreführender als die Vorstellung, es käme hier zu einer Abwägung der Schutzgüter. Nicht die Grundrechte als solche werden in der Verhältnismäßigkeitsprüfung abgewogen, sondern es wird punktuell über die Angemessenheit von Konkretisierungsszenarien entschieden. Man nennt dies praktische Konkordanz (Konrad Hesse) oder den schonenden Ausgleich (Peter Lerche). Das alles erklärt, warum die Verhältnismäßigkeitskontrolle besonders gut zum Verfahren der Urteilsverfassungsbeschwerde passt. Bei ihr geht es um konkrete Freiheitseinbußen, die im Tatsächlichen durch die Instanzgerichte vollständig aufgeklärt sind. Die Prüfungsstruktur verdeutlicht aber auch, warum eine Kontrolle des Gesetzes (Perspektive der Normenkontrolle, nicht der Urteilsverfassungsbeschwerde) mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz weniger gut funktioniert. Ohne Vollzugsakt fehlt es an einer Konkretisierung des Eingriffs, was die Konkretisierung der konfligierenden 7 8

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Näher Christoph Gusy, Die Verfassungsbeschwerde, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG, Band I, 2001, 641 – 671. Siehe Bernhard Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG, Band II, 2001, S. 445 – 465; Ralf Poscher, Verhältnismäßigkeit, in: Handbuch des Verfassungsrechts, i.E. 2020. Zur Wirkungsweise der Verhältnismäßigkeitsprüfung näher Oliver Lepsius, Chancen und Grenzen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, in: M. Jestaedt/ders. (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, S. 1 (10 – 16). Recht und Politik, Beiheft 7

Grundrechtsschutz in der Corona-Pandemie

Rechtsgüter erschwert. Betrachtet man ein Gesetz abstrakt, kann man über Eingriffe nur hypothetische Aussagen treffen. Die Intensität eines Eingriffs kann prognostiziert werden ohne dass man die tatsächliche Relevanz und Schwere kennt. Ohne die Tatsachen des Einzelfalls bleiben Prüfungen der Geeignetheit und Erforderlichkeit eher hypothetischer Natur. Es geht auf der generell-abstrakten Ebene des Gesetzes nicht um subsumtionsfähige Fakten des Einzelfalls, sondern um verallgemeinerbare, erkenntnisleitende Fakten (legislative facts, wie man in den USA sagt). Diese Fakten können statistisch aggregiert oder auch prognostiziert werden, sie sind aber nicht beweisbar. Das führt zwangsläufig zu einer anders strukturierten Verhältnismäßigkeitsprüfung mit einer eingeschränkten Kontrolldichte. Und schließlich lassen sich bei einer abstrakten Normenkontrolle des Gesetzes auf der Prüfungsstufe der Angemessenheit die Rechtsgüter oft in keine sinnvolle Beziehung setzen, weil die Konfliktsituation zu abstrakt bleibt, so dass nicht zwischen normativ gleichrangigen Schutzgütern entschieden werden kann. Das ginge nur, wenn man die Schutzgüter bereits abstrakt hierarchisiert, das eine für wertvoller hielte als ein anderes oder dem einen höchsten Wert zubilligte. Eine abstrakte Hierarchisierung der Grundrechte lässt das Grundgesetz aber nicht zu. Alle Grundrechte sind in der Verfassung normativ gleichberechtigt. Als Fazit kann dann festgehalten werden: Grundrechtsschutz durch Rechtsprechung funktioniert besser gegenüber Einzelakten (Konstellation der Verfassungsbeschwerde) als gegenüber generell-abstrakten Normen (Konstellation der Normenkontrolle). Diese Schlussfolgerung ist vor dem Hintergrund des Staatsorganisationsrechts auch stimmig: Die Rechtsbindung der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt ist nach Art. 20 Abs. 3 GG intensiver als die Verfassungsbindung der Legislative. Diese verfügt über eine unmittelbare demokratische Legitimation, die zum Organrespekt durch die Verfassungsgerichtsbarkeit führen muss. Dass die Legislative nach dem Mehrheitsprinzip entscheidet, heißt im Übrigen auch, dass sie ihre Entscheidungen als Mehrheitsentscheidung begründen kann; sie braucht also grundsätzlich keine sachlichen Gründe. Das Mehrheitsprinzip befreit von weiterer inhaltlicher Rechtfertigung, denn Mehrheit ist Mehrheit. Es setzen sich dann politische Überzeugungen der Mehrheit gegenüber sachlichen Gründen, die überprüft werden können, durch. 5. Zivilgesellschaftlicher und föderativer Grundrechtsschutz Ergänzend sei noch auf zwei weitere strukturelle Ausprägungen des Grundrechtsschutzes verwiesen: Grundrechte werden nicht nur durch hoheitliche Organe, sondern zuvörderst erst einmal durch die Bürger geschützt. Denn die Bürger betätigen die Grundrechte und hauchen ihnen dadurch erst Leben ein. Ohne freiheitliches Verhalten könnte auch nichts grundrechtlich geschützt werden. In der Rechtsprechung des BVerfG wird dieser Aspekt als Selbstverständnis des Grundrechtsträgers bei der Bestimmung grundrechtlicher Schutzbereiche berücksichtigt.10 Das BVerfG lehnt es typischerweise ab, Schutzbereiche selbst autoritativ festzulegen und es kann auch anderen 10 Siehe Martin Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993. Recht und Politik, Beiheft 7

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hoheitlichen Gewalten dabei keinen Vorrang einräumen. In der Literatur wird dieser Aspekt seit Peter Häberle mit der Formel der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ auf den Punkt gebracht.11 Hinweisen möchte ich schließlich auf die freiheitliche, grundrechtsschützende Funktion des Föderalismus. In der Bundesrepublik führt die bundesstaatliche Ordnung vor allem dazu, dass die besonders freiheitssensible Vollzugsebene nicht zentralisiert, sondern auf 16 Landesverwaltungen aufgeteilt ist. Bundesgesetze werden typischerweise nicht durch den Bund vollzogen, sondern durch einen anderen Rechtsträger. Auf der Ebene der unteren Verwaltungsbehörde ist dies oft nicht einmal das Land, sondern eine Kommune (besonders etwa im überkommunalisierten NRW, wo untere Landesverwaltungsbehörden die Ausnahme sind). Allein schon durch die Vervielfachung der Zuständigkeiten erbringt der deutsche Vollzugsföderalismus einen Freiheitsgewinn durch horizontale Gewaltenteilung, politische Unabhängigkeit und alternative Lösungen in einem Wettbewerb der Zweckmäßigkeit. Der grundrechtsförderliche Effekt des Föderalismus kann überdies auch schon auf der Ebene der Gesetzgebung zum Tragen kommen, weil über die Mitwirkung des Bundesrates bei der Gesetzgebung des Bundes die Kompromiss- und Ausgleichskultur des politischen Systems gefördert wird.

II. Der Grundrechtsschutz in der Parallelrechtsordnung des Corona-Rechts Durch Covid-19 ist in der Bundesrepublik seit März 2020 eine Parallelrechtsordnung entstanden. Nahezu alle Verhaltensformen werden inzwischen unter infektionsschutzrechtlichem Aspekt einem Sonderrecht unterzogen, das materiell aus Verordnungsrecht besteht. Zuständig sind nach § 32 IfSG die Landesregierungen; der Bundesgesundheitsminister wurde im März 2020 durch die Änderung des § 5 IfSG zum Erlass von Spezialverordnungen (Krankenhausorganisation, Personalplanung, Einreisekontrolle u.v.m.) ermächtigt.12 Diese Verordnungen haben sich über nahezu das gesamte öffentliche Leben gelegt und erzeugen eine Parallelrechtsordnung. Es handelt sich nicht um Ausnahmen oder ein Notstandsrecht, denn es wird keine Bestimmung

11 Peter Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, 297 ff.; siehe auch ders., Verfassungsgerichtsbarkeit in der offenen Gesellschaft, in: van Ooyen/Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl. 2015, S. 31 ff. 12 Änderungsgesetz v. 27. 03. 2020, BGBl. I S. 587. Kritische Einschätzung der Ermächtigung des Bundesgesundheitsministers durch das Gesetz zur Reform des IfSG durch Christoph Möllers, Parlamentarische Selbstentmächtigung im Zeichen des Virus, in: www.verfassungsblog.de v. 26. 03. 2020; ders./Florian Meinel, Eine Pandemie ist kein Krieg, F.A.Z. v. 20. 03. 2020; Anika Klafki, Neue Rechtsgrundlagen im Kampf gegen Covid-19, in: www.verfassungsblog.de v. 19. 03. 2020. 46

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Grundrechtsschutz in der Corona-Pandemie

des geltenden Rechts außer Kraft gesetzt.13 Das wäre mit der Rechtsquelle der Verordnung schon normenhierarchisch nicht möglich.14 Es geht weder um einen Notstand noch um einen Ausnahmezustand, sondern um eine Parallelrechtordnung. Die prinzipielle Veränderung, die in der Errichtung der Parallelrechtsordnung liegt, wurde prägnant auf der Homepage des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege ausgedrückt. Dort konnte man klipp und klar lesen: „In Bayern wurde der Katastrophenfall ausgerufen. Rechtsverordnungen, Allgemeinverfügungen und Bekanntmachungen der Bayerischen Staatsregierung regeln das öffentliche und private Leben.“15 Mit der Parallelrechtsordnung wird in fast alle Grundrechte eingegriffen. Zu präventiven Zwecken werden repressive Mittel eingesetzt, so dass es zu umfassenden Freiheitseingriffen kommt, die in der Bandbreite hier nicht nachgezeichnet werden müssen.16 Verschont blieben lediglich die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) und die Kommunikationsfreiheiten (Art. 10 GG), vor allem, weil sie digital umsetzbare Verhaltensformen ermöglichen, die seuchenrechtlich irrelevant sind. Alle anderen grundrechtlich geschützten Belange wurden vom Corona-Recht allerdings erfasst und mitgeregelt. Dadurch ist eine Rechtsordnung entstanden, die sich noch im Februar 2020 niemand vorstellen konnte: Der effektive Freiheitsgebrauch hängt nun flächendeckend von Rechtsverordnungen ab. Das entspricht in keiner Weise einer Verfassungsordnung, deren Grundrechtsschutz im Normalzustand ich soeben umschrieben habe. Im folgenden Abschnitt werden die Abweichungen näher analysiert. Gleichen wir also den verfassungsrechtlichen Normalzustand mit den Erscheinungsformen und Entscheidungsstrukturen der Corona-Parallelrechtsordnung ab. 1. Unzureichende generell-abstrakte Grundentscheidungen Anders als das Parlamentsgesetz ist die Rechtsverordnung keine Rechtsquelle der Ausgestaltung oder des Ausgleichs, schon gar nicht des Kompromisses. Für den Grundrechtsschutz sind Rechtsverordnungen schon aufgrund ihrer normativen 13 Zur verfassungsrechtlichen Konzeptionalisierung vgl. Anna-Bettina Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020; als verwaltungsrechtliche Regelung siehe Tristan Barczak, Der nervöse Staat, 2020. 14 Versucht wurde dies in Bayern als die Stichwahl bei der Kommunalwahl am 29. 3. 2020 zunächst auf dem Verordnungswege zwingend als Briefwahl durchgeführt werden sollte. Der Bayerische Landtag änderte dann aber noch rechtzeitig das Gemeinde- und Landkreiswahlgesetz. Vgl. zur damaligen Diskussion Andreas Gietl/Fabian Michl, Anordnung der Briefwahl verfassungswidrig, www.lto.de v. 20. 03. 2020. 15 Unter https://www.stmgp.bayern.de/coronavirus/ abgerufen am 23. 04. 2020. Der am 16. 3. 2020 ausgerufene Katastrophenfall wurde mit Ablauf des 16. 06. 2020 aufgehoben. 16 Man vgl. dafür frühe Stellungnahmen, etwa Andrea Edenharter, Freiheitsrechte ade?, in: www.verfassungsblog.de v. 19. 03. 2020; Thorsten Kingreen, Whatever it Takes?, in: www.verfassungsblog.de v. 20. 3. 2020; Uwe Volkmann, Der Ausnahmezustand, in: www.verfassungsblog.de v. 20. 3. 2020; Oliver Lepsius, Vom Niedergang grundrechtlicher Denkkategorien in der Corona-Pandemie, in: www.verfassungsblog.de v. 06. 04. 2020. Recht und Politik, Beiheft 7

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Grundeigenschaften weder vorgesehen noch geeignet. Von einer Rechtsverordnung erwartet man einen anderen Normierungsbeitrag als vom Gesetz. Beide Rechtsquellen sollen im Rechtsstaat nicht austauschbar sein, sondern arbeitsteilig wirken.17 Das Gesetz soll nicht überfrachtet werden, die Rechtsverordnung mehr als nur das Wesentliche regeln. Von ihr erwarten wir Detailregelungen, das Nachzeichnen des Gesetzes, das Überführen von Regelungsprogrammen in hinreichend bestimmte und exakte Vollzugsprogramme.18 Entsprechend soll und kann der Ausgleich von kollidierenden Grundrechten nicht Aufgabe der Rechtsverordnung sein, sondern muss bereits durch das Gesetz geleistet werden. Die Verordnung zeichnet das Regelungsprogramm im Rahmen der gesetzlichen Bindungen nach und gestaltet dieses Programm aus, substituiert aber nicht das Gesetz. Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG bringt diese kompetentielle, rechtsformenbezogene Erscheinungsform des Gesetzesvorbehalts zum Ausdruck: Wenn der Gesetzgeber Regelungsprogramme an die Regierung delegiert, dann muss er Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmen. Die Bestimmung der Delegationsgrenzen des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG ist im Einzelfall schwierig, weil der Gesetzgeber mit der Delegation verschiedene Zwecke verfolgen kann: Mal will er nur technische Umsetzungen delegieren, mal will er Experimentierklauseln ermöglichen, mal will er von Ausnahmen oder Härtefallregelungen entlastet werden, mal will er schnelle Anpassungen ermöglichen, mal will er prozedurale Regelungsstrukturen oder Finalnormen ermöglichen,19 die bei geringerer materieller Rechtsbindung eine höhere Verfahrensbeteiligung vorsehen, die wiederum situativ zu beurteilen ist – kurzum: die Motive des parlamentarischen Gesetzgebers für die Delegation an den gubernativen Verordnungsgeber sind regelungstechnisch und politisch sehr vielfältig. Das Anforderungsprofil der Rechtsverordnung hängt jedoch immer von der parlamentarischen Motivationslage und ihrer gesetzlichen Programmierung ab. Gesetzesvertretende Rechtsverordnungen darf es nicht geben, das ist die Kernaussage des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG, mit der der Parlamentarische Rat gerade auf die Praxis in der Weimarer Republik reagierte, in der es eine vergleichbare Bestimmung nicht gab, was die Selbstentmächtigung des Reichstags begünstigte.20 Die Auslegung des Art. 80 GG respektiert den Gestaltungswillen des Gesetzgebers, ermöglicht ihm aber gerade keinen Blankoscheck, Themen loszuwerden oder Abwägungskonflikte und Ausgleichsfragen durch Delegation zu vermeiden. Die Reichweite der Verordnungsgebung hängt folglich von der gesetzgeberischen Grundentscheidung ab, bei der der Gesetzgeber die Delegationsschranken des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG wahren muss und auch 17 Näher Matthias Jestaedt, Maßstäbe des Verwaltungshandelns, in: D. Ehlers/H. Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, § 11 Rn. 5 ff.; Markus Möstl, Exekutive Normsetzung kraft Delegation, in: ebd., § 20 Rn. 1 – 4. 18 Grundlegend Johannes Saurer, Die Funktionen der Rechtsverordnung, 2005. 19 Siehe Hartmut Bauer, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Band II, 3. Aufl. 2015, Art. 80 Rn. 37. 20 Der Kontrast durch die Praxis in Weimar wird deutlich bei Christoph Gusy, 100 Jahre Weimarer Verfassung, 2018; ders., Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 162 f. 48

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dem grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt zumal in Gestalt der Wesentlichkeitslehre sowie dem Parlamentsvorbehalt gerecht werden muss. Der Gesetzgeber darf der grundrechtlichen Ausgestaltung und Ausgleich konfligierender Rechtsgüter nicht aus dem Weg gehen: Das ist ein Gebot der Normenhierarchie, der rechtsstaatlichen Bestimmtheit, der demokratischen Legitimation, des Normsetzungsverfahrens und auch Ausdruck der regelungstechnischen Fähigkeiten der unterschiedlichen Rechtsquellen Gesetz oder Verordnung. Diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben wird die Parallelrechtsordnung der CoronaVerordnungen ganz offensichtlich nicht gerecht, weil durch die Verlagerung auf die Verordnungsebene die normenhierarchische Regelungserwartung, die wesentlichen Grundrechtsfragen auf der Ebene des Gesetzes zu behandeln, nicht erfüllt wird. Die Regelungsebene der Verordnung steht, um es plakativ auszudrücken, nicht auf Augenhöhe mit dem Regelungsgegenstand, den Grundrechten. Mit der Delegationsstruktur der §§ 32, 28 IfSG wollte der Gesetzgeber keine Parallelrechtsordnung auf dem Verordnungswege schaffen. Es ging ihm um klassisches Seuchenrecht, also die Sorge vor dem Ausbruch und die Bekämpfung von infektiösen Krankheiten, die durch lokale Maßnahmen gewährleistet werden, die auf konkrete gefährliche Orte und gegen einzelne Personen („Störer“) gerichtet werden. Mit dem IfSG wurden Ermächtigungsgrundlagen geschaffen, um übertragbaren Krankheiten beim Menschen vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern, § 1 IfSG. Das Gesetz verfolgt primär präventive Zwecke, was dazu führt, dass sich der Gesetzgeber weniger als bei repressiver Zweckverfolgung veranlasst sieht, schon auf der generell-abstrakten Ebene eine Schutzgüterabwägung vorzunehmen. Die Ermächtigungsgrundlage für konkrete Maßnahmen, § 28 IfSG, lässt Eingriffe in die Grundrechte der Freiheit der Person, der Versammlungsfreiheit, der Freizügigkeit im Bundesgebiet und der Wohnung zu, nämlich Platzverweise und Betretungsverbote, Verbote bestimmte Orte zu verlassen, Veranstaltungen und Ansammlungen von Menschen zu beschränken oder zu verbieten sowie bestimmte Gemeinschaftseinrichtungen zu schließen, die typischerweise Verbreitungsherde sind (Badeanstalten, Kindertagesstätten, Schulen, siehe § 33 IfSG). Die Freizügigkeit und die Unverletzlichkeit der Wohnung infektionsschutzrechtlich einzuschränken ist durch die qualifizierten Gesetzesvorbehalte in Art. 11 Abs. 2, 13 Abs. 7 GG gedeckt. Das Schutzgut der Freizügigkeit steht, wie Lebens- und Gesundheitsschutz unter dem einfachen Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG. Problematisch sind Eingriffe in die Versammlungsfreiheit wegen der Sperrwirkung des Versammlungsgesetzes (Art. 8 Abs. 2 GG) gegenüber dem sonstigen Gefahrenabwehrrecht. Das IfSG geht jedoch nicht von Eingriffen in die Religionsfreiheit und auch nicht in die Wirtschaftsgrundrechte aus; eine gesetzliche Abwägung dieser Schutzgüter hat infektionsschutzgesetzlich auch gar nicht stattgefunden: Auf diese Grundrechte sind die Eingriffstatbestände nicht zugeschnitten. Auf das IfSG wurden in den Rechtsverordnungen jedoch weitreichende Betriebsuntersagungen für ganze Branchen gestützt, die Recht und Politik, Beiheft 7

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im Rahmen des Lockdown als „nicht systemrelevant“ bewertet worden waren. Solche Eingriffe sind nicht von der Verordnungsermächtigung gedeckt.21 Die Betriebsuntersagungen können sich auch materiell nicht auf § 28 Abs. 1 IfSG stützen. Die Norm knüpft mit Betretungsverboten an einem lokalen Bezug an („bestimmte Orte, öffentliche Orte“), meint aber nicht Branchen. Das Betretungsverbot findet seinen Zweck in der Gefährlichkeit des Ortes. Bei den Betriebsuntersagungen ging es jedoch nicht darum, gefährliche Ladengeschäfte zu schließen, sondern Kontaktbeschränkungen zwischen Menschen durchzusetzen. Dafür ist das Mittel, den Ort zu schließen, aber unverhältnismäßig und teilweise auch ungeeignet (welcher potentiell gefährliche infektiöse Kontakt entsteht in Buch- oder Blumenläden22)? Als milderes Mittel für die örtliche Durchsetzung der Kontaktbeschränkung wäre immer eine Kapazitätsbeschränkung nach Ladengröße mit flankierenden Hygienemaßnahmen (Maskenpflicht etc.) in Betracht gekommen. Baumärkte zu schließen war immer unverhältnismäßig, unabhängig von der sich zeitlich verändernden Ungewissheit des Ansteckungsrisikos. Mit dem Schließen von Branchen wählte der Verordnungsgeber ein infektionsschutzrechtlich ungeeignetes Kriterium aus, denn es gab keine Anzeichen, dass bestimmte Läden ein höheres Infektionsschutzrisiko auslösen als andere. Leitend für die Schließung war nicht die räumliche Situation, die die Kundenkontakte beeinflusst, sondern die Einschätzung als „nicht-systemrelevanter“ Versorgungsbetrieb. Das aber ist ein in dieser Abstraktheit verfassungswidriges Differenzierungskriterium, weil es ein Werturteil über die Berufsfreiheit enthält, also zwischen wertvolleren Berufen und „unwichtigen“ Berufen unterscheidet. Das verletzt bereits abstrakt die normative Gleichrangigkeit der grundrechtlichen Schutzbereiche zueinander und der einzelnen Berufe untereinander. Das IfSG geht von bekannten Seuchen aus, es ist nicht gemacht für eine neue Krankheit. Es bewältigt deshalb Grundrechtskonflikte durch den Grundgedanken der Isolation des Infektionsgeschehens, nicht durch ein Szenario der bundesweiten Inanspruchnahme von Personen, deren Verhalten per se ungefährlich ist (sog. „Nichtstörer“). Die Inanspruchnahme von Nichtstörern ist grundsätzlich eine punktuelle Ausnahme, wenn bei gegenwärtigen erheblichen Gefahren andere Maßnahmen keinen Erfolg versprechen und die Personen ohne Eigengefährdung oder Verletzung „höherwertiger Pflichten“ in Anspruch genommen werden können.23 Selbst bei den Grundrechten, an deren Einschränkung der Gesetzgeber beim Erlass des IfSG gedacht hat, stellt sich die weitere Frage nach der Reichweite und Intensität der Eingriffsdelegation. Die Verordnungsermächtigung darf nicht als Generalklausel oder Blaupause wirken, 21 Bedenken äußert auch BVerfG, 1. Kammer des 1. Senats, Beschl. v. 17. 04. 2020 – 1 BvQ 37/ 20 Rn. 37. 22 Ich greife auf diese Beispiele zurück, weil die Länder hier unterschiedlich vorgingen. In Berlin blieben Buchläden geöffnet, in Hessen Blumenläden. In den meisten Ländern waren beide jedoch geschlossen. 23 Vgl. etwa § 19 OBG NW und die vergleichbaren Regelungen zur Inanspruchnahme von Nichtstörern in den Polizeigesetzen von Bund und Ländern. 50

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weil sie sonst gegen den Vorbehalt des Gesetzes und die Maßstäbe von Wesentlichkeitslehre und Parlamentsvorbehalt verstößt. Mit anderen Worten: Die vom Gesetz zu leistende Abwägung einer grundrechtlichen Kollisionslage (Volksgesundheit und Freiheitsrechte) wird vom IfSG nur teilweise erbracht. Der Gesetzgeber sah nicht die Gefahr völlig neuer Krankheiten mit zunächst unklarem Infektionsverlauf und ohne Therapieerfahrung. Deshalb dachte er in herkömmlichen seuchenrechtlichen Maßnahme-Katalogen (Isolation des Geschehens), nicht aber an die umfassende Regelung des Sozialverhaltens oder einen Lockdown nach virologischer Generalprävention. Deswegen meinte er, bestimmte Grundrechte nicht einschränken zu müssen (Berufs- und Eigentumsfreiheit, Religionsausübung). Das heißt: Die Ermächtigungsgrundlage reicht für die in den Verordnungen getroffenen Maßnahmen nicht aus. 2. Entscheidungsfindung beim Verordnungserlass Wenn das Gesetz als Instanz der Ausgestaltung und des Ausgleichs hier ausfällt, dann müsste die generell-abstrakte grundrechtsschützende Abwägungsleistung im Verfahren des Verordnungserlasses bewältigt werden. Beim Verordnungserlass fallen Organisation und Verfahren für den Grundrechtsschutz aber weitgehend aus. Bei Regierungsverordnungen handelt mit der (Landes‐)Regierung kein pluralistisch zusammengesetztes Organ. Regierungen sind nicht pluralistisch zusammengesetzt, sondern folgen auf der einen Seite fachlichen, auf der anderen Seite politischen Besetzungskriterien. Regierungen sind nach dem Ressortprinzip organisiert, nicht nach gesellschaftlichen Interessen oder grundrechtlichen Schutzgütern, und sie unterliegen der politischen Leitung durch den Regierungschef. Auch wenn Regierungen Kollegialorgane sind und bei Abstimmungen das Mehrheitsprinzip gilt, politisch wird sich der Regierungschef durchsetzen. In einem solchen Erlassverfahren ist Grundrechtsschutz nur noch sehr eingeschränkt zu leisten, weil sich die Ressorts um ihre jeweiligen Politikbereiche kümmern müssen und nur dafür im Hause Kompetenz haben. Die Ministerien erfassen Grundrechte also aus der Regelungsperspektive ihres Zuständigkeitsbereichs, nicht aus einer Perspektive des Ausgleichs konfligierender Schutzgüter. Für Grundrechtsschutz als allgemeines Zuständigkeitsfeld ist in der Regel das Justizministerium zuständig, das aber wiederum nicht über die Tatsachenkenntnis in den Regelungsbereichen verfügt, auf die sich die Maßnahmen erstrecken, so dass es die Intensität der betroffenen Schutzgüter und die Verhältnismäßigkeit des Mittels nicht in der eigenen Ressortverantwortung ermitteln und bewältigen kann. Der Grundrechtsschutz wird in der Zuständigkeitsverteilung der Ministerien zerrieben. Er hängt von einer funktionierenden Ressortabstimmung ab oder von einer gemeinsamen Willensbildung und Beschlussfassung in der gesamten Landesregierung, in der über die Ressorts alle Politikbereiche abgedeckt sind. Ob diese Organisation und ein solches Verfahren tatsächlich noch Grundrechtsschutz bewirken kann, ist eher eine Frage des Zufalls und des persönlichen Einsatzes des Ministers oder Ministerpräsidenten.

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Erlassen Minister die Rechtsverordnung24 bewegt sich das Erlassverfahren in der Ressortzuständigkeit dieses Ministeriums. Die Berücksichtigung grundrechtlicher Belange ist dann zusätzlich reduziert. In der Willensbildung im Ministerium wird es aus Gründen der internen Zuständigkeit nicht zur systematischen Berücksichtigung grundrechtlicher Belange und vor allem nicht zu ihrem Ausgleich kommen können. Dazu fehlt den Ministerien schlicht die entsprechende Expertise für das übergreifende Tätigkeitsfeld. Macht ein Gesundheitsminister eine Infektionsschutzverordnung, wird etwa Kultur oder Wirtschaft dort schon deshalb nicht als betroffener Belang berücksichtigt werden, weil Kultur oder Wirtschaft nicht zum Zuständigkeitsbereich des Gesundheitsministeriums gehören und es deswegen dort auch kein Referat gibt, das sich in der internen Abstimmung dafür verantwortlich fühlte. Bei der ministeriellen Rechtsverordnung fehlt nun auch die Möglichkeit, die anderen Belange über eine Kabinettssitzung einzubringen; verfahrenstechnisch bleibt es bei den Möglichkeiten einer Ressortabstimmung. Nicht zu unterschätzen ist erneut der persönliche Einfluss des Regierungschefs, der mit politischen Steuerungsmitteln auf eine ministerielle Verordnung Einfluss nehmen kann, was die anderen Ressortminister in dieser Form nicht können. Bei ministeriellen Verordnungen wird der Einfluss des Regierungschefs tendenziell noch größer sein als bei Regierungsverordnungen, weil er weniger Ressortwiderstände überwinden muss. Für die konkrete Corona-Politik, für die Ausgestaltung der Eingriffe, sind diese Zuständigkeits- und Organisationsfragen innerhalb der Regierung außerordentlich wichtig. Denn die Willensbildung und Entscheidungsfindung in der Regierung folgt ganz anderen Kriterien als im Parlament. Sie ist nicht öffentlich. Sie dient nicht der Abwägung. An ihr nimmt kein repräsentativ zusammengesetzter Personenkreis teil. Die Entscheidung unterliegt politischen Hierarchien. Ob Grundrechtsschutz zu einem Regelungsbelang wird, ist eine inzidentielle Frage, kein struktureller Auftrag. Kurzum: An die Stelle der Abwägung gleichrangiger Schutzgüter tritt eine politische Hierarchisierung der Ziele und mit ihr der Schutzgüter – Schwerpunkte zu setzen ist ja auch die Aufgabe von Politik. Der Aufgabenzuschnitt der Regierung und ihre Zuständigkeitsverteilung sind nicht prinzipiell darauf eingerichtet, Grundrechte zu schützen.

24 Nach Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG kann der Bundestag auf der Ebene des Bundes einen Bundesminister oder die Bundesregierung ermächtigen. Der Bundeskanzler kann nicht ermächtigt werden. Auf der Ebene des Landes kann nur die Landesregierung ermächtigt werden. Das delegierende Gesetz darf aber nach Art. 80 Abs. 1 Satz 4 GG die Landesregierung ermächtigen, die Verordnungsermächtigung durch eine Rechtsverordnung der Landesregierung auf eine andere Stelle, z. B. einen Landesminister, zu übertragen. Das räumt § 32 Satz 2 IfSG ein, so dass auf der Landesebene nicht einmal Regierungsmitglieder, sondern auch (Gesundheits‐)Behörden mit dem Verordnungserlass betraut werden könnten. Die Länder haben die Zuständigkeiten für den Erlass der Infektionsschutzverordnungen unterschiedlich geregelt: In manchen Ländern ergehen Regierungsverordnungen (z. B. Hessen), in anderen ministerielle Verordnungen (z. B. Baden-Württemberg, Bayern, NRW). 52

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Die Willensbildung in der Regierung wird nun zusätzlich politisch eingeengt, wenn sich der Regierungschef in der Öffentlichkeit weit vorwagt, wie wir das wochenlang erlebt haben („Es geht um Leben und Tod.“ „Jeder Tote ist einer zu viel.“), weil dann die politische Hierarchisierung der Schutzgüter eine interne Abwägung mit konfligierenden Schutzbereichen geradezu unterbindet. Eine solche Hierarchisierung der Schutzgüter wird verstärkt, wenn die externe Expertise einseitig zusammengesetzt ist und in ihrem Aufgabenzuschnitt wiederum einzelne Schutzgüter betrifft. Anders gesprochen: Wenn sich die politische Entscheidungsfindung von der Risikoeinschätzung etwa des Robert-Koch-Instituts oder der örtlichen „Haus-Virologen“ abhängig macht, wird es noch unwahrscheinlicher werden, dass konfligierende Grundrechte überhaupt erkannt, geschweige denn ausgeglichen werden. Das ist kein Vorwurf an die Experten. Ihre Aufgabe liegt nicht im Blick auf das gesellschaftliche Ganze mit all seinen Konflikten, sondern auf das Spezielle und Partikulare, für das allein sie Expertise behaupten können. Man darf von Experten keine Relationierung von Grundrechten erwarten, weil dies ihre Expertise überfordern würde. Die Risikoeinschätzung des RKI ist als Leitkriterium für eine Abwägung grundrechtlicher Schutzgüter schon deswegen ungeeignet, weil das RKI von seinem Aufgabenzuschnitt her ausschließlich dem Gesundheitsschutz dient. Das RKI ist eine dem Bundesgesundheitsministerium nachgeordnete Behörde, die das Ziel Gesundheitsschutz verfolgen soll.25 Es ist de facto eine organisatorisch verselbständigte Fachabteilung des Ministeriums.26 Das RKI ist nicht dafür zuständig, andere Grundrechte damit abzugleichen. Es kann, soll und will Grundrechtskonflikte nicht behandeln. Kommt nun in einem Willensbildungs- und Entscheidungsprozess alles zusammen (ministerielle Verordnung, politische Hierarchisierung der Ziele durch den Regierungschef, einseitige Expertise), dann ist geradezu zu erwarten, dass das Ergebnis in Gestalt der Verordnung Grundrechten nicht dienen kann. Mit dieser Aussage ist aber kein Vorwurf verbunden. Die Organe handeln jeweils so, wie sie aufgrund ihrer Zuständigkeiten handeln sollen. Die Regierung funktioniert so, wie die Regierung funktionieren soll. Das Problem liegt primär im Ausfall der grundrechtlichen Programmierung auf der gesetzlichen Ebene. Was hier nicht ausgestaltet und ausgeglichen wurde, kann auf der Ebene der untergesetzlichen Normsetzung mit den dort zur Verfügung stehenden Mitteln schlechterdings nicht mehr kompensiert werden.

25 Vgl. den Aufgabenzuschnitt des RKI durch § 4 IfSG. Es geht in der detaillierten Vorschrift nur um ein Schutzgut: Gesundheit, teilweise bezogen auf das Gesundheitswesen, was andere Schutzgüter (Berufsausübung der Ärzte, Betrieb von Krankenhäusern, Krankenkassen) mitumfasst. Das RKI ist auch für die Gesundheit von Tieren zuständig, verfolgt also nicht ausschließlich humane Ziele. Die Prognoseerfahrung und Mittelauswahl des RKI stützt sich daher auch auf Tierseuchen. 26 Bis 1994 wurden die Aufgaben vom Bundesgesundheitsamt in Berlin wahrgenommen. Nach einem Skandal um HIV-verseuchte Blutpräparate wurde es aufgelöst; die Aufgaben gingen auf drei Nachfolgeinstitute über. Recht und Politik, Beiheft 7

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3. Umgehung der Gewaltenteilung Der grundrechtsschützende Beitrag der Gewaltenteilung, also die strukturelle Differenz zwischen generell-abstrakter (Rechtssetzung) und individuelle-konkreter Rechtserzeugung (Vollzug) wird durch die Konzentration der materiellen Regelung auf der Verordnungsebene umgangen. Viele Maßnahmen der Corona-Rechtsverordnungen sind self-executing. Sie ermächtigen also nicht Vollzugsbehörden zu subsumierenden Verwaltungsakten, bei denen, üblicherweise mit Ermessenstatbeständen, Grundrechten im Einzelfall Rechnung getragen werden kann, sondern enthalten selbst schon die VollRegelung auf der generell-abstrakten Ebene. Gottesdienste sind in vielen Verordnungen ausnahmslos verboten worden (anders etwa in NRW, das Selbstverpflichtungen der Religionsgemeinschaften einforderte). Versammlungen wurden grundsätzlich verboten, doch enthielten die Verordnungen typischerweise Ausnahmen (präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt). Die zuständige untere Verwaltungsbehörde (Kommunen und Landkreise) erteilte aber grundsätzlich keine Ausnahmen, selbst wenn die Verordnung dazu ermächtigte, wenn im Einvernehmen mit den Gesundheitsbehörden keine infektionsschutzrechtlichen Bedenken bestanden. Praktisch schlug das Versammlungsverbot auf den Bürger durch, weil die örtlichen Behörden keine Ausnahmegenehmigungen erteilten. Für die Betriebsuntersagungen galt das Gleiche. Auch hier erstreckte sich das Verbot in der Verordnung auf jeden Einzelfall. Die Kontaktbeschränkungen und Ausgehverbote waren als Ordnungswidrigkeiten strafbewehrt. Verstöße wurden, soweit man das beurteilen kann, grundsätzlich zur Anzeige gebracht. Die Presse berichtete von einem Regelfetischismus der Vollzugsbeamten, die ohne Rücksicht auf die Situation im Einzelfall und den Telos der Norm auch Sachverhalte zur Anzeige brachten, die kein Infektionsschutzrisiko aufwiesen. Das bayerische Parkbanksitzverbot steht pars pro toto für diese Vollzugspraxis.27

27 Zum Vollzug der Corona-Verordnungen teilte die Bayerische Staatsministerin für Gesundheit und Pflege auf eine schriftliche Anfrage von MdL Margit Wild am 08. 07. 2020 mit: Vom 27.03.–18. 05. 2020 seien in Bayern 34.445 Ordnungswidrigkeiten festgestellt und 16.006 Bußgeldbescheide erlassen worden, zu denen 1.503 Einsprüche eingingen, die in 330 Fällen zur Zurücknahme führten. Rund 15.700 Bescheide betrafen das Verlassen der Wohnung ohne triftigen Grund. Zu berücksichtigen ist, dass der VGH München die Sanktionierbarkeit des Ausgehverbots am 28. 4. 2020 praktisch beseitigt hatte, als er die Vorschrift so auslegte, dass jeder sachliche, nicht von vornherein unzulässige Grund geeignet sei, das Verlassen der Wohnung zu rechtfertigen Durch diese Auslegung wurde der Verbotstatbestand vom Senat weitgehend neutralisiert und der Sache nach neu gefasst, vgl. VGH München, Beschluss v. 28. 04. 2020 – 20 NE 20.849, Rn. 37 ff. Der einschlägige § 5 BayInfSMV war nach einer Entscheidung des VGH München, Beschluss v. 30. 03. 2020 – 20 NE 20.632, neu gefasst worden, so dass sich der VGH bei der Auslegung auch auf die vom Verordnungsgeber anerkannten weiteren Gründe bei der Auslegung beziehen konnte. Nach dem 28. 4. 2020 durfte es also kaum noch zu Anzeigen wegen grundlosen Verlassens der Wohnung gekommen sein, so dass die Zahlen die Vollzugspraxis eines Monats wiedergeben. 54

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Da die Einzelfallprüfung also weitgehend ausfiel, schied gerade diejenige Normkonkretisierungsebene aus, auf der konfligierenden grundrechtlichen Belangen im Wege einer Verhältnismäßigkeit im Einzelfall effektiv Rechnung getragen werden kann. 4. Summarischer Eilrechtsschutz So bleibt für den Grundrechtsschutz letztlich die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes übrig. Er wurde auch reichlich beschritten, auch wenn angesichts der flächendeckenden Maßnahmen eigentlich mit mehr Widerstand in der Bevölkerung zu rechnen gewesen wäre. Der Deutsche Richterbund berichtete am 8. 5. 2020 von rund 1.000 Eilanträgen gegen Corona-Einschränkungen. Gesellschaftlich betrachtet ist dies keine große Zahl, sehr wohl aber vor dem Hintergrund der Kapazität der Verwaltungsgerichte. Vor allem entsteht ein grundlegendes rechtsstaatliches Problem, wenn die Inanspruchnahme grundrechtlicher Freiheiten praktisch von einem gerichtlichen Eilantrag abhängt. In diesem Fall „funktioniert“ der Rechtsstaat nicht, auch wenn die Gerichte tüchtig arbeiten, denn es ist nicht die Aufgabe von Gerichten, grundrechtliche Freiheiten zu ermöglichen, sondern sie im Einzelfall zu schützen. Der Rechtsweg gegen Corna-Maßnahmen weist Besonderheiten auf. Da es oft an Verwaltungsakten fehlte, weil es zu keiner Vollzugsanordnung kam (Eingriffe durch die Verordnung, nicht durch VA), mussten Bürger direkt gegen die Verordnungen vorgehen. § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO ermöglicht nach Maßgabe des Landesrechts Normenkontrollanträge gegen Landesrechtsverordnungen. Dies ist bis auf Berlin und Hamburg in allen Ländern möglich. Ein Normenkontrollantrag des Bürgers ist im deutschen Rechtsschutzsystem zunächst eine Besonderheit, weil mit ihm ein objektives Rechtsschutzziel verfolgt werden kann, während sonst eine subjektive Rechtsverletzung (Klagebefugnis) geltend gemacht werden muss.28 § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO erhielt nun eine rechtsschutzpraktische Relevanz, an die niemand zuvor gedacht hatte. So hatte Nordrhein-Westfalen das Verfahren erst zum 1. 1. 2019 eingeführt, was im Umkehrschluss zeigt, dass dieses Verfahren nicht zum elementaren Bestandteil der Rechtsschutzgarantie gezählt worden war. Gegen die Versagung einer Demonstration waren indes klassische Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen zu erheben. Rechtsschutz gegen ordnungswidrigkeitenrechtliche Maßnahmen (Bußgeldbescheide) geht zu den ordentlichen Gerichten. Dazu dürften erst langsam Entscheidungen ergehen. Praktisch war also mit der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle ein eher seltenes Verfahren ins Zentrum gerückt, was die Besonderheit der Parallelrechtsordnung aus der Rechtsschutzperspektive verdeutlicht. Hinzu kam, dass verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz immer mit einstweiligem Rechtsschutz einherging. Die Regel (Hauptsacheverfahren entscheidet die Sache) wird 28 Zu Stellung und Struktur vgl. Dirk Ehlers, Die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle, in: Jura 2005, S. 171 – 177; Roman Herzog, Verfassungsgerichtliche und verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle, BayVBl. 1961, S. 368 – 373. Zu den Einzelheiten siehe die Kommentierungen zu § 47 VwGO. Recht und Politik, Beiheft 7

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auf den Kopf gestellt, weil praktisch alles im einstweiligen Rechtsschutz entschieden werden musste (wenn sich der Rechtsstreit nicht erledigt hat, werden viele Entscheidungen in der Hauptsache daher noch ergehen). Im einstweiligen Rechtsschutz findet nur eine summarische Prüfung mit einer Folgenabwägung statt. Prüfungsmaßstab sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes schon absehen lassen. Bei der Konkretisierung des Prüfungsmaßstabs spielt die Geltungsdauer der Verordnung eine zentrale Rolle, weil sie die anzustellende Gegenüberstellung der Nachteile bei ergehender oder unterbleibender einstweiliger Anordnung zugunsten einer Verordnung mit „geringer Restlaufzeit“ verschiebt. Je kürzer der verbleibende Geltungszeitraum, desto unwahrscheinlicher ist es, dass eine einstweilige Anordnung zur Abwehr schwerer Nachteile dringend geboten ist. Entsprechend scheiterten Normenkontrollverfahren im einstweiligen Rechtsschutz an der Prognose der Erfolgsaussichten im Abgleich mit dem (in der Regel nur noch kurzzeitig) drohenden Schaden. Für die Erfolglosigkeit war häufig keine negative Abwägung der grundrechtlichen Schutzgüter verantwortlich, sondern in erster Linie die Zeitkomponente. Manche Gerichte haben dem Verordnungsgeber die kurzfristigen Geltungszeiträume auch als Abwägungsvorschuss zu Gute gehalten: Der Verordnungsgeber habe dadurch die Grundrechtssensibilität der Maßnahmen eingeräumt und sich selbst eine Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht auferlegt. Praktisch allerdings wurden Maßnahmen im Zweiwochenrhythmus verlängert. Kurzfristigkeit und unklare Tatsachenkenntnis von der epidemischen Entwicklung wirkten sich im einstweiligen Rechtsschutz zugunsten des Verordnungsgebers aus. Das erklärt, warum Verordnungen zunächst nicht aufgehoben wurden,29 was sich inzwischen völlig geändert hat.30 Klagen gegen Versammlungsverbote hatten eine höhere Erfolgswahrscheinlichkeit. Hier führt der einstweilige Rechtsschutz zu einer intensiveren Kontrolle als bei den Normenkontrollverfahren, weil sich die Zeitkomponente zugunsten des Antragstellers auswirkt. Die Versammlungsfreiheit enthält das Recht des Veranstalters, Ort und Zeitpunkt der Versammlung selbst festzulegen.31 Beide sind für den Kundgabezweck essentiell: Man demonstriert dort, wo etwas Kritikwürdiges passiert und wo es den richtigen Adressaten erreicht. Man demonstriert heute und nicht erst in zwei Wochen, wenn der Anlass verflogen ist. Dadurch dass sich das Grundrecht der Versammlungs29 Die soweit ersichtlich erste Aufhebung betraf das Osterwochenende-Ausflugsverbot in Mecklenburg-Vorpommern, OVG Greifswald, Beschlüsse v. 09. 04. 2020, 2 KM 268/20 OVG und 2 KM 281/20 OVG. Der VGH München hob Verordnungen nicht auf, legte sie aber mehrfach einengend aus, vgl. Nachweise Fn. 27. 30 Deutliches Signal für eine intensivierte Verhältnismäßigkeitsprüfung, bei der die Zeitkomponente jetzt nicht mehr zugunsten sondern zu Lasten der Verordnung ausgeht: OVG Münster, Beschl. v. 29. 06. 2020 – 13 B 940/20.NE – Lockdown Gütersloh. Das OVG hob die Verordnung einen Tag vor dem Ablauf ihres Geltungszeitraums auf. 31 Vgl. nur Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz Kommentar, 16. Aufl. 2020, Art. 8 Rn. 5. 56

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freiheit auf Ort und Zeitpunkt konzentriert, muss eine entsprechend konkretisierte Abwägung mit dem Infektionsschutz erfolgen – anders als bei der Wahrnehmung grundrechtlicher Schutzgüter, deren Relevanz nicht gleichermaßen an das Hier und Jetzt geknüpft ist, sondern auch aufgeschoben werden kann, wenn dies zum Schutze anderer Rechtsgüter angemessen ist. Bei der Demonstrationsfreiheit kann der einstweilige Rechtsschutz folglich nicht zur reduzierten Kontrolle qua summarischer Prüfung führen, weil aufgrund des Zeitablaufs hier praktisch immer bereits die Hauptsache entschieden wird. Das alles erhöht die Rechtsfertigungsanforderungen an ein Versammlungsverbot. Die restriktive Genehmigungspraxis der Versammlungsbehörden wurde von den Verwaltungsgerichten daher auch relativ oft korrigiert mit teils deutlichen Rügen. Die Behörden haben sich oft schon gar nicht darauf eingelassen, mit dem Veranstalter zu überlegen, wie Abstandsregeln eingehalten, Teilnehmerzahlen begrenzt und unnötige Gefährdungen vermieden werden können. Auch Kleinveranstaltungen mit unterer zweistelliger Teilnehmerzahl und plausiblem Hygienekonzept des Veranstalters wurden generalpräventiv abgelehnt. Die Ablehnung stütze sich bisweilen auch auf eine allgemeine Ansteckungsgefahr für Passanten, Gegendemonstranten sowie die Sicherheitskräfte. Der Veranstalter wurde also verantwortlich gemacht für das Verhalten Dritter, das er mit seinem Hygienekonzept gar nicht regeln kann oder für Risiken, die schon der Beruf des Polizisten mit sich bringt.32 Das waren keine versammlungsrechtlich zulässigen Versagungsgründe und entsprechend ergingen in nicht wenigen (aber keineswegs allen) Fällen verwaltungsgerichtliche Entscheidungen zugunsten der Versammlungsfreiheit.33 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine Entscheidung des VGH Mannheim, weil diese formulierte, welche Infektionsrisiken hinzunehmen sind.34 Hier wurde einmal ausdrücklich zwischen den Rechtsgütern Gesundheit und Demonstrationsfreiheit abgewogen. Aussagen, welche Risiken, sich mit Covid-19 anzustecken, hinzunehmen sind, fand man in jenen Monaten nur sehr selten. Die Rechtsprechung des BVerfG blieb demgegenüber eher blass. Sein Beitrag zur Sicherung der Freiheitsrechte in der Corona-Pandemie ist bislang eher marginal. Ins Gewicht fallen einzelne Kammerbeschlüsse zur Versammlungs-35 und Religionsfrei32 Entsprechende Sachverhalte werden etwa mitgeteilt von BVerfG, 1. Kammer des 1. Senats, Beschl. v. 15. 4. 2020 – 1 BvR 828/20; VG Münster, Beschl. v. 25. 04. 2020, 5 L 361/20. 33 Beispiele: VG Münster, Beschl. v. 25. 4. 2020, 5 L 361/20 – Atommülltransport durch Münster; VGH Mannheim, Beschl. v. 23. 5. 2020 – 1 S 1586/20 – AfD-Versammlung in Stuttgart. 34 Siehe Fn. 33. 35 Erfolgreicher Eilantrag gegen ein Versammlungsverbot der Stadt Gießen: BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschl. v. 15. 04. 2020 – 1 BvR 828/20; erfolgreicher Eilantrag gegen ein Versammlungsverbot der Stadt Stuttgart: BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschl. v. 17. 04. 2020 – 1 BvQ 37/20. Kein Erfolg, da erheblich größerer Teilnehmerkreis zu erwarten: BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschl. v. 01. 05. 2020 – 1 BvR 1003/20. Recht und Politik, Beiheft 7

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heit.36 Hier wurden letztlich grundrechtliche Minimalstandards aufrechterhalten, nämlich dass pauschale Gottesdienstverbote unzulässig sind und Versammlungen ausnahmsweise auch zugelassen werden müssen. Hier wurde nichts Spektakuläres entschieden. In der überwiegenden Zahl der Fälle hatten die Antragsteller allerdings keinen Erfolg. Meistens war der Eilantrag unzulässig, weil der verwaltungsgerichtliche Rechtsweg nicht beschritten worden oder das Vorbringen zu unsubstantiiert war.37 Problematisch ist auch bei der Karlsruher Rechtsprechung das Abstellen auf die Risikoeinschätzung des Robert-Koch-Instituts.38 Da bereits die anderen Gewalten geradezu stereotyp auf das Robert-Koch-Institut verwiesen und auch die Kanzlerin erklärt hatte, dessen Einschätzungen seien für sie leitend, kam dieser Risikoeinschätzung eine präjudizielle Kraft zu, die die Kontrolle durch die Dritte Gewalt inhaltlich neutralisierte, weil sich alle immer wieder auf dieselben Einschätzungen beriefen. Überdies erweckte die Kammerrechtsprechung des Ersten Senats in der Außenwahrnehmung (die weder die Situation des einstweiligen Rechtsschutzes noch die Zulässigkeitskriterien vor Augen hat) den Eindruck der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit. Das Grundproblem – Abwägungsausfall – haben diese Beschlüsse selten thematisiert. Im diesbezüglichen Schweigen sendete vor allem die meistens zuständige 1. Kammer des Ersten Senats auch ein Signal an die Vollzugsbehörden und die erstinstanzlichen Gerichte. Von der Kontrolldichte, die das BVerfG ansonsten gegenüber der Legislative anschlägt (Begründungen im Gesetzgebungsverfahren, Tatsachenkontrolle als Voraussetzung für die Durchführbarkeit der Verhältnismäßigkeitsprüfung) war jedenfalls gegenüber den Verordnungen wenig zu verspüren. Auch die Kriterien, die sonst in Situationen angelegt werden, in denen kollektive Sicherheitsinteressen mit

36 Nicht erfolgreicher Eilantrag gegen Verbot der Ostermesse durch 2. Kammer des Ersten Senats, Beschl. v. 10. 04. 2020 – 1 BvQ 28/20. Dort wird jedoch eine fortlaufende strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit anhand der jeweils aktuellen Erkenntnisse angemahnt. Erfolgreicher Eilantrag gegen das generelle Verbot von Gottesdiensten in der nds. Corona-Verordnung, weil dadurch Ausnahmeentscheidungen schon gar nicht möglich sind: 2. Kammer des Ersten Senats, Beschl. v. 29. 04. 2020 – 1 BvQ 44/20. 37 Unzulässige Eilanträge: BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschl. v. 20. 03. 2020 – 1 BvR 661/20; Beschl. v. 31. 03. 2020 – 1 BvR 712/20; Beschl. v. 9. 04. 2020 – 1 BvQ 27/20; Beschl. v. 9. 4. 2020 – 1 BvQ 29/20; Beschl. v. 10. 04. 2020 – 1 BvQ 26/20; Beschl. v. 24. 04. 2020, 1 BvR 900/20; 2. Kammer des Ersten Senats, Beschl. v. 18. 04. 2020 – 1 BvR 829/20; Beschl. v. 09. 06. 2020 – 1 BvR 1230/20; 3. Kammer des Ersten Senats, Beschl. v. 12. 05. 2020 – 1 BvR 1027/20. 38 Ausführlich auf die Expertise des RKI abstellend etwa BVerfG, 2. Kammer des 1. Senats, Beschl. v. 10. 04. 2020 – 1 BvQ 28/20 Rn. 14 zum Gottesdienstverbot an Ostern insbesondere für Katholiken, für die der Besuch der Messe religiöse Pflicht ist. Kein Erfolg für einen Antragsteller, dessen Depressionstherapie nicht durchgeführt werden konnte: BVerfG, 1. Kammer des 1. Senats, Beschl. v. 01. 05. 2020 – 1 BvQ 42/20. Warum jeweils Ausnahmen im Einzelfall zur Gefahr des Kollabierens des Gesundheitssystems führen sollen, erschließt sich mir nicht. Ähnlich BVerfG, 1. Kammer des 1. Senats, Beschl. v. 16. 05. 2020 – 1 BvQ 55/20, Rn. 14: Örtlich geringere Fallzahlen stellen das Infektionsrisiko „nicht durchgreifend in Frage“. 58

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Freiheitsbelangen kollidieren, etwa bei der modernen Sicherheitsgesetzgebung,39 nämlich verschärfte Bestimmtheitsanforderungen angesichts der Eingriffsintensität, der Streubreite und der abschreckenden Effekte auf das Sozialverhalten, fanden hier keine Anwendung. Das alles ist natürlich auch die Folge der prozessualen Konstellation (einstweiliger Rechtsschutz bei meist prozessual unzulässigen Anträgen). Zentrale Sätze in den Beschlüssen hätten jedoch nicht zu fallen brauchen, etwa die wiederholte Formulierung, die Gewichtung der Rechtsgüter Leben und Gesundheit führe bei der Abschätzung der Erfolgsaussichten nicht dazu, dass eine einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG zu erlassen sei. Mit solchen Formulierungen trug das BVerfG nicht dazu bei, Klarheit in die Schutzgüterfrage und das verfolgte Ziel zu bringen. Es erweckte vielmehr den Anschein, als ob Leben und Gesundheit wichtigere Rechtsgüter seien als die Freiheitsrechte, was in dieser Abstraktheit gerade nicht stimmt. Die Beschlüsse zur Versammlungsfreiheit und zum Gottesdienstverbot wurden zwar weithin wahrgenommen, führten aber nicht dazu, dass die Corona-Politik stärker auf ihre allgemeine Verhältnismäßigkeit hin geprüft worden wären oder die Suche nach milderen Mitteln institutionalisiert worden wäre. Das Verdienst, hier einen grundsätzlichen Wandel in der exekutiven Entscheidungskultur bewirkt zu haben, kommt in meiner Wahrnehmung eher dem OVG Münster zu.40 Seine Gütersloh-Entscheidung weist den Weg zurück zu einer normalen Verhältnismäßigkeitsprüfung, bei der es keine zeitliche Privilegierung der Maßnahme mehr gibt, weil eine deutlich genauere Tatsachengrundlage und folglich auch Erforderlichkeits- und Angemessenheitsprüfung möglich ist, zumal das Ziel der Maßnahme (kapazitätsgerechte Steuerung des Pandemieverlaufs, Verhinderung einer Überforderung von Intensivstationen) auch über die beanstandete Maßnahme hinaus mit anderen Mitteln erfüllt werden kann. Bei den Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte sei an dieser Stelle nur auf zwei gegensätzliche Einschätzungen der Verhältnismäßigkeit verwiesen.41 Nicht eingehen kann ich an dieser Stelle auf die Gleichheitsproblematik, die im Zusammenhang mit der Öffnung von Schulen und Läden (800 qm-Kriterium) viele Gerichte beschäftigte. Für unsere Thematik bringen diese Entscheidungen nicht viel, weil sie eine Maßnahme auf ihre systematische Stimmigkeit innerhalb der Verbotskultur überprüften, also Frei39 Vgl. BVerfGE 113, 348 (375 – 378) [2005] – präventive Telefonüberwachung: Gesetz zu unbestimmt; 120, 274 (315 – 318) [2008] – Onlinedurchsuchung: Normenklarheit vermisst; 120, 378 (407 f.) [2008] – Kfz-Kennzeichenerfassung: unklare Zweckbestimmung; 141, 220 (265) [2016] – BKA-Gesetz: Normenklarheit und Bestimmtheit gerügt; BVerfGE 150, 244 (279) [2018] – Kfz-Kennzeichenkontrolle Bayern: Bestimmtheit verletzt; BVerfG, Urt. v. 19. 05. 2020, 1 BvR 2835/17 – Auslandstelekommunikationsüberwachung II, Rn. 137: gesteigerte Bestimmtheitsanforderungen bei Geheimhaltung und Streubreite. 40 OVG Münster, Beschl. v. 29. 06. 2020 – 13 B 940/20.NE – Lockdown Gütersloh. 41 Bestätigend BayVerfGH, Bechl. v. 26. 03. 2020 – Vf. 6-VII-20; Beschl. v. 24. 04. 2020 – Vf. 29-VII-20; Beschl. v. 08. 05. 2020 – Vf. 34-VII-20; aufhebend VerfGH Saarland, Beschl. v. 28. 04. 2020 – Lv 7/20. Recht und Politik, Beiheft 7

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heitsgewinne, die in der Öffnung lagen, als gleichheitswidrige Differenzierung thematisierten. Das konnte sich im Einzelfall für oder gegen weitere Öffnungen auswirken. In der Summe entschieden die Verwaltungs- und Verfassungsgerichte eher selten pro Grundrechtsschutz, was auf der politischen Ebene als Bestätigung aufgefasst wurde. In den Regierungen zirkulierten Aufstellungen der Gerichtsentscheidungen, die pro/ contra-Entscheidungen addierten, die Erwägungsgründe aber nicht differenziert analysierten. So enthielten einige Entscheidungen, die einstweilig zugunsten der CoronaVerordnungen ausgingen, in der Sache Einschränkungen oder betonten die für die Verhältnismäßigkeitsprüfung zentrale Zeitkomponente (Maßnahme „derzeit“ verhältnismäßig). Diese Differenzierungen nahmen die Regierungschefs wohl deutlich weniger wahr als die Fachabteilungen in den Ministerien. Die Gerichtskontrolle war strukturell mehrfach geschwächt: Zum einen durch das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, in dem nur eine summarische Prüfung erfolgen kann. Zum anderen durch die geringe Tatsachengrundlage bei der Gefahrenprognose (neues Virus), was die Verhältnismäßigkeitskontrolle entscheidend schwächt. Die Exekutive profitiert politisch von der zurückgenommenen Kontrolle gegenüber generell-abstrakten Normen, obwohl diese individuell-konkret wirken. Das normale Kontrollgefüge ist in der Parallelrechtsordnung verschoben worden. 5. Erneut: Bürger und Föderalismus Für den Grundrechtsschutz öffentlichkeitswirksam relevant waren schließlich zwei bereits oben genannte Faktoren. Zum einen artikulierten Bürger die Verteidigung der Freiheitsrechte. Zahlreiche Versammlungen protestierten gegen die Freiheitseingriffe. Auf die öffentliche Debatte hatten diese Versammlungen großen Einfluss, weil sie die Freiheitsproblematik, die in den staatlichen Organen jedenfalls von außen betrachtet keine hinreichende Aufmerksamkeit bekam und auch in der massenmedialen Begleitung der Corona-Politik nur sekundär thematisiert wurde, erstmals wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellte. Einen effektiv grundrechtsschützenden Beitrag leistete auch der Föderalismus. Durch den Umstand, dass die Zuständigkeit bei den 16 Landesregierungen lag, kommt es von ganz alleine zu einem materiellen Regelungswettbewerb, den man nicht als Überbietungs- oder Unterbietungswettbewerb bewerten sollte, sondern als einen Wettbewerb um das effektivere und um das mildere Mittel. Im Unterschied zu anderen Staaten bescherte uns der Föderalismus eine permanente öffentliche Debatte um Ziel und Richtung der Maßnahmen, die natürlich auch vom politischen Interesse der Ministerpräsidenten angetrieben wurde, sich auf der bundespolitischen Bühne zu profilieren. Im Föderalismus aber wirkt dieses politische Interesse auf den Gesamtstaat aggregiert zu einem grundrechtssensiblen Effekt. Es werden jedenfalls Alternativen artikuliert und das alleine erhöht den Rechtfertigungsdruck auf die Maßnahmen. Man soll den föderativen Effekt für mildere Maßnahmen und das Umstellen von flächendeckenden abstrakten auf lokale konkrete Maßnahmen nicht unterschätzen. Dem Argument von Ministerpräsidenten besonders in den Neuen Ländern, sie hätten 60

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nur noch ein sehr geringes Infektionsgeschehen, auf das nicht mehr abstrakt und flächendeckend reagiert werden dürfe, konnte aus Sicht des Gesundheitsschutzes kaum widersprochen werden. Ein solches Argument kann aber erst gebracht werden, wenn es entsprechende Zuständigkeitsräume gibt, also nicht zentral entschieden wird. Im Kontrast zu dieser Politik stand demgegenüber die Haltung der Bundesregierung, die in der Sache keine Zuständigkeit hatte (mit Ausnahme des zu Spezialverordnungen ermächtigten Gesundheitsministers) und die folglich nur eine moderierende Rolle einnehmen konnte. Diese wiederum ließ sich nur mit dem Anliegen rechtfertigen, einen „Flickenteppich“ zu vermeiden. Verallgemeinert heißt dies: Der Föderalismus bewirkt einen Freiheitsgewinn durch Zuständigkeitspluralismus im Gesamtstaat. Handelte stattdessen der Bund, würde tendenziell invasiver entschieden als es für die konkrete Gefahr (die nur örtlich bestimmt werden kann) erforderlich ist.

III. Zur Beseitigung der Parallelrechtsordnung Wir stehen nun vor der Aufgabe, die Parallelrechtsordnung des Corona-Rechts zu beenden. Dass wir bereits auf dem Weg dorthin sind, verdeutlichen verschiedene Anzeichen. Die Leitungsfähigkeit des Verordnungsrechts zur Bekämpfung der Pandemie ist überschritten. Der oben zitierte Anspruch der Bayerischen Staatsregierung, „mit Rechtsverordnungen, Allgemeinverfügungen und Bekanntmachungen das öffentliche und private Leben zu regeln“, führte sich regelungstechnisch ad absurdum. Immer konkretere Verordnungen mussten in der Zwischenzeit erlassen werden. Immer speziellere Verhaltensformen mussten auf die Verordnungskompatibilität überprüft werden. Immer länger werdende Internetverlautbarungen sollten Rechtsunsicherheiten bekämpfen. FAQs beantworteten etwa Fragen, ob es ein triftiger Grund zum Verlassen der Wohnung sei, wenn man die Winterreifen wechseln wolle. Mit Positivlisten wurde geregelt, dass die Betriebsuntersagungen nicht Geschäfte für Tierbedarf erfassten oder ob auch Fahrradläden ohne Fahrradwerkstatt geöffnet bleiben durften. Solches Verordnungsrecht beschneidet nicht nur fächendeckend Freiheitsrechte. Der Bürger und die Selbstorganisationsfähigkeit der Gesellschaft werden durch solche Regelungen auch entmündigt, das Ziel des Infektionsschutzes eigenverantwortlich zu verfolgen. Man traut ihnen die Risikoabschätzung nicht zu, weil die zum allgemeinen Lebensrisiko zählende Eigengefährdung immer auch eine Fremdgefährdung umfassen könne (Infektion durch unerkannt Infizierten). Dann aber übernimmt die Exekutive die Aufgabe, die hinnehmbaren Risiken zu definieren: vom Einkaufen für Tierbedarf bis zum Reifenwechsel. In Baden-Württemberg etwa normiert eine Verordnung die Einbahnstraßenregelung in den abgetrennten Bahnen von 50 m-Becken mit Richtungsverkehr und Aufschwimmverbot sowie den Ein- und Ausstieg ins Becken.42 Eine

42 § 2 Nr. 1 a), Nr. 2 Verordnung des Kultusministeriums und des Sozialministeriums BadenWürttemberg über Bäder und Saunen (Corona-Verordnung Bäder und Saunen) v. 25. 06. 2020, in Kraft ab 01. 07. 2020. Recht und Politik, Beiheft 7

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andere Verordnung regelt die Verpflegung während der Beförderung in Reisebussen.43 Viele andere Beispiele auch aus anderen Ländern ließen sich anfügen. Auf solch einer Regelungsebene entwickelt sich ein Regelungswahnsinn, der freilich rechtsstaatlich unvermeidlich ist, wenn man Lebens- und Gesundheitsschutz absolut setzt, keine hinzunehmenden Risiken anerkennt und die Eigengefährdung als allgemeines Lebensrisiko nicht zulässt. Abgesehen von der Schwere der Grundrechtseingriffe und ihrer mit Zeitablauf und Faktenzunahme immer anspruchsvolleren Rechtfertigung vor dem Maßstab der Verhältnismäßigkeit, führt diese Regelungstechnik auf direktem Weg nach Schilda. Das Umstellen auf allgemeine Verhaltensgebote, die situativ und individuell zu subsumieren sind, wird daher der nächste Schritt sein müssen. Angesichts der immer größeren Erfahrung mit Infektionsverläufen und Infektionsrisiken und der Konzentration des Infektionsgeschehens auf lokale Ausbrüche, geht eine Regelung mit generell-abstrakten Verordnungen am Ziel eines effektiven Gesundheitsschutzes zunehmend vorbei. Entsprechend verlagert sich die Zuständigkeit von der Landesregierung zunehmend auf die lokalen Behörden, die Gesundheitsämter in den Kommunen und Kreisen. Dort kann effektiver und auch verhältnismäßiger reagiert werden, weil nun Tatsachen im Einzelfall die Maßnahmen anleiten und nicht virologische Modellrechnungen, und weil der freiheitssichernde Aspekt des Einzelfallvollzugs wirkt. Insofern waren die Maßnahmen gegen die Infektionsverbreitung in der Fleischfabrik Tönnies im Kreis Gütersloh mit der gerichtlichen Reaktion durch das OVG Münster ein lehrreiches Beispiel. Mitte Juli 2020 fand sich inzwischen ein politischer Konsens, dass ein zweiter Lockdown auch bei wiederaufflammendem Infektionsgeschehen im Winter nicht in Betracht komme und stattdessen regional und punktuell reagiert werden solle.44 Die politischen Zielvorgaben gehen folglich in die Richtung, die Parallelrechtsordnung zurückzuführen. Aus grundrechtlicher Perspektive kann das nur begrüßt werden. Denn es stellt sich natürlich mittelfristig die Frage, wann wer wie das Risiko einer Covid-19Erkrankung zum allgemeinen Lebensrisiko zählen wird. Spätestens dann entfällt nämlich die Rechtfertigung für alle Maßnahmen, die zu einer Parallelrechtsordnung führen. Niemand scheint jedoch momentan die politischen Bedingungen formulieren zu wollen, unter denen eine solche Aussage getroffen werden kann. Wer könnte überhaupt eine solche Aussage treffen? Die WHO oder das RKI? Welcher Ministerpräsident will die politische Haftung für eine solche Aussage übernehmen? Letztlich sind solche Aussagen nur von Repräsentationsorganen zu verantworten, zu deren Aufgaben die Ausgestaltung und der Ausgleich von Grundrechten zählen. Welche Risiken hinzunehmen sind, ist dann in einer Arbeitsteilung von generell-abstrakter 43 § 7 der Verordnung des Verkehrsministeriums und des Sozialministeriums Baden-Württemberg zur Eindämmung von Übertragungen des Corona-Virus in Reisebussen (Corona-Verordnung Reisebusse) v. 25. 06. 2020, in Kraft ab 01. 07. 2020. 44 Vgl. die Bund-Länder-Einigung v. 16. 07. 2020 „Lokale Ausbrüche zielgenau bekämpfen“, https://www.bundesregierung.de/resource/blob/…. 62

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Normsetzung (etwa Zulassung des Kfz-Verkehrs) und individuell-konkreter Risikoabschätzung mit Eigengefährdung zu entscheiden. Dem Verordnungsrecht von Regierungen kommt dabei kein qualitativer Mehrwert zu. Die „Stunde der Exekutive“ schlägt nur, sie hält aber nicht die Uhr an. Es zeigt sich auch, wie geeignet grundrechtliche Denkkategorien sind, um gerade auf unbekannte Gefahren und neue Situationen zu reagieren. Grundrechte verlangen den Entscheidern nämlich letztlich drei Dinge ab: (1) Das Ziel des Handelns genau zu bestimmen (z. B. kapazitätsgerechte Steuerung des Pandemieverlaufs) und nicht rhetorisch ins Blaue zu schießen („Es geht um Leben und Tod“). (2) Die relevanten Belange in der Breite erheben und sich nicht in den Expertendiskurs von Sonderstäben flüchten, in denen die grundrechtlichen Schutzgüter in ihrer Breite systematisch vernachlässigt werden müssen. (3) Kontinuierlich mildere Mittel zu suchen, und das heißt zum einen, Tatsachen sogleich zu verarbeiten (Zeitbezug, Ortsbezug) und zum anderen, Gefahren nicht mit linearen Primitivkausalitäten (Äquivalenz) zuzurechnen, sondern die Korrektive normativer Zurechnungslehren zu berücksichtigen. Dies spricht gegen die Überantwortung der Risikoeinschätzung an Naturwissenschaftler, weil diese dazu neigen, kausale Gesetzmäßigkeiten zu präferieren und normative Zurechnungen als wenig exakt abzulehnen. Insofern dienen Grundrechte nicht nur der Sicherung individueller Freiheitsrechte. Sie begründen nicht nur die Rechtsordnung als eine werthafte. Sondern sie formulieren auch das Entscheidungsprogramm einer verantwortungsethischen politischen Philosophie.

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Grundrechte unter Quarantäne?* Von Christoph Gusy Corona ist nicht die erste Pandemie in der Bundesrepublik. Doch es ist die erste, deren Entstehung und Ausbreitung in Echtzeit beobachtet und deren Abwehr planmäßig organisiert und geregelt wird. Insoweit ist die Situation neu. Sie trifft auf Rechtsnormen, die in der Vergangenheit nicht eben im Zentrum von Rechtsanwendung und Rechtswissenschaft standen. Nun zeigt sich: Mit der frühzeitigen Erkennbarkeit sind die Erwartungen an den Staat gestiegen. Es ist an ihm, Prognose- und vor allem Therapiefähigkeit bereitzustellen. Wenn er gar nichts tut, untergräbt er eine eigene Legitimation und verstößt gegen grundrechtliche Schutzpflichten. Soweit er hingegen zu deren Erfüllung Recht setzt, ist dies experimentelle Gesetzgebung. Sie wird zum Stresstest für die Verfassung, auch die Grundrechte. Da ist das Gesetzesrecht, welches ersichtlich auf solche Herausforderungen nicht eingestellt war. Das InfektionsschutzG aus dem Jahr 2000 war gewiss geeignet, die Kräfte der zuständigen Länder in den damals im Vordergrund der Prävention stehenden Erkrankungen zu bündeln. Doch waren seine Befugnisnormen gegenüber den Bürgern aus grundrechtlicher Sicht ebenso defizitär wie manche Entschädigungsregelungen unklar. Weitere Schwächen kommen hinzu: Die Koordinierungskompetenzen des Bundes sind schwach; stark bislang allein auf dem Gebiet des Zivilschutzes, der militärisch verursachte Schäden betrifft. Sicherheitsforscher fragen schon länger: Sollten sich hier die Ressourcen zur Gefahrenprävention und -bewältigung einschließlich der Aufgaben, die erforderlichen Mittel vorzuhalten, nach der bundesstaatlichen Aufgabenverteilung richten? Oder sollte umgekehrt im Föderalismus diejenige Ebene zuständig sein, welche über die notwendigen Mittel verfügt? Und wenn – wie hier – beide Ebenen parallele Aufgabe und vergleichbare Mittel haben, sind Koordination und Kooperation einschließlich eines dafür adäquaten Rechts notwendig. Die Grundrechte stellen andere Fragen. Sie betreffen einerseits die Situation der Grundrechtsausübung im Notfall und andererseits deren volle Wiederherstellung nach Ende des Notfalls. Im Notfall geht es um die die Freiheit, Gleichheit und insbesondere den diskriminierungsfreien Zugang zu medizinischen Leistungen. Sie werden durch weit gespannte Ermächtigungen nicht nur durch Gesetz-, sondern auch durch Verordnungsgeber und Verwaltungsakte in einem zuvor kaum gekannten Maße eingeschränkt. Dass zeitweise jegliche Versammlung untersagt oder Gottesdienste in Kirchen *

Zuerst in: RuP 2/2020, 139 – 141.

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Grundrechte unter Quarantäne?

vorübergehend nicht stattfinden dürfen, wäre vor ein paar Wochen unvorstellbar gewesen. Aber dass das Unterbleiben praktisch sämtlicher Versammlungen oder Gottesdienste Menschenleben in einem weiteren Sinne retten könnte, war ebenso unvorstellbar. Experimentelle Gesetzgebung kann auch an Tabus rütteln. Und das umso mehr, als die faktische Gefährdungslage gegenwärtig kaum zuverlässig abgeschätzt werden kann und zudem Informationen von gestern heute schon wieder Makulatur sein können. Doch dispensiert eine solche Lage nicht von rechtlichen Vorgaben und Grenzen. Im GG gibt es keinen „kleinen Notstand“, so dass die Voraussetzungen und Grenzen aus dem allgemeinen Verfassungsrecht hergeleitet werden müssen: Klare und hinreichend legitimierte Grundlagen des Notrechts; ausreichend definierte Grenzen; ein geregeltes Verfahren für die Wiedereinstieg in die Normalität. Und es bedarf der organisatorischen Absicherung der Einhaltung solcher Grenzen durch ein System von checks and balances. Neben den formellen Anforderungen an Grundrechtseinschränkungen (Zitiergebot) gilt namentlich das Übermaßverbot in allen Dimensionen: Sind die besonderen Maßnahmen wirklich notwendig? Das bedarf einer institutionell abgesicherten regelmäßigen Überprüfung durch Befristung des Gesetzes oder der ausgerufenen Epidemielagen. Und es bedarf besonderer Kontrollmechanismen, am besten der Kontrolle schwerwiegender Maßnahmen der Exekutiven durch Parlamentsausschüsse. Demokratie und Grundrechtssicherung gehören auch in Sondersituationen zusammen – mehr denn je. Die Geschäftsordnungsänderungen nach Art des § 126a GOBT können vorübergehend die Handlungsfähigkeit der Volksvertretungen sichern. Im Bund sind diese Fragen unter dem Druck einer empfundenen Eilbedürftigkeit wenig diskutiert und z. T. gründliche Abwägungen durch breite Mehrheiten ersetzt worden. Das war namentlich in NRW anders: Die Bemühungen des Landtags um ein ausgewogenes Gesetz waren Sternstunden des Parlamentarismus unter schwierigen Bedingungen! Grundrechtsschutz geschieht aber nicht nur auf der Makroebene durch Parlamente. Sie betrifft nicht nur die Rechtssetzung, sondern auch die Rechtsanwendung. Hier dürfen materielle Bindungen nicht einfach deshalb hintangestellt werden, weil auch die Rechtswege nur eingeschränkt zur Verfügung stehen. Ein Verbot von Gottesdiensten ohne Ermöglichung von Sicherheitsvorkehrungen – etwa: Mindestabstände – kann problematisch sein, wenn zugleich Kaufhäuser geöffnet sind. Und generelle Versammlungsverbote bedürfen jedenfalls dann der besonderen Legitimation, wenn die Veranstaltung eher symbolisch ist und die Veranstalter die Einhaltung von gesundheitlich notwendigen Regeln beachten und durchsetzen. Und für Eingriffe in die Berufsfreiheit ist die Erkenntnis der Katastrophenforscher zu berücksichtigen. Freiwilligkeit ist effektiver! Freiwillige legen keine Rechtsmittel ein, drücken sich nicht vor dem Einsatz, handeln im Dienst effektiver und kommen bei der nächsten Notlage eher wieder als Verpflichtete. Das lässt sich auch grundrechtlich ummünzen: So viel Freiwilligkeit wie möglich, so wenig Zwang wie unabweisbar. In NRW hat man so aus guten Gründen auf die Möglichkeit der Zwangsrekrutierung verzichtet und auf Freiwilligenregister gesetzt. Das schließt Eingriffsbefugnisse nicht generell aus. Aber man muss

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sich stets bewusst machen: Sie können allenfalls Drohkulisse sein, wenn sich zu wenig Freiwillige melden. Demokratie und effektive Bekämpfung von Notlagen schließen sich nicht aus. Erstere erfordert, dass potentiell alle mitreden und mitbestimmen dürfen; aber nicht, dass dies notwendigerweise zu einem Zeitpunkt geschieht, der im Ernstfall die Wirksamkeit notwendiger Maßnahmen infrage stellt oder gar verhindert. Im Gegenteil: Die Not ist der Bewährungsfall der Demokratie. Auch hier bringen neue Lagen und neue Gesetze experimentelle Situationen. Die Demokratie ist auch nicht in Gefahr durch eine angebliche Herrschaft der Experten. Schon dass mehrere ausgewiesene Experten in Einzelheiten zu abweichenden Einschätzungen und Handlungsempfehlungen gelangen, zeigt ein hinreichend pluralistisches Bild. Sie lassen Raum für Entscheidungen der Politiker. Und mit dem Ende der Pandemie endet ihre Sonderrolle zugunsten der Politik sowie – in anderen besonderen Lagen – anderer Experten. Pluralität von Normallagen und Krisen, von Experten und von Entscheidern hilft der Demokratie gegen „starke Männer“. Eine gute Bedingung dafür ist übrigens der Föderalismus mit seinem Wettbewerb der Ideen und seinen institutionellen Gegengewichten: Er ist gegenwärtig weitaus besser als sein publizistischer Ruf! Die Pandemie ist schließlich auch ein Stresstest für das Europarecht, die europäische Solidarität und die Europaidee überhaupt. Zumindest anfangs hat in der Krise fast jeder zunächst an sich selbst gedacht. Schnelle Instrumente waren Grenzkontrollen auch in der EU, Einreiseverbote auch für EU-Bürger (einschließlich Wanderarbeitnehmern), endlose Staus mit Behinderungen des freien Warenverkehrs, Exportverbote für Medikamente und medizinische Geräte auch in andere EU-Länder. Europa allein zu Hause? Erst später kamen zaghafte Zeichen wiederauflebender Solidarität. Und sie kamen erst, als die grenzüberschreitende Hilfe zur bildmächtigen Angelegenheit von China und Russland wurden. Hier zeigten sich Erinnerungen an die Bewältigung der Flüchtlingskrise: Hauptsache, das eigene Land ist nicht (unmittelbar) betroffen. Und Hauptsache, bei der Problemlösung gehen die Anderen voran. Gewiss, auf dem Gebiet von Gesundheits- und Katastrophenschutz sind die Zuständigkeiten der EU gering. Aber es gibt keinen Grund, diese geringen Zuständigkeiten nicht zu nutzen.Gerade wenn sich in der Krise die Vorteile des kooperativen Föderalismus zeigen,so sollten sie auch nach außen womöglich genutzt werden. Jeder Anfang ist schwer, ermöglicht aber neues Lernen. Wichtig sind begleitende wie nachträgliche Evaluation. Ist die Demokratie überall standfest geblieben? Reichten die Rechtsgrundlagen für derart weitreichende Grundrechtseingriffe wirklich aus? Die rasche Neufassung des § 28 InfektionsschutzG hat hier Mängel aufgezeigt und zu beseitigen versucht. Und waren wirklich alle Grundrechtseinschränkungen im Einzelfall notwendig, die Quarantänebestimmungen diskriminierungsfrei und der gleiche Zugang zu medizinischer Behandlung gesichert? Auch der Staat des Grundgesetzes kann an seinen Aufgaben wachsen. Der aktuelle Stresstest von Freiheit und Demokratie ermöglicht vorübergehend, (potentielle) Träger von Infektionen unter Quarantäne zu stellen – nicht hingegen das Grundgesetz! 66

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Grenzenloser Infektionsschutz in der Corona-Krise?* Konturen eines grundrechtssensiblen Pandemie-Krisenrechts Von Stephan Rixen

I. Die Normalität des vermeintlichen Ausnahmezustands Die Corona-Krise1 mit ihrem allgegenwärtigen social distancing hat das Zusammenleben verändert.2 Gesellschaft und Staat befinden sich, so meinen nicht wenige, in einem Ausnahmezustand. Was damit gemeint ist, erscheint nicht immer ganz klar. Eher deskriptiv gemeinte Wortverwendungen, die den Verlust der bisher gekannten Normalität in den Blick nehmen, stehen neben normativ getönten Deutungen, die sich häufig sehr assoziativ auf Carl Schmitt als angeblichen Großtheoretiker des Ausnahmezustands beziehen.3 Beides soll die Erfahrung ubiquitärer Disruption auf den Punkt bringen. So verführerisch die Fixierung auf den Ausnahmezustand ist, so führt sie doch rasant in die Irre. Moderne Gesellschaften sind konstitutiv krisenanfällig. Krisen, also Lagen, die über das nach aller Erfahrung Übliche hinausgehen, gehören zur Normalität moderner Gesellschaften. Allein die Existenz eines Rechtsgebiets wie des Katastrophenschutzrechts zeigt, dass Ereignisse, die die üblichen Abläufe des Zusammenlebens massiv stören, zu den Normalitätsunterstellungen gehören, auf denen die gesamte Rechts-

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Zuerst in: RuP 2/2020, 109 – 117. Es geht um das Severe-Acute-Respiratory-Syndrome-Coronavirus-2 (SARS-CoV-2, § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 44a IfSG) und die dadurch ausgelöste Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19, § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. t IfSG). Näher demnächst Kersten/Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise (erscheint voraussichtlich im Sept. 2020 im Verlag C.H. Beck). – Alle Internetquellen in diesem Beitrag wurden zuletzt am 30. 04. 2020 abgerufen. Carl Schmitt ist eine Art walking dead der Verfassungstheorie. Er hat immer dann seinen Auftritt, wenn die üblichen Vorstellungen von Normalität ins Wanken geraten. Wer nachliest (Politische Theologie, 7. Aufl. 1996, S. 18 f.), stellt schnell fest, dass Schmitts Begriff des Ausnahmezustands auf eine vorrechtlich gedachte unbegrenzte Macht referiert. Das passt nicht zur Bewältigung der Corona-Krise, denn sie wird durch zahlreiche schützende Formen der rechtlichen Machtbegrenzung strukturiert.

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ordnung aufbaut.4 Das aber bedeutet, dass das Recht, auch und gerade das Verfassungsrecht, die Krise nicht als pararechtliche Exzeptionalität, sondern als regulierbare Normalität reflektieren muss.5 Das heißt vor allem, sich auf die Logik des Abwägungsdenkens einzulassen, das die Erfüllung von Staatsaufgaben, zu denen der antipandemische Gesundheitsschutz gehört, mit verhältnismäßigen Grundrechtsbeschränkungen relationiert. Eingebettet ist dieses Abwägungsdenken in ein staatsorganisationsrechtliches Institutionensetting, das sich gerade in der Krise als flankierender Grundrechtsschutz bewähren muss. Im Folgenden sollen diese Überlegungen in erster Linie mit Blick auf die in der CoronaKrise ins Werk gesetzten Grundrechtsbeschränkungen illustriert werden (dazu II.). Sodann ist der Blick auf die bundesrechtlichen Regelungen zum Gesundheitsnotstand zu richten, die nicht zuletzt auch grundrechtlich relevant sind (dazu III.). Anschließend soll auf einige Aspekte hingewiesen werden, die bedacht werden sollten, wenn die Rechtsordnung „pandemiefähig“ bzw. „krisentauglich“ werden soll (dazu IV.). Das kurze Resümee kreist um die Reformbedürftigkeit des Infektionsschutzrechts (dazu V.).

II. Was ist verhältnismäßig? Grundrechtsbeschränkungen in der Corona-Krise 1. Alles verfassungswidrig? Beginnend etwa ab dem 10. März 2020 sind in ganz Deutschland Allgemeinverfügungen und Rechtsverordnungen ergangen,6 die von den nach Landesrecht zuständigen Behörden auf das Infektionsschutzgesetz (IfSG) des Bundes gestützt wurden (in erster Linie auf die §§ 28, 32 IfSG). Die ersten Regelungen waren kaum bekanntgegeben bzw. verkündet, da begann schon eine Debatte darüber, ob § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG, der auch beim Erlass einer Rechtsverordnung zu beachten ist, verfassungsgemäß sei oder nicht. Im Hinblick auf die Vielzahl der ganz unterschiedlichen Maßnahmen, die in Veranstaltungsverboten, Betriebsschließungen und massiven Ausgangsbeschränkungen gipfelten, wurde insbesondere moniert, § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG als infektionsschutzrechtliche Generalklausel sei nicht hinreichend bestimmt bzw. genüge der Wesentlichkeitslehre des Bundesverfassungsgerichts nicht.

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Rixen, in: Kloepfer (Hrsg.), Pandemien als Herausforderung für die Rechtsordnung, 2011, S. 67 (69 f.). Nassehi weist aus soziologischer Sicht darauf hin, dass „die moderne Gesellschaft selbst innerhalb der Krise nach ziemlich gewohnten Mustern funktioniert“ (Neue Zürcher Zeitung [NZZ], Nr. 99 v. 29. 04. 2020, S. 5). Siehe die unter https://lexcorona.de gesammelten Regelungen. – Näher zum Folgenden mit weiteren Nachweisen Rixen, NJW 2020, 1097 ff. Recht und Politik, Beiheft 7

Grenzenloser Infektionsschutz in der Corona-Krise?

Bezeichnenderweise sind die (Ober‐)Verwaltungsgerichte, die bislang in zahlreichen Entscheidungen Stellung genommen haben, der Kritik in aller Regel nicht gefolgt.7 Sie haben erkannt, dass Generalklauseln dazu da sind, unvorhergesehenen Regelungsbedarf zu bewältigen. Was immer in der Seuchen(rechts)geschichte an mehr oder weniger ähnlichen Vorgängen nachweisbar sein mag, entscheidend ist, dass es eine der heutigen Lage vergleichbare Risikowahrnehmung und einen dazu kongruenten Maßnahmeneinsatz in Deutschland noch nicht gegeben hat.8 Genau das ist die Situation, für die die Generalklausel geschaffen wurde. Wer sich mit der Entstehungsgeschichte des § 28 IfSG befasst, sieht schnell, dass der Gesetzgeber bewusst auf alle denkbaren Fälle vorbereitet sein wollte.9 Zugleich betont § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG, dass die notwendigen Schutzmaßnahmen zu treffen sind, „soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist“. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist das entscheidende regulatorische Ventil, mit dessen Hilfe die geeignete (also der Zielerreichung dienliche), die erforderliche (also in milderer Weise gleich effektiv nicht mögliche) und die zumutbare (also Maßloses vermeidende) staatliche Intervention bestimmt werden muss. Zugegeben: Der (relativ bald nach Beginn der akuten Corona-Krise nicht nur redaktionell geänderte)10 Normtext des § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG (Satz 2 konkretisiert beispielhaft und nicht abschließend, welche Schutzmaßnahmen zulässig sind) ist mit Blick auf seine Bestimmtheit nicht über jeden letzten Zweifel erhaben. Der Gesetzgeber sollte die zulässigen Maßnahmen weiter konkretisieren. Hierbei sollten die regulatorischen Erfahrungen der gegenwärtigen Krise berücksichtigt werden. Nicht alles, was in der Corona-Krise geregelt wurde und wird, sollte ungeprüft übernommen werden. Erinnert sei an das (schon nicht hinreichend bestimmte) Verbot, „Hamsterverkäufe“ vorzunehmen,11 das auf lokaler Ebene verschiedentlich erlassen wurde und dem der spezifisch infektionsschützende Bezug fehlt. Klar ist: Je länger die grundrechtsbeschränkenden Maßnahmen andauern, desto nötiger werden spezialgesetzliche Regelungen im IfSG.12

7 Siehe die unter https://lexcorona.de gesammelten Gerichtsentscheidungen. 8 Zur historischen Einordnung etwa Thießen (Hrsg.), Infiziertes Europa. Seuchen im langen 20. Jahrhundert, 2014; Rengeling, Vom geduldigen Ausharren zur allumfassenden Prävention. Grippe-Pandemien im Spiegel von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, 2017. 9 So die in der Begründung zum IfSG in Bezug genommene Begründung zum früheren BundesSeuchengesetz, BT-Drks. 8/2468, 27: „für alle Fälle gewappnet“. 10 Gesetz v. 27. 03. 2020 (BGBl. 2020 I 587). 11 Allgemeinverfügung der Stadt Frankfurt/M. v. 23. 03. 2020; kritisch dazu Kirchner, www.juwiss.de (Beitrag vom 26. 03. 2020). 12 BayVGH, Beschl. v. 27. 04. 2020 – 20 NE 20.793 –, Rn. 45; siehe dazu auch Rixen, NJW 2020, 1097 (1099). Recht und Politik, Beiheft 7

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2. Zur Aufgabe des Infektionsschutzrechts Das Infektionsschutzrecht setzt viel früher als das übliche Polizeirecht an, nämlich im Vorfeld handfester Gefahren. Es kann deshalb auch Personen viel großzügiger in die Pflicht nehmen, denen sich eine konkrete Infektionsgefahr nicht zweifelsfrei zurechnen lässt (sog. Nichtstörer). Das hat mit der Wirkweise von (viralen) Infektionen pandemischen Ausmaßes zu tun. Zugespitzt ausgedrückt: Wer immer erst auf die nachgewiesene Infektion wartet, kommt meistens zu spät. Infektionsschutz besteht aus einem Bündel eruierender und intervenierender Maßnahmen (Testung, Hygieneregeln, social distancing), die einerseits die Gefahren besser aufklären und andererseits weitere Infektionen vermeiden helfen sollen. Für die Tests, so hat es der Bundesgesundheitsminister in einem Interview mit einem US-amerikanischen Fernsehsender treffend ausgedrückt, gilt: „It’s like pointing a flashlight into the dark“.13 Je mehr sich das Dunkel aufhellt, umso zielgenauer können die getroffenen Schutzmaßnahmen korrigiert und weiterentwickelt werden. Da sich das Testen aber derzeit noch nicht flächendeckend umsetzen lässt, überdies Infektionsketten in ihrem Verlauf derzeit nicht immer, vor allem nicht schnell genug nachverfolgbar sind und regionale Infektionsschwerpunkte noch nicht zuverlässig genug eingegrenzt werden können, besteht einstweilen ein großes Dunkelfeld mindestens potentieller Infektionsgefahr, auf das reagiert werden muss, als könne sich dieses Gefahrenpotential jederzeit überall realisieren. Auch auf diese Situation ist § 28 Abs. 1 IfSG zugeschnitten. 3. Temporalisierte Verhältnismäßigkeit Die in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG angelegte Verhältnismäßigkeitsprüfung bewährt sich insbesondere „in der Zeit“, das heißt, mit zunehmendem Zeitablauf. Die Verwaltungsgerichte, aber auch das Bundesverfassungsgericht haben in der Corona-Krise immer wieder verdeutlicht, dass massive Grundrechtsbeschränkungen, die zunächst zulässig gewesen sein mögen, beobachtet und daraufhin überprüft werden müssen, ob sie noch zumutbar sind. Das Bundesverfassungsgericht hat dies etwa für die Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1, 2 GG) angesichts des Verbots betont, Gottesdienste bei körperlicher Anwesenheit der Gläubigen in dem jeweiligen Raum (Kirche, Synagoge, Moschee etc.) abzuhalten.14 Bezogen auf die Versammlungsfreiheit haben die Gerichte erkannt, dass ein vollständiges Versammlungsverbot, ohne mildere Maßnahmen (insb. Abstands- und andere hygienesichernde Gebote, die bei der Versammlung zu beachten sind) zuzulassen, unverhältnismäßig ist.15 Die Pflicht zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Zeitablauf – der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes spricht insofern von einer „begleitenden Rechtfertigungs13 CNBC-Interview v. 13. 04. 2020, www.cnbc.com/video/2020/04/13/why-germany-hasbeen-so-successful-in-dealing-with-the-coronavirus.html. 14 BVerfG, Beschl. v. 10. 04. 2020 – 1 BvQ 28/20 –; siehe auch BVerfG, Beschl. v. 29. 04. 2020 – 1 BvQ 44/20 –, (beide Entscheidungen abrufbar unter www.bverfg.de). 15 Siehe etwa BVerfG, Beschl. v. 15. 04. 2020 – 1 BvR 828/20 – (www.bverfg.de). 70

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kontrolle“16 – gilt generell: Um etwaige unzumutbare Belastungen zu vermeiden, müssen Verbote im Lichte der Grundrechte eingeschränkt ausgelegt werden, Verbotsausnahmen müssen grundrechtsfreundlich angewandt oder normativ geschaffen werden. Praktiziert wird gerade kein absoluter – also differenzierungsimmuner – Vorrang des Gesundheits- bzw. des Lebensschutzes.17 Die psychologischen, ökonomischen (insb. Einkommens- bzw. Arbeitsplatzverlust, makroökonomische Effekte) und die sozialen Folgen (insb. Vereinsamung, häusliche Gewalt, Bildungschancen nach Schulschließungen, Kindererziehung unter den Bedingungen des Homeoffice) fließen in die Abwägung ein, die aber kein rechtlich restlos determinierter, sondern ein rechtlich gerahmter Entscheidungsprozess ist. Durchweg geht es um Gewichtungen, deren Ergebnis vertretbar, also nicht alternativlos ist, aber immer noch zumutbar sein muss. Auch mit der durchgängigen Befristung der Grundrechtsbeschränkungen meist auf wenige Wochen haben die zuständigen Stellen der Verwaltung zum Ausdruck gebracht, dass ihnen die temporale Dimension der Verhältnismäßigkeit bewusst ist und regelmäßige Überprüfungen der Verhältnismäßigkeit geboten sind. Im funktionell-rechtlichen Kooperationsverhältnis zwischen Exekutive und Judikative hat die Verwaltung gelernt und zügig Regelungen geändert, nachdem Gerichte sie moniert hatten.18 Zugleich respektieren die Gerichte, dass die normsetzende und normanwendende Verwaltung bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung – konkret: auf der Ebene von Geeignetheit und Erforderlichkeit – einen Einschätzungsspielraum benötigt, um auf die oft empirisch diffuse Gefahren(verdachts)lage adäquat reagieren zu können. Dem trägt eine regelmäßig nicht allzu streng gehandhabte gerichtliche Kontrolldichte Rechnung. Dass die Verwaltungsgerichte in Einzelfällen Gleichheitsverstöße moniert haben (etwa bei der nach Ladenfläche unterschiedenen Ladenöffnung19 oder bei der nach Klassen differenzierenden Öffnung der Schulen)20, ist richtig, aber auch hier zeigt sich, dass die schützenden Formen und Denkschemata des Rechtsstaats funktionieren.

16 VerfGH Saarland, Beschl. v. 28. 04. 2020 – Lv 7/20 –, S. 11 (www.verfassungsgerichtshofsaarland.de). 17 Zur Debatte siehe das Interview mit Wolfgang Schäuble im „Tagesspiegel“ v. 26. 04. 2020 (www.tagesspiegel.de); siehe auch FAZ, Nr. 99 v. 28. 04. 2020, S. 1: „Debatte über absoluten Vorrang des Lebensschutzes“. 18 Verordnung v. 28. 04. 2020 (BayMBl. Nr. 225/2020) als Reaktion auf BayVGH, Beschl. v. 27. 04. 2020 – 20 NE 20.793 – (800 qm-Grenze im Einzelhandel). 19 VG Hamburg, Beschl. v. 21. 04. 2020 – 3 E 1675/20 –, https://justiz.hamburg.de/vg-aktuelles. 20 HessVGH, Beschl. v. 24. 04. 2020 – 8 B 1097/20.N –. Recht und Politik, Beiheft 7

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III. Kritikwürdige Regulierung des Gesundheitsnotstands 1. Gesundheitsnotstand im Bund Das „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“,21 dem ein Ergänzungsgesetz gefolgt ist,22 gestattet der Sache nach die Ausrufung eines auf das Gesundheitswesen bezogenen Notstands.23 § 5 Abs. 1 bis 5 IfSG tritt mit Ablauf des 31. 3. 2021 außer Kraft. In Anlehnung an die auf die Gewährleistung der Daseinsvorsorge bezogenen wirtschaftlichen Sicherstellungsgesetze,24 die Mitte der 1960er Jahre im Vorgriff auf die Änderungen des Grundgesetzes durch die sog. Notstandsverfassung25 ergangen sind und bis in die Gegenwart aktualisiert werden, stellt der Deutsche Bundestag eine epidemische Lage von nationaler Tragweite fest; beim Fortfall der (in zwei Vorentwürfen, aber nicht mehr im Gesetzentwurf und im Gesetz definierten)26 Voraussetzungen hebt der Bundestag die Feststellung auf (§ 5 Abs. 1 IfSG). Die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite hat der Bundestag unter der stillschweigenden Bedingung, dass das Gesetz in Kraft tritt, im Anschluss an die Verabschiedung des Gesetzes getroffen.27 2. Zur Entgrenzung tendierende Ermächtigungen des BMG Die Feststellung hat zur Folge, dass dem BMG umfängliche Ermächtigungen zum Erlass von (sofort vollziehbaren, § 5 Abs. 4 Satz 5 IfSG) Anordnungen sowie von Rechtsverordnungen (Erlass durchweg ohne Zustimmung des Bundesrates) zuwachsen (§ 5 Abs. 2 IfSG). Rechtsverordnungen treten mit der Aufhebung der epidemischen Lage außer Kraft, spätestens am 31. 3. 2021 (zu Ausnahmen § 5 Abs. 4 Satz 3 IfSG); Entsprechendes gilt für die Anordnungen (§ 5 Abs. 4 Satz 4 IfSG). Das Gesetz betont, dass einerseits die Befugnisse der Länder „unbeschadet“ bleiben und im Übrigen die reguläre Vollzugskompetenz der Länder (Art. 83 GG) gilt. Das heißt, sie führen die Rechtsverordnungen des BMG aus – was aber nicht ausnahmslos der Fall ist (vgl. – dazu 21 Gesetz v. 27. 03. 2020 (BGBl. 2020 I 587). 22 Zweites Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite, BT-Drucks. 19/18967. 23 Das Folgende in Anlehnung an Rixen, NJW 2020, 1097 (1102). 24 Siehe etwa § 1 Ernährungssicherstellungs- und -vorsorgegesetz (ESVG) zur Feststellung einer „Versorgungskrise“. 25 Gesetz v. 24. 06. 1968 (BGBl. I 709); hierzu auch Werbke, ZaöRV 27 (1967), 139 (218 f.). 26 In den Formulierungshilfen, die dem Gesetzentwurf vorhergingen, wurde – was weiterhin Anhaltspunkte sind – auf die von der WHO ausgerufene gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite (Art. 12 Internationale Gesundheitsvorschriften [IGV], BGBl. 2007 II 930 [942 f.]) oder eine bundesländerübergreifende Ausbreitung schwerwiegender übertragbarer Krankheiten hingewiesen. 27 BT-Plenarprotokoll 19/154 v. 25. 03. 2020, S. 19169 (C), BT-Drks. 19/18156 (Beschlussempfehlung). 72

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noch sogleich – § 5 Abs. 2 Nr. 6 IfSG). Insgesamt gehen die Befugnisse des BMG sehr weit, wie hier beispielhaft verdeutlicht werden soll. Die Rechtsverordnungsermächtigungen, von denen inzwischen mehrfach Gebrauch gemacht wurde,28 ermöglichen zahlreiche Modifikationen und vor allem Ausnahmen praktisch im gesamten öffentlich-rechtlichen Recht der Gesundheit (§ 5 Abs. 2 Nr. 4, 7, 8, 10 IfSG): Im Bereich der Ausbildung der Ärzte und anderer Gesundheitsberufe, des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung, im Pflegebereich, im gesamten Bereich der gesundheitsrelevanten Produkte einschließlich von Ausnahmen von den üblichen Regeln der Zulassung von Arzneimitteln (zu denen auch Impfstoffe gehören, vgl. § 4 Abs. 4 AMG) und Medizinprodukten. Auch die Beschaffung und die Sicherstellung von Produkten, Verkaufsverbote und Preisregelungen, ferner die Umstellung, Eröffnung oder Schließung von Produktions- und Betriebsstätten sind zulässig (§ 5 Abs. 2 Nr. 4 Buchst. c bis g IfSG). Verbunden wird dies mit der Kompetenz, die Rechtsverordnung durch Anordnungen des BMG oder nachgeordneter Behörden durchzuführen und zu ergänzen (§ 5 Abs. 2 Nr. 6 Buchst. a, b IfSG). Das ist Gesetzesausführung durch bundeseigene Verwaltung (Art. 86 Satz 1 GG).29 § 5 Abs. 2 Nr. 3 IfSG schafft eine umfassende Befugnis, durch Rechtsverordnung von jeder Bestimmung des IfSG (und der auf das IfSG gestützten Rechtsverordnungen) abzuweichen, „um die Abläufe im Gesundheitswesen und die Versorgung der Bevölkerung aufrecht zu erhalten“. Spätestens mit dieser Ermächtigungsnorm dürften die Grenzen des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG (Inhalt, Zweck und Ausmaß),30 die schon bei den anderen Ermächtigungsnormen schwer zu bestimmen sind, überschritten sein.31 Daher sind alle Ermächtigungsnormen, insbesondere soweit sie den Erlass von Rechtsverordnungen gestatten, äußerst restriktiv auszulegen. Nichts anderes gilt für die Anordnungsbefugnisse, von denen das BMG ebenfalls bereits Gebrauch gemacht hat.32 3. Bayern und NRW Die Rechtslage im Bereich des Gesundheitsnotstands wird dadurch verkompliziert, dass Bayern33 und Nordrhein-Westfalen34 eigene Regelungen über den Gesundheitsnotstand geschaffen haben. Sie führen insbesondere im Hinblick auf die Frage, ob bzw. 28 VO v. 30. 3. 2020 (BAnz. AT 31. 03. 2020 V1), VO v. 08. 04. 2020 (BAnz. AT 09. 04. 2020 V3), VO v. 08. 04. 2020 (BAnz. AT 09. 4. 2020 V4), VO v. 20. 04. 2020 (BAnz. AT 21. 04. 2020 V1). 29 Hierzu Ibler, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: 10/2019, Art. 86 Rn. 35, 67 f. 30 Kloepfer u. a., Gutachten „Legislativer Änderungsbedarf in der Ernährungsnotfallvorsorge“, 2014, 267 ff. u. ö. (https://service.ble.de). 31 Näher Ritgen, Der Landkreis 2020, 137 ff.; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Staatsorganisation und § 5 Infektionsschutzgesetz, WD 3-3000-080/20, 2. 4. 2020 (www.bundestag.de). 32 S. etwa die Anordnung v. 08. 04. 2020 (BAnz. AT 9. 4. 2020 B7). 33 BayIfSG v. 25. 03. 2020 (GVBl 2020 174). Recht und Politik, Beiheft 7

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inwieweit Bundesrecht Landesrecht bricht, zu schwierigen Abgrenzungen, außerdem werfen sie auch in grundrechtlicher Hinsicht manches Fragezeichen auf, etwa wenn es um die Inpflichtnahme von Gesundheitsberufen geht.35 Schon unter dem Aspekt des bundesfreundlichen Verhaltens sollten die Bundes- und die Landesnormen soweit wie möglich so ausgelegt und angewandt werden, dass Normenkollisionen vermieden werden.

IV. Pandemie-Krisenrecht der Zukunft – einige Merkposten Insgesamt zeigt der exemplarische Blick auf die Grundrechtsbeschränkungen, aber auch die Vorschriften zum Gesundheitsnotstand: Von einem Ausnahmezustand in dem Sinne, dass sich Gesetzgeber oder Verwaltung rechtlicher Disziplinierung und gerichtlicher Kontrolle begeben könnten, kann keine Rede sein. Jede grundrechtsrelevante Maßnahme steht unter dem Vorbehalt, dass unabhängige Gerichte (z. B. auch wegen eines Verstoßes gegen Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG) Maßnahmen für rechtswidrig erklären. Alle Regelungen, die in der gegenwärtigen Krise zu Grundrechtsbeschränkungen geführt haben, sollten evaluiert werden, um bei einer künftigen Krise noch grundrechtssensibler agieren zu können. Das gilt auch für die problematischen Regelungen über den Gesundheitsnotstand. Was sollte darüber hinaus – getreu dem Grundsatz „Nach der Pandemie ist vor der Pandemie“ – noch bedacht werden? Dazu einige – nicht erschöpfende – Stichworte: Die bisherige Pandemieplanung sollte zu einer integrierten Pandemieplanung ausgebaut werden, die u. a. die aus der Sozialinfrastrukturplanung insbesondere im Gesundheitswesen (etwa Krankenhausplanung) bekannten Planungsinstrumente mit jenen des Katastrophenschutzes kombiniert und weiterentwickelt. Soweit es um die Folgenabschätzung von Maßnahmen der Pandemiebekämpfung (shutdown, Lockerungen, ExitStrategie etc.) geht, sollte neben medizinischem und epidemiologischem Wissen z. B. auch sozialwissenschaftlicher und ökonomischer Sachverstand strukturiert in politische Entscheidungen einfließen. Angesiedelt etwa beim Deutschen Ethikrat könnte ein Gremium unter Einbeziehung u. a. von wissenschaftlichen Akademien und Fachgesellschaften die Beratungsexpertise bündeln, und zwar auch unter diversitätssensibler Einbindung der Perspektiven jüngerer (erinnert sei an die „Junge Akademie“)36 und älterer Generationen (erinnert sei an die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenor-

34 Infektionsschutz- und Befugnisgesetz (IfSBG-NRW) v. 14. 04. 2020 (GV. NRW. 217b), dazu kritisch Amhaouach, www.juwiss.de (Beitrag v. 01. 04. 2020). 35 Hierzu die schriftlichen Stellungnahmen von Cremer, Gusy, Kreuter-Kirchhof und Wißmann zur öffentlichen Anhörung im Landtag NRW (zum Gesetzentwurf LT-Drucks. 17/8920), www.landrag.nrw.de („Parlamentsdatenbank“). 36 Hierzu die Kritik von Allmendinger, Interview im „Tagesspiegel“ v. 14. 04. 2020 (www.tages spiegel.de); siehe außerdem die Informationen unter www.diejungeakademie.de. 74

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ganisationen).37 Die in der Corona-Krise weithin informelle politisch-strategische BundLänder-Koordinierung könnte nach dem Vorbild anderer Rechtsordnungen als dauerhaftes Koordinierungsgremium installiert werden.38 Was infektionsschutzrechtliche Maßnahmen für Parlamente, Verwaltung und Justiz bedeuten, ist einerseits Gegenstand der verfassungsrechtlich geschützten Selbstregulierungsbefugnis der Parlamente39 und muss andererseits vom demokratischen Gesetzgeber (etwa im Verwaltungsverfahrens- oder im Gerichtsverfassungsgesetz) geregelt werden. Nicht Gesundheitsämter oder der Verordnungsgeber eines Bundeslandes sollten alleine darüber entscheiden, ob der Bundestag oder ein Landtag tagt.40 In der Justiz sollte nicht alles Wesentliche der gesetzlich kaum regulierten richterlichen Verfahrensleitungsbefugnis, der Sitzungspolizei (§ 176 GVG) oder gar dem Hausrecht der Gerichtspräsidentin bzw. des Gerichtspräsidenten überlassen bleiben.41 Die erst beginnende Debatte über digital anspruchsvolles E-Government bei parlamentarischen Beratungen, in Verwaltungs- und Gerichtsverfahren muss weitergeführt werden.

V. Resümee: Nach der Pandemie ist vor der Pandemie Das Infektionsschutzgesetz (IfSG), das im Zuge der Krise bereits geändert wurde, gestattet eine grundrechtssensible Bewältigung der Corona-Krise. Das sollte aber nicht von der Einsicht ablenken, dass das Gesetz in vielfacher Hinsicht verbesserungsbedürftig ist. Seine Ordnungsmodelle, Begriffe und Unterscheidungen passen nicht mehr uneingeschränkt zur pandemischen Realität. Das Pandemie-Krisenrecht muss deshalb auf neue normative Füße gestellt werden. Niemand kann nach den Erfahrungen der Corona-Krise noch behaupten, Pandemien mit einem vergleichbaren Risikopotential seien nicht vorhersehbar. Die nächste Pandemie ähnlichen Zuschnitts kommt bestimmt. Deshalb ist es nicht sinnvoll, mit der IfSG-Reform zu warten, bis die aktuelle Corona-Krise halbwegs unter Kontrolle oder gar vollständig bewältigt ist. Eine Reform des IfSG, die effektiven antipandemischen Infektionsschutz grundrechtssensibel ermöglicht, gehört schon jetzt ganz oben auf die Agenda von Rechts- und Gesundheitspolitik.

37 Informationen unter www.bagso.de. 38 Vgl. das „Koordinationsorgan“ gemäß Art. 54 Epidemiengesetz (EpG) Schweiz; siehe auch die „Verwaltungsvorschrift-IfSG-Koordinierung“ (BAnz. AT v. 18. 12. 2013 B3). 39 Vgl. etwa § 126a sowie Anlage 6, Nr. 6a (zur Immunität bei infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen) GO Bundestag (BGBl. 2020 I 764) oder § 193a GO Bayerischer Landtag (GVBl. 2020, 223). 40 Vgl. § 1 Abs. 2 Berliner VO v. 22. 03. 2020 (GVBl. 2020 220). 41 Vgl. § 3 Abs. 3 Satz 4 der 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO v. 18. 04. 2020 (GVBl. 2020 135). Recht und Politik, Beiheft 7

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Über die Versammlungsfreiheit in der Corona-Krise – eine Zwischenbilanz* Von Horst Meier Infektionsgeschehen, Quarantäne, Herdenimmunität – seit dem Ausbruch der Corona-Krise sind seltsam klingende Begriffe in aller Munde: Kontaktverbot, Ausgangssperre, Reproduktionszahl. Mittlerweile erfreuen sich viele an zahlreichen Lockerungen, und das wiedererwachende öffentliche Leben verleitet zu Sorglosigkeit. In den Ländern und Gemeinden versucht man, örtliche Ausbrüche einzudämmen. Bundesweit ausgebrochen ist unterdessen der Sommerurlaub. Droht jetzt, nach dem ersten Lockdown, eine zweite Infektionswelle? Oder wird es durch Abstandsregeln und Gesichtsmasken gelingen, so etwas wie eine neue Normalität zu konsolidieren? Nur so viel ist klar: Nach dem Primat einer Seuchenprävention, die im Schock der ersten Wochen alles überwölbte, ist heute etwas anderes gefragt: eine Langzeitstrategie für den Umgang mit dem Virus – bis denn wirksame Medikamente und Impfstoffe gefunden sind. Bei der Risikopolitik, die jetzt dringend notwendig ist, geht es nicht allein um Kindertagesstätten und Schulen, um Diskotheken und Clubs, um Theater und Kinos, um Konzerthallen und Fußballstadien. Es geht auch um eine neue Balance zwischen präventivem Gesundheitsschutz und bürgerlicher Freiheit. Mit dem Lockdown erlebte dieses Land die schwersten Freiheitseingriffe seiner Nachkriegsgeschichte.1 Wucht und Reichweite der präventiven Maßnahmen waren beispiellos; der faktische CoronaAusnahmezustand führte zeitweise zum „Herunterfahren“ von Freiheitsrechten auf nahezu null. Hätte jemand zu Beginn des Jahres prophezeit, an Karfreitag seien sämtliche Gottesdienste verboten und am 1. Mai alle Demonstrationen abgesagt worden, ich hätte das für wahnwitzig gehalten, abgetan als zügellose Phantasie über einen omnipotenten Maßnahmestaat – jedenfalls nicht im Traum an eine Kaskade von Verordnungen gedacht, die, gestützt auf ein unscheinbares Infektionsschutzgesetz, eine ganze Gesellschaft lahmlegen. Sprach nicht die Kanzlerin wiederholt von einer „demokratischen Zumutung“? Ja, das kann man wohl sagen. Zeit also für eine erste Zwischenbilanz. An den „Zumutungen“, die die Versammlungsfreiheit betreffen, lässt sich besichtigen, wie die bisherigen Phasen der Corona-Krise verlaufen sind. Der Bogen spannt sich vom * 1

Zuerst in: RuP 3/2020, 282 – 285. Vgl. Corona Epidemie: Das CILIP-Tagebuch. Eine Chronik. In: Bürgerrechte & Polizei/ CILIP, Heft 122 (Mai 2020).

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Duncker & Humblot, Berlin

Über die Versammlungsfreiheit in der Corona-Krise – eine Zwischenbilanz

anfänglichen Totalverbot im März über Demonstrationen gegen Corona-Beschränkungen im April und Mai bis hin zu den großen Protesten gegen Rassismus im Juni. Mit dem Lockdown erfolgte der Beilschlag; die Juristen in den Staatskanzleien und Innenministerien hatten ganze Arbeit geleistet. Demonstrationen wurden per Verordnung entweder völlig oder im Prinzip verboten; Ausnahmen gab es praktisch keine. So wurde über Nacht aus dem Recht nach Artikel 8 des Grundgesetzes, sich „friedlich und ohne Waffen unter freiem Himmel zu versammeln“, eine leere Phrase. Denn aus der generellen Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt – ausnahmsweise dann, wenn Gewalt und andere Gefahren drohen –, wurde ein generelles Verbot mit Erlaubnisvorbehalt: verkehrte Welt! In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ war von „Polizeistaat“ die Rede.2 Man muss sich vor Augen führen, wie bis dahin die Normallage rechtlich ausbuchstabiert wurde. Nach dem Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, jener bahnbrechenden Leitentscheidung aus dem Jahr 1985, haben alle Bürgerinnen und Bürger das Recht, ihren Protest auf die Straße zu tragen. Die aktive Teilnahme am Meinungskampf und der öffentlichen Willensbildung ist für die Demokratie schlechthin konstituierend: „Das Recht, sich ungehindert mit anderen zu versammeln“, erklärten die Verfassungsrichter damals, „galt seit jeher als Zeichen der Freiheit (und) der Unabhängigkeit … des selbstbewussten Bürgers“. Schließlich die Kernaussage: „Als Abwehrrecht (gegen Staatseingriffe) gewährleistet Artikel 8 das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung“.3 Davon war der Corona-Ausnahmezustand Lichtjahre entfernt, und die zuständigen Verwaltungsgerichte schufen zunächst keine Abhilfe.4 Bis das Bundesverfassungsgericht am 15. April eine Eilentscheidung fällte und ein Versammlungsverbot in Gießen aufhob.5 Dort hatten an die 30 Leute demonstrieren wollen unter dem Motto „Gesundheit stärken statt Grundrechte schwächen“. Obgleich sie einen Mindestabstand anboten, wurde ihr Anliegen abgewiesen. Das Verfassungsgericht dagegen erklärte, ein pauschales Verbot sei unzulässig – auch nicht im Namen der Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Vielmehr müssten die konkreten Umstände des Einzelfalles berücksichtigt werden. Man könne zum Beispiel die Teilnehmerzahl per Auflage

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Hank, Die gute Hirtin Angela. Die Kanzlerin und der deutsche Polizeistaat. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 12. April 2020. BVerfGE 69, 315; instruktiv Doering-Manteuffel/Greiner/Lepsius (Hrsg.), Der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts 1985. Tübingen: Mohr 2015; Horst Meier, Protestfreie Zonen? In: Essayband gleichen Titels mit 44 „Variationen über Bürgerrechte und Politik“: Berliner Wissenschaftsverlag 2012. Vgl. Corona-Maßnahmen und deren Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft. Expertise der Gesellschaft für Freiheitsrechte vom 9. April 2020 (im Auftrag von Greenpeace) – „Update“ = Expertise vom 20. Mai 2020: Versammlungsfreiheit, Demonstration und Protest in Zeiten von Corona (unter freiheitsrechte.org). Versammlungsverbot Gießen, BVerfG-Beschluss vom 15. April 2020 (1 BvR 828/20).

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begrenzen. Aber abstrakte Einwände des Gesundheitsschutzes, die praktisch jede öffentliche Versammlung beträfen, könnten ein Verbot nicht begründen. Kurz darauf bestätigte das Verfassungsgericht seine versammlungsfreundliche Haltung. In Stuttgart hatten sich 50 Leute zur Verteidigung der Grundrechte versammeln wollen, ihr Motto „Wir bestehen auf (der) Beendigung des Notstands-Regimes“. Die Verwaltung hatte sich geweigert, über die angemeldete Kundgebung auch nur zu entscheiden: weil sämtliche Versammlungen automatisch verboten seien. Dieses Vorgehen, erklärte das Verfassungsgericht, werde „Bedeutung und Tragweite des Grundrechts“ nicht gerecht.6 Die Corona-Verordnung lasse Handlungsspielraum, der konkret ausgeschöpft werden müsse. Außerdem habe die Behörde, „möglichst in kooperativer Abstimmung“ mit dem Veranstalter, „alle in Betracht kommenden Schutzmaßnahmen“ in Erwägung zu ziehen. Sie müsse, betonten die Verfassungsrichter, sich „um eine Lösung bemühen“, die im Sinne „praktischer Konkordanz“ sowohl dem Infektionsschutz als auch der Versammlungsfreiheit annähernd gerecht werde. Das trifft es. Besonders schwere Eingriffe müssen fortlaufend und streng darauf hin geprüft werden, ob sie angesichts der aktuellen Lage noch angemessen sind. „Verhältnismäßigkeit“, das ist die eiserne Ration des Rechtsstaats. Die Eilentscheidungen des Verfassungsgerichts waren der Eisbrecher, sie hauchten der nur noch auf dem Papier stehenden Versammlungsfreiheit neues Leben ein. Und machten den Weg frei für die Entwicklung der nächsten Wochen. Zuerst fanden kleinere, dann zunehmend größere Demonstrationen statt – unter Hygieneauflagen, die mehr oder weniger eingehalten wurden. In diese Zeit fielen zahlreiche Kundgebungen gegen coronabedingte Beschränkungen, die manche als übertrieben oder gar unnötig empfanden; so versammelten sich in Stuttgart Anfang Mai 10.000 Menschen. Bis schließlich im Juni, nach dem gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George Floyd in den USA, auch in Berlin, Hamburg und anderenorts große Demonstrationen gegen Rassismus und Polizeigewalt stattfanden. Sie markieren eine weitgehende Rückkehr zur Normalität der Versammlungsfreiheit – die, wie jede Freiheit, am besten dadurch verteidigt wird, dass man sie sich nimmt. Öffentlichkeit findet heute nicht nur auf der Straße statt. In den letzten Monaten gab es zahlreiche Protestformen, die sich im Internet artikulierten, zum Beispiel von Klimaaktivisten. Trotzdem gilt: Protest darf von Behörden nicht ins Virtuelle abgedrängt werden, die körperliche Präsenz im öffentlichen Raum bleibt der Kern der Versammlungsfreiheit.7 Die Polizei muss sich „versammlungsfreundlich“ verhalten, sie darf Protest nicht als Störung behindern, sondern sollte ihn als Bürgerrecht respektieren und 6 7

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Versammlungsverbot Stuttgart, BVerfG-Beschluss vom 17. April 2020 (1 BvQ 37/20). Dazu grundlegend Hoffmann-Riem, Versammlungsfreiheit. In: Handbuch der Grundrechte, hrsg. von Detlef Merten und Hans-Jürgen Papier, Heidelberg: C. F. Müller 2011, Bd. IV und Hoffmann-Riem, Demonstrationsfreiheit auch für Rechtsradikale? Über das Gebot rechtsstaatlicher Toleranz. In: Horst Meier/Fritz Dyckmans (Hrsg.), Rechtsradikale unter dem Schutz der Versammlungsfreiheit. Hofgeismarer Protokolle 352: Evangelische Akademie 2010. Recht und Politik, Beiheft 7

Über die Versammlungsfreiheit in der Corona-Krise – eine Zwischenbilanz

ermöglichen. Das gilt übrigens auch für Leute, die sich einen Aluhut aufsetzen. Sicher, die Kritik an Verschwörungsphantasien ist wichtig, zum Beispiel was die finsteren Machenschaften betrifft, die man Bill Gates andichtet. Aufklärung und Kritik ändern aber nichts daran, dass auch verwirrte Geister das gute Recht haben, ihre Ideen auf die Straße zu tragen – solange sie denn friedlich bleiben und sich an die Abstandsregeln halten. Grundrechte schützen seit jeher unbequeme Minderheiten, auf dass die herrschende Mehrheit unablässig provoziert und herausgefordert werde. Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit lädt alle ein, über potentiell alles zu streiten. In den Worten des US Supreme Court aus dem Jahr 1949: „Accordingly a function of free speech under our system of government is to invite dispute. It may indeed best serve its high purpose when it induces a condition of unrest, creates dissatisfaction with conditions as they are, or even stirs people to anger. Speech is often provocative and challenging.“8

Demonstrationen sind ein Moment der produktiven Unruhe, der öffentlichen Kritik und Kontrolle. Sie enthalten, heißt es im Brokdorf-Beschluss aus dem Jahr 1985, „ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren“. Jede Gesellschaft braucht Dissens. Demokratische Kommunikationsrechte schaffen ein öffentliches Forum, sie regen Lernprozesse an.9 Gerade das macht die Stärke einer pluralistischen Gesellschaft aus; sie kann die zahllosen Corona-Debatten, die fällig sind, ausdiskutieren. Die kollektive Gesundheitsprävention kollidiert ja oft genug mit Individualinteressen – seien sie wirtschaftlicher, kultureller oder religiöser Natur. Hier schwelen Konflikte, die, offen ausgetragen, vernünftig zu lösen sind. Wenn es gutgeht. Ein Beispiel dafür ist der Streit um die sogenannte Corona-Warn-App, die Mitte Juni endlich eingeführt wurde. Dass diese App freiwillig ist, keine Ortung oder persönliche Identifikation erlaubt und keine zentrale Speicherung kennt – all dies ist einer intensiven Debatte um Datenschutz und das Recht auf Privatheit zu verdanken. So wurde Vertrauen geschaffen. Die Pandemie und der faktische Ausnahmezustand, der dem Lockdown folgte, wurden als die „Stunde der Exekutive“ bezeichnet – zu Recht. Sogleich aber, nach einigen Schrecksekunden, schlug auch die Stunde der Judikative, vor allem in Karlsruhe. Die sich abzeichnende „Corona-Rechtsprechung“ nimmt gerade erst Gestalt an – und es wird noch manche Korrektur notwendig sein, um die prekäre Balance zwischen Infektionsschutz und Freiheitsrechten auszutarieren. So sehr die letzten Monate geprägt waren von beispielloser Unsicherheit und Gewissheitsverlusten, haben sie doch eines klar gezeigt: dass eine offene Gesellschaft die Bürgerrechte stets mitdenken muss – auch und gerade in Zeiten der Krise. 8 9

In Terminiello v. Chicago, 337 U.S. 1,4 (1949) und des öfteren, z. B. im Flag burning case Texas v. Johnson, 491 U.S. 397, 408 (1989). Cass R. Sunstein, Why Societies Need Dissent. Cambridge: Harvard University Press 2003.

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„Zwangstracking“ – Ein rechtliches No-Go?* Von Christian Hamann

I. Einleitung Je länger die zur Verlangsamung der Corona-Infektionswelle von den Landesregierungen verhängten Beschränkungen des privaten und öffentlichen Lebens andauern und je belastender die wirtschaftlichen Folgen dieser Maßnahmen werden, desto dringlicher wird die Diskussion um zusätzliche oder alternative Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Im Vordergrund stehen dabei das inzwischen ubiquitäre Smartphone und seine Fähigkeit, Informationen über den Standort und die Umgebung seines Trägers zu erfassen und zu teilen. Das „Tracking“ oder „Tracing“1 von Bürgern anhand der Daten ihrer Mobiltelefone soll es erlauben, Infektionsketten schnell nachzuvollziehen und zu unterbrechen. Erfahrungen aus Asien (scheinen zu) belegen, dass mit solchen technischen Mitteln ein wirksamer Beitrag zur Kontrolle des CoronaAusbruchs geleistet werden kann. In Europa stoßen solche Überlegungen wenig überraschend nicht nur bei Datenschutzfundamentalisten auf erhebliche Bedenken. Die Vorstellung, das eigene Telefon könnte zum Einfallstor für eine lückenlose Überwachung von Aufenthaltsorten und Kontakten werden, lässt viele Bürger erschaudern. Politiker und Datenschutzbeauftragte dürften auf breite Zustimmung stoßen, wenn sie erklären, der Einsatz von Standort- und Handydaten als Mittel der Seuchenbekämpfung sei allenfalls zulässig, wenn er in jeder Hinsicht datenschutzkonform und – besonders wichtig – auf freiwilliger Basis erfolge. Abzuwarten bleibt allerdings, ob dieser breite Konsens auch dann bestehen bleibt, wenn sich die Lage nicht in dem erhofften Tempo entspannt und die Regierungen von Bund und Ländern vor der Entscheidung stehen, ob sie mit einer Verlängerung von Ausgangsund Kontaktbeschränkungen zugleich eine weitere Verschärfung der Wirtschaftskrise mit u. U. unabsehbaren Folgen in Kauf nehmen.

* 1

Zuerst in: RuP 2/2020, 133 – 138. Die Begriffe „Tracking“ und „Tracing“ bezeichnen die Verfolgung eines bewegten Objekts. Während teilweise zwischen der zeitlich mitlaufenden (Tracking) und der nachvollziehenden (Tracing) Verfolgung unterschieden wird, werden die Begriffe in der öffentlichen Diskussion weitgehend synonym gebraucht. Daran orientiert sich der vorliegende Artikel.

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„Zwangstracking“ – Ein rechtliches No-Go?

Der vorliegende Beitrag wirft nach einem kursorischen Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten der Seuchenbekämpfung per Handy, die derzeit in der Diskussion oder – vor allem im Ausland – bereits umgesetzt sind, aus rechtlicher Perspektive die Frage auf, ob der Einsatz solcher Maßnahmen tatsächlich nur mit Einwilligung der betroffenen Bürger erfolgen kann.

II. Was machen die anderen? Befürworter wie Kritiker des Einsatzes von Smartphone- und Mobilfunktechnik im Kampf gegen COVID-19 berufen sich auf die Erfahrungen, die vor allem in ostasiatischen Ländern gemacht wurden: – Südkorea hat in der Epidemiebekämpfung offenbar durch den Einsatz einer GPSbasierten App Erfolge erzielt. Die App schlägt „Alarm“, wenn eine Person den ihr zugewiesenen zulässigen Aufenthaltsbereich verlässt. Es liegen aber auch Berichte vor, dass infizierte Personen öffentlich bloßgestellt wurden, weil sie durch die Verwendung der App identifiziert werden konnten. Das könnte Betroffene davon abgehalten haben, eine Infektion anzuzeigen. – In Taiwan wird eine GPS-basierte App verwendet, um die Einhaltung von Ausgangssperren zu überwachen. Die App alarmiert die zuständigen Behörden, wenn das Smartphone den zulässigen Aufenthaltsort des Trägers verlässt. Sie schlägt auch an, wenn das Handy ausgeschaltet wird. In einer Reihe von Fällen sollen deshalb Bürger Besuch von der Polizei erhalten haben, weil der Akku ihrer Smartphones leer war. – Als datenschutzfreundliche Lösung wird die App „TraceTogether“ aus Singapur gehandelt. Die App verwendet keine Standortdaten, sondern registriert mit Hilfe von Bluetooth-Signalen andere Smartphones in ihrer Umgebung und vergibt jeweils temporäre IDs, die nur auf den betroffenen Geräten gespeichert werden. Erkrankt ein AppNutzer an COVID-19, kann dieser sein Bewegungsprofil freischalten, sodass die IDs, mit denen innerhalb der vorangegangenen 21 Tage relevanter Kontakt bestand, durch eine Push-Nachricht informiert werden können.

III. Welche Maßnahmen werden in Deutschland umgesetzt oder diskutiert? In Deutschland wie in den anderen EU-Mitgliedstaaten haben sich die Mobilfunkanbieter bereits frühzeitig dazu bereit erklärt, den zuständigen Behörden oder Stellen (in Deutschland das Robert-Koch-Institut) anonymisierte Standortdaten aus Funkzellenabfragen zur Verfügung zu stellen. Anhand dieser Daten können Bewegungsströme z. B. in Gebieten mit Ausgangsbeschränkungen nachvollzogen werden, um die Effektivität der Maßnahmen zu bewerten. Die Datenschutzbehörden haben dieses Vorgehen akzeptiert. Keinen Erfolg hatte demgegenüber ein Gesetzentwurf des Bundesgesundheitsministeriums, mit dem die Mobilfunkanbieter dazu verpflichtet werden sollten, dem RKI Recht und Politik, Beiheft 7

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unter bestimmten Voraussetzungen auch Standortdaten individueller Mobilfunknutzer zu überlassen. Neben grundsätzlichen Bedenken wegen der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit eines solchen Eingriffs in das Telekommunikationsgeheimnis und das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung hielt eine breite Front von Kritikern diesem Vorschlag vor allem entgegen, Standortdaten aus Funkzellenabfragen seien viel zu ungenau und deshalb ungeeignet, um die Kontakte von infizierten Personen zu identifizieren. Die größte Aufmerksamkeit und Unterstützung erhalten derzeit Vorschläge, die ähnlich wie TraceTogether aus Singapur auf die Bluetooth-Technologie setzen. Deren Vorteil besteht darin, dass sie auf kurze Distanzen ausgelegt ist und genaue Daten innerhalb ihres Anwendungsradius erfassen kann. Jeder Kontakt mit einem anderen Gerät, das eine entsprechende App installiert und Bluetooth aktiviert hat, kann dadurch tatsächlich metergenau bestimmt werden. Die von verschiedenen Unternehmen und Konsortien vorangetriebenen Lösungen funktionieren im Grundsatz übereinstimmend so, dass die mittels Bluetooth erfassten Kontakte unter einer pseudonymen ID, die keinen Rückschluss auf die Identität der Kontaktperson ermöglicht, auf dem jeweiligen Endgerät verschlüsselt gespeichert werden. Wird bei einem Nutzer der App eine COVID-19-Infektion festgestellt, erhält er von seinem Arzt oder vom Gesundheitsamt einen Code, mit dem er die in seinem Gerät gespeicherten Kontakte-IDs der vorangegangenen 14 Tage oder drei Wochen freigeben kann. Die mit diesen IDs verknüpften Smartphone Besitzer werden dann per Push-Nachricht darüber informiert, dass sie Kontakt mit einer infizierten Person hatten. Dabei werden weder die Identität der infizierten Person noch Ort und Zeit des Kontakts offengelegt. Diese Lösung wird grundsätzlich als datenschutzfreundlich angesehen und u. a. auch vom Bundesdatenschutzbeauftragten unterstützt. Allerdings gab es bis zuletzt Streit um technische Details wie insbesondere die Frage, ob die Speicherung von Kontakt-IDs ausschließlich dezentral auf den einzelnen Endgeräten erfolgen oder ob es eine zentrale Serverinfrastruktur für die Erfassung und Benachrichtigung von Kontakten geben sollte. Weitgehende Einigkeit scheint nur in der Einschätzung zu bestehen, dass die Nutzung einer Tracing App für die Bürger freiwillig bleiben muss.

IV. Geht „Tracking“ tatsächlich nur auf freiwilliger Basis? Die beste technische Lösung kann nichts bewirken, wenn sie nicht auch tatsächlich zum Einsatz kommt. Schätzungen gehen davon aus, dass ca. 30 bis 60 % der Bevölkerung eine Tracing oder Tracking App nutzen müssten, damit eine ausreichend hohe Quote von Kontakten mit infizierten Personen identifiziert werden kann. Installieren nicht genügend Smartphone-Nutzer eine solche App und steigen die Infektionszahlen erneut auf ein Niveau, das eine Lockerung der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen nur um den Preis einer Überlastung der Gesundheitssysteme erlauben würde, wird sich die Frage kaum umgehen lassen, ob der Staat seine Bürger auch zwangsweise zur AppNutzung verpflichten könnte.

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„Zwangstracking“ – Ein rechtliches No-Go?

V. Was sagt das EU-Recht? Die europäische Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) fordert für die Verarbeitung von personenbezogenen Daten stets eine rechtliche Grundlage (vgl. Art. 6 Abs. 1, 9 Abs. 2 DS-GVO). Eine Befugnisnorm für eine verpflichtende Anordnung der Verwendung einer Tracking App enthält die DS-GVO nicht. De lege lata ist auf Basis der DS-GVO die Einwilligung des einzelnen Nutzers daher die einzige in Betracht kommende Grundlage für den Einsatz einer solchen technischen Lösung. Diese Einwilligung ist nur wirksam, wenn sie freiwillig und in informierter Weise erteilt wird und jederzeit widerrufen werden kann (Art. 4 Nr. 11, 7 Abs. 3 DS-GVO). Gleichwohl steht das EU-Recht der staatlichen Regelung eines Benutzungszwangs für Tracking Apps nicht unüberwindlich entgegen. Art. 9 Abs. 2 lit. g DS-GVO erlaubt es den Mitgliedstaaten ausdrücklich, aus Gründen eines erheblichen öffentlichen Interesses Rechtsgrundlagen für die Verarbeitung von sensiblen (Gesundheits‐)Daten zu schaffen, sofern der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt bleibt und ausreichende Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte und (Datenschutz‐) Interessen der betroffenen Personen getroffen werden.

VI. Und das Grundgesetz? Der Ball liegt damit im Feld des nationalen (Verfassungs‐) Rechts. Die Verpflichtung zur Nutzung einer Technologie, die Standortdaten oder Kontakte speichert und auswertet, stellt einen weitreichenden Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung dar. Ein solcher Eingriff ist nicht unter allen Umständen unzulässig; kein Grundrecht gilt schrankenlos und der Schutz anderer Grundrechte und Verfassungsgüter kann auch erhebliche Beschränkungen rechtfertigen. Erforderlich ist dafür aber in jedem Fall eine parlamentsgesetzliche Grundlage, die die wesentlichen Bedingungen für den Grundrechtseingriff, insbesondere die Voraussetzungen und Grenzen, hinreichend bestimmt regelt. Die bestehenden gesetzlichen Bestimmungen z. B. im Infektionsschutzgesetz oder im Telekommunikationsgesetz wären dafür wohl nicht ausreichend und müssten zunächst angepasst werden. Ein solches Gesetz zur Anordnung oder Ermöglichung eines „Zwangstracking“ muss den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgebots genügen. Das heißt, es muss geeignet und erforderlich sein, die mit ihm verfolgten Gemeinwohlinteressen – Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung – zu erreichen. Darüber hinaus darf es die betroffenen Grundrechtsträger nicht unangemessen schwer beeinträchtigen. Bei der Beurteilung von Eignung und Erforderlichkeit grundrechtsbeschränkender Maßnahmen hat der Gesetzgeber einen Prognose- und Beurteilungsspielraum. Das ist gerade in der von vielen Unsicherheiten geprägten aktuellen Situation von besonderer Bedeutung. Trotzdem dürfte etwa die zwischenzeitlich angedachte zwangsweise Abschöpfung und Verarbeitung von individuellen Standortdaten aus der Mobilfunknut-

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zung bereits am Eignungserfordernis scheitern, solange nicht begründet werden kann, wie die vergleichsweise ungenauen Funkzellendaten wirksam zur Unterbrechung von Infektionsketten genutzt werden könnten. Besonderes Gewicht kommt bei der Entscheidung über einen Zwang zur Nutzung von Tracking-Technologien dem Kriterium der Erforderlichkeit zu. Der Gesetzgeber muss sorgfältig abwägen, ob andere, weniger belastende Mittel zur Verfügung stehen, um mit vergleichbarem Erfolg gegen die Ausbreitung des Corona-Virus vorzugehen. Solange die Förderung freiwilliger Maßnahmen und Initiativen ausreichenden Erfolg verspricht, sind Zwangsmittel nicht erforderlich und damit unzulässig. Wenn aber prognostisch davon ausgegangen werden muss, dass eine ausreichende Nutzerzahl für eine TrackingApp auf freiwilliger Basis nicht oder nicht hinreichend schnell erreicht werden kann, und nur noch die Wahl zwischen einer Verlängerung (oder Verschärfung) von Ausgangsbeschränkungen und der Verpflichtung zur Nutzung von Tracking-Technologien besteht, kann das Urteil anders ausfallen. Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) hat in der Werteordnung des Grundgesetzes einen außerordentlich hohen, wenn auch keinen absoluten Rang. Die staatliche Pflicht zum Schutz dieses Grundrechts wird seit Wochen zur Begründung von schwerwiegenden Eingriffen in andere Grundrechte herangezogen, namentlich zur Beschränkung der Berufsfreiheit (Art.12 Abs. 1 GG), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 GG) durch die Untersagung der Öffnung von Einzelhandelsgeschäften und Gastronomiebetrieben, das Verbot von Kulturveranstaltungen und politischen Demonstrationen und die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, die viele Menschen hart treffen. Man wird jedenfalls dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung keinen generellen Vorrang vor diesen anderen Grundrechten zusprechen können. Sieht sich der Gesetzgeber einer Situation gegenüber, in der die Verwirklichung eines Grundrechts nur noch auf Kosten eines anderen Grundrechts möglich ist, muss er für einen möglichst schonenden Ausgleich sorgen. Denkbar wäre zum Beispiel, statt einer flächendeckenden Anordnung der Installation und Nutzung von Tracing-Apps eine solche Pflicht nur für Bürger zu begründen, die eine Ausnahme von ansonsten weitergeltenden Ausgangs- und Kontrollbeschränkungen für sich in Anspruch nehmen wollen. Die Bürger hätten so die Wahl, ob sie lieber in „freiwilliger“ Isolation bleiben oder eine Einschränkung ihrer informationellen Selbstbestimmung hinnehmen. Schließlich muss immer die Angemessenheit von staatlich angeordneten (Zwangs‐) Mitteln gewahrt bleiben. Der Einsatz von Smartphones als „elektronische Fußfessel“ wie in manchen asiatischen Ländern praktiziert, dürfte in Deutschland allenfalls unter eng definierten Voraussetzungen in Betracht kommen, wenn Personen, bei denen konkreter Infektionsverdacht besteht, Anlass zu der Befürchtung geben, dass sie sich nicht an die behördlich angeordneten Quarantäne Maßnahmen halten werden. Die Polizeigesetze einiger Länder sehen für vergleichbare Konstellationen zudem eine vorherige richterliche Kontrolle vor.

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„Zwangstracking“ – Ein rechtliches No-Go?

Demgegenüber könnte eine grundsätzlich datenschutzfreundliche Technologie auf Basis der Bluetooth-Technologie auch bei staatlich angeordneter Zwangsnutzung die Verhältnismäßigkeit der Mittel unter Umständen noch wahren. Allerdings hätte der Gesetzgeber vor einer solchen Entscheidung noch viele weitere Detailfragen abzuwägen, die hier nicht im Einzelnen behandelt werden können. Offen ist z. B., wie mit Bürgern umzugehen wäre, die kein Smartphone besitzen (wollen). Ob die in diesem Zusammenhang diskutierten Vorschläge, Armbänder mit Bluetooth-fähigem Chip und vorinstallierter App bereitzustellen, praktikabel und flächendeckend umzusetzen wären, ist ungewiss.

VII. Fazit Vorläufig können wir alle nur hoffen, dass die Eindämmung der Corona-Pandemie auch ohne weitere Einschränkung persönlicher und wirtschaftlicher Freiheiten gelingt. Sollte diese Hoffnung aber enttäuscht werden, wäre der Gesetzgeber rechtlich nicht daran gehindert, zum Schutz anderer wichtiger Grundrechte und Gemeinwohlinteressen auch Eingriffe in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung vorzunehmen. Im Rahmen der von der Verfassung gezogenen Verhältnismäßigkeitsgrenzen liegt die Entscheidung über das Ob und Wie eines „Zwangstracking“ in den Händen der Politik.

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Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei Freiheitsbeschränkungen infolge der Coronavirus SARS CoV-2 Pandemie* Von Martin H. W. Möllers

I. Einleitung In ihrem Statement vom 31. März 2020 erklärte die Präsidentin der Kommission der Europäischen Union (EU), Ursula von der Leyen, zu den Notmaßnahmen in den Mitgliedstaaten, dass die EU sich auf Werte wie Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte gründe, welche die Mitgliedstaaten eine. Diese Werte müssten daher auch in diesen herausfordernden Zeiten der CoronavirusPandemie hochgehalten und verteidigt werden. Daher komme es darauf an, dass die Maßnahmen verhältnismäßig und zeitlich begrenzt sind. Sie kündigte außerdem an, dass die Kommission ihre Anwendung durch die Mitgliedstaaten überprüfen werde.1 Auch die Generalsekretärin des Europarates, Marija Pejčinović Burić, veröffentlichte am 8. April 2020 Leitlinien für Regierungen in ganz Europa über die Achtung der Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit während der COVID-19-Krise. Die Leitlinien umfassen vier Schlüsselbereiche: 1. Abweichung von der Europäischen Menschenrechtskonvention im Notstandsfall, 2. Achtung der Rechtsstaatlichkeit und demokratischer Grundsätze im Notstandsfall, einschließlich Beschränkungen des Umfangs und der Dauer der Notfallmaßnahmen, 3. Grundlegende Menschenrechtsnormen, darunter Freiheit der Meinungsäußerung, Privatsphäre und Datenschutz, Schutz gefährdeter Gruppen vor Diskriminierung und Recht auf Bildung,

* 1

Zuerst in: RuP 3/2020, 286 – 308. von der Leyen, Erklärung von Präsidentin von der Leyen zu Notmaßnahmen in den Mitgliedstaaten, Brüssel, Statement/20/567 vom 31. 03. 2020, https://ec.europa.eu/commission/ presscorner/detail/de/statement_ 20_567 (letzter Abruf: 04. 05. 2020).

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Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei Freiheitsbeschränkungen

4. Schutz vor Kriminalität und Schutz der Opfer von Verbrechen, insbesondere im Hinblick auf geschlechtsbezogene Gewalt.2 Damit thematisieren sowohl die Europäische Union (EU) als auch der Europarat die Entwicklungen, die sich in Europa infolge der Coronavirus SARS CoV-2 Pandemie eingestellt haben. 1. Coronavirus und EU-Vertrag Nach Ansicht der Vizepräsidentin der EU-Kommission, Vera Jourova, haben die meisten EU-Staaten im Kampf gegen das Coronavirus die Grundrechte ihrer Bürger eingeschränkt. „Bisher haben 20 EU-Länder eine Art Notstandsgesetzgebung verabschiedet, um die Corona-Krise erfolgreich zu bekämpfen und die notwendigen Maßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen und den Schutz der Menschen gegen das Virus durchsetzen zu können“.3 Das sagte die für Rechtsfragen zuständige Kommissarin in einem Interview der Zeitung „Die Welt“. Das Problem sieht Jourova, die Politikerin aus Tschechien ist, darin, dass auf lange Sicht die Gefahr bestehe, dass die Demokratie durch diese Maßnahmen geschwächt werde. Darum sei Kontrolle wichtig. „Das Coronavirus darf die demokratische Ordnung nicht killen“4,

vielmehr sei eine demokratische Balance dringend erforderlich. Nach ihren Angaben untersucht die EU-Kommission derzeit in allen betroffenen Ländern die Notfallmaßnahmen und prüft, ob sie gegen demokratische Grundwerte i. S. d. Art. 2 EUVertrag verstoßen. In diesen Fällen werde die EU-Kommission einschreiten.5 2. Coronavirus und Europäische Menschenrechtskonvention Nach Art. 15 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) kann, wenn das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht wird, jede Hohe Vertragspartei Maßnahmen treffen, die von den in der EMRK vorgesehenen Verpflichtungen abweichen, jedoch nur, soweit es die Lage unbedingt erfordert und wenn die Maßnahmen nicht im Widerspruch zu den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei stehen. Nachdem sechs europäische Staaten, darunter u. a. Estland, Lettland und Rumänien, ankündigten, sich aufgrund 2

3

4 5

Pejčinović Burić, Coronavirus: Leitlinien für Regierungen zur Achtung der Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Straßburg, 08. 04. 2020, https://www.coe.int/de/web/ portal/-/coronavirus-guidance-to-governments-on-respecting-human-rights-democracy-andthe-rule-of-law (letzter Abruf: 04. 05. 2020). Schiltz, Vera Jourova: „Das Corona-Virus darf die demokratische Ordnung nicht killen“; in: Die Welt online vom 06. 0. 2020, https://www.welt.de/politik/ausland/plus207044895/VeraJourova-EU-Kommissarin-warnt-vor-Einschraenkung-der-Demokratie.html (letzter Abruf: 04. 05. 2020). Schiltz, „Das Corona-Virus darf die demokratische Ordnung nicht killen“ (Fn. 3). Schiltz (Fn. 3).

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der Corona-Pandemie auf Art. 15 EMRK zu berufen, veröffentlichte die Presseabteilung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im März 2020 einen Faktencheck zur Anwendung dieses Artikels.6 Danach enthält Art. 15 Abs. 1 EMRK drei Bedingungen, die für eine gültige Ausnahmeregelung vorausgesetzt werden: – Es muss sich in Kriegszeiten oder anderen öffentlichen Notfällen befinden, die das Leben der Nation bedrohen. – Die Maßnahmen, die als Reaktion auf diesen Krieg oder diesen öffentlichen Notfall ergriffen wurden, dürfen nicht über das Ausmaß hinausgehen, das von den Erfordernissen der Situation unbedingt gefordert wird, und – die Maßnahmen dürfen nicht im Widerspruch zu den anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen des Staates stehen.7 Die Frage stellt sich daher, ob es sich bei der Coronavirus SARS CoV-2 Pandemie um einen „Krieg“ handelt, wie es von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in seiner Rede an die Nation Mitte März mehrfach behauptet und vom US-Präsidenten Donald Trump und auch von vielen in Fernsehinterviews auftretenden Ökonomen und Virologen übernommen wurde8, oder ob es „nur“ ein öffentlicher Notfall ist, der das Leben der Nation bedroht. Der Gerichtshof stellt in seinem Leitfaden unter Nr. 7 fest: „The Court has not been required to interpret the meaning of ›war‘ in Article 15 § 1; in any case, any substantial violence or unrest short of war is likely to fall within the scope of the second limb of Article 15 § 1, a ›public emergency threatening the life of the nation‘.“9

Damit kann die Corona-Pandemie höchstens einen „öffentlichen Notfall“ darstellen. Den erläutert der EGMR unter Nr. 8 seines Leitfadens: „The natural and customary meaning of ›public emergency threatening the life of the nation‘ is clear and refers to ›an exceptional situation of crisis or emergency which affects the whole population and constitutes a threat to the organised life of the community of which the State is composed‘.“10

6 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Guide on Article 15 of the European Convention on Human Rights – Derogation in time of emergency, Updated on 31 December 2019, Straßburg 2020, https://www.echr.coe.int/Documents/Guide_Art_15_ENG.pdf (letzter Abruf: 04. 05. 2020). 7 EGMR, Guide on Article 15 EMRK (Fn. ), S. 6. 8 Stöcker, Das hier ist kein Krieg, Spiegel-Wissenschaft Kolumne vom 05. 04. 2020, https://www. spiegel.de/wissenschaft/mensch/corona-debatte-das-hier-ist-kein-krieg-kolumne-a-ee82dba7e0f1 - 4a6a-93ef-c499cb16b433 (letzter Abruf: 04. 05. 2020). 9 EGMR, Guide on Article 15 EMRK (Fn. 6), S. 6 (eigene Übersetzung: Der Gerichtshof war nicht verpflichtet, die Bedeutung von „Krieg“ in Art. 15 Abs. 1, 1. Alt. EMRK auszulegen. In jedem Fall fällt jede erhebliche Gewalt oder Unruhe außerhalb des Krieges wahrscheinlich in den Anwendungsbereich von Art. 15 Abs. 1, 2. Alt. EMRK, einem „öffentlichen Notfall, der das Leben der Nation bedroht.“). 10 EGMR, Guide on Article 15 EMRK (Fn. 6), S. 6 (eigene Übersetzung: Die natürliche und übliche Bedeutung von „öffentlicher Notfall, der das Leben der Nation bedroht“ ist klar und bezieht sich auf „eine außergewöhnliche Krisen- oder Notsituation, die die gesamte Bevölke88

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Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei Freiheitsbeschränkungen

Eine außergewöhnliche Krisen- oder Notsituation, die die gesamte Bevölkerung betrifft und eine Bedrohung für das organisierte Leben der Gemeinschaft darstellt, könnte der Corona-Pandemie bescheinigt werden. Dies auch schon deshalb, weil der EGMR mehrfach bestätigt und nochmals in Nr. 17 seines Leitfadens wiederholt: „It falls in the first place to each Contracting State, with its responsibility for ›the life of [its] nation‘, to determine whether that life is threatened by a ,public emergency‘ and, if so, how far it is necessary to go in attempting to overcome the emergency. By reason of their direct and continuous contact with the pressing needs of the moment, the national authorities are in principle in a better position than the international judge to decide both on the presence of such an emergency and on the nature and scope of derogations necessary to avert it. In this matter Article 15 § 1 (…) leaves those authorities a wide margin of appreciation.“11

Das Gericht führt aber unter Nr. 18 – 20 seines Leitfadens weiter aus: „Nevertheless, the States do not enjoy an unlimited power in this respect: the Court is empowered to rule on whether the States have gone beyond the ›extent strictly required by the exigencies‘ of the crisis (…). To assess whether the measures taken were ›strictly required by the exigencies of the situation and consistent with the other obligations under international law‘, the Court examines the complaints on the merits …“ „As the Court has clarified, the existence of a ,public emergency threatening the life of the nation‘ must not serve as a pretext for limiting freedom of political debate. Even in a state of emergency the States must bear in mind that any measures taken should seek to protect the democratic order from the threats to it, and every effort should be made to safeguard the values of a democratic society, such as pluralism, tolerance and broadmindedness …“. „In determining whether a State has gone beyond what is strictly required, the Court will give appropriate weight to factors such as the nature of the rights affected by the derogation, the circumstances leading to, and the duration of, the emergency situation …“.12 rung betrifft und eine Bedrohung für das organisierte Leben der Gemeinschaft darstellt, in der sich der Staat befindet.“). 11 EGMR, Guide on Article 15 EMRK (Fn. 6), S. 7 f. (eigene Übersetzung: Es liegt in erster Linie bei jedem Vertragsstaat, der für das Leben seiner Nation verantwortlich ist, zu bestimmen, ob dieses Leben von einem „öffentlichen Notfall“ bedroht ist und wenn ja, inwieweit es erforderlich ist zu versuchen, den Notfall zu überwinden. Aufgrund ihres direkten und kontinuierlichen Kontakts mit den dringenden Erfordernissen des Augenblicks sind die nationalen Behörden grundsätzlich besser als der internationale Richter in der Lage, sowohl über das Vorliegen eines solchen Notfalls als auch über Art und Umfang der erforderlichen Ausnahmeregelungen zu entscheiden, um den Notfall abzuwenden. In dieser Angelegenheit lässt Art. 15 Abs. 1 (…) diesen Behörden einen weiten Ermessensspielraum.). 12 EGMR, Guide on Article 15 EMRK (Fn. 6), S. 8 (eigene Übersetzung: Dennoch haben die Staaten in dieser Hinsicht keine uneingeschränkte Befugnis: Der Gerichtshof ist befugt, darüber zu entscheiden, ob die Staaten über das „von den Erfordernissen streng geforderte Ausmaß“ der Krise hinausgegangen sind … Um zu beurteilen, ob die ergriffenen Maßnahmen „von den Erfordernissen der Situation unbedingt gefordert wurden und mit den anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen vereinbar sind“, prüft der Gerichtshof die Beschwerden … Wie der Gerichtshof klargestellt hat, darf das Bestehen eines „öffentlichen Notstands, der das Leben der Nation bedroht“ nicht als Vorwand für die Einschränkung der Freiheit der politischen Debatte dienen. Selbst im Ausnahmezustand müssen die Staaten berücksichtigen, dass alle ergriffenen Recht und Politik, Beiheft 7

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Damit wird deutlich, dass auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sich eine Überprüfung der Freiheitsbeschränkungen infolge der Coronavirus SARS CoV-2 Pandemie i. S. d. des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes offen hält und zwar selbst dann, „If the highest domestic court in a Contracting State has reached the conclusion that the measures were not strictly required…“.13

In diesen Fällen kann der Gerichtshof jedoch nur zu einer gegenteiligen Schlussfolgerung gelangen, wenn er davon überzeugt ist, dass das nationale Gericht Art. 15 EMRK oder die diesbezügliche Rechtsprechung des Gerichtshofs falsch ausgelegt oder falsch angewandt hat oder zu einer Schlussfolgerung kam, die offensichtlich unangemessen war.14 Daraus ergibt sich in der Quintessenz, dass es darauf ankommt, zu welchen Entscheidungen in Deutschland das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Streitfällen zu Grundrechtseinschränkungen infolge der vom Coronavirus SARS CoV-2 verursachten Pandemie gekommen ist und noch kommt. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen somit einerseits die Neuregelungen im Infektionsschutzgesetz und in Bundes- und Länderverordnungen (II.), die zunächst der Kritik durch die Europäische Grundrechteagentur unterzogen wird (III.). In Bezug auf eine kritische Analyse der Wirksamkeit der Kontrollen der wegen der Corona-Pandemie eingerichteten Freiheitsbeschränkungen werden der ehemalige Präsident des BVerfG, Hans-Jürgen Papier, der sich erstmals in den Medien zu den Freiheitsbeschränkungen äußerte, zu Wort kommen sowie der Bundestagsabgeordneten Ralph Brinkhaus, der die „Kaltstellung“ des Deutschen Bundestags in einem Interview anprangerte (IV.). Schließlich wird anhand von konkreten Entscheidungen die Kontrollfunktion der Verwaltungsgerichte und des BVerfG in der Corona-Krise bezüglich der Grundrechtseinschränkungen aufgrund der neuen staatlichen Regelungen untersucht (V.) und abschließend in einer kritischen Gesamtbetrachtung zusammengefasst (VI.).

Maßnahmen darauf abzielen sollten, die demokratische Ordnung vor den Bedrohungen zu schützen, und dass alle Anstrengungen unternommen werden sollten, um die Werte einer demokratischen Gesellschaft wie Pluralismus, Toleranz und Sicherheit zu schützen. Bei der Feststellung, ob ein Staat über das unbedingt Erforderliche hinausgegangen ist, wird der Gerichtshof Faktoren wie der Art der von der Ausnahmeregelung betroffenen Rechte, den Umständen und der Dauer der Notsituation angemessenes Gewicht beimessen hat…). 13 EGMR, Guide on Article 15 EMRK (Fn. 6), S. 9 (eigene Übersetzung: Wenn das oberste innerstaatliche Gericht eines Vertragsstaats zu dem Schluss gekommen ist, dass die Maßnahmen nicht unbedingt erforderlich waren). 14 EGMR, Guide on Article 15 EMRK (Fn. 6), S. 9. 90

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II. Die Neuregelungen im Infektionsschutzgesetz und in Bundes- und Länderverordnungen 1. Neuregelungen im Infektionsschutzgesetz Abgesehen von weiteren Anpassungen erstrecken sich die Neuregelungen der letzten Änderungen des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) vom 20. Juli 200015, das zuletzt durch Art. 3 des Gesetzes vom 27. März 202016 geändert worden ist, im Wesentlichen auf §§ 5 u. 5a IfSG. § 5 IfSG regelt ausführlich die Epidemische Lage von nationaler Tragweite, während § 5a IfSG die Verordnungsermächtigung zur Ausübung heilkundlicher Tätigkeiten bei Vorliegen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite gibt. § 5a IfSG bestimmt, in welchen Fällen bei Epidemien – wie der vom Coronavirus SARS CoV-2 ausgelösten Pandemie – auch ausgebildete Altenpflegerinnen und -pfleger, Gesundheits- und Krankenpflegerinnen und -pfleger für Kinder und Erwachsene, sowie Notfallsanitäterinnen und -sanitäter und Pflegefachfrauen und -männer an Stelle von Ärztinnen und Ärzte heilkundliche Tätigkeiten in epidemischen Lagen ausüben dürfen, wenn sie durch erworbene Kompetenzen und aufgrund persönlicher Fähigkeiten in der Lage sind, die jeweils erforderliche Maßnahme eigenverantwortlich an Patienten durchzuführen, deren Gesundheitszustand nach Art und Schwere eine ärztliche Behandlung nicht zwingend erfordert, aber eine ärztliche Beteiligung sonst voraussetzen würde. Ferner wird das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) ermächtigt, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates weiteren Personen mit Erlaubnis zum Führen der Berufsbezeichnung eines reglementierten Gesundheitsfachberufs während einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite die Ausübung heilkundlicher Tätigkeiten zu gestatten. Die Regelungen des § 5a IfSG berühren zwar auch Grundrechte, vor allem Art. 2 Abs. 1 GG, stellen aber keine tiefgreifenden Eingriffe in die Menschenrechte dar. Zu nennenswerten Freiheitseingriffen ermächtigt – neben § 15a Abs. 3 Satz 3, § 16 Abs. 4 IfSG (Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 Abs. 1 GG), § 17 Abs. 3 IfSG (Grundrechte der Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, der Freizügigkeit nach Art. 11 Abs. 1 GG, der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG und der Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 Abs. 1 GG), § 20 Abs. 14, § 21 IfSG (Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1, 2. Alt. GG), § 25 Abs. 5 IfSG (Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1, 2. Alt. GG), der Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und der Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 Abs. 1 GG) sowie weiterer Vorschriften (§§ 28 Abs. 1, 29 Abs. 2, 30 Abs. 2 u. 3, 32, 36 Abs. 9, 41 Abs. 2, 50a Abs. 5, 51 IfSG) – in erster Linie § 5 IfSG.

15 BGBl. I 2000, S. 1045. 16 BGBl. I 2020, S. 587. Recht und Politik, Beiheft 7

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Hier wird, wenn der Deutsche Bundestag eine epidemische Lage von nationaler Tragweite festgestellt hat (§ 5 Abs. 1), in Abs. 2 das BMG zu Grundrechtseingriffen in das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG, in die Freizügigkeit nach Art. 11 Abs. 1 GG, in das Recht auf körperliche Unverletztheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1, 2. Alt. GG und weitere Grundrechte ermächtigt. Denn das BMG kann erstens Personen, die in die Bundesrepublik Deutschland einreisen wollen oder eingereist sind und die wahrscheinlich einem erhöhten Infektionsrisiko für bestimmte bedrohliche übertragbare Krankheiten ausgesetzt waren, insbesondere weil sie aus Gebieten einreisen, die das Robert Koch-Institut als gefährdet eingestuft hat, wenn auch nur ausschließlich zur Feststellung und Verhinderung der Einschleppung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit verpflichten, ihre Identität, Reiseroute und Kontaktdaten gegenüber der zuständigen Behörde bekannt zu geben, eine Impf- oder Prophylaxebescheinigung hinsichtlich der bedrohlichen übertragbaren Krankheit vorzulegen, gegenüber der zuständigen Behörde Auskunft über ihren Gesundheitszustand zu geben, ein ärztliches Zeugnis darüber vorzulegen, dass bei ihnen keine Anhaltspunkte für das Vorliegen der bedrohlichen übertragbaren Krankheit vorhanden sind, und sich ärztlich untersuchen zu lassen. Schließlich können bei der Durchführung der genannten Anordnungen mitzuwirken zweitens auch Unternehmen verpflichtet werden, die im Eisenbahn-, Bus-, Schiffs- oder Flugverkehr grenzüberschreitend Reisende befördern, außerdem Betreiber von Flugplätzen, Häfen, Personen- und Busbahnhöfen sowie Reiseveranstalter im Rahmen ihrer betrieblichen und technischen Möglichkeiten ausschließlich zur Feststellung und Verhinderung einer Einschleppung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit. Die Verpflichtungen sehen u. a. Reisebeschränkungen, Informations- und Meldepflichten sowie Mitwirkungen bei der Identifizierung von Personen vor. So wurde am 31. März 2020 durch das BMG angeordnet, dass Beförderungen von Reisenden aus dem Iran untersagt sind.17 Insgesamt bietet das IfSG an verschiedenen Stellen die Rechtsgrundlage für Rechtsverordnungen der Bundes- und insbesondere der Länderregierungen. 2. Rechtsverordnungen der Bundes- und Länderregierungen aufgrund des IfSG Bundes- und Länderregierungen haben aufgrund des IfSG in Rechtsverordnungen eine Reihe von Maßnahmen beschlossen, die in Grundrechte eingreifen: So hat der Bund auf Grundlage der CoronaVMeldeV18 durch Anordnung des BMG am 8. April 2020 beschlossen, Personen, die aus einem anderen Staat in die Bundesrepublik Deutschland einreisen und i. S. d. § 30 Abs. 1 S. 2 IfSG ansteckungsverdächtig sind, zu verpflichten, ihre Identität (einschließlich Geburtsdatum), Reiseroute und Kontaktdaten einschließ17 Anordnung des BMG vom 31. 03. 2020: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ service/gesetze-und-verordnungen.html (letzter Abruf: 04. 05. 2020). 18 Siehe die CoronaVMeldeV im Wortlaut auf https://kripoz.de/wp-content/uploads/2020/03/ CoronaVMeldeV.pdf. 92

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lich Anschrift des Wohnsitzes gegenüber der zuständigen Behörde bekannt zu geben. Im Einzelnen werden nachgefragt: Fluggesellschaft, Flugnummer, Sitzplatz, Ankunftsdatum, Familien- und Vornamen, Geschlecht, Telefonnummern (mobil, privat, Arbeit), EMailadresse, Wohnanschrift, vorübergehende Anschrift in Deutschland (z. B. Hotel mit Anschrift), erreichbare Personen für den Notfall (Telefon und E-Mail), Mitreisende. Die Daten sind von den Schiffs- bzw. Flugunternehmern zu erheben, zu verarbeiten und an das Gesundheitsamt zu übermitteln und nach der Ankunft in der Bundesrepublik Deutschland bis zu 30 Tage bereitzuhalten (Anordnung III.) Weitreichender sind die Maßnahmen der Länder: Im Land Berlin z. B. wurden u. a. – mit wenigen Ausnahmen – öffentliche und nichtöffentliche Veranstaltungen, Versammlungen, Zusammenkünfte und Ansammlungen verboten (§ 1 SARS-CoV-2Eindämmungsmaßnahmenverordung), Tanzlustbarkeiten, Messen, Ausstellungen, Spezialmärkte, Spielhallen, Spielbanken, Wettvermittlungsstellen und ähnliche Unternehmen, Vergnügungsstätten, Kinos, Theater, Konzerthäuser, Museen und ähnliche Bildungseinrichtungen in öffentlicher und privater Trägerschaft, Friseure, Kosmetikstudios, Massagepraxen, Tattoo-Studios und ähnliche Betriebe zwangsweise geschlossen und gewerbliche Ausflugs- und Stadtrundfahrten verboten (§ 2). Gaststätten dürfen nur noch Speisen außer Haus verkaufen, Hotels und andere Beherbergungsbetriebe sowie Betreiber von Ferienwohnungen dürfen keine touristischen Übernachtungen anbieten (§ 3). Alle öffentlichen und privaten Schulen und Kitas (§ 8) sowie – mit wenigen Ausnahmen – auch Sportanlagen, Schwimmbäder, Fitnessstudios, Saunen, Dampfbäder, Sonnenstudios und Solarien wurden geschlossen (§ 4). Mit Ausnahme der Ableistung von Prüfungen wurden alle öffentlichen und privaten Hochschulen (§ 10), Bibliotheken (§ 11), Mensen (§ 12) und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen (§ 13) nicht mehr zugänglich. Im gesamten Stadtgebiet von Berlin herrschen Kontaktbeschränkungen mit der Auflage, sich ständig in der Wohnung oder gewöhnlichen Unterkunft aufzuhalten (§ 14). Das Vorliegen von Gründen, die das Verlassen der Wohnung oder gewöhnlichen Unterkunft erlauben, muss gegenüber der Polizei und den zuständigen Ordnungsbehörden glaubhaft gemacht werden (§ 14 Abs. 2). Weitere Einschränkungen in die Freiheitsrechte der Menschen sieht diese Verordnung vor. Verstöße dagegen werden mit einem Bußgeld bis zu 25.000 € belegt. Auch Schleswig-Holstein hat in ähnlicher Form Rechtsverordnungen und Erlasse aufgrund des IfSG erlassen, diese aber in verschiedene Einzelverordnungen publiziert: Zum einen handelt es sich um die ab 10. April 2020 in Kraft getretene Verordnung zu Quarantänemaßnahmen für Ein- und Rückreisende zur Bekämpfung des Coronavirus des Landes Schleswig-Holstein, für die auch ein Bußgeldkatalog zur Ahndung von Verstößen gegen die Quarantänemaßnahmen ergänzt wurde und Bußgelder bis zu 25.000 Euro aufstellt.19 Zum anderen galt ab 20. April 2020 die Landesverordnung 19 Bußgeldkatalog zur Ahndung von Verstößen im Bereich des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) in Verbindung mit der Verordnung zu Quarantänemaßnahmen für Ein- und Rückreisende zur Bekämpfung des Corona-Virus. Recht und Politik, Beiheft 7

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über Maßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 in Schleswig-Holstein (SARS-CoV-2-Bekämpfungsverordnung – SARSCoV-2-BekämpfVO), die durch eine Positivliste über erlaubte Verkaufsstellen und Dienstleistungs-, Behandlungs- und Handwerkstätigkeiten nach § 6 Abs. 2 SARSCoV-2-BekämpfVO vervollständigt wird.20 Vier Tage später wurden die bestehenden VO am 24. April 2020 durch die Landesverordnung zum Tragen einer Mund-NasenBedeckung in bestimmten Bereichen der Öffentlichkeit in Schleswig-Holstein (MundNasen-Bedeckungsverordnung – MNB-VO) erweitert. Ebenfalls am 24. April trat ein Bußgeldkatalog für Verstöße gegen die Corona-Regelungen in Kraft, der Bußgelder bis 5.000 Euro vorsieht. Mit diesen Regelungen, deren Einhaltung mit Hilfe von Bußgeldern erzwungen wird, greifen die Länder erheblich in die Grundrechte ihrer Bürgerinnen und Bürger ein. Es versteht sich daher von selbst, dass diese Auswirkungen der staatlichen Reaktionen auf die Coronavirus-Pandemie auf die Grundrechte auch kritisch gesehen wurde, etwa durch die Europäische Grundrechteagentur (FRA).

III. Kritik durch die Europäische Grundrechteagentur Die Europäische Grundrechteagentur (FRA) hat den ersten Sachstandsbericht21 über die Auswirkungen der staatlichen Reaktionen auf die Coronavirus-Pandemie auf die Grundrechte veröffentlicht und stellt allgemein schwerwiegende Grundrechtseingriffe fest, die sich vor allem auf die Rechte bereits schutzbedürftiger oder gefährdeter Menschen auswirke.22 Das sind nach dem Bericht insbesondere ältere Menschen, Kinder, Menschen mit Behinderungen, Roma und Flüchtlinge. Der Bericht konzentriert sich auf vier miteinander verbundene Themen: – Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 und zur Abschwächung seiner Auswirkungen in den Bereichen soziales Leben, Bildung, Arbeit und Freizügigkeit sowie Asyl und Migration; – die Auswirkungen des Virus und die Bemühungen, seine Ausbreitung auf bestimmte Gruppen in der Gesellschaft zu begrenzen; – Vorfälle fremdenfeindlicher und rassistischer Diskriminierung, einschließlich Hassverbrechen; – die Verbreitung von Desinformation über den Ausbruch und die Auswirkungen verwandter Eindämmungsmaßnahmen zum Datenschutz und zur Wahrung der Privatsphäre.

20 Festlegungen zur Corona-Verordnung (SARS-CoV-2-BekämpfV) – Positivliste. 21 European Union Agency for Fundamental Rights (FRA), Bulletin #1: Coronavirus Pandemic in the EU – Fundamental Rights Implications, 1 February ¦ 20 March 2020, Luxembourg April 2020. 22 FRA, Coronavirus Pandemic in the EU (Fn. 21), S. 7. 94

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Außerdem veröffentlichte die Europäische Grundrechteagentur länderspezifische Berichte, die detailliert die Lage in den Mitgliedsstaaten wiedergeben.23 Für Deutschland wurde u. a. festgestellt, dass sich die Kontaktsperren zu anderen Personen außerhalb des eigenen Haushalts stark auf Frauen und Kinder auswirken, da viele von ihnen zuhause nicht sicher sind. Soziale Isolation und finanzielle Sorgen trügen zu erhöhtem Stress in den Beziehungen und Familien bei. Dieser Stress führe zu eskalierenden Situationen mit der Befürchtung, dass häusliche Gewalt während der Pandemie zunehmen werde.24 Der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland (bff)25, die Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser (ZIF)26, die Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung (BKSF), die gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend arbeiten27 und die Frauenhauskoordinierung e.V. (fhk)28 sehen dies genauso. Ferner sieht die Grundrechteagentur das Risiko einer Infektion mit dem Coronavirus in Senioren- und Pflegeheimen, die bereits infizierte Personen haben, sowie in Haftanstalten mit ihren überfüllten Lebensbedingungen, unterbesetzten medizinischen Teams und der schlechten Gesundheit vieler Inhaftierter besonders hoch.29 Letzteres kritisiert auch die Gefangenen-Gewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO).30 23 European Union Agency for Fundamental Rights (FRA), Coronavirus COVID-19 outbreak in the EU Fundamental Rights Implications in Germany, o. O., o. J. (Luxembourg April 2020), https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/germany-report-covid-19-april-2020_en. pdf (letzter Abruf: 04. 05. 2020). 24 FRA, Coronavirus COVID-19 outbreak in Germany (Fn. 23), S. 8. 25 Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff), Beratungsstellen und Frauenhäuser sichern auch weiterhin Hilfsangebote für Frauen und Kinder, Gemeinsame Pressemeldung von bff, BKSF, FHK und ZIF: Gewaltschutz in Krisenzeiten ist Gemeinschaftssache! vom 2. 4. 2020, https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/pm/gemeinsame-pressemeldung-von-bff-bksffhk-und-zif-gewaltschutz-in-krisenzeiten-ist-gemeinschaftssache.html (letzter Abruf: 04. 05. 2020). 26 Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser (ZIF), Gewaltschutz in Krisenzeiten ist Gemeinschaftssache! Pressemeldung vom 1. 4. 2020, https://www.autonome-frauenhaeuserzif.de/de/content/gewaltschutz-krisenzeiten-ist-gemeinschaftssache (letzter Abruf: 4. 5. 2020). 27 Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung (BKSF), Gewaltschutz in Krisenzeiten ist Gemeinschaftssache! Beratungsstellen und Frauenhäuser sichern auch weiterhin Hilfsangebote für Frauen und Kinder, Pressemeldung vom 1. 4. 2020, https://www.bundeskoordinierung.de/ de/article/250.gewaltschutz-in-krisenzeiten-ist-gemeinschaftssache.html (letzter Abruf: 4. 5. 2020). 28 Frauenhauskoordinierung e.V. (fhk), Gemeinsame Pressemeldung von bff, BKSF, FHK und ZIF: Gewaltschutz in Krisenzeiten ist Gemeinschaftssache! Pressemeldung vom 1. 4. 2020, https://www.frauenhauskoordinierung.de/aktuelles/detail/gemeinsame-pressemeldung-vonbff-bksf-fhk-und-zif-gewaltschutz-in-krisenzeiten-ist-gemeinschaftss (letzter Abruf: 04. 05. 2020). 29 FRA, Coronavirus COVID-19 outbreak in Germany (Fn. 23), S. 9. 30 Gefangenen-Gewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO), Mehrere Stationen in JVA Untermaßfeld abgeriegelt – GG/BO fordert Transparenz und Haftentlassung statt Einschluss und Recht und Politik, Beiheft 7

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Kritisiert wurde außerdem, dass in Deutschland jedes fünfte Kind von Armut bedroht sei und Familien mit niedrigem Einkommen in der Coronakrise extreme Schwierigkeiten bewältigen müssen. Denn Kitas, Schulen und Jugendzentren boten kostenloses Essen an, bevor sie wegen der Pandemie schließen mussten, sodass es für Kinder und Jugendliche keine kostenlose Mahlzeit mehr gebe. Darüber hinaus haben über 400 Tafel-Zentren, die kostenlose Lebensmittel verteilen, ihre Dienste aufgrund der Vorsichtsmaßnahmen für das Coronavirus eingestellt. Diese Entwicklungen sind für Familien mit niedrigem Einkommen, die bereits unter der Krise leiden, sehr herausfordernd, weil die Eltern außerdem befürchten müssten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren.31 Erschwerend käme hinzu, dass Kinder benachteiligter Familien oft in überfüllten Wohnungen lebten und sich trotz der Schulschließungen nicht auf die geforderten Hausaufgaben konzentrieren könnten. Viele Familien haben zu Hause außerdem keinen Zugang zu Computern oder zum Internet, und die Richtlinie „Bringen Sie Ihre eigenen Geräte mit“ diskriminiere Familien der sozial Schwachen.32 Ergänzend zu dieser Kritik kann angeführt werden, dass keine problemlösende Hilfe die geplante Bundesbeihilfe von 150 € für Computer an arme Familien ist, weil mit diesem Betrag bei weitem die Kosten nicht gedeckt werden können.33 Der Ausbruch des Coronavirus’ stellt eine existenzielle Bedrohung für wohnungslose Menschen dar, die auf der Straße, in Notunterkünften oder in sonstiger Weise prekär leben. Sie sind stärker gesundheitlichen Problemen ausgesetzt, da sie mehr als andere an nicht behandelten Krankheiten leiden. Viele Wohnungslose gehören daher der Gruppe an, die ein höheres Risiko für eine schwere Erkrankung aufgrund einer CoronavirusInfektion hat. Jedoch können sie ihre sozialen Kontakte nicht einschränken oder Schutz in ihrem eigenen Zuhause finden. Durch die Pandemie bricht das in Deutschland bestehende Netz an medizinischen und hygienischen (Duscheinrichtungen) Dienstleistungen, an Unterstützungen und Beratungen sowie die Versorgung mit Lebensmitteln und Kleidung zusammen, da aufgrund von Vorsichtsmaßnahmen, die gesetzlich vorgeschrieben werden, Notunterkünfte und Tagesstätten schließen müssen oder weil viele freiwillige Helfer älter und selbst gefährdet sind, sodass sie sich selbst isolieren

Besuchsverbot, Pressemeldung vom 18./19. März 2020, https://ggbo.de/ufeld-stationenabgeriegelt (letzter Abruf: 04. 05. 2020). 31 Vgl. auch Pauli, Folgen der Schulschließungen: Corona macht Bildung ungleicher, taz online vom 23. 03. 2020, https://taz.de/Folgen-der-Schulschliessungen/!5670367/ (letzter Abruf: 04. 05. 2020); Kasten, Kinderarmut in der Coronakrise: Familien unter Stress, Spiegel online vom 23. 03. 2020, https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/coronavirus-kinder-aus-einkom mensschwachen-familien-in-der-krise-a-8ba68f6d-8a12 - 4271 - 93e2 - 7f46127120a5 (letzter Abruf: 04. 05. 2020). 32 FRA, Coronavirus COVID-19 outbreak in Germany (Fn. 23), S. 11. 33 Wiechern, Bildungs-Experte kritisiert Pläne der Bundesregierung: Homeschooling-Förderung: „Für 150 Euro bekomme ich ein halbes Tablet“, SWR Aktuell vom 24. 04. 2020, https://www. swr.de/swraktuell/homeschooling-112.html (letzter Abruf: 04. 05. 2020). 96

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müssen. Die Behörden haben dennoch keine koordinierten Pläne zur Bewältigung des Notfalls, insbesondere wenn sich eine wohnungslose Person infiziert hat.34 Der Covid-19-Ausbruch hat darüber hinaus dazu geführt, dass rassistische und fremdenfeindliche Übergriffe gegen Chinesen (Sinophobie) und andere Menschen zunehmen, die als Personen mit asiatischer Herkunft wahrgenommen werden, wie z. B. Menschen aus Korea, Vietnam oder Japan. Weil sie angeblich den Coronavirus ins Land gebracht hätten, werden sie nicht nur Beschimpfungen und Beleidigungen auf Straßen, in Supermärkten und Geschäften oder in öffentlichen Verkehrsmitteln ausgesetzt, sondern teilweise auch körperlicher Gewalt.35 Beschwerden von Chinesen, die bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes aufgrund der Corona-Pandemie eingegangen sind, betreffen Fälle von Diskriminierungen beim Zugang zu Waren und Dienstleistungen: keine Wohnungsvermietung, keinen Lebensmittelverkauf, keine Arztbehandlung.36 Die Europäische Grundrechteagentur kritisierte auch, dass einige Medien möglicherweise zu fremdenfeindlichen Einstellungen der Bevölkerung durch ihre Art der Darstellung des Ursprungs und der Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 beigetragen haben und nennt beispielhaft die Wochenzeitschrift Der Spiegel mit dem Titel in gelben Buchstaben „Made in China“37 auf seiner Titelseite: Zu sehen ist ein Chinese im roten Schutzanzug mit Schutzmaske vor dem Gesicht und Smartphone in der Hand.38 Kritik an den grundrechtseingreifenden Maßnahmen kam auch von deutscher Seite: Als einer der ersten meldete sich der ehemalige Präsident des BVerfG, Hans-Jürgen Papier, zu Wort und wenig später gab auch der Bundestagsabgeordnete Ralph Brinkhaus ein Interview.

34 FRA, Coronavirus COVID-19 outbreak in Germany (Fn. 23), S. 12. Vgl. auch Trautwein, Coronavirus und Armut: Wie geht es jetzt den Ärmsten in der Stadt? Zeit Online vom 19. 03. 2020, https://www.zeit.de/hamburg/2020 - 03/coronavirus-armut-quarantaene-hamburg-ob dachlosigkeit (letzter Abruf: 04. 05. 2020); Rosenke/Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W), Ergebnisse der BAG W-Umfrage: CORONA und Wohnungslosigkeit, vom 28. 04. 2020, https://www.bagw.de/de/neues~178.html (letzter Abruf: 04. 05. 2020). 35 FRA, Coronavirus COVID-19 outbreak in Germany (Fn. 23), S. 13. 36 Vgl. die dort aufgeführten Einzelfälle bei: Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Coronavirus: Gehäufte Anfragen wegen Diskriminierungen bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Pressemeldung vom 12. 02. 2020, https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/ Pressemitteilungen/DE/2020/20200212_Coronavirus.html (letzter Abruf: 04. 05. 2020). 37 Der Spiegel 6/2020 vom 01. 02. 2020. 38 FRA, Coronavirus COVID-19 outbreak in Germany, a.a.O. (Fn. 23), S. 14. Vgl. dazu auch Priebe, Angst, Hass und Vorurteile: Wie Rassisten das Coronavirus für sich nutzen, F.A.Z.net vom 03. 02. 2020, https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/coronavi rus-in-china-sinophobie-und-rassismus-im-netz-16614102.html (letzter Abruf: 04. 05. 2020); Jansen, Wie Rechte das Coronavirus zur Hetze gegen Flüchtlinge benutzen, Zeit Online vom 09. 03. 2020, https://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2020/03/09/wie-rechte-das-coronaviruszur-hetze-gegen-fluechtlinge-benutzen_29637 (letzter Abruf: 04. 05. 2020). Recht und Politik, Beiheft 7

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IV.

Kritik des ehemaligen Präsidenten des BVerfG, Hans-Jürgen Papier, und des Bundestagsabgeordneten Ralph Brinkhaus zur Wirksamkeit der Kontrollen der wegen der Corona-Pandemie eingerichteten Freiheitsbeschränkungen

1. Kritik des ehemaligen Präsidenten des BVerfG Hans-Jürgen Papier Der Professor für Staatsrecht und ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sieht in den Maßnahmen der Bundes- und Landesregierungen eine deutliche Gefahr einer „Erosion des Rechtsstaats“, die auch unsere liberale Demokratie zum Kippen bringen könnte, wenn sich die extremen Eingriffe in die Grundrechte mit flächendeckender Beschränkung der Freiheitsrechte aller aufgrund der Corona-Pandemie noch länger hinziehen würden und dadurch schwere Schäden für die Grundrechte befürchten ließen. Die politischen Kräfte, die Regierungen in Bund, Ländern und Gemeinden sowie die gesamte Verwaltung müsse immer wieder prüfen, ob Maßnahmen aufgehoben werden könnten oder zumindest weniger einschneidende Maßnahmen möglich seien. Denn Restriktionen über einen längeren Zeitraum könnten zum Ende des liberalen Rechtsstaats führen. Im Einzelnen kritisierte Papier, dass diskutiert wurde, auf überfüllten Intensivstationen jüngere und gesündere Patienten zu bevorzugen und monierte die Empfehlungen von sich äußernden Medizinern, abzustufen, wer vorrangig behandelt werden sollte, falls ein Mangel an Intensivbetten entstehe. Denn man dürfe nicht die Menschenwürde und den Grundsatz der Gleichheit des Menschenwürdeschutzes in Frage stellen, zumal nach der Rechtsprechung des BVerfG jedes Leben gleichrangig und gleich wertvoll sei.39 Eine Abwägung von Leben gegen Leben hatte das BVerfG entsprechend für verfassungswidrig erklärt.40 Papier forderte außerdem eine Reform des Infektionsschutzgesetzes, das eine Grundlage für einen Rechtsanspruch auf Entschädigung bieten müsse, die Unternehmen aufgrund der derzeitigen staatlichen Eingriffe tragen müssten und dadurch schwerwiegende wirtschaftliche Folgen einträten.41

39 Frankfurter Allgemeine Zeitung, Früherer Verfassungsrichter Papier warnt vor „Erosion des Rechtsstaats“, F.A.Z.net vom 02. 04. 2020, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/coronaex-verfassungsrichter-papier-sorgt-sich-um-grundrechte-16708118.html (letzter Abruf: 04. 05. 2020). 40 Zuletzt besonders deutlich in BVerfGE 115, 118 – Luftsicherheitsgesetz. 41 Frankfurter Allgemeine Zeitung (Fn. 39). 98

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2. Kritik des Bundestagsabgeordneten Ralph Brinkhaus Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Ralph Brinkhaus, beklagt, dass wichtige Entscheidungen nicht nur zwischen Kanzlerin und Ministerpräsidenten getroffen werden dürften, sondern in den Bundestag gehörten.42 Auch wenn Krisen immer Zeiten der Exekutive seien, muss darauf geachtet werden, dass die Balance gewahrt bleibt. Im Moment seien ständig nur Minister, Ministerpräsidenten, Experten und die Kanzlerin zu sehen. Das überlagere das parlamentarische Verfahren, sei aber nicht gut für die Demokratie. Die Bundesregierung dürfe den Bundestag nicht auf Dauer als reines Instrumentarium für eigene Zwecke nutzen und davon ausgehen, dass ihre Vorlagen „schnell durchs Parlament“ gebracht werden könnten. Vielmehr würden die Abgeordneten seiner Fraktion alle Vorlagen der Regierung sehr genau ansehen.43 Der Deutsche Bundestag müsse Ort der Debatte auch in Krisenzeiten bleiben und auch das Recht haben, Dinge anzuzweifeln! Die „Öffnungsdiskussionsorgien“, die Angela Merkel beklagt und ablehnt, könne Brinkhaus zwar nachvollziehen, weil die große Sorge bestünde, dass das Nachlassen der Neuinfektionen eine Scheinsicherheit hat entstehen lassen. Mit zu weitgehenden Lockerungen würde ein unkontrollierter Wiederanstieg der Infiziertenzahlen aber riskiert mit der Gefahr, in ein paar Wochen das öffentliche Leben wieder komplett runterfahren zu müssen und dadurch erhebliche Freiheitsbeschränkungen zu veranlassen. Brinkhaus erwarte daher, dass die weitreichenden Beschränkungen für Menschen und Unternehmen sowie die Lockerungen dieser Beschränkungen im Bundestag beraten werden. Nur so spiele auch die Opposition, die wieder sichtbar werden müsse, die ihr zustehende Rolle. Um den bestmöglichen Weg zu ringen, davon lebe das politische System.44 3. Zwischenergebnis zur Kontrolle der Freiheitsbeschränkungen Der Fraktionsvorsitzende Ralph Brinkhaus bestätigt, dass in der Corona-Krise die Bundes- und Landesregierungen mit ihren im Wochenrhythmus neu verabschiedeten Verordnungen als Ersatzgesetzgeber auftreten. Sie werden aber nicht mehr durch eine parlamentarische Instanz kontrolliert. „Alles Wichtige wird im Kabinett oder zwischen der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten entschieden. Die Ministerpräsidentenkonferenz steht [aber] […] nicht im Grundgesetz als politische Institution.“45 Sie ist jedoch derzeit die einzige Ersatz-Kontrollinstanz. In der derzeitigen Debatte der „Lo-

42 Gathmann/Medick, Unionsfraktionschef Brinkhaus verwarnt die Bundesregierung: „So geht das nicht“, Interview in Spiegel online vom 23. 04. 2020, https://www.spiegel.de/politik/ deutschland/corona-krise-ralph-brinkhaus-verwarnt-bundesregierung-so-geht-das-nicht-a31f108ae-6ef3 - 4c25 - 8b04 - 3641ba05d002 (letzter Abruf: 04. 05. 2020). 43 Gathmann/Medick, Unionsfraktionschef Brinkhaus verwarnt die Bundesregierung (Fn. 42). 44 Ebd. 45 Gathmann/Medick (Fn. 42). Recht und Politik, Beiheft 7

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ckerungen“ löst sich jedoch das „gemeinsame Vorgehen“ immer weiter auf.46 Der Deutsche Bundestag und die Parlamente der Bundesländer nehmen in der CoronaKrise nicht mehr die wichtige Rolle der Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive wahr. Diese Kontrolle bleibt in der Corona-Krise allein den Gerichten vorbehalten.

V. Die Kontrollfunktion der Verwaltungsgerichte und des BverfG in der Corona-Krise Einzelne Maßnahmen, die in den verschiedenen Rechtsverordnungen der Länder zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus‘ SARS-CoV-2 verabschiedet wurden, greifen tief in die Freiheitsrechte der Menschen ein und werfen Fragen nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel auf. Zu diesen Eindämmungsmaßnahmen gehört etwa das ausnahmslose Verbot der Teilnahme an religiösen Veranstaltungen in Kirchen, Moscheen, Synagogen und in sonstigen Einrichtungen der Glaubens- und Weltanschauungsgemeinschaften nach § 1 Abs. 1 SARS-CoV-2-EindmaßnV Berlin bzw. nach § 7 Abs. 2 SARS-CoV-2-BekämpfVO Schleswig-Holstein. Die Bestimmungen in den VO stellen einen Eingriff in die Glaubensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG dar. Auch ist nicht nachvollziehbar, dass im Einzelhandel Bau- und Gartenbaumärkte unabhängig von ihrer Größe geöffnet werden dürfen (§ 3a Abs. 2 SARS-CoV-2-EindmaßnV Berlin bzw. § 6 Abs. 1 SARS-CoV-2-BekämpfVO Schleswig-Holstein), dagegen andere Einzelhändler, deren Verkaufsladen größer als 800 m2 ist, geschlossen bleiben müssen. Gegen diese Bestimmungen in den Rechtsverordnungen wurde von Anfang an Verfassungsbeschwerde beim BVerfG eingereicht, die jedoch ohne Erfolg blieben.47 1. Entscheidungen des BVerfG zu den ersten Verfassungsbeschwerden im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie Die Richter begründeten ihre Ablehnung der Verfassungsbeschwerde damit, dass diese den Anforderungen des Subsidiaritätsgrundsatzes nicht gerecht werde.48 Denn vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde müssten alle zur Verfügung stehenden und zumutbaren prozessualen Möglichkeiten ergriffen werden, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern. Das gelte auch dann, wenn zweifelhaft ist, ob ein entsprechender Rechtsbehelf statthaft ist und im konkreten Fall in zulässiger Weise eingelegt werden 46 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Streit über Corona-Maßnahmen: Bundesländer wollen Lockerung des Kontaktverbots durchsetzen, F.A.Z.net online vom 04. 05. 2020, https://www. faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/corona-krise-bundeslaender-wollen-locke rung-des-kontaktverbots-16753068.html (letzter Abruf: 04. 05. 2020). 47 Einstimmiger Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 31. März 2020 – 1 BvR 712/20 – https://www.bundesverfassungsgericht.de/e/rk20200331_1bvr071220.html (letzter Abruf: 05. 05. 2020). 48 Kammerbeschluss Erster Senat des BVerfG vom 31. März 2020 (1 BvR 712/20) (Fn. 47), Rn. 11. 100

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kann. Der Beschwerdeführer wurde aufgefordert, verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz nachzusuchen.49 Dass Verfassungsbeschwerden und einstweilige Anordnungen den Anforderungen des Subsidiaritätsgrundsatzes nicht genügten, hatte das BVerfG bereits in mehreren anderen Entscheidungen mit Bezügen zur COVID-19-Pandemie getroffen. So lehnte das Gericht einstweilige Anordnungen betreffend die Aufhebung mehrerer Hauptverhandlungstermine wegen der behaupteten Gefahr einer CoronaInfektion ab50, wies einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen ein infektionsschutzrechtliches Versammlungsverbot als unzulässig ab, weil die Beschwerdeführer die Möglichkeit fachgerichtlichen Eilrechtsschutzes nicht in Anspruch genommen hatten bzw. weil ein Rechtsschutzbedürfnis fehle.51 Auch wurde eine Verfassungsbeschwerde gegen die Berliner Verordnung zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus nicht zur Entscheidung angenommen, da diese den Anforderungen des Subsidiaritätsgrundsatzes nicht genügte.52 Außerdem wurde eine Verfassungsbeschwerde gegen die Begrenzung der Kündigungsmöglichkeiten durch Vermieter im Rahmen der Neuregelungen zur COVID-19-Pandemie nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie den gesetzlichen Begründungsanforderungen nicht genügte.53 Auch über den Eingriff in die Glaubensfreiheit weigerten sich die Verfassungsrichter zu entscheiden: Der Antrag einer einstweiligen Anordnung, die Untersagung von Zusammenkünften in Kirchen, Moscheen, Synagogen und solchen anderer Glaubensgemeinschaften nach § 1 Abs. 5 der Hessischen Corona-Verordnung vom 20. März 2020 bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache außer Vollzug zu setzen, lehnten sie ab.54 Sie begründeten ihre Entscheidung damit, dass zwar die noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde, soweit hinsichtlich des in § 1 Abs. 5 der Corona-Verordnung verankerten Verbots von Zusammenkünften in Kirchen der Antragsteller selbst betroffen ist, zumindest nicht von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre. Dies bedürfte aber einer eingehenderen Prüfung, was im Rahmen eines Eilverfahrens nicht möglich sei.55 Gegenüber den Gefahren für Leib und Leben, die von der COVID-19-Pandemie ausgehe und vor denen zu schützen der Staat nach dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG auch

49 Kammerbeschluss Erster Senat des BVerfG vom 31. März 2020 (1 BvR 712/20) (Fn. 47), Rn. 12, 13. 50 BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 19. März 2020 – 2 BvR 474/20, vom 23. März 2020 – 2 BvR 483/20 und vom 1. April 2020 – 2 BvR 571/20. 51 BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. März 2020 – 1 BvR 661/20 und vom 1. April 2020 – 1 BvR 742/20. 52 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 31. März 2020 – 1 BvR 712/20. 53 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 1. April 2020 – 1 BvR 714/20. 54 Einstimmiger Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 10. April 2020 – 1 BvQ 28/20 – https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/ 2020/04/qk20200410_1bvq002820.html (letzter Abruf: 05. 05. 2020). 55 Kammerbeschluss Erster Senat des BVerfG vom 10. April 2020 (1 BvQ 28/20) (Fn. 54), Rn. 9. Recht und Politik, Beiheft 7

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verpflichtet ist56, muss das grundrechtlich geschützte Recht auf die gemeinsame Feier von Gottesdiensten derzeit zurücktreten.57 Auch in einem weiteren Eilverfahren, bei dem der Beschwerdeführer die Anforderungen des Subsidiaritätsgrundsatzes beachtet hatte, sodass sein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung als zulässig erachtet wurde, lehnten die Richter diesen jedoch wegen Unbegründetheit ab.58 Die Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen die Bayerische Verordnung über Infektionsschutzmaßnahmen anlässlich der COVID-19Pandemie59, die Bayerische Verordnung über eine vorläufige Ausgangsbeschränkung anlässlich der COVID-19-Pandemie60, die Allgemeinverfügung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege61 sowie die Allgemeinverfügung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege und des Bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales.62 Die Verfassungsrichter trafen auch in diesem Fall eine Folgenabwägung: Auf der einen Seite anerkannten sie, dass die angegriffenen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie die grundrechtlich geschützten Freiheiten weitgehend verkürzen und die Grundrechte der Menschen, die sich in Bayern aufhalten, erheblich beschränken. „Sie geben vor, den unmittelbaren körperlichen Kontakt und weithin auch die reale Begegnung zu beschränken oder ganz zu unterlassen, sie untersagen Einrichtungen, an denen sich Menschen treffen, den Betrieb und sie verbieten es, die eigene Wohnung ohne bestimmte Gründe zu verlassen.“63 Auf der anderen Seite würden sich, wenn der Antrag auf Außervollzugsetzung Erfolg hätte, voraussichtlich sehr viele Menschen so verhalten, wie es mit den angegriffenen Regelungen unterbunden werden soll. „So dürften dann insbesondere Einrichtungen, deren wirtschaftliche Existenz durch die Schließungen beeinträchtigt wird, wieder öffnen, viele Menschen ihre Wohnung häufiger verlassen und auch der unmittelbare Kontakt zwischen Menschen häufiger stattfinden. Damit würde sich die Gefahr der Ansteckung mit dem Virus, der Erkrankung vieler Personen, der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtungen bei der Behandlung schwerwiegender Fälle und 56 Vgl. schon BVerfGE 77, 170 (214); 85, 191 (212); 115, 25 (44 f.). 57 Kammerbeschluss Erster Senat des BVerfG vom 10. April 2020 (1 BvQ 28/20) (Fn. 54), Rn. 14. 58 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 2020 – 1 BvR 755/20, https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/04/ rk20200407_1bvr075520.html (letzter Abruf: 04. 05. 2020). 59 Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (BayIfSMV) vom 27. März 2020 (BayMBl 2020 Nr. 158). 60 Vom 24. März 2020, (BayMBl 2020 Nr. 130). 61 Vom 20. März 2020 – Z6a-G8000 – 2020/122 – 98 –. 62 Vom 16. März 2020 – 51-G8000 – 2020/122 – 67 –, geändert durch Allgemeinverfügung vom 17. März 2020 – Z6a-G8000 – 2020/122 – 83 –. 63 Kammerbeschluss Erster Senat des BVerfG vom 7. April 2020 (1 BvR 755/20) (Fn. 58), Rn. 9. 102

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schlimmstenfalls des Todes von Menschen“64 nach derzeitigen Erkenntnissen erheblich erhöhen. „Gegenüber den Gefahren für Leib und Leben wiegen die Einschränkungen der persönlichen Freiheit weniger schwer.“65 2. Entscheidungen von Verwaltungsgerichten zu einzelnen Maßnahmen Die Verwaltungsgerichte waren dann die ersten, die einzelne Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie beurteilten und teilweise für unverhältnismäßig ansahen: Das Verwaltungsgericht Hamburg sah die Schließung von Gaststätten als verhältnismäßig an und lehnte Anträge von Gaststättenbetreibern ab, nicht verpflichtet zu sein, der in § 13 Abs. 1 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO66 geregelten Untersagung des Betriebes von Gaststätten, Speiselokalen, Kantinen und anderen gastronomischen Betrieben Folge leisten zu müssen.67 Anders und unverhältnismäßig war für das Verwaltungsgericht Hamburg jedoch das komplette Versammlungsverbot, das nicht nur von der HmbSARS-CoV-2-Eindä mmungsVO bestimmt wurde.68 Es entschied in einem Kammerbeschluss, dass die für den 16. April 2020, 18:00 Uhr, geplante Versammlung „Abstand statt Notstand – Verwaltungsrechtler*innen gegen die faktische Aussetzung der Versammlungsfreiheit“ auf dem Hamburger Rathausmarkt ermöglicht werden muss.69 Zwar werde die Versammlungsfreiheit nicht vorbehaltlos gewährleistet und könnten Versammlungen unter freiem Himmel gemäß Art. 8 Abs. 2 GG durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden. Die Richter hatten jedoch schon erhebliche Zweifel daran, ob mit den Regelungen der HmbSARS-CoV-2-Eindä mmungsVO eine hinreichende gesetzliche Grundlage für ein grundsätzliches Versammlungsverbot mit Ausnahmevorbehalt bestehe. Zudem seien Eingriffe in die Versammlungsfreiheit einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen, der die §§ 2 Abs. 1 Satz 1, 3 Abs. 2 HmbSARS-CoV-2-Eindä mmungsVO – selbst unter Berücksichtigung der in der infolge der COVID-19-Pandemie bestehenden Risiken für die Gesundheit – mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht standhalten dürften.70 „Der Grundsatz der Verhältnismä64 Kammerbeschluss Erster Senat des BVerfG vom 7. April 2020 (1 BvR 755/20) (Fn. 58), Rn. 10. 65 Kammerbeschluss Erster Senat des BVerfG vom 7. April 2020 (1 BvR 755/20) (Fn. 58), Rn. 11. 66 Verordnung zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 in der Freien und Hansestadt Hamburg vom 2. April 2020 in der Fassung vom 17. April 2020 (HmbGVBl., S. 217 ff. –HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO). 67 Beschlüsse der 13. Kammer des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 22. April 2020 – 13 E 1707/20 sowie der 11. Kammer des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 21. April 2020 – 11 E 1705/20. 68 Vgl. z. B. § 1 Abs. 1 SARS-CoV-2-EindmaßnV Berlin; § 3 Abs. 1 SARS-CoV-2-BekämpfVO Schleswig-Holstein. 69 Beschluss der 17. Kammer des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 16. April 2020 – 17 E 1648/ 20, https://justiz.hamburg.de/contentblob/13858150/5dccce7cac604b552dd5ffa03163fe49/ data/17-e-1648 – 20-beschluss-vom-16 – 04 – 2020.pdf (letzter Abruf: 4. 5. 2020). 70 Kammerbeschluss VG Hamburg vom 16. April 2020 – 17 E 1648/20 (Fn. 69), S. 5. Recht und Politik, Beiheft 7

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ßigkeit in seiner Ausprägung der Angemessenheit verlangt jedoch, dass nicht in unzumutbarer Weise in die grundrechtlich garantierte Freiheit eingegriffen wird. Die Schwere des Grundrechtseingriffs darf mit anderen Worten nicht außer Verhältnis zu den verfolgten Zwecken stehen. Diesen Anforderungen dürften §§ 2 Abs. 1 Satz 1, 3 Abs. 2 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO nicht gerecht werden.“71 3. Kammerbeschlüsse des BVerfG zu einzelnen Maßnahmen Die 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG mit Vizepräsident Harbarth, Richterin Britz und Richter Radtke hatte in einem ähnlichen Verfahren zur Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG bezüglich einer an mehreren Tagen in der hessischen Stadt Gießen geplanten und entsprechend angemeldeten Demonstrationsreihe zum Thema „Gesundheit stärken statt Grundrechte schwächen – Schutz vor Viren, nicht vor Menschen“ zu entscheiden.72 In ihrem Beschluss der Verfassungsbeschwerde am 15. April 2020 stellten sie die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Verfügung der Stadt Gießen73 wieder her und gaben der Stadt Gießen Gelegenheit, unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung der Kammer nach pflichtgemäßem Ermessen erneut darüber zu entscheiden, ob die Durchführung der vorgenannten Versammlungen gemäß § 15 Abs. 1 VersG von bestimmten Auflagen abhängig gemacht werden kann oder verboten wird.74 Die Kammer begründete ihre Entscheidung zum einen damit, dass die Stadt Gießen irrig davon ausgegangen sei, dass der Verordnungsgeber zu § 1 Abs. 1 der Verordnung der Hessischen Landesregierung zur Bekämpfung des Corona-Virus vom 14. März 2020 in der Fassung der Verordnung vom 30. März 2020 bewusst öffentliche Versammlungen nach dem Versammlungsgesetz habe unterbinden wollen und dadurch der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts aus Art. 8 Abs. 1 GG von vornherein nicht angemessen Rechnung tragen konnte.75 Zum anderen monierten die Richter, dass das verhängte Versammlungsverbot den verfassungsrechtlichen Maßgaben des Art. 8 Abs. 1 GG nicht gerecht würde, weil die konkreten Umstände des Einzelfalls nicht berücksichtigt wurden, sondern überwiegend Bedenken geltend gemacht wurden, die jeder Versammlung entgegengehalten werden müssten.76 Vorläufig außer Vollzug setzte die 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG durch die Richter Masing, Paulus und Christ das Verbot von Zusammenkünften in Kirchen, 71 Kammerbeschluss VG Hamburg vom 16. April 2020 – 17 E 1648/20 (Fn. 69), S. 7. 72 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 15. April 2020 – 1 BvR 828/20; https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/04/ rk20200415_1bvr082820.html (letzter Abruf: 04. 05. 2020). 73 Vom 8. April 2020 – 32 21 00/Ha/Dr. 74 Kammerbeschluss des Ersten Senats des BVerfG vom 15. April 2020 – 1 BvR 828/20 (Fn. 72). 75 Kammerbeschluss des Ersten Senats des BVerfG vom 15. April 2020 – 1 BvR 828/20 (Fn. 72), Rn. 13. 76 Kammerbeschluss des Ersten Senats des BVerfG vom 15. April 2020 – 1 BvR 828/20 (Fn. 72), Rn. 14. 104

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Moscheen und Synagogen sowie das Verbot von Zusammenkünften anderer Glaubensgemeinschaften zur gemeinsamen Religionsausübung in § 1 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 der Niedersächsischen Verordnung zum Schutz vor Neuinfektionen mit dem CoronaVirus vom 17. April 2020 in der Fassung der Änderungsverordnung vom 24. April 2020.77 Die Richter begründeten ihren Beschluss78 damit, dass dem OVG, das ausnahmslose Verbot sei nicht zu beanstanden, nicht gefolgt werden könne. Denn nach derzeitigem Stand der Erkenntnis und der Strategien zur Bekämpfung der epidemiologischen Gefahrenlage sei ein generelles Verbot von Gottesdiensten in Kirchen, Moscheen und Synagogen ohne die Möglichkeit, im Einzelfall und gegebenenfalls in Abstimmung mit dem Gesundheitsamt Ausnahmen unter situationsgerechten Auflagen und Beschränkungen zulassen zu können, voraussichtlich nicht mit Art. 4 GG vereinbar.79 Nachdem die Gottesdienste im Mai sukzessive und unter strengen hygienischen Auflagen wieder für Mitfeiernde, die sich mit ihren persönlichen Daten anmelden müssen, im Dom geöffnet sind80, hat sich dieser durch gerichtliche Entscheidungen entstandene „Wirrwarr“, ob die bis dahin tiefen Eingriffe in die Glaubensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG verhältnismäßig und damit verfassungsgemäß waren, aufgelöst. Das lässt aber für andere Maßnahmen (noch) nicht feststellen, etwa für das Verbot, Einzelhandelsgeschäfte mit einer Verkaufsfläche mit mehr als 800 m2 zu öffnen, sodass in die Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG und Eigentumsfreiheit nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG der Ladeninhaberinnen und -inhaber schwerwiegend eingegriffen wird. Neben Gerichtsentscheidungen wirken dabei auch Neufassungen von Verordnungen durch die Landesregierungen an dem Durcheinander mit.

77 Vgl. entsprechend § 1 Abs. 1 i. V. m. § 14 Abs. 3 lit. (p) SARS-CoV-2-EindmaßnV Berlin, § 7 Abs. 2 SARS-CoV-2-BekämpfVO Schleswig-Holstein. 78 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 29. April 2020 – 1 BvQ 44/20, https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/04/ qk20200429_1bvq004420.html (letzter Abruf: 04. 05. 2020). 79 Kammerbeschluss des Ersten Senats des BVerfG vom 29. April 2020 – 1 BvQ 44/20 (Fn. 78), Rn. 9. Vgl. den Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 10. April 2020 – 1 BvQ 28/20. 80 Metropolitankapitel der Hohen Domkirche Köln (KdöR): Aktuelle Gottesdienstregelung im Dom, https://www.koelner-dom.de/glauben/gottesdienste (letzter Abruf: 04. 05. 2020). Recht und Politik, Beiheft 7

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4. Uneinheitlichkeit bei den Gerichtsentscheidungen und den Verordnungen der Landesregierungen bei dem Verbot, Einzelhandelsgeschäfte mit einer Verkaufsfläche mit mehr als 800 m2 zu öffnen In den Medien wurde am 22. April 2020 bekannt, dass das VG Hamburg in einem Kammerbeschluss81 entschieden habe, dass die Schließung von Läden mit mehr als 800 m2 Verkaufsfläche ungeeignet sei, um vor der COVID-19-Ansteckung zu schützen und erklärte die Begrenzung der Verkaufsfläche von Einzelhandelsgeschäften auf 800 m2 für verfassungswidrig.82 Weil von der Flächenbegrenzung neben Lebensmittelläden ausdrücklich auch Buchhandlungen, Einrichtungshäuser, Babyfachmärkte und Verkaufsstellen des Kfz- und des Fahrradhandels in NRW ausgenommen waren, stellte der Warenhauskonzern Galeria Karstadt Kaufhof vor Gericht einen Eilantrag, die Begrenzung von Verkaufsflächen auf 800 m2 zu kippen. Das lehnte das OVG Münster am 30. April 2020 mit der Begründung ab, dass es voraussichtlich nicht zu beanstanden sei, dass das Land durch die Beschränkung der Verkaufsfläche Kundenströme steuern und damit neue Infektionsketten reduziere wolle.83 Das Berliner VG entschied am 30. April 2020 dagegen, dass die Filialen des Warenhauskonzerns Galeria Karstadt Kaufhof wieder auf ganzer Fläche öffnen dürfen, ebenso das Hauptstadt-Kaufhaus KaDeWe, das eine Verkaufsfläche von rund 60.000 m2 hat.84 In Bayern erlaubte die Landesregierung auch größeren Geschäften die Öffnung mit Begrenzung der Verkaufsfläche auf 800 m2 nach einer Beanstandung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs.85 In Mecklenburg-Vorpommern entschied die Landesregierung durch die Vierte Verordnung der Landesregierung zur Änderung der Corona-Schutz-VO MV86 81 Beschluss der 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 22. April 2020 – 3 E 1675/ 20. 82 Lorenz, VG Hamburg gibt Eilantrag statt: Corona-Schließung großer Läden rechtswidrig, Legal Tribune Online vom 22. April 2020, https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/vg-hamburgcorona-schliessung-geschaefte-mehr-als-800-qm-unzulaessig (letzter Abruf: 05. 05. 2020); May, 800-Quadratmeter-Grenze unbegründet: Gericht kippt Ladenschließung für Sportscheck (Update), OHN Onlinehändler News vom 24. 04. 2020, https://www.onlinehaendlernews.de/e-recht/aktuelle-urteile/132855-gericht-kippt-ladenschliessung-sportscheck (letzter Abruf: 04. 05. 2020). 83 Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Münster vom 30. April 2020 – 13 B 558/20.NE. 84 Berlin.de/dpa (Hrsg.), KaDeWe und Karstadt dürfen wieder auf ganzer Fläche öffnen, Meldung vom 30. April 2020, https://www.berlin.de/special/shopping/nachrichten/6158006 4346120-kadewe-und-karstadt-duerfen-wie der-auf-g.html (letzter Abruf: 04. 05. 2020). 85 Vgl. tagesschau.de (Hrsg.), Wo gilt die 800-Quadratmeter-Regel noch? Meldung vom 30. 04. 2020, https://www.tagesschau.de/wirtschaft/laeden-oeffnung-coronakrise-101.html (letzter Abruf: 04. 05. 2020). Vgl. auch Lehmann, OVG bestätigt die 800 qm Grenze, Audiodatei auf tagesschau.de vom 1. 5. 2020, https://www.tagesschau.de/wirtschaft/laeden-oeffnung-corona krise-101.html (letzter Abruf: 04. 05. 2020). 86 § 2 Abs. 2 der Verordnung der Landesregierung zum Schutz gegen das neuartige Coronavirus in Mecklenburg-Vorpommern, die als Artikel 1 der Verordnung der Landesregierung MV gegen 106

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vom 30. April 202087, die Flächenbeschränkung für Warenhäuser, Technikmärkte und andere große Geschäfte ganz aufzuheben. Seit dem 2. Mai 2020 dürfen alle Geschäfte wieder ihre gesamte Verkaufsfläche nutzen. Dies gelte für die Bereiche im Einzelhandel, die sicherstellen können, dass die entsprechenden Abstands- und Hygieneregeln für die Kunden eingehalten werden. Dagegen hatte das BVerfG einen Tag zuvor am 29. April 2020 einen ersten Eilantrag gegen die Begrenzung der Verkaufsfläche im Einzelhandel wegen der COVID-19Pandemie abgelehnt mit der Begründung, dass angesichts der Gefahren für Leib und Leben die wirtschaftlichen Interessen großer Ladengeschäfte, Einkaufszentren und Kaufhäuser derzeit zurücktreten müssten.88 Das BVerfG geht – ohne abschließend Beurteilung – in seiner Entscheidung von der Annahme der Landesregierungen aus, dass die Beschränkung der für den Publikumsverkehr geöffneten Verkaufsfläche das angestrebte Ziel erreicht werde, die Infektionsraten durch das Coronavirus gering zu halten, weil größere Verkaufsräume mehr Menschen in die Stadt locken würden.89 Die erhebliche Zurückhaltung der Menschen bei ihrem Kaufverhalten zeigt jedoch etwas anderes.90

VI.

Zusammenfassung

Der Deutsche Bundestag und die Länderparlamente fallen in der COVID-19-Pandemie als Kontrollinstanzen aus, obwohl die Regierungen umfassende Eingriffe in die Freiheitsrechte der Menschen in ihren Verordnungen festlegen. Auch die Kontrollfunktion der Verwaltungsgerichte und des BVerfG in der Coronakrise funktioniert nicht rechtssicher einheitlich, sondern löst nur Einzelprobleme und zeigt, dass die subjektive Meinung der Richterinnen und Richter an den Verwaltungsgerichten und dem Verfassungsgericht eine erhebliche Rolle spielt. Insbesondere zeigen sich die Richterinnen und Richter des BVerfG als äußerst zögerlich, die von den Regierungen des Bundes und der Länder getroffenen Maßnahmen einer Überprüfung zu unterzie-

87 88 89 90

das neuartige Coronavirus vom 17. April 2020 (GVOBl. M-V S. 158) beschlossen und zuletzt durch Verordnung vom 29. April 2020 (GVOBl. M-V S. 204, 210) geändert worden ist. GVOBl. M-V S. 214. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 29. April 2020 – 1 BvQ 47/20, http:// www.bverfg.de/e/qk20200429_1bvq004720.html (letzter Abruf: 4. 5. 2020). Kammerbeschluss des Ersten Senats des BVerfG vom 29. April 2020 – 1 BvQ 47/20 (Fn. 88), Rn. 16. Vgl. Reimann, Corona-Shopping in drei Phasen: So verändert die Krise das Kaufverhalten, ntv online vom 9. April 2020, https://www.n-tv.de/wirtschaft/So-veraendert-die-Krise-das-Kauf verhalten-article21703787 .html (letzter Abruf: 04. 05. 2020); Gassmann, Wie die Pandemie den deutschen Verbraucher für immer verändert, Welt online vom 29. April 2020, https:// www.welt.de/wirtschaft/article207581085/Corona-veraendert-dauerhaft-Konsumentenverhal ten-der-deutschen-Verbraucher.html (letzter Abruf: 04. 05. 2020).

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hen. Und die Verwaltungsgerichte sind – man wird sagen müssen: gewohnt – uneinheitlich in ihren Entscheidungen. Die Ministerpräsidentenkonferenz unter Beteiligung der Bundeskanzlerin, die im Grundgesetz an keiner Stelle als politische Institution aufgeführt ist, schafft ebenfalls keine einheitliche Regelung, die der Bevölkerung die Chance gibt nachzuvollziehen, welche Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronakrise notwendig sind. Vielmehr ist zu erkennen, dass Länderchefs, die vor allem die Wirtschaft voranbringen wollen, anders entscheiden als diejenigen, die mehr die Gesundheit der Bevölkerung in den Fokus stellen. Zu beobachten ist derzeit, Anfang Mai 2020, dass die Bevölkerung immer ungeduldiger wird.

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Entschädigung und Schadensersatz für staatlich angeordnete Betriebsschließungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie Von Sophie Thürk und Thomas Winter*

I. Einleitung Im März 2020 hat die Ausbreitung des Coronavirus Bund und Länder zum Schutz von Menschen und zur Vermeidung einer Überlastung des Gesundheitssystems zu weitreichenden Maßnahmen veranlasst. Neben der Schließung öffentlicher Einrichtungen wurden zahlreiche Betriebe und Gaststätten über Wochen geschlossen sowie Veranstaltungen verboten. Mit zunehmender Besserung des Infektionsgeschehens hoben Länder und Kommunen zwar eine Reihe von Maßnahmen wieder auf. Bestimmte Betriebsschließungen – etwa von Diskotheken – und Veranstaltungsverbote – etwa von Großveranstaltungen, insbesondere Volksfesten – gelten indessen weiter. Aufgrund steigender Infektionszahlen wurden für den November 2020 erneut Betriebsschließungen oder -beschränkungen angeordnet. Die finanzielle Belastung für die Betroffenen ist erheblich, staatliche (freiwillige) Soforthilfen sind allenfalls lindernd. Es verwundert daher nicht, dass Forderungen nach Entschädigung oder Schadensersatz laut werden. Erste Gerichtsentscheidungen haben das Verlangen nach Entschädigungsansprüchen indessen abschlägig beschieden.1

II. Schadensersatz nach den Grundsätzen der Amtshaftung Denkbar, wenngleich in der Praxis (bisher) von untergeordneter Bedeutung sind Schadensersatzansprüche nach den Grundsätzen der Amtshaftung, § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG. Sie dürften auch zukünftig – aus mehreren Gründen – nur sehr schwer begründbar sein. 1. Amtshaftungsansprüche setzen ein rechtswidriges Verwaltungshandeln voraus. Während des ersten Lockdown hat die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung Be*

1

Der Beitrag ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung des Beitrags der Autoren in Schmidt, COVID-19 – Rechtsfragen zur Corona Krise, C. H. Beck, 2. Aufl. 2020. Zuerst in: RuP 4/ 2020, 469 – 479. LG Heilbronn, COVuR 2020, 142; LG Hannover, Urt. v. 09. 07. 2020 – 8 O 2/20, juris.

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Duncker & Humblot, Berlin

Sophie Thürk und Thomas Winter

triebsschließungen – jedenfalls im Eilrechtsschutz – ganz überwiegend als rechtmäßig qualifiziert.2 Auch das Bundesverfassungsgericht hat – allerdings nur im Rahmen einer Folgenabwägung – die Schließung von Betrieben im Grundsatz für rechtmäßig befunden.3 Sollten sich Betriebsschließungen (zukünftig) im Einzelfall als rechtswidrig erweisen, scheiden Amtshaftungsansprüche aber nicht per se aus. Als rechtswidrig könnten sich Schließungsanordnungen namentlich unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung erweisen; dieser Gesichtspunkt hat insbesondere im Zuge der schrittweisen Lockerung der ursprünglich verhängten Maßnahmen zu mehreren obergerichtlichen Entscheidungen zum Nachteil der Behörden geführt.4 2. Amtshaftungsansprüche sind nicht durch das Infektionsschutzgesetz (IfSG) gesperrt. Zwar kennt das IfSG Ansprüche auf Entschädigung; diese knüpfen allerdings an ein rechtmäßiges Behördenhandeln an, regeln also keine Ansprüche bei rechtswidrigem Handeln; sie sind insoweit nicht abschließend.5 Entschädigungsansprüche stehen überdies nach allgemeinen Grundsätzen neben Amtshaftungsansprüchen, da sie unterschiedliche haftungsrechtliche Wurzeln haben.6 3. Allerdings beruhen Betriebsschließungen überwiegend auf Rechtsverordnungen der Bundesländer, § 32 IfSG. Selbst wenn sich diese Verordnungen (in Teilen) als rechtswidrig erweisen, scheiden Ansprüche nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG aus. Legislatives Unrecht wird nicht im Wege der Amtshaftung kompensiert. Es fehlt am Tatbestandsmerkmal einer „einem Dritten gegenüber obliegenden Amtspflicht.“ Der Gesetz- und Verordnungsgeber nimmt Aufgaben gegenüber der Allgemeinheit wahr, denen die Richtung auf bestimmte Personen oder Personengruppen fehlt.7 Nur in Ausnahmefällen, bei sogenannten Maßnahme- oder Einzelfallgesetzen, können Belange bestimmter Einzelner unmittelbar berührt werden, sodass sie als „Dritte“ i.S.d. § 839 BGB angesehen werden können.8 Diesen Charakter haben die auf § 32 IfSG gestützten Rechtsverordnungen nicht. Zwar betreffen die Betriebsschließungen bestimmte Personengruppen. Von einem Maßnahme- respektive Einzelfallgesetz ist eingedenk der Größe der Gruppe – non-food-Handel, Gastronomie usw. – gleichwohl nicht auszugehen. In Bezug auf rechtswidrige Verordnungen kommen daher allenfalls Ansprüche aus enteignungsgleichem Eingriff in Betracht. 2

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Bspw. bspw. BayVGH BeckRS 2020, 4616 Rn. 11; OVG Münster BeckRS 2020, 5158; OVG Saarlouis, BeckRS 2020, 6458; VG München, BeckRS 2020, 6266 Rn. 29 ff.; Sächs. VerfGH, BeckRS 2020, 8501; OVG Berlin-Brandenburg BeckRS 2020, 6073; OVG Münster BeckRS 2020, 5158; OVG Bremen BeckRS 2020, 562. Beschl. v. 29. 04. 2020 – 1 BvQ 47/20, BeckRS 2020, 7210. BayVGH BeckRS 2020, 12883; VGH Mannheim BeckRS 2020, 11786; VGH Mannheim BeckRS 2020, 10755; VGH Mannheim BeckRS 2020, 10754; OVG Bautzen BeckRS 2020, 8235; OVG Saarlouis, BeckRS 2020, 6903. Erdle, IfSG, 7. Aufl. 2020, 159. BGH NJW 1954, 993 (994); Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, 6. Aufl. 2013, S. 118. BGH NJW 1997, 123 (124). BGH NVwZ 1993, 601; NJW 1971, 1172 (1173). Recht und Politik, Beiheft 7

Entschädigung für staatlich angeordnete Betriebsschließungen

Ist Grundlage der Betriebsschließungen demgegenüber eine Allgemeinverfügung oder ein Verwaltungsakt, bestehen an der Drittbezogenheit der Maßnahme keine Zweifel.9 Drittbezogen ist eine Amtspflicht, wenn sie auch gegenüber dem Geschädigten besteht und seinen Schutz vor dem erlittenen Schaden bezweckt.10 Hinsichtlich der Schließungsmaßnahmen, die einen weiten Kreis von Ladenbesitzern, Gastronomen, Hotelinhabern und Veranstaltern betrifft, haben die Verwaltungsgerichte die – eine Drittbezogenheit indizierende – Klagebefugnis im Eilrechtsschutz regelmäßig bejaht. Klagebefugt sind allerdings nur die Inhaber selbst, ggf. also die juristische Person, nicht dagegen deren Gesellschafter.11 4. Haftungsbegrenzend wirkt auch der Vorrang des Primärrechtsschutzes. Bestehen begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Betriebsschließung, muss der Betroffene in der Regel verwaltungsgerichtliche Rechtsbehelfe ergreifen, um den Schaden abzuwenden. Unterlässt er eine zumutbare Anfechtung und kann ihm dies im Sinne eines „Verschuldens in eigener Angelegenheit“ vorgeworfen werden, steht ihm kein Entschädigungsanspruch für solche Nachteile zu, die er durch Anfechtung hätte vermeiden können.12 Diese Obliegenheit darf indessen nicht überspannt werden, insbesondere soweit zwischen den Behörden abgestimmte, im Wesentlichen gleiche (Allgemein‐)Verfügungen zur Eindämmung des Corona-Virus in Rede stehen. Hat ein Verwaltungsgericht die Rechtmäßigkeit einer solchen Maßnahme gegenüber einem (ersten) Betroffenen bejaht, ist es regelmäßig nicht erforderlich, dass auch die (weiteren) Adressaten derselben oder einer gleich lautenden Verfügung um Primärrechtsschutz nachsuchen. 5. Ansprüchen der von Betriebsschließungen Betroffenen nach den Grundsätzen der Amtshaftung dürfte schließlich regelmäßig entgegenstehen, dass den Behörden bei der Bewältigung der Covid-19-Pandemie jedenfalls in der Anfangsphase kein Verschulden vorzuwerfen ist. Das Fehlgreifen in einer schwierigen, ungeklärten Rechtslage, zu einer Zeit, in der dringender Handlungsbedarf besteht, kann einem Beamten grundsätzlich nicht angelastet werden.13 Anders könnte – abhängig von der Informationsgrundlage der handelnden Behörden – die Situation bei Betriebsschließungen im zweiten Lockdown zu beurteilen sein. Dass namentlich Restaurant- und Hotelbetriebe als besondere „Treiber der Pandemie“ anzusehen sind, ist zu bezweifeln, entsprechende Kritik wurde gerade von Seiten der Ärzte und Virologen schon vor den Maßnahmen laut.

9 Dagegen lehnt das LG Köln eine Drittbezogenheit sämtlicher Vorschriften des IfSG pauschal ab, BeckRS 2018, 34949 Rn. 37 ff. 10 BGH NJW 1977, 1875 (1877). 11 OVG Bremen BeckRS 2020, 5629 Rn. 10 f. 12 BGH NJW 1984, 1169 (1172). 13 Vgl. BGH NJW 1979, 2097 (2098). Recht und Politik, Beiheft 7

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III. Entschädigungsansprüche nach dem IfSG Erweisen sich Betriebsschließungen als rechtmäßig, kommen Entschädigungsansprüche in Betracht. Das IfSG enthält hierzu insbesondere in § 56 und § 65 zwei spezialgesetzliche Anspruchsgrundlagen. Bei nur unmittelbarer Anwendung dieser Tatbestände lassen sich Entschädigungsansprüche indessen nur in eng begrenzten Fällen begründen. Fraglich ist, ob die Vorschriften analogiefähig sind. 1. § 56 Abs. 1 IfSG regelt Entschädigungsansprüche bei rechtmäßigen Anordnungen gegenüber Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen und Ausscheidern sowie sonstigen Trägern von Krankheitserregern.14 Sind die genannten Personen in der Ausübung ihrer Erwerbstätigkeit Verboten unterworfen (§ 31 IfSG) oder wird Quarantäne angeordnet (§ 30 IfSG) und erleiden die Betroffenen dadurch einen Verdienstausfall, erhalten sie eine Entschädigung in Geld. § 56 Abs. 1 IfSG gewährt eine Entschädigung nach seinem eindeutigen Wortlaut ausschließlich den Adressaten des Tätigkeitsverbots oder der Absonderungsanordnung. Nicht erfasst werden Nichtstörer, die deshalb finanzielle Nachteile haben, weil gegenüber Dritten Verbote ausgesprochen werden oder weil ihr Betrieb insgesamt geschlossen wird.15 Die Vorschrift ist aufgrund ihres Zwecks eng auszulegen.16 Das zugrunde liegende Tätigkeitsverbot dient der Beseitigung der von dem Betroffenen ausgehenden Ansteckungsgefahr für Dritte. Der Betroffene erhält also eine Entschädigung, obwohl er als Störer in Anspruch genommen wird. Die Anordnungen belasten ihn daher nicht mit einem Sonderopfer, sondern weisen ihn lediglich in die Schranken seiner Rechtsstellung zurück. Danach verbietet sich eine gegenständliche Ausweitung des Anspruchs. Auch eine Ausweitung in personeller Hinsicht scheidet aus.17 Das Landgericht Heilbronn hat eine analoge Anwendung von § 56 Abs. 1 IfSG zur Entschädigung der von Betriebsschließungen Betroffenen mangels Adressatenstellung zu Recht abgelehnt.18 Eine Analogie lässt sich auch nicht unter Hinweis darauf begründen, die Betriebsschließungen und damit faktischen Erwerbsverbote seien mit den von § 56 Abs. 1 IfSG erfassten Konstellationen, dass die bisherige Erwerbstätigkeit aufgrund behördlicher Anordnung nicht mehr ausgeübt werden kann, vergleichbar.19 Die Vorschrift ist nicht betriebs-, sondern personenbezogen. Angeknüpft wird an die Störereigenschaft einer Person, deren Schicksal durch eine billige Entschädigung abgemildert werden soll. Betriebsschließungen erfolgen demgegenüber personenunabhängig, ein daraus folgendes Erwerbstätigkeitsverbot nur reflexhaft.20 14 15 16 17 18 19 20 112

Erdle, IfSG, 7. Aufl. 2020, 159. Umfassend Stöß/Putzer, NJW 2020, 1465 (1466 f.); LG Heilbronn COVuR 2020, 142 Rn 20. Erdle, IfSG, 7. Aufl. 2020, 159. Für eine Ausweitung jedenfalls de lege ferenda Rommelfanger, COVuR 2020, 178 (180). LG Heilbronn, COVuR 2020, 142 Rn. 25. So aber Otto, LKV 2020, 355 (356). Struß/Fabi, DÖV 2020, 665 (668). Recht und Politik, Beiheft 7

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2. § 65 IfSG gewährt ausweislich seines Wortlauts eine Entschädigung bei Maßnahmen „nach §§ 16 und 17 IfSG“. Gegenstand dieser Vorschriften sind Maßnahmen zur Verhütung übertragbarer Krankheiten gegen Nichtstörer.21 Daraus ergeben sich erhebliche Einschränkungen bei der (unmittelbaren) Anwendung des § 65 IfSG. a) Systematisch differenziert das Infektionsschutzgesetz zwischen Maßnahmen zur Gefahrverhütung (§§ 16 ff. IfSG) und Maßnahmen zur Gefahrbekämpfung (§§ 24 ff. IfSG). Der Anwendungsbereich der §§ 16 ff. IfSG ist nur solange eröffnet, wie eine übertragbare Krankheit noch nicht aufgetreten ist, andernfalls darf sich die Behörde allein auf §§ 24 ff. IfSG stützen.22 Da die Behörden in der COVID-19-Pandemie erst zu einem Zeitpunkt tätig wurden, in dem bereits (zahlreiche) Erkrankungen in Deutschland – und sogar erste Todesfälle – aufgetreten waren, stützten – und stützen – sie die Betriebsschließungen in der Regel auf die Generalklausel in § 28 Abs. 1 S. 1, 32 IfSG.23 Maßnahmen zur Infektionsverhütung spielen dagegen keine Rolle. Noch weiter verkleinert sich der Anwendungsbereich des § 65 IfSG, wenn man der Auffassung folgt, dass es sich bei § 65 Abs. 1 S. 1 Halbsatz 1 Var. 4 IfSG lediglich um einen Auffangtatbestand für über die in den Var. 1 – 3 genannten konkreten Enteignungstatbestände hinausgehenden denkbaren Einbußen bezogen auf Gegenstände handele, hierin also per se keinen nicht gegenstandsbezogenen, pauschalen Entschädigungsanspruch erkennt.24 b) Bedeutung erlangt die Entschädigungsregelung des § 65 Abs. 1 IfSG mithin nur bei analoger Anwendung. aa) Anhaltspunkte für eine Analogie finden sich in der Gesetzeshistorie.25 Die Vorgängernorm des § 65 IfSG, § 57 BSeuchG, bezog sich ursprünglich auf Maßnahmen nach § 39 BSeuchG als eine Maßnahmen zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten.26 Das Dritte Gesetz zur Änderung des BSeuchG von 1971 erweiterte den Anwendungsbereich von § 57 BSeuchG sodann auf § 10 BSeuchG – heute § 16 IfSG – und damit erstmals auf Maßnahmen zur Gefahrverhütung. Der Gesetzgeber begründete die Erweiterung damit, dass eine Enteignungsentschädigung auch bei Maßnahmen der Gefahrverhütung erforderlich werden könne.27 Zugleich schuf er einen Auffangtatbe21 Zu § 57 BSeuchG vgl. BT-Drs. VI/1568. 22 OVG Lüneburg BeckRS 2011, 46763; Reschke, DÖV 2020, 423 (424). 23 BayVGH BeckRS 2020, 4616 Rn. 11; OVG Münster BeckRS 2020, 5158; bspw. Allgemeinverfügung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 16. März 2020, BayMBl. 2020 Nr. 143; Verordnung der Landesregierung Baden-Württemberg über infektionsschü tzende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2, abrufbar unter https://www.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/dateien/PDF/200317_StM_ VO_IfSG_Corona.pdf. 24 Giesberts/Gayger/Weyand, NVwZ 2020, 417 (420); Eibenstein, NVwZ 2020, 930 (932). 25 Ebenso Rommelfanger, COVuR 2020, 178 (180). 26 BSeuchG i. d. F. v 18. 7. 1961. 27 BT-Drs. VI/1568, 10. Recht und Politik, Beiheft 7

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stand, nach dem eine Entschädigung nicht mehr nur beim Verlust oder der Beeinträchtigung von Sachen beansprucht werden konnte, sondern auch dann, wenn „ein anderer nicht nur unwesentlicher Vermögensnachteil verursacht wird“.28 Die Auswirkungen dieser gegenständlichen Ausweitung des Entschädigungstatbestands begrenzte der Gesetzgeber mit einer Einschränkung des Kreises der Anspruchsberechtigten auf Nichtstörer.29 Mit dem Vierten Gesetz zur Änderung des BSeuchG fiel § 39 BSeuchG als Maßnahme der Gefahrbekämpfung weg und wurde in § 10a BSeuchG als Maßnahme zur Gefahrverhütung neu verortet. Nunmehr verwies § 57 BSeuchG nur noch auf §§ 10 ff. BSeuchG als Maßnahmen der Gefahrverhütung. Zur Begründung führte der Gesetzgeber aus, dass gerade die Maßnahmen der Entseuchung und Entwesung als Teil der Gefahrbekämpfung auch bei der Infektionsverhütung eine Rolle spielten.30 Dafür, dass der Gesetzgeber zugleich den Anwendungsbereich des Entschädigungsanspruchs in § 57 BSeuchG auf Maßnahmen der Gefahrverhütung beschränken wollte, gibt es indessen keine Anhaltspunkte. Der Hinweis des Landgerichts Hannover, dem Gesetzgeber sei bei der Ergänzung von § 56 IfSG im Zuge der Gesetzesänderung vom 27. März 2020 bekannt gewesen, dass es für Betriebsschließungen im Gastronomiebereich keine seuchengesetzlichen Entschädigungsansprüche gegeben habe,31 überzeugt daher nicht. Das Landgericht Hannover rekurriert zum Beleg seiner Auffassung auf die Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes vom 16. März 2020. Dort hat der Wissenschaftliche Dienst lediglich nach – hervorgehoben – „summarischer Prüfung“ einen Entschädigungsanspruch für Betriebsschließungen auf Grundlage von § 32 IfSG ausgeschlossen. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit § 65 IfSG, dessen Sinn und Zweck sowie der Entstehungsgeschichte unterbleibt vollständig: Der Wiedergabe des Wortlauts folgt die apodiktische Feststellung, dass die Schließung von Bars und anderen Einrichtungen auf § 32 IfSG beruhe und das IfSG für diesen Zweck keine Entschädigungsanspruch vorsehe.32 Es liegt fern, dass dem Gesetzgeber, der eingedenk der Verbreitung des Virus das Gesetz mit heißer Nadel strickte, die Problematik der Entschädigungsansprüche nach dem IfSG auf Grundlage dieser Stellungnahme tatsächlich „bekannt“ war.33 bb) Auch die Interessenlage spricht für eine Analogie: Werden Nichtstörer von Maßnahmen zur Gefahrbekämpfung betroffen, werden sie ebenso schicksalhaft zu Geschädigten wie solche Nichtstörer, die von Maßnahmen zur Gefahrverhütung betroffen

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BT-Drs. VI/1568, 3, 10. BT-Drs. VI/1568, 10. BT-Drs. 8/2468, 19. LG Hannover, Urt. v. 09. 07. 2020 – 8 O 2/20, juris-Rn. 49 ff. Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, WD 3 – 3000 – 069/20, abrufbar unter https:// www.bundestag.de/resource/blob/692602/352cce5e021a097d9d87700cbb4f 0409/WD3 - 069 - 20-pdf-data.pdf. 33 Otto, LKV 2020, 355 (356).

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sind.34 Zwar hat sich die Gefahr einer Infektion im Zeitpunkt einer Gefahrbekämpfung schon verdichtet; Nichtstörer könnten also gehalten sein, schärfere Maßnahmen entschädigungslos zu dulden. Allerdings ist der Übergang vom Stadium der Gefahrverhütung zur Gefahrbekämpfung unscharf und damit oft zufällig. Entschädigungsansprüche von Nichtstörern allein vom arbiträren Eingreifen der Behörden noch im Stadium der Gefahrverhütung oder schon im Stadium der Gefahrbekämpfung abhängig zu machen, überzeugt nicht.35 Hinzu kommt, dass ein solches Normverständnis falsche Anreize setzen könnte: Behörden könnten veranlasst sein, aus fiskalischen Erwägungen (zu) spät zu handeln, um Entschädigungsansprüche zu vermeiden. cc) Systematische Gründe sprechen ebenfalls dafür, sämtliche Entschädigungsansprüche unter dem Regime des § 65 IfSG abzuhandeln, anstatt – je nach zeitlichem Verlauf – auf die allgemeinen Ansprüche wegen enteignendem Eingriff zurückzugreifen. dd) Für eine analoge Anwendung von § 65 Abs. 1 IfSG sprechen schließlich verfassungsrechtliche Erwägungen. Die Verfassungsmäßigkeit des IfSG-Entschädigungsrechts wird mit beachtlichen Argumenten in Zweifel gezogen.36 Längerfristige Betriebsschließungen sollen als Eingriffe in Art. 14 Abs. 1 GG ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmungen darstellen.37 Eine verfassungskonforme Auslegung streitet de lege lata also für eine Subsumtion der Betriebsschließungen unter § 65 Abs. 1 IfSG. c) Bejaht man eine Analogie zu § 65 IfSG und unterstellt Entschädigungsansprüche der von Betriebsschließungen Betroffenen dem infektionsschutzgesetzlichen Regime, stellt sich die Frage nach den weiteren Voraussetzungen von § 65 IfSG. aa) Nach dem Auffangtatbestand in § 65 Abs. 1 S. 1 Var. 4 IfSG ist eine Entschädigung zu leisten, wenn aufgrund einer Maßnahme „ein anderer nicht nur unwesentlicher Vermögensnachteil“ verursacht wird. Damit sollen „alle in der Praxis vorkommenden Enteignungsfälle über die Vernichtung, Beschädigung und sonstige Wertminderung hinaus“ erfasst werden.38 Erforderlich, aber auch ausreichend ist ein Eingriff in Art. 14 Abs. 1 GG. Ein solcher liegt bei angeordneten Betriebsschließungen vor. Sie stellen zwar keine Enteignungen im klassischen Sinn dar. In Betracht kommt aber ein Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, als „Eingriff in die Substanz des Betriebs“.39 Dabei ist die Substanz nicht nur der gegenständliche Bestand des Betriebs, sondern der Betrieb als „Sach- und Rechtsgesamtheit“, also alles, was zusammengenommen den wirklichen Wert des Betriebs ausmacht.40 Einen Eingriff in den einge34 35 36 37 38 39 40

BGH NJW 1971, 1080. Ebenso Rommelfanger, COVuR 2020, 178 (180). Shirvani, NVwZ 2020, 1457. Shirvani, NVwZ 2020, 1457 (1459 ff.). BT-Drs. VI/1568, 10. BGH GRUR 1992, 127 (129). BGH GRUR 1992, 127 (129); GRUR 1980, 1007 (1008).

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richteten und ausgeübten Gewerbebetrieb hat der Bundesgerichtshof bejaht, wenn eine staatliche Maßnahme gleichsam eine Erdrosselung des Betriebs zur Folge hat41 oder der Betriebsinhaber als Folge der Maßnahmen der öffentlichen Hand den Großteil seines bestellten Arbeitsfeldes brachliegen lassen muss, aus ihm nicht die benötigten Erträge ziehen kann, andererseits aber aufgrund einer auf längere Zeit ausgerichteten Planung nach wie vor Aufwendungen erbringen muss, als ob er das ganze Arbeitsfeld bestellen würde.42 Es sprechen also gute Gründe dafür, dass die längerfristige Stilllegung zahlreicher Betriebe einen Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb darstellt.43 bb) § 65 IfSG gewährt nur einem „Nichtstörer“ Entschädigungsansprüche. Störer im Sinne des Infektionsschutzgesetzes sind die Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheider, § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG iVm § 2 Nr. 4 – 7 IfSG.44 Die ganz überwiegende Anzahl der von den Betriebsschließungen Betroffenen ist weder krank noch scheidet sie das Virus aus. Auch eine Qualifizierung als Krankheitsverdächtiger kommt mangels Symptome regelmäßig nicht in Betracht. Schließlich sind die Betroffenen nicht selbst ansteckungsverdächtig. Denn die Stilllegung der Betriebe erfolgt nicht, weil ihre Inhaber im Verdacht stehen, selbst das Virus aufgenommen zu haben und andere anzustecken, sondern weil der Anziehungskraft ihrer Betriebe die Gefahr einer Gruppenbildung inhärent ist, also eine Ansteckung unter den Gästen droht. cc) Bejaht man den Tatbestand des § 65 Abs. 1 S. 1 Var. 4 IfSG, kann sich eine sinnvolle Einschränkung der Entschädigungsvorschrift aus dem Vorbehalt eines Sonderopfers der Betroffenen ergeben.45 Eine Entschädigung ist nur zu leisten, wenn der zwangsweise staatliche Zugriff auf das Eigentum den Betroffenen im Vergleich zu anderen entgegen dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz ungleich behandelt und ihn zu einem besonderen, den Übrigen nicht zugemuteten Opfer für die Allgemeinheit zwingt.46 Ob eine hoheitliche Maßnahme die Schwelle des enteignungsrechtlich Zumutbaren überschreitet oder sich noch als Ausdruck der Sozialbindung des Eigentums begreifen lässt, wird aufgrund einer umfassenden Beurteilung der Umstände des Einzelfalls entschieden.47 Die Opfergrenze soll jedenfalls dann überschritten sein, wenn sich der

41 BGH GRUR 1992, 127 (129). 42 BGH NJW 1957, 1927 (1928). 43 So auch LG Hannover, Urt. v. 09. 07. 2020 – 8 O 2/20, juris-Rn. 65; a.A. LG Heilbronn, COVuR 2020, 142 Rn. 27. 44 BVerwG NJW 2012, 2823 Rn. 25. 45 Cornils, Corona, entschädigungsrechtlich betrachtet, 13. 03. 2020, abrufbar unter: https:// verfassungsblog.de/corona-entschaedigungsrechtlich-betrachtet/ (Stand 03. 11. 2020). 46 BGH NJW 2013, 1736 Rn. 8. 47 BGH NVwZ 1988, 1066 (1067). 116

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Eingriff nach Art und Dauer besonders einschneidend, gar existenzbedrohend auswirkt.48 Bei Betriebsschließungen sind Zweifel am Vorliegen einer Sonderopfersituation insbesondere der schieren Anzahl von Betroffenen geschuldet.49 Allein dieser Umstand schließt ein Sonderopfer aber nicht aus.50 Längerfristige Betriebsschließungen haben sich in vielen Fällen als existenzgefährdend erwiesen.51 Die gewährten Staatshilfen können den Grundrechtseingriff nur im Einzelfall zumutbar kompensieren.52 Hinzu kommt, dass die einzelnen Branchen unterschiedlich stark betroffen sind: Fällt im nonfood-Handel sowie in einem Restaurant oder Hotel, einem Fitnesscenter oder einer Musikschule der Publikumsverkehr – für einen ungewissen Zeitraum – vollständig weg, sind diese qualitativ anders betroffen als Unternehmen, die zumutbar auf Lieferservice oder Online-Handel ausweichen können. Gleiches gilt für Branchen, die sich auf nicht nur wochen- sondern monatelang untersagte Großveranstaltungen spezialisiert haben. Spätestens angesichts dieser Ungleichbehandlung könnte ein Sonderopfer der Betroffenen im Einzelfall zu bejahen sein.53 dd) Der Umfang der nach § 65 IfSG zu gewährenden Entschädigung richtet sich nach den allgemeinen Grundsätzen einer billigen Entschädigung bei Enteignungen. Bei vorübergehenden Eingriffen in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ist in der Regel derjenige Betrag als angemessene Entschädigung anzusehen, den der Gewerbebetrieb infolge des Eingriffs weniger als ohne den Eingriff abgeworfen hat.54 Dem geschädigten Gewerbetreibenden ist im Ergebnis also auch der Ertragsverlust zu ersetzen, der bei den vorübergehenden Eingriffen in den Gewerbebetrieb letztlich nur den eingetretenen Substanzverlust angibt.55 Der Umstand, dass die Sonderopferent48 BGH NJW 1980, 2703 (2704). 49 LG Hannover, Urt. v. 09. 07. 2020 – 8 O 2/20, juris-Rn. 68; Cornils, Corona, entschädigungsrechtlich betrachtet, 13. 03. 2020, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/coronaentschaedigungsrechtlich-betrachtet/ (Stand 03. 11. 2020); Kment, NVwZ 2020, 687 (688); Schmitz/Neubert NVwZ 2020, 666 (670); Stöß/Putzer, NJW 2020, 1465 (1467); Shirvani, NVwZ 2020, 1457 (1458), der an anderer Stelle indessen überzeugend ausführt, dass nicht sämtliche Wirtschaftsbranchen in gleicher Weise betroffen seien. Diejenigen, die ihre betriebliche Tätigkeit längerfristig einstellen müssten, übernähmen Sonderlasten, damit sich die Pandemie nicht weiter ausbreite, NVwZ 2020, 1457 (1460). 50 Schmitz/Neubert, NVwZ 2020, 666 (670). 51 Rommelfanger, COVuR 2020, 178 (183). Eine Existenzgefährdung lehnt das LG Hannover lediglich mangels substantiierten Klägervortrags ab, Urt. v. 09. 07. 2020 – 8 O 2/20, jurisRn. 69. 52 Anders aber Stöß/Putzer, NJW 2020, 1465 (1467); Reschke, DÖV 2020, 423 (429); das LG Hannover bejaht jedenfalls eine „Einbeziehung“ von Staatshilfen in die Abwägung, Urt. v. 09. 07. 2020 – 8 O 2/20, juris-Rn. 69. 53 Schmitz/Neubert, NVwZ 2020, 666 (670); Eibenstein, NVwZ 2020, 930 (934). 54 BGH NJW 1975, 1966 (1967); vgl. auch BGH NJW 1972, 1574 (1575). 55 BGH NJW 1975, 1966 (1967); Maunz/Dürig/Papier/Shirvani, 89. EL Oktober 2019, GG Art. 14 Rn. 809; MüKo BGB/Papier/Shirvani, 7. Aufl. 2017, BGB § 839 Rn. 51. Recht und Politik, Beiheft 7

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schädigung nicht auf vollen Schadensersatz abzielt, wirkt sich in diesen Fällen allein dahingehend aus, dass bei der Errechnung des Ertragsverlustes Zuwachsraten für die Zukunft nicht berücksichtigt werden.56

IV. Entschädigungsansprüche nach allgemeinen Grundsätzen Wird eine analoge Anwendung von § 65 Abs. 1 IfSG auf Betriebsschließungen abgelehnt, sind Entschädigungsansprüche nach dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht sowie aus enteignendem Eingriff denkbar. 1. Ein Rückgriff auf diese Tatbestände setzt voraus, dass das IfSG Entschädigungsansprüche nicht abschließend regelt. Eine solche abschließende Regelung lässt sich weder den einzelnen Tatbeständen noch der Systematik des Gesetzes entnehmen.57 Eine Sperrwirkung von § 65 Abs. 1 IfSG ist insbesondere dann zweifelhaft, wenn man den Anwendungsbereich der Vorschrift auf Maßnahmen der Infektionsverhütung beschränkt; dass damit zugleich Entschädigungsansprüche bei Maßnahmen der Infektionsbekämpfung ausgeschlossen sein sollen, lässt sich der Norm nicht entnehmen. Hinzu kommt, dass die §§ 56 ff. im zwölften Abschnitt des IfSG den im siebten Abschnitt des BSeuchG befindlichen §§ 49 ff. inhaltsgleich nachgebildet sind. Zu §§ 49 ff. BSeuchG hat der Bundesgerichtshof indessen explizit entschieden, dass sie im Hinblick auf die Abschnittsüberschrift Entschädigung in besonderen Fällen“ keine abschließende Regelung enthielten.58 Dieser Standpunkt entspricht auch der Gesetzesbegründung zum BSeuchG.59 2. Die Landgerichte Heilbronn und Hannover haben Entschädigungsansprüche nach dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht unter Hinweis auf eine angebliche Sperrwirkung des IfSG dennoch abgelehnt.60 Folgt man dem nicht, sehen die Polizeigesetze der Länder Ausgleichsansprüche eines auf der Grundlage des Polizeirechts in Anspruch genommenen Nichtstörers bei rechtmäßigen61 und teilweise auch bei

56 BGH NJW 1975, 1966 (1967); Maunz/Dürig/Papier/Shirvani, 89. EL Oktober 2019, GG Art. 14 Rn. 809; MüKo BGB/Papier/Shirvani, 7. Aufl. 2017, BGB § 839 Rn. 51. 57 Ebenso Giesberts/Gayger/Weyand, NVwZ 2020, 417 (420); Rommelfanger, COVuR 2020, 178 (181); Eibenstein, NVwZ 2020, 930 (932); a.A. LG Hannover, Urt. v. 9. 7. 2020 – 8 O 2/20, juris-Rn. 56 ff.; LG Heilbronn, COVuR 2020, 142 Rn. 56; Reschke, DÖV 2020, 423 (426); Koehl, in: Kroiß, Rechtsprobleme durch COVID-19, 2020, § 13 Rn. 51. 58 BGH NJW 1971, 1080 (1081) mit Verweis auf BGH Urt. v. 25. 01. 1968 – III ZR 131/66. 59 BT-Drs. III/1888, 27, zu §§ 48 ff. BSeuchG. 60 LG Hannover, Urt. v. 9. 7. 2020 – 8 O 2/20, juris-Rn 56 ff.; LG Heilbronn, COVuR 2020, 142 Rn. 56. 61 § 55 Abs. 1 S. 1 BWPolG; Art. 70 Abs. 1 BayPAG; § 59 Abs. 1 ASOG Bln.; § 70 BbgPolG i.V.m. § 38 Abs. 1 lit. a BbgOBG; § 56 Abs. 1 S. 1 BremPolG; § 10 Abs. 3 S. 1 HbgSOG; § 64 Abs. 1 S. 1 HSOG; § 72 Abs. 1 SOG MV; § 80 Abs. 1 S. 1 NdsSOG; § 67 PolG NRW, § 39 Abs. 1 lit. a NRWOBG; § 68 Abs. 1 S. 1 RhPfPOG; § 68 Abs. 1 S. 1 SaarlPolG; § 52 Abs. 1 S. 1 118

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Entschädigung für staatlich angeordnete Betriebsschließungen

rechtswidrigen Eingriffen der Polizei vor.62 Da die hier behandelten Betriebsschließungen durch landesweite Allgemeinverfügungen oder Rechtsverordnungen angeordnet wurden, stellt sich aber die Frage, ob darin nach dem allgemeinen Polizeirecht entschädigungspflichtige Maßnahmen liegen. Das Landgericht Heilbronn hat den polizeilichen Haftungstatbestand mit der apodiktischen Begründung abgelehnt, es fehle an einer individuellen Maßnahme.63 Demgegenüber ist nach anderer Auffassung das Tatbestandsmerkmal der Maßnahme im Sinne der polizeirechtlichen Entschädigungstatbestände grundsätzlich weit zu verstehen und soll daher auch Rechtsverordnungen erfassen.64 Eine Entschädigung der von den Schließungsanordnungen Betroffenen über die Haftungstatbestände des Polizei- und Ordnungsrechts wäre danach grundsätzlich möglich, wenn es sich um kausale und unmittelbar in der behördlichen Betriebsschließung wurzelnde Schäden handelt und das jeweilige Landesrecht keinen Anspruchsausschluss vorsieht.65 Der Umfang einer Entschädigung bestimmt sich, regeln die jeweiligen Entschädigungstatbestände ihn nicht originär, nach den Grundsätzen der Enteignungsentschädigung. 3. Erweisen sich die Betriebsschließungen als rechtmäßig, kommt ein Anspruch aus enteignendem Eingriff in Betracht. Dieser setzt neben dem Eingriff in Art. 14 Abs. 1 GG ein Sonderopfer des Betroffenen voraus. In seinen Voraussetzungen unterscheidet sich der allgemeine Entschädigungsanspruch damit nicht von jenen, die bei einer analogen Anwendung des § 65 IfSG gelten. Ebenso ist die Rechtsfolge des Anspruchs aus enteignendem Eingriff eine angemessene Entschädigung.

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SächsPolG; § 69 Abs. 1 S. 1 SOG LSA; § 221 Abs. 1 VwG SH; § 68 Abs. 1 S. 1 ThürPAG; § 52 ThürOBG. § 59 Abs. 2 ASOG Bln; § 38 Abs. 1 lit. b BbgOBG iVm § 70 BbgPolG; § 56 Abs. 1 S. 2 BremPolG; § 80 Abs. 1 S. 2 NdsSOG; § 39 Abs. 1 lit. b NRWOBG und § 67 NRWPolG; § 68 Abs. 1 S. 2 POG RP; § 68 Abs. 1 S. 2 SaarlPolG; § 69 Abs. 1 S. 2 SachsAnhSOG; § 68 Abs. 1 S. 2 ThürPAG; § 52 ThürOBG. LG Heilbronn, COVuR 2020, 142 Rn. 26. Eibenstein, NVwZ 2020, 930 (932). Eibenstein, NVwZ 2020, 930 (932); Struß/Fabi, DÖV 2020, 665 (673).

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Die rechtsstaatlichen Schwächen des neuen § 28a Infektionsschutzgesetz als zentrale Eingriffsnorm zur Bekämpfung von Covid-19 Von Marco Buschmann Kaum eine Gesetzesnovelle hat so viel Aufmerksamkeit erregt wie die jüngste Ergänzung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) im Rahmen des Dritten Bevölkerungsschutzgesetzes: Proteste vor dem Parlament, Störer im Parlament und eine leidenschaftliche Debatte im Plenarsaal. Die Novelle sollte eine Rechtsgrundlage für Abwehrmaßnahmen gegen Covid-19 ergänzen. Geschaffen wurde ein neuer § 28a IfSG. Wichtige Maßstäbe, die das Grundgesetz an eine solche Eingriffsnorm anlegt, sind insbesondere Bestimmtheit, Parlamentsvorbehalt und Verhältnismäßigkeit. Der folgende Beitrag arbeitet die diesbezüglichen Schwächen heraus und erläutert vorzugswürdige Alternativen dazu.

I. Bedürfnis nach einer ausreichenden Rechtsgrundlage Covid-19 ist eine Gefahr für Leib und Leben einer unbestimmten Zahl an Personen. Das Virus gefährdet aber nicht nur die Schutzgüter aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Es bedroht auch die Würde des Menschen. Denn eine unkontrollierte Ausbreitung kann das öffentliche Gesundheitswesen derart überlasten, dass Ärzte zu Triage-Entscheidungen gezwungen sind. Das bedeutet, dass sie nach objektivierten Kriterien entscheiden müssen, welchen Menschen sie retten und welchen sie sterben lassen. Ignoriert die Exekutive diese Gefahr und lässt es sehenden Auges zu solchen Zuständen kommen, verletzt sie ihre Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG. Handlungspflicht und legitimes Ziel allein berechtigen die Exekutive jedoch noch nicht dazu, in Grundrechte einzugreifen. Der freiheitliche Charakter des Grundgesetzes beweist sich anhand einer Reihe materieller und prozeduraler Vorkehrungen zum Schutz grundrechtlicher Substanz gegenüber der Staatsgewalt. Dazu gehört insbesondere der Vorbehalt des Gesetzes. Er gebietet, dass für den Eingriff in Grundrechte eine ausreichende Eingriffsnorm existiert. Thematisch lag es für den Gesetzgeber mithin nahe, entsprechende Maßnahmen auf das Infektionsschutzgesetz (IfSG) zu stützen. Ob es jedoch ausreichende Befugnisse enthielt, die die ergriffenen Maßnahmen rechtlich tragen, war von Anfang an umstritten.

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Duncker & Humblot, Berlin

Die rechtsstaatlichen Schwächen des neuen § 28a Infektionsschutzgesetz

Dem IfSG lag in seiner ursprünglichen Konzeption keine Pandemie wie Covid-19 zugrunde. Vielmehr hatte der Gesetzgeber die Bekämpfung einzelner lokaler Ausbrüche von Krankheiten wie Masern oder Meningokokken-Meningitis vor Augen. Flächendeckende und derart grundrechtsintensive Maßnahmen zur Prävention eines nationalen Gesundheitsnotstandes, wie sie derzeit bei Covid-19 ergriffen werden, hatte er im Jahr 2000 bei der Schaffung des Infektionsschutzgesetzes nicht im Sinn. Spezifische Befugnisse, um etwa ganze Branchen stillzulegen, gab das Gesetz daher dem Wortlaut nach auch nicht her. So blieben Bundesregierung und Landesregierungen zu Beginn der Corona-Pandemie zunächst nichts anderes übrig, als infektionsrechtliche Maßnahmen gegen das neuartige Virus auf die Generalklausel des § 28 IfSG zu stützen. Werden danach Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Bereits seit März 2020 haben Rechtswissenschaftler immer wieder darauf hingewiesen, dass die Generalklausel aus § 28 IfSG allenfalls übergangsweise die grundrechtsintensiven Maßnahmen der Pandemiebekämpfung tragen könne.1 Weil die zu bekämpfende Gefahr neu und unbekannt ist, könne man vorübergehend auf allgemeine Normen zurückgreifen; je länger die Gefahr andauert und je mehr man über sie und ihre wirksame Bekämpfung weiß, desto nötiger sei es, eine ausreichend bestimmte Rechtsgrundlage zu schaffen.2 Diese Kritik fand bei der Großen Koalition über mehrere Monate kein Gehör. In der Zwischenzeit war jedoch auch für eine Reihe von Gerichten3 die Zeitspanne abgelaufen, in der ein Rückgriff auf eine derart unbestimmte Ermächtigungsgrundlage mit der Unvorhersehbarkeit und Schnelligkeit der Ausbreitungsgeschwindigkeit von SarsCoV-2 gerechtfertigt werden konnte. So gab beispielsweise das Verwaltungsgericht Hamburg am 10. November 2020 dem Eilantrag einer Fitnessstudiobetreiberin mit der Begründung statt, dass §§ 28, 32 IfSG die Schließung der Betriebe der Antragstellerin nicht tragen.4 Doch nicht nur an der unzureichenden Rechtsgrundlage gab es Kritik: Auch die Opposition im Deutschen Bundestag hat immer wieder auf eine stärkere Beteiligung des Parlaments etwa durch ein Gesetzgebungsverfahren und präzisere Verordnungser1 2

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Bspw. Brocker, NVwZ 2020, 1485; Papier, DRiZ 2020, 180; Klafki, JuS 2020, 511; Volkmann, NJW 2020, 3153; Heinig/Kingreen/Lepsius/Möllers/Volkmann/Wißmann, JZ 2020, 861. Ausführlich: Buschmann, FAZ Einspruch v. 30. 10. 2020, https://www.faz.net/einspruch/derzweite-lockdown-droht-eine-verfassungskrise-17027924.html, zuletzt aufgerufen am 08. 12. 2020. Bspw. BayVGH, Beschl. v. 29. 10. 2020 – 20 NE 20.2360; OVG Münster, Beschl. v. 06. 11. 2020 – 13 B 1657/20.NE; SaarlVerfGH, Beschl. v. 28. 08. 2020 – LV 15/20; VG Mainz, Beschl. v. 01. 11. 2020 – 1 L 843/20. VG Hamburg, Beschl. v. 10. 11. 2020 – Az. 13 E 4550/20.

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mächtigungen gedrungen.5 Das ist nicht nur eine Frage der Macht, sondern auch der freiheitssichernden Funktion der Gewaltenteilung. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht den Wesentlichkeitsvorbehalt entwickelt. Danach müssen Entscheidungen, die für die Verwirklichung der Grundrechte wesentlich sind, im Parlament getroffen werden.6 Der Wesentlichkeitsgrundsatz dient auch demokratischer Transparenz. Die Bürger sollen wissen, wer welche für ihre Grundrechte wesentliche Entscheidung politisch zu verantworten hat, damit sie als Wähler daraus Konsequenzen für die Rückmeldung an der Wahlurne geben können. Die Möglichkeit zur Rückmeldung wiederum ist ein Baustein, um breite Akzeptanz der demokratisch legitimierten Entscheidungen zu stärken. Diese Rückmeldung hat auch Bedeutung für die Verhältnismäßigkeit. Denn in ihrem Lichte der demokratischen Verantwortlichkeit entsteht für die Parlamentarier ein Anreiz, nach möglichst milden Mitteln zu suchen. Wer die Wähler im eigenen Wahlkreis unnötig schwer belastet, riskiert seine Wiederwahl. Entfällt dieser Anreiz, so steigt die Wahrscheinlichkeit, dass weniger milde Mittel zum Einsatz kommen – nicht aus Bösartigkeit, sondern weil im parlamentarischen Verfahren mehr kritische Fragen aus diverseren Perspektiven gestellt werden als auf dem ministeriellen Dienstweg. Auf Drängen von Opposition, Rechtswissenschaft und Gerichten sah sich die Große Koalition genötigt, eine gesetzliche Rechtsgrundlage zu schaffen. Am 18. November 2020 beschloss der Deutsche Bundestag mit der Mehrheit von Großer Koalition und Bündnis 90/Die Grünen eine Novelle des Infektionsschutzgesetzes.7 Kernstück der Reform bildet der neu gefasste § 28a IfSG, in dem die bereits bekannten Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung des Coronavirus aufgezählt werden. Statt allerdings Klarheit und Rechtssicherheit zu bieten, testet die Norm vielmehr verfassungsrechtliche Anforderungen aus.

II. Bestimmtheitsgrundsatz Eine gute Eingriffsnorm folgt dem Bauplan der lex perfecta. Sie gliedert sich in Tatbestand und Rechtsfolge. Der Tatbestand beschreibt abstrakt, aber bestimmbar die Lebenssachverhalte, die die Anwendbarkeit der Norm eröffnen sollen. Die Rechtsfolge beschreibt abstrakt, aber bestimmbar die Maßnahmen, zu denen die zuständige Behörde befugt sein soll. Tatbestand und Rechtsfolge sind aufeinander bezogen. Das

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BT-Drs. 19/23689, Antrag der FDP-Fraktion: Infektionsschutzmaßnahmen auf eine klare gesetzliche Grundlage stellen – Demokratie und Parlamentarismus stärken. Maunz/Dürig-Grzeszick, GG, 91. EL April 2020, Art. 20, Rn. 75 ff. BT-Drs. 19/23944, Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite. Recht und Politik, Beiheft 7

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bedeutet, dass die Norm Klarheit herstellen muss, welcher Lebenssachverhalt welche Maßnahmen legitimiert. Das ist mehr als Rechtsästhetik. Es ist eine Anforderung des Grundgesetzes mit freiheitssichernder Funktion. Sie ergibt sich aus dem Bestimmtheitsgrundsatz. Sinn und Zweck des Bestimmtheitsgrundsatzes liegen einerseits in der Vorsehbarkeit staatlichen Handelns, auch um den Bürgern zu ermöglichen, ihr Verhalten danach auszurichten. Sie dient andererseits einer hinreichenden gerichtlichen Kontrolle und damit Justitiabilität. Je intensiver die mit der Regelung verbundenen Freiheitseinschränkungen sind und je abgrenzbarer und vorhersehbarer der Regelungsgegenstand ist, desto höher ist das Maß der gebotenen inhaltlichen Bestimmtheit der Norm.8 Im Zusammenhang mit Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG hat das Bundesverfassungsgericht dabei unter anderem eine „Programmsetzungspflicht“ statuiert. So müsse der Gesetzgeber „der ermächtigten Stelle […] ein „Programm“ an die Hand geben, das mit der Ermächtigung verwirklicht werden soll“.9 Der neue § 28a IfSG folgt dem erstrebenswerten Bauplan einer lex perfecta nur sehr eingeschränkt. Zwar werden in Abs. 1 insgesamt 17 Maßnahmen aufgeführt und präzise umschrieben. Hier sind insbesondere einige Nachlässigkeiten im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens auf Druck der Bundesländer hin beseitigt worden. Die Rechtsfolgenseite der Norm ist für sich genommen mithin ausreichend bestimmt gestaltet. Auch sind in Abs. 3 gewisse Tatbestände anhand von Sieben-Tage-Inzidenzwerten umschrieben. Das mag man rechts- und gesundheitspolitisch für fragwürdig halten. Ausreichend bestimmt gestaltet ist dieser Tatbestand jedoch. Höchst defizitär bleibt aber die Zuordnung von Tatbestand und Rechtsfolge. Welchem Tatbestand die Norm welche Maßnahmen oder welches Bündel von Maßnahmen zuordnet, bleibt ausgesprochen vage. Diese Zuordnung erfolgt über zwei neue unbestimmte Rechtsbegriffe: „Breit angelegte Schutzmaßnahmen“ und „umfassende Schutzmaßnahmen“. Bei einer Inzidenz von 35 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen sollen „breit angelegte Schutzmaßnahmen“ zulässig sein. Ab einer Inzidenz von über 50 Neuinfektionen sollen „umfassende Schutzmaßnahmen“ zulässig sein. Die Norm schweigt sich jedoch darüber aus, was darunter jeweils zu verstehen ist. Eine Legaldefinition der Begriffe existiert nicht. Die Abwesenheit einer Legaldefinition mag man mit dem Charakter von Gefahrenabwehr entschuldigen wollen. Das Argument könnte lauten, dass mittlerweile zwar mehr über das Virus bekannt sei, aber sein Verhalten gleichwohl noch unberechenbar sei. Daher müssten die entsprechenden Gefahrenabwehrnormen eine gewisse Flexibilität vorsehen. Flexibilität der Gefahrenabwehr entbindet den Gesetzgeber jedoch nicht, zumindest ein „Programm“ anzudeuten, das bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe hilft. Ein solches Programm enthält weder die Norm selbst noch die 8 9

von Mangoldt/Klein-Starck-Sommermann, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 20, Rn. 289 ff. BVerfG, Urteil v. 19. 09. 2018, BVerfGE 150, 1 (101).

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Begründung der Gesetzesnovelle. Der Wortlaut legt allein nahe, dass es sich um die Beschreibung von Niveauunterschieden der Eingriffsintensität und der Vielzahl der betroffenen Grundrechtsträger handelt. Jede weitere Konkretisierung schiebt der Gesetzgeber hier auf Exekutive und Judikative ab. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 50 Neuinfektionen keinerlei tatbestandliche Zusatzeinschränkungen mehr gelten. Von wenigen Ausnahmen wie dem Besuch von Seniorenheimen abgesehen halten die Behörden ab der Überschreitung dieses Schwellenwertes eine „carte blanche“ in der Hand. Vermutlich ist diese höchst unbestimmte Regelungstechnik der Grund dafür, dass im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens von der Sachverständigen Andrea Kießling die Rede davon war, dass die Norm jede substantiierte Verhältnismäßigkeitsabwägung vermissen lasse.10 Erschwerend kommt hinzu, dass die aufgezählten Maßnahmen auf der Rechtsfolgenseite nicht enumerativ, sondern als Regelbeispiele („insbesondere“) ausgestaltet sind. Die zuständigen Behörden können also auch ähnliche Maßnahmen ergreifen. Dies steht im starken Kontrast zu den Empfehlungen, die der Wissenschaftliche Dienst im Oktober 2020 für Maßnahmen zur Stärkung des Bundestages gegenüber der Exekutive abgegeben hatte: Die empfohlene „Regelungsdichte“ geht über eine „bloße Klarstellung der unter der Generalklausel zulässigen Maßnahmen in § 28 Abs. 1 S.1, 2.HS IfSG“ hinaus, damit eine „echte Beschränkung der Eingriffsbefugnisse“ erfolgt.11 Kurz gesagt: Gefragt war eine klare Grenzziehung zum Schutze der Gewaltenteilung. Die Mehrheit des Parlaments hat sich aber bewusst für die Ermutigung zu Grauzonen entschieden. Durch den Regelbeispielscharakter nimmt der neue § 28a IfSG keine abschließende Beschränkung der Eingriffsbefugnisse vor, sondern lässt eine Hintertür für weitere Maßnahmen und eine ausgesprochen weite Ermessensausübung der Exekutive offen. Das ist in Anbetracht der Tiefe und Intensität der beispielhaft enummerierten Grundrechtseingriffe rechtsstaatlich unbefriedigend. Damit trägt die Novelle der Großen Koalition nicht zu mehr Bestimmtheit infektionsschutzrechtlicher Eingriffsbefugnisse bei. Gleichzeitig legt die erste Gewalt ganz wesentliche Fragen, die bei Anwendung und Auslegung der Norm Grundrechtssubstanz betreffen, allein in die Hände von zweiter und dritter Gewalt.

III. Die Alternative: Stufen-Modell Diese höchst unbestimmte Regelungstechnik ist nicht alternativlos. Zwar muss eine Norm des Gefahrenabwehrrechts der Exekutive notwendige Spielräume und auch eine gewisse Flexibilität einräumen. Zugleich haben sich seit März 2020 aber bestimmte typisierbare Gefahrenlagen für Covid-19 herauskristallisiert. Mit ihnen korrespondie10 Ausschussdrs. 19(14)246(7), S. 2. 11 WD Bundestag, Empfehlenswerte Maßnahmen zur Stärkung des Bundestages gegenüber der Exekutive bei der Bewältigung der Corona-Pandemie v. 19. 10. 2020. 124

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ren jeweils bestimmte Maßnahmen und Maßnahmenbündel, die sich je nach Umständen als wirksam erwiesen haben. Unser Wissen über das Virus und seine Bekämpfung ist gewachsen. Das muss sich auch in der Bestimmtheit und der Verhältnismäßigkeit der einschlägigen gefahrenabwehrrechtlichen Normen niederschlagen. Das gilt einmal für die Tatbestandsseite. Als die Infektionszahlen zu Herbstbeginn wieder in die Höhe schnellten, griff die Bundesregierung zur Steuerung der CoronaMaßnahmen auf zwei Indikatoren zurück: Die Sieben-Tage-Inzidenz von mehr als 35 Neuinfektionen und von mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner. Diese Inzidenzen wurden nun auch im Infektionsschutzgesetz verankert, wenn es um die Verhängung breiter oder umfassender Schutzmaßnahmen geht. Damit hat es sich die Große Koalition zu einfach gemacht. Denn die Inzidenzzahlen sind lediglich eine ungefähre, indirekte Beschreibung der aktuellen Kapazitäten in den Gesundheitsämtern zur Nachverfolgung von Infektionsketten. Damit sind sie wenig aussagekräftig und nur ein Wert unter vielen. Um die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zu wahren, müssen deshalb zur Beurteilung der Gefahrenlage weitere Kriterien wie der Anteil an intensivmedizinisch Versorgten oder die Auslastung der medizinischen Kapazitäten in den Krankenhäusern herangezogen und zu einem Lagebild kombiniert werden. Dies führt im Ergebnis dazu, dass die Maßnahmen nicht SiebenTage-Inzidenzen, sondern konkreten Gefahrenlagen zugeordnet werden müssen. Um mit diesem Lagebild bestimmte Maßnahmen oder Maßnahmenbündel für zulässig zu erklären, bietet sich ein Stufenmodell an. Der Gesetzentwurf der FDP-Bundestagsfraktion, der sich als Alternative zum neuen § 28a IfSG versteht, sieht drei solcher Stufen vor. Nach § 32c ist als erste Stufe ein einfaches Infektionsgeschehen als Ausgangslage zur Ergreifung von Maßnahmen gegen das Coronavirus vorgesehen („soweit es zur Verhinderung der Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 erforderlich ist“). § 32d etabliert als zweite Stufe ein dynamisches Infektionsgeschehen. Dieses liegt dann vor, wenn ein exponentielles Wachstum der Infektionszahlen gegeben ist, das nicht auf einen begrenzten lokalen Ausbruch zurückzuführen ist und nicht durch Maßnahmen nach § 32c begrenzt werden kann, und die Nachverfolgung der Ausbreitung der Infektionen mit dem Coronavirus SARSCoV-2 durch die zuständigen Behörden auch mit Amtshilfe anderer Behörden nicht zu bewältigen ist. Nach § 32 e besteht die dritte Stufe in einer drohenden nationalen Gesundheitsnotlage. Diese droht, wenn konkrete Tatsachen nach dem Stand der Wissenschaft die Gefahr begründen, dass mit den Maßnahmen nach § 32c und § 32d und weiterer nach diesem Gesetz zulässiger Maßnahmen nicht verhindert werden kann, dass sich in absehbarer Zeit eine so große Zahl an Personen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 infiziert und daran so erkrankt, dass die erforderliche medizinische Versorgung nicht mehr gewährleistet werden kann. Diesen Stufen waren jeweils bestimmte Maßnahmen zugeordnet: Auf der ersten Stufe allgemeine Maßnahmen wie Maskenpflicht, Abstandsgebot oder im Rahmen von Gästelisten in Restaurants die verpflichtende Erfassung und informationelle Verarbeitung von Name, Anschrift, Telefonnummer oder E-Mail-Adresse sowie dem Zeitraum Recht und Politik, Beiheft 7

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des Aufenthalts. Auf der zweiten Stufe sind vereinzelte Schließungen von Kitas und Schulen bei Infektionsfällen oder punktuelle Absagen von Veranstaltungen möglich. Einschränkende Voraussetzung ist, dass diese Betriebe oder Veranstaltungen aufgrund ihrer Art oder im Einzelfall in erhöhtem Maße zur Weiterverbreitung des Coronavirus beitragen, sofern nicht ein Hygienekonzept nachgewiesen wird, aufgrund dessen ein erhöhtes Infektionsrisiko nach dem Stand der Wissenschaft im konkreten Fall unwahrscheinlich ist. Damit zielen Maßnahmen der zweiten Stufe auf eine punktgenaue und lokale Vorgehensweise ab. Erst auf der dritten Stufe können Betriebe bloß aufgrund ihrer Branchenzugehörigkeit geschlossen oder Veranstaltungen untersagt werden, auch wenn im konkreten Fall oder aufgrund ihrer Art keine Anhaltspunkte bestehen, dass sie zum Infektionsgeschehen beitragen, sofern sich die Quellen des Infektionsgeschehens insgesamt nicht eindeutig lokalisieren lassen. Gleichzeitig können erstmalig auch Reise- oder Kontaktbeschränkungen angeordnet werden. Die Stufen bauen kumulativ aufeinander auf. Maßnahmen der niedrigeren Gefahrenstufe sind auch in der höheren Gefahrenstufe zulässig. Zu jedem Zeitpunkt ist damit genau bestimmt, wann welche Maßnahme oder welches Maßnahmenbündel zulässig ist. Auf bestimmte Maßnahmen verzichtet der Entwurf im Vergleich zum neuen § 28a IfSG vollständig. So sieht er weder Ausgangsbeschränkungen noch Beherbungsverbote vor und erlaubt Kontaktbeschränkungen nur im öffentlichen Raum. Das ist freilich kein Gebot des Bestimmtheitsgrundsatzes, sondern eine Wertung: Nicht das Verlassen der Wohnung begründet eine Infektionsgefahr, sondern nur der Kontakt mit anderen Menschen. Eine Wohnung wird aber nicht nur aus dem Grund verlassen, um zu anderen Menschen in Kontakt zu treten: Sport, den Hund ausführen und so weiter. Daher setzt der Entwurf auf Kontakt- und nicht auf Ausgangsbeschränkungen. Beherbungsverbote haben sich als ineffektiv erwiesen und wurden von vielen Gerichten als unzulässig angesehen. So führte beispielsweise der VGH Baden-Württemberg12 im Oktober aus, dass „trotz steigender Fallzahlen in Deutschland keine Ausbruchsgeschehen in Beherbergungsbetrieben bekannt“ seien. In Beherbergungsbetrieben träfen nicht automatisch viele Menschen aufeinander, sondern es übernachteten Gäste in „abgeschlossenen Räumlichkeiten ggf. mit einer überschaubaren Personenzahl“, deren Kontaktdaten hinterlegt seien. Aktueller „Treiber“ der Pandemie sei vielmehr das Feiern in größeren Gruppen oder der Aufenthalt in Bereichen, wo die Abstands- und Hygieneregeln nicht gewahrt werden können.

12 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15. 10. 2020 – 1 S 3156/20. 126

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IV. Verhältnismäßigkeit Ein abgestufter Maßnahmenkatalog ist nicht nur mit Blick auf den Bestimmtheitsgrundsatz vorzugswürdig, sondern auch Ausdruck von Verhältnismäßigkeit. Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen setzt voraus, dass kein gleich geeignetes, milderes Mittel in Betracht kommt und die Schwere der Grundrechtseingriffe nicht außer Verhältnis zum verfolgten Zweck steht.13 Angesichts einer Krise, die ökonomische und soziale Verwerfungen historischen Ausmaßes nach sich zieht, sollten auch auf der Rechtsfolgenseite abgestufte Vorgehensweisen aufgezeigt werden. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass nach der neuen Subsidiaritätsregelung in § 28a Abs. 6 S. 2 IfSG alle anderen Belange und Grundrechte der Pandemiebekämpfung untergeordnet werden. So heißt es im Gesetzeswortlaut: „Bei Entscheidungen über Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) sind soziale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Auswirkungen auf den Einzelnen und die Allgemeinheit einzubeziehen und zu berücksichtigen, soweit dies mit dem Ziel einer wirksamen Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) vereinbar ist.“ Das gleicht einer teleologischen Reduktion von Grundrechtsgütern. Sie werden regelungstechnisch unter den Vorbehalt der Pandemiebekämpfung gestellt. Dies ist keine zulässige Auflösung kollidierender Verfassungsgüter im Sinne praktischer Konkordanz, sondern eine unzulässige pauschale Gewichtung zugunsten des Gesundheitsschutzes. Dass Gerichte gerade zu Beginn der Pandemie den Gesundheitsschutz höher gewichtet haben als die Einschränkungen persönlicher Freiheit14, ist eine Momentaufnahme. Der Staat kann äußerst schwere Grundrechtseingriffe selbst zum Schutz von Leben und Gesundheit nicht auf Dauer rechtfertigen.15 So führte auch das Bundesverfassungsgericht schon im April aus, dass bei den in Frage stehenden Regelungen berücksichtigt werden müsse, dass sie „von vorneherein befristet sind, im Hinblick auf die Ausgangsbeschränkungen zahlreiche Ausnahmen vorsehen und bei der Ahndung von Verstößen im Einzelfall im Rahmen des Ermessens individuellen Belangen von besonderem Gewicht Rechnung zu tragen ist“.16 Zu einer verhältnismäßigen Ausgestaltung gehört es auch, Ausgleichsmaßnahmen für diejenigen vorzusehen, in deren Grundrechte massiv eingegriffen wurde.17 Dies muss auch einer gesetzlichen Regelung zugeführt werden. Denn angesichts der hohen Zahl von Betroffenen liegt zumindest nach der Tendenz der Gerichte18 kein „Sonderopfer“ 13 14 15 16 17 18

Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 20, Rn. 149 ff. BVerfG, Beschluss vom 7. 4. 2020 – 1 BvR 755/20, NJW 2020, 1429, 1430. Schmitz/Neubert, Praktische Konkordanz in der Covid-Krise, NVwZ 2020, 666, 671. BVerfG, Beschluss vom 7. 4. 2020 – 1 BvR 755/20, NJW 2020, 1429, 1430. So auch Schmitz/Neubert, Praktische Konkordanz in der Covid-Krise, NVwZ 2020, 666, 671. Bspw, LG Berlin, Urteil v. 13. 10. 2020, 2 O 247/20; LG Hannover, Urteil v. 09. 07. 2020, 8 O 2/20.

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als Voraussetzung ungeschriebener Aufopferungsansprüche vor. Deshalb enthält der Alternativentwurf der FDP-Bundestagsfraktion eine Entschädigungsregelung. Sie ist bei Betriebsschließungen auf Fälle der „unzumutbaren Belastung im Einzelfall“ beschränkt. Darunter fallen Fälle der Existenzbedrohung, wenn also beispielsweise ein Veranstalter im Vertrauen auf eine Offenhaltung seines Betriebes viel in ein Hygienekonzept investiert hat, aber die epidemische Lage nun doch zu einer Schließung zwingt. Hier kommen die im Staatshaftungsrecht entwickelten Grundsätze einer angemessenen Entschädigung zur Anwendung.

V. Resümee Der neue § 28a IfSG ist besser als nichts. Das macht ihn aber noch nicht zu einer guten Regelung. Er delegiert wesentliche Entscheidung mit Grundrechtsrelevanz ohne vorhersehbares Steuerungsprogramm auf die zweite und dritte Gewalt ab. Für ein abgestuftes und damit verhältnismäßiges Vorgehen gibt er kaum Anhaltspunkte. Eine Entschädigungsregelung fehlt vollständig. Daraus folgt ein hohes Maß an Rechtsunsicherheit für Bürger und Behörden. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass die Reform des Infektionsschutzgesetzes bald nachgebessert oder zumindest schnell einer gerichtlichen Klärung zugeführt wird.

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Die „Stunde der Exekutive“ Rechtliche Kritik einer politischen Vokabel Von Tristan Barczak* Nicht nur hierzulande und nicht erst seit dem Beginn der COVID-19-Pandemie gelten Krisen als „Stunde der Exekutive“. Tatsächlich handelt es sich hierbei um einen verfassungsrechtlichen und rechtstatsächlichen Mythos, der die Verantwortung ebenso wie die Fähigkeit der gesetzgebenden Organe zur Notstandsvorsorge mit zu kleiner Münze handelt. Damit birgt er die Gefahr, als Rechtfertigungstopos für exekutive Sondervollmachten zu dienen und die Entparlamentarisierung der Krisenbewältigung zu effektuieren.

I. Zeit der Macher und Faszinationskraft des Unberechenbaren „Das haben wir nicht kommen sehen“. „Darauf waren wir nicht vorbereitet“. „Damit haben wir nicht gerechnet“. So oder so ähnlich lauteten die öffentlichen Verlautbarungen während der ersten Phase der COVID-19-Pandemie im Frühjahr 2020.1 Und auch die im Sommer von Virologen, Politikern und den Medien landauf, landab prophezeite „zweite Welle“ hat die Gesellschaft bei ihrem Eintreffen im Oktober 2020 erstaunlich überraschend und überraschend unvorbereitet getroffen.2 So war es wieder die viel zitierte „Stunde der Exekutive“ bzw. die „Zeit der Macher“3, die in der Krise schlug. Verordnungen der Gesundheitsministerien traten an die Stelle von Parlamentsgesetzen. Demokratischer Diskurs und parlamentarische Opposition wurden von einer krisentypischen Einigkeits- und Geschlossenheitsrhetorik verdrängt. Regierungspolitiker profilierten sich als Krisenmanager und suchten sich in Handlungsstärke und Reaktionsschnelligkeit wechselseitig zu übertrumpfen. Mit der Einführung einer weitreichenden Verordnungsermächtigung und der Ermöglichung gesetzesvertretender * 1 2 3

Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine aktualisierte und ergänzte Fassung des in RuP 56 (2020), 458 – 468 erschienenen Aufsatzes. Mezes/Opitz, Leviathan 48 (2020), S. 381 (381), m.w.N. Vgl. Der Spiegel Nr. 46 v. 7. 11. 2020, S. 38: „Krise mit Ansage“; SZ v. 14. 12. 2020, S. 4: „Kollektives Versagen“. Persifliert von Dankbar, Die Krise ist die Zeit der Macker, https://www.berliner-zeitung.de/ politik-gesellschaft/kommentar-die-krise-ist-die-zeit-der-macker-li.79348 (abgerufen am 9. 11. 2020).

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Duncker & Humblot, Berlin

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Verordnungen durch den Bundesgesundheitsminister nach § 5 Abs. 2 IfSG4 stellte der Gesetzgeber die Gesetzesbindung von Regierung und Verwaltung generell zur Disposition.5 Als einfach-gesetzliche Ermächtigungsgrundlagen für den Erlass der „notwendigen Schutzmaßnahmen“ und das damit verbundene „Herunterfahren“ des öffentlichen Lebens fungierten die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1, 2 IfSG sowie die Verordnungsermächtigung zugunsten der Landesregierungen in § 32 Satz 1 IfSG.6 Der Bundestag, dem immerhin die Feststellung einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ oblag (§ 5 Abs. 1 IfSG), und die sechzehn Landparlamente, die bisweilen zu einer analogen Feststellung landesgesetzlich berechtigt sind,7 spielten in der Bewältigung der Corona-Krise bislang keine oder allenfalls eine untergeordnete Rolle. Die Krise mit der von ihr ausgelösten Konzentration und Zentralisierung staatlicher Macht war in erster Linie die „Stunde der Bundesexekutive“ und damit gleich in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung des gewaltenteiligen Verfassungsstaates: zum einen der horizontalen Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG), zum anderen der vertikalen Gewaltenteilung durch die föderale Staatsgliederung in Bund und Länder (Art. 20 Abs. 1, 30 GG).8 Was man nicht kommen sieht, darauf kann man sich nicht einstellen, da kann der Gesetzgeber naturgemäß keine Vorsorge treffen, da muss jede Form der Prävention versagen. Wenn bei Eintritt der Krise unter erheblichem Zeitdruck und mit großem Pragmatismus gehandelt werden muss, scheint der Parlamentarismus in seinen Entscheidungsprozessen und -strukturen zu langsam, zu umständlich und zu behäbig zu sein und damit der effizienten Krisenbewältigung aus der Hand der Regierung letztlich nur im Wege zu stehen.9 Kritische Zeiten sind nicht die Zeiten der Skeptiker, Zögerer 4 5 6

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Eingefügt durch Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite v. 27. 3. 2020 (BGBl. I S. 587). Vgl. BT-Drs. 19/18111, S. 19: „Diese Anordnungsbefugnisse treten neben die Rechtsetzungsund Verwaltungsbefugnisse der Länder“. Nur auszugsweise BVerfG, NVwZ 2020, S. 711 – Versammlungsverbot; NJW 2020, S. 1427 – Gottesdienstverbot; NJW 2020, S. 1429 – Ausgangsbeschränkungen; NVwZ 2020, S. 878 (Ls.) – Kontaktbeschränkungen und Abstandsgebote; COVuR 2020, S. 202 – Betriebsschließungen (Fitnessstudios); BayVerfGH, NVwZ 2020, S. 785 – Ausgangsbeschränkungen; OVG Berlin-Brandenburg, NJW 2020, S. 1454 – Untersagung der Nutzung eines Ferienhauses; NJW 2020, S. 1752 – Besuchsverbot in Pflegeheimen; VGH Mannheim, NVwZ 2020, S. 1451 – Quarantäne für Reiserückkehrer; OVG Lüneburg, COVuR 2020, S. 700 – Beherbergungsverbot; OVG Koblenz, COVuR 2020, S. 660 – Prostitutionsverbot. Vgl. nur die Feststellung des Landtags Nordrhein-Westfalen zu einer epidemischen Lage von landesweiter Tragweite v. 30. 10. 2020 (GV. NRW. 2020 S. 1052b), die auf der Grundlage von § 11 IfSBG-NRW erfolgte. Zur Herausforderung des Föderalismus durch die Corona-Krise sowie zu Vor- und Nachteilen föderaler Pandemiebewältigung Münch, in: Jahrbuch des Föderalismus 2020, S. 209 (211 ff., 217 ff.). Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 30: „Hauptargument für die Verlagerung der Entscheidungsbefugnis auf die Exekutive ist […] die Zeitdimension“. Recht und Politik, Beiheft 7

Die „Stunde der Exekutive“

und Zauderer.10 Parlamente gelten von ihrer deliberativen Anlage her als komplizierte und kooperationsbedürftige Einrichtungen, weshalb sie den Inhabern von Exekutivpositionen bei sich kurzfristig realisierenden Reaktionsnotwendigkeiten und Gestaltungsbedürfnissen meist unterlegen sind.11 Die scheinbare Unberechenbarkeit der existentiellen Gefahr konterkariert hier den Parlamentsvorbehalt, das vorgebliche Bedürfnis nach situationsbezogenen Maßnahmen die Allgemeinheit des Gesetzes, der Ruf nach Dringlichkeit, Effizienz und Ballung der Kompetenzen das Erfordernis rechtsstaatlicher Bindungen und Berechenbarkeit staatlichen Handelns, das Verlangen nach Zentralisierung und Konzentration staatlicher Macht den Freiheitsschutz der Bürger und die gewaltenteilige Ordnung des Verfassungsstaates.12 Für nicht wenige beginnt an dieser Stelle die Faszinationskraft eines Ausnahmezustands, der angeblich das prinzipiell und damit insbesondere tatbestandlich-rechtlich nicht Vorhersehbare13, Unvorstellbare14, Unberechenbare15, nicht Antizipierbare16, nicht Subsumierbare17, eigentlich Unnormierbare18 und damit nicht Autorisierbare19 meint. Dem liegt der für eine Rechtsordnung, die in Normalzeiten wie in Krisenzeiten gleichermaßen Gehör beansprucht,20 so desaströse Gedanke zugrunde, dass rechtliche Normen nur in der Normallage Geltung und Wirkung beanspruchen könnten, nicht jedoch in einer nicht vorhergesehenen und somit von vornherein normativ nicht antizipierbaren Ausnahmesituation.21 So akzeptiert das Leitbild des demokratischen, gewaltenteiligen und grundrechtsachtenden Staates unter dem Grundgesetz in Normalzeiten sein mag, so schnell treten in Phasen allgemeiner Verunsicherung diejenigen hervor, die einen „starken Staat“ und ein Durchgreifen mit „harter Hand“ fordern, ohne sich um Grundrechte und Verfahrenssicherungen zu kümmern.22 Das Recht und seine Geltung werden hier unter einen Krisen-, Katastrophen- oder Chaosvorbehalt gestellt.23 10 Dies ließ sich zuletzt an den divergierenden Zustimmungswerten für Markus Söder und Armin Laschet ablesen, vgl. https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/trotz-corona-pannen-trauendie-meisten-buerger-soeder-das-kanzleramt-zu-16950971.html (abgerufen am 9. 11. 2020). 11 Patzelt, ZSE 12 (2014), S. 68 (71). 12 Barczak, Der nervöse Staat, 2020, S. 131. 13 Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. XII, 3. Aufl., 2014, § 268 Rn. 115. 14 Maiwald, ARSP 41 (1954), S. 181 (184). 15 Isensee, in: Brugger/Haverkate (Hrsg.), Grenzen als Thema der Rechts- und Sozialphilosophie, 2002, S. 51 (72). 16 Böckenförde, NJW 1978, S. 1881 (1885); Kotzur, AVR 42 (2004), S. 353 (357). 17 Schmitt, Politische Theologie (1922), 10. Aufl., 2015, S. 19. 18 Schmidt-Jortzig, in: FS f. Ress, 2005, S. 1569 (1578, 1581). 19 Greene, Permanent States of Emergency and the Rule of Law, 2018, S. XIX. 20 Siehe unten III. 1. 21 Schmitt (Fn. 17), S. 19. 22 Stolleis, Merkur 61 (2007), S. 1145 ff. 23 Näher dazu Barczak (Fn. 12), S. 48 f., 116 ff., 196 ff. Recht und Politik, Beiheft 7

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II. Entparlamentarisierung und Entnormativierung Eine Gefährdung, zumal eine existentielle Bedrohung von Staat und Gesellschaft nicht vorausgesehen zu haben und jetzt handeln zu müssen, begründet stets ein Argument der Zweiten gegenüber der Ersten Gewalt. In dieser Situation schlägt – „gleichsam naturgesetzlich“24 – die „Stunde der Exekutive“.25 Diese politische Vokabel geht zurück auf den damaligen Bundesinnenminister Gerhard Schröder (CDU), der in der Diskussion um die Einführung der Notstandsverfassung eine krisenbedingte Machtkonzentration und Verkürzung von Entscheidungsprozessen anmahnte: „Die Ausnahmestunde ist die Stunde der Exekutive, weil in diesem Augenblick gehandelt werden muß und in diesem Augenblick nicht mehr die Möglichkeit besteht, […] das ganze Verordnungswerk, das unter Umständen binnen weniger Stunden erlassen werden muß, erst komplizierten Beratungen in den auch noch so verkleinerten Ausschüssen zu unterbreiten […]. Eine akute Lungenentzündung […] wird nicht dadurch bekämpft, daß ein Ärztekongreß nach längeren Vorbereitungen einberufen wird, sondern dadurch, daß der nächsterreichbare Arzt, möglichst der Hausarzt, Penicillin verordnet, und zwar sofort“.26

In diesem Sinne ist die „Stunde der Exekutive“ auch immer die Stunde der öffentlichkeitsscheuen Rechtverordnungen und administrativen Maßnahmen hinter verschlossenen Türen, der verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen Krisenstäbe und intuitiv irritierenden Podcasts aus dem Kanzleramt. Um sowohl Verschärfungen als auch Lockerungen der COVID-19-Beschränkungen bundesweit besser koordinieren zu können, treffen sich die Bundeskanzlerin und die Chefs der sechzehn Landesregierungen zur organisationsrechtlich opaken Ministerpräsidentenkonferenz. Bei dieser handelt es sich nicht um ein Verfassungsorgan, sondern um ein nicht öffentlich tagendes, informelles Gremium der Selbstkoordination der Regierungen. Mit dieser Informalisierung rechtlicher Strukturen und Prozesse schlagen in der „Stunde der Exekutive“ zugleich die Stunden der Entparlamentarisierung, der Entrechtlichung sowie der Entnormativierung.27

24 Hildebrandt, ZParl 51 (2020), S. 474 (477); ähnlich Marschall, APuZ 38/2020, S. 11 (11): „unterstellte Gesetzmäßigkeit“; Heinig/Kingreen/Lepsius u. a., JZ 2020, S. 861 (861): „zutreffende, geradezu sprichwörtliche Beobachtung“. 25 Zur Apostrophierung des Ausnahmezustands als „Stunde der Exekutive“ auszugsweise Herzog/ Klein, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 53a (2009), Rn. 2; Huber, in: FS f. Weber, 1974, S. 31 (31); Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 114; Doehring, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 2004, Rn. 518; Krieger, in: Klein (Hrsg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, 2. Aufl., 2010, S. 203 (203 ff.); Diebel, „Die Stunde der Exekutive“, 2019. 26 Deutscher Bundestag, 3. Wahlperiode, 124. Sitzung v. 28. 9. 1960, S. 7177 f. Zu der sich anschließenden Kontroverse um diesen „dumme[n] Satz“ (Herbert Wehner), der die Notstandsdebatten von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart prägen sollte, vgl. Diebel (Fn. 25), S. 175 f. 27 Barczak (Fn. 12), S. 70. 132

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Die „Stunde der Exekutive“

Verstünde man die „Stunde der Exekutive“ hingegen als schlichte Zeitangabe, als deskriptive Beschreibung des Umstands, dass Krisensituationen – „[n]atürlich“28 – verstärkt nach Orientierung, nach Staatsleitung und Abkürzung von Verfahren rufen, drückte sich in dieser Charakterisierung lediglich der allzu verständliche Wunsch nach einer möglichst baldigen Rückkehr zur Normalität aus.29 In diesem Sinne stünde die „Stunde der Exekutive“ für eine allenfalls befristete Abweichung von Stabilität, Ordnung und Normalität, sodass die Rückkehr zur Normallage zwangsläufig nur eine Frage der Zeit darstellt.30 Darin erschöpfen sich die Intentionen und Assoziationen jedoch typischerweise nicht: Vielmehr dient die „Stunde der Exekutive“ regelmäßig als Chiffre der eingangs skizzierten Sehnsucht nach autoritären Entscheidungen mit harter Hand.31 Diese Sehnsucht kann diejenigen kaum überraschen, die den Ausnahmezustand als „ewigen Wiedergänger“32 und Carl Schmitt als „eine Art walking dead der Verfassungstheorie“33 charakterisieren. So sehr beide in Perioden politischer Beruhigung und Konsolidierung aus dem Bewusstsein verschwinden, so sehr drängen sie sich in Zeiten der Krise wieder auf und fordern erneut Gehör.

III. In guten wie in schlechten Zeiten 1. Wesentlichkeitsvorbehalt als Parlamentsvorbehalt Dieser Sehnsucht nach einem starken Staat und einem Durchregieren mit harter Hand setzt das Grundgesetz auch und gerade in kritischen Zeiten seinen Anspruch auf rechtsstaatliche Normativität und die ihm eigentümliche Verknüpfung von Rechtsstaatlichkeit und parlamentarischer Demokratie entgegen: Das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG und das in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG niedergelegte Demokratieprinzip, die über Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG auch für die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern verbindlich sind, verpflichten den Gesetzgeber, insbesondere in grundrechtsrelevanten Bereichen die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen und nicht der Verwaltung zu überlassen.34 Das Grundgesetz erkennt das Bedürfnis nach flexiblen Reaktionsmöglichkeiten für die Exekutive zwar durchaus an, trifft jedoch mit seinem Wesentlichkeitsvorbehalt und Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG Vorsorge dagegen, dass sich das

28 Gärditz/Meinel, FAZ v. 26. 3. 2020, S. 6. 29 Ähnlich Lepsius, RuP 56 (2020), 258 (281): „Die ,Stunde der Exekutiveʻ schlägt nur, sie hält aber nicht die Uhr an“. Von einem „halb präpotenten, halb fatalistischen Gemeinplatz“ spricht Hildebrandt, ZParl 51 (2020), S. 474 (477). 30 Zu einem solchen Verständnis Barczak (Fn. 12), S. 123, m.w.N. 31 Gärditz/Meinel, FAZ v. 26. 3. 2020, S. 6. 32 Stolleis, Merkur 61 (2007), S. 1145 (1145); Volkmann, Merkur 62 (2008), S. 369 (369). 33 Rixen, RuP 56 (2020), S. 109 (109). 34 Sog. Wesentlichkeitstheorie, vgl. BVerfGE 47, 46 (78 f.). Recht und Politik, Beiheft 7

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Parlament seiner Verantwortung als gesetzgebende Körperschaft entäußert oder sich die exekutive Verordnungsrechtsetzung entgrenzend verselbständigt.35 Die COVID-19-Pandemie ist die Zeit der massivsten Grundrechtseinschränkungen, die der deutsche Verfassungsstaat seit 1949 auszuhalten hat.36 Die Frage, wer über die Corona-Beschränkungen entscheidet, ist jedoch mit dem Wesentlichkeitsvorbehalt eindeutig und unmissverständlich zugunsten des Parlaments beantwortet. Allenfalls für einen vorübergehenden Zeitraum lässt das Grundgesetz Ausnahmen von dieser Regel zu, um auf neue, außergewöhnliche und unvorhergesehene Gefahrenlagen auch mit im Grunde genommen näher regelungsbedürftigen Maßnahmen vorläufig reagieren zu können.37 Auf diese Weise ist verfassungsrechtlich garantiert, dass aus der „Stunde der Exekutive“ nicht Wochen, Monate oder gar Jahre werden. Dass das Parlament sehr wohl in der Lage ist, auch kurzfristig auf neue Herausforderungen zu reagieren und ein Gesetzgebungsverfahren einschließlich der Ausschussberatungen innerhalb weniger Tage oder Stunden durchzuführen (sog. Eilgesetzgebung38), hat es in der Vergangenheit bewiesen.39 Diese Flexibilität im Gesetzgebungsprozess wurde unlängst anlässlich des Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite bestätigt: Der Bundestag hat den Gesetzentwurf 40 am 18. 11. 2020 in zweiter und dritter Lesung beraten und beschlossen. Noch am selben Tag stimmte auch der Bundesrat dem Gesetz in einer Sondersitzung (vgl. § 15 Abs. 1 GOBR) zu. Ebenfalls am selben Tag hat der Bundespräsident das Gesetz ausgefertigt, sodass es noch am 18. 11. 2020 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht werden konnte und am Folgetag in Kraft trat.41 Ein derart beschleunigtes, unter Zeitdruck stehendes Gesetzgebungsverfahren, im Rahmen dessen drei Verfassungsorgan an einem Tag entscheiden, ist in Normalzeiten verfassungspolitisch nicht wünschenswert, da es eine geringere Gewähr für rationale und nachhaltigere Entscheidungen bietet. Es ist jedoch nicht per se unzulässig und kann in Krisenfällen dafür sorgen, dass das Parlament das Heft des Handelns in der Hand behält: Weder müssen die im Gesetzgebungsverfahren vorgesehenen Maximal35 Busch, Das Verhältnis des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG zum Gesetzes- und Parlamentsvorbehalt, 1992; zur Gesetzesabhängigkeit als Charakteristikum der Rechtsverordnung Uhle, in: Kluth/ Krings (Hrsg.), Gesetzgebung, 2014, § 24 Rn. 18 ff. 36 Kersten/Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 2020, S. 45 ff. et passim. 37 Vgl. BVerfG-K, DVBl. 2013, S. 169 (171); OVG Münster, NWVBl. 2013, S. 492 (495 f.), m.w.N. 38 Hierzu Klein, Gesetzgebung ohne Parlament?, 2004, S. 18 f.; Hofmann/Kleemann, ZG 2011, S. 313 ff. 39 So ist das Gesetz zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz v. 30. 9. 1977 (BGBl. I S. 1877, sog. Kontaktsperregesetz) in erster bis dritter Lesung einschließlich der Anschlussberatungen zwischen dem 28. 9. 1977 (9.00 Uhr) und dem 29. 9. 1977 (15.30 Uhr) im Bundestag verabschiedet worden, vgl. Klein (Fn. 38), S. 19. 40 BT-Drs. 19/23944 v. 3. 11. 2020. 41 BGBl. I S. 2397. 134

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fristen (Art. 76 Abs. 2 Satz 2 bis 5, 77 Abs. 2 Satz 1 GG) ausgereizt werden noch sind Abweichungen von den in der GOBT vorgesehenen Mechanismen zum Schutz vor Übereilung (vgl. §§ 78 Abs. 1 und 5, 81 Abs. 1 Satz 2 GOBT) ausgeschlossen.42 In Art. 80 Abs. 4 GG werden die Landtage zudem ermächtigt, durch Erlass eines verordnungsvertretenden Gesetzes die Entscheidungsgewalt über die „notwendigen Schutzmaßnahmen“, die bislang von den Landesregierungen getroffen werden,43 an sich zu ziehen. Die Bestimmung dient der Stärkung der Handlungsmöglichkeiten bzw. der politischen Aufwertung der Landesparlamente.44 Es braucht hierfür nur die nötigen politischen Mehrheiten. Erste hoffnungsvolle Ansätze zeigen sich aktuell: So hat der Landtag Baden-Württemberg im September 2020 eine Verfahrensregelung beschlossen, nach der sich zunächst ein Ständiger Ausschuss des Landtags mit den Rechtsverordnungen der Landesregierung befasst. Überschreitet die Gültigkeitsdauer einer Verordnung drei Monate, bedarf sie der Zustimmung des Plenums. Erteilt der Landtag die Zustimmung nicht, tritt die Verordnung nach Ablauf von vier weiteren Wochen außer Kraft. Die Beratungen im Plenum wie im Ständigen Ausschuss finden dabei grundsätzlich öffentlich statt.45 Die Trennung der Gewalten sowie deren Aufgaben und Funktionen müssen in der Krise weitgehend unangetastet bleiben.46 Das Grundgesetz sperrt sich vehement gegen jede Form der Entnormativierung und Entparlamentarisierung in der Krisenbewältigung.47 Speziell dort, wo die Befugnisse der Bundesregierung für den Krisenfall ausdrücklich erweitert werden,48 zeugen die spärlichen Regelungen von der prinzipiellen Skepsis der Verfassung gegenüber einer exekutiven Machtkonzentration. Auf dem Ziffernblatt des Grundgesetzes gibt es mit anderen Worten keine „Stunde der Exekutive“, nach seiner Uhr ist „auch die Stunde der Not die Stunde des Rechts und des Parlaments“.49

42 Mann, in: FS f. Kirchhof, Bd. I, 2013, § 33 Rn 20 f.; Schwerdtfeger, Krisengesetzgebung, 2018, S. 37 ff. et passim. 43 Siehe oben I. 44 Uhle, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 3. Aufl., 2020, Art. 80 Rn. 45, m.w.N. Dass Art. 80 Abs. 4 GG umgekehrt nicht dazu taugt, Versäumnisse auf Bundesebene zu kompensieren, verdeutlich Klafki, NVwZ 2020, S. 1718 (1722). 45 Siehe https://www.landtag-bw.de/home/aktuelles/pressemitteilungen/2020/september/ 852020.html (abgerufen am 9. 11. 2020). 46 Überdeutlich: Art. 115 g GG. Näher Kaiser (Fn. 9), S. 243. 47 Siehe Art. 115a Abs. 1, 2, 115e, 115 f Abs. 2, 115 h GG. 48 Vgl. Art. 115 f Abs. 1 GG. 49 Oberreuter, ZfP 55 (2008), S. 221 (221) unter Bezugnahme auf Adolf Arndt (SPD), Deutscher Bundestag, 3. Wahlperiode, 124. Sitzung v. 28. 9. 1960, S. 7198 (B): „[D]ie Ausnahmesituation [ist] nicht nur die Stunde des Parlaments […], sondern […] es ist die Stunde der Gemeinsamkeit aller demokratischen Kräfte und ihrer Repräsentation durch das Parlament“. Recht und Politik, Beiheft 7

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2. Verfassungslücken als Vergesetzlichungsimpuls Unter dem Grundgesetz existiert nur eine Verfassung „for normal times and crisis times alike“.50 Die Notstandsverfassung des Grundgesetzes verzichtet demgemäß auf materielle Sonder- und Ausnahmebefugnisse: „Eine Verfassung soll dem gesamten rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Leben in einem Staat die verbindliche Grundordnung geben. Dies gilt für Zeiten ruhiger, friedlicher Entwicklung, es muß aber auch – und gerade – für Krisenzeiten gelten. Die Grundwertvorstellungen, von denen die Verfassung ausgeht und auf denen sie beruht, müssen, will die Verfassung sich nicht selbst in Frage stellen, immer – in Notzeiten wie in ruhigen Zeiten – dieselben sein“.51

So sehr das Grundgesetz mit seiner Notstandsverfassung bei gleichzeitiger Einstreuung von Notstandsklauseln in verschiedene Bereiche52 allerdings bemüht war, dieses Thema ausgiebig und erschöpfend zu behandeln und es damit aus der Schusslinie der politischen Auseinandersetzung zu nehmen, so sehr darf sein Bestreben eines „vollverfaßten Notstandes“53 heute als gescheitert gelten. Die Gefahren und existentiellen Herausforderungen der Gegenwart liegen woanders und können mit diesem Instrumentarium nicht bewältigt werden.54 Die Corona-Krise hat dies auf erschreckende Weise deutlich gemacht: Die zu ihrer Bekämpfung verfügten tiefgreifenden Freiheitsbeschränkungen von Quarantäne-Anordnungen in Einzelfällen, flächendeckenden Schließungen privater Betriebe wie öffentlicher Einrichtungen bis hin zu generalisierten Versammlungsund Ansammlungsverboten sowie Kontakt- und Ausgangssperren vollzogen sich allesamt jenseits des grundgesetzlichen Ausnahmeverfassungsrechts – und damit abseits ihres angestammten Platzes.55 Stattdessen nahm man Zuflucht im Exekutivstaat und in den exekutiven Verordnungsermächtigungen der §§ 5 Abs. 2 und 32 Satz 1 IfSG: Diese bestätigten „das Institut eines neuen Ausnahmezustands, der, anders als der vom Grundgesetz sogenannte Verteidigungsfall, nicht in der Verfassung, sondern nur in einem einfachen Bundesgesetz geregelt ist“.56

50 Für die Vereinigten Staaten Sullivan, Bulletin of the American Academy, Winter 2006, S. 30 (30). 51 BT-Drs. V/1879, S. 6. 52 Vgl. insbesondere Art. 11 Abs. 2, 35 Abs. 2 und 3, 87a Abs. 4, 91 GG. 53 Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, S. 1330. 54 Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 18. Aufl., 2019, Rn. 939; ähnlich Ipsen, Der Staat der Mitte, 2009, S. 286; ders., RuP 56 (2020), S. 118 (132). 55 Barczak (Fn. 12), S. 290. 56 Gärditz/Meinel, FAZ v. 26. 3. 2020, S. 6. 136

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IV. Antizipierbarkeit der Ausnahme 1. Typologie der Überraschung Danach scheint es so, als ob in der Pandemie die „Stunde der Exekutive“ rechtstatsächlich gewissermaßen unausweichlich gewesen ist. Zentralisierung und Konzentration staatlicher Entscheidungsbefugnisse erscheinen hier als etwas, mit dem man sich als parlamentarische Demokratie und föderales Gemeinwesen in einem Pandemie-Staat gleichermaßen abfinden muss. Eine solche Schicksalsergebenheit ist indes unangebracht. Ihr liegt die – vielfach unhinterfragte und soziologisch wie rechtstheoretisch unzutreffende – Annahme zugrunde, dass derartige Ausnahmefälle nicht voraussehbar sind und daher auch keine rechtliche Vorsorge gegen sie getroffen werden kann. Die Frage nach der „echten“ Ausnahme trifft zusammen mit dem Diskurs in der Risikovorsorge, welches Risiko als nicht mehr denkbar gelten könne.57 Die heutige Sicherheits- und Risikogesellschaft hält jedoch selbst gezielt herbeigeführte Flugzeugabstürze auf Atomkraftwerke oder terroristische Anschläge mit Nuklearwaffen nicht mehr für undenkbar und trifft Vorsorge hiergegen. Sie antizipiert im Dreiklang von Gefahr–Risiko–Restrisiko58 Geschehnisse, deren Eintritt als „wahrscheinlich“, „unwahrscheinlich, aber möglich“ oder „praktisch unvorstellbar“ eingestuft wird und hat sich insofern an die Entwicklung einer ganzen „Typologie der Überraschung“59 gemacht. Der moderne Präventions- und Vorsorgestaat zieht sein Selbstverständnis gerade daraus, mit allen potentiell denkbaren Gefährdungen zu rechnen und für sie entsprechend gerüstet zu sein. 2. Typisierungen von Notstandslagen Müssen freiheitliche Rechtsordnungen in Zeiten der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Normalitäten immer mehr mit dem Einbruch des Außergewöhnlichen und Irrationalen rechnen, können sie diesen Einbruch auch normativ antizipieren.60 Je mehr das Risikobewusstsein der Gesellschaft wächst, umso mehr schwindet der Raum, in denen der „echte“, nicht vorhersehbare Ausnahmezustand Platz hat. Die Politik-, Rechts- und Geschichtswissenschaft hat Typisierungen von Notstandslagen erarbeitet und Apparate, Mittel und Rechtsnormen staatlichen Handelns in Fülle für die innere Sicherheit bereitgestellt.61 „[W]ir verfügen“, so schrieb Gertrude Lübbe-Wolff zu Beginn der 1980er Jahre in ihrer mit Ernst-Wolfgang Böckenförde geführten Kontroverse um die rechtliche Regelung des Ausnahmezustands, „vom Versammlungsgesetz bis zur polizeilichen Generalklausel, bereits über ein solches Arsenal von Gesetzen, die im Fall einer konkreten Gefahr die Anordnung gezielter, auch grundrechts57 58 59 60 61

Preuß, in: Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 523 (539 ff.). Reich, Gefahr-Risiko-Restrisiko, 1989. Preuß, in: Grimm (Fn. 57), S. 541. Klafki, Risiko und Recht, 2017, S. 142 f. Römer, DuR 11 (1983), S. 144 (160).

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Tristan Barczak beeinträchtigender Maßnahme erlauben, daß es schwer fällt, Fälle auszudenken, denen aufgrund ihres bisher unvorhergesehenen Charakters auch mit diesem rechtlichen Instrumentarium nicht begegnet werden kann“.62

V. Paradox der (mangelnden) Vorbereitung Nun mag man bezweifeln, ob ein Notfall ex ante wirklich „vollständig durch hinreichend eindeutiges, klares und begrenztes Recht geregelt werden“63 kann und das Gebot zur normativen Vorsorge tatsächlich geeignet ist, der Flucht in die Entparlamentarisierung, den Exekutivstaat und die „Stunde der Exekutive“ einen Riegel vorzuschieben. Die aktuelle COVID-19-Pandemie taugt indes nicht als Gegenbeweis, im Gegenteil: Im Bereich der globalen Gesundheitssicherheit hat man seit Jahrzehnten mit einer Pandemie dieser Größenordnung gerechnet.64 Bereits seit längerer Zeit wurde auch in der Rechtswissenschaft hierzulande vor regionalen und globalen Pandemien gewarnt. Dabei wurde explizit darauf hingewiesen, dass das deutsche Recht mit seinem überkommenen Infektionsschutzgesetz, welches lediglich das normative Standardrepertoire des Seuchenschutzes bereithielt, für entsprechende Bedrohungslagen nur unzureichend gerüstet und eine Änderung der geltenden Rechtslage „zwingend geboten“ sei.65 Vorsorge war also gerade nicht in ausreichender Form getroffen worden, nicht durch die Politik, noch weniger seitens der Verwaltung.66 Eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“, wie sie mittlerweile in § 5 Abs. 1 IfSG verankert ist, war diesem Recht fremd.67 Der in Reaktion auf die SARS-Pandemie 2002/2003 und die weltweite Verbreitung von H5N1 aufgestellte Nationale Pandemieplan (NPP) trug zwar zur Vorbereitung der Pandemieabwehr bei und stellte ein Mittel der Infektionsschutz- bzw. Katastrophenvorsorge dar. Seine Regelungskraft erschöpfte sich jedoch in einer unzureichenden, weil rechtlich unverbindlichen Handlungsempfehlung. Die Corona-Krise des Jahres 2020 ist damit Ausdruck einer anderen Erkenntnis der Befassung mit dem Ausnahmezustand: Die konkrete Gefahr mag unvorhergesehen erscheinen, denn „[a]uch wer sie kommen sah, sah sie regelmäßig nicht so kommen oder jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt kommen“,68 das Ereignis als solches oder seine Folgen sind es nicht.69 Weder bei der Hamburger Sturmflut des Jahres 1962, die 62 63 64 65

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Lübbe-Wolff, ZParl 11 (1980), S. 110 (118). Gusy, JZ 2020, S. 843 (844). Mezes/Opitz, Leviathan 48 (2020), S. 381 (381). Vgl. Grüner, Biologische Katastrophen, 2017, S. 23, 208 f.: „[Es gilt] als wahrscheinlich, dass irgendwann mit dem Eintritt einer Pandemie zu rechnen ist […]. Eine Änderung der geltenden Gesetzeslage erscheint […] zwingend geboten“. Vgl. Meinel/Möllers, FAZ v. 20. 3. 2020, S. 9. Klafki (Fn. 60), S. 163: „Der Terminus ,Pandemieʻ kommt in der deutschen Rechtsordnung so gut wie nicht vor“. Gusy, in: Lange/Wendekamm (Hrsg.), Die Verwaltung der Sicherheit, 2018, S. 165 (176). Lauta, Disaster Law, 2015, S. 64. Recht und Politik, Beiheft 7

Die „Stunde der Exekutive“

vielfach als paradigmatisch für unvordenkbare und keinen Verzug duldende Not-, Ausnahme- und Krisenzeiten bemüht wird, noch bei der globalen Corona-Krise, die seit dem Frühjahr 2020 Deutschland, Europa und die Welt in Atem hält und deren Folgen noch keineswegs absehbar sind, war dies anders.70 Gleichwohl neigt der Mensch zu Verdrängungen der Realität. Dieses Paradoxon der (mangelnden) Vorbereitung71 hat speziell im Bereich der Risikovorsorge und Gefahrenabwehr eine sprichwörtliche Ausprägung erfahren, im deutsch-sprachigen Raum als Sankt-Florians-Prinzip, im Englischen unter der feststehenden Wendung Not-In-My-Backyard (NIMBY). Das Katastrophenrecht als rechtliches Instrument der Krisenbewältigung wurde hierzulande über lange Zeit ebenso verdrängt wie die eigentliche Katastrophe.72 Dementsprechend ging man auch mit Blick auf die COVID-19-Pandemie davon aus, dass diese zumindest an Deutschland und Europa folgenlos vorbeigehen werde.

VI. Fazit und Ausblick Die mangelnde Beteiligung der Parlamente in der Krisenbewältigung ist zunehmend Gegenstand von Kritik. Insbesondere seitdem der „Lockdown Light“ Anfang November 2020 in Kraft getreten ist, fordert die Opposition im Bundestag als auch in den Landtagen mehr Mitsprache bei den Krisenmaßnahmen.73 Die Forderungen nach „Mitsprache“ und „Beteiligung“ sind zwar nachvollziehbar und überfällig, sie zeugen jedoch von einem fehlgeleiteten Verständnis der Gewaltenteilung in Krisenzeiten und behandeln die Stellung des Parlaments mit zu kleiner Münze. Das Grundgesetz geht auch in der Krise von einem checks and balances zwischen Legislative, Exekutive und Judikative aus. Die proklamierte „Stunde der Exekutive“ ist verfassungsrechtlich, rechtssoziologisch sowie verfassungshistorisch ein Mythos: Sie vermochte – auch in der Vergangenheit74 – stets nur dann zu schlagen, wenn die parlamentarische Demokratie sie hierzu anhielt oder sich mit ihr abfand. Insofern hat sie immer „auch etwas mit Bequemlichkeit zu tun“.75 Einmal eingeläutet, liegt es in den Händen des Parlaments, die „Stunde der Exekutive“ wieder verstummen zu lassen. Letzteres fällt naturgemäß schwerer als Ersteres und bildet damit den eigentlichen Gradmesser für die Vitalität und Resilienz einer parlamentarischen Demokratie in kritischen Zeiten.

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Barczak (Fn. 12), S. 199. Mezes/Opitz, Leviathan 48 (2020), S. 381 (381 f.). Gusy, in: Lange/Wendekamm (Fn. 68), S. 165 ff.; Trute, KritV 88 (2005), S. 342 ff. So etwa Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP), vgl. https://www.spiegel.de/politik/ deutsch-land/corona-krise-fuehrende-parlamentarier-fordern-mehr-mitspracherecht-bei-mass nahmen-a-997601cf-98b8 - 4262 - 832d-8fddf91073a0 (abgerufen am 9. 11. 2020). 74 Gusy, ZNR 39 (2017), S. 246 (250): „Der Ausnahmezustand war […] in Deutschland nicht bloß die viel zitierte ›Stunde der Exekutive‘. Er war zuerst einmal eine Stunde der weitreichenden Abdankung des Parlaments“ (Hervorhebungen im Original hier ausgelassen). 75 Waldhoff, ZRP 2020, S. 260 (261).

Recht und Politik, Beiheft 7

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AUTORINNEN UND AUTOREN DES HEFTES Barczak, Tristan, Prof. Dr. jur., LL.M., Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Sicherheitsrecht und das Recht der neuen Technologien, Universität Passau. Selbstständige Publikationen: Der nervöse Staat. Ausnahmezustand und Resilienz des Rechts in der Sicherheitsgesellschaft, Tübingen 2020. Buschmann, Marco, Dr. jur., MdB, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Freien Demokraten im Deutschen Bundestag. Gusy, Christoph, Prof. Dr. jur., Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Staatslehre und Verfassungsgeschichte an der Universität Bielefeld. Hamann, Christian, Dr. jur.. Rechtsanwalt und Partner bei Gleiss Lutz Berlin. Ipsen, Jörn, Prof. Dr. jur. (Niedersachsenprofessur), Universität Osnabrück, Präsident des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs a.D. Lepsius, Oliver, Prof. Dr. jur., LL.M., Lehrstuhl für Öffentl. Recht und Verfassungstheorie, Universität Münster. Neuere Publikationen: Relationen. Plädoyer für eine bessere Rechtswissenschaft, Tübingen 2016. Der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, Tübingen 2015 (mit A. Doering-Manteuffel und B. Greiner). Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, Berlin 2011 (mit M. Jestaedt/C. Möllers/C. Schönberger) sowie Interviewbuch mit Dieter Grimm, „Ich bin ein Freund der Verfassung“, Tübingen 2017 (gemeinsam mit C. Waldhoff und M. Roßbach). Meier, Horst, Dr. jur., Autor und Jurist (www.horst-meier-autor.de). Der Text basiert auf einem Radioessay, den NDR Kultur in der Reihe „Gedanken zur Zeit“ am 11. Oktober 2020 ausstrahlte. – 2019 erschienen Ralf Dreier, Die Mitte zwischen Holz und Theologie. Eine Art Bilanz (zusammengestellt u. hrsg. von Horst Meier). Baden-Baden: Nomos und die 2. Aufl. von Claus Leggewie / Horst Meier, Nach dem Verfassungsschutz. Plädoyer für eine neue Sicherheitsarchitektur der Berliner Republik. Berlin: Hirnkost. – 2017 Pressepreis des Deutschen Anwaltvereins für den DLFRadioessay „Über die Parteienfreiheit“ (gedruckt in Recht und Politik Beiheft 1: Das zweite Verbotsverfahren gegen die NPD – Analyse, Prozessreportage, Urteilskritik. Duncker & Humblot 2017). 2012 erschien der Essayband Protestfreie Zonen? [44] Variationen über Bürgerrechte und Politik. Berlin: Berliner Wissenschafts Verlag (BWV). Möllers, Martin H. W., Prof. a.D. Dr. phil.; Dipl. Soz. Wiss.; Studienassessor, Politikwissenschaftler und Jurist sowie Historiker und Geograph; lehrte von 1987 – 2018 Staats- und Gesellschaftswissenschaften an der Hochschule des Bundes; Hrsg. des Wörterbuchs der Polizei, C. H. Beck, München, der Studienbücher für die Polizei, VfP, Frankfurt am Main, und Co-Hrsg. des JBÖS, VfP/Nomos, Baden-Baden; Schriftleiter des Jahrbuchs für Heimatkunde Oldenburg/Ostholstein. Rixen, Stephan, Prof. Dr. jur., Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bayreuth mit einem Forschungsschwerpunkt im Gesundheitsrecht. Thürk, Sophie, Dr. jur., Rechtsanwältin. Winter, Thomas, Dr. jur., Rechtsanwalt beim BGH. Zeh, Wolfgang, Prof. Dr. jur., Bundestagsdirektor a. D.

Recht und Politik, Beiheft 7 (2021), 140

Duncker & Humblot, Berlin