Corona-Stories: Pandemische Einwürfe von Kai Brodersen, Julia Ebner, Étienne François, Sven Felix Kellerhoff u. a. 3806242631, 9783806242638

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Corona-Stories: Pandemische Einwürfe von Kai Brodersen, Julia Ebner, Étienne François, Sven Felix Kellerhoff u. a.
 3806242631, 9783806242638

Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Corona und Geisteswissenschaften
Pandemien einst …
Hans-Joachim Gehrke: Seuche und Krieg
Florian Steger: Abstand halten in Zeiten bedrohlicher Seuchen – Knapp 2500 Jahre alte Erkenntnis
Kai Brodersen: Gelassenheit
Nikolas Jaspert: Buße und Apokalypse in Zeiten der Corona-Krise – und im Mittelalter
Pierre Monnet: Die Covid-19-Pandemie, gesehen durch das Prisma des Schwarzen Todes 1348
Frank Göse: Die Pest vor Berlin!
Günter Müchler: Napoleon und die Pestkranken von Jaffa
Sven Felix Kellerhoff: Was die Corona-Krise von der Spanischen Grippe unterscheidet
Tobias Straumann: Lehren aus der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre
Christoph Cornelißen: Die aktuelle Pandemie – eine historische Zäsur?
… und Corona heute
Étienne François: Eine Krise ohne Beispiel?
Achim Sohns: Kann das Coronavirus Sinn machen?
Kersten Knipp: Virus versus Verzauberung. Modernes Selbstverständnis in pandemischen Zeiten
René Schlott: „Die Stadt dort unten war immer noch da“ – Ein Lektüretipp für Quarantänezeiten
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Schwere Krisenzeiten für die Freiheitsrechte
Ulrike Ackermann: Schockstarre durch Coronavirus – Wir müssen unsere Freiheiten wieder wertschätzen
Gesine Schwan: Kommunikation in der Krise – Wie schafft man Vertrauen?
Hubert Wolf: Coronavirus in den vatikanischen Archiven
Hermann Parzinger: Nofretete allein zu Haus? Kultureinrichtungen in der Corona-Krise – ein Erfahrungsbericht
Lisa Herzog: Was lehrt uns die Corona-Krise über den Wert der Arbeit?
Jochen Oltmer: Migration im Corona-Lockdown
Julia Ebner: Verschwörungstheorien – Was Corona mit unserer Gesellschaft macht
Angelos Chaniotis: Die große Illusion: Lokale Lösungen für globale Probleme
Robert L. Kelly: Brücken bauen in Zeiten des Umbruchs
Corine Pelluchon: Die Epidemie muss dazu führen, dass wir die Welt auf eine andere Art bewohnen
Rainer Marten: Was die Pandemie uns lehrt
Rebekka Reinhard: Corona – Die Chance einer neuen Zeit
Die Autorinnen und Autoren
Back Cover

Citation preview

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C O R O N A - S TO R I E S

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CORONA-STORIES Pandemische Einwürfe von Kai Brodersen Julia Ebner Étienne François Sven Felix Kellerhoff Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Hermann Parzinger Hubert Wolf u. v. a. Herausgegeben von Wissenschaftliche Buchgesellschaft

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Abbildungsnachweis: akg-images: S. 15, 38, 41, 43, 51, 56 (akg-images / Erich Lessing), 60 (akg-images / Peter Hebler ), 63, 73, 79; imago images / Collection Jonas / Kharbine-Tapabor: S. 84; picture alliance / arkivi: S. 87; sampinz / wikimedia commons: S. 147; René Schlott: S. 145; https:// oiks-sohns.de: S. 122; © Stadtarchiv Reutlingen: S. 89; © Stiftung Preußischer Kulturbesitz: S. 168; © privat / Hubert Wolf: S. 164, 166; wbg-Archiv: S. 20, 26, 29, 31, 33, 47, 48, 69. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Theiss ist ein Imprint der wbg © 2020 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Lektorat: Kristine Althöhn, Mainz Gestaltung und Satz: Anja Harms, Oberursel Covergestaltung: Franzi Bucher, München Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4263-8 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-4258-4 eBook (epub): 978-3-8062-4259-1

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Corona und Geisteswissenschaften

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Pandemien einst …

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Hans-Joachim Gehrke: Seuche und Krieg

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Florian Steger: Abstand halten in Zeiten bedrohlicher Seuchen – Knapp 2500 Jahre alte Erkenntnis

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Kai Brodersen: Gelassenheit

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Nikolas Jaspert: Buße und Apokalypse in Zeiten der Corona-Krise – und im Mittelalter

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Pierre Monnet: Die Covid-19-Pandemie, gesehen durch das Prisma des Schwarzen Todes 1348

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Frank Göse: Die Pest vor Berlin!

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Günter Müchler: Napoleon und die Pestkranken von Jaffa

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Sven Felix Kellerhoff: Was die Corona-Krise von der Spanischen Grippe unterscheidet

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Tobias Straumann: Lehren aus der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre

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Christoph Cornelißen: Die aktuelle Pandemie – eine historische Zäsur?

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… und Corona heute

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Étienne François: Eine Krise ohne Beispiel?

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Achim Sohns: Kann das Coronavirus Sinn machen?

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Kersten Knipp: Virus versus Verzauberung. Modernes Selbstverständnis in pandemischen Zeiten

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René Schlott: „Die Stadt dort unten war immer noch da“ – Ein Lektüretipp für Quarantänezeiten

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Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Schwere Krisenzeiten für die Freiheitsrechte

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Ulrike Ackermann: Schockstarre durch Coronavirus – Wir müssen unsere Freiheiten wieder wertschätzen

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Gesine Schwan: Kommunikation in der Krise – Wie schafft man Vertrauen?

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Hubert Wolf: Coronavirus in den vatikanischen Archiven

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Hermann Parzinger: Nofretete allein zu Haus? Kultureinrichtungen in der Corona-Krise – ein Erfahrungsbericht

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Lisa Herzog: Was lehrt uns die Corona-Krise über den Wert der Arbeit?

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Jochen Oltmer: Migration im Corona-Lockdown

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Julia Ebner: Verschwörungstheorien – Was Corona mit unserer Gesellschaft macht

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Angelos Chaniotis: Die große Illusion: Lokale Lösungen für globale Probleme

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Robert L. Kelly: Brücken bauen in Zeiten des Umbruchs

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Corine Pelluchon: Die Epidemie muss dazu führen, dass wir die Welt auf eine andere Art bewohnen

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Rainer Marten: Was die Pandemie uns lehrt

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Rebekka Reinhard: Corona – Die Chance einer neuen Zeit

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Die Autorinnen und Autoren

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CORONA UND GEISTESWISSENSCHAFTEN

20. März 2020: Bayern und das Saarland verhängen Ausgangsbeschränkungen für ihre Bürgerinnen und Bürger – vielleicht ist dieser 20. März das Datum, an dem das Bewusstsein, dass das Coronavirus SARS-CoV-2 unser Leben verändern wird, in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen ist. Ganz sicher war dieser Freitag der Beginn dessen, was wir seither Shutdown nennen: das beispiellose „Herunterfahren“ unseres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens. Zwar ist das Virus – anders als manche Verschwörungstheorie suggeriert! – nicht menschengemacht, seine rasende, pandemische Ausbreitung aber hat schon mit der Welt zu tun, wie wir sie gestaltet haben, mit einer hypervernetzten, globalen Wirtschaft, mit unbegrenzten Verkehrsströmen. Und die Folgen dieser Pandemie schlagen natürlich auf alle Lebensbereiche durch: Was macht das mit uns? Mit unserer Gesellschaft, unserer Demokratie, mit unseren Kindern? Was macht das mit unserer Wirtschaft, mit der Wirtschaft weltweit? Was passiert mit der Armut in der ‚Dritten Welt‘, was mit Flüchtlingen im Angesicht von Corona? Und was passiert mit unserem Klima – kurzfristig gut, aber nach der Pandemie umso mehr gebeutelt? Wochenlang beherrschten Virologen den Diskurs, die Infektionswege und Infektionskurven erläuterten und neu erläuterten. Corona und die Folgen, unser Umgang mit dieser Pandemie können aber nicht allein von den Medizinern und Naturwissenschaftlern behandelt werden; zu breit, zu existenziell ist das Thema, zu sehr sind histori-

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CORONA UND GEISTESWISSENSCHAFTEN

sche, philosophische, ethische, politische Fragestellungen mit der Krankheit selbst und unserer Reaktion auf diese Pandemie verbunden. Das gilt vor allem jetzt, nach der teilweisen Aufhebung des Lockdown, umso mehr: Lasse ich mein Kind zu Hause in der virussicheren Isolation oder ermögliche ich ihm soziale Kontakte auf dem Spielplatz? Wie sind das Risiko eines Gottesdienstes oder Restaurantbesuchs mit dem sicheren „Zuhausebleiben“ abzuwägen? Darf ein Meeting bei uns im Verlag jetzt mit allen Sicherheitsmaßnahmen als Präsenzmeeting ausgelobt werden, oder lassen wir die Mitarbeiter verinselt, ohne sozialen Kontakt, aber vielleicht sicherer zu Hause? Ob Eltern, Einzelpersonen oder aber Führungskräfte: Wir alle haben zurzeit Entscheidungen zu treffen, bei denen wir Risiken abwägen und Alternativen aus unterschiedlichen Gesichtspunkten bewerten müssen. Hierbei, das ist unsere tiefste Überzeugung, können uns die unterschiedlichen Sichtweisen der Geisteswissenschaften Hilfestellung bieten. Als Wissenschaftliche Buchgesellschaft mit 85 000 Mitgliedern und unseren rund 3000 Autorinnen und Autoren sind wir die größte geisteswissenschaftliche Gemeinschaft in Deutschland. Wir sehen es als unsere Aufgabe an, den Geisteswissenschaften ein breit sichtbares Forum zu bieten, um sie als Leser und Mitglied mit dem notwendigen Rüstzeug auszustatten, diese Themen für sich zu beantworten und zu entscheiden. Und so kam uns, der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, die Idee, unsere Autorinnen und Autoren um ihre Gedanken zu diesen Fragen zu bitten. Das Echo auf diese Initiative war überwältigend. Es gab fast niemand, der unserer Bitte, sich zu beteiligen, nicht umgehend entsprochen hätte. Die ersten Beiträge datieren auf den 20. März 2020. Und seither sind fast jeden Tag Texte erschienen, die aus den ganz unterschiedlichen fachlichen und persönlichen Perspektiven der Autorinnen und Autoren das Thema Corona fokussieren. Und da die Texte so vielfältig sind, so informativ, geistreich, anregend,

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CORONA UND GEISTESWISSENSCHAFTEN

zum Teil aber auch berührend und provokativ, haben wir uns entschlossen, daraus in erweiterter Form dieses Buch zu machen. Einige der Texte sind unverändert dem Blog entnommen. Einige Texte wurden für das Buch erweitert, überarbeitet, aktualisiert. Einige Texte sind auch ganz neu hinzugekommen, als Originalbeiträge für diese Publikation. Für all diese Beiträge danke ich an dieser Stelle ausdrücklich allen Autorinnen und Autoren sehr herzlich, dafür, dass sie mitgemacht haben und sie uns honorarfrei, quasi als einen Solidaritätsbeitrag, zur Verfügung gestellt haben. Mein Dank gilt aber auch den Kolleginnen und Kollegen, die dazu beigetragen haben, dass dieses Buch erscheinen konnte. Es ist daher auch kein ‚normales‘ Buch, sondern ein Buch der Solidarität: „Corona-Stories“ ist ein maximal breites Panorama der Reaktionen der Geisteswissenschaften auf diese Situation ohne Vergleich, mit dem wir keinerlei wirtschaftliche Interessen verfolgen. Getreu unseres Vereinsauftrags, Wissen, Bildung und Kultur zu fördern, engagieren wir uns unter anderem seit 2016 auf Wunsch unserer Mitglieder für die Initiative ArbeiterKind.de und tragen damit dazu bei, u. a. deren Berufseinstiegs-Mentoring weiter auszubauen, das Unterstützung beim Einstieg in die akademische Arbeitswelt vermittelt. Von jedem verkauften Exemplar dieses Buches gehen 2 Euro an ArbeiterKind.de. Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine anregende, eine aufklärende Lektüre und danke Ihnen herzlich bei Ihrer Unterstützung unseres Auftrags, Wissen und Bildung in unsere Gesellschaft hineinzutragen. Dirk H. Beenken Geschäftsführer wbg

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PANDEMIEN EINST …

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Nüchtern betrachtet ist die Menschheitsgeschichte eine einzige Abfolge von Krisen, Kriegen und Katastrophen, was wir gerne ausblenden, um nach vorne schauen und weitermachen zu können. Die Beiträge in diesem ersten, dem historischen Teil der „Corona-Stories“ konzentrieren sich auf die Geschichte der Pandemien – von der Zeit des Peloponnesischen Krieges bis zur Spanischen Grippe im 20. Jahrhundert. Sie zeigen die ganze Breite des Umgangs der Menschen mit dieser Heimsuchung – inklusive früher Formen der Quarantäne – und können so helfen, die gegenwärtige Situation einzuordnen.

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HANS-JOACHIM GEHRKE: SEUCHE UND KRIEG

Die Strategie war bestens durchdacht. Der Krieg, den der führende Politiker, Perikles, mit Unterstützung des Volkes der Athener vom Zaun gebrochen hatte – wir nennen ihn den Peloponnesischen Krieg (432–404 v. Chr.) –, konnte nicht verloren werden. Er würde total werden: Der Gegner, Sparta mir seinen Alliierten, der die Freiheit der Griechen gegen die tyrannische Dominanz der Athener zu verteidigen vorgab, würde mit ganzer Macht ins Land Attika einfallen, alles kurz und klein schlagen und die Ernte vernichten. Die Landbevölkerung würde sich nach Athen zurückziehen, zu Zehntausenden. Dort waren die Stadt selbst, der Hafen Piräus und das Areal zwischen beiden durch Mauern gesichert. Die Versorgung wäre durch Importe aus Übersee in großem Stil gewährleistet, solange Athen mit seiner riesigen Flotte die Meere beherrschte. Das war garantiert angesichts von deren konkurrenzloser Überlegenheit, quantitativ an Schiffen und Menschen, qualitativ durch nautische Kompetenz. Die Kriegskasse war prall gefüllt, an Reserven gedacht. Irgendwann würde der Gegner, gereizt und dezimiert durch Flottenoperationen an seinen Küsten, klein beigeben und Athens Herrschaft über seine sogenannten Verbündeten – in Wirklichkeit Untertanen – anerkennen müssen. Diesen Krieg konnte Athen nicht verlieren: „Einsicht und finanzieller Überschuss“ seien im Krieg entscheidend, beruhigte Perikles angesichts des ersten bevorstehenden Einfalls seine Mitbürger. Ressourcen, überlegene Planung und eine klare Strategie würden für den Erfolg sorgen. Selbst im Nachhinein müssen wir heute sagen: Es hätte funktionieren können.

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SEUCHE UND KRIEG

Perikles, der Stratege des Peloponnesischen Krieges. Römische Kopie nach griechischem Original, um 440/430 v. Chr. (London, British Museum).

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PA N D E M I E N E I N ST …

Wie aber alle guten Pläne durchkreuzt werden können, zeigte sich schon im zweiten Kriegsjahr, durch eine Naturkatastrophe, die nicht „in Zeitlupe“ kam. Vermutlich aus Afrika stammend verbreitete sich in Athen eine Seuche, zunächst im Hafen, dann in dem ganzen vollgepferchten Gebiet innerhalb der Mauern. Feinde hätten angeblich die Brunnen im Piräus vergiftet, hieß es. Aber dieser Feind war unsichtbar. Mit Hitzeausbrüchen im Kopf sowie Hals- und Atemwegsproblemen begann es. Schwere Krämpfe in Magen und Galle folgten, Blasen und Geschwüre bedeckten den Körper, unerträgliche Hitzewallungen quälten die Kranken, von denen viele nach gut einer Woche verstarben. Wer diese Attacken überstanden hatte, den konnten aber noch schlimme Beschwerden im Unterleib, verbunden mit Durchfall, treffen, die für den ohnehin geschwächten Körper tödlich waren. Sogar die Enden der Gliedmaßen, Geschlechtsteile und Augen konnten dann noch befallen werden. Gegen das alles war niemand gefeit: Diejenigen, die anderen halfen, starben wie Schafe, und wer sich selbst isolierte, endete einsam und ohne Pflege. „Das schlimmste von dem ganzen Übel aber war die Mutlosigkeit“, konstatiert der Historiker Thukydides. Dieser war selbst erkrankt, hatte die Seuche aber überstanden und beschreibt ihre Symptome wie ihre Folgen detailliert (Historien, Buch 2, Kapitel 47–53): Er will damit ein Zeichen setzen. In Bezug auf die von ihm durchgemachte und geschilderte Krankheit spricht man gerne von der („attischen“) Pest: Doch um welche Krankheit es sich wirklich handelte, Pocken, Masern, Typhus, Fleckfieber oder anderes, bleibt unklar; ausgeschlossen ist nicht, dass ihr Erreger ausgestorben ist. Die Folgen waren jedenfalls enorm, nicht nur, weil der Spitzenpolitiker Perikles selbst der Krankheit zum Opfer fiel. Bei archäologischen Ausgrabungen beim Bau der Athener Metrostation Kerameikos (benannt nach dem antiken Friedhof) im Jahre 1984 kamen zwei Massengräber zum Vorschein, in denen Tote auf chaotische Weise beigesetzt waren. In einer Kultur, in der auf die ordentliche Bestattung so viel Sorgfalt verwendet wurde – man denke nur an die Gestalt der Antigone –,

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SEUCHE UND KRIEG

war dies ein Zeichen erheblicher sozialer, religiöser und moralischer Verwirrung. Genau diese Folge, nicht weniger bedenklich als die medizinische Katastrophe, hebt Thukydides hervor. Lassen wir ihn selbst zu Wort kommen (Kap. 52f.), in der kraftvollen Übersetzung von Georg Peter Landmann: „Die Menschen, völlig überwältigt vom Leid und ratlos, was aus ihnen werden sollte, wurden gleichgültig gegen Heiliges und Erlaubtes ohne Unterschied. Alle Bräuche verwirrten sich, die sie sonst bei der Bestattung beobachteten; jeder begrub, wie er konnte … Überhaupt kam in der Stadt die Sittenlosigkeit erst mit dieser Seuche richtig auf. Denn mancher wagte jetzt leichter seinem Gelüst zu folgen, das er bisher unterdrückte, da man in so enger Kehr die Reichen, plötzlich Sterbenden, tauschen sah mit den früher Besitzlosen, die miteins deren Gut zu eigen hatten, so dass sie sich im Recht fühlten, rasche jedem Genuss zu frönen und zu schwelgen, da Leib und Geld ja gleicherweise nur für den einen Tag seien … Da war keine Schranke mehr, nicht Götterfurcht, nicht Menschengesetz; für jenes kamen sie zum Schluss, es sei gleich, fromm zu sein oder nicht, nachdem sie alle ohne Unterschied hinsterben sahen, und für seine Vergehen gedachte keiner den Prozess noch zu erleben und die entsprechende Strafe zu zahlen; viel schwerer hänge die über ihnen, zu der sie bereits verurteilt seien, und bevor die auf sie niederfalle, sei es nur recht, vom Leben noch etwas zu genießen.“ Das Wüten der Krankheit hielt womöglich noch drei bis vier Jahre an, und die Zahl der Opfer war beträchtlich. Festhalten muss man aber auch: Die „Pest“ hatte die Athener keineswegs in die Knie gezwungen. So bestechend es ist, man muss das Horrorgemälde des Thukydides relativieren. Neben den und gegen die geschilderten Entgleisungen muss es noch ein Mehr an Kraft und Durchhaltevermögen gegeben haben; von Resilienz würde man heute sprechen. Das zeigt sich gerade, wenn man darauf sieht, wie es weiterging, gerade angesichts und nach der Katastrophe. Man ist also versucht, Thukydides mit modernen Medien zu vergleichen: Mit einer forcierten Deutungsabsicht und gekonnt einge-

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setzten rhetorischen Mitteln nimmt er gerade das Negative, ja das Schlimmste in den Fokus, anderes verschwimmt. Das sollte man nicht vergessen, wenn der antike Historiker heute (gerade auch von Kundigen) gerne herangezogen wird, um mögliche Folgen katastrophaler Ereignisse zu beschwören. Wenn wir genauer hinsehen und langfristig denken, lassen sich andere Beobachtungen hinzufügen: Die Athener waren durch die Seuche keineswegs entscheidend getroffen. Auf den Verlauf des Krieges wirkte sie sich nicht entscheidend aus. Zusammenhalt und Stehvermögen, aber auch Ehrbewusstsein und Machtstreben der Athener waren größer. Den Krieg hätten sie mithilfe der perikleischen Zielsetzung und Strategie über die folgenden Jahrzehnte mehrfach gewinnen können. Aber sie bekamen den Hals nicht voll, wollten mehr und mehr und schließlich die Weltherrschaft – mindestens im griechischen Kosmos. Was Athen schließlich in die Katastrophe führte, war nicht die Naturkatastrophe. Es waren politische Fehler, Mangel an Maß und „Einsicht“, Übermaß an Machtgier und imperialem Gehabe, bei vielen seiner Politiker und der aggressiven Mehrheit seines Demos. Das kann man durchaus von Thukydides lernen, denn es hat sich im Ergebnis und im Geschehen bestätigt. Hier ist sein Werk, wie er es wollte, ein „Besitz für immer“ (Buch 1, Kapitel 22).

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FLORIAN STEGER: ABSTAND HALTEN IN ZEITEN BEDROHLICHER SEUCHEN – KNAPP 2500 JAHRE ALTE ERKENNTNIS In Zeiten der Pandemie mit Covid-19 verfügen wir aktuell weder über ein wirksames Medikament noch über eine Impfung, vielmehr greifen wir auf das effektive Gebot des Abstandhaltens zurück. Um diesen Abstand durchzusetzen, sind Rechtfertigung und Verhältnismäßigkeit geboten, immerhin stellen Ausgangsbeschränkungen Einschränkungen von Freiheitsrechten dar. Wie schwer es fällt, in den 1940er-Jahren in der algerischen Stadt Oran diesen ‚ungeheuerlichen‘ Schritt zu tun, beschreibt Albert Camus in „Die Pest“ mit einem langen Spannungsbogen, der schließlich in dem Zäsur setzenden Telegramm endet: „Pestzustand erklären, Stadt schließen“. Und ebenso unaufgeregt schließen sich die folgenreichen Worte an: „Man kann sagen, daß von diesem Augenblick an die Pest uns alle betraf (…) und es war unmöglich, auf Einzelfälle Rücksicht zu nehmen.“ Aus medizinhistorischer Sicht gibt es von Anfang an existenzielle Bedrohungen durch Seuchen. So breitete sich die Justinianische Pest seit 541 n. Chr. pandemisch über das gesamte Mittelmeergebiet aus, dauerte zwei Jahrhunderte und bedeutete für viele Menschen den Tod. Prokop kann hier als Zeitzeuge, der das Geschehen in Konstantinopel selbst erlebt hatte, herangezogen werden. Die von Chronisten des 16. Jahrhunderts als „Schwarze[r] Tod“ bezeichnete Seuche von 1348 kostete in Europa zwanzig Millionen Menschen das Leben. Als Ursachen wurden neben einer göttlichen Bestrafung Miasmata, Luftverunreinigungen, erwogen und dagegen Schutzkleidung sowie Pestmasken mit wohlriechenden Substanzen in deren

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So stellte sich das Barock die Pest in Athen vor: Die Attische Seuche (Gemälde von Michiel Sweerts, um 1653).

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Nase eingesetzt. Seit 1374 ergriff man dann auch zuerst in Reggio Emilia zehn Tage und dann seit 1383 in Marseille vierzig Tage – dem Begriff entsprechend „quarantaine de jours“ – Quarantänemaßnahmen. Boccaccio beschreibt dies eindringlich in seinem „Decameron“. Die Schiffsrouten wurden kritisch verfolgt. Schiffe mit an der Pest Erkrankten mussten eine spezielle Flagge hissen und durften nicht anlegen. Es vergehen mehr als zwei Jahrtausende bis man der Pest effektiv etwas entgegenzusetzen hatte. So entdeckte im Jahr 1894 der Schweizer Biologe Alexandre Yersin den nach ihm benannten Erreger der Pest, das Bakterium Yersinia pestis. In der Folge wurde die Infektionskette beschrieben. Heute kann man Antibiotika geben und den Gefährdeten eine präventive Impfung anbieten. Doch noch einmal zurück auf der historischen Zeitleiste: Im ersten Gesang der „Ilias“ führt ein Frevel des Agamemnon gegen Apollon zu einer Seuche im Lager der Achaier, als sie Troja belagerten. Der Gott hatte die Seuche als Strafe durch Pfeile gesandt und musste besänftigt werden. Erst dann war zu erwarten, dass die Seuche wieder wich. Die Menschen verstanden solche Seuchen also noch meist als Strafen der Götter, nur langsam kamen in den zeitgenössischen medizinischen Lehrbüchern, zuerst in den Hippokratischen Schriften, natürliche Erklärungsversuche auf. Es wurden die Atemluft des Erkrankten und Miasmata ins Spiel gebracht. Auf die Idee, dass konkrete Erreger die Seuchen verursachten, kamen die Menschen lange nicht, auch wenn beispielsweise der frühneuzeitliche Arzt Girolamo Fracastoro mit seiner Idee der „Krankheitssamen“ den richtigen Weg einschlug. 430 v. Chr., ein Jahr nach Beginn des Peloponnesischen Krieges zwischen der Landmacht Sparta und der Seemacht Athen, stellte die Attische Seuche die Polis vor eine zusätzliche harte Prüfung. Athen war ohnedies schon von Sparta in arge Bedrängnis gebracht worden. Über die Seuche berichtete Thukydides (II 47,2–54,5) eindrücklich als Augenzeuge und selbst Betroffener, wie er schreibt: „(…) der ich selbst krank war und selbst andere leiden sah“ – hier in den Worten der Übersetzung

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von Landmann: „Denn die unfaßbare Natur der Krankheit überfiel jeden mit einer Wucht über Menschenmaß (…)“. Dabei beschrieb Thukydides auch die Idee, dass von den Erkrankten eine Ansteckungsgefahr ausging, sogar für die Tiere: „(…) und insbesondre war dies ein klares Zeichen, daß sie etwas anderes war als alles Herkömmliche: die Vögel nämlich und die Tiere, die an Leichen gehn, rührten entweder die vielen Unbegrabenen nicht an, oder sie fraßen und gingen dann ein. Zum Beweis: es wurde ein deutliches Schwinden solcher Vögel beobachtet; man sah sie weder sonst noch bei irgendeinem Fraß, wogegen die Hunde Spürsinn zeigten für die Wirkungen wegen der Lebensgemeinschaft.“ Aber auch für die Menschen, gerade für die, welche sich um die Erkrankten kümmerten, bestand Lebensgefahr: „Nicht nur die Ärzte waren mit ihrer Behandlung zunächst machtlos gegen die unbekannte Krankheit, ja, da sie am meisten damit zu tun hatten, starben sie auch am ehesten selbst (…).“ Weder die Heilkundigen, die Ärzte konnten helfen noch die Götter. So hielten sich die Gesunden von den Erkrankten fern, und nur die bereits Genesenen, modern würden wir sagen die Immunisierten, wagten sich an die Betroffenen heran. Die Kranken waren im Stich gelassen worden und mit der Krankheit allein: „Wenn sie nämlich in der Angst einander mieden, so verdarben sie in der Einsamkeit, und manches Haus wurde leer, da keiner zu pflegen kam; gingen sie aber hin, so holten sie sich den Tod, grad die, die Charakter zeigen wollten – diese hätten sich geschämt, sich zu schonen, und besuchten ihre Freunde (…). Am meisten hatten immer noch die Geretteten Mitleid mit den Sterbenden und Leidenden, weil sie alles vorauswußten und selbst nichts mehr zu fürchten hatten; denn zweimal packte es den gleichen nicht, wenigstens nicht tödlich.“ Thukydides schildert plastisch die Symptome der Erkrankten. Und doch sollte man bei retrospektiver Diagnostik zurückhaltend sein, zu wenig weiß man über Details und zu sehr geht man von heutiger Sicht und Terminologie aus. Die sozialen Folgen waren bedrückend, auch wenn diese Seuche einmalig und lokal auf Athen beschränkt blieb. Plötzlich war der Glanz der

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A B S TA N D H A LT E N I N Z E I T E N B E D R O H L I C H E R S E U C H E N

Großmacht Athen getrübt. Mit den Spartanern kam die Seuche und leitete den Verfall ein. Die Bürgerinnen und Bürger waren von Mutlosigkeit, Verzweiflung und Angst vor Ansteckung gezeichnet: „Das Allerärgste an dem Übel war die Mutlosigkeit, sobald sich einer krank fühlte (denn sie überließen sich sofort der Verzweiflung, so daß sie sich innerlich viel zu schnell selbst aufgaben und keinen Widerstand leisteten), und dann, daß sie bei der Pflege einer am andern sich ansteckten und wie die Schafe hinsanken; daher kam hauptsächlich das große Sterben“. Letztlich fällt auch Perikles – nach schweren innenpolitischen Anfeindungen – der Seuche zum Opfer. Abstand zu halten wurde schon bei der Attischen Seuche als probates Mittel eingesetzt, sich nicht anzustecken. Doch damit fehlte es zugleich an Zuwendung und Fürsorge dem Nächsten gegenüber. Einzig die Genesenen, welche die Krankheit bereits überstanden hatten, waren bereit zu helfen. Unter den Bürgerinnen und Bürgern breitete sich die Sittenlosigkeit aus, die Gesetze wurden missachtet: „Alle Bräuche verwirrten sich, die sie sonst bei der Bestattung beobachteten; jeder begrub, wie er konnte. Viele vergaßen alle Scham bei der Beisetzung, aus Mangel am Nötigsten (…). Überhaupt kam in der Stadt die Sittenlosigkeit erst mit dieser Seuche richtig auf (…). Da war keine Schranke mehr, nicht Götterfurcht, nicht Menschengesetz (…).“ Der sittlich-moralische Verfall war unaufhaltsam geworden. Keiner darf in diesen Zeiten alleingelassen werden. Wozu das führen kann, hat uns schon Thukydides gezeigt.

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KAI BRODERSEN: GELASSENHEIT

Unter Kaiser Mark Aurel wütete die Pest im Römischen Reich – und der Arzt Galenos sorgt sich um den Verlust seiner Bücher. »Ich habe Deinen Brief erhalten, in dem Du mich einlädst, Dir zu zeigen, welche Art von Training, welche Argumente oder welche Überlegungen mich darauf vorbereitet haben, nie verdrossen zu sein. Du hast ja gesagt, dass Du persönlich zugegen warst und mich beobachtet hast, als ich während eines großen Ausbruchs der mehrjährigen Seuche fast alle Sklaven, die ich in der Stadt Rom hatte, verlor, und dass Du gehört hattest, mir sei so etwas bereits früher geschehen, als ich drei- oder viermal so große Verluste erlitten hatte, und Du hast gesagt, dass Du mich nie im geringsten bewegt gesehen hast. Aber das, was mir gerade geschehen ist, übertrifft alles, was ihm vorangegangen war, da in dem großen Feuer alles, was ich in den Magazinen an der Heiligen Straße verwahrt hatte, zerstört worden ist.« 192 n. Chr. hatte auf dem Forum Romanum ein Brand gewütet, der auf die besonders gesicherten staatlichen Magazine an der Heiligen Straße übergegriffen und dort auch die von Privatleuten zur Sicherheit deponierten Wertsachen vernichtet hatte. Einer der von der Katastrophe Betroffenen war der berühmte Arzt Galenos, einer der bedeutendsten Intellektuellen im Rom des 2. Jahrhunderts n. Chr. Im Jahr 129 n. Chr. in der alten griechischen Kulturstadt Pergamon (Bergama in der heutigen Türkei) als Sohn eines Architekten geboren, erhielt er die für Söhne

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aus den höheren Kreisen übliche gute Schulbildung und studierte dann Medizin in Pergamon, im griechischen Smyrna (Izmir in der heutigen Türkei), in Korinth in Griechenland und in der Wissenschaftsmetropole Alexandreia in Ägypten. 157 kehrte Galenos als Gladiatorenarzt nach Pergamon zurück, verließ die Stadt aber vier Jahre später wieder, um in der Hauptstadt des Römischen Reichs Karriere zu machen, was ihm auch gelang. Nachdem er 166 noch einmal nach Pergamon zurückgekehrt war, lud ihn Kaiser Marcus Aurelius Antoninus (Mark Aurel, Kaiser 161–180 n. Chr.) ein, zu ihm und seinem Sohn Lucius Verus (Mitregent 161–169 n. Chr.) nach Aquileia in Norditalien zu kommen, in das Hauptquartier eines Kriegs der Römer gegen die Quaden und Markomannen. Als Galenos sich im Jahr darauf auf die Reise machte, war der Kaiserhof aber nach Rom zurückgekehrt, wohin nun auch Galenos zog und wo er von nun an als hochberühmter Arzt und Pharmazeut und als produktiver Gelehrter wirkte; auch dem Commodus (Kaiser 182–192 n. Chr.) diente Galenos als Arzt. Wohl erst in den 220er-Jahren n. Chr. starb er hochbetagt in Rom. Galenos’ Schrift über die Unverdrossenheit, aus der die Zitate in diesem Beitrag stammen, ist erst vor wenigen Jahren wiederentdeckt worden und inzwischen auch in einer zweisprachigen Ausgabe zugänglich (Galenos, Die verbrannte Bibliothek, Wiesbaden 2015). Sie zeigt, wie Galenos sich als Gelehrter präsentiert, der auf Verluste gelassen reagierte. Zu den unwiederbringlichen Schätzen, die Galenos bei dem Feuer auf dem Forum verlor, gehörte neben vielem anderen, vor allem Büchern, auch eine Sammlung von Rezepten eines alten Arztes aus Pergamon: »Als ich zum ersten Mal nach Rom kam, in meinem 33. Lebensjahr, fand ich einen Mitbürger und Mitschüler namens Teuthras, der bereits in der Stadt lebte. Er hatte die Pergamente erhalten, die dem Mediziner Eumenes gehört hatten, der auch aus Pergamon stammte und ein Liebhaber vieler Arzneien unter allen Medizinern war. Diese Pergamente waren an einem Ort aus der ganzen Welt während seiner Reisen gesammelt worden, bevor er sich bis zu seinem Tod in Rom niederge-

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lassen hatte. Diese Pergamente überließ mir Teuthras, der gleich beim Ausbruch der Seuche starb, kurze Zeit nach dem, was ich eben meine erste Ankunft in Rom genannt habe.« Gleich zweimal also, beide Male en passant, nennt Galenos »die Seuche« in Rom, die nach Marcus Aurelius Antoninus als »Antoninische Pest« bekannt ist und gelegentlich auch »Pest des Galenos« genannt wird: einmal als selbst durch Besitzverlust Betroffener, einmal als junger Arzt, der eine wertvolle Rezeptsammlung von einem an »der Seuche« verstorbenen Kollegen übernommen hat. Was war geschehen? Meist liest man, dass von einem Feldzug im Orient heimkehrende Soldaten eine Seuche nach Rom gebracht hätten: Lucius Verus hatte nämlich von 162 n. Chr. an einen Krieg gegen die Parther geführte; 165 n. Chr. war die am Tigris gelegene Doppelstadt Seleukeia-Ktesiphon (heute Tisfun, etwa 20 km südöstlich von Bagdad im Irak) erobert worden. Wie ein späterer Autor, Ammianus Marcellinus (Historien 23,6,24) berichtet, brachte man den Ausbruch der Seuche mit dieser Eroberung in Verbindung: »Aus einer Art Schrein, der von den ›arcana‹ (Geheimnissen) der Chaldäer verschlossen worden war, brach die ›labes primordialis‹ (der ursprüngliche Schaden) hervor, die, nachdem sie die Gewalt unheilbarer Krankheiten erzeugt hatte, zur Zeit des gleichen Lucius Verus und des Marcus Aurelius Antoninus alles mit Ansteckung und Tod verseuchte, von den Grenzen Persiens bis zum Rhein und bis nach Gallien.« Das Virus war jedoch, wenn wir Galenos’ en passant gemachter Angabe zum Tod des Teuthras an der Seuche bereits 161 n. Chr. folgen, schon lange vor der Einnahme von Ktesiphon bis nach Rom gelangt: Der Versuch, den fremden »Chaldäern« den Keim der Seuche anzuhängen, erweist sich angesichts der durch den Neufund von Galenos’ Werk belegten früheren Verbreitung in Rom als der xenophobe Versuch einer Schuldzuweisung. Ob Reisende oder Soldaten ein Virus mit nach Rom gebracht hatten und wo es erstmals aufgetreten war, wissen wir also nicht, ebenso wenig, Fiktives frühneuzeitliches Porträt des Galenos

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um welche Seuche es sich genau handelte. Man hat an die von einem Variolavirus verursachten Pocken gedacht, die erst 1980 (!) ausgerottet werden konnten, aber auch an die durch einen Morbillivirus ausgelöste Rinderpest, die sogar erst vor neun Jahren, 2011 – ebenfalls nach einer weltweiten Impfkampagne –, für ausgerottet erklärt wurde, während die daraus wohl im Mittelalter evolvierten Masern nach wie vor gefährlich sind. Als Arzt war Galenos selbst an der Beschreibung und lindernden Behandlung von Erkrankten beteiligt. Es ist freilich bemerkenswert, mit welcher Gelassenheit er in der eingangs zitierten Schrift mit der Seuche umgeht. Er erinnert 192 n. Chr. seinen Briefpartner daran, dass er »während eines großen Ausbruchs der mehrjährigen Seuche« fast alle Sklaven in seinem Haus in Rom verloren habe, nach dem Feuer nun aber sogar seine Bücher und Schätze (Sklaven gelten der Antike eben nur als Sachwerte), und er erwähnt den Tod eines Kollegen an der Seuche nur als Grund dafür, dass jener über wertvolle Rezeptbücher verfügt habe, die ihm zugutegekommen waren, aber nun ebenfalls Opfer der Flammen auf dem Forum geworden seien. Galenos’ in der Schrift über den Bibliotheksbrand zur Schau gestellte Gelassenheit gehört sich seiner Auffassung nach für einen Gelehrten, als der er sich präsentiert. Zugleich aber zeigt er – was allen, die Bücher lieben (und also Mitglied der wbg sind), einleuchten wird –, dass es sogar noch Schlimmeres als eine Seuche gibt: den Verlust der Bücher.

Kaiser Marcus Aurelius Antoninus (Mark Aurel), nach dem die Antoninische Pest benannt ist (Glyptothek München).

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NIKOLAS JASPERT: BUSSE UND APOKALYPSE IN ZEITEN DER CORONA-KRISE – UND IM MITTELALTER Wird die Menschheit durch die gegenwärtige Pandemie für ihr Verhalten bestraft? Ernten wir das, was wir gesät haben? Immer lauter werden Stimmen vernehmbar, die einen Kausalzusammenhang zwischen dem Handeln der Menschen in den letzten Jahren und unserem gegenwärtigen, globalen Leid zu erkennen glauben. Apokalyptiker erleben ihre Sternstunde! Für sie ist die Corona-Krise nur ein Anzeichen des kommenden Endes der Menschheit: Die Natur schlüge zurück, sie räche sich für die Übergriffe des Menschen. Der Homo sapiens sei die eigentliche Krankheit der Erde – so sieht es etwa ein kursierender, bitter-satirischer Witz: „Treffen sich zwei Planeten im All. Sagt der eine zum anderen: ‚Wie geht’s?‘. Der andere: ‚Nicht so gut: Ich habe Menschen.‘ Darauf der erste: ‚Keine Sorge, das geht vorbei.‘“ Wer die Menschheit hier zur Rechenschaft ziehen wird, das bleibt vorerst offen. In stark säkularisierten Gesellschaften wie der deutschen wird diese Rolle immer seltener Gott, dafür immer häufiger der Natur zugeschrieben. Sie hat angeblich die Handlungsmacht, um Übeltäter ihrer gerechten Strafe zuzuführen – die moderne Vergottung der Natur gewissermaßen. Im Mittelalter hingegen gab es hierüber keinen Zweifel: Allein Gott kam diese Aufgabe zu, und vollstreckt wurde sie von seinen Amtsträgern auf Erden: den Herrschern und ihren Dienstleuten. Doch wann erwartete den Menschen die gerechte Strafe? Noch zu Lebzeiten oder erst nach dem Tod? Und glaubte er, durch sein Verhalten das Schicksal der Menschheit oder auch sein eigenes Los beeinflussen zu können?

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Christus führt als apokalyptischer Weltenrichter christliche Ritter in den Kampf – British Library, Royal MS 19 B XV, Queen Mary Apocalypse (frühes 14. Jahrhundert).

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Mit diesen Fragen beschäftige ich mich genau in diesen Tagen, während um uns herum die Epidemie wütet. Genauer: Ich erforsche, was im Mittelalter Teilnehmer an den Kreuzzügen zum Aufbruch veranlasste. Neben vielen anderen Motiven – dem Wunsch, die biblischen Stätten zu sehen, Mitchristen zu unterstützen, dem jeweiligen Herrscher Gefolgschaft zu leisten, dem Papst und den Kirchenleuten zu gehorchen und anderes mehr – spielten offensichtlich auch Glaube und Spiritualität eine große Rolle, d. h. Bußvorstellungen und Endzeiterwartungen. Doch über deren Verhältnis zueinander herrscht gegenwärtig eine Forschungskontroverse, und sie bringt uns wieder zu dem Witz über die beiden Planeten zurück. Meinten diese Männer des ausgehenden 11. Jahrhunderts, durch ihre Beteiligung an einem von Gott gewollten Krieg das Ende der Welt, die Apokalypse, herbeiführen zu können? Glaubten sie, mit ihrem Kampf einen Plan Gottes zu erfüllen? Trugen sie letztlich dazu bei, die Erde vom Menschen zu befreien? Oder wollten sie vielmehr durch ihren anstrengenden und gefährlichen Kriegszug Buße leisten für ihre persönlichen Sünden? Dachten sie, ihre Beteiligung an einem von der Kirche gutgeheißenen Kampf würde ihnen für die Zeit nach ihrem Tode als Sühneleistung gutgeschrieben werden? Ich beobachte in diesen Tagen, wie unsere und auch meine Einschätzung dieser Frage von unserem eigenen Erleben geprägt wird. Das war auch früher schon der Fall: Bereits vor der Corona-Krise fand eine apokalyptische Deutung der Kreuzungsmotivationen immer mehr Anhänger – nicht zuletzt deshalb, weil wir in Zeiten von al-Qaida und Daesch (dem sogenannten Islamischen Staat) leichter erkennen, dass es Gewalttäter gibt, die glauben, durch ihr Handeln ein zukünftiges Gottesreich herbeiführen zu können. Ein israelischer Kollege hat vor Kurzem aufgezeigt, dass der Klimawandel des ausgehenden 11. Jahrhunderts auch auf die politische Großwetterlage im Mittleren Osten Auswirkungen hatte und damit die Kreuzzüge begünstigte. In der Tat beobachteten mittelalterliche Autoren wie der fränkische Chronist Ekkehard von Aura (gest. nach 1125) neue Wetterphänomene, Missernten und Ähnliches.

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Testament eines Jerusalempilgers aus dem Jahre 1169 Barcelona, Kathedralsarchiv, perg 1-5-428 R

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Doch infolge der Corona-Epidemie dürften Historikerinnen und Historiker wieder verstärkt auf Endzeiterwartungen der Kreuzfahrer hinweisen, denn es ist vorauszusehen, dass auch in der Wissenschaft durch unser eigenes Erleben die Sensibilität für apokalyptische Ängste und Erwartungen der Vergangenheit gesteigert wird. Ob diese tatsächlich so einflussreich waren? Ich untersuche gerade Testamente, welche Pilger und Kreuzfahrer jener Zeit aufsetzten. Sie lassen erkennen, dass zumindest bei diesen Männern und Frauen doch eher die Sorge um das eigene Seelenheil überwogen zu haben scheint. Das Ergebnis meiner Forschungen werde ich in einem Band zur Diskussion stellen, den spanische Kollegen veröffentlichen möchten. Nur die Zukunft wird zeigen, ob dies angesichts der aktuellen Katastrophe überhaupt möglich sein kann. Denn gegenwärtig ist die Situation in Spanien besonders dramatisch, und sie macht weder vor Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern noch vor Universitäten halt. In diesen Tagen ist ein geachteter Pariser Kollege dem Virus zum Opfer gefallen, Professor Michel Parisse, einer jener Grenzgänger, die zwischen deutscher und französischer Forschung Brücken bauen. Dass diese Brücken gerade in diesen Tagen aufrechterhalten werden müssen, dass wir nicht in nationale Blickverengung zurückfallen: Dies ist ein Gebot der Stunde! Doch bei allen Beschwernissen und Verlusten: Die Corona-Epidemie bringt auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über neue Medien, Videokonferenzen, Chats wieder enger zusammen. Zahllos sind in diesen Tagen die bangen Anfragen nach dem gesundheitlichen Wohlergehen – eine Wissenschaftsdisziplin übt sich in Anteilnahme und gegenseitiger Sorge. In Zeiten von Bibliotheksschließungen unterstützt man sich international über alle Grenzen hinweg durch die Versendung einschlägiger Literatur. Die Absagen vielfältiger Tagungsverpflichtungen und der erzwungene Rückzug an den eigenen Schreibtisch erhöht die Produktivität – schon melden die Redaktionen wissenschaftlicher Zeitschriften eine wahre Flut an Rezensionen und Aufsätzen, lange liegen gebliebene Schulden werden nun abgearbeitet.

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Ob aber die Erfahrung existenzieller Bedrohung das allgemeine Verhalten ganzer Gesellschaften im 21. Jahrhundert verändern wird, das kann erst die Zukunft zeigen. Im Gegensatz zu den meisten Männern und Frauen des Mittelalters sind wir Menschen der Moderne in aller Regel davon überzeugt, die Geschicke der Erde lenken zu können: durch ökologisch angemessenes oder unangemessenes Verhalten der Wirtschaft, durch falsche oder richtige politische Entscheidungen von Regierungen, durch medizinischen Fortschritt oder Entwicklungen der PharmaUnternehmen usw. Es ist zu hoffen und zu erwarten, dass in diesen übergeordneten Bereichen ein Umdenken einsetzen wird. Ob wir auf individueller Ebene umdenken, aus der gegenwärtigen Erfahrung gute Vorsätze ableiten und damit eine modern abgewandelte Form der Buße leisten, das wird jede und jeder selbst entscheiden.

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PIERRE MONNET: DIE COVID-19-PANDEMIE, GESEHEN DURCH DAS PRISMA DES SCHWARZEN TODES 1348 Ein französisches Sprichwort lautet „comparaison n’est pas raison“. Diese alte Weisheit besagt, dass ein Vergleich nicht immer eine Schlussfolgerung rechtfertigt und auch nicht immer eine vernünftige intellektuelle Operation ist. Und dennoch ist die Versuchung groß, und auch viele Beobachter und Journalisten konnten in diesen Tagen nicht widerstehen, die derzeitige Pandemie mit den großen Epidemien zu vergleichen, die der Menschheit in ihrer Geschichte widerfahren sind. Als Vergleichsgegenstand drängt sich unmittelbar der Schwarze Tod auf; die Pest wütete von 1348 an in Europa und dem Mittelmeerraum und prägte auf Jahrhunderte hinaus das soziale, gesundheitliche und kulturelle Leben auf diesem Kontinent. Warum lassen wir uns zu diesem Vergleich verführen? Wie bei der aktuellen Pandemie soll die Pest aus Asien gekommen sein und einen Weg nach Westen genommen haben, den Menschen und Waren schon lange nutzten. Das bedeutet auch, dass schon vor dem 14. Jahrhundert die großen Zivilisationen kulturell wie ökonomisch miteinander verbunden waren. Dieser Austausch in großem Maßstab, den man noch nicht „Globalisierung“ nannte, ermöglichte den Kaufleuten, Handelswaren über weite Entfernungen zu transportieren, und den Viren und Krankheiten, mit ihnen zu reisen. Im Übrigen handelte es sich bei der sog. Justinianischen Pest mehr oder weniger um dasselbe Phänomen, als diese in der Mitte des 6. Jahrhunderts aus dem Osten, also Zentralasien, in den Westen kam und dort bis in das 8. Jahrhundert hinein das Mittelmeerbecken sowie Teile Kontinentaleuropas bis hoch nach England

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heimsuchte. Jedenfalls folgte die Krankheit dem Weg der Seidenstraße mit ihren Verästelungen nach China, Zentralasien und Indien. Bei der Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts vermutet man ebenfalls mit einiger Sicherheit einen asiatischen Ursprung. Weil diese spätmittelalterliche Pest als erste Pandemie schriftlich so gut dokumentiert ist, weiß man, dass ihre Ausbreitung 1346 während der Belagerung des Kaufmannskontors von Caffa am Schwarzen Meer durch die mongolischen Truppen begann. Genueser Schiffe haben sie anschließend eingeführt und verbreitet: zuerst in Konstantinopel und dann im Herbst 1347 in Italien. Die Halbinsel wurde, so wie es auch heute der Fall ist, als Erste und am schwersten getroffen. Dies hing wahrscheinlich auch schon damals mit Italiens „globaler“ Offenheit durch seine Händler, Schiffe und Häfen zusammen. Zu Beginn des Jahres 1348 eroberte die Pest Spanien, dann das Königreich Frankreich, folgte den Flussläufen, den großen Handelsrouten und insbesondere den Pilgerwegen mit ihren großen Begegnungszentren der Christenheit, den Heiligtümern mit ihren Reliquien oder Avignon, das damals das Papsttum beherbergte. Sie erreichte das Heilige Römische Reich und den Norden des Kontinents 1349 und gelangte schließlich 1351 bis nach Skandinavien und Russland. Zu dieser Zeit waren also die großen bekannten und bevölkerten Weltregionen betroffen: Asien, der indische Subkontinent, der Nahe Osten, das Byzantinische Reich, Nordafrika (es fehlen, fast so wie im Augenblick, Angaben darüber, in welchem Maße das subsaharische Afrika betroffen gewesen ist), Süd-, Mittel- und Nordeuropa sowie Russland. Wenn nun die Pest und die aktuelle Pandemie hinsichtlich der Verbreitung der Krankheit (Straßen, Flüsse, Orte mit hoher Bevölkerungsdichte, Städte etc.) aneinander ähneln, so unterscheiden sich beide durch die sehr viel langsamere Ausbreitung im 14. Jahrhundert: Drei bis vier Jahre brauchte die Krankheit, um das Mittelmeerbecken und die europäische Peripherie zu bereisen. Ein weiterer großer Unterschied betrifft die Sterblichkeitsrate. Was den Zeitgenossen am meisten an der Pest zwischen 1348 und 1350 überraschte, war das massive Sterben. In wenigen

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Die Pest in Tounai 1349: Beerdigung von Opfern der Epidemie. Aus: Gilles li Muisis, „Antiquitates Flandriae” (Brüssel, Königliche Bibliothek).

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Wochen verloren Städte und Provinzen zwischen 30 und 40 % ihrer Bevölkerung, manche unter ihnen mit einer sehr hohen Bevölkerungsdichte verzeichneten sogar Todesraten von bis zu 60 %, was heutzutage viele Millionen Menschen in jedem Land bedeuten würde. Außerdem wurde geschätzt, dass 60 % der Infizierten die Krankheit nicht überlebten. Ein weiterer Unterschied zu heute: In der Mitte des 14. Jahrhunderts waren alle sozialen Schichten und alle Altersgruppen betroffen – ohne Unterschied, ob jung, ob alt, ob gesund oder bereits durch andere Krankheiten geschwächt. Darüber hinaus, und auch deswegen befördert das aktuelle Phänomen den Reflex eines Jahrhunderte überspannenden Vergleichs, waren bestimmte Regionen sehr viel härter als andere getroffen: Generell haben die Länder des Südens, also Italien, Spanien und Südfrankreich, einen größeren Tribut zwischen 1348 und 1350 gezahlt als Nordeuropa. Einige Gegenden blieben sogar mehr oder weniger verschont, wie z. B. die „geografische Tasche“, die von Brandenburg bis zum heutigen Polen und ins Böhmische Königreich reichte. Das hatten die Chronisten jener Zeit bereits beobachtet und damit zu erklären versucht, dass die unterschiedliche Behandlung gewisser Regionen Zentraleuropas nicht mit einem göttlichen Willen zusammenhing, sondern mit einer geringeren Bevölkerungsdichte, einer geringeren Verstädterung, einem größeren Waldbestand, der die Kommunikationswege trennte, einem anderen Tierbestand und, wie es ein Historiker am Hofe Kaiser Karls IV. (1316– 1378), ausdrückte, mit „der Gegenwart eines frischeren Windes, der über die Hügel weht“. Da nun die Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts die Menschen mit ihrer Gewalt erschütterte, rief sie alsbald Erklärungsversuche hervor, die unmittelbar aus medizinischer Sicht zwei konstante Merkmale privilegierten: die Übertragung durch den Kontakt von Mensch zu Mensch und die Verbreitung durch die Luft. Interessanterweise sind diese beiden Aspekte auch in den großen aktuellen Diskussionen präsent, insbesondere was die Rolle der Übertragung durch körperliche Nähe und durch Atmung betrifft. Wenngleich keine Eindämmungsmaßnahmen entwickelt wurden oder die Pflicht, eine Maske

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zu tragen, auferlegt wurde, haben sich die spätmittelalterlichen Bevölkerungen dennoch zu schützen versucht: im Hause bleiben, flüchten, sich auf dem Lande isolieren, was die Reichsten unternahmen (ein Reflex, der bei städtischen Besitzern von Zweitwohnungen heute beobachtet werden kann), die Luft zu reinigen. Jedoch hat es in den Jahren 1348 bis 1350 keine öffentlichen, einschränkenden Maßnahmen seitens der Staaten gegeben. Dafür gibt es mehrere Gründe. Auch wenn die Höfe der Könige, Fürsten und des Papstes bereits recht früh die Expertise der Mediziner in Anspruch nahmen, die im Übrigen erst seit Kurzem und zunehmend an bestimmten großen Universitäten ausgebildet wurden, existierte weder etwas, was man öffentliche Gesundheitspolitik nennen könnte, noch ein zentralisiertes und durch Steuern finanziertes Gesundheitssystem. Man hat viel über die Opulenz und die Korruption der Kirche am Ende des Mittelalters gespottet, und manche Prälaten haben tatsächlich kein gutes Beispiel abgegeben, indem sie bei Ausbruch der Epidemie vor ihrer gläubigen Herde flohen. Aber der allergrößte Teil der Kirche als der einzigen umfassenden Institution, die die gesamte Gesellschaft täglich zusammenhielt, hat sich den Herausforderungen der Pest gestellt und eine sehr große Zahl an Mönchen, Nonnen, Mendikanten, Diakonen und Pfarrern hat ihr Leben im Dienst der dezimierten Bevölkerung gelassen. Im großen Unterschied zur aktuellen Lage war es für ein geistiges und religiöses christliche Universum, das Körper, Tod und Leiden so eng mit Heil und Erlösung verband, undenkbar, dass die Kirche ihre grundlegende Pflicht zur Begleitung der Kranken öffentlich einschränken sollte. Die Kirchen, Kultorte, die Pilgerzentren, die Wallfahrtsstätten aller heiligen Fürsprecher und Beschützer schlossen niemals ihre Pforten, was wahrscheinlich eine fatale Verbreitung der Krankheit, aber mehr noch eine ausufernde kollektive Frömmigkeit beförderte. Die Kehrseite der Medaille bestand in der Suche nach einer spirituellen, symbolischen, übernatürlichen Schuld für das, was angesichts des Ausmaßes der Sterblichkeit den spätmittelalterlichen Menschen als göttliche Geißel, als Verkünder einer Form des Weltenendes erscheinen musste.

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… und die Folgen: Juden, die lebendig auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Aus: Gilles li Muisis, „Antiquitates Flandriae” (Brüssel, Königliche Bibliothek).

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Dieses Schuldgefühl konnte zwei Gesichter haben. Einerseits wandte man sich der Analyse der eigenen Fehler zu, was mal Kritik an der etablierten Kirche auslöste, mal zur Anklage der Sünden der Gläubigen und zu kollektiven, manchmal sogar blutigen, Bekundungen christlicher Reue führte, so in Form von Prozessionen der Flagellanten, die sich an öffentlichen Orten auspeitschten, um an die Wunden und Leiden Christi zu erinnern. Das andere Gesicht dieses Schuldgefühls wandte sich gegen den anderen, den Fremden, den Eindringling, den Ungläubigen, der die weise Anordnung der christlichen Gesellschaft störte. Da dieser Mechanismus bereits fest in den Gewohnheiten der Menschen verankert wurde, wurden die Juden erneut zum Hauptziel, indem sie beschuldigt wurden, Brunnen vergiftet, die Luft verschmutzt, verseuchtes Blut von Tieren oder Kadavern vergossen zu haben. Das war die Pest des 14. Jahrhundert nämlich auch: die Suche nach Verantwortlichen, die Hinrichtung von ausgegrenzten und gefährdeten Minderheiten sowie der Wunsch nach Veränderung und Reinigung angesichts einer ungeordneten Welt. Man übersieht aber schnell, dass zwei Elemente die beiden historischen Situationen, die der Vergleich ungeschickterweise zusammenzubringen versucht, ganz unterschiedlich geprägt haben. Das erste Element ist die Dimension von Zeit und Rhythmus. In den Jahren 1348–1350 hat niemand daran gedacht, sich darüber zu empören, dass eine Lösung, ein Behandlungsansatz oder gar eine Heilung nicht in wenigen Wochen und Monaten gefunden werden könne. Das zweite Element betrifft auch die zeitliche Dimension, aber auf einer anderen Ebene. Europa und das Mediterraneum mussten ab 1348 lernen, mit einer lang anhaltenden Epidemie und ihren dauerhaften Konsequenzen zu leben. Dies betrifft in erster Linie das wirtschaftliche und ländliche Leben: Manche Regionen haben die Anzahl der Dörfer und Bauernhöfe, die sie vor 1348 hatten, nie wieder erreicht; man schätzt, dass das demografische Niveau aus der Zeit vor der Pest in Europa oft erst wieder ein Jahrhundert später erreicht worden ist.

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In Folge der Großen Pest musste der Friedhof der Aître Saint-Maclou (Normandie, Dép. Seine-Maritime) erweitert werden: Totenkopf an der Fassade des Beinhauses.

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In den folgenden Jahrhunderten setzte sich die Pest im täglichen Leben und der Vorstellungswelt der Bevölkerungen fest. Nach einem ersten Höhepunkt der Epidemie in der Mitte des 14. Jahrhunderts kehrte die Pest immer wieder ins Herz Europas zurück: sporadisch im 15. und 16. Jahrhundert, dann in Toulouse und Umgebung 1628–1633, anschließend in Norditalien und London in den 1660er-Jahren, in Marseille 1720, erneut in London 1764, in Moskau 1771, abermals in Asien in den 1880er- und 90er-Jahren, in Marseille 1902 und sogar in Paris 1920 auf dem Höhepunkt der Spanischen Grippe. Bekanntlich wurde der verantwortliche Bazillus erst 1894 endgültig identifiziert. Ebenso spät wurde der Übertragungsweg vom Floh über die Ratte zum Menschen verstanden. Und erst 1896 wurde der erste Impfstoff entwickelt – also quasi gestern. Was schließlich die Aufmerksamkeit der Historiker bei einer solchen Übung im Vergleich über viele Jahrhunderte hinweg auf sich ziehen sollte, sind nicht die Fakten selbst, sondern der Umgang mit ihnen und die Konsequenzen hieraus, das heißt das Verhältnis zur Zeit, was bei einem historischen Ansatz nicht überraschen sollte, der für die Dauer und das Verständnis vom Leben dieser Gesellschaften in der Zeit geeignet ist. Dieses Verhältnis zur Zeit zeigt als Erstes, dass jede Gesellschaft anders reagiert und dass die Gesellschaft aus der Mitte des14. Jahrhunderts nicht zusammenbrach, als die Hälfte der Menschheit in wenigen Monaten verschwand. Dies lag vielleicht daran, dass die damaligen Bevölkerungen nicht in einem den täglichen Horizont sättigenden Präsentismus versunken waren, sondern in gewisser Weise das Gefühl hatten, dass sich die Entfaltung des Heils und der Menschwerdung über jene lange Zeit erstreckte, deren Ende nur Gott allein kannte. Dieses Verhältnis zur Dauer, was auch mit der vorhergehenden Beobachtung zusammenhängt, zeigt, dass der Zeithorizont einer Pandemie in der Mitte des 14. Jahrhunderts Jahre, ja sogar Jahrhunderte, und keinesfalls wenige Wochen umfasste, die uns aufgrund der ständigen Beschleunigung unseres modernen Lebens bereits die Geduld verlieren lassen. Diese unerträgliche Geduld, ein besonderes Zeitempfinden der Hoffnung und in

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Bezug auf das Ende der Krise sowie die Verlangsamung des Lebenstempos: Auch dies lehren uns die Reaktionen auf Epidemien in der Vergangenheit, wenn sie uns heute noch etwas zu sagen haben.

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FRANK GÖSE: DIE PEST VOR BERLIN!

Ein Vergleich des neuartigen Coronavirus mit den verheerenden Pestwellen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit erscheint schon angesichts der ungleich höher liegenden Todesraten der Pest-Infizierten auf den ersten Blick überzogen. Dennoch, die Wahrnehmung der Bedrohung, das Zurechtkommen mit den Ängsten und die gegen eine weitere Ausbreitung der Krankheit eingeleiteten Schritte weisen – neben gravierenden Unterschieden – durchaus ähnliche Muster auf. Gemeinhin galt die Pest als die „Geißel der Menschheit“ schlechthin. Ihren besonderen Schrecken erhielt sie in der langlebigen Erinnerung vor allem in Verbindung mit der großen Pandemie in der Mitte des 14. Jahrhunderts, die aufgrund einiger Krankheitssymptome auch als der „Schwarze Tod“ etikettiert wurde. Obschon die größten Opfer während der großen Pestwellen des Spätmittelalters zu beklagen waren, behielt diese Krankheit ihren realen Schrecken noch einige Jahrhunderte danach. Im frühen 18. Jahrhundert rollte aus Nordost- und Osteuropa eine neue Pandemie heran. Ihren Schwerpunkt hatte sie im Ostseeraum, die verheerenden Auswirkungen reichten aber bis Böhmen, Mähren, Ungarn, bis nach Österreich und in die Oberpfalz. Begünstigt wurde die rasche Ausbreitung durch den damals in diesen Gebieten tobenden Großen Nordischen Krieg (1700– 1721), bei dem es – wieder einmal – um den Kampf um das „Dominium Maris Baltici“, die Vorherrschaft im Ostseeraum ging. Auch in Berlin, der preußischen Hauptstadt, deren Einwohnerzahl bis zu diesem Zeitpunkt auf etwa 55 000 angewachsen war, befürchtete man das Schlimms-

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DIE PEST VOR BERLIN!

Die Sanduhr als Attribut der Vergänglichkeit: Paul Fürst, Der Doctor Schnabel von Rom

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Abbildung von der groszen Pest in Dantzig 1709

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DIE PEST VOR BERLIN!

te. Und dies aus allzu verständlichen Gründen! Im fernen ostpreußischen Königsberg hatte die Pest bereits etwa schon ein Viertel der zuvor sich auf 40 000 Menschen belaufenden Bevölkerung gefordert. Die Stadt wurde im November 1709 streng abgeriegelt. In Danzig betrug der Aderlass gar fast die Hälfte. Doch der „Staat“ war in der damaligen Zeit nur bedingt handlungsfähig. Abgesehen davon, dass man trotz gewisser Kenntnisse über die Verbreitungsformen der Pest immer noch das Motiv der „Gottesstrafe“ im Sinne der damaligen Sündenökonomie bemühte und deshalb mitunter recht fatalistisch auf die Bedrohung reagierte, ließen sich wirkungsvolle Maßnahmen überdies aus einem anderen Grund nur schwerlich umsetzen. Das personelle Tableau der landesherrlichen Verwaltung reichte schlichtweg dafür nicht aus. Vieles, was heute wie selbstverständlich zu den staatlichen Aufgabenbereichen hinzugerechnet wird, lag damals noch in der Verantwortung der städtischen Kommunen und Dorfgemeinden. Ausgaben für die Infrastruktur, die Kranken- und Armenfürsorge oder das Bildungswesen mussten zum großen Teil aus den Stadtkämmereien und Gemeindekassen bzw. aus den kirchlichen Fonds bestritten werden. Zudem gestaltete sich der Informationsaustausch angesichts unbefestigter Straßen als sehr langsam. Somit konnte das am 14. November 1709 vom preußischen König Friedrich I. erlassene „Pest-Reglement“ nur bedingt greifen, zumal den darin enthaltenen Bestimmungen eine gewisse Inkonsequenz eigen war: Zwar wurde der Besuch von Wirtshäusern und das Austragen von Tanzveranstaltungen als Stätten der „Völlerei und Unzucht“ untersagt, jedoch die Bevölkerung andererseits angehalten, in die Kirchen zu gehen, um den Predigten zu lauschen und Buße zu tun. Reisebeschränkungen, vor allem gegenüber „handelnden Juden“, die in gewisser Weise – wenn auch nicht mit solchen fürchterlichen Folgen wie im Spätmittelalter – zunächst als „Sündenböcke“ herhalten mussten, wurden zwar mit immer mehr Nachdruck erlassen. Jedoch sahen sich die zumeist von den Obrigkeiten „vor Ort“ organisierten und mit einer strengeren Grenzkon-

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trolle beauftragten Landmilizen hier überfordert. Gerade den nach Ostpreußen, Hinterpommern und in die Neumark erfolgenden Zuzug aus den baltischen Gebieten und Polen, wo die Pest bereits seit einigen Jahren wütete, hoffte man durch solche Anordnungen wie die Kappung von Fährverbindungen über Grenzflüsse oder die Beseitigung von Schleichwegen entlang der Grenze zu unterbinden. Unterdessen näherte sich die Pest unaufhaltsam der Mark Brandenburg, der Zentralprovinz des preußischen Staates. Am 3. August 1710 wurde der erste Pestfall in Prenzlau, der uckermärkischen Hauptstadt, registriert, worauf die Kommune durch Militär unter Quarantäne gestellt wurde. Innerhalb der Stadt sollten die Kranken gänzlich isoliert werden. Jedes Haus, in dem jemand an der Pest erkrankte, wäre nunmehr zu vernageln – eine besonders drastische Form der heute eher als „social distancing“ geläufigen Praxis. Insgesamt fielen zwischen August 1710 und Januar 1711 nach einem vom damaligen Stadtkämmerer geführten Verzeichnis 665 Menschen in Prenzlau der Pest zum Opfer. Die Toten begrub man in Ermangelung von Platz auf den Wällen. Erst ein Jahr später, im August 1711, wurde die Quarantäne wieder aufgehoben. In Berlin und anderen märkischen Städten hatte man unterdessen die Maßnahmen zur Eindämmung verschärft. So sollten an den Stadttoren wirksamere Kontrollen durchgesetzt werden. Doch ähnlich wie in „normalen“ Zeiten, in denen es genügend Möglichkeiten etwa für den Warenschmuggel gab, um der Akzise zu entgehen, kam es auch jetzt zu Nachlässigkeiten und Unterschleif. Die zur Durchreise geforderten „Gesundheitspässe“ ließen sich zum Beispiel von den Verantwortlichen gegen kleinere Bestechungssummen beschaffen. Die häufige Wiederholung der im „Pestreglement“ formulierten Forderungen in nachfolgenden Edikten kündet von deren mangelnden Durchsetzung. Letztlich machte die Pest um Berlin einen Bogen. Ob dies zuvörderst auf die – ja nicht durchweg effizienten – Maßregeln zur Eindämmung zurückgeführt werden kann, wird man nicht mit Sicherheit beurteilen. Hemmend auf die weitere Verbreitung dürfte sich zum einen die ver-

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Das königliche große Lazareth oder die Charité in Berlin; nach 1729.

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gleichsweise geringe Bevölkerungsdichte in den nordöstlichen Teilen der Mark Brandenburg ausgewirkt haben. Zum anderen gehörte diese Provinz nicht zu den vom Großen Nordischen Krieg heimgesuchten Gebieten. Denn die Heeresdurchzüge und Fluchtbewegungen der Zivilbevölkerung hatten natürlich die Ausbreitung der Pest maßgeblich befördert, was in jenen ost- und nordosteuropäischen Regionen, in denen dieser Krieg besonders wütete, beobachtet werden konnte. Hat man aus den Erfahrungen mit dieser Pestwelle Schlussfolgerungen für das künftige Handeln gezogen? In der Tat wird man den damaligen Verantwortlichen durchaus Lerneffekte attestieren dürfen – auf gesamtstaatlicher wie auf lokaler Ebene gleichermaßen. Allerdings gingen diese aufgrund der noch lange bestehenden Unkenntnis über den Verursacher der Pest oftmals in ganz andere Richtungen. So wuchs in vielen Städten zum Beispiel die Sensibilität für hygienische Vorkehrungen, weil man noch lange der Auffassung anhing, die Pest würde sich durch „Miasmen“ verbreiten, die durch faulige Prozesse in Luft und Wasser entstünden. Als besonders nachhaltig wirkte sich aber eine bis in unsere Zeit wirkende Entscheidung aus, die der preußische König Friedrich I. in seiner Residenz auf dem Höhepunkt der Pestgefahr getroffen hatte: Hier in Berlin wurde im Frühjahr 1710 vorsorglich ein „Pesthaus“ errichtet, das mit immerhin 400 Betten für damalige Verhältnisse einen beachtlichen Umfang einnahm und damit im Notfall einen vergleichsweise hohen Versorgungsgrad garantiert hätte. Pestkranke musste dieses Krankenhaus zwar glücklicherweise nicht aufnehmen, jedoch sollte es in der weiteren Berliner Medizingeschichte noch von sich hören lassen und bald über die preußische Hauptstadt hinaus ausstrahlen. Schon in seinem ersten Regierungsjahr veranlasste der 1713 auf den Thron gelangte König Friedrich Wilhelm I., später unter dem Beinamen „Soldatenkönig“ bekannt, nicht nur einen Ausbau dieser vornehmlich für Militärs gedachten Einrichtung zu einem für damalige Verhältnisse modernen Krankenhaus, sondern diese sollte fortan ebenso der Ausbildung des medizini-

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schen Nachwuchses dienen. Auch einen Namen steuerte dieser Monarch, dem man nachsagte, „alles selber thun“ zu wollen, im Jahre 1727 für diese Institution bei: „Es soll das hauß die charité heißen.“

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GÜNTER MÜCHLER: NAPOLEON UND DIE PESTKRANKEN VON JAFFA Der Pesthauch kam vom Nildelta herüber. Als die ersten Soldaten erkrankten, diagnostizierten die Sanitätsoffiziere so allerhand. Ansteckungen bei dienstbaren Damen in Kairo kamen immer in Betracht. Erst beim Eintreffen der Seuche in Jaffa dämmerte es, dass sich der Schwarze Tod unter das Heer der Franzosen gemischt hatte. Nun auch das noch! Der Kriegszug entlang der Küste Palästinas (man sprach damals von Syrien), zu dem Napoleon Bonaparte im Februar 1798 mit 13 000 Mann von Kairo aufgebrochen war, um einem türkischen Großangriff auf Ägypten zuvorzukommen, stand wahrhaftig unter keinem guten Stern. Zum Abschied hatte man gut gelaunt den „Chant du départ“ geschmettert. Schon bei der Durchquerung des Sinai war der Nachklang wie ein Hohn. „Wir haben Hunde gegessen, Esel und Kamele“, schrieb Napoleon General Desaix. Ein leichter Sieg, errungen bei El-Arish, besserte die Stimmung kurzzeitig auf. Dann kam Jaffa und mit Jaffa der Albtraum. Napoleon setzte auf die Vernunft der Besatzung und bot für die Übergabe freien Abzug an. Die Antwort war, dass der Kommandant der Zitadelle den französischen Parlamentär enthaupten ließ. Also Angriff. Wie zu erwarten, war der Widerstand bald gebrochen. In einer beispiellosen Raserei metzelten die Sieger in den Straßen nieder, was ihnen in die Quere kam. Zweieinhalbtausend Gefangene wurden am Strand erschossen, ein ungeheuerliches Vorgehen auch nach den Maßstäben der Zeit. Napoleon sprach später von einer „schrecklichen Notwendigkeit“ und rechtfertigte das Massaker mit einem

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Vertrauensbruch. Tatsächlich hatte er die Besatzung von El-Arish auf Ehrenwort freigelassen. Die feindlichen Soldaten mussten versprechen, nach Bagdad zu ziehen und niemals mehr auf Franzosen zu schießen. Das Versprechen wurde nicht gehalten. Unter den Gefangenen, die man in Jaffa machte, fand sich die gesamte Garnison von El-Arish wieder. Die Pest war wie die Quittung auf das moralische Desaster der Massenerschießung. Täglich wuchs die Zahl der Erkrankten. Man würde sie zurücklassen müssen. Am 11. März erschien Napoleon in einem armenischen Kloster der Stadt, das man als Nothospital eingerichtet hatte. Die Ärzte warnten ihn, er dürfe den Kranken nicht zu nahe kommen. Doch Napoleon war der Ansicht, „moralischer Mut“ sei das beste Mittel gegen die Ansteckungsgefahr. Er sprach den Kranken gut zu; ob er Infizierte berührte, ist umstritten. In einem viele Jahre später veröffentlichten Bericht schilderte der Armee-Chefarzt Desgenettes den Oberbefehlshaber als halsstarrig und tollkühn. „In einem engen, überfüllten Raum half er den grässlichen Leichnam eines Soldaten aufzuheben, dessen zerfetzte Kleidung vom Eiter eines aufgeplatzten Pestgeschwürs besudelt war.“ Den Vorwurf, er habe sich Napoleon nicht energischer widersetzt, wies Desgenettes zurück: „Wer glaubt, man könne so einfach seine Entschlüsse ändern und ihn mit irgendwelchen Gefahren einschüchtern, kennt ihn schlecht.“ Schlecht kannte Napoleon auch, wer seine Fähigkeit, auch aus der heikelsten Situation Nutzen zu ziehen, unterschätzte. Natürlich kam die Pest-Geste bei der Truppe gut an. Darüber hinaus lieferte sie den Ansatz für einen Akt Symbolpolitik, in der Napoleon ein unübertrefflicher Könner war. 1804 machte im Pariser Salon ein großformatiges Ölbild von Antoine Gros Sensation. Das Gemälde zeigte Napoleon inmitten jammervoll Sterbender, wie er die Beulen eines halbnackten Kranken berührt. „Bonaparte visitant des pestiférés de Jaffa“(„Bonaparte beim Besuch der Pestkranken von Jaffa“) ist ein Meisterwerk der Suggestion. Es erzählt die Geschichte eines Helden, dem das Schicksal der Gefährten wichtiger ist als das eigene Leben. Unübersehbar ist auch der aktuelle

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„Bonaparte visitant les pestiférés de Jaffa“. Gemälde, 1804, von Antoine-Jean Baron Gros (1771–1835). Öl auf Leinwand (Paris, Musée du Louvre).

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Bezug. 1804 wurde Napoleon zum Kaiser proklamiert, für den Sohn der Revolution ein erklärungsbedürftiger Vorgang. Gros’ Bild ist eine Allegorie auf die wunderbare Heilkraft der französischen Könige, die nach der Krönung Skrofulösen öffentlich die Hand auflegten. Der Künstler war in Ägypten gar nicht dabei gewesen, aber das spielte keine Rolle. Antoine Gros hatte auch die Kämpfe um die Brücke von Arcole nicht miterlebt, genauso wenig wie Jacques-Louis David die Überquerung des Großen Sankt Bernhard. Und doch lieferten sie von beiden Ereignissen Bilder, die noch heute als Ikonen der Napoleon-Zeit geschätzt werden. Kunst der Art, wie Napoleon sie zum Zwecke der Eigenpropaganda haben wollte, brauchte die Wirklichkeit nur als Staffage. Entscheidend war, dass die Künstler das Genie einer Handlung oder eines Augenblicks erfassten und dafür eine allgemein verständliche Bildsprache fanden. Das gelang Gros mit den „Pestiférés“ ohne Zweifel. Im Albtraum Jaffa fehlte noch das letzte Kapitel. Unter Zurücklassung der Pestkranken zog die kleine Armee weiter nach Norden, Ziel war Saint-Jean d’Accre. Doch an den Verteidigungsanlagen des alten Akko, Hauptstadt des kurzlebigen Königreichs Jerusalem, bissen sich die Franzosen die Zähne aus. Mangels schwerer Artillerie scheiterten alle Versuche, die dicken Mauern der ehemaligen Kreuzfahrer-Feste zu durchbrechen. Der Rückzug, den Napoleon daraufhin einleitete, bot eine Vorahnung auf den noch schlimmeren aus Russland 1812: schreckliches Klima, unerträglicher Durst, Freischärlerhorden, die, aus Nablus oder aus dem Libanon kommend, die Marschkolonne wie Giftmücken umschwärmten. Wieder in Jaffa stellte sich die Frage, was zu tun sei mit den Pestkranken. Abermals stand Napoleon vor einer schicksalhaften Abwägung, einer Triage. Es kam zum Disput mit Desgenettes. Der solle den am ärgsten Betroffenen Opium verabreichen, verlangte Napoleon. Der Arzt weigerte sich. Seine Aufgabe sei es, Leben zu erhalten. Darauf Napoleon: Er seinerseits müsse die Armee erhalten. Außerdem dürften die Kranken nicht in die Hände der Türken fallen. „Ich empfehle, das zu tun, was ich in vergleichbarer Situation von mir selbst verlangen würde.“

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Schließlich fand sich ein Apotheker bereit, den tödlichen Trank zu mischen. Wie viele ihn nahmen und ob er überhaupt ausgegeben wurde, ist historisch ungesichert. Fest steht, dass sich der Feind die Chance nicht entgehen ließ. 1801, nach der Kapitulation der Ägypten-Armee, verbreiteten die Engländer, horrormäßig ausgeschmückt, in Europa die Geschichte vom ruchlosen General Bonaparte, der eigene Soldaten töten ließ. Ein Grund mehr für Napoleon, mit den „Pestiférés de Jaffa“ eine Gegenerzählung zu schaffen.

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SVEN FELIX KELLERHOFF: WAS DIE CORONA-KRISE VON DER SPANISCHEN GRIPPE UNTERSCHEIDET Die Idee zu diesem Text entstand am 12. März 2020. Der TV-Nachrichtensender der WELT-Gruppe hatte mich zum Live-Interview ins Studio gebeten.1 Denn am Abend zuvor war in einem der vielen Polittalks des öffentlich-rechtlichen Fernsehens über die Corona-Pandemie wieder einmal der Vergleich zur Spanischen Grippe 1918 bis 1920 gezogen worden, diesmal verbunden mit dem Hinweis, auch das Coronavirus könne sehr viel Menschenleben in Deutschland kosten, eventuell sogar mehr als vor gut einhundert Jahren; die Rede war von bis zu zwei Millionen Opfern hierzulande. Als Geschichtsredakteur der WELT-Gruppe solle ich, so der Wunsch meiner TV-Kollegen, diese Parallele historisch einordnen. Eine erste Textfassung erschien am 29. März 2020 auf der Mitglieder-Website der WBG.2 Eine zweite, leicht überarbeitete und aktualisierte veröffentlichte ich am 13. Mai 2020 auf WELT.3 Für die vorliegende Fassung habe ich meine seinerzeit umrisshaft skizzierten Argumente präzisiert, Zahlen aktualisiert und Anmerkungen hinzugefügt. Das Virus SARS-CoV-2 hat die Welt weitgehend in den Würgegriff genommen. In zahlreichen Ländern hat es seit März 2020 sogenannte Shutdowns oder sogar Lockdowns gegeben, die ab Anfang Mai schrittweise gelockert wurden. Vielfach stand und steht teilweise noch immer das öffentliche Leben praktisch still. Entsprechend hat die Wirtschaft einen radikal scharfen Einbruch zu verkraften; die EU-Kommission erwartet ein im Frieden noch nie oder wenigstens nicht mehr seit 1929/30 da gewesenes Sinken des Bruttosozialproduktes – bezogen auf das Gesamtjahr 2020 um annähernd ein Zwölftel.4

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Schwere Zeiten für die Curry-Wurst: Berliner Imbiss am 23. März 2020

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Auch knapp ein halbes Jahr nach der erstmaligen wissenschaftlichen Beschreibung des Virus kann niemand seriös sagen, ob Maßnahmen wie der Lockdown berechtigt waren oder übertrieben, ob sie großen Schaden vermieden oder noch größeren Schaden verursacht haben. Ist Corona tatsächlich so gefährlich, dass schlimmstenfalls bis zu 2,2 Millionen zusätzliche Tote5 allein in den USA zu erwarten sind? Oder handelt es sich im Gegenteil bei der weltweiten Corona-Krise um eine von klassischen wie sogenannten sozialen Medien erzeugte Hysterie, angetrieben von einigen ehrgeizigen Virologen, die jeden Maßstab verloren haben?6 Es wird mindestens Monate brauchen, solche Fragen und viele weitere wenigstens vorläufig seriös zu beantworten. Erst wenn einigermaßen verlässliche Statistiken vorliegen, wird sich sagen lassen, ob und wenn ja in welchem Maße in verschiedenen Ländern im Frühjahr 2020 mehr Menschen gestorben sind als ohnehin zu erwarten war – ob also die Mortalität von diesem Virus beeinflusst worden ist. Und erst, wenn die wirklichen Todesursachen der gegenwärtig lediglich gezählten Verstorbenen mit positivem Corona-Test zumindest stichprobenartig von Gerichtsmedizinern ermittelt sein werden, kann man die tatsächliche Letalität von SARS-CoV-2 bewerten. Obwohl es sich bei Corona um eine aktuelle, ja noch laufende Krise handelt, vermag die Geschichtswissenschaft einen sinnvollen Beitrag zur Debatte leisten. Denn jede Beurteilung eines gegenwärtigen Problems findet, ob nun eingestandenermaßen oder nicht, vor dem Hintergrund von Erfahrungen statt. Verantwortlich handelnde Politiker ziehen immer direkt oder indirekt den Vergleich mit früheren Situationen, setzen allerdings nie gleich. Denn der Vergleich fördert als eines der wichtigsten Instrumente der Geisteswissenschaft stets Ähnlichkeiten und Unterschiede zutage, während Gleichsetzungen nivellieren und damit Lösungsansätze erschweren oder sogar unmöglich machen. Daher ist es aufschlussreich, einen Blick auf die fraglos schlimmste Pandemie des 20. Jahrhunderts zu werfen. *

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Vor fast genau hundert Jahren, zwischen 1918 und 1920, wütete die Spanische Grippe auf der gesamten Welt. Ihren Ausgangspunkt hatte diese Krankheit in den USA.7 Irgendwann im Winter 1917/18 waren im Mittleren Westen mutierte Influenza-Viren wohl von Geflügel oder Schweinen auf Menschen übergesprungen. Als drei offenbar infizierte Einwohner des Haskell County im Februar 1918 in das Armeeausbildungslager Camp Funston (US-Bundesstaat Kansas) eingezogen wurden, begann sich die Krankheit zu verbreiten. Denn in den improvisierten Lagern, in denen die US-Armee Hunderttausende Rekruten auf ihren bevorstehenden Kriegseinsatz in Europa vorbereitete, fand der Erreger ideale Bedingungen: schlechte Hygiene und unzählige vom Drill erschöpfte Menschen auf engem Raum. Anfang März 1918 registrierten US-Militärärzte einen steilen Anstieg schwerer Fieberfälle. Wegen der starken Schwächung der Erkrankten sprach man zunächst vom „Knock-down-fever“. Die Mediziner waren ratlos, kannten weder eine einleuchtende Diagnose noch eine Therapie. Für jeden Versuch der Eindämmung war es ohnehin zu spät, denn längst waren Tausende infizierte US-Soldaten auf vollgepackten Truppentransportern über den Atlantik unterwegs. Schon Ende März 1918 fielen die ersten Fälle mit ähnlichen Symptomen in der Bretagne auf – hier kamen zu dieser Zeit Woche für Woche einige Zehntausend US-Soldaten an. Umgehend breitete sich das Virus in alle Himmelsrichtungen aus – nach Paris und nach Südfrankreich, über den Kanal nach Großbritannien und natürlich zu den Fronten in Westbelgien und Ostfrankreich. Nach Spanien drang die Seuche ebenfalls vor. Weil dieses Land im Gegensatz zu allen anderen zunächst betroffenen Staaten neutral war und die Zeitungen recht frei berichteten, drangen von hier aus die ersten Nachrichten über die rätselhafte Epidemie in die Welt. Der Manchester Guardian informierte seine Leser am 28. Mai 1918, spanische Zeitungen schrieben über eine „mysteriöse Seuche“, an der auch König Alfonso XIII. und seine Gattin Victoria Eugénie litten.8 Die Washington

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Quarantäne sieht heute anders aus: Nothospital auf dem US Army’s Camp Funston in Kansas, wo die ersten Fälle der Spanischen Grippe dokumentiert wurden.

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Post meldete einen Tag später, dass allein in Madrid 90 000 Menschen auf der „Krankenliste“ stünden. Auch andere Provinzen seien betroffen, selbst auf den Kanarischen Inseln trete die Krankheit schon auf.9 Damit war der Name „spanische Krankheit“ geprägt, der bald zu „Spanische Grippe“ präzisiert wurde. In ihrer Frühjahrsoffensive ab dem 21. März 1918 hatten deutsche Truppen erhebliche Geländegewinne an der Westfront gemacht. Dabei gerieten viele britische, französische und US-Soldaten in Gefangenschaft – darunter auch Infizierte. Nun verbreitete sich die Seuche auch unter deutschen Soldaten, die sich zu Zehn-, bald zu Hunderttausenden krankmelden mussten. Selbst Erich Ludendorff, der Generalquartiermeister der Kaiserlichen Armee und eigentlich starke Mann des Reiches in dieser Zeit, musste das hinnehmen: „Die Grippe griff überall stark um sich“, schrieb er kaum ein halbes Jahr später in seinen Kriegserinnerungen über den Juni 1918: „Es war für mich eine ernste Beschäftigung, jeden Morgen von den Chefs [gemeint: den Stabschefs der verschiedenen Abteilungen der Obersten Heeresleitung; sfk] die großen Zahlen von Grippeausfällen zu hören.“10 In seinem Kriegstagebuch vermerkte Ernst Jünger am 6. Juli 1918: „Gestern Nacht sollten wir abgelöst werden und in Ruhe kommen, leider wurde daraus nichts; da beim dritten Bataillon die spanische Krankheit ausgebrochen ist, kamen wir bloß in Reserve.“ Drei Tage später schrieb er: „Die spanische Krankheit macht weiter Fortschritte bei uns.“ Außerdem berichtete Jünger: „Bei der rechten Nachbardivision soll die Sache so schlimm sein, dass ein englischer Flieger Zettel abgeworfen hat: ,Wenn die Division nicht bald abgelöst wird, kommen wir und lösen sie ab.‘ Ganz nett.“ 11 In seinen sehr stilisierten Kriegserinnerungen „In Stahlgewittern“ fügte er hinzu: „Doch erfuhren wir, dass sich die Epidemie auch auf der Gegenseite mehr und mehr ausbreitete.“ In einer Ausgabe von 1934 ergänzte er noch einen Satz: „Gerade die jungen Leute starben oft über Nacht hinweg.“12 Doch die Krankheit blieb nicht bei den Truppen auf beiden Seiten

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der Front. Sie verbreitete sich ebenso in allen europäischen Großstädten wie auf dem Land. Mit infizierten Verwundeten und Heimaturlaubern drang die Spanische Grippe in Windeseile nach Deutschland vor. Im Frühsommer 1918 erreichte sie von Westen her die Heimat. In der Reichshauptstadt kam die Infektion Mitte Juni an und verbreitete sich schnell. „Die Grippe in Berlin“, konstatierte die Künstlerin Käthe Kollwitz Anfang Juli, deren Mann in seiner Hausarztpraxis auf einmal viele zusätzliche Patienten zu behandeln hatte, in ihrem Tagebuch: „Am Dienstag hat Karl hundert Grippekranke. Er selbst wird krank am Mittwoch.“13 Doch zu ihrer Erleichterung war der Verlauf bei ihm leicht, obwohl die Sterblichkeit unter den ernsthaft Erkrankten hoch war; die Zahl der Infizierten kannte niemand, denn es gab keinerlei Möglichkeit, das festzustellen. Grundsätzlich lag die Zahl der Kranken und der Toten in dicht besiedelten Großstädten schon in der ersten Welle deutlich höher als auf dem Land. Ab Mitte August 1918 verstärkte sich die Spanische Grippe noch einmal: Es kam zu einer zweiten Welle zunächst in den USA, in der Bretagne und in Westafrika; mit einigen Wochen Verzögerung erreichte sie auch Deutschland. Nun schnellte die Sterberate hoch bis auf die Hälfte der unter nennenswerten Krankheitssymptomen leidenden Menschen. Ein Münchner Chefarzt berichtete über den Ausbruch der zweiten Welle im Einzugsgebiet seines Krankenhauses in Schwabing: „Innerhalb von etwa zehn Tagen kamen 77 Grippekranke zur Beobachtung, und ihre Mortalität war erschreckend hoch. Sie betrug 24, und bemerkenswerterweise traf das traurige Schicksal zumeist jüngere, kräftige Individuen.“ Verstehen konnte der Mediziner das nicht: „Warum die älteren Leute von dieser schweren Infektion größtenteils verschont blieben, ist nicht genau klar. Möglicherweise waren sie durch früher überstandene Grippeerkrankungen bis zu einem gewissen Grade immunisiert.“14 Von den Krankenhäusern aus verbreitete sich die Infektion weiter: „Ein paar Hundert Pflegerinnen fielen jeden Tag allein in den Münchner Lazaretten aus“, erinnerte sich der Historiker Karl Alexander von Mül-

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ler: „Der Straßenbahnverkehr wurde eingeschränkt, in den großen Industriebetrieben waren bis zu einem Drittel der Belegschaften ausgeschaltet.“ Düster sinnierte der selbst erkrankte Müller: „Es war der erste apokalyptische Reiter – wer wusste, ob nicht die anderen im fahlen Abendrot ihre Rosse zäumten?“15 Im Rückblick ist klar: Ein mutiertes, wesentlich aggressiveres Virus war verantwortlich für die zweite Welle. Der Höhepunkt war in New York, Paris und Berlin etwa gleichzeitig in der dritten Oktoberwoche 1918 erreicht, in London etwa zwei Wochen später. Anschließend verbreitete sich das Virus in Russland, das vom Bürgerkrieg gebeutelt war, und auf dem indischen Subkontinent. Seriöse Aufzeichnungen über diese Ausbrüche gibt es nicht. In Deutschland deuten die überlieferten Daten über die zweite Welle auf regional sehr unterschiedliche Herde. Jedenfalls schwankten die gemeldeten Todesfälle an der Spanischen Grippe bezogen auf die Gesamtbevölkerung zwischen 0,8 Promille in Augsburg und 13 Promille in Schleswig, wobei keinerlei System erkennbar ist. Das legt die Vermutung nahe, dass die enormen Unterschiede zumindest auch mit unterschiedlichem Meldeverhalten der jeweils zuständigen Kreisärzte zu tun haben könnten. Die deutsche Öffentlichkeit war mit Informationen über die rätselhafte Krankheit deutlich unterversorgt. Entsprechend der durch Verhängung des „Belagerungszustandes“ seit Anfang August 1914 geltenden Kriegszensur verzichteten alle deutschen Redaktionen darauf, schlechte Nachrichten offen oder gar prominent zu bringen. Über die Epidemie wurde daher vor allem berichtet, soweit es um das Ausland ging. Diese Zurückhaltung änderte natürlich nichts daran, dass auch in Deutschland die Menschen rasch merkten, wie sich eine unheimliche Krankheit ausbreitete, zu der es seit Jahrzehnten (nämlich seit der sogenannten russischen Grippe 1889 bis 1892) nichts Vergleichbares mehr gegeben hatte. Die Reichs- und die Landesbehörden in Deutschland überließen die Entscheidung über Gegenmaßnahmen vollständig den Kommunen, was

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zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führte. So schlossen die städtischen Behörden in Dresden in der zweiten Oktoberhälfte die Schulen, Theater, Kinos und setzten sogar Gerichtsverhandlungen aus, während in Leipzig nichts dergleichen geschah. Zu drastischen Einschnitten in das öffentliche Leben, zum Beispiel das Verbot von Versammlungen, die Schließung von Gaststätten oder der Verzicht auf Gottesdienste, kam es 1918/19 nirgendwo in Deutschland. In einigen Kantonen der deutschsprachigen Schweiz hingegen gab es all diese Maßnahmen; allerdings hatten sie keinen verifizierbaren Einfluss auf den Verlauf der Pandemie.16 Die zweite Welle ebbte Mitte November 1918 deutlich ab; eine dritte, diesmal weitaus mildere Welle folgte im ersten Quartal 1919 in Europa. Aus Deutschland, das mitten in den Nachwirren der demokratischen Revolution steckte, sind dazu aber kaum Informationen überliefert: Die zuständigen Behörden, vor allem die Kreisärzte und Gesundheitsämter, hatten Wichtigeres zu tun als ihren Informationspflichten nachzukommen.17 Jedoch lernten die Menschen, mit der Krankheit zu leben: Bis in die Mitte der 1920er-Jahre gab es noch deutlich mehr Grippefälle als vor dem Ersten Weltkrieg, bei nun allerdings deutlich gesunkener Letalität – offenbar eine Folge der sogenannten Herdenimmunität. Wie viele Opfer die Pandemie 1918/19 forderte, ist seriös kaum zu sagen. Für Deutschland liegt die Mindestschätzung bei 300 000 Toten, also fünf Promille der Bevölkerung. Es können aber auch doppelt so viele gewesen sein. Eine Studie mehrerer Forscher des Robert Koch-Institutes kam 2016 auf eine Zahl von etwa 426 600 Toten durch die Spanische Grippe 1918 bis 1920, was etwa 0,69 Prozent der damaligen Bevölkerung entspräche.18 Die angenommenen Gesamtopferzahlen weltweit schwanken noch stärker. Die niedrigste Schätzung geht von etwa 20 Millionen Toten aus, die höchste kommt auf fünfmal so viele, allerdings auf Grundlage extrem vager Hochrechnungen über Opfer in Russland und Indien.19 Realistisch dürfte eine Opferzahl von 35 bis 50 Millionen sein, also zwischen 1,7 und 2,5 Prozent der gesamten Weltbevölkerung.

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* Was kann man nun aus der Erfahrung der Spanischen Grippe in den Jahren 1918 bis 1920 lernen für die gegenwärtige Corona-Krise? Was also bringt der Vergleich der beiden Pandemien? Erstens fällt ins Auge, dass wir heute unvergleichlich viel mehr wissen über die aktuelle Krankheit als die Menschen vor gut hundert Jahren über die damalige. Seinerzeit war nicht einmal bekannt, um was für eine Art von Erreger es sich handelte. Stattdessen spekulierten Ärzte über verschiedene Ursachen, von einer neuen Variante der Lungenpest über Typhus bis hin zu Malaria. Der deutsche Reichsgesundheitsrat ging zwar richtigerweise von einer Grippe aus, suchte aber nach einem seinerzeit irrtümlich für den Auslöser solcher Symptome angenommenen Bakterium. Erst 1933 wurde als Ursache der Spanischen Grippe ein Virus erkannt, und sogar erst 2004 wurde sein Genom entschlüsselt.20 Bei SARS-CoV-2 hingegen sind alle diese Fragen weitgehend geklärt; es wird bereits während der Pandemie weltweit systematisch nach möglichen Medikamenten und Impfstoffen gesucht. Zweitens lohnt es sich, den Verlauf der Spanischen Grippe damals und Covid-19 heute zu vergleichen. 1918/19 tötete das Influenza-Virus weit überdurchschnittlich häufig Menschen zwischen 15 und 50 Jahren. Heute liegt der Altersdurchschnitt der Verstorbenen nach gegenwärtigem Stand bei etwa 80 Jahren; von den relativ wenigen Opfern, die weniger als 70 Jahre alt geworden sind, hatten fast alle meist schwere Vorerkrankungen oder Komplikationen wie extremes Übergewicht. Dieses vollständig andere Profil der Verstorbenen ändert natürlich an der Tragik jedes einzelnen Falls gar nichts. Doch mit Stand vom 9. Juni 2020, dem Redaktionsschluss dieses Beitrags, kann man wohl sagen: Covid-19 wird deutlich weniger Opfer fordern als die Spanische Grippe. Allerdings gibt es keine Garantie, dass dies so bleibt – eine eventuelle Mutation des Virus könnte vieles ändern und ist jederzeit möglich. Drittens sind die Voraussetzungen, mit der Infektion zurechtzukom-

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Anstieg der Todesraten in den Städten New York, London, Paris und Berlin für den Herbst 1918 und das Frühjahr 1919

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men, im Jahr 2020 weitaus besser. Das Gesundheitssystem heute hat vollständig andere Möglichkeiten als vor hundert Jahren: Es gibt eine eingespielte Intensivmedizin, die seinerzeit überhaupt nicht existierte. Ferner kann man Erkrankte im Extremfall künstlich beatmen. Gegen die damals wie heute offenbar häufigste Begleiterscheinung der Infektionen, nämlich Lungenentzündungen, stehen wirksame Antibiotika zur Verfügung. Die Hygiene ist zumindest in Deutschland allgemein und besonders in Krankenhäusern auf einem bedeutend höheren Niveau – trotz schwerwiegender Probleme wie multiresistenten Keimen. Viertens erlebt Deutschland die SARS-CoV-2-Pandemie in einer ungeheuer viel besseren Allgemeinsituation. Zwar sind auch im März und April 2020 Supermarktregale von Hamsterkäufern leergeräumt worden, waren besonders Toilettenpapier, aber auch haltbare Lebensmittel, Mehl und Hefe mitunter wochenlang ausverkauft. Aber der Nachschub hat mit kleinen Einschränkungen stets funktioniert und die Lieferketten sind nie gerissen. Das war 1918 vollkommen anders: Damals hungerte Deutschland nach fast vier Jahren Importblocklade und mehreren schlechten Ernten hintereinander. Nahrung war schon seit 1915 rationiert; ein extrem bürokratisches und für Korruption anfälliges System von Lebensmittelkarten sollte die Versorgung sicherstellen, was aber gerade in den Großstädten in den Wintern 1917/18 und 1918/19 nicht gelang. Zu den Toten der Spanischen Grippe kamen so Hunderttausende Verhungerte; vielfach konnte nicht unterschieden werden, ob sie nun an „Auszehrung“, so eine damals häufig auf Totenscheinen vermerkte Todesursache, oder an der Infektion gestorben waren. Hinzu kommt: Die Verbraucherpreise haben sich selbst bei den zeitweise raren Gütern 2020 kaum verändert; hingegen hatte vor hundert Jahren ein stark ausgeweiteter Schwarzmarkt mit horrenden Preisen nahezu jeglichen verfügbaren Vorrat aufgesogen. Fünftens gab es 1918/19 weder einen „Shutdown“, also eine Beschränkung des wirtschaftlichen Lebens auf „systemrelevante“ Bereiche wie von der dritten März- bis zur zweiten Mai-Woche 2020, noch einen

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„Lockdown“, also weitgehende Ausgangssperren wie etwa im März und April 2020 in Italien und Spanien. Auch „Social Distancing“ fand vor hundert Jahren, von Ausnahmen abgesehen, nicht statt. Das lag natürlich an der Weltlage: Während wir heute, von einigen, im globalen Maßstab kleineren Konflikten abgesehen, im Frieden leben, wurde in der für Europa gefährlichsten Zeit der Spanischen Grippe vom Frühsommer bis zum Spätherbst 1918 an der Westfront des Ersten Weltkrieges extrem hart gekämpft. Jeder Europäer an der Heimatfront, der irgendwie zur Arbeit gehen konnte (oft in der Rüstungsproduktion), tat das. Homeoffice war nicht nur als Wort unbekannt, sondern auch der Sache nach unvorstellbar – kein Wunder zu einer Zeit, in der kaum jemand ein Telefon hatte und „digital“ zwar im Lexikon stand, aber als „die Finger oder Zehen betreffend“ erklärt wurde.21 Wegen der Spanischen Grippe wurden Schulen, von lokalen Ausnahmen abgesehen, nicht geschlossen. Niemand wäre auf die Idee gekommen, Gaststätten zu sperren, öffentliche Versammlungen zu untersagen oder Gottesdienste zu verbieten. All diese Faktoren lassen es gegenwärtig wahrscheinlich erscheinen, dass der SARS-CoV-2-Ausbruch 2020 bei Weitem niedrigere Opferzahlen fordern wird als die Spanische Grippe. Noch ist nicht einmal gewiss, ob es in Deutschland überhaupt eine statistisch signifikante Übersterblichkeit geben wird, also eine nennenswert höhere Zahl von Toten als ohnehin zu erwarten. In den 94 Tagen seit dem ersten an oder mit nachgewiesener Corona-Infektion gestorbenen Patienten in Deutschland sind laut Zählung des Robert Koch-Institutes 8711 Menschen mit der offiziellen Todesursache Corona verstorben. Im gleichen Zeitraum sind nach dem langjährigen Durchschnitt um die 230 000 Menschen in Deutschland ganz natürlich gestorben, nämlich etwa 2435 pro Tag.22 Diese aufschlussreiche Relation hat seltsamerweise in der gesamten öffentlichen Debatte fast nie eine Rolle gespielt. Die Gründe für dieses Versäumnis und weitere Verzeichnungen in der Debatte müssen aufgearbeitet werden, sobald die akute Phase der Krise vorüber ist. Eine Ursache kann aber schon jetzt benannt werden:

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Vor gut hundert Jahren verhielten sich die Zeitungen geradezu entgegengesetzt zu Fernsehen, Magazinen und Onlinemedien heute – allerdings deshalb nicht besser. Damals wurde nach Kräften heruntergespielt oder ignoriert; heute dominieren Panikmache und apokalyptische Szenarien in einem erschreckenden Maß, und zwar nicht nur in den (a)sozialen Medien, die den Stammtisch des frühen 20. Jahrhunderts ersetzt haben, sondern ebenso bei der weit überwiegenden Zahl der professionellen Redaktionen. Praktisch alle Medien haben in der Corona-Krise in vorher kaum vorstellbarem Maße versagt. Denn in einer offenen, demokratischen Gesellschaft haben Medien einerseits die Aufgabe, den Nutzern Fakten zu liefern, andererseits unterschiedliche Interpretationen dieser Fakten vorzulegen, damit mündige Bürger sich selbst ihre Meinung bilden können. In der Corona-Krise haben jedoch nahezu alle professionellen Medien in Deutschland wochenlang fast ausschließlich die von Anfang an erkennbar fragwürdigen Zahlen des Robert Koch-Instituts weitergegeben, ohne sie substanziell infrage zu stellen. Abweichende Interpretationen wurden meistens ignoriert, Kritiker oft in sogenannten Faktenchecks niedergemacht, die allerdings weitgehend auf den Interpretationen eines einzigen, in der Öffentlichkeitsarbeit sehr aktiven Wissenschaftlers beruhten.23 Weiterhin gehören die zahlreichen Äußerungen von Wissenschaftlern, vor allem von einigen den Diskurs absolut dominierenden Virologen, auf den Prüfstand.24 Anschließend ist die Reaktion der Politik zu bewerten: Waren Regierungen rund um die Welt richtig beraten oder falsch? Falls man Letzteres feststellen sollte, wird weiter zu fragen sein, ob die politisch Verantwortlichen hätten erkennen können oder gar müssen, dass sie in die Irre gingen? Juristisch wird sich das nicht klären lassen; notwendig ist eine gesellschaftliche, möglichst internationale Debatte. Insgesamt betrachtet lehrt der Vergleich der Corona-Pandemie mit der Spanischen Grippe, jeder hysterischen Reaktion entgegenzutreten. Weder Deutschland noch gar die Menschheit werden am Virus SARSCoV-2 zugrunde gehen. Die Herausforderung ist gewiss groß, doch nicht

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Am 26. Oktober 1918 hatte der Friseur in Cincinnati offen, „social distancing“ war damals unbekannt.

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existenziell. Moderate Maßnahmen wie „Social Distancing“ hatten wohl ihre Berechtigung, während monatelange harte Ausgangssperren offenbar weder nötig noch sinnvoll waren. Am wichtigsten ist die Einsicht: Es besteht kein Anlass, dass ganze Gesellschaften aus Angst vor dem (ziemlich unwahrscheinlichen) Corona-Tod kollektiv ökonomischen Selbstmord begehen. Das Meinungsklima in Deutschland hat sich während der CoronaKrise in bedenklicher Form vereinheitlicht. Zwar kam in Polittalks des öffentlich-rechtlichen Fernsehens hin und wieder ein Kritiker des Robert Koch-Institutes und der Corona-Politik zu Wort, doch der überwiegende Tenor der öffentlichen Meinung folgte stets der Regierungslinie. Zumindest in der WELT-Redaktion, die seit Mitte März 2020 vollständig aus dem Homeoffice arbeitet, wurde und wird immerhin gestritten; hier haben auch unterschiedliche Ansichten ihren Platz gefunden, etwa des Finanzwissenschaftlers Stefan Homburg.25 Als grundsätzlich liberales Medium ist es für die WELT selbstverständlich, einem breiten Spektrum sachlich begründeter Interpretationen Raum zu geben. Wie gut uns das gelungen ist, wird nach dem Abklingen der Corona-Krise jedoch sehr kritisch zu analysieren sein.

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Online verfügbar unter https://www.welt.de/politik/deutschland/video206515711/Historiker-Sven-Felix-Kellerhoff-Coronavirus-nicht-so-schlimm-wie-die-Spanische-Grippe.html

2

https://wbg-community.de/themen/sven-felix-kellerhoff-knock-down-fever-spanischegrippe-corona

3

https://www.welt.de/kultur/plus207920065/Pandemie-und-Panik-Nein-dies-ist-nichtdie-Spanische-Grippe.html.

4

https://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/eilmeldungen/ article207774803/EU-Prognose-Wirtschaft-in-Eurozone-bricht-um-7-75-Prozent-ein.html

5

https://www.nytimes.com/2020/03/31/us/politics/coronavirus-death-toll-unitedstates.html. Einziges relevantes Kriterium sind die zusätzlichen Toten über die – leicht schwankende – natürliche Mortalität hinaus.

6

So kann man die Ansicht des Lungenfacharztes und SPD-Gesundheitspolitikers Wolfgang Wodarg zusammenfassen, der wohl der schärfste wissenschaftliche Kritiker von Christian Drosten ist; vgl. https://www.wodarg.com.

7

Die Darstellung beruht auf den Recherchen für meine Bücher Heimatfront. Deutschland im Ersten Weltkrieg. Berlin 2014 und mit Lars-Broder Keil: Lob der Revolution. Die Geburt der Demokratie in Deutschland. Darmstadt 2018. Vgl. ferner Wilfried Witte: Tollkirschen und Quarantäne. Die Geschichte der Spanischen Grippe. Berlin 2008; Manfred Vasold: Die Spanische Grippe. Die Seuche und der Erste Weltkrieg. Darmstadt 2009; Eckard Michels: Die „Spanische Grippe“ 1918/19. Verlauf, Folgen und Deutungen in Deutschland im Kontext des Ersten Weltkriegs, in: VZG 58 (2010), S. 1–33; André Müllerschön / Ralf Vollmuth: Die „Spanische Grippe“ – Verlauf und Folgen, in: Ralf Vollmuth / Peter Mees (Hrsg.): Militärmedizin und Sanitätsdienst im Ersten Weltkrieg. Die Beiträge der „Wehrmedizinischen Monatsschrift“ des Sanitätsdienstes der Bundeswehr zum Gedenkzyklus „100 Jahre Erster Weltkrieg“ 2014–2018. Bonn 2018, S. 97–105.

8

Manchester Guardian v. 28.5.1918, S. 5.

9

Washington Post v. 29.5.1918, S. 3.

10

Erich Ludendorff: Meine Kriegserinnerungen. Berlin 1919, S. 514.

11

Helmut Kiesel (Hrsg.): Ernst Jünger – Kriegstagebuch 1914 – 1918. Stuttgart 2010, S. 407.

12

Helmut Kiesel (Hrsg.): Ernst Jünger – In Stahlgewittern. Historisch-kritische Ausgabe. 2 Bde. Stuttgart 2013. Bd. 1, S. 586f.

13

Jutta Bohne-Kollwitz (Hrsg.): Käthe Kollwitz – Die Tagebücher 1908–1943. Neuausgabe Berlin 1999. S. 369.

14

Zit. n. Vasold: Spanische Grippe, S. 54.

15

Karl Alexander von Müller: Mars und Venus. Erinnerungen 1914–1919. Stuttgart 1954, S. 242.

16

Vgl. Michels: Die „Spanische Grippe“, S. 1–20.

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Das ist die wahrscheinlichere Erklärung, als dass es in Deutschland anders als in anderen Ländern Europas keine dritte Welle gegeben habe, wie Udo Buchholz / Silke Buda / Annicka Reuß / Walter Haas / Helmut Uphoff: Todesfälle durch Influenzapandemien in Deutschland 1918 bis 2009. Schätzwerte auf Basis der Literatur und ergänzende eigene Berechnungen, in: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 59 (2016), S. 523–536, hier S. 530 nahelegen.

18

Vgl. Buchholz u. a.: Todesfälle durch Influenzapandemien in Deutschland 1918 bis 2009, S. 530 u. S. 535.

19

Vgl. Niall Johnson / Juergen Mueller: Updating the Accounts. Global Mortality of the 1918–1920 „Spanish“ Influenza Pandemic, in: Bulletin of the history of medicine 76 (2002), S. 105–115.

20

Vgl. Deutsche Ärztezeitung v. 5.3.2004, S. A 609.

21

Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Auflage, Bd. 5. Leipzig – Wien 1903, S. 3.

22

Vgl. die Sonderauswertung der täglichen Todeszahlen des Statistischen Bundesamtes, die im Moment bis Mitte Mai 2020 reicht: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Sterbefaelle-Lebenserwartung/Tabellen/sonderauswertung-sterbefaelle-pdf

23

Die Rolle des Berliner Virologen Christian Drosten und der Umgang deutschsprachiger Medien mit seinen Deutungsangeboten sollten dringend systematisch untersucht werden. In nennenswert vielen Fällen führten Journalisten ausgerechnet Drostens Thesen an, um abweichende Ansichten seiner Kritiker als unzutreffend zu charakterisieren. Vgl. beispielsweise https://www.nzz.ch/wissenschaft/coronaviruas-wolfgang-wodarg-verkennt-fakten-zu-covid-19-ld.1547589, https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/coronavirus-bhakdi-wodarg-check100.html, https://www.welt.de/vermischtes/article206651673/Corona-Experte-Christian-Drosten-zerlegt-Aussagen-von-Wodarg.html, https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund/2020/03/18/coronavirus-warum-dieaussagen-von-wolfgang-wodarg-wenig-mit-wissenschaft-zu-tun-haben, https://www.zeit.de/news/2020-03/19/alles-panikmache-thesen-eines-lungenarztesim-faktencheck, https://correctiv.org/faktencheck/medizin-undgesundheit/2020/04/07/coronavirus-nein-aktuelle-pcr-tests-haben-keine-fehlerquotevon-30-bis-50-prozent, https://www.tagesspiegel.de/politik/faktencheck-wolfgang-wodarg-verbreitet-thesendie-wichtige-tatsachen-ignorieren/25654104.html. Das war ein massiver Verstoß gegen journalistisches Handwerk, denn kritisierte Aussagen können niemals Argumente gegen die an ihnen geäußerte Kritik sein. Auf diese Weise entstand ein Klima der Kritikfeindlichkeit, das viele Fachleute mit abweichenden Ansichten verstummen ließ. Auf entsprechende Klagen reagierte wieder Drosten mit massiven Vorwürfen, die von Medien prominent verbreitet wurden; vgl. https://www.welt.de/vermischtes/article207934037/Corona-Christian-Drosten-ueberAerzte-die-Quatsch-in-die-Welt-setzen.html. Ein besonders absurdes Beispiel traf die Virologin Karin Mölling, die im öffentlich-rechtlichen Berliner Hörfunksender „radioeins“ vor Panikmache gewarnt hatte. Auf der Website zu dem Interview distanzierte sich die RBB-Redaktion von dem Interview und stellte die emeritierte Institutsleiterin indirekt als unzurechnungsfähig dar: „Zur Klarstellung: Die radioeins-Redaktion betont,

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dass die Virologin und emeritierte Professorin und Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie an der Universität Zürich, Prof. Dr. Karin Mölling, hier eine Einzelmeinung vertritt. Die Virologin lässt bei ihren Einschätzungen außer Acht, dass mit den beschlossenen Maßnahmen die Zunahme von exponentiell ansteigenden Infektionen verlangsamt werden und insbesondere besonders gefährdete ältere und chronisch kranke Menschen geschützt werden sollen. Das Aufrechnen von Toten bei Unfällen oder anderen Krankheiten mit den Coronatoten erscheint auch angesichts der massiven Tödlichkeitsraten in unseren Nachbarländern zynisch. Sofern das Interview den Eindruck erweckt hat, dass radioeins die Coronakrise verharmlost, möchten wir uns ausdrücklich dafür entschuldigen.“ Zit. n. https://www.radioeins.de/programm/sendungen/die_profis/archivierte_sendungen/beitraege/corona-virus-kein-killervirus.html 24

Die zahlreichen zumindest irreführenden Äußerungen auf Christian Drostens eigenem Blog https://www.ndr.de/nachrichten/info/podcast4684.html müssen ebenfalls aufgearbeitet werden. Sie trugen, genau wie die schlicht desaströse Informationspolitik des Robert-Koch-Instituts, wesentlich zu der Panik bei, die Deutschland und die Welt in der Corona-Krise ergriff.

25

Vgl. https://www.welt.de/wirtschaft/plus207258427/Schweden-als-Vorbild-Finanzwissenschaftler-gegen-Corona-Lockdown.html u. https://www.welt.de/wirtschaft/plus207392523/Uebersterblichkeit-sinkt-Fuer-denLockdown-gehen-der-Regierung-die-Argumente-aus.html sowie https://www.welt.de/politik/deutschland/plus207454263/Prof-Stefan-Homburg-DasRobert-Koch-Institut-hat-schwere-Fehler-gemacht.html

Alle Links wurden zuletzt am 11. Juni 2020 geprüft.

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TOBIAS STRAUMANN: LEHREN AUS DER WELTWIRTSCHAFTSKRISE DER 1930ER-JAHRE Wenn immer eine Wirtschaftskrise ausbricht, taucht bald die Frage auf, ob wir auf eine Katastrophe wie in den 1930er-Jahren zusteuern. So schrieb zum Beispiel der Internationale Währungsfonds (IWF) in seiner Frühjahrsprognose vom April 2020, es handle sich bei der gegenwärtigen Krise um die schlimmste Rezession seit den 1930er-Jahren. Gemäß Statistiken von Mediendatenbanken wird das Wort „Große Depression” seit einigen Tagen viel häufiger verwendet als noch vor wenigen Wochen. Viele rechnen mit dem Schlimmsten. Der Rückgriff auf die Geschichte in Zeiten von großer Unsicherheit ist das Kennzeichen jeder Krise. Der Blick in die Zukunft ist trübe geworden, also versucht man in der Vergangenheit Szenarien zu finden, die einem Aufschluss über die weitere Entwicklung geben können. In der Regel ist die Suche vergebens, denn die Geschichte wiederholt sich nicht. Gleichwohl ist es sinnvoll, eine Analyse von vergangenen Krisen vorzunehmen, denn nur dadurch können wir die Besonderheiten der Gegenwart erfassen und somit den Radius der Unsicherheit verkleinern. Was den Auslöser des Abschwungs anbelangt, so fördert der Vergleich mit der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre nur Unterschiede zutage. Damals war die Rezession, die im Sommer 1929 einsetzte, eine Folge von sukzessiven Zinserhöhungen durch die Zentralbanken, während heute die Zinsen auf rekordtiefem Niveau liegen. Damals nahm die Rezession nur langsam ihren Lauf, während heute ein äußerst abrupter Einbruch den Krisenbeginn charakterisiert. Der New Yorker Börsencrash vom Oktober 1929 wirkte zwar kurzfristig krisenverstärkend, aber

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In der Halle des St. Francis Hotels in San Francisco verfolgen Aktieninhaber die Kursbewegungen an der New Yorker Börse. Foto von Erich Salomon, 1886–1944.

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dessen negative Folgen sind nicht mit denjenigen, die aus der Verhängung der Ausgangsbeschränkungen vom März 2020 erwachsen sind, vergleichbar. Der Vergleich mit der Finanzkrise von 2008/09 ist aufschlussreicher. Der Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 führte zu einem dramatischen Rückgang des Welthandels und einem temporären Einfrieren der globalen Wertschöpfungsketten. Für einige Wochen befand sich die Weltwirtschaft gleichsam im freien Fall, und nur dank umfangreichen Bankenrettungsprogrammen, rekordhohen Liquiditätszuschüssen und finanzpolitischen Stützungspaketen konnte der jähe Abschwung nach ein paar Monaten beendet werden. In einer ähnlichen Lage befinden wir uns heute. Der wirtschaftliche Infarkt infolge der Ausgangsbeschränkungen hat kurzfristig in einem dramatischen Rückgang der Realwirtschaft und des Welthandels resultiert, der nur dank außerordentlicher wirtschaftspolitischer Maßnahmen eingedämmt werden kann. Das internationale Finanzsystem wäre im März 2020 kollabiert, wenn die Zentralbanken und Regierungen nicht mit großer Entschlossenheit reagiert hätten. Vor allem die beispiellose Ausdehnung der Liquidität durch die amerikanische Notenbank hat entscheidend dazu beigetragen, dass die anfängliche Panik wieder verflog. Weil der Krisencharakter in den 1930er-Jahren ein ganz anderer war als heute, dürfte sich auch der Krisenverlauf wesentlich unterscheiden. Das Kennzeichen der Großen Depression war die beispiellose Länge der Abwärtsbewegung, die durch eine höchst kontraproduktive Wirtschaftspolitik verursacht wurde: Sie begann im Sommer 1929 und endete erst im Frühjahr 1933. Entsprechend entwickelte sie immer mehr politische Sprengkraft, da die Menschen die Hoffnung auf einen baldigen Aufschwung allmählich verloren und empfänglich für radikale Ideen wurden. Die heutige Krise dürfte hingegen verhältnismäßig kurz sein. Das zweite Quartal 2020 bringt zwar einen rekordhohen Einbruch der Weltwirtschaft, aber damit ist die Talsohle wohl bereits erreicht. Nur wenn eine große zweite Ansteckungswelle über die Welt hinwegrollte, könnte

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sich ein erneuter Wachstumseinbruch ereignen, aber selbst dann würde nicht eine dreijährige Depression folgen. Regierungen und Zentralbanken reagieren heute besser auf Krisen als in den 1930er-Jahren, als sie durch den Goldstandard und das schwere Erbe der Kriegsschulden in ihrem Handlungsspielraum stark eingeschränkt waren, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich und Großbritannien. Ganz wegwischen sollte man den Vergleich mit der Große Depression allerdings nicht, denn in Südeuropa existiert nach wie vor eine Konstellation, die eine gewisse Ähnlichkeit mit derjenigen der frühen 1930erJahre aufweist. Der Euro ist ökonomisch gesehen eine Fremdwährung für Griechenland, Italien, Portugal und Spanien, wie es der Goldstandard in der Zwischenkriegszeit war, d. h. die Zentralbanken der EuroMitgliedsländer haben nicht die erforderliche monetäre Souveränität, um eine autonome und auf die Bedürfnisse der einheimischen Wirtschaft zugeschnittene Geld- und Währungspolitik zu betreiben. Das schränkt den konjunkturpolitischen Spielraum enorm ein. Die Europäische Zentralbank (EZB) sorgt zwar dafür, dass die Zinsen tief bleiben und sich die Südländer weiterhin zu günstigen Konditionen auf dem Markt verschulden können. Aber dies ist auf die Dauer kein haltbarer Zustand. Die Ungleichgewichte zwischen den Überschussländern im Norden und den Defizitländern im Süden nehmen durch die CoronaKrise weiter zu, da die Staatsschulden Italiens und Spaniens nochmals kräftig ansteigen werden. Es rächt sich einmal mehr, dass der Euro eingeführt wurde, bevor die Europäische Union einen gewissen politischen und fiskalischen Zentralisierungsgrad erreicht hatte, wie dies in allen erfolgreichen Währungsunionen der Vergangenheit gegeben war. Viele fordern heute die Einführung von sogenannten Corona-Bonds, um die fehlende fiskalische Zentralisierung nachzuholen. Es wäre überraschend, wenn die Euro-Länder bei dieser Frage zu einem Konsens kämen, und selbst wenn sie es täten, würde das Instrument nicht reichen, um die Konstruktionsfehler der Währungsunion zu beheben. Eine Vergemeinschaftung der Schulden funktioniert nur dann, wenn es eine über-

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geordnete Sanktionsbehörde mit einem großen Budget gibt. Diese fehlt aber nach wie vor, weil die EU von den Mitgliedsländern dominiert wird und nur einen relativ kleinen Staatshaushalt verwalten darf. Die Einführung von Corona-Bonds würde daran nichts ändern. So dürfte die Situation weiterhin blockiert bleiben. Natürlich bedeutet dies nicht, dass die südeuropäischen Länder wie die späte Weimarer Republik politisch und wirtschaftlich zusammenbrechen werden. Aber man sollte sich bewusst sein, dass die Kombination von fehlender geldpolitischer Autonomie, steigenden öffentlichen Schulden und schwachem Wirtschaftswachstum ein großes Gefahrenpotenzial birgt. Italien ist dadurch zur Achillessehne der Währungsunion geworden. Seit mehr als zwanzig Jahren stagniert das durchschnittliche Einkommen, ein beträchtlicher Teil der jungen qualifizierten Arbeitskräfte wandert aus, und die etablierten Parteien sind fast gänzlich verschwunden. Es kann durchaus der Moment kommen, in dem eine Mehrheit der italienischen Stimmberechtigten wegen der anhaltenden wirtschaftlichen Misere einen Kurs befürwortet, der mit den Institutionen der EU offen bricht. Dies wäre eine weit größere Zäsur als der Brexit, denn Italien ist ein Gründungsmitglied, während Großbritannien sich immer nur halbherzig an der europäischen Integration beteiligte. Mit anderen Worten: Wir sollten die Erinnerung an die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre nicht nur aus medialem Interesse wachhalten, sondern weil sie uns aufzeigt, was ein verfehltes geldpolitisches Regime und hohe Schulden im schlimmsten Fall anrichten können.

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CHRISTOPH CORNELISSEN: DIE AKTUELLE PANDEMIE – EINE HISTORISCHE ZÄSUR? An Nachrichten über die aktuelle Corona-Pandemie mangelt es gewiss nicht. Im Gegenteil, seit mehreren Wochen berichten die Live-Ticker der öffentlichen und privaten Sendeanstalten sowie die der Online-Zeitungen und -Zeitschriften im Minutentakt über neueste Infektionszahlen und deren Trends. Wem all das nicht reicht, der findet im Internet unzählige weitere Informationsquellen – seriöse und oftmals dubiose. Offensichtlich bildet die Corona-Pandemie einen günstigen Nährboden für Verschwörungstheorien aller Art. Gleichzeitig geizt auch die seriöse Berichterstattung nicht mit Superlativen, wenn sie den Versuch unternimmt, die gegenwärtigen Erfahrungen, aber auch die Sorgen und Hoffnungen im Blick auf die Zukunft auf den Begriff zu bringen. Nicht selten ist dabei die Rede von einer historischen Zäsur. Gemeint ist damit meist das Ende oder zumindest eine deutliche Abschwächung der unzähligen wirtschaftlichen oder kulturellen Globalisierungsprozesse, die seit den 1970er-Jahren sämtliche Weltregionen mit großer Dynamik erfasst hatten. Darüber hinaus spielt der Begriff auf strukturelle Wandlungen in der Politik, unserer Arbeitswelt und im Bildungswesen (Stichwort Digitalisierung) an, um hier nur wenige Beispiele zu nennen. Obwohl die Einschnitte und Einschränkungen in der Gegenwart vielerorts das Gefühl bestärken, wir seien Zeugen einer historischen Zäsur, lohnt es zu fragen, ob dem nicht ein vorschnelles Urteil zugrunde liegt. Sicher, was wir zurzeit erleben, stellt für die Angehörigen aller Generationen eine so nicht da gewesene Herausforderung dar. Und doch vermag der Rückblick auf frühere Epidemien sowie die Art und Weise, wie

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„Die Grippe hat in fünf Monaten mehr Menschen getötet als der Krieg in fünf Jahren“, heißt es zu dieser französischen Illustration.

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die zeitgenössischen Gesellschaften mit ihnen umgegangen sind, wesentliche Einsichten zu vermitteln. So zeigt sich, erstens, dass alle großen Pandemien in der Weltgeschichte, darunter die Beulenpest in der Mitte des 14. Jahrhunderts, die Pestepidemien in Italien, Spanien und England im 17. Jahrhundert sowie die verschiedenen Cholera- und Pockenepidemien in den nachfolgenden Jahrhunderten jeweils gravierende demografische, soziale und politische Folgen hervorriefen, die weit über das hinausreichen, was wir bislang in der aktuellen Krise registrieren können. Man sollte sich in diesem Zusammenhang unter anderem die Opferzahlen der „Spanischen Grippe“ in Erinnerung rufen. Seit Herbst 1918 rief diese Pandemie von den USA ausgehend in drei Wellen weltweit bis zu 50 Millionen Opfer hervor, manche Schätzungen sprechen sogar wegen der hohen Dunkelziffern von bis zu 100 Millionen Menschen. Als die Pandemie am Ende des Ersten Weltkriegs ausbrach, geschah dies, zweitens, zu einem Zeitpunkt, als in Europa und Nordamerika Infektionskrankheiten wie die Tuberkulose noch immer einen erheblichen Teil der jährlichen Sterblichkeit ausmachten. Zwar hatte die Bakteriologie das Wissen um die Ursachen von Infektionskrankheiten schon in den Jahrzehnten zuvor erheblich verbessert. Aber bis 1918 waren weder gegen Tuberkulose, Cholera oder Grippe Medikamente entwickelt worden. Somit gehörten alle diese Seuchen noch zum Erfahrungshorizont von Gesellschaften, die Pandemien als nicht zu beherrschendes Naturereignis einstuften, als Schicksalsschläge, gegen die ein „Widerstand“ im Grunde zwecklos sei. Das schloss durchaus Versuche zur Einschnürung der Krankheitsherde nicht aus und damit bereits früh Maßnahmen zu einer strikten Isolierung der Kranken. Aber all dies geschah im Bewusstsein, damit allenfalls prophylaktisch wirken zu können. Die Erwartungen in der Gegenwart werden dagegen oftmals von der Hoffnung angeleitet, dass schon bald wirksame Impfstoffe gegen die aktuellen Erreger eingesetzt werden können. Kurze Erwartungshorizonte scheinen überhaupt zu den typischen Charakteristika spätmoderner Gesellschaften zu gehören.

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Vor diesem Hintergrund tritt ein dritter Geschichtspunkt in den Vordergrund: die intensive mediale Berichterstattung, die zugleich in der öffentlichen Verständigung über die gegenwärtige Seuche einen Akteur von erheblichem Gewicht darstellt und darüber gesellschaftliche Erwartungen mitprägt. Einen Vorgeschmack darauf bot seit den 1950er-Jahren die mediale Berichterstattung über die „Asiatische Grippe“ von 1957, die „Hongkong-Grippe“ von 1968 oder die seit Frühjahr 2009 grassierende „Schweinegrippe“. Aber in Ausmaß und Intensität übertrifft der gegenwärtige Medienhype um das Coronavirus alle Vorgänger um Längen. Umso krasser sticht zugleich der Gegensatz zur öffentlichen Resonanz auf die „Spanische Grippe“ ins Auge: „Es ist seltsam, wie gelassen die Welt die furchtbare Influenza-Epidemie, die sie während der letzten Monate heimgesucht, hingenommen hat, und wie wenig Aufsehen auch die schlimmsten Sensationsblätter von ihr gemacht haben“, kommentierten beispielsweise die Münchener Neuesten Nachrichten am 3. Januar 1919. Und in der Neuen Zürcher Zeitung hieß es am 2. März 1919: „Und wenn wir heute über etwas erstaunt sind, so sind wir es über die beispiellose Gleichmütigkeit, mit der die Menschheit diese Seuche hingenommen hat.“ Stattdessen war die Mehrheit der Bevölkerung schlichtweg damit beschäftigt, für ihr Lebensauskommen zu sorgen. Zudem verboten sich aufgrund der drängenden Notlage in der damaligen Lage Geschäftsschließungen oder auch das Zusperren von Fabriken. Ungeachtet ihrer dramatischen Begleitumstände spielte die „Spanische Grippe“ ebenfalls in den Erinnerungskulturen der betroffenen Länder eine nur marginale Rolle, ganz im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg, dessen Folgen über Jahrzehnte in den Fokus der öffentlichen Gedenkpolitik rückten. Die „Spanische Grippe“ dagegen wurde öffentlich weitaus weniger beachtet, was zum Teil auch damit zu tun hatte, dass es nahezu keine Bilder davon gab – zumindest in Europa. Man konnte die Auswirkungen der Pandemie damit nicht so stark visualisieren, wie dies heute der Fall ist.

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„Die Mortalität war erschreckend hoch“: Gruppenfoto des Reservelazaretts in Saarbrücken 1918.

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Hiermit haben wir nur wenige Gründe dafür angesprochen, warum die Corona-Pandemie in den gegenwärtigen, stark von den Medien beherrschten öffentlichen Debatten ganz anders wahrgenommen wird als ihre Vorgänger. Außerdem steigert die kommunikative Verdichtung in der Gegenwart allem Anschein nach unsere Bereitschaft, hinter den derzeitigen Geschehnissen eine fundamentale Zäsur zu vermuten. Tatsächlich zeigt jedoch die Beschäftigung mit früheren Seuchen oder Naturkatastrophen, dass sie ungeachtet ihrer oft gravierenden und langfristigen Auswirkungen meist eher schnell wieder in Vergessenheit geraten sind. So wie auch bei vielen anderen Fällen schwächte sich in der Erinnerung und historischen Deutung der zwischenzeitlich behauptete Zäsurcharakter wieder ab. Aus der Sicht eines Historikers sind diese wechselhaften Einordnungen alles andere als überraschend. Seit dem späteren 19. Jahrhundert besteht mit Gustav Droysen, einem der Gründerväter der modernen Geschichtswissenschaft, die Einsicht darüber, dass historische Zäsuren oder Epochenbegriffe nur „Betrachtungsformen sind, die der denkende Geist dem empirischen Vorhandenen gibt“, nicht Eigenschaften der Welt und der Geschichte selbst. Droysen verdeutlicht mit diesen Worten, dass die zeitgenössischen Erfahrungshorizonte und Deutungen durchaus nicht kongruent mit nachträglichen Epochen- und Zäsurbegriffen sein müssen. Ähnliches könnte sich im Hinblick auf die gegenwärtige Wahrnehmung der Corona-Krise zeigen. Denn im Gegensatz zur weltgeschichtlichen Wende von 1989/91, welche in Europa und teilweise auch in anderen Weltregionen die Gültigkeit der vorherigen Ordnungen aufhob und damit neue normative Maßstäbe des Handelns und Denkens setzte, ist dies im Zeichen der aktuellen Pandemie bislang nicht zu erkennen. Schon jetzt weisen verschiedene Stimmen in diese Richtung. So geht Volker Mosbrugger, Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung in Frankfurt am Main, davon aus, dass der Klimawandel eine weit größere Bedrohung als die Corona-Krise darstelle. Vielleicht helfen uns Einlassungen dieser Art, die gegenwärtigen Kri-

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sen-Erfahrungen vorsichtiger einzuordnen, als dies bislang der Fall ist. Ob sich damit eine historische Zäsur verknüpft, werden wir erst später feststellen können.

Nachdem die Schließung der Schulen sehr zögerlich und nach und nach angeordnet wurde, führte die rasante Ausbreitung des Virus zur Verlängerung der „Grippeferien” an allen Reutlinger Schulen.

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Wir können heute noch in keiner Weise einschätzen, ob die Corona-Pandemie singulär ist, ob sie eine grundsätzliche Zäsur bedeutet, welche Folgen sie haben wird. Aber schon jetzt ist klar, dass sie entsetzliche Opfer fordert und massive Einschränkungen erfordert. Vielleicht bietet das Innehalten, der erzwungene Stillstand aber auch eine Chance: unser Verhalten zu überdenken, neue Wege zu gehen, nachhaltige Kurskorrekturen vorzunehmen. Der zweite Teil der „Corona-Stories“ versammelt in großer Breite unterschiedliche Einschätzungen der Situation, kritische Einwürfe und konstruktive Ausblicke.

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ÉTIENNE FRANÇOIS: EINE KRISE OHNE BEISPIEL?

Die weltweite Corona-Krise beeindruckt nicht nur als reales Faktum, sondern auch hinsichtlich ihrer präzisen statistischen Erfassung, mit der wir tagtäglich konfrontiert werden. Seit sie nicht nur in China auftritt, sondern auch in Europa, den Vereinigten Staaten und den meisten Ländern dieser Erde, ist sie fast das einzige Thema in den Informationsmedien. Wir begegnen ihr mit einer Mischung aus Faszination und phobischer Angst, die dem Verhalten von Tieren ähnelt, die sich von Schlangenaugen hypnotisieren lassen. Diese Krise geht einher mit der allgemein verbreiteten Überzeugung, die auch von den Medien wie von Verantwortungsträgern bekräftigt wird, es handle sich um eine nie da gewesene, eine einzigartige und unvergleichliche Krise.1 * Als Historiker, der sich in der zweiten Hälfte seines Lebens auf die Geschichte von Gedächtniskulturen spezialisiert hat, überrascht mich die ausgeprägte emotionale und existenzielle Dimension der gegenwärtigen Krise. Sie wird ja, wie Staatspräsident Macron das formuliert hat, als Krieg zwischen Leben und Tod wahrgenommen. Das erklärt auch, weshalb die Vergleiche, die uns spontan einfallen, Teil des „kommunikativen Gedächtnisses“ sind, das unser eigenes Gedächtnis und das unserer Eltern, allenfalls noch das unserer Großeltern umfasst. In diesem Gedächtnis sind die herausragenden Beispiele von dramatischen Anstiegen der

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Sterblichkeitsrate zunächst die beiden Weltkriege (20 Millionen im Ersten und 55 Millionen im Zweiten Weltkrieg). Diese Erinnerung wird nicht zuletzt deswegen heraufbeschworen, weil das heutige Europa sich als Kontinent versteht, auf dem seit 1945 Frieden herrscht. Dagegen findet sich nur eine einzige Epidemie in unserem kommunikativen Gedächtnis, nämlich die von 1918 bis 1920 grassierende „Spanische Grippe“. Diese war eine globale Pandemie mit extrem hohen Sterblichkeitsraten. Laut Institut Pasteur forderte sie zwischen 20 und 50 Millionen Todesopfer. Andere Forscher gehen sogar von einer Mortalität von 2,5 bis 5 % der Weltbevölkerung aus. Die Besonderheit und vor allem das ganze Ausmaß dieser Pandemie traten allerdings erst im Nachhinein ins Bewusstsein der Menschen.2 Die auch schon von Asien ausgehende „Hongkong-Grippe“ der Jahre 1968–1970, der mindestens eine Million Menschen zum Opfer fielen, ist mittlerweile vollständig vergessen. Die Tatsache, dass die Corona-Epidemie als apokalyptischer Kampf zwischen Leben und Tod aufgefasst wird, liefert die Erklärung dafür, dass auch die überall ergriffenen Maßnahmen ihrerseits als „unvergleichlich“ wahrgenommen werden. Zugleich wird dadurch verständlicher, weshalb so wenige Beobachter – zu denen beispielsweise die deutsche Journalistin Elisabeth von Thadden und die französische Journalistin Caroline Lachowsky zählen – sich dem Denken im unmittelbaren Präsens, in den Kategorien der „Ereignisgeschichte“ (in der Begrifflichkeit Ferdinand Braudels), entziehen konnten.3 Vor dieser Krise dachte ich, die mit Epidemien in Zusammenhang stehenden großen demografischen Krisen der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit gehörten einer weit entfernten, längst abgetanen Vergangenheit an und hätten deshalb nur einen sehr geringen Einfluss auf unsere Erinnerung. Doch mit dem Ausbruch der Corona-Krise in Europa ab etwa Mitte März meldete sich in meinem Bewusstsein in gewissermaßen Proust’scher Weise immer drängender das zu Wort, was mich während meines Studiums begeistert hatte und was ich dann auch in den ersten beiden Jahrzehnten meiner Tätigkeit als Historiker in

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Frankreich und Deutschland praktiziert habe. Ich hatte ja das Glück, in einer Zeit zu studieren, in der die französische Historiografie dank der „Annales“-Schule mit ihren Idealen einer „totalen Geschichte“4 und der „langen Dauer“ ausgesprochen innovativ war. Dies ging einher mit besonderer Kreativität auf zwei Gebieten, zum einen der „historischen Demografie“ und zum anderen der Sozial- und Mentalitätsgeschichte. Erstere war vorwiegend quantitativer Natur, die zweite eher qualitativ ausgerichtet und ebenso sehr von der Soziologie wie von der Anthropologie beeinflusst. Diese Wiederkehr meiner alten Hauptinteressensgebiete weckte in mir das Bedürfnis, in Gestalt eines Essays die Epidemien von einst, die des Mittelalters und der Neuzeit in Europa, mit der jetzigen, unmittelbar erlebten zu vergleichen, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Faktizität als auch in Bezug auf ihre Wahrnehmung und die von dieser ausgelösten Reaktionen. Dies war verbunden mit der Hoffnung, dass das „Einst“ es uns erlauben würde, die „Gegenwart“ besser zu verstehen, und dass das bessere Verständnis der Gegenwart wiederum helfe, das „Einst“ besser zu verstehen, auch wenn mir klar ist, dass Vergleichen nicht gleich Verstehen bedeutet. * Mein erster Schluss aus diesem Langzeit-Vergleich ist die Feststellung, dass die gegenwärtige Krise verhältnismäßig wenig Todesopfer fordert. Wenn man den von den Medien gelieferten Statistiken trauen darf, hat das Coronavirus bis zum 4. Juni 2020 etwas mehr als 386 000 Todesfälle verursacht.5 Diese Statistiken sind keineswegs endgültig, denn die Bedingungen ihrer Erhebung sind teilweise intransparent – so hat es erst vor Kurzem eine Korrektur der chinesischen Statistik nach oben gegeben –, und nicht zuletzt stehen wir noch am Anfang einer Verbreitung des Virus, die im Dezember 2019 begonnen hat und deren Ende nicht absehbar ist. Doch selbst wenn wir von 500 000 Toten der gegenwärtigen Epidemie ausgehen, liegen wir damit noch weit unterhalb der Anzahl der Opfer

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der „Spanischen Grippe“ vor einem Jahrhundert, um 50% auch unterhalb der „Hongkong-Grippe“ (1968–1970), ganz zu schweigen von der „großen Pest“, die zwischen 1348 und 1350 einem Drittel der Bevölkerung der lateinischen Christenheit den Tod gebracht haben dürfte.6 Ganz zu schweigen auch von den Europa bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts immer wieder heimsuchenden großen Pest-Epidemien.7 Diese wirkten besonders verheerend, wenn sie zusammen mit Kriegen und Hungersnöten auftraten, wobei Letztere ihrerseits direkte Folgen von Kriegen waren, oder von mehreren aufeinanderfolgenden Missernten, aber auch einer demografischen Dichte, die die Nahrungsmittelproduktion einer Region überstieg. Eine Ursache konnten auch Klima-Veränderungen sein, wie etwa die „kleine Eiszeit“, die 1550 einsetzte und ihren Tiefpunkt in der zweiten Hälfte des 17. und im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts erreichte, bzw. auf der Gegenseite das „mittelalterliche KlimaOptimum“ vom 10. bis 14. Jahrhundert, das besonders Nordeuropa begünstigte.8 Wir dürfen auch die latenten und sich wiederholenden Epidemien nicht vergessen, allen voran die Pocken-Epidemien, die mehr oder weniger alle zehn Jahre auftraten und einen Mortalitätsschub auslösten, den Pierre Goubert erstmals für die Stadt Beauvais und ihr Umland im 17. Jahrhundert untersuchte.9 Die Pest dürfte zwischen 1629 und 1631 mehr als eine Million Opfer gefordert haben. Das bedeutet ein Viertel der Bevölkerung Norditaliens, mit Mortalitätsspitzen in den Städten der Lombardei und Venetiens, was dieser Epidemie den Beinamen „Große Mailänder Pest“ eintrug. Vor allem in Italien ist sie deswegen bekannt, weil auf ihr Alessandro Manzonis historischer Roman „I Promessi Sposi“ („Die Brautleute“, bzw. „Die Verlobten“, Endfassung 1840–42) beruht, der als erstes Beispiel des modernen italienischen Romans gilt und dessen Bedeutung und Ausstrahlung vergleichbar mit der von Dantes „Göttlicher Komödie“ ist. Ein anderes Beispiel in Deutschland ist die Freie Reichsstadt Augsburg, die durch ihren Handel und ihre Textilindustrie besonders eng mit Nord-Italien verbunden war. Augsburg hatte zu Beginn des 17. Jahrhun-

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derts ca. 45 000 Einwohner. Damit war es aufgrund seiner wirtschaftlichen Dynamik die bei Weitem größte Stadt Süddeutschlands und die viertgrößte des Heiligen Römischen Reichs, nur knapp hinter Wien, Prag und Danzig. Während des Dreißigjährigen Kriegs wurde die Stadt zu einem Hauptziel der Krieg führenden Parteien und als solches in den Jahren 1627–1628, 1632–1635 und 1646–1648 Opfer von drei dramatischen demografischen Krisen, die zum Tod von 34 000 Menschen führten, was einen Bevölkerungsverlust von 60% bedeutete. Im Oktober 1635 hatte Augsburg noch 16 432 Einwohner und nach Kriegsende bestand seine Bevölkerung aus 19 000 bis 20 000 Einwohnern. Pest und Krieg bedeuteten des Weiteren für diese Stadt einen nicht minder großen wirtschaftlichen und finanziellen Schock. Zwischen 1610 und 1650 verneunfachten sich ihre Schulden und das Steueraufkommen ging um 75% zurück, während sich die Zahl der Steuerzahler lediglich halbierte. Im folgenden Jahrhundert erholte Augsburg sich vollständig in wirtschaftlicher Hinsicht, nicht aber in demografischer: In den Jahren 1760–1769 zählte die Stadt ca. 30 000 Einwohner, und noch bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts stieg diese Zahl nicht an. Grund waren weitere Krisen nach dem Dreißigjährigen Krieg in den Jahren 1693–1695 und 1703–1704 sowie weniger schlimme Epidemien in den Jahren 1728– 1729 und 1741–1743 und schließlich 1771–1772.10 Ende des 18. Jahrhunderts gab es die ersten Impfungen. Dann kamen die medizinischen Entdeckungen von Louis Pasteur, Robert Koch und Alexandre Yersin (vom Institut Pasteur), der 1894 den Pest-Bazillus identifizierte. Vor Entwicklung der Impfungen kam es, abgesehen von den Pest genannten riesigen Krisen, zu latenten und regelmäßig wiederkehrenden Epidemien wie Typhus, Ruhr und Pocken. Das bekannteste französische Beispiel ist Ludwig XV., der 1744 nach Metz ging, um seine Truppen im österreichischen Erbfolgekrieg zu befehligen, und dort schwer erkrankte, unter hohem Fieber litt, das rasch als unheilbar diagnostiziert wurde. Er erhielt die letzte Ölung, genas aber wider Erwarten und gelobte daraufhin, der Heiligen Genoveva in Paris eine Kirche zu

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errichten, das heutige Pantheon. Außerdem schickte er auf Verlangen seines Beichtvaters seine Mätresse, die Gräfin von Châteauroux, die ihn nach Metz begleitet hatte, zurück nach Paris. Dies trug ihm den Beinamen der „Vielgeliebte“ ein. Kurz danach legte er sich freilich neue Mätressen zu, allen voran Madame de Pompadour, und starb 30 Jahre später, am 10. Mai 1774, an einer anderen Epidemie, den Pocken. Die Demografie-Historiker gehen davon aus, dass die Mortalität vom 16. bis zum 18. Jahrhundert in normalen Zeiten bei 40 von 1000 lag, was das Vierfache der heutigen Rate bedeutet. Nur jeder zweite Neugeborene erreichte das Erwachsenenalter, die Lebenserwartung lag bei ca. 30 Jahren. Anders gesagt: Der Tod war damals allgegenwärtig. Der Unterschied zwischen den mittelalterlichen wie neuzeitlichen Epidemien und der gegenwärtigen Corona-Pandemie ist also beträchtlich. Das schließt freilich Gemeinsamkeiten nicht aus. Gemeinsam ist ihnen zunächst einmal, dass sie eine weltweite wie regionale Dimension aufweisen. Die „Schwarze Pest“ ging von Asien aus und kam auf der Seidenstraße nach Europa. Erstmals trat sie dort in Kaffa (heute Feodossija) auf, der Hafenstadt der Genueser auf der Krim. Für ihre weitere Verbreitung sorgte zunächst einmal der maritime Austausch. Europa suchte sie vom 14. bis zum 18. Jahrhundert heim, wütete aber auch in der muslimischen Welt, in der Region des „Fruchtbaren Halbmonds“, und breitete sich in allen Anrainerländern des Mittelmeers aus. Des Weiteren führten die mit der Ankunft der ersten Europäer in Amerika und mit dem Beginn der Eroberung Mittel- und Südamerikas in die Neue Welt verschleppten Krankheiten (Grippe, Pest, Pocken) zur Dezimierung von 90% der präkolumbianischen Bevölkerung, die gegen sie nicht immunisiert war. Dieser dramatische Bevölkerungsschwund erleichterte die Eroberung Mittel- und Südamerikas durch Spanier und Portugiesen. In der Karibik, die ihrerseits von Niederländern, Engländern und Franzosen erobert wurde, ging die Bevölkerung so stark zurück, dass die Entwicklung dieser Länder, eigentlich ideale Standorte für Zuckerrohr, aber auch für Tabak und Kaffee, zunächst nicht möglich war. Da der Anbau

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dieser Pflanzen auf reichlich vorhandene Arbeitskräfte angewiesen ist, wurden Sklaven aus Afrika importiert, wodurch der europäische Sklavenhandel wesentliche Initialimpulse erhielt.11 Die zweite Gemeinsamkeit besteht darin, dass die Pest vor allem in den dicht besiedelten, verstädterten und vom Handel geprägten Gegenden wütete, die zumindest teilweise denjenigen entsprechen, die man heute als den westeuropäischen Halbmond betrachtet. Dieses Gebiet erstreckte sich von Südengland (mit London) über die Vereinigten Provinzen (Niederlande) und Nordost-Frankreich (mit Paris), das Rheintal im weiten Wortsinn (bis hin zu Frankfurt im Osten), Süddeutschland, Tirol und die Schweiz bis nach Norditalien (Mailand, Genua und Venedig). Das deckt sich weitgehend mit dem Verbreitungsgebiet des Coronavirus im heutigen Europa.12 Es gibt also eine Kontinuität, die zudem mit einem für das Mittelalter, die Neuzeit und unsere Gegenwart charakteristischen Phänomen verbunden ist: Für all diese Zeiten gilt, dass die geografische Verteilung der Infektions- und Sterblichkeitsraten infolge dieser Epidemien nichts mit der einstigen oder gegenwärtigen politischen Geografie Europas zu tun hat. Nationale Vergleiche der Sterblichkeitsraten, wie sie derzeit insbesondere in Europa angestellt werden, sind daher irreführend. Die Verteilung der Infektions- und Sterblichkeitsraten ist kein nationales, sondern vor allem ein regionales und lokales Phänomen. Insofern hat die sehr präzise Untersuchung der Ausbreitung des Coronavirus im Bezirk Rheinsberg (Nordrhein-Westfalen), westlich von Köln, exemplarischen Charakter. Die dritte Gemeinsamkeit besteht darin, dass die Epidemie überall dort, wo sie sich ausbreitete, die wirtschaftlichen und sozialen Gegensätze der jeweiligen Gesellschaft verschärfte, sie wie mit einer Lupe vergrößerte. Die Karte über die Verteilung der Pest-Toten im Zeitraum zwischen Juli und Oktober 1668 in Pierre Deyons Habilitationsschrift über die Geschichte von Amiens im 17. Jahrhundert verdeutlicht die Unterschiede zwischen den Vierteln der Reichen und Wohlhabenden mit ihrer unterdurchschnittlichen Sterblichkeitsrate und den dicht bevölkerten,

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armen und ungesunden Vierteln, in denen die Pest wütete.13 Alle halbwegs einschlägigen Untersuchungen, die seit Beginn dieses Jahres zu der Verbreitung und den Auswirkungen der Corona-Epidemie vorgelegt wurden, weisen in die gleiche Richtung, ob sie sich nun mit einem Vergleich von Ländern nach ihrem jeweiligen Reichtum und ihrer medizinischen bzw. Krankenhaus-Infrastruktur oder aber mit den unterschiedlichen Infektions- und Sterblichkeitsraten in Abhängigkeit von Geschlecht, Alter, Lebensstandard, sozioprofessioneller Zugehörigkeit oder (Über-)Gewicht befassen.

* Ein erster Vergleich der Epidemien von einst und jetzt im Hinblick auf ihren faktischen Verlauf weist zwar einige Gemeinsamkeiten auf, vor allem aber wesentliche Unterschiede, von denen zumindest in statistischer Hinsicht der äußerst glimpfliche Verlauf der gegenwärtigen Pandemie den augenfälligsten darstellt. Dabei darf man aber nicht stehen bleiben, wenn man verstehen will, womit man es bei den Epidemien von einst und denen von heute zu tun hat. Es gilt, die Initiativen und Reaktionen zu berücksichtigen, die zu ihrer Eindämmung bzw. Beendigung ergriffen wurden, sowie ihre Wahrnehmung und Deutung einst und jetzt, schließlich auch ihre mittel- und langfristigen Auswirkungen. Dieser zusätzliche Vergleich muss vorgenommen werden, kann bislang aber lediglich ansatzweise realisiert werden. Zwar wissen wir über alle Aspekte einstiger Infektionen recht gut Bescheid, stehen derzeit aber erst am Anfang einer Epidemie, deren weitere Entwicklung sich unserer Kenntnis gänzlich entzieht. Wir sind dabei zugleich Teilnehmer und Beobachter, und vieles spricht dafür, dass – wie Marx im Hinblick auf die Französische und die 1848er-Revolution festgestellt hat – unser tatsächliches Tun sich von dem unterscheidet, was wir uns einbilden und vorstellen. Es heißt also, höchste Vorsicht walten zu lassen.

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Ich sehe, um es vorneweg in Gestalt einer schlichten Hypothese zu formulieren, nur zwei allgemeine Gemeinsamkeiten und eine konkrete Kontinuität zwischen einst und jetzt. Die erste Gemeinsamkeit besteht darin, dass die früheren wie die heutigen Gesellschaften den Ausbruch von Epidemien und die ersten Todesfälle zu spät begriffen und thematisiert haben. Sie wurden dann von Angst und Schrecken, ja von Panik erfasst, und diese Reaktion hat umgehend dazu geführt, dass die Zeit und die ganze restliche Wirklichkeit ausgeklammert wurden. Die Krise wurde als plötzlicher Normalitätsbruch betrachtet und als ebenso dramatische wie tiefgehende Umwälzung der Wirtschaft, der Gesellschaft, der politischen Macht und der Kultur sowie des persönlichen und familiären Schicksals. Die zweite allgemeine – und, ehrlich gesagt, reichlich banale – Feststellung besagt, dass die betroffenen Gesellschaften, einst wie heute, auf allen Ebenen nur ein Ziel im Auge hatten bzw. haben, nämlich das, die Epidemie so rasch und so gründlich wie möglich zu stoppen. Diesem Zweck dienten zunächst einmal Appelle an Sauberkeit und Hygiene, die Reinigung der Häuser, die Bekämpfung der Ratten und das Verbrennen von möglicherweise infizierten Kleidungsstücken und Gegenständen sowie eine heute wie einst angewendete Praxis, nämlich der Rückzug auf sich selbst, die Abriegelung gegenüber Nachbarregionen und vor allem die Quarantäne, also das Einschließen von potenziellen (von der Pest) Infizierten an einem separaten und hermetisch abgeriegelten Ort. Diese Quarantäne-Standorte lassen sich mit den Orten – im Wortsinne regelrechten Konzentrationslagern – vergleichen, an denen man im Europa des Mittelalters und der Neuzeit die Lepra-Kranken wegsperrte. Die auf diese Art Eingeschlossenen erhielten Nahrung von außen, die Kranken ließ man ohne Kontakt mit der Außenwelt sterben und die Überlebenden durften erst nach Ende der Epidemie wieder herauskommen.14 Im Französischen ist das Wort „Quarantaine“ ab 1180 belegt und bezeichnete damals die vierzig Fastentage. Im Zusammenhang mit der „Großen Pest“ erhielt das Wort in Italien seinen heutigen Sinn und wie die Pest, die sich damit eindämmen ließ, verbreitete es sich in dieser Bedeutung in ganz Europa und darüber hinaus.15

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Die Quarantäne ist meines Erachtens das stabilste der genannten Phänomene. Sie bestätigt, dass die Vergangenheit, wie Proust sagt, keine flüchtige Erscheinung ist, denn sie bleibt an Ort und Stelle. Ja, mehr noch, um weiterhin mit Proust zu sprechen: „Die Leute vergangener Zeiten kommen uns unendlich fern vor. Wir wagen nicht, tiefere geistige Richtungen bei ihnen anzunehmen außer denen, die sie förmlich ausdrücken; […] es wundert uns, wenn wir bei einem Helden Homers ein Gefühl antreffen, das den unsern annähernd gleicht, […] wir stellen uns diesen epischen Dichter […] so entfernt von uns vor, wie ein Tier, das wir in einem zoologischen Garten sehen.“16 Die fast diametralen Gegensätze zwischen „einst“ und „heute“ überwiegen jedenfalls deutlich. Seit dem chinesischen Neujahrsfest (25. Januar 2020) und dem Ausbruch der Pandemie in Europa und den Vereinigten Staaten, gibt es überall eine alles beherrschende Priorität: „alles, was Menschen gefährden könnte, alles, was dem Einzelnen, aber auch der Gemeinschaft schaden könnte, das müssen wir jetzt reduzieren“, um aus der Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 18. März 2020 zu zitieren. Es galt also, mit größtmöglicher Effizienz die Verbreitung des Virus zu verlangsamen, um so eine Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden. Das bedeutete das Befolgen der Empfehlungen von medizinischen und naturwissenschaftlichen Experten, eine Erweiterung der Kapazitäten der sanitären Infrastruktur, die Intensivierung der Erforschung des Virus mit dem Ziel der Entwicklung wirksamer Medikamente und eines Impfstoffs. Das Zuhause-Bleiben wurde zur allgemeinen Regel. Im Gegenzug wurden alle möglichen Kredite geradezu grenzenlos zur Verfügung gestellt, um einerseits die genannten Maßnahmen zu finanzieren und andererseits die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Krise abzufedern. All diese Entscheidungen beruhten auf drei tief verankerten und als evident betrachteten Überzeugungen: 1. Die Rettung kommt von der Wissenschaft, 2. Der wichtigste Akteur ist der Nationalstaat und 3. Der Tod, der allem ein Ende setzt, ist ein absolutes Übel; es muss also alles

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getan werden, um ihn in Schranken zu halten und so lange wie möglich hinauszuschieben. Im Mittelalter und bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts unterschieden sich die Wahrnehmung von Epidemien, die Gegenmaßnahmen und generell die Auffassung der weit schwereren Krisen, wie sie die Pest und andere Pandemien auslösten, grundlegend von den unseren, wenn man einmal von der Quarantäne absieht, ja sie bilden einen radikalen Gegensatz. Man ergriff durchaus medizinische Maßnahmen über die Quarantäne hinaus, wie etwa den Aderlass oder die Verabreichung von Medikamenten auf pflanzlicher Basis. Deren Wirksamkeit war freilich begrenzt, zumal man keine rechte Kenntnis von den Ursachen der Pest und von den Arten ihrer Übertragung hatte. Parallel zu ihnen griff man daher auch zu einer Vielzahl magischer Praktiken.17 Die Tatsache, dass sich das Wissen in so engen Grenzen hielt, erklärt auch, weshalb früher so unvergleichlich viel mehr Menschen an diesen Epidemien starben. Sie lässt uns auch verstehen, weshalb eine derartige Panik die Bevölkerung des von der Pest heimgesuchten christlichen Abendlands erfasste. Diese Panik war auch deswegen so groß, weil zum einen jede einzelne Familie unmittelbar betroffen war und zum Teil durch den Tod aufgelöst wurde (etwa so wie das in den vom Zweiten Weltkrieg besonders hart betroffenen Ländern der Fall war, also Polen, der westliche Teil der Sowjetunion, Jugoslawien und China), zum anderen, weil die Christen und die Verantwortlichen der Kirche damals davon überzeugt waren, dass die Pest und die anderen Epidemien die Strafe Gottes für ihre Sünden waren. Man bezog sich dabei auf Bibelstellen, in denen die Rede von den Dramen ist, die vor dem Jüngsten Gericht und der Wiederkehr Christi über die Menschen kommen würden, vor allem aber auf die zahlreichen Beispiele für Strafen Gottes im Alten Testament.18 Jean Delumeau hat in seinem großen Buch über die Angst im Abendland diese Paniken, die zur Suche nach Schuldigen und Sündenböcken sowie zum Ausbruch von blutigen Exzessen gegen diese führten, einge-

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hend beschrieben, nachvollziehbar gemacht und hervorragend analysiert.19 Am meisten davon betroffen waren die Juden, denen schon die Schuld an Ausbrüchen der Lepra, erst recht aber an der Großen Pest zugeschrieben wurde. Sie hätten sich gegen die Christen verschworen und die Trinkbrunnen vergiftet. Obwohl der Papst in seiner Bulle vom Juli 1348 diesen Verschwörungsvorwurf als „infam“ bezeichnet und die Verfolgung von Juden aus diesem Grund untersagt hatte, nahmen die gewaltsamen Übergriffe auf sie solche Ausmaße an, dass dies zum Untergang zahlreicher jüdischer Gemeinden in Europa führte. In Straßburg wurden am 13. Februar 1349 zwischen 900 und 2000 Juden auf dem Scheiterhaufen verbrannt. In Nürnberg wurden im Dezember 1 359 562 von ihnen ermordet, und ein gutes Jahrhundert später wurde das Judenviertel dieser Stadt zerstört und durch den Hauptmarkt ersetzt, an dessen Rand anstelle der früheren Synagoge eine „Unserer lieben Frau“, also der Jungfrau Maria, gewidmete Kirche errichtet wurde.20 Ab dem 16. Jahrhundert ging die Gewalt gegen Juden in Pestzeiten stark zurück und mehrere süddeutsche Städte öffneten ihnen sogar die Tore, um jüdischen Gemeinden auf dem Lande eine Zuflucht zu bieten. Seit dem Ende des Mittelalters und bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der Hass auf vermeintlich Schuldige hingegen auf Hexer und vor allem auf Hexen übertragen. Ihnen warf man vor, mit dem Teufel im Bund zu stehen, um in ihrem Umkreis den Tod zu verbreiten.21 Zwar verbreitete die Furcht vor dem Tod infolge einer unkontrollierten Epidemie gestern wie heute Angst und Schrecken, doch unterscheidet sich das Bild vom Tod in Mittelalter und Neuzeit grundlegend von unserem. Dieser Gegensatz ist vor allem religiös begründet. Im heutigen Europa glaubt nur noch eine kleine Minderheit an die Auferstehung Christi, daran, dass sie „die Gemeinschaft der Heiligen, die Vergebung der Sünden, die Auferstehung der Toten und das ewige Leben“ (wie es im christlichen apostolischen Glaubensbekenntnis heißt)22 bedeutet. Man darf wohl dieser Minderheit noch die Menschen hinzufügen, die laut

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Umfragen des „European Values Survey“ an ein Leben nach dem Tod glauben, auch wenn das oft reichlich vage ist. Damit kam man im Jahr 1990 in neun europäischen Ländern auf insgesamt 45%, also keine Mehrheit. Dies war im einstigen christlichen Abendland ganz anders. Die Grundlage der Lehre der Kirche, ihrer Theologie, Liturgie und Seelsorge besteht darin, dass Jesus, dessen Leidensgeschichte besonders dramatisch war, von allen verlassen freiwillig den Tod auf dem Kreuz auf sich nahm und drei Tage später wieder auferstanden ist. Seit ihren Anfängen ist es die Lehre der christlichen Kirche, dass der auferstandene Christus sich seinen Aposteln (auch Thomas, der an seiner Auferstehung zweifelte) und vielen weiteren Anhängern gezeigt hat, allen voran Maria Magdalena, dass er „durch seinen Tod […] unseren Tod vernichtet“ und „durch seine Auferstehung das Leben neu geschaffen“ hat,23 dass er zum Himmel aufgefahren ist, zur Rechten Gottes sitzt und dass durch sein Opfer, durch die „frohe Botschaft“, die er uns gebracht hat, und dank seiner Kirche Tod und Teufel besiegt sind, dass alle Menschen erlöst werden und das Paradies allen offensteht (insbesondere dann, wenn man in Treue und Glauben stirbt – wobei nicht zu vergessen ist, dass beide Wörter in den romanischen Sprachen auf ein und dieselbe lateinische Wurzel zurückgehen).24 Dieser Kontext erklärt, weshalb die einstigen Bewohner von pestinfizierten Städten auf zweierlei komplementäre Weisen reagierten. Die eine bestand naturgemäß darin, so schnell wie möglich die Städte zu verlassen und außerhalb Zuflucht zu suchen, so wie das in Boccaccios „Decamerone“ bei den sieben jungen Frauen und den drei jungen Männern der Fall war, die im Frühjahr und Sommer 1348 Florenz verließen. Die andere bestand aus immer mehr Bußgottesdiensten, Rosenkränzen, Prozessionen, Büßer-Brüderschaften (vor allem in Südeuropa und Spanien), Gottesdiensten insbesondere zu Ehren Marias und der Heiligen (allen voran der heilige Rochus und der heilige Sebastian), um ihren Beistand zu erbitten und die Barmherzigkeit Gottes zu erlangen, aus Pilgerfahrten und schließlich aus Gelübden, in denen die Einwohner eines Dorfs oder

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einer Stadt Gott gegenüber Verpflichtungen eingingen, um im Gegenzug vor der Pest geschützt zu werden oder gar deren Ende zu erreichen.25 Dies ließe sich anhand unzähliger Beispiele exemplifizieren. Ich will mich hier auf drei besonders bekannte beschränken. Das erste ist die beeindruckende Basilika Santa Maria della Salute in Venedig, die aufgrund eines Gelübdes des Dogen der Stadt errichtet wurde, der Gott um die Beendigung der Pest bat, die seit 1630 die Stadt heimsuchte und zum Tod eines Drittels der Bevölkerung geführt hatte. Das zweite sind die zahlreichen Pestsäulen, deren Vorbild die im Jahr 1679 auf dem Stadtgraben von Wien errichtete barocke Säule ist. Sie wurde geschaffen, um der Vorsehung für das Ende der Pest zu danken. Sie ruht – wegen des Bezugs zur Dreieinigkeit – auf einem dreiteiligen Sockel, und wird gekrönt von einer Marienfigur. Auf derartigen Säulen sind regelmäßig auch Darstellungen der Heiligen zu finden, zu denen man betet, um vor der Pest geschützt zu werden (der heilige Rochus, der heilige Sebastian und die heilige Rosalie). Neben ihnen stehen oft Pestkreuze, die das Ensemble vervollständigen. Man findet sie vor allem in Gegenden, die unter Herrschaft der Habsburger standen, von Süddeutschland über Österreich, Ungarn, Böhmen, die Slowakei bis nach Rumänien. Das dritte Beispiel ist das Gelübde der Einwohner der bayerischen Gemeinde Oberammergau, die ihrerseits im Jahr 1633 von der Pest heimgesucht wurde. Sie gelobten, alle zehn Jahre ein „Spiel vom Leiden, Sterben und Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus“ aufzuführen, wenn der Allmächtige das Unheil von der Gemeinde abwende. Tatsächlich führt die Gesamtheit der Einwohner Oberammergaus seither alle zehn Jahre dieses Stück auf. Dieses Jahr wurde es allerdings wegen des Coronavirus auf 2022 verschoben.26 Neben derartigen Verhaltensweisen gab es aber auch, und zwar schon seit Langem, eine Vielzahl religiöser Praktiken, die sich allmählich herausbildeten und die es ermöglichen sollten, dass die Getauften bei ihrem irdischen Tod, wie man glaubte, gerettet würden, in den Himmel aufsteigen und ins Paradies eingehen könnten. Das erste Verfahren dieser

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Art sind die Sakramente, angefangen mit dem der Taufe, das auf die Urkirche zurückgeht. Die Taufe wurde lange vorzugsweise den Erwachsenen erteilt, nun aber schnell den Neugeborenen unmittelbar nach ihrer Geburt (als Reaktion auf die hohe Säuglingssterblichkeit, damit die Neugeborenen, die in den ersten Tagen oder Wochen ihres Lebens sterben würden, direkt ins Paradies kämen). Ähnliches gilt für die Sakramente der Buße, folglich der Vergebung der Sünde, der Eucharistie, also der Gemeinschaft der Gläubigen mit Gott, und schließlich der Letzten Ölung, die auch den Beinamen „letztes Sakrament“ trägt. Die Entstehung dieses Sakraments reicht bis ins 3. Jahrhundert zurück, seine wesentliche Prägung erhielt es zu karolingischer Zeit. In Verbindung mit einer letzten Beichte und einer letzten Eucharistie, die den Namen „Wegzehrung“ trägt, gewährleistet es das Heil der Seele nach dem Tod.27 All dies wurde jahrhundertelang durch Predigten, Lesungen, rituelle Gebete und die Liturgie verbreitet, sodass diese Glaubensinhalte für die meisten Christen des Mittelalters und der Neuzeit zu absoluten Wahrheiten geworden waren. Ihre Akzeptanz wurde durch verschiedene Ergänzungen zusätzlich erhöht. Dazu zählt etwa der Glaube, dass Neugeborene, die starben, bevor sie getauft werden konnten, unmittelbar in den Limbus, den limbus puerorum, kämen, eine Art Zwischenstadium zwischen Hölle und Paradies; auch wurden zahlreiche Kirchen sogenannte Gnadenorte errichtet (beispielsweise die gotische Basilika Notre Dame d’Avioth im Departement Meuse). Diese waren größtenteils der Jungfrau Maria gewidmet, der als Mutter die wichtigste Mittlerfunktion zukommt. Dort wurden auf die Altäre tote Neugeborene gelegt, die dann auf wunderbare Weise erwachten, getauft wurden und so in einem Stand starben, in dem sie ins Paradies kommen konnten.28 Eine weitere wichtige Erweiterung der Möglichkeiten, der Hölle selbst dann zu entgehen, wenn man im Stand der Sünde starb (sofern es sich nicht um eine Todsünde handelte), stellte das Purgatorium, das Fegefeuer, dar.29 Von ganz entscheidender Bedeutung ist schließlich die Forderung, ein Leben in Beachtung der Gebote Gottes und der Kirche zu

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führen. Diese Forderung erreichte in Frankreich im 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Zu dieser Zeit betonte man ständig, dass der Sinn des Lebens darin bestünde, sich auf den Tod vorzubereiten, etwa durch die ars moriendi. Krankheiten, die zum Tod führen konnten, galten in dieser Auffassung als Proben, die halfen, dem Beispiel Hiobs zu folgen, seinen Glauben zu stärken und in jeder Lebenslage zum Sterben bereit zu sein, zumal Christus selbst ja gesagt hatte, dass er heimlich wie ein nächtlicher Dieb wiederkommen werde: „Darum seid jederzeit bereit, denn der Menschensohn wird zu einer Stunde kommen, wenn ihr es nicht erwartet“ (Matth. 24, 44).30 Die Sakralkunst spielte eine entscheidende Rolle auf diesem Gebiet.31 Schon lange vor der Großen Pest waren die Passion Christi, seine Auferstehung und Glorifizierung neben Gott und dem Heiligen Geist Gegenstand bildlicher Darstellung, in Gestalt von Reliefs auf den Tympanoi (Giebelfelder) der Kathedralen und vieler Kirchen sowie in deren Innerem in Form von Fresken, Fenstern und Altären. Gleiches gilt für Tod und Auferstehung der Jungfrau Maria sowie der der fünf „törichten“ und der fünf „klugen Jungfrauen“ des Gleichnisses im Evangelium des Matthäus, das die Christen daran erinnerte, dass sie ständig bereits sein mussten, Christus zu empfangen, wenn dieser sie heimholen würde. Die Große Pest und die anderen Epidemien, die die christliche Welt bis zum 18. Jahrhundert heimsuchten, brachten andere, diesem neuen Kontext angepasste Formen sakraler Kunst hervor. Dazu zählen die Totentänze, die im 14. und 15. Jahrhundert in großer Zahl entstanden, wie etwa derjenige, der 1424 auf einer Mauer des „Cimetière des Innocents“, des Pariser „Friedhofs der Unschuldigen (Kinder)“ vollendet wurde und sich an einen Stich des selbst von der Pest dahingerafften Johan Le Fèvre anlehnt. Diese Darstellungen sollten deutlich machen, dass alle Menschen sterblich und zu einem erbärmlichen Tod verdammt sind, vom Papst über Kaiser und Könige bis zu den Ärmsten der Armen. In diesem Kontext stehen auch die zahlreichen Skulpturen, Fresken und Bilder dieser Epoche, die vor allem die Passion Christi, seine Geißelung,

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seine Verhöhnung mit der Dornenkrone, seinen Kreuzweg, seine Kreuzigung, seinen Tod und seine Grablegung darstellen. Dies gilt auch für Dantes „Divina Commedia“, für den außergewöhnlichen Genter Altar der Brüder van Eyck (1432) mit der Darstellung der Verehrung des Lamms Gottes in der Sankt-Bavo-Kathedrale, den Isenheimer Altar von Matthias Grünewald (entstanden von 1506 bis 1515), der auf der einen Seite die blutige Leidensgeschichte und den Tod Jesu darstellt, ein wenig in der Art eines Films von Scorsese, auf der anderen und im Kontrast dazu seine Auferstehung und strahlende, ja blendende Glorifizierung. Ein weiteres Beispiel sind die vier ähnlichen Bilder einer büßenden Maria Magdalena, die Georges de la Tour zwischen 1638 und 1640, also zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs und der Pest, geschaffen hat. Die Büßerin meditiert und betet hier alleine, einen Totenkopf im Schoß, vor einer in der Bildmitte platzierten Kerze, die die ganze Szene sowie die Heiligen Schriften auf dem Tisch erleuchtet. Erinnert sei auch noch an die Requiems von Mozart über Berlioz, Verdi, Dvořák, Saint-Saëns bis Messiaen (vom „Quatuor pour la fin du temps“ [„Quartett für das Ende der Zeit“] von 1940/41 bis zu den „Éclairs sur l’Au-delà“ [„Streiflichter über das Jenseits“] von 1987–1991) oder zu Krzysztof Penderecki („Polnisches Requiem“, 1980–1983). In ihnen wird die mittelalterliche lateinische Liturgie in Musik umgesetzt und der Dies irae dem Libera me gegenübergestellt. Mit der Reformation – an deren Beginn die Kritik am Ablasshandel eine große Rolle spielte – änderte sich das Verhältnis zum Tod in dem Teil Europas, der zum Protestantismus übergetreten ist. Den protestantischen Kirchen war es besonders wichtig, in Heilsdingen auf der Allmacht Gottes zu insistieren und alles zu beseitigen, was den Eindruck vermittelte, ein Christ könne sich in gewisser Weise sein Seelenheil erkaufen. Sie betonten daher, dass das Heil einzig und allein von Gott und seiner Gnade abhänge. Sie unterstrichen somit den Vorrang des Glaubens. Dies bedingte das Verschwinden des Fegefeuers und der Ablass-Praktiken, der Krankensalbung („Letzte Ölung“) und recht rasch auch des Sakraments der individuellen Beichte, des Heiligenkults und die weitgehende Desa-

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kralisierung der Totengottesdienste. Als Luther 1546 starb, lag neben ihm ein Zettel, auf dem stand: „Wir sind Bettler, das ist wahr.“ Dieser Entwicklung stand freilich die Entstehung zahlreicher Kirchenlieder gegenüber, nicht zuletzt von Luther selbst, in deren Mittelpunkt das Seelenheil steht und in denen Gott um seine Barmherzigkeit in der Stunde des Todes gebeten wird. In diesen Zusammenhang gehören auch die vielen Epitaphe, die vom 14. bis zum 17. Jahrhundert an den Wänden der lutherischen Kirchen angebracht wurden und auf denen ganze Familien zu sehen sind, die auf Knien für ihr Heil beten. Die Kinder, die noch am Leben sind, sind dabei normal angezogen, während die bereits verstorbenen weiße Kleidung tragen. Außerdem wurden bei Leichenpredigten in der Regel Huldigungen an die verstorbene Person vorgetragen, in denen man seinen Glauben hervorhob. In eine ähnliche Richtung weisen auch die besondere Bedeutung, die dem Karfreitag zugewiesen wird, und die Einführung eines Buß- und Bettages auf Initiative der protestantischen Kirchen. Dieser war bis in die jüngste Vergangenheit offizieller Feiertag in protestantischen Gegenden. Schließlich sind noch die vielen musikalischen Passionen zu erwähnen, vor allem diejenigen von Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach, bis hin zu Brahms’ „Deutschem Requiem“, das seinen Namen der Tatsache verdankt, dass es sich auf Bibeltexte in der Übersetzung von Luther bezieht.32 Am Ende der zweiten Stufe unseres Vergleichs von „einst“ und „heute“ drängt sich eine Schlussfolgerung auf: Wenn man das mittelalterliche und neuzeitliche Europa in seiner Auseinandersetzung mit unvergleichlich verheerenderen epidemischen, ökonomischen und sozialen Herausforderungen, als wir sie heutzutage erleben, betrachtet, kann man nicht umhin festzustellen, dass es sich in beachtlicher Weise aus der Affäre gezogen hat. Es verfügte über eine schlechte Medizin und eine noch weitaus miesere Hygiene. Und doch erwiesen sich die ländlichen und städtischen Gemeinschaften (nicht die Staaten, die dabei nur eine untergeordnete Rolle spielten) als fähig, die Herausforderungen von Epidemien, demografischen und wirtschaftlichen Krisen in beeindrucken-

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der Weise zu meistern, ganz im Gegensatz zu unseren derzeitigen Besorgnissen. Diese deutlich größere Vitalität hängt damit zusammen, dass das Durchschnittsalter in diesen Zeiten weit unter dem unsrigen lag (wie das auch im heutigen Afrika der Fall ist), dass die demografischen und wirtschaftlichen Krisen vor allem die Alten und Schwachen trafen (wie auch heute) und dass die Überlebenden der Krisen sich in gesundheitlicher Hinsicht befreit fühlten. All das erklärt, weshalb die demografischen (und damit auch ökonomischen) Krisen in Mittelalter und Neuzeit erfolgreich bestanden wurden. Das Ende der Epidemien verlieh den Überlebenden eine große Lebenslust und Lebensfreude sowie den Willen, aus den „Kollateralchancen“ der Epidemien den größtmöglichen Vorteil zu ziehen. Man setzte voll und ganz auf die Zukunft der überlebenden Kinder und Familien, indem man sich gleich nach Ende der Krise neu verheiratete, zu günstigen Bedingungen vakant gewordene Handwerksbetriebe, Häuser und Felder übernahm, für die es keine Erben gab, und in geringerer demografischer Dichte lebte, sich also leichter ernähren und ökonomische Neuerungen einführen konnte. Durch den Schwund der Bevölkerung um ein Drittel infolge der Großen Pest hat Europa wieder zu ausreichenden wirtschaftlichen Kapazitäten zurückgefunden und die Krise hat zu einer Änderung der landwirtschaftlichen Produktionstechniken geführt: Man arbeitete nunmehr mit Eisenpflügen und praktizierte ein Miteinander von Polykulturen und Tierhaltung, was bedeutet, dass die Abfälle aus dieser Tätigkeit, sprich die Exkremente der Tiere, als Dünger verwendet werden konnten.33 Auch die Händler der Stadt Augsburg fand man bereits unmittelbar nach Ende des Dreißigjährigen Kriegs wieder auf den Messen in Bozen und Venedig, Linz und Wien, Naumburg und Frankfurt, Lyon und Marseille, und die Stadt wurde wieder zum zweitbedeutendsten Banken-Standort in Süddeutschland. Dieser rasche Neustart ging einher mit einer Neujustierung der Sozialstruktur der Stadt zugunsten der Mittelschicht und der Wohlhabenden. Dies war aber auch einer Neuorientierung der Wirtschaft der Stadt zum Nutzen der fortge-

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schrittensten und rentabelsten Zweige in Handwerk, Industrie, Kunsthandwerk, Druck- und Verlags- sowie Finanzwesen geschuldet, also einer erfolgreichen qualitativen Umstrukturierung.34 Man darf wohl davon ausgehen, dass die Lust auf einen Neubeginn auch damit zusammenhing, dass die Überlebenden sich als mit ihrem Gott versöhnt empfanden. Dieser hatte sie gestraft, war nun aber barmherzig zu ihnen. Die Vitalität Europas zu dieser Zeit hat also auch etwas mit der Dominanz des Christentums zu tun. Das betrifft ebenso die Mentalitäten und die Weltanschauung wie die gesellschaftlichen Strukturen und Praktiken, also die Überzeugung, dass – im Unterschied zu dem, was heute die meisten denken – der physische irdische Tod kein endgültiges, skandalöses und unausweichliches Verschwinden bedeutet. Damit wird auch das für uns so überraschende Verhalten Boccaccios verständlich, der zwischen 1349 und 1353, also während der Großen Pest, das „Decamerone“ schrieb. Dieses Werk ist das erste seiner Art und insofern mit Dantes Dichtung „La Divina Commedia“ von Anfang des 14. Jahrhunderts vergleichbar. Boccaccio lässt sieben Frauen und drei junge Männer aus den besseren Kreisen von Florenz zu Wort kommen. Diese sind im Frühjahr und Sommer 1348 aus der verpesteten Stadt auf das Land geflohen. Jeder und jede von ihnen erzählt zehn Tage lang jeweils eine Geschichte. Es ist vereinbart, darin weder von der Pest noch vom Tod zu sprechen, und so erzählen sie sich denn hundert Geschichten vorwiegend komischer, oft sehr realistischer Art mit naturgemäß optimistischer Tendenz und getragen von einer allen gemeinsamen Lebensfreude.

* Wie man sieht, überwiegen die Gegensätze zwischen einst und heute, auch wenn ich einmal mehr daran erinnern will, dass alles hier Gesagte unter Vorbehalt steht. Die Corona-Krise ist ja noch nicht beendet, wir

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wissen nicht, wie lange sie noch dauern wird und die Tatsache, dass ich, so wie meine Leser, unmittelbarer Zeitzeuge bin, schärft nicht unbedingt den Blick – im Gegenteil. Während der Kontrast zu den Krisen von einst höchst ausgeprägt ist, kann ich nur feststellen, dass er im Vergleich mit zwei jüngeren Krisen weniger augenfällig ist. Ich meine damit die „Große Depression“ von 1929 und den Zweiten Weltkrieg. Auch aus einem solchen Vergleich lassen sich Lehren ziehen. Eine unmittelbare Folge der Großen Depression von 1929 war die völlige Einstellung aller Versuche, im Rahmen des Völkerbunds eine Aussöhnung zwischen den europäischen Staaten herbeizuführen, den Nationalismus zu überwinden und jeden Krieg auszuschließen (Briand-Kellog-Pakt von 1928). Sie führte sogleich dazu, dass sich die Staaten auf sich selbst zurückzogen, der Nationalismus anwuchs und autoritäre Regime an die Macht kamen, was schließlich zum Zweiten Weltkrieg führte.35 Ein keinesfalls nachzuahmendes Beispiel – auch wenn wir mehrere Monate lang eine hermetische Abriegelung der nationalen Grenzen und damit das Wiederaufleben eines unterschwelligen Nationalismus erlebt haben, den von allen Ländern praktizierten Vorrang der Wahrung eigener Interessen, die Schwierigkeiten der EU-Staaten, eine gemeinsame und innovative Antwort zu finden, ein verstärktes Sicherheitsdenken und damit die (implizite) Hinnahme der Aussetzung der Grundrechte zugunsten einer Stärkung staatlicher Eingriffe und Kontrolle.36 Die extrem langsame Umsetzung der von europäischen Ländern zugesicherten Aufnahme von elternlosen Kindern und Jugendlichen aus griechischen Flüchtlingslagern (Lesbos), die Aussetzung des Asylrechts sowie die Schließung von Kirchen, Tempeln, Synagogen und Moscheen (bis hin zum Petersdom und der Grabeskirche in Jerusalem), während die Konsum- und Geschäftstempel offen blieben, weisen leider in die gleiche Richtung. Es wäre entschieden besser, wenn man sich an dem ausrichten würde, was in Europa und dem Rest der Welt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschehen ist, denn davon profitieren wir noch heute.

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Diese vorläufigen Bemerkungen wollen gleichwohl nicht ausschließen, dass man auch aus den älteren hier erläuterten Beispielen Lehren ziehen könne. Der Vergleich mit einst zeigt, dass die Angst vor einer ungewissen Zukunft und der weitverbreitete Pessimismus heute wohl stärker ausgeprägt sind als sie es einst waren. Mich überrascht auch der enorme Gegensatz zwischen der „objektiven“ Begrenztheit der Corona-Epidemie und den beeindruckenden Dimensionen der Gegenmaßnahmen, die sich allenfalls mit denen vergleichen lassen, die in Europa und weltweit während des Ersten und Zweiten Weltkriegs ergriffen wurden. Mitunter erinnert mich das an Gribouille, der aus Angst vor dem Regen ins Wasser springt. Was soll man von der anfänglichen Zögerlichkeit der chinesischen Behörden (bis zum chinesischen Neujahrsfest) halten, was davon, dass wahrscheinlich der Kampf gegen das Virus, insbesondere dank Künstlicher Intelligenz, die Kontrolle jedes einzelnen Chinesen durch Partei und Polizei gestattet hat? Welche Schlüsse sind aus einem Vergleich der unterschiedlichen Vorgehensweise verschiedener Länder (Italien, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Schweden, Südkorea, Japan, Indien, Afrika) zu ziehen?37 Was soll man von einer Gegenwart halten, in der offenbar die meisten Menschen den Tod für ein Skandalon und ein absolutes Übel halten und glauben, dass unser Heil von der Wissenschaft, allen voran der Medizin, abhänge? Für die Mehrheit besteht das Ziel des Lebens anscheinend darin, möglichst lange und in Sicherheit zu leben, den Tod möglichst lange hinauszuschieben und ihn schmerzfrei und außer Haus stattfinden zu lassen (in Frankreich sterben 75% der Menschen im Krankenhaus), als wäre der Tod eine völlig negative und fatale physische und irdische Realität. Vor der Krise waren wir in Europa allesamt überzeugt, in Gesellschaften mit einer effizienten medizinischen Infrastruktur zu leben, in denen die wissenschaftliche Medizin die Krankheiten im Griff hat. Der offenkundigste Beleg dafür ist der regelmäßige Anstieg der Lebenser-

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wartung bei Geburt: in Frankreich von 69,9 Jahren in 1960 auf 82,5 Jahre in 2018, in Deutschland von 69,3 Jahren in 1960 auf 81 Jahre in 2018. Diese weitverbreitete Überzeugung entspricht, wie Carl Friedrich von Weizsäcker schon vor 60 Jahren gesagt hatte, „einem Glauben an die Wissenschaft, der die Rolle der herrschenden Religion unserer Zeit spielt“.38 Die Corona-Krise hat uns jedoch die Grenzen der Medizinwissenschaft und zugleich unseres Gesundheitssystems vor Augen geführt. Diese Bewusstmachung geht, so scheint mir, einher mit untergründigen Ängsten, die viel stärker sind als noch vor 50 Jahren: Zweifel am Fortschritt, aber auch das weitverbreitete Gefühl, dass uns nur fünf Minuten vom Ende der Menschheit trennen – Sichtweisen wie sie bereits 1972 mit Nachdruck von der Schrift „Die Grenzen des Wachstums“ des „Club of Rome“ wachgerufen wurden. Dazu gehören auch die leidenschaftlichen Hinweise auf die nukleare Gefahr (seit Hiroshima und Nagasaki, vor allem aber seit Tschernobyl und Fukushima) und schließlich die nicht weniger leidenschaftlichen und pessimistischen Verweise auf die Umweltkrise zu Beginn des 21. Jahrhunderts.39 Unter diesen Umständen ist es meines Erachtens vor allem geboten, einen klaren Blick zu bewahren. Es gilt, sich schlicht und einfach auf die elementaren (und banalen) Tatsachen zu besinnen, die wir gerne ausklammern möchten: dass wir alle sterblich sind, dass wir unvollkommen sind und dass auch die Wissenschaft ihre Grenzen hat. Einige Philosophen und weitere Persönlichkeiten haben das bereits vorzüglich formuliert: So etwa Slavoj Žižek („die verstörendste Lehre, die die anhaltende Virus-Epidemie für uns bereithält: Der Mensch ist viel weniger souverän, als er denkt.“), Rémi Brague („die gegenwärtige Krise bietet uns die Gelegenheit zu einer Gewissensüberprüfung“) und schließlich Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble („Nicht alles hat sich dem Schutz des Lebens unterzuordnen.“).40 Selbstverständlich geht es vor allem darum, diese Pandemie zu beherrschen und die Zahl der zusätzlichen Toten, die sie verursacht, nied-

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rig zu halten. Vor Kurzem sagte Robert Habeck: „Vielleicht ist es das erste Mal, dass Gesundheitsvorsorge wichtiger war als Gewinninteressen und Wachstum.“ Man kann ihm nur zustimmen. Aber genauso unerlässlich ist es, uns zu fragen, was der Tod ist, wie man ihn verstehen muss, welche Haltung man ihm gegenüber einnimmt und, mehr noch, wie man sich auf ihn vorbereitet. Unter diesem Gesichtspunkt beklage ich die kontraproduktiven Maßnahmen, die man in den Altersheimen ergriffen hat, sowie die fehlende Unterstützung für die in unseren alternden Gesellschaften so wichtigen Einrichtungen, die Hospize als Einrichtungen der Sterbebegleitung.41 Michel de Certeau hat es schon 1975 vollendet ausgedrückt: „Die Historiographie setzt voraus, dass es unmöglich geworden ist, an diese Anwesenheit der Toten zu glauben, die die Erfahrung ganzer Zivilisationen organisiert hat (und organisiert), und dass es gleichwohl unmöglich ist, sich damit abzufinden, den Verlust einer lebendigen Solidarität mit den Verstorbenen zu akzeptieren und eine unwiderrufliche Trennungslinie als endgültig hinzunehmen […]. Die Historiographie [ist] Todesarbeit und Arbeit gegen den Tod.“42 Aus dem Vergleich von „einst“ und „jetzt“ ziehe ich die Schlussfolgerung, dass es früher um die Mortalität ging. Es musste also alles getan werden, um die Epidemie dadurch zu bekämpfen, dass man sich, wie die Florentiner des „Decamerone“ anlässlich der „Schwarzen Pest“ von 1348, auf Land zurückzog, dass man die an der Pest Erkrankten in Quarantäne steckte und zu Gott betete, er möge den Sündern verzeihen, die er mit der Pest bestrafte, und schließlich dadurch, dass man mithilfe der Religion den Infizierten dabei half, so zu sterben, dass sie der Hölle entgehen konnten. Denn so schrecklich der Tod sein mochte, so glaubte man doch, dass er kein endgültiges Ende bedeute, da er ja durch das freiwillige Selbstopfer Christi überwunden wurde, und dass das Heil von Gott abhing. Heutzutage geht es dagegen um den Tod. Dieser wird von den meisten von uns als definitives Ende betrachtet, während wir glauben, dass

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das Heil von der Medizin und vom Geld abhängt. Daher erscheint es uns vorrangig, möglichst lange und bei bester Gesundheit zu leben, uns vor äußeren Gefahren zu schützen und am Ende einen späten und diskreten, einen sanften und freien Tod zu sterben. Dies alles stellt die Pandemie aber infrage. Sie erinnert uns an Dinge, die wir weitgehend verdrängt haben: dass die Wissenschaft ihre Grenzen hat, dass das Geld und der Staat Mittel zum Zweck sind, aber nicht Selbstzweck, dass wir alle sterblich sind und dass die Zukunft offen, also ungewiss ist. Damit spornt diese Pandemie uns an, frei und verantwortungsbewusst, solidarisch und zuversichtlich zu werden.

Étienne François Professeur (em.) für Geschichte an der Universität Paris-I und an der Freien Universität Berlin, 5.6.2020.

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Eine erste Fassung dieses Textes von Anfang April habe ich meinen sechs Geschwistern sowie vier deutschen und französischen Freunden geschickt. Sie alle haben mir bei seiner Verbesserung geholfen, wofür ich ihnen hiermit sehr herzlich danke. Mein Dank geht aber vor allem an meine Frau Beate, die seine Entwicklung von Anfang bis Ende mit ihrer kritischen Intelligenz und ihrer Sensibilität begleitet hat.

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Laura Spinney, Pale Rider. The Spanish Flu of 1918 and How it Changed the World, London, Jonathan Cape, 2018. Gleiches gilt für Epidemien der jüngeren Vergangenheit, die mehr Opfer als die derzeitige verlangten, womit ich die Hongkong-Grippe von 1968 bis 1969 oder die asiatische Grippe von 1957 meine.

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Elisabeth von Thadden, „Die Corona-Pandemie zeigt, dass wir anders mit dem Tod umgehen als früher. Die Moderne erfindet sich gerade neu“, Die Zeit, 8. April 2020, Nr. 16, S. 46. Caroline Lachowsky, „Petite et grande histoire des épidémies“, RadioSendung, RFI (11. April). Hinweisen möchte ich auf zwei hervorragende Artikel über die historischen Dimensionen der Pandemien, die im Monat Mai erschienen sind: zuerst den Artikel über das Pestjahr 1655 in London, das Ranga Yogeshwar in der „F.A.Z.“ vom 2. Mai (S. 9) veröffentlicht hat, und dann den Artikel der französischen Historikerin François Hildesheimer über die Pandemien der Vergangenheit in „Le Monde“ vom 16. Mai (S. 25/25). Vgl. auch dazu die Sendung von ARTE „Mit offenen Karten“ https://www.arte.tv/fr/videos/091146-015-A/le-dessous-des-cartes-epidemies-unelongue-histoire/ [Stand: 17. Juni 2020].

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Eine treffliche Darstellung der Komplementarität von „quantitativer“ und „qualitativer“ Geschichte im Dienste einer „totalen Geschichte“ bietet François Furet, L’atelier de l’histoire, Paris, Flammarion, 1982.

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Am 2. Juni 2020 zählte man im westlichen Teil Europas 82 Todesfälle auf 100 000 Einwohner in Belgien, 58 in Spanien, 57,5 im Vereinigten Königreich, 55,4 in Italien, 44,3 in Schweden, 44,2 in Frankreich, 34,8 in den Niederlanden, 22,2 in der Schweiz, 10,3 in Deutschland. In Mittel-, Ost- und Süd-Ost-Europa sind die Todesfälle entschieden niedriger. Nach den Daten der Johns-Hopkins-University (4. Juni), gibt es 2,9 Todesfälle auf 100 000 Einwohner in Polen, 3,1 in Tschechien, 1,7 in Griechenland, 0,5 in der Slowakei, 1,4 in Zypern, 1,9 in Malta, 2,1 in Bulgarien.

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Jean-Noël Biraben, Les hommes et la peste en France et dans les pays européens et méditerranéens, Paris, Mouton, 1975, 1976. Frédérique Audoin-Rouzeau, Les chemins de la peste: le rat, la puce et l’homme, Paris, Tallandier, 2007. Vgl. auch den hervorragenden Artikel in deutscher Sprache, den der französische-deutsche Mediävist Pierre Monnet am 9. April 2020 vorgelegt hat und der gleichfalls in diesem Band abgedruckt ist. In ihm befasst er sich damit, inwiefern die „Große Pest“ zu einer besseren Wahrnehmung der gegenwärtigen Epidemie beitragen kann: https://wbg-community.de/themen/prof-dr-pierre-monnet-pandemie-covid-19-im-lichte-des-schwarzen-todes-von1348 [Stand: 17. Juni 2020].

7

Diesen wären obendrein frühere Pest-Epidemien hinzuzufügen, wie etwa die „Justinianische Pest“, die die Mittelmeer-Anrainer im 6. Jahrhundert heimsuchte und der Zeitschrift Hérodote zufolge eine Epoche der Weltgeschichte beendete: https://www.herodote.net/La_pandémie_qui_met_fin_à_un_monde-synthese-2700-294.php [Stand: 19. April 2020]. Um nicht zu ausführlich zu werden, habe ich bewusst die Epidemien

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des 19. Jahrhunderts, insbesondere die Cholera-Epidemien, nicht erwähnt – obwohl ein Ur-Ur-Großvater von mir während der vierten Cholera-Pandemie am Ende der 1860erJahre starb. 8

Emmanuel Le Roy Ladurie, Histoire du climat depuis l’an mil, Paris, Flammarion, 1967.

9

Pierre Goubert, Beauvais et le Beauvaisis de 1600 à 1730. Contribution à l’histoire sociale de la France au XVIIIe siècle, Paris, SEVPEN, 1960.

10

Etienne François, Die unsichtbare Grenze, Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648–1806, Sigmaringen, Thorbecke Verlag, 1991, insb. „Eine entthronte Hauptstadt? Kurzer Abriss der demographischen Entwicklung Augsburgs von 1600 bis 1800“ (S. 38– 44), Diagramm 1 (S. 34), „Entwicklung der Taufen, Eheschließungen und Begräbnisse in Augsburg“ und Diagramm 7, „Entwicklung der Steuerverhältnisse in Augsburg, 1558– 1724 (Gesamtaufkommen, Anteil der Steuerzahler, prozentuale Verteilung der Steuerzahler nach Steuerklassen).

11

Pierre Chaunu, L’Amérique et les Amériques de la préhistoire à nos jours, Paris, Armand Colin, 1964. Jean Meyer, Les Européens et les autres, Paris, Armand Colin, 1975.

12

Vgl. Hierzu die eingehende und überzeugende Darstellung von Boris Grésillon, Professor an der Universität Aix-Marseille im Blog „Géographies en mouvement“ auf der Website der Tageszeitung „Libération“.

13

Pierre Deyon, Amiens, capitale provinciale Etude sur la société urbaine au XVIIe siècle, Paris, Mouton & Co, 1967.

14

Bernd Roeck, Eine Stadt in Krieg und Frieden, Studien zur Geschichte der Reichsstadt Augsburg zwischen Kalenderstreit und Parität, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1989, S. 641–653.

15

Diese Informationen und übrigens auch viele weitere stammen von Wikipedia, das ich so benutzt habe, wie man das früher mit Wörterbuch-, Enzyklopädie- und Lexika-Einträgen tat. Ein rascher Überblick über die Verbreitung des Worts Quarantäne ergab, dass es neben dem Französischen und Italienischen auch im Deutschen, Englischen, Kroatischen, Dänischen, Spanischen, Niederländischen, Polnischen, Portugiesischen, Russischen, Schwedischen und Türkischen in ähnlicher Schreibung und Aussprache existiert. Da das Wort und die von ihm bezeichnete Praxis negativ konnotiert sind, haben viele Behörden und Einrichtungen im Französischen lieber das Wort „confinement“ verwendet. Im föderal aufgebauten Deutschland, in dem die Große Koalition zu Beginn der Krise in den Meinungsumfragen keine Mehrheit mehr hatte, unternahmen die Behörden in Bund und Ländern alles, um nur nicht als „autoritär“ zu gelten. Um die Selbstverantwortung der Bürger zu respektieren, sprach man lieber von „nachdrücklich empfohlenen Einschränkungen“ bzw. von Lockdown und Shutdown. Dieser rhetorische Trick führte in Verbindung mit der tief empfundenen Empathie und dem mütterlichen Tonfall der Kanzlerin dazu, dass die Große Koalition wieder auf solide Mehrheiten kam, während alle anderen Parteien, insbesondere die Grünen, die FDP und noch mehr die AfD seit Beginn der Krise Rückschritte verzeichnen.

16

Marcel Proust, A la recherche du temps perdu, Le côté de Guermantes, Paris, La Pléiade 1954, Band 2, S. 417. (dt.: Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen: Auf der Suche

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nach der verlorenen Zeit: Im Schatten der jungen Mädchen + Die Herzogin von Guermantes (Band 1&2), e-artnow. Kindle-Version [Position 15.793, Stand: 14. Juni 2020]. 17

Jean Vitaux, Histoire de la peste, Paris, PUF, 2010.

18

Jean Delumeau, Le péché et la peur. La culpabilisation en Occident (XIIIe–XVIIIe siècles, Paris, Fayard, 1983.

19

Jean Delumeau, La peur en Occident (XIVe–XVIIIe siècles). Une cité assiégée, Paris, Fayard, 1978 (dt.: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts. Reinbek, Rowohlt, 1989).

20

Rolf Kieβling, Jüdische Geschichte in Bayern, Berlin/Boston, De Gruyter/Oldenbourg, 2019.

21

Etienne Delcambre, Le concept de sorcellerie dans le duché de Lorraine au XVIe et XVIIe siècle, Nancy, 3 Bde., 1948–1951. Robert Mandrou, Magistrats et sorciers en France au XVIIe siècle. Une analyse de psychologie historique, Paris, Pion, 1968. Michel de Certeau (Ed.), La Possession de Loudun, Paris, Julliard, 1978. Lyndal Roper, Witch Craze. Terror and Fantasy in Baroque Germany, New Haven et London, Yale University Press, 2004.

22

„La Croix“, Artikel vom 8. April 2020: Laut einer Umfrage der Wochenzeitschrift „Le Pèlerin“ vom 9. April glauben lediglich 10% der Franzosen an die „Auferstehung der Toten bei Gott“; 7% glauben an die „Wiedergeburt auf der Erde in einem anderen Leben“, 33% an „etwas, das ich nicht definieren kann“ und 43% an nichts.

23

So in der Oster-Präfation.

24

Jean Delumeau, Une histoire du paradis, Paris, Fayard, 1992.

25

Im Jahr 1628 fanden in der Stadt Augsburg, die damals mehrheitlich protestantisch war, täglich zwei Gottesdienste mit Abendmahl statt.

26

Für eine eingehendere Darstellung verweise ich auf meinen Beitrag „Oberammergau“ in: Étienne François/Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, München, Beck Verlag, 2001, 3. Band, S. 274–291.

27

Auch in dieser Hinsicht ist in den letzten Jahrzehnten ein beschleunigter Rückgang zu verzeichnen. Ich kann mich erinnern, dass in meiner Studienzeit in Paris in den 1960erJahren ein hoher Anteil der Todesanzeigen in der Tageszeitung Le Monde erwähnte, dass der oder die Verstorbene die letzte Ölung erhalten hatte, was heutzutage eine Ausnahme darstellt. Vgl. Guillaume Cuchet, Comment notre monde a cessé d’être chrétien, Paris, Seuil, 2018.

28

Jacques Gélis, L’arbre et le fruit, La naissance dans l’Occident moderne, XVIe–XIXe, Paris Fayard 1984; und Les enfants des limbes. Mort-nés et parents dans l’Europe chrétienne, Paris, Audibert, 2006.

29

Jacques Le Goff, La naissance du Purgatoire, Paris, Gallimard, 1981.

30

Vgl. hierzu Pierre Chaunu, La Mort à Paris (XVIe et XVIIe siècles, Paris, Fayard,1978, sowie die Studie von Michel Vovelle über den Platz, den der Bezug auf Gott, die Jungfrau Maria, die Heiligen und allgemeinen das Seelenheil in den Testamenten einnahm, die im 18. Jahrhundert in Südfrankreich verfasst wurden und bei denen in der zweiten

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Hälfte des 18. Jahrhunderts eine größere Distanz festzustellen ist: Michel Vovelle, Piété baroque et déchristianisation en Provence au XVIIIe siècle, Paris, Plon, 1973. Zur Abrundung des Bildes, seien ergänzend drei weitere Charakteristika einer Seelsorge hinzugefügt, die betonte, dass der irdische Tod nur eine Etappe darstellt. An erster Stelle ist dabei das für Zeitgenossen wie künftige Generationen beeindruckende Beispiel des Heiligen Franziskus von Assisi und sein Umgang mit den Leprakranken zu erwähnen. Des Weiteren die Gründung einer großen Anzahl von Hospitälern, wie etwa des ersten PestHospitals in Venedig (1423), und schließlich die Gründung von Orden und Kongregationen, die sich dem Beistand für Kranke und Sterbende widmeten. 31

Vgl. hierzu die verschiedenen Publikationen von François Boespflug, Dieu et ses images, une histoire de l’Eternel dans l’art, Montrouge, Bayard, 2008; Le regard du Christ dans l’art, Paris, Desclée-Mame, 2014, und Crucifixion, La crucifixion dans l’art, un sujet planétaire (mit Emanuela Fogliadini), Montrouge, Bayard, 2019.

32

Für alles Weitere zum protestantischen Europa verweise ich auf Kaspar von Greyerz, Religion und Kultur, Europa 1500–1800, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2000.

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Der Bevölkerungsrückgang infolge der Großen Pest hat dazu geführt, dass die Überlebenden von Dörfern, die man zuvor in Landstrichen von geringer Ertragskraft gegründet hatte, sich nun in fruchtbareren Regionen niederließen, wo sie die Dreifelderwirtschaft betrieben. Dies hatte die Aufgabe ganzer Dörfer, die „Wüstungen“ genannt wurden, zur Folge. Am Ende des Dreißigjährigen Kriegs kam es im Europa östlich der Elbe (bis nach Russland) zu einer entgegengesetzten Entwicklung: In schwach besiedelten Regionen und Ländern, in denen ein Großgrundbesitz vorherrschte, der auf dem Anbau von Getreide beruhte, das über Danzig in die westlichen Märkte exportiert wurde, führten die adligen Besitzer dieser Gutsherrschaften mit Unterstützung der jeweiligen Territorialstaaten eine neue Leibeigenschaft mit der Verpflichtung zu schwerer Fron ein.

34

Vgl. zu diesem Punkt das Kapitel „Abriss der Augsburger Wirtschaft zwischen 1650 und 1800: Eine erfolgreiche qualitative Umstrukturierung“, in meinem Buch Die unsichtbare Grenze, S. 73–83.

35

Tobias Straumann, 1931. Die Finanzkrise und Hitlers Aufstieg, wbg Theiss, Darmstadt, 2020.

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Seit der panischen und übereilten Abgrenzung aller nationalstaatlichen Grenzen im Monat März haben wir in Europa eine beachtliche und manchmal heimlich nationalistische Aufwertung der Nationen erlebt. Wenn auch nicht vorgesehen, ordnet sich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Europäischen Gerichtshof und die Europäische Zentralbank in diesen Kontext ein. Zwei Monate lang war die E.U. gelähmt. Wieder einmal hat sich Deutschland, wie bei der Finanzkrise von 2008, gut und zu seinen Gunsten behauptet: mit einer eher niedrigen Mortalität wie auch mit beeindruckenden Gegenwarts- und Zukunftsinitiativen, die auch deswegen möglich wurden, weil der Zustand der deutschen öffentlichen Finanzen vorbildlich ist. Zum Glück lässt die unerwartete und in mancher Hinsicht überraschende deutsch-französische Initiative hoffen, dass sich die E.U. aus der Sackgasse der letzten Monate herausholen wird.

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Besonders aufschlussreich erscheinen mir in diesem Zusammenhang Südkorea, dem es gelungen ist, die Epidemie einzugrenzen, ohne zu autoritären Kontrollmaßnahmen wie die Volksrepublik China zu greifen, oder aber Schweden, wo mit Zustimmung der

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EINE KRISE OHNE BEISPIEL?

Bevölkerung, die ihre Verantwortung übernahm, fast keine Ausgangssperren verhängt wurden und die Mortalität in Verbindung mit der Epidemie keine dramatischen Höhen erreichte. 38

Carl Friedrich von Weizsäcker, zu Beginn einer Vorlesungsreihe, die er zwischen 1959 und 1961 über die „Tragweite der Wissenschaft“ hielt (Artikel von Thea Dorn, Die Zeit, 4. Juni (Nr. 24, S. 9). Die kompetentesten Forscher auf dem Gebiet der Medizin teilen diese Überbewertung der wissenschaftlichen Medizin nicht. Jules Romains hatte sich über sie bereits 1923 in seinem Stück Knock ou le triomphe de la médecine lustig gemacht.

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Dabei denke ich, dass der Wandel der „Historizitätsregime“ und die Konzentration unserer Zeitwahrnehmung auf die Gegenwart, wie sie François Hartog so vorzüglich analysiert hat, in diesem Zusammenhang eine beträchtliche Rolle spielen: François Hartog, Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps, Paris, Le Seuil, 2003.

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Vgl. in diesem Zusammenhang die Beobachtung des italienischen Philosophen Giorgio Agamben, wonach die übereilten Sicherungsmaβnahmen gegen die Pandemie implizit bedeuten, dass „jede Person wie ein potentieller Anstecker wahrgenommen wird, in der gleichen Art und Weise, wie die damaligen Anti-Terrorgesetze jeden Bürger juristisch und de facto zu einem potentiellen Terroristen verwandelt hatten“.

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Bei diesem wesentlichen Thema begnüge ich mich mit zwei Referenzen, die für mich von entscheidender Bedeutung waren: Michel Vovelle, La mort et l’Occident de 1300 à nos jours, Paris, Gallimard, 1983; und Thomas W. Laqueur, The Work of the Dead. A Cultural History of Mortal Remains, Princeton, Princeton U.P., 2015; Letzterem danke ich für unseren Austausch zu diesem Thema.

42

Michel de Certeau, L’écriture de l’histoire [1975], Paris, Gallimard, coll. Folio histoire, 2002, S. 18; den Hinweis auf dieses Zitat verdanke ich Thomas W. Laqueur.

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Was trägt.

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ACHIM SOHNS: KANN DAS CORONAVIRUS SINN MACHEN?

Wir leben im Zeitalter eines weit entgrenzten Subjektivismus. Eingenordet zwischen den Verwertungsinteressen der globalen, arbeitsteiligen Wirtschaft und dem egalitären Zeitgeist bleibt das Halt und Werte suchende Ich oft ohne Familie, Heimat und Religion, nur noch auf sich selbst verwiesen. Die verbliebene Gemeinschaft mit Anderen unterliegt einem abstrakten vermeintlich diskriminierungsfreien Sollen, das für bodenständige Individualität und gewachsene kulturelle Besonderheiten kaum mehr Platz bietet. Das subjektive Denken reflektiert nicht mehr seine Herkunft, sondern nur mehr die Konsequenz seiner Gedanken und seines Handelns in Bezug auf sein je eigenes Existieren. Mitunter denkt es nicht mehr. Es funktioniert. Der entgrenzte Subjektivismus wird mechanisch. DAS CORONAVIRUS ÖFFNET EINEN RISS IM KONTINUUM DER GEWOHNHEITEN.

Was wir nun mit dem uralten, neuen Coronavirus urplötzlich durchleben, ist die parallele Existenz einer unsichtbaren Lebensform – das untote, stumpfsinnig repetitive Leben von Viren. Sie scheren sich nicht um unsere Mechanik, vielmehr stellen sie eine Gefahr für uns dar. Die Natur schlägt zurück, unterbricht den Flow und die selbstbezügliche Mechanik. Auf einer allgemeineren Ebene und im Fall einer Infektion hautnah werden wir von einer Virus-Epidemie an eine ultimative Zufälligkeit, die

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Endlichkeit und finale Bedeutungslosigkeit unseres Lebens erinnert. „Welche großartigen spirituellen Gebäude wir als Menschheit auch immer hervorbringen mögen – eine geistlose natürliche Kontingenz wie ein Virus kann alles beenden.“ (Slovan Zizek, NZZ vom 04.03.2020) Corona beinhaltet in der Tat die Möglichkeit, die Zeit unseres Lebens abrupt ins Nichts auslaufen zu lassen. Die Lösung der Gleichung von Zeit und Existenz wäre der unvermittelte Tod. Aus der Sicht des subjektiven Denkens ist das unauflösbar absurd und wird solange als möglich verdrängt. Im ad hoc verunsicherten Subjektivismus wird urplötzlich eine Leere laut. Alle gemeinschaftlichen Aktivitäten sind einzustellen, sofern sie nicht „systemrelvant“ sind. Die Kette alltäglicher Gebärden zerreißt. Es öffnet sich ein Riss im Kontinuum der Gewohnheiten, durch den Sinnlosigkeit in unser vereinzeltes Tun einströmt. Das aufbrechende Gefühl ist eines der Angst, möglicherweise sogar des Grauens vor der eigenen selbstbezüglichen Gefährdetheit. NEUES DENKEN.

Das erzwingt ein zumindest anderes Denken: Es muss, ob es will oder nicht, in der aktuellen Situation über seine gewohnte Existenz hinaus denken. Will ich weiter existieren, muss ich mich im Allgemeinen und Kollektiven denken und anpassen. Alle müssen sich „vorsehen“. Das absolut Subjektive erweist sich in seiner Selbstbezüglichkeit als hilflos, ja sinnlos und leer wie Deutschlands Straßen bei Ausgangssperre. Es läuft dem Allgemeinen hinterher. Nun muss es innehalten und aus seiner oberflächlichen, mechanischen Originalität aussteigen. Es liest und redet mit seinen (älteren) Nachbarn und hilft ihnen. Paradoxalerweise erzeugt die körperliche Distanz, die das Virus erzwingt, gleichzeitig neue Nähe.

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KANN DAS CORONAVIRUS SINN MACHEN?

BEGRENZT DAS CORONAVIRUS DEN ENTGRENZTEN SUBJEKTIVISMUS DURCH SINN?

Gewöhnlich lassen wir uns von der Zeit tragen, treiben mit ihr und weichen der beunruhigenden existenziellen Gefährdetheit mit Ablenkungsmanövern aus: morgen, später einmal, wenn man älter ist. Versicherungen sichern uns ab. Wir schweben im Social-Media-Space. Plötzlich nun erkennen wir die Endlichkeit, das Vergehen als unseren ärgsten Feind. Der entgrenzte Subjektivismus behindert das Überleben. Er wird selber zum Feind. Mit Corona überkommt uns auf einmal ein Gefühl der Fremdheit. Meine Stadt, die Welt erscheint fremdartig. Aber: Man hat keine Wahl. Man muss es akzeptieren und mit dem Bösen im Allgemeinen umgehen. ZWEI WEGE.

Doch diese Akzeptanz kann zwei Wege beschreiten: Es kann schlichte Gewöhnung an Krankheit folgen: Menschen werden sterben, aber das Leben geht weiter, und vielleicht ergeben sich sogar ein paar gute Nebenwirkungen, neue Frühwarnsysteme, neue pharmazeutische Entwicklungen. Der entgrenzte Subjektivismus hätte nur einige neue Facetten hinzugewonnen. Oder das erkennende Akzeptieren, das existenzielle Erfahren, kann uns dazu bringen, dauerhaft das Allgemeine, das Allgemeinwohl, das Mitmenschentum, zu denken und gemeinsam zu leben. Der entgrenzte Subjektivismus endet und verständigt sich wieder auf gemeinsame kulturelle, religiöse und familiäre Inhalte in gewachsenen Grenzen. Das, was trägt. Er wird vernünftig. Weniger globale Arbeitsteilung, mehr Arbeit innerhalb gewachsener natürlicher Grenzen. Das Ich hat dann wieder eine Heimat. Eine neue kollektive Solidarität macht Sinn.

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Von diesem gemeinsamen Innen heraus sind gesellschaftliche Weichenstellungen, die Bestimmung der Grenzen und Möglichkeiten der Digitalisierung, ökologische und ökonomische Korrekturen möglich. Das wäre dann für Deutschland ein neues Zeitalter. „Das Absurde kann besänftigt werden, wenn die Menschen gemeinsam gegen es kämpfen.“ Albert Camus, Brief an Guilloux am 05.01.1946

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KERSTEN KNIPP: VIRUS VERSUS VERZAUBERUNG. MODERNES SELBSTVERSTÄNDNIS IN PANDEMISCHEN ZEITEN Waschen, schneiden, föhnen: der Prozess der Zivilisation in vierzehn Minuten. In dichten Büscheln fällt das Haar, und jede der hinuntersegelnden Flocken bringt, wenn nicht Erlösung, so doch Erleichterung: So wie in den letzten Wochen möchte man so schnell nicht noch einmal aussehen. Die wuchernde Natur auf dem Kopf, der ungehemmte Wildwuchs führte bei jedem Blick in den Spiegel die Fragilität der gepflegten Erscheinung vor Augen. Eine tägliche Demütigung in Zeiten zwangsweise geschlossener Friseursalons. Der Blick in den Spiegel bereitete nicht nur modisches, sondern auch moralisches Unbehagen: Das also bist du, auf geradem Weg in die Verwilderung, Tag für Tag mehr aus der Form geratend, und nur, weil dein Friseur nicht öffnet. Die aus dem Kopf quellende Biomasse war beunruhigend, ja beschämend. Das Unbehagen angesichts der über die Ohren hängenden, die Schläfen hinunterkrabbelnden Haare ließ an das Entsetzen Roquentins denken, des Protagonisten aus Jean-Paul Sartres Roman „Der Ekel“. Eines Tages im Park schaut Roquentin auf eine Kastanienwurzel: einen kräftigen Holzbuckel, ein kleiner Teil überirdisch, der Rest nach unten dringend, in die Erde, zum Wasser, der Quelle des Lebens. Auf seiner Bank schaut der allzu empfindsame Roquentin auf den Boden unter ihm, „den Kopf gesenkt, allein dieser schwarzen und knotigen, ganz und gar rohen Masse gegenüber, die mir Angst machte.“ Roquentin, c’est moi. Die Wurzel, das Haar, die Angst, zumindest das Unbehagen. Kein Friseur, der den Wuchs bändigt, und im Haus weder geeignete Instrumente noch hinreichende Erfahrung, ihn selbst zu kap-

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pen. Du bist allein, gab der Spiegel Tag für Tag zu verstehen. Ohne Gesellschaftsvertrag bist du nichts. Noch die überschaubarsten Dienste setzen komplexe Mechanismen sozialer Verständigung voraus. Fallen sie aus, ist es bis zur Verwilderung nicht mehr weit. Zunächst die optische, die nicht zu unterschätzen ist: Millionenfach signalisiert der Blick in die Spiegel eine Hilflosigkeit, die zu verstehen gab, was im Zweifel auf dem Spiel steht. Man ist, bemerkte man in diesen Tagen, ganz und gar abhängig von anderen, und mitnichten nur vom Friseur. Und zwar auch und gerade im Hinblick auf all das, was als innerster Kern der persönlichen Identität gilt. Gewiss, nicht jeder Blick in den Spiegel offenbarte einen sonderlich ausgeklügelten Haarschnitt. Viele Bürger, die männlichen vornweg, begnügten sich mit routinierter Anspruchslosigkeit: Sie ließen wachsen. Wurde es zu lang, ließen sie es schneiden. Das ging gut so, über Jahre und Jahrzehnte. Und doch garantierte diese einfache Prozedur die innere Stabilität: Die Frisur, so bescheiden sie sein mochte, verschaffte einen hohen Wiedererkennungswert. So sah man eben aus. Einige mochten das, andere hatten sich, teils nach längeren Kämpfen, daran gewöhnt. Und so rasch die Schere im Friseursalon auch über den Kopf glitt, sie verschaffte zumindest subjektiv individuelle, unverwechselbare Identität. Der Typ da im Spiegel – das war man selbst. Wegen der Pandemie war man es für einige Wochen immer weniger. Das Virus fesselte den Friseur und setzte somit an zum Sturm auf die persönliche Identität. Es erneuerte die ernüchternde Erfahrung, die in der Geschichte immer mal wieder hochkam, immer wieder aber erfolgreich verdrängt wurde. Kurz gefasst lautete sie: Der Mensch ist ein durch und durch exzentrisches Wesen. Er ist der Mittelpunkt von gar nichts. Er steht immer nur am Rande. Diese Lektion kam in ganz unterschiedlichen Konstellationen daher. Galileo Galilei warf uns mit seinen Beobachtungen zur Umlaufbahn der Erde aus dem Zentrum des Weltalls. Der Mensch, wusste man fortan, ist Bewohner eines bestenfalls peripheren Gestirns. Um die Welt und

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damit auch um ihn dreht sich gar nichts. Darwin dann hielt dem Menschen seine tierischen Wurzeln vor Augen. Von Erhabenheit war fortan keine Rede mehr; die Behauptung, ein jenseitiger Weltenschöpfer habe alle seine Kunst aufgebracht, um den Menschen in den Mittelpunkt seiner Kreation zu stellen, musste fortan mit gut gerüstetem Einspruch rechnen. Sigmund Freud schließlich zeigte, dass der Mensch, so wie er sich bislang verstand, mitnichten der Herr im eigenen Hause ist. Die Vernunft, auf die er sich so viel einbildet, hat im Zweifel das Nachsehen, denn viel öfter als bislang angenommen geben den Ton die Leidenschaften an, von denen Freud nicht einmal den Namen ließ: Kühl taufte er sie auf den klinisch-nüchternen Namen „Es“. In eine ähnliche Kerbe hauten alsbald später die Genetiker, die menschliche Freiheit auf das begrenzten, was das Erbgut zuließ. Freiheit stieß sich fortan an den Grenzen biologischer Voraussetzung. Und nun also das Virus: Im Spiegel führt es die Grenzen der individuellen Autonomie vor Augen. Ich bin, der ich bin – wenn die anderen mir dabei helfen. Damit rückte das Virus einer Tradition zu Leibe, die seit einem Vierteljahrtausend das Selbstverständnis westlich geprägter Menschen von sich selber prägt. Ich und die anderen, der Einzelne und die Gesellschaft: Spätestens seit der im späten 18. Jahrhundert sich formierenden Romantik haben die Europäer dieses Verhältnis als eines voller Spannungen gesehen. Das Ganze und seine Teile, so die sich in jener Zeit bildende Auffassung, passen nicht recht zusammen, dafür hat das Ganze, sprich: die Gesellschaft, zu viel Macht. Traditionen, Sitten, Gewohnheiten: All dies hat eine Prägekraft, dem sich nur die wenigsten entziehen können. Die romantische Empfindung war der Beginn eines zögerlich einsetzenden Exodus: Wem immer das Gefüge nicht behagt, wer meinte, mit seinen Anliegen und Anlagen nicht durchzukommen gegen den engen Horizont der Erwartungen, spielte fortan mit dem Gedanken, sich abzusondern. Allein, in der Einsamkeit jenseits der Gesellschaft, so die immer populärer werdende Überzeugung, lässt sich das Heil noch finden. So wird die Wildnis zum idealen Raum, gar zum Labor solitärer Experimente. Nicht ausge-

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schlossen erschien nun, dass ausgerechnet in entlegenen Gefilden etwas Neues erwachse, eine Freiheit, die im Rahmen der etablierten Ordnung nicht mehr zu haben war. Nicht ausgeschlossen auch, dass dieses Neue außerhalb Europas erwachse, dass dort individuelle Utopien erwüchsen, die sich dann auch auf die straffen Verhältnisse der Alten Welt übertragen ließen. Literarisch probte diesen Gedanken Daniel Defoe in seinem „Robinson Crusoe“. Seine Fiktion von einem Aussteiger wider Willen wurde aus dem Stand zum Bestseller seiner Zeit und zum Klassiker der ihr folgenden. Der Grundgedanke des Romans umspannt ein Paradox: Dem Schiffbrüchigen wird in den Jahren der Einsamkeit klar, welch eitlen Tand er hinter sich gelassen hatte. Das gesittete aufgeräumte England, Städte wie das heimische York und das überbordende London: Heimstätten einer feinen, allzu feinen Gesellschaft und zugleich Orte nichtsnutziger Zerstreuung, die dem, der sie dauerhaft hinter sich lässt, wenig mehr zu sagen haben. „Aus tiefstem Herzen dankte ich Gott, dass er mir die Augen darüber geöffnet hatte, wie ich in dieser Einsamkeit sogar glücklicher als inmitten menschlicher Gesellschaft und unter allen Freuden der Welt sein könne“, geht es dem Schiffbrüchigen nach einigen Jahren auf der Insel durch den Kopf. Das neue Leben hat er sich nicht auserwählt, es wurde ihm vom Schicksal aufgezwungen. Doch gerade diesem Schlag entspringt ein paradoxes Glück: Die Forderungen des Tages adeln den Verschollenen, verschaffen ihm eine Würde, von deren Glanz er inmitten des heimischen Trubels nichts ahnte: „Allmählich kam mir zum Bewusstsein, um wie viel glücklicher mein jetziges Leben trotz aller seiner betrübsamen Umstände sei als das nichtswürdige verworfene Dasein, das ich in früheren Tagen geführt hatte.“ Der Schiffbrüchige richtet sich ein auf seinem Eiland. Er fällt Bäume und zimmert daraus eine Laube, zieht Ziegen auf, fertigt Ackerwerkzeuge an, pflanzt Reis und Korn, töpfert Schüsseln und Gefäße, flicht Körbe – kurzum: Er setzt den Prozess der Zivilisation ein zweites Mal in Gang, nicht mithilfe anderer, sondern aus eigener Kraft, unabhängig

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und autark. Der Mann auf der Insel schafft ein ganzes Reich, mit ihm selbst als einzigem Bürger und Regenten. Über Jahre gestaltet er so sein Reich, und wenn ihn doch gelegentlich die Melancholie anfährt, so wächst sie doch nie aus zur Depression. Autark ist der Mensch, entschlossen und stark, geleitet von der Überzeugung des Guten in sich selbst trotzt er den Widrigkeiten, glaubt an die Zukunft und bereitet ihr den Weg. So souverän meistert der Einsiedler seine Existenz, dass er Freitag, den Indigenen, der eines Tages zu ihm stößt, alsbald ein unverzichtbarer Lehrer ist. „Nicht lange darauf fing ich schon an, ihn im Sprechen zu unterrichten.“ So breitet sie sich aus, die Zivilisation, vorangetrieben von dem unerschütterlichen Helden, der alles verloren hat, nur nicht den Glauben an sich selbst. In den Augen des lesenden Publikums war das eine Offenbarung: Ein Mensch, trotz widrigster Umstände mit sich selbst und seinem Gott im Reinen, ertrug das ihm aufgezwungene Leben nicht nur – er formte es, trieb es voran, verhalf ihm zu der höchstmöglichen Entwicklung. Seinen Glauben und sein Selbstvertrauen, lehrte Defoe seine Leser, trägt der Mensch in sich selbst. Sie genügen ihm, seine Kraft zu entfalten, mehr als diese von Gott und Selbstbewusstsein gewährte Entschlossenheit braucht es nicht. Was gut und was böse, was richtig und was falsch ist, diese Gewissheit schöpft der Mensch aus sich selbst. Auf seine Moral kann er sich verlassen. Sie ist ihm Leitfaden auch in den dunkelsten Stunden. Der exotische Mix aus Pietismus und Aufklärung machte in Europa in den folgenden Jahrzehnten Karriere. Für den Pietismus fand man irgendwann keine rechte Verwendung mehr, umso mehr setzte man auf die Aufklärung, der man alsbald einen Schuss Romantik zusetzte. So kletterte im 18. Jahrhundert das Individuum auf die Bühne, der einzelne, sich seiner selbst bewusste Mensch. Er folgte vor allem der inneren Stimme, die ihm unerhörte Melodien sang, ahnungsvoll wie einst der Gesang der Sirenen. Es waren aufwühlende Lieder. Sie kündeten von einzigartigem Dasein, davon, was möglich wäre, würde der, der diese

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Weisen hörte, es nur wagen, dem Ahnungsvollen, das in seiner Brust sich entfaltete, auch in der Wirklichkeit den nötigen Raum zu geben. Es war Jean-Jacques Rousseau, der dem Traum von der authentischen Existenz philosophische, mehr vielleicht noch literarische Dignität verlieh. Rousseau, Jahrgang 1712, wurde zum Prototyp der schuldig gewordenen, angefeindeten und schließlich verfolgten Existenz. Die Mutter überlebte die Geburt nicht. Der Vater erklärte dem Sohn zwar, ihn weiterhin zu lieben. Doch immer, gab er ihm zugleich zu verstehen, sah er in seinem Antlitz die verstorbene Ehefrau, Rousseaus Mutter. Das stieß den Sohn in ein nie verwundenes Schuldgefühl. Damit war der Grundstein zu einer tragischen Existenz gelegt, in deren Verlauf Rousseau, auf der Suche nach der eigenen Wahrheit, sich mit allen anlegte, die seinem Programm einer radikalen, ganz und gar diesseitig ausgelegten Individualität nicht folgen mochten. Der Streit eskalierte, in der Folge sah sich Rousseau gezwungen, sich seinen Feinden über Jahre durch eine mehrjährige Flucht quer durch Europa zu entziehen. Nichts darf man sagen, folgerte der Philosoph, um fortan gegen die aus seiner Sicht missratenen Usancen seiner Zeit anzuschreiben. Dem Zwang zum normierten Denken, den er in Frankreich wie in seiner Heimatstadt Genf walten sah, setzte er das Ideal unbedingter Aufrichtigkeit entgegen. Von nichts und niemandem wollte er – und, erklärte er, sollte der Mensch – sich etwas sagen lassen. Gesellschaft fordert Verstellung, lehrte er, und der wolle er sich entziehen. „Hier ist das Porträt eines Menschen, exakt nach der Natur gezeichnet und in all seiner Wahrheit, eines Menschen, der existiert und wahrscheinlich nie wieder existieren wird“, schrieb er am Anfang seiner von 1770 an erscheinenden „Confessions“. Die Einzigartigkeit, die er stolz behauptete, enthielt ein Versprechen: Zwar würden die Leser niemals einen so radikalen Weg gehen wie der Autor der „Bekenntnisse“. Aber sie konnten ihn doch als Vorbild nehmen, an seinem Beispiel entdecken, wie einzigartig, wie großartig und innerlich reich der einzelne Mensch sein konnte, was für ein Potenzial in ihm schlummerte. „Ich beginne“, schrieb Rousseau, „ein Unterneh-

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men, das beispiellos ist und dessen Ausführung keinen Nachahmer haben wird. Ich will Meinesgleichen einen Menschen in der ganzen Wahrheit der Natur zeigen; und dieser Mensch bin ich.“ So pompös der Anspruch, so wenig mag man ihn als überzogen betrachten: Denn Rousseau – nicht nur er, aber er allen anderen voran – konstituierte ein Ideal, das seinen Zeitgenossen ein Bild ihrer selbst bescherte, ein Ideal, dem sie fortan nacheiferten. So geschah in dem zu Ende gehenden 18. Jahrhundert etwas Merkwürdiges: Die Menschen entwickelten einen bislang unbekannten Sinn für ihr subjektives Dasein, wenn nicht in der Qualität – vor allem die Pietisten hatten bereits ein feines Sensorium zur Überprüfung möglicher Verfehlungen entwickelt –, so doch in der Menge, in der sie sich fortan bemerkbar machte. Vorreiter dieser Bewegung waren die Dichter. „Die Welt ist ihm nur ein Ball, den das Ich geworfen hat“, schrieb Goethe über Fichte. „Alles, was mir entgegenkommt, ist nur ein Phantom meiner Einbildung“, hieß es im „William Lovell“ von Ludwig Tieck. Damit signalisierten sie eines: Die Zeichen stehen auf Freiheit. Der Mensch vermag die Welt zu verändern, zwar nicht durchweg im Realen, dafür aber immer im Subjektiven. Dort, in den weiten Kammern des Herzens, wird die Welt zum Spielball, dort lässt sie sich nach Belieben drehen und in die unterschiedlichsten Richtungen stoßen. Nichts ist, wie es ist, alles kann auch anders sein: Das ist das große Versprechen, das das 18. Jahrhundert bereithält. Nirgends hatte man dieses Versprechen so ernst genommen wie in Frankreich, wo man es nicht nur als subjektives, sondern objektives Programm nahm und dem Revolutionsjahr 1789 mit entsprechender Wucht zu Werke schritt – und nebenbei ein anschauliches Beispiel dafür lieferte, wie blutig es werden kann, wenn philosophischen Freiheitslehren fast über Nacht zu politischer Wirklichkeit verholfen wird. Auch anderswo mochte es im Namen der Freiheit später zu derben Szenen kommen, doch insgesamt zeigte man sich zurückhaltender und konzentrierte sich auf das Wesentliche: die Freiheit des Herzens. Diese Freiheit verhieß eine nie gekannte Macht: Denn was zählt schon

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die Wirklichkeit, wenn das Herz sich weigert, sie anzuerkennen? Fortan verliert sie zumindest einen Teil ihrer Macht; ihren Zumutungen und Drängnissen steht ab sofort weniger Raum zur Verfügung. Social distancing, diese Technik blieb in ihrer tragischen Variante dem seine Fluchtwege entlanghetzenden Jean-Jacques Rousseau vorbehalten. Rousseau flüchtete sich in eine Freiheit, die am Ende keine mehr war. Irgendwann bemerkte er doch „die Unmöglichkeit, die wirklichen Menschen („êtres“) zu erreichen“, wie er in den „Bekenntnissen“ einräumt. Rousseaus Leben war am Ende gescheitert, ein trauriges Selbstgespräch, dem er nicht mehr entkam. Dieses Schicksal blieb Rousseaus Anhängern erspart. Sie begnügten sich mit einer milderen Variante. Sie wahrten den Abstand im Imaginären: Das psychological distancing war erfunden. Bleibe unter den Menschen, aber nimm nicht alles ernst, was sie sagen, lautete die bürgerliche Variante der Distanznahme. Lass dich vor allem nicht über Gebühr irritieren. Zwar lässt sich dem wenigsten entkommen, am allerwenigsten den sehr realen ökonomischen und politischen Bedingungen. Sie sind, zumindest bis auf Weiteres und jenseits der gallischen Grenzen, unabänderlich. Trotzdem hat die Wirklichkeit keine absolute Macht mehr. Denn Absperrungen lassen sich nun auch im Imaginären errichten. So entfalteten sich ersprießliche Innenräume, blühende fiktive Landschaften, kuratiert von der eigenen Hand. „Wir leben immer in einer Welt, die wir uns selbst bilden“, fasste Johann Gottfried Herder die neuen Möglichkeiten konzis optimistisch zusammen. Nun, da die Gedanken frei waren, wurden es auch die Gefühle. Geboten war eine ganz neue Freiheitstechnik. Denn bei Nichtgefallen ließ sich die Welt zumindest innerlich auf Abstand halten. Man versteht die unmittelbar einsetzende Popularität des neuen Konzepts. Anything goes: Zumindest im Grundsätzlichen war das fortan möglich. Was folgte, war Selbstentwurf um Selbstentwurf, durchexerziert auf allen nur denkbaren Feldern. Vor nichts und niemand macht der expressive Drang halt, wer sich der Übung einmal ergeben hat,

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wollte von ihr kaum mehr lassen. Fünf Stunden täglich brauchte George Bryan „Beau Brummell“, Europas erster Dandy (1778–1840), um sich anzukleiden – erst dann war er der, der er immer hatte sein wollen. Allein der kunstvoll angelegte Gehrock verschaffte ihm die Freiheit, die er meinte. Erst jetzt war er, der fein herausgeputzte Melancholiker, ganz bei sich selbst. Überhaupt, die Spiegel der Seele: Überall reflektieren sie nun das innere Leuchten, das auch in irrlichterndem Glanz gute Figur macht. Eine „zitronengrüne Haut“ müsse seine Geliebte haben, dazu „orientalische Wimpern“, lässt Théophile Gautier 1851 einen seiner Protagonisten sagen. Befindlichkeit schlägt fortan die Etikette, genauer: Sie erweitert sie. Die ästhetischen Codes werden rigoros erweitert, die Perücke, das Insignium gehobener Stände, sieht sich verwegener Konkurrenz ausgesetzt. Der Mann, der auf sich halte, müsse bewusst vernachlässigt auftreten, fand François-René Chateaubriand: „lange Nägel, den Bart noch nicht rasiert“. Auch in der Kunst setzt sich die Expressivität an die Spitze. Alles geht rasend schnell: Um 1810 malte Caspar David Friedrich seinen Mönch noch vor ahnungsvoll gestimmter Meereskulisse. Und auch, wenn Gott sich einem sichtbaren Auftritt im Zwischenreich von Himmel und Horizont verweigerte, erwies der Künstler der pietistischen Tradition immerhin noch einen Gruß – vielleicht einen letzten in der Kunstgeschichte überhaupt. Denn der Aufbruch fand anderswo statt: Nur wenige Jahre später, 1844, brachte William Turner die entfesselten Kräfte der Moderne auf die Leinwand. „Rain, Steam, Speed“ heißt sein Gemälde eines über eine Brücke rasenden Zugs der Great Western Railway. Doch die Eisenbahn, in sich selbst eines der vornehmsten Embleme der technischen Moderne, hat unter Turners Pinsel keinen Bestand: Sie zerlegt sich, zerfließt in kaum konturierte Formen, die keinen Blick auf die Bahn mehr freigeben, sondern allenfalls auf deren Effekte: den Wind, die wirbelnde Luft, die erahnte Geschwindigkeit. Allem Weiteren aber, der exakten Treue zum Objekt, verweigert sich Turner. Die Effekte der Bahn sind ihm genug, er zielt ab auf die reine Empfindung der Energie. Die

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Bahn, der Eisen gewordene Fortschritt, und der Pinsel, der allein ihre Dynamik würdigt: Zweierlei Techniken im Geist der neuen Zeit. Paradise lost? Paradise regained! Die neue Lust am Subjektivismus setzte sich fort. Im 19. Jahrhundert stellte ein flirrender Malstil, Impressionismus genannt, die menschlichen Empfindungen über alles: Unter den Pinseln der Meister glühten Sommerfelder in nie gekannter Intensität. Aufbruch auch in der Musik: Komponisten wie Wagner, Debussy, Bartok lassen lieb gewonnene Harmoniegebäude einstürzen. In Wien erforscht Sigmund Freud die unglaublichen Energien der menschlichen Seele, vermaß jenes „wahre innere Afrika“, von dem Jean Paul, um postkoloniale Korrektheit 1827 noch zwangsläufig unbekümmert, gesprochen hatte. So hätte es lange weitergehen können. Der Mensch als Ausdruckstänzer seiner Seele. Dass es nicht so kam, dafür sorgten die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Die politischen wie etwa die beiden Weltkriege. Ebenso auch die natürlichen, speziell: die Spanische Grippe 1918/20. Die um die gesamte Erde ziehende Krankheit – sie forderte bis zu 50 Millionen Tote – wurde von nicht wenigen als mahnendes Zeichen, als Aufruhr zur Umkehr verstanden. „An Theorien herrschte kein Mangel“, schreibt Laura Spinney in ihrem Buch über „Die Welt im Fieber“. Eine ganze Reihe von Missständen wurde zur Erklärung herangezogen: „Manches schien als Ursache, der sinnlose Krieg natürlich, aber auch, je nach gesellschaftlicher Stellung, der Sittenverfall in der Unterschicht oder die Ausbeutung der Eingeborenen durch die Kolonialherren. Manche Menschen betrachteten die Krankheit allerdings als Vergeltung für etwas viel Umfassenderes: nämlich die Entscheidung so vieler Menschen, vom Weg der Wahrheit abzuweichen.“ Der Weg der Wahrheit hat sich nach der Pandemie nicht wiederfinden lassen, auch nach dem Zweiten Weltkrieg verfehlte man ihn weiter. Die Kräfte, die während jener Jahre auf die Menschen einhieben, hinterließen herbe Erinnerungen: an ein Jahrhundertverbrechen wie auch an die Not und Mangel in jeder Hinsicht: keine Unterkunft, kein Brot,

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kein Geld – es fehlte an allem. Und doch: Marshallplan und Wirtschaftswunder halfen dem Kontinent und insbesondere Westdeutschland wieder auf die Sprünge. Die Wirtschaft kam auf Touren, alsbald fehlte es an immer weniger. Nicht allzu lange mehr, und die Bürger genossen die Wonnen des Überflusses. Kein Mangel mehr, stattdessen ein Leben in wachsendem Wohlstand, überdies in politisch wie rechtlich stabiler Umgebung, zumindest im Westen des Landes wie des Kontinents insgesamt. Es folgten Jahre fröhlicher Ausgelassenheit: „Das Beste am ganzen Tag, das sind die Pausen“, befanden Roy Black und Anita 1971. „Die ganze Welt tanzt heute die Samba, Olé olé, wir sind dabei“, umriss Tony Holiday 1977 die Leichtigkeit jener Jahre, die zumindest in den unbeschwerten Momenten in das Gefühl mündete, ein Anrecht auf kaum weniger als das Ganze zu haben. „Ich will alles, ich will alles, und zwar sofort“, schenkte Gitte Haenning 1982 dem damaligen Lebensgefühl einen federnden Rhythmus. Das große Versprechen des Johann Gottfried Herder, dass wir uns unsere Welt immerzu selber bilden, es ließ sich mit immer geringerer Anstrengung erfüllen. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl machte sich 1993 höchst unbeliebt, als er Deutschland als „kollektiven Freizeitpark“ beschrieb. Rückblickend: glückliche Zeiten, die dunklen Seiten der Wirklichkeit waren domestiziert und auf hinreichenden Abstand gerückt worden. Nichts konnte der blühenden Wohlstandsgesellschaft etwas anhaben, in immer neuen Kapriolen erfand sie den Spaß und die Leichtigkeit des Seins neu. So, dass der Soziologe Gerhard Schulze im Rückblick auf die in Deutschland ausgetragene Fußballweltmeisterschaft 2006 und insbesondere auf das sie begleitende Logo – drei in der Smiley-Ästhetik gehaltene lauthals lachende Gören – den großen Trend jener Jahre „als Hinwendung zur röhrenden Idiotie“ beschrieb. Schulze beobachtete ein Phänomen, das sich bis ins Frühjahr 2020 mit einigen Abstrichen – Stichworte Finanz-, Euro-, Migrations- und Klimakrise – weitgehend erhalten hat: die Gier nach Stimulation vor insgesamt abgesicherter Gesamtkulisse. Die Pause, von der Roy Black und Anita vor fast einem hal-

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ben Jahrhundert schwärmten, wird durch teils bewusst grob gehaltene Freizeitaktivitäten ausgefüllt: dem Raunen im Fußballstadion gesellen sich gelegentliche Prügeleien hinzu; dem Nine-to-five-Job folgt die Flucht in anregendere Milieus. Einige davon sind herberer Art – nervenaufreibende Sportarten wie Rafting, Klettern oder Bunjeejumping etwa. Aufregende Erfahrungen halten auch andere Kulturen bereit – die Open-Air-Saison im Sommer etwa, die staubig-verschwitzte Hingabe an den aus Tausenden Kehlen gegröhlten Song. Ein radikaler Impressionismus ist hier am Werk, äußerste Hingabe an die physische und/ oder akustische Wucht der Welt. Von hier ist es nicht weit zu einem kulturellen Verwandten: dem Expressionismus, durchexerziert an allem, was auf Sichtbarkeit des Körpers abzielt: Tattoos, Piercing, Mode. Daseinsvergewisserung durch intensive Momente, zugleich Selbstausdruck über den Körper: Die Kultur ist das Reich der starken Erfahrungen, die zugleich solche der Selbstvergewisserung sind: Ich fühle, also bin ich. Fühlen kann man freilich auch in den weniger entlegenen Rändern der Erlebnisräume. Viel stärker genutzt sind die zentralen, leichter zugänglichen Abteilungen. Das Essen etwa, um nur ein Beispiel zu nennen: Slow Food, Countercuisine, Bio, lokale Küchen, aber auch Crossover, Exotik, Kreolismus: Köche, zu Hause wie im Restaurant, schaffen eine ganz neue Welt, alles – fast alles – ist Verfügungsmasse kulinarisch inspirierter Kreativität. Man sieht: Die Subjektivität findet und erfindet sich in immer neuen Schüben neu, in mal grellerer, mal dezenterer Akzentuierung. Das romantische Programm, der spielerische, kreative Umgang mit den Zutaten der Welt, setzt sich auch im 21. Jahrhundert fort. Die Freiheit triumphierte, sie verschaffte der Neuzeit ihre Legitimität. Die Menschen ergaben sich einem nie abreißenden experimentellen Schub, dem Leben seine Schönheit, seinen Reiz verdankte. Nie war das Leben bunter, anregender, entgrenzter (die katastrophalen Ausnahmezeiten abgerechnet) als im Licht jener großartigen Idee des 18. Jahrhunderts, die es erlaubte, die Gegenwart neu zu erfinden. Das späte 20. und frühe 21. Jahrhundert

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verschafften den Zauberspielen zusätzlichen Reiz: Niemals zuvor war das Leben so abgesichert wie in jenen Jahren, nie lebte es sich gewagter in derart unangreifbarer Position. In dieser Stimmung trafen die Deutschen, trafen die Europäer insgesamt auf das Coronavirus. Die Nachricht von der Pandemie stieß zunächst auf entspanntes Interesse: Irgendwo in China hatten sie ganz Wuhan unter Quarantäne gestellt. Eine beachtliche Leistung, möglich wohl nur im straff regierten Reich der Mitte. Nur dort wohl war es auch denkbar, dass binnen weniger Tage ein Krankenhaus für einige Tausend Menschen hochgezogen wurde. Dramatisch, beeindruckend – und angenehm weit weg. Was ein Virus sei, davon glaubte man sich keine dezidierte Vorstellung machen zu müssen. Charité, das Robert Koch- und das Paul-Ehrlich-Institut sowie eine ganze Reihe von Tropeninstituten wachten über das Land, und in den Nachbarstaaten, so die selbstverständliche Annahme, war es nicht anders. Insofern schaute man den Chinesen teils mitleidig, teils fasziniert bei der Bekämpfung ihrer Seuche zu. Für sich selbst aber schlossen die meisten Europäer eine Pandemie aus. Von einem Virus befallen zu werden, hielten sie schlicht für unter ihrer Würde. Umso ungläubiger das Erstaunen, als das Virus dann doch nach Europa kam. Leichtes Unbehagen zunächst, wachsende Sorgen dann, die schließlich, Mitte März, angesichts der täglich um Tausende sich steigernden Infektionszahlen, leichtem Entsetzen wich. Was in den beiden vorhergehenden Jahren die Klimakrise angedeutet hatte, bestätigte nun das Virus: Mit der Wirklichkeit ist ab sofort wieder zu rechnen. Die Welt ist mehr als unsere Vorstellung und vor allem unser Wille von ihr. Sie lässt Spiel, Fiktion, kreative Entwürfe zwar zu. Aber letztlich ist sie etwas ganz anderes – nämlich Bühne harter, unbestechlicher Realitäten. Wir mögen uns mit Johann Gottfried Herder unsere Welt lange Zeit selbst gebildet haben – aber nun stellten wir fest, dass das letzte Wort immer noch die Wirklichkeit hatte, und zwar ganz unabhängig davon, dass sie die letzten Jahrzehnte so vornehm geschwiegen hatte.

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Sehr bald zeigte sich allerdings ein Weiteres: Wir sind mitnichten auf die Zuschauerrolle begrenzt. Wir sind weiterhin Akteure, wir haben sehr viel in der Hand. Lange Zeit hatten wir uns und die Welt Tag für Tag verzaubert. Doch damit war nun Schluss. Stattdessen zeigten sich andere Qualitäten – insbesondere die zur absoluten Wachheit. Der Kleinkrieg, in den wir während der Migrations- und auch noch während der Klimadebatte teils verfallen waren: Die scharfen, unversöhnlichen Dispute, die öffentlichen wie die privaten, die nicht selten zum Abbruch der Beziehungen führten – all das konnten und wollten wir uns nun nicht mehr leisten. Denn auch die Politik war in den letzten Jahren mehr und mehr zur Bühne persönlicher wie kollektiver Selbstverortung geworden. Wo man politisch stand, war nicht durchweg eine Frage des reinen Arguments, sondern auch – und vielleicht sogar vor allem – des persönlichen Selbstentwurfs. Die Ambivalenz, die für politische Debatten so typisch ist, die Unvollkommenheit jeder Entscheidung, die immer nur eine für das geringere Übel sein kann – das latent schlechte Gewissen also, das sich mit der Pflege des Gemeinwohls unauflöslich verbindet –, war zum Ärgernis, ja zum Skandal geworden in den vergangenen Jahren, ablesbar an der Verhärtung des Diskurses. In seiner überschießenden Kraft war der romantische Impuls des 18. Jahrhunderts, das unbedingte Eintreten für die Verzauberung der Welt, auch in die Politik eingedrungen. Dort allerdings hatte er nichts zu suchen. Denn Politik handelt mit offenen Widersprüchen; sie auszuhalten, zu ertragen, ist die große Kunst des Metiers. Kompromisse sind sperrig, weit weniger erfreulich als die Ausweitung der persönlichen Authentizitätszone. Der rauer werdende Ton der vergangenen Jahre hatte es angedeutet: Wer sich hinter welchen Fahnen auch immer versammelte, in die Trillerpfeife für welchen Zweck auch immer pfiff, neigte ganz offenbar dazu, über den großen Weltentwurf das Kleingedruckte zu vergessen. Traten sie nicht gerade für nüchterne Forderungen wie etwa höhere Löhne oder gegen Werksschließungen an, atmeten Kundgebungen nicht selten den Geist einer merkwürdigen Selbstgerechtigkeit.

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Damit ist es nun vorbei. Gewiss: Sie sind wieder da, die zornigen Jungen und Alten, im Begriff, die große Weltverschwörung aufzudecken, Bill Gates als Megadealer des künftigen Impfstoffs anzuprangern, die Einschränkungen des öffentlichen Lebens als „Diktatur“ zu verunglimpfen. Aber es sind wenige, einige Hundert pro Stadt, in den Metropolen vielleicht sogar ein-, zweitausend. Diese Demonstranten, veganen Köchen, verkrachten Radiomoderatoren und verirrten Sängern hinterherlaufend, sind die verlorenen Kinder des romantischen Impetus: Sie verzaubern – nein, verhexen – weiterhin die Welt. Politik – genauer: ihr pseudopolitischer Fortsatz ins postfaktische, vorwissenschaftliche Feld – verschafft einigen wenigen weiterhin jene starken Erregungen, die in Zeiten der Ruhigstellung des öffentlichen Lebens so selten geworden sind. Die Frage, wie sich Zugang zu derart entflammter Fantasie gewinnen ließe, harrt weiter einer Antwort. Umso betörender der Rest der Republik. Selten wohl haben sich die Bürger aufmerksamer, verantwortlicher, engagierter gezeigt als in jenen merkwürdigen Frühjahrswochen 2020. Ein bedrückendes, zugleich aber doch betörendes Realitätsbewusstsein. Austarieren des angemessenen Abstands. Erste Versuche, die noch raren Masken aufzutreiben. Sinnen und Informationssuche zur Frage, wie sie schützen. Die Schnellsprünge der Änderungsschneider und Boutiquenbesitzer mit angeschlossener Werkstatt, motiviert von dem sehr redlichen Motiv, den sonst so kargen Verdienst endlich einmal aufzubessern. Der Wille der alsbald Maskierten, Formen einer neuen Höflichkeit zu finden in Zeiten, in denen ein Lächeln nicht mehr möglich ist. Der Wille auch – bereits wieder den Spuren des 18. Jahrhunderts folgend –, dem Verhüllungszwang spielerische, ästhetische Konnotationen abzugewinnen, etwa durch Kauf in Farbe und Muster abgestimmter Maske-Haarband-Ensembles, die alsbald in den Auslagen der kleinen Modegeschäfte lagen (und denen bald sogar noch ein ebenfalls im gleichen Muster gehaltener Bikini folgte). Ein, zwei Grade ernster war die Frage nach der optimalen Uhrzeit für den Gang in den Supermarkt, der Versuch also, dichte Mengen zu ver-

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meiden. Überhaupt Meiden und Absondern: Der Spaziergang abseits allzu frequentierter Pfade; der Umstieg von der Straßenbahn aufs Fahrrad, die mal kleinere, mal größere Sekunde, um entgegenkommenden Passanten (und ihren – womöglich, wer weiß? – viralen Begleitern) den Vortritt zu lassen; die Frage auch, wie sich mit dem vom Virus offenbar weiterhin unbeeindruckten Kollegen umgehen ließe, ohne die wiederholt geäußerte Bitte um wenigsten einen bescheidenen Rest von Abstand als Ausdruck wahnhafter Hysterie aussehen zu lassen. Einschätzungen hinsichtlich der pandemischen Gefahren, bemerkte man in diesen Tagen, konnten in erstaunlichem Maß voneinander abweichen. So ging es weiter: die unter Sportlern intensiv erörterte Frage, ob es wirklich klug ist, die wieder eröffneten Fitnessstudios zu nutzen. Unter Gourmets die Frage, ob ein Wein im Restaurant wirklich Genuss ohne Reue ist. Im Alltag die Frage: Einkaufen früh oder spät? Im Berufsalltag die Frage nach dem Transport: zur Arbeit zu Fuß (wenn möglich) oder mit der Straßenbahn, mit dem Zug oder mit dem Auto? Einmal mehr die Hände desinfizieren, oder ihnen lieber doch eine Pause von der aggressiven Chemie gönnen? Lange nicht waren wir als Gesellschaft so wach, so intelligent und vorausschauend im Umgang mit den Herausforderungen wie in diesen Wochen. Seit Langem hat sich die Wirklichkeit nicht mit solcher Vehemenz zurückgemeldet wie derzeit. Die Realität kommt mit Macht zurück, die Verzauberung der Welt findet vielerorts ein jähes Ende. Man mag darin eine – angesichts der humanitären und ökonomischen Kosten freilich viel zu hoch bezahlte – Chance sehen, nämlich die, zumindest zu den verstiegensten Ego-Trips auf Distanz zu gehen. Ist etwa der politische Dialog über die Lager hinweg wirklich so unvorstellbar? Ist Politik wirklich ein so unverzichtbarer Baustein der individuellen Identität? Die Authentizität, die wir uns wünschen, ist teils teuer erkauft. Ein wenig von diesen Obsessionen zu lassen: Dazu gäbe die Pandemie Anlass. Und doch: Dass das Virus die feinen Unterschiede nicht kennt, unsere Sehnsüchte so krude ignoriert, so viele unserer Träume vernichtet, un-

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sere Pläne und unsere Zukunft auf brutalste Weise durchkreuzt: Das ist, neben den wirtschaftlichen Verheerungen, der eigentliche Skandal dieses Virus. Auch im Namen unserer Zivilität gehört das Virus auf das Entschiedenste bekämpft!

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RENÉ SCHLOTT: „DIE STADT DORT UNTEN WAR IMMER NOCH DA“ – EIN LEKTÜRETIPP FÜR QUARANTÄNEZEITEN

Vor einigen Jahren habe ich ein Buch gelesen, das mir in diesen Tagen nicht mehr aus dem Kopf geht. Nein, es ist nicht Albert Camus’ „Die Pest“. Es handelt sich um ein Werk, welches gut fünfzig Jahre nach dem Jahrhundertroman aus Oran erschienen ist: „Die Stadt der Blinden“ von José Saramago, für das der portugiesische Schriftsteller (1922 in Azinhaga in Zentralportugal geboren, 2010 auf Lanzarote gestorben) den Literaturnobelpreis erhielt. „Das gelbe Licht leuchtete auf.“ Mit diesem Satz beginnt der Roman, der die Leser in eine Welt der Dystopie führt. In „Die Stadt der Blinden“ verliert ein Autofahrer, der im morgendlichen Großstadtverkehr unterwegs ist, an der Ampel plötzlich sein Augenlicht. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Erblindung in der fiktiven Stadt. Niemand kennt den Grund der Erkrankung, niemand den Übertragungsweg, niemand eine Heilungsmöglichkeit. Der Augenarzt, den man zu Hilfe ruft, erblindet so schnell wie seine Patienten. Die Opfer der Epidemie werden in einer leer stehenden Irrenanstalt isoliert. Schnell kommt es unter den Insassen zu Gewalttaten, in rasender Geschwindigkeit bricht die Gemeinschaft auseinander. Der Überlebenstrieb vernichtet jede Solidarität. Als den Blinden schließlich der Ausbruch aus der Quarantäne gelingt, finden sie eine Welt vor, die zusammengebrochen ist, da sich die Epidemie zu einer Pandemie ausgewachsen hat. Der Firnis der Zivilisation ist dünn, lernen wir bei Saramago.

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E I N L E K T Ü R E T I P P F Ü R Q U A R A N TÄ N E Z E I T E N

Eine Gesellschaft sperrt ihre Kinder aus: Spielplatz am Berliner Koppenplatz, März 2020

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Als ich vor nunmehr zwei Wochen an einem Spielplatz mit Vorhängeschloss vorbeilief, brannte sich mir ein Bild ein, das ich nie mehr vergessen werde. Ich lebe in einer Gesellschaft und in einer Zeit, die spielende Kinder aussperrt. In einer Zeit, in der die Frage, ob der Zweck die Mittel heilige, kaum noch gestellt werden darf. Es gibt die furchtbaren Bilder aus italienischen Krankenhäusern. Aber auch die Bilder von mit „Polizeiabsperrung“-Band versehenen Spielplatztoren halten unserer Gesellschaft einen Spiegel vor, und wir werden uns eines Tages mit Grausen an diese Bilder erinnern. Die Bereitwilligkeit, mit der diese Maßnahmen von einzelnen Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, von Ordnungsämtern an vielen Orten in diesem Land exekutiert werden, ist erschreckend. Dabei fördern die Maßnahmen mit ungeahnter Schonungslosigkeit die soziale Frage zutage. Denn mit Haus und Garten lässt sich eine Quarantäne aushalten, mit Eltern im Home-Office lassen sich die Kinder einigermaßen beschulen. Die Maßnahmen treffen die Schwächsten unserer Gesellschaft: Kinder in Sozialwohnungen oder von Alleinerziehenden, die schon qua Herkunft von unserem Bildungssystem benachteiligt werden, wie zahlreiche Studien gezeigt haben. Es müssen Wege gefunden werden, die Schulen in jedem Fall nach Ostern wieder zu öffnen. Nicht nur das Kindeswohl, sondern auch die von Politikern in Sonntagsreden oft beschworene Bildung als Zukunftsressource unseres Landes gerät sonst in Gefahr, die Folgen werden irreversibel sein. Saramagos Roman hält im Übrigen eine tröstliche Botschaft bereit: Die Frau des Arztes bleibt von der Erblindung verschont, begleitet ihren Mann aber in die Quarantäne. Sie stellt sich blind, aber mit ihrer Hilfe gelingt der Ausbruch aus der Gewalthölle, in die die Insassen die Irrenanstalt in kurzer Zeit verwandelt haben. So plötzlich wie die Krankheit kam, verschwindet sie auch wieder, am Ende erlangen alle ihr Augenlicht zurück. Aber die Welt, die sie erblicken, ist nicht mehr dieselbe wie zuvor.

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E I N L E K T Ü R E T I P P F Ü R Q U A R A N TÄ N E Z E I T E N

José Saramago 1999 vor seinem eigenen Porträt. Ein Jahr zuvor hatte er den Nobelpreis für Literatur erhalten.

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SABINE LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER: SCHWERE KRISENZEITEN FÜR DIE FREIHEITSRECHTE In Krisensituationen erwarten die Bürgerinnen und Bürger ein funktionierendes Krisenmanagement der Regierung. Angesichts der vielen Unsicherheiten über die Ausbreitung der Corona-Pandemie, Erkrankungen in der Familie und von Freunden, mögliche Engpässe in den Krankenhäusern, schwerwiegende wirtschaftliche Kollateralschäden sowie die schrecklichen Bilder von Leichentransporten in anderen Staaten wollen sie wenigstens diese Gewissheit haben: dass auf das richtige und effektive Handeln staatlicher Institutionen und der Regierung Verlass ist. In Gefährdungszeiten – und ein unsichtbarer, nicht spürbarer, leicht übertragbarer, in seinem Kern unbekannter Virus ist gefährlich für die Gesundheit und das Leben vieler Menschen – hat für die Bürgerinnen und Bürger der Schutz ihres Lebens absolute Priorität. Sie wollen Aktivität, Konzepte, Schutzschirme und gegebenenfalls drastische Maßnahmen gegen die Gefahr, infiziert zu werden. Sie wollen Vertrauen in Regierungshandeln haben. Das ist emotional verständlich. Kleinkariertes parteipolitisches Gezänk hat keinen Platz, wenn es um Lebensrettung geht. Der Staat soll so schnell wie möglich handeln, unbürokratisch in jeder Lebenssituation helfen und klare Regeln aufstellen. Die Pandemie-Notlage fördert eindimensionales Denken. Die geschätzten Letalitätsraten für junge und alte Menschen und die Notwendigkeit der abflachenden Infektionskurve scheinen kein Hinterfragen der massiven Einschränkungen der Lebensweise und der selbstverständlichen Freiheiten zu erlauben. „Angst essen Freiheit auf.“ Denn eine Aus-

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nahmesituation verlange Ausnahmeentscheidungen. Das Grundgesetz kennt aber keinen Ausnahmezustand – in Wirklichkeit haben wir einen. Setzt diese Annahme die Demokratie außer Kraft? Ist sie nur etwas für Schönwetterzeiten, genau wie die grundrechtlichen Freiheitsrechte? Wer so denkt, verkennt die Antwort, die das Grundgesetz auf das Aushöhlen der Demokratie durch das NS-Unrechtsregime gegeben hat. Natürlich gibt es keine Parallelen zwischen 1933 und 2020. Überhaupt nicht. Aber eine staatliche Handlungsweise darf sich nie wiederholen. Das Regieren durch Ermächtigungen „zur Behebung der Not von Volk und Reich“, so das 1933 beschlossene „Ermächtigungsgesetz“, das alle Macht auf die Reichsregierung zum Erlass von Gesetzen ohne jegliche demokratische Legitimation übertrug, ist im Grundgesetz nicht vorgesehen. Aus guten Gründen. Regierung braucht Kontrolle. Auch in stürmischen Zeiten. Allgemeinverfügungen, mit denen derzeit regiert wird, brauchen klare Gesetzesgrundlagen, die vom Parlament verabschiedet werden. Gesetzgebung muss nicht Monate dauern, sondern kann auch schnell im Parlament zur Verabschiedung führen. Und wenn es zu eng für alle Abgeordneten im Bundestag oder in Landtagen wird, kann es eine die Beschlussfähigkeit sichernde Mindestbesetzung mit genügend Sitzabstand geben. Wir erleben das gerade. Die Grundrechte haben keinen Ausschaltknopf in Krisenzeiten. Sie binden auch während der Corona-Gesundheitskrise das Handeln von Regierungen und Verwaltungen. Und das ist gut so. Das ist keine Blockade oder Bürokratie, sondern ist ein Sicherheitswall zwischen dem demokratischen Verfassungsstaat und dem autoritären Überwachungsstaat. Wir erleben tief greifende Beschränkungen der Freiheit seit ca. zwei Wochen. Bewegungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Freiheit der Berufsausübung sind teilweise nicht mehr gegeben, wenn es mehr als zwei Personen, die nicht zur Familie gehören, nicht erlaubt ist, draußen gemeinsam unterwegs zu sein. Die Gesellschaft wird heftig ausgebremst: leere Straßen, keine Kul-

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turveranstaltungen, kein Kino, kein Essen mit Freunden im Lieblingsrestaurant, kein ausgedehnter Einkaufsbummel, kein Friseurbesuch, kein Stöbern in Buchhandlungen, keine Sportereignisse. Da wächst sogar die Sehnsucht nach dem Verkehrsstau, nach vollen Bahnen, nach Wartezeiten im Gasthof und nach störenden E-Scootern auf dem ihnen nicht erlaubten Bürgersteig. Eine kritische Analyse staatlichen Handelns ist gerade in der Krise eine Notwendigkeit, ja die moralische Pflicht eines jeden mündigen Bürgers. Davon jedoch scheinen sich Teile der Bevölkerung bereits gelöst zu haben. Ministerpräsidenten, die noch keine Ausgangssperren verhängt haben, werden aufgefordert, genau dies zu tun. Der Ruf nach immer mehr Einschränkungen der individuellen Freiheit ist wohl einmalig in der jüngeren Geschichte dieses Landes. Wie so oft zeigt sich: Angst essen Freiheit auf. Viele drastische Maßnahmen mögen im Moment geboten sein, aber sie müssen die absolute Ausnahme bleiben. Und alle diese Maßnahmen bedürfen einer kurzen Befristung, damit sie immer wieder auf ihre Verhältnismäßigkeit überprüft werden müssen. Nimmt die Zahl der Infizierten ab, senkt das tatsächlich das Ansteckungsrisiko? Muss alles Leben in Unternehmen, in der Kulturwirtschaft, in den Bildungseinrichtungen und im Sport ausgeknipst bleiben, oder wann kann es die ersten Lockerungen geben? Wenn Experten von bis zu achtzehn Monaten Ausgangsbeschränkungen reden, dann haben sie aus ihrem Wissenschaftsturm nicht auf die Realität geblickt. Spätestens nach zwei Monaten müssen wir wieder in einen anderen Lebensmodus finden. Ich habe keine Sorge, dass sich Bundeskanzlerin Angela Merkel mittels Notstandsgesetzen zu einer Autokratin Merkel aufschwingt. Sie ist besonnen, wägt ab und findet klare Worte. In anderen Staaten wie in Ungarn nutzt Viktor Orban, der selbst ernannte Feind der liberalen Demokratie, die Krise, um sich endgültig als autoritärer Machthaber ohne Demokratie und ohne Opposition zu etablieren.

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Die Corona-Krise wird vergehen und viele Schäden hinterlassen, aber Schäden an unserer Demokratie und an unseren grundgesetzlichen Freiheitsrechten werden wir nicht zulassen. Nach der Krise ist auch nach dem Ausnahmezustand, und dann müssen alle Sonderregelungen wieder der Vergangenheit angehören.

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ULRIKE ACKERMANN: SCHOCKSTARRE DURCH CORONAVIRUS – WIR MÜSSEN UNSERE FREIHEITEN WIEDER WERTSCHÄTZEN

»Alles Hysterie!«, hörte man noch vor wenigen Wochen ziemlich häufig. Doch vielen Abwieglern und Verharmlosern des tödlichen Coronavirus sind spätestens seit dem in vielen Ländern verfügten Shutdown, den Grenzschließungen und nun auch dem Lockdown die Worte versiegt. Die staatlich-administrativ verfügten rigiden Maßnahmen zur Bekämpfung der weltweiten Seuche flankieren eine Krise, wie sie die westlichen Demokratien seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht erlebt haben und deren Folgen völlig ungewiss sind – ökonomisch, politisch, gesellschaftlich und die Zukunft der EU betreffend. Es ist der größte Stresstest, den die liberalen Gesellschaften zu bestehen haben. Angesichts der Wucht der bedrohlichen Pandemie verblassen offensichtlich die jüngst gemachten Krisenerfahrungen und die Debatten darüber: Finanzkrise, Euro-Schuldenkrise, die islamistischen Terroranschläge, die verheerenden Folgen des Syrien-Krieges, die alte und erneut aufflammende Migrationskrise, der Brexit, die Krise der Volksparteien und der Erfolg rechter und linker Populisten. Selbst die apokalyptischen Rufe, die in der so hitzig-polarisierten Klimadebatte den Weltuntergang prognostizierten, sind im Moment verstummt. Und seltsam entrückt wirkt nun die Aufregung in Deutschland, die den landespolitischen Wirrnissen in Thüringen galt.

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DER POPULISMUS WIRD KLEINLAUTER

Die jetzige Situation ist eine Zeitreise anderer Art: Die Grenzen sind dicht, der öffentliche Raum ist leer gefegt, das gesellschaftliche Leben stillgestellt, der freie Austausch von Personen, die Versammlungs-, Bewegungs- und Reisefreiheit sind ausgesetzt. Der Markt und die Produktion geraten ins Stocken, Schlangen bilden sich. So lebte es sich in der geschlossenen Gesellschaft hinter dem Eisernen Vorhang vor 1989, in den kommunistischen Diktaturen – was viele im Westen gar nicht so tragisch fanden. Viele erfahren erstmals in ihrem Leben solch drakonische Einschränkungen ihres Lebensstils und ihrer individuellen Freiheit – und würden doch gerne die Party weiterfeiern. Aus Rücksicht auf diese lieb gewonnenen Freiheiten reagierten nicht nur Politiker aus dem fröhlichen Rheinland oder beliebten Skigebieten viel zu zögerlich auf die Pandemie. Inzwischen scheint sich endlich die Einsicht durchgesetzt zu haben, dass unsere Freiheiten und unser Lebensstil, den anspruchsvollsten, den wir je hatten, nur zu halten sind, wenn wir in außergewöhnlichen Situationen zum Schutz der Gesundheit und des Gemeinwohls bereit sind, temporär auf die Ausübung dieser verfassten Freiheitsrechte zu verzichten. Dies kann natürlich nur zeitlich begrenzt stattfinden, was uns ja von China und anderen Diktaturen unterscheidet. Staatliche Schutzmaßnahmen und Sanktionen, die fast ausnahmslos die Volksgesundheit im Blick haben, werden indes nicht ausreichen. Man kann eine Gesellschaft nicht dauerhaft stillstellen, selbst wenn das staatlich-politische Krisenmanagement von der Mehrheit der Bevölkerung bis jetzt akzeptiert wird. Staatsräson und ein Konsens der demokratischen Kräfte jenseits des üblichen Parteiengezänks geben noch den Ton an. Selbst die schon halb verabschiedete Angela Merkel wird von den Deutschen wieder mehr geschätzt. Die politischen Ränder und polternden, populistischen Verächter der repräsentativ-parlamentarischen De-

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mokratie sind kleinlauter geworden, auch der üblich raue Ton in den sozialen Netzwerken mäßigt sich im Moment. Es wird dennoch im Zuge dieser Krise zu gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen kommen, die tiefer gehen werden als die bisherigen. Man denke an das verheerende Gefälle zwischen Stadt und Land, alter absteigender und neuer aufsteigender Mittelschicht oder die Tabula rasa im gesamten Sektor der Kulturschaffenden aus Kunst, Musik, Literatur und Wissenschaft, die nicht staatlich abgesichert sind. Damit müssen wir uns ohne Denkverbote und Tabus offen und ehrlich auseinandersetzen. Auch wenn die Corona-Krise im Moment noch alte gesellschaftliche und politische Konfliktlinien scheinbar eingefroren hält, werden sie noch vor dem Ende der Krise wieder hervortreten. Im Ausnahmezustand tritt der Streit zwar zurück. Aber ohne diesen gibt es auch keinen Wettbewerb der Ideen und kein produktives Ringen um die besten Lösungen. Eine wachsende Faszination für einen starken Staat und autoritäre Führer konnten wir schon vor der Corona-Krise beobachten. Tatsächlich scheint China, dem wir durch seine anfängliche Vertuschungspolitik die Verbreitung des Virus verdanken, mit seinen rigid-diktatorischen Maßnahmen erfolgreich in der Verlangsamung und Eindämmung zu sein. Und von westlichen Krisenmanagern hätte man sich ein ähnlich beherztes Vorgehen wie in Südkorea und Taiwan gewünscht. Sebastian Kurz und Markus Söder wiederum haben mit ihren klaren Ansagen und Umsetzungen Pilotfunktion und sorgen dafür, dass das abhandengekommene Vertrauen in die Volksparteien womöglich wieder wachsen könnte. Was bleibt den Bürgern denn im Moment, als ihren gewählten Vertretern, der staatlichen Administration, dem Funktionieren der Institutionen, dem Rechtsstaat und den medizinischen Experten zu vertrauen? Doch Vertrauen kann ganz schnell wieder schwinden, wenn der Ausnahmezustand und die soziale Distanzierung zu lange währt, die Gesellschaft sich nicht lebendig austauschen, streiten und verständigen kann und auf internetbasierte und fernmündliche Kommu-

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nikation eingeschränkt ist. Das leistet der Entstehung von Blasen, ideologischen Gesinnungslagern und altbekannten Polarisierungen erneut Vorschub. Die vor der Corona-Krise konstatierte Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist ja nicht plötzlich verschwunden. Die Schockstarre überdeckt nur, dass die Gesellschaften in den letzten Jahren in immer neue Kollektive zersplittert sind, die für ihre partikularen Gruppeninteressen kämpfen und mit ihrer teilweise rigiden fundamentalistischen Identitätspolitik für eine weitere Fragmentierung der Gesellschaft gesorgt haben. Vergessen wir nicht die Opferkonkurrenzen zwischen ethnischen, religiösen und sexuellen Minderheiten, die unsere Debatten bis eben geprägt haben, die ständige Neigung zu moralisieren und den politischen Gegner damit zu delegitimieren. KONFLIKTE MÜSSEN AUSGETRAGEN WERDEN

Erinnern wir uns an den miserablen Zustand der Volksparteien, die Selbstgefälligkeit einer abgehobenen politischen Klasse, ihre Reformunwilligkeit und ihr Zögern, beherzt den Herausforderungen zu begegnen – die geistige Entleerung der Mitte. Es kann also nur besser werden. Es wird nach dieser Krise zumindest einen Digitalisierungsschub geben, auch dies lang angemahnte Versäumnisse. Allerdings sollten wir nicht dem Wunschtraum erliegen, die alten Polarisierungen würden mit dieser Krise weggefegt werden und die Demokratie und ihre Institutionen, die Parteien wie die Zivilgesellschaft würden sich im Zuge ihrer Bewältigung unbeschadet wie der Phönix aus der Asche erheben. Auch ein neuer Gemeinsinn wird nicht so exponentiell ansteigen wie die Kurve der Ansteckung mit dem Virus – auch wenn wir ihn dringend brauchten. Vielleicht lernen wir zumindest, unsere Freiheiten wertzuschätzen, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Westlicher Selbsthass und die Geißelung der Globalisierung führen hingegen in die Sackgasse.

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Die Austragung von Konflikten, die Pluralität der Meinungen und Interessen, das Austarieren von Gemeinsinn und individueller Freiheit zeichnen unsere liberalen, offenen Gesellschaften aus. Deshalb müssen wir nicht erst nach der Krise, sondern jetzt über Fehler und neue Ideen streiten. Wir müssen die Meinungsfreiheit mutig praktizieren, um zu den besten Lösungen zu gelangen.

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GESINE SCHWAN: KOMMUNIKATION IN DER KRISE – WIE SCHAFFT MAN VERTRAUEN?

Im Zuge der länger andauernden Einschränkungen unseres täglichen Lebens und unserer Grundrechte wegen Corona ist es zunehmend zu Protesten gekommen. Bei den Protestierern finden sich sehr unterschiedliche Motive. Verteidigung von Grundrechten, Zweifel an der Sinnhaftigkeit konkreter Einschränkungsmaßnahmen, grundsätzliche Gegnerschaft, ja Feindschaft gegen unsere Demokratie sowie Glaube an Verschwörungstheorien kommen zusammen. Legitime Skepsis und illegitime misstrauische Feindschaft gegenüber den Entscheidungen der demokratischen Politik gehen ineinander über. Das könnte zu einer gefährlichen antidemokratischen und explosiven Mischung führen. Deshalb ist es wichtig, sich Klarheit darüber zu verschaffen, wie politische Kommunikation in der Krise das Vertrauen in unsere Demokratie stärken kann, anstatt es zu unterminieren. Dabei ist zunächst im Blick zu behalten, dass jede Kommunikation nicht nur von den Sendern, sondern auch von den Empfängern geprägt wird. Unter den Protestierenden findet sich offensichtlich eine Reihe von Personen, die die Krise für ihre rechtsextreme Agitation nutzen wollen oder ohnehin Verschwörungstheorien anhängen. Die kann man vermutlich durch bessere Kommunikation nicht erreichen. Aber man kann verhindern, dass sie zu viele Anhänger finden. Gerade in der Krise tragen die Regierungen dafür eine besondere Verantwortung, weil sie mit Autorität die Initiative ergreifen können.

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GEGENSEITIGES VERTRAUEN

Wenn Kommunikation das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger stärken soll, müssen kommunizierende Regierungsvertreter zuerst selbst Vertrauen in die Bürger und Bürgerinnen haben. Wer ihnen dagegen eher misstraut, wer „schwierige“ Informationen zu unterdrücken versucht oder sie vor Herausforderungen bewahren will, neigt zu Vertuschungen. Das wiederum schafft Misstrauen. Politikerinnen und Politiker mit einem autoritär-paternalistischen Menschenbild sind eher misstrauisch, trauen in der Regel den Bürgern weniger zu als Politikern, die sich der Aufklärung verbunden fühlen. Erstere wollen den Bürgern keine Konflikte und keinen Streit zumuten, lassen gern vieles im Dunkeln. Sie verhindern oft aktiv die Thematisierung von schwierigen Fragen, die die eigene Machtposition gefährden könnte. Ihre Politik erklären sie für „alternativlos“. Solche Positionen gibt es in allen Parteien. Demokratische Kommunikation dagegen muss eben Vertrauen in und Wertschätzung für die Bürger aufbringen, wenn sie gelingen soll. Die Politik muss auf die Urteilsfähigkeit der Bürger und auf Klärungschancen durch die öffentliche Debatte setzen. Eine solche Haltung kann den Bürgern in einer Krise wie der gegenwärtigen auch Unsicherheit zumuten. Dagegen kann die Grundhaltung des paternalistischen Misstrauens lange gut gehen und dem Machterhalt dienen. Sie ist aber gefährlich, weil sich bei Gegnern ein Misstrauenspotenzial wegen der unausgesprochenen Einwände und Zweifel anstauen kann, das lange unter der Decke bleibt. Es entsteht ein Schwelbrand, der sich dann unerwartet an den verschiedensten Stellen entfacht, sodass der kausale Zusammenhang nicht mehr erkannt werden kann. Schon Machiavelli hat davor gewarnt, dass ein Volk verloren ist, wenn es das Vertrauen in seine Politiker ganz verloren hat. Er tat dies nicht im „Principe“, sondern in seinen „Discorsi“, in denen er sich für eine freiheitliche Republik ausspricht: „Will es aber das Schicksal, dass das Volk zu niemandem Vertrauen hat, wie es manchmal der Fall ist, wenn es schon früher einmal durch die Um-

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KO M M U N I K AT I O N I N D E R K R I S E – W I E S C H A F F T M A N V E RT R A U E N ?

stände oder durch die Menschen getäuscht worden ist, so stürzt es unaufhaltsam in sein Verderben.“1 AUF GRÜNDE BAUEN: KOMMUNIKATION UNTER UNSICHERHEITSBEDINGUNGEN

Zu den Schwierigkeiten Vertrauen stiftender Kommunikation gehört, dass Politik immer unter Bedingungen der Unsicherheit entscheiden und handeln muss. Sie kann nie wissen, ob ihre Einschätzung der Lage alle wichtigen Aspekte berücksichtigt hat, ihr bleibt auch oft nicht die Zeit, alle Informationen zu sammeln, sie kann nicht sagen, wie sich die Zukunft entwickelt, welche Veränderungen eintreten und zu neuen Konstellationen führen, sie ist in der Regel bei ihren Entscheidungen darauf angewiesen, mit anderen zu kooperieren, von denen sie nicht mit Sicherheit vorhersehen kann, wie sie sich wirklich verhalten werden – um nur einige Unsicherheitsfaktoren zu nennen. Diese prinzipielle Unsicherheit muss sich Politik immer klarmachen und deshalb auch immer revisionsbereit sein. Solche Revisionen wagen demokratische Politiker und Politikerinnen jedoch in der Regel nicht, weil sie um ihre Autorität fürchten, wenn sie Aussagen korrigieren und Entscheidungen zurücknehmen bzw. ändern. Diese Gefahr besteht aber nicht, wenn Positionsänderungen jeweils gut und nachvollziehbar begründet werden. So lautet die Dritte Maxime des Gemeinsinns, die Immanuel Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft“ formuliert: „Jederzeit mit sich einstimmig denken.“ Sie fordert nicht, dass man ein Leben lang dieselben Positionen vertreten soll. Das ist für eine lebende Person gar nicht möglich. Aber man muss Positionsänderungen begründen. Die Qualität der Begründung lässt sich nicht von vornherein bestimmen. In der Politik braucht es deshalb die kontroverse Debatte, die jedenfalls unhaltbare Gründe schnell erkennen lässt. 1

Machiavelli, Niccolò, 1977, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung. Dt. Gesamtausgabe, übers., eingel. u. erläutert v. Rudolf Zorn, 2. verbesserte Aufl., Stuttgart, S. 36.

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Damit ist eine weitere zentrale Bedingung für Vertrauen stiftende Kommunikation benannt: Jede Entscheidung muss im Lichte immer bestehender Alternativen begründet werden. Nur dann erkennt sie die Adressaten als Partner an, denen sie nicht einfach Behauptungen und Gehorsam zumutet. Denn Begründungen können immer infrage gestellt werden. Nur so entsteht eine ernsthafte Diskussion auf Augenhöhe, nur so kann man die besten Lösungen finden, weil man Alternativen prüfen kann und Kehrseiten der vorgeschlagenen „Medaillen“ erkennt. Wer seine Entscheidungen im Gegensatz dazu prinzipiell nicht begründet, sondern als „alternativlos“ vorträgt, verstößt damit gegen Grundregeln des demokratischen Diskurses, der ja Vertrauen stiften soll. Alles Gesagte gilt verschärft für Krisenkommunikation. Die Begründungen für den Lockdown sind meines Erachtens nicht ausführlich genug diskutiert, Zweifel nicht hinreichend thematisiert worden. Offenbar hat man das der Öffentlichkeit in der Krise nicht zumuten wollen, obwohl das gerade unter diesen Bedingungen notwendig wäre. Vielleicht waren den Entscheidern auch selbst ihre Gründe oder Zweifel daran nicht immer bewusst. Das rächt sich jetzt. Wir sollten alle daraus lernen: Politische Kommunikation muss auf Gründe bauen, muss dialogisch-argumentativ verfahren und Vertrauen in die bürgerliche Öffentlichkeit aufbringen, wenn sie freiwillige Zustimmung gewinnen, Misstrauen und Verschwörungstheorien den Boden entziehen und Vertrauen sichern will.

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HUBERT WOLF: CORONAVIRUS IN DEN VATIKANISCHEN ARCHIVEN „Im Juni 1942 wurden hierher über 5000 Juden deportiert: heute sind wir kaum 700 Seelen, darunter über 100 Kinder, die noch immer auf Erlösung warten. Wir wurden nicht als politisch Verdächtige deportiert … Nach Abzug der rumänischen Behörden werden wir alle der letzten deutschen Vernichtungstruppe ausgeliefert. Wir kennen genau unsere Todesart. Einpferchung unter Stacheldraht, selbstgegrabene Massengräber, die Kinder vorerst lebend hineingeworfen, die Erwachsenen unter Kolbenhieben splitternackt ausgezogen und hinein ins Grab, ein paar Kugeln nachgeknallt. Es macht nichts, wenn man nicht gleich getroffen wird: man wird eh von den nächsten Menschenleibern erdrückt. Es gibt kein Entrinnen; stumpf wie das Schlachtvieh lassen wir uns ‚umlegen‘. Lange genug bewegt sich die Erde, bis wir alle erstickt sind. Dann ist endgültig Schluss. … Ein Schrei aus tiefster Todesangst gellt heute zu Euch hinüber – werdet nicht mitschuldig an unserem Tode.“ Am 6. März 2020 sitze ich im Lesesaal des Vatikanischen Apostolischen Archivs, es ist halb elf Uhr. Ich lese gerade diesen furchtbaren Bericht eines Augenzeugen. Er schrieb aus dem Ort Tulcin am Bug. Der Bericht trägt kein Datum, dürfte aber auf den Winter 1942/43 zu datieren sein. Vor mir liegt eine große Schachtel mit Unterlagen aus dem Archiv der Päpstlichen Nuntiatur in Bukarest. Nuntius Andrea Cassulo hatte in dieser Schachtel zahlreiche Schreiben, Berichte und andere Unterlagen zum Thema „Ebrei“ (Juden) aus den Jahren in einer Art Sammelakte aus 1940 bis 1945 abgelegt. Und ich bin der erste Forscher, der diese Quellen, in denen es vorwiegend um die Ermordung von über 150 000 Juden im Gouvernement Transnistrien geht, studieren kann!

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Dann vibriert mein Handy kurz, eine Nachricht geht ein. Ich schaue drauf. Ein Mitarbeiter, der zweihundert Meter entfernt auf der anderen Seite des Damasushofes im Archiv des Staatssekretariats arbeitet, schreibt: „Wir müssen hier raus. Archiv macht um 11 Uhr dicht. Erster Coronafall in der Kurie.“ Schock! Was heißt das? Nur Staatssekretariat zu oder alle Archive des Vatikans? Ich gehe mit den übrigen Mitarbeitern auf einen Espresso in die vatikanische Bar, die zwischen dem Archiv und der Bibliothek in einer profanierten Kapelle untergebracht ist. Der Kaffee ist gut wie immer. Die Gespräche ernst. Was tun? Zuerst höflich nachfragen, dann weitersehen? Ich gehe zum Chef der Aufsichtsbeamten im Benutzersaal. Er hat keine Ahnung, und von der Entscheidung des Nachbararchivs nichts gehört. Das Vatikanische Archiv würde offen bleiben. Es sei noch nie geschlossen worden. Wo käme man da hin? Und fünf Tage nach dieser historischen Archivöffnung ohnehin nicht. Typisch vatikanischer Kompetenzwirrwarr, denken wir. Gut für uns, wenn das Geheimarchiv zugänglich bleibt. Jeder geht wieder zu seinem Tisch und seinen Akten. Es ist sehr unruhig, obwohl der Lesesaal nur wenig besucht ist. Die Kollegen aus USA und Israel konnten wegen Corona gar nicht erst anreisen. Eine Stunde später wird dann ein offizielles Schreiben des Präfekten, auf Italienisch und Englisch verfasst, an jeden Benutzer verteilt. Die Botschaft klar: Auch das Vatikanische Archiv schließt heute Abend um fünf Uhr auf unbestimmte Zeit. Erneutes Krisengespräch, diesmal im Innenhof. Wir legen fest, was unbedingt noch exzerpiert und abgeschrieben werden muss, damit wir zu Hause weiterarbeiten können. Unsere Funde müssen in Münster mit bereits publizierten Quellen und der einschlägigen Literatur abgeglichen werden. Das müsste auch in einem möglichen Corona bedingten Homeoffice funktionieren. An diesem Freitagabend um 17 Uhr verlassen wir traurig das Archiv – nicht wissend, wann wir wiederkommen dürfen –, und an der Porta Santa Anna reisen wir nach einem kurzen Schwatz mit einem freundlichen Schweizer Gardisten wieder aus dem Vatikanstaat

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aus und in die Republik Italien ein. In Rom sind wenigstens die Restaurants noch offen. Ein schönes Abschiedsessen, Artischocken, Pasta und Fisch und eine gepflegte Flasche Wein sind noch drin. Wir haben auch kurzfristig Flugtickets bekommen, um aus Italien rauszukommen. Doch die Enttäuschung war groß bei mir und meinen Mitarbeitern an jenem 6. März und ist es bis heute. Denn wenige Tage zuvor, am 2. März, war wirklich ein historischer Augenblick für jeden Historiker, der quellenmäßig arbeitet: Die Bestände zum Pontifikat Pius’ XII., Papst von 1939 bis 1958, waren endlich der Forschung zugänglich geworden. Darauf hatte die Forschung jahrzehntelang gewartet. Auch mein Münsteraner Team und ich hatten diesem Augenblick entgegengefiebert. Endlich würden wir die entscheidenden Fragen an die neu zugänglichen Quellen stellen können. Hier nur eine Auswahl: Was wusste der Papst wann vom Holocaust? Hat er den Informationen über die millionenfache Ermordung der Juden geglaubt? Verfügte er über eigene kirchliche Informationen jenseits des Materials, das ihm jüdische Organisationen und die amerikanische Regierung vorlegten? Warum hat er nicht laut protestiert? Haben Pius XII., die Römische Kurie, die päpstliche Diplomatie und die Kirche vor Ort geholfen oder nicht? Und wie sah diese Hilfe konkret aus? Allein 200 000 Schachteln mit jeweils bis zu tausend Blatt allein im Vatikanischen Archiv, noch einmal so viel Material in den anderen parallel zugänglich werdenden päpstlichen Archiven. Millionen von Seiten. Eine Herkulesaufgabe. Da es nur dreißig Arbeitsplätze im Vatikanischen Archiv für die Forscher weltweit gibt, musste man sich ein halbes Jahr im Voraus anmelden. Es gab Slots für jeweils zwei bis drei Wochen. Wir Münsteraner erhielten sieben von dreißig Plätzen in den ersten drei Wochen. Großartig, ein Vertrauensbeweis des Vatikanischen Apostolischen Archivs, mit dem wir seit zwölf Jahren ein digitales Kooperationsprojekt betreiben. Wir waren euphorisch. Gut, Norditalien war Risikogebiet. Zwar führen alle Wege nach Rom, aber die Lombardei und Mailand waren weit

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Jeder Besucher des Archivs muss sich am Eingang in das Benutzerbuch eintragen. Am 2. März hat das Team Wolf die ersten vier Nummern.

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weg. Wir befürchteten, unsere Unileitung würde die Dienstreise im letzten Moment noch absagen. Unser Dekan schaltete sich ein. Dann kam grünes Licht. Wir durften hin und am Morgen des 2. März waren wir die Ersten, die sich in das große Besucherbuch des Geheimarchives eintrugen, die ersten Nummern gehörten uns. Inzwischen arbeiten wir alle im Homeoffice. Zwei Wochen Quarantäne nach der Rückkehr aus dem Risikogebiet galten für uns ab 7. März, lange vor den Kontaktverboten. Zwei Mitarbeiter zeigten Erkältungssymptome und mussten getestet werden. Drei Tage banges Warten. Negativ – Gott sei Dank. Meinen Fund aus der Nuntiatur Bukarest haben wir inzwischen eingeordnet. Er ist noch unbekannt und illustriert die Geschichte des Holocaust in einem Gebiet, das sonst in der Geschichte des Schreckens oft vergessen wird. Hier gab es kein Auschwitz und kein Treblinka. Transnistrien war 1941 von den Rumänen mit Unterstützung der deutschen Wehrmacht von den Russen erobert worden. Die Grenze bildeten die Flüsse Dnister und Bug. Hierher waren vor allem Juden aus Odessa, Bessarabien und der Bukowina von der rumänischen Polizei deportiert worden. Unterwegs kam es immer wieder zu Massakern vonseiten der einheimischen Bevölkerung, viele verhungerten auch. Der Deportationszug kam am Bug zum Stehen. Die Rumänen zogen sich zurück. Die „Endlösung“ überließen sie den Deutschen. Das ist genau der Moment des Schreckens, von dem mein Dokument berichtet. Wir waren zu siebt fünf Tage in den Archiven. Jeder konnte jeden Tag fünf große Schachteln einsehen: 175 archivalische Einheiten insgesamt. Ihre Auswertung wird uns die nächsten Wochen gut beschäftigen und eine präzise Vorbereitung auf die nächste Archivphase nach Corona ermöglichen. Und wir werden zwischendurch gemeinsam Zeitungsartikel publizieren, Radiointerviews per Telefon geben, eine Fernsehdoku konzipieren. Ich bin froh, dass ich eine gute Handbibliothek mit ein paar Tausend Bänden zu Hause habe und dass es das Internet gibt und digitale Editionen. Und dass wir in Münster in den letzten zwölf Jahren selbst eine digitale Edition zu Eugenio Pacelli – so hieß Pius XII. mit

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Das Team der Universität Münster vor dem Eingang des Vatikanischen Apostolischen Archivs. Von links nach rechts: Prof. Dr. Dr. h.c. Hubert Wolf, Dr. Barbara Schüler, Elisabeth-Marie Richter, Dr. Sascha Hinkel, Michael Pfister und Matthias Daufratshofer. Dr. Judith Schepers fehlt auf dem Bild.

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bürgerlichem Namen – abgeschlossen haben, sodass „virtuelles“ Arbeiten für uns Alltag ist. Natürlich ist Kinderbetreuung bei geschlossenen Schulen ein Thema, aber bislang bekommen wir das auch in Viruszeiten gut organisiert mit pragmatischen Absprachen zwischen dem Chef und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Apropos Virus, ausgerechnet am Donnerstag, den 5. März, haben meine Mitarbeiter mich beim gemeinsamen Abendessen daran erinnert, dass ich bei fast jedem Vortrag über die vatikanischen Archive davon spreche würde, wie glücklich ich sei, wenn ich wieder einmal einen jungen Doktoranden nach drei Tagen in Rom bereits so sehr mit dem „Virus Archivio Vaticano“ infiziert hätte, dass er diesen sein Leben lang nicht mehr los werde. Alle bestätigten lachend: Das sei mir bei ihnen allen gelungen. Und sie seien froh über diese Virusinfektion. Am folgenden Tag erwies sich das Coronavirus dann als stärker als das vatikanische. Das Lachen war uns vergangen. Aber Corvid-19 wird am Ende besiegt werden. Und das Virus, das eine immer neue Faszination und Begeisterung für die Arbeit in den Vatikanischen Archiven auslöst, wird sich machtvoll zurückmelden – vielleicht stärker als jemals zuvor, nach Wochen oder gar Monaten des Entzugs oder der Inkubationszeit im Homeoffice. Denn die Arbeit hier ist produktiv und schön, aber verglichen mit der Arbeit an den Originalquellen in Rom allenfalls ein billiger Ersatz.

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Leere Treppenhalle im Neuen Museum auf der Berliner Museumsinsel.

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HERMANN PARZINGER: NOFRETETE ALLEIN ZU HAUS? KULTUREINRICHTUNGEN IN DER CORONAKRISE – EIN ERFAHRUNGSBERICHT Wir alle haben das öffentliche Leben Mitte März mit einer Vollbremsung auf nahezu Null bringen müssen, und das in einer Weise, wie wir es uns zuvor nicht hätte vorstellen können. Strahlender Sonnenschein liegt auf der Museumsinsel in der Mitte Berlins, aber sie ist seit Wochen menschenleer, Nofretete ist allein zu Haus, alle Türen sind verschlossen, auch die unserer Bibliotheken und Archive. Aber wir haben auch viel gewonnen, die Pandemie scheint beherrschbar geworden, und das Erreichte darf jetzt nicht durch unbedachtes Agieren verspielt werden. Sicher ist aber auch, dass wir nicht einfach da anknüpfen können, wo wir vor dem Shutdown aufgehört haben. Die Welt ist zwar keine andere geworden, diesen pathetischen Formeln möchte ich mich nicht anschließen, und doch haben sich viele Dinge verändert. Wenn wir nun darangehen, wie wir schrittweise und mit großer Vorsicht wieder öffnen, dann ist für die Häuser der Stiftung Preußischer Kulturbesitz maßgeblich, welche Vorgaben das Land Berlin macht. Hygienemaßnahmen spielen eine entscheidende Rolle. Um das praktisch umzusetzen, waren viele ganz konkrete Fragen zu klären: Wo müssen Plexiglasscheiben an Kontaktstellen angebracht werden, wie können die Abstandsregeln von Museumsbesuchern eingehalten werden, wie schnell kann Aufsichtspersonal externer Dienstleister reaktiviert werden? Die Staatlichen Museen zu Berlin haben seit Langem gut funktionierende Tools für das Besuchermanagement. Um Schlangenbildung vor den Häusern zu vermeiden, sind konkrete Besuchszeiten im Internet vorab zu buchen, Online-Tickets mit Zeitfenster. Lange Schlangen vor

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den Museumstoren, dieser Traum jedes Museumsmachers kann jetzt schnell zum Albtraum werden. Doch der nationale und internationale Tourismus, der Berlin so viel Leben einhaucht und auch ein maßgeblicher Wirtschaftsfaktor in der Stadt ist, er wird auch den Museen vermutlich noch lange fehlen. Wenn wir ab dem 12. Mai ausgewählte Häuser auf der Museumsinsel (das Alte Museum, die Alte Nationalgalerie und das Pergamon-Panorama) und am Kulturforum (die Gemäldegalerie und die Ausstellung „Pop on Paper“ im Kupferstichkabinett) öffnen, so dürfte das – solange Hotels und Restaurants noch geschlossen sind und damit Reisen nur schwer möglich ist – in erster Linie ein Angebot an die Berlinerinnen und Berliner sein. Wir dürfen uns einerseits keine Schlangen wünschen, und doch hoffen wir andererseits natürlich, dass dieses Angebot von möglichst vielen angenommen wird. Die Menschen sollen sich in diesen schweren Zeiten wieder an Kunst und Kultur erfreuen können und auf andere Gedanken kommen, das ist unser Ziel, denn Museen und Kultureinrichtungen sind vor allem anderen für das Publikum da, das es – im besten Humboldt’schen Sinne – „zu erfreuen und zu belehren“ gilt. Eine andere zentrale Frage aller großen Museen ist, wie sich das mit erheblichem Vorlauf geplante und eng aufeinander abgestimmte Ausstellungsprogramm neu justieren lässt. Was können wir verschieben und einige Monate später als gedacht eröffnen, welche Laufzeiten müssen wir möglicherweise verkürzen, was muss abgesagt werden? Vieles hängt davon ab, wann halbwegs normales Leben wieder zurückkehrt. Für die zweite Jahreshälfte haben die Staatlichen Museen zu Berlin noch immer zwei große Ausstellungen auf dem Programm. Ob aber die Präsentation zur Spätgotik in der Gemäldegalerie oder die Germanen-Ausstellung in der James-Simon-Galerie und im Neuen Museum wie vorgesehen eröffnen können oder verschoben werden müssen, lässt sich heute noch nicht sicher entscheiden. Für die Stiftung mit ihren Staatlichen Museen bringt die Schließung große Einnahmeverluste mit sich, etwa 2 Mio. Euro pro Monat, Geld,

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das uns im nächsten Jahr nicht nur für die Programmarbeit fehlen wird, sondern auch zur Deckung steigender Personal- und Betriebskosten bereits fest eingeplant war. Die schrittweise Öffnung einzelner Häuser ohne touristisches Publikum wird daran wenig ändern, weil wir zum Beispiel für deutlich weniger Besucher als zu normalen Zeiten gleichzeitig erheblich mehr Aufsichtspersonal benötigen, um die Hygienemaßnahmen gewährleisten zu können. Kurzum, mehr Aufwand und mehr Ausgaben für weniger Einnahmen. Noch einmal: Es ist ein Angebot an die Menschen, und das ist es uns wert. Und noch ein anderer Aspekt ist mit der Krise verbunden. Nach der Schließung der Häuser war sehr schnell klar, dass es jetzt besonders auf die digitalen Angebote ankommt. Die Museen haben hier in den vergangenen Jahren sehr gut vorgearbeitet und ein ausgezeichnetes Angebot verfügbar gemacht. Und so vieles kam in den letzten Wochen der Krise noch hinzu. Das Bode-Museum etwa bietet attraktiv gestaltete virtuelle Rundgänge durch das ganze Haus, die Hintergrundinformationen zu jedem einzelnen Objekt liefern und enorme Klickzahlen generieren. Dank der inzwischen langjährigen Zusammenarbeit mit Google Arts & Culture präsentieren wir zehn Sammlungen mit vierzig Ausstellungen und etwa 5000 Objekten. Und wenn uns Stefan Weber, der Direktor des Islamischen Museums, in einer virtuellen Tour zur berühmten MschattaFassade mitnimmt, dann erreicht er allein damit 10 000 Menschen. Auch die anderen Direktoren stellen uns in Museums-Blogs oder auf YouTube ihre Sammlungen vor. Wenn ein kurzer Film zu Cranachs Jungbrunnen 150 000 Mal aufgerufen und 250 Mal in Social Media geteilt wird, dann sind das tolle Erfolge. Ganz neu ist in unserem Blog auch eine SpotifyPlaylist mit den legendären Konzerten in der Neuen Nationalgalerie, als dort in den Sechziger- und Siebzigerjahren Jazz-Größen wie Keith Jarrett zu Gast waren. Wir erreichen mit den digitalen Angeboten verstärkt ein jüngeres Publikum, das gerade dadurch zu späteren Besuchen unserer Häuser und Sammlungen animiert wird. Doch all das kann nicht das authentische

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Erleben des Originals und die Inszenierung des Kunstwerks im musealen Raum ersetzen. Auch sind Museen heute mehr denn je soziale Orte, an denen wir uns austauschen, anregen lassen und unsere Eindrücke mit anderen teilen. Auch deshalb vermissen die Menschen das offene Museum so sehr. Doch Verzicht weckt Sehnsucht. Deshalb bin ich sicher, dass wir nach der Krise einen neuen Museumsboom erleben werden.

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LISA HERZOG: WAS LEHRT UNS DIE CORONA-KRISE ÜBER DEN WERT DER ARBEIT? Zu lange haben wir die Arbeit unter dem Blickwinkel des Profits und nicht in Bezug auf ihren gesellschaftlichen Wert betrachtet. Wir müssen neu bestimmen, was wir wertschätzen und warum wir dies tun.

Inmitten des Chaos, der Ungewissheit und der Angst vollzieht sich während der Corona-Krise eine stille Revolution: eine Revolution in der Art und Weise, wie wir Arbeit bewerten. Das Töpfeschlagen und Klatschen für die Mitarbeiter des Gesundheitswesens, das öffentliche Lob für diejenigen, die die Regale der Supermärkte auffüllen – all das erscheint uns plötzlich normal. Unser Applaus für diejenigen, die im medizinischen Bereich oder der Lebensmittelindustrie arbeiten, bringt den Wert zum Ausdruck, den wir in ihrem Beitrag zur Gesellschaft sehen. Dabei wurde über den Beitrag der Arbeitenden viel zu lange hinweggesehen; stattdessen der Wert der Arbeit durch die Brille des Marktes beurteilt. Besonders in der angelsächsischen Welt, aber teilweise auch in Deutschland wurde seit Margaret Thatcher und Ronald Reagan den Märkten die Aufgabe zugeschrieben, Arbeitsplätze zu schaffen, ihre Bedingungen zu diktieren und den Wert der Arbeit nach finanziellen Maßstäben zu bemessen. Was dann zählt, ist die Erzeugung von Kapital, und das Gehalt eines Arbeitnehmers wird durch die Macht von Angebot und Nachfrage bestimmt. In der derzeitigen Krise wird die Diskrepanz zwischen der Bewertung der Arbeit nach ihrem Beitrag für die Gesellschaft und nach der Logik des Marktes auf schmerzhafte Weise deutlich.

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In Notzeiten haben die Formen der Arbeit Vorrang, die kurzfristig am wichtigsten sind: diejenigen, die uns buchstäblich am Leben erhalten. Weil wir mehr sind als unsere digitalen Avatare, weil wir Körper haben und unsere Körper Bedürfnisse, sind wir von denjenigen abhängig, die andere betreuen und pflegen oder die Lastwagen mit Lebensmitteln fahren. Kurz gesagt, richtet sich die Aufmerksamkeit jetzt auf diejenigen Arbeitsplätze, die direkt die menschlichen Grundbedürfnisse befriedigen. Inmitten einer Krise wie dem Ausbruch von Covid-19 ist die Konzentration auf diese menschlichen Grundbedürfnisse nachvollziehbar und wichtig. Doch die beitragsbezogene Logik lässt sich auch auf andere Weisen übertragen, wie Arbeitende zur Gesellschaft beitragen: indem sie unsere höherrangigen Bedürfnisse nach Gemeinschaft und Sinn erfüllen. Da gibt es zum Beispiel die Menschen, die die Orte betreiben, an denen wir zusammenkommen: Cafés, Kneipen, Fitness-Studios und Theater. Und es gibt diejenigen, die unser pulsierendes kulturelles Leben schöpferisch gestalten, seien es Komiker, Sportlerinnen oder unabhängige Filmemacher. Statt danach zu fragen, wie man das meiste Geld verdient, haben sie eine Vision von der Welt und von dem, was darin wertvoll ist. Durch ihre Arbeit versuchen sie, diese Werte zu verwirklichen. Im Gegensatz dazu sieht ein marktorientiertes Verständnis der Arbeit in der menschlichen Tätigkeit nichts anderes als einen Input-Faktor in einen Produktionsprozess, der letztlich der Gewinnmaximierung dient. Wir haben uns so sehr an diese Perspektive gewöhnt, dass wir vergessen haben, dass während eines großen Teils der Menschheitsgeschichte der ausschließliche Wunsch, Geld zu verdienen, als pathologisch angesehen wurde, als eine Art Sucht, die die Seele des Einzelnen eher auffrisst, als ihn glücklich zu machen. Der Soziologe Max Weber versuchte, die Ursprünge des Kapitalismus mit seinem grenzenlosen Profitstreben als Folge eines verlagerten religiösen Strebens zu erklären. Bekanntermaßen war Weber der Ansicht, die calvinistische Arbeitsethik sei mit dem kapitalistischen Gewinnstre-

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ben untrennbar verbunden. Heutige Historikerinnen haben beträchtliche Zweifel an Webers Theorie. Trotzdem wagen es nur wenige Menschen, die Legitimität einer unbegrenzten Jagd nach Profit infrage zu stellen. Indem wir diese akzeptieren, akzeptieren wir auch die Reduzierung der Arbeit auf ihren Marktwert, wobei Vergütung und Beschäftigungsbedingungen so ausgerichtet sind, dass die Profite steigen und sich die Kapitalakkumulation erhöht. In Zeiten der Krise wird die Unmenschlichkeit einer marktgesteuerten Bewertung der Arbeit sichtbar. Wir würdigen plötzlich die Beiträge derjenigen, die dafür sorgen, dass unsere körperlichen Bedürfnisse befriedigt werden. Es dämmert uns auch, dass die kleinen Unternehmen und kulturellen Organisationen, die unsere höherrangigen Bedürfnisse befriedigen – deren Aktivitäten jedoch auf Eis gelegt werden müssen, um „die Kurve flach zu halten“ – in Konkurs gehen könnten. Das zwingt uns die Frage auf, welche Zukunft vor uns liegt, wenn nur große, an Profit orientierte Unternehmen überleben, und welche Art von Beschäftigung dann für diejenigen übrig bleibt, die nach der Krise in den Arbeitsmarkt eintreten. Die Bewertung der Arbeit ausschließlich über den Markt übersieht einen entscheidenden Punkt. Viele Einzelpersonen und Organisationen erkennen die gesellschaftliche Dimension der Arbeit, und sie erbringen oft Leistungen, die über die unmittelbar von ihnen zu erfüllenden Aufgaben weit hinausgehen. Eine Krankenschwester oder ein Arzt, die ihre Pflicht ernst nehmen, sich um die Kranken zu kümmern, werden auch versuchen, ihren Patienten psychologischen Beistand zu leisten. In ähnlicher Weise mag die Besitzerin eines kleinen Geschäfts zwar die Versorgung mit bestimmten Waren sichern, daneben trägt sie aber auch zur Belebung ihrer Straße bei. In der Sprache der Ökonomie sind all dies „positive Externalitäten“: wertvolle Beiträge für die Gemeinschaft, die aber nicht in die Preise einfließen und die in einem reinen Marktumfeld daher tendenziell zu wenig angeboten werden.

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Die Logik des Marktes ermutigt die Menschen dagegen, Gewinne aus negativen Externalitäten zu erzielen: die Kosten auf andere abzuwälzen, sei es auf einzelne Personen oder auf die Gesellschaft als Ganzes. Dieses Verhalten ist besonders häufig bei großen Unternehmen, nicht nur, weil sie in der Regel mächtig genug sind, damit durchzukommen, sondern auch, weil viele von ihnen in erster Linie als Gelderzeugungs-Maschinen zum Nutzen ihrer Aktionäre geführt werden. In den letzten Jahren haben viele große Unternehmen die Beschäftigungsbedingungen für „gering qualifizierte“ Arbeitskräfte erheblich verschlechtert. Indem sie die Löhne gesenkt und Familien so gezwungen haben, daneben staatliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen, sind sie einen Teil ihrer Kosten losgeworden, um ihre finanziellen Ergebnisse zu verbessern. Es muss nicht weiter erläutert werden, welche katastrophalen Folgen dies für das Wohlergehen vieler Einzelpersonen und Familien hatte. Und gerade eine Gesellschaft wie die USA, in der Millionen von Menschen keine finanziellen Rücklagen oder die Möglichkeit haben, im Krankheitsfall zu Hause zu bleiben, ist auf Pandemien wie das Coronavirus natürlich schlecht vorbereitet. Es ist zu hoffen, dass der Wiederaufbau nach der Krise statt vom ungezügelten Streben nach Profit von einer gerechteren Bewertung von Arbeit geleitet werden wird. Dazu würden bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen für diejenigen gehören, deren Beiträge für unsere Gesellschaften lebenswichtig sind. Es würde auch bedeuten, dass das durch Geschlecht oder ethnische Herkunft definierte Lohngefälle zwischen unterschiedlichen Branchen beendet werden muss. Außerdem bedeutet es, den Arbeitnehmerinnen das Recht auf Mitbestimmung über die Organisation ihrer Arbeit zu geben. Demokratisch organisierte Arbeit kann den Arbeitenden Raum geben, einen Beitrag zum Wohlergehen ihrer Gemeinschaften zu leisten. Viele Menschen wollen nicht nur ihr Einkommen maximieren und gleichzeitig ihre Arbeitszeit auf ein Minimum reduzieren, wie es die Arbeitsmarktmodelle nahelegen, die man in Ökonomie-Lehrbüchern fin-

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det. Arbeit wird von Menschen mit Träumen und Hoffnungen und dem Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung geleistet. Viele Menschen wollen durch ihre Arbeit einen sinnvollen Beitrag zur Gesellschaft leisten – und die Arbeit sollte so organisiert werden, dass dies gelingen kann. Das bedeutet nicht, dass Arbeitsmärkte durch eine staatliche Planung der Arbeit ersetzt werden sollten. Aber es ist Regulierung nötig, um das Machtungleichgewicht zwischen großen Unternehmen und ihren Angestellten auszugleichen. Wir müssen als Gesellschaft auch überdenken, wie unsere Steuergelder verwendet werden sollen: Welche Aufgaben halten wir kurz- und langfristig für lebenswichtig? Schließlich sollte auch die Frage gestellt werden, wie die Arbeit auf demokratischere Weise organisiert werden kann, nicht nur, weil die Demokratie die beste Form der Kontrolle von Macht ist, sondern auch, weil sie einen besseren Schutz der Arbeitnehmerrechte ermöglicht. Deutschland steht in diesen Hinsichten im internationalen Vergleich relativ gut da und wird von progressiven Stimmen in den USA oder UK immer wieder als Vorbild genannt, doch dies heißt nicht, dass es nicht auch hierzulande Verbesserungsbedarf gäbe – gerade in vielen der Branchen, die durch die Krise gerade im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen. Die Beschäftigten im Gesundheitswesen und in den Supermärkten verdienen mehr als nur einen einmaligen Applaus; sie verdienen auch in normalen Zeiten die volle Anerkennung des von ihnen geleisteten Beitrags. Sie und viele andere Arbeitende, die wichtige, nicht rein in Geld ausdrückbare Beiträge zur Gesellschaft leisten, benötigen in diesen schwierigen Zeiten wirtschaftliche Unterstützung. Vor der Krise waren die Beiträge zur Gesellschaft, das Einkommen und der Status völlig voneinander getrennt – all dies war den Kräften der Arbeitsmärkte überlassen. Die Corona-Krise ist eine Gelegenheit, die Art und Weise zu überdenken, wie wir Arbeit bewerten, und unser Wirtschaftsleben nach der Krise auf andere Weise neu aufzubauen.

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JOCHEN OLTMER: MIGRATION IM CORONA-LOCKDOWN Was bedeutet ›Corona‹ aktuell für die Migrationsverhältnisse? Eine Antwort ist schnell gefunden: Die Zahl der Menschen, die sich grenzüberschreitend oder binnenstaatlich bewegen, ist ganz erheblich gesunken. Das gilt sowohl für die Bundesrepublik Deutschland oder für die Europäische Union als auch für einen Kontinent wie Afrika oder ein Land wie Indien. Außerdem haben die öffentlichen Debatten massiv an Dynamik verloren. Insbesondere seit Anfang des 21. Jahrhunderts, vor allem aber in dessen zweitem Jahrzehnt, erwiesen sich viele Aspekte der Migrationsverhältnisse bekanntlich in wachsendem Maße als hochemotional diskutierte Themen. Ob es nun um die ›Armutsmigration‹ von Menschen aus Rumänien oder Bulgarien ging, den Anstieg der Zahl der Asylsuchenden bis in die Spitzenjahre der ›Flüchtlingskrise‹ 2015/16, um ›Seenotrettung‹ im Mittelmeer, die Lage der Lager in der Ostägäis oder die Auseinandersetzungen um die verschiedensten Facetten gesellschaftlichen Wandels durch die Folgen von (vergangenen oder gegenwärtigen) räumlichen Bewegungen. ›Corona‹ bedeutet also einen ›Lockdown‹ räumlicher Bewegungen und gesellschaftlicher Aushandlungen um die Migrationsverhältnisse. Wenn das Thema aktuell diskutiert wird, geht es meist um die – auch für viele andere Felder diskutierte – Frage, ob ›nach Corona‹ wie ›vor Corona‹ sein dürfte und ob ›Corona‹ einen grundsätzliche(re)n Wandel herbeiführen wird. Man mag das Nachdenken über mögliche Antworten für fruchtlos halten, weil zu viele Unwägbarkeiten zu berücksichtigen sind. Menschen allerdings handeln bekanntlich immer unter Bedingun-

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gen der Unsicherheit und legen sich potenzielle Handlungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund von Zukunftserwartungen und Zukunftsvorstellungen zurecht. Das gilt im Übrigen auch für (potenzielle) Migrantinnen und Migranten, die sich nicht bewegen würden, hätten sie nicht eine Idee über den Zweck ihrer räumlichen Bewegung: Migration ist bekanntlich kein Selbstzweck, sondern ein Instrument zur Erreichung eines je spezifischen (Lebens-)Ziels. Vor dem Hintergrund vorliegender Erklärungsansätze und Daten lässt sich erwarten, dass die laufende Krise in vielen gesellschaftlichen Bereichen keine grundstürzenden Neuerungen mit sich bringen wird, sondern ohnehin bestehende Trends verstärkt und beschleunigt. Die Reaktionen auf die Pandemie dürften zudem nicht folgenlos bleiben: So sind häufig etwa besondere Befugnisse, die in einer Krise vergeben wurden, nach deren Ende mit dem Hinweis auf das Ausmaß der Krise und der Krisenfolgen beibehalten worden, Ausnahmekompetenzen wurden also zu Dauereinrichtungen. Was könnten diese beiden Punkte nun konkret für die Migrationsverhältnisse bedeuten? Wir erleben seit Jahren einen Trend zur Verstärkung von Maßnahmen zur Grenzsicherung. Das gilt für viele Weltregionen und auch für die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten, die seit den frühen 1990er-Jahren vermehrt Bewegungen von Menschen beobachteten, kontrollierten und die Bemühungen, sie aufzuhalten, intensivierten: Technisierung und Digitalisierung von Grenzen, zuletzt durch den vermehrten Einsatz von Datenbanken, Drohnen und Satelliten, Verstärkung des – auch gemeinsamen – grenzsichernden Personals, Auslagerung von Grenzschutzaufgaben an Private (beispielsweise Beförderungsunternehmen), Auf- und Ausbau von vertraglichen Beziehungen zu Transitländern und Herkunftsregionen von für unerwünscht erachteten Bewegungen. Weit vor dem Ausbruch der Corona-Krise wuchs zudem die Zahl der Stimmen, die EU-Binnengrenzen wieder verstärkt zu kontrollieren: 2019 nahmen sechs der insgesamt 26 Schengen-Staaten an Teilen ihrer Staats-

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grenzen – oder im Falle Frankreichs: innerhalb des eigenen Staatsgebiets – Personenkontrollen über längere Zeiträume vor, die im ›Schengen-Raum‹ an sich ausschließlich als zeitlich befristete Maßnahmen für Notfälle gelten. Selbstredend steht zu erwarten, dass die Binnen- und Außengrenzen wieder geöffnet werden, die volkswirtschaftlichen Kosten wären sonst viel zu hoch und die politischen Friktionen zu groß. Das ohnehin in den vergangenen Jahren gewachsene Kontrollbedürfnis und die ebenfalls bereits seit Längerem stark ausgebauten Kontrollkapazitäten dürften hingegen nicht sinken, vielmehr auf einem höheren Niveau weiter existieren – mit Folgen für den Umfang und die Richtung zukünftiger Bewegungen. Die Möglichkeiten der Migration könnten auch aus anderen Gründen weiter beschränkt bleiben: Migration wird häufig recht schlicht gedacht. Simple Losungen folgender Art lassen sich selbst in der wissenschaftlichen Literatur finden: ›Je mehr Armut, desto mehr Abwanderung‹, ›Umweltveränderungen / Klimawandel führt vermehrt zu Migration‹, ›Krieg bedeutet Flucht‹. Unterschätzt wird dabei die Zahl der Einflussfaktoren und die Bedeutung der Hürden, die insbesondere Bewegungen über größere und große Distanzen gegenüberstehen. Migration ist teuer, es braucht nicht nur (erhebliche) finanzielle Mittel, nötig ist auch ein Recht auf Bewegung. Fehlt es, wird Migration umso teurer. Räumliche Bewegungen müssen in den Herkunfts-, Transit- und Ankunftsgesellschaften sozial akzeptiert sein. Gibt es keine Verwandten und Bekannten andernorts, ist eine Bewegung unwahrscheinlich, Netzwerke sind also von immenser Bedeutung. Und das heißt auch: Armut behindert oder verhindert Migration, Kriege oder der Klimawandel zerstören Ressourcen, immobilisieren also eher, als dass sie mobilisieren. Viele Faktoren deuten darauf hin, dass die Corona-Pandemie die Welt ärmer macht und vor allem die Menschen betroffen sein werden, die sich ohnehin bereits in einer prekären Lage befinden. Die Wahrscheinlichkeit ist also keineswegs gering, dass das Virus als Zerstörerin von individuellen und gesellschaftlichen Ressourcen zahlreiche Menschen in

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weniger wohlhabenden oder armen Gesellschaften dort ›gefangen‹ hält, zumal Migration hochgradig selektiv ist und Menschen mit geringer Bildung und geringem Einkommen vielfach ausschließt. Ein solches Szenario mag manche im Globalen Norden angesichts der überwiegenden Thematisierung von Migration als gesellschaftliches Gefahrenpotenzial beruhigen. In einer globalen Perspektive erweist sich die Aussicht keineswegs als rosig, wäre die Grundvoraussetzung von weniger Bewegung doch mehr Armut und weniger Bildung.

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JULIA EBNER: VERSCHWÖRUNGS THEORIEN – WAS CORONA MIT UNSERER GESELLSCHAFT MACHT Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Bertram

Das Coronavirus hat die Globalisierung anti-globalistischer Verschwörungstheorien beschleunigt. Die vergangenen Wochen haben gezeigt, dass Verschwörungstheorien über die Ursprünge der Pandemie sich noch schneller ausbreiten als das Virus selbst. In mehreren Ländern ist eine Koalition aus rechtsextremen und konservativen Stimmen, Verschwörungstheoretikern und besorgten Bürgern in Erscheinung getreten, die sich gegen die Lockdown-Maßnahmen wendet und Desinformationen über die Krankheit verbreitet. Bei der Protestwelle in den USA konnte man erleben, wie Trump-Wähler, Tea-Party-Anhänger, Impfgegner, QAnon-Mitglieder, Hoaxisten (Vertreter der Idee, das Coronavirus existiere nicht) und rechtsextreme Milizen sich zusammenschlossen, mit dem Ziel, dem Lockdown ein Ende zu machen. In Australien wiederholten Demonstrationen die Rhetorik der US-Protestierenden und reproduzierten deren Slogans und Verschwörungstheorien. Und in zahlreichen Städten überall in Deutschland brachen Proteste aus, die demselben Muster folgten. Der prominente deutsche Arzt und Verschwörungstheoretiker Dr. Bodo Schiffmann, der für seine verschwörungstheoretischen Anti-Big-Pharma-Videos auf YouTube bekannt ist, zählt zu den Wortführern der vor Kurzem gegründeten Bewegung Widerstand2020, die Sympathisanten der rechtspopulistischen Partei Alternative für Deutschland (AfD) ebenso angelockt hat wie Bewegungen aus dem linken Spektrum und Impfgegner.

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Ob in den USA, Europa oder Australien, nicht immer sind sich die Protestierenden einig über ihre Gegner. Aber die WHO, philanthropische Investoren wie Bill Gates oder George Soros, Migranten, die „jüdischen globalen Eliten“ und China rangieren unter den Sündenböcken, die für die Ausbreitung des Coronavirus verantwortlich gemacht werden, ganz oben. Manche glauben auch, alles sei ein großer Schwindel, den sich, so vermuten sie, einer ihrer Lieblingssündenböcke ausgedacht hat. Die Tatsache, dass diese offenkundig unvereinbaren Verschwörungstheorien gelegentlich auf Transparenten bei demselben Protest oder in Posts auf demselben Online-Forum zu finden sind, spielt keine Rolle. In der Welt der Verschwörungstheoretiker ist alles möglich: Prinzessin Diana hat ihren eigenen Tod vorgetäuscht, wurde aber auch ermordet, und Bin Laden war schon tot, als US-Spezialkräfte 2011 sein Anwesen in Abottabad stürmten, während er zugleich heute noch am Leben ist. Das Coronavirus eignet sich noch besser für das, was Wissenschaftler als „Verschwörungsmentalität“ bezeichnen: Weil seine Gefährlichkeit für unsere Augen unsichtbar ist, ist es ein Paradoxon wie Schrödingers Katze: Es existiert und existiert zugleich nicht. Die Auswirkungen von Verschwörungstheorien auf die reale Welt sind hingegen sehr gut sichtbar. In Großbritannien setzten Anhänger der 5GVerschwörungstheorie im ganzen Land Mobilfunkmasten in Brand. In Dortmund attackierte ein rechter Demonstrant ein Presseteam. Und in den USA stürmten bewaffnete Protestierer das Michigan State Capitol. Viele Demonstranten mögen von berechtigten Sorgen getrieben sein, aber sie gefährden sich und andere. Am wichtigsten jedoch ist, dass sie eine ernste Gefahr für unsere Demokratien darstellen könnten. Die neue deutsche Bewegung Widerstand2020 möchte eine politische Partei werden und das Grundgesetz umgestalten – ein Punkt auf der politischen Agenda, der in einem Land wie Deutschland nicht auf die leichte Schulter genommen werden sollte. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass sowohl Gesundheitskrisen als auch Wirtschaftskrisen ideale Nährböden für Extremismus, Polarisierung

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und Verschwörungstheorien abgeben. Der Schwarze Tod im Europa des 14. Jahrhunderts befeuerte antisemitische Verschwörungstheorien, was ebenso für die Große Depression gilt. Heute sehen wir uns einer kombinierten Gesundheits- und Wirtschaftskrise gegenüber, während die sozialen Medien die schnelle globale Verbreitung von Verschwörungstheorien ermöglichen. Kein Wunder, dass dies zu einer beispiellosen „Infodemie“ geführt hat, wie die WHO das Phänomen genannt hat. Hinzu kommt, dass sich in Lockdown-Zeiten das Leben entschleunigt hat und Zeit verfügbarer geworden ist. Das bedeutet, dass Mitglieder rechtsextremer und verschwörungstheoretischer Netzwerke ganze Tage und Wochenenden online verbringen können und nach Herzenslust mobilisieren und agitieren, während Forscher und Tech-Firmen zunehmend Mühe haben, mit ihrem Tempo Schritt zu halten. Rechte und Verschwörungstheoretiker können sich jüngst aufgekommene Ängste und Ungewissheiten zunutze machen und das gewaltige Informationsvakuum mit Desinformationen füllen, um ihr politisches Anliegen voranzubringen. Ihr Publikum ist größer denn je, weil wir alle anfälliger sind denn je. Grob vereinfachende Versionen einer komplexeren Realität aufzugreifen, kann verlockend sein, vor allem wenn diese Realität unserer Wunschvorstellung von ihr krass widerspricht. Extremistische Gruppen bieten ein Gegenmittel gegen die erdrückende Ungewissheit und Unsicherheit, indem sie ihre eigenen erfundenen Erklärungen liefern und aus dem sogenannten „Mount Stupid“ Kapital schlagen: Der DunningKruger-Effekt zeigt, dass, wer sehr wenig Ahnung von einem Thema hat, umso selbstbewusster darüber spricht und Antworten parat hat. Es fällt schwer einzugestehen, dass wir alle im Moment im Dunkeln tappen und darauf warten, dass die Wissenschaft die Richtung weist, ohne zu wissen, wie lange das dauern wird. Viele verlieren momentan die Geduld, verständlicherweise. Aber das eigentliche Problem ist nicht ein Mangel an Geduld in der Bevölkerung, es ist ein Mangel an Vertrauen. Extremistische und verschwörungstheoretische Netzwerke haben während der vergangenen Jahre alles darangesetzt, das Vertrauen in Institu-

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tionen des Establishments zu schwächen, nicht nur im politischen Raum; auch das Vertrauen in Medienunternehmen und, was am dramatischsten ist, in akademische und wissenschaftliche Institutionen wurde von ihnen nach Kräften untergraben. Wie ich in meinem letzten Buch, „Radikalisierungsmaschinen. Wie Extremisten die neuen Technologien nutzen und uns manipulieren“, gezeigt habe, konnten verschwörungstheoretische Bewegungen ihren Einfluss im Netz während der letzten Jahre ausbauen und sich dabei die Algorithmen von YouTube und Facebook zunutze machen. Heute setzen sie ihre globalen Netzwerke wirksam ein und benutzen das Coronavirus als ihr mächtiges neues Treibmittel. Angesichts von politischen Führern, wie etwa Donald Trump, der sich gegen die WHO wendet, und Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro, der die Schwere des Virus anzweifelt, ist ihnen nicht nur mehr Legitimität zugewachsen, sondern auch eine Bühne für ihre Ideologien und Theorien. In Deutschland haben Celebrity Influencer, wie beispielsweise der Sänger Xavier Naidoo, nicht nur Zweifel an der Existenz des Virus geäußert, sondern auch QAnon-verwandte Ideen über Trump, der das Virus benutze, um heimlich Massen entführter Kinder aus unterirdischen Tunneln zu befreien. Wie die Coronavirus-Pandemie ist auch die Infodemie ein globales Phänomen. Wir müssen es international bekämpfen, um zu vermeiden, dieser weltweiten Krise eine dritte Ebene hinzuzufügen: eine gesellschaftliche.

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ANGELOS CHANIOTIS: DIE GROSSE ILLUSION: LOKALE LÖSUNGEN FÜR GLOBALE PROBLEME Im Sommer 430 v. Chr. kam ein Schiff aus Ägypten in Piräus an, mit einem ungebetenen Gast an Bord: der ,,Pest“. Die Symptome dieser noch zu identifizierenden Krankheit – Hypothesen reichen von Typhus bis zu viralem hämorrhagischem Fieber – wurden vom Historiker Thukydides beschrieben, der selbst infiziert war und überlebte (2.47.3–54.5). Dazu gehörten extreme Kopfschmerzen, Rötungen und Entzündungen der Augen, blutige Kehlen und Zungen, abstoßender Atem, Niesen, Heiserkeit und Husten, Magenschmerzen und Erbrechen, rötliche, mit Pickeln und Striemen bedeckte Körper, hohes Fieber und Durst. Das Fieber tötete die meisten Patienten innerhalb von sieben bis neun Tagen, andere starben später an Schwäche. Es wird berichtet, dass einige Patienten ihr Augenlicht oder sogar Genitalien, Finger und Zehen verloren haben. Es wird geschätzt, dass die Krankheit mehr als 50 000 Menschen getötet hat. Ihre ersten Opfer waren die Ärzte, die versuchten, sie zu behandeln. Das prominenteste Opfer war kein anderer als Perikles, der Schöpfer des gleichnamigen ,,Goldenen Zeitalters“ von Athen. Thukydides beschrieb nicht nur die Symptome der ,,Pest“, sondern auch ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Mentalität der Bevölkerung: Verzweiflung und mangelnder Widerstand unter den Patienten, die ,,wie Schafe starben“; extremes Selbstvertrauen unter den Überlebenden, die immun wurden und dachten, dass sie niemals an einer anderen Krankheit sterben würden; Vernachlässigung religiöser Riten; respektlose Entsorgung von Leichen; große Zügellosigkeit, als die Menschen anfingen, in den Tag hinein zu leben. „Weder die Angst vor

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DIE GROSSE ILLUSION

den Göttern noch die Gesetze der Menschen beeindruckten jemanden: Die Angst vor den Göttern beindruckte nicht, weil die Menschen zu dem Schluss kamen, es mache keinen Unterschied, ob man betete oder nicht, da sie sahen, dass alle gleich umkamen; die Gesetze beeindruckten nicht, weil kein Mensch erwartete, dass er lange genug leben würde, um vor Gericht gestellt zu werden und für seine Verbrechen bestraft zu werden“ (Thukydides 2.53.4). Die menschlichen Gesellschaften haben viele Pandemien wie die heutige erlebt: Die ,,Antoninische Pest“ breitete sich 165–180 n. Chr. im Römischen Reich durch Soldaten aus, die von Feldzügen im Nahen Osten zurückkehrten; die Pest von Justinian dezimierte 541–542 n. Chr. die Bevölkerung von Konstantinopel und der Häfen des Mittelmeers; die Pest von Emmaus (Amwas) verursachte den Tod einiger Gefährten Mohammeds 639 n. Chr.; noch bekannter sind der Schwarze Tod 1348–1350 und die Spanische Influenza von 1918. Die Reaktionen auf Epidemien waren jedoch nie die gleichen. Die globalisierte Welt von 2020 hat wenig Ähnlichkeit mit der letzten großen Pandemie vor einem Jahrhundert. „Löst der Flügelschlag einer Schmetterlingsfliege in Brasilien einen Tornado in Texas aus?“ Diesen Titel schlug man dem Mathematiker und Pionier der Chaostheorie Edward Lorenz für seinen Vortrag auf dem 139. Treffen der American Association for the Advancement of Science im Jahr 1972 vor. Ein halbes Jahrhundert später könnte die Frage lauten: „Kann eine Fledermaussuppe in Wuhan 16 000 Menschen in Italien töten?“ Natürlich muss die Ursache des Coronavirus noch ermittelt werden, aber seine rasche Ausbreitung erinnert uns daran, wie eng alles miteinander verbunden ist. Es überrascht nicht, dass die unmittelbaren Reaktionen sehr unterschiedlich ausfielen. Während westliche Städte einen Mangel an Toilettenpapier registrierten, registrierte Russland einen Mangel an Kondomen. Während der US-Präsident versuchte, exklusiven Zugang zu Medikamenten und medizinischer Versorgung zu erhalten, lieferte China Beatmungsgeräte nach New York, Untersuchungskits nach Palästina, Ärzte und medizinische Hilfsgüter

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nach Italien und Schutzmasken nach Griechenland. Während US-amerikanische Studenten Coronavirus-Partys in den Frühjahrsferien veranstalteten und fromme Iraner Schreine leckten und küssten, lieferten die ,,Invisible Hands“, eine Gruppe junger Freiwilliger, Lebensmittel an ältere Menschen in New York. In hundert Jahren werden Doktoranden der Geschichte endlos viele Möglichkeiten haben, Dissertationen darüber zu schreiben, wie die Pandemie die Welt verändert hat – vorausgesetzt, dass wertvolle Quellen (Tweets, YouTube-Videos, Blogs usw.) die Zeiten überdauern. Historiker sind schlechte Propheten. Vergangene Erfahrungen regen zum Nachdenken an, aber sie sagen die Zukunft nicht voraus. Obwohl Vorhersagen in einer Welt, die sich schneller ändert als in jeder anderen Epoche der Geschichte, gefährlich sind, können zwei Beobachtungen gemacht werden: Die erste betrifft die Mängel des Föderalismus in einer Zeit der Krise, die zweite die Rolle der Wissenschaftler. Die meisten Staaten oder staatsähnlichen Formationen mit föderalen Strukturen oder solche mit starker regionaler Autonomie haben nicht schnell und effizient auf die Pandemie reagiert. Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie, die Länder wie die Bundesrepublik Deutschland und die Vereinigten Staaten, aber auch kleine Staaten mit föderalen Strukturen wie Belgien, umgesetzt haben – und z. T. immer noch umsetzen, während diese Zeilen geschrieben werden –, sehen wie ein Flickenteppich aus. Die Tatsachen, dass der Gouverneur von New York drohte, den Nachbarstaat Rhode Island wegen seiner Politik, Autos mit New Yorker Nummernschildern anzuhalten, zu verklagen, dass sich Arkansas weigerte, alle nicht wesentlichen Geschäfte zu schließen, wie andere US-Bundestaaten es taten, dass nur 37 US-Bundesstaaten die Erweiterung von Medicaid angenommen haben, dass bis zum 21. März 2020 nur sechs der 16 Bundesländer (Bayern, Saarland, Rheinland-Pfalz, Hamburg, Niedersachsen und Hessen) eine partielle Schließung von Geschäften implementiert hatten, dass am 10. März 2020 die Region Brüssel alle Indoor-Events mit über 1000 Menschen verboten hatte, während die

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53 Kilometer weiter nördlich gelegene Stadt Antwerpen sich weigerte, dies zu tun, all das sind nur einige Beispiele für den schockierenden Mangel an Koordination und für lokale Kurzsichtigkeit. Und viele weitere Beispiele könnten aus den USA, Italien und Spanien hinzugefügt werden. Sie spiegeln die naive Ansicht wider, dass sich eine lokale Gemeinde vom Rest des Landes, des Kontinents oder der Welt isolieren und einen separaten Weg bei der Bekämpfung eines Problems einschlagen kann, das nicht lokal ist. Die Europäische Union bietet eines der sichtbarsten – aber kaum überraschenden – Beispiele für die Versäumnisse einer staatsähnlichen Einheit, koordinierte Maßnahmen zu ergreifen. Zugegeben ist die EU kein Bundesstaat; sie hat aber gemeinsame Grenzen, innerhalb derer sich die ,,europäischen Bürger“ frei bewegen können; sie hat ein Parlament; die Mitglieder der Eurozone haben dieselbe Währung, und für sie gelten strenge Haushaltsregeln. Das meiste, was die EU zu mehr als einer bloßen Wirtschaftsunion machte, ist außer Kraft gesetzt worden: Im Rahmen des Schengener Abkommens wurden die Grenzkontrollen wieder eingeführt. Die EU-Haushaltsregeln für Schulden sind auf Eis gelegt, das Europäische Parlament ist nirgendwo zu sehen. EU-Kritiker sind voreilig, die Brüsseler Bürokratie für etwaige Mängel der EU verantwortlich zu machen, aber man muss konstatieren: Die aktuelle Situation wurde durch die Weigerung der meisten Mitgliedsstaaten zur Zusammenarbeit sowie durch die zunehmende nationale Kurzsichtigkeit verursacht. Werden Staaten mit föderalen Strukturen ihre Lehren daraus ziehen? Ich bin selbst europäischer Staatsbürger und der Idee einer funktionierenden Europäischen Union verpflichtet. Ich hoffe, dass die Länder der EU dies tun werden. Aber Hoffnungen sollten auf Indizien beruhen, und ich sehe keine. Die zweite Beobachtung betrifft die plötzliche Bedeutung von Experten in öffentlichen Medien. Ob dies das Robert Koch-Institut in Deutschland oder die Johns-Hopkins-Universität in den USA, Dr. Fauci in Washington oder Professor Tsiodras in Athen, der Rat der Wirtschafts-

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experten oder der Internationale Währungsfonds sind, es besteht ein unstillbarer Durst nach verlässlichen Informationen, insbesondere in Anbetracht der Menge pseudowissenschaftlicher Berichte, die die sozialen Medien überfluten. Ob man dem Rat eines Experten oder eines kurzsichtigen Politikers folgt, macht den Unterschied zwischen Leben und Tod. Im Falle des Klimawandels wird dieser Unterschied in Jahrzehnten zu sehen sein, im Fall des Coronavirus in Tagen. Die Pandemie hat Wissenschaftlern und Intellektuellen – Gesundheitswissenschaftlern, Ökonomen, Soziologen, Psychologen, Historikern, Philosophen und Juristen – ein Forum geboten, von dem sie nur träumen konnten, und die Möglichkeit, für ihre Disziplinen den öffentlichen Einfluss zu beanspruchen, den sie verdienen. Es bleibt abzuwarten, ob sie dieses Forum nach Beendigung der Krise weiterhin besetzen werden. Es bleibt auch abzuwarten, ob die Welt aus dieser Pandemie die wichtigste Lektion lernen wird, die die Zukunft der globalisierten Welt betrifft: Es gibt keine lokalen Lösungen für globale Probleme, ob es sich um eine vorübergehende Pandemie handelt, das endemische Problem der Weltarmut und der Nahrungsmittelknappheit oder die kontinuierlich wachsenden und langfristigen Herausforderungen des Klimawandels. Die zwischenstaatlichen Organisationen, wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO), die UNESCO und die anderen UN-Organisationen, zu achten und zu stärken, anstatt sie zu untergraben, wäre ein guter Anfang.

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ROBERT L. KELLY: BRÜCKEN BAUEN IN ZEITEN DES UMBRUCHS

Fünf monumentale Umbrüche macht Robert L. Kelly in seinem Buch „Warum es normal ist, dass die Welt untergeht. Eine kurze Geschichte von gestern und morgen“ in der Geschichte der Menschheit aus. Fünf Umbrüche, die allesamt auch Neuanfänge waren und uns zu dem gemacht haben, was wir heute sind. Den Epilog der deutschen Ausgabe widmet er der derzeitigen Krise und zeigt uns darin, auf was es nach dem jetzigen Umbruch ankommt. Die englische Ausgabe von „Warum es normal ist, dass die Welt untergeht“ kam in den USA im November 2016 auf den Markt, eine Woche nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten. Für mehr als die Hälfte der stimmberechtigten Bevölkerung meines Landes war das keine allzu optimistische Zeit. Und bald beschäftigte uns nicht nur Trump, sondern wir mussten in den USA, in Deutschland und vielen anderen Ländern den rasanten Aufstieg rechtsgerichteter Gruppen mitansehen. Nationalistische Politiker und Regierungen kamen ans Ruder, die die bemerkenswerte Macht der sozialen Medien einsetzen, um Lügen zu verbreiten, ihre Gegner einzuschüchtern und eine Haltung à la „America first“ (oder „Britain first“ oder welches Land auch immer) vertreten. Viele Rezensenten hielten mein Buch daher für naiv. Aber ich sehe es eher als ein Produkt des „Hopepunk“, einem Science-Fiction-Genre, das 2017 von der US-Schriftstellerin Alexandra Rowland geprägt wurde. Es ist von einem unerbittlichen Optimismus geprägt, der auf der Vorstellung beruht, dass schlussendlich das Gute über das Böse triumphieren

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wird. Diese Vorstellung mag naiv sein, aber mir kommt keine in den Sinn, an die es sich mehr zu glauben lohnt. Dennoch bin ich natürlich nicht blind. In den USA hatten wir Angst davor, was passieren würde, wenn wir eine echte Krise erleben, und jetzt wissen wir es. Während ich diese Zeilen schreibe, verzeichnen die USA mehr COVID-19-Infektionen als irgendein anderes Land auf der Erde, und die Krise hat gerade erst begonnen. Die Geschichte ist voll von Epidemien und Pandemien (länder- und kontinentübergreifenden Epidemien). Am bekanntesten ist wohl der Schwarze Tod, die Pest, die durch das Bakterium „Yersinia pestis“ verursacht wurde und zwischen 1347 und 1352 mehr als die Hälfte der europäischen Bevölkerung dahinraffte. Bis zu hundert Millionen Menschen fielen ihr in Europa und Asien zum Opfer. Bis 1665 flammte die Pandemie regelmäßig wieder auf. In Nordamerika dezimierten ab 1500 ganze Wellen von Pocken, Masern, Windpocken und anderen Krankheiten die indigene Bevölkerung. Ende des 19. Jahrhunderts brach in China die Pest aus, breitete sich nach Südasien und über den Pazifik bis nach Kalifornien aus und tötete 22 Millionen Menschen. 1918 infizierte die „Spanische Grippe“ ein Viertel der Weltbevölkerung – binnen zwei Jahren erlagen ihr zwischen 17 und 50 Millionen Menschen, vielleicht sogar noch mehr. In jüngerer Zeit haben wir HIV (1980er-Jahre), SARS (2003), H1N1 (2009) und Ebola (mehrfach seit 1976) erlebt, und jetzt, da ich dies hier in sozialer Isolation schreibe, grassiert das COVID-19Virus. Epidemien gab es schon in der Zeit, die wir noch nicht durch Schriftquellen greifen können, aber die Belege dafür sind weniger direkt. In den vergangenen zehntausend Jahren ist die Weltbevölkerung immer wieder angewachsen und wurde zu bestimmten Zeitpunkten wieder dezimiert. Wir wissen nicht genau, warum, aber ein Faktor könnten Infektionskrankheiten gewesen sein, die sich auf eine Art und Weise um den Globus bewegten, die wir derzeit noch nicht ganz nachvollziehen können. Es könnte aber mit einem ähnlichen Timing bei bestimmten kul-

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turellen Entwicklungen zu tun haben, insbesondere solchen, im Zuge derer große, bevölkerungsreiche Siedlungen entstanden, wie die neolithische Stadt Çatalhöyük in der Türkei im 7. Jahrhundert v. Chr. oder die großen Pueblos im amerikanischen Südwesten des 13. Jahrhunderts – Siedlungen, die aufgrund ihrer Größe und Kompaktheit besonders anfällig für Infektionskrankheiten waren. Einige vermuten nun, dass das Verschwinden neolithischer Agrargemeinden in Europa zwischen 4000 und 3000 v. Chr. zum Teil auf den Erreger „Y. pestis“ zurückzuführen ist, der mehrere aufeinanderfolgende Pestwellen verursachte. Bei den Hethitern in Südwestasien brach im 14. Jahrhundert v. Chr. die Pest aus, und auch der Mittelmeerraum erlebte mehrere Pest-Epidemien – die Attische Seuche (430–426 v. Chr.), die Antoninische Pest (165–180 n. Chr.) und die Cyprianische Pest (249–262 n. Chr.). Die erste Pandemie, die Justinianische Pest, grassierte zwischen 541 und 750 n. Chr. und forderte europaweit um die 25–50 Millionen Todesopfer. Möglicherweise gab es bereits in der Vor- und Frühgeschichte viele Epidemien, von deren Existenz wir nichts wissen. Vielleicht aber auch nicht: Infektionskrankheiten werden sich bei den kleinen Gruppen nomadischer Jäger und Sammler, die durch die Lande zogen, bevor der Mensch sesshaft wurde, weniger effektiv verbreitet haben als in den späteren Bauerndörfern, wo viele Menschen auf engem Raum lebten, zusammen mit Ratten, Läusen und anderen Organismen, die Krankheiten übertrugen. Einige der virulenteren Infektionskrankheiten kamen erst nach der Domestizierung von Schafen, Ziegen, Schweinen und Rindern vor ca. zehntausend Jahren auf; sie brachen zunächst bei Herdentieren aus, bevor die Erreger mutierten und den Menschen befielen. Infektionskrankheiten gibt es schon sehr lange – die Tuberkulose ist mindestens sechstausend Jahre alt, Hepatitis B vielleicht sogar 15 000 Jahre –, aber Pandemien sind ein Produkt einer post-landwirtschaftlichen Welt, die durch den Handel vernetzt ist und in der Menschen zwischen verschiedenen dicht bevölkerten Städten hin- und herreisen und Krankheiten verbreiten, ohne es zu wissen.

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Wir müssen davon ausgehen, dass es in Zukunft weitere Pandemien geben wird, da immer neue Virusstämme entstehen und Keime zunehmend antibiotikaresistent werden (die Pest umfasst 34 verschiedene Stämme von „Y. pestis“). Was kann man da tun? Eine offensichtliche Antwort ist: die medizinische Forschung vorantreiben, genauer: die Entwicklung neuer Antibiotika und Impfstoffe. Das unterstütze ich natürlich. Aber um die biologische Seite des Problems geht es mir hier gar nicht. Ich mache mir vielmehr Gedanken darüber, wie Pandemien, also Krankheiten, die keine Grenzen respektieren, in Zukunft die Organisation einer Welt voller Grenzen beeinflussen werden. In der Vergangenheit haben Pandemien Gesellschaften – über den Verlust menschlichen Lebens hinaus – grundlegend verändert. Der Schwarze Tod dezimierte die europäische Bevölkerung so stark, dass die industrielle Produktion in bestimmten Sektoren wie dem Blei- und Silberabbau komplett eingestellt wurde. Die landwirtschaftliche Produktivität Ägyptens ging um 60 Prozent zurück und blieb die nächsten dreihundert Jahre lang auf einem niedrigen Niveau. Infolgedessen wurde Arbeit vielerorts wertvoller, und die Schere zwischen Arm und Reich wurde kleiner. Viele Landbesitzer verabschiedeten sich vom Ackerbau und wechselten zur weniger arbeitsintensiven Weidewirtschaft, was möglicherweise zum Boom der britischen Wollproduktion im 14. Jahrhundert beitrug. Einige Historiker sind sogar der Auffassung, dass der Schwarze Tod der Grund dafür war, dass die Produktivität Europas im 16. Jahrhundert diejenige Asiens überstieg, was dazu führte, dass es Europäer und nicht Asiaten waren, die die Welt kolonialisierten, was wiederum in diversen sozialen Veränderungen resultierte. Die Geschichte ist eine komplexe Angelegenheit, aber der Schwarze Tod, der nur fünf Jahre lang wütete, war maßgeblich daran beteiligt, das moderne Europa und damit die heutige Weltordnung zu schaffen. Wozu könnte COVID-19 führen? Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder werden wir Mauern bauen – oder Brücken. Mauern zu bauen scheint manchen geradezu verlockend, aber dazu müsste ein Land völlig

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autark sein, all seine Lebensmittel, Medikamente und Technologien selbst produzieren, und niemand dürfte ein- oder ausreisen. Und die Bürger dieses eingemauerten Landes müssten beten, dass sich die Erreger der nächsten Pandemie nicht über die Luft verbreiten oder über Insekten oder andere Tiere. Mauern sind in der heutigen Welt schlichtweg keine realistische Option. Unsere Lieferketten sind viel zu sehr miteinander verzahnt. Wie uns gerade schmerzlich bewusst wird, muss ein Virus gar nicht wie der Schwarze Tod Millionen Menschen töten, um die Weltwirtschaft ins Chaos zu stürzen. Epidemien werden von Menschen übertragen, aber wir können die Menschen nicht davon abhalten, sich frei zu bewegen. Geschäfts- und Urlaubsreisen sind das eine. Aber Klimawandel und Kriege werden auch weiterhin viele Menschen zwingen, ihre Heimat zu verlassen und Zuflucht in stabilen, wohlhabenden und sicheren Ländern zu suchen. Und wir hätten es wissen müssen, denn wie die Geschichte zeigt, sind Mauern langfristig niemals eine realistische Option – man schaue sich nur den Hadrianswall an, die Chinesische Mauer oder all die wunderbaren europäischen Burgen. Mauern funktionieren nicht. Bleibt also nur: Brücken bauen. Die rasche weltweite Verbreitung von COVID-19 und ihre unmittelbaren Auswirkungen auf die Weltwirtschaft sind ebenso offensichtlich wie beängstigend. Das Virus hat uns kalt erwischt, weil wir uns auf eine ganz bestimmte Reaktion auf die Globalisierung eingeschossen haben: andere Menschen auszuschließen und uns mit Waffen und Mauern gegen sie zu schützen. Was wir stattdessen hätten tun sollen? Wir hätten massenhaft Gesichtsmasken, Schutzkleidung, Beatmungsgeräte und Viren-Test-Kits produzieren sollen. Wir hätten von der Klimakatastrophe und von Kriegen bedrohte Menschen auf geplante, koordinierte Weise zu uns holen sollen. Krankheitserregern ist es egal, welche Nationalität jemand hat. „Niemand ist eine Insel“, schrieb der englische Dichter John Donne im Jahr 1623, als er schwer krank im Bett lag, möglicherweise mit Typhus. Nichts lässt den Geist so sehr fokussieren wie der unmittelbar bevorstehende Tod.

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Wir lernen gerade auf die harte Tour, dass wir globale Beziehungen zwischen Regierungen hätten aufbauen sollen, bei denen es selbstverständlich wäre, unseren Nachbarn beizustehen, mit Technologie, Wissen und einer transparenten Berichterstattung über Infektions- und Mortalitätsraten. Dass jetzt deutsche Kliniken französische und italienische COVID-19-Patienten aufnehmen, ist zwar noch die Ausnahme, aber immerhin ein erster Schritt in diese Richtung. Globale Kooperation ist nötig, und vielleicht braucht es COVID-19 ja, damit uns das klar wird. Wenn Ihr Nachbar Hilfe braucht, helfen Sie ihm. Warum sollte das anders sein, wenn es um die Beziehungen zwischen Ländern geht? Regierungen sind da, um die Bürgerinnen und Bürger zu schützen und ihnen zu helfen. Ihre(n) eigenen Bürgerinnen und Bürger(n), klar. Aber schützen die Regierungen sie nicht auch, indem sie Bande aufbauen, die auf gegenseitigem Vertrauen fußen und die es uns erlauben, auch für die Menschen jenseits unserer Grenzen gute Nachbarn zu sein? In Wirklichkeit ist die Welt ein einziges Land. Vielleicht ist das nur „Hopepunk“, aber ich bin überzeugt davon, dass dies letztendlich eine durchaus sachliche Vision ist. Eine, die sich im unbarmherzigen Licht der sozialen Isolation vielleicht umso deutlicher abzeichnet. Es ist Zeit, dass wir darauf reagieren und endlich handeln.

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CORINE PELLUCHON: DIE EPIDEMIE MUSS DAZU FÜHREN, DASS WIR DIE WELT AUF EINE ANDERE ART BEWOHNEN

In einer globalisierten Welt, in der nur Stärke einen Wert zu haben scheint, wirft uns die Pandemie auf die menschliche Zerbrechlichkeit zurück, so die Philosophin. Ihrer Meinung nach bietet diese Krise die Gelegenheit zu „einem persönlichen und gemeinschaftlichen Wandel“.

Geschlossene Grenzen, ein überlastetes Gesundheitswesen, wirtschaftlicher Stillstand ... Angesichts des um sich greifenden Coronavirus erlebt sich unsere globalisierte Gesellschaft als zutiefst verletzlich. Was kann uns diese Verletzlichkeit lehren?

Die COVID-19-Pandemie kann uns vieles über uns selbst und unsere Zivilisation lehren. In erster Linie erinnert sie uns an die tief greifende menschliche Verletzlichkeit in einer Welt, die alles dafür tut, diese zu vergessen. Unsere Lebensweisen und unser gesamtes Wirtschaftssystem gründen sich auf eine Maßlosigkeit und ein Allmachtsgefühl, die aus der Verdrängung unserer Körperlichkeit resultieren. Körperlichkeit meint dabei nicht nur die Tatsache, dass wir einen Körper haben und sterblich sind, sie bedeutet, dass wir die Materialität unserer Existenz und unsere Abhängigkeit von den biologischen, umweltbedingten und sozialen Faktoren unseres Lebens anerkennen müssen: Die Gesundheit ist die Bedingung unserer Freiheit. Wir, die wir uns vor allem über unseren Willen

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und unsere Entscheidungen definieren wollten, werden nun durch diese grundlegende Passivität, durch unsere Verletzlichkeit aufgehalten – durch einen möglichen Verfall des Körpers, dadurch, dass er Krankheiten ausgesetzt und auf Pflege und andere Menschen angewiesen ist. Was haben wir davon, uns dieser Abhängigkeit bewusst zu werden?

Es mag paradox klingen, aber das Bewusstsein für diese Verletzlichkeit ist eine Stärke. Die Verletzlichkeit selbst ist eine Schwäche, aber anzuerkennen, dass wir voneinander abhängig sind, ist auch die Bedingung für unsere Verantwortlichkeit. Nur die Erfahrung unserer Grenzen, unserer Verletzlichkeit und unserer Verflechtungen kann uns dazu bringen, uns durch das, was anderen geschieht, betroffen und dadurch für die Welt, in der wir leben, verantwortlich zu fühlen. Ein Wesen, das sich für unverletzbar hält, kann sich weder für andere verantwortlich fühlen noch entsprechend handeln. Autonomie ist nicht das Hirngespinst einer absoluten, naturfernen Unabhängigkeit – betrachtet man sie neu im Lichte der Verletzlichkeit, bedeutet sie vielmehr die Entscheidung, sich bei der Bewältigung der gemeinschaftlichen Aufgaben einzubringen. Indem sie uns ganz brutal unsere Verletzlichkeit vor Augen führt, bietet diese Krise auch die Gelegenheit, sich die Frage nach der eigenen Verantwortung zu stellen. Es ist zwingend erforderlich, dass wir unsere Art der Produktion, des Konsums und des Handels verändern – kurz, dass wir mit der Umstellung auf ein anderes Entwicklungsmodell beginnen und unsere Gesellschaft neu gestalten. Ist jeder von uns dazu bereit, sich zu verändern, um seinen Teil zu diesem Gemeinschaftswerk beizutragen, das ja nicht zwangsläufig eine Bürde sein muss, sondern auch ein anregendes Projekt sein kann?

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Seit den ersten Aufrufen zum Abstandhalten konnte man beobachten, dass sich Teile der Bevölkerung weiterhin in Gruppen getroffen haben. Wie lässt sich dieses Phänomen einer Risikoverneinung erklären?

In den letzten Tagen häufen sich die schlechten Nachrichten, und zum Teil wurden sie nur als Schuldzuweisungen vermittelt. Wenn ein Krisenzustand ausgerufen wird – egal ob gesundheitlicher oder ökologischer Art –, fühlen sich die Einzelnen oft machtlos. Also flüchten sie oder haben den Eindruck, das beträfe nur die anderen. Sie wollen nicht wahrhaben, was sie eigentlich wissen, und verschließen sich in der Verweigerung oder im Präsentismus. Das ist ein psychologischer Abwehrreflex und es ist wichtig, ihn zu überwinden, indem man diese negativen Gefühle durchdringt, um so den Tatsachen ins Auge zu sehen, ohne seine Handlungsfähigkeit zu verlieren. Es gibt auch eine Dichotomie zwischen Verstand und Gefühlen, zwischen dem, was man weiß, und dem, was man versteht. Auch wenn man sehr intelligent ist und die Verbreitungsmechanismen des Virus kennt – wenn man sich unverletzlich fühlt, wenn man nicht die Fähigkeit hat, sich durch das Schicksal des anderen betroffen zu fühlen, kann man trotzdem ein unverantwortliches Verhalten an den Tag legen und sich weiterhin auf den Caféterrassen um den Hals fallen. Der Philosoph Günther Anders, der zur Wahrnehmung der nuklearen Bedrohung geforscht hat, hat diese Diskrepanz aufgezeigt: Vom Verstand her weiß man, dass die Atombombe katastrophal wäre, aber man hat den Umstand nicht verinnerlicht. Das kann man auch auf das anwenden, was wir heute erleben, auf die mit der Globalisierung verbundenen Gefahren, die wir geschaffen haben und deren Folgen uns über den Kopf wachsen.

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Umgekehrt erlebt man auch Panikszenen in den Geschäften und Fluchtbewegungen in Regionen, die bislang noch nicht betroffen waren – mit dem Risiko, das Virus noch stärker zu verbreiten. Wie gelangt man von der Angst um sich selbst zu einem Verantwortungsgefühl für den anderen? Angst kann irrationales Verhalten hervorrufen und zur Panik oder zur Abschottung führen, wie wir anhand einiger Reaktionen auf diese Krise beobachten konnten. Sie kann auch zu Wut und Empörung führen, wie es bei einem Teil der Bevölkerung, vor allem bei Jugendlichen, mit Blick auf die Klimakatastrophe der Fall ist. Aber die Angst ist auch das einzige Mittel, um sich mit seinen eigenen Grenzen auseinanderzusetzen. Und ohne diese Auseinandersetzung entsteht keine Klugheit. Dennoch: Die Angst reicht nicht aus, um aus unserem Bewusstsein für das Risiko und für unsere Verantwortung ein verinnerlichtes, gelebtes Wissen zu machen. Man muss sie umwandeln, ein Verständnis für sie entwickeln, damit sich unsere negativen Erfahrungen in ein Nachdenken über unsere Grenzen verwandeln und damit uns die Angst die Möglichkeit eröffnet, verantwortungsvoll zu handeln. Lernen, Angst zu haben, das bedeutet, das Ausmaß einer schwierigen, ja sogar erschreckenden Wirklichkeit anzuerkennen, um so Antworten auf die Situation zu finden, die berücksichtigen, was man im Hier und Jetzt tun kann. Es bedeutet auch, sein eigenes Verständnis auf das der anderen zu stützen und den Experten zu vertrauen, die ihr Leben diesen Themen gewidmet haben, anstatt auf den Erstbesten zu hören. Ein Mensch muss aufgeklärt sein, um sich zu verändern. Es braucht Mut, und dabei „den Mut, Angst zu haben“, wie Günther Anders es ausdrückt. Der Mut ist kein Leichtsinn, denn er zerstört die Angst nicht. Er lässt sich aber auch nicht von ihr überwältigen, sondern überwindet sie.

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Es gibt die These, die Epidemie sei eine „Verwarnung“, ein Weckruf an unser Gewissen, um uns zu anderen Gesellschafts-, Produktions- und Entwicklungsmodellen anzuregen. Was halten Sie davon? Ich mag die Formulierung „Verwarnung“ nicht, weil sie auf die Idee einer göttlichen Strafe verweist. Auf jeden Fall verdeutlicht diese Epidemie aber die Maßlosigkeit und Irrationalität unseres Produktions- und Konsumsystems. Es besteht ein Zusammenhang zwischen den ökologischen und den gesundheitlichen Krisen. Wir stellen fest, dass die neuen Viren oft von Tieren herstammen, denn dadurch, dass wir die ganze Erde einnehmen, zerstören wir die Habitate der Wildtiere und verdammen sie dazu, sich uns anzunähern. Außerdem verbreiten sich die Viren in einer globalisierten Welt. Wir beherrschen die Folgen dieser Vielzahl von Austauschbeziehungen nicht mehr. Die Folgen in Bezug auf Sterblichkeit und Wirtschaft werden schrecklich sein. Wir sind die Opfer eines Wirtschaftssystems, das wir selbst geschaffen haben und das sich auf die Blindheit gegenüber der Begrenztheit natürlicher Ressourcen und gegenüber den gesundheitlichen Folgen gründet, die aus der Profitbesessenheit und dem Primat der Quantität über die Qualität entstehen. Welche Lehren können wir Ihrer Meinung nach daraus ziehen?

Diese Krise verpflichtet uns dazu, reifer zu werden. Wir sollten die Diskrepanz zwischen Verstand und Handeln überwinden und den Unterschied zwischen dem, wie wir handeln, und dem, was wir wissen, verringern. Der Schlüssel ist, an der Verbindung zwischen unseren Repräsentationen (der Art und Weise, wie wir uns selbst sehen und wie wir unsere Beziehungen zu den anderen Lebewesen denken), unseren Wertvorstellungen (die damit verbunden sind, welche Güter wir wertschätzen), unseren Gefühlen und unserem Verhalten zu arbeiten. Es geht darum,

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zu überdenken, wie wir die Erde bewohnen – und wie wir mit den anderen Lebewesen, vor allem den Tieren, zusammenleben – und uns dabei auf Mäßigung und unseren gesunden Menschenverstand zu besinnen. Ja, unser Entwicklungsmodell birgt enorme gesundheitliche Risiken und gesellschaftliche, ökologische sowie seelische Nachteile. Und nein, die Pflege, der Schutz der Schwächeren, die Bildung, die Landwirtschaft und die Viehzucht können nicht dem Diktat der maximalen Rendite untergeordnet werden. Es ist wichtig, die Arbeit so zu organisieren, dass sie dem Wert des Tuns und der betroffenen Individuen entspricht. Diese Pandemie kann die Gelegenheit sein, über eine schrittweise, angemessene Wende nachzudenken, die sich nicht nur auf die Verringerung der Treibhausgase beschränkt, sondern ein echtes zivilisatorisches Projekt darstellt. Ein Anfang ist bereits gemacht: Ich bin sehr glücklich, dass der französische Präsident in seiner Fernsehansprache vom 12. März von „einschneidenden Entscheidungen“ gesprochen hat. Ich erwarte weitere Schritte. Laufen wir nicht Gefahr, die Risiken zu vergessen, sobald diese Pandemie überwunden sein wird, und das System neu in Gang zu setzen?

Leider ist es nicht die Epidemie selbst, die uns zu diesem Wandel führen wird. Wie Krankheits- oder Kriegserfahrungen kann auch die Krise, die wir gerade durchmachen, vergessen werden. Es wäre schrecklich, wenn danach jeder wieder in sein vorheriges Leben zurückkehren würde oder wenn wir uns auf die Technik verlassen, wie wir es bei denjenigen sehen, die im Kampf gegen die Klimaerwärmung auf Geoengineering vertrauen. Wie alle hoffe ich natürlich, dass man schnell einen Impfstoff gegen COVID-19 findet. Aber Technik und Wissenschaft allein genügen nicht. Die eigentliche Herausforderung heute ist es, diese Krise als Gelegenheit zur individuellen und gemeinschaftlichen Veränderung zu nutzen –

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damit aus dem Bewusstsein unserer Verletzlichkeit und unserer Zugehörigkeit zu einer Welt, die größer ist als wir selbst, aus unserer Verbindung zu den anderen Lebewesen ein verinnerlichtes und erlebtes Wissen wird, das unser Verhalten verändert. Denn es ist an uns, sich – allein und gemeinsam – die Zeit zu nehmen und darüber nachzudenken, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, um so der Versuchung von Maßlosigkeit und Allmachtsfantasien – der Hybris in der Sprache der Antike – entgegenzuwirken. Wie kann diese Einsicht, dieses Bewusstwerden, vonstattengehen?

Durch die Ausgangsbeschränkungen machen wir die Erfahrung, dass sich unser Sozialleben verengt und unsere Aktivitäten verringern. Die Einsamkeit kann zum Leiden führen, aber sie kann auch, oder wieder, die Lust an dem und den anderen wecken. Sie kann uns auch mit der Frage nach dem Sinn konfrontieren. Sie gibt uns zum Beispiel die Gelegenheit, darüber nachzudenken, was für jeden Einzelnen von uns wirklich wichtig ist, zwischen dem zu unterscheiden, worauf wir nicht verzichten können, und dem, was im Pascal’schen Sinne Zerstreuung ist, in dem Sinne, dass es uns von uns selbst ablenkt oder eine Flucht nach vorn bedeutet. Wer Krankheitserfahrungen gemacht hat, weiß, dass diese das Leben verlangsamen und einengen und dass sie auch zeigen, was wesentlich ist. Diese Epidemie kann eine Gelegenheit sein, sich zu fragen, was dem menschlichen Leben Sinn verleiht: Ist es, dass man ans andere Ende der Welt fliegt, um dort einen Aufenthalt von ein paar Tagen zu verbringen oder an einer mehr oder weniger nützlichen Konferenz teilzunehmen? Ist es, Honig aus Brasilien zu kaufen oder in Kauf zu nehmen, dass das Fleisch acht Länder durchquert hat, bevor es auf meinem Teller landet, und dass es die Tiere so viel Leid gekostet hat? Wie kann man mit weniger besser leben?

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Welche Rolle können Philosophen in Zeiten der Pandemie spielen?

Die Aufgabe des Philosophen ist es, Hoffnungshorizonte zu eröffnen und Werkzeuge bereitzustellen, um die Welt zu reparieren, aber auch, die Zukunft vorzubereiten, indem man jedem ermöglicht, sich diese Werkzeuge anzueignen und seinen Teil beizutragen. Wir sind dem Chaos nicht ausgeliefert. Wir können den Wandel bewerkstelligen. Es geht nicht darum, die Welt zu reparieren, damit sie so ist wie vorher, sondern darum, Alternativen vorzuschlagen und zu erneuern. Die Hoffnung, so sagt es Bernanos, hat nichts mit Optimismus zu tun, der häufig nur eine Ersatzhoffnung oder sogar ein Ausdruck der Verweigerung ist. Die Hoffnung, sagt er, ist die überwundene Verzweiflung. Mir scheint, dass wir – angesichts einer solchen Katastrophe – alle zusammen neue Möglichkeiten entwerfen sollten, wie wir die Erde bewohnen können, kluge Möglichkeiten, die die Vielgestaltigkeit der Welt und der Lebensformen begrüßen. Das ist der Sinn der Ökologie: die Weisheit des oikos (die „Heimstätte“ der Erdbewohner), die Weisheit unseres Bewohnens der Welt, bei der es sich um eine gemeinsame Welt handelt.

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RAINER MARTEN: WAS DIE PANDEMIE UNS LEHRT Vor der sich seit Anfang 2020 ausbreitenden Coronavirus-Seuche sind „alle Völker“ gleich. Mit der Zeit wird sie jedes Land auf der Erde heimsuchen. Unter den sehr Alten und Kranken als den Gefährdetsten breitet sich eine abschiedliche Stimmung aus. Lebensgemeinschaften droht der endgültige Weggang des Einen und Anderen. Die Endlichkeit aller menschlichen Dinge bringt sich mit Nachdruck in Erinnerung. Wie anders steht es doch um den Mond! Verlässlich begleitet er mit seinem Zunehmen, seiner Fülle und seinem Abnehmen seit Menschengedenken die Erde und wird es weiterhin tun. Mitte März 2020 steht er am frühmorgendlichen Himmel in Freiburg über dem Sternwald: als Halbmond, ganz weiß, durch den runden Bogen des A als abnehmend gezeichnet. Heute löst er, ganz überraschend, ein Treueerlebnis aus – der Treue zur Erde und zu denen, die ihn mit Augen suchen und finden. Die Seuche berührt ihn nicht, nicht ihre dissoziierende Macht. „Keine sozialen Kontakte!“ Wer jetzt an die Begegnung mit „anderen“denkt, denkt auch schon an Ausweichmanöver, wenn nicht ans Händewaschen, das als Ritus ein Selbstläufer geworden ist. Die Provinzzeitung macht sich Sorgen um die Kinder, die sich, fern von Kita, Schule und Spiel im Freien, zu Hause langweilen. Von ihren drei Vorschlägen zur Kurzweil lautet die überzeugendste: sie zu „bespaßen“. Ja, die Seuche trifft auf eine gut vernetzte Spaßgesellschaft. Spaßbäder sind en vogue – mit Palmen bestückt im Schwarzwald, mit verstörenden Überraschungen in der Rheinebene. Das Gesellschaftsleben ergeht sich freilich nicht allein im Spaß, es macht auch Ernst: Wellness und Fitness verlangen gelegent-

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lich schweren körperlichen Einsatz. Doch dieser Ernst, der der Gesundheit und dem Längerleben gilt, ist wohltuend eingebettet zwischen dem Bestreben nach immer luxuriöser Mobilität und Immobilität. Man sieht die Zukunft nahe vor sich: das autonome Auto und das vollendete SmartHome. Was spricht dagegen – was spricht gegen so viel Spaß und Bequemlichkeit wie möglich? Nichts, eigentlich nichts, es sei denn, dass jetzt die Seuche etwas dagegen hat, sofern sie dazu führt, dass dieser und jener Spaß behördlich untersagt worden, dieser und jener Genuss unmöglich geworden ist – auf Zeit natürlich. Ist das aber schon alles, was sie in den Wohlstandsländern gegen das Streben nach weiterer Zunahme des Wohlstands einzuwenden hat? Wäre das denn möglich, dass sie uns mental etwas zu sagen hat? Sollte Covid-19 am Ende nicht nur ein Was und eben Etwas sein, sondern auch ein Wer? Die Weise, in der das Virus sich verbreitet, liegt auch an menschengemachten Verhältnissen, allem voran an der Globalisierung und der durch sie in Gang gesetzten Mobilität. Damit aber kann der Mensch auch etwas zu einer langsameren Verbreitung des Covid-19 tun. Aufhalten kann er es nicht, solange kein Gegenmittel zur Hand ist. Der Ausbruch der Seuche dagegen hat nichts Menschengemachtes. Dass sich das Virus, vom Tier stammend, zur Übertragung von Mensch zu Mensch eignet, ist Zufall. Der Mensch ist nicht Schuld daran. Wie immer sich auch Gottesfrauen und Gottesmänner dazu äußern, für erhellende, nicht entzaubernde Aufklärung ist es klar: Die gegenwärtig sich anbahnende Pandemie ist keine Strafe des Himmels. Sie führt dem Menschen vielmehr neu Zufälligkeit und Sinnlosigkeit seines Lebens vor Augen, die er gewohnt ist, durch ein Carpe diem zu überspielen, durch Zerstreuung, Spaß und Genuss. Rührt aber die Seuche nicht doch mental an die Bedenkenlosigkeit, nicht selten auch Rücksichtslosigkeit des Lebens im sich steigernden Wohlstand? Liberal und Kapital reimen sich, auch Kapital und digital. Sollte der Zufall des Auftritts eines zur Pandemie geeigneten Virus, der einen großen Teil der Bevölkerung krank zu machen und dies mit einem signifikanten Anteil von an der Erkrankung

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WAS D I E PA N D E M I E U N S L E H RT

Sterbenden verspricht, sollte dieser Zufall nicht wirklich dazu führen können, dass sich nicht nur allerorten neue Güte unter Menschen zeigt, sondern darüber hinaus Wachgewordene weltweit eine neue Verständigung des Menschen über sich selbst als Mensch suchen? Aus der heutigen Perspektive lässt sich der Verlauf der Pandemie nicht abschätzen. Dafür sind die Eventualitäten, zumal die von Menschen abhängigen, zu groß. Die wirtschaftlichen und damit existenziellen Folgen, die bereits jetzt als unausweichlich zu erkennen sind, werden, ohne Übertreibung gesagt, katastrophal sein. Da liegt es in Deutschland nahe, an das Jahr 1945 zurückzudenken, das den Deutschen das große Glück brachte, von einem Verbrecherregime ohnegleichen befreit zu sein. Keine Spur von Dankbarkeit zeigte sich, keine Aufarbeitung des durch deutsche Verbrechen Geschehenen. In größter Allgemeinheit machte man sich an den Wiederaufbau und Wiedereinstieg. Unterstützt vom Marshallplan und dem Aufträge bringenden Koreakrieg nahm das Wirtschaftswunder seinen Anfang. Nicht Besinnung war der Geist der Stunde, von Reue und Buße nicht zu reden, sondern die Besserung der Lebensumstände mit dem nicht zu fernen Ziel des guten Lebens. Liest man im Alten und Neuen Testament von einer „Umkehr“ (metanoia) des Volkes und des Menschen, dann geht es um den sündigen und verstockten Menschen, der sich an Gott vergeht. Da aber naht sich der Gott auch schon zum Gericht. Deswegen ruft der Johannes der Täufer Genannte laut in der Wüste, wo der Ton schallt: „Kehrt um!“ (metanoiete). Da zeigt sich etwas Wichtiges, das aller monotheistischen Religion eigen ist: ihre Disziplinierungsfunktion, und die mit den simplen Mitteln von Lohn und Strafe. Doch kein Mensch, der nur halbwegs realistisch denkt und handelt, hält den Auftritt von Covid-19 für ein Strafgericht. Es ist ein zufälliges Geschehen, ein lebensbedrohliches, das bald sein Ende finden möge, und dies auch dank vernünftiger, nicht gottverfügter Disziplin. Wie nach 1945: Man will schnellstmöglich zum normalen, zum wohligen Leben zurückkehren, was im Falle der Wohlstandsländer heißt, zu einem spaßigen und angenehmen, genussreichen Leben.

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„Keine sozialen Kontakte!“ – das könnte doch zu denken geben, gibt zu denken, zumindest dem, der im Bewusstsein lebensteiliger Verbundenheit lebt. Der sieht sich unversehens angeregt, über Nähe und Nächste hinweg auch an Fernste zu denken, ja, mit einem neuen, noch nicht gehabten Gefühl an alle Menschen, an die gegenwärtige Menschheit. Kein „seid umschlungen, Millionen“ kommt in ihm auf, kein überschwänglicher „Kuss der ganzen Welt“, sondern ein ernstes, dabei aber auch beglückendes Zusammengehörigkeitsgefühl: die Menschen dieser Erde als Schicksalsgemeinschaft, die sie auf die Brüchigkeit des Planeten gesehen, ohnedies sind. Doch dieses Gefühl drängt sich nicht vor, nimmt nicht überhand. Die Nahen und Nächsten sind es, die als Helfende und Hilfe Brauchende sein Fühlen, Denken und Handeln besetzt halten, gegebenenfalls allem zuvor ein einzigartiger Nächster, mit dem er sich auf den Tod versprochen weiß. Sind beide alt, dann wird der für die Person ungewisse Ausgang der Pandemie in ihnen ein abschiedliches Gefühl erzeugen, das an eine finale Feier des Lebens denken lässt. Ob freilich die Coronavirus-Seuche, sollte sie einmal auf Dauer unter Kontrolle geraten, die Menschen dazu anstößt, sich neu über ihr Leben und Handeln zu verständigen und der Zufälligkeit wie Sinnlosigkeit mit einer selbst geschaffenen Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit zu begegnen, bleibt ungewiss, mehr noch, wäre für den geschichtlichen Menschen etwas gänzlich Neues.

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REBEKKA REINHARD: CORONA – DIE CHANCE EINER NEUEN ZEIT Die sensibleren Geister ahnten es schon länger: So kann es nicht weitergehen. Flüchtlingsdrama, Rechtsextremismus, Hyperkapitalismus, Fake News. Da braute sich etwas zusammen. Aber niemand rechnete mit dem Unerwarteten. Dass ein in China entsprungenes Virus binnen zwei Monaten die hypermobile Welt, in der zwei Millionen Leute täglich den Flieger nehmen, in eine kollektive Lähmung zwingen würde. Vielleicht endet nun eine Zeit, in der sich trotz der andauernden Aktualitäten anscheinend kaum etwas ändert. Kürzlich noch ließ sich die Welt wie eine ununterbrochene Serie konsumieren, wie ein kontinuierlicher und somit fast langweiliger Stream wechselnder Katastrophen. Der Zeit-Raum des Internet überwölbte das raumzeitlich strukturierte Gefüge historischer Abläufe. „Geschichte“ versank im Meer der Narrative. Alles geschah gleichzeitig, gegenläufig, gleichförmig. Gerade noch regierte eine von Literaturwissenschaftler Hans-Ulrich Gumbrecht so genannte hyperaktuelle, stetig „sich verbreiternde Gegenwart“. Es war ein Jetzt, das nach dem 2. Weltkrieg begann und nicht mehr aufhörte, das immer weiter ging, bis es so weit reichte wie der Cyberspace. Ein Wohlstands- und Wohlfühl-Jetzt. Im März 2020 scheint plötzlich eine neue Zeitrechnung zu beginnen. Alles passiert in diesem Augenblick. Die Verbreitung des Virus reproduziert sich in Echtzeit im Netz. Die Unsicherheit lässt sich nicht kontrollieren. Die „breite Gegenwart“ wird schmal. Sie verengt sich auf den wiederkehrenden Moment des Händewaschens, einer vorsintflutlichen und zugleich hochaktuellen Anwendung, gegen die jede App mit ihrem innovativen, intuitiven Design alt aussieht. Gerade noch beklagte man

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den Stress viel zu vieler Arbeiten, Konferenzen, Reisen – nun sitzt man zu Hause und ist fassungslos angesichts der exponentiell wachsenden Infektions- und Todesraten. Keiner weiß, was kommt. Vielleicht liegt in der Krise auch eine große Chance. Vielleicht kann ja dieses brandneue, hochansteckende Virus bewirken, was Hunderttausenden Kriegs- und Klimaflüchtlingen bisher nicht gelungen ist: Reflexion. Innehalten. Ein Bewusstsein von der Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz. Einen Sinn für das Wir. Auf jeden Einzelnen kommt es an, aus der Krise eine Chance zu machen; mehr noch, die Krise selbst, wie ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo schrieb, „zu einem Akt der Menschlichkeit“ zu machen. Irgendwann wird die Krise vorbei sein, und die Welt, in der wir erwachen werden, wird eine andere sein. Wir werden gelernt haben, dass Digitalisierung in allen Bereichen nicht nur möglich, sondern notwendig ist. Wir werden uns andere Praktiken des Arbeitens und Miteinanderseins angeeignet haben. Wir werden mehr denn je verstanden haben, dass sich reales Leben auch im virtuellen Raum entfalten kann. Wir werden schmerzlich kapiert haben, wie sehr das individuelle „Selbstdenken“ die Vernetzung mit anderen Hirnen und Herzen braucht. Diese Lernerfahrungen betreffen auch die Geisteswissenschaften. Bis vor Kurzem verhielten sich die Welt digitalkapitalistischen Unternehmertums und die Welt des Geistes zueinander wie das Hologramm eines Einhorns zu einem Schraubenschlüssel. Gar nicht. Eben noch war der außerakademische Austausch zwischen ökonomischer Praxis und philosophischer Theorie auf ein Minimum beschränkt. Im März 2020 aber schließt sich die Kluft plötzlich. Philosophen, die gerade über „nichtreduktiven Materialismus“ brüteten, müssen jetzt Online-Offensiven starten. Unternehmer, die gerade Übernahmestrategien implementierten, müssen jetzt reflektieren. Corona lehrt: Theorie braucht Praxis, und Praxis Theorie. „Wir werden nie die richtigen Antworten auf unsere Fragen erhalten, wenn wir nicht die richtigen Fragen stellen“, schrieb der Begründer der Kybernetik Norbert Wiener schon 1950. Wiener hoffte auf die „richti-

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gen Fragen“ der Philosophen. Zu lange schützte das System uns Geistesarbeiter davor, unsere Abstraktionen von den Widersprüchen, Mehrdeutigkeiten, Kontingenzen des konkreten Lebens kontaminieren zu lassen; zu lange konnten wir uns hinter unserer akademischen Expertise verstecken. Nun plötzlich ist wichtiger als der theoretische Gedanke selbst das, was zu denken gibt. Das von außen einbrechende Ereignis. Ein Eindruck, der zu sehen zwingt. Eine Begegnung, die sprachlos macht. Ein Virus, das zur inneren Umkehr veranlasst. Zum Lernen. „Heute“ ist immer eine Zeit, die das Neue, das sie ist, noch nicht so richtig begriffen hat. Und das gilt erst recht für das neue Jetzt im Jahr Null von Corona. Wie wird sich die Philosophie, wie werden sich die Geisteswissenschaften verändern? Vielleicht entsteht nach Corona ein Raum, in dem sich geisteswissenschaftliche Theorie und lebensweltliche Praxis, Ich und Wir, Gemeinschaft und Gesellschaft stürmisch umarmen. Ein Frei- und Lernraum, in dem die Imperative der Maximierungs- und „Fortschritts“-Logik einer Lust an der kreativen Verwandlung weichen. Und aus dem bald etwas ganz Neues entstehen kann. Etwas Unerhörtes, Unvorstellbares, Niedagewesenes. Humanität. Ein kosmopolitischer Kosmos aus Logik und Emotion, Spiel und Ernst, Hirn und Herz. Der Raum, der mir vorschwebt, ist gar nicht so weit weg. Tatsächlich befindet er sich sogar in unserer unmittelbaren Nähe. Er sitzt direkt zwischen unseren Schultern. Es ist unser Kopf. Wir müssen ihn nur betreten – und seine geistigen Schätze vermehren, nach außen tragen, mit anderen teilen, praktisch werden lassen.

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DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

ULRIKE ACKERMANN

Prof. Dr. Ulrike Ackermann, Politikwissenschaftlerin und Soziologin, ist Direktorin des John-Stuart-Mill-Instituts für Freiheitsforschung an der Hochschule Heidelberg. Bei wbg Theiss erschien jüngst von ihr: „Das Schweigen der Mitte – Wege aus der Polarisierungsfalle“. Ihr Beitrag „Schockstarre durch Coronavirus – Wir müssen unsere Freiheiten wieder wertschätzen“ wurde erstmals am 25. März 2020 als Gastkommentar in der „Neuen Zürcher Zeitung“ veröffentlicht. KAI BRODERSEN

Kai Brodersen ist Professor für Antike Kultur an der Universität Erfurt und Senior Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald. Er ist Autor zahlreicher Bücher zur Antike bei der wbg und u. a. Herausgeber der Reihe ,Geschichte kompakt – Antike‘. Bei wbg Philipp von Zabern erschien von ihm zuletzt „Dacia Felix. Das antike Rumänien im Brennpunkt der Kulturen“. Sein Beitrag „Gelassenheit“ wurde erstmals am 14. April 2020 auf dem Blog der wbg Community veröffentlicht. ANGELOS CHANIOTIS

Nach Stationen an der New York University, der Universität Heidelberg und der Universität Oxford hat der Althistoriker Angelos Chaniotis seit 2010 eine Professur am Institute for Advanced Study in Princeton inne.

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Chaniotis hat sich insbesondere auf die hellenistische Geschichte und die griechische Epigraphik spezialisiert. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Phönix-Orden der griechischen Republik, dem Forschungspreis des Landes Baden-Württemberg und dem mit 250 000 Euro dotierten Anneliese-Maier-Forschungspreis der Alexander von Humboldt Stiftung. Bei wbg Theiss erschien von ihm zuletzt „Die Öffnung der Welt. Eine Globalgeschichte des Hellenismus“. Das englische Original seines Beitrags „Die große Illusion: Lokale Lösungen für globale Probleme“ wurde erstmals am 7. April 2020 auf der Webseite des Institute for Advanced Study veröffentlicht. CHRISTOPH CORNELISSEN

Christoph Cornelißen ist Professor für Neueste Geschichte an der Universität Frankfurt/Main. Darüber hinaus ist er Direktor des Istituto storico italo-germanico in Trient und Mitglied des Vorstands der wbg. Voraussichtlich ab dem 28. Oktober 2020 erscheint das Buch „Europa im 20. Jahrhundert“ als ein Band der neuen Fischer Weltgeschichte. Sein Beitrag „Die aktuelle Pandemie – eine historische Zäsur?“ wurde erstmals am 29. April 2020 auf dem Blog der wbg Community veröffentlicht. JULIA EBNER

Die gebürtige Wienerin Julia Ebner lebt heute in London, wo sie als Extremismus- und Terrorismusforscherin beim Institute for Strategic Dialogue (ISD) tätig ist. Sie arbeitete zwei Jahre für die weltweit erste Organisation zur Extremismusprävention Quilliam, die von ehemaligen Islamisten gegründet wurde. Für die Europäische Kommission und die Kofi Annan Foundation leitete sie Studien, sie schreibt regelmäßig für „The Guardian“ und „The Independent“. Bei wbg Theiss erschien von ihr: „Wut. Was Islamisten und Rechtsextreme mit uns machen“, ihr jüngstes Buch erschien 2019 unter dem Titel „Radikalisierungsmaschinen. Wie Extremisten die neuen Technologien nutzen und uns manipulieren“. Ihr Beitrag „Verschwörungstheorien – Was Corona mit unserer Gesell-

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DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

schaft macht“ wurde erstmals am 20. Mai 2020 auf dem Blog der wbg Community veröffentlicht. ÉTIENNE FRANÇOIS

Étienne François, geboren 1943 in Rouen (Frankreich), ist Professor Emeritus für Geschichte an der Universität Paris 1 – Pantheon Sorbonne und der Freien Universität Berlin, ehemaliger Direktor des Centre Marc Bloch Berlin sowie Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des modernen und zeitgenössischen Deutschland sowie die europäische Erinnerungskultur. Zuletzt gab er, zusammen mit Thomas Serrier, das dreibändige Werk „Europa. Die Gegenwart unserer Geschichte“ heraus. Sein Essay „Eine Krise ohne Beispiel?“ ist ein bisher unveröffentlichter Originalbeitrag. HANS-JOACHIM GEHRKE

Hans-Joachim Gehrke hatte von 1987 bis 2008 den Lehrstuhl für Alte Geschichte an der Universität Freiburg inne. Er war von 2008 bis 2011 Präsident des Deutschen Archäologischen Instituts. Sein Beitrag „Seuche und Krieg“ wurde erstmals am 2. April 2020 auf dem Blog der wbg Community veröffentlicht. FRANK GÖSE

Frank Göse, lehrt als Apl. Professor für Landesgeschichte und Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Potsdam. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Brandenburgische Landesgeschichte der Frühen Neuzeit, Geschichte des frühneuzeitlichen Adels sowie Militärgeschichte. Soeben erschien bei wbg Theiss seine große Biografie „Friedrich Wilhelm I. Die vielen Gesichter des Soldatenkönigs“. Sein Beitrag „Die Pest vor Berlin!“ wurde erstmals am 3. April 2020 auf dem Blog der wbg Community veröffentlicht.

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LISA HERZOG

Lisa Herzog ist Professorin für Politische Philosophie an der Universität Groningen. Sie ist die Autorin von „Die Rettung der Arbeit“ (2019). Bei wbg Theiss erscheint von ihr 2020 „Die Erfindung des Marktes. Smith, Hegel und die politische Philosophie.“ Das englische Original ihres Beitrags „Was lehrt uns die Corona-Krise über den Wert der Arbeit?“ wurde erstmals als Teil der Agora-Serie, einer Zusammenarbeit zwischen dem New Statesman und Aaron James Wendland, Professor für Philosophie an der Higher School of Economics, auf www.newstatesman.com veröffentlicht. NIKOLAS JASPERT

Nikolas Jaspert ist seit 2013 Professor für Mittelalterliche Geschichte in Heidelberg. Bei wbg Academic ist sein Buch „Die Kreuzzüge“, zuletzt in 7. Auflage, erschienen. Sein Beitrag „Buße und Apokalypse in Zeiten der Corona-Krise – und im Mittelalter“ wurde erstmals am 16. April 2020 auf dem Blog der wbg Community veröffentlicht. SVEN FELIX KELLERHOFF

Sven Felix Kellerhoff ist Historiker, Journalist und seit 2003 Leitender Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte der WELT-Gruppe. Er hat zahlreiche Bücher und Aufsätze vornehmlich zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts vorgelegt. Bei wbg Theiss erschien von ihm zuletzt zusammen mit Lars-Broder Keil „Lob der Revolution. Die Geburt der deutschen Demokratie“. Sein Beitrag „Was die Corona-Krise von der Spanischen Grippe unterscheidet“ beruht teilweise auf seinem Beitrag „‚Knock-down-fever‘: Spanische Grippe & Corona“, der am 27. März 2020 auf dem Blog der wbg Community veröffentlicht wurde. 

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DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

ROBERT L. KELLY

Robert L. Kelly ist Professor für Anthropologie an der University of Wyoming. Er war Präsident der Society für American Archaeology, ist Herausgeber von American Antiquity und Autor von zwei wichtigen Lehrbüchern. Er führt seit über vierzig Jahren Ausgrabungen im Westen der USA durch. Im Juli 2020 erscheint von ihm bei wbg Theiss „Warum es normal ist, dass die Welt untergeht. Eine kurze Geschichte von gestern und morgen“. Sein Beitrag „Brücken bauen in Zeiten des Umbruchs“ wurde erstmals am 8. April 2020 auf dem Blog der wbg Community veröffentlicht. KERSTEN KNIPP

Dr. Kersten Knipp ist freier Politik-Redakteur bei der Deutschen Welle, er arbeitet für den Deutschlandfunk und andere Sender der ARD und ist Autor u. a. für die „Neue Zürcher Zeitung“. Seine Schwerpunkte sind Kultur und Politik in der romanischen und der arabischen Welt. Soeben ist sein Buch „Paris unterm Hakenkreuz. Alltag im Ausnahmezustand“ bei wbg Theiss erschienen. Sein Beitrag „Virus versus Verzauberung. Modernes Selbstverständnis in pandemischen Zeiten“ ist ein bisher unveröffentlichter Originalbeitrag. SABINE LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, geb. 1951, war von 1992 bis 1996 sowie von 2009 bis 2013 Bundesministerin der Justiz und 23 Jahre Bundestagsabgeordnete. Als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates von 2003 bis 2009 war sie Mitglied des Ausschusses für Recht und Menschenrechte. Ihr letztes Buch zum Thema Grundrechte, „Angst essen Freiheit auf“, ist 2019 bei wbg Theiss erschienen. Ihr Beitrag „Schwere Krisenzeiten für die Freiheitsrechte“ wurde erstmals am 31. März 2020 auf dem Blog der wbg Community veröffentlicht. 

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RAINER MARTEN

Der Philosoph Rainer Marten (*1928), der bis zu seiner Emeritierung eine Professur in Freiburg innehatte, veröffentlichte bis heute zahlreiche Titel über antike Philosophie, Lebenskunst und Religion; ein weiteres Werk ist in Arbeit. Rainer Marten ist einer der letzten Schüler Martin Heideggers. Sein Beitrag „Was die Pandemie uns lehrt“ wurde erstmals am 3. Mai 2020 auf dem Blog der wbg Community veröffentlicht. PIERRE MONNET

Pierre Monnet (geb. 1963, Paris, EHESS und Frankfurt/Main, GoetheUniversität) ist Mediävist und einer der bedeutendsten Historiker Frankreichs. Seit den 90er-Jahren Direktor der Mission Historique Française (MHFA) in Göttingen, dann Direktor von deren Nachfolgeinstitution Institut Français d’Histoire en Allemagne und seit 2015 Direktor des Institut Franco-Allemand de Sciences Historiques et Sociales (IFRA/SHS), beides an der Universität Frankfurt angesiedelt. Er ist Professor an der Goethe-Universität und Directeur d’études an der École des Hautes Études en Sciences Sociales. In diesem Frühjahr erscheint in Paris seine großartige Biografie „Charles IV.“. Sein Beitrag „Die Covid-19-Pandemie, gesehen durch das Prisma des Schwarzen Todes 1348“ wurde erstmals am 9. April 2020 auf dem Blog der wbg Community veröffentlicht. GÜNTER MÜCHLER

Günter Müchler ist passionierter Frankreichkenner und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Französischen Revolution und Napoleon. Er studierte Geschichte und Politikwissenschaft und war bis 2011 Programmdirektor von Deutschlandfunk, Deutschlandradio Kultur und DRadio Wissen. Zuletzt erschien bei wbg Theiss „Napoleon. Revolutionär auf dem Kaiserthron“. Sein Beitrag „Napoleon und die Pestkranken von Jaffa“ wurde erstmals am 21. April 2020 auf dem Blog der wbg Community veröffentlicht.

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DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

JOCHEN OLTMER

Jochen Oltmer, geb. 1965, ist Apl. Professor für Neueste Geschichte an der Universität Osnabrück und Mitglied des Vorstands des dortigen Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS). Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Geschichte von Migration und Migrationspolitik vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher und Aufsätze zum Thema, bei wbg Theiss ist von ihm erschienen: „Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart“. Sein Beitrag „Migration im Corona-Lockdown“ wurde erstmals am 25. Mai 2020 auf dem Blog der wbg Community veröffentlicht. HERMANN PARZINGER

Der Prähistoriker Prof. Dr. Hermann Parzinger war langjähriger Direktor und Präsident am Deutschen Archäologischen Institut. Seit 2008 ist er Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Seine Forschungen und Veröffentlichungen befassen sich mit der Sesshaftwerdung des Menschen, der Entstehung reiternomadischer Kulturen und den Folgen von Kulturkontakten, zuletzt befasste er sich vermehrt auch mit kulturpolitischen Fragestellungen. Er lehrt an der FU Berlin, ist Träger des Leibniz-Preises und Mitglied im Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste sowie zahlreicher in- und ausländischer Akademien. Zudem ist er Mitglied des Vorstands der wbg. Sein Beitrag „Nofretete allein zu Haus? Kultureinrichtungen in der Corona-Krise – ein Erfahrungsbericht“ wurde erstmals am 14. Mai 2020 auf dem Blog der wbg Community veröffentlicht. CORINE PELLUCHON

Corine Pelluchon ist Philosophieprofessorin an der Universität GustaveEiffel in Marne-la-Vallée, nicht weit von Paris, und wurde 2020 mit dem Günther Anders Preis für kritisches Denken für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet. Bei der wbg erschien 2019 ihr Buch „Ethik der Wertschätzung.

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Tugenden für eine ungewisse Welt“ und Ende 2020 wird „Wovon wir leben. Eine Philosophie der Ernährung und der Umwelt“ erscheinen. Auf Französisch veröffentlichte sie zuletzt „Réparons le monde. Humains, animaux, nature bei Rivages poche“. Das französische Original ihres Interviews wurde erstmals am 23. März 2020 in „Le Monde, Idées“ veröffentlicht. Das Gespräch führte Claire Legros. REBEKKA REINHARD

Dr. Rebekka Reinhard promovierte 2001 an der Freien Universität Berlin über amerikanische und französische Gegenwartsphilosophie. Sie ist Autorin zahlreicher Sachbücher (zuletzt: „Kleine Philosophie der Macht“, Ludwig, 2015) und stellvertretende Chefredakteurin der Philosophie-Zeitschrift „Hohe Luft“. Im wbg-Podcast „Was sagen Sie dazu?“ spricht sie mit Gästen aus Wissenschaft und Praxis über die großen Fragen unserer Zeit. Ihr Beitrag „Corona – Die Chance einer neuen Zeit“ wurde erstmals am 23. März 2020 auf dem Blog der wbg Community veröffentlicht. RENÉ SCHLOTT

René Schlott ist Historiker und Publizist in Berlin. Am 17. März 2020 hat er in einem vielbeachteten Beitrag in der „Süddeutschen Zeitung“ davor gewarnt, die „offene Gesellschaft zu erwürgen, um sie zu retten“. Er ist Initiator der Initiative „Grundgesetz a casa“, bei der Bürgerinnen und Bürger eingeladen sind, zu Hause Artikel aus dem Grundgesetz zu lesen. Sein Beitrag „,Die Stadt dort unten war immer noch da‘ – Ein Lektüretipp für Quarantänezeiten“ wurde erstmals am 4. April 2020 auf dem Blog der wbg Community veröffentlicht.

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DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

GESINE SCHWAN

Die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Gesine Schwan lehrte von 1977 bis 1999 als Professorin/Dekanin an der FU Berlin, von 1999 bis 2008 war sie Präsidentin der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder. Seit 1972 ist sie SPD-Mitglied, seit 2014 Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD. 2005–2009 war sie deutsch-polnische Koordinatorin der Bundesregierung. 2004 und 2009 kandidierte sie für das Amt des Bundespräsidenten. Seit 2015 ist sie Co-Vorsitzende des Sustainable Development Solutions Network (SDSN) Germany sowie aktuell Präsidentin und Mit-Gründerin der Humboldt-Viadrina Governance Platform, Berlin. Bei wbg Theiss erscheint ihr Buch „Politik macht Sinn“. Ihr Beitrag „Kommunikation in der Krise – Wie schafft man Vertrauen?“ wurde erstmals am 27. Mai 2020 auf dem Blog der wbg Community veröffentlicht. ACHIM SOHNS

Achim Sohns studierte Philosophie in Hannover und Paris. 2008 promovierte er zum Doktor der Philosophie an der Leibniz Universität Hannover. Er ist European Master in Social Security (Katholische Universität in Leuven) und Sozialrechtler. Achim Sohns betreibt in Hannover eine philosophische Beratungspraxis Sein Beitrag „Kann das Coronavirus Sinn machen?“ wurde erstmals am 26. März 2020 auf dem Blog der wbg Community veröffentlicht. FLORIAN STEGER

Seit 2016 Universitätsprofessor und Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm, zuvor und seit 2011 in gleicher Funktion am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Vorsitzender der

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Ethikkommission der Universität Ulm und der Kommission „Verantwortung in der Wissenschaft“, Mitglied des Senats. 2014 Leibniz-Professor der Universität Leipzig. Sein Beitrag „Abstand halten in Zeiten bedrohlicher Seuchen – Knapp 2500 Jahre alte Erkenntnis“ wurde erstmals am 28. April 2020 auf dem Blog der wbg Community veröffentlicht. TOBIAS STRAUMANN

Prof. Dr. Tobias Straumann ist Wirtschaftshistoriker mit Schwerpunkt auf der Geschichte der europäischen Geld- und Währungspolitik. Er lehrt als Titularprofessor an der Philosophischen und der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich und ist für die NZZ am Sonntag als Wirtschaftskolumnist tätig. Bei wbg Theiss erschien von ihm zuletzt „1931. Die Finanzkrise und Hitlers Aufstieg“. Sein Beitrag „Lehren aus der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre“ wurde erstmals am 30. April 2020 auf dem Blog der wbg Community veröffentlicht. HUBERT WOLF

Prof. Dr. Dr. h.c. Hubert Wolf ist seit 1999 Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. 2003 erhielt er den mit 1,55 Mio. Euro dotierten GottfriedWilhelm-Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Zugleich ist Hubert Wolf Geschäftsführender Vorstand der wbg. Sein Beitrag „Coronavirus in den vatikanischen Archiven“ wurde erstmals am 5. April 2020 auf dem Blog der wbg Community veröffentlicht.