Communicatio idiomatum: Zur Bedeutung einer christologischen Bestimmung für das Denken Johann Georg Hamanns [Reprint 2018 ed.] 3110162385, 9783110162387, 9783110802573

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Communicatio idiomatum: Zur Bedeutung einer christologischen Bestimmung für das Denken Johann Georg Hamanns [Reprint 2018 ed.]
 3110162385, 9783110162387, 9783110802573

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Erster Teil: Christologie und Typologie in den Londoner Schriften
Zweiter Teil: Die Idiomenkommunikation als Interpretament nicht unmittelbar christologischer Sachverhalte
Ergebnis des zweiten Teils
Schluß
Literaturverzeichnis
Register

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Friedemann Fritsch Communicatio idiomatum

1749

I

1999

!

Theologische Bibliothek Töpelmann Herausgegeben von O. Bayer • W. Härle • H.-P. Müüer

Band 89

W DE

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1999

Friedemann Fritsch

Communicatio idiomatum Zur Bedeutung einer christologischen Bestimmung für das Denken Johann Georg Hamanns

w DE

G

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1999

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufrahme Fritsch, Friedemann: Communicatio idiomatum : zur Bedeutung einer christologischen Bestimmung für das Denken Johann Georg Hamanns / Friedemann Fritsch. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1999 (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 89) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1996 ISBN 3-11-016238-5

© Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Für Susanne Virginia Sophie Elisabeth Carola Beate Johanna Irene

,aXka Jtavca Kai ev rcaai - " (N 111,226,19)

Vorwort Diese Arbeit wurde im Sommersemester 1996 von der EvangelischTheologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Für den Druck habe ich sie geringfügig überarbeitet. Den ersten Anstoß zu einer Beschäftigung mit Johann Georg Hamann verdanke ich meinem Lehrer Oswald Bayer. Er war es auch, der mich bei der Wahl des Themas unterstützte und mich dazu ermutigte, es trotz seines speziellen Charakters zu bearbeiten. Dafür möchte ich ihm ebenso danken wie für die fachliche und persönlich engagierte Begleitung des Projektes, die er ganz im Sinne Hamanns nicht als geistige Vormundschaft, sondern als Anleitung zum kritischen Umgang mit eigenen und anderen Vorverständnissen betrachtete. Viele Menschen haben am Entstehen der Arbeit Anteil genommen und es auf ihre Weise gefördert, zumal die Fertigstellung in die ersten Amtsjahre als Pfarrer fiel und großer Anstrengungen bedurfte. Ich danke an erster Stelle meiner geliebten und verehrten Frau, die mir Übersetzungen der französischen Schriften Hamanns anfertigte. In welcher Weise sie mir sonst zur Seite stand, läßt sich in Worten gar nicht ausdrücken. Ich danke auch meinen drei kleinen Töchtern, deren zwei während der Arbeit geboren wurden und die mir immer einen ausreichenden Bodenkontakt verschafften. Auch, daß sie viel Geduld mit ihrem manchmal unter ziemlicher Anspannung stehenden Vater hatten, ist nicht selbstverständlich. Danken möchte ich meiner verehrten Schwiegermutter, Frau Virginia Geck, und meinen lieben Eltern, Pfarrer i.R. Siegfried Fritsch und seiner Frau Elisabeth für alle geistige und materielle Unterstützung. Ebenso zu Dank verpflichtet bin ich meinem alten Freund und theologischen Begleiter Pfarrer i.R. Dr. Rolf Dannenbaum für die ausgesprochen hilfreiche Kritik der Manuskripte und die Gespräche, für die er weite Anfahrten in Kauf nahm. Auch Frau Brigitte Thiel sei für ihre Hilfe beim Korrekturlesen und ihren fachfraulichen Rat in stilistischen Fragen gedankt. Für seine unschätzbaren Dienste beim Formatieren und Drucken des Manuskripts und beim Erstellen der Druckvorlage, die eine komplette Konvertierung desselben erforderte, möchte ich meinem Bruder Wolf-Dietrich Fritsch danken. Ohne seine Unterstützung wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen.

Vili

Vorwort

Meiner Landeskirche danke ich an dieser Stelle für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Gefördert wurde die Arbeit nicht zuletzt dadurch, daß mein damaliger Vorgesetzter, Dekan Dieter Oberkircher, mir im dienstlichen Bereich die nötigen Freiräume schaffte. Der Studienstiftung des Deutschen Volkes danke ich für die finanzielle Förderung des Projekts durch ein Stipendium. Noch einen möchte ich nennen, dem ich nicht nur mein Leben, sondern auch entscheidende Impulse für mein wissenschaftliches Arbeiten verdanke. Die Bibel sagt, daß in ihm „alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis verborgen" sind. Wenn die Beschäftigung mit Hamann dazu beitragen würde, ein wenig davon sichtbar werden zu lassen, wäre sie trotz der damit verbundenen Mühen nicht vergeblich.

Friedemann Fritsch

Gundersweiler, im Juli 1998

Inhaltsverzeichnis Einleitung

1

Erster Teil: Christologie und Typologie in den Londoner Schriften

9

1.

Menschwerdung und Offenbarung

1.1

Das Kreuz Christi als formgebende Kraft der biblischen Offenbarung Zum Verhältnis von Akkommodation und Kondeszendenz Zur Dialektik des Hamannschen Bildbegriffes Das Bild als Spiegel des Lesers Das Bild als sinnliche Vergegenwärtigung des Übersinnlichen Alles ist menschlich: Die Relativierung des Bildes durch das Abgebildete Alles ist göttlich: Die Aufwertung des Bildes durch das Abgebildete Einheit von Gott und Mensch im Bild: Zwei Beispiele typologischer Interpretation Zusammenfassung

1.2 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.4 1.5 2. 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.4

Menschwerdung und Trinität Der vorinkarnatorische Charakter der Menschwerdung Gottes Gott ist Mensch: Die Einheit von Schöpfung und Erlösung Erschaffung der Welt durch den Logos Teilhabe der menschlichen Natur an der Erschaffung der Welt.... Die biblische Geschichte von der Erschaffung der Frau als Gleichnis Gott ist nicht Mensch: Die Differenz von Schöpfung und Erlösung Die Unvollkommenheit der Schöpfung als Ausdruck der Sünde Präexistenz der Sünde? Teilhabe des Sünders am erlösenden Handeln Gottes Einheit und Differenz von Schöpfung und Erlösung als christologisches Grundmuster der Typologie

11 11 15 20 22 24 25 28 31 35 38 38 44 45 47 50 51 52 54 56 59

X

2.5

Inhaltsverzeichnis

2.5.1 2.5.2 2.5.3 2.6

Exkurs: Hamanns Deutung des Kreuzesgeschehens zwischen Transzendenz und Geschichte Der Tod Christi als freiwillige Selbsthingabe Der Tod Christi als Unmöglichkeit Der Mensch als Vollstrecker des göttlichen Heilsplans Zusammenfassung

61 61 62 64 66

3.

Menschwerdung und Erlösung

69

3.1

Zur Eigenart des Verständnisses von Erlösung in den Londoner Schriften Die Wirklichkeit des Menschen als Figur der communicatio Das Verhältnis von Leib und Seele Via negationis und via eminentiae Teilhabe an göttlicher Allwissenheit Geschöpfliche communicatio von menschlichem und göttlichem Geist und ihre Grenze Vernunft und natürliche Religion Erfüllung und Überbietung: Glaube als Teilhabe an göttlicher Allwissenheit Allwissend und unwissend zugleich Teilhabe an göttlicher Gerechtigkeit Das Grundmotiv: „Entkleidung" Gottes und „Bekleidung" des Menschen Bedrohung Gottes durch die Sünde Die „bessere Gerechtigkeit" Christi Simul justus et peccator Teilhabe an göttlicher Allmacht und Liebe Einheit von menschlichem Willen und göttlicher Tat Einheit von göttlichem Willen und menschlicher Tat Zusammenfassung

3.2 3.2.1 3.2.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.5 3.5.1 3.5.2 3.6

Ergebnis des ersten Teils Zweiter Teil: Die Idiomenkommunikation als Interpretament unmittelbar christologischer Sachverhalte

77 80 82 84 86 86 88 90 92 96 97 98 101 104

nicht

1.

„Dialektik des Wirklichen"

1.1

Der exemplarische Charakter der Bibel für den biblischen Kontext Das Apriori des Kreuzes: Der Zusammenhang von Inspiration und Rechtfertigung

1.2

69 74 74 76 77

106 108 108 111

Inhaltsverzeichnis 1.3 1.4 1.5 1.5.1 1.5.2 1.5.3 1.5.4 1.6 1.6.1 1.6.2 1.6.3 1.7

Das pantheistische Moment des Gedankens einer universalen Inspiration: Alles ist göttlich Das anthropozentrische Moment: Alles ist menschlich Die philosophische Bedeutung der Idiomenkommunikation: Hamann im Gespräch mit Jacobi Abstrakte und konkrete Wahrheit Mit Spinoza gegen Jacobi Einheit von Natur und Vernunft im Wort der Sprache Zum Verhältnis von communicatio idiomatum und coincidentia oppositorum Die Bedeutung der communicatio idiomatum für die Rede von Gott Hamanns Kritik am Gottesbegriff Jacobis Der Widerspruch als Bestandteil der göttlichen Identität Koinzidenz von Gut und Böse als Grenze der Hamannschen Dialektik Zusammenfassung

XI

115 119 122 123 125 128 130 132 132 135 138 140

2.

Einheit von Sinn und Sinnlosigkeit: Die communicatio idiomatum als Interpretament des Naturbegriffes („Aesthetica in nuce") 143

2.1

Kunstwerk oder Fiktion: Wahrnehmung von Natur als Grundproblem der Ästhetik Der ästhetische Begriff Hamanns und seine Demonstration am Beispiel des Penelope-Mythos Die kritische Funktion von Ästhetik angesichts einer verfehlten Hermeneutik ./. Die positive Funktion von Ästhetik angesichts einer verfehlten Hermeneutik Neuinszenierung des göttlichen Dramas als Aufgabe christlicher Künstlerschaft Teilhabe des Menschen an der Verborgenheit Gottes Zusammenfassung

160 165 169

Einheit von Zufall und Notwendigkeit: Die communicatio idiomatum als Interpretament des Geschichtlichen („Konxompax")

174

Hinführung: Hamanns Gespräch mit Herder über die Bedeutung des Sündenfalls Vernunft als Gegenstand des Glaubens Vernunft im Kontext von Sünde und Gesetz Vernunft im Kontext von Verheißung und Evangelium

174 182 187 191

2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 3.

3.1 3.2 3.3 3.4

143 148 152 157

XII

Inhaltsverzeichnis

3.5 3.6 3.6.1 3.6.2 3.6.3 3.7 3.8

Der „ewige Circul" als Strukturmerkmal des Geschichtlichen Zum Verhältnis von Kontingenz und Glaubenswahrheit Das Problem des Verhältnisses von Vernunft und Geschichte Der Zusammenhang von Bibel und Inkarnation Der sakramentale Charakter der biblischen Heilsgeschichte Zum Verhältnis von Judentum und Heidentum Zusammenfassung

196 201 202 205 208 210 215

4.

Einheit von Begriff und Anschauung: Die communicatio idiomatum als Interpretament des Vernunftbegriffs („Metakritik über den Purismum der Vernunft")

220

4.1 4.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.4 4.5 5.

5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.3 5.3.1 5.3.2 5.4

Vernunft zwischen Selbstbegrenzung und Grenzüberschreitung Priorität des Gedachten und Posteriorität des Gegebenen Idiomenwechsel der Sprache Vernunft ist Sprache Das Bild von der Himmelsleiter Wort und Glaube als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis Vernunft zwischen Wahrheit und Lüge Zusammenfassung

233 235 238

Teilhabe am göttlichen Recht der Rede: Die communicatio idiomatum als Interpretament des Gesellschaftlichen („Golgatha und Scheblimini")

242

Natürliches Recht und widernatürliche Pflicht Grundlinien des Gedankengangs in Mendelssohns „Jerusalem" Hamann: Das Recht der Natur ist das Recht des Stärkeren Die Herrschaft des „Ich" in Natur und Gesellschaft Naturrecht als Recht zur Rede Naturvertrag zwischen Mensch und Welt Die Pflicht, Gott gleich zu sein Einheit von Gesinnung und Tat im Wort Das Verhältnis von Kirche und Staat im Kontext von Gesetz und Evangelium Gegen die Trennung von Kirche und Staat im Kontext des Gesetzes Gegen die Identifizierung von Kirche und Staat im Kontext des Evangeliums Zusammenfassung

220 224 227 228 231

242 243 246 248 250 251 253 257 261 261 266 271

Inhaltsverzeichnis 6.

6.1 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.4

Teilhabe an göttlicher Schöpferkraft: Die communicatio idiomatum als Interpretament des Geschlechtlichen („Versuch einer Sibylle über die Ehe") Vernunft und Geschlecht Das Geschlecht im Kontext von Schöpfung und Gesetz Apotheose des Geschlechtlichen Das Problem von Scham und Schuld Ehe als Schöpfungsordnung Das Geschlecht im Kontext von Erlösung und Evangelium Selbsterkenntnis im Spiegel des Partners Die Vereinigung von Mann und Frau als heilsgeschichtliche Figur Theologische Probleme der Deutung Zusammenfassung

XIII

275 275 279 280 282 283 285 286 287 289 292

Ergebnis des zweiten Teils

295

Schluß

307

Literaturverzeichnis

313

Register

326

Einleitung 1. In einer Glosse der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 24. Dezember 1993 waren folgende Sätze zu lesen: In der „Geschichte [von der Geburt Jesu] gehört die Datierung zur Sache. [...] Auf dem Höhepunkt der Reichsgeschichte, da sie mit der Weltgeschichte zusammenfällt, wird dem Reich die Endlichkeit vor Augen geführt. Ein anderes Reich, das nicht von dieser Welt ist, ist plötzlich auf dieser Welt. In dem Moment, da alle Welt statistisch erfaßt wird, da alles benannt, bekannt und beschrieben wird, geschieht das, was alle Statistik durchbricht. Alle Daten werden vor diesem neuen Gründungsdatum der Welt relativiert. Diese Relativierung geht nach Meinung einiger Theologen so weit, daß sie auch die neue Urgeschichte selbst ergreift. Auf die Fakten komme es nicht an. Diese Meinung wird scheinbar durch die historische Bibelkritik gestützt. So war Kyrenius nicht zur selben Zeit Landpfleger wie Herodes König. Die Wissenschaftler möchten deshalb von der niederen Tatsachenwahrheit die höhere geistige Wahrheit unterscheiden. Am Ende gehe es darum, daß Gott in jedem Menschen steckt. [...] Die moderne Vernunft könne das Evangelium unmöglich hinnehmen, ermögliche aber auch Gerechtigkeit für den naiven Glauben der ersten Christen." 1 Der Verfasser der Glosse führt gegen diese Abkehr der „modernen Vernunft" von den „niederen Tatsachenwahrheiten" eine Grundeinsicht reformatorischer Theologie an: „Als Ganzes ergibt die [biblische] Geschichte nur einen Sinn, wenn man sie als historischen Bericht liest. In jenen Tagen ist der Heiland geboren worden und nicht zu anderer Zeit, an diesem Ort und nicht anderswo. [...] Wer die Geschichte nur symbolisch versteht, leugnet, daß Gott Mensch geworden ist. Der die ganze Welt erhält, muß auf harten Krippen schlafen: Wenn das wahr ist, ist es eine revolutionäre Botschaft; wenn es symbolisch ist, ist es sozialromantischer Kitsch. Die Inkarnation hat auch eine epistemologische Seite: Wie Gott sich erniedrigt hat, so ist die geistige Wahrheit zur Tatsachenwahrheit geworden. Unsere Vernunft, die Fakten und Werte säuberlich sondert, wird davon erschüttert. Der Rationalismus, dessen letzte Heimstatt heute die Theologie ist, möchte sich davor schützen. Es ist die Furcht der Hirten, geblendet von der Klarheit des Herrn. Am Anfang der Theologie steht eine Verkündigung, die der Vernunft immer voraus ist." 2

1 2

Patrick Bahners, „Es begab sich aber", in: FAZ Nr. 299, Seite 21. Ebd.

2

Einleitung

Mit wünschenswerter Deutlichkeit macht der Verfasser darauf aufmerksam, daß die hermeneutische Problematik einen inneren Zusammenhang mit der christologischen Problematik aufweist, ja darin verwurzelt ist. Wenn „Gott Mensch geworden ist", das Menschsein jedoch im Raum des Faktischen angesiedelt ist, dann ist auch Gott ein Faktum geworden: historisch, anschaulich, kontingent. Die Faktizität des Göttlichen läßt sich greifen in der Person Jesu und ihrer Geschichte, wie sie in den Texten der Bibel überliefert ist. Durch diese Überlieferung gewinnen diese Texte aber selber den Charakter göttlicher Fakten. Indem sie die nexaßaaig der Menschwerdung Gottes bezeugen und durch ihr Zeugnis die Aussöhnung zwischen Schöpfer und Geschöpf herbeiführen wollen, haben sie an dieser |o,exaßaoig teil, ja sind als funktionaler Bestandteil derselben zu verstehen und können dann auch nicht lediglich als sekundäres Zeugnis einer ihnen übergeordneten Wahrheit verstanden werden. Die Bibel weist nicht über sich hinaus auf eine Wirklichkeit, die mit der Wirklichkeit ihrer Texte nichts zu tun hat, sondern sie vermittelt selbst diese Wirklichkeit, indem sie Christus vermittelt. Das ist freilich, wie der Glossist andeutet, nicht unumstritten. Die theologiegeschichtlich epochale Unterscheidung von „zufälligen Geschichtswahrheiten" und „notwendigen Vernunftswahrheiten" 3 hat zu einem Auseinanderfallen von historischer und symbolischer Deutungsweise der biblischen Heilsgeschichte geführt, welches bis heute die studentischen Verfasser von exegetischen Proseminararbeiten in schwierige Lagen bringen kann. Denn wenn die geschichtlichen Umstände gleichgültig sind, dann ist auch die Geschichte selbst ohne Bedeutung; diese muß im Jenseits philosophischer Vorentscheidungen oder gar in der Psyche des Menschen gesucht und gefunden werden. Wenn jedoch das, was von der Person Jesu Christi ausgesagt und geglaubt wird, auch allgemein wahr ist, nämlich daß Gott durch sein MenschSein alle „höhere geistige Wahrheit" auf den Boden des Tatsächlichen 4 zurückholt, dann müßte für die hermeneutische Diskussion das Verhältnis von Text und Botschaft neu bestimmt werden. Es gälte, mithilfe einer „kommunikative^] Urteilsform" die Alternative zwischen „Diastase und Identifikation" 5 von Kontingenz und Wahrheit und mit ihr das hermeneutische „dilemma of contemporary theology" 6 zu überwinden. Denn wer gäbe den Theologen das Recht, sich über das Zufällige und Widersprüchliche biblischer Texte einfach hinwegzusetzen, wenn Gott in Christus selber an deren Zufälligkeit und Widersprüchlichkeit partizipiert?

3 4

5 6

G.E. Lessing, Werke Bd. VIII, 12 (Beweis des Geistes). Vgl. R. Staats, Der theologiegeschichtliche Hintergrund des Begriffes „Tatsache" (ZThK 70), 316-345. O. Bayer, Leibliches Wort, 6. Vgl. S. Dunning, The Tongues of Men, 7-29.

Einleitung

3

Das heißt freilich nicht, daß im Kontext logischen Denkens das genus des Kontingenten mit dem des Notwendigen zu identifizieren wäre. 7 Es bedeutet jedoch die grundsätzliche Anerkennung der Möglichkeit einer n e x a ß a a i g auf eine Ebene, „die der Vernunft immer voraus ist". Die Bibel behauptet eine solche, wenn es im Prolog des Johannesevangeliums heißt, daß das „Wort, welches am Anfang bei Gott" war, „Fleisch" geworden sei und „unter uns gewohnt" habe. 8 In der Sprache des Mythos wird hier erzählt, was für die „moderne Vernunft" schon in der Antike nicht akzeptabel war: Gott „entfaltet" sich 9 , wie Hegel formuliert, er wird als „deus corporeus" zu einem zeitlich und räumlich begrenzten Ding, welches man anschauen, betasten, genießen oder beschädigen kann. 2. Allerdings ist fraglich, ob die Selbstentfaltung Gottes in Christus mit Hegel als ein Sich Selber Denken Gottes im Medium der Vernunft oder ob sie im Gegensatz dazu als eine Herausforderung, wenn nicht gar als Kritik dieser Vernunft zu verstehen ist. In der verallgemeinernden Deutung Hegels jedenfalls verliert die Christologie nicht nur ihren skandalösen Charakter, sondern sie verliert sie auch sich selbst; sie wird, wie Hegel es in seinem „Spekulativen Karfreitag" eindrucksvoll vorführt, zur Philosophie. Einige Zeit vor Hegel hatte sich schon der Königsberger Zollbeamte und Publizist Johann Georg Hamann (1730-1788) mit der Frage beschäftigt, inwiefern das christliche deus homo auch für nicht unmittelbar christologische Sachverhalte eine Bedeutung haben könnte. „ER und der Sohn ist ein Einiges Wesen, das so wenig im Politischen als Metaphysischen die mindeste Trennung oder Vielheit zuläßt [...]-" 10 So versucht Hamann die epistemologische Bedeutung des Menschwerdungsgedankens zu beschreiben. Er bringt mit dieser Aussage, die zwei gleichgeordneten Subjekten ein Prädikat im Singular zuordnet und damit in syntaktisch augenfälliger Weise aus einer Mehrzahl den Begriff einer Einheit herstellt, der logisch nicht denkbar ist, das transrationale Selbstverständnis des christlichen Glaubens auf den Punkt. Sie steht im Kontext seines Widerspruchs gegen die sich wissenschaftlich etablierende Aufspaltung der Welt „in Fakten und Werte" 11 , die sich insbesondere in der exegetischen Theologie als der ,,letzte[n] Heimstatt" des „Rationalismus" 12 mit erstaunlicher Hartnäckigkeit gehalten hat. Hamanns Kritik an dieser, wie er sie nennt, politischen und metaphysischen „Scheidekunst" 13 basiert allerdings nicht auf einer irrationalistischen 7

8 9 10 11 12 13

.Apodiktische Urteile lassen sich nicht auf die Feststellung kontingenten Geschehens gründen" (J.v. Lüpke, Hamann und die Krise der Theologie, 360). Joh. 1,1.14. Werke Bd. 11, 3 3 0 (Rezension). N 111,315,22-24 (Golgatha und Scheblimini). S . A n m . 2. S. ebd. Vgl. O. Bayer, Zeitgenosse im Widerspruch, 157-162 („Natürliche und positive Religion").

4

Einleitung

Identifizierung logisch unvereinbarer Modalitäten, sondern sucht, wie das Zitat deutlich macht, ihre Rückbindung im biblischen Zeugnis und im christologischen Dogma. In höchst eigenwilliger Rezeption dieser Vorgaben unternimmt Hamann es, die Strukturen sowohl des „Politischen als Metaphysischen" als Texte zu entziffern, die in „Natur und Geschichte", den beiden „Commentarii des göttl. Wortes" 14 , verborgen sind. Die „communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum" sei, wie er formuliert, „ein Grundgesetz und der Hauptschlüssel aller unsrer Erkenntniß und der ganzen sichtbaren Haushaltung" 15 . Wichtig ist, daß Hamann dabei nicht von einem möglichen „Gesetz" oder „Schlüssel" (unter anderen) spricht, sondern in einer für seine Texte singulären Programmatik von einem „Grundgesetz", welches andere Gesetze begründet, und dem „//aiipfschlüssel" von „Erkenntniß und der ganzen sichtbaren Haushaltung". Die Idiomenkommunikation hat für ihn nicht nur christologische, sondern auch erkenntnistheoretische und ontologische Bedeutung. Wie Gott in der Menschwerdung redet, so redet er immer, Niedriges erhöhend und Hohes erniedrigend. Er redet durch die Hervorbringungen menschlicher Vernunft und Kultur, indem er diese zur Materie seines Redens macht, und er redet durch scheinbar zufällige Tatsachen, durch „Geschichtswahrheiten", indem er sie mit einer über sich hinausweisenden Bedeutung versieht. Damit wird die Idiomenkommunikation in einem doppelten Sinne hermeneutisch; sie soll helfen, die den Menschen umgebende und prägende Wirklichkeit („sichtbare Haushaltung") zu verstehen, und sie soll helfen, das Verstehen des Menschen selber („Erkenntniß") aus der Sicht eines übergeordneten Zusammenhanges zu verstehen. 3. Daß ein solcher Umgang mit der Idiomenkommunikation nicht mehr der diesem von der traditionellen Christologie zugewiesenen Bedeutung entspricht, sondern das Ergebnis einer tiefgreifenden Umformung darstellt, macht schon Hamanns eigene Formulierung deutlich. Die in der Tradition streng auf die Person Jesu Christi bezogene Bestimmung der „communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum"16 wird zu einer Bestimmung des Verhältnisses von göttlicher und menschlicher Wirklichkeit verallgemeinert. Daraus folgt, „daß Hamann den dogmatischen Terminus", der dieser Untersuchung als Titel vorangestellt ist, „nicht in seiner theologischen Strenge gebraucht" 17 , sondern als 14 15 16

17

Londoner Schriften (hrsg. v. B. Weißenborn u. O. Bayer), 411,30f (Brocken § 3). N 111,27,12-14 (Ritter von Rosencreuz). N 111,27,1 lf; vgl. N 111,286,14-25, ZH VII,158,3-5. „Der dogmatische Terminus Communicatio idiomatum bezieht sich auf das Verhältnis der menschlichen zur göttlichen Natur Christi und beider Naturen zur Person Jesu Christi. Dieser Terminus wird von Hamann ausgeweitet und übertragen, so daß darunter ganz allgemein das Zusammenkommen von Gott und Mensch zu verstehen ist" (H. Gießer, „Communicatio", 226). Zur christologischen Problematik vgl. A. Michel, Art. Idiomes (Communication des), in: Dictionaire Theologie Catholique VII/1, 595-602. H. Gießer, „Communicatio" und ihre Strukturen bei Hamann, 3.

Einleitung

5

gedankliches Mittel zur Erschließung nicht unmittelbar christologischer Sachverhalte. Nicht die spezielle Frage, ob und wie man die göttliche und menschliche Natur Jesu Christi spekulativ als Einheit zweier Substanzen zusammendenken könne 18 , sondern die Frage, wie man unter der Voraussetzung ihres faktischen Verbundenseins in der „zweydeutigen Gestalt" 19 des Jesus von Nazareth zu einem neuen Verständnis der physischen und intelligiblen Welt gelangen könnte, beschäftigt ihn. An Herder schreibt Hamann: „Der Uebergang vom Göttlichen] zum Menschlichen] dünkt mir immer ähnlichem] Misbrauch ausgesetzt zu seyn. Beide Extreme müßen schlechterdings verbunden werden, um das Ganze zu erklären, oucria t o u a a ^ a x o g und s l o u a i a tot) a^ioj^iaxoq. Durch diese Vereinigung wird das Buch heilig, wie aus einem Menschen der Fürst." 20 Hamann sieht im Christusgeschehen nicht nur die geschichtlich einzigartige Versöhnung Gottes mit dem Menschen, sondern eine sich in den Strukturen des Kosmos widerspiegelnde „Vereinigung" von „Extremen", und zwar, wie diese Briefstelle deutlich macht, mit worthaftem und sakramentalem Charakter. Das „Buch" wird „heilig", wenn sich die „ouaux" mit der „eijoucaa" verbindet: damit ist nicht nur die Bibel gemeint, sondern die Gesamtheit dessen, was Gott als Schöpfer hervorbringt und wodurch er sich als Offenbarer mitteilt. Der „immer ähnliche] Misbrauch" entsteht, wo, christologischen Häresien vergleichbar, Göttliches und Menschliches, man könnte mit Hamann auch sagen: wo „Buchstabe und Geist" 21 des von Gott gesprochenen Textes auseinandergerissen und entweder pantheistisch oder anthropozentrisch aufgelöst werden. Nur das intellektuell mühsame und konfliktreiche Zusammenhalten der „Extreme" ermöglicht nach Hamann angemessenes Verstehen und verantwortliches Handeln, damit die als „Buch" zu lesende Welt in den Kontexten von „Metaphysik" und „Politik" vor theologischer Überfremdung einerseits, aber auch vor dem Verlust jeglicher Sinngebung andererseits geschützt werden kann. Der mit Christus vollzogene „Uebergang vom Göttlichen] zum Menschlichen]" liegt dem ,,Ganze[n]" apriorisch zu Grunde und weist die von Hamann geforderte „Einheit" als ein Geschehen aus, welches nicht als System erfaßt, sondern lediglich in immer neuen Anläufen „dramatisch vermittelt werden [kann]" 22 . Hamanns Werke gewinnen als Inszenierungen dieser „Extreme" und ihrer Vermittlung das ihnen eigene Profil; stilistisch und inhaltlich in äußerster Komplexität miteinander verwoben, eröffnen sie einen Raum jenseits der Alternative von idealistischer

18

19 20 21 22

An den Problemen der klassischen Christologie zeigt Hamann kein ausgeprägtes Interesse. Vgl. H. Gießer, aaO., 78f. N 111,311,27 (Golgatha und Scheblimini). ZH IV,254,28-32 (Brief vom 19. Dez. 1780). Vgl. N 11,203,5-7 (Aesthetica). J.v. Lüpke, Zur theologischen Dramaturgie (Acta VI), 306.

6

Einleitung

„Identifikation" und antiidealistischer „Diastase", den vorzustellen die Absicht dieser Untersuchung ist. Indem Hamann dem Weltgeschehen das in der Idiomenkommunikation ausgesagte Geschehen vorausgesetzt sein läßt, verändert er dessen Charakter. Aus einem dogmatischen Glaubenssatz, der sein Profil aus dem sorgfältig abgegrenzten Kontext des Lehrstücks „De persona Christi" gewinnt, wird ein allgemeines Kriterium für das Verständnis von Wirklichkeit überhaupt, dem Hamann theologische und philosophische Relevanz unterstellt. Das ,Drama' der Vereinigung von Gott und Mensch stiftet nicht nur Heil, indem es den Menschen mit Gott versöhnt, sondern es stiftet auch außerhalb des theologischen Kontextes Sinn, ohne den das Seiende gar nicht denkbar wäre. So wird die christologische Figur zu einer ontologischen Struktur von allgemeiner Gültigkeit, die sich als das die Hauptfiguren des kosmischen Dramas in Präexistenz und Geschichte trotz ihrer Gegensätzlichkeit verbindende Moment erkennen läßt. „ I l a v t a 0EIA Kai av0pcojuva IIANTA" 23 , lautet der bei Hippokrates entlehnte Spitzensatz, der freilich wie die Aussage zur Idiomenkommunikation nur dann Sinn stiften kann, wenn das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Sein auch in seiner Verallgemeinerung noch christologisch verstanden wird. 4. Der Frage nach der Bedeutung dieser Umformung eines Kernbereiches christlicher Theologie für das Denken Hamanns soll in drei Schritten nachgegangen werden. Zunächst muß nach der Genese des Hamannschen Verständnisses von Wirklichkeit gefragt werden: Wie ist Hamann überhaupt darauf gekommen, die communicatio idiomatum auf eine Weise, die in der theologischen Tradition singulär ist, zu verallgemeinern? Diese Frage soll der erste Hauptteil dieser Arbeit beantworten. Er wird zeigen, daß die Verallgemeinerung der Idiomenkommunikation aus dem typologischen Bibelverständnis ableitbar ist, welches Hamann in den sog. Londoner Schriften entwickelt. Die Konstitution des hamannschen Verständnisses von Wirklichkeit ereignet sich im Zwiegespräch des zum Glauben erweckten Individuums mit der Schrift, die dieses sich als Ort ihrer Verwirklichung und zugleich als Bestandteil göttlichen Redens erfahren läßt: Nicht das Individuum legt die Bibel, sondern die Bibel legt das Individuum als mikrokosmischen Inbegriff der durch die Extreme von Sünde und Gnade gezeichneten Wirklichkeit aus. An zweiter Stelle steht die Frage: Wenn die Idiomenkommunikation im Denken Hamanns die Bedeutung eines hermeneutischen Schlüssels hat, was leistet dieser? Ist seine christologische Redeweise im Kontext nichttheologischer Fragestellungen überhaupt von sachlich tragender Bedeutung oder nur Figur einer auch unabhängig davon existierenden Argumentationsstruktur? 23

N II,105,24f (Wolken).

Einleitung

7

Diese Frage soll im zweiten Hauptteil der Arbeit beantwortet werden. Von besonderer Bedeutung wird hierbei sein, daß Hamann sich kritisch von der Theologisierung menschlicher Intellektualität abgrenzt, wie er sie bei Herder, Reimarus, Kant und Mendelssohn in je unterschiedlichen Ausprägungen wahrzunehmen glaubt. „Die Leute reden von Vernunft, als wenn sie ein wirkliches Wesen wäre, und vom lieben Gott, als wenn selbiger nichts wie ein Begriff wäre." 24 Das ist die Front, die Hamann aufbrechen will. Der einseitig apotheotischen Bewegung des aufgeklärten Vernunftbegriffes, in dem der Gedanke einer intellektuellen und moralischen Selbstverwirklichung des Menschen angelegt ist und dem nicht selten eine kritische Haltung gegenüber dem anthropomorphen Gottesbild der Bibel korrespondiert 25 , setzt Hamann die unauflösliche Einheit von „Anthropomorphose und Apotheose" 26 entgegen, die seiner Ansicht nach universal, d.h. „im Herzen und Munde aller Religionen" 27 keimhaft angelegt ist. Natur und Geschichte, Kultur und Vernunft, aber auch „das fleischliche Band des Lebens, des Geschlechts und der Gesellschaft"28 sind Bestandteile eines Offenbarungsgeschehens, die Hamann in den verschiedenen Kontexten seiner Autorschaft als solche entschlüsseln oder besser: „übersetzen" 29 möchte. Sein positiv-ästhetisches Verständnis von nichtchristlicher Poesie und Mythologie, aber auch seine provozierende Bejahung von Sinnlichkeit und Sexualität als materiellen Elementen göttlicher Selbstmitteilung ist in diesem Zusammenhang ebenso bezeichnend wie seine Kritik derjenigen modernen Mythen, wie sie der Vernunftglaube der Aufklärung hervorbringt. Eng verbunden mit der Frage nach der Leistung ist die Frage nach der Grenze dieser Leistung, die die Ergebnisse der Untersuchung sachlich kontrollieren soll. Ist Hamann sich des möglichen und „immer ähnliche[n] Misbrauchs" jenes „Uebergangfs] vom Göttlichen] zum Menschlichen]" bewußt, um dessen richtige Bestimmung sein Denken ringt, so wird gleichwohl zu fragen sein, in welcher Weise die von ihm vorgenommene Umformung einer christologischen Bestimmung, mit der beispielsweise auch eine Umformung des Sakramentsverständnisses der kirchlichen Tradition einhergeht, mit dem biblischen Zeugnis und dem Bekenntnis der Kirche zu vermitteln ist. Welche Komplikationen ergeben sich in systematisch-theologischer Perspektive aus dem Versuch, die Wirklichkeiten von Natur und Geschichte mit Hilfe 24 25

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ZH VII,26,34f (an Jacobi am 26. Okt. 1786). Das ist z.B. ein zentraler Gedanke in J.G. Herders Schrift Über den Ursprung der Sprache, auf den Hamann in seinen Zwo Rezensionen überaus kritisch Bezug nimmt; vgl. N 111,18,17-29. N III, 192,20f (Zweifel und Einfälle). Ebd, 19f. Ebd, lOf. Vgl. NII,199,4f(Aesthetica).

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Einleitung

der Idiomenkommunikation zu strukturieren? Wird diese dadurch inhaltlich nicht zu einer bloßen Redeweise entleert, die letztlich ohne sachliche Einbuße entfallen könnte, oder stellt sie den Versuch dar, das hochsensible Zentrum christlicher Theologie in ein Gespräch mit der nachchristlichen Philosophie zu bringen? Muß dieses aber, wenn es denn eine für die Philosophie einleuchtende Bedeutung haben soll, nicht den Keim einer Ontologie in sich tragen, die auch unabhängig von ihren christologischen Ursprüngen Sinn haben und Sinn geben kann? Damit hängt ein weiterer Fragenkomplex zusammen: Welchen geistesgeschichtlichen Ort nimmt Hamann ein? Ist er derjenige, dem Schelling und Hegel, für deren Philosophie auch eine spekulative Umformung der Christologie charakteristisch ist, die entscheidenden Impulse verdanken? Wie aber konnte er dann von Kierkegaard und, vermittelt durch diesen, sogar von Vertretern der Dialektischen Theologie zum Kampfesgenossen gegen Hegel eingesetzt werden? Haben beide Strömungen ihn falsch verstanden? Oder haben vielleicht beide jeweils ein Moment seiner Argumentation richtig verstanden, aufgrund ihres einseitigen Verstehens jedoch den zugrundeliegenden Gedanken mißverstanden? Auf diese Fragen soll am Schluß des Buches eingegangen werden.

Erster Teil: Christologie und Typologie in den Londoner Schriften Vorbemerkung: Das Corpus der Londoner Schriften1 ist im Zusammenhang mit einem religiösen Umkehr-Erlebnis entstanden, welches in der Forschung gemeinhin als die Londoner Lebenswende Hamanns bezeichnet wird. 2 Den größten Raum nehmen darin die „Biblischen Betrachtungen eines Christen"3 ein, in denen Hamann auf dem Hintergrund dieses Erlebnisses die Eindrücke seiner Bibellektüre in meditierenden Reflexionen festhält. 4 Daneben finden sich die autobiographischen „Gedanken über meinen Lebenslauf' 5 , die „Gedanken über Kirchenlieder"6, zwei umfangreiche Einzelbetrachtungen7, eine kleine philosophische Schrift mit dem Titel „Brocken"8, die ,,Betrachtung[en] über Newtons Abhandlung von den Weissagung[en]" 9 und ein Gebet 10 . Die Eigenart dieser Schriftengruppe11, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt war 12 , rechtfertigt ihre gesonderte Behandlung. Sie besteht vor allem darin, daß Hamann hier völlig ohne publizistische Absichten ein Verständnis 1

Ich zitiere im folgenden nach der historisch-kritischen Neuedition der Londoner Schriften von O. Bayer und B. Weißenborn (BW). Grundsätzlich gebe ich den orthographisch häufig fehlerhaften Wortlaut des Urtextes wieder (vgl. dazu die in BW 54-56 erläuterten Editionsprinzipien), habe jedoch in wenigen Fällen dort Korrekturen vorgenommen, wo die philologische Treue zum Original das Verständnis einer Stelle erschwerte. Die korrigierten Stellen sind durch ein [*] kenntlich gemacht; das Kürzel „v" oder „v." wird einheitlich mit „u." wiedergegeben. Zusätzlich werden alle Zitate und zum Vergleich herangezogenen Stellen in der Ausgabe J. Nadlers nachgewiesen (N I). - Zur Bedeutung der Londoner Schriften vgl. (neben der Einleitung zur Neuedition) F. Blanke, Der junge Hamann, 99112; E. Büchsei, Biblisches Zeugnis und Sprachgestalt, 35-99; K. Gründer, Figur und Geschichte; W. Koepp, Der junge J.G.Hamann ( T h L Z l l ) , 810-814; E. Metzke, J.G. Hamanns Stellung in der Philosophie des 18. Jahrhunderts, 6-35.

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Vgl. BW 342-344 (N 1,39-41). Zu Hamanns Londoner Erlebnis vgl. F. Blanke, aaO [Anm. 1], 104-107; und H. Lindner, Lebenswende (Insel-Almanach 1988), 39-52. BW 65-311 (N 1,5-249). Vgl. BW 6-10 (Einführung). BW 313-349; 429-437 (N 11,9-54). BW 353-394 (N 1,250-291). BW 373-379 (N 1,270-276) und BW 397-403 (N 1,291-297). BW 405-417 (N 1,298-309). BW 421-425 (N 1,315-319). BW 441-446 (N 1,310-314). Zu ihrer Einordnung im Gesamtwerk Hamanns vgl. K. Gründer, Figur und Geschichte, 5f. Vgl. O. Bayer, Zeitgenosse im Widerspruch, 26.

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Vorbemerkung

von Offenbarung und Geschichte entwickelt, das in wesentlichen Punkten den theologischen Rahmen seiner späteren Tätigkeit als Schriftsteller absteckt. 13 Mit Recht ist in diesem Zusammenhang von „hermeneutischen und ineins ontologischen Entdeckungen" 14 gesprochen worden, denn in der eigenwilligen Hermeneutik der Londoner Schriften zeichnet sich bereits die Methode ab, mit der Hamann nicht nur die Bibel, sondern auch die Zusammenhänge von Natur und Geschichte als Anrede Gottes zu entziffern versuchen wird. Zunächst gilt es jedoch, wie von K. Gründer vor nunmehr über 30 Jahren gefordert, die „indirekte Christologie" der Londoner Schriften „als solche zu entfalten." 15 Hier lassen sich die Grundlagen einer „konsequenten lückenlosen Christozentrik" finden, von der „Hamann seit den biblischen Betrachtungen bis zu seinem ,letzten Blatt' nie auch nur einen Deut abgewichen [ist]." 16 Erkenntnisleitend wird bei der nun folgenden Darstellung die Frage nach dem Ort der Entwicklung dieser Überzeugung sein. Denn es ist durchaus nicht auf den ersten Blick zu entscheiden, ob die das Hamannsche Bibel- und Weltverständnis prägende „Christozentrik" sich aus dem Wechselverhältnis von menschlichem Leser und göttlichem Autor ergibt und damit ein sachlich sekundärer Spiegel des individuellen religiösen Erlebens ist, oder ob nicht das für Hamann in der Bibel objektiv greifbare Wechselverhältnis von Offenbarung und Geschichte, welches den Gedanken einer universalen communicatio vorbereitet, das eigene Erleben als solches konstituiert. Anders gefragt: Bringt die menschliche Seele, die Hamann bekanntlich als lebendige „Schaubühne" 17 der biblischen Heilsgeschichte bezeichnet, diese - samt dem Christusgeschehen - selber hervor? Oder ist die „Schaubühne" als der Ort, an dem Heilsgeschichte erlebbar wird, lediglich durch ihr Miteinbezogensein in das Christusgeschehen von Bedeutung? Von der Beantwortung dieser Frage wird abhängen, ob das in den Londoner Schriften entwickelte christologische Wirklichkeitsverständnis Hamanns sich einer bestimmten Form der Bibelauslegung verdankt oder einer durch die Bibellektüre affizierten Selbstauslegung des Individuums, mithin ob es im Kontext einer bibelbezogenen Theologie gesehen werden kann oder nicht.

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„Die ,Biblischen Betrachtungen' werden verfehlt, wenn man sie nur als Niederschlag von Glaubenserleben versteht. Sie spiegeln gleichermaßen, so unsystematisch sie sind, theologische Reflexion" (K. Gründer, Figur, 16). BW 10 (Einführung). Figur und Geschichte, 25. H.U.v. Balthasar, Hamanns Theologische Ästhetik, 41. BW 377,37f(N 1,274).

1. Menschwerdung

und Offenbarung

1.1 Das Kreuz Christi als formgebende Kraft der biblischen Offenbarung Seinen eigenen Angaben zufolge bestand für Hamann das Umwälzende seines Londoner Erlebnisses darin, daß er sich durch die Bibellektüre konkret auf seine wohl verfahrene Lebenssituation angesprochen fühlte. Was er, aufgewachsen und ausgebildet „in einer Atmosphäre, in der sich Pietismus und Aufklärung ohne große Konflikte ineinander verweben" 1 , offenbar nie als Problem empfunden hatte, wurde ihm in seiner ganzen Nicht-Selbstverständlichkeit zur Ursache eines immer wieder geäußerten Erstaunens: Nämlich daß Gott mit menschlichen Worten redet, daß er in der Bibel und den in ihr erzählten Geschichten menschliche Gestalt annimmt. „Gott ein Schriftsteller! Die Eingebung dieses Buchs ist eine eben so große Erniedrigung und Herunterlassung Gottes als die Schöpfung des Vaters und Menschwerdung des Sohnes." 2 Mit diesen Worten beginnt ein kleiner Text mit der Überschrift „Ueber die Auslegung der heil. Schrift" 3 , der vermutlich während der Londoner Zeit entstand und der sich im Sinne einer hermeneutischen Vorbemerkung zu den Londoner Schriften verstehen läßt. Der göttliche „Schriftsteller" vollzieht nicht nur die kondeszendente Bewegung nach, die sich mit dem Ereignis der Menschwerdung Gottes verbindet. Mehr noch: Er entspricht mit seiner Schriftstellerei sowohl einer zufälligen Mode im Jahrhundert der Aufklärung als auch der Wirklichkeit des dreieinigen Gottes, der darin von den ersten Seiten an bezeugt wird: der „Erniedrigung und Herunterlassung", die allen göttlichen Personen gemeinsam ist. Die humoristische Tönung dieses Gedankens ist für Hamann ebenso bezeichnend wie der darin sich äußernde Ernst. 4 Daß die Vorstellung eines schriftstellernden Gottes angesichts der dabei geweckten Assoziationen (man denke an die im 18. Jahrhundert mit der Mode des Schreibens verbundene Eitelkeit und das Konkurrenzdenken) nicht einer gewissen Komik entbehrt, hat etwas mit den „beiden Welten" zu tun, die Hamann hier, „jäh und provokant, zusammenzieht], die ewige Gottes und die sprachliche des Menschen" 5 . Der göttliche „Schriftsteller" paßt sich dem aufgeklärten Zeitgeist an; er schreibt ein Buch und mischt sich damit ein in das Stimmengewirr menschlicher Mitteilungsbedürftigkeit. 1 2

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B W 3 (Einführung). B W 59,3.6-8 (N 1,5); vgl. B W 67,20 (N 1,9). Zur Herkunft der „Schriftsteller"-Metapher vgl. J. Ringleben, Gott als Schriftsteller (Acta VI), 242-246. B W 5 9 , l f ( N 1,5). Zur zeitlichen Einordnung dieses auf einem Einzelblatt überlieferten Textes vgl. BW 449 (Textkritischer Apparat und Erläuterungen). Vgl. J. Ringleben, Rede, daß ich dich sehe (NZSTh 30), 210. Ebd.

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Menschwerdung und Offenbarung

Aber die zitierte Aussage enthält mehr als die Einsicht in die Notwendigkeit einer solchen Akkommodation. Dominiert wird sie nämlich von der Behauptung trinitarischer Kondeszendenz, aufgrund derer die „so große Erniedrigung und Herunterlassung Gottes" als Wesensmerkmal aller göttlichen Personen erscheint. Im Buch der Bibel ist Hamann eben nicht irgend einem „Schriftsteller", sondern dem lebendigen Gott begegnet. Deshalb tritt in den Betrachtungen neben die zuweilen aufblitzende Heiterkeit die Grundhaltung einer tief empfundenen „Demuth des Herzens" 6 , von der Hamann sagt, daß sie „die einzige Gemüthsverfassung" sei, „die zur Lesung der Bibel gehört [...]." Nicht ohne ein „Zittern der Ehrfurcht" könne er beispielsweise „die Geschichte Davids an dem Hofe des Königs zu Gath lesen, der seine Geberde verstellte, einen unsinnigen spielte, und die Pforten des Thors bemahlte, seinen Bart begeiferte [...]."7 Ausgerechnet das abstoßende und zudem wenig heldenhafte Verhalten Davids, dem es hier einzig um die Rettung seiner selbst zu tun ist, weist für den Betrachter hin auf die Gegenwart Gottes im Wort der Bibel. Der „Schriftsteller" offenbart sich sub contrario; er „kleidete seine eigene Weisheit in Thorheit, in Menschlichkeit ein." 8 Dabei akkommodiert er sich „nicht nur" den Eigenschaften des Normal-Menschlichen. Das tut er natürlich auch, indem er freundlich redet, den Bibelleser mit vernünftigen Argumenten zu überzeugen sucht. 9 Hier aber mimt er, verborgen in der Person des David, einen Wahnsinnigen und konterkariert damit gleichsam das Normal-Menschliche, für Hamann ein Gedanke von bleibender Faszinationskraft. Der göttliche „Schriftsteller" nimmt Verhaltensweisen an, die sowohl aufklärerische als auch orthodox fundamentalistische Vorstellungen von göttlicher Moralität und Widerspruchsfreiheit unterlaufen. Dabei bildet die Davidsgeschichte keine Ausnahme. Auch in den ,,Lüg[en] eines Abrahams" 10 oder in der „Blutschande Loths" 11 glaubt Hamann diese Absicht zu erkennen. Fast scheint es ihm, als fordere Gott durch seine Identifizierung mit solchen Geschichten jenes „Urtheil [des] Achis" 12 heraus, das im Duktus der Erzählung dem David zwar das Leben rettet, in dem Hamann aber auch schon „die Denkungsart eines ungläubigen] Witzlinges und Sophisten unserer Zeit wiederschallen zu hören" 13 glaubt. Wieder zieht Hamann die Ebenen zusammen: Der aufgeklärte Hüter von Vernunft und Moral ver6 7 8 9

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Dieses und die folgenden zwei Zitate: BW 59,8f (N 1,5). BW 59,34-61,2 (N I,5f); vgl. 1 Sam 21,11-16. BW 230,40f(N 1,169). Vgl. BW 180,24-27 (N 1,119), wonach „der Geist Gottes [...] alles gethan [hat], um uns auf seine Sprache aufmerksam zu mach[en], um uns[ere] Vernunft gefangfenj zu nehm e n ] und zu gewinn[en] oder sie zuschand[en] zu mach[en]." BW 160,32 (N 1,99); vgl. Gen 20,3. BW 160,33 (N 1,99); vgl. Gen 19,33-36. BW 61,2 (N 1,6); vgl. 1 Sam 21,15f. BW 61,2-4; vgl. 1 Sam 21,13-15.

Das Kreuz Christi als formgebende Kraft der Offenbarung

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jagt den klugen Antihelden, worin Hamann nicht nur die Antizipation aufgeklärter bzw. ,,ungläubig[er]" Bibelkritik, sondern auch einen typologischen Hinweis auf das Schicksal aller göttlichen Personen sieht: „Der Schöpfer ist geleugnet, der Erlöser gekreutzigt, und der Geist der Weisheit gelästert word[en]." 1 4 Entscheidend ist also die Analogie zwischen der Selbsterniedrigung Christi und der „Herunterlassung" Gottes im Wort der Bibel: Wie „Jesus Christus sich nicht nur begnügt ein Mensch sondern ein armer u. der elendeste gew o r d e n ] zu seyn", so hat „der heil. Geist uns ein Buch für sein Wort ausgeg e b e n ] , worinn er wie ein alberner und wahnsinniger, ja wie ein unheiliger u. unreiner Geist unsferer] stoltzen Vernunft Mährlein, kleine verächtl. Begebenheiten] zur Geschichte des Himmels u. Gottes gemacht 1 Cor 1.25." 15 Daß sich, wie Hamann sagen kann, in der ,,elend[en] Gestalt" 1 6 des irdischen Jesus der göttliche Erlöser „versteckte", ist auch für den Charakter der Bibel von Bedeutung. Der „Schriftsteller" erleidet, zumal im Jahrhundert der Aufklärung, das Schicksal des Gekreuzigten. 17 Sein Wort erregt Ärgernis; es erscheint der „stoltzen Vernunft", zuweilen auch dem ästhetischen Empfinden unzumutbar wie das Wort vom Kreuz. Aber für Hamann bestätigt das Wort der Bibel gerade durch die von ihm ausgelöste Krisis seine göttliche Authentizität. So fragt er zum Schluß seiner Überlegungen: „Welcher Mensch würde sich unterstehen wie Paulus von der Thorheit Gottes, von der Schwäche Gottes zu reden 1 Cor. 1.25. Niemand als der Geist, der die Tiefen der Gottheit erforschet, würde uns diese Prophezeiung haben entdecken können, deren Erfüllung in unseren Zeiten mehr als jemals eintrifft, daß nicht viele Weisen nach dem Fleisch, viele Mächtige viele edle zum Himmelreich beruffen wären, und daß der große Gott seine Weisheit und Macht eben dadurch hat offenbaren wollen, daß er die thörichten Dinge der Welt erwählt um die Weisen zu schände [zu*] machen; daß Gott die schwachen] Dinge der Welt erwählt um die Mächtigen zu schan14 15

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B W 59,1 l f ( N 1,5). B W 3 4 6 , 2 4 - 2 9 ( N 11,43). Zum Vergleich sei noch aus einer Betrachtung zu 1 Sam 21,1116 zitiert: „Der heil. Geist ist ein Geschichtsschreiber menschl. thörichter ja sündl. Handl u n g e n ] geword[en] um wie David den Achisch zu hintergeh[en]. David verstellte se[ine] Geberde, der Geist der Reinigkeit u. der Weisheit - er macht Zeich[en] an d[en] Thür[enj der Pforte Der heil. Geist begnügt sich [nicht] nur als ein M[ensch] zu red[en] u. zu schreiben] - sondern weniger als ein M[ensch] ~ als ein thörichter, als ein wahnwitziger, ja als ein rasender. Er stellt sich aber nur in d[en] Aug[en] der Feinde Gottes so - er bemahlt die Thüren der Pforten, aus den[en] kein Achisch klug werd[en] konnte, Zeich[en], die man für die Handschrift eines Narr[en] hielt [...]. Er scheint sich selbst durch dasjenige, was er als Gottes Wort e i n g e g e b e n ] , zu wiedersprech[en] u. zu verunreinigten]" ( B W 160,19-32 [N 1,99]). Dieses und das folgende Zitat: B W 158,27 ( N 1,97). Die Analogisierung von Bibelkritik und Kreuzesgeschehen ist ein wichtiges Motiv in Hamanns Auseinandersetzung mit Reimarus; vgl. N 111,227,11-14 (Konxompax) und dazu Kap. 3 im zweiten Teil dieser Arbeit.

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Menschwerdung und Offenbarung

de zu mach[en], die niedrigen und verächtl. Dinge erwählt, ja Dinge welche nichts sind um Dinge, die sich ihres Daseyns rühmen können zu Nichts zu bring[en]".18 Zu den fundamentalen Voraussetzungen des Hamannschen Denkens gehört die Einsicht, daß die „so große Erniedrigung und Herunterlassung Gottes" in seinem Wort nicht primär eine Konzession an die infralapsarische Wirklichkeit des Menschen, sondern in den unergründlichen „Tiefen der Gottheit" begründet ist. Gottes in menschlicher „Thorheit" verborgene „Weisheit und Macht" ist nicht akzidentiell in dem Sinne, daß hinter ihr noch eine eigentliche, von aller menschlichen „Thorheit" gleichsam gereinigte „Weisheit" zu glauben wäre. In der anstößigen, alles andere als vollkommenen Gestalt seines Wortes wird für den von diesem Wort affizierten Betrachter der gekreuzigte Christus sichtbar, in dessen Person Gott an der „Thorheit" und „Schwäche" des Menschen partizipiert. Diese Partizipation bedeutet für Hamann allerdings nicht das Aufgehen des Göttlichen im Menschen, sondern dessen heiligende Indienstnahme durch Gottes Heilsplan, die von Hamann zunächst auf den dritten, dann aber auch auf den ersten Glaubensartikel übertragen wird. Die „Erniedrigung und Herunterlassung" der drei göttlichen Personen weist hin auf den „unerforschliche[n] Vorbedacht" 19 dessen, der in Freiheit „das Schwache, das Niedrige" erwählt. Das Kreuzesgeschehen, wie es der Betrachter in der Begegnung mit der Bibel erlebt, bekommt dadurch universalen Charakter; es wird zur sachlichen Voraussetzung für das heilsökonomische Handeln Gottes. Nahezu alle Gedanken, die Hamann später zu den Problemkreisen Vernunft, Sprache, Gesellschaft und Geschlechtlichkeit entwickeln wird, sind in dieser Vorstellung bereits keimhaft angelegt. Allerdings ist der biographische Hintergrund dieser Vorstellung im Auge zu behalten. Denn sie gründet in der unauswechselbaren Erfahrung Hamanns, daß die mit dem Wort vom Kreuz gegebene „Prophezeyung" für ihn durch die Begegnung mit dem Wort der Bibel Wirklichkeit geworden ist. Die Kraft, mit der ausgerechnet die ,,alte[n] Lumpen" 20 biblischer Geschichten ihn aus dem „so sumpfichen Gefängnis" eines verfehlten Lebens herausgezogen haben, hat für Hamann, wie für Paulus die am Kreuz offenbar gewordene „Kraft Gottes" (1 Kor 1,18), eine Evidenz, die eine kritische Infragestellung der Authentizität der Bibel ebenso ad absurdum führen muß wie den Versuch, sie

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BW 61,5-16 (N 1,6). BW 296,31f (N 1,235); vgl. BW 360,21-23 (N 1,257). Dieses und das folgende Zitat: BW 59,25f (N 1,5). Das Zitat lautet im Zusammenhang: „Wir liegen alle in einem so sumpfichen Gefängnis, worinn sich Jeremias befand. Alte Lumpen dienten zu den Seilen ihn heraus zu ziehen; diesen sollte er seine Rettung zu danken haben. Nicht das Ansehen derselben, sondern die Dienste, die ihm selbige thaten und der Gebrauch, den er davon machte, erlösten ihn aus der Gefahr des Lebens." (BW 59,25-30 [N 1,5], zu Jer 38,11-13). Vgl. dazu die gleichfalls auf diese Bibelstelle Bezug nehmenden Briefstellen in ZH 1,341,13-15 u. ZH V,314,21-29.

Zum Verhältnis von Akkommodation und Kondeszendenz

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mithilfe der Vernunft zu beweisen. 21 Wie der am Kreuz verborgene Gott, so sind auch die biblischen Geschichten nicht von ihrem „Ansehen" 22 her zu beurteilen, sondern einzig von der Tatsache her, daß Gott durch sie tut, was er in ihnen verspricht. Theologisch hat diese Erfahrung weitreichende Folgen. Denn mit dem Kreuzesgeschehen, wie Hamann es versteht, nämlich als Begegnung mit dem erniedrigten Gott, der den Menschen erhöht, kommt der Idiomenkommunkation als Interpretament des Menschwerdungsgedankens eine Schlüsselfunktion für die biblische Hermeneutik zu. Nicht allein in der Person Christi, sondern auch in der Person des Geistes partizipiert Gott an den Eigentümlichkeiten des Menschen. Der „Schriftsteller" schreibt ein durch und durch menschliches Buch; er inszeniert dadurch die Botschaft von der Rettung des Sünders, deren Kehrseite die Verwerfung derjenigen „Dinge" ist, „die sich ihres Daseyns rühmen können." 23 Form und Inhalt bezeugen sich gegenseitig; das Wort vom Kreuz ist die formgebende Kraft der biblischen Offenbarung, so daß deren Äußeres zum Ausdruck ihres Inhaltes wird. 24

1.2 Zum Verhältnis von Akkommodation und Kondeszendenz Es wurde schon darauf hingewiesen, daß sich in dem Gedanken der „Herunterlassung" Gottes sowohl ein Moment göttlicher Selbstentfremdung als auch ein Moment göttlicher Selbstentsprechung findet. Mit dem ersten Moment verbinde ich den Begriff Akkommodation: Gott begibt sich in seinem Wort auf eine andere Ebene; er paßt sich darin dem Menschen an. Das andere bezeichne ich mit Kondeszendenz: Die Erniedrigung Gottes unterliegt keiner Notwendigkeit, sie gründet, wie Hamanns Hinweis auf das Kreuz deutlich macht, in seinem freien Heilswillen, dem sich die Personen der Trinität in gleicher Weise verpflichtet wissen. 25 21

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Ziemlich scharf distanziert Hamann sich von jenen „schwachen Köpfen", denen die Bibel Anlaß zum „Spott" gibt, weil sie sie am Maßstab einer „menschl. Weisheit" messen, „oder eine Genungthuung ihrer Neugierde, ihres Vorwitzes, eine Uebereinstimmung mit den Geschmack der Zeit, in der sie leben oder der Secte, zu der sie sich bekennen, im göttl. Worte zum voraus setzen" ( B W 68,36-40 [N I,10f]). B W 59,27f ( N 1,5). Vgl. B W 296,23-25 ( N I,234f). „Der menschgewordene Gottessohn und der in der Schrift waltende Geist Gottes sind in untrennbarer Einheit zugleich die Träger und die Gegenstände dieser Offenbarung" (R. Unger, Hamanns Sprachtheorie, 68). Und: „Die Herablassung Gottes in Christus ist der zusammengefaßte Ausdruck für die Offenbarung Gottes überhaupt" (H. Schreiner, Menschwerdung Gottes, 55). Ich bin mir bewußt, daß dieses Verständnis des Begriffes Kondeszendenz - zumindest in dogmengeschichtlicher Hinsicht - nicht korrekt ist. W. Eiert hat gezeigt, daß Origenes mit diesem Begriff eben die „liebevolle Anpassung Gottes an die begrenzte Auffassungskraft der Unmündigen" (Untersuchung, 272) beschrieb, die dann in der Aufklärungstheologie

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Menschwerdung und Offenbarung

Daß diese beiden Momente in einer gewissen Spannung zueinander stehen, liegt auf der Hand. Deshalb wird nun zu fragen sein, wie Hamann das Verhältnis von Akkommodation und Kondeszendenz bestimmt. Ich lege dafür einen Abschnitt aus den ,,Betrachtung[en] über Newtons Abhandlung" zugrunde: „Jede Geschichte trägt das Ebenbild des Menschen, einen Leib, der Erde und Asche und nichtig ist, den sinnlichen Buchstaben, aber auch eine Seele, [...] den Hauch Gottes, [...] [den*] Othem seines Mundes, das Licht und das Leben, das im Dunkeln scheint und von der Dunkelheit nicht begriffen werden kann. Der Geist Gottes in seinem Wort offenbart sich wie d[as] Selbstständige - in Knechtsgestalt ~ ist Fleisch ~ und wohnet unter uns voller Gnade u. Wahrheit."26 Die biblischen Berichte von der Erschaffung des Menschen stehen erkennbar im Hintergrund. 27 Aus einem Erdenkloß formt Gott den Menschen, und mit göttlichem Lebensatem erweckt er ihn zum Leben. 28 Dieses Miteinander von Nichtigkeit und Lebendigkeit, das für die biblische Sicht des Menschen typisch ist, entspricht nach Hamann dem Miteinander von „sinnlichem Buchstaben" und lebensspendendem „Hauch" im Wort Gottes. 29 Die Bibel ist mensc/tenebenbildlich, denn sie trägt wie der Mensch einen vergänglichen „Leib". Sie ist anfechtbar und verletzlich in ihrer Leiblichkeit. So entspricht Gottes Wort dem Menschen in seiner Materialität und Faktizität; es paßt sich ihm an, und in diesem Sinne hat die Vorstellung der Akkommodation für Hamann durchaus ihren Ort und ihr begrenztes Recht. 30 Gott „verwandelt sich [...] in einen Menschen, der unsern Sinn[en], unserer Vernunft, unsern Neigungfen], unserer Schwäche sich bequemt." 31 Zu beachten ist jedoch der Aspekt des unsichtbaren „Hauches", der in dem zitierten Text nicht nur anthropologisch, sondern auch christologisch und pneumatologisch zu verstehen ist. Der Mensch ist mehr als nur eine „Maschine von Wunderwerken" 32 ; er ist Leib und Seele, vergänglicher „Staub" 33 und

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mit dem Begriff accommodatio bezeichnet wurde. In dem hier gebrauchten, also Origenes entgegensetzten Sinne hat, auch darauf macht Eiert (aaO 275, Anm. 1) aufmerksam, vor allem H. Bezzel den Begriff gebraucht, der seinerseits stark von Hamann beeinflußt ist. Zum Problem vgl. auch M. Seitz, H. Bezzel, 181ff („Begriffsgeschichtliche Angaben zu Bezzels Kondeszendenzgedanken"). BW 421,6-13 (N 1,315); vgl. Phil 2,7 und Joh 1,14. Hamanns Handschrift, die von BW wortgetreu wiedergegeben wird, hat folgenden Wortlaut: „Jede Geschichte trägt das Ebenbild des Menschen, einen Leib, der Erde und Asche und nichtig ist, den sinnlichen Buchstaben, aber auch eine Seele, die den Hauch Gottes, und der Othem seines Mundes, das Licht und das Leben [...]." Vgl. Gen 1,27 und Gen 2,7. Vgl. BW 73,lOff (zu Gen 2,7). Vgl. zum folgenden H. Schreiner, Menschwerdung, 69-76 („Geist und Buchstabe"). Vgl. BW 68,33-35 (N 1,10); BW 73,1-3 (N I,14f); BW 92,37-40 (N 1,34); BW 126,31-33 (N 1,66) u.ö. BW 126,31-33 (N 1,66); zu Dtn 4,34. BW 73,5f (N 1,15). Vgl. BW 72,32; 73,4.5.20 u.ö.

Zum Verhältnis von Akkommodation und Kondeszendenz

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vom Schöpferhauch beatmetes Geistwesen in einer Person. Gottes Wort entspricht dem Menschen daher auch in derjenigen Geistigkeit, die der Schöpfer ihm selber eingehaucht hat, so daß der Akt der „Herunterlassung" nicht nur als Anpassung Gottes an das Nicht-Göttliche, sondern auch als göttliche Selbstentsprechung verstanden werden kann. Im „Fleisch" verborgen, entspricht der „Schriftsteller" sowohl sich selber in der Unerforschlichkeit seines Heilswillens als auch dem Menschen in seiner geschichtlichen und natürlichen Existenz. Gestalt und Wirken des göttlichen ,,Schriftsteller[s]" sind für Hamann der Person Jesu Christi parallel zugeordnet, was besonders eindrücklich durch die Zusammenschau von Inkarnations- und Inspirationsvorstellung zum Ausdruck kommt. Daß Hamann diese Zusammenschau nicht aus dem Nichts entwickelt hat, geht aus einem Vergleich mit seinem Königsberger Lehrer Martin Knutzen 34 hervor, den er hier - ungewöhnlich genug - zitiert. Auch Knutzen hatte von Christus als dem „selbstständigen Worte des Lebens" 35 gesprochen und unter Hinweis auf die „Knechts-Gestalt" Christi bereits eine „besondere Aehnlichkeit" 36 zwischen diesem und dem „Wort der Offenbarung" ausgemacht. Diese Einsicht hatte er apologetisch zum Erweis einer höheren Vernünftigkeit Gottes gegen die Auflösung des Offenbarungsgedankens durch den Deismus zu wenden gesucht. 37 Für Knutzen ist die „Herunterlassung" Gottes ein Bestandteil göttlicher Pädagogik; denn um sich dem Menschen verständich zu machen, muß Gott sich seiner Ansicht nach dem begrenzten Auffassungsvermögen des Menschen anpassen. Um die Menschlichkeit des Bibelwortes metaphysisch einsichtig zu machen, begründet Knutzen sie mit dem Akkommodationsgedanken und weist damit der Neologie mit ihrem historisch-kritischen Ansatz den Weg. In der gemäßigten, dem Wolffianismus zuzuordnenden Aufklärungstheologie, zu der Knutzen und in gewisser Hinsicht auch sein Schüler Hamann zu zählen sind, gibt es den Konflikt zwischen Vernunft und Offenbarung noch nicht. Die Menschlichkeit der Bibel, ihre sprachlichen und historischen Irrtümer werden zwar registriert, aber nicht gegen den Offenbarungsgedanken ausgespielt38, hat doch die Selbstangleichung Gottes an das im Vergleich zu ihm

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Vgl. B W 321,36-39 ( N 11,19). Zum Verhältnis Hamanns zu M. Knutzen vgl. K. Gründer, Figur, 56-60. „Philosophischer Beweiß von der Wahrheit der Christlichen Religion, darinnen die Nothwendigkeit einer geoffenbarten Religion insgemein, und die Wahrheit oder Gewißheit der Christlichen insbesondere, aus ungezweifelten Gründen der Vernunft nach Mathematischer Lehr-Art dargethan und behauptet wird", 4. Aufl. (Königsberg 1747), 278. Nachgewiesen in: B W 28f (Einführung), Anm. 83. „Das geoffenbarte Wort Gottes hat [...] hierinnen eine besondere Ähnlichkeit mit dem selbstständigen Worte des Lebens" (zit. nach K. Gründer, Figur, 57). Vgl. ebd, 59f. Vgl. K. Gründer, Figur, 60. Wie sehr der frühe Hamann von diesem biblischen Rationalismus geprägt ist, zeigt z.B. B W 213,40-214,5 ( N 1,152).

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Menschwerdung und Offenbarung

begrenzte menschliche Auffassungsvermögen eine innere Logik. 39 Erst die „Identifikation von Vernunft und Offenbarung" 40 durch die „vollentwickelte Neologie" läßt den Konflikt aufbrechen, der sich in Semlers Arbeiten zur Problematik des biblischen Kanons niederschlägt. Die Vernünftigkeit des Göttlichen schließt die Unvernunft des Menschenwortes aus, und mit der daraus folgenden Unterscheidung von göttlicher Wahrheit und menschlichem Wort ist der biblische Offenbarungsgedanke faktisch preisgeben. War bei Knutzen noch von einer göttlichen Pädagogik der Anpassung die Rede, so sind die biblischen Schriftsteller jetzt nurmehr menschliche Erzieher, die die göttlichen Vernunftwahrheiten in entsprechender Form präsentieren. „Subjekt der Akkommodation ist nicht mehr der sich offenbarende Gott, sondern die menschlichen Verfasser der biblischen Lehrschriften, die Ausleger, die vernünftigen Religionslehrer." 41 Diese Humanisierung des Offenbarungsgedankens begegnet in den Londoner Schriften nicht. Zwar gilt auch für Hamann, daß Gott „die Mittel diese Offenbarung d[en] M[enschen] nützlich zu mach[en], sie für solche einzunehmen, sie unter den M[enschen] auszubreit[en], fortzupflantzfen] u. zu erhalt[en], auf die Natur der Mensch[en] u. s[eine]r Weisheit am gemäßesten [hat] gründen müßen." 42 Für Hamann stellt Bedingtheit der „Mittel" allerdings nicht nur eine dem göttlichen Wesen eigentlich unangemessene Notwendigkeit dar, sondern ist zugleich für dieses Wesen idiomatisch. Deshalb bezeichnet er es als ein „vorzügl. Merkmal seiner Menschenliebe", daß „Gott [...] sich so viel als möglich bequemt und zu der Menschen Neigungfen] u. Begriffe, ja selbst Vorurtheile und Schwachheiten] herunter gelassen [hat]." 43 Da die „Menschenliebe" nicht von den ,,Mittel[n]" abstrahiert werden kann, durch die sie sich mitteilt, gilt letztlich: „Die Herunterlassung Gottes auf diese Erde" 44 selber ist ,,d[as] Mittel, wodurch wir dem Himmel näher gekommen sind." Diese Aussage ist für Hamann auf alle drei göttlichen Personen übertragbar. 45 Auch „Gott der Vater' [...] verläst den Himmel, er macht ihn einöde und leer, und kommt in unsere Herzen, nicht nur wie aus der wüst[en] u. leer[en] Erde ein Paradies [...] [zu machen,] sondern d[as] Gezelt des Himmels selbst aufzuschlagen]." 46 39

40 41 42 43 44 45

46

Die Vorstellung gibt es schon bei Philo von Alexandrien, vgl. dazu H.M. Kuitert, Gott in Menschengestalt, 82-107. Dieses und das folgende Zitat: K. Gründer, Figur, 60. Ebd, 71. BW 68,1-5 (N 1,10). BW 68,33-35 (N 1,10). Dieses und das folgende Zitat: BW 89,3-5 (N 1,30); vgl. Gen 11,7. „Um die Einigkeit der göttl. Person[en] anzuzeigen] find[en] wir immer in der heil. Schrift, ihre Werke durch die sie sich offenbart verwechselt" (BW 196,7-9 [N 1,134]). Vgl. auch die eindrückliche Beschreibung der dreieinigen Demut Gottes in BW 151,37152,8 (N 1,91). BW 124,26-30 (N 1,64); vgl. Ps 78,60.

Zum Verhältnis von Akkommodation und Kondeszendenz

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Schärfer läßt sich der Kondeszendenzgedanke kaum formulieren: Gott räumt seinen himmlischen Thron; er bringt sich und seine Wirklichkeit mit auf die Erde, genauer: in die menschliche Seele, um sie dort an den Menschen auszuteilen. Hatte die lutherische Orthodoxie mit Nachdruck betont, daß zwar die incarnatio des Logos, nicht aber die exinanitio der Person Christi mit der unveränderlichen Wirklichkeit Gottes in Verbindung gebracht werden dürfe 47 , so kehrt Hamann diesen Gedanken um. Nicht etwa der in problematischer Weise vom Xoyog aoapKog abstrahierte koyoc, evoaptcoq der Person Christi, sondern der dreieinige Gott erscheint bei ihm als das Subjekt der Entäußerung, die sich in der Inkarnation ebenso äußert wie in der Schöpfung und dem Wirken des göttlichen „Schriftstellers". In allen seinen Personen offenbart sich Gott als der Kondeszendente, der er selber ist, so daß auch von der Fleischwerdung des Geistes geredet werden muß. Inwieweit Hamann damit die Kenosislehre des 19. Jahrhunderts vorweggenommen hat, wäre an anderer Stelle zu untersuchen. Jedenfalls gilt schon für ihn, was man in der Forschung als das Ergebnis dieser Lehrbildung formuliert hat: „Die Kenose hat den präexistenten Logos, den X0705 aoapKog, zum Subjekt und ist als ein Moment der Menschwerdung zu betrachten. Die Entäußerung bezieht sich nicht nur auf die mit göttlichen Eigenschaften begabte .menschliche Natur', sondern auch und zwar zunächst auf die .göttliche Natur' selbst."48 Unter „Herunterlassung" versteht Hamann also nicht ein distanziertes Sich-Herablassen, sondern ein die Grenze der Selbstvernichtung berührendes Sich-Einlassen Gottes auf den Menschen und seine Wirklichkeit. Die hier feststellbare Brechung des Akkommodationsgedankens (Gott paßt sich dem Menschen an) durch den Kondeszendenzgedanken (Gott entspricht in der dreifaltigen „Herunterlassung" niemandem als sich selber) wird im Auge zu behalten sein. Einerseits gilt: Akkommodation ist notwendig, denn der Mensch ist nicht Gott, und die Kluft zwischen Gottessprache und Menschensprache muß reflektiert werden. Zugleich jedoch gilt: Gott ist „ein Schriftsteller"; er entspricht in seiner Menschlichkeit sich selber. Redend partizipiert er an der Fleischlichkeit des Menschen, wie er in Christus Fleisch geworden ist. Theologiegeschichtlich steht Hamann damit deutlich zwischen Luther, für den „die göttliche Kondeszendenz gerade als das Gegenteil jeglicher Akkommodation [erscheint]" 49 , und dem gemäßigten Flügel der theologischen Aufklärung, der, wie Knutzen, hier einen rationalen Ausgleich suchte. Primär ist für ihn sicher wie für Luther das Skandalon des Kreuzes, welches er, über 47

48 49

„Quamvis in sensu ecclesiastico et improprio interdum incarnatio dicatur exinanitio [...], proprie tarnen ex usu scripturae incarnatio non est vocanda exinanitio" (Hollaz, zit. n. H. Schmid, Die Dogmatik der evang.-luth. Kirche, 244). Oskar Bensow, Die Lehre von der Kenose (1903), 123 (zit. n. K. Gründer, Figur, 73). K. Gründer, Figur, 37.

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Menschwerdung und Offenbarung

diesen hinausgehend, mit dem Offenbarungsgedanken in Verbindung bringt. Stärker als Luther reflektiert er aber auch die Menschlichkeit der Bibel sowohl in historischer als auch philologischer Hinsicht 50 , denn das „Fleisch" ist eben nicht nur das, worin Gott sich verbirgt, sondern auch das, wodurch Kommunikation von Gott und Mensch möglich wird. Hier denkt Hamann zweifelsfrei rationalistischer als Luther: „Gott hat sich Menschen offenbaren wollen", also muß er es „durch Menschen" tun. 51 Er beugt sich den Konsequenzen seines Entschlusses, indem er den Angeredeten zum „Mittel", aber auch zum Maßstab seines Redens macht. Das demütige Sich-Einlassen auf den sündigen Menschen zwingt Gott in eine Verborgenheit, die einerseits seinem Wesen widerspricht - man denke an einen schauspielernden, mit dem Menschen gleichsam spielenden Gott - , ihm andererseits aber auch gemäß ist. Die vorbehaltlose „Herunterlassung" Gottes in seinem Wort ist damit primär als eine in Gott selbst begründete Kondeszendenz und sekundär als eine durch den Menschen bedingte Akkommodation zu verstehen. Redend entspricht Gott sowohl sich selber als auch dem angeredeten Menschen: Das ist die oszillierende Spannung dessen, was Hamann unter Offenbarung versteht. 52

1.3 Zur Dialektik des Hamannschen Bildbegriffes 53 Nach Hamann gehört es zu den Notwendigkeiten der Akkommodation, daß der „durch Menschen" sich offenbarende Gott in Bildern reden muß. Der Mensch ist darauf angewiesen, daß Gott seine Rede in Bilder bzw. „Gleichnisse" übersetzt, „weil alle unsere Erkenntnis sinnlich, figürlich [ist*] u. der Verstand und die Vernunft die Bilder der äußerl. Dinge allenthalb[en] zu Allegorien und Zeichen abstrakter, geistiger und höherer Begriffe macht." 54 Ganz allgemein gilt: „Alle endl. Geschöpfe sind nur im stände die Wahrheit u. das Wesen der Dinge in Gleichnissen zu seh[en]." 55 Diesem begrenzten Wahrnehmungsvermögen des Menschen paßt Gott sich in seinem Wort an. Er redet zu ihm in über sich hinausweisenden Sprachbil50 51 52

53

54 55

Belege hierfür ebd, 109-116. BW 67,40-68,1 (N I,9f; Hervorhebungen aufgeh.). K. Gründer schreibt: Der Hamannsche Kondeszendenzgedanke „enthält ebenso eine hermeneutische Anweisung wie eine Mahnung zum gläubigen Umgang mit der Schrift. Zugleich aber zeigt sich die innere Spannung von der Akkommodation bis zum Gegenteil, dem Inkognito des verborgenen Gottes" (Figur, 27). Vgl. zum folgenden H. Gießer, „Communicatio" und ihre Strukturen bei Hamann, 38ff („Die Bildstruktur der communicatio"). BW 219,8-11 (N I,157f); zu Prov 6,21. BW 173,26-28 (N 1,112).

Zur Dialektik des Hamannschen Bildbegriffes

21

dern, für die Hamann mit nur geringen Bedeutungsnuancen die Ausdrücke „Zeichen"56, „Gleichnis"", „Vorbild"58, „Sinnbild"59, „Figur"60, „Allegorie"61 und „Schatten" verwendet.62 Die Bild-Werdung Gottes im Bibelwort wäre dann als ein Interpretament der Fleischwerdung des Geistes zu verstehen. Weil Gott unsichtbar ist, muß er sich gleichsam in das sinnliche, der Sphäre des Fleisches zuzuordnende Bild einhüllen (und insofern auch darin verbergen), um sichtbar, d.h. offenbar werden zu können. Damit tritt in den Betrachtungen, dies wurde wohl schon in den bislang zitierten Textbeispielen deutlich, der Wortsinn (sensus historicus vel litteralis) der Bibel deutlich in den Schatten eines figürlichen oder übertragenen Sinnes (man denke an Hamanns Deutung der Geschichte von David am Hofe des Königs zu Gath). Denn erst die Wahrnehmung des in einer biblischen Geschichte oder Sinneinheit enthaltenen Bildes legt ihre Tiefenschicht frei. Insbesondere die alttestamentlichen Texte interpretiert Hamann durchweg typologisch als Ankündigungen neutestamentlicher „Heilsereignisse"63 bzw. der durch diese möglich werdenden „Heilserfahrungen"64. Auf der zeitlichen Ebene stellt das biblische Bild eine Beziehung her zwischen dem Text, der zumeist ein Ereignis der Geschichte Israels enthält, dem Christusgeschehen als der Erfüllung dessen, worauf dieser Text prophetisch bezogen ist, und der Wirklichkeit des Lesers, der im Zusammenspiel von Verheißung und Erfüllung seine eigenen Erfahrungen durch die Bibel gedeutet weiß, d.h. der sich im Verstehen typologischer Zusammenhänge als der vom Bibeltext Verstandene erfährt. Hamanns eigene Betrachtungsweise legt dafür ein beredtes Zeugnis ab: „Text- und Selbstmeditation"65 sind unauflöslich miteinander verbunden, denn das Bild zeigt dem Leser ein Geschehen, in dem er notwendig auch sich selber begegnen, genauer: sich selber erkennen muß. Zugleich sprengt Hamann jedoch das lineare Zeitverständnis der biblischen Typologie und mit ihr das Schema von alttestamentlicher Verheißung und neutestamentlicher Erfüllung. Altes und Neues Testament enthalten für ihn gleichermaßen Bilder einer transzendenten Wirklichkeit. Wichtige Perso56 57 58 59 60 61 62

63 64 65

Z.B. B W 173,24 ( N 1,112). Z.B. B W 173,26 (N 1,112). Z.B. B W 167,12 (N 1,106). Z.B. B W 218,19 ( N 1,157). Z.B. B W 144,35 ( N 1,84). Z.B. B W 87,8 ( N 1,28); B W 221,12-16 ( N 1,159). Vgl. B W 96,21-29 ( N 1,37), wo deutlich wird, daß Hamann die Begriffe .Allegorie", „Muster", „Vorbild" und „Schatten" nicht streng unterscheidet, vgl. auch B W 421,20f (N 1,315). Eine Zusammenstellung und Auswertung der im Gesamtwerk Hamanns vorkommenden Bild-Begriffe gibt H. Gießer, „Communicatio", 43-48. K. Gründer, Figur, 97. Ebd, 103. B W 6 (Einführung).

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Menschwerdung und Offenbarung

nen der alttestamentlichen Überlieferung wie z.B. Jakob 66 , Samuel 67 oder David 68 , nimmt Hamann daher auch als „Vorbilder" wahr, in deren Mit- und Gegeneinander sich trinitätstheologische und christologische Zusammenhänge ablesen lassen. „Wie ist die Dreyeinigkeit und die Vereinigung der Göttl. u. Mschl. Natur in Christo in der heil. Schrift der menschl. Vernunft sinnlich gemacht." 69 Übergeschichtliches und Geschichtliches können sich bei ihm auch überlagern, wenn Hamann z.B. die Geschichte von der Verfolgung Davids durch Saul nicht nur als „Figur" der Kreuzigung Christi interpretiert, sondern in diese Interpretation noch eine trinitätstheologische Deutung des Kreuzesgeschehens hineinzeichnet. 70 Das biblische Bild hat für Hamann die Funktion der sinnenhaften Vergegenwärtigung von Abwesendem, und zwar sowohl im zeitlichen als auch in einem das Zeitliche überschreitenden Sinn. Es stellt die gegenwärtige Wirklichkeit des Lesers mit der abwesenden Wirklichkeit alt- und neutestamentlicher Geschichten auf eine Ebene, öffnet aber auch den Blick für die davon zu unterscheidende Ebene der Heilswirklichkeit Gottes. Diese Dialektik des Hamannschen Bildbegriffes, in der sich bereits abzeichnet, was im zweiten Teil dieser Arbeit als „Dialektik des Wirklichen" 71 zu behandeln sein wird, möchte ich im folgenden kurz vorstellen. Ich gehe dabei von einer Betrachtung zu 1 Sam 3,11 aus: „Daher hat Gott Früchte uns[eres] eigen[en] Bodens gesammlet, eine Wahl davon gemacht und die Empfindungen] unserer eigen[en] Natur die Begebenheiten] unsers eigen[en] Volks zu Vorbildern, zu Zuchtmeistern, zu Lehrern, Tröstern, Kundschaftern in der heil. Schrift gemacht. Gott hat d[as] alles auf der Erde durch Mfenschen] geschehen] lassen, was im Himmel vorgegangen] war, was in der Hölle vorgehfen] soll. Gott hat d[as] alles sichtbar gemacht, was unsichtbar geschehen] sollte, u. last d[as] in geg[en]wärtig[en] Zeiten [geschehen], was in vergangenen] in den entferntest[en] gescheiten] ist u. in den entferntest[en] der Zukunft gescheiten] soll."72

1.3.1 Das Bild als Spiegel des Lesers Die Wirklichkeit Gottes wird in der Bibel zur erzählten, die Wirklichkeit des Lesers mit einbeziehenden Geschichte. Von dem „Boden" der menschlichen Existenz sammelt der göttliche „Schriftsteller" Bilder und Metaphern wie 66 67 68 69 70 71 72

Vgl. B W 1 0 2 , 3 6 f f ( N I , 3 9 ) . Vgl. B W 1 5 6 , 2 9 f ( N I , 9 5 ) . Vgl. BW 162,1 ff (N 1,104). BW 159,19-21 (N 1,98); vgl. BW 159,7-12 (N 1,98); BW 164,25-34 (N 1,103). Vgl. BW 162,lff (N 1,104) und dazu meine Interpretation in Kap.2.5 (Exkurs). S. dazu Kap.l im zweiten Teil dieser Arbeit. BW 150,33-151,3 (N I, 90); zu 1 Sam 3,11. BW gibt in Z.39 die Lesung „was in der Hölle vergehen soll" wieder.

Zur Dialektik des Hamannschen Bildbegriffes

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„Früchte" auf. Mit ihrer Hilfe macht er „sichtbar", was für den Menschen grundsätzlich unsichtbar, vergegenwärtigt er, was diesem nicht gewärtig ist. Folglich begegnet der Leser bei der Bibellektüre nicht irgendwelchen „Empfindung[en]" und ,,Begebenheit[en]" aus längst vergangenen Zeiten, mit denen er nichts zu tun hätte. Es sind, wie Hamann betont, die ,,Empfindung[en] unserer eigen[en] Natur" und die ,,Begebenheit[en] unsers eigen[en] Volks", aber auch der eigenen, individuellen Lebensgeschichte, die er hier wiederfindet. Das Bild ermöglicht damit diejenige „Gleichzeitigkeit und Identifikation" von Text und Leser, ohne die „Applikation" nicht möglich werden kann. 73 So greifen die „Empfindungfen]" und ,,Begebenheit[en]", von denen die Bibel erzählt, im Medium des Bildes applikativ-handelnd in die Existenz des Lesers ein, und dies auf vielfältige Weise. Sie fungieren als „Zuchtmeister" (hier steht der paulinische Topos von Gal 3,24 mit seinen gesetzestheologischen Implikationen im Hintergrund), als „Lehrer" zur Vermittlung des zum Heil notwendigen Wissens (vgl. Joh 3,2), als „Tröster" für den angefochtenen Glauben (vgl. Joh 14,16) und als „Kundschafter" eines verheißenen Landes (vgl. Jos 2), und zwar jener Wirklichkeit, die dem Glaubenden angeldhaft zuteil wird. Andeutungsweise läßt sich erkennen, was für den späteren Hamann von größter Bedeutung sein wird: Daß das auf Christus hinweisende Spiegelbild sowohl die zurechtweisende und überführende Funktion des Gesetzes (im paulinischen Sinn) als auch die aufrichtende Funktion der Predigt des Evangeliums haben kann. 74 Das biblische Bild führt, so hat Hamann es wohl selber erlebt, in die Krise der Selbsterkenntnis und spricht dem, der z.B. im Ungehorsam des Volkes Israel sich selber, sein eigenes Sünder-Sein erkannt hat, Trost und Hoffnung zu. Im Spiegel biblischer Ereignisse vermag der Leser die eigene „Hölle" der Sünde ebenso zu erkennen wie die radikal davon geschiedene Wirklichkeit des „Himmels", die ihm zugedacht ist.

73 74

E. Büchsei, Biblisches Zeugnis, 52-56. Denn Gottes „Weisheit hat die Thorheit der M[enschen], die Sünde der M[enschen] durch ein[en] Rath, den ke[ine] Vernunft genug bewundern [...] kann, zu uns.[erem] Zuchtmeister auf Christum, zu unser[m*] Ruhm in Christo gemacht" ( B W 160,40-161,4 [N 1,100]; vgl. Gal 3,24 und 1 Kor 15,31). Hamanns Bildbegriff weist schon in den Londoner Schriften einen inneren Zusammenhang mit dem paulinischen Gesetzesverständnis auf. Wie das Gesetz, so kann auch die Wirklichkeit des Menschen das Heil zwar nicht erwirken, aber aufgrund ihres Bildcharakters gleichsam pädagogisch darauf hinführen, indem sie es abbildet.

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1.3.2 Das Bild als sinnliche Vergegenwärtigung des Übersinnlichen Indem Hamann, wie er später berichtet, in den Geschichten vom Sündenfall und vom Brudermord des Kain seine eigene, bisherige Lebensgeschichte wie in einem Spiegel wiedererkennt 75 , begegnet er einer Wirklichkeit, die sowohl er selber als auch ganz und gar nicht er selber ist. Was ihm hier an eigener Schuld im Bild vor Augen steht, erscheint zugleich als Bestandteil eines Geschehens, das „im Himmel vorgegangen war" und welches „Gott [...] auf der Erde durch M[enschen] [hat] geschehen] lassen". Diese Spannung ist wichtig: Das biblische Bild enthüllt die Wirklichkeit des Lesers sowohl hinsichtlich ihres Von-Gott-Getrennt-Seins („Hölle") als auch hinsichtlich der Tatsache, daß sie eine von Gott veranwortete, in ihm begründete Wirklichkeit („Himmel") ist. Anders gesagt: Die „Früchte" von Natur und Geschichte, die Gott in der Bibel aufsammelt, hat er auch selber wachsen lassen. Hier tritt nun der von Hamann unablässig betonte Vorsehungsgedanke ins Blickfeld, der, wie Karlfried Gründer gezeigt hat, zu den maßgeblichen Voraussetzungen der Typologie gehört. 76 Gott „hat d[as] alles auf der Erde durch M[enschen] gescheh[en] lassen, was im Himmel vorgegangen] war, was in der Hölle vorgeh[en] soll." D.h.: Den biblischen Bildern liegen Ereignisse zugrunde, die in einem abbildenden Verhältnis zu transzendenten Ereignissen stehen. Gott offenbart sich „durch Menschen", indem er sie durch providentielle Fügung ihrer Geschicke seine eigene, göttliche Geschichte gleichsam nac/ispielen bzw. das in dieser Geschichte noch Ausstehende vorwegnehmen läßt. 77 Der göttliche „Schriftsteller" kann daher bei Hamann auch als Dramaturg eines Bühnenstückes oder gar „Choreograph" eines „Puppenspiels" erscheinen, „wenn auch die Tänzer nicht wissen, was ihre Figuren darstellen"7«. Gott inspiriert die biblischen Bilder nicht einfach. Entscheidend ist für Hamann vielmehr, daß Gott die Geschichten, die ihnen zugrunde liegen, geschehen läßt und dabei nach einem bestimmten .choreographischen' Plan verfährt. Wenn Hamann an einer Stelle davon redet, daß „die ganze physische Natur des Menschen von seiner Empfängnis bis zu seiner Verwesung" 79 eine verborgene Bedeutung habe, dann hat er nicht eine allgemeine „Natursymbolik" 80 im Sinn. Er meint vielmehr eine in allen natürlichen und geschichtli75

76 77

78 79 80

„Ich erkannte meine eigene Verbrech[en] in der Geschichte des jüdisch[en] Volks, ich la[s] mein[en] eig[enen] Lebenslauf [...]" (BW 343,14-16 [N 11,40]). „Die Typologie hat ihren Grund in der Vorsehung" (Figur, 136). Hamann bezeichnet einmal die Geschichte „der grösten Völker der Erde" als „ein Puppenspiel der göttlichen Vorsehung" (BW 238,21.23f [N1,177]). Fraglich ist hier allerdings die Bedeutung des Genitivs. K. Gründer, Figur, 148. BW 290,28f(N 1,2280Darin ist K. Gründer (Figur, 109) zuzustimmen.

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chen Prozessen sich abbildende „typische Geschichte" 81 , nämlich die Geschichte der „Erlösung selbst". Unter der sachlichen Voraussetzung dieser göttlichen „Geschichte" („was im Himmel vorgegangen ist") sieht Hamann die Wirklichkeit sich zu einem Schauspiel formieren, in dem jedes noch so zufällige Ereignis offenbarenden Charakter haben kann. „Ist d[as] kleinste Gräschen ein Beweiß Gottes; wie sollten die kleinsten Handlungen] der Mensch[en] weniger zu bedeuten haben?" 82 Von hier aus ist es nicht mehr weit zu der zentralen Einsicht, die Hamann in seinem „Lebenslauf notiert: „Ich fand die Einheit des göttl. Willens in der Erlösung Jesu Christi, daß alle Geschichte, alle Wunder, alle Gebote u. Werke Gottes auf diesen Mittelpunct zusammen liefen f...]." 83 Der Übergang von biblischer Hermeneutik zur Ontologie kündigt sich hier an. Ist „der ontologische Sinn des Bildes [...] das Zeigen" 84 , so sieht Hamann den ontologischen Sinn der geschaffenen Welt in ihrem Bild-Sein. Die typologisch erweisbare Einheit der biblischen Texte, die auch das Partikulare als Bestandteil eines Sinnganzen erscheinen läßt, schließt die Gesamtheit der außerbiblischen Wirklichkeit in sich ein, weil die Bilder der Bibel sie gleichsam mit begreifen. Wenn letztlich alle biblischen Bilder auf das Christusgeschehen hinweisen, dann kann das für den Bibelleser nur bedeuten, „daß alle Ereignisse der Menschengeschichte und vielleicht darüber hinaus auf Christus bezogen sind" 85 . In großer Vielfalt zeichnen sie jene „typische Geschichte", die alles Geschehen begründet und auf die alles Geschehen eschatologisch zentriert ist. „Auf der Erde", „durch Menschen" und „in gegenwärtigen Zeiten" wird offenbar, was nicht irdisch, nicht nur menschlich und nicht mehr oder noch nicht gegenwärtig ist. Die biblischen „Vorbilder" sprengen die Kategorien von Raum und Zeit; sie geben sowohl mahnende als auch tröstliche Kunde davon, daß das, was „in den entferntesten Zeiten [der Zukunft] geschehen soll", in Christus bereits geschehen ist.

1.3.3 Alles ist menschlich: Die Relativierung des Bildes durch das Abgebildete Schon für den Londoner Hamann gilt: Gott redet, um gesehen zu werden. 8 6 Er offenbart sich in einem Bildzusammenhang, der die individuelle Geschichte des Lesers, aber auch größere Zusammenhänge in Natur und Ge81 82 83 84 85 86

Dieses und das folgende Zitat: BW 290,29-31 (N 1,229). BW 411,25f(N 1,303; Brocken § 3 ) . BW 343,6-9 (N 11,40; Lebenslauf). K. Gründer, Figur, 145. Ebd, 150. Vgl. N 11,198,28 (Aesthetica). Der Gedanke begegnet auch bei M. Knutzen, vgl. K. Gründer, Figur, 58.

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schichte trotz ihres kontingenten Charakters als ein sinnvoll zusammenhängendes und planvoll gestaltetes Ganzes erkennen läßt. Was aber bedeutet die Transparenz natürlicher und geschichtlicher Zusammenhänge, wie sie in der Bibel erscheint, für das Verständnis der faktischen Welt? Welche Eigenbedeutung haben jene „Früchte" der menschlichen Existenz, aus denen der göttliche Künstler in der Bibel seine Bilder formt? Bedeutet diese Formung nicht eine Überformung, aufgrund derer den biblischen Geschichten etwas Uneigentliches, mehr Schein als Sein anhaftet? Anders gefragt: Hebt die „Christozentrizität des Geschehens" 87 nicht dessen Kontingenz auf zugunsten seines radikal heteronomen Bestimmtseins durch die göttliche Vorsehung? Da m.E. von einer Beantwortung dieser Frage das Verständnis des späteren Hamann abhängt, zitiere ich zunächst einige einschlägige Stellen aus den Londoner Schriften und gehe dann etwas ausführlicher auf die durch sie verursachte Diskussion in der Hamann-Forschung ein. „Alle Werke Gottes sind Ausdrücke und Zeichen seiner Eigenschaften; und so scheint es ist die ganze körperl. Natur ein Ausdruck ein Gleichnis der Geisterwelt. Alle endl. Geschöpfe sind nur im stände die Wahrheit u. d[as] Wesen der Dinge in Gleichnissen zu seh[en]." 88 Oder: „Die Weisheit scheint das Mschl. Geschlecht als Kundschafter höherer Geister erschaffen zu hab[en]." 89 „Es sind nicht Abrahams Werke und Moses Wunder und Israels Geschichte der Inhalt derselben, es betrift keine einzelne Menschen, keine einzelne Völker, ja nicht einmahl die Erde allein, sondern alles ist ein Vorbild höherer, allgemeiner, himmlischer Dinge." 90 Der Grundgedanke dieser Aussagen ist: Das Auffassungsvermögen des Menschen für die unsichtbare Wirklichkeit ist begrenzt, so daß Gott seine ,,Wahrheit[en] [...] in diesen einfachen], lebhaften], mannigfaltigen] u. so erstaunend ähnl. Bildern u. Farben eingekleidet hat." 91 Daß Hamann in dieser Weise das „Übersichhinausgebundensein" 92 von Welt und Mensch akzentuiert, ist nicht unmißverständlich. Aussagen wie die soeben zitierten haben vor allem Rudolph Unger dazu veranlaßt, die geistige Grundhaltung Hamanns als „platonisch" und „dualistisch" zu bezeichnen. 93 Hamann habe, so Unger, dem Natürlichen und Geschichtlichen keinen Eigenwert eingeräumt, sondern „alles Irdische [...] sub specie aeternitatis, als 87 88 89 90 91 92 93

K. Gründer, Figur, 149. BW 173,24-28 (N 1,112); zu 1. Kön 3,16. BW 201,4f (N 1,139); zu Esther 1,15; vgl. BW 225,35ff (N 1,1640BW 304,12-16 (N 1,243); zu 2 Petr 1,20. BW 87,10f (N 1,28); zu Gen 9,26f. E. Büchsei, Biblisches Zeugnis, 81; vgl. auch E. Metzke, Hamanns Stellung, 25. Vgl. Hamanns Sprachtheorie 136-155 (dort insbes. 144); und: Hamann und die Aufklärung I, 207f. Zu der damit verbundenen Festlegung Hamanns auf ein „weltanschauliches Schema" vgl. H. Gießer, „Communicatio", 40f. Ein kritisches Referat der Sprachtheorie Ungers gibt M. Seils, Theologische Aspekte, 58-66 („Hamann-Deutung zwischen Allegorie und Idee").

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Symbol überweltlicher Mächte, zuletzt der Gottheit" 94 betrachtet. Auch für ihn gelte: „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis." 95 Richtig daran ist, daß für Hamann die in der Bibel begegnende Wirklichkeit des geschöpflichen Menschen angesichts der göttlichen Wirklichkeit, die sich darin bekundet, tatsächlich etwas schattenhaft Unwirkliches, um nicht zu sagen: Nichtiges hat. Das Bild ist nicht aus sich selber, sondern als „Vorbild" oder „Gleichnis" immer auf etwas anderes, nämlich auf das darin abgebildete Christusgeschehen bezogen. 96 So ist für Hamann z.B. „die große Begebenheit der Sündfluth [...] nichts als ein Sinnbild, als ein Gleichnis, als ein Schatten, wodurch Gott sich dem Menschl. Geschlecht hat offenbaren wollen." 97 Mensch und Welt, wie sie in der Bibel geschildert werden, sind eben „nichts als" Bilder für die unsichtbare Wirklichkeit Gottes; ihr Dasein ist bestimmt und begrenzt durch das, was in ihnen zum Vorschein kommt. 98 Daß Hamann diese Schattenhaftigkeit bzw. Nichtigkeit des Geschöpflichen auf eine geschichtlich nicht einholbare Feindschaft zwischen göttlichem Sein und materieller Wirklichkeit zurückführt, wird im nächsten Kapitel von Bedeutung sein. Hier sei nur gesagt, daß sein Offenbarungspositivismus aufgrund der von ihm festgestellten Differenz zwischen Bild und Abgebildetem von einer tiefen Skepsis gebrochen ist, die sich freilich nicht direkt auf die Bibel bezieht (in ihr findet Hamann diese Differenz ja gerade überwunden!), sondern auf die Wirklichkeit der durch ihre Endlichkeit unendlich von Gott getrennten Schöpfung, wie sie ihm in der Bibel begegnet. Im Gegensatz zu der unveränderlichen Wirklichkeit Gottes ist die Welt der Dinge aufgrund ihrer Dinglichkeit wandelbar und in ihrem Aussagegehalt manipulierbar, für den frühen Hamann durchaus ein Grund, ,,geg[en] alle Güter der Erde verdächtig [zu] seyn, weil sie durch die Hand des gröst[en] Zauberers u. Giftmischers geh[en]." 99 Denn: „Jedes endl. Ding hat vor und hinter sich eine Ewigkeit, Gränzen des Ortes und der Zeit; hingegen bey Gott ist dasjenige, was am Anfange geschah, geg[en]wärtig und was am Ende der Zeit und der Tage geschehen soll, geg[en]wärtig. [...] Was gewesen ist, ist geg[en]wärtig vor Gott, und was seyn soll ist als vergang[en] vor ihm." 100 Damit ist das Moment der Differenz von nichtgöttlicher und göttlicher Wirklichkeit deutlich markiert. Es ist die zeitliche und räumliche Begrenztheit der dinglichen Welt, die das biblische Bild einerseits notwendig macht, es andererseits aber auch in seinem Wirklichkeitsgehalt begrenzt. 94 95 96 97 98

99 100

Hamanns Sprachtheorie, 71. Ebd. Vgl. hierzu K. Gründer, Figur, 144-149. B W 421,20-22 ( N 1,315; Betrachtungen] über Newtons Abhandlung). Das Lexem „nichts als" findet sich in den Londoner Schriften sehr häufig, an einer Stelle sogar im Zusammenhang einer christologischen Aussage (vgl. B W 197,17f [N 1,136]). B W 364,16f ( N 1,261; Betrachtung zu: Liebe, die du mich zum Bilde). B W 231,15-18.23f ( N 1,170); zu Pred 3,14.

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Menschwerdung und Offenbarung

Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß aufgrund der Endlichkeit allen Geschehens nicht nur die alttestamentliche Verheißung, sondern auch deren im Neuen Testament verbürgte Erfüllung des Heils symbolhaften Charakter hat und damit typologisch gedeutet werden kann. Für Hamann ist auch die neutestamentliche Geschichte eine Verheißung, deren Erfüllung noch aussteht.101 In der Bibel macht Gott sich die sarkische Wirklichkeit des Bildes zu eigen, ja er wird selber zu einem „endl. Ding". Aber diese radikal gedachte Kondeszendenz, die eine Identifikation von göttlicher Wahrheit und menschlichem Wort ermöglicht, hebt die Unterscheidung der beiden Ebenen von Bild und Abgebildetem nicht auf. Auch die biblische Heilsgeschichte ist, wie alles Geschehen, von der Schattenhaftigkeit des Vergänglichen gezeichnet und bleibt daher als ganzes von der „Ewigkeit" Gottes protologisch und eschatologisch umschlossen.102 Sie verdankt sich einem Geschehen, das „am Anfange geschah" und das doch erst „am Ende der Zeit und der Tage geschehen soll". Einen wichtigen Beleg für diese grundsätzliche Relativität des Geschichtlichen sehe ich auch darin, daß Hamann nicht nur von einer Erneuerung der Schöpfung durch die Erlösung, sondern auch von einer Erneuerung des Erlösungswerkes sprechen kann, die durch die Macht der Sünde notwendig geworden sei.103 Von hier aus ergibt sich die Notwendigkeit einer Unterscheidung von solchen typologischen Zusammenhängen, in denen Hamann innergeschichtliche Sachverhalte vor- oder nachgezeichnet sieht, und solchen, die für ihn übergeschichtliche Sachverhalte repräsentieren.104 Mit Helmut Gießer ist auf jeden Fall festzuhalten: „In der Typologie wird das ,lineare' Zeitverständnis insofern durchbrochen, als der Typos die Zeit überdauert und insofern zeitfeindlich oder doch zeitmächtig ist." 105

1.3.4 Alles ist göttlich: Die Aufwertung des Bildes durch das Abgebildete Zwar hat nun auch Rudolph Unger gesehen, daß „das Leibliche [...] als Sinnbild des Geistigen für Hamanns symbolische Weltbetrachtung von hoher Bedeutung"106 ist. Aber Welt und Mensch sind für Hamann nicht nur das 101 102 103

104

105

106

Hierzu verweise ich auf das unten in Kap. 3.1 Ausgeführte. Ausformuliert erscheint dieser Gedanke in N 111,192,19-26. „Er schuf mich nach seinem Bilde. Dies wurde ver[loren]. Er erneuerte es durch das große Werk der Erlösung. Auch dies löschte die Sünde aus. Der Geist Gottes hat solches durch den Glauben an meinen Heyland und Schöpfer, wiederhergestellt" (BW 353,4-7 [N 1,250]; Betr. zu: Ich bin Gottes Bild und Ehr). Yg] d^u auch h. Gießer, „Communicatio", 64-66. Ebd, 102; vgl. 175. Den Ausdruck „zeitfeindlich" halte ich allerdings für unglücklich. Hamann und die Aufklärung, 141.

Zur Dialektik des Hamannschen Bildbegriffes

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„Nichts als" des Symbolischen, in dem sich das Göttliche zeigt. Sie sind vielmehr zugleich als „Mittel" göttlicher „Herunterlassung" quasi sakramentale Media der Selbstvergegenwärtigung Gottes, vor denen Hamann nun in umgekehrter Stoßrichtung größte Hochachtung bekunden kann. 107 „ 0 wie sollte uns dieser Erdenklos heilig seyn, auf dem Gott würdigt seine Hüt[t]e aufzuschlagen], weil unser arme Geist unter derselben] wohnt." 108 „Heilig" ist die geschaffene Wirklichkeit, weil der Schöpfer sie trotz ihrer Nichtigkeit zum Medium seiner Selbstmitteilung macht. Es sind die „kleinsten, [die] verächtlichsten], [die] nichts bedeutendesten Begebenheiten] auf der Erde" 109 , die sich der göttliche „Geschichtsschreiber" dafür aussucht. Das zufällig sich Ereignende und zuweilen sinnlos Scheinende wird im Bild der Bibel ins Licht der göttlichen Klarheit getaucht, es wird bedeutsam, wobei es natürlich einer besonderen, pneumatischen Befähigung bedarf, diese Bedeutsamkeit zu erkennen. Bei äußerer, rein historischer Betrachtung der biblischen Geschichten ist so gut wie nichts zu erkennen. „Scheint" doch „der ganze Mensch [...] nichts als Erde zu seyn, ohne Gestalt, leer und Finsternis auf der Fläche der Tiefe. Hier ist eine Tiefe, die kein endl. Verstand absehen kann [...], auf der Dunkelheit liegt [...]. Wollen wir etwas wissen, so laß[t] uns den Geist fragen, der über diese Tiefe [schwebt], der diese ungestaltete], leere, dunkele, geheimnisvolle Welt in die Schönheit, die Fülle, die Klahrheit und Herrlichkeit versetzen [kann]." 110 Hier laufen die beiden scheinbar widerstrebenden Gedankenfäden des Hamannschen Offenbarungsverständnisses, die Unger wahrgenommen 111 , aber nicht vermittelt hat 112 , zusammen. Die leblose Materie der geschöpflichen Welt, zu der für Hamann durchaus auch der „Buchstabe" der Schrift gehört, ist schattenhaft und nichtig im Verhältnis zu Gott, gezeichnet von einer unendlichen und unerklärlichen Differenz zu ihrem Schöpfer. Jedoch erschließt sich diese Materie dem gläubigen Leser der Bibel als eine vom Geist Gottes beseelte und geformte Materie, nämlich als sprachliches und durch seine Bedeutung lebendiges Bild. Offenbarung bedeutet Verklärung, d.h. Belebung und Aufwertung des Faktischen durch die Erniedrigung Gottes. In scheinbarer Unausgeglichenheit tritt damit neben das oben beschriebene doketisch-spiritualistische Moment in den Londoner Schriften eine durchaus realistische, ja sakramentale Auffassung der in der Bibel begegnenden Wirk107

Unger versteht Hamanns Vorliebe für das Sinnliche, für die er reiches Beispielmaterial anführt, rein psychologisch (vgl. Hamann und die Aufklärung, 139ff). 108 B W 124,31-33 ( N 1,64). 109 110 111

112

Dieses und das folgende Zitat: B W 152,4f ( N 1,91). B W 136,22-29 ( N I,75f), zu Dtn 30,11; vgl. Gen 1,2. Er führt sie auf „die religiös mystizistische" Beeinflussung Hamanns „durch den Pietismus" einerseits und auf seine „sensualistisch-realistische" Beeinflussung durch die englische Aufklärung andererseits zurück (Hamann und die Aufklärung, 122). Daraufmacht M. Seils, Theologische Aspekte, 65f aufmerksam.

30

Menschwerdung und Offenbarung

lichkeit („Natur") und des biblischen Wortes selbst („Schrift"). Wenn Gott den „Erdenklos" seiner Gegenwart „würdigt", dann kann der Bibelleser diesen nicht verachten. Dieser „religiöse Realismus" 113 antizipiert ein wichtiges Motiv im Denken des späteren Hamann, nämlich seine uneingeschränkte Bejahung sinnlicher und leiblicher Bezüge, in denen sich die Güte Gottes mitteilt. 114 Zwar bleibt das geschöpfliche Sein aufgrund der „Gränzen des Orts und der Zeit" 115 von der Ewigkeit Gottes geschieden: diesen Gedanken wird Hamann später mit größter Schroffheit all denjenigen Versuchen der Aufklärung entgegenhalten, das Göttliche aus dem Menschlichen gleichsam zu extrapolieren. 116 Aber trotz ihrer Endlichkeit ist die sichtbare Welt der Schöpfung nicht einfach sinnlos, sondern wird, wie die chaotische „Finsternis" des ersten Schöpfungstages, vom Geist Gottes zu einem Bild zusammengefügt, über dessen sinnenhafte Fülle Hamann nur staunen kann. „Laßt uns die ganze Schrift als ein[en] Baum anseh[en], der voller Früchte [ist], und in jeder einzelnen Frucht derselben] ein Saame [...] eingeschlossen ist, in dem gleichfalls der Baum selbst und die Früchte desselben] lieg[en]." 117 In jeder der liegengelassenen „Früchte", die Gott von dem Boden der menschlichen Existenz aufliest, liegt also die ganze Bibel mit ihren unübersehbaren Reichtümern als „Baum des Lebens" 118 keimhaft beschlossen. Deshalb muß Hamann die „dichterische Schönheit der Bibelsprache" 119 rühmen, wobei seine „Bewunderung [...] nicht dem Ästhetischen im engeren Sinn [gilt]", sondern „ein Staunen darüber [ist], wie der Geist den ganzen Reichtum menschlicher Möglichkeiten entbindet und schöpferisch in Dienst nimmt, um Menschen zu bewegen [...]." 12 ° Ich glaube nicht, daß sich die hier abzeichnende Spannung zwischen spiritualistischen und realistischen Momenten nach der einen oder anderen Seite auflösen läßt. Das biblische Bild ist sowohl definiert durch seine Vorläufigkeit im zeitlichen und sachlich-ontologischen Sinn als auch durch die Unbegrenztheit dessen, was sich darin abbildet. Es zeigt die Welt des Menschen als eine von Gott angenommene und mit Bedeutung versehene Welt, und insofern gilt tatsächlich: „Die Wirklichkeit ist als solche Symbol 113 114 115 116

117 118 119 120

E. Metzke, Hamanns Stellung in der Philosophie des 18. Jahrhunderts, 35. Vgl. BW 122,27-33 (N 1,62); BW 259,26-28 (N 1,199); BW 376,21-25 (N 1,273). S. Anm. 100. Der vielleicht eindrücklichste Beleg für diese Kritik findet sich in der Schrift „Konxompax", wo Hamann davon spricht, daß nicht nur die materielle, sondern auch die intellektuelle Welt des Menschen „dem philosophischen Fluch und Widerspruch der Contingenz unterworfen" sei (N III,219,14f). BW 152,35-39 (N 1,92). BW 152,39. E. Büchsei, Biblisches Zeugnis, 77. Ebd, 78; vgl. BW 251,4-11 (N 1,190), wo Hamann die von ihm als geradezu berauschend empfundene Sinnenhaftigkeit des biblischen Wortes rühmt.

Einheit von Gott und Mensch im Bild

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für Transzendentes, das bedeutet keine Abschwächung, sondern eine Steigerung ihres Seins über das stumme, isolierte Dingsein hinaus." 121 Zugleich macht das Bild sie transparent auf die Annahme des Menschen in Christus, die Hamann als die Ebene göttlichen Heilshandelns streng von der sarkischen Ebene unterscheidet. Die vorgenommene Zuordnung von Akkommodation und Kondeszendenz sehe ich durch die Analyse des Hamannschen Bildbegriffes bestätigt. Die „so große Erniedrigung und Herunterlassung" 122 Gottes bekundet sich für Hamann darin, daß Gott in der zeitlichen und räumlichen Begrenztheit von Bildern in Erscheinung tritt, wobei das Bild sowohl die Gewähr einer Nicht-Identität von Bild und Abgebildetem (Erde - Himmel) als auch die einer unüberbietbaren Einheit beider (Himmel auf Erden) bietet. Das Bild, dessen vornehmstes der Mensch selber ist 123 , ist göttlich, weil Gott selber es ist, der dadurch in Erscheinung tritt. Es weist aber zugleich von sich weg und über sich hinaus, weil es als Bild auch auf etwas Anderes hin, endlich, begrenzt, von dem darin Abgebildeten abhängig ist. Als Einheit von formendem „Geist" und geformtem „Fleisch" ist das Bild christologisch chiffriert. In seiner doppelten Bestimmtheit entspricht es dem Sein dessen, der es bildet, und dem davon zu unterscheidenden Sein dessen, durch den der Bildner sichtbar werden will.

1.4 Einheit von Gott und Mensch im Bild: Zwei Beispiele typologischer Interpretation Was von dem Menschen und seiner Geschichte auszusagen ist, gilt grundsätzlich auch für die Bibel. Mit Recht hat Helmut Schreiner gesagt, daß „bei Hamann [eine] konservative und kritische Haltung gegenüber der Bibel in einem unzerreißbaren Zusammenhang einander zugeordnet" 124 seien, was im übrigen auch erklärt, warum sich gegensätzliche hermeneutische Ansätze auf ihn stützen können. Allerdings kritisiert Hamann die Bibel nicht historisch, sondern pneumatisch, indem er gleichsam durch ihre Bilder hindurch auf die „höhere Ebene" der Heilswirklichkeit Gottes schaut. 125 Dies soll nun anhand zweier Texte erläutert werden, in denen Hamann auf eine für seinen Umgang mit der Bibel exemplarische Weise je eine alttestamentliche und eine neutestamentliche Stelle interpretiert.

121 122 123 124 125

K. Gründer, Figur, 10 (vgl. auch 147), in Anlehnung an E. Metzke, Hamanns Stellung, 34. B W 59,6f ( N 1,5). Vgl. B W 71,24-27 ( N 1,13); zu Gen l , 2 6 f . Menschwerdung Gottes, 69 (Hervorheb. aufgeh.). So E. Büchsei, Biblisches Zeugnis, 81.

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Menschwerdung und Offenbarung

Zu der düsteren Erzählung von der „Schandtat zu Gibea" in Richter 19 schreibt Hamann: „Der alte Wirth des Levit[en] bietet seinfe] Tochter, u. die Concubine seines Gastes an. Der Levite scheint mit sr. Concubine die Vereinigung der Göttl. u. Menschl. Natur vorzustell[en]. Bist du Gottes Sohn, dies war der ewige Grund der Geister der Finsternis — u. dies stimmt mit der abscheul. Absicht der Söhne Belials überein — daß wir ihn erkennen mögfen]. Der alte Wirth bietet seines Gastes Concubine an als wenn er Herr darüber wäre, und ihr Herr überläst sie selbst dem Muthwillen der Söhne Belials."126 Der Verlauf der biblischen Geschichte scheint ganz von einem teuflischen „Muthwillen" gesteuert, der die Wahrung des Gastrechts nur durch eine mörderische Untat möglich macht. Genau dieses Paradox ist der Angelpunkt für Hamanns allegorisierende Deutung, mit deren Hilfe er gleichsam durch die biblische Geschichte hindurchblickt und auf der dahinter liegenden Ebene der gläubigen Seele das Kreuzesgeschehen mit seinen christologischen Implikationen entdeckt. Gott-Vater selbst verbirgt sich hinter dem „alten Wirth", der, um das Leben seines Gastes (die „Göttl. Natur") und damit die eigene Ehre zu retten, dessen „Concubine" (die „Menschl. Natur" Christi) der Schändung und Ermordung preisgibt. Der Gast erklärt sich nachträglich damit einverstanden; er eilt seiner „Concubine" nicht zur Hilfe, sondern macht sich den grausamen Willen des „Gastgebers" zueigen. Gott-Vater beschließt den Weg des Sohnes ans Kreuz, und dieser fügt sich dem Beschluß; die „menschl. Natur" Christi wird jedenfalls nicht gegen den Willen der „Göttl. Natur" dem „Muthwillen der Söhne Belials" preisgegeben. Nur schemenhaft deutet Hamann den geschichtlichen Hintergrund dieser Deutung durch die elliptische Einblendung von Mt 4,3 und Mt 26,63 an: Für ihn weist die Nachgiebigkeit von Gastgeber und Gast gegenüber den Frevlern in paradoxer Spiegelung auf die Standhaftigkeit des gekreuzigten Christus hin, trotz der herausfordernden Rufe seiner Peiniger nicht vom Kreuz herabzusteigen, um das Erlösungswerk abzubrechen. Die damit gegebene Deutung des Kreuzesgeschehens ist theologisch problematisch, da sie offenkundig nur die „menschl. Natur" des Gekreuzigten dem Tode ausgeliefert sieht und damit der Gefahr der Allegorese erliegt, zusammengehörige Sachverhalte in verzerrender Weise zu isolieren. 127 Das inhaltliche Gewicht liegt m.E. jedoch eindeutig auf der Illustrierung des Mit126 127

B W

144,38-145,5 (N 1,84).

Zu Hamanns allegorischer Deutung vgl. E. Büchsei, Biblisches Zeugnis, 80ff. Büchsei weist darauf hin, daß sich „bei der .Dynamik' des Ganzen eine feste Grenze zur Figuralstruktur nicht ziehen [läßt]" (81f) und findet als Beispiele „echter Allegorese" nur solche Stellen, „wo er [sc. Hamann] auf dogmatische Begriffe wie die zwei Naturen Christi hindeutet" (82f). Ausführliche allegorische Deutungen biblischer Geschichten finden sich z.B. in BW 173-177 (N 1,112-116) und BW 196,7-35 (N 1,135).

Einheit von Gott und Mensch im Bild

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einanders von Skandalon und Offenbarung, welches der Bibeltext und die Person Christi gemein haben. Dadurch gelingt es Hamann, die dieses Miteinander beschreibende communicatio idiomatum auf der Bildebene gleichsam nachzuerzählen. Die Einheit von göttlicher und menschlicher Natur in der Person Christi ist ebenso unbegreiflich wie das hier erzählte Miteinander von opferbereiter Gastfreundschaft und deijenigen Grausamkeit, mit der diese Gastfreudschaft aufrecht erhalten wird; dennoch bedeutet diese Unbegreiflichkeit nicht die Unbeschreiblichkeit des Geschehens; die Bibel setzt es ins Bild. 128 Deshalb die Bemerkung Hamanns: „In dieser schreckl. Geschichte liegt gleichfalls eine Figur der Erlösung; wiewohl der Sinn derselben mannigfaltig ist nach der mannigfaltigen] Weisheit, des Geistes Gottes." 129 Nach diesem Beispiel aus dem Alten Testament führe ich ein Beispiel für die Interpretation einer neutestamentlichen Stelle an. Zu Apg 2,20, wo Sonnen- und Mondfinsternis als apokalyptische Begleiterscheinungen des Weltendes prophezeit werden, notiert Hamann: „Durch Sonne und Mond können wir füglich die beyden Naturen in Christo verstehen. Die erste war in der Menschlichen verdunkelt und diese blutete sich zu Tode." 130 Wieder werden Verhüllung und Enthüllung des göttlichen Seins in ein Bild gezwungen, welches Hamanns „Kenntnis [der] altprotestantischen Dogmatik [...] deutlich [verrät]" 131 . Der Kreuzestod der menschlichen Natur Christi „verdunkelt" die Wirklichkeit Gottes, aber die darin sich zeigende Ohnmacht des Gekreuzigten hat, wie die durch das Bild evozierte Sonnenfinsternis von Mk 15,22 veranschaulicht, eine den Kosmos verändernde, ja umwälzende Kraft, die sowohl die Vernichtung der alten sowie die Erschaffung einer neuen Welt bewirkt. Die am Kreuz sich zeigende Finsternis der Gottesferne läßt die ganze Welt gewissermaßen im apokalyptischen Chaos versinken, aber das Blut, welches (auf der Ebene von Apg 2) den Mond verdunkelt, ist (in Hamanns Betrachtung) zugleich das Blut des Gekreuzigten, welches die Finsternis des Todes überwunden hat. Deutlich ist: Hamanns „typologische Denkweise hat ihren letzten theologischen Grund darin, daß alles Heilsgeschehen in dem einen Christusfaktum zentriert. Daher sind auch umgekehrt die typologischen Auslegungen Hamanns als Christologie zu nehmen." 132 Christus ist in der Bibel „allgegenwärtig" 133 , und jedes ihrer „Capitel erzählt eine Geschichte der Mschl. Erlö-

128 129 130 131 132 133

Vgl. E. Büchsei, ebd, 83. B W 144,35-37 ( N 1,84). B W 283,6-8 ( N 1,221). Vgl. K. Gründer, Figur, 108, Anm. 7. Ebd, 138. B W 154,32 ( N 1,93); vgl. B W 184,35f ( N 1,123).

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Menschwerdung und Offenbarung

sung" 134 . Insbesondere in denjenigen biblischen Geschichten, in denen die göttliche „Vorsehung u. Weisheit" 135 fast unkenntlich, die „Thorheit" und „Menschlichkeit" 136 des Menschen hingegen zu triumphieren scheinen, sieht Hamann die Omnipräsenz des Christuszeugnisses bestätigt. 137 Und was er im Umgang mit der Bibel ansatzweise entfaltet, müßte sich seiner Ansicht nach in einer Ontologie der Natur und der Geschichte bestätigen lassen: Nämlich „daß alle ihre Schätze nichts als eine Allegorie, ein mythologisch Gemälde himmlischer Systeme ~ so wie alle Begebenheiten der weltlichen Geschichte Schattenbilder geheimerer Handlungen, und entdeckter Wunder sind." 138 Alles Sein und Geschehen kann als Bild oder Figur in Dienst genommen werden, so daß „das christozentrische Verständnis der Wirklichkeit und damit [der] ontologische Tatbestand der faktischen Einheit der geschichtlichen Welt in der Typologie [...] manifest wird." 139 Im Bild der biblischen Geschichte sind Gott und Mensch vereint, auch wenn diese Einheit niemals statisch, sondern immer auch als dramatisches Beieinander und Gegeneinander erscheint. Trotz dieser der Dynamik biblischer Erzählungen entsprechenden Beweglichkeit läßt sich feststellen, daß Hamann das Beieinanderhalten der „Extreme" theologisch nicht immer gelingt. Gerade in den allegorisierenden Passagen der „Biblischen Betrachtungen" überblendet die Ebene der geschauten Heilswirklichkeit nicht selten die Ebene des von den biblischen Autoren mit ihrem Text Gemeinten. Der sensus historicus kommt dann nicht mehr zur Geltung, was unter anderem zur Folge hat, daß die menschlichen Handlungsträger nur noch Marionetten eines transzendenten Willens zu sein scheinen. Eine Kritik dieser Mängel wird den besonderen Umständen der Entstehung der „Betrachtungen" Rechnung tragen müssen. Nicht für eine Leserschaft, sondern für sich selbst entdeckt Hamann Zug um Zug, daß alles, was Gott als Schöpfer ins Leben ruft und als Herr der Geschichte geschehen läßt, der Offenbarung des Christusgeschehens dient. Die sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit, wie sie in der Bibel begegnet, verhüllt nicht etwa, sondern bringt ans Licht, was „in den Tiefen der Gottheit" 140 verborgen ist. Deshalb ist für Hamann nicht nur Christus, sondern die Gesamtheit der Offenbarung göttlich und menschlich zugleich.

134 135 136 137

138 139 140

BW 164,lf (N 1,102); vgl. BW 104,6-9 (N 1,40). BW 411,29 (N 1,303). BW 230,41 (N 1,169). „Daß Gott in die menschliche Unheilsgeschichte seine Heilsgeschichte hineingestaltet, das wird der Schlüssel zu allem Verständnis" (E. Büchsei, Biblisches Zeugnis, 56). BW 412,13-17 (N 1,304; Brocken § 3); zu Jer 32,20. K. Gründer, Figur, 151. BW 61,7 (N 1,6).

Zusammenfassung

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1.5 Zusammenfassung 1. Das hermeneutische Interesse der „Biblischen Betrachtungen" gilt weder den biblischen Autoren noch dem Vorgang der Inspiration ihrer Texte durch den Geist Gottes, die Hamann naiv voraussetzt. 141 „Gott, ein „Schriftsteller" 142 : Das heißt für ihn in erster Linie, daß Gott die in der Bibel erzählten Geschichten, auch die weniger erfreulichen, selber erfunden hat, daß er sie geschehen läßt und dafür sorgt, daß sie aufgeschrieben werden. Die Kontingenz der biblischen Geschichten entspricht dabei der trinitarischen Kondeszendenz Gottes, so daß die Offenbarung selbst als signifikantes Bild ihres Inhalts verstanden werden kann. Wie der Leib des Gottessohnes, so ist auch das Wort des göttlichen „Schriftstellers" sterbliches „Fleisch" 143 , und wie dieser erscheint es in einer seinen Anspruch problematisierenden Verborgenheit. Die Niedrigkeit der Person Christi provoziert Widerspruch, und das Wort der Bibel ist für Hamann nicht weniger als Christus ein anfechtbares Wort. Aber indem er diese Anfechtbarkeit anerkennt und christologisch deutet, verläßt er die begrenzte Sichtweise von Orthodoxie und Rationalismus. 144 Die Verborgenheit Gottes im Bibelwort gründet für ihn in der Verborgenheit des gekreuzigten Christus, wobei das Heraustreten Gottes aus seiner Verborgenheit den Prozeß der inneren Erleuchtung des Lesers beschreibt, der diese Zusammenhänge erhellt. 2. In einem zweiten Schritt wurde gezeigt, wie sich der christologische Begründungsansatz bei Hamann auf die Bestimmung des Verhältnisses von Akkommodation und Kondeszendenz auswirkt. Das Gewicht liegt zweifelsfrei darauf, daß Gott in der Fleischwerdung des Geistes ebenso wie in der Inkarnation des Logos sich selbst nicht widerspricht, sondern seinem unergründlichen und unbegründbaren Heilswillen entspricht. Gleichwohl begegnet auch bei Hamann der Akkommodationsgedanke: Die Gottmenschheit von Sohn und Geist hebt die Geschiedenheit von Gott und Mensch nicht auf und macht deshalb eine Anpassung göttlichen Redens an das menschliche Auffassungsvermögen erforderlich. 3. Für Hamann gehören die Wirklichkeit des Fleisches und die des Bildes zusammen. Die Dialektik von Selbstentsprechung und Anpassung kennzeichnet daher auch den Bildbegriff, der die typologische Betrachtungsweise der Londoner Schriften bestimmt. Der Geist Gottes wird „Fleisch", indem er aus 141 142 143 144

Vgl. B W 304,19-23 ( N 1,243). B W 59,3 ( N 1,5). B W 421,12 (N 1,315). Dies ist gegen den Versuch G. Maiers einzuwenden, in Hamann einen Anwalt der Verbalinspiration (im Sinne vor allem einer historischen Unfehlbarkeit der Bibel) zu sehen (Biblische Hermeneutik, 304ff). Dies geht nur, wenn man zentrale Aussagen Hamanns zur Kondeszendenz des Heiligen Geistes als mißverständlich gleichsam beiseite schiebt, vgl. ebd, 310.

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Menschwerdung und Offenbarung

der Wirklichkeit des Menschen Bilder einer transzendenten Welt formt, diese gleichsam im seelischen Erleben des Betrachters projiziert und damit seinem Angewiesensein auf sinnliche Wahrnehmung entspricht. Im Verhältnis zur gezeigten Heilswirklichkeit ist die im Bild begegnende Wirklichkeit des Menschen schattenhaft und unwirklich, zugleich ist sie aber, eben weil Gott durch sie redet, von größter Bedeutung. So versucht Hamann, die Transparenz des Geschichtlichen auf das Ewige mit der Weltimmanenz Gottes in seinem Wort zusammenzuhalten, was in paradoxer Weise sowohl mit einer Aufwertung des Buchstäblichen (es ist materieller Träger einer geistigen Bedeutung) als auch mit seiner Relativierung (es ist nur von dieser Bedeutung her und nichts für sich selber) verbunden ist. Schöpfung und Geschichte werden durch die göttliche Autorschaft bis in die Gegenwart des Lesers hinein zur Verkündigung in Dienst genommen. Sie haben ihren Sinn in der „typische[n] Geschichte" 145 , die sie auf der „Schaubühne" 146 seelischen Erlebens vergegenwärtigen, angesichts derer sie aber auch eigentümlich verblassen können. 4. Hamann vermeidet damit die Identifizierung von Geist und Buchstaben, gerät dagegen eher in die Nähe einer spiritualisierenden Betrachtungsweise, in der sich durchaus eine von ihm wohl nicht wahrgenommene kritische Distanz zum Wortsinn der biblischen Texte ausmachen läßt. Im Hinblick auf diese Betrachtungsweise muß dann gefragt werden, ob nicht zuweilen die Seele des Betrachters selbst die Produktion deijenigen Bildkomplexe übernimmt, die sie für gegeben hält. Wo sich die Schau des Göttlichen verselbstständigt und die geschichtliche Wirklichkeit überfremdet, müßte man von unbiblischen Projektionen sprechen, die jenem „immer ähnlichen] Misbrauch" zuzuordnen wären, vor welchem Hamann später warnen wird. 1 4 7 Dem Verhältnis von Bild und Abgebildetem entspricht das Verhältnis von Schöpfungswirklichkeit und Erlösungsgeschehen, welches Hamann sowohl als Ursprung als auch als Ziel dessen begreift, was in der Zeit geschieht. Die theologischen Implikationen dieser Analogisierung von Bild- und Schöpfungswirklichkeit werden nun zu untersuchen sein. Ich frage zunächst danach, wie sich das Offenbarungsverständnis Hamanns auswirkt auf seine Verhältnisbestimmung von immanenter und ökonomischer Trinität: Welche Zusammenhänge erkennt Hamann auf jener höheren „Ebene" 148 , die sich im Bild zeigt, und wie wirkt sich dies auf sein Verständnis der sichtbaren Wirklichkeit aus?

145 146 147 148

BW 2 9 0 , 2 9 f ( N 1,229). BW 377,37f(N 1,274). Vgl. ZH IV,254,28-32. Vgl. E. Büchsei, Biblisches Zeugnis, 81.

Zusammenfassung

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Erst dann werde ich mich der Frage zuwenden, welche Bedeutung das Zusammentreffen dieser beiden Ebenen, wie es sich im Wort der Bibel ereignet, bei Hamann für die Wirklichkeit des Erlösten haben kann.

2. Menschwerdung und Trinität 2.1 Der vorinkarnatorische Charakter der Menschwerdung Gottes Hamanns Schriftverständnis hat eine schöpfungstheologische, eine christologische und eine pneumatologische Komponente. Wie nach dem zweiten biblischen Schöpfungsbericht der Schöpfer dem noch leblosen Menschen das Leben einhaucht, so erweckt der Geist Gottes den „sinnlichen Buchstaben" 1 zufälliger geschichtlicher Ereignisse zum Leben. Lebloses Sein wird lebendig, unbedeutendes Geschehen erhält eine Bedeutung, weil Gott sich damit verbindet und es zu einem Bild seines Handelns formt. 2 Wenn Hamann in diesem Zusammenhang pointiert von der Fleischwerdung des Geistes im Wort der Bibel spricht 3 , macht er deutlich, daß für ihn das schöpferische und erlösende Handeln Gottes in gleicher Weise von derjenigen Communicatio bestimmt ist, die den Kern des christologischen Dogmas beschreibt. Er sieht die opera divina ad extra in einem abbildenden Verhältnis zu der hypostatischen Einwohnung des ewigen Logos im Fleisch stehen. „Die Menschwerdung des Sohnes ist die Grundgestalt der Herunterlassung Gottes" 4 ; sie spiegelt sich deshalb im Handeln aller göttlichen Personen. Die insbesondere in seiner Schrift „Aesthetica" zentrale Vorstellung, daß „Natur und Schrift" als die Werke von Schöpfer und Geist das Wirken des Erlösers bezeugen 5 und damit Interpretamente des Christuszeugnisses sind, ist in den Londoner Schriften bereits enthalten 6 ; die trinitätstheologischen und christologischen Implikationen dieser Vorstellung sind von Hamann klar durchdacht. Der „Gott Mensch, das Wort offenbart im Fleisch" 7 ist für ihn kein untergeordneter Bestandteil der Wirklichkeit Gottes. Vielmehr erscheint Christus in den Londoner Schriften immer wieder als das handelnde Subjekt der Trinität, dem alle opera ad extra der göttlichen Personen appropriiert werden können. „Der Menschensohn ist der Schöpfer, Regierer und Wiederbringer aller Dinge, der Erlöser und Richter des Menschlichen Geschlechts" 8 , schreibt Hamann kurz nach seiner Rückkehr aus London an J.G. Lindner. Er begibt sich damit theologisch auf einen Weg, den vor ihm schon Nikolaus Graf von Zinzendorf gegangen war. Hatte dieser jedoch „von einem radikal christozentrischen Standpunkt aus die immanente Trinität insgesamt als 1 2 3 4 5 6

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BW 421,8 (N 1,315). Vgl. BW 73,17-26 (N 1,15). Vgl. BW 421,11-13 (N 1,315). K. Gründer, Figur, 24. Vgl. N 11,210,7-211,4 und N 11,204,4-14. „Gott hat sich offenbart den Menschen in der Natur und in seinem Wort" (BW 66,35f [N 1,8]). BW 398,3 (N 1,292); vgl. 1 Tim 3,16. ZH 1,414,32-34 (Brief vom 28. Sept. 1759).

Der vorinkarnatorische Charakter der Menschwerdung Gottes

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Ungrund und deus absconditus betrachtet und den deus revelatus mit dem menschgewordenen Christus, der Mittelsperson der Trinität, der Vater und Geist untergeordnet sind, identifiziert" 9 , so versucht Hamann, die Engführung eines das Wirken des Schöpfers und des Geistes überblendenden Christozentrismus zu vermeiden. Auch er redet, wenn auch nicht so ausschließlich wie Zinzendorf 10 , von Christus als dem Subjekt der opera divina ad extra. Dies geschieht aber nun nicht auf Kosten der personalen Eigenständigkeit von Schöpfer und Geist 11 , sondern um zu zeigen, daß Gottes Handeln in Schöpfung und Erlösung, wie es in den Büchern des Alten und Neuen Bundes erzählt wird, von ein- und derselben „Demuth und Liebe" 12 inspiriert ist. Diese „Demuth und Liebe", die nicht denkbar ist ohne den Menschen, dem gegenüber Gott sich „gedemüthigt" hat, ist von seinsgründender Bedeutung. Konsequenterweise denkt Hamann von einem Menschwerdungsgeschehen in der immanenten Trinität aus, welches der geschöpflichen Wirklichkeit ebenso wie dem geschichtlichen Heilshandeln Gottes in sachlicher Hinsicht vorauszusetzen ist. „Die Natur setzt in ihrer Hervorbringung die Menschwerdung Gottes zum voraus, und die Gnade gleichfalls." 13 Für Hamann sind Schöpfung und Erlösung gleichermaßen in dem vorinkarnatorischen Ereignis der „Menschwerdung Gottes" begründet und erhalten von da ihre Bedeutung, die es mithilfe der Typologese zu verdeutlichen gilt. Die Aufgabe dieses Kapitels besteht darin, den von Hamann hergestellten Zusammenhang zwischen Christologie und trinitarischem Dogma zu erläutern. In Anknüpfung an das im letzten Kapitel Erarbeitete werde ich zunächst zeigen, daß für ihn die „Menschwerdung Gottes" die Ebene einer urbildlichen Heilswirklichkeit in der Transzendenz beschreibt, auf die das heilsökonomische Handeln Gottes abbildend bzw. verkündigend bezogen ist. Auf dem Hintergrund dieses Verständnisses werde ich dann die für Hamanns Hermeneutik grundlegende Dialektik des Verhältnisses von (verheißender) „Natur" und (erfüllender) „Gnade", von Hamann häufiger mit den Begriffen „Schöpfung" und „Erlösung" bezeichnet, darstellen. Die wichtigste Textgrundlage für Hamanns Verständnis der immanenten Trinität bildet eine ausführliche Betrachtung zu 1 Sam 9,25f, dem Bericht von der Begegnung des Saul mit dem Propheten Samuel. Ich zitiere die ganze Passage: „Samuel unterredet sich mit Saul auf dem Dach des Hauses. [...] Sie steh[en] frühe auf u. mit dem anbrech[en]d[en] Tag, ruft Samuel Saul zum Dach des Hauses; 9 10

11 12 13

J. Röhls, Subjekt, Trinität und Persönlichkeit Gottes, (NZSTh 30), 64. Auch der Geist Gottes kann bei Hamann als das Subjekt der Trinität erscheinen, vgl. B W 304,22-27 ( N 1,243). Vgl. B W 196,7-15 (N I,134f). B W 406,35f ( N 1,299; Brocken). B W 399,12-14 ( N 1,293; aus: ,,D[en] 7. May 1758").

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Menschwerdung und Trinität

u. sagte, auf, daß ich dich weg senden möge. Und Saul stand auf und sie [gingen] beyde aus, er und Samuel, in die Fremde. Hier find[en] wir in der Gemeinschaft mit Saul auf dem Dach des Hauses d[as] Geheimnis der Menschwerdung Gottes. Sie steh[en] frühe auf; Gott hatte d[as] Mschl. Geschlecht durch Prophet[en] u. Wunder auf dieses letzte und gröste beständig vorbereitet, endl. rief Gott sn. Sohn - u. mit diesfem] Ruff war der Aufgang aus der Höhe [geschehen*;] der Tag der Seeligkeit brach für d[as] Mschl. Geschlecht an — In dies[em] Ruf bestand d[as] Leben, das Sterben u. die Auferstehung u. Himmelfarth unseres Heylandes. Alles dies kostete Gott einen Ruff\ da ihn die ganze Schöpfung nur ein Wort gekostet hatte. Samuel sendet Saul u. geht selbst mit ihm. Saul war schon auf dem [Dache des Hauses*]; und hier steht Saul auf. Bey Gott ist keine Zeit, kein Unterscheid unter sn Personen] unter sn Handlungen]; alles geg[en]wärtig; gestern ist ihm heute, morg[en] ist ihm heute [...] Diese einzige Stelle zeigt uns, daß Gott ein einiger Gott; daß die Personen der Gottheit diese Einigkeit in Gott ausmachen]. Daß alle 3 Person[en] sich mit Anfang des Mschl. Geschlechts zur Errettung der M[enschen] geoffenbart u. alle Mittel dazu angewendet hab[en], daß eine Gemeinschaft mit Saul auf dem Dach des Hauses gescheh[en] — daß Gott die Menschl. Natur an sich genomm[en] — Ein Wunder, das über alle Begriffe u. Gedank[en] geht — Daß dieses in der Zeit zwar erfüllt wurde, aber in Gottes Aug[en] schon da war mit dem erst[en] Tage der Erde; daß er deswegfen] die M[enschen] zu sich zu zieh[en] ausgegangen] u. so zu red[en] frühe aufgestand[en] war f...]."1* Hamanns Deutung von Vers 25f stützt sich ganz auf die Übersetzung der von ihm in London vermutlich benutzten Englischen Bibel 1 5 , die den hebräischen Wortlaut weitgehend wörtlich wiederzugeben versucht: „And when they were come down from the high place into the city, Samuel communed with Saul upon the top of the house. And they arose early: and it came to pass about the spring of the day, that Samuel called Saul to the top of the house, saying, Up, that I may send thee away. And Saul arose, and they went out both of them, he and Samuel, abroad." 1 6 In der nächtlichen Unterredung des Propheten mit dem von Gott zum König erwählten Saul, über deren Inhalt der Bibeltext schweigt, und in dem etwas umständlich erzählten Sendungsgeschehen am folgenden Morgen sieht Hamann ,,d[as] Geheimnis der Menschwerdung Gottes" abgebildet, nämlich den Beschluß des Vaters, den Sohn „in

14

15 16

BW 155,14.16-32.38-156,8 (N I,94f). Das in BW 155,24 (und N 1,94,30) fehlende Partizip („geschehen") habe ich ergänzt und die Vertauschung in BW 155,29 („Saul war schon auf dem Hause des Dachs") nach N I,94,35f berichtigt. King James Version 1611. Zum Problem vgl. BW 44-47 („Hamanns Londoner Bibel"). Entscheidend für Hamanns Deutung ist: 1.) Die Übersetzung des verderbten Textes von V.25: Das wajedaber wird von der King James Version mit „they commued" wiedergegeben, was Hamann in einer Anmerkung ausdrücklich als zutreffend bezeichnet (BW 155,14-16), während die Septuaginta statt dessen wajirebedu liest, was Luther mit „und sie bereiteten ihm ein Lager" übersetzt. 2.) Die Übersetzung des Verbs waaschalechächa, für welches sowohl die Bedeutung „entlassen" als auch „beim Entlassen begleiten" belegt ist (vgl. Gesenius, Handwörterbuch, 832). Die King James Version übersetzt mit „send" und nimmt den Widerspruch zu dem „and they went both of them" in Kauf; Luther übersetzt mit „begleiten".

Der vorinkarnatorische Charakter der Menschwerdung Gottes

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die Fremde" zu senden. Dabei fällt auf, daß „Saul" in dieser Deutung sowohl als Figur des präexistenten Christus erscheint, der „schon auf dem Dache des Hauses" war, als auch Figur des Menschgewordenen ist, der dem „Ruff' des Vaters folgt: „u. hier steht Saul a u f . Präexistenz und Menschwerdung lassen sich für Hamann offenkundig nicht trennen, vielmehr sieht er in „dieser anscheinendien] Untereinanderwerfung" 17 einen Hinweis darauf, daß der Heilsratschluß Gottes innertrinitarisch nicht von seiner Verwirklichung zu trennen ist, auch wenn er der geschichtlichen Vorbereitung („durch Prophet[en] u. Wunder") und Erfüllung („endl. rief Gott sn. Sohn") erst noch bedarf. ,,D[as] Leben, das Sterben, u. die Auferstehung u. Himmelfarth unseres Heylandes" ist bereits vor Beginn der Zeit in dem neuschöpferischen „ R u f Gottes gegenwärtig; in der gottmenschlichen „Gemeinschaft, die auf dem Dache des Hauses geschehen", koinzidieren nach Hamann der Ursprung und das Ziel der Heilsgeschichte. Die Aussage von Martin Seils, daß „das supralapsarische Denken und die inkarnative Heilsauffassung [für Hamann] ganz eng zusammengehören]" 18 , bringt diesen Sachverhalt systematisch-theologisch auf den Begriff: Nicht weil die Sünde, sondern weil die Überwindung der Sünde „in Gottes Aug[en] schon da war mit dem erst[en] Tage der Erde", ist er „die M[enschen] zu sich zu zieh[en] ausgegang[en]". Für Hamann ist es von großer Wichtigkeit, „daß die Liebe Gottes auf jeden Fall ursprünglicher ist als des Menschen Sünde, daß also jener Zug in die Tiefe nicht erst durch die Sünde motiviert ist." 19 Nicht auf dem gewordenen Grund der Differenz von Gott und Mensch, sondern auf dem „Grund" der Einheit von Gott und Mensch „beruht die Entschlüßung Gottes den gefallen[en] Mensch[en] zu erlösfen]." 20 Dies wiederum bedeutet für Hamann, daß die Menschwerdung nicht einer Person Gottes ausschließlich appropriiert werden kann, weil im Blick auf Gott „kein Unterscheid unter sn Person[en] unter sn Handlungen" wahrnehmbar ist. Die im Text erzählte Sendung Sauls durch Samuel steht ja in einem offenkundigen Widerspruch zu der durch eine eigentümliche Doppelung noch betonten Aussage, daß Samuel gemeinsam mit Saul seines Weges zieht. Aber gerade diese Ungereimtheit ist für Hamann von grundlegender Bedeutung. „Samuel sendet Saul", und ist in dieser Hinsicht von ihm zu unterscheiden. Aber zugleich „geht [er] selbst mit ihm" in die Erniedrigung; er beugt sich dem eigenen Beschluß. Der Rufende ist eines Sinnes mit dem Gerufenen, und so wird das durch seinen „ R u f bereitgestellte Heil von allen „3 Person[en] [...] mit Anfang des M[en]schl[ichen] Geschlechts zur Errettung der M[enschen] geoffenbart". 17 18 19 20

BW 155,36f (N 1,95). M. Seils, Theologische Aspekte, 111. E. Jüngel, Der Gott entsprechende Mensch, 309. BW 71,28f (N 1,13).

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Menschwerdung und Trinität

Daß Gott sich in der Zeit als der in Ewigkeit Menschgewordene offenbart, ist kein unproblematischer Gedanke. Wenn nämlich die zeitliche Wirklichkeit („Natur"), wie Hamann betont, eine vom ewigen Sein Gottes streng zu unterscheidende ist, Gottes Sein sich zugleich durch seinen Eintritt in die Zeit nicht wandelt, dann kann der Gedanke einer vorinkarnatorischen Annahme der „menschl. Natur" zur Aufhebung des eigentlichen Inkarnationsgedankens führen: Das Entscheidende wäre dann auf der anderen Ebene längst geschehen. Werner Eiert hat im Rahmen seiner Untersuchungen der altkirchlichen Christologie im Hinblick auf Origenes festgestellt, daß dessen Vorstellung einer „vorinkarnatorischen Vereinigung" von Gott und Mensch „die Inkarnation [...] zum bloßen Anhängsel abgeschwächt" 21 habe, so daß „der ganze Abstieg das Aussehen der Uneigentlichkeit [erhält]." 22 Nach Eiert unternimmt Origenes mit seiner Zuordnung von Menschwerdung („Wort-Mensch-Schema") und Fleischwerdung („Logos-Sarx-Schema") 23 den Versuch, verschiedene neutestamentliche Traditionen, die in altkirchlichen Bekenntnissen mehr oder weniger unverbunden nebeneinander stehen, unter Zugrundelegung neuplatonischer Denkmittel zu systematisieren. Auch Hamann betont - und man könnte hier durchaus eine Verbindung zwischen ihm und Origenes sehen - , daß die in der Bibel erzählte Heilsgeschichte ein ihr in jeder Hinsicht vorauszusetzendes Heilsgeschehen bildhaft repräsentiert, welches keine „Gränzen des Ortes und der Zeit" 2 4 kennt. Zugleich weiß er jedoch, daß eben diese „Gränzen" in der Menschwerdung von Gott angenommen worden sind, und zwar nicht nur vorübergehend und akzidentiell: Gott ist mit allen seinen Personen ewig und zeitlich in einer o u c u a . Deshalb kann Hamann nicht, wie etwa Origenes, zu der Folgerung kommen, daß der sich entäußernde „Logos [...] in Wirklichkeit gar nichts verloren [...]", ja „seinen himmlischen Thron tatsächlich gar nicht verlassen [habe]" 2 5 . Er versteht wohl eher, wie O. Bayer formuliert, die Annahme des Menschen in der Person Jesu Christi als eine „unaufhörlich zeitliche Bestimmung des Ewigen" 2 6 , was im Grunde gleichbedeutend ist mit der Tatsache, daß sich von Gott nicht reden läßt, ohne nicht zugleich von seiner schlechterdings unableitbaren „Menschenliebe" 2 7 und der damit verbundenen Geschichte zu reden. Das Bestimmt-Sein Gottes durch die Person Christi stellt Hamann sich so radikal vor, daß er von einem von Gott entleerten 21

22 23 24 25 26 27

Der Ausgang der altkirchlichen Christologie, 2 7 3 („Das Unendliche. Metaphysik und Christologie"). Ebd, 274. Ebd, 271, Anm. 3. B W 2 3 1 , 1 5 f ( N 1,170). W. Eiert, Der Ausgang, 272. O. Bayer, Zeitgenosse im Widerspruch, 259, Anm. 35; vgl. N III,303,36f. B W 68,35 ( N 1,10).

Der vorinkarnatorische Charakter der Menschwerdung Gottes

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Himmel reden kann28 oder von einem Gott, dessen „Stuhl im Himmel leer geword[en]" 2 9 ist. Der Gott, der sich in allen ,,Person[en] der hochgelobtjen] Dreyeinigkeit" 30 „zum M[enschen] vernichtigt" 31 , ist nicht ein sich selbst widersprechender, sondern der sich in Christus selbst entsprechende oder besser: der sich selbst gehorchende Gott. Er erweist seine unveränderliche Gottheit gerade darin, daß er sich ihrer entäußert. Anders als Origenes gibt Hamann keinen metaphysisch schlüssigen Lösungsversuch für die mit dem Menschwerdungsgedanken verbundenen Aporien. Der metaphysische Zugriff auf die Wirklichkeit Gottes ist für ihn kein Thema, denn daß Gott selbst „den Himmel [verläst]" und „in die Fremde" geht, bleibt ein der Vernunft widerstrebendes Skandalon, ein „Wunder, das über alle Begriffe u. Gedank[en] geht" 32 . Das schließt für Hamann jedoch keinesfalls aus, „daß wir arme blinde Menschfen] davon Begriffe haben können, davon Begriffe, was so unendl. hoch über den Gesichtskreys der Mschl. Vernunft entfernt ist." 33 Die Transrationalität des Ewigen führt den gläubigen Betrachter nicht in mystisches Verstummen, sondern vermittelt ihm eben jene transrationale und transhistorische Perspektive der Typologie, die den Bibeltext in seiner zeitlichen und sachlichen Mehrdimensionalität erschließt. Aus dieser Perspektive bekommt das geschichtlich Kontingente den Charakter des göttlich Notwendigen, und deshalb kann Hamann behaupten, daß die gottmenschliche Communicatio und die damit verbundene Heilswirklichkeit „Natur" und „Gnade", Schöpfung und Erlösungshandeln apriorisch begründet: „Der Weibessaame war schon gekommen, als die Arche genomm[en] war u. Eli d[en] Hals brach." 34 Vom Duktus der biblischen Geschichte her ist das Kommen Christi als sukzessive Antwort Gottes auf die mit Schöpfung und Fall aufgebrochenen Fragen zu verstehen. „Bey Gott" gibt es diese zeitlich und räumlich bedingten Unterschiede jedoch nicht. W o immer er sich „in der Zeit" offenbart, tut er es als der Menschgewordene, der sich in den Personen von Schöpfer, Sohn und Geist zum Menschen erniedrigt und damit jenem „ R u f gehorsam ist, mit dem er sich selber ruft.

28 29 30 31 32 33 34

B W 124,27-30 ( N 1,64). B W 186,17 ( N 1,125). B W 103,8f ( N 1,39). B W 103,18f ( N 1,40). B W 156,4f ( N 1,95). B W 156,22-25 ( N 1,95). B W 151,15f; zu 1 Sam 4,13 ( N 1,90). Mit dem eigentümlichen Ausdruck „die Arche genommen" meint Hamann die durch Christus bewirkte ,Aufhörung des Gesetzes" ( B W 151,7f) im Sinne von Rom 10,4. - Die Gegenüberstellung von „Weibessaame" als Chiffre für den von Adam abstammenden Christus und „Schlangensaame" ist ein durchgehendes Grundmotiv in den Betrachtungen; sie geht auf die traditionelle christologische Deutung von Gen 3,15 zurück (vgl. die zu dieser Stelle angegebenen Texte in B W 562).

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Menschwerdung und Trinität

So präfiguriert das trinitätsimmanente Ereignis der Vereinigung von Gott und Mensch die Ökonomie des göttlichen Handelns, begrenzt sie allerdings auch in ihrem Bedeutungsgehalt. Mit der Inkarnation „erfüllt" sich lediglich „in der Zeit", was in Gott, jenseits von Raum und Zeit, als immer schon verwirklicht zu glauben ist, nämlich das Miteinander von göttlicher und menschlicher Natur, von ewiger und zeitlicher Wirklichkeit in der Person Jesu Christi. 35 Daß damit „das supralapsarische Denken und die inkarnative Heilsauffassung" Hamanns nicht nur „ganz eng zusammengehören]" 36 , sondern auch in einem höchst spannungsreichen Verhältnis zueinander stehen, möchte ich als das theologische Grundproblem der Londoner Schriften bezeichnen. Die prägnante Aussage Hamanns, daß „das Werk der Schöpfung sich auf das Werk der Erlösung gründet, und dies auf jenes" 37 , macht dieses Problem deutlich. Sie enthält zugleich seinen Versuch zur Bestimmung des Verhältnisses von „Natur" und „Gnade", um dessen Erörterung es im folgenden gehen wird.

2.2 Gott ist Mensch: Die Einheit von Schöpfung und Erlösung Hamanns Vorstellung einer durch die Menschwerdung Gottes bereitgestellten Heilswirklichkeit impliziert die supralapsarische Einheit von Schöpfung und Erlösung. Nicht die Sünde des Menschen und das durch sie bewirkte Auseinanderfallen von „Natur" und „Gnade", sondern die göttliche „Demuth" 38 ist es, die das schöpferische und erlösende Handeln Gottes begründet. Die Versöhnung von Gott und Mensch sieht Hamann im Sein des präexistenten Christus verwirklicht, und dies ist für ihn gleichbedeutend mit der Tatsache, daß Gott den Menschen „von Ewigkeit her in seinem Sohn" 39 erwählt. „Diese Erwählung in Jesu", so notiert Hamann, „ist mein wahrer Geburtstag und der erste Augenblick meines Daseyns." 40 Für das Verständnis des nun Folgenden ist diese Aussage von großer Bedeutung. Denn aus der Sicht des gläubigen Betrachters fällt der Beginn der eigenen Existenz mit dem zeitlich nicht fixierbaren Geschehen der Menschwerdung Gottes zusammen. „Die Natur setzt in ihrer Hervorbringung die 35 36 37 38 39

40

Vgl. BW 154,24f (N 1,94). S. Anm. 18. BW 130,34f (N 1,70). Vgl. BW 151,37-152,8 (N 1,91). „Gott liebte uns nicht nur in der Zeit [...], sondern er liebte uns von Ewigkeit her in seinem Sohn, und wählte uns in ihm. [...] Hier fingen sich also meine Jahre in Gott und in der Liebe seines Sohnes an; diese Erwählung in Jesu ist mein wahrer Geburtstag und der erste Augenblick meines Daseyns" (BW 362,10f.l3f.l6-18 [N 1,259], aus der Betrachtung zu dem Lied: „Liebe, die du mich zum Bilde"); vgl. BW 366,13-17 (N 1,263). S. Anm. 39.

Gott ist Mensch: Die Einheit von Schöpfung und Erlösung

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Menschwerdung Gottes zum voraus, und die Gnade gleichfalls." 41 Folglich liefert „die Menschwerdung" und die damit verbundene Communicatio von Gott und Mensch die sachliche Begründung nicht nur für das erlösende, sondern auch für das schöpferische Handeln Gottes. Zugespitzt könnte man sagen: Nicht weil er den Menschen erschaffen will, sondern weil er ihn in Christus erwählt hat und ihn durch Christus erlösen will, schenkt Gott dem Menschen das „Daseyn". 42 Die Schöpfung hätte dann - ähnlich wie das Wort der Bibel - lediglich die Funktion, die Erlösung des Menschen geschichtlich möglich zu machen. In einer umfangreichen Einzelbetrachtung über Dtn 30,11-14 im Vergleich mit Rom 10,4-10 43 beschäftigt Hamann sich eingehend mit den theologischen Konsequenzen, die diese Sicht der immanenten Trinität hinsichtlich des Verhältnisses von Menschwerdung, Schöpfung und Erlösung mit sich bringt. Aus der Sicht des Erlösten, der mit dem „Wort des Glaubens" 44 auch „die Kraft und Weisheit, welche die Welt hervorgebracht [hat]" 45 , in seinem „Herzen und Munde" trägt, entwickelt Hamann eine Dialektik von Schöpfung und Erlösung, in der sich die im letzten Abschnitt angedeutete Spannung zwischen supralapsarischer Heilswirklichkeit („Menschwerdung") und infralapsarischer Wirklichkeit („Natur" und „Gnade") reflektiert. Das „Geheimnis der Schöpfung" 46 sieht er darin, daß sie einerseits als Bestandteil des göttlichen Heilshandelns, andererseits aber auch aus ihrem Gegensatz zu diesem Handeln heraus verstanden werden muß.

2.2.1 Die Erschaffung der Welt durch den Logos Hatte für Hamann schon das Wirken des Geistes in der Bibel auf die Urheberschaft dessen hingewiesen, der als „das Licht und das Leben" 47 das Dunkel der Gottesferne erhellt und den „sinnlichen Buchstaben" zu einem lebendigen Zeugnis seiner selbst erweckt, so will Hamann nun auch „die Fackel des Göttlichen Wortes und des Glaubens in die Natur nehmen um den Schöpfer derselben zu erkennen und anzubeten." 48 Christus selbst ist „das Wort der Allmacht und Liebe", welches „die Welt erschaffen [hat] und durch selbiges [...] alles erschaffen [ist]." 49 Hamann fährt fort: 41 42 43 44 45 46 47 48 49

BW 399,12-14 (N 1,293). „Wenn er uns nicht hätte erlösen wollen, so wäre nichts da" (BW 298,30f [N 1,237]). BW 397-403 (N 1,291-297). BW 397,10 (N 1,291). Dieses und das folgende Zitat: BW 399,3f (N 1,293). BW 3 9 8 , l f ( N 1,292). Dieses und das folgende Zitat: BW 421,8f (N 1,315). BW 397,25-27 (N 1,292). BW 397,16f (N 1,291), vgl. Joh l,3f.

46

Menschwerdung und Trinität

„Der Gott Mensch, das Wort offenbart im Fleisch, der Sohn Gottes, der von Ewigkeit das Geheimnis s[eine]r Menschwerdung und der Erlösung in ihrer Gestalt beschlossen] hatte, ist der Schöpfer; ungeachtet er erst in der Fülle der Zeit geboren wurde, so sähe er sich als ein Bruder unsers Fleisches und Blutes an und schuff in unserm Namen, machte die ganze Natur zur Figur und nach der Ahnligkeit und dem Bilde der Menschlichen die er annehm[en] wollte aus eben dem Grund der Liebe, warum er den Menschen nach dem Bilde Gottes schuff." 50

Die Erschaffung der Welt „nach der Ahnligkeit und dem Bilde der Menschlichen [Natur]" ist ein Geschehen, welches die Annahme dieser „Natur" durch den Logos einerseits voraussetzt, ihr andererseits aber vorausgeht. Hamann unterscheidet auch hier zwischen dem Sachverhalt, daß „der Gott Mensch [...] sich als ein Bruder unsers Fleisches und Blutes" betrachtet, und der inkarnatorischen Annahme der „menschlichen Natur", die wie die Erschaffung des Menschen „aus eben dem Grund der Liebe" deutlich von dem Bereich der Präexistenz abgehoben erscheint. Dieser Gedanke ist bereits begegnet: Die „Menschwerdung" und mit ihr die „Erlösung" ist für Hamann in theologisch-sachlicher Hinsicht als Voraussetzung der Schöpfung, in zeitlicher Hinsicht jedoch als eine Folge derselben zu bedenken. Gott ist „Gott Mensch"; d.h. in ihm ist von Ewigkeit her verwirklicht, was im Kontext von Raum und Zeit erst durch das Erscheinen des Erlösers wirklich werden kann. Die der zweiten Person Gottes zu appropriierende „Menschwerdung des Sohnes", die mit seiner Geburt „in der Fülle der Zeit" geschichtlich manifest wird, ist nicht anders als das Handeln des Schöpfers und das des Geistes ein geschichtlicher Ausdruck („Bild") der unteilbaren Wirklichkeit Gottes. Nicht erst mit der Inkarnation, sondern mit der Erschaffung der „ganzen Natur" beginnt das erlösende, dem Menschen zugewandte Handeln Gottes, dessen Ziel die Rettung des Menschen ist. Eine „Entschärfung der Inkarnationsaussage" kann man Hamann nicht vorwerfen. 51 Man könnte eher eine gewisse Unscharfe in der Bestimmung des Verhältnisses von „Menschwerdung" als einem supralapsarischen Geschehen und der geschichtlichen Erlösungstat Christi bemängeln, was schon dadurch zum Ausdruck kommt, daß Hamann für beide Sachverhalte den Ausdruck „Erlösung"52 verwenden 50

51

52

BW 398,3-10 (N 1,292). ,Ahnligkeit" [oder Ahnligkeit?] bedeutet wohl Ähnlichkeit; bei Adelung ist das Wort nicht nachgewiesen. So urteilt W. Eiert, Der Ausgang der altkirchlichen Christologie, 260, über die Christologie des Origenes. Vgl. o. S. 43. In den Londoner Schriften kann der Begriff „Erlösung" drei Bedeutungen haben: Hamann verwendet ihn, wenn auch selten, synonym für das (supralapsarische) Ereignis der Menschwerdung, so z.B. in BW 398,4. Davon zu unterscheiden ist „Erlösung" als Bezeichnung für die geschichtliche Heilstat Gottes, die mit der Schöpfung beginnt und mit Kreuz und Auferweckung Christi endet; sie gehört strenggenommen wie die Schöpfung in den Bereich der bildhaft über sich hinausweisenden Wirklichkeit, die der Erneuerung bedarf (vgl. BW 127,22ff; 353,5f). Endlich gebraucht Hamann den Begriff als Beschreibung seines individuellen Heilserlebens, also seiner Erlösung (vgl. dazu Kapitel 3).

Gott ist Mensch: Die Einheit von Schöpfung und Erlösung

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kann. Mit Recht hat Rudolph Unger darauf aufmerksam gemacht, „daß der Begriff des Logos zwischen dem der fleischgewordenen geschichtlichen Persönlichkeit Christi und dem seit Ewigkeit von Gott gedachten Wortes ununterscheidbar schwankt [...]." 53 Die „Menschwerdung des Sohnes" ist für Hamann „ungeachtet" ihrer geschichtlichen Offenbarung ein transzendenter Sachverhalt. Daß sich dieser Gedanke auch philosophisch verselbstständigen kann, ja daß er den Keim einer spekulativen Aufhebung der Christologie in sich trägt, hat Hamann sicherlich nicht bedacht. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen und die Menschenebenbildlichkeit Gottes sind für Hamann auf ein und denselben „Grund der Liebe" zurückzuführen, die keiner weiteren Begründung, auch keiner geschichtlichen Begründung bedarf. Schöpferisches und erlösendes Handeln Gottes bilden demnach supralapsarisch eine unauflösliche Einheit; sie haben keine Rangfolge, sondern bedingen und bezeugen einander wechselseitig. Die Schöpfung weist die Struktur der „Gnade", die Erlösung hingegen die Struktur der „Natur" auf; ein Gegeneinander von Natur und Gnade ist undenkbar. 5 4

2.2.2 Teilhabe der menschlichen Natur an der Erschaffung der Welt Wenn der „Gott Mensch" als Subjekt des schöpferischen Handelns Gottes erscheint, dann ist für Hamann dieses Handeln aufgrund der communicatio idiomatum auch unter dem Aspekt der menschlichen Teilhabe am Handeln des Schöpfers zu bedenken. Dies tut Hamann, indem er die neutestamentlichen Aussagen über die Schöpfungsmittlerschaft Christi in die Perspektive des in Christus präexistenten Menschen rückt, die zugleich die Perspektive des Glaubens ist. Nach den Wünschen und Bedürfnissen dieses Menschen hat „das Wort der Allmacht und Liebe [...] die Welt erschaffen" 5 5 , und so kann sie durchaus als ein „menschl. Werk" 5 6 bezeichnet werden. In der Schöpfung zeigt sich, daß der „Gott Mensch" sich als „Bruder unsers Fleisches und Blutes [betrachtet]", noch bevor er selber „Fleisch und Blut" geworden ist. So verstanden, ist der Mensch tatsächlich das Maß aller Dinge 57 : 53 54

55 56 57

R. Unger, Hamanns Sprachtheorie, 67. Diese strukturelle Verbundenheit von Schöpfung und Erlösung läßt sich deutlich in einer Betrachtung zu Gen 2,7 erkennen, wo Hamann das schöpferische Anhauchen des Menschen als Ankündigung des in Joh 20,22 berichteten Geschehens interpretiert, in dem der Auferstandene „die Früchte seiner großen Erlösung in eben dem Bilde des geheimnißvollfen] Anhauchens sn. Jüngern mittheilte" (BW 73,24f [N 1,15]). Dem leblosen Erdklumpen und dem sündigen Menschen ist gemeinsam, daß beide der Erweckung zum Leben bedürfen, die allein der schöpferische und neuschöpferische Hauch Gottes bewirken kann. BW 397,16f(N 1,291). BW 399,6f(N 1,293). Zu dieser christologischen Fassung des berühmten Protagoras-Satzes vgl. N III,27,26f und dazu unten in Kap. 1.3 im zweiten Teil dieser Arbeit.

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Menschwerdung und Trinität

„Die Allmacht und Liebe in der Schöpfung sprach durch unsern Mund und aus unserm Herzen. Alles wurde, als wir es wünschen, als wir es hätten sprechen können. Was für eine glücklichere Erfindung unsere Kräfte zu ersetzen als das Mittel des Schlafes — Der erste müde Mensch würde sich ein solches Mittel gewünscht haben um die Bedürfnisse s[eine]r Natur zu befriedigen. Er wünschte es nicht umsonst, sondern wir erhielten es in der vollkommensten Weise, die nur möglich zu erdenken war. Der erste Mensch würde sich eine solche Abwechselung der Zeit gewünscht haben, wo er der Sonne einige Stundjen] entbehren, und ein sanfteres Licht, Stille pp genüßen konnte — Er wünschte es nicht umsonst; sondern wir erhielten eine solche Abwechselung durch den Lauf der Sonne und der Erde. Kurz die Ergötzlichkeiten, die Bequemlichkeiten], die Wohlthaten die wir Herren der Erde genüßen, und woran alle unsere Unterthanen nach ihrem Rang u. Mannigfaltigkeit theil nehmen, scheinen alle aus einem menschlichen Gesichtspunct und Herzen daß ich so menschlich und thöricht rede, geflossen zu seyn, oder meinen Ausdruck zu verbessern, daß der Gott und Schöpfer aller Dinge der liebreiche Menschensohn und gleich den Kindern ein Theilnehmer unsers Fleisches und Blutes werden wollte u. geword[en] ist. Hebr. II 14." 58 Hamann nennt zwei Beispiele für die Mitwirkung des Menschen bei der Erschaffung der Welt: Die „Erfindung" des Schlafes und die „Abwechselung der Zeit". Auffällig ist dabei der Tempuswechsel zwischen dem Konjunktiv Perfekt („würde gewünscht haben") und dem Imperfekt („wünschte") angesichts der Tatsache, daß beide Prädikate auf dasselbe Subjekt („der erste Mensch") bezogen sind. Dazu kommt, daß Hamann mit dem „wir" einen weiteren Personenkreis nennt, der seine Wünsche durch den „ersten Menschen" vertreten weiß, im Gegensatz zu diesem aber ganz durch seine Passivität definiert ist („Er wünschte es nicht umsonst; sondern wir erhielten..."). Die Empfänger der so anschaulich geschilderten „Wohlthaten" sind demnach nicht mit dem „Schöpfer aller Dinge" identisch. Dieser identifiziert sich jedoch auf eine Weise mit ihnen, daß sie, obwohl sie selber nichts hätten „wünschen" können, nicht zu trennen sind von dem, der an ihrer Stelle - „in unserm Namen" - sich die beste aller denkbaren Welten wünscht. Schöpfer und Geschöpf sind trotz des Gegensatzes vereint durch den gemeinsamen Wunsch, und dies nicht, weil das Geschöpf von sich aus die Welt gestalten könnte, sondern weil „der Gott und Schöpfer aller Dinge der liebreiche Menschensohn und gleich den Kindern ein Theilnehmer unsers Fleisches und Blutes werden wollte u. gewordjen] ist". Als ein „menschl. Werk" kann die „Schöpfung" deshalb bezeichnet werden, weil der „Gott Mensch" und nur insofern auch der Mensch ihr Schöpfer ist. Nicht etwa als ein kraft seiner Vernunft selbstschöpferisches, sondern als von Gott angenommenes Wesen partizipiert der Mensch an dem schöpferischen „Wort der Allmacht und Liebe" 5 9 .

58 59

BW 398,23-399,2 (N I,292f). BW 397,16 (N 1,291).

Gott ist Mensch: Die Einheit von Schöpfung und Erlösung

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In Christus kann „der erste Mensch" sich also wünschen, was er als Mensch nicht wünschen könnte; in ihm darf er sich rühmen als den, der mit göttlicher „Allmacht und Liebe" die Welt und mit ihr sich selber erschafft. „Wir wünschten dazuseyn -- wir erhielten unser Daseyn." 60 Die Schöpfung ist in dieser Sicht keine creatio ex nihilo 61 , sondern, wie die „Menschwerdung des Sohnes", in einem innertrinitarischen Ereignis begründet. Sie verdankt sich jenem geheimnisvollen Zwiegespräch zwischen „Vater" und „Sohn" 62 , das für Hamann in der Geschichte der Begegnung von Saul und Samuel „sinnlich gemacht" 63 wird. In dialektischer Verschränkung schließt dieses Gespräch die Mitwirkung des Menschen aus, indem es sie einschließt. Ausgeschlossen ist der Mensch, weil er kein „Daseyn" hat und weil deshalb auch „Gott [...] von uns nicht gebeten werden [konnte,] [...] uns einen Leib und alle Bedingungen, die zur Erhaltung desselben gehören, zu schenken." 64 Aufgrund dieses Unvermögens ist der Mensch bei seiner Erschaffung auf einen Stellvertreter angewiesen, der sich nicht nur seinen Wunsch nach „Daseyn" 65 stellvertretend zu eigen macht, sondern auch seine „Gedanken und Wünsche" 66 vor dem Schöpfer als ein Anwalt des Menschlichen vertritt. Daß Hamann nicht nur die Figur der Idiomenkommunikation, sondern mit ihr auch den soteriologischen Stellvertretungsgedanken im schöpfungstheologischen Kontext verwendet, zeigt noch einmal, wie eng für ihn Schöpfung und Erlösung strukturell miteinander verbunden sind. Was Gott für den Menschen erwirken will, das muß er einerseits in einer den Menschen ausschließenden Weise bewirken, eben weil der Mensch es nicht selber zu erwirken vermag. Er muß es andererseits aber als Mensch bewirken, weil es doch dem Menschen und dessen ganz und gar nicht göttlichen „Gedanken und Wünschen" entsprechen soll. Was immer Gott tut: er tut es als verus deus, der sich als verus homo den „menschlichen Gesichtspunct" zu eigen macht in einer Weise, die allem menschlichen Denken und Wünschen immer schon voraus ist.

60 61

62 63

64 65 66

B W 398,lOf ( N 1,292); vgl. B W 363,23-25 ( N 1,260). Hamann „widerspricht" damit jedenfalls „landläufiger Logik und Vorstellung, nach der zuerst einmal nichts ist und dann aus dem Nichts Gott Alles schafft" (O. Bayer, Schöpfung als Anrede, 15). Vgl. B W 398,14-22 (N 1,292). „Wie ist die Dreyeinigkeit und die Vereinigung der Göttl. u. Mschl. Natur in Christo in der heil. Schrift der menschl. Vernunft sinnlich gemacht" ( B W 159,19-21 [N 1,98]; zu 1 Sam 20). B W 399,16-18 ( N 1,293); vgl. B W 383,30f ( N 1,280). S . A n m . 60. B W 399,35 ( N 1,294).

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Menschwerdung und Trinität

2.2.3 Die biblische Geschichte von der Erschaffung der Frau als Gleichnis Nicht die Größe des autonomen Menschen rühmt Hamann mit seinen Ausführungen, sondern die Selbsterniedrigung des Schöpfers, der den Menschen zur „ mensura omnium rerum"67 macht. Die Erschaffung des Menschen durch den Menschgewordenen ist daher, wie alles Handeln Gottes, ein „Ausdruck der communicatio" 68 , die ihr zugrunde liegt. Der Schöpfer erniedrigt sich in Christus zum Geschöpf seiner selbst, und er erhöht dadurch den Menschen zu Schöpfer seiner selbst. Als wahrer Mensch nimmt er Anteil an den Eigenheiten der menschlichen Natur, beispielsweise an ihrem Bedürfnis nach Schlaf und an ihrem Angewiesensein auf den Wechsel von Licht und Dunkelheit. 69 Als wahrer Gott verschafft er dem Menschen alle erdenklichen „Ergötzlichkeiten", „Bequemlichkeiten" und „Wohlthaten", indem er seine göttliche „Liebe" ganz in den Dienst kreatürlicher Eigenliebe stellt. Das biblische Anschauungsmaterial für diese Aussagen findet Hamann in der Urgeschichte, genauer gesagt, in der in Gen 2,18-23 erzählten und von ihm höchst eigenwillig interpretierten Geschichte von der Erschaffung der Frau. Für ihn ist die hier dargestellte Beziehung zwischen dem ersten Menschen und seinem Schöpfer ein Bild der soeben beschriebenen Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch, wie sie in Christus wirklich ist und wie sie im Glauben an Christus verwirklicht werden kann. Denn Adam, der noch von keiner Sünde weiß, ist mit seinem Schöpfer durch eine Beziehung verbunden, die Hamann „Glauben" nennt. Dieser „Glaube trift Gottes Gedanken -- wie trift der Glaube Gottes Gedanken. Wie traf Gott Adams Gedanken? Adams Gedanken waren Gottes und Gottes Adams." 70 Gott „trift" Adams Gedanken, 67

69 70

N 111,27,27 (s. Anm. 57). H. Schreiner, Menschwerdung Gottes, 57. M. Seils bemerkt dazu: „Dieser Satz dürfte an sich durchaus Hamanns Gedanken entsprechen. Im Zusammenhang mit der .Verhältnisbestimmung von Offenbarung und Symbol' (gemeint ist Schreiners Bestimmung des Christus-Symbols als „Gestalt und Ausdruck der Offenbarung" [Menschwerdung, 77f]) rückt er trotz aller Sicherungen (Signum praebens) in die gefährliche Nähe einer Analogia entis. [...] Es fragt sich aber, ob Hamann die schöpfungshafte Communicatio in ihrer teleologischen Bestimmtheit auf das ,Symbol' bezogen hat" (Theologische Aspekte, 96). Dies kann hingegen m.E. überhaupt keine Frage sein, wenn nach Hamann „der Gott Mensch" selber der Schöpfer ist, der den Menschen einzig mit dem Ziel erschafft, „durch Menschen" offenbar zu werden. Der für das analogische Reden von Gott wichtige Gedanke der Teilhabe des Geschöpfes am Sein des Schöpfers (analogia attributionis intrinsecae) wird bei Hamann nicht nur durchweg christologisch begründet, sondern auch selbst als Analogon bzw. Figur für die dem Menschen in Christus verheißene communicatio verstanden (s. u. Kap. 3.2). Die geschöpfliche communicatio, die dem Menschen z.B. das Reden und Denken ermöglicht, ist für ihn der eschatologischen Gemeinschaft von Gott und Mensch vorausbildend zugeordnet. Vgl. BW 398,25-34 (N 1,293). BW 400,37-39 (N 1,295).

Gott ist nicht Mensch: Die Differenz von Schöpfung und Erlösung

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weil er diese Gedanken in Christus selber zu denken imstande ist, und Adam „trift" Gottes Gedanken, mit dem er geeint ist durch den „Glauben". So wird Adam zum Mitschöpfer der Eva, „weil der Wunsch [, der*] ein solches Geschöpf als diese Gehülfin war, in dem Munde und Herzen Adams lag. [...] Adam fand also d[as] Wort in seinem Munde und Herzen, mit dem er die Eva sich zueignete." 71 Die gedankliche communicatio zwischen Adam und seinem Schöpfer versteht Hamann zunächst als Illustration der Teilhabe des in Christus präexistenten Menschen am Handeln des Schöpfers, von der eben die Rede war. Wie im Kontext der biblischen Geschichte der Schöpfer seinem Geschöpf den Wunsch nach einer Partnerin gleichsam von den Lippen abliest, so hat er auch den Wunsch des noch nicht erschaffenen Menschen nach „Daseyn" 72 erfüllt, in dem Hamann den Wunsch des gefallenen Menschen nach einem ,,glücklichste[n] Daseyn" bereits mit ausgesprochen hört. Stellvertretend für den Sprachlosen spricht Christus aus, wozu Gott von seinem Geschöpf selbst „nicht gebeten werden [konnte]"; auf diese Weise läßt er ihn im Sinne des genus apotelesmaticum teilhaben an der „Kraft und Weisheit, welche die Welt hervorgebracht [hat]" 73 . Daß Hamann die Geschichte von der Erschaffung der Frau nicht in ihrem ursprünglich ätiologischen Sinn, sondern als Gleichnis für die protologische und eschatologische Gemeinschaft von Gott und Mensch interpretiert, ist für das Folgende von großer Bedeutung. Denn das Bild bringt ja nicht nur die Einheit, sondern auch die radikale Unterschiedenheit von göttlichem Urbild und adamitischem Abbild zum Ausdruck. Die Schöpfung kann daher nicht nur als Bestandteil des mit der Menschwerdung begonnenen Erlösungswerkes, sondern muß auch von ihrem Gegensatz dazu verstanden werden, der sich für Hamann mit dem Begriff der Sünde verbindet.

2.3 Gott ist nicht Mensch: Die Differenz von Schöpfung und Erlösung Angesichts der geschichtlich nicht einholbaren Einheit von Schöpfung und Erlösung treten die durch sie bezeichneten geschichtlichen Zusammenhänge in das Zwielicht einer Wirklichkeit, die von dem Nicht-Mehr bzw. dem Noch-Nicht dieser Einheit gezeichnet ist. Es ist die von Hamann mit dem Begriff „Natur" 74 chiffrierte Wirklichkeit des sinnlich Wahrnehmbaren, dessen Erschaffung einerseits als konstitutiver Bestandteil des Erlösungswerkes erscheint, andererseits auf die geschichtliche Erfüllung des mit ihr Verheiße71 72 73 74

BW 400,40-401,1.9f(N 1,295). Dieses und das folgende Zitat: BW 398,10-12 (N 1,292). BW 399,3 (N 1,293). Vgl. BW 398,3-10 (N 1,292).

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Menschwerdung und Trinität

nen durch die Erlösungstat Christi hindrängt. Dieses antithetische Bezogensein der geschöpflichen Wirklichkeit auf das von Hamann mit dem Wort „Gnade" chiffrierte Heilshandeln Gottes, das ihr einerseits vorauszusetzen ist, das durch sie aber auch erst notwendig wird 75 , ist nun zu untersuchen.

2.3.1 Die Unvollkommenheit der Schöpfung als Ausdruck der Sünde In Hamanns Interpretation der jahwistischen Erzählung von der Erschaffung der Frau (Gen 2,22f) lassen sich zwei gedankliche Ebenen unterscheiden. Der beiden Ebenen gemeinsame Grundgedanke besteht in der stellvertretenden Wahrnehmung menschlicher „Gedanken und Wünsche" 76 durch den präexistenten Schöpfungsmittler. Als Schöpfer ist er durch die Erschaffung der Eva Adams „Wünschen zuvorgekommen, hatte selbige übertroffen" 77 , obwohl dieser nur „ein Bild eines Traums oder eine Ahnung" 78 gehabt hatte von dem, „was ihm noch an seinem Glück gefehlt hätte". Erst von dem Ereignis der Erfüllung seines nicht ausgesprochenen Wunsches her kann Adam formulieren, was er sich gewünscht hätte, wenn er es hätte wünschen können. Dies ist die schöpfungstheologische Ebene der Interpretation Hamanns, mit der er die Mitwirkung des Geschöpfes am Handeln des Schöpfers illustriert. Darüber hinaus versteht Hamann den Bibeltext soteriologisch, nämlich als Typos für die Begegnung des Glaubenden mit Christus, findet er doch in dem „Bekenntnis" und der „Zueignung Adams [...] die Natur des Glaubens so lebhaft und sinnlich als möglich ausgedruckt." 79 Die gedankliche communicatio des von Adam nicht geäußerten Wunsches nach einer Partnerin und seiner Entsprechung durch Gott ist ein Bild für den Glauben, der diese communicatio gleichfalls wünscht und „eben auf die Art in noch größerem Maaße in Jesu Christo [findt]." 80 Wie dem Adam durch die Erschaffung der Eva, so wird dem adamitischen Menschen durch die Erlösung ein Wunsch erfüllt, den er freilich nur apriori, d.h. in anbetracht seiner Erfüllung als den Wunsch erkennen kann, der ihm von Anfang der Welt an „in dem Munde und Herzen [•••] lag." 81

75

76 77 78 79

80 81

„Um diese Gleichheit wieder [her] zu stell[en], muste Gott die Gleichheit des M[enschen] annehmen]" (BW 71,33-35 [N 1,13]). BW 399,35 (N 1,294). BW 401,12f(N 1,295). Dieses und das folgende Zitat: BW 400,26f (N 1,295). BW 400,29f (N 1,295). „Nichts kann uns die Betrachtung eines Christen über seine durch die Gnade wiederhergestellte Natur so deutlich vorstellen als die Geschichte Adams" (BW 400,7-9 [N 1,294]). BW 401,13f(N 1,295). BW 401,1 (N 1,295).

Gott ist nicht Mensch: Die Differenz von Schöpfung und Erlösung

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Diese soteriologische Ebene stellt eine mit der ersten Ebene eng verwobene, aber davon deutlich unterscheidbare Ebene der Hamannschen Interpretation dar. Beschreibt die erste Ebene den „Glauben" des Adam als Abbildung des schöpferischen Zusammenwirkens von Gott und Mensch, so will Hamann mit demselben Bildmaterial auch illustrieren, worin sich der Glaube an Christus von diesem adamitischen Glauben unterscheidet. In Bezug auf den in Gen 2,23 geschilderten Ausruf des erwachenden Adam findet er es nämlich „merkwürdig, daß Gott das Wort in Adams Munde und Herzen als einen Wunsch von einer Gefahr und [einem*] Uebel befreyt und entfernt zu seyn ausdruckt. Es war die Rede also von einer Unvollkommenheit, die durch die Eva aus dem Wege geräumt werden sollte; wie einem Uebel das durch sie gehoben und gut gemacht werd[en] sollte." 82 „Merkwürdig" ist das allerdings. Denn: Sollte der Schöpfer bei der Erschaffung des Menschen etwas vergessen haben, was nun gleichsam nachgeliefert werden muß? Dann wäre es nicht zu erklären, warum Hamann ausgerechnet die Geschichte von der Erschaffung der Frau als Beispiel für das stellvertretende Handeln des Schöpfers verwendet. Die Frau gehört doch zweifellos zu den „Ergötzlichkeiten" und „Wohlthaten", die, aus der Sicht des Betrachters gesprochen, „wir Herren der Erde genüßen." 83 Deshalb hält Hamann es für möglich, daß diese „Unvollkommenheit, die durch Eva aus dem Wege geräumt werden sollte", als Typos einer ganz anders gearteten Unvollkommenheit zu verstehen ist, die „durch Eva" keineswegs „aus dem Wege geräumt" wird, sondern erst zum Vorschein kommt. Die von Hamann verwendeten Ausdrücke „Gefahr", „Uebel" und „Unvollkommenheit" haben jedenfalls Signalfunktion. Hatte das Fehlen des Partners im Kontext der ersten Interpretationsebene noch zu den ,,Bedürfnisse[n]" der menschlichen Natur gezählt, so sprengt Hamann mit diesen Ausdrücken absichtlich den Rahmen geschöpflicher Bedürftigkeit. Der adamitische „Glaube" bewirkt nicht nur ein erfülltes „Daseyn", sondern er öffnet zugleich den heilsgeschichtlichen Horizont einer existentiellen „Unvollkommenheit", die dem Geschöpf ebenso eingestiftet ist wie das Verlangen nach ihrer Überwindung. Er versinnbildlicht das Mitwirken des Menschen an seiner Erschaffung durch den menschgewordenen Gott, macht aber zugleich deutlich, daß mit der Erfüllung des menschlichen Wunsches nach „Daseyn" das „glücklichste Daseyn" 84 eben noch nicht gegeben ist. In der Gestalt des Adam sieht Hamann also nicht nur den in Christus präexistenten Menschen abgebildet. Adam - vor dem Fall! - ist zugleich ein Bild des einsamen, unvollkommenen Menschen, der eine Sehnsucht in sich trägt, die als Sehnsucht nach dem ,,glücklichste[n] Daseyn" im Erwachen des ge82 83 84

BW 401,4-8 (N 1,295). BW 398,34-36 (N 1,293). BW 3 9 8 , l l f ( N 1,292).

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schlechtlichen Begehrens angesichts der Erschaffung von Eva zum Ausdruck kommt. Der urständliche Adam, der zwar eine Sehnsucht verspürt, den Grund seiner „Unvollkommenheit" 85 jedoch nicht kennt, wird zum Typos des adamitischen Menschen, der um seine Sünde nicht weiß und dennoch die Sehnsucht nach Erlösung unbegriffen in sich trägt. Anders läßt es sich für Hamann nicht erklären, daß Adam zwar ein vollkommenes Geschöpf 86 , zugleich aber ein unvollkommenes, auf Ergänzung durch einen Partner angelegtes Geschöpf ist. Ist ihm als dem „Bilde Gottes" 87 die geschöpfliche Vollkommenheit auf unverdiente Weise zugeeignet worden, so muß ihm als Urbild des von Gott zu unterscheidenden Menschen auch eine „Unvollkommenheit" zukommen, die er nicht verschuldet hat. „Daseyn" und ,,glücklichste[s] Daseyn" verhalten sich zueinander wie Schöpfung und Erlösung bzw. wie „Natur" und „Gnade". Deshalb ist für Hamann selbst die adamitische Existenz der unversehrten Gottesebenbildlichkeit eine Existenz im Schatten der Sünde und des Todes. Sie ist unvollkommen, denn „die Vollkommenheit unsers Daseyns" und damit „das Glück desselben [...] hängt von der Erkenntnis Gottes in Christo Jesu ab." 8 8 Angesichts dieser „Vollkommenheit" muß die Vollkommenheit der geschöpflichen Existenz verblassen, und so sind „alle ihre Wohlthaten", die doch mit Recht zu rühmen sind, „nichts als Schattenbilder der ungleich höheren Wohlthaten, die meine Seele in der Erlösung zum geistlichen Leben erkennt, und empfängt und genüst." 89 Damit markiert Hamann das Unglück der Sünde als diejenige Differenz, die seinen Bildbegriff in grundlegender Weise bestimmt, nämlich die Differenz von Bild und Abgebildetem, von Verheißung und Erfüllung. Da die Schöpfung die Wirklichkeit der Erlösung nur symbolisiert, nicht aber realisiert, befindet sie sich für Hamann von Anfang an nicht nur im Einklang, sondern immer auch im Widerspruch zu ihrer Bestimmung.

2.3.2 Präexistenz der Sünde? Eine Frage drängt sich hier freilich auf: Wenn Adam als Ebenbild des präexistenten Menschen zugleich ein Bild des mit Gott ganz und gar nicht geeinten, unerlösten Menschen darstellt, heißt das nicht, daß sowohl der geschöpfliche als auch der unerlöste Mensch als in Christus präexistent zu denken sind? 85 86 87 88 89

BW 401,6f(N 1,295). Vgl. BW 397,33f (N 1,292). BW 398,10 (N 1,292). BW 390,9f (N 1,287; aus d. Betr. zu: „Beschränkt, ihr Weisen dieser Welt"). BW 390,1-5 (N 1,2860-

Gott ist nicht Mensch: Die Differenz von Schöpfung und Erlösung

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Vom Textbefund der Londoner Schriften her ist diese Frage mit Ja zu beantworten. Als Schöpfer und als Erlöser macht Gott sich die „Gedanken und Wünsche" des Menschen zu eigen, den er in Christus angenommen hat, und zwar die „Gedanken und Wünsche" nicht nur des noch nicht erschaffenen, sondern auch die des noch nicht erlösten, sündigen Menschen. 9 0 Hamanns tiefgründige Interpretation der Urgeschichte zeigt, daß für ihn die Erlösung in gleicher Weise wie die Schöpfung nur dann als ein von jeglicher Mitwirkung durch den Menschen unbeeinflußtes Werk Gottes ausgesagt werden kann, wenn sie als ein Werk des Menschgewordenen begriffen wird, der sich nicht nur die leiblichen „Bedürfnisse", sondern auch das Verderben des Menschen stellvertretend zu eigen macht. Wenn Gott in Christus „schon von Ewigkeit das Geheimnis sr. Menschwerdung und der Erlösung in ihrer Gestalt beschloss[en] hatte" 9 1 , weil der Mensch nicht nur „dazuseyn", sondern ,,d[as] glücklichste Daseyn" sich wünscht 9 2 , dann muß nicht nur ein für das nichtgöttliche Sein idiomatischer Mangel an „Daseyn", sondern auch ein für das nichtgöttliche Sein idiomatischer Mangel an „Vollkommenheit" mit Gottes Wirklichkeit zusammengedacht werden. Und wenn gar ,,d[as] Leben, das Sterben, u. die Auferstehung u. Himmelfarth unseres Heylandes" bereits vor aller Zeit in dem neuschöpferischen „ R u f Gottes gegenwärtig ist 9 3 , dann muß auch von einer Präexistenz der Sünde gesprochen werden, die, wie die Gestalt des Adams zeigt, der Existenz des Menschen immer schon voraus ist. Unde malum? Daß mit der Annahme der menschlichen Natur auch die den Menschen von Gott trennende Sünde als präexistent gedacht werden muß, sagt Hamann nicht. Er unterscheidet allerdings auch nicht, wie Martin Seils eindrücklich gezeigt hat, zwischen nichtgöttlicher und widergöttlicher Wirklichkeit. Seils macht darauf aufmerksam, daß Hamann als Leser einer englischen Bibelübersetzung die Begriffe „böse" und „übel" nicht unterscheidet und daß dies Ursache einer „folgenschweren Konfusion in Hamanns Erkenntniskreis" sei. 94 Seils bezieht sich dabei zunächst auf die Betrachtung zu Mk 10,18 und stellt fest: „Von hier aus ergibt sich das unendliche Mißverhältnis des Menschen zu Gott', das Hamann zwischen der abgeleiteten Qualität des ,endlichen' Wesens und der Originalität des .einzigen' Wesens konstatiert."95 „Jedes endl. Wesen"96, das von diesem vollkommenen Wesen hervorgebracht wird, ist „unvollkommen"; folglich ist das „Daseyn eines jeden endlichen Wesens [...] schon ein würkliches Uebel" 97 , weil es dem unendlichen Wesen nicht gleichkommt.

90

Vgl. BW 399,34f(N 1,294). BW 398,4f(N 1,292). 92 BW 398,1 l f ( N 1,292). 93 BW 155,25-27 (N 1,94). 94 M. Seils, Theologische Aspekte, 108. 95 Ebd. 96 Dieses und das folgende Zitat: BW 363,23f (N 1,260). Auch hier spielt die Unterscheidung von „Daseyn" und „Glück" bzw. glücklichem „Daseyn" eine Rolle. 97 BW 270,27f (N 1,210); zu Mk 10,18; vgl. Jes 45,7. 91

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Das „Uebel" der Endlichkeit hat die Sünde zur Folge und umgekehrt. Zwar weiß Hamann um die Bedeutung der biblischen Geschichte vom Sündenfall; er betont das Moment der persönlichen Verantwortung des Menschen für seine eigene Schuld 98 ebenso wie das in dieser Geschichte gleichfalls zum Ausdruck kommende Moment der Verführung des Menschen durch das Bös e . " Dennoch gilt für ihn: wenn die Sünde von Gott auch nicht gewollt oder gefördert werden kann, so wird sie doch gleichwohl mit der Annahme des endlichen Seins durch die Menschwerdung zumindest potentiell bereitgestellt. 100 Der Wunsch des präexistenten Menschen nach „Daseyn" enthält für Hamann jedenfalls notwendigerweise auch den Wunsch nach einem „glücklichste^] Daseyn", weil mit dem bloßen „Daseyn" das Unglück der Sünde immer schon gegeben ist. „Mein erstes Daseyn, das ich von [Gott] empfieng, war ein Schandfleck seiner Heiligkeit und Weisheit" 101 , notiert er in einer Liedbetrachtung. Die adamitische Existenz ist für ihn nur als eine gefallene Existenz vorstellbar, ist doch „auch der gefallene Mensch ein Sinnbild des gefallenen Engels und sein Fall eine Folge in der Natur von dem Fall des letzteren." 102 Die Sünde findet der Mensch immer schon vor, weil sie sich von der Faktizität des „endlichen" Seins nicht abstrahieren läßt. 103 Apriorisches Verhängnis, individuelle Verantwortlichkeit und göttliche „Zulassung" 104 sind dabei für Hamann nicht scharf zu unterscheiden. 105 Gott ist ein Feind der Sünde, aber er „brauchte" sie eben auch zur „Offenbarung seiner Weisheit, Macht und Güte und Gerechtigkeit" 106 .

2.3.3 Teilhabe des Sünders am erlösenden Handeln Gottes Das „Uebel" des endlichen „Daseyns" bezeichnet den Gegensatz von Schöpfung und Erlösung. Dieser ist aber nicht primär auf ein schuldhaftes Versagen des Menschen zurückzuführen, sondern weist zurück auf die Unergründlichkeit des göttlichen Heilsplanes, der sich dieses Widerspruches geradezu be98

Vgl. BW 80,31-33 (N 1,22). Vgl. BW 76,37-39 (N 1,18). Siehe dazu auch W. Leibrecht, Gott und Mensch, 150-159 („Der sündigende Mensch"). 100 V g l B W 3 6 7 j 4 _ 9 ( N i > 2 64). 99

101

BW 353,9f (N 1,250; aus d. Betr. zu: Ich bin Gottes Bild und Ehr). BW 173,29-31 (N 1,112); vgl. BW 158,4-10 (N 1,97). 103 Vgl. BW 361,23-30 (N 1,258). 104 BW 362,8 (N 1,259). 105 Vgl. BW 361,30-34 (N 1,259). 106 B W 423,24f (N 1,317). - Der Aussage von M. Seils, daß Hamann „dem Sündenfall in den Biblischen Betrachtungen keine intensivere theologische Aufmerksamkeit widmet" (Krise und Gericht, 392), kann ich daher nicht beipflichten. Richtig hingegen ist schon für die Londoner Schriften, daß es, wie Seils (aaO 386) bemerkt, „bei Hamann kein einhelliges Sündenverständnis [gibt]." 102

Gott ist nicht Mensch: Die Differenz von Schöpfung und Erlösung

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dient, um ihn zu überwinden. 107 Im Kontext seiner typologischen Interpretation der Geschichte von der Erschaffung der Frau versteht Hamann daher den von Gott bewirkten Schlaf des Adam als Hinweis auf den „tiefen Sündenschlaff' 1 0 8 der Menschheit, den Gott „dazu gebraucht" habe, „um ein verklärtes Bild des wiederhergestellten Menschen in Seinem Sohn Jesu Christo ihm zuzubereiten und zuzuführen." So hat für Hamann auch der Sündenfall einen festen Ort in der Abfolge des providentiellen Handelns Gottes. Ohne die Sünde des Menschen, d.h. ohne die von Gott benötigte, durch das geschichtliche Ereignis des Sündenfalls daher auch nicht verursachte, sondern nur symbolisierte Differenz von Schöpfung und Erlösung gibt es keine Erlösung. Anders gesagt: „Natur" ist nicht „Gnade", sondern verdankt sich der göttlichen „Gnade" - aber die „Gnade" ist eben auch nicht denkbar ohne die vom „endl. Sein" nicht zu abstrahierende Sünde, die ihrerseits Abbildung einer unendlichen, das Natürliche transzendierenden Feindschaft zwischen Gott und nichtgöttlichem Sein ist. Von dieser Dialektik ist Hamanns Verständnis von Sünde maßgeblich geprägt. Weil der Sündenfall sich in jeder menschlichen Existenz aufs neue wiederholt 109 , ist die Sünde als peccatum actuale von bedrückender Realität. 110 Aber das Ausmaß der Sünde transzendiert die Möglichkeiten menschlicher „Dummheit und Schwäche" 111 . In der mythisch personifizierten Gestalt des „Verderbers" 112 , dessen verheerendes Wirken Hamann in ausgreifenden Darstellungen schildert, macht sie sich den Menschen zwar zum Werkzeug, ja zum ,,Sclav[en]" 113 . Das darf jedoch für Hamann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie selber als funktionaler Bestandteil des göttlichen Heilsplanes keine eigene Realität hat, sondern in den Raum der nichtgöttlichen und doch von Gott angenommenen Wirklichkeit gehört. 114 So sind zwar die „Folgen der Sünde" 115 für die Menschen beklagenswert. Jedoch: „Würde er ihr[en] Fall zugelassen hab[en], wenn die Erlösung ihnen nicht gröste Güter, Ansprüche u. Rechte als die Schöpfung selbst oder ihre Unschuld gegeb[en] hätte." 116 Angesichts dieser „Güter" ist die Sünde nicht nur ein er107

Vgl. BW 398,18-22 (N 1,292). Dieses und die folgenden zwei Zitate: BW 400,14-16 (N 1,294). 109 y g ] jjg entsprechenden Passagen in Hamanns „Gedanken über meinen Lebenslauf', BW 343,27ff (N I,40f). 110 Vgl. z.B. BW 112,6-113,10 (N I,52f). 111 BW 112,23 (NI,52f). 112 BW 112,17 (NI,52f). 113 BW 113,6 (N 1,53) 114 Das wird unübersehbar an Stellen, wo Hamann von einem Pakt des Satans mit Gott spricht, nach dem der Mensch dem Bösen gleichsam für eine bestimmte Zeit ausgeliefert wird, vgl. BW 174,37ff (N I,113f). 115 BW 293,34 (N 1,232); zu Rom 5,15. 116 BW 75,26-28 (N 1,17); zu Gen 2,18. 108

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trägliches „Uebel", sondern in ihren Auswirkungen sogar ein Grund zur Freude: „Wie glücklich sind also die Folgen der Sünde, die Strafen derselben, für uns gewesen. [...] Ja Gottes Weisheit machte den Fluch der Sünde so schrecklich; er gab das Gesetz, um selbige destomehr auszubreiten - damit der Seegen des Sündentilgers desto größer, desto reicher, desto allgemeiner, desto erstaunender zum Besten der Menschen ausschlagen sollte." 117 Letztlich gilt für Hamann: „Alles Böse ist ein Gutes, ist ein göttl. Mittel, was [ihn] für uns bedeckt; ist seine Unendl. Weisheit die wie s[ein] Kleid seine Füße, se[ine] Schritte u. Wege bedeckt." 118 Wenn die Sünde heilsgeschichtlich notwendig ist, dann ließe sich auch von einer, wenngleich negativ zu verstehenden Teilhabe des Sünders am erlösenden Handeln Gottes reden. Kann die Erlösung aufgrund des durch die Sünde bezeichneten Gegeneinanders von Gott und Mensch „noch weniger" 119 als die Schöpfung unter menschlicher Mitwirkung beschlossen worden sein, so muß sie angesichts des durch die Sünde über den Menschen gekommenen Unglücks mehr noch als die „Natur eine Schöpfung oder Erfüllung unserer eigenen Gedanken und Wünsche" 120 sein. Entsprechend bezeichnet Hamann nicht nur die „Schöpfung", sondern auch „die Erlösung" als ein „menschliches] Werk" 121 , nämlich als das „Werk" des Sünders, der sie erfleht, und als das „Werk" des Menschgewordenen, der sich die „Gedanken und Wünsche" des Sünders stellvertretend zu eigen macht. Die strenge Begründung der göttlichen „Gnade" in dem Geschehen der Menschwerdung ermöglicht auch im Kontext des erlösenden Handelns Gottes eine den Menschen inkludierende Redeweise von Gott, wobei für Hamann allerdings der „Glaube an Jesum Christum" 122 die einzig legitime Möglichkeit darstellt, sich mit dem in Christus präexistenten Menschen zu identifizieren. Nicht unbedenklich jedoch sind die hamartiologischen Implikationen dieser Vorstellung. Denn den Gedanken einer felix culpa kennt die Bibel nicht. Bei Paulus ist zwar davon die Rede, daß die Sünde durch die göttliche Gabe des Gebotes erst „lebendig" (Rom 7,9) geworden ist. Aber die Folge der Sünde ist der Tod (Rom 7,13), während bei Hamann die Sünde und mit ihr der Tod auch als Voraussetzung für das ewige Leben erscheint. Für ihn ist die Sünde primär ein übergeschichtliches Phänomen, welches er einerseits, an altkirchliche Mythologumena anknüpfend, auf einen Aufstand in der Gei117

BW 294,23-30 (N I,232f); zu Rom 6,4. BW 162,23-26 (N 1,101); zu 1 Sam 24,11. 119 „Noch weniger konnte Gott von uns selbst gebeten werden uns eine Seele mit seinem Ebenbilde zu schenken — und selbiges mit soviel Herrlichkeit wiederherzustellen" (BW 399,18-21 [N 1,293]). 120 BW 3 9 9 , 3 4 f ( N 1,294). 121 „Ist die Schöpfung ein menschl. Werk; was wird die Erlösung nicht seyn, die uns Menschen um so viel näher angeht" (BW 399,6-8 [N 1,293]). 122 BW 401,29f(N 1,297). 118

Einheit und Differenz von Schöpfung und Erlösung

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sterwelt 123 , anderseits aber auch auf die Differenzierung von geistiger und materieller Wirklichkeit durch das Schöpferhandeln Gottes zurückführt. Hier steht eine Deutung des Kreuzesgeschehens im Hintergrund, die von der paulinischen deutlich abweicht: Nämlich daß es zum „Geheimniß der Göttl. Weisheit" 124 gehört, mit der Welt auch „Böses zu schaffen, und zu Feinde [zu] mach[en]." Wenn aber die Sünde eine Voraussetzung für das erlösende Handeln Gottes darstellt, dann steht der für die Theologie fundamentale Gegensatz von Sünde und Gnade in Gefahr, als nurmehr relativer Gegensatz von „Natur" und „Gnade" zu erscheinen und dadurch verschleiert zu werden. Die hier greifbare Unschärfe des Hamannschen Sündenverständnisses ist theologisch bedenklich, sie wird gleichwohl noch für das Denken des späteren Hamann bezeichnend sein. Auch die Sünde ist für ihn göttlich und menschlich zugleich.

2.4 Einheit und Differenz von Schöpfung und Erlösung als christologisches Grundmuster der Typologie Die beiden Bildebenen der Adam-Geschichte repräsentieren zwei unterschiedliche Bestimmungen des Verhältnisses von Schöpfung und Erlösung. Die innige Verbundenheit Adams mit seinem Schöpfer bildet das Verhältnis von Gottheit und Menschheit im Sein Jesu Christi ab, in dem es den Gegensatz von „Natur" und „Gnade" und damit auch die Sünde nicht gibt. Zugleich aber macht Hamann deutlich, daß mit dem geschöpflichen „Daseyn das Glück desselben" 125 nicht verwirklicht, sondern nur abgebildet ist, weil mit der Annahme der menschlichen Natur durch Christus nicht nur eine die Erlösung erst ermöglichende Bedingung geschaffen, sondern auch ein von der Erlösung zu unterscheidender, ja sie notwendig machender Sachverhalt ins „Daseyn" gerufen wird. D.h., daß nicht nur die Einheit von Schöpfung und Erlösung, sondern auch durch die von Hamann als Sünde bezeichnete Differenz von Schöpfung und Erlösung in der Menschwerdung Gottes bereits begriffen ist. Das geschichtstheologische Schema von Verheißung und Erfüllung, welches für die Auslegungsweise in den Londoner Schriften von grundlegender Bedeutung ist, reflektiert diesen Sachverhalt auf hermeneutischer Ebene: Nämlich daß die geschöpfliche Bestimmung des Menschen und ihre Verwirklichung hinsichtlich der Wirklichkeit Gottes nicht zu trennen sind (mit der 123 124

125

Vgl. B W 72,1-4 ( N I , 1 3 f ) . Dieses und das folgende Zitat: B W 367,4.7f (N 1,264; aus d. Betr. zu: „Mein Geist und Sinn ist hoch erfreut"). B W 3 9 0 . 1 1 (N 1,287).

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Verheißung ist die Erfüllung immer gegeben), hinsichtlich der Wirklichkeit des Menschen und seiner Zeitlichkeit jedoch nicht verwechselt werden dürfen. Einerseits beinhaltet die mit der Erschaffung des „Daseyns" gegebene Verheißung des „glücklichsten Daseyns" immer schon ihre Erfüllung durch die Erlösung, ist doch „bey Gott [...] keine Zeit, kein Unterscheid unter sn Person[en] unter sn Handlung[en]" 126 denkbar. Andererseits macht die mit der Erschaffung des „Daseyns" gegebene Verheißung eine davon sachlich und zeitlich zu unterscheidende Erfüllung notwendig, weil, wie das Beispiel des Adam lehrt, der Mensch kein vollkommenes, sondern ein mit dem „Uebel" der Sünde behaftetes Wesen ist. Ich meine, daß sich hier eine schlüssige Konzeption greifen läßt: Die Wirklichkeit des geschaffenen Bildes und die darin sich abzeichnende Wirklichkeit der Erlösung sind aufgrund der Sünde von einem, wie Hamann später sagen wird, „unendlichen Misverhältnisse" 127 bestimmt. Für den gläubigen Leser der Bibel rücken diese Wirklichkeiten jedoch im Schema von Verheißung und Erfüllung wieder zusammen in einer Weise, die sowohl die Einheit als auch die Unterschiedenheit der Wirklichkeiten von „Adam" und „Christus" kenntlich macht. Nicht nur „dazuseyn" hatte Adam sich gewünscht, sondern „das glücklichste Daseyn" 128 . Deshalb interpretiert Hamann die Schöpfungsgeschichte - mit all den erwähnten Schwierigkeiten - durchgehend als Verheißungsgeschichte, die einerseits als in Christus erfüllt zu betrachten ist, andererseits aber noch andauert, weil ihr auch nach der Erfüllung durch die Heilstat Christi das Prädikat der „Unvollkommenheit" eignet. So fügen sich für Hamann die biblischen Texte zum Bild des „heilsgeschichtlichen Dramas" 129 zusammen. Keines ihrer Motive ist für ihn zufällig hineingeraten. Alles, auch das mit dem Stichwort „Sündenschlaff' 130 angedeutete Auseinanderbrechen der Gemeinschaft von Gott und Mensch zielt auf die Erlösung des Menschen. In der Begegnung mit Christus erschließt sich dem Glaubenden die Wirklichkeit Gottes als die des Menschgewordenen, die alles Geschehen in Natur und Geschichte unter der Chriffre liebender „Herunterlassung" 131 zu einer planmäßig verlaufenden Heilsgeschichte zusammenfügt. Die Schöpfung geschieht um des Menschen willen und nach Maßgabe des Menschen: „Meinetwegjen] wurde er ein Schöpfer." 132 Die Erlö126

BW 155,29-31 (N 1,94). N 111,312,36 (Golgatha und Scheblimini). 128 BW 3 9 8 , l l f ( N 1,292). 129 „Mit der Schöpfungstypologie eng verbunden, aber über sie - und damit auch die Figuralstruktur im eigentlichen Sinn - hinausführend ist Hamanns Schau eines .heilsgeschichtlichen Dramas' auf höherer als menschlicher Ebene" (E. Büchsei, Biblisches Zeugnis, 81). 130 B w 400,14 (N 1,294). 131 BW 59,7 (N 1,5). 132 BW 366,21 (N 1,264; aus d. Betr. zu: „Mein Geist und Sinn ist hoch erfreut"). 127

Exkurs: Hamanns Deutung des Kreuzesgeschehens

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sung ebenso: „Meinetwegen wurde der Schöpfer ein Geschöpf." 1 3 3 In beiden Fällen steht jenes „meinetwegen" emphatisch am Anfang, für Hamann nicht Ausdruck erhabenen Menschseins, sondern Ausdruck des demütigen Verzichts Gottes auf den ihm zustehenden Seinsprimat, der schon vor aller Zeit für ihn wesentlich ist.

2.5 Exkurs: Hamanns Deutung des Kreuzesgeschehens zwischen Transzendenz und Geschichte Dieser Exkurs wird den Gedankengang des Kapitels nicht fortführen, sondern soll die eben herausgearbeitete Dialektik des Verhältnisses von Schöpfung und Erlösung am Beispiel der hamannschen Deutung des Todes Jesu illustrieren. Als biblisches Anschauungsmaterial hierfür dient Hamann die Geschichte vom Untergang und Tod Sauls. Bezeichnenderweise ist es der literarkritisch zu erhebende Tatbestand einer zweifachen Überlieferung dieses Ereignisses in 1 Sam 31 und 2 Sam 1, welcher der mehrschichtigen Betrachtungsweise Hamanns hier entgegenkommt, wenn nicht gar ihn dazu inspiriert hat.

2.5.1 Der Tod Christi als freiwillige Selbsthingabe In 1 Sam 31 wird berichtet, daß Saul sich angesichts seiner aussichtslosen Lage das Leben nimmt. 1 3 4 Dieser Selbstmord verselbstständigt sich zu einem zentralen Motiv in Hamanns Deutung des Kreuzesgeschehens: „Wir seh[en] hier den Tod unsferes] Heylandes; die Vollgültigkeit desselben] in den Aug[en] der göttl. Gerechtigkeit daß Gott der Vater u. Gott der Sohn eins sind. Saul thut also s[eine]n letzt[en] Kriegszug, Saul kommt in große Gefahren], die Bog[en]schütz[en] find[en] ihn, sie fin[den] ihn an der Ferse verwundlich. Saul sagt zu s[einem] Waff[en]träger; Ziehe dein Schwerdt. Sein Waff[en]träger erschrickt für dies[en] Befehl, Saul nimmt ein Schwerdt, fällt auf dasselbe, Sein Waffenträger fällt mit ihm. Ich habe Macht mein Leb[en] zu lassen. Der [...] Waff[en]träger des göttl. Zorns konnte ihm s[ei]n Leb[enl nicht raub[en]; er legte es selbst nieder für seine Feinde u. für se[ine] Schaafe." 13 5

133 134

135

B W 3 6 6 , 2 1 f ( N 1,264). „ D a sprach Saul zu seinem Waffenträger: Zieh dein Schwert und erstich mich damit, daß nicht diese Unbeschnittenen kommen und mich erstechen und treiben ihren Spott mit mir. Aber sein Waffenträger wollte nicht, denn er fürchtete sich sehr. D a nahm Saul das Schwert und stürzte sich hinein" (1 Sam 31,4). B W 166,35-167,5 (N 1,105). B W liest in 167,3: „Der Tod des Waff[en]träger des göttlichen Zorns". Entweder muß man „des Waff[en]träger des göttlichen Zorns" streichen oder, was wahrscheinlicher ist, „Tod des".

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Die dieser Deutung immanente Spannung ist deutlich: Der sterbende Gottessohn ist als wahrer Mensch, wie Hamann in Anspielung an Gen 3,15 formuliert, „an der Ferse verwundlich". Dennoch ist das Leben dieses Menschen ein Gut, über welches allein er selbst in göttlicher Vollmacht verfügen kann. Dies bringt Hamann durch Einflechtung zweier Selbstaussagen des johanneischen Christus (Joh 10,11.18) zum Ausdruck, mit denen er die göttliche Natur Christi zu Wort kommen und ihren Tod im Sinne einer freiwilligen Selbsthingabe ankündigen läßt, den Tod, den ihr der „Waffjen]träger des göttl. Zorns" nicht aufzwingen kann. Es geht hier freilich nicht um den Tod, den der „Waffenträger" - gemeint ist der Satan - erleidet (wie es in 1 Sam 31,5 erzählt wird), sondern um den Tod, den er bringt. Weil der von ihm über Christus gebrachte Tod diesen jedoch nicht zu töten vermag, ist der Tod als Folge der Sünde entmachtet, getötet durch einen Tod, der nicht die zwanghafte Folge der Sünde, sondern die Folge der freiwilligen Selbsthingabe Gottes ist. Das Sich-Einlassen Gottes auf Sünde und Tod bedeutet für Hamann die am Kreuz offenbar werdende Vernichtung des Todes, die er in seiner Lebenswende an sich selber erfahren zu haben glaubt. So schließt er die Betrachtung: „Dieser Waffenträger fällt selbst. O Tod! wo ist dein Stachel! o Hölle wo ist dein Sieg. Gott aber sey Dank, der uns den Sieg gegeben hat, durch uns[ern] Herrn Jesum Christum." 136

2.5.2 Der Tod Christi als Unmöglichkeit Weil von der freiwilligen Selbsthingabe Christi auch seine menschliche Natur mitbetroffen ist, ist sein Tod noch unter einem anderen Aspekt zu bedenken. Dieser zeigt sich für Hamann in dem zweiten Bericht vom Tod Sauls: „Hier findfen] wir sn. Tod unter ein[em] neuen Gesichtspuncte." 137 In 2 Sam 1 ist, wohl in formaler Anknüpfung an 1 Sam 31, der Tod Sauls in einer Art und Weise dargestellt, die deutlich eine im Sinne der deuteronomistischen Redaktion umfärbende Intention erkennen läßt.138 Ein amalekitischer Krieger berichtet David, wie er Saul auf dessen Wunsch hin getötet habe; er wird daraufhin von David selbst getötet. Wie sich diese literarische Schicht an die ältere Schicht anfügt, ohne sie zu verdrängen, so fügt sich für Hamann hier eine weitere Ebene erkannter Wahrheit dem bisher Erkannten an. Wieder ist der Gegensatz von menschli136

B W 167,5-7 (N 1,106); vgl. 1 Kor 15,55.57. B W 167,20 ( N 1,106). 138 / j i e r Verdacht, daß David und seine Leute in irgendeiner, und wenn auch nur indirekten Form am Tod Sauls beteiligt gewesen sein könnten (was aber historisch nicht ganz unwahrscheinlich ist), soll in dieser Fassung des Berichts ausgeräumt werden. 137

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eher Verwundbarkeit und göttlicher Unsterblichkeit von Bedeutung. Nach dem Bericht in 1 Sam 31 ist die darin abgebildete Selbsthingabe Christi eine vollendete und unbestreitbare Tatsache: „Saul fiel durch ein Schwerdt." 1 3 9 Nach dem zweiten Bericht ,,seh[en] wir ihn sich lehnen auf ein Speer; ist dies nicht d[a]s Speer, das von dem Tode uns[eres] Erlösers die u n g l ä u b i g e n ] Jud[en] u. Heyd[en] überführte?" 1 4 0 Dieser eigenartige Zustand des schon toten und noch mit dem Tode ringenden Saul, der sich aus der Zusammenschau zweier Bibeltexte ergibt, wird für Hamann zum Bild für das Leiden des Gekreuzigten, der trotz seiner menschlichen Verwundbarkeit nicht sterben kann, weil er ohne die den Tod mit sich bringende Sünde ist: „Last uns kein einzig Wort des sterbend[en] Sauls verlieren; v.9. Er ruft s[eine]n Mörder; er frägt ihn, und nachdem er seine Antwort gehört hat, spricht er wiederum zu ihm: Tritt, ich bitte dich auf mich und schlage mich, denn mein Panzerhemd, oder mein durchnähter Rock hindert mich, daß mein Leben noch gantz in mir ist." 141 Diese Deutung von 2 Sam 1,9 beruht möglicherweise auf einem Mißverständnis bei der Lektüre der Englischen Bibel. „Tritt, ich bitte dich auf mich und schlage mich": Dies gibt das „Stand, I pray thee, upon me, and slay m e " 1 4 2 nicht sinngemäß wieder. Der englische Text meint: „Beuge dich über mich (damit ich vor den herannahenden Feinden geschützt bin) und töte mich." Als Begründung für diese Bitte las H a m a n n : „[...] for anguish is c o m e upon me, because m y life is yet whole in me." „Anguish" meint: Angst, Bedrängnis, Enge. O f f e n k u n d i g hat H a m a n n mit „anguish" einfach die Wehrlosigkeit eines am Boden liegenden, in seiner Rüstung hilflos gefangenen Ritters assoziiert. Jedenfalls baut sich seine Deutung völlig auf dem „Panzerh e m d " auf, in das er „anguish" überträgt und welches er sogleich, in Anspielung auf Joh 19,23, mit dem aus einem Stück gewebten Gewand Jesu in Verbindung bringt: „Die Unschuld Jesu, war ein Panzerhemd, das sn. Tod gleichsam, so mächtig er auch war, so groß die Sünde der gantz[en] Welt war, wodurch er ihn reitzte, unmöglich machte. Die Gottheit mit dieser Unschuld vereinigt war dies Panzerhemde, dieser durch u. durch genähte Rock, der sein Leben ganz erhielt, auch nach der Wunde, die ihm Satan, Sünde u. Tod beygebracht hatten. Gott [...] konnte also den Sold der Sünde nicht empfang[en] ohne die Gerechtigkeit selbst zur Grausamkeit in Gott zu verwandeln, ja ohne diese Grausamkeit als eine Gnade [...] zu bitten. Tritt auf mich, und schlage mich."l 4 3

139

BW 167,38 (N 1,106). 1 4 0 BW 167,38-168,1 (N 1,106); zu 2 Sam 1,6. BW 168,5-9 (N 1,107). 1 4 2 Zitiert nach der von Hamann benutzten King James Version. 1 4 3 BW 168,11-20 (N 1,107).

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Man kann nur versuchen, diese Stelle zu verstehen: Die Sünde, die Christus an sich trägt, kann ihn offensichtlich nicht in den Bannkreis menschlicher Schuld und ihrer Todesfolge hineinziehen. Nicht ein biologisches Phänomen, sondern ein theologischer Sachverhalt wird damit beschrieben: Der Tod ist nicht fähig, sich des Christus ohne weiteres zu bemächtigen, weil sich die „Gottheit" dieses Menschen, „vereinigt mit seiner Unschuld", schützend wie ein „Panzerhemd" um ihn legt. Bedeutet die Sünde einerseits eine Bedrohung Gottes, um dessen Rettung willen Christus den Tod auf sich nimmt 144 , so bedeutet seine „Unschuld" zugleich eine Bedrohung und Entmachtung des gottfeindlichen Todes: Sie „[erhielt] sein Leben ganz". Um sterben zu können, muß Christus, wie Hamann formuliert, „die Gerechtigkeit selbst zur Grausamkeit in Gott [...] verwandeln", er muß den Tod, der ihm aufgrund der göttlichen Gerechtigkeit verweigert werden müßte, „als eine Gnade" diesem Gott abverlangen.

2.5.3 Der Mensch als Vollstrecker des göttlichen Heilsplans Stark vereinfacht lautet für Hamann das theologische Problem: Die Sünde könnte, jedoch Gott selber kann Gott nicht töten, d.h. sowohl die hoheitliche Selbsthingabe des eigenen Lebens als auch die Bitte um die „Gnade" des Getötet-Werdens bleiben erfolglos, prallen ab an dem „Panzerhemd" göttlicher Gerechtigkeit. Der erzählerische Duktus der David-Saul-Geschichte liefert hier einen, allerdings fragwürdig anmutenden Ausweg: „Was Gott unmögl. war, was David ein Gräuel war den Gesalbt[en] des HE[rrn] zu tödten; das konnte der Amalekite thun; er erwieß es ihm als eine Gnade, er tratt auf - er schlug ihn - er raubte ihm Krone und d[as] Armband ~ und brachte sie Gott, dem Vater des erwürgt[en] Lammes, dem erwürgt[en] Lamm selbst —"145 Gott braucht den sündigen Menschen, um seinen Weg freiwilliger Selbsthingabe zuende gehen zu können. Was in ihm als das „Geheimnis sr. Menschwerdung" 146 vor der Erschaffung der Welt beschlossen ist, drängt auf die Erfüllung durch die (Unheils-) Geschichte des Menschen hin. Der Mensch kann vollenden, wozu Gott selbst nicht fähig ist, aber zugleich muß er es vollenden, denn er ist für Hamann in seinem Tun und Lassen an Gottes Heilsplan gebunden. Nachdem das Böse bzw. der „Satan" als Todesursache in Gestalt des „Waffenträgers" im Duktus der Typologie schon aus dem Feld geschlagen schien, wird Saul-Christus nun doch das Opfer eines frevelhaften Raubmordes, den er zwar freiwillig auf sich nimmt - das Motiv des Selbstmor144

S. dazu die Ausführung in Kap. 3.4.2. BW 168,20-25 (N 1,107); zu 2 Sam 1,10. 146 BW 398,4 (N 1,292). 145

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des bleibt ja auch in dem zweiten Bericht vom Tod Sauls erhalten - der aber vom Menschen verschuldet ist, obwohl auch dieser nur tut, was ihm zu tun befohlen war (2 Sam 2,9). Daß Gottes Heilsplan einerseits das a priori der Schöpfung darstellt, sich andererseits durch die Bereitstellung oder „Zulassung" der Sünde die Bedingung zur Verwirklichung dieses Planes schaffen muß, läßt die oben aufgezeigte Problematik des Hamannschen Ansatzes noch einmal deutlich werden. Die Sünde vermag es gerade nicht, das Werk der Erlösung infrage zu stellen, sondern ist als felix culpa jene paradoxe „Gnade", die der Mensch dem Erlöser unwissentlich zukommen läßt. Das „Uebel" der Gottesferne, welches am Kreuz überwunden wird, ist für Hamann ein funktionaler Bestandteil seiner Überwindung. Dem entspricht in dem zitierten Abschnitt eine Aussage, mit der Hamann sowohl die Einheit Gottes mit dem Gekreuzigten als auch die Unterschiedenheit von Vater und Sohn in ein Bild faßt 147 : Das „Lamm" ist erwürgt, und es ist doch eins mit dem „erwürgten Lamm", dem der Mörder („die Kinder Israel" 148 ) die Königsinsignien überbringt und von dem er für seine Tat zur Rechenschaft gezogen wird. 149 Es fällt auf, daß Hamann an dieser und an anderen Stellen den Tod Jesu als Tod seiner menschlichen Natur bzw. seines Leibes beschreibt 150 und einen Irrtum darin sieht, „den Rock" mit seinem Träger „für einerley" zu halten und ,,d[as] Schicksal [der*] beyden" zu verknüpfen, wie es „die Jud[en]" taten, die „mit dem Menschjen] den ganzfen] Erlöser vernichtet zu hab[en]" glaubten. 151 Damit bleibt es letztlich bei dem als Paradox zu bezeichnenden Sachverhalt, daß Gott in Christus einerseits den Tod des Sünders stirbt, weil er sein Leben in freier Verfügung „für seine Schaafe läßt", er andererseits aber dem lebendigen Gott lebendig gegenübertritt, was Hamann als ein Auseinandertreten von göttlicher und menschlicher Natur Christi beschreibt. Man könnte dies vielleicht damit erklären, daß Hamann hier eine theologisch problematische Aussage in Kauf nimmt, um dem Wahrheitsgehalt der theologischen Rede vom Tod Gottes am Kreuz Geltung zu verschaffen. Gerettet werden kann der Mensch ja nur, wenn Gott den „Sün147 148 149 150 151

Vgl. Mk 15,34. B W 168,33. Vgl. Apk 5,6.9.12. Vgl. B W 168,27f. B W 98,2-4 (N 1,41), zu Gen 37,33. Dieses Auseinandertreten der beiden Naturen Christi im Kreuzesgeschehen entspräche reformierter Christologie, wie sie beispielsweise Zwingli im Streit mit Luther formuliert, und Hamann rückt hier deutlich in die Nähe des Luther-Antipoden. Die scharfe Kritik Luthers an Zwingiis Christologie lief ja gerade darauf hinaus, daß „meister Hans", wie er in der großen Abendmahlsschrift von 1528 formuliert, seinen „rock" ablegen kann, nicht aber Christus seine göttliche Natur. „Nein geselle, wo du mir Gott hinsetzest, da mustu mir die menscheit mit hin setzen, Sie lassen sich nicht sondern und von einander trennen [...]" ( W A 26,333,6-8; [Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis]).

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der" 152 Christus im Todesgericht vernichtet, ohne sich mit ihm selber zu vernichten. Daß jedoch nicht der „ganze Erlöser" stirbt, sondern nur dessen menschliche Natur, ist ein unbiblischer Gedanke. Die Dynamik der originellen Deutung des Kreuzesgeschehens durch Hamann scheint gebremst durch den Versuch, die ihr innewohnenden Aporien mithilfe des Providenzgedankens zu überbrücken. Christus liefert sich dem Todesgericht aus, kann aber aufgrund seiner „Unschuld" nicht sterben. Also ist es der Mensch, der zwischen dem Wollen und dem Nicht-Können Gottes vermitteln muß. Der Kreuzestod Christi bleibt umgriffen von einer Vorsehung, in der auch der Mensch in seiner Feindschaft gegen Gott einen Beitrag dazu leisten muß, daß die in Gott bereitgestellte Erlösung zur Geschichte wird.

2.6 Zusammenfassung 1. Der von allen drei göttlichen Personen übereinstimmend geäußerte Heilswille wird von Hamann nicht primär als Reaktion auf das Ereignis des Sündenfalls verstanden. 153 Er geht vielmehr der natürlichen und geschichtlichen Welt als ihre unveränderliche Bestimmung immer schon voraus. Gibt es für Hamann „kein Zeichen auf der Erde, das ohne ein Wunder im Himmel geschehen würde" 154 , dann trägt alles Sein den Charakter der Zeichenhaftigkeit, des ,,Übersichhinausgebundensein[s]" 155 . Es weist über sich hinaus auf ein Heilshandeln Gottes, welches ihm sachlich vorausgesetzt ist. Nichts anderes meint Hamann mit der knappen Bemerkung, daß ,,d[as] Werk der Schöpfung sich auf d[as] Werk der Erlösung gründet, und dies auf jenes." 156 2. Diese Dialektik des Verhältnisses von Schöpfung und Erlösung wurde aufgezeigt. Hamann führt das heilsökonomische Handeln auf das Ereignis der Menschwerdung Gottes zurück: Welt und Mensch („Natur) werden einzig zu dem Zweck erschaffen, damit der ewige Heilsratschluß Gottes verwirklicht werden kann („Gnade"). Die supralapsarische Einheit von Schöpfung und Erlösung bringt Hamann insbesondere dadurch zum Ausdruck, daß er die neutestamentlichen Aussagen zur Schöpfungsmittlerschaft Christi aus der Perspektive des Menschen beschreibt, der in Christus an den schöpferischen Eigenschaften Gottes partizipiert. Die Problematik dieses supralapsarischen Ansatzes ist gleichfalls deutlich geworden. Zwar überwindet Hamann die für die altprotestantische Christolo152 153

154 155 156

BW 152,2 (N 1,91). „Nichts als Liebe - in der Schöpfung - im Fall — in der Menschwerdung Gottes -- ja biß in den Schooß der Ewigkeit" (BW 362,14f [N 1,259]). BW 282,29f(N 1,221). E. Büchsei, Biblisches Zeugnis, 81; vgl. E. Metzke, Hamanns Stellung, 25. BW 130,34f (N 1,70).

Zusammenfassung

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gie wichtige Begrenzung der exinanitio auf das Wirken des koyoc, svoapKog und thematisiert konsequent die Entäußerung von Schöpfer und Geist. 157 Daß er auf diese Weise „mit der Kondescendenz Gottes auch im Bereich des I. und III. Artikels Ernst gemacht hat" 158 , hat zwar nicht die Entschärfung des christologischen Paradoxons, wohl aber eine Einebnung der biblischen Inkarnationsaussage zur Folge. Die Inkarnation erscheint bei Hamann als die der Fleischwerdung des Geistes gleichgeordnete, der zweiten Person Gottes zu appropriierende geschichtliche Ausformung der exinanitio, die für alle Personen der Trinität gleichermaßen wesentlich ist. 159 3. Auch den Gegensatz zwischen Schöpfung und Erlösung reflektiert Hamann aus dieser supralapsarischen Perspektive. Scharf betont er die Unvollkommenheit der Schöpfung und versucht, diese auf ihre Hintergründe hin zu beleuchten. In diesem Zusammenhang erweist sich insbesondere seine Identifizierung von „endlichem] Sein" und „Uebel" als aufschlußreich. Die in Christus verbürgte Einheit von Schöpfung („Daseyn") und Erlösung („glückliches Daseyn") ist für ihn nicht denkbar ohne die ontologische Differenz von endlichem und ewigem Sein, die er als supralapsarischen Ursprung der Sünde begreift und zu der auch der Sündenfall nicht in einem kausalen, sondern lediglich in einem abbildenden Verhältnis steht. Ist die Menschwerdung die Voraussetzung für das heilsökonomische Handeln der göttlichen Personen, dann ist es auch die von dem Begriff des „endlichen Wesens" nicht zu abstrahierende Sünde, die sich im Gegensatz von Schöpfung und Erlösung ebenso manifestiert wie im zeitlichen Auseinandertreten von Verheißung und Erfüllung. Die Ontologisierung und Depersonalisierung des biblischen Sündenverständnisses ist zwar verdeckt durch traditionelle, dogmatisch korrekte For157

158 159

H. Schreiner hat darin Hamanns eigentliche Bedeutung für die Theologiegeschichte gesehen (vgl. Menschwerdung Gottes, 52). Ebd. Vgl. BW 151,37-152,8 (N 1,91). F. Blanke formuliert: „Die Niedrigkeit Gottes im Sohn ist nur ein Sonderfall für die allgemeinere Tatsache, daß Gott sich immer, wenn er sich offenbarte, zugleich erniedrigt hat" (Hamannstudien, 30). - Dies erklärt beispielsweise, warum die neutestamentlichen Texte in den „Biblischen Betrachtungen" eine im Vergleich zu den alttestamentlichen so auffallend flüchtige Behandlung erfahren: Hamann kann in ihnen nur wenig entdecken, was im AT nicht schon viel anschaulicher gesagt worden wäre, und dasjenige, was ihm z.B. aus den Paulusbriefen wichtig ist, zieht er deshalb lieber zur Erläuterung alttestamentlicher Texte heran. Das Alte Testament ist Christus-Zeugnis in zweifacher Hinsicht; es prophezeit das Kommen des Erlösers, welches aus der neutestamentlichen Sicht des Glaubens erfüllt worden ist, und es bezeugt, eben weil es nur von dieser Erfüllung verstanden werden kann, daß Gottes verheißendes Wort und erfüllende Tat zwar zeitlich, nicht aber sachlich auseinandertreten können. Deshalb liest Hamann das Alte nicht nur vom Neuen Testament her, sondern das Alte wie das Neue Testament von der „Menschwerdung Gottes" her, die Voraussetzung sowohl für die „Schöpfung" als auch für die „Erlösung" ist. Vgl. dazu K. Gründer, Figur, 95 und BW 53 (Einführung).

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mulierungen. Sie macht gleichwohl deutlich, daß sich bei Hamann die altprotestantische Unterscheidung von (göttlicher) Inkarnation und (menschlicher) Erniedrigung auf die Unterscheidung zweier ontologischer Ebenen verlagert, in die sich das von ihm beibehaltene 2-Naturen-Schema einfügen läßt: Nämlich auf die Unterscheidung zwischen der - im theologischen Sinne sarkischen Wirklichkeit des geschöpflichen Bildes (alles endliche Sein ist menschlich) und der geistigen Wirklichkeit der im Bild geoffenbarten Heilstat Gottes (alles endliche Sein ist göttlich). Natürlich ist „die Erlösung der Welt" auch für Hamann „ein größeres Werk als die Schöpfung" 160 , die jene verheißt und verlangt. Weil für Hamann aber „alle Begebenheiten [...] Erfüllungen des Göttl. Wortes und seines geheimen Willens [sind]" 161 , muß auch die der Erlösung entgegengesetzte Wirklichkeit einen Sinn haben. In der heilsökonomischen Koinzidenz von göttlichem Tun und Erleiden, wie sie am Kreuz zum Ausdruck kommt, versinnbildlicht sich der Sieg Gottes über die Sünde, der allerdings nicht ohne das Mitwirken des Sünders errungen wird. 4. Die Einheit von unüberwindbarer Unterschiedenheit und unaufhebbarer Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch beschreibt den dem christologischen Dogma entlehnten Kern der Hamannschen Ontologie. Dieser Kern enthält die für Hamann wichtige Erkenntnis, daß die unüberwindbare Unterschiedenheit von verheißendem Typos und verwirklichtem Heil von dem Bibelleser einerseits immer neu überwunden werden muß, solange er noch von den „Gränzen des Orts und der Zeit" 162 umgeben ist, daß diese Unterschiedenheit andererseits aber auch mit Hilfe der Typologese überwunden werden kann, sofern der Christ an der Grenzenlosigkeit Gottes partizipiert, in dessen Wort Verheißung und Erfüllung eins sind. Das spannungsvolle Beieinandersein von verwirklichter und geschichtlich noch zu verwirklichender Einheit von Gott und Mensch ist der von Hamann als unauflösbar empfundene Grundwiderspruch des Wirklichen, den er später mit dem hippokratischen „ n a v t a 0 E I A Kai av0pa>juva IIANTA" 1 6 3 zum Ausdruck bringen wird.

160 161 162 163

BW 127,22f (N 1,67). BW 282,28f (N 1,221); zu Apg 2. BW 231,15f(N 1,170). N II,105,24f (Wolken).

3. Menschwerdung und Erlösung 3.1 Zur Eigenart des Verständnisses von Erlösung in den Londoner Schriften Hamanns Verständnis von Erlösung1 ließe sich auf dem Hintergrund des bisher Erarbeiteten formal als eine Vermittlung der Wirklichkeit des verheißenden Bildes mit der Wirklichkeit des darin abgebildeten Heils in der Person des Glaubenden beschreiben. Das heißt, daß die dem Menschen zugedachte Existenz, die er als Geschöpf bestenfalls präfigurieren kann, reale Gestalt annimmt. Zur Erhellung dieses Gedankens ist zunächst daran zu erinnern, daß nach Hamann nicht nur die alttestamentlichen Heilsverheißungen, sondern auch deren Erfüllung durch das Christusgeschehen in zeitlicher Hinsicht von der Wirklichkeit des nichtgläubigen Bibellesers unendlich entfernt sind. Die biblische Geschichte ist aufgrund ihrer Geschichtlichkeit nicht unmittelbar präsent, sondern durch ihre Abwesenheit definiert. Weil für Hamann jedoch die Geschichtlichkeit im wesentlichen das ist, was die Welt von Gott trennt, muß auch von dem ,,große[n] Werk der Erlösung"2 gelten, was für die Gesamtheit des heilsökonomischen Handelns Gottes gilt: „Auch dies löschte die Sünde aus." Das „Werk der Erlösung" bedarf deshalb wie die ganze Schöpfung der Wiederherstellung, denn bedeutungslos ist seine objektive Faktizität solange, als der Mensch es nicht glaubend für sich in Anspruch nehmen will oder, wie Hamann formuliert, solange er dem „Geist Gottes" nicht „Erlaubnis" erteilt, „unter ein Dach zu kommen, das durch seine Botschaft und Geschäfte glücklich werden sollte."3 Erlösung geschieht, so hat Hamann es erlebt, wenn die biblische Heilsverheißung in der Existenz des Lesers ihre Erfüllung erfährt, was freilich allein „der Geist Gottes [...] durch den Glauben" 4 bewerkstelligt. Der Ort dieses Geschehens ist bei Hamann die „Seele". Er nennt sie die „Schaubühne"5, auf der die im Dunkel der Vergangenheit versunkene Heilsgeschichte wieder zur lebendigen Gegenwart werden kann. Ist Gott „nicht nur Herr des Zukünftig[en], sondern auch des Vergangenen]", so kann er auch 1

Zum Begriff verweise ich auf die im vorigen Kapitel (Anm. 52) gegebene Übersicht. Bedeutungsgleich verwendet Hamann auch den Begriff „Verklärung": B W 370,40 ( N 1,268); vgl. B W 374,13 (N 1,271); B W 375,21 (N 1,272); B W 376,21 ( N 1,273). Als Grundlage hierfür dient Mt 1 7 , l f f , einer der für die Betrachtungen wichtigsten neutestamentlichen Texte, „wobei 2 Kor 3,18 und Phil 3,21 mitgelesen werden wollen" ( B W 5 2 [Einführung]). Primär versteht Hamann unter „Verklärung" die neuschöpferische Verwandlung bzw. Umkehrung eines davon betroffenen Seins oder Verhältnisses, wobei das in diesem Sinne Verklärt-Werden immer auch ein Offenbar-Werden des Verklärten bedeutet (vgl. O. Bayer, Umstrittene Freiheit, 73f [„Selbstverschuldete Vormundschaft"]).

2

Dieses und das folgende Zitat: B W 353,5f ( N 1,250). B W 353,15-20 ( N 1,250). B W 353,6 (N 1,250). B W 377,37f; 378,4 ( N 1,274); 403,8f ( N 1,297).

3 4 5

70

Menschwerdung und Erlösung

bewirken, daß „dasjenige w a s im Strom der Zeit fortgetrieb[en] ist, auf seinen Ruff zurückkommt und v o n neuen erscheint." 6 „Alle Wunder der heil. Schrift g e s c h e h [ e n ] in unserer Seele" 7 , den „jede biblische Geschichte ist eine W e i s sagung — die durch alle Jahrhunderte ~ und in jeder S e e l e des M e n s c h e n erfüllt wird." 8 Hamann spricht in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g nicht nur v o m Sündenfall, sondern, mit deutlich m y s t i s c h e m Einschlag, auch v o n der Z e u g u n g und Geburt Christi in der Seele" des Erlösten 9 bis hin zu seiner MitK r e u z i g u n g 1 0 und Himmelfahrt. 1 1 D i e biblische Geschichte z w i s c h e n Sündenfall und Kreuzesgeschehen wird zur biographisch unverwechselbaren Heilsgeschichte dessen, der sie liest, ja sie wird erst in dieser Transfiguration durch die individuelle Lebensgeschichte des Lesers erfüllt. 1 2 Dieser erfährt

6 7 8 9

10 11 12

BW 231,24-27 (N 1,170), zu Koh 3,15. BW 139,2f (N 1,78). BW 421,3f(N 1,315). Vgl. BW 196,34f (N 1,135); vgl. BW 196,29. Hamann greift häufig Motive aus der pietistischen Braut-Mystik auf. Die „Seele" des natürlichen Menschen bezeichnet er als „rechtmäßiges Weib" Gottes (BW 259,15 [N 1,199]), um die verwandtschaftliche Beziehung des Menschen zu Gott zu beschreiben. Darüber hinaus verwendet er für die Erlösung das klassische Bild der Hochzeit bzw. Ehe der Seele mit Christus, der sich „als die rechtmäßige, die keusche, die zärtliche Eigenthümerin unseres Herzens anfbietet], als diejenige, die im Stande der Unschuld die Braut unserer Seele war und es sich so viel hat kosten [lassen], um ihre Ansprüche zu behaupten und durch ihre beständige Liebe, durch ihren Gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Creutz, unsere Gegenreizung und ein Gegengeschenk unseres Gehorsams zu gewinnen" (BW 218,4-10 [N I,156f]). Vgl. BW 358,19ff (N I,255f). Vgl. BW 378,10-14 (N 1,275). Vgl. 374,15ff (N 1,271). Exemplarisch läßt sich dieser Transfigurationsgedanke aufzeigen anhand einer Einzelbetrachtung mit der Überschrift „Am Himmelfahrts-Tage" (BW 373-379 [N 1,270-276]). Als biblischer Leitgedanke dient 1 Kor 4,9, wo Paulus seine apostolische Existenz als ein kosmisches „Schauspiel" thematisiert, in dem er zum Gespött von „Welt", „Engeln" und „Menschen" geworden sei. Hamann transponiert den Gedanken auf seine Situation. Die „Schaubühne" des Kreuzes identifiziert er als „Schaubühne" seiner eigenen Lebensgeschichte, die von ihm erlebte Bekehrung erscheint wie ein Wechsel der Regie auf der Bühne der eigenen „Seele". Sie, so notiert Hamann in einer gebetsähnlichen Passage, „ist lange genug eine Schaubühne der Welt, der Engel und Menschen gewesen", auf der „die Welt [...] ihre Lust und Trauerspiele [...] gegaukelt [hat]" (BW 377,37-39 [N 1,274]). Ein „Schlachtfeld" des „Satans" ist sie gewesen, eine „Schaubühne der Sünde und des bittern und schweren Leidens, wodurch selbige gebüst werden muste, und der Frevel der Schädelstätte ist lange genug in derselben getrieben word[en]" (BW 377,39-378,7 [N 1,274]). Nun jedoch, nachdem die „Seele" eine „Schaubühne der Welt" gewesen ist in dem Sinne, daß diese das Geschehen darauf bestimmte, ist sie durch die Erlösung zu einem ,,neue[n] Schauplatz der Welt, der Engel und der Menschfen]" geworden, jetzt aber im Sinne von 1 Kor 4,9: nämlich „ein Schauspiel" ßr die „Welt", für „Engel" und „Menschen", eine Narrenposse vor dem aufgeklärten Publikum, welches einer solchen Christus-Begeisterung nur mit Spott, mindestens jedoch mit Verständnislosigkeit begegnen wird. Aus einem Verfolger Christi, der sich als „Brudermörder des eingebogenen] Sohnes" (BW 343,39 [N 11,41]) für den „Frevel der Schädelstätte" mitverantwortlich weiß, wird einer, der wie Paulus im Namen des Gekreuzigten nunmehr selber Verfolgung erleidet.

Zur Eigenart des Verständnisses von Erlösung

71

sich nicht mehr nur als passiver „Zuschauer" 13 und „Schauspieler", sondern er wird selber zum mitverantwortlichen „Unterschreiber" des göttlichen „Schauspiels" 14 , d.h. er ist nicht mehr nur als der von Gott getrennte Mensch, ßr den und durch den Gott handelt, sondern auch als der mit Gott geeinte Mensch zu bedenken, der, von Christus vertreten, bei der Planung und Durchführung des Erlösungswerkes beteiligt ist 15 - es sei nur an die Ausführungen zur Teilhabe des Menschen an Schöpfung und Erlösung im letzten Kapitel erinnert. Mit dieser, wie ich es nennen möchte, ixetaßaaig eines ,,endl[lichen] Wesen[s]" 16 in das ahko yevoq der Zeitunmittelbarkeit Gottes 17 ist der Kern des Hamannschen Erlösungsverständnisses skizziert, um dessen Entfaltung es im folgenden gehen wird. Dabei darf der von pietistischer Topik geformte „Heilsindividualismus" 18 der Londoner Schriften nicht darüber hinwegtäuschen, daß dieses Verständnis die Dimension einer rein innerlichen Heilserfahrung deutlich überschreitet. Zwar erscheint hier die „Seele" als interner Mikrokosmos der supralapsarischen Heilswirklichkeit, deren absolute Präsenz die infralapsarische Welt gleichsam versinken läßt: „Die ganze Schöpfung verschwindt, alles ist nichts, außer Gott und ich." 19 Aber Hamann hält zugleich daran fest, daß sich diese Wirklichkeit ausschließlich durch das verbum externum mitteilt und erschließt, welches der nichtigen Welt des Fleisches angehört: Gott „ist, wo sein Wort ist." 20 Damit bleibt die subjektive Erfahrung göttlicher Zeitunmittelbarkeit sachlich gebunden an die Selbstmitteilung Gottes im Wort der Bibel. Entsprechend beschreibt Hamann sein eigenes Erleben im Bild der Rettung des Propheten Jeremia, der mithilfe von Lumpen aus einer finsteren Grube ans Tageslicht gezogen wird. 21 Diese Geschichte ist für ihn deshalb so wichtig, weil sich in ihren Bildern nicht nur die Eigenart der biblischen Offenbarung („Lumpen") und die Tiefe des menschlichen Elends („sumpfiches Gefängnis") spiegelt, in welches sich Gott mit seinem Wort hineinbegibt, sondern auch das wunderbare Geschehen des Herausgezogenwerdens, das Hamann in zahllosen Anspielungen auf 1 Kor 15,57 als den unverdienten „Sieg" des Glaubens über Sünde und Tod emphatisch bejubelt. 22 Die Erniedrigung Gottes, der seine Gegenwart an die Kreuzesgestalt des Bibelwortes bindet, zielt auf die 13 14 15

16 17 18 19 20 21 22

Dieses und die beiden folgenden Zitate: B W 373,29f ( N 1,270). B W 373,27 ( N 1,270). Vgl. insbes. B W 401,36-402,4 (N 1,296) und meine Interpretation dieser Stelle im 5. Abschnitt dieses Kapitels. BW 363,24 ( N 1,260). Vgl. B W 231,23f ( N 1,170). E. Büchsei, Biblisches Zeugnis, 97. B W 264,13f ( N 1,204); vgl. B W 109,27-29 (N 1,49). B W 124,24 (N 1,64). Vgl. B W 59,25-30 ( N 1,5); vgl. Jer 38,11-13. Vgl. dazu B W 51f („Beobachtungen zu den Bibelzitaten").

72

Menschwerdung und Erlösung

Erhöhung des Menschen, der die „Lumpen", die ihm mit der Bibel dargeboten werden, nicht verachtet, sondern glaubend danach greift. „Wie menschlich, wie schwach und niedrig macht sich Gott unsertwegen]? Wie gering macht er sich selbst und wie stoltz den Menschen. Er wurde selbst ein Mensch, um uns zu Götter zu mach[en]." 23 Ähnlich steile Aussagen, die die Erlösung als commercium admirabile beschreiben, finden sich in den Betrachtungen häufig. 24 Dabei denkt Hamann jedoch nicht an eine Theopoiesis des Menschen im Sinne eines Aufgehens in Gott. Vergottung bedeutet für ihn, daß der durch die Sünde entmenschte Mensch 25 zu einem „Gott entsprechenden Menschen" 26 und in dieser Entsprechung zu einem an Gottes Sein partizipierenden Menschen wird. Erlösung läßt sich dann auch als „Theilnehmung der Göttl. Natur" 27 beschreiben, als ein dem Sein Jesu Christi entsprechender Austausch von irdischer (Verheißungs-) und göttlicher (Erfüllungs-) Wirklichkeit in der Person des Menschen. „Diese Theilnehmung", schreibt Hamann, „war der Endzweck der Menschwerdung Gottes, und [es*] sind beyde gl[eich] große Geheimnisse, deren Vorbild aber in dem Wesen des Menschen und den Theilen desselben [an*]gelegt ist. Eine ungleich vollkommenere Einigkeit als die zwisch[en] Leib und Seele herrscht. Wenn jene in Vergleichung Gottes selbst nichts als ein Hauch Gottes ist; wie groß muß Gott selbst seyn, wie groß müssen wir durch ihn werd[en], wie seelig in ihm. Was der Leib gegen die Seele, ein Kloß geg[en] den Hauch Gottes [ist,*] dies ist die Natur des Menschen, alle vereinigte, geläuterte, verklärte Kräfte der Menschheit gegen die Gottheit."28 Dieser Text bestätigt für den soteriologischen Kontext, was bisher allgemein für das Verhältnis von Schöpfung und Erlösung herausgearbeitet wurde: Es lassen sich je ein positiv anknüpfendes und ein kritisch infrage stellendes Moment deutlich voneinander unterscheiden. Der Mensch ist zunächst ein „Vorbild" dessen, was Gott in Christus getan hat und was ihm als Frucht dieses Tuns verheißen ist. So läßt sich schon von dem menschlichen „Wesen, welches durch die geheimnisvolle Vereinigung von „Leib und Seele" definiert 23

24

25

26 27 28

BW 356,21-24 (N 1,253); aus den „Gedanken über d[as] Lied: Ich bin Gottes Bild und Ehr". Vgl. BW 375,17-25 (N 1,272); BW 103,16-20 (N 1,40); BW 124,24-30 (N 1,64); BW 152,3-8 (N 1,91); BW 186,16-21 (N 1,125) u.ö. - Interessanterweise lassen sich hier Gemeinsamkeiten zwischen dem frühen Hamann und dem frühen Luther feststellen, bei dem sich vergleichbare Formulierungen finden, wie z.B. in einer Weihnachtspredigt von 1514: „Ideo Deus fit homo, ut homo fíat Deus" (WA l;28,27f). „Was für ein Ungeheuer ist der Mensch und was für ein Ungeheuer von einem Unmenschen ein todter Christ!" (BW 256,30 [N 1,196]). Vgl. BW 131,25 (N 1,71): „Der Christ allein ist ein Mensch [...]." E. Jüngel, Der Gott entsprechende Mensch, dort insbes. 316f. BW 370,17f (N 1,268); vgl. BW 171,14f (N 1,110). BW 370,17-24 (N 1,268; Betr. zu: „Mein Geist und Sinn ist hoch erfreut").

Zur Eigenart des Verständnisses von Erlösung

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ist, auf die „Menschwerdung" und deren „Endzweck" schließen, auch wenn die „Theilnehmung der Göttl. Natur" eine im Vergleich zu dieser Vereinigung „ungleich vollkommenere Einigkeit" zwischen Gott und Mensch ermöglicht. Erlösung wäre dann zunächst ein in positiver Weise an die Schöpfung anknüpfendes Geschehen, bei dem der Akzent weniger auf der Neuschöpfung von Welt und Mensch als vielmehr auf der Vollendung dessen liegt, was „in dem Wesen des Menschen und den Theilen desselben" bereits angelegt ist. Zugleich gilt für Hamann: Das menschliche „Wesen" ist zwar in seiner Zweiheit von „Leib und Seele" ein „Vorbild" für die gottmenschliche communicatio, wird jedoch von dem darin Abgebildeten unendlich übertroffen. Nichts ist der „Leib" gegen die „Seele", nichts ist die „Menschheit" selbst in ihren höchsten Erscheinungsformen „gegen die Gottheit". Die Sünde dehnt den Abstand ins Unendliche aus, und entsprechend bedeutet für Hamann die Erlösung immer auch eine „Vernichtung" 29 der Sünde und der sarkischen Wirklichkeit. „Wir", schreibt Hamann, sind „Kinder eines Königs, eines königl. Geschlechts, eines höheren Ranges" 30 , „[...] den wir niemals unserer Bestimmung nach in der Schöpfung würden haben erreichen können." 31 Die Erlösung ist damit auch als eine die Schöpfung kritisch infrage stellende und sie zugleich unendlich übertreffende Wirklichkeit reflektiert, und entsprechend finden sich in den Londoner Schriften Aussagen, die die Erlösung als ein neuschöpferisches, Welt und Mensch radikal verwandelndes Geschehen thematisieren und damit stärker das Moment der Differenz von Schöpfung und Erlösung betonen. Sowohl das positiv anknüpfende als auch das kritisch infrage stellende Moment der communicatio müssen beachtet werden, will man der Eigenart des Hamannschen Verständnisses von Erlösung gerecht werden. Ich möchte zunächst zeigen, welche Auswirkung diese dialektische Bestimmung des Verhältnisses von Schöpfung und Erlösung auf Hamanns Sicht des Menschen hat. In einem weiteren Schritt wird zu zeigen sein, daß diese Bestimmung zugespitzt in Hamanns Bestimmung des Verhältnisses von (abbildender bzw. propädeutischer) Vernunft und (darin sich abzeichnendem) Glauben begegnet. Erst auf dem Hintergrund des hier zu erhebenden Verständnisses von Glauben werden dann die verschiedenen Formen der Teilhabe des Erlösten an der göttlichen Natur darzustellen sein.

29 30 31

Vgl. BW 239,26 (N 1,178); zu Ez 37,6. BW 214,17f(N 1,153). BW 294,10-12 (N 1,232).

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Menschwerdung und Erlösung

3.2 Die Wirklichkeit des Menschen als Figur der communicatio Als ein mit Gott in besonderer Weise verbundenes Wesen 3 2 bildet der Mensch die ihm zugedachte Heilswirklichkeit ab. Zur „Theilnehmung der Göttl. Natur" 33 ist er bestimmt, und dieses Bestimmt-Sein läßt sich für Hamann in dem dichotomischen Wechselverhältnis ablesen, welches er später im Gespräch mit Herder mit dem Bild einer ,£he zwischen so entgegengesetzten Naturen als der äußere und innere Mensch, oder Leib und Seele" 34 beschreiben wird.

3.2.1 Das Verhältnis von Leib und Seele Der Mensch ist das mikrokosmische 35 „Meisterstück der körperlichen] Welt" 36 . Aus „Staub" wird er „gemacht" 37 , und so ist er zunächst dem irdischen Sein verhaftet, ein „Kloß geg[en] den Hauch Gottes" 38 . Jedoch ist der Mensch, wie Hamann in einer Betrachtung zu Gen 2,7 betont, nicht nur eine „Maschine von Wunderwerken" 39 , sondern ein vom göttlichen Schöpferhauch beseeltes Wesen. Seine „Seele" ist „diejenige Natur", die „Gott nahe zugehört, mit ihm nahe verwandt ist." 40 Das in Gen 2,7 erzählte Anhauchen Gottes wird für Hamann zum „sinnlichsten u. einfachsten] Bilde" 41 für diese Verwandtschaft; es bringt die den Menschen von der „übrigefn] Schöpfung" 4 2 unterscheidende „Wichtigkeit" 43 ebenso zum Ausdruck wie diejenige „Abhängigkeit" vom Schöpfer, die er mit allen Kreaturen gemein hat. Doch versteht Hamann den Vorgang des Anhauchens, mit dem der Schöpfer sein Geschöpf zum Leben erweckt, auch als Hinweis auf den Beginn der gottmenschlichen Gemeinschaft durch den Empfang des Heiligen Geistes. Zwar gehört die physische Lebendigkeit des Menschen für sich genommen schon zu den „Wunderwerken" des Schöpfers. Ihr „gröste[s] Geheimnis" 44 besteht jedoch darin, daß sie Figur des dem Menschen verheißenen Lebens und damit aller „Früchte seiner großen Erlösung" ist, die „unser verklärte[r] 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44

Vgl. BW 73,31ff (N 1,15); BW 153,1-5 (N 1,92). S. Anm. 27. N 111,40,10-12 (Philolog. Einfälle und Zweifel). „Gott hat aus Staub [...] einen Spiegel der großen Welt gemacht" (BW 73,5f [N 1,15]). BW 72,32 (N 1,14). BW 73,5f (N 1,15). BW 370,24f (N 1,267); vgl. BW 295,26-29 (N 1,234) und dazu Rom 7,24. BW 73,5f (N 1,15). BW 73,33f. BW 73,15. BW 73,20f. Dieses und das folgende Zitat: BW 73,14. Dieses und die folgenden zwei Zitate: BW 73,22-25 (N 1,15).

Die Wirklichkeit des Menschen als Figur der communicatio

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Heyland [...] in eben dem Bilde eines geheimnisvollen] Anhauchens sn. Jüngern mittheilte." Die Erschaffung des Menschen aus Erde und göttlichem Hauch verdichtet sich zum Bild seiner Bestimmung zur Überwindung einer rein irdischen Existenz durch den Geist Gottes, der er entsprechen und die er verfehlen kann. „So wie unsere Vereinigung des Körpers u. der Seele mit dem Othem des leibl. Lebens verbunden] ist u. beyde zugleich] auffhören, so besteht das geistl. Leben in der Vereinigung mit Gott u. ein geistl. Tod in der Trennung beyder." 45 Das Miteinander von leiblicher und seelisch-geistiger Existenz weist den Menschen aus als ein Geschöpf des menschgewordenen Schöpfers, und von diesem Ursprung her wird auch das ihm gesetzte Ziel erkennbar. Die „Richtung" 46 , die der Mensch einschlagen muß, damit er seiner Bestimmung gemäß „vollkommen und glückl. werden kann", ist ihm nach Hamann durch seine Herkunft vorgegeben, und auch wenn er diese „Richtung" wegen der Sünde nicht einhalten wird, bleibt er doch auf seine Bestimmung zur communicatio bezogen. „Jeder Sünder trägt d[as] Ebenbild des gekreutzigten Heylandes an sich" 47 , so lautet der Satz, in dem Hamann diesen Gedanken auf die Spitze treibt. Die Sünde kann die Christusebenbildlichkeit des Menschen nicht zerstören; auch wenn der Mensch sich die Gottgleichheit anmaßt 48 , ist er doch eine Figur der ihm zugedachten Gottgleichheit, ein „Ebenbild" oder „Spiegel" jenes Wechsels von Menschwerdung und Vergöttlichung, „deren Vorbild [...] in dem Wesen des Menschen und den Theilen desselben [an*]gelegt ist." 49 In der philosophischen Terminologie der „Brocken" heißt das: Wenn „die Wahl nicht nur des Guten sondern des Besten, ein Gesetz unseres Willens ist" 50 , folglich „der Bau jedes Geschöpfes [...] sich auf seine Bestimmung [bezieht]", dann müssen die sich diesen Willen zu erfüllen suchende „Selbsterkenntnis" und „Selbstliebe" 51 des Menschen trotz ihrer Verkehrtheit in einem Zusammenhang gesehen werden mit der in ihrer „Verborgenheit" 52 so rätselhaften, ja fragwürdigen „Weisheit u. Liebe" Gottes. Der natürliche Drang des Menschen zu ,,höchste[r] Glückseeligkeit" 53 mag sich in einem noch so heillosen Hochmut Ausdruck verschaffen. Er bleibt für Hamann auf geheimnisvolle Weise eine Figur der menschlichen „Bestimmung", zugleich aber auch ein Gegenbild des ihm ganz und gar entgegengesetzten Dranges göttlicher Demut. 45 46 47 48 49 50 51 52 53

B W 73,27-31. Dieses und das folgende Zitat: B W 73,35f. B W 274,14f ( N 1,213), in einer Betrachtung zu Lk 10,25-37. Vgl. B W 239,14-17 (N 1,178). B W 3 7 0 , 1 9 f ( N 1,268). Dieses und das folgende Zitat: B W 410,28-30 ( N I,302f; Brocken § 2). Vgl. B W 408-410 ( N 1,300-302; Brocken § 1). Dieses und das folgende Zitat: B W 411,9f (N 1,303; Brocken § 3) B W 410,30f ( N I , 303; Brocken § 2).

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Menschwerdung und Erlösung

3.2.2 Via negationis und via eminentiae „Was", fragt Hamann, „kann uns einen wunderbarem und geheimem Begriff geben von Gottes Unveränderlichkeit, überschwenglichen Größe und unerforschlichen Hoheit als diese Vernichtung aller Menschlichen Begriffe oder diese Uebersteigung derselben?" 54 Dieser Weg zur Gotteserkenntnis kennzeichnet auch Hamanns Vorstellung von Erlösung. Es ist eine Wirklichkeit, die aufgrund der Andersartigkeit Gottes alle menschlichen Vorstellungen davon entweder vernichtet oder übersteigt. Als Geschöpf ist der Mensch mit Gott „nahe verwandt" 55 , als „endl. Wesen" 56 ist er unendlich von ihm entfernt. So ist für Hamann die „Vereinigung unserer Seele mit dem Leibe" 57 zwar ein „Vorbild", welches die „ungleich vollkommenere Einigkeit" 58 zwischen Gott und Mensch ankündigt. Aber das Verhältnis von Leib und Seele kann auch ein Bild für die Geschiedenheit von Gott und Mensch sein. Denn „was der Leib gegen die Seele, ein Kloß geg[en] den Hauch Gottes [ist,*] dies ist die Natur des Menschen, alle vereinigte, geläuterte, verklärte Kräfte der Menschheit gegen die Gottheit." 59 Oder: „Wie die Schranken unserer Glieder, und der sinnlich[en] Werkzeuge nebst ihr[en] Empfindung[en] sich gegfen] den Schwung verhalten, dessen unsere Seel[en] hier schon fähig sind; was für übersteigende Vorstellung[en] müssen wir uns von einem Wesen mach[en] ~ das in Gott Eins seyn soll, wie der Vater im Sohn und der Sohn im Vater." 60 Das Miteinander von „Leib" und „Seele" ist immer auch ein Gegeneinander 61 , typisch für das, wie Hamann später sagen wird, „unendliche Misverhältnis des Menschen zu Gott" 62 . Für den frühen Hamann jedenfalls ist die seelische Natur des Menschen seiner leiblichen weit überlegen, so daß die dem Menschen zugedachte „Vereinigung mit Gott" 63 als eine unendliche Steigerung dieser Überlegenheit vorgestellt werden kann. Das menschliche „Vorstellung[enj" eigentlich „übersteigende" Moment der Erlösung wird auch anschaulich in dem gleich54

55 56 57 58 59 60 61 62 63

BW 309,9-12 (N I, 248); zu Apk 1,4. Hamann illustriert die „Uebersteigung" am Beispiel der „Ewigkeit Gottes", die „uns nicht anders begreiflich gemacht werden [kann], als durch die Theile der Zeit, durch eine Verbindung dreyer Augenblicke, die wir aus Unvollkommenheit unter einander vergleichen und unterscheiden müssen" (BW 309,1-4). Für die via negativa verwendet er das Beispiel der „Unveränderlichkeit Gottes", die „uns nicht anders als durch die Vergänglichkeit irrdischer Dinge deutlich gemacht werden [kann]" (BW 309,4-7; zu Jak 1,7). S. Anm. 40. BW 363,24 (N 1,260). BW 7 3 , l l f (N 1,15). BW 370,20f(N 1,268). BW 370,24-26 (N 1,268). BW 370,26-32 (N 1,268; Betr. zu: „Mein Geist und Sinn ist hoch erfreut"). Vgl. BW 133,2-4 (N 1,72) und BW 295,29-34 (N 1,234). N 111,312,36f („Golgatha und Scheblimini"). BW 73,30 (N 1,15).

Teilhabe an göttlicher Allwissenheit

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sam seelischen „Schwung", durch den sich der Mensch als geistiges Wesen über seine leibliche und irdische Bedingtheit hinausschwingen kann. 64 Hamanns Verständnis von Gottesebenbildlichkeit ist von der Dialektik seines Bildbegriffes bestimmt. Auch im anthropologischen Kontext ist das Bild Ausdruck nicht nur von Einheit, sondern auch von unendlicher Geschiedenheit zwischen gezeigter und abgebildeter Wirklichkeit. „Die Größe uns[erer] Natur" 65 , über die der Londoner Hamann noch so unbefangen „erschrecken" kann, ist eine auf Erfüllung hin angelegte Größe, eine „Prophezeyung der höchsten Glückseeligkeit", die sich selber nicht geben kann, was sie verheißt. Der Mensch ist auf Erlösung durch den neuschöpferischen „Hauch" Gottes angewiesen, für die er in seiner leibseelischen Existenz wohl ein Bild, aber eben auch nur ein Bild ist. Dieses bezeugt die dem Menschen verheißene Einheit mit Gott als Ergebnis einer Vereinigung von zwei schlechterdings gegensätzlichen, durch die Sünde voneinander geschiedenen Partnern.

3.3 Teilhabe an göttlicher Allwissenheit Das Verhältnis von Erfüllung, „Vernichtung" und „Uebersteigung" 66 der menschlichen Wirklichkeit durch die Erlösung ist nun zu verdeutlichen anhand derjenigen Aussagen in den Londoner Schriften, die Hamann zum Verhältnis von menschlichem Geist bzw. Vernunft und Glauben macht. 3.3.1 Geschöpfliche communicatio von menschlichem und göttlichem Geist und ihre Grenze Den „Geist der Weisheit" 67 sieht Hamann bei der Lektüre des Alten Testaments nicht nur wirken als den, der „Moses die geheime Geschichte" von der „Schaffung u. Erlösung" des auserwählten Volkes eingab. Sondern er „erfüllte" 68 auch, wie Hamann in einer Betrachtung der in 1 Kön 7 erzählten 64

Aber dieser Gedanke hat noch eine andere Seite. Die Seele übertrifft den Leib zwar an „Schwung". Je höher sie sich jedoch schwingt, desto mehr zeigt sich ihre Gottwidrigkeit. Daß sie ihrem eigenen Schwung noch nicht zum Opfer fiel wie „höhere, u. leichtere Geister", verdankt sie dem „Leib", den Hamann als ein „Kleid der Seele" bezeichnet, das „die Blöße und Schande derselben [deckt]. [...] Die Hinderniß, die uns ein Kleid giebt, d[as] uns ein wenig schwerer [macht] [...], erstreckt sich nicht sowohl auf d[as] Gute, in Ansehung der Seele ~ als in Ansehung des Bösen. Wie abscheulich würde der M[ensch] seyn vielleicht wenn ihn der Leib nficht] in Schranken hielte" ( B W 417,11-22 [N 1,309], Brocken § 9).

65

Dieses und die folgenden drei Zitate: B W 410,27.30f ( N 1,303; Brocken § 2). S. Anm. 54. Dieses und die beiden folgenden Zitate: B W 179,34-36 (N 1,118). Dieses und das folgende Zitat: B W 179,39f ( N 1,118).

66 67 68

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Menschwerdung und Erlösung

Geschichte vom Tempelbau des Salomo schreibt, die aus den umliegenden Ländern kommenden „Künstler [...] mit Weisheit, und Verstand und Erfindung". Und weiter: „So seh[en] wir daß die Heyd[en] selbst alles Gute, ihr Daseyn, ihre Reichthümer, ihre Tugend[en], ihre natürl. Einsichten] vom Geber alles Gut[en] empfieng[en], und Gaben des Geistes waren [,..]." 69 Damit stellen die „Gaben des Geistes" nicht erst den in 1 Kor 12 beschriebenen Reichtum der christlichen Gemeinde an Charismen dar, sondern auch den Reichtum einer Menschheit, die im Gebrauch dieser „Gaben" einerseits Unheil anrichtet, andererseits aber auch prophetisch auf die Wirklichkeit der Erlösung hinweist. Von diesem Gedanken wird es für Hamann nur noch ein Schritt sein zur typologischen Interpretation von Texten vorchristlicher Denker und aufgeklärter Zeitgenossen. Hamann sieht die geistigen und kulturellen Leistungen der Menschheit ermöglicht durch eine communicatio von göttlichem und menschlichem Geist, wobei er für den menschlichen Geist die Begriffe „unsterblicher Geist" 70 , „Vernunft" 71 und „Seele" nahezu bedeutungsgleich verwendet. Dem entspricht, daß der Geist- bzw. Vernunftbegriff in den Londoner Schriften nicht auf das Intellektuelle beschränkt ist, sondern die Bereiche von Gewissen und Verantwortung mit einschließt. Der Mensch hat als Geschöpf durchaus ein Gespür für seine Bestimmung 72 , und „die Mängel und geheime[n] Ansprüche unserer Seele und uns[eres] unsterblichen Geistes" 73 halten dieses Gespür wach. „Durch die Anwendung ihrer Vernunft" 74 erfassen die „Heyden", wie Hamann in der Betrachtung zu Rom l,18ff schreibt, durchaus die „Grundwahrheiten des Glaubens, nämlich die Unversöhnlichkeit Gottes mit der Sünde, die Entfernung der menschlichen Natur von ihrem Urheber". Aber dieses Wissen kann nicht verhindern, daß der Mensch im Mißbrauch seiner Geistigkeit die Kluft zwischen sich und Gott nur immer weiter aufreißt. Des Menschen Geist mag „unsterblich" sein, und seine „philosophische Neugierde sollte man fast für ein dunkel Bewustseyn des Göttl. Ebenbildes in unsferer] Vernunft ansehen." 75 Aber mit ihrem neugierig-distanzierten Habitus verstellt sich die nach Gott fragende „Vernunft" selber den Weg. Sie, so 69 70

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72

73 74 75

B W 179,29-32 ( N 1,118). „Wir sind Erde, und diese Erde ist mit einem unsterbl. Geist verknüpft" ( B W 133,2f [N 1,72]); vgl. B W 3 4 5 , 3 9 ( N 11,43). So vor allem in B W 228,23ff ( N 1,167) und B W 417,4 („natürl. Vernunft" bzw. „Instinct") Vgl. auch B W 173,26-28 (N 1,112); B W 219,7-11 ( N I,157f). Vgl. B W 285,29-39 ( N 1,224): Den gekreuzigten Christus bezeichnet Hamann hier als den ,,einzige[n] Gegenstand [!], für den uns der Trieb der Neugierde von Gott eingepflanzt ist [...]. Dies ist ein Durst, den wir, ohngeachtet unserer Erbsünde, fühlen [...]. Dies ist ein Jucken, das durch alle äußerliche Befriedigungen und irrdische Arzneymittel gefährlicher, brennender und ausbreitender wird [...]." B W 389,36-390,1 ( N 1,286; Betr. zu: „Beschränkt, ihr Weisen dieser Welt"). Dieses und die folgenden zwei Zitate: B W 290,13-18 ( N 1,228). B W 413,22-24 ( N 1,305), Brocken § 4, (Hervorh. aufgeh.).

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lautet seine Paraphrase von Apg 17,23, ist zwar immer „geneigt, einem unbekannten Gott zu dienen, aber unendlich entfernt ihn zu kennen. Sie will ihn nicht kennen -- und was noch erstaunender ~ wenn sie ihn erkennt, so hört sie [auf, ihm*] zu dienen." 7 6 Damit ist die Gebrochenheit der geschöpflichen communicatio durch die Sünde deutlich markiert: Sobald der gesuchte Gott sich in seinem Wort zu erkennen gibt, wendet sich die suchende „Vernunft" wieder ab; an der communicatio des Glaubens hat sie kein Interesse. Ich ziehe zur Erhellung dieses Gedankens einen Text aus den „Brocken" heran, der mehr noch deutlich werden läßt, wie ambivalent für Hamann diese geschöpfliche communicatio ist: „Ist es nicht unser Geist selbst, der in der Tiefe seines Elends dies Zeichen seines hohen Ursprunges verräth und sich als einen Schöpfer über die sinnlichen Eindrükke erhebt, der sie fruchtbar macht, der selbige zu einem Gerüste baut um den Himmel zu ersteigen, oder sich Götzen schafft, für die er Ziegeln brennt, und Stoppeln zusammen sucht. Ist es nicht ein Wunder unsers Geistes selbst, der die Dürftigkeit der Sinnen in einen solchen Reichthum verwandelt, über dessen Ausbreitung wir erstaunen müssen." 77 Mit diesem Text nimmt Hamann auf das in Joh 6 berichtete Wunder der Brotvermehrung Bezug, um es als Bild für die schöpferischen Fähigkeiten des menschlichen Geistes zu verwenden. Denn an ein Wunder grenzt es für ihn, wenn die Vernunft aus den „5 Gerstenbrodte[n]" der menschlichen Sinnesorgane, „die wir mit den unvernünftigen Thieren gemeinschaftlich besitzen" 7 8 , „einen solchen Reichthum" hervorzubringen weiß. Zugleich stellt Hamann indirekt, aber doch unmißverständlich einen Zusammenhang her zwischen diesen Fähigkeiten der Vernunft und ihrem grenzüberschreitenden Emporstürmen, durch das sie sich selber nur Schaden zufügt. Die Geschichte vom Turmbau zu Babel und mit ihr das Motiv des Ungehorsams taucht unvermittelt im Gewebe des Textes auf und macht anschaulich, wie unauflöslich der „hohe Ursprung" und das „Elend" des Menschengeistes ineinander verwoben sind. Denn dies macht die „Tiefe seines Elends", zu der das selbstherrliche Emporstürmen der Vernunft in einem denkwürdigen Gegensatz steht, so groß: daß der Mensch die ihm durch den Schöpferhauch mitgeteilten göttlichen Eigenschaften dazu mißbraucht, den Himmel zu stürmen und den Thron zu beanspruchen, den Gott um seinetwillen verlassen hat. 79 Der „unsterbliche Geist" ist ein Zeichen für die göttliche Herkunft des Menschen. Dieser partizipiert durch ihn an den schöpferischen Eigenschaften seines Schöpfers, aber er tut es in einer Weise, die gerade die durch die Sünde 76

77 78 79

BW 286,6-9 (N 1,224); zu Apg 17,23. Bei Hamann steht: „[...] so hört sie ihn auf zu dienen." BW 407,1-8 (N 1,299; Brocken), vgl. Gen 11,3f. BW 406,7-9 (Hervorheb. aufgeh.). Vgl. BW 186,17 (N 1,125).

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Menschwerdung und Erlösung

bezeichnete Differenz zu seiner Bestimmung in schmerzhafter Klarheit verdeutlicht. Vereint mit einem vergänglichen Stück „Erde" 80 , dem er so unendlich überlegen zu sein scheint, richtet der „Geist" seinen Träger aus auf Christus. Er ist aber auch Inbegriff des gefallenen Menschen, der den „Hauch" wohl empfängt, aufgrund der Sünde aber ganz und gar irdisch, im Verhältnis zu Gott ein lebloser Erdenkloß ist.

3.3.2 Vernunft und natürliche Religion Hamann sieht die Tragik des Menschen darin, daß dieser sich kraft seiner Vernunft nicht vermitteln kann, was er sich vermitteln zu können glaubt: ewiges, göttliches Leben. Der „unsterbl. Geist" 81 des Menschen ist figürliche Abschattung dieses Lebens, er verhält sich zu dem „Leim des Fleisches u. Blutes" wie die ,,göttlich[e] Gnade" zur ,,ganze[n] Natur". Er ist dennoch Teil eines endlichen Wesens, seiner Sünde und Todesverfallenheit. Zwar überragt der Mensch kraft seiner Vernunft sich selber, aber er überragt sich doch nicht weit genug, um sich der ihm zugedachten Bestimmung zuführen zu können. Anhand dieses Schwebezustandes verdeutlicht sich Hamann den „Unterscheid zwischfen] natürl. und geoffenbarte[r] Religion" 82 . Jene ist vergleichbar „dem Auge eines Menschen, der ein Gemälde sieht ohne d[as] geringste von der Malerey und Zeichnung oder der Geschichte, die vorgestellt wird, zu verstehen." 83 So „einfach" 84 die räumlichen oder zeitlichen „Verhältnisse" des Bildes sein mögen: Die Fähigkeit des Menschen, sich darin zurechtzufinden, ist aufgrund der perspektivischen „Verkürzung" seiner Wahrnehmung äußerst begrenzt. Es ist ein Sehen ohne Erkennen, eine „Art der Allwissenheit", die das Gewußte nicht versteht, weil sie den hinter der Oberfläche ver80 81

82 83

84

S. Anm. 70. Dieses und die folgenden zwei Zitate: BW 345,38-40 (N 11,43; Gedanken über meinen Lebenslauf). BW 411,33f (N 1,303; Brocken § 3). BW 411,35-37 (N 1,304), von Hamann veranschaulicht anhand von „Socrates" und „Caiphas" (ebd). Dieses und die vier folgenden Zitate: BW 184,36-185,6 (N I,123f); vgl. 2 Kön 24,14. Das Zitat lautet im Zusammenhang: „Wie Gott d[em] M[enschen] eine Art der Allwissenheit gegeb[en] hat, in dem er d[as] vergangene wiedergescheh[en] last und d[as] was geschieht, nichts als ein Grundriß des künftigfen] ist; oder vielmehr der Plan der ganz[en] Zeit hat einfen] Mittelpunct, auf den sich alle Linien, alle Figuren, bezieh[en] u. vereinigen]. Das Gebäude besteht aus ein[em] Stück; die Gesetze der Verhältnis[se] sind einfach. Das geg[en]wärtige ist die Fronte; davon uns die Vorderoberfläche offen, der ganze Körper aber mit dem Hintergesichte entzog[en] ist, das vergangene u. zukünftige ist eben diese Seite, die wir nur im Profil sehen, die wir in Verkürzung [sehen]." - K. Gründer macht darauf aufmerksam, daß schon Thomas v. Aquin „eine Art ,endlicher Allwissenheit' die in der Ebenbildlichkeit des Menschen gründet", kennt (Figur und Geschichte, 141).

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borgenen „Mittelpunct" nicht erkennt, „auf den sich alle Linien, alle Figuren beziehen und vereinigen". Nur das „Auge eines Malers" 85 könnte Herkunft, Zusammenhang und Aussage des Bildes verstehen, d.h. nur wer dem Schöpfer des Bildes gleich ist an Kenntnissen und Fertigkeiten, sieht darin „allenthalb[en] Zeigefinger auf Christum, u. sein Evangelium" 86 . Damit wäre Hamanns Verständnis von Glauben bzw. „geoffenbarter Religion" zu thematisieren. Sind für ihn Vernunft und Glaube im Sein des urständlichen Menschen nicht unterscheidbar - Adam „glaubt" ja, indem er Gottes Gedanken denkt 87 - so zerreißt die Sünde dieses Band, indem sie, wie die Geschichte vom Sündenfall lehrt, Mißtrauen sät zwischen der „Vernunft" 88 und dem „göttl. Wort" und es dadurch zu einer „förml. Ehetrennung zwisch[en] beyden" kommt. Die Notwendigkeit eines von der „Vernunft" zu unterscheidenden Glaubens entsteht aus der Zerstörung dieser ursprünglichen „Vertraulichkeit", „Unterwürfigkeit und Liebe" 89 . Zwar hebt diese Scheidung die geschöpfliche communicatio von Menschengeist und Gottesgeist nicht gänzlich auf, taucht sie aber in das Zwielicht des Nicht-Mehr und des NochNicht, welches für die gesamte Wirklichkeit der Schöpfung charakteristisch ist. Die „Vernunft", mit deren Hilfe der Mensch das Bild von Natur und Geschichte mit der Schärfe eines ,,Vergrößerungsglase[s]" 90 betrachten und analysieren kann, ist letztlich blind für die wesentlichen Zusammenhänge. 91 Dabei versucht Gott als „Schriftsteller", „Schauspieler" und sogar als „Maler" nicht nur menschlicher „Thorheit", sondern auch menschlicher „Vernunft [...] sich zu bequemen" 92 , was für Hamann zweifelsfrei bedeutet, daß der Bibelleser in der Bibel nicht nur mit dem Skandalon des Kreuzes konfrontiert, sondern durchaus auch auf der Ebene rationalen Verstehens angesprochen und überzeugt werden soll. 93 Aber ohne den Glauben gibt es nur Mißverständnisse, denn es fehlt der „Vernunft" das zum Verstehen unabdingbare kongeniale „Auge", welches den Interpreten mit dem Autor eint. In gewisser Weise, so meint Hamann, gleicht sie „jenem blinde[n] thebanischen Wahrsager Tieresias [...], dem seine Tochter Manto den Flug der Vögel beschrieb" 94 . 85 86 87 88 89 90 91

92 93 94

B W 411,38 ( N 1,304). B W 184,36 ( N 1,123). Vgl. B W 400,37f (N 1,295). Dieses und die beiden folgenden Zitate: B W 112,32-38 ( N 1,52); zu Lev 18,24f. B W 112,33f. B W 2 2 8 , 2 9 f ( N 1,167). Vgl. B W 256,26-30 (N 1,196), wo Hamann angesichts der ablehnenden Haltung des Menschen gegenüber dem Heilshandeln Gottes von einer ,,viehische[n] Unvernunft" spricht, über die „Himmel und Hölle erstaunen". B W 126,32f ( N 1,66); zu Dtn 4,34. Vgl. B W 180,24-27 ( N 1,119). B W 4 0 6 , l l f ( N 1,298; Brocken). Teiresias und Manto sind Gestalten der griechischen Mythologie. Aufgrund seiner Stellungnahme in einem Streit zwischen Hera und Zeus

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Menschwerdung und Erlösung

Wie dieser ist sie angewiesen auf das „Gehör" 95 dessen, was sie selbst nicht zu sehen vermag, und sie muß dem Gehörten vertrauen, um wieder sehen, und zwar im Gehörten sehen zu können.

3.3.3 Erfüllung und Überbietung: Glaube als Teilhabe an göttlicher Allwissenheit Vernunft und Glaube verhalten sich zueinander wie die „natürl. und geoffenbarte Religion" 96 . Jene wird von Hamann weder diffamiert noch in ihrer Bedeutung unterschätzt; er versteht sie als die dem Menschen eingestiftete Ausrichtung auf Christus 97 , in der sich die ihm verheißene „Theilnehmung der Göttl. Natur" 98 abzeichnet. Denn „was ist die Religion anders als die lautere gesunde Vernunft, die durch den Sündenfall erstickt und verwildert ist, und die der Geist Gottes, nachdem er d[as] Unkraut ausgerottet, den Boden zubereitet und zum Saam[en] des Himmels wieder geheiligt hat, in uns zu pflanzten] und wiederherzustellen sucht." 99 Diese Formulierung macht stutzig. Lassen sich hier nicht „de eierschalen van de Aufklärung" greifen, die E.J. Schoonhoven den „nieuwgeboren begrippen" Hamanns „nog aan[kleven]" 100 sah und die seiner Ansicht nach den Wert der Londoner Schriften mindern? Von den bisherigen Ergebnissen dieser Untersuchung wäre zu sagen, daß auch Hamanns Beurteilung der Vernunft seiner scheinbar widersprüchlichen Bewertung der figürlichen Wirklichkeit entspricht und somit differenzierter ist, als von Schoonhoven angenommen. Es gibt sie, die „lautere gesunde Vernunft". Es gab sie, bevor sich das Böse ihrer bemächtigte, und es gibt sie wieder, nachdem sie sich vom „göttl. Wort" hat befruchten lassen. Hamanns schroffes Nein gilt schon in den Londoner Schriften einer „menschlichen Vernunft", die das Wort der Bibel nach ihren Vorstellungen gleichsam zu reinigen versucht 101 ; sein Ja gilt hingegen einer Vernunft, die sich ihrerseits von diesem Wort läutern und heilen läßt: Sie ist der Glaube, der, wie Hamann mit Rom 10,17 sagt, „durchs Gehör des Wortes Gottes" kommt und damit der menschlichen Verfügbarkeit schlechterdings entzogen ist 102 , der aber zuwird Teiresias von jener mit Blindheit geschlagen, von diesem jedoch mit der Sehergabe belohnt (vgl. BW 539). 95

96 97 98 99 100 101 102

BW 406,14 (N 1,298). Hamann zitiert hier Rom 10,17: „Der Glaube, sagt der Apostel, kommt durchs Gehör, durchs Gehör des Wortes Gottes." BW 41 l , 3 3 f ( N 1,303; Brocken § 3 ) . Vgl. BW 224,13-18 (N I,162f). BW 3 7 0 , 1 7 f ( N 1,268). BW 213,40-214,5 (N 1,152); zu Prov 1,7. Natuur en Genade, 138. Vgl. BW 67,6-9 (N 1,9) und BW 68,12-25 (N 1,10). Vgl. BW 288,37-39 (N 1,227).

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gleich den Menschen zum eigenständigen Durchdenken des Gehörten befähigt. So ermöglicht der Glaube die Wiederherstellung der Einheit von Vernunft und Wort Gottes. Er stellt damit nicht nur die Wahrnehmungsfähigkeit für die Gegenwart Gottes im Wort der Bibel her, sondern erschließt auch „Natur und Geschichte" als „die 2 großen Commentarii des göttl. Wortes" 1 0 3 . Entsprechend sieht Hamann in „Naturkunde und Geschichte [...] die zwey Pfeiler auf welchefn] die wahre Religion beruht." 1 0 4 Auf Hamanns Sicht des Verhältnisses von Bibel, Natur und Geschichte werde ich im zweiten Hauptteil dieser Arbeit näher eingehen. 105 Die von E J . Schoonhoven bemängelte Behauptung einer natürlichen Erkennbarkeit Gottes aus Natur und Geschichte 106 wird Hamann später nicht aufgeben, sondern in einer Weise verschärfen, daß er sie metakritisch gegen das aufklärerische Verständnis von natürlicher Religion wenden kann. In den „Brocken" ist dies bereits angedeutet, wenn Hamann die Gestalten eines Sokrates, Petrus oder Kaiphas als Beweis für die Existenz einer „natürl. Religion" anführt. Nicht deren vernünftige Gotteserkenntnis steht hier im Blickpunkt, sondern die Tatsache, daß in allen diesen Fällen ein Mensch „nicht wüste was er sagte" 107 , wenn er „prophezeyte und göttl. Wahrheiten verkündigte, ohne daß er noch sefine] Zuhörer das Geringste von dem wahrnahmen, was Gottes Geist durch ihn redte." Aus der Sicht des Glaubens wäre hier also nicht von einer „natürl. Religion" im Sinne aufgeklärter Vernunftfrömmigkeit, sondern eher von einer unfreiwilligen Zeugenschaft des natürlichen Menschen zu reden, die der Glaubende in „Natur und Geschichte" ebenso ausmachen kann wie in der Bibel. Was der „Vernunft" 1 0 8 bei ihren „Beobachtungen] über den Plan der göttl. Schöpfung und Regierung" nur Anlaß zu ,,Muthmassung[en]" geben könnte, das vermag der Glaubende mit prophetischem Scharfblick auf seine Zusammenhänge hin zu durchschauen. Denn für die Vernunft ist nur die „Vorderoberfläche offen, der ganze Körper aber mit dem Hintergesichte entz o g e n ] " 1 0 9 , so daß sie die Fläche des Ganzen vielleicht annähernd überblikken, aufgrund ihrer eindimensionalen Sichtweise aber nicht in den hinter der Fläche verborgenen Raum eindringen kann. Einzig „das Sehrohr des Glaubens" 1 1 0 vermittelt diese Perspektive; es erschließt dem Glaubenden den ,,ganze[n] Körper" 1 1 1 und mit ihm das dem natürlichen Auge verborgene 103

B W 411,30f ( N 1,303; Brocken § 3); vgl. B W 417,5-9 ( N 1,308). B W 67,12f ( N 1,9). 105 Ansätze zu einer Reflexion finden sich neben der zitierten Stelle auch in B W 66f (N I,8f) und in B W 167,8-11 ( N 1,106). 106 v g l . Natuur en Genade, 148. 107 Dieses und das folgende Zitat: B W 412,2-5 ( N 1,304; Brocken § 3). Vgl. Mk 9,6 und Joh 11,49-52. 108 Dieses und die beiden folgenden Zitate: B W 409,32-34 (N 1,302; Brocken § 1). 109 B W 1 8 5 , 3 f ( N 1,124). 110 B W 167,26 ( N 1,106); zu 2 Sam 1. 111 Dieses und das folgende Zitat: B W 185,3f ( N 1,124). 104

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„Hintergesicht" des Kunstwerkes. „Gott hat uns nicht nur die Geheimnisse des Himmels, die Tiefe unseres Herzens, sondern selbst die Schliche der Hölle entdeckt" 112 , notiert Hamann zu 1 Kor 2,11, wo Paulus von der übernatürlichen „Weisheit" spricht, die der „Geist Gottes" dem Glaubenden schenkt und die ihm die „Tiefen der Gottheit" erschließt. Sie macht ihn zum kongenialen Interpreten von Gott, Welt, Unterwelt bis hin zu seinem eigenen Selbst. „Wir nehmen durch den Glauben so großen Antheil an der göttlichen Natur, daß wir hier schon ihre Allwissenheit und die Salbung des himmlischen Königreichs genießen." 113 Diese „Allwissenheit" ist keine erworbene Fähigkeit, mit deren Hilfe etwa der aufgeklärte Polyhistor die unerschöpfliche Vielfalt von Natur und Geschichte gleichsam flächendeckend zu erfassen versucht. Es ist vielmehr das Wissen um „die Einheit des göttl. Willens in der Erlösung Jesu Christi, daß alle Geschichte, alle Wunder alle Gebote u. Werke Gottes auf diesen Mittelpunct zusammen liefen f...]." 114 Das „Gemälde" der Wirklichkeit, dem die Vernunft ohne Glauben vielleicht staunend, aber letztlich verständnislos gegenüberstand, weist in allen seinen Einzelheiten hin auf Christus, auf seine Person und seine Geschichte. Er ist der „Mittelpunct" einer Welt, die in ihm gegründet ist und ihm entgegengeht; er verbirgt sich hinter ihrer Schauseite als der eine, „auf den sich alle Linien, alle Figuren bezieh[en] u. vereinig[en]." 115 Hier tritt das große Thema Hamanns hervor, das seine späteren Schriften durchzieht: Nichts existiert für den Glaubenden, das nicht schon durch sein bloßes Existieren auf die Erlösung hinwiese und daher als um ihretwillen geschaffen zu glauben wäre. Das Häßliche, das Zufällige, das Böse, aber auch das Schöne und Vernünftige ist auf den einen „Mittelpunct" ausgerichtet und muß seiner Offenbarung dienen. Der Glaubende erfährt sich als lebendiges Glied einer Wirklichkeit, die nichts als Christus-Offenbarung ist, göttlichen Ursprungs und menschlicher Gestalt. Sein Wissen mag, weil er ein Mensch ist, Stückwerk sein. Und doch hat er „Antheil" an göttlicher „Allwissenheit", weil er in allem das Göttliche weiß.

3.3.4 Allwissend und unwissend zugleich Das fast naive Pathos, mit dem Hamann die Fähigkeit des Glaubenden beschreibt, im Weltlichen das Göttliche zu sehen, gehört zu den Eigentümlichkeiten der Londoner Schriften. Wird Hamann rund 25 Jahre später in seiner Auseinandersetzung mit Moses Mendelssohn dessen Versuch kritisieren, sich 112 113 114 115

BW 297,21-23 (N 1,236). BW 306,1-3 (N 1,245); zu 1 Joh 2,20; vgl. BW 367,21-27 (N I,264f). Dieses und die beiden folgenden Zitate: BW 343,6-9 (N 11,40, Lebenslauf). BW 184,40-185,1 (N 1,124); vgl. BW 401,25f (N 1,296).

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spekulativ „in das Cabinet des göttlichen Verstandes" oder „in das Heiligtum des göttlichen Willens zu versteigen [...]" 116 , so scheint der soeben erläuterte Gedanke der Teilhabe des Erlösten an der „göttlichen Allwissenheit" eben diese Grenzen zu überschreiten. Er muß jedoch im biographischen Kontext der Betrachtungen gesehen werden. Denn von hier aus wird deutlich, daß Hamann seine Lebenswende nicht als eine schlagartige Verwandlung erfährt, sondern als eine im Vollzug seiner mehrfachen Bibellektüre sich entwickelnde und seine bisherigen, vermutlich nicht geringen theologischen Kenntnisse 117 sowohl ordnende als auch kritisch sichtende „illuminatio". 118 Hamanns Rede von der Teilhabe an göttlicher Allwissenheit reflektiert nicht die Erfahrung einer unvermittelten Erleuchtung, sondern meint das Miteinander von geistlicher Erkenntnis, die der Inspiration 119 biblischer Autoren durchaus vergleichbar ist, und menschlicher, damit aber auch fehlbarer Gedankenarbeit. Der Glaube tritt zur Vernunft in ein sowohl kritisches als auch sie überbietendes Verhältnis; er hebt sie jedoch ebensowenig auf, wie er den Menschen in einen Gott verwandelt. 120 „Unsere Gedanken", schreibt Hamann in den „Brocken", „sind nichts als Fragmente. Ja unser Wissen ist Stückwerk." 121 Der fragmentarische Charakter von Erkenntnis und insbesondere von theologischer Erkenntnis kann und soll durch den Glauben nicht überwunden werden. Der Glaubende bleibt angewiesen auf das „Gehör" des Wortes; er muß, wie Hamann am Beispiel des Teiresias verdeutlicht, dem Gehörten gleichsam blindes Vertrauen schenken, um mit den Augen Gottes sehen zu können. 122 Nur in der Beschränkung auf das sinnliche, fleischgewordene Wort 123 kann er „die Schranken der sinnlichen Erkenntnis" durchbrechen, „an die sich der gröste Weltweise genöthigt sieht sich selbst zu fesseln um nicht irre zu gehen." 124 Indem er die Bibel, wie Hamann auf seine Weise mit den „Betrachtungen", „in seinem Munde und Herzen" 125 bewegt, gleicht er dem „blinden thebanischen Wahrsager" 126 , der zwar trotz seiner übernatürlichen Begabung auf die Hilfe einer redenden Stimme angewiesen

116 117

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122 123 124 125 126

N 111,303,37-304,1 (Golgatha und Scheblimini). In der „grundstürzenden Situation" seiner „Lebenswende" kann Hamann „aus einem reichen Schatz früherer Bildung schöpfen, vor allem aus dem, was er in jungen Jahren in der Bibel und über sie gelernt hat" ( B W 4 9 [„Beobachtungen zu den Bibelzitaten"]). Vgl. dazu auch S.-A. Jorgensen, J.G. Hamann, 25f. W. Koepp, Hamanns Senel-Affare, 76.78. Vgl. J. Nadler, J.G. Hamann, 78. Vgl. ZH 1,425,30-35. B W 407,15f ( N 1,299, Hervorh. aufgeh.); vgl. 1 Kor 13,9); vgl. auch B W 309,19-21 ( N 1,249). Vgl. B W 406,1 l f ( N 1,298; Brocken). Vgl. B W 251,8-11 ( N 1,190). B W 401,22-24 ( N I,295f; „Den 7. May"). B W 401,9 ( N 1,295), vgl. Rom 10,10. B W 406,11 ( N I , 2 9 8 ) .

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bleibt, der aber auch trotz seiner natürlichen Blindheit „geistliche, himmlische, ewige Geg[en]stände" 127 sehen darf, die ohne diese Hilfe unsichtbar wären.

3.4 Teilhabe an göttlicher Gerechtigkeit Die Teilhabe des Christen an der göttlichen Allwissenheit bildet nur einen Aspekt der communicatio idiomatum. Wenn ich diesen Aspekt zuerst vorgestellt habe, dann vor allem deshalb, weil die für Hamanns Denken fundamentale Bestimmung des Verhältnisses von Schöpfung und Erlösung sich hier anhand seiner Bestimmung des Verhältnisses von Vernunft und Glauben oder, wie er später formulieren wird, des Verhältnisses von „blos figürliche[r]" und ,,leibhafte[r] Theilnehmung der göttlichen Natur"128 konkretisieren ließ. Von dieser „leibhaften" Teilhabe des Menschen an der „göttlichen Natur" ist für Hamann allerdings nicht zu reden ohne die Voraussetzung des reformatorischen Zentralgedankens der Rechtfertigung des Sünders, die durch das stellvertretende Strafleiden Christi erwirkt und im Glauben ergriffen wird.

3.4.1 Das Grundmotiv: „Entkleidung" Gottes und „Bekleidung" des Menschen Bei der Lektüre von 1 Sam 18 sieht Hamann in der dort berichteten „Freundschaft Davids u. Jonathans [...] ein Vorbild der Vereinigung der Gottheit mit der Menschheit in Christo." 129 Zu Vers 4, wo berichtet wird, wie der rechtmäßige Thronanwärter den von Gott erwählten König standesgemäß einkleidet und bewaffnet, notiert er: „Der Sohn Gottes entk[l]eidet sich selbst wie Jonathan u. giebt den M[enschen] nicht nur seine eigen[en] Kleider, sondern auch sein Siegesschwerdt, sein[en] Bog[en] und seinfen] Gürtel." 130 Kleider und Waffen versinnbildlichen hier die Eigenschaften der göttlichen Natur Christi, mit denen dieser den durch die Sünde entblößten Menschen bekleidet 131 und zum Kampf gegen die Sünde ausrüstet. Noch eindrücklicher erscheint dieser Gedanke in einer Betrachtung zu Gen 9,20-23, der Erzählung von der Trunkenheit des Weinbauern Noah. Die Nacktheit des ,,trunkene[n] Noah", von der hier berichtet wird, versteht Ha127 128 129 130 131

BW 401,24f(N 1,296). N III,224,32f (Konxompax). BW 159,7f (N 1,98). BW 159,9-12; vgl. ZH I,419,6f. Vgl. Gen 3,7.

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mann als einen Hinweis auf „die Blöße Gottes, die Schaam der Schöpfung". Diese göttliche „Blöße [...] ist d[as] Menschl. Geschlecht, der Sündenfall [,..]." 132 Hamann fährt fort: „Der trunkene Noah ist zugleich] ein Sinnbild des Menschl. Geschlechts; dessen natürl. Verderben durch einen Rausch und durch die dabey verbundene Fühllosigkeit sr. eigenen Schande ausgedruckt ist." 133 Die Menschheit wird hier als ein Teil des göttlichen Leibes gesehen; sie ist seine „Blöße", die durch den Sündenfall aufgedeckt wird und angesichts derer die ganze „Schöpfung" gleichsam beschämt errötet. Wie der Rausch den Betrunkenen entblößt, so entwürdigt die Sünde des Menschen auch seinen Schöpfer: Ein drastisches Bild für die Unbedingtheit der göttlichen Liebe. Angesichts der beschämenden Nacktheit des sich erniedrigenden Gottes warnt Hamann vor der Überheblichkeit dessen, der sich für gut bekleidet hält: „Spotten wir nicht noch mit Cham unsferer] eigenen Natur u. der Blöße uns[eres] Vaters in den Barbaren, Wilden />p."134 Die Erkenntnis des eigenen Nackt-Seins im Spiegel der väterlichen „Blöße" und die daraus resultierenden Versuche, dieses schamhaft zu verdecken oder gar ironisch zu überspielen, gehören für Hamann zu den Urtypen menschlichen Handelns. 135 Gerade in der verlegenen Reaktion des „Sem" und in der frivolen Reaktion des „Cham" spiegelt sich diese Grundhaltung wieder, mit der der Sünder die Wahrheit der Sünde vor sich und vor Gott zu verbergen versucht, wobei es meistens zu grotesken geistigen Verrenkungen kommt. „Sie giengen beyde rückwärts [...] sie kannten beyde nicht d[as] Verderben ihrer Natur - sie thaten nichts als eine Decke, als einen Mantel darüber auszubreiten. [...] Weiter gieng ihre Gerechtigkeit, ihre Stärke, ihre Weisheit nicht." 136 Der Rückwärtsgang der Selbstrechtfertigung führt in die Irre, er ist gleichwohl, wie Hamann andeutet, immer aktuell. Die Söhne Noahs sind in diesem Sinne zeitlose Typen zweier in sich verschiedener Versuche, das Problem der Sünde zu lösen. In der moralischen Strenge des einen zeigt sich „das Gesetz" 137 des Judentums, in dem frivolen Leichtsinn des anderen „die Philosophie" der „weiseren Heyden". Daß ihnen ausgerechnet im Spiegel der Nacktheit „die Augen aufgetan" werden, ist ihnen gleichermaßen unerträglich, und ihre unbeholfenen Versuche, diese „Blöße" zu bedecken, sind gleichermaßen

132

BW 422,32f (N 1,316; Betr. zu Newtons Abh.). BW 422,34-36. 134 BW 422,37f (N 1,316); vgl. Gen 9,21. Vgl. auch BW 274,24-26 (N 1,213). 135 „Die Unruhe eines bösen Gewissens ist derjenigen] Bewegung ähnl. die wir Schaam und Furcht nennen" (BW 76,25f [N 1,18], zu Gen 3,7f). 136 B W 423,1-5 (N 1,317), in Anspielung auf das in Gen 9,23 berichtete Rückwärtsgehen von Sem und Japhet. 137 Dieses und die folgenden zwei Zitate: BW 422,39f (N I,316f). Zum Verhältnis von heidnischer Philosophie und jüdischem Gesetz vgl. auch BW 291,3-10 (N 1,229). 133

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zum Scheitern verurteilt: „Die Judfen] unter ihr[em] Gesetz, u. die Heiden unter dem Licht der Vernunft sind in völliger Gleichheit vor Gott." 138 Hamanns Kritik an derartigen Versuchen, die Wirklichkeit des Menschen durch das Verbergen seiner Schwächen zu überhöhen, ist in den Londoner Schriften bereits klar formuliert. Ins Positive gewendet, läßt sie sich als das zentrale Thema seiner Autorschaft verstehen, welches sich noch in dem Titel der Spätschrift „Entkleidung und Verklärung" 139 niederschlägt. Gottes „Entkleidung", seine Anteilhabe an menschlicher Sünde ist Voraussetzung für die „Überkleidung" des Menschen mit göttlicher Gerechtigkeit. 140 In der Figur des nackten Noah überlagern sich die Sündhaftigkeit des Menschen und die Selbsthingabe Gottes, der die Folgen dieser Sünde wehrlos auf sich nimmt. Den unerklärlichen Hochmut des Menschen und die gleichfalls unerklärliche Demut Gottes sieht Hamann in ein- und derselben Geschichte abgebildet.

3.4.2 Bedrohung Gottes durch die Sünde Im letzten Kapitel wurde gezeigt, daß für Hamann die Menschwerdung Gottes auf den Erlösungswunsch des präexistenten Menschen zurückgeht; daß folglich mit dem Heilsratschluß Gottes bereits die sündige Existenz des Menschen in Rechnung gestellt wird. Entsprechend beschreibt Hamann die Menschwerdung Gottes als Annahme des Menschen in seiner geschichtlich-konkreten Faktizität. Die Person Christi verbindet sich hier nicht mit einer idealtypisch vorgestellten menschlichen „Natur", sondern sie partizipiert von Ewigkeit her an dem „Schicksal" 141 des Menschen. Hamann nennt das traditionelle Motiv der „Armuth", darüber hinaus aber auch die „Sünde und Schande", die mit dem Menschsein unauflöslich verflochten ist. „Wie hat sich Gott der Sohn gedemüthigt, er wurde ein Mensch, er wurde der geringste unter den Menschen, er nahm Knechtsgestalt an, er wurde der unglücklichste unter den M[enschen]; er wurde für uns zur Sünde gemacht; er war in Gottes Augjen] der Sünder des ganz[en] Volks." 142 Luthers Bekenntnis zu Christus als dem maximus peccator 143 scheint Hamann hier aufzugreifen. Christus ist wohl ohne Schuld 144 138 139 140 141 142

143

144

BW 87,34-36 (N 1,29); zu Gen 9,25. N 111,347-407. Vgl. BW 355,1-8 (N 1,252). Dieses und die folgenden zwei Zitate: BW 272,17 (N 1,211). BW 151,39-152,3 (N 1,91); zu 1 Sam 9f. Vgl. Phil 2,7f; Jes 53,3 und 2 Kor 5,21. Die Aussage enthält allerdings eine deutliche Verschärfung der Aussage von 2 Kor 5,21, wonach Gott Christus „für uns zur Sünde gemacht hat". „Quid ergo dicemus? Simul Christum summe iustus et summe peccatorem [...]?" (WA 5,602,32f; [Op. in Psalmos]). Vgl. BW 100,6-8 (N 1,43) u. BW 168,11 (N 1,107). In einem Fall ist der Leibrock Josephs (Gen 39,12), im anderen das Panzerhemd Sauls (2 Sam 1) Bild für die Unschuld Jesu.

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und in diesem Sinne auch ohne peccatum actuale. Aber er wird als „Theilnehmer unsers Fleisches und Blutes"145 auch zum „Teilnehmer" dessen, was den Menschen zum Sünder im Sinne Hamanns macht: zum „Theilnehmer" menschlicher Geschiedenheit von Gott, dem einzig vollkommenen „Urwesen"146, das „gerecht, heilig und der Sünde unversöhnlich ist" 147 . Wenn aufgrund dieses tapeinotischen Verständnisses der communicatio idiomatum die Person Christi uneingeschränkt an den Eigenschaften des Menschen teilhat, dann muß das Zusammentreffen von göttlichem Sein und Sünde thematisiert werden. Tatsächlich geht Hamann davon aus, daß Gott durch die Annahme der sündigen Menschheit in einen Gegensatz zu sich selber gerät, ja daß sein Gott-Sein von dem Sünder-Sein des Menschen als bedroht anzusehen ist: „Er kam in die Welt, um das Gesetz zu erfüllen, um für die Entheiligung des göttlichen Namens und die Flecken, damit unsere Sünden seine Eigenschaften verdunkelt hatten, zu büßen, um die Strafe derselben für uns zu leiden, um den Gott der Gerechtigkeit und seine Langmuth zu retten [,..]."148 Der Menschgewordene „kam" also nicht nur, um Gott durch seine aktive („Gesetz") und passive („Strafe") Gerechtigkeit mit dem Menschen zu versöhnen.149 Diesen klassischen Satisfaktionsgedanken, in dem es ja nicht um die Rettung göttlicher „Gerechtigkeit und Langmuth", sondern primär um die aufgrund der göttlichen Gerechtigkeit nur durch Genugtuung zu bewirkende Rettung der göttlichen Ehre geht, behält Hamann zwar bei. Ihm stellt er jedoch noch einen anderen Gedanken zur Seite, der das Gott-Sein Gottes aufgrund der Menschwerdung als ein von der Sünde bedrohtes und insofern selber der Rettung bedürftiges beschreibt. Dem Kontext des aufgezeigten theologischen Horizontes fügt sich dieser Gedanke durchaus ein: Gott wird nicht nur Mensch, um ein vorher entstandenes, juristisch zu qualifizierendes Problem zu lösen, sondern um den Menschen, mit diesem notwendig aber auch sich selber, seine von der Sünde bedrohte Gottheit zu retten. Heißt das, daß der Erlöser selbst der Erlösung bedarf? Dies ganz sicher nicht im Sinne einer Umkehrung des biblischen Erlösungsgedankens, wie sie beispielsweise bei Richard Wagner begegnet.150 Aber für Hamann ist es wichtig, daß die Menschwerdung Gottes nicht nur die stellvertretende Übernahme des göttlichen Strafgerichts am Menschen durch Christus, sondern auch eine Krisis des Göttlichen bedeutet. Das einzige „vollkommene" Wesen, 145 B W 399>1 ( N ¡ 293). 146 147 148 149 150

B W 413,10 ( N 1,305). B W 2 9 0 , 3 f ( N 1,228). B W 253,22-26 (N 1,193; Betr. zum Buch Maleachi). Vgl. auch BW 181,34-37 (N 1,121). Vgl. R. Wagner, „Parsifal" (Musikdramen), 864.

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welches unveränderlich und der Endlichkeit nicht unterworfen ist 1 5 1 , kann sich nicht gegen das Sünder-Sein des Sohnes wenden, ohne sich nicht zugleich gegen sich selber zu wenden.

3.4.3 Die „bessere Gerechtigkeit" Christi Neben der Ur- und Vätergeschichte der Genesis haben die Saul-David-Geschichten des deuteronomistischen Geschichtswerks Hamanns Aufmerksamkeit in besonderer Weise gefesselt. Insbesondere den Konflikt zwischen David und Saul versteht Hamann als Illustration des bereits genannten dogmatischen Problems, welches sich aus dem Zusammentreffen des mit der Sünde schlechterdings unvereinbaren Seins Gottes und der in der Person Christi von der Sünde nicht zu abstrahierenden menschlichen Natur, mithin aus dem Konflikt zwischen dem gerechten Gott und dem in Christus präsenten Sünder ergibt. Dies zeigt seine Deutung der in 1 Sam 23 berichteten Verfolgung Davids durch Saul und ihres überraschenden Ausgangs. Ich zitiere die ganze Passage, die an den Raub eines Stoffstückes vom Gewand des schlafenden Verfolgers durch David anknüpft: „David brachte Saul um einen Zipfel seines Kleides ~ Gott wie groß sind deine Geheimnisse darf sich ein M[ensch] denselben] nähern. Unser Heyland war Mensch und Gott. Scheint es nicht, daß er seine Gottheit dem Vater entgeg[en] setzfen] konnte, da die Gerechtigkeit des Vaters in ihm die Sünd[en] der M[enschen] straffen] wollte. War dies nicht eine Versuchung, eine der gröst[en] Versuchungen] der unser Heyland ausgesetzt war, und warum der Satan den Erlöser so quälte so drückte, damit ihm se[ine] Gedult als M[ensch] vergeh[en] möchte; daß er dfurch] den Mund der Pharisäer u. des Volks ihm immer zuruft: Bist du Gottes Sohn, so steige herab. Unser Heyland hatte als Gott Gott gleichsam selbst in sr. Gewalt er that nichts mehr als ein[en] Zipfel seines Mantels ihm raub[en] [um*] die Blöße der M[enschen] damit zu zu deck[en] und Gott damit zu überzeug[en], daß er [den*] M[enschen] vergeh[en] sollte. So rief der Vater in Juda: meine Tochter du bist gerechter denn ich bin; so ruft der Vater in Saul: mein Sohn du bist gerechter denn ich bin. Seh[en] wir uns[eren] Erlöser für sn. verfolgenden] entbrannt[en] Vater und, König, der selbst König war in der Verheißung als David niederfallen] mit dem Gesicht auf der Erde. Wie soll[en] wir geg[en] uns[eren] Jonathan geg[en] unsern David, geg[en] den versöhnten] Vater unsern Gott uns demüthig[*] beugfen]." 152

151 152

Vgl. B W 308,40-309,5 ( N 1,248), vgl. Jak 1,17. B W 162,1-21 ( N 1,101); zu 1 Sam 24. Korr.: „um" statt „und"; „den" statt „die"; „demüthig" (Adverb) statt ,,demüthig[en]". Der vorletzte Satz des Abschnitts ist in der zitierten Form unverständlich und wohl in folgender Weise zu lesen: „Sehen wir unseren Erlöser und König vor seinem verfolgenden, entbrannten Vater, der selbst König war, [...] niederfallen [...]."

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Hamann sieht in der denkwürdigen Begegnung zwischen dem Thronanwärter David und seinem schlafenden Verfolger eine gleichnishafte Abbildung dessen, was sich am Kreuz in der Begegnung zwischen Christus, der die Sünde der Welt trägt, und dem die Sünde hassenden Gott innertrinitarisch abspielt. Christus (in der Figur des David) nähert sich dem „Vater" (in der Figur des Saul), der ihn mit seinem göttlichen Gerichtszorn verfolgen muß, weil er „in Gottes Aug[en] der Sünder des ganz[en] Volks" 153 geworden ist. Dabei scheint das furchtlose Sich-Nahen des ,,Sünder[s]" den Verfolger zu lähmen; in der Gestalt des schlafenden Saul sieht Hamann den Gott-Vater wehrlos der Gewalt des Sohnes ausgeliefert, der „als Gott Gott gleichsam selbst in sr. Gewalt" hat. Nicht um die göttliche Ehre geht es: Das Leben des ,,Vater[s]" ist in der Hand des „Sohnfes]", es ist auf die Schonung dessen angewiesen, den Gott selber um der Sünde willen nicht hätte schonen können. Drastisch formuliert Hamann: ,,Ein[em] heilfigen] Gott als in Sünd[en] sich nah[en], das heist ihn unheilig glaub[en], ein[em] Richter, der uns verurtheilt hat als ein Gerechter entgeg[en] geh[en], das heist ihm d[as] Schwerdt der Gerechtigkeit streitig mach[en] woll[en], ihm dasselbe raub[en] wollen um ihn selbst damit umzubringen." 154 Als verus deus ist Christus ohne Sünde und wird von seinem Vater zu unrecht verfolgt; als verus homo hingegen ist er „in Gottes Aug[en]" ein „Sünder", dessen Zusammentreffen mit Gott eine Infragestellung derjenigen göttlichen Eigenschaften bedeutet, die mit der Sünde absolut unverträglich sind. Das Nahen des Sünders bedeutet das Todesurteil Gottes, der sich gegen die Sünde zur Wehr setzen muß und sich doch nicht wehren kann, weil er mit dem „Sünder" Christus auch sich selber vernichten müßte: „Gott hätte sich selbst umbring[en] müssen, er hätte sein eig[enes] Wesen vernichten] oder ewig quälen müssen, wenn er se[ine] Gerechtigkeit se[ine] Heiligkeit in Ansehung der M[enschen] hätte verleugn[en] oder ändern soll[en]." 155 Von soteriologisch entscheidender Bedeutung ist für Hamann, daß Christus, „Sünder" und Gott in einer Person, den „Vater" verschont. In der Großmut des verfolgten David seinem Verfolger gegenüber spiegelt sich für ihn der Verzicht des Gekreuzigten auf den Erweis seiner Gerechtigkeit. Christus raubt dem „Vater" eben nicht das „Schwerdt der Gerechtigkeit"; er zwingt ihn auch nicht zum „Selbstmord". Die Einflechtung des Teilzitates von Mt 27,40 läßt die neutestamentliche Ebene dieser Typologie schlaglichtartig aufleuchten: Christus widersteht am Kreuz der „Versuchung", sich seines Verfolgers zu entledigen. Er steigt nicht vom Kreuz herab, d.h. er verzichtet darauf, durch einen demonstrativen Akt göttlicher Allmacht „seine Gottheit dem Vater entgeg[en] [zu] setz[en]". Für Hamann bedeutet das: Christus 153 154 155

B W 152,2f ( N 1,91). B W 162,29-33 ( N 1,101). B W 162,33-37 (N 1,101).

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„rettet" das Leben des Vaters, der aufgrund der von der Menschheit Christi nicht zu abstrahierenden Sünde zum Todfeind seiner selbst geworden ist. Im Ausruf des verschonten Saul vernimmt Hamann die Reaktion des geretteten Gottes, der in der Demut des Beschämten die seiner eigenen, strafenden Gerechtigkeit überlegene leidende Gerechtigkeit des Erlösers bezeugt. Der Verzicht des Sohnes auf die ihm zustehende Selbstrechtfertigung ist „gerechter" als der Zorn des Vaters, der im Kontext dieser Typologie - man denke an die politischen Hintergründe der Verfolgung Davids durch Saul! - als ein durchaus ungerechtfertigter Zorn erscheinen muß. Der unschuldig verfolgte David-Christus hat dem Schlafenden lediglich „einen Zipfel seines Mantels" geraubt, einen „Zipfel" göttlicher „Heiligkeit" und „Gerechtigkeit", der ausreicht, „um die Blöße der M[enschen] damit zu zu deck[en]": Die Sünde des menschlichen Geschlechts wird durch das stellvertretende Strafleiden Christi gesühnt. So überführt Christus den göttlichen Zorn über die Sünde seiner Ungerechtigkeit (sofern er ihn betrifft), er fügt sich jedoch auch dem Todesgericht über die Sünde, welches er (als „Sünder des ganzen Volkes") zu Recht erleidet. Es ist höchst bemerkenswert, wie Hamann den unkonventionellen Gedanken von der Verschonung Gottes durch Christus an dieser Stelle mit dem traditionellen Motiv der Satisfaktion verbindet. Er hält daran fest, daß die Sünde, die sich in der Person Christi Gott nähert, gesühnt werden muß. Gott „muste also durch ein[en] versöhnt werd[en], der ihm selbst nicht nur d[as] Leb[en] schenkt, sondern da er ihm diese Wohlthat erwies, [ihn auch*] um einen Zipfel seines Kleides brachte um die Schande der Sünde damit zuzudeck[en]." 156 Christus geht den Weg letzter Entäußerung; er beugt sich als „Sünder" dem Urteil des ,,Richter[s]", der ihn, den „Gerechten" verurteilt hat. Er nimmt den Tod auf sich, damit der von der Sünde des Menschen bedrohte Gott und der vom „Zorn" des die Sünde richtenden Gottes bedrohte Mensch leben können.

3.4.4 Simul justus et peccator So sehr Hamann mit seinen Überlegungen das supra nos des göttlichen Heilshandelns betonen will, so sehr gilt für ihn der Grundsatz: ,flihil supra nos nisi ad nos."151 „Meinetwegen", also um des Menschen willen wird Gott zum „Schöpfer", wird der „Schöpfer ein Geschöpf' 1 5 8 und stirbt einen elenden Tod. Zu Gen 31,39f notiert Hamann:

156 157 158

B W 162,37-40 (N I,101f). ZH IV,340,13f (an Herder am 15. Sept. 1781); vgl. ZH IV,385,27. B W 3 6 6 , 2 1 f ( N 1,264).

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„So wie alle unsere Sünde unsern Heylande zugerechnet ward, so sind alle Theile s[eine]s Verdienstes unser; seine Armuth, se[ine] Dürftigkeit, sein Leid[en], sein erlittener Tod, sein Hunger u. Durst; das hab[en] wir alles zu gut, das haben wir alles gelitt[en], unschuldig u. [haben deshalb*] von Gott dafür Rechenschaft zu erwartfen]. Kann ein größerer Wechsel, ein größerer Tausch gedacht werdfen]. Ist etwas erstaunender als die Vereinigung Jesu Xsti u. Gottes mit uns, da er sich gleichfalls zum Mfenschen] vernichtigt hat um uns zu Gottes Thron u. Sitz mit soviel Kühnheit u. Ansprüchen] zu erheb[en]."159 Der Glaubende darf sich in Christus dessen rühmen, was dieser für ihn und er ganz und gar nicht getan hat. An der Seite des Gekreuzigten tritt er vor den „Richter" als derjenige, der „alles gelitten" hat, der „unschuldig" zum „Sünder" geworden und dafür in den Tod gegangen ist. 160 Wenn die „menschliche Natur" in Christus „gekrönt, [...] in ihm angebetet, [...] in ihm gefürchtet [wird]" 161 , dann weiß sich der Erlöste in einen „höheren Rang" 162 versetzt, „den wir", wie Hamann bezeichnenderweise sagt, „niemals unserer Bestimmung nach in der Schöpfung würden haben erreichen können." 163 Was dem Menschen als Geschöpf nicht zuteil werden kann, wird ihm durch die Erlösung gegeben: nämlich das Sein dessen, der im Verzicht auf die Durchsetzung der ihm zustehenden Anprüche alles beanspruchen darf, was Gottes ist. Dieser „Wechsel" bzw. „Tausch" ist aufgrund der unendlichen Gegensätzlichkeit der hierbei getauschten Güter nun tatsächlich nicht mehr zu steigern. Er läßt vielmehr den „schwachen Geist" 164 , der sich zur Ergründung Gottes so „hoch befleißt", scheitern angesichts der Unbegreiflichkeit einer Liebe, die die Welt und ihre Ordnung auf den Kopf zu stellen scheint. In der anbrechenden Wirklichkeit der Erlösung hat der Sünder „keine Sünde mehr, er hat keinen Richter mehr, er hat einen Heyland — der sein Gott ist, Sünder wurde, ein Richter u. Heyland der Sünder ist." 165 Gott hingegen, „den [der Mensch] so schwer beleidigt hatte u. [der*] ein so schrecklicher Richter sich vorgenommen] hatte zu seyn sieht sich jetzt selbst gleichsam von uns beschämt, da er uns so unvermuthet in eine neue Creatur verwandelt u. uns in einer so genau[en] Freundschaft mit [seinem*] Jonathan antrift." 166 Das Motiv der göttlichen Scham war im Zusammenhang der David-Saul-Typologie 159 160 161 162 163 164

165 166

B W 103,12-20 ( N 1,40); vgl. B W 375,21-25 ( N 1,272). Vgl. B W 374,15-27 ( N 1,271). B W 3 7 5 , 8 f ( N 1,272). B W 2 1 4 , 1 7 f ( N 1,153). B W 294,1 l f ( N 1,232). Dieses und das folgende Zitat: B W 103,21 ( N 1,40). Hamann zitiert hier aus der 3. Strophe des Liedes: „Sollt ich meinem Gott nicht singen?" von Paul Gerhardt (EG 325). BW 355,18-20 ( N 1,252; Betr. zu: „Ich bin Gottes Bild und Ehr"). B W 357,12-15 ( N 1,254). Urtext: „[...] den [er] so schwer beleidigt hatte u. ein so schrecklicher Richter sich vorgenomm[en] hatte zu seyn sieht sich jetzt selbst gleichsam von uns beschämt, da er uns so unvermuthet in einer neuen Creatur verwandelt u. uns in einer so genau[en] Freundschaft mit sn Jonathan antrift." - Zu „Freundschaft" vgl. auch B W 221,1 (N 1,159); vgl. B W 354,20-28 ( N 1,251).

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schon begegnet wird nun auch auf das Verhältnis von Erlöstem und Erlöser übertragen: Gott selber wird in seinem Gerichtszorn beschämt, weil dieser Zorn angesichts des sündlosen Menschen geradezu widersinnig erscheint. Vor ihm steht ja nicht mehr der Sünder, sondern „eine andere Creatur": der menschgewordene Mensch. Hamann verschweigt freilich nicht, daß der Mensch auch als Gerechtfertigter von der Sünde angefochten bleibt, ja daß er seiner „Unvollkommenheit" 167 immer wieder gewahr werden muß, um „die Nothwendigkeit eines fremden, höheren, göttlichen Verdienstes" einzusehen, „das uns in Gottes Augen werth macht." 168 Es bleibt ein eschatologischer Vorbehalt, denn noch lebt der Christ wie jedes „endl. Wesen" in einem „Leib", der „dem Tode [gehört] und [...] ein Raub des Menschenfeindes" 169 werden wird. Die Überwindung der Todesmacht erfährt der Gerechtfertigte eben auch als eine Vertiefung der Differenz von fleischlicher, der Macht des Bösen ausgelieferter, und göttlich-geistiger Wirklichkeit, eine Differenz, die er an seiner eigenen Existenz erleiden muß und die Hamann in harten Dualismen ausdrücken kann. 170 Die Sünde gibt es also noch im Leben dessen, der vor Gott kein Sünder mehr ist. 171 Die als solche erkannte Sünde ist jedoch entmachtete Sünde, sie kann nur noch dazu dienen, das Gottesverhältnis des Erlösten zu festigen 172 und ihn vor der lauernden Gefahr der Selbstüberschätzung zu schützen. 173 Die durch sie hervorgerufene „Angst der Buße" 174 gibt, wie Hamann in Anlehnung an den von Luther geprägten Begriff der fides apprehensiva 175 formuliert, „unserer Glaubens Hand Stärke, nach Jesum zu greifen, sich an seinem Verdienste gleichsam zu retten und zu helfen." 176 Dieses „Vertrauen auf Gott" 177 ist es, welches den Gerechten vom Sünder unterscheidet. Dieser „kennt Gott nicht; er kennt sein Elend nicht, sein Verderben nicht" 178 , er kennt aber auch „die Seeligkeit nicht, die er verschmäht", worin Hamann gar „eine Art von Erleichterung für ihn" sieht. „Der Fromme, der Gläubige" jedoch „kennt Gott, kennt sein Elend und Verderben, aber zu167 168 169 170

171 172 173 174 175 176 177 178

BW 276,7 (N 1,214). BW 276,lOf (N 1,214), vgl. Lk 17,5. BW 295,27f(N 1,233); zu Rom 7,24. „Es scheint also, daß die Gewalt des Satans sich also nur soweit über die Seelen der Christen erstreckt, als die Seele vom Leibe abhängt; von den sündlichen Werkzeugen desselben, von der Werkstatt des Gehirns, und den körperlichen Bildern der Einbildungskraft, von den Schrecken und Bedürfnissen unserer Natur" (BW 295,29-34 [N 1,234], Hervorheb. aufgeh.; zu Rom 7,24). Vgl. BW 296,4-9 (N 1,234), eine Art Lasterkatalog im Zeitalter der Aufklärung. Vgl. BW 295,1-8 (N 1,233). Vgl. BW 372,3-8 (N 1,269). BW 276,14 (N 1,214). Vgl. W A 39/l;45,21 (Promotionsdisputation über Rom 3,28 am 11. Nov. 1535). BW 276,14-16 (N1214; zu Lk 17,5.10), vgl. auch BW 122^7-29 (N 1,62) und BW 273,23 (N 1^12). BW 276,13. Dieses und die folgenden zwei Zitate: BW 264,19f.23-25 (N 1,204; zu Mt 5).

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gleich den Werth und die Früchte der großen Erlösung, die [...] sein Elend in Vollkommenheit verwandelt." 179 War er vorher aufgrund seines „Elends" Gott zu Rechenschaft verpflichtet, so darf er nunmehr aufgrund seiner „Vollkommenheit" und trotz seiner „Unvollkommenheit" von Gott „Rechenschaft [...] erwarten" 180 , darf „mit so viel Kühnheit u. Ansprüch[en]" seinen Platz an der Seite Gottes behaupten, den ein anderer für ihn erstritten hat. Hamanns Nähe zu den Grundgedanken der reformatorischen Rechtfertigungslehre ist unverkennbar.181 „Obwohl die Sunde im Fleisch noch nicht gar weg oder tot ist, so will [Gott] sie doch nicht rechnen und wissen"182, lautet eine knappe Formulierung Luthers.183 Der sich daraus ergebende Gedanke eines Miteinanders von „iustitia perfecta" und „iustitia imperfecta"184 im Sein des Christen klingt bei Hamann nach, wenn er von der „Vollkommenheit" und der „Unvollkommenheit" des Gerechtfertigten spricht. Zugleich ist jedoch zu beobachten, daß der von Luther in Auseinandersetzung mit schwärmerischen Gruppen betonte eschatologische Vorbehalt der Rechtfertigung im Denken des frühen Hamann eine vergleichsweise geringe Rolle spielt und daß ihn dies nicht nur von Luther, bei dem er zweifellos in die Schule gegangen war, sondern auch von Paulus trennt. Während für Paulus wie für Luther die Rechtfertigung erst der angeldhafte Beginn des neuen Lebens ist („Est in agendo, in fieri, non in actu aut facto, nec in esse"185), liegt für den frühen Hamann der Akzent auf der Gegenwärtigkeit des Heils.186 Der Glaubende lebt in einem „Leib des Todes" 187 , der ihn nach einer noch ausstehenden „Erlösung" im Sinne einer „würklichen Auflösung und Heimfallung" des Leiblichen sich sehnen läßt. In dieser von Sünde und Tod gezeichneten Leiblichkeit partizipiert er jedoch nicht mehr an dem der Sünde folgenden Tod des Sünders, sondern an dem die Sünde richtenden Tod des Erlösers. Einerseits gilt für Hamann: „Wir sind hier todt und unser Leben ist verborgen mit Christo in Gott." 188 Andererseits gilt, daß die Teilhabe des Christen am Sein des Gekreuzigten immer auch die Teilhabe an dessen Sieg 179

BW 264,26-29. Dieses und das folgende Zitat: S. Anm. 159. 181 Vgl. die ausführliche Betrachtung zu Rom 1,16 (BW 288-291 [N 1,226-230]), insbes. 288,28-32 und 290,1-12. Ich kann M. Seils daher nicht folgen, wenn er meint, daß es „bei Hamann keinen Gedanken [...] von der Rechtfertigung durch das Kreuz Christi im paulinischen Sinne" gebe (Theologische Aspekte, 107). 182 WA 50;250,22-24 (Schmalkald. Artikel). 183 „Nec peccatum ullum, sive praeteritum, sive reliquum in carne manens, imputari, sed velut nullum sit, remissione interim tolli" (WA 39/1; 83 [Dritte Disputation über Rom 3,28; These 34]). 184 Yg] w a 39/1; 234f (Aussprüche Luthers bei der Promotionsdispuation von Palladius und Tilemann am 1. Juni 1537). 185 Ebd, 252,10-12. 186 Vgl. Rom 6,3-5 und die Anspielung Hamanns auf diese Stelle in BW 274,9 (N 1,213), die auffälligerweise das paulinische Futur im Perfekt wiedergibt. 187 Dieses und die folgenden zwei Zitate: BW 299,1-6 (N 1,237); zu Kol 3,3. 188 BW 298,39f(N 1,237). 180

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über Sünde und Tod bedeutet. „Mit Christo in Gott" zu sein heißt nichts anderes als „mit ihm begraben und auferstanden" 189 zu sein, d.h. sowohl „todt" als zugleich auch „ein lebender Mensch, und ein ewig unsterblich lebender Mensch" 190 zu sein. Die Erlösung ist noch von der Vergänglichkeit des geschöpflichen Lebens gezeichnet, und das Wissen um die von diesem „noch" chiffrierte, bleibende Abhängigkeit des Christen von Gottes erlösendem Handeln äußert sich für Hamann in der „Demuth" 191 des Glaubens. Umgekehrt ist die Gegenwart des Glaubenden schon ganz von der „Vereinigung mit Gott" 192 bestimmt, so daß sie trotz ihrer Begrenztheit an der Grenzenlosigkeit des Ewigen partizipiert. Als ein „Herr und Theilnehmer der Ewigkeit" 193 lebt der Christ bereits in der ihm verheißenen „Zukunft", und hier ist die Überwindung des „endlichen] Wesen[s]" 194 und seines Todes geglaubte und sakramental bestätigte Gegenwart. 195

3.5 Teilhabe an göttlicher Allmacht und Liebe Es ist deutlich, daß Hamann jener „Kühnheit", mit der der Glaubende vor Gott auftritt, in seiner Beschreibung zu entsprechen sucht. Die Uneingeschränktheit des genus tapeinoticum fordert die Uneingeschränktheit des genus majestaticum auch dann, wenn dieses der Erfahrung des Christen vorauseilt. „Durch den glauben", so könnte Hamann mit Luther sagen, „feret er über sich jn gott", 196 , und was der Glaube dem Sein Gottes appropriiert, das muß er auch dem Sein des Gerechtfertigten appropriieren. „Durch den Glauben an Jesum Christum" 197 werden ihm das Wirken des Schöpfers sowie das des Geistes „beyde zugeeignet", ist doch „die Gnade [...] wie die Natur eine Schöpfung oder Erfüllung unserer eigenen Gedanken und Wünsche [..,]." 198 Das erinnert daran, daß Luther den Glauben als eine „creatrix divinitatis" 199 bezeichnet hat. Das gläubige Annehmen und Bekennen des rettenden Wortes bringt ja für den Glaubenden erst hervor, worauf er sich bezieht und was ihn begründet. Dabei meint Hamann hier nicht die aposteriorische Identifikation des Glaubenden mit dem in Christus präexistenten Menschen, an 189

BW 274,9 (N 1,213); vgl. Kol 2,12. 190 BW 431,8f(N 11,48; Lebenslauf). 191 Vgl. BW 113,13f(NI,53). 192 BW 73,30 (N 1,15). 193 BW 371,14 (N 1,269). 194 Vgl. BW 363,23f (N 1,260). 195 Zur Bedeutung des Abendmahls für Hamann vgl. den Bericht aus dem „Lebenslauf" (BW 431,11-17 [N II,48f]) und BW 86,7-9 (N 1,27). 196 WA 7;38,8f (Freiheit eines Christenmenschen). 197 Dieses und das folgende Zitat: BW 3 9 9 , l l f (N 1,293; Den 7. May). 198 BW 399,34f(N 1,294). 199 WA 40/l;360,24-28 (Vorlesung zum Galaterbrief, 1531).

Teilhabe an göttlicher Allmacht und Liebe

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dessen „Wünschen" Gott sein schöpferisches und erlösendes Handeln orientiert. 200 Er meint vielmehr die für das Sein des Christen idiomatische Einheit von menschlichem Willen und göttlicher Tat, die sich in der Bejahung des pro me Geschehenen äußert, und, damit eng verbunden, die Einheit von göttlichem Willen und menschlicher Tat, in der sich der Glaube als ein Glaube zeigt, der in Liebe seinen Mitgeschöpfen zugewandt ist.

3.5.1 Einheit von menschlichem Willen und göttlicher Tat Noch einmal ist Hamanns Betrachtung über Rom 10,4-10 und Dtn 30,11-14 heranzuziehen: „Dieses selbstständige Wort mit unserm Munde und Herzen zu bekennen und anzunehmen, an die Predigt seines Evangelii zu glauben, in seiner Menschwerdung die Absicht unserer Erlösung und in seiner Auferstehung die Vollendung derselben zu erkennen, dies heist eben so viel als den Himmel erstiegen zu haben um den Sohn Gottes herunter zu bitten und die Tiefen der Hölle wie Jonas ergründet zu haben um ihn wiederaufzuholen. Das erste ist nichts als ein Wille der letzteren Handlungen], und diesen Willen nimmt Gott für die That an." 201

Der Text beinhaltet eine Paraphrase derjenigen Antwort, mit der Paulus in Rom 10,8f einen von ihm in den Versen 6f hypothetisch formulierten Einwand zurückweist. Paulus formuliert diesen Einwand unter Einbeziehung einer christologischen Interpretation von Dtn 30,11-14, wodurch er den Charakter einer verbotenen oder zumindest falsch gestellten Frage erhält. Denn schon das Zeugnis des Mose beweist für Paulus angesichts der „Gerechtigkeit aus dem Glauben" (V.6) die völlige Vergeblichkeit des Bemühens, sich diese Gerechtigkeit in irgend einer Weise vom „Himmel" herab- oder aus der „Tiefe" heraufzuholen. Christus ist die Gerechtigkeit Gottes, und wer mit seinem „Munde bekennt", „daß Jesus der Herr ist" (vgl. V.9f), braucht nicht mehr „hinauf gen Himmel fahren" (V.6) zu wollen; und wer in seinem Herzen glaubt, „daß Gott ihn von den Toten auferweckt hat", braucht nicht mehr „hinab in die Tiefe fahren" zu wollen, „um Christus von den Toten heraufzuholen" (V.7). Christus ist dort, wo das „Wort des Glaubens" ist, nämlich im „Munde" und „Herzen" des Glaubenden, und diese unmittelbare Gegenwart läßt es für Paulus kategorisch verboten sein, ihn jenseits des rettenden Wortes - sei es im Gesetz oder in der Philosophie - zu suchen. Hamanns Paraphrase dieser Verse setzt die strenge Exklusivität des paulinischen Glaubensbegriffes uneingeschränkt voraus. Zugleich enthält sie eine eigene Interpretation dieses Begriffes, in der sich eine Akzentverschiebung 200 201

Vgl. o. Kap. 2.2.2 und 2.3.3. B W 401,36-402,4 ( N 1,296; „Den 7. May").

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abzeichnet. Dies wird daran deutlich, daß Hamann die von Paulus so schroff abgelehnte Himmel- bzw. Höllenfahrt des nach Gerechtigkeit Suchenden in seine Fassung der Verse 8f integriert, sie also nicht mehr dem zurückgewiesenen Einwand, sondern der bei Paulus diesen Einwand zurückweisenden Antwort zuordnet. Was - in Übereinstimmung mit Paulus - für den Sünder ganz und gar unmöglich ist, das wird - und hier weicht Hamann von Paulus ab - für den Glaubenden zu einer bedeutsamen Wirklichkeit, die Gemeinsamkeiten mit der von Paulus zwar erlebten, aufgrund ihrer Tendenz zur theologischen Verselbstständigung jedoch bewußt in den Hintergrund gedrängten Wirklichkeit des pneumatischen Außer-Sich-Seins aufweist. 202 Für Hamann ist nämlich „dies Wort, das uns so nahe ist, nicht nur der Glaube an Jesum Christum, sondern Christus selbst." 203 D.h. nicht nur die Gerechtigkeit, die Christus für den Sünder erwirkt hat, sondern Christus selber und die ganze Fülle seines Wirkens zwischen „Himmel" und „Hölle" werden zum Eigentum des Glaubenden. Der Glaube schafft sich das bereits geschehene Heil, indem er es will, „und diesen Willen nimmt Gott für die That an." Was um des Menschen willen jenseits von Raum und Zeit beschlossen und gänzlich ohne sein Zutun für ihn geschehen ist, das wird ihm als seine eigene „That" angerechnet, und zwar nicht nur hinsichtlich des darin für ihn Erwirkten, sondern auch im Sinne des genus apotelesmaticum als eines gemeinschaftlichen Wirkens von Gott und Mensch. Es ist „unsre Unschuld", es sind „unsere Leiden, unsere Verdienste, in die sein Glaube uns einwikelt" 204 , wie Hamann, den Gedanken des fröhlichen Wechsels auf die Spitze treibend, formuliert. Gott wird Mensch, damit der Mensch in seinem Wollen, Denken und Handeln Gott entspricht. Hat dieser sein ganzes Wollen und Handeln „aus einem menschlichen Gesichtspunct und Herzen" 205 fließen lassen, so wird umgekehrt „alles was Gott thu[t] und zu thun beschlossen, gleichsam der Wunsch eines Christen. Ist es nicht aug[en]scheinlich, daß Gott in ihm denkt, lebt und webt, und er in Gott." 206

3.5.2 Einheit von göttlichem Willen und menschlicher Tat Das Über-Sich-Hinausfahren und das Unter-Sich-Fahren des Glaubens gehören für Hamann unauflöslich zusammen. Der Christ kann nicht nur wollen, 202 203 204

205 206

Vgl. 2 Kor 12,1-5. BW 401,29f(N 1,296). BW 374,25f (N 1,271; „Am Himmelfahrts-Tage"). Auch den Glauben - das sola fide steht für Hamann außer Frage (vgl. BW 374,lf [N 1,270]) - haben Gott und Mensch gemeinsam. BW 398,37f(N 1,293). BW 369,22-24 (N 1,267). Bei Hamann steht der Infinitiv „thun" statt „thut".

Teilhabe an göttlicher Allmacht und Liebe

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was Gott tut, sondern er muß auch tun, was Gott will. 2 0 7 In einer Betrachtung zu 1 Kön 5,19 kommt Hamann auf das Verhältnis von Gebet und Tat zu sprechen: „Alles Gute was uns einfällt, geschehe auf unser Wort auf uns[ern] Wink, auf unsern Will[en], Denn es ist sein Wort, sein Wink sein Will[en], der uns den Gedankten] u. die Kraft giebt Gutes zu thun. Wenn wir diesen gut[en] Will[en] in uns, [...] sfein] Wort d[as] er uns ins Ohr sagt, nicht allmächtig nicht kräftig seyn lassen, so hört unsere Macht über ihn gleichfalls auf. Uns[er] Gebeth kommt so tod zurück als der Bog[en] schlaff ist, u. die Hand kraftlos, die es abschickte. Jeder Christ muß also wie Salomo gesinnt [sein]: Siehe, ich denke, ich sage, ich thue — diese oder jene Pflicht, dieses oder jene Gelübde; so wird [ihm] alles mögl. [sein,] weil der Glaube allein diesen Fried[en], diese Einigkeit in uns[eren] Gedank[en], Wortfen] u. Handlungen] hervorbringfen] kann." 208 Im Gebet wird das „Wort" Gottes zum „Wort" des Menschen, wird der darin kundgegebene Wille zum „Wink u. Willfen]" des Menschen. Hamann macht jedoch deutlich, daß diese Willenseinheit den Menschen nicht allein zum Tun des Guten bevollmächtigt, sondern auch verpflichtenden Charakter hat. Der Glaube, dessen „Bogen" immer wieder in Tatenlosigkeit zu erschlaffen droht, „muß also wie Salomo gesinnt [sein]", dessen Beschluß zum Tempelbau im Duktus der Erzählung bereits identisch ist mit seinem Beginn. 2 0 9 Das Gefühl von Dankbarkeit und einer daraus entstehenden „Pflicht" genügt nicht, wenn in ihm nicht bereits die Tat ruht, die es beglaubigt. Salomo muß dem „Wink u. Will[en]" Gottes in sich und damit sich selber gehorchen, wie Gott sich in seinem Wort selber gehorcht, indem er tut, was er spricht. „Diese Einigkeit in uns[eren] Gedank[en], Wort[en] u. Handlung[en]" ist für Hamann die entscheidende Voraussetzung für ein Tun, das dem Willen Gottes entspricht. Wie in dem von Gott ausgehenden Wort der Wille und die diesen verwirklichende Tat eins sind 2 1 0 , so darf im Leben des Christen der fromme Wille nicht ohne die Tat bleiben. 211 Die Gottgleichheit, die vom Menschen erstrebt wird und zu der er bestimmt ist, besteht daher auch in einer dem Sein Gottes entsprechenden „Einigkeit" von freiem Willen und gehorsamem Tun, und sie äußert sich darin, daß der Christ seinen ,,gute[n] Wortefn]" 2 1 2 immer „noch bessere Werke" folgen läßt. Auch hier kündigt 207

208 209

210 211 212

Vgl. BW 287,22-41 (N I,225f). 177,30-41 (N 1,116).

B W

Wichtig ist für Hamann vor allem, daß Salomo diesen Beschluß nicht einfach für sich faßt, sondern die Beschlußfassung und die erstmalige Äußerung des Beschlusses vor einem Zeugen identisch sind (vgl. 1 Kön 5,19). Dadurch gewinnt der Beschluß den Charakter einer öffentlichen Selbstverpflichtung, und diese ist als Begründung des Vertrages, den Salomo zur Ausführung des Vorhabens mit Hiram abschließt, schon als Einlösung ihrer selbst zu verstehen (vgl. 1 Kön 5,20ff). Vgl. BW 73,16f (N 1,15); 305,29f (N 1,245). Vgl. BW 307,36-40 (N 1,247). Dieses und das folgende Zitat: BW 177,28f (N 1,116).

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Menschwerdung und Erlösung

sich ein wichtiges Motiv des späteren Hamann an: Nicht die Vernunft, die sich vom Wort Gottes emanzipiert hat, und auch nicht der freie Wille, der das moralische Gesetz ja keineswegs erfüllen kann, sondern einzig der „Glaube an ihn und seinen Namen macht uns allmächtig, macht uns zu Schöpfern, zu Herrn der Schöpfung [,..]." 213 Wie stellt sich Hamann diese „Allmacht" des Gebets vor? Zentral ist hier der Gedanke, daß der Betende sich einbezogen weiß in die „Herrschaft über alles, was im Himmel und auf Erden" 214 ist. Der Auferstehungssieg Christi über gottfeindliche Mächte 215 rückt den, um dessentwillen er erfochten wurde, auf die Seite des siegreich Kämpfenden, macht ihn selber zu einem „Ueberwinder des Bösewichts" 216 und befähigt ihn, diesen „noch zu überwinden, täglich an seinem Siege über ihn Theil zu nehmen." 217 „Du" so sagt Hamann in einem Monolog, „führst ein Schwerdt an deiner Seite, das der Satan schon gekostet [hat], das er gewiß fürchtet, zeige ihm das, brauche es geg[en] ihn, wenn [er] dich stör[en] will [,..]." 218 Aber nicht nur das Böse und Widergöttliche soll der Christ in seine Schranken weisen. Er soll mit Hilfe der ihm verliehenen „Allmacht" auch in das schöpferische und erhaltende Handeln Gottes konigierend eingreifen und so von seiner „Macht über ihn" 219 Gebrauch machen. Gott „will uns an seiner Regierung Antheil nehmen lassen; er will, daß wir das gut machen sollen, worinn er zu sparsam oder zu verschwenderisch gehandelt [zu] haben scheint." 220 Die von Paulus organisierte Kollekte für die in Not geratene Jerusalemer Urgemeinde versteht Hamann als Beispiel für eine solche Korrektur, in der es darum geht, „eine Gleichheit durch entgegen gesetzte Mittel hervorzubringen." 221 Die Mängel der göttlichen „Haushaltung" 222 zeigen, daß Gott mit dem Tun des Menschen rechnet, in gewissem Sinne sogar auf dieses Tun angewiesen ist. In seiner Betrachtung zu Gen 15 paraphrasiert Hamann den Bericht vom Bundesschluß Gottes mit Abraham sogar mit folgenden Worten: „Ich schenke mich selbst dir, der Gebrauch meiner Eigenschaften soll gleichsam in deinen Händ[en] seyn, du sollst dich derselben] wie eines Schildes bedienen [...]. Du sollst mir Gerechtigkeit, du sollst mir 213

BW 375,3-5 (N 1,271; „Am Himmelfahrts-Tage"). BW 363,3f (N 1,260; Betr. zu: „Liebe, die du mich zum Bilde"). 215 Vgl. BW 374,19f(N 1,271). 216 Dieses und das folgende Zitat: BW 305,27-29 (N I,244f); zu 1. Joh 2,12-14. 217 Vgl. BW 119,40-120,3 (N 1,59). 218 BW 122,29-31 (N 1,62); zu Dtn 2,31. Etwas vorsichtiger formuliert O. Cullmann: „Unter der Voraussetzung der durch Gottes Souveränität gebotenen Vorbehalte dürfen wir die Aussage wagen, daß wir durch unsere Gebete zu Gottes Helfern im Kampf gegen das Böse in der Welt werden" (Das Gebet im NT, 182). 219 BW 177,35 (N 1,116). 220 B w 297,25-28 (N 1,236); zu 2 Kor 8,14. 221 BW 297,24f. 222 BW 297,24. 214

Zusammenfassung

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Gnade lehrjen]" 223 . Wie ein „Schild" sollen die göttlichen Eigenschaften den Menschen in seiner Verletzlichkeit schützen, während umgekehrt Gott bei diesem Menschen in die Lehre gehen, nicht gegen sein Empfinden „Gerechtigkeit" üben oder „Gnade" walten lassen will. Hamann behält mit beachtlicher Sorgfalt im Auge, daß der Glaube den Christen zum demütigen Dienst an seinem Mitmenschen ausrichtet 224 , und dies in einer Weise, die das göttliche Tun und Lassen kritisch begleitet. Gottes Schöpfergüte sieht Hamann geradezu in den Schatten dessen gestellt, was der Erlöste als „Schöpfer" und „Herr der Schöpfung" bewirken kann. Damit hat die Teilhabe an göttlicher „Allmacht und Liebe" 225 eine konkrete, ethische und missionarische Funktion. Sie ist das Merkmal des Glaubens, für den das von Gott gesprochene Wort bereits Wirklichkeit ist und der sich zugleich selber zur Mitarbeit bei der Vollendung dieser Wirklichkeit berufen weiß.

3.6 Zusammenfassung 1. Hamann entwickelt seine Soteriologie in Analogie zur Christologie, indem er die unio personalis bzw. die communicatio idiomatum als Typos für die dem Menschen verheißene Vereinigung mit Gott verwendet. 226 Der Idiomenwechsel in der Person Jesu Christi erschließt als „Grundgesetz" und „Hauptschlüssel" 227 nicht allein das supra nos der immanenten Trinität und des heilsökonomischen Handelns Gottes, sondern stellt auch diejenigen Figuren bereit, mit denen sich die Wirklichkeit des erlösten Menschen beschreiben läßt. 2. Hamanns Verhältnisbestimmung von christologischer Figur und soteriologischer Wirklichkeit zeigt sich von derjenigen Dialektik gekennzeichnet, die auch für seine Bestimmung des Verhältnisses von Schöpfung und Erlösung typisch ist. Im geschöpflichen Miteinander von „Leib" (als Inbegriff der sarkischen Sphäre) und „Seele" (als Inbegriff der göttlich-geistigen Sphäre) zeichnet sich für ihn die communicatio von menschlicher und göttlicher Natur ab, die dem Menschen in Christus verheißen ist. Im Gegeneinander dieser Sphären sieht er aber auch einen Hinweis auf die ontologische Geschiedenheit der beiden Naturen, die der Erlösung des Menschen trotz der geschöpflichen communicatio den Charakter des schlechterdings Unverfügbaren ver223 224 225 226

227

B W 92,6-8.12f (N 1,33). Vgl. dazu die Betrachtung zu Lk 10,25-37 ( B W 2 7 2 - 2 7 4 [N 1,211-213]). BW 398,23 ( N 1,293). Er verstößt damit gegen eine von der altprotestantischen Orthodoxie aufgestellte Regel, wonach die unio mystica nicht als eine christusähnliche unio personalis vorgestellt werden darf (vgl. H. Schmid, Die Dogmatik, 307). N 111,27,13f (Ritter von Rosencreuz).

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leiht. Die dem Menschenbild des Alten Testaments nicht entsprechende, von Hamann aber aufgegriffene hellenistische Vorstellung einer Überlegenheit der „Seele" über den „Leib" fügt sich dieser Sicht ein: Angesichts der Sünde muß auch die Wirklichkeit der Erlösung die der Schöpfung unendlich übertreffen. 3. Implizit begegnet die Zuordnung von geschöpflicher bzw. figürlicher communicatio und eschatologischer communicatio auch in Hamanns Aussagen über Vernunft und Glauben. Als intellektuelles Prinzip des Seelischen partizipiert die menschliche Vernunft an den Eigenschaften des göttlichen Geistes, so daß auch die kulturellen Leistungen der Menschheit sich mittelbar als inspiriert verstehen und typologisch interpretieren lassen.228 Die durch diese geschöpfliche communicatio allen Menschen ermöglichte Selbstüberschreitung („natürliche Religion") ist figürliche Antizipation der Glaubenserkenntnis („geoffenbarte Religion"), durch die einerseits die Vernunft ihrer Unzulänglichkeit zur Verwirklichung der Erlösung überführt, andererseits aber auch wiederhergestellt wird. Glaube ist für den frühen Hamann auch die Wiederherstellung der supralapsarischen Einheit von Glaube und Vernunft, die überhaupt erst die Reflexion auf die infralapsarische Differenz beider ermöglicht. 4. Die „Theilnehmung der göttl. Natur"229 sieht Hamann in allen ihren Ausprägungen gezeichnet von der Anteilhabe des Erlösten an einer Demut, in der sich Gottes Wesen und Handeln, „die Verborgenheit, die Methode u. die Gesetze seiner Weisheit und Liebe"230 in ihrer allem menschlichen Denken und Wollen so radikal entgegengesetzten Eigentümlichkeit zeigen. Die „Allwissenheit" des Glaubenden hebt die Beschränktheit menschlicher Vernunfterkenntnis nicht auf, die ihm zugeeignete „Gerechtigkeit" kennt Hamann nicht ohne die Erfahrung von Anfechtung und Versagen, und auch die „Allmacht" des Gebets bleibt gebunden an die Schwäche dessen, der sich mit Leib und Leben der Gnade Gottes verdankt. Theopoiesis ist Christopoiesis; die Gottwerdung des Menschen ist nicht zu trennen von seiner Menschwerdung. Was den menschgewordenen Menschen vom Sünder in bleibender Weise unterscheidet, ist das Wie-Christus-gesinnt-sein dessen, der „es nicht als einen Raub betrachtet, Gott gleich zu sein". So kann man sagen, daß die soteriologischen Aussagen der Londoner Schriften insgesamt als eine Auslegung des Christus-Hymnus aus Phil 2 zu verstehen sind. Die häufigen Anspielungen insbesondere auf Phil 2,7f belegen dies.231

228

229 230 231

Dies wird Hamann in den „Somatischen Denkwürdigkeiten" am Beispiel des heidnischen Philosophen Sokrates durchführen; vgl. N II,57ff. BW 370,17f (N 1,268); vgl. BW 171,14f (N 1,110). BW 411,9f (N 1,303; Brocken § 3). Vgl. BW 587.

Zusammenfassung

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5. Mit der Parallelisierung von Christologie und Soteriologie nähert sich Hamann, dem jungen Luther vergleichbar, an mystisches Gedankengut an. 232 Im Gegensatz zur Mystik versteht Hamann jedoch die unio nicht als ein Verschmelzen des Erlösten mit Gott, sondern als durch das Bibelwort vermittelte Erfüllung der biblischen Heilsverheißung. Zwar sprengt diese Erfüllung den Rahmen des Geschichtlichen, und nur auf diesem Hintergrund können Hamanns problematische Aussagen über die Nichtigkeit des geschöpflichen Seins (und auch des Bösen) verstanden werden. Deutlich ist aber, daß für ihn auch die Erfüllung der biblischen Verheißungen prozessualen Charakter hat: „Unser ganzes Leben ist eine beständige Erlösung" 233 , auf immer neue Anrede und Nahrung angewiesen.

232

233

Dies ist sicherlich auch bedingt durch entsprechendes Gedankengut, welches ihm in den von ihm meditierten Liedern aus dem Umfeld des Pietismus begegnete. BW 379,2f (N 1,275); vgl. Mt 6,13.

Ergebnis des ersten Teils 1. Hamanns Typologie ist hermeneutisch praktizierte Christologie. Sie gründet auf der Überzeugung, daß die Gesamtheit des Wirklichen sich dem Christusgeschehen verdankt und ihm entgegengeht. Von der Annahme des sterblichen Fleisches durch das ewige Wort erschließt sich die Wirklichkeit der Welt, des Menschen und seiner Geschichte als ein göttliches Drama, welches dem Gläubigen in immer neuen Figuren und Bildern die durch Christus vollbrachte Erlösung vergegenwärtigt. Deshalb kann Hamann überall in der Bibel mit teilweise unverständlicher, teilweise aber auch beneidenswerter Unbefangenheit jenes „schönste aller Bänder" 1 entdecken, ohne das im Analogiebegriff enthaltene Moment der Ungleichheit zu übersehen. 2. Das Für-sich-selbst-Sein eines Dinges („Natur") oder Ereignisses („Geschichte") in der Einheit mit seinem Auf-anderes-hin-Sein ist im Wort der Bibel sprachlich faßbar. Das in Raum und Zeit Geschehende wird durchsichtig; es zeigt in unerschöpflicher Vielfalt göttliches Reden und Handeln. Einer Universalisierung der gottmenschlichen Einheit (alles ist göttlich) entspricht die nicht unproblematische Universalisierung der gottmenschlichen Unterschiedenheit (alles ist menschlich). Dies begründet einen dualistischen Zug in den Londoner Schriften, auf den R. Unger zu Recht hingewiesen hat. Schöpfung und Geschichte, aber auch Inkarnation und Kreuzesgeschehen sind Bilder und insofern in ihrer Bedeutung durch das Abgebildete begrenzt; selbst die Erfüllung der biblischen Verheißungen durch das Christusgeschehen bekommt dadurch den Charakter einer Verheißung, die einer letzten Erfüllung durch den Glauben des Menschen bedarf. 3. In dieser Begrenzung der Bedeutung von Schöpfung und Geschichte liegt ein weiteres Problem. Es finden sich Formulierungen bei Hamann, die sich dahingehend interpretieren lassen, daß die Art und Weise der Erfüllung biblischer Verheißungen durch die gläubige Seele als Konstitution der Wirklichkeit der Erlösung und, da die Schöpfung eine Bedingung der Möglichkeit von Erlösung darstellt, als selbstschöpferische Konstitution von Wirklichkeit überhaupt zu denken sei. Insbesondere die Vorstellung des seelischen Erlebens als einer „Schaubühne", auf der die in der Bibel erzählte Heilsgeschichte nicht etwa nur aufgeführt, sondern den individuellen Bedürfnissen des Subjektes gleichsam angepaßt, wenn nicht diesen gar untergeordnet wird, wirft die Frage auf, ob Hamann nicht im Vorgriff auf Schleiermacher eine Umprägung der christlichen Weltanschauung vornimmt. M.E. läßt sich diese Frage nur dann richtig beantworten, wenn man den erwähnten Vorstellungskomplex nicht isoliert betrachtet, sondern als konstitutiven, durchaus jedoch zur Verselbstständigung tendierenden Bestandteil des Communicatio-Gedankens, der 1

E. Jüngel, Der Gott entsprechende Mensch, 7.

Ergebnis des ersten Teils

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seinerseits noch ganz von dem dichotomischen Leib-Seele-Schema geprägt ist. Nicht der Leib, sondern die glaubende Seele ist für den frühen Hamann der Ort der Teilhabe am göttlichen Sein und Handeln, aber sie ist es niemals ohne die Vermittlung durch das leibliche Wort, durch das sie selber eine radikale Neukonstitution erfährt. Anders gesagt: Die glaubende Seele ist Ort der Erfüllung dessen, was die communicatio von Leib und Seele auf der Ebene des geschöpflichen Daseins präfiguriert. Diese Erfüllung erlebt und versteht Hamann ganz ohne Zweifel als eine Begegnung nicht nur mit sich selber, sondern als eine Begegnung mit Christus in sich selber, die den commercium admirabile mit all seinen auch nichtbiblischen Implikationen zum Merkmal eines neuen christlichen Selbstverständnisses macht. 4. Trotz dieser stark individualistischen Sicht mit ihren dualistischen Zügen findet sich bei Hamann bemerkenswerterweise nicht die für entsprechende Anschauungen typische Abwertung der Wirklichkeit des Bildes und ihrer leiblichen Bezüge. Zwar ist für ihn jedes Bild nur durch das von Bedeutung, was darin abgebildet und ausgesprochen ist. Gleichwohl ist es unverzichtbar, weil ohne es gar nichts zu sehen und zu hören wäre. Ihre biblischtheologische Entsprechung findet diese Vorstellung in der paulinischen Rede von der „aapi;", wobei die dadurch chiffrierte Wirklichkeit von Sünde und Tod bei Hamann deutlich positiver gewertet wird. Mensch, Welt und Geschichte sind das Fleisch, welches Gott zum Träger seines Geistes macht, damit Erlösung möglich wird. Folglich ist die Wirklichkeit des Fleisches für Hamann niemals nur Fleisch, sondern durch seine Annahme in Christus von göttlichem Geist beseeltes, mit einer Bedeutung versehenes Fleisch. Die „zufälligen Geschichtswahrheiten" der Bibel sind, wie Hamann später sagen wird, das „hoc est Corpus meum" göttlicher Anrede 2 ; ihre Struktur bildet das Sein dessen ab, der das Subjekt dieser Anrede und ihr einziger Inhalt ist. Hier hat das Staunen des Betrachters darüber seinen Ort, daß Gott in seiner unerklärlichen „Demuth und Liebe" 3 das Chaos einer sündigen Existenz mit seinem Geist gleichsam durchformt und dadurch ihr Festgelegt-Sein auf die Dimension des Nur-Endlichen bzw. des Nur-Figürlichen überwindet. 4

2 3 4

Vgl. N 111,218,26-31. BW 406,35f(N 1,299). Vgl. BW 136,21-30 (N I,75f).

Zweiter Teil: Die Idiomenkommunikation als Interpretament nicht unmittelbar christologischer Sachverhalte Vorbemerkung: Der Vorsehungsglaube Hamanns, wie er in den Londoner Schriften begegnet, gründet in der Überzeugung, daß Schöpfung und Geschichte Funktionsträger des Heilshandelns Gottes sind. Keine der biblischen Geschichten verdankt ihre Überlieferung dem Zufall, weil jede darin erzählte Begebenheit die „Erniedrigung und Herunterlassung Gottes" 1 bezeugt und deshalb von heilsrelevanter Bedeutung ist. Für Hamann äußert sich dies in den typologischen Zusammenhängen innerhalb der Bibel ebenso wie in denen zwischen der Heilsgeschichte und der Heilsgegenwart des Bibellesers. Das dem Miteinander dieser beiden Ebenen von Typologie entsprechende Miteinander von supralapsarischem und inkarnativem Heilsverständnis bleibt als theologisches Koordinatensystem für das Denken Hamanns bestimmend. Es tritt schon in einer frühen Schrift, den „Somatischen Denkwürdigkeiten" 2 , deutlich hervor. Das Leben und Denken des Sokrates wird hier in provozierenden Stilgesten als ein von dem Gott der Bibel für die Verkündigung des Evangeliums in Dienst genommenes und verantwortetes Leben und Denken gezeichnet. Nicht nur als Lehrer, sondern auch als aufgrund seiner Lehren von der Gesellschaft verfolgter und endlich hingerichteter Prophet ist Sokrates das griechische Pendant Johannes des Täufers, eine über sich hinausweisende Figur des Christusevangeliums und als solche ein Maßstab für Philosophie und Ästhetik. Daß Hamann mit seiner Sokrates-Deutung den Horizont der Typologie über die Bibel hinaus ausweitet ist insofern bemerkenswert, als er damit, scheinbar rückwärtsgewandt an eine altkirchliche Tradition anknüpfend, seine in London gewonnenen hermeneutischen Erkenntnisse konsequent und in einer deutlich über diese Tradition hinausgehenden Weise anwendet. Dazu kommt, daß Hamann das von ihm dialektisch bestimmte Verhältnis von Schöpfung (als der Wirklichkeit des Figürlichen) und Erlösung (als der Wirklichkeit göttlicher Gnade) in eine Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium transformiert, die sich in den Londoner Schriften dort ange1 2

BW 59,6f (N 1,5). N 11,57-82.

Vorbemerkung

107

kündigt hatte, wo von biblischen Bildern als „Zuchtmeistern" auf Christus die Rede war. 3 Göttlich ist die physische und intelligible Welt, weil sie trotz ihrer gesetzlichen Strukturen symbolisch auf die Heilswirklichkeit bezogen und von Gottes Providenz verantwortet bleibt; menschlich ist sie zugleich, weil das Menschliche ebenso wenig wie das Gesetz (im paulinischen Sinne) das zu realisieren vermag, was es fordert und ankündigt. Nicht unmittelbar christologische Sachverhalte wie Natur und Geschichte, Vernunft und Sprache, Gesellschaft und Sexualität lassen sich für Hamann aufgrund dieser Dialektik mit Hilfe der communicatio idiomatum erschließen. Aus einem Interpretament des Menschwerdungsgedankens wird ein Interpretament derjenigen Wirklichkeiten, die in einer vom Christusgeschehen abgeleiteten Weise ein Zusammenkommen von Gott und Mensch ermöglichen. Damit läßt sich die Aufgabe dieses zweiten Teils der Untersuchung umreißen. In einem ersten Schritt wird dem in den Londoner Schriften angelegten Gedanken einer universalen Bestimmung der Welt durch das Wort Gottes nachzugehen sein. Beabsichtigt ist, Hamanns verbalistische Position in ihrem Verhältnis zu den idealistischen und materialistischen Ausläufern der Aufklärung zu verdeutlichen und anhand dieser Position die wesentlichen Grundlagen seines Denkens mit ihren philosophischen und theologischen Implikationen vorzustellen (1). In den sich anschließenden Kapiteln sollen jeweils einzelne Aspekte dieser Position anhand je einer wichtigen Schrift Hamanns untersucht werden. Hier wird dann die Bedeutung der communicatio idiomatum für Hamanns Verständnis von Ästhetik (2), Geschichte (3), Erkenntnistheorie (4), Gesellschaft (5) und Geschlechtlichkeit (6) darzustellen sein.

3

S. im 1. Teil Kapitel 1.3, Anm. 74; vgl. ZH II,9,34f.

1. „ Dialektik des Wirklichen "1 1.1 Der exemplarische Charakter der Bibel für den biblischen Kontext Daß Gott „durch Menschen" 2 redet, mag man für eine theologische Selbstverständlichkeit halten. Aber enthält diese Selbstverständlichkeit nicht ein höchst brisantes Problem, möglicherweise das Grundproblem aller theologischen Rede von Gott? Versteht man das „durch" im Sinne einer Instrumentalisierung des Menschen zu einem willenlosen Werkzeug göttlichen Redens (Verbalinspiration), dann hebt es sich selber auf. Man könnte zwar formal an dem „durch Menschen" festhalten, müßte dies jedoch als ein Reden Gottes unter definitivem Ausschluß des Menschlichen bestimmen, gleichsam als ein Durch-denMenschen-Hindurchreden Gottes. Mit Johann Gerhard wäre dann zwischen einer göttlichen „causa principialis" und den menschlichen „causae instrumentales" zu unterscheiden, die nur deshalb als „Sancti Dei homines" zu qualifizieren sind, „cum nec locuti fuerint nec scripserint humana sive propria voluntate, sed cj>eponevoi imo xou irveuncttog ayiou acti, ducti, impulsi, inspirati et gubernati a Spiritu sjancto] [...]." 3 Versteht man das „durch" hingegen im Sinne einer Einbeziehung menschlicher Sponaneität und Individualität, dann bricht die Frage nach dem Anteil des Menschlichen im Gotteswort auf. Ist nur der Inhalt der Anrede göttlichen Ursprungs, dann bestünde der Beitrag des Menschen darin, diesem Inhalt eine Form zu geben, die seine sprachliche Vermittlung ermöglicht (Realinspiration). Geht man jedoch im Sinne eines nominalistischen Denkansatzes davon aus, daß realia und nomina nicht identisch sein müssen, dann könnte eine solche Bestimmung hinführen zu einer theologisch bedenklichen Spiritualisierung des Göttlichen, gegen die sich insbesondere Luther, unter anderem in seiner Auseinandersetzung mit Zwingli, vehement zur Wehr gesetzt hat. Göttlicher Geist und menschliches Wort fallen auseinander, dem Phänomen der Sprache kommt etwas Uneigentliches zu. 4 Gott inspiriert zwar, aber er redet nicht, denn ein sich in Worten veräußernder Gott ist nicht absolut. Der biblische Glaube gerät aus dieser Sicht leicht in den Verdacht der Bibliolatrie. Bei der Untersuchung der Londoner Schriften war deutlich geworden, daß Hamann sich fraglos in größerer Nähe zu dem soeben zuerst beschriebenen

1

Diese Wendung übernehme ich von M. Seils, Entkleidung und Verklärung, 519 (Nachwort). 2 BW 68,1 (N 1,10). 3 Johann Gerhard, Loci theologici, Tomus primus, locus primus (De scriptura sacra), § 18 (zit. nach H. Schmid, Die Dogmatik, 43). 4 Vgl. O. Bayer, Leibliches Wort, 4f.

Der exemplarische Charakter der Bibel für den biblischen Kontext

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Modell der Verbalinspiration bewegt. 5 Zu beachten ist allerdings, daß Hamanns Typologese „in gewissem Sinn [...] gar keine Schriftdeutung, sondern eine Geschichtsdeutung, keine Auslegungsart, sondern eine Theologie der Geschichte" darstellt, daß „deshalb zu ihr als Begründung zuerst nicht der Inspirations-, sondern der Vorsehungsgedanke [gehört]." 6 Nicht der Wortlaut der Bibel, sondern die an diesen Wortlaut gebundene Heilsgeschichte ist von Ewigkeit her festgelegt, und zwar durch die Vereinigung von Gott und Mensch in der Person Jesu Christi, in der sich die Ökonomie des göttlichen Handelns präfiguriert. Folglich besteht für Hamann die „Einheit der göttlichen Offenbarung" 7 nicht in der Einheit der biblischen Offenbarung. Sie besteht vielmehr darin, „daß der Geist GOttes sich durch den Menschengriffel der heiligen Männer, die von ihm getrieben worden, [...] eben so erniedrigt und seiner Majestät entäußert, als der Sohn Gottes durch die Knechtsgestalt und wie die ganze Schöpfung ein Werk der höchsten Demuth ist." Mit dieser Aussage aus dem ersten „Kleeblatt hellenistischer Briefe" knüpft Hamann an vergleichbare trinitarische Formeln der Londoner Zeit an.8 Wie schon dort achtet er auf die Gleichordnung von Schöpfung, Inkarnation und Inspiration, die jede Verschiebung des trinitarischen Gleichgewichts zugunsten eines isolierten Begründungsansatzes für die „Einheit der Offenbarung" verhindert. Die Inspiriertheit der Bibel wird nicht zur Begründung dieser „Einheit" abstrakt behauptet, sondern als ein Bestandteil derselben dem Kondeszendenzgedanken subsumiert. 9 Die demütige Annahme des nichtgöttlichen Seins ist die „Einheit", unter der sich alles göttliche Handeln und Reden in der Welt begreifen läßt. „Eben so" wie Schöpfung und Inkarnation ist auch die Bibel von der „höchsten Demuth" inspiriert; sie ist ein Text, aber ein exemplarischer, auf andere Texte hinweisender Text im Kontext eines umfassenden Inspirationsgeschehens. In der Bibel das Ganze der Offenbarung zu sehen, hält Hamann jedenfalls für ein „groß Vorurtheil" 10 , denn die darin erzählte Geschichte ist für ihn ein „Exempel" 11 , durch welches der Offenbarer „die Verborgenheit, die Methode und die Gesetze seiner Weisheit und Liebe [hat] erklären wollen,

6 7 8 9

10 11

Was die Londoner Schriften betrifft, ist der Einschätzung H. Lindners zuzustimmen, nach der bei Hamann „eine Verbalinspirationslehre" vorliegt, „die nicht in einer behaupteten Vollkommenheit der Bibel ihre Stoßrichtung hat, sondern im Lobpreis des erhabenen Gottes, der gerade den W e g der humilitas geht, um seine Herrschaft auszubreiten und Menschen zu gewinnen" (J.G. Hamann, 28). K. Gründer, Figur und Geschichte, 133. Dieses und das folgende Zitat: N 11,171,4-8 (Kleeblatt hell. Briefe). Vgl. B W 59,3-8 ( N 1,5) und B W 151,37-152,8 ( N 1,91). Vgl. H. Lindner, J.G. Hamann, 18. G. Maier sieht es genau umgekehrt: „Aus der Inspiration der ganzen Schrift ergibt sich die .Einheit der göttlichen Offenbarung' " (Biblische Hermeneutik, 307). B W 411,7 ( N 1,303; Brocken § 3). Dieses und das folgende Zitat: B W 411,9-13.

110

Dialektik des Wirklichen

sinnlich machen, und uns die Anwendung davon auf unser eigen Leben und auf andere Gegenstände, Völker und Begebenheiten, überlassen." Später wird Hamann das Alte Testament als „ein lebendiges geist- und herzerweckendes Elementarbuch aller historischen Litteratur im Himmel, auf und unter der Erde" 12 bezeichnen. Die Bibel will nicht nur einfach gelesen, sondern angewendet werden. Die in ihr erklärte „Methode" der Selbsterniedrigung Gottes versteht Hamann als hermeneutischen Schlüssel zur Erschließung ihres Kontextes, der in gleicher Weise wie sie „ein Werk der höchsten Demuth" ist. Die Inspiration der Schrift exemplifiziert damit den Charakter der Welt bis in die Gegenwart ihres Lesers hinein, und das heißt für Hamann: „Alles lebt und ist voll von Winken auf unsern Beruf und auf den Gott der Gnade." 13 Wenn Gott den „sinnlichen Buchstaben"14 der Geschichte Israels zum Leben erweckt, indem er ihn trotz seines kontingenten Charakters mit einer über sich hinausweisenden Bedeutung versieht, dann muß auch die ganze Welt ihr Dasein einem inspirierenden Hauch verdanken, der sie nicht nur ins Dasein ruft, sondern zur Zeugenschaft für das göttliche Heilshandeln erwählt. Nicht nur das „Buch" des göttlichen „Schriftstellers" 15 , sondern „alle Geschichte, alle Wunder, alle Gebote u. Werke Gottes" 16 weisen in typischer oder antitypischer Bezogenheit hin auf die „Erlösung Jesu Christi". Zwar sind diese außerbiblischen Texte ohne den biblischen Text nicht zu verstehen. Von ihm her können jedoch auch sie als Texte verstanden werden, „durch" die Gott redet, und zwar auch dann, wenn sie die unverkennbare Handschrift des Menschen tragen.17 In diesem Sinn ist wohl auch Hamanns Bemerkung zu verstehen, daß „jedes Buch" ihm „eine Bibel" sei. 18 Was sich in den Londoner Schriften bereits angedeutet hatte, festigt sich zum theologischen Fundament des Hamannschen Denkens: Der Gedanke einer universalen Inspiration des Wirklichen durch den Geist Gottes, der das scheinbar zufällige Durcheinander natürlicher und geschichtlicher Prozesse zu einem Sinnganzen zusammenfügt und so die Welt zum lesbaren Text, zur hörbaren Anrede macht. „Schöpfung als ,Rede an die Kreatur durch die Kreatur'" ist, mit Oswald Bayer formuliert, die zentrale „Formel" 1 9 , in der sich die „Freiheit" des die Kreatur anredenden Gottes mit der „Liebe" dessen verbindet, der „nicht nur auf, sondern in [die Welt] eingeht und sich ein Ge-

12 13 14 15 16 17

18 19

N 111,311,5-8 (Golgatha und Scheblimini; Hervorheb. aufgeh.). B W 411,6f ( N 1,303; Brocken § 3); vgl. B W 417,5-9 ( N 1,308). B W 421,8 ( N 1,315). B W 59,3.6 ( N 1,5). Dieses und das folgende Zitat: B W 343,6-8 ( N II, 40,17-19; Lebenslauf). Zur Bedeutung der Buch-Metapher für Hamann vgl. O. Bayer, Zeitgenosse, 91-93 („Das Buch der Natur und der Geschichte"). Z H 1,309,11 (an J.G. Lindner am 21. März 1759). Schöpfung als Anrede, 16.

Das Apriori des Kreuzes

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schöpf z u m Schöpfungsmittler erwählt." 2 0 Nicht eine „weltliche Vermittlung allgemein" 2 1 ist mit der Formel gemeint, sondern die Person Jesu Christi, in der der anredende Schöpfer mit d e m diese Anrede vermittelnden G e s c h ö p f identisch ist. S c h ö p f u n g als „Rede an die Kreatur" ist göttliches Wort, S c h ö p fung als R e d e „durch die Kreatur" ist m e n s c h l i c h e s Wort: „Gottes Anrede an die Kreatur ist nicht ohne kreatürliches und zeitliches Medium."22 D a ß Gott an allen Orten („Natur") und zu allen Zeiten („Geschichte") „durch Menschen" redet, bedeutet weder eine Instrumentalisierung des M e n schen zu einem w i l l e n l o s e n W e r k z e u g noch ein A u f g e h e n Gottes in der Welt. Es w e i s t vielmehr hin auf das Apriori der Selbstentsprechung Gottes, der als verus h o m o den M e n s c h e n und seine Wirklichkeit in sein R e d e n und Handeln einbezieht, um als verus deus zur Geltung zu k o m m e n .

1.2 D a s Apriori des Kreuzes: Der Zusammenhang v o n Inspiration und Rechtfertigung D i e „Glose Philippique" 2 3 , eine düstere „Brandrede" 2 4 g e g e n die geistige Vorherrschaft der f r a n z ö s i s c h e n A u f k l ä r u n g i m f r i d e r i z i a n i s c h e n Preußen, zählt zu den weniger bekannten Schriften Hamanns. Deutlicher als irgendwo 20 21 22

23

24

Ebd, 17. Ebd, 18. Ebd. - Bezeichnend ist, daß 0 . Bayers Interpretation der zentralen Hamann-Stelle nicht ohne Widerspruch geblieben ist. E. Döring kritisiert in seiner Besprechung des Buches „Zeitgenosse im Widerspruch" („Hamann als Theologe"; in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 132, 77) mit harten Worten die „spezifisch theologische Perspektive, auf welche Bayer ,seinen' Hamann oftmals gewaltsam (und gegen das Original) festlegen will." Bayers christologische Interpretation, so Döring, „umgeht gerade die säkulare Bedeutungsdimension einer vollständigen .Herablassung' Gottes. Döring fährt fort: „Im Original findet sich noch die zusätzliche Explikation, gemäss der sich Gott ,durch Menschen dem Menschen hat offenbaren wollen', die von Bayer nicht erwähnt wird. Allein schon der Plural (.Menschen') gibt hier zu verstehen, dass zumindest nicht nur an Christus gedacht sein kann, sondern an alle individuelle - also auch weltliche - Vermittlung." - Es stimmt natürlich, daß bei der genannten Parallelformulierung „nicht nur an Christus gedacht sein kann". Wenn Döring nun aber der christologischen Vermittlung „alle individuelle - also auch weltliche - Vermittlung" kontrastierend gegenüberstellt, blendet er die oben dargelegte Begründungsstruktur des Hamannschen Kondeszendenzgedankens aus: Gott redet „durch Menschen", aber eben nur so, wie er schon in Christus geredet hat, und seine weltweite Rede bezeugt auch nichts anderes als diesen Christus. So kann auch die von Döring ins Blickfeld gerückte „vollständige .Herablassung' Gottes" für Hamann wohl keine Zurücknahme des christlichen Wahrheitsanspruches zugunsten einer wie auch immer gearteten Verweltlichung Gottes bedeuten, sondern verdankt sich vielmehr, wie im ersten Teil dieser Arbeit gezeigt wurde, einer christologischen Radikalisierung der Trinitätslehre im Sinne einer Steigerung der von Döring bemängelten ,,dogmatische[n] Exklusivität". N 11,287-297; übersetzt und erläutert von C. u. U. Knudsen (Hamann und Frankreich), 80ff. Die Zitate werden im Text unter Angabe von Seiten- und Zeilenzahlen der NadlerEdition, jedoch in der genannten Übersetzung nachgewiesen. J. Nadler, J.G. Hamann, 141.

112

Dialektik des Wirklichen

sonst in seinen Schriften bringt Hamann jedoch hier zum Ausdruck, daß er die Subsumtion des Inspirationsgedankens unter die dreieinige „Demuth" Gottes im Kontext seines Verständnisses der paulinischen Kreuzestheologie und der damit verbundenen Lehre von der Rechtfertigung des Sünders verstanden wissen will. Er schreibt: „Das Evangelium, das mir anvertraut ist, ist die heimliche, verborgene Weisheit Gottes; -- die Enzyklopädie eines Genie-Schöpfers, der durch die Kraft seiner bon mots das repräsentative Universum aus dem Nichts heraus- & und wieder in das Nichts eintreten läßt; - eines Genie-Mittlers, dem die Vorliebe für die Kadetten der materiellen und geistigen Welt die Kriegslist eingab, an der Uniform der menschlichen Natur, am Blut & Fleisch teilhaftig zu werden [...]; ~ eines GenieSchriftstellers, der alle Dinge erforscht, auch die Tiefen der Gottheit [...]" (294,2534). Daß Hamann die Beschreibung der göttlichen Personen in drei Sätzen nebeneinanderstellt, entspricht der Struktur anderer trinitätstheologischer Aussagen. Singulär ist hingegen, daß diese drei Sätze als syntaktisch gleichgeordnete Appositionen eines einzigen Satzes („das Evangelium ist die Weisheit Gottes") erscheinen, auf das sie in gleicher Weise bezogen sind. Das „Evangelium", in dem sich der göttliche Heilswille bekundet, ist die in den „Tiefen der Gottheit" verborgene, schlechterdings unerklärliche „Weisheit". Selber durch nichts zu begründen, liefert sie die Begründung für die Existenz des sichtbaren „Universums", welches für eine Zeitspanne die ihm zugrunde liegende unsichtbare Wirklichkeit des Geistes repräsentiert, bevor sein „Genie-Schöpfer" es wieder „in das Nichts eintreten läßt". Schöpfung, Inkarnation und Inspiration werden zwar als jeweils eigenständige Hervorbringungen des dreieinigen „Genies" zur Geltung gebracht. Sie sind gleichwohl einem einzigen Gedanken funktional zugeordnet, von dem sie gewissermaßen inspiriert sind und als dessen Ausführung sie verstanden werden müssen. Die „Weisheit Gottes", die das schöpferische und erlösende Handeln umgreift, ist, und hier liegt die polemische Stoßrichtung der „Glose", die von allen Formen menschlicher Weisheit („bon sens") 25 streng zu unterscheidende Torheit des Kreuzes. „Das Wort vom Kreuz" (295,31) mit seinem skandalösen Charakter 26 ist für Hamann der Inhalt des im Logos präexistenten ,,Evangelium[s]" (294,25), dem sich die Welt und ihre Geschichte, aber auch alle wahre Erkenntnis verdanken. 27 Die göttliche Heilswirklichkeit geht der Heilsgeschichte voraus; denn schon „am Anfang der Tage" (296,17) ist der Sünder durch „das Blut des Bundes [...] geheiligt" (296,16) worden, „als seine Seele ohne Form & leer von allen Ideen war, & der Geist der Gnade über

25 26 27

Vgl. N 11,294,8. Vgl. N 11,295,31-296,7. Vgl. N II,294,23f.

Das Apriori des Kreuzes

113

den Wassern schwebte, - welche die Figuren waren, die der Wahrheit entsprechen, welche in den Himmeln ist" (296,17-20). 28 Das „Wort vom Kreuz" ist demnach das durch den Tod Christi erwirkte Wort von der Rechtfertigung des Sünders, welches für Hamann „am Anfang der Tage" gesprochen wird und damit der Existenz eines jeden Menschen immer schon zugrunde liegt. Die Rechtfertigung des Sünders hat seinsgründenden Charakter; sie ist für Hamann durchaus „ein Ereignis von ontologischer Relevanz" 29 . Indem Gott sich in Christus mit dem „Blut & Fleisch" der menschlichen Wirklichkeit verbindet, rechtfertigt er ihr Dasein, so daß der Sünder „geheiligt" ist, noch bevor es ihn gibt. Das schöpferische Herausrufen der noch formlosen menschlichen Seele aus den „Wassern" wird, wie Hamann mit dieser faszinierenden Zusammenschau von Heb 9,23 und Gen 1,2 andeutet, unversehens zur „Figur", die eine „in den Tiefen der Gottheit" verborgene, himmlische „Wahrheit" repräsentiert. Diese „Wahrheit" ist die Geschichte von Kreuz und Auferweckung Jesu Christi, die der Welt als „terminfus] a quo und terminfus] ad quem"30 immer schon voraus ist. Hamann versucht mit dieser Deutung offenkundig, die Intention der ihr zugrundeliegenden paulinischen Texte, nämlich den Gedanken der Unvereinbarkeit von menschlicher Weisheit und göttlicher Selbsterniedrigung zu radikalisieren. Der „Geist der Gnade" formt zu Beginn der Welt die Wirklichkeit des ,,Nichtige[n]" zu einem universalen Sprachgeschehen und präfiguriert damit die Formung des Sünders durch den Tod Christi am Kreuz, der bei Hamann nicht nur durch seinen skandalösen, scheinbar widervernünftigen Charakter, sondern auch durch seinen infralapsarischen Ursprung dem Zugriff menschlicher Vernunft schlechterdings entzogen ist. Zur Begründung zieht Hamann 1 Kor 2,7-9 heran, wo Paulus die „Weisheit Gottes" als den Inhalt seiner Verkündigung bezeichnet, „die im Geheimnis verborgen ist, die Gott vorherbestimmt hat vor aller Zeit zu unserer Herrlichkeit". Es ist eine „Weisheit", die auch bei Paulus nicht nur aller menschlichen Weisheit schlechterdings entgegengesetzt, sondern in der Wirklichkeit eines von „diesem Äon" radikal geschiedenen „Äon" gründet. Dieses supra nos der „Weisheit Gottes", die zugleich eine dem Glaubenden zugute kommende, ihn gerecht machende „Weisheit" ist, bringt Paulus in 1 Kor 2,9 mit dem Zitat von Jes 64,3 zum Ausdruck, welches auch im Kontext der hamannschen Interpretation eine tragende Funktion hat. 31 28 29 30 31

Vgl. Gen 1,2 und Heb 9,23. E. Jüngel, Der Gott entsprechende Mensch, 298. N III,192,24f (Zweifel und Einfälle). Die Übertragung des Jesaja-Zitates lautet bei Hamann im Zusammenhang seiner Kritik am „bon sens": „Das Wort vom Kreuz ist in den Augen der rechtgläubigen Theologen und der abergläubischen Mönche der größte Stein des Anstoßes [...], für einen Philosophen des gesunden Verstandes und Freidenker ist es die größte Torheit [...]; aber für die Erwählten ist es ein selbsttätiges System, lebend von Wahrheiten, die kein Auge gesehen, kein Ohr gehört hat, die nicht im Herzen des Menschen entstanden sind, die der Maschinen-, Pflanzen-, Tierschriftsteller nicht versteht und nicht einmal wahrnehmen kann; denn der Geist, der von Gott kommt, kann uns allein die Macht Gottes und die Weisheit Gottes offenbaren, indem er die Sünder rechtfertigt und die verurteilt, die sich selbst rechtfertigen" (295,31-296,7; übersetzt von Susanne Fritsch). Knudsen (aaO [Antn. 23] übersetzt

114

Dialektik des Wirklichen

Hinter dem christologisch zu beschreibenden „Geheimnis", das dem sinnlichen und rationalen Wahrnehmungsvermögen grundsätzlich entzogen ist, verbirgt sich ein dem Menschen zugewandtes Geschehen, „was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben".32 Welt und Mensch verdanken ihre Existenz der Tatsache, daß der Heilswille Gottes ein von seiner Verwirklichung nicht zu trennender und daher ein in Ewigkeit verwirklichter Wille ist. Allerdings zeigt er sich nur im „historischefn] factum" des Kreuzes, auf das nicht nur „alle Terminologie der Metaphysik", sondern auch alles göttliche Reden und Handeln „hinausläuft]". 33 In den „Figuren" einer universalen Bildersprache zeigt sich für Hamann die himmlische „Wahrheit" des Kreuzes als die der nichthimmlischen Welt vorauseilende, rechtfertigende „Gnade" Gottes. Diese begreift allerdings auch apriorisch das göttliche Gericht in sich über jeden, der, wie Hamann in Anspielung auf Heb 10,29 sagt, „den Sohn Gottes mit Füßen tritt & das Blut des Bundes für unrein achtet" (296,15f). 34 Damit ist die Annahme des Sünders in Christus untrennbar verbunden mit dem Niederreißen aller Versuche, die Existenz des „non-ens" mithilfe des im Verhältnis zu dem „Geist der Gnade" gleichfalls nichtigen „bon sens" rechtfertigen zu wollen. „Die Torheit Gottes erwählte das Unedle vor der Welt & das Verachtete, ja das Non-ens, daß er zunichte mache, was sich seiner Haltung & seines Wamses vor ihm rühmt" (295,24-26). 35 Das heißt: Indem das „Wort vom Kreuz" die Rechtfertigung des Sünders als den einzigen Wort-Sinn von Natur und Geschichte behauptet, führt es eine Krisis herauf über alle Instanzen, die der Welt in Konkurrenz zu diesem Wort einen anderen Sinn, eine andere Bedeutung abzuringen oder aufzuzwingen versuchen. Die Rechtfertigung des Sünders entlastet diesen davon, sein Dasein mit eigenen Mitteln zu rechtfertigen. Sie verbietet es ihm aber auch. Versucht man nun, die beiden besprochenen Gedankenkomplexe (Inspiration des Wirklichen - Rechtfertigung des Sünders) zueinander in Beziehung zu setzen, so ergibt sich folgendes Bild: Für Hamann ist das heilsökonomische Handeln des dreieinigen „Genies" Ausdruck einer Wirklichkeit, die allem geschaffenen Sein sachlich vorauszusetzen und von der es bestimmt ist. Die Existenz des „Universums" ist ebenso wie die des Individuums einzig

32

33 34 35

296,3f: „[...] die der Schriftsteller -Maschine, -Pflanze, -Tier nicht vernimmt & die er nicht einmal verstehen kann". Die im Deutschen ungebräuchliche Wortfügung wird von Knudsen wörtlich aus dem Französischen übertragen; die Prädikate comprend und entendre - wohl versehentlich - vertauscht. Diesen Hinweis verdanke ich meiner Frau, die mir für diese Arbeit eigens eine Übersetzung der „Glose Philippique" anfertigte. In einem Brief an seinen Bruder schreibt Hamann: Christus „ist schon versöhnt - nicht heute - von Ewigkeit her - und es ist alles für dich bereitet in diesem und in jenem Leben." (ZH 1,401,25-27 August 1759). Denn Christus ist das „Lamm, das von Anfang der Welt für Uns geschlachtet worden" (ZH 1,401,16). Vgl. dazu N 111,225,15-19. Vgl. ZH V,265,6-8. Vgl. auch N 111,225,17-19. Vgl. auch N 11,171,12-14.

Das pantheistische Moment: Alles ist göttlich

115

gerechtfertigt durch das „Wort vom Kreuz", das es dem Nichtigen entreißt und als ein nunmehr etwas Bedeutendes existieren läßt. In diesem Sinn kann der „Rechtfertigungsglaube" durchaus als eine tragende Säule der Autorschaft Hamanns bezeichnet werden. 36

1.3 Das pantheistische Moment des Gedankens einer universalen Inspiration: Alles ist göttlich Die „Einheit der göttlichen Offenbarung" bestimmt für Hamann die Einheit der Wirklichkeit als einer Welt, in der das Reden und Handeln Gottes zeichenhaft präsent ist. Wirklich ist nicht allein die sichtbare Welt, sondern die sichtbare Welt als Bedeutungsträgerin eines unsichtbaren Inspirationsgeschehens, das im „Wort vom Kreuz" gründet und auf das sie ausgerichtet ist. Es ist gefragt worden, ob Hamann mit dieser Ausweitung des Offenbarungsgedankens nicht das Zeugnis der Bibel in theologisch zumindest verfänglicher Weise relativiere. 37 Mit Emphase hatte er ja in den Londoner Schriften betont, daß „die Natur" wohl „herrlich" sei, im Vergleich zur Bibel jedoch „stumm, [...] leblos für den natürl. Menschen." 38 Wenn sich in diesem Punkt eine Weiterentwicklung im Denken Hamanns ausmachen ließe, dann jedenfalls nicht im Sinne einer Einebnung des Primates der biblischen Offenbarung. Daß die Vorstellung von „Natur und Geschichte" als den „2 großen Commentarii des Göttl. Wortes" 39 dies verbietet, macht schon die in dieser Formulierung implizierte Zuordnung von Text und Kommentar deutlich, und Hamann hat sich nirgends von seiner „ausdrücklichein] Anweisung" distanziert, „das Buch der Schrift dem Buch der Natur überzuordnen." 40 Nicht die Entwertung des Bibelwortes, sondern die Aufwertung der außerbiblischen Offenbarung, genauer die Ausweitung des Inspirationsgedankens auf die von den Natur- und Geisteswissenschaften der Aufklärung gleichsam für ihre Zwecke beschlagnahmten Bereiche der Wirklichkeit ist für Hamann die zentrale gedankliche Voraussetzung dafür, die „Welt als Text" 41 zu lesen. Es genügt nicht mehr, Gott als den Schöpfer der Welt und als den Herrn der Geschichte zu behaupten; in dieser Allgemeinheit wä-

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Dies ist mit F. Blanke (Hamann-Studien, 39) gegen M. Seils (Theol. Aspekte, 107) und H. Gießer (Communicatio, 91) zu sagen. W. Oelmüller, Lessing und Hamann (WdF 511), 362: . A b e r hat nicht auch Hamann [...] den absoluten Offenbarungsanspruch der Bibel preisgegeben?" B W 152,16-18 ( N 1,91); vgl. B W 180,18-20 (N 1,119). BW 4 1 1 , 3 0 f ( N 1,303; Brocken § 3 ) . H.U.v. Balthasar, Hamanns Theolog. Ästhetik, 44. O. Bayer, Zeitgenosse im Widerspruch, 93.

116

Dialektik des Wirklichen

ren solche Sätze unbestritten. 42 Wenn beispielsweise den Deisten die Beibehaltung des Schöpfungs- und Vorsehungsgedankens letztlich nur dazu dient, Gott aus dem Bereich einer in ihrer Eigengesetzlichkeit erkannten Weltwirklichkeit gleichsam hinauszukomplimentieren, dann wird dieser Gedanke antichristlich; er muß in seinen ursprünglichen Kontext zurückgeholt und als funktioneller Bestandteil des beschriebenen Zusammenhanges neu installiert werden. In einem Brief an Herder schreibt Hamann: „Die ganze Erde und der Mensch [sind] nichts als [...] der Speer und das Zifferblatt, die ihren Grund und Bewegung in dem unsichtbaren System des Himmels und der Geisterwelt haben." 43 Dieser Gedanke tauchte schon in den Londoner Schriften auf: Es gibt ein ordnendes Prinzip in einer unsichtbaren Wirklichkeit, welches den Text der Bibel und den Kontext von Natur und Geschichte in gleicher Weise bestimmt. Diese Bestimmtheit chiffriert Hamann in gewollter Einseitigkeit mit dem Lexem „nichts als" im Sinne einer völligen Fremdbestimmtheit der geschöpflichen Wirklichkeit. Das „Zifferblatt" hat keinen Sinn in sich selber, sondern es erhält seine Bedeutung durch das dahinter verborgene Uhrwerk; es zeigt etwas an, was in keiner Weise begriffen oder beeinflußt, sondern nur erfahren werden kann. Die Zeit, unsichtbar und allgegenwärtig, läßt sich mithilfe der Uhr zumindest in der Auswirkung ihres unaufhaltsamen Voranschreitens sichtbar machen; sie kann durch ein Zeichensystem bezeichnet werden, ohne das der Mensch kaum ein Verhältnis zur Zeit haben könnte. Von einem vergleichbar „unsichtbaren System" sieht Hamann die Welt, genauer die „ganze Erde" und den Menschen bestimmt. Die Tatsache, daß sie „nichts als" ein im Kreise verlaufender „Speer" auf einem „Zifferblatt" sind, mindert nicht etwa ihren Wert. Im Gegenteil: Sie ist ihre einzige, nicht zu unterschätzende Bedeutung, die sich nicht nur in den großen Zusammenhängen von Natur und Geschichte, sondern auch, wie Hamann es ausdrückt, in den „Hieroglyphen" der menschlichen Existenz 4 4 erkennen läßt. Zugespitzt heißt das in den „Zwey Scherflein": „Denn gehören die Haare unsers Haupts, bis auf den Wechsel ihrer Farbe, zu den Datis der göttlichen Providenz; warum sollten nicht die geraden und krummen[•••] Grundstriche und Züge unserer symbolischen und typischen [...] Handschrift, Gegenbilder und Spiegel einer Theopneustie, 2 Tim. 111.16., einer unerkannten Centraikraft seyn, in der wir leben, weben und sind - eines ätherisch-electrischen Magnetismus, ,der bis auf die einfachen Substanzen des ganzen Weltalls hindurch dringt'."45

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43 44 45

„Den Vorsehungsglauben als solchen teilt Hamann weitgehend mit seinen deistischen Gegnern" (E. Büchsei, HH IV, 172, Anm. 6). ZH 11,417,12-16 (Brief vom 23. Mai 1768). N 11,200,11 (Aesthetica). N 111,240,25-32 (Zwey Scherflein).

Das pantheistische Moment: Alles ist göttlich

117

Die parallele Verwendung der Begriffe „Providenz" und „Theopneustie" macht deutlich, in welchem Sinne Hamann das Bild von der Uhr verstanden wissen will. Welt und Mensch sind wohl von einer „Centralkraft" 46 durchdrungen, die nicht nur das dem Menschen objektiv Widerfahrende, sondern auch das von ihm Bewirkte formt. Diese Kraft hat eine physikalischen Kräften vergleichbare Intensität und Omnipräsenz; sie ist gleichwohl, wie die Anspielung auf Apg 17,28 und der Hinweis auf 2 Tim 3,16 zeigen sollen, gänzlich anderer Natur. Sie ist kein naturwissenschaftlich beschreibbares Phänomen, sondern einzig auf das Wirken eines „unbekannten Gottes" zurückzuführen, dessen Geist nicht nur die Schreiber der Bibel „getrieben", sondern auch die Gesamtheit der physischen und intelligiblen Welt inspiriert hat. Daß diese Inspiration auch die nichtchristliche Geisteswelt, beispielsweise Homer und Sokrates, aber auch die Größen der aufgeklärten Gegenwart mit einbezieht, versteht sich dann von selbst. Die Welt ist für Hamann die sichtbare Außenseite eines „unsichtbaren Systems", welches das Zusammenspiel von Natur und Geschichte bis in die kleinsten Einzelheiten hinein bestimmt und ihm so einen Wort-Sinn aufprägt, der in einem kommentierenden Verhältnis zum Text der Bibel steht. „Jede Erscheinung der Natur war ein Wort" 47 , aber auch „alle entia rationis, alle Anschauungen und Erscheinungen von Irrthum und Wahrheit, alle Vorurtheile und Voraussetzungen sind gleichsam Dinge einer andern als wirklichen Welt [,..]." 48 Das dem Menschen „nicht nur zu [seinem] Standpuncte ( 8 0 5 |xoi JIOU crtco) sondern auch zu [seinem] Wirkungskreise ( K a i Kivriaco rr|v ynv) gegebene und allein gegenwärtige Weltall" 49 vermag sich auch dann seiner Bestimmung nicht zu widersetzen, wenn es dem Menschen gelingen sollte, es im Mißbrauch seiner Freiheit gleichsam aus den Angeln zu heben. Für Hamann ergibt sich diese Radikalisierung des Providenzgedankens aus der in der Bibel exemplarisch bezeugten Tendenz des göttlichen „Urhebers", sich auf das Entlegendste, ja auch auf das Abstoßendste zu beziehen und dieses so als Bestandteil seiner Botschaft kenntlich zu machen. Wenn „der Geist der mosaischen Gesetze [...] sich [...] bis auf die ekelsten Absonderungen des menschlichen Leichnams [erstreckt]", dann „ist alles göttlich, und die Frage vom Ursprung des Übels läuft am Ende auf ein Wortspiel und Schulgeschwätz heraus." 50 Alles, auch das im Sinne des mosaischen Reinheitsgesetzes Unreine 51 und daher den Menschen für den Umgang mit Gott Disqualifi46

47 48 49 50 51

Nach N VI,72 ein Begriff aus dem Elektromagnetismus, der Hamanns Interesse an den noch ,jungen zeitgenössischen Entdeckungen" auf diesem Gebiet zeigt. N III,32,21f (Ritter von Rosencreuz). N IV,458,2-4 (Über das Spinozabüchlein). N IV,457,45-47. N 111,27,5-8 (Ritter von Rosencreuz). Vgl. Lev 22,4-6.

118

Dialektik des Wirklichen

zierende, verdankt sich göttlicher Inspiration. Das Ekelerregende ebenso wie das Schöne, das Böse ebenso wie das Geniale: „Alles" ist „göttlich", weil sich in allem das Wirken des „unerkannten" Gottes ablesen läßt. 52 Was existiert und geschieht, kann sich nicht dem Willen dessen widersetzen, der es existieren und geschehen läßt. Für Hamann hat daher auch die Sünde als Inbegriff von Sinnlosigkeit und Sinnfeindlichkeit einen inspirierten Wort-Sinn, der ihr von Gott zugewiesen wird. Sie ist ein konstruktiver Bestandteil jenes „repräsentativen Universums", das nichts als „Figuren" einer „Wahrheit" enthält, die „in den Himmeln ist" 53 . An seinen Bruder schreibt Hamann in einem frühen, noch ganz von dem Londoner Erlebnis bestimmten Brief: „Alles wird dir zum besten dienen müßen; alle die Fehler und Irrgänge [...] sind im Grunde nichts als Entwürfe Göttlicher Weisheit und Güte, die du ohne Dein Wißen erfüllt." 54 Das Lexem „nichts als" erinnert an den oben zitierten Brieftext. 55 Auch die Sünde und ihre Folgen sind, wie die materielle Wirklichkeit, durch dieses „nichts als" in doppelter Hinsicht bestimmt. „Nichts", d.h. nichtig ist sie in der Gestalt eines bedeutungslosen „Buchstabens", man könnte sinngemäß wohl auch sagen: nichtig ist sie als Ausdruck gottlosen Eigenwillens. Von Bedeutung ist die Sünde jedoch „als" Bestandteil des göttlichen Heilsplanes, der sie seinen Zielen dienlich macht und dadurch mit einem Sinn versieht. Die ganz und gar menschlichen „Fehler und Irrgänge" haben damit, wie das Böse überhaupt, „ihren Grund und ihre Bewegung in dem unsichtbaren System des Himmels und der Geisterwelt" 56 ; sie verdanken sich letztlich „Göttlicher Weisheit und Güte". So verstanden ist auch die Sünde göttlich und menschlich zugleich. Hamann bringt damit das pantheistische Moment einer schöpfungstheologisch unbestreitbaren Bestimmung zur Geltung. Er kann das „ev Kai Jiav" Lessings durchaus positiv verstehen 57 , ja sogar sagen, „lieber Pantheismum als Anthropotheismum geglaubt" 58 zu haben. Er begründet diesen Glauben mit dem Hinweis auf das theopneustische Wirken Gottes. „Göttlich" sind alle „Wirkungen im Großen und Kleinen, oder im Himmel und auf Erden" 59 insofern, als sie von Gott geschaffen und mit einer Bedeutung versehen worden sind. Göttlich sind sie nicht aufgrund ihres bloßen Daseins, sondern aufgrund 52

53 54 55 56 57 58 59

„Das Böse auf der Welt [...] ist jetzt in meinen Augen ein Meisterstück der Göttl. Weisheit" (ZH 1,243,18-20; an den Bruder im August 1758). „Ich sehe aber, daß des Menschen W e g nicht in seiner Hand ist und der Plan eines höheren Fingers [...] regiert und lenkt. [...] [Gott] mischt sich in alle unsre Thorheiten, Vorurtheile, Leidenschaften, sie mögen so blind seyn wie sie wollen" (ZH V,466,1-5; an Jacobi am 29. Juni 1785). N II,296,19f (Glose Philippique). ZH 1,402,8-12 (August 1759). S . A n m . 43. S. Anm. 43. Vgl. dazu R. Knoll, Hamann und Jacobi, 52f. ZH V I , 2 3 1 , l f (an Jacobi am 15. Jan. 1786). N 111,27,2-4 (Ritter von Rosencreuz).

Das anthropozentrische Moment: Alles ist menschlich

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ihres Bedeutungsgehaltes, ohne den sie „nichts als" nichts wären. Alles ist „Wort" und damit „Zeichen, Sinnbild und Unterpfand einer neuen, geheimen, unaussprechlichen, aber desto innigem Vereinigung, Mittheilung und Gemeinschaft göttlicher Energien und Ideen." 60 Wie die Bibel, so versteht Hamann „die Welt als Vermittlerin und Trägerin des Geistes" 61 , als materielles elementum, zu dem ein sinngebendes und insofern auch belebendes verbum hinzutritt. Die Erscheinungen der materiellen und die Hervorbringungen der intelligiblen Welt, d.h. die scheinbar eigengesetzlich geordnete „Natur" und die willkürliche „Handschrift" des vernünftigen Individuums sind Bestandteile eines Zeichensystems, welches das Heil sakramental repräsentiert. Demnach ist die „unerkannte Centralkraft" nicht ein unbeschreibliches und zugleich sprachloses „Etwas", welches jederzeit auch in das „Nichts" der Bedeutungslosigkeit umschlagen könnte. 62 Sie ist vielmehr die sinnstiftende Kraft dessen, der als „Urheber" das „ganze Weltall" aus dem Nichts ins Dasein gerufen hat, um sich selber im „Wort" zu bezeugen. Für Hamann sind „Providenz" und „Theopneustie" zwei Seiten ein- und desselben Geschehens. Was immer existiert und geschieht, ist von Gott gewollt; was immer von Gott gewollt ist, bekundet und beurkundet sich in dem, was existiert und geschieht. Die „Einheit des göttl. Willens" hatte Hamann in der „Erlösung Jesu Christi" gefunden. 63 Sie durchformt die Wirklichkeit zu einem lebendigen Symbol, welches der Erfüllung dieses Willens funktional zugeordnet ist.

1.4 Das anthropozentrische Moment: Alles ist menschlich Mit der scharfen Akzentuierung von Welt und Mensch als eines materiellen „nichts als" will Hamann nicht einer idealistischen oder gar gnostischen Abwertung des Faktischen das Wort reden, auch wenn sich seine oben zitierte Bemerkung über den „Ursprung des Übels" 64 durchaus dahingehend interpretieren ließe. Es geht ihm vielmehr um die hermeneutische Konzentration des Faktischen auf das allem Sein apriorisch zugrunde liegende „historische factum" des Kreuzes 65 , welches sich darin vergegenwärtigt. Von einem pantheistischen Moment hatte ich gesprochen. Diesem rückt Hamann allerdings ein anthropozentrisches Moment kontrastierend zur Seite, ohne das von einer „Dialektik des Wirklichen" gar nicht zu reden wäre. Gött-

60 61 62 63

64 65

N 111,32,22-24 (Ritter von Rosencreuz). P. Meinold, Hamanns Theologie der Sprache, 64. Vgl. O. Bayer, Zeitgenosse, 165f. BW 343,6f(N 11,40; Lebenslauf).

S. Anm. 50.

Vgl. ZH V.265,6-8.

120

Dialektik des Wirklichen

lieh ist die Welt, weil Gott sie mit seinem theopneustischen Wirken schafft und durchdringt; „[...] alles Göttliche ist aber auch menschlich, weil der Mensch weder wirken noch leiden kann, als nach der Analogie seiner Natur [...]. Diese communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum ist ein Grundgesetz und der Hauptschlüssel aller unsrer Erkenntniß und der ganzen sichtbaren Haushaltung."66 Mit dieser programmatischen Kernstelle macht Hamann deutlich, daß für ihn die Behauptung eines universalen Inspirationsgeschehens zur Beschreibung der Einheit der Wirklichkeit nicht zureichend ist. Es muß kenntlich werden, inwiefern der Mensch als Wirkender und Leidender dieses Geschehen mitbestimmt. Gott ist der „Ursprung", aber der Mensch ist das Maß „aller Wirkungen im Großen und Kleinen, oder im Himmel und auf Erden"; er ist „mensura omnium rerum"61, wie Hamann auch, sich ausdrücklich auf Protagoras berufend, sagt. Mit diesem Maß ist allerdings nicht nur das begrenzte Auffassungsvermögen des Menschen gemeint, sondern durchaus auch sein in Freiheit durchgesetzter Wille, eben „die geraden und krummen Grundstriche und Züge unserer symbolischen und typischen [...] Handschrift" 68 , zu der auch die Sünde und das Böse gehören. Weil Gottes universale Anrede eine den Menschen meinende Rede ist, ist auch das universal, was Hamann hier die „Analogie" der menschlichen „Natur" nennt. 69 Hamanns Behauptung, daß die Welt göttlich, „alles Göttliche [...] aber auch menschlich" sei, ist eine der lutherischen Christologie entlehnte Bestimmung. 70 Die unsichtbare und unbeweisbare Einheit der Person Christi versteht er als Hinweis auf die gleichfalls unsichtbare und unbeweisbare Einheit der Wirklichkeit, die sich für ihn in gleicher Weise wie die christologi66

67 68 69

70

N 111,27,9-14 (Ritter von Rosencreuz). Hamanns kritische Distanz zu dem Begriff „menschliche Natur" äußert sich darin, daß er ihn einmal als ein „zweydeutiges Schulwort" bezeichnet (N 111,40,40-42). Die „menschliche Natur" läßt sich wie alles geschaffene Sein nicht auf einen abstrakten Begriff bringen, sondern nur dialektisch beschreiben, da sie ein sichtbares Äußeres und ein unsichtbares Inneres hat. Versteht Hamann schon die „Natur" des Göttlichen nicht als ein statisches Bei-Sich-Selber-bleiben, sondern als liebende Selbstentäußerung zum Menschen (vgl. N 11,145,30-32), so muß für ihn auch bei der Bestimmung der „menschlichen Natur" zum Ausdruck kommen, daß es der „Anerkenntniß mehrerer unterscheidender irrdischer Merkmale" und damit zumindest zweier „entgegen gesetzten Naturen" bedarf, „um zu einem faßlichen Begrif von der Fülle in der Einheit unseres menschlichen Wesens zu gelangen" (N 111,40,10-15). Zu den mit dieser Sicht verbundenen anthropologischen Implikationen vgl. J.v. Lüpke, Menschlich und göttlich zugleich, 41ff („Anthropologische Zweifel und theologische Einfälle"). N 111,27,27. S. Anm. 45. Vgl. N 111,32,28-31, wonach „die menschliche Natur [...] vom Anfange bis zum Ende der Tage [...] dem Himmelreiche" ebenso gleicht „als einem Sauerteige [...]." Das Menschliche .durchsäuert' demnach die Wirklichkeit ebenso wie das Göttliche. Vgl. O. Bayer, Die Geschichten der Vernunft, (Acta IV), 16f.

Das anthropozentrische Moment: Alles ist menschlich

121

sehe Einheit nur als Paradoxon, und zwar als schlechterdings unerklärliches Miteinander von göttlicher und menschlicher Natur beschreiben läßt. Die zunächst so schroff behauptete, den Gedanken menschlicher Selbstbestimmung scheinbar kategorisch ausschließende Inspiration des Wirklichen ist für Hamann von eben dem Widerspruch bestimmt, den der Glaube an das ewige und zugleich fleischgewordene Wort Gottes in sich trägt. Das Wort, welches Gott ist, ist göttlich und menschlich zugleich; es ist dadurch definiert, daß es den größten aller denkbaren Widersprüche als eine Einheit behauptet. „Alle Fülle der Gottheit hat in einem Kindlein klein, in einer Krippe Raum" 71 , und nur in Rückbindung an diese zentrale Aussage der Christologie kann Hamann auch sagen: „To Jtav eaxiv AYT02". Weil Gott selbst sich in das Nichts des Menschlichen hineinbegibt, weil er das Nichtige „erwählt" 72 , deshalb sieht Hamann nicht nur die menschliche Natur Christi, sondern die Gesamtheit des im Verhältnis zu Gott Nichtigen von der „Fülle der Gottheit" durchdrungen. Hamann faßt also den Begriff des Idioms als allgemeines ontologisches Prädikat. Die Eigentümlichkeit der „sichtbaren Haushaltung" besteht für ihn darin, in Christus von Gott angenommen und somit von Gott bestimmt - und das heißt: göttlich - zu sein. Die Eigentümlichkeit Gottes besteht darin, auf den Menschen hin orientiert, für den Menschen da und folglich in Analogie zu ihm menschlich zu sein. Was die christologische Bekenntnisbildung mit Hilfe der Idiomenkommunikation über die Einheit zweier schlechterdings unvereinbarer Wesenheiten in der Person Jesu Christi auszusagen vermochte und in strenger Exklusivität auf diese Person bezogen wissen wollte 73 , wird bei Hamann zu einer ontologischen Verhältnisbestimmung ausgeweitet: Nicht an göttlichen Eigenschaften im Sinne der traditionellen Christologie, sondern an der Göttlichkeit ihres sinngebenden ,,Ursprung[s]" partizipiert die „sichtbare Haushaltung", ebenso wie „alles Göttliche", nämlich Gott und alle von ihm ausgehenden „Wirkungen" an der Menschlichkeit des Menschen partizipieren. Göttlich und menschlich sind also nicht nur der sich dem Maß des Menschen beugende Gott und der dem göttlichen Wort das Maß gebende Mensch. Göttlich und menschlich ist auch alles, was weder Gott noch Mensch und gleichwohl von Gott mit einer Bedeutung versehen worden ist. Gott ist der „Ursprung" allen Seins, einschließlich des Menschen und seiner selbst. Der Mensch ist das Maß einer als Anrede zu verstehenden Wirklichkeit, einschließlich Gottes und seiner selbst.

71 72 73

Dieses und das folgende Zitat: ZH V,275,20f (an Jacobi vom 1. Dez. 1784). Vgl. 1 Kor 1,27f. Vgl. A. Michel, Art. „Idiomes (Communication des)" (DTC VII/1), 595-602.

122

Dialektik des Wirklichen

1.5 Die philosophische Bedeutung der Idiomenkommunikation: Hamann im Gespräch mit Jacobi Man kann den Gedanken von einer universalen Inspiration der Wirklichkeit durch das „Wort vom Kreuz" einseitig zuspitzen: W i e die menschliche Natur Christi nicht als selbstständig existierendes Subjekt vorgestellt werden kann, sondern ihre Hypostase in der göttlichen Person hat, so existiert auch die Welt nur aufgrund ihrer Einheit mit dem Wort, welches sie dem Nichtigen entreißt. Hinsichtlich ihres Verhältnisses zu Gott hat die Welt kein eigenes Sein, hat der Mensch, auch als Sünder, keinen eigenen Willen; „göttlich" sind Welt und Mensch aufgrund ihrer völligen Fremdbestimmtheit durch das Wort, welches es sein läßt. Mit dem Hinweis auf die Idiomenkommunikation rückt Hamann diesen nicht nur zum Pantheismus tendierenden, sondern auch deterministisch gefärbten Gedanken in einer Weise zurecht, die, wenn auch in einem völlig anderen Zusammenhang, die Kritik Luthers an der ockamistischen Fassung der Zweinaturenlehre zu aktualisieren scheint.74 Gabriel Biel hatte aufgrund sprachlogischer Erwägungen gesagt, daß die natura assumpta nicht real mit der natura divina kommunizieren könne und daher die communicatio idiomatum nur als eine „nebensächliche Mitbezeichnung der einen Natur durch die andere innerhalb der suppositionalen Union" 75 gelten könne. Für ihn gehört die menschliche Natur nicht substantiell zur Person Christi, sondern wird von dieser lediglich als Akzidens „zur Erscheinung gebracht" 76 . Luther hat diese Position als doketisch kritisiert77 und dagegen gehalten, daß die communicatio idiomatum die christologische Rede von Gott und Mensch überhaupt erst begründe. „[...] Christi persona constat duabus naturis unitis" 78 , folglich müsse, was man einer der beiden Naturen prädiziere, uneingeschränkt auch von der ganzen Person ausgesagt werden können. Dici und esse, das hält Luther der nominalistischen Unterscheidung von philosophischrealer und theologisch-nomineller Redeweise entgegen, seien in der christologischen Redeweise nicht zu unterscheiden79; der logische Widerspruch einer Einheit zweier Substanzen müsse nicht notwendig ein Selbstwiderspruch Gottes sein. „Der Theologie ist die personale unio nicht als spekulatives Problem, sondern als Sprachaufgabe anvertraut."80

74 75 76 77 78 79 80

V g l . zum folgenden R. Schwarz, Gott ist Mensch ( Z T h K 63), 289-251. Ebd, 328. Ebd, 297. V g l . ebd, 302. W A 39/11,114,17f (Disputatio de divinitate et humanitate Christi; A r g . 24). V g l . R. Schwarz, Gott ist Mensch, 309. Ebd.

Die philosophische Bedeutung der Idiomenkommunikation

123

Damit ist präzise beschrieben, worum es Hamann geht. Die „communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum"81 versteht auch er primär als eine „Sprachaufgabe", die Undenkbares auszusagen und insofern auch zu denken erfordert. Nicht nur christologisch, sondern auch ontologisch muß von dem göttlichen Sein wie vom menschlichen Sein gesprochen werden und umgekehrt. Es ist, wie Hamann sagt, sein ,JSprachprincipium der Vernunft", daß er „mit Luther die ganze [Philosophie] zu einer Grammatik mache, zu einem Elementarbuch unserer Erkenntnis [,..]."82 Darauf soll nun eingegangen werden.

1.5.1 Abstrakte und konkrete Wahrheit „Was in der Theologie wahr ist, ist in der Philosophie schlechthin unmöglich und absurd, nämlich der theologische Fundamentalsatz: Verbum caro factum est." 83 Das hatte Luther in seiner Disputation über Joh 1,14 betont. Hamann verschärft diese theologische Bejahung des Widerspruchs; er macht das principium contradictionis zu einem allgemeingültigen principium cognoscendi. Für ihn „ist die Wahrheit von so abstracter und geistiger Natur, daß sie nicht anders als in abstracto, ihrem Element, gefaßt werden kann. In concreto aber erscheint sie entweder als ein Widerspruch oder ist jener berühmte Stein unserer Weisen, die urplötzlich jedes unreife Mineral, und selbst Stein und Holz, in wahres Gold zu verwandeln wissen." 84 Hamann unterscheidet nicht, wie Luther, zwischen philosophischer und theologischer, sondern lediglich zwischen abstrakter und konkreter „Wahrheit". „In abstracto" ist „die Wahrheit" 85 identisch mit dem, was in der philosophischen Terminologie als „ursprüngliches Seyn" 86 oder „Seyn an sich" 87 bezeichnet wird. Als solches ist die „Wahrheit" „kein wirklicher Gegenstand [...], sondern das allgemeinste Verhältnis, deßen Daseyn und deßen Eigenschaften geglaubt werden müßen." So kann das Göttliche als „Ursprung aller Wirkungen" zwar hypothetisch ,,voraus[ge]setzt" werden. 88 Jeder Versuch, diese Hypothese aus ihrer nichtssagenden Allgemeinheit in die Konkretion zu überführen, macht deutlich, daß ihr Wahrheitsgehalt nur in einander widersprechenden Sätzen „gefaßt werden kann". Daß die Gesamtheit der Welt 81 82 83 84

85

86 87 88

N 111,27,1 l f (Ritter von Rosencreuz). ZH VII,169,23-25 (an F.H. Jacobi am 27. April 1787). Nach R. Schwarz, Gott ist Mensch, 338. N 111,131,25-29 (Prolegomena über die neueste Auslegung). Der Satz findet sich fast wörtlich auch in einem Brief Hamanns an Kant, vgl. ZH 111,88,35-89,2 (April 1774). „Die Wahrheit ist eine einzige; sie hat aber unzähliche Gleichungen und Ausdrücke" ( B W 106,26f [N 1,47]). Zum Wahrheitsbegriff Hamanns vgl. N IV,375,47-378,4 und dazu O. Bayer, Wahrheit oder Methode? (Acta V), 169f. ZH V,271,28 (an Jacobi am 1. Dez. 1784). Dieses und das folgende Zitat: ZH VII,169,13-15 (an Jacobi am 27. April 1787). NIII,27,2f.

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Dialektik des Wirklichen

göttlich sei, ist eine der „Wahrheit" entsprechende, in ihrer Allgemeinheit aber auch leere Aussage; konkret wird sie erst durch eine Antithese, die das Göttliche unter Hinweis auf Christus als ein dem Menschen zugewandtes, nicht anders als menschlich in Erscheinung tretendes Sein beschreibt. Das „ursprüngliche Seyn" ist nur „in abstracto" und damit gar nicht zu fassen, weil es dem Menschen verborgen ist und ihn in seiner Verborgenheit letztlich auch nichts angeht. Das An-Sich der Wirklichkeit Gottes ist stumm wie „Stein und Holz"; es bedarf daher einer Verwandlung „in wahres Gold", die natürlich nicht chemisch, ebensowenig aber auch metaphysisch zu bewerkstelligen ist. Den „berühmten Stein", nach dem die „Weisen" der Welt suchen, hat Hamann in der Offenbarung gefunden. Im Wort Gottes wird „die Wahrheit" konkret, sie wird zu einer „Tochter der Zeit" 89 , indem sie sich dem Menschen mitteilt. Dies führt aus philosophischer Sicht allerdings zu einem „Widerspruch", der die Ursprünglichkeit des sich mitteilenden ,,Seyn[s]" fraglich erscheinen läßt, denn das „an sich" Seiende muß aus sich herausgehen, um zu kommunizieren. „Ursprüngliches Seyn ist Wahrheit; mitgetheiltes ist Gnade" 90 , lautet für Hamann die Zuordnung, die sein gesamtes Denken auf den Punkt bringt. 91 Für ihn steht hinter der „Wahrheit" des Ursprungs und hinter der „Gnade" ihrer Mitteilung ein- und dasselbe „Seyn", welches seine von allem weltlichen Sein abgeschiedene Selbstbezogenheit nicht anders als durch eine dieser Selbstbezogenheit widersprechenden „Leutseeligkeit" 92 , d.h. „in elemento" begreifen läßt. Die „Wahrheit" ist dadurch definiert, daß sie sich mitteilt und sich so dem „Widerspruch" der Konkretion ausliefert, einer Konkretion, die für den Weltweisen nicht akzeptabel, vom christlichen Philosophen (im Sinne Hamanns) jedoch als „Gnade" erkannt und bejaht wird. Ich befinde mich mit dieser Zuordnung von „Wahrheit" und „Gnade" bereits mitten im brieflichen Gespräch Hamanns mit Friedrich Heinrich Jacobi, das die letzten Lebensjahre Hamanns (1784-1788) bestimmte. 93 Hintergrund war die in diese Zeit fallende Auseinandersetzung beider mit Moses Mendelssohn. Diesen hatte Hamann in seiner Schrift „Golgatha und Scheblimini" (1784) eines „atheistischen Fanatismus" 94 bezichtigt und war dafür von Vertretern der Berliner Aufklärung scharf kritisiert worden. 95 Hamann zeigte sich 89 90 91

92

93 94 95

L. Schreiner, HH VII, 105; vgl. ZH VI,162,26; (an Jacobi am 2. Advent 1785). ZH V,271,28f (s. Anm. 86). Nach R. Knoll hat Goethe sich diesen Satz auf einer Visitenkarte notiert (Hamann und Jacobi, 27). Es wäre interessant zu untersuchen, wie er ihn verstanden hat. N II,207,3f. „Leutseeligkeit" ist die ursprüngliche Übersetzung Luthers von „humanitas" (Titus 3,4), vgl. O. Bayer, Schöpfung als Anrede, 29, Anm. 78. Zu den Umständen dieses Gespräches vgl. R. Knoll, Hamann und Jacobi, 22ff. N III,315,19f. Vgl. ZH V,263,26-32 und ZH V,375,9ff.

Die philosophische Bedeutung der Idiomenkommunikation

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von der „Beschuldigung [sjeinen alten Freund Mendelssohn sans rime und raison für einen Atheisten erklärt zu haben" 96 betroffen; zugleich hoffte er, wie er an Jacobi schreibt, „daß mein blinder Angriff meinen alten Freund Mfendelssohn] noch mehr aufmuntern wird sich über den Spinozismus zu erklären - worauf ich mich also vorbereiten muß, die Sache, ihn und mich selbst, unsere verschiedene[n] Gesichtspuncte darüber zu vergleichen." 97 Aus diesem Vergleich wurde nichts, weil Mendelssohn bald darauf (1786) verstarb. 98 Hamanns bei Spinoza gewonnene Erkenntnisse ermöglichten es ihm dennoch, im Gespräch mit Jacobi, der in dieser Zeit an seinem sog. „Spinoza-Büchlein" arbeitete 99 , seine eigene Position in der Frage des Spinozismus zu klären. Dies tat er im Briefwechsel mit Jacobi mit einer systematischen Schärfe, die es methodisch geraten sein läßt, seine überwiegend vor diesem Briefwechsel entstandenen Publikationen von hier aus zu beleuchten.

1.5.2 Mit Spinoza gegen Jacobi „Dieses ouöev K a i J t a v t a ist wohl nicht das Ihrige" 100 , fragt Jacobi in einem Brief an Hamann, auf die oben zitierte Stelle („To Jiav ecmv A Y T 0 2 " ) Bezug nehmend. 101 Hamanns Antwort ist insofern bezeichnend, als sie die Vermutung des Fragenden zunächst bestätigt, aus dieser Bestätigung heraus jedoch auch die Position des Fragenden kritisiert, ein klassisches Beispiel für sein metakritisches Vorgehen. Die Welt ist für Hamann tatsächlich keine mit dem „ursprünglichen Seyn" identische causa sui. Die spinozistische Identifizierung von Natur und Geist hält er für „eine widernatürl. Meinung, nach welcher nicht mehr als ein einziges bestehendes Ding, welches Ursache und Wirkung zugleich ist angenommen wird, und das sich eben so unendlich denken als fühlen läst. [...] So wenig nun Ursache und Wirkung in ein Subject coincidiren können: eben so wenig das Denk- und Fühlbare. Wesen ist Ursache und Wirkung die Existenz"102, schreibt Hamann. Merkwürdigerweise fährt er jedoch fort: „Also Begriff und Ding einerley. Wort ein Zeichen des Begriffs und Erscheinung ein Zeichen des Dings, ist einerley und es giebt keinen Unterschied mehr in der Natur noch Vernunft [...]." 96 97 98 99

100 101 102

ZH V,375,22f (an F.K. Bucholtz am 22.Feb. 1785). ZH V,270,25-29 (an Jacobi am 1. Dez. 1784). Vgl. dazu R. Knoll, Hamann und Jacobi, 38f. „Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Mendelssohn" (1785). Mit der Schrift handelte Jacobi sich, weil er Lessing hier des Spinozismus bezichtigte, gleichfalls die Gegnerschaft Mendelssohns ein (vgl. R. Knoll, Hamann und Jacobi, 22). ZH V,321,26 (von Jacobi am 11. Jan. 1785). S. Anm. 71. Dieses und das folgende Zitat: ZH V,326,32-327,4 (an Jacobi am 16. Jan. 1785).

126

Dialektik des Wirklichen

Hamann scheint sich mit dieser Bemerkung selbst zu widersprechen. Aus der Behauptung der Nicht-Identität von wesentlicher „Ursache" und existierender „Wirkung" ergibt sich für ihn die Einheit von „Begriff und Ding" bzw. von „Vernunft" und „Natur". Das heißt m.E., daß Hamann das, was er an Spinoza kritisiert, in einem anderen philosophischen Kontext durchaus bejaht. Der „Spinozismum" mag in theologischer Hinsicht „eine widernatürl. Meinung" sein, weil er das „Wesen" der Dinge mit ihrer „Existenz" identifiziert. Transponiert man ihn aber auf die Problematik des Verhältnisses von „Natur und Vernunft", so läßt sich mit seiner Hilfe deutlich machen, daß der „Begriff keinesfalls Ursache des „Dings", sondern mit diesem „einerley" ist, weil „Begriff und Ding" gleichermaßen zeichenhaft und äußerlich sind. Zwar hebt der spinozistische Ansatz die fundamentale Unterscheidung von Gott und Welt durch die Identifizierung von göttlicher „Ursache" und nichtgöttlicher „Wirkung" im Begriff der „Natura naturans" 103 auf. Er läßt sich gleichwohl metakritisch gegen Jacobis idealistisches Wirklichkeitsverständnis wenden, in welchem das Ideelle („Vernunft", „Begriff) auf die Seite des Ursächlichen und Wesentlichen, das Materielle („Natur", „Ding") hingegen auf die Seite der vom Geist hervorgebrachten Wirkungen gestellt wird, ohne daß menschliche Vernunft und göttlicher Geist scharf unterschieden werden. 104 Was kritisiert Hamann an Jacobi? Dieser hatte in einem vorhergehenden Brief die Vermutung geäußert, daß die unendliche Differenz zwischen Gott und Welt nicht allein durch die biblische Offenbarung überbrückt werden könne. Es sei doch wohl nicht denkbar, so Jacobi, „daß die Geheimniße zu der Schwäche unseres Geistes abgerichtet würden, sondern unser Geist zu der Größe der Geheimniße." 105 „Muß also nicht im Menschen eine Kraft liegen, schon im natürlichen Menschen - deren Richtung ihn fähig macht den Geist zu empfangen [.,.]?" 106 Und: „Wenn es eine gewiße Gottes Erkänntniß für den Menschen giebt, so muß in seiner Seele ein Vermögen liegen, ihn da hinauf zu organisieren"107, wird doch „zu höherem Leben nie anders als durch

103

ZH V,321,24 (s. Anm. 100). Daß Hamann Spinoza als dem „cartesianischen Glaubensheld" (ZH VII,286,16) grundsätzlich ablehnend gegenüberstand, wie G. Arnold (Eitelkeit der Eitelkeiten; [Acta V], 203) schreibt, scheint mir fraglich zu sein. Gerade bei seinem Umgang mit Spinoza läßt sich erkennen, daß Kritik für ihn nicht notwendig eine grundsätzliche Ablehnung des Kritisierten, sondern die sorgfältige Unterscheidung zwischen einer Unwahrheit und ihren particulae veri bedeutet. Es ist schließlich, wie E. Cassirer bemerkt, ein und derselbe ,Monismus Spinozas, der nicht nur an der Sonderstellung der Bibel, sondern bereits an der Sonderstellung des Geistigen überhaupt Anstoß nimmt" (Philosophie der Aufklärung, 248), an der sich dann auch Hamann stieß. 105 ZH V,242,15-17 (an Hamann am 18. Okt. 1784). 106 ZH V,320,8f(s. Anm. 100). 112 ZH V,242,23-25 (s. Anm. 105). 104

Die philosophische Bedeutung der Idiomenkommunikation

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höhere Erkenntniß hinauf gestiegen [...]." 108 Jacobi, „tormented by what he called the gap between his heart and his head [...], thinks that there is some special faculty [...], some irrational power, some special sense, whereby he will attain to ultimate reality and God" 109 , resümiert Isaiah Berlin. Hamann kann jedoch Jacobis Qualen nicht verstehen 110 , oder, anders gesagt: „er lehnt nicht etwa die Folgerungen, sondern, radikaler, das Problem [Jacobis] ab." 111 Er muß es mitsamt dem darauf aufbauenden Gedankengebäude wie das des Spinoza als ein „widernatürl. Ding" kritisieren. Beide verfehlen, christologischen Häresien vergleichbar, die von der Person Christi her gegebene Verhältnisbestimmung von ,,ursprüngliche[m]" und „mitgetheilte[m] Seyn". Beschreibt Spinoza die Einheit der Wirklichkeit auf Kosten der „Wahrheit", indem er sie als Abstraktum in das Konkrete hinein auflöst, so beschreibt Jacobi sie auf Kosten der „Gnade", indem er die Selbstkonkretion des „ursprünglichen Seyns" durch das „Vermögen" der intellektuellen und spirituellen Organisation ersetzt. Für Hamann bedeutet das: Was bei Spinoza eine mit der unendlichen Vernunft identische „Natur" leistet, das leistet bei Jacobi das dem „Seyn" zuzuordnende „Vermögen", welches dazu befähigt, aus der Welt der Dinge in die Welt des göttlichen Geistes aufzusteigen. Anders gesagt: Die radikale Konkretion des Seins durch Spinoza ist unwahr, weil sie in unzulässiger Weise das „Wesen" mit der „Existenz" der Dinge identifiziert und damit den Gedanken einer der Welt gegenüberstehenden, sinngebenden Instanz als Ursache ausschließt. Jacobi hingegen, so sieht es Hamann, identifiziert das „Seyn" mit dem ,,Denkbare[n]". Er sieht nicht, daß das „Denkbare" gleich dem ,,Fühlbare[n]" sich nur im „Wort" mitteilen kann, wodurch der abstrakte Begriff zu einem konkreten „Zeichen" wird, ebenso wie jede „Erscheinung" nicht mit dem darin Erscheinenden identisch, sondern nur ein „Zeichen" eines dahinter verborgenen „Dings" ist. Die „Vernunft", nach der Jacobi fragt, gibt es gar nicht. „Bey mir ist nicht so wol die Frage: was ist Vernunft? sondern vielmehr: was ist Sprache?" 112 Aus dieser Korrektur des Jacobischen „Idealismus" 113 durch den Realismus Spinozas entwickelt Hamann nun im weiteren Verlauf seines Gespräches mit Jacobi das, was er als „Verbalismus" bezeichnet.

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ZH V,321,lf (s. Anm. 100). The Magus of the North, 37f. Vgl. Jacobis diesbezügliche Äußerung in seinem Brief an Hamann vom 16. Juni 1783 (ZH V,57,27). M. Olivetti, Vernunft, Verstehen und Sprache im Verhältnis Hamanns zu Jacobi (Acta 1976), 180. ZH V,264,34f (an Jacobi am 14. Nov. 1784). Diesen wirft Hamann dem Freund ausdrücklich vor: „Es ist reiner Idealismus Glauben und Empfinden vom Denken abzusondern" (ZH VII,174,12f [an Jacobi am 29. April 1787]).

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1.5.3 Einheit von Natur und Vernunft im Wort der Sprache Der „Begriff ist bei Hamann Bestandteil der materiellen Welt; er ist dinglich durch das „Wort", ohne das er nicht vermittelbar ist. Das „Ding" hingegen ist Bestandteil eines „unsichtbaren System[s]" 114 und damit wie alles Existierende Träger einer nichtmateriellen Bedeutung, die durch es in „Erscheinung" tritt und ohne die es nicht begriffen werden kann. „Also" sind „Begriff und Ding einerley", denn beide partizipieren an den Eigenschaften des jeweils anderen, ist doch der „Begriff immer zugleich dinglich und das „Ding" immer auch Bestandteil eines abstrakten Verhältnisses. Es gibt keine „Dinge ohne Verhältniße", und es gibt keine „Verhältniße ohne Dinge." 115 Folglich gibt es auch keinen „denkbaren Unterscheid zwischen Essenz und Existenz", ebensowenig wie „sich eine Causa ohne Effect und dieser ohne jene denken [läßt]." 116 Jacobis Unterscheidung von „Idealismo u[nd] Realismo" ist angesichts der am Wort erweisbaren Einheit von Natur und Vernunft für Hamann „im Grunde nichts als Bilderkram. Abstracter oder concreter, läuft auf eins hinaus. Verbalismus oder Figurismusl Dieselbe Übertragung und communicatio idiomatum des Geistigen und Materiellen, der Ausdehnung und des Sinns, des Körpers und Gedankens. Allen Sprachen liegt eine allgemeine zum Grunde, Natur, deren Herr, Stifter und Urheber ein Geist ist, der allenthalben und nirgends ist, deßen Sausen man hört, ohn zu wißen den terminum a quo und ad quem, weil er frey ist von allen materiellen Verhältnißen und Eigenschaften, im Bilde, im Worte, aber innerlich." 117 Die Einheit von „Ding" und „Begriff im Wort menschlicher Rede dient Hamann als Hinweis darauf, daß weder die Wirklichkeit des „Geistigen" noch die des „Materiellen" selbstursprünglich sind, sondern in gleicher Weise zur Gesamtheit der Wirkungen (hier von Hamann mit „Natur" bezeichnet) gehören, die ihre Hypostase in einem sie wirkenden Wesen („Geist") haben. Zwar sind diese Wirklichkeiten unterscheidbar, jedoch ist ihnen gemeinsam, daß sie durch anderes verursacht und auf anderes hin sind. An Jacobi gewendet heißt das: Wie es „keine absolute[n] Geschöpfe [giebt]" 118 , so gibt es auch keine „absolute Gewisheit", auch nicht die von Jacobi erstrebte religiöse „Gewisheit", die er im Medium intellektueller Organisation einholen zu können glaubt. „Natur" und „Vernunft" sind gleichermaßen äußerlich wie das „Ziffernblatt" einer Uhr; sie sind nicht absolut im Verhältnis zu ihrem absoluten „Urheber". Gleichwohl existiert nichts ohne „Wesen", weil das Existie114 115 116 117 118

ZH 11,417,15. Z H V I I , 1 7 4 , 1 6 f ( s . Anm. 113). ZH VII,175,31f. ZH VII, 158,1-10 (an Jacobi am 22. April 1787). Dieses und das folgende Zitat: ZH VII,174,17f (s. Anm. 113).

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rende hypostatisch geeint ist mit dem Wort einer „Sprache, die allem zugrunde liegt", nämlich dem Wort Gottes, welches es verursacht und trägt. Die „Natur" hat demnach mit der „Vernunft" das Wort-Sein gemeinsam. Jedoch macht die zitierte Briefpassage deutlich, daß dieses Wort-Sein für Hamann ein abgeleitetes ist, daß es von einem zuvor gesprochenen Wort her exsistiert, das sich darin ins „Bild" setzt. Die „communicatio idiomatum des Geistigen und Materiellen" ist nicht konstitutiv, sondern figürlich; sie bildet, vermittelt im Phänomen der „Sprachen", die unsichtbare Wirklichkeit des göttlichen Geistes ab, die ihr immer schon voraus, von der gleichwohl ohne sie nicht zu reden ist. In jedem Prozeß, der sich aus dem Mit- und Gegeneinander einer auf den Menschen einwirkenden Welt und dem diese Welt mittels seiner Vernunft gestaltenden Menschen ergibt, spiegelt sich für Hamann die communicatio idiomatum von Geist und Materie. 119 Das Geistige ist auf die Vermittlung durch das Materielle angewiesen, um als Geistiges in Erscheinung treten zu können; das Materielle hingegen ist auf die Formgebung durch das Geistige angewiesen, um - im weitesten Sinne des Wortes - überhaupt einen Sinn zu haben. Hamann verwendet die Vorstellung einer „natural language for a demonstration of the structure of reality." 120 „Was in deiner Sprache das Seyn ist, möchte ich lieber das Wort nennen" 121 , schreibt er an Jacobi. Denn wie „Ursache" und „Wirkung", so sind auch „ursprüngliches" und „mitgetheiltes" Sein für ihn koinzident im „Wort" einer alle „Sprachen" begründenden „Sprache", in dem das nur „in abstracto" zu fassende „Wesen" der Dinge zu einer konkreten „Existenz" wird und in dem alles Existierende sein „Wesen", d.h. seine ihm gnadenhaft mitgeteilte Bedeutsamkeit hat. In Christus wird Gott konkret; in ihm wird zugleich der Mensch und mit ihm die materielle Wirklichkeit zu „Allegorien und Zeichen abstrakter, geistiger und höherer Begriffe" 122 . In diesem einen Wort laufen der himmelstürmende „Idealismus" Jacobis und der den Himmel auf die Erde hinabziehende „Realismus" Spinozas mit seinen materialistischen Implikationen „auf eins hinaus." Mit J.v. Lüpke gesagt: „Hamanns Konspektive von Materialismus und Idealismus bestreitet beiden den Rang eines suffizienten Erklärungsmodells." 123 Beide Ismen „weisen vielmehr auf Momente eines Kommunikationsgeschehens, in dem Geist und Materie zusammenspielen, ohne voneinander abgeleitet werden zu können. Ihre Einheit liegt in ihrer gemeinsamen Herkunft aus dem göttlichen Schöpfungswort, dessen Medium sie beide sind." 124 Damit ist der

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Vgl. N 11,207,5-9. 120 j O'Flaherty, Unity and Language, 92. 121 Z H V I I , 1 7 5 , 1 7 f ( s . Anm. 113) 122 B W 219,7-11 ( N I,157f). Vgl. B W 173,24-28 ( N 1,112). 123 J.v. Lüpke, Menschlich und göttlich zugleich, 85. 124 Ebd, 86.

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„Verbalismum" bzw. „Nominalismum"125 beschrieben, mit dem Hamann zwischen den „beyden Extremen" Jacobis vermitteln möchte. 126 1.5.4 Zum Verhältnis von communicatio idiomatum und coincidentia oppositorum „Natur und Vernunft" sieht Hamann durch die „communicatio idiomatum des Geistigen und Materiellen" aneinander gebunden. Wie die beiden Naturen Christi sind sie „so gut correlata als opposita"127 und können so wenig wie diese voneinander geschieden werden. Der philosophische Sprachgebrauch Jacobis vollzieht zwar die Trennung, bestätigt jedoch zugleich deren Unmöglichkeit. Die Einheit beider ist nicht aufzuheben, weil sie „durch ihren Widerspruch aufeinander bezogen bleiben" 128 , wie auch die Vereinigung von göttlicher und menschlicher Natur in der Person Christi nicht ohne den Gegensatz beider denkbar ist. Für diese Zuordnung des Materiellen und Geistigen als Einheit von Entsprechung und Gegensätzlichkeit verwendet Hamann auch einen anderen Ausdruck. Es ist das ,,principi[um] coincidentiae oppositorum, welches ich", wie er schreibt, „ohne zu wißen warum? liebe und den principiis contradictionis und rationis sufßcientis immer entgegengesetzt, weil ich letztere von meiner akademischen Jugend an nicht habe ausstehen können, und ohne Manichaeismo allenthalben Widersprüche in den Elementen der materiellen u. intellectuellen Welt gefunden habe." 129 Hamann versteht dieses „principium" christologisch130, und dies ist umso bemerkenswerter, als er, wie Hans Urs v. Balthasar feststellt, mit diesem Verständnis Nikolaus Cusanus folgt, obwohl er, nachweislich den „Ursprung" dieser Formel „und ihren christologischen Gebrauch bei Cusanus nicht kennend", ihre Herkunft bei Giordano Bruno vermutet hat. 131 Auch Erwin Metzke hat in diesem Zusammenhang darauf 125

ZH VII,156, 26f (s. Anm. 117). 126 Ygj o . Bayer, Zeitgenosse, 133f („Jenseits von Idealismus und Materialismus"). 127 ZH VII,160,2; vgl. N III,278,6f. Die Fortsetzung des Zitates lautet: , faire et confondre gilt von einem u. dem andern. Sceptizismus u. Dogmatismus können eben so füglich beieinander stehen, als Erkenntniß und Unwißenheit, Zweifel mit beyden [...]." 128 W.D. Baur, Hamann als Publizist, 233. 129 ZH V,327,12-17 (an Jacobi am 16 Jan. 1785). Zum folgenden vgl. E. Metzke, Hamanns Stellung in der Philosophie des 18. Jahrhunderts, 50-54; und R. Röhricht, Hamann und Nikolaus von Kues (Acta 1976), 281ff. 130 H. Gießer meint hingegen, „daß das principium in eine ganz andere Richtung zielt als die Communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum. Hamann übernimmt von dem principium lediglich das formale Element des Zusammenfallens der Gegensätze, ohne darüber hinaus zu einer inhaltlichen Füllung zu gelangen" („Communicatio" und ihre Strukturen, 213). Dies ist jedoch m.E. mit ZH IV,254,28-32 und NIV,415,31-38 (vgl. dazu die Interpretation von W.D. Baur, Hamann als Publizist, 230-236) klar zu widerlegen. 131 Hamanns Theolog. Ästhetik, 60; vgl. auch ZH IV,462,7f und N 111,107,11-13.

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hingewiesen, daß Hamann „das Koinzidenzprinzip anders faßt als die Tradition [Giordano Brunos], in der er zu stehen meint: es ist bei Hamann nicht metaphysisches Einheitsprinzip, in dem das Denken seine Ruhe und sein Ziel findet [...], sondern bei ihm liegt der Akzent auf dem Widerspruch und der Paradoxie der Einheit. Das Prinzip ist nicht Lösung, sondern stete Beunruhigung [,..]." 132 Es ist damit auch nicht, wie später für Hegel, Regulativ einer im Denken zu leistenden Überwindung wirklichkeitsimmanenter Dualismen, für die das Christusereignis nur illustrierende Bedeutung hätte, sondern es illustriert selber das allem Sein zugrunde liegende Wort. 133 Im Gespräch mit Jacobi verwendet Hamann den philosophischen Koinzidenzgedanken ebenso wie die christologische Figur der communicatio idiomatum zur Bestimmung des Verhältnisses von „Natur" und „Vernunft". Für ihn ist die Omnipräsenz des Widersprüchlichen „in den Elementen der materiellen u. intellectuellen Welt" Ausdruck des im Logos konstituierten Miteinanders von gottmenschlicher Einheit und Gegensätzlichkeit, welches sich bis in die menschliche Sprache hinein als Koinizidenz von „Ding" und „Begriff auswirkt. In Christus sind Gott und Mensch insofern koinizident, als die unaufhebbare Gegensätzlichkeit von Gott und Mensch als Moment der göttlichen Identität behauptet werden kann. Mit Hilfe dieser Bestimmung läßt sich Gott - „ohne Manichaeismo"\ - als die Einheit von absoluter „Wahrheit" und einer sich geschichtlich und materiell mitteilenden „Gnade" aussagen, die sich in der „sichtbaren Haushaltung" („Natur") ebenso wie in „aller unsrer Erkenntniß" („Vernunft") äußert. 134 „Diese Coincidenz", deren Ursache darin zu sehen ist, daß das ewige Wort im Fleisch konkret wird, scheint Hamann „immer der einzige zureichende Grund aller Widersprüche - und der wahre Proceß ihrer Auflösung und Schlichtung" 135 zu sein. So „ist", um noch einmal Erwin Metzke zu zitieren, „diese Einheit der Gegensätze, die offenkundig alles andere als nur spekulativ ist, [...] der zentrale Durchbruch durch alle Abstraktionen, Prinzipien und Lehrmeinungen zur konkretesten, gegenwärtigsten Wirklichkeit [,..]." 136 Aber nicht nur das. Denn Hamann will mit seiner Deutung des Koinzidenzgedankens nicht nur die zum Idealismus tendierende Weltsicht Jacobis kritisieren, sondern auch die sich daraus zwangsläufig ergebende Destruktion des biblischen Gottesbildes. Ausgehend von Hamanns Kritik am Gottesbegriff Jacobis wird deshalb jetzt auf die Bedeutung der communicatio idiomatum im Kontext der Rede von Gott einzugehen sein. 132 133

134 135 136

Hamanns Stellung, 53. Vgl. E. Metzke, Hamanns Stellung, 53, Anm. 3. Zu Hegeis Christologie vgl. H. Küng, Menschwerdung Gottes, 241ff und H. Rosenau, Philosophie und Christologie (NZSTh 29), 39f. Vgl. N 111,27,11-14. ZH IV,287,14-16 (an Herder am 29. April 1781). J.G. Hamann und das Geheimnis des Wortes, 293.

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1.6 Die Bedeutung der communicatio idiomatum für die Rede von Gott 1.6.1 Hamanns Kritik am Gottesbegriff Jacobis Dem „Widerspruch", den Gott aufgrund seiner Selbstmitteilung in Christus „selbst wider sich erduldet" 137 , gilt der Widerspruch gerade der - von Jacobi würdig repräsentierten - christlichen Aufklärung. Diese bestreitet ja nicht nur, daß „die Widersprüche der Wirklichkeit" 138 notwendig und folglich unüberwindbar sind. Sie bestreitet vor allem, „daß das Absolute, daß Gott selbst sich im ,Widerspruch' dem Menschen offenbart." 1 3 9 Hamann will im Gespräch mit Jacobi nachweisen, daß alle Versuche, dieses Skandalon intellektuell zu überwinden, in immer neue Aporien führen. „Seyn ist freylich das Ein und Alles jedes Dings", schreibt er an Jacobi, sich auf dessen Terminologie einlassend, um dann fortzufahren: „Aber das xo Ov der alten Metaphysik hat sich leider! in ein Ideal der reinen Vernunft verwandelt, deßen Seyn und Nichtseyn von ihr nicht ausgemacht werden kann." 1 4 0 Zwar bezieht sich Hamann mit dieser Bemerkung auf Kants transzendentale Ideenlehre, meint aber auch den christlichen Idealismus seines Freundes. Denn dessen theistischer Gottesbegriff ist durchaus intellektualistisch, bedingen sich doch für ihn Personalität und Vernunft einander. 141 Indem Jacobi „das Ein und Alles jedes Dings" durch die Reduktion auf den Begriff des „Seyn[s]" seiner anstößigen Dinghaftigkeit benimmt, macht er es zu einem „ens rationis"142, in welchem zwar kein Widerspruch, aber auch kein Leben mehr ist, weil es eben kein „Seyn" hat. „Das abstracteste Verhältnis, das nicht verdient zu den Dingen, geschweige denn als ein besonderes Ding angesehen und gerechnet zu werden; gleichwohl der Talisman Deiner Philosophie und Dein Aberglaube an verba praetereaque nihil sind die Götzen Deiner Begriffe, wie Spinoza den Buchstaben zum Wort und Werkmeister sich einbildete" 1 4 3 , schreibt Hamann dem Freund mit bezeichnender Schärfe. Hamann wirft Jacobi vor, durch die Personalisierung eines Begriffes bzw. einer „Idee" einen „leblosen Gegenstand" zu vergötzen, was einer Entgötte137 138 139 140 141

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N 111,222,16f(Konxompax). E. Metzke, Hamanns Stellung, 51. Ebd. ZH V,271,25-28 (an Jacobi am 1. Dez. 1784). In der Forschung gilt Jacobi als Wiederentdecker bzw. Restaurator der Vorstellung eines „persönlichen Gottes" (vgl. J. Röhls, Subjekt, Trinität und Persönlichkeit Gottes [NZSTh 30], 70). Die von Jacobi bis zuletzt durchgehaltene Verknüpfung von göttlicher Personalität und „Intelligenz" bzw. Selbstbewußtsein (vgl. ebd, 69) läßt sich jedoch, wie Hamann erkennt, kaum mit dem Theismus biblischer Gottesvorstellungen vermitteln. Jacobis Argumentation in der Auseinandersetzung mit Schelling wird dies bestätigen (vgl. dazu R. Knoll, Hamann und Jacobi, 99ff). N 111,225,4f(Konxompax). ZH VII,166,19-24 (an Jacobi am 27. April 1787).

Die Bedeutung der communicatio idiomatum für die Rede von Gott

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rung des Göttlichen gleichkommt. 144 Denn der gleichsam zur „Gewohnheit" gewordene Selbstwiderspruch des christlichen Idealismus besteht darin, daß er - ohne es zu wollen und zu wissen - in die verschmähte „Larve" des atheistischen „Materialismus übersetzbar [ist]." 145 Wer, wie es Spinoza und Jacobi auf ihre Weise tun, Teilaspekte der Wirklichkeit Gottes „zu Totalbestimmungen erklärt, liefert am Ende nicht mehr als ein ,zweydeutiges Etwas'!-1, das den Widerspruch zwischen idealistischen und materialistischen Momenten unbegriffen in sich trägt." 146 Der Begriff des „Seyn an sich" 147 zerbricht unter der Last seiner Bedeutung; er degeneriert zu einem in jeder Hinsicht mißdeutbaren und damit sinnlosen „Buchstaben", der einem „unvermeidlichen Misbrauch" Tor und Tür öffnet. 148 Ob man ihn als „Ideal", als „natura naturans" oder als „höchstes Wesen" 149 versteht: Immer korrespondiert einer Maximierung des Begriffes eine Minimierung und Entleerung seines Bedeutungsgehaltes. Jedes dieser „verba praetereaque nihil" läßt sich zu einem göttlichen „Etwas" aufblähen, welches, wie Hamann in einer Rezension von Robinets „De la Nature" vorführt 150 , aufgrund seiner Allgemeinheit ebensogut ein „Nichts" sein könnte. Ein Gottesbegriff, der nicht mit der biblischen Vorstellung eines redenden Gottes verbunden bleibt, ist in jeder Hinsicht mißdeutbar. So werden auch bei Jacobi leere Begriffe vergottet, und mit solchen „Götzen" wird das materielle Nichts als „Wort und Werkmeister" der Wirklichkeit verehrt. Daß Hamann sich im Gespräch mit Jacobi so kompromißlos gegen dessen Intellektualisierung des Gottesbegriffes wendet, zeigt, daß er trotz dessen theistischer Position die theologische Tragweite dieser, wie er es auch nennt, „philosophischen Idolatrie"151 erkannt und deren inneren Zusammenhang mit dem Materialismus gesehen hat. 152 Die philosophische Entmaterialisierung der sich im Wort der „Gnade" mitteilenden „Wahrheit" zu einer abstrakten Wahrheit ist für Hamann jedenfalls nur eine Vorstufe zu ihrer atheistischen Liquidierung. Auch diese hat er, beispielsweise bei Diderot und Holbach, kennengelernt und als Ergebnis eines unlauteren Tauschhandels mit willkürlich gedeuteten Begriffen 153 gleichfalls scharf kritisiert. 154 Der Schwerpunkt 144

„Die Gewohnheit jede Idee, wie einen leblosen Gegenstand in eine Person zu verwandeln, ist zu einer solchen Fertigkeit geworden, daß man sich des dabey unvermeidlichen Misbrauchs kaum mehr bewust ist" (NIV,456,9-12; [Über das Spinozabüchlein]). 145 J.v. Lüpke, Menschlich und göttlich zugleich, 88. 146 Ebd, 87. 147 ZH VII,169,13 (an Jacobi am 27. April 1787). 148 S. Anm. 144. 149 N IV,282,19f. 150 Vgl. W.D. Baur, Hamann als Publizist, 124ff. 151 N 111,106,39 (Neue Apologie des Buchstabens h). 152 Vgl. J.v. Lüpkes Ausführungen zu einer „poetischen Anthropologie" bei Goethe und Nietzsche (aaO [Anm. 145], 13-30). 153 Vgl. N IV,282,14-19.

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Dialektik des Wirklichen

seiner Auseinandersetzungen liegt jedoch, und dafür ist das Gespräch mit Jacobi exemplarisch, auf der Entlarvung jener überwiegend christlichen „Larven", die diese Entwicklung gefördert haben; Herder, Lessing und Kant wären hier neben Jacobi zu nennen. Ganz sicher wußte Hamann die Eigenständigkeit des Jacobischen Theismus gegenüber dem Deismus Kants zu schätzen: „Am Seyn ohne Bewußtseyn ist Ihnen nichts gelegen", zitiert er ihn, um dann aber sogleich die theologischen Hintergründe dieser Vorliebe aufzudecken: „am Baum des Erkenntnißes mehr, als am Baum des Lebens und doch ist nicht das Seyn, sondern Bewußtseyn die Quelle alles Elends." 155 Die Identifizierung von göttlichem „Seyn" und menschlichem „Bewußtseyn" 156 sieht Hamann in der urgeschichtlichen Tradition des Sündenfalls stehen. Dem verbotenen Griff nach dem „Baum des Erkenntriißes" vergleichbar ist Jacobis Versuch, die Selbstkonkretion Gottes („Leben") in seinem Wort durch ein abstrahierendes Verfahren gleichsam rückgängig zu machen („Erkenntniß"). „Das Ein und Alles jedes Dings" bleibt bei ihm ein von der Welt der Dinge isoliertes Wesen, und mit dieser Isolierung hebt er eine für das biblische Gottesbild konstitutive Bestimmung auf, nämlich die Bestimmung der ewigen „Wahrheit" durch die „Gnade" der Selbstmitteilung. Für Hamann ist genau dies „die Qvelle alles Elends" in Philosophie und Theologie. Jacobi, seinem Selbstverständnis nach ein christlicher Apologet, bewegt sich unversehens im wertfreien Raum eines philosophischen „Wortspiels" 157 , in dem die sogenannten „natürlichen und übernatürlichen Ideen" zu ontologischen opposita stilisiert werden, wobei es jedem offen steht, nur durch den willkürlichen Gebrauch der Vorsilbe „über" das Spiel zu seinen Gunsten zu entscheiden. 158 Die Vergottung des „Natürlichen" läßt sich erreichen, wenn man schlicht bestreitet, daß es ein „Darüber" gibt. Das Gegenteil davon hingegen, wenn man, wie Jacobi, die Vernunft mit dem Nimbus des „Übernatürlichen" versieht. Ohne die Anerkennung eines Gottes, der im Wort den Widerspruch der Konkretion in sich auszuhalten vermag, verkommt alles Reden von Gott zu einem „Wortspiel", in dem nur Wert hat, was gerade in Mode ist.

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Zu Holbach vgl. N IV,413-416 (Kleiner Versuch) und dazu die Analyse von W.D. Baur, Hamann als Publizist, 191ff. Auch den anthropologischen Materialismus des Helvetius hat Hamann, trotz seiner Übereinstimmung mit den Idealismus-kritischen Momenten desselben, abgelehnt. Vgl. auch J.v. Lüpke, aaO [Anm. 145], lOOf. 155 Z H V , 3 2 9 , 9 - 1 1 (22. Jan. 1785). 156 ZH V , 3 2 1 , 2 2 (von Jacobi am 11. Jan. 1785). 157 Dieses und das folgende Zitat: N IV,415,30 (Kleiner Versuch). 158 V g ] w D ßaur, Hamann als Publizist, 231f.

Die Bedeutung der communicatio idiomatum für die Rede von Gott

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1.6.2 Der Widerspruch als Bestandteil der göttlichen Identität Die von der Menschwerdung her sich ergebende Tatsache, daß die alles Sein bestimmende „Wahrheit" selber bestimmt ist durch die „Gnade", trägt den Widerspruch der Konkretion in den Gottesbegriff hinein. Der von der Vernunft gerühmte „Geist", der „frey ist von allen materiellen Verhältnißen und Eigenschaften" 159 , ist kein anderer als der von ihr verachtete „Geist der Gnade" 160 . Gott ist in allen seinen Personen ein in Freiheit sich selber bestimmender und ein durch die Liebe zum Menschen bestimmter Gott. Mit einiger Schärfe konfrontiert Hamann daher den inhaltsleeren und manipulierbaren Gottesbegriff des Deismus, zu dem seiner Ansicht nach auch Jacobi tendiert, mit einem Gottesbegriff, der die durch die communicatio idiomatum bezeichnete Zuordnung zum Grundaxiom theologischer Rede von Gott macht. „Der Glaube an Einen Gott und Einen Mannt - ] scheint de[n] Unterscheid zwischen Feuer und Wasser, Schrift und Vernunft, Licht und Finsterniß, Natur und Gnade nicht aufzuheben, sondern vielmehr alle Erscheinungen sowohl des Widerspruches als selbst der Feindschaft zu befestigen und sinnlich zu machen" 161 , schreibt er in seiner Rezension der Sittenlehre von Daniel Heinrich Arnoldt. Hamann „wendet sich" mit dieser Formulierung „gegen die schon in Arnoidts Titel präfigurierte Auffassung, Vernunft und Offenbarung ließen sich bruch- und widerstandslos miteinander verbinden." 162 Ihm dient die seiner Meinung nach nicht zu aufzuhebende „Dialektik des Wirklichen" 163 , die er in allen genannten Gegensatzpaaren wahrnimmt, zur Illustration des „Einen" Gottes, dessen Selbsterniedrigung in Christus den Ursprung aller Widersprüche in sich begreift. Was einander widerspricht, ja was einander haßt, ist doch in bleibender Weise auf das bezogen, dem es widerspricht und das es haßt. Die Identität eines Dinges oder Verhältnisses konstituiert sich nach Hamann immer in Abgrenzung, aber eben nicht ohne das, wovon man sich abgrenzt. Das „Licht" ist nicht Licht ohne „Finsterniß", die „Natur" ist nicht Natur ohne „Gnade", die aufgeklärte „Vernunft" nicht vernünftig ohne die „Schrift", der sie widerspricht. Dieses Miteinander von Gegensätzen in der physischen und intelligiblen Welt verdankt sich nicht dem Zufall, nicht dem Bösen und auch nicht der Sünde. Es bildet für Hamann vielmehr das „Metall der tiefsinnigsten und erhabensten Materien und Wissenschaften, als Politik, Moral, Gott, Staat und Mensch sind, welche nicht

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ZH VII, 158,8f (an Jacobi am 22. April 1787). N 11,296,18 (Glose Philippique). 161 jsj IV,281,37-41 (Rezension von: Vernunft- und schriftmäßige Gedanken von den Lebenspflichten der Christen, entworfen von D.H. Arnoldt). Zum folgenden vgl. W.D. Baur, Hamann als Publizist, 133ff. 162 Ebd, 137. 163 M. Seils, Entkleidung und Verklärung, 519 (Nachwort). 160

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Dialektik des Wirklichen

geschieden werden können", weil „deren Einheit das Maximum aller Geheimnisse anschauend und natürlich macht [...]." 164 Theologisch ungefährlich ist dieser Gedanke nicht. Aber Hamann geht es um den Kontrast von christlicher und nichtchristlicher Rede von Gott. Sein christologischer Gottesbegriff desavouiert den Gottesbegriff der Vernunft. Einer höchsten Steigerung des Widersprüchlichen steht die höchste Steigerung des Widerspruchsfreien unversöhnlich gegenüber, und Hamann versteht es, diesen „Widerspruch", der hier auch als emotionsgeladene „Feinschaft" zwischen göttlichem „Geist" und menschlicher „Vernunft" erscheint, in provozierenden und auch nicht unmißverständlichen Formulierungen - man denke an die Bedeutung des „Gegensatzes" für den Gottesbegriff Schellings 165 - zum Ausdruck zu bringen. So vermag, wie Hamann in einem frühen Brief an Lindner schreibt, der „Heyde und Philosoph" zwar noch „die Allmacht, die Hoheit, die Heiligkeit, die Güte Gottes" 166 zu erkennen; „aber von der Demuth seiner Menschenliebe weiß er nichts". Und mehr noch verfehlt „der Begriff des höchsten Wesens"167 den Kern der „evangelischefn] Wahrheit, die höher ist denn alle Vernunft [,..]." 168 Denn dieser „Begriff hat, so schreibt Hamann, schon immer „die Weltweisen in Irrthümer und Vorurtheile verleitet, welche so kräftig und verderblich sind als die Vorstellungen, die sich die Juden unter dem Bilde eines Monarchen von dem Messias machten. ,Ich bin ein Wurm und kein Mensch': diese Empfindungen des gekrönten Psalmisten scheinen die einzigen Wegweiser zu seyn, um den gesuchten Begriff von einer Majestät der Existenz zu erreichen." 169

Mit dem Hinweis auf Psalm 22, der die Gottverlassenheit des sterbenden Christus evoziert, rückt Hamann einem Denken, das die Schönheit und die Zweckmäßigkeit des Seins als Hinweis auf das Göttliche versteht, das Skandalon des häßlichen, sich selber mit einem „Wurm" vergleichenden Gottes

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N IV,414,4-8 (Kleiner Versuch). Was sich in Natur und Geschichte gegenseitig bekämpft und vernichtet, läßt sich für Hamann allerdings nicht, wie Schelling später annimmt, im Medium der intellektuellen Anschauung auf die ursprüngliche Einheit des Absoluten zurückführen, die dann auch am Beispiel der Person Christi exemplarisch illustriert werden könnte. Falls Schelling, wie H. Fuhrmans (Schellings Philosophie der Zeitalter, 451) vermutet, seinen „explikativen Theismus" auch unter Rückgriff auf Hamann entwickelt hat, dann hat er ihn an einem entscheidenden Punkt umgedeutet. Für Schelling dient die christologische Koinzidenz lediglich der Illustration eines die Wirklichkeit begreifenden Vernunft-Logos, der, wie H. Rosenau (Philosophie und Christologie, 45) formuliert, „das Ich in ein unmittelbares Verhältnis zum Absoluten und Göttlichen" zu bringen vermag und so die soteriologischen Funktionen des Christus-Logos übernimmt. Dieses und das folgende Zitat: ZH 1,394,16-18 (August 1759). NIV,282,19f (Kleiner Versuch). N IV,282,12f. NIV,282,19-25.

Die Bedeutung der communicatio idiomatum für die Rede von Gott

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entgegen. 170 Der „gesuchte Begriff läßt sich nicht in dem „Begriff des höchsten Wesens" finden, sondern in seinem Gegenteil, welcher gar den Begriff des Menschlichen unterbietet. Das Kreuz Christi definiert die „Majestät der Existenz" als eine „Majestät", die unter ihrem Gegenteil verborgen ist. Nicht die „Allmacht" oder die „Hoheit", ja nicht einmal die „Güte Gottes" können hier als „Wegweiser" dienen. Hart formuliert Hamann: „Was Göttl. gut, weise ist, dafür eckelt Gott und dem Geiste Gottes als für Menschendreck, Thorheit [...]." 171 Denn was der Mensch für „Göttl. gut" und „weise" hält, ist nur ein Teilaspekt der „evangelischen Wahrheit", der die entgegengesetzten Aspekte des Bösen und Törichten, ja des unmenschlich Niedrigen ausblendet, von denen sich diese „Wahrheit" nicht abstrahieren läßt. Der von Hamann hier herbeigeführte Blickwechsel auf den gekreuzigten „Psalmisten" Jesus fügt das in diesem Kapitel Dargestellte zusammen. Jacobi fragt nach dem „Seyn an sich" und insistiert auf dessen Trennung von der dinglichen Welt; Hamann verweist ihn auf das „Wort". Ähnlich geht er in der Rezension der „Sittenlehre" mit dem metaphysischen „Begriff des höchsten Wesens" um: Was von Gott gesagt werden kann, das zeigt sich am Kreuz, wo der größte aller denkbaren Gegensätze aufgedeckt und versöhnt, aber nicht aufgehoben wird. Im Skandalon des Kreuzes konzentriert sich das eine „Wort" Gottes, von dem Hamann sagt, daß es „Vernunft" und Welt" gleichermaßen begründe. 172 Die sich in naturgegebenen Gegensätzen ebenso wie in den von der Vernunft konstruierten Widersprüchen äußernde „Dialektik des Wirklichen" 173 gilt es daher als „Erscheinungen sowohl des Widerspruchs, als selbst der Feindschaft zu befestigen und sinnlich zu machen", weil sich in ihnen der eine Widerspruch der Sünde und des Todes gegen das Leben wahrnehmen läßt, den Gott, zu einem „Wurm" erniedrigt, mit dem Ereignis seiner Versöhnung verbindet. Der tiefste Gehalt des Wortes Gottes, zu dem die physische und intelligible Welt aufgrund ihres Sprachcharakters in einer abbildenden Beziehung steht, ist daher jenes „mysterium iniquitatis"174 (2 Thess 2,7), welches sich für Hamann in einer einzigen Zeile aus dem Osterlied Luthers zusammenballt: „Wie ein Tod den andern fraß." 1 7 5 Das bedeutet „Koinzidenz in mehrfacher Dimension: Der Gott, der das Leben ist, wird zum Tod, um sich seinen Gegensatz, den Tod einzuverleiben." 176 Das „Principium coincidentiae oppo-

170 171 172 173 174 175

176

Vgl. Baur, Hamann als Publizist, 141f. ZH 1,342,15-17 (an Lindner am 5. Juni 1759). Vgl. Z H V , 9 5 , 2 1 . S. Anm. 163. Dieses und das folgende Zitat: ZH IV,462,13f (an Herder am 18. Nov. 1782). Es handelt sich um eine Zeile aus der 4. Strophe von „Christ lag in Todesbanden" (EG 101). Vgl. N 111,279,7f. R. Röhricht, Hamann und Nikolaus von Kues, 283.

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Dialektik des Wirklichen

sitorum"177, ohne das „Vernunft" und „Welt" nicht zu denken sind, ist das Kreuz Christi. In ihm sieht Hamann „die Weisheit des Widerspruchs"178 begründet, die der Tod nicht nur der Sünde, sondern auch „der Tod und die Hölle der lebenden Weltweisheit" 179 ist.

1.6.3 Koinzidenz von Gut und Böse als Grenze der Hamannschen Dialektik Der Glaube an Christus hebt den „Widerspruchscharakter des Seins" 1 8 0 nicht auf, sondern macht ihn „sinnlich", weil er im Gegensatz zur Vernunft die in deren Sprachfiguren anschaulich werdende coincidentia oppositorum als Hinweis auf die göttliche Identität kongenial erfaßt. Das „Maximum aller Geheimnisse" 181 ist für Hamann die Vereinigung des größten aller denkbaren Gegensätze in der Person des „Einen Mannes", in der die abstrakte Wahrheit des ursprünglichen Seins konkret wird, ohne dadurch unwahr zu werden. Dies ist kein später Gedanke Hamanns. Schon in einer Liedbetrachtung der Londoner Zeit hatte er formuliert: „Hierinn bestand eben das Geheimniß der Göttl. Weisheit Dinge zu vereinigen, die sich einander aufhoben, die sich einander widersprachen, die sich einander zu vernichten schienen - dies ist mehr als aus Nichts schaffen. Dies kann niemand als Gott thun, Böses zu schaffen, und [es*] zu Feinde mach[en], Finsternis zu schaffen und das Licht zu bilden Jes. XLV.7." 1 8 2 Anhand dieser frühen Aussage läßt sich die für Hamanns Denken fundamentale Verhältnisbestimmung von materieller Wirklichkeit (Natur und Vernunft) und „Geist" bzw. „Sinn" (gemeint ist die Wirklichkeit der göttlichen Inspiration) noch schärfer fassen. Die Vereinigung der genannten opposita durch Gott ist für Hamann „mehr" als alles Handeln Gottes in Schöpfung und Geschichte, weil es, wie anhand der Glose Philippique zu sehen war, den „Sinn" dieses Handelns bereitstellt. Nicht daß der Schöpfer die Welt aus dem „Nichts" herausruft, sondern daß er mit ihr das im Verhältnis zu ihm nichtige Sein zu einem Bedeutungsträger seines Redens erhöht, ist für Hamann der Schlüssel zum Verständnis der natürlichen und geschichtlichen Wirklichkeit. Die creatio ex nihilo hat in sich keine Bedeutung, sondern sie erhält ihre Bedeutung durch die Annahme des Nichtigen in Christus, die sich in ihr abbil-

177

ZH IV,462,7 (s. Anm. 174). N II,98,17f (Wolken). 179 N II,103,26f (Wolken). 180 E. Metzke, Hamanns Stellung, 52. 181 N IV,414,7 (Kleiner Versuch). 182 b w 367,4-7 (N 1,264; Betrachtung zu: Mein Geist und Sinn ist hoch erfreut). 178

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det. Desgleichen hat auch die von Hamann immer wieder thematisierte consumado mundi 183 keine Eigenbedeutung, sondern illustriert lediglich die Tatsache, daß es zum „Geheimniß der Göttl. Weisheit" gehört, das „Böse" nicht nur „zu schaffen", sondern es zugleich in einer Weise „zu Feinde" zu machen, die es, wenn schon nicht im ontischen, so doch im ontologischen Sinne vernichtet sein läßt, für Hamann immer auch ein Hinweis auf die eschatologische Vernichtung aller falschen, gottwidrigen Erkenntnis, die mit dem Sündenfall ihren Anfang nahm. 184 Gott ist als Schöpfer der Welt auch der „Ursprung" des „Bösen" und läßt es als solches neben sich - und gegen sich existieren; er verleiht ihm eine Wirklichkeit, die als „Finsterniß" das „Licht" seiner eigenen Wirklichkeit in den Schatten zu stellen droht und die doch nur der Offenbarung seiner ewigen Güte dienen kann. Was „irrdisch, menschlich [und] teufelisch" 185 ist, gehört für Hamann auf die Seite der nichtgöttlichen, gleichwohl von Gott geschaffenen Wirklichkeit. Deren Dasein verdankt sich „einer heimlichen verborgenen Weisheit Gottes, welche Gott verordnet hat vor der Welt, zu unserer Herrlichkeit [,..]." 186 Das heißt: Das Widergöttliche ist von Gott geschaffen, mit einer Bestimmung versehen und zugleich „zu Feinde" gemacht. Sein Dasein weist hin auf eine innergöttliche Koinzidenz von „Licht" und „Finsternis", die die Bejahung der Welt und die Verwerfung des durch diese Bejahung entstandenen Bösen in sich begreift. Die Feindschaft von Sünde und Gnade, von „Finsternis" und „Licht" wird durch diese Vereinigung nicht aufgehoben, sondern als Bestandteil der göttlichen Identität behauptet. Dies bedeutet freilich, daß die Abstraktion des Bösen vom Sein Gottes nicht möglich ist, zumal „der Grundbegriff des Guten und Bösen so identisch und transcendent als der natürliche Unterscheid der Geschlechter ein verum signaculum Creatoris ist." 187 Erst mit dem sündhaften Bestreben des Menschen, um Gut und Böse wissen und damit wie Gott sein zu wollen, bricht der Gegensatz auf. Für die „Vernunft" ist die Unterscheidung von Gut und Böse seit dem Sündenfall „das älteste und höchste Problem"; ein göttliches Problem ist sie indessen nicht. 188 Daß dies letztlich eine - wenn auch indirekte - Bejahung der Sünde durch Gott als Bedingung der Möglichkeit ihrer Verurteilung impliziert, ist eine Schwierigkeit, die ich bereits als den wunden Punkt des Hamannschen Denkens bezeichnet hatte. Denn Hamann unterscheidet ja, wie schon im ersten 183

184

185 186 187 188

Am deutlichsten N 111,233,19-34. Vgl. N 11,259,28-37; N 11,273,14-25; N 111,19,32-35; N III,219,16f; N 111,242,12-18; N III,402,37f. Vgl. hierzu insbesondere N 111,410,11-13 (zu 1 Kor 13,8-12) und die entsprechende Stelle in der Neuedition des Letzten Blattes von O. Bayer/C. Knudsen, Kreuz und Kritik, 54. ZH V,95,26f (an Jacobi am 2. Nov. 1783); vgl. N III,105,36f und N III,319,34f. ZH V,95,27f. N 111,212,4-7 (Schürze von Feigenblättern). Vgl. N 111,212,1-3.

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Dialektik des Wirklichen

Teil dieser Arbeit zu zeigen war, nicht scharf zwischen der Wirklichkeit des Endlichen und der widergöttlichen Wirklichkeit des „Bösen". Die daraus sich ergebende Verallgemeinerung des gottmenschlichen Gegensatzes ist ein für sein Denken in bleibender Weise typisches Merkmal; sie bezeichnet die Grenze, an die eine Verallgemeinerung des „göttlich und menschlich zugleich" notwendigerweise stoßen muß.

1.7 Zusammenfassung 1. In Weiterführung der in den Londoner Schriften entwickelten Geschichtstheologie behauptet Hamann die natürliche und geschichtliche Wirklichkeit als Bestandteil eines universalen Sprachgeschehens, welches von göttlicher „Demuth und Liebe" 189 inspiriert ist und einzig diese bezeugt. 2. Die supralapsarische Begründungsstruktur dieses Gedankens spitzt Hamann in der „Glose Philippique" kreuzestheologisch zu. Schöpfung, Inkarnation und Erlösung verdanken sich der in Christus präexistenten Heilswirklichkeit und sind funktional auf diese bezogen. War dies bereits in den Londoner Schriften dort erkennbar, wo Hamann seelisches Erleben und präexistenztheologische Aussagen zusammenfaßte, so zeigt sich jetzt eine Ausweitung der religiös-individualistischen Perspektive auf eine universale Schau des Heilsgeschehens, die zwar biblisch orientiert ist, geschichtliche Konturen aber kaum noch erkennen läßt. Das paulinische „Wort vom Kreuz" ist nicht mehr nur die formgebende Kraft der biblischen Offenbarung 190 , auch wenn Hamann diesen Gedanken in seinen Auseinandersetzungen um die Schriftautorität beibehalten wird, sondern darüber hinaus diejenige „Centralkraft" 191 , die Natur und Geschichte zu einem Sinnganzen zusammenfügt und damit in radikaler Ausweitung der paulinischen Polemik eine Krise nicht nur über Formen religiöser Selbstverwirklichung, sondern über alle philosophischen Sinngebungsversuche heraufführt, die nicht christologisch orientiert sind. Es ist in diesem Zusammenhang deutlich geworden, daß Hamann die Ausrichtung des Wirklichen auf das Kreuz protologisch und eschatologisch versteht, nämlich als Ausrichtung auf das ursprünglich schöpferische und auf das endzeitlich vernichtende bzw. verwerfende Handelns Gottes, die es durch die Predigt des Kreuzes, wie Hamann sie praktiziert, zu vergegenwärtigen und zu aktualisieren gilt. 192

189 190 191 192

BW 406,35f (Brocken). Vgl. Kap. 1.1 im 1. Teil. N 111,240,30. Dies wird auch hervorgehoben von E.J. Schoonhoven, Natuur en Genade, 211ff („Scheppingsgeloof en eindverwachting").

Zusammenfassung

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3. Das Miteinander von universaler Inspiration und unaufhebbarer Kontingenz bestimmt Hamanns Verständnis von natürlicher und geschichtlicher Wirklichkeit. Zum einen gilt für ihn: Alles, was existiert und geschieht, ist providentiell von der „Einheit des göttl. Willen" 1 9 3 gehalten und damit als inspiriertes Wort von über sich hinausweisender Bedeutung. Mensch und Welt sind „nichts als" materielle Bedeutungsträger der Heilswirklichkeit Gottes und insofern göttlich; sie können nicht verhindern, daß Gott auch im Raum der Geschichte seinen Plan zuende führen wird. Ein dem Denken Hamanns eigenes pantheistisches Moment läßt sich in diesem Kontext nicht übersehen. 4. Zugleich hebt Hamann die aktive und passive Bedeutung des Menschen bei der Gestaltung der natürlichen und geschichtlichen Wirklichkeit hervor, so daß auch ein anthropozentrisches Moment zum Tragen kommt. Das „Wort vom Kreuz" ist ein die „Torheit" und Sünde des Menschen zum Maß nehmendes Wort, d.h. es existiert und geschieht nichts, was sich nicht auch aus der „Analogie" der menschlichen „Natur" erklären ließe. 194 Das ganz und gar gottlose Wollen und Handeln des Menschen erfährt eine Apotheose, weil Gott sich aus Liebe in dieses Wollen und Handeln hineinbegibt, ja dieses selber erleidet, ohne seinem ewigen Willen untreu zu werden. Mit diesem Paradox sind bei Hamann der zum Pantheismus tendierende Providenzgedanke und der zur Säkularisierung tendierende Kondeszendenzgedanke vermittelt. 5. Die communicatio idiomatum, für Luther noch eine „Sprachaufgabe" 195 der Christologie, macht Hamann im Gespräch mit Jacobi zum allgemein gültigen „Sprachprincipium" 196 einer Philosophie, die den Unterschied zur Theologie nicht kennt, sondern völlig auf der theologischen Voraussetzung des Wortcharakters der Wirklichkeit beruht. Für Hamann ist die seinsgründende Vereinigung des Logos mit der endlichen Wirklichkeit nicht nur in der Einheit von Inspiration und Kontingenz, sondern auch in der „communicatio idiomatum des Geistigen und Materiellen" 197 universal präsent. Die in materialistischen Systemen begegnende Verdinglichung des Gedankens und die in Jacobis Philosophie begegnende Vergeistigung des Dinglichen koinzidieren im Wort eines universalen Sprachgeschehens (nicht nur der Menschensprache), das die Wirklichkeit des einen Wortes nachbildet, welches allen „Wirkungen im Großen und im Kleinen, im Himmel und auf Erden" 1 9 8 sachlich voraus ist. Zwar erscheint die Selbstbestimmung Gottes durch das Wort bzw.

193 194 195 196 197 198

BW 343,6f(N 11,40; Lebenslauf). N 111,27,10 (Ritter von Rosencreuz). S. Anm. 80. ZH VII,169,23 (Hervorheb. aufgeh.). ZH VII,158,4. N III,21,21 (Ritter von Rosencreuz).

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Dialektik des Wirklichen

die Konkretion jener „einzigen, selbstständigen und lebendigen Wahrheit" 199 durch die Gnade als ein Widerspruch, der den Triumph der Vernunft über die Schrift geradezu herausfordert. Für Hamann ist jedoch die unaufhebbare Einheit von absoluter Wahrheit und sich mitteilender Gnade in der Person Christi die Voraussetzung dafür, daß das intellektuelle und physische „Minimum" 200 der Welt neben dem „Maximum" 201 der göttlichen Wirklichkeit überhaupt existieren kann. Deshalb die lapidare Formel: „Ohne Wort keine Vernunft, keine Welt." 202 6. Die communicatio idiomatum erweist sich auch im Kontext der Rede von Gott als Erkenntnisschlüssel. Der Gott, der in Christus ans Kreuz geht, ist göttlich und menschlich zugleich, wobei „menschlich", wie zu zeigen war, für Hamann immer auch die Konnotation einer durch die Sünde entstellten Menschlichkeit hat. Die zahllosen „Erscheinungen sowohl des Widerspruches als selbst der Feindschaft" gilt es für ihn vor allem deshalb „sinnlich zu machen" 203 , weil sie in einem inneren Zusammenhang mit dem Widerspruch des Menschen gegen Gott und mit der feindseligen Ablehnung des göttlichen Gnadenangebots durch den Menschen stehen, die an ihrem schlimmsten Höhepunkt, nämlich am Kreuz, ihre Überwindung erfährt. Gott läßt sich am Kreuz widersprechen, weil im Widerspruch die Einheit des Widersprechenden mit ihm offenbar wird. „Alle Terminologie der Metaphysik läuft auf dies historische factum hinaus" 204 : nämlich daß Gott „Fleisch und Blut an- und das Kreutz auf sich genommen" hat. Folglich ist der ,¿¡ensus", der dies wahrzunehmen vermag, „das principium alles intellectus." Erkennen im Sinne Hamanns heißt, sich denkend an dem „Wegweiser" 205 des Kreuzes Christi zu orientieren. Im Zufall ist Sinn, in menschlicher Sünde ist göttliche Gnade, in intellektueller Täuschung ist Wahrheit. Wie Hamann, der „philologus crucis" 206 , diese eigenwillige Hermeneutik im Diskurs mit dem aufgeklärten Naturbegriff anwendet, soll das folgende Kapitel zeigen.

199

200 201 202 203 204 205 206

N III, 191,23f (Zweifel und Einfälle). iv,413,30 (Kleiner Versuch). N IV,414,7. ZH V,95,21 (an Jacobi am 2. Nov. 1783). N IV,281,40f (Rezension). Dieses und die folgenden zwei Zitate: ZH V,265,7-9 (an Jacobi am 14. Nov. 1784). N IV,282,24. N 11,249,3 l f (Hamburgische Nachricht); unter Berufung auf These 21 von Luthers Heidelberger Disputation (vgl. N 11,249,45-49 und dazu WA 1; 354). Zu dem mit diesem Ausdruck bezeichneten Selbstverständnis Hamanns vgl. O. Bayer, Leibliches Wort, 105107.

N

2. Einheit von Sinn und Sinnlosigkeit: Die communicatio idiomatum als Interpretament des Naturbegriffes („Aesthetica in nuce" 1) 2.1 Kunstwerk oder Fiktion: Wahrnehmung von Natur als Grundproblem der Ästhetik Von Inspiration war im letzten Kapitel die Rede. In Analogie zur Bibel versteht Hamann die Wirklichkeit als ein Sprachgeschehen, inspiriert von der Menschenliebe Gottes, durchdrungen und geformt von der sinnstiftenden Kraft des Kreuzes Christi. Nicht allein die Bibel, sondern auch die Schöpfung und ihre Geschichte sind für ihn heilige Schriften, und selbst die „Fehler und Irrgänge" 2 des Menschen gehören dazu. Außerhalb des theologischen Sprachgebrauchs beschreibt der Begriff Inspiration in der Regel die nicht einholbare Ursache für den künstlerischen Prozeß; die geniale Eingebung. Der Künstler ist inspiriert von einem Gedanken oder einer Idee, und dieser oder diese nimmt im Vollzug seines Schaffens Gestalt an. Etwas Unsichtbares materialisiert sich im Wort poetischer Sprache, in einer Komposition, in einem Gemälde oder in einer Plastik. Dieses Unsichtbare wird dadurch sichtbar, vermittelbar, freilich auch zerstörbar. Der Künstler äußert sich im Kunstwerk, um etwas Unsichtbares sichtbar werden zu lassen; man könnte auch sagen: Er offenbart sein Inneres. Hier läßt sich ein Zusammenhang zwischen Theologie und Ästhetik erkennen, der für Hamann von großer Wichtigkeit ist. Wenn Kunst offenbarenden Charakter hat, dann kann umgekehrt auch die Offenbarung eines Gottes als künstlerischer Prozeß bedacht werden. Entsprechend betrachtet Hamann die Offenbarung Gottes als das Kunstwerk schlechthin; die Wirklichkeit des Wortes, in dem Gott sich materialisiert, ist für ihn ein „univers représentatif' 3 . Gott ist, wie Hamann in der „Glose Philippique" sagt, ein dreieiniges

1

N 11,195-217. Zitate aus dieser Schrift werden im Text nachgewiesen. Die ,Aesthetica in nuce" gehört mit zum Grundbestand aller greifbaren Auswahlausgaben mit Werken von Hamann. Zuletzt hat S.-A. Jörgensen sie zusammen mit den „Somatischen Denkwürdigkeiten" als Reclam-Heft herausgegeben (1968 1 , 1979 3 ) und mit einem fortlaufenden Kommentar versehen, auf den ich mich im folgenden beziehen werde. Daneben sind zum folgenden zu vergleichen: H.U.v. Balthasar, Hamanns Theologische Ästhetik, (Philos. Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 68), 36-65; O. Bayer, Schöpfung als Anrede, 9 - 3 2 („Schöpfung als .Rede an die Kreatur durch die Kreatur' "); H.M. Lumpp, Philologia crucis, 19ff (Kommentar zur Aesthetica in nuce). - Zum Verhältnis der Aesthetica zu den übrigen Schriften in den „Kreuzzügen" vgl. R. Piepmeier, Hamanns Auseinandersetzung mit Frankreich (Hamann und Frankreich), U f f . Ich werde, wie hier vorgeschlagen, die sog. „Randschriften" (ebd, 21) zur Erläuterung der Hauptschrift heranziehen.

2

Vgl. ZH 1,402,8-12 (August 1759). N 11,294,28 (Glose Philippique).

3

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Einheit von Sinn und Sinnlosigkeit

Genie 4 ; Schöpfung, Inkarnation und Schrift sind seine künstlerischen Erzeugnisse. Gott ist „ein Schriftsteller" 5 , er ist, wie Hamann in der „Aesthetica" formuliert, der „Poet am Anfange der Tage" (206,20), der sich mit der Erschaffung der Welt zunächst einen „Schauplatz" (200,1) bereitstellt, um dann mit der „Schöpfung des Menschen" (200,lf) das „Drama" der Geschichte zu eröffnen. 6 Die Künstlerschaft des Gottes der Bibel ist universal; „durch die Kreatur" (204,5) redet er im „Buch der Schöpfung" (204,4); „durch Menschen" (204,6) in den „Bücher[n] des Bundes" (204,5), und zwar an allen Orten und zu allen Zeiten. 7 Nicht nur die „Wunder der Natur" und die „Originalwerke der Kunst" 8 erhalten auf diese Weise eine Bedeutung, „für die keine Gleichung durch die Elemente [...] dieser Welt heraus gebracht werden kann." 9 Auch „der ganze Wandel eines Christen ist das Meisterstück!-] eines unbekannten Genies [...]" 10 , auch wenn dies nicht evident zu sein scheint, sondern einer letzten Offenbarwerdung bedarf. 1 1 Mit der Bestimmung von Natur als eines universalen Kunstwerkes, durch das der Schöpfer sich offenbart, wäre das Thema der „Aesthetica in nuce", dem Hauptstück der 1762 erschienenen „Kreuzzüge des Philologen", skizziert. Hamann mischt sich mit dieser Schrift ein in den Streit um die „Nachahmung der schönen Natur" (205,20f), jene „klassizistische Formel, deren Gültigkeit für alle Künste Charles Batteux in seinem Werk „Les Beaux-Arts réduits à un même principe" (1746) energisch verfochten hatte." 12 Schon in den „Somatischen Denkwürdigkeiten" hatte Hamann sich kritisch dazu geäußert und davon gesprochen, daß der Begriff der „Schönen Natur" eine reine Fiktion sei, die das Natürliche in seiner Komplexität und Widersprüchlichkeit auf unzulässige Weise idealisiere und simplifiziere. Die künstlerischen Produkte, die aus diesem Begriff erwachsen, hält Hamann aufgrund ihrer sterilen Idealität für wirklichkeitsferne Grotesken, vergleichbar jenem „Bild der Schönheit, das ein Grieche aus den Reitzen aller Schönen, deren Eindruck ihm Absicht und Zufall verschaffen konnte, zusammensetzte." 1 3 Solche „Meisterstücke", die aus einer Kompilierung schöner Einzelteile entstehen, werden zwar „von gelehrten Kennern der Künste immer sehr [...] bewundert 4 5 6

7 8 9 10 11 12 13

Vgl. N 11,294,26-34. BW 59,3 ( N 1,5). „Die Schöpfung verhält sich aber zur Schöpfung des Menschen: wie die epische zur dramatischen Dichtkunst" (N II,200,lf). Vgl. N II,198,31f. N II,140,27f (Die Magi aus Morgenlande). N II,140,25f; vgl. Kol 2,20. N 11,140,29-32. Zu „Meisterstück" verweist Hamann in einer Fußnote auf Eph 2,10. Vgl. N 11,140,33-35. S.-A. Jorgensen, Kommentar, 110. N 11,62,24-26 (Sok. Denkwürdigkeiten). Hamann spielt hier auf die Sage vom griechischen Maler Zeuxis an, der für sein Helenabild die schönsten Körperteile der fünf schönsten Jungfrauen der Stadt Kroton kompilierte (S.-A. Jorgensen, Kommentar, 18).

Wahrnehmung von Natur als Grundproblem der Ästhetik

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und gesucht; von Klugen hingegen als abentheuerliche Gewächse und Chimären [...] belacht oder auch für die lange Weile in theatralischen Zeichnungen nachgeahmt werden." 14 Die Nachahmung des Schönen in der Kunst erscheint Hamann als unfreiwillige Karikatur, die es verdient, selber karikiert zu werden. Deshalb setzt Hamann dem ästhetischen „Principe", das seiner Ansicht nach auf einem ,,abgedroschene[n] misverstandene[n] Grundsatz" beruht 15 , in der „Aesthetica" eine rezeptionsästhetische Bestimmung entgegen, die auf der ganzheitlichen Wahrnehmung der Natur insistiert. Ebenso wie die Bibel, so ist für ihn auch „das Buch der Schöpfung" (204,4) niemals nur schön und vollkommen, sondern von jenem „Dialecte" (204,8) der coincidentia oppositorum gezeichnet, die beide als „Werke" (ebd) ein- und desselben „Urhebers" (204,7) ausweist. „In allen Ein Ton von unermäslicher Höhe und Tiefe! Ein Beweiß der herrlichsten Majestät und leersten Entäußerung!" (204,8-10). Die sogenannte „schöne Natur" 16 muß zunächst einmal selber als ein fertiges Kunstwerk wahrgenommen werden, als Kunstwerk, welches nicht eine idealisierende Überhöhung des Wirklichen darstellt, sondern aufgrund seiner Unregelmäßigkeiten und Gegensätze Ausdruck der in Niedrigkeit verborgenen Gegenwart seines „Schöpfers" ist. Während, wie Hamann in Anspielung auf den puristischen Ästhetizismus aufgeklärter Kulturkritik formuliert, „unsere schöne[n] Geister sich ihres schönsten Fleisches und Blutes schämen" 17 , imitiert der Geist Gottes den Menschen in seiner Leiblichkeit, verbindet sich mit dessen Fleisch und Blut, um vernehmlich zu werden. Christus, so hatte Hamann schon in einem frühen Brief an Lindner formuliert, „nahm unser eigen Bild an - Fleisch und Blut, wie die Kinder haben, lernte weinen - lallen reden - lesen - dichten wie ein wahrer Menschensohn; ahmte uns nach, um uns zu Seiner Nachahmung aufzumuntern." 18 Schön ist, hier könnte Hamann dem religiösen Pathos aufklärerischer Ästhetik durchaus zustimmen, das göttlich Schöne. Aber auf den Begriff des Göttlichen, das es in der Kunst nachzuahmen gilt, kommt es eben an. Göttlich schön ist nicht die überhöhende Darstellung des Irdischen, sondern „göttlich ist es [...], ja göttlich ist, die Schwachheiten der Schwachen anzuziehen, und sich ihrer Denkungsart so wenig als ihres Fleisches und Blutes, zu seiner Tracht zu schämen." 19 Deshalb ist die Erniedrigung Gottes zum Menschen und die „Nachahmung" der menschlichen Wirklichkeit in der Menschwerdung Gottes für Hamann das Kunstwerk schlechthin, welches Gott mit der Schöpfung ins Bild setzt und welches auch dem Menschen zur Nachahmung 14 15 16 17 18 19

N 11,62,26-30. N IV,376,5 (Königsbergische Zeigungen, Beylage zum 43. Stück, 29. May 1772). Dieses und das folgende Zitat: N 11,63,5 (Sok. Denkwürdigkeiten). N 11,347,8 (Leser und Kunstrichter). ZH 1,394,7-9 (im August 1759). N 11,145,30-32 (Klaggedicht).

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aufgetragen ist. Schön ist die „schöne Natur" nicht, weil der Künstler sie so darstellt, sondern schön ist sie vielmehr, weil Gott sich darin dem Menschen in einem unverwechselbaren „Dialecte" mitteilt, ihn durch sie anreden und verändern will. 20 Deshalb kann es in der Ästhetik auch nicht um die „schöne Natur" allein gehen. „Natur und Schrift" (210,7) müssen als Werke eines „Autors" (203,18) zusammen betrachtet und diskutiert werden. Über die Schönheit, dies ist Hamanns durchaus eigenwillige Meinung, läßt sich nicht reden, wenn die Frage nach der „einzige [n] Wahrheit" (206, 16) ausgeblendet wird, die in Christus offenbar geworden ist. 21 Die ästhetische Frage erweist sich somit als die Frage nach der Möglichkeit, die „Natur" nicht nur als Materie künstlerischen Schaffens zu betrachten und zu behandeln, sondern sie ebenso wie die „Schrift" als eine Form göttlicher Selbstmitteilung christozentrisch zu lesen und zu verstehen. Nicht nur jedes „Capitel" der Bibel „enthält eine Geschichte der Mschl. Erlösung" 22 , denn was in der Bibel geredet wird, „öffnet [Hamann] die Augen für alles Reden, und den ihn die Bibel sehen [läßt], den [sieht] er überall wieder." 23 Deshalb gilt: „Der erniedrigte und erhöhte Christus [ist] der einzig mögliche Schlüssel zum Verständnis von Natur und Schrift. [...] Im Glauben an den Sohn Gottes läge so die Ästhetik beschlossen wie in einer Nuß." 24 Daß ein solches Verständnis sich nicht von selbst versteht, vielmehr eine besondere Weise der Wahrnehmung voraussetzt, hat Hamann immer wieder betont. „Die Natur", schreibt er in einem Brief an Kant, „ist ein Buch, ein Brief, eine Fabel (im philosophischen Verstände) [...]. Gesetzt wir kennen alle Buchstaben darinn so gut wie möglich, wir können alle Wörter syllabiren und aussprechen, wir wißen so gar die Sprache in der es geschrieben ist — Ist das alles schon genung ein Buch zu verstehen, darüber zu urtheilen [...]. Die Natur ist eine Aequation einer unbekanten Größe; ein hebräisch Wort, das mit bloßen Mitlautern geschrieben wird, zu dem der Verstand die Puncte setzen muß."25

Das Verstehen von Bildern und Texten ist, ganz gleich in welchem wissenschaftlichen Kontext, ein künstlerischer Prozeß, in dem sich der Lesende zunächst vorbehaltlos auf seinen Gegenstand einläßt, bevor er ihn durch Sinngebung und Sinnfindung gleichsam zu neuem Leben erweckt. Ohne die Kunst der Punktierung, die den - im Sinne Hamanns - ,inspirierten' Wortsinn eines hebräischen Textes aufzuspüren vermag, könnte dieser „Text" weder gelesen noch verstanden werden. Die analytische Zergliederung eines

20 21 22 23 24 25

Vgl. J. Simon, Spuren Hamanns bei Kant? (Acta IV), 99. Vgl. N 11,68,15-20. BW 164,lf (N 1,102); vgl. BW 104,6-9 (N 1,40). J. Ringleben, „Rede, daß ich dich sehe" (NZSTh 30), 222. H.M. Lumpp, aaO (Anm. 1), 39. ZH 1,450,12-20 (Ende Dez. 1759).

Wahrnehmung von Natur als Grundproblem der Ästhetik

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,,Körper[s] und eine[r] Begebenheit bis auf ihre ersten Elemente" 26 ermöglicht zwar, im Bild gesprochen, ein Nachbuchstabieren der Radikale. Zum Verständnis der in den Elementen verborgenen Bedeutung, jener „unbek a n n t e n Größe", bedarf es jedoch besonderer Kenntnisse. „Es gehört also mehr dazu als Physik um die Natur auszulegen", und es gehört auch mehr dazu als die Kenntnisse der biblischen Sprachen, um die Texte des Alten und Neuen Testaments zu verstehen. Zu dem geschärften „Geist der Beobachtung" 27 , mit dem Künstler und Wissenschaftler im Zeitalter der Aufklärung ohne Zweifel ausgerüstet sind, muß nach Hamann der „Geist der Weissagung" treten, zu der Kunst der „Abstraction" 28 die Kunst der poetischen „Fiction" 29 , die sich dem Einssein des Glaubenden mit Christus verdankt. 30 „Je lebhafter diese Idee, das Ebenbild des unsichtbaren Gottes in unserm Gemüth ist; desto fähiger sind wir Seine Leutseeligkeit in den Geschöpfen zu sehen und zu schmecken, zu beschauen und mit Händen zu greifen" (207,2-5). Kunst, dies wäre zunächst festzuhalten, besteht für Hamann in der durch den Glauben an Christus inspirierten Wahrnehmung und Auslegung von bereits vorhandener Kunst. Die Zeichensprache des „univers représentatif' 31 zu entschlüsseln, sie als Anrede Gottes gleichsam neu zu punktieren und für andere lesbar zu machen: Das ist seiner Meinung nach der Kern einer Ästhetik, die sich nicht theoretisch erfassen, sondern nur im Vollzug einer kritischen Auseinandersetzung mit anderen „Lesarten" (203,Iii), beispielsweise der streng klassizistischen Lesart Moses Mendelssohns 32 oder der historischkritischen Lesart Johann David Michaelis' 33 , vorstellen läßt. Die kunsttheoretische Problematik ist somit „nicht nur auf Poesie im engeren Sinne zu beziehen, sondern auf die Wirklichkeitsdeutung und Wirklichkeitsbewältigung

26 27 28 29 30

31

32 33

N 11,64,13f (Sokrat. Denkwürdigkeiten). Dieses und das folgende Zitat: N 111,382,30 (Entkleidung und Verklärung). N 111,382,34. N 111,384,4. Im Zusammenhang lautet die Stelle: „Geist der Beobachtung und Geist der Weissagung sind die Fittige des menschlichen Genius. Zum Gebiete der ersteren gehört alles Gegenwärtige, zum Gebiete des letzteren alles Abwesende, der Vergangenheit und Zukunft. Das philosophische Genie äussert seine Macht dadurch, daß es, vermittelst der Abstraction, das Gegenwärtige abwesend zu machen sich bemüht; wirkliche Gegenstände zu nackten Begriffen und bloß denkbaren Merkmalen, zu reinen Erscheinungen und Phänomenen entkleidet. Das poetische Genie äussert seine Macht dadurch, daß es, vermittelst der Fiction, die Visionen abwesender Vergangenheit und Zukunft zu gegenwärtigen Darstellungen verklärt" ( N 111,382,30-384,5). Auch dem Zusammenspiel von „Entkleidung und Verklärung" - so der Titel der Schrift - liegt die Figur der Idiomenkommunikation zugrunde. Wichtig ist dabei, daß „Zeichen bei Hamann nicht diskursives Symbol" ist, sondern ein „Bild als präsentatives Symbol" darstellt (R. Piepmeier, aaO [Anm. 1], 23). Vgl. N 11,200,25-201,17. Vgl. N 11,201,18-203,13.

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Einheit von Sinn und Sinnlosigkeit

des Menschen im umfassenden Sinne." 34 So haben Ästhetik und Theologie gleichermaßen die Aufgabe, nach Sinn und Bedeutung auch dort zu suchen, wo der aufgeklärte „Geist der Beobachtung" 35 nur Sinnlosigkeit oder UnSinn wahrzunehmen glaubt. Es gilt aber auch, Sinn und Sinngebungen zu hinterfragen, die ein solcher „Geist" als einzig zulässige behauptet.

2.2 Der ästhetische Begriff Hamanns und seine Demonstration am Beispiel des Penelope-Mythos „Rede, daß ich dich sehe!" (198,28) 36 Mit dem Zitat dieses berühmten Satzes macht Hamann deutlich, daß das Schaffen des göttlichen Künstlers von einer ganz und gar menschlichen Bitte inspiriert ist. Indem Gott die Welt erschafft und dadurch in Erscheinung tritt, entspricht er dem „Wunsch" (ebd) des präexistenten Schöpfungsmittlers, der wahrer Gott und zugleich ganz und gar Mensch, auf Gottes Wort angewiesener und nach diesem Wort verlangender Mensch ist. 37 So erscheint in diesem von Hamann „anachronistisch" inszenierten „Wortwechsel zwischen Gott und Mensch" 38 , ebenso wie schon in den besprochenen Texten aus der Londoner Zeit, der Mensch als Mit-Schöpfer der Welt und seiner selbst. Weil „Sinne und Leidenschaften [...] nichts als Bilder [reden und verstehen]" (197,22), ja weil „in Bildern [...] der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit [besteht]" (197,22-24), macht sich der Schöpfer sichtbar, indem er redet. „Der erste Ausbruch der Schöpfung" (197,24) ist für Hamann deshalb zugleich „der erste Eindruck ihres Geschichtsschreibers" (197,24f), weil im „Licht" (197,26) des ersten Schöpfungstages das Urbild aller auf Christus hinweisenden „Bilder" aufstrahlt, welches der Heilige Geist in der Bibel bezeugt. Der Schöpfer der Welt und der „Poet am Anfange der Tage" (206,20) arbeiten in „Natur und Schrift" (210,7) einander zu, um die Sehnsucht des Menschen nach „Erkenntniß und Glückseeligkeit" zu stillen. Der Mensch ist damit unabhängig von seiner religiösen und kulturellen Prägung einbezogen in das künstlerische Schaffen des göttlichen Poeten. Als Beispiele für dieses Einbezogensein nennt Hamann vorzugsweise „die Mythologie" (205,3) und „die Poesie der Heyden" (205,4). Er unterstreicht dies mit stilistischen Gebärden, indem er sich selber in einer, wie er es nennt, 34 35 36

37 38

R. Piepmeier, aaO (Anm. 1), 22. S. Anm. 30. Vgl. auch N 111,237,20 und N IV,456,16-19. Zu Herkunft und Bedeutung dieses Satzes vgl. J. Ringleben, aaO (Anm. 23), 209-224 und die Auslegung von O. Bayer, aaO (Anm. 1), 15-19. Vgl. J. Ringleben, aaO (Anm. 23), 213. O. Bayer, aaO (Anm. 1), 15.

Der ästhetische Begriff Hamanns und seine Demonstration

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,,kabbalistische[n] Prose" (217,2) 39 hinter den Masken des ,J4usearum sacerdos" (197,4) 40 und des ,,weise[n] Idiot[en] Griechenlands" (197,13) - gemeint ist Sokrates - versteckt. Kein Mythos, in dem nicht das Geheimnis der Erlösung verborgen wäre; kein Kunstwerk, in dem nicht, und sei es unfreiwillig, die Geschichte von der Menschwerdung Gottes erzählt, imitiert, „übersetzt" würde: „Die Geschichte des Bettlers, der am Hofe zu Ithaka erschien, wißt ihr; denn hat sie nicht Homer in griechische und Pope in englische Verse übersetzt?" (211,2-4). Wenn Hamann das griechische Original der „Odyssee" in gleicher Weise wie Alexander Popes Übertragung ins Englische 41 als „Übersetzung" bezeichnet, dann geht es ihm nicht um die Herabsetzung eines der großen Zeugnisse griechischer Kultur. 42 Es geht ihm um den Aufweis eines ästhetischen Horizontes, vor dem alle derartigen Leistungen als kreative Imitationen des Christusereignisses erscheinen müssen. „Reden ist Übersetzen - aus einer Engelsprache in eine Menschensprache" (199,4f), hatte er kurz zuvor gesagt. 43 Gemeint war: Wo immer in der Kunst geredet wird, da wird ein bereits gesprochenes Wort gesagt, und zwar auf eine neue, sich die Sprache des Angeredeten zum Maßstab nehmenden Weise. Primär gilt dies vom Reden Gottes: Dieser übersetzt seine eigene Wirklichkeit in sinnliches, „leibliches Wort" 44 , und er tut dies, indem er dieses Wort „durch Menschen" (204,6) ausrichten läßt. Die himmlische „Engelsprache" ist dann wohl jener „allgemeinen Sprache" vergleichbar, die, wie Hamann im Gespräch mit Jacobi sagt, „allen Sprachen [...] zum Grunde [liegt]" 45 . Sie spricht, so formuliert SvenAage Jorgensen, „Gottes Mythos, sie hat aber [...] einen tieferen Sinn, den die von Gott inspirierten Poeten und Propheten in ihren .Mythen' auslegen; sie entmythologisieren die Geschichte als den ,Mythos Gottes' [...]." 46 Deshalb „überträgt [Homer] den Mythos Gottes aus der Sprache der Schöpfung und Geschichte in die ,Muttersprache des menschlichen Geschlechts'." 47 Diese Übertragung basiert auf einem umfassenden und geschichtlich nicht abgeschlossenen hermeutischen Prozeß, den Hamann mit der „Aesthetica" selber demonstrieren will.

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Zu diesem Ausdruck vgl. H.M. Lumpp, aaO (Anm. 1), 31f. Ein Zitat aus Horaz, Oden 111,1- Gemeint ist: „Er [Hamann] spricht nicht auf eigene Faust, sondern ist erfüllt von den Eingebungen seiner Gottheit" (H.M. Lumpp, aaO [Anm. 1], 42). Hamann besaß neben einer griechisch-lateinischen Ausgabe auch dieses 1725/26 erschienene Buch, vgl. N V , 1 0 5 (Biga 172/686). Über seine Lektüre und Einschätzung der griechischen Dichter gibt Hamann ausführlich Auskunft im zweiten der „Hellenistischen Briefe" (N 11,174-178). Zum Begriff „Engelsprache" vgl. X. Tilliette, Hamann und die Engelsprache, (Acta 1976), 66-77. Vgl. O. Bayer, Leibliches Wort, 4-6; 57-72. ZH VII,158,5f (an Jacobi am 22. April 1787). S.-A. Jargensen, Arbeit am Mythos? (Insel-Almanach 1988), 88. Ebd, 89; vgl. N i l , 1 9 7 , 1 5 .

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Einheit von Sinn und Sinnlosigkeit

Zu beachten ist: Ebensowenig wie die sokratische Philosophie hätte Hamann auch die homerische Dichtung nicht als „christlich" bezeichnen wollen. 48 Deren Texte müssen „kyriologisch" (199,6), d.h. „im eigentlichen Sinn verstanden" 49 werden. Doch bei Hamann ist das „mit dem Hintergedanken" verbunden, „daß dieser eigentliche Sinn der Logos vom Kyrios, [das] Wort vom Herrn Christus ist, was durchaus auch vom .poetischen' und .historischen' Wort usf. gilt." 50 Das heißt: Gerade in ihren dem Christentum widerstrebenden Zügen weisen sich die Werke heidnischer Dichter und Denker als Übersetzungen des Wortes Gottes aus, die in mancherlei Hinsicht deutlicher zu sagen vermögen, was unter den Ablagerungen eines intellektualisierten und humanisierten Christentums in Vergessenheit geraten ist. 51 Hamann hat daher keinen Zweifel daran gelassen, daß für ihn die Götterwelt des antiken Geistes mit ihrer ,,mythische[n] und poetische[n] Ader" 52 mehr über den Gott der Christen auszusagen vermag als der abstrakte Gottesbegriff einer „heterogenen, incompetenten, eiskalten, hundemagern Philosophie" 53 . Schon aus diesem Grunde hält er es für möglich, daß „unsere Theologie [...] nicht so viel werth [sei] als die Mythologie" (205,3) des Altertums. Auf Homer und seine Dichtung bezogen heißt das: Nicht die ästhetische Perfektion des Ausdrucks, sondern „das (icupov der homerischen Götter ist das Wunderbare seiner Muse, das Saltz ihrer Unsterblichkeit." 54 Hamann sieht einen Zusammenhang zwischen diesem „ ^ c o p o v " , der Menschlichkeit und Fehlbarkeit seiner Protagonisten, und der Menschlichkeit, der „Leutseeligkeit" (207,3f) und in übertragenem Sinne auch der Torheit eines redenden Gottes. Odysseus erscheint ja in der Odyssee nicht als unfehlbarer Held. Nach langer Irrfahrt kehrt er zurück an den heimatlichen Hof, „um in Bettlerlumpen die Rivalen um seine Penelope zu vernichten, die zu Unrecht von den petits-maîtres [...] angeklagt worden war." 55 Im Kampf tötet er die ,,freche[n] Buhler" (211,1), die während seiner Abwesenheit die Gattin bedrängt haben. Der Erniedrigung und dem Kampf mit den Gegnern folgt die Wiedereinsetzung des Königs auf den ihm zustehenden Thron.

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„Mein Sokrates bleibt als ein Heyde groß, und nachahmenswürdig. Das Christenthum würde seinen Glanz verdunkeln" (ZH 1,429,lf; an Lindner am 12. Okt. 1759). 49 H.U.v. Balthasar, Hamanns Theolog. Ästhetik, 39. 5 ° Ebd. 51 Vgl. auch die typologischen Deutungen der Jupiter-Sage (ZH 1,394,10-16) und der Europa-Sage (ZH 1,348-353). 52 N 111,191,34 (Zweifel und Einfälle; Hervorheb. aufgeh.). 53 N III,192,2f. 54 N 11,367,19-21 (Fünf Hirtenbriefe). 55 N II,294,32f (Glose Philippique); übersetzt von C. u. U. Knudsen (Hamann und Frankreich), 93.

Der ästhetische Begriff Hamanns und seine Demonstration

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Von Bacons allegorischer Deutung des Penelope-Mythos ist Hamann inspiriert 56 , wenn er die „Odyssee" als figürliche Darstellung der Heilsgeschichte interpretiert und entsprechend „übersetzt". Hinter der Gestalt des Odysseus verbirgt sich der menschgewordene Gott, der sich in eine ihm feindlich gesonnene Wirklichkeit (bei Bacon die Materie) hineinbegibt und diese mit sich versöhnt, indem er die Sünde (bei Bacon die von den „Buhlern" dargestellten platonischen und aristotelischen Ideen) vernichtet. Bei Hamann schwingen ohne Zweifel weitere Konnotationen mit: Auch die das Epos krönende Vereinigung des vermeintlichen „Bettlers" mit Penelope versteht er als figürlichen Hinweis auf die am Kreuz vollbrachte Versöhnung der Menschheit mit Gott. In sinnenfälliger Weise aktualisiert die Begegnung der Liebenden, die sich verloren zu haben glaubten, die Erfüllung jenes „Wunsches" nach Sichtbar-Werdung Gottes, aus dessen Erfüllung nicht nur, wie bei Bacon, die Natur, sondern die ganze Offenbarungswirklichkeit hervorgeht. Diese von Hamann in äußerster Knappheit gebotene Deutung des Penelope-Mythos zeigt, daß Kunst für ihn niemals Selbstzweck ist, sondern prophetischen, auf Christus hinweisenden Charakter hat. Deshalb beschlagnahmt er mit einiger Unbefangenheit die philosophischen, poetischen und mythologischen Zeugnisse verschiedener Kulturen, wenn immer er in ihnen Figuren des Heilsgeschehens wahrnehmen zu können glaubt. Daß er in diesem Kontext zuweilen an die Grenzen des Nachvollziehbaren geraten ist, hat er wohl selber gesehen 57 , und man mag darüber hinaus fragen, ob er hier nicht „allzu kurzschlüssig jene Strukturen für die christliche Sphäre einforderte, die ihr nicht ausschließlich zugehörten", oder ob er „diese Strukturen gar nicht hinreichend sah und sich damit in ein relatives Unrecht setzte." 58 Aber dieser Blick für die Eigenständigkeit von „Strukturen" ist wohl verstellt von einem unbedingten und in gewissem Sinne auch naiven Glauben an die Vorsehung Gottes, eines Gottes, der sich in allem, was er tut oder auch nur geschehen läßt, selber verkündigt und verherrlicht. 59 Die Verborgenheit dieser Herrlichkeit, der Umstand, daß sie nicht „nach methodischer Heiligkeit auf dem Stirnblatt geschrieben steht" (200,13f) und daß deshalb die „Höhe" (204,9) 56

57

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Nach S.-A. j0rgensen, Kommentar, 126 (zu N 11,210,8-211,2). Zum Verhältnis Hamanns zu Bacon vgl. J0rgensen, Hamann, Bacon and Tradition (Orbis Litterarum XVI), 48-73. In dieser Richtung ist wohl die selbstkritische Bemerkung zu verstehen, nach der Hamann, wie er an Jacobi schreibt, sich an der Bibel „bis zum Misbrauch vielleicht [...] überrauscht" habe (ZH V,314,22f), so daß, wie W. Oelmüller diese Aussage kommentiert, „z.B. der Unterschied zwischen [Hamanns] metaschematisierender Sprache und der Botschaft Christi, die er verkünden will, und der Unterschied zwischen Gottessprache und Menschensprache, zwischen den Entäußerungen Christi und denen des Zeus nicht immer deutlich wird" (Lessing und Hamann, 362f). H.U.v. Balthasar, Hamanns Theolog. Ästhetik, 64. „Es gibt für Hamann kein von Gott abgesperrtes Sein, weder in Natur und Geschichte" (H. Schreiner, Menschwerdung, 80).

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Einheit von Sinn und Sinnlosigkeit

immer in der „Tiefe" (ebd), die „herrlichste Majestät" (ebd) immer in der „leersten Entäußerung" (204,10) gesucht werden muß, hat für Hamann etwas mit dem „Dialecte" (204,8) göttlichen Redens zu tun. Die Omnipräsenz dieses Idioms in den „Wunderfn] der Natur" und den „Originalwerken der Kunst" 60 ist für ihn letztlich ein „Beweiß" (204,9) für die universale Präsenz des gekreuzigten Gottes, der sich in Natur und Kultur selber imitiert. Diesem Gott die „Ehre" (217,17) zu geben durch einen, wie er es später nennen wird, „ästhetischen Gehorsam des Kreuzes" 61 , das ist für Hamann die „Hauptsumme seiner neusten Ästhetick, welche die älteste ist" (217,15f).

2.3 Die kritische Funktion von Ästhetik angesichts einer verfehlten Hermeneutik „Die Geschichte des Bettlers, der am Hofe zu Ithaka erschien, wißt ihr" (211,2f). Mit der bloßen Kenntnis der Odyssee, sei es im griechischen Original oder in einer englischen Übersetzung, ist das Werk jedoch nicht hinreichend verstanden. Es bleibt für Hamann ein literarischer Torso, wenn man nicht in der Lage ist, seine verborgene Bedeutungsschichten mithilfe der Bibel freizulegen. Ganz sicher steht hinter der unzumutbaren Komplexität eines derartigen Unterfangens die polemische Absicht, die Hermeneutik der aufklärerischen „Weltweisen und Schriftgelehrten" (211,1) ihrer, wie Hamann es sieht, gleichfalls unzumutbaren Banalität überführen. Der theologische Hintergrund dieser Polemik ist jedoch die Feststellung, daß der Abstand zwischen göttlicher Anrede in „Natur und Schrift" (210,7) und menschlichem Verstehen nahezu unüberbrückbar geworden ist. „Die Schuld", sagt Hamann „mag aber liegen, woran sie will, (außer oder in uns): wir haben an der Natur nichts als Turbatverse und disiecti membra poetae zu unserm Gebrauch übrig. Diese zu sammeln ist des Gelehrten; sie auszulegen, des Philosophen; sie nachzuahmen oder noch kühner! — sie in Geschick zu bringen des Poeten bescheiden Theil" (198,32-199,3). Damit ist die „Krise" bezeichnet, in die der „neuzeitliche Naturbegriff' geraten ist 62 , freilich auch die daraus sich ergebende Aufgabe einer neuen Ästhetik, die für Hamann nur im interdisziplinären Dialog der verschiedenen Wissenschaften zu bewältigen sein wird. Das Kunstwerk der Schöpfung und seiner ursprünglich eindeutigen, an allen Orten und zu allen Zeiten vernehmlichen Texte ist in „Turbatverse und disiecti membra poetae" zerrissen wor60 61 62

N II,140,27f (Die Magi aus Morgenlande). N 111,234,22f(Zwey Scherflein). Vgl. O. Bayer, Zeitgenosse, 88-90.

Die kritische Funktion von Ästhetik

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den, unleserliche Fragmente, die der Rekonstruktion und Interpretation bedürfen. Hamann setzt diese zerstörerische Entwicklung in eine antitypische Beziehung zur Erschaffung der Welt. War an deren Anfang das Chaos einer form- und bedeutungslosen Materie zu einem Kunstwerk geformt worden, so hat spätestens im Jahrhundert der Aufklärung „die große und kleine Masore der Weltweisheit [...] den Text der Natur, gleich einer Sündfluth, überschwemmt" (207,21f) und damit gleichsam unleserlich gemacht. Die rationalistischen „Lesarten" (203,17f) einer der göttlichen Weisheit entgegengesetzten „Weltweisheit" und die daraus sich ergebende „Tyranney" (206,28) im Umgang mit der Natur drängen die Welt wieder in das bedeutungslose Chaos des ersten Schöpfungstages zurück. Unter dem Vorwand, „die Wahrheit" (206,8) erforschen zu wollen, bringen die „feinen Kunstrichter" (206,8) des aufgeklärten Wissenschaftsbetriebes die in der „Natur" sich abbildende „einzige Wahrheit" (206,16), nämlich Christus, wirkungsvoll zum Schweigen. Unmißverständlich sagt Hamann: „Alle Farben der schönsten Welt verbleichen: so bald ihr jenes Licht, die Erstgeburt der Schöpfung, erstickt" (206,22f). 63 Wo Christus nicht als Herr der Welt geglaubt wird, da „[wird] jede Kreatur [...] wechselweise euer Schlachtopfer und euer Götze" (206,25). 64 So hat, wie Hamann weitsichtig bemerkt, die subjektive Christusfeindschaft des Menschen durchaus objektive Auswirkungen auf den Zustand seiner Welt. Auch diesen tyrannischen Umgang mit der Natur gibt Hamann als „Erscheinung" jenes „Widerspruches" bzw. jener „Feindschaft" zu verstehen, von der im letzten Kapitel die Rede war. 65 Der verfehlte Umgang mit Natur und Kultur hat steht in einem Zusammenhang mit der negativen Einstellung gegenüber dem Wort Gottes, die für „die Meynungen der Weltweisen" ebenso kennzeichnend ist wie für „die Satzungen der Gottesgelehrten" (203,Iii). Der Unterschied zwischen Theologie und Ästhetik verblaßt für Hamann angesichts der Tatsache, daß beide den interpretatorischen Zugang zu ihren Gegenständen durch eine Hermeneutik verstellen, die den Vorgang der schöpferischen Inspiration durch den „Geist der Weissagung" (212,2) gleichsam rückgängig macht. Aufgrund ihres gemeinsamen „interpretandi mod[us]" (202,14) weisen demnach die ästhetischen bzw. philosophischen „Meynungen" und die theologischen „Satzungen" aus der Sicht Hamanns eine analoge Struktur auf, die sich mit analogen Argumenten hinterfragen läßt. „Is est", wie Hamann mit Bacon sagt, „quando Scripturae divinitus eodem, quo scripta humana, explicantur modo" (202,26-28). Damit zielt er auf die historisch-kritische Exegese

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Zu „Licht" vgl. Joh 1,1-5; zu „Erstgeburt der Schöpfung" vgl. Kol l , 1 5 f . Vgl. dazu O. Bayer, Zeitgenosse, 103-107. S . K a p . 1.6.

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Einheit von Sinn und Sinnlosigkeit

des Altphilologen Johann David Michaelis (1717-1791). 66 Ihm wirft er vor, die Bedeutung der Bibel mit ihrem philologisch zu rekonstruierenden Gehalt zu verwechseln. Michaelis unterwirft zwar den „Buchstaben" (203,6) der Bibel einer wünschenswert strengen Kontrolle. Er entläßt aber den von diesem „Buchstaben" getragenen Sinn in die Beliebigkeit, weil dieser sich seinen wissenschaftlichen Kriterien entzieht. Natürlich „fragt" auch er nach der „Wahrheit" (206,8) des Bibeltextes, meint damit aber die sich aus der Erschließung des sprachlichen und historischen Kontextes ergebende Bedeutung, die der Text einmal in seiner Zeit gehabt hat. Für Hamann stellt sich hier die Frage: „Falls man [...] die ganze verdienstliche Gerechtigkeit eines Schriftgelehrten auf den Leichnam des Buchstabens erhöht; was sagt der Geist dazu? Soll er nichts als ein Kammerdiener des todten oder wohl gar ein bloßer Waffenträger des tödtenden Buchstabens seyn? Das sey ferne!" (203,5-9). Hamanns Kritik zielt, das macht diese Formulierung deutlich, nicht auf die Legitimität der von Michaelis verwendeten profanhermeneutischen Methode. Sie zielt vielmehr auf deren gesetzliche Handhabung, durch die zwischen Leser und Bibel ein Hindernis aufgebaut wird, welches die Unmittelbarkeit der Anwendung unmöglich macht. Hamann bestreitet nicht, daß die Geschichtlichkeit der biblischen Texte „für den Lesenden [...] das Trennende" darstellt, „das erläutert, historisch verstanden und so in seiner Fremdheit überwunden werden soll." 67 Hamann, seinem Selbstverständnis nach selber ein Philologe 68 , weiß um die Wichtigkeit der philologischen Arbeit. 69 Er betrachtet sie jedoch aufgrund des besonderen Anspruches der Bibel nur als Bestandteil eines umfassenden Interpretationsprozesses, der, wie oben gezeigt, den im sensus historicus verborgenen, ,,kyriologisch[en]" (199,6) eines Textes aufzuspüren verpflichtet ist. Michaelis trennt, was sich für Hamann nicht trennen läßt. Indem er die „hermeneutische Reflexion über Intention und Applikation des Textes" 70 methodisch ausklammert, bestreitet er implizit die hermeneutische Maxime, daß ein Text als solcher reden will und durch sein Reden beim Leser eine Absicht verfolgt, und ersetzt sie durch die Maxime, daß ein Text primär durch den historischen Abstand zu seinem Leser, d.h. durch sein Ausgestorben-Sein („Leichnam") bestimmt sei. In den Versuchen, diesen Abstand ohne die Voraussetzung des „verbindlichen, autoritati-

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Zum Verhältnis zwischen diesem und Hamann vgl. W.D. Baur, Hamann als Publizist, 152ff. S.-A. Jorgensen, J.G. Hamann, 33. Zu dieser Selbstbezeichnung vgl. N VI,293f und V. Hoffmann, Hamanns Philologie, 128ff. Wie sehr er die Leistungen von Michaelis auf diesem Gebiet respektiert und geschätzt hat, belegen die von H.M. Lumpp zusammengetragenen Stellen (aaO [Anm. 1], 43f). S.-A. J0rgensen, J.G. Hamann, 33.

Die kritische Funktion von Ästhetik

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ven Charakters" 71 von Texten zu überwinden, äußert sich für Hamann eine „verdienstliche Gerechtigkeit", die den „Buchstaben" des Textes zum „Gesetz" seiner Bedeutung erhebt. Er wirft Michaelis vor, „daß die Philologie, wie er sie treibt, die Bibel zum Gesetzbuch macht, welches er wie ein jüdischer Rabbi genauestens kennen will; er gewinnt so Ergebnisse, die verdienstlich sind; aber ist dies noch das Evangelium, das gerecht macht?" 72 Letztlich geht es hier um die in neuerer Zeit von Ernst Fuchs formulierte Alternative, ob „wir Herr über die [biblischen] Texte" bleiben wollen, oder ob diese „Herr über uns [werden]" können. 73 Wieder wird deutlich, warum für Hamann die ästhetische Frage nach der Schönheit („Natur") nicht abzukoppeln ist von der theologischen Frage nach der Wahrheit („Schrift"). Indem er seine Kritik an dem „exegetischen Materialismum" 74 Michaelis' scheinbar willkürlich in den Streit um die „Metaphysick der schönen Künste" (201,12) einzeichnet, macht er deutlich, wie sehr die „Meynungen der Weltweisen" (203,17) und die „Satzungen der Gottesgelehrten" (203,18) miteinander verflochten sind. Die historischkritische Exegese zeigt sich beeinflußt von den Prinzipien der modernen Ästhetik, wie sie vor allem von dem strengen „Leviten der neuesten Litteratur" (200,25f), gemeint ist Moses Mendelssohn (1729-1786) 75 , mit „gesetzlichem" Eifer verfochten wird. Hamann bringt die „Meynungen" dieses „Weltweisen" und die „Satzungen" des „Gottesgelehrten" Michaelis miteinander ins Spiel, er zeigt, daß die Sinnenfeindlichkeit des Kulturkritikers Mendelssohn 76 nur eine Spielart theologischer „Geist"-Feindlichkeit ist und umgekehrt. Wer, wie Michaelis, das Wirken des Geistes Gottes in seiner ganzen Unberechenbarkeit methodisch auszuklammern versucht, verfälscht notwendig auch den „Buchstaben" seines Wortes. Wer hingegen, wie Mendelssohn in seinen kunsttheoretischen Überlegungen, „Sinne und Leidenschaften" (206,1) als die „Werkzeuge" der Natur „verstümmelt" (206,lf), macht nicht nur deren „Schönheiten und Reichthümer" (207,23) zunichte, sondern zeigt sich als Feind der „einzigefn] Wahrheit" (206,16), die sich nicht anders als 71 72 73 74

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Ebd. H.M. Lumpp, aaO (Anm. 1), 74f. Das hermeneutische Problem (Zeit und Geschichte), 366. N 11,239,35 (Kleiner Versuch eines Registers). Zu diesem Ausdruck vgl. V. Hoffmann, Hamanns Philologie, 184ff. Vgl. auch den auf Mendelssohn gemünzten Ausdruck ,,aesthetische[r] Moses" in N 11,163,28 (Chimärische Einfälle). „Sollte diese Rhapsodie im vorübergehen von einem Leviten der neuesten Litteratur in Augenschein genommen werden: So weiß ich zum voraus, daß er sich seegnen wird, wie der heilige Petrust-1 vor dem großen leinernen Tuch an vier Zipfeln gebunden, darin er mit einem Blick gewahr ward, und sähe vierfüßige Tiere der Erden und wilde Thiere, und Gewürme und Vögel des Himmels — , 0 nein; besessener - Samariter!' ~ (so wird er den Philologen schelten in seinem Herzen) - ,für Leser von orthodoxem Geschmack gehören keine gemeine Ausdrücke noch unreine Schüsseln' [...]" ( N 11,200,25-33).

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Einheit von Sinn und Sinnlosigkeit

sinnlich, dem Menschen entsprechend, mitteilt. Gerade Mendelssohn versteht sich ja als „Kritiker von edlem Geschmack" 77 , und es bereitet Hamann großes Vergnügen, diesem durch eine gezielte Verwendung von (in ästhetischem Sinne) „unreinen", häufig auch unanständigen Ausdrücken die Sinnlichkeit derjenigen Sprache vor Augen zu führen, in der Gott selbst redet, der Sprache, aus deren Wort alles Sein hervorgeht. 78 Wieder wird die Mythologie bemüht: „Die Sinne [...] sind Ceres, und Bachus die Leidenschaften; - alte Pflegeltern der schönen Natur" (201,13-15). Sie sind es nicht an sich oder aus sich selber, sondern als „Werkzeuge" (206, l f ) göttlicher Selbstvergegenwärtigung, die zwar nicht im Rausch beschworen werden können, vor denen es aber auch kein Entkommen gibt. 79 Mendelssohn wie Michaelis will Hamann mit Apg 10,15 zu verstehen geben: „Was Gott gereinigt hat, das nenne du nicht gemein!" 80 Denn „Sinne und Leidenschaften" sind ebenso wie der Text der Bibel geheiligt durch den, der durch sie redet; sie sind menschlich und göttlich zugleich. Besteht Ästhetik für Hamann in der Übersetzung der Anrede Gottes, die auf die Rechtfertigung des Sünders in Christus zielt, dann ist sie, wie diese Auseinandersetzung zeigt, von der Kritik gesetzlicher „Lesarten" nicht zu trennen. Der „Poet am Anfange der Tage ist derselbe mit dem Dieb am Ende der Tage" (206,20f), d.h. der Schöpfer ist eins mit dem endzeitlichen Richter, der die Menschen, wie Hamann in Anspielung auf Offbg 3,3 formuliert, einst wie ein „Dieb" überfallen und Rechenschaft von ihnen fordern wird. Christus selber ist „jener Kunstrichter"; er wird „den ästhetischen Bogen der schönen Künste z[er]brechen im Thale der schönen Natur." 81 Er bereitet mit der von ihm heraufgeführten Krisis den Boden für das Kunstwerk der neuen Schöpfung, und Hamann hält es für geboten, diese Krisis und Neuschöpfung mit eigenen Mitteln zu imitieren. 82 Mit durchaus befremdlicher Ironie rühmt er daher das soeben beklagte Chaos einer sinnentleerten Welt als eine „Nacht, in die sich Poeten und Diebe verlieben" (206,19). Er meint damit die von der

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80 81

82

H.M. Lumpp, aaO (Anm. 1), 64f. Vgl. z.B. N 11,200,12-15; 200,34-201,3. „Hier", so urteilt H.U.v. Balthasar, „steht dann nicht Dionysos gegen den Gekreuzigten, sondern er wird zur Maske des Gekreuzigten selbst [...]" (Hamanns Theolog. Ästhetik, 48). Vgl. dazu J. Salaquarda, Dionysos gegen den Gekreuzigten. Nietzsches Verständnis des Apostels Paulus (WdF 521), 288-322. Vgl. N 11,200,40. N 11,346,24-27 (Leser und Kunstrichter); vgl. Hos 1,5. Bei Nadler steht statt zerbrechen „zubrechen". So ist m.E. der merkwürdige Appell Hamanns an die „Virtuosen des gegenwärtigen Aeons" bzw. seine „wenigen Edeln [sie]" zu verstehen, „aus der Ribbe dieses Endymions die neueste Ausgabe der menschlichen Seele zu bauen", also durch die Verkündigung das Kommen des Reiches Gottes vorzubereiten. „Der nächste Aeon wird wie ein Riese vom Rausch erwachen, eure Muse [gem. ist Christus] zu umarmen, und ihr das Zeugnis zu[]jauchzen: Das ist doch Bein von meinem Bein, und Fleisch von meinem Fleisch!" (N 11,200,17-24).

Die positive Funktion von Ästhetik

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Nachtschwärmerei empfindsamer Dichter 83 zu unterscheidende Verliebtheit christlicher „Poeten", die aus den „disiecti membra poetae" ein neues Kunstwerk formen können, wie es „der Poet am Anfange der Tage" (206,20) getan hat. Und er meint die von der Poesis nicht zu trennende Kunst der Kritik, die solche „Poeten" zu ,,Diebe[n]" macht, die im Auftrag Jesu Christi die Axiome aufgeklärten Denkens einer kritischen Sichtung unterziehen. Denn diese, so Hamann nicht ohne Selbstbewußtsein, schaffen im Schutz der „Nacht" alles fort, was eine „verdienstliche Gerechtigkeit" (203,5) zusammengerafft hat, und sie antizipieren damit jene Krisis, die Christus, der „Dieb am Ende der Tage" (206,20f), herbeiführen wird. Beides, die hier beschriebene Kritik und die nun zu beschreibende Asthetisierung dieser Kritik im Medium der Typologie, versteht Hamann als künstlerische imitatio Christi. Schließlich ist Christus der schöpferische „Poet" des Anfanges und der unerwartet auftretende Richter am Ende der Zeit. In ihm sind die göttlichen Instanzen von Schönheit und Wahrheit gleich gegenwärtig. 84

2.4 Die positive Funktion von Ästhetik angesichts einer verfehlten Hermeneutik Wenn Hamann seine eigene „Lesart" der Wirklichkeit und andere „Lesarten" so hart aufeinanderprallen läßt, dann will er nicht nur die Differenz zwischen dem lebendig machenden „Geist" des Evangeliums und dem todbringenden „Buchstaben" des Gesetzes aufzeigen. Getreu seiner hermeneutischen Maxime stellt er diese Differenz mit ihrer Überwindung zusammen, indem er die seiner Ansicht nach theologisch unverantwortbaren Denkmuster einer aufklärerischen Ästhetik im Licht biblischer Zusammenhänge interpretiert. Der „Buchstabe" erfährt somit eine unfreiwillige Inspiration, die sich freilich nicht einer vereinnahmenden Projektion, sondern der akribischen Suche nach vergleichbaren Strukturen verdankt, die bei Hamann tatsächlich kaum abweisbare Analogien zutage fördert. Dies fällt auf, wenn Hamann den distanzierten Habitus der Ästhetik Mendelssohns mit der Haltung des Pilatus aus der johanneischen Passionsgeschichte vergleicht. Wie dieser fragen auch die „feinen Kunstrichter" (206,8) nach der „Wahrheit" (ebd), wie dieser haben jedoch auch sie schon „nach der Thür" (206,9) gegriffen, weil sie „die Antwort auf diese Frage nicht abwarten könn[en]" (206,9f), sondern sich längst ihr eigenes Urteil gebildet haben. 83

84

Vgl. Hamanns Verwendung des Namens „Endymion" (N 11,200,19) als ironische Bezeichnung für die in tiefem „Schlaf' versunkene Welt der aufgeklärten Intellektuellen (Jorgensen, Kommentar, 92). Vgl. dazu O. Bayer, Schöpfung als Anrede, 25.

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Einheit von Sinn und Sinnlosigkeit

„Eure Hände sind immer gewaschen, es sey, daß ihr Brodt essen wollt, oder auch wenn ihr Bluturtheile gefällt habt" (206, lOf). Damit stellt Hamann einen Zusammenhang her zwischen der Verurteilung Jesu durch Pilatus und einer, wie er es nennt, „mordlügnerischefn] Philosophie" (206,4), die „die Natur aus dem Wege geräumt" (206,12) und damit auch das Wort Gottes zum Schweigen gebracht hat. Dieser typologische Sprung in die Vergangenheit ist bezeichnend: Indem die „Kunstrichter" das Wort, welches ihnen in „Natur und Schrift" begegnet, gleichsam beiseite schieben, bezeugen sie unfreiwillig die darin sich mitteilende „Wahrheit". Im gegenwärtigen Widerspruch gegen Christus enthüllt sich das Wort vom Kreuz und die damit verbundene Geschichte der Kreuzigung Jesu. Dies ist ein besonders anschauliches Beispiel dafür, wie Hamann die von ihm behauptete Wechselwirkung von „Natur und Schrift" hermeneutisch aktualisiert. Verständlich wird eine solche Aktualisierung biblischer Texte aber nur, wenn man sich das dahinterstehende Schriftverständnis Hamanns noch einmal vergegenwärtigt. „Quum Scriptuarum dictamina", sagt er in dem schon erwähnten Bacon-Zitat, „talia sint, vt ad cor scribantur, & omnium seculorum vicissitudines complectantur; cum aeterna & certa praescientia omnium haeresium, contradictionum & status ecclesiae varii & mutabilis, tum in communi, tum in electis singulis [...]" (202,30-34): Deshalb bringe eine auf den innerbiblischen Kontext beschränkte Auslegung, und sei sie noch so „praecise ex contextu verborum praecedentium & sequentium" (202,36f) erarbeitet, sie nicht eigentlich zum Sprechen. Oder, mit einem von Hamann in einem Brief zitierten Satz Bengels gesagt: „In periodis temporum, diuinitus definitis, perpetua est Analogia." 85 Daß Hamann diesen Satz aber ganz anders als Bengel versteht, verdeutlicht eine im Gespräch mit Herder geäußerte Bemerkung über sein Verständnis der Johannes-Apokalypse, wonach auch „die Erfüllung des Buchs nichts als [!] eine Figur einer höheren Erfüllung sey. Folglich ist eine buchstäbliche Auslegung nicht möglich - und eine historische Approximation kann den Geist und und Sinn nur auf die Hälfte aufschlüßen: das übrige bleibt immer prophetisch und geistlich und heterogen für alle Geschichte [.,.]." 86 Die typologische Reichweite der Bibel ist universal. Ihre „dictamina" stellen gewissermaßen die Archetypen des Wirklichen für alle Zeiten bereit; sie beschreiben mit ihren Geschichten die Rollen, welche die Menschen zu allen Orten und Zeiten ausfüllen, indem sie sich zu dem darin bezeugten Wort verhalten, sei es zustimmend oder ablehnend. Wie immer sie sich verhalten: sie müssen ihre Rolle spielen in einem Drama 87 , das sie zwar nicht 85

86 87

ZH II,13,35f (an den Bruder am 22. Màrz 1760); vgl. J.A. Bengel, Gnomon Novi Testamenti, ZÌI Mt 1,17. ZH IV,147,9-13 (an Herder am 1. Jan. 1780). Vgl. Anm. 6.

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geschrieben haben, dessen Verlauf sie aber durchaus mitbestimmen. Sie werden, wie die von Hamann neben Pilatus in diesem Zusammenhang erwähnten Gestalten des Kaiphas oder des Herodes, zu unfreiwilligen Propheten eines Geschehens, welches ihnen möglicherweise selber gleichgültig ist oder welches sie gar mit Gewalt verhindern wollen. Kaiphas beispielsweise zieht das Sterben Jesu im Sinne einer politischen Erwägung dem Verderben des ganzen Volkes als das kleinere Übel vor und spricht damit in einem nicht von ihm gemeinten Sinn von der soteriologischen Bedeutung dieses Sterbens88; Herodes heuchelt gegenüber den Weisen seine Bereitschaft zur Anbetung des neugeborenen Königs, dem er in Wahrheit nach dem Leben trachtet89, und prophezeit damit, sich selber überlistend, daß „in dem Namen Jesu sich beugen sollen alle derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erden sind" (212,5-7). Aber nicht nur Beispiele aus der Geschichte führt Hamann an. Unter seinen prominenten Zeitgenossen findet er ausgerechnet in Voltaire einen Propheten der christlichen Wahrheit. Dieser „Hohepriester im Tempel des Geschmacks schlüßt so bündig als Kaiphasl-1, und denkt fruchtbarer als Herodesl l" (205,lf), wenn er „die Religion für den Eckstein der epischen Dichtkunst erklärt [...]" (204,18f). 90 Voltaire, mit dem Hamann übrigens in einer Art Haßliebe durchaus verbunden war 91 , bestätigt mit seiner Verhältnisbestimmung von Religion und Poesie für einen anderen, ihm unbekannten Kontext genau dasjenige, was Hamann von der Begründung der Welt durch den „Stein, den die Bauleute verworfen haben" (Ps 118,22) gesagt hatte. 92 Auch die „Religion" eines Voltaire, von diesem mit aufklärerischem Pathos als „das Widerspiel der Mythologie" (204,20) bezeichnet und der christlichen Offenbarungsreligion in schroffer Antithese entgegensetzt, gründet auf dem einen „Eckstein", den zu verwerfen sie beabsichtigt. 93 „Abstracta initiis occultis; Concreta maturitati conveniunt" (204,31f), bemerkt Hamann in einer Fußnote, auf den Kommentar Bengels zu Mt 1,20 anspielend. Hatte Bengel damit gemeint, daß das Wirken Christi „die verborgenen Anfänge" seiner Herkunft offenbar machen werde, wenn die Zeit dazu „reif' sei 94 , so überträgt Hamann diesen Gedanken auf das verborgene Wirken 88 89 90

91 92 93 94

Vgl. Joh 11,49-52. Vgl. Mt 2,7f. Nach dem Kommentar von J0rgensen (106) handelt es sich möglicherweise um eine „Anspielung auf Voltaires Idée de la Henriade", wo sich folgender Satz findet: „Le point plus important est la religion, qui fait en grande partie le sujet du poëme, et qui est le seul dénouement" (Œvres complétés de Voltaire. Tome X, S. 45, zit. nach Jprgensen, ebd). Vgl. N 11,204,32-34, wo Hamann wörtlich aus dieser Schrift zitiert. Zum Verhältnis Hamanns zu Voltaire vgl. N VI, 399. Vgl. N 11,296,13-20. Vgl. N 111,305,33-37. Bei Bengel steht: „Foetus nondum natus, neutro genere solet appellari." Er will damit erklären, warum der noch nicht geborene Jesus im Griechischen mit dem geschlechtsneutralen und insofern abstrakten Artikel „TO" angekündigt wird.

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Gottes, welches die Natur durch „Exempel allgemeiner Begriffe" (204,4) und welches die Bibel durch „Exempel geheimer Artickel" (204,6) in wechselseitiger Interpretation zur Sichtbarkeit, und zwar zu einer immer deutlicheren Sichtbarkeit heranreifen läßt. Was zeitlich längst vergangen und durch diese Verjährung gewissermaßen in das Halbdunkel einer abstrakten Wahrheit abgetaucht ist, wird für Hamann im Zusammenspiel von „Natur und Schrift" wieder konkret; gerade der Widerspruch der aufgeklärten Vernunft gegen die Heilsbotschaft Gottes verhilft dieser zu neuen und scharfen Konturen. Zwar versuchen die aufgeklärten Gegner des Evangeliums durch einen „unnatürlichen Gebrauch der Abstractionen, wodurch unsere Begriffe von den Dingen eben so sehr verstümmelt werden, als der Name des Schöpfers unterdrückt und gelästert wird" (207,12-14), den Prozeß der Verjährung zu beschleunigen. Jedoch erreichen sie das genaue Gegenteil. Im Vollzug dieses „unnatürlichen", d.h. sich gegen den Wortcharakter der „Dinge" wendenden Abstraktionsprozesses aktualisieren und konkretisieren sie die Mitte der biblischen Botschaft: Nämlich den Widerspruch des Menschen gegen Gott, der, wie das Kreuz Christi zeigt, nicht etwa Gott zum Schweigen bringt, sondern zum Werkzeug seiner eigenen Überwindung umfunktionalisiert wird. Die Behauptung einer universalen Inspiration des Wirklichen durch das Wort vom Kreuz sieht Hamann durch die aufgeklärte Ästhetik also nicht in Frage gestellt, sondern bestätigt. Zwar sind „Natur und Schrift" (210,7) der „Tyranney" (206,28) einer gottwidrigen Vernunft ausgeliefert, und der sich darin äußernde Ungehorsam des Menschen gegenüber dem Wort Gottes hat unweigerlich das Gericht zur Folge. 95 Doch kann der „schöne, schaffende und nachahmende Geist" (210,7f) des aufgeklärten Künstlertums den sinnstiftenden „Geist" (203,7) nicht mehr zu einem „Waffenträger des tödtenden Buchstabens" (203,8) degradieren. Denn auch der seines Sinnes entleerte „Buchstabe" einer entchristlichten Welt muß dem offenbarenden Wirken des „Geistes" dienen, wenn er als Gesetz die Sünde des Menschen aufdeckt und richtet. Er ist folglich gleichfalls als Anrede Gottes zu qualifizieren.

2.5 Neuinszenierung des göttlichen Dramas als Aufgabe christlicher Künstlerschaft Hamann will zeigen, daß der kritisierte Mißbrauch von „Natur und Schrift" die göttliche Wahrheit nicht nur nicht aufhebt, sondern indirekt sogar zu deren Konkretion beitragen muß. Erweisen läßt es sich freilich nicht, daß mitten in dem Durcheinander, welches die „Sündfluth" (207,22) aufgeklärter „Weltweisheit" (207,21) in der Natur angerichtet hat, ein heranreifender Sinn 95

Vgl. N 11,214,11-22.

Neuinszenierung des göttlichen Dramas

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verborgen ist. Im Gegenteil. Hamann spricht von einer „unendlichen Ruhe, die GOTT dem Nichts gleich macht, daß man sein Daseyn aus Gewissen leugnen oder ein Vieh seyn muß" (204,10-12). Das Wirken Gottes in der Welt ist gekennzeichnet von einer solchen Unaufdringlichkeit und Unauffälligkeit, daß es der Verwechslung mit dem Zufall preisgegeben ist. Wie „GOTT am Kreuz unter die Missethäter gerechnet" (214,19f) und zunichte gemacht ist, so scheint auch der Geist Gottes angesichts der Zerstörung seiner Texte machtlos zu sein, was den Gottesleugner triumphieren, den Frommen aber, wie Hamann in Anspielung auf Psalm 73 schreibt, zum „Vieh", zu einem dieser Machtlosigkeit verständnislos gegenüberstehenden, ja daran verzweifelnden „Narren" werden läßt. 96 Hamann fordert in der „Aesthetica" den Leser nicht nur zum Gebrauch seiner „Sinne und Leidenschaften" (197,22) auf, sondern führt diesem mit bezeichnender Nüchternheit vor, worauf dieser sich bei einem derartigen Gebrauch zunächst gefaßt machen muß: Nämlich auf die Wahrnehmung des nackten „Nichts" einer scheinbar von Gott verlassenen und vom Zufall getriebenen Welt, die alles andere als göttlich zu sein scheint. „Das Feld der Geschichte" mag den nüchternen Betrachter, wie er an anderer Stelle sagt, wohl eher an „jenes weite Feld" erinnern, „das voller Beine lag, — und siehe! sie waren sehr verdorret." 97 Durch den geistbegabten „Ausleger" (204,1) jedoch, davon will Hamann überzeugen, können diese Gebeine lebendig werden und als Figuren eines Schauspiels wahrgenommen werden, welches mit der Schöpfung begonnen hat und bis in die Gegenwart andauert. Christliche Künstlerschaft steht damit in der Tradition alttestamentlicher Prophetie, wonach „der Prophet zum Winde weissagt" 98 und die „ausgestorbene Sprache der Natur" (211,5) zum Leben erweckt, so daß eine scheinbar längst veraltete, sinnlos gewordene Geschichte wieder Bedeutung erhält. 99 Mit prophetischem Gestus ruft Hamann deshalb in einem Cento, der schon durch eine extreme Mischung von burlesker Metaphorik und Gebetssprache als inhaltlicher Höhepunkt der „Aesthetica" gelten kann, die noch ausstehende und von dem angefochtenen Christen herbeigesehnte Zukunft der Verheißung herbei, indem er vor den Augen des Lesers die Vergangenheit zu neuem Leben erweckt: 96

97 98 99

Hamann verweist in einer Anmerkung auf „Ps. LXXIII,21.22." ( N 11,204,34). Angesichts des Glücks der Gottlosen bekennt der Psalmist an dieser Stelle: „Als es mir wehe tat im Herzen / und mich stach in meinen Nieren, da war ich ein Narr und wußte nichts, / ich war wie ein Tier vor dir." - Dazu und zum Kontext dieser Stelle ( N 11,204,4-14) ist die eindrückliche Interpretation von O. Bayer zu vergleichen (aaO [Anm. 1], 20-24 [„Naher und ferner Gott"]). N 11,176,11-13 (Kleeblatt Hell. Briefe). N II,176,15f. Zu Hamanns prophetischem Selbstverständnis vgl. V. Hoffmann, Hamanns Philologie, 182-184.

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„Du, der du den Himmel zerrissest und herabfuhrst! - vor Dessen Ankunft Berge zerfließen, wie heiß Wasser vom heftigen Feuer aufseudet, damit Dein Name unter Feinden desselben, die sich gleichwohl nach ihm nennen, kund werde, und gesalbte Heyden zittern lernen vor den Wundern, die Du thust, derer man sich nicht versieht! - Laß neue Irrlichter im Morgenland aufgehen! - Laß den Vorwitz ihrer Weisen durch neue Sterne erweckt werden, uns ihre Schätze selbst ins Land zu führen Myrrhen! Weyrauch! und ihr Gold! woran uns mehr gelegen als an ihrer Magie! Laß Könige durch sie geäfft werden, ihre philosophische Muse gegen Kinder und Kinderlehren vergeblich schnauben; Rahel aber laß nicht vergeblich weinen! - " (211,14-24). Christus ist angeredet. Mit ihm hat sich die gewaltige Verheißung aus Jesaja 64,lf erfüllt; er hat „den Himmel" zerrissen; er ist wie ein Blitz auf die Erde herabgefahren und hat ihr Gefüge gleichsam zum Kochen gebracht. Die Erfüllung der Verheißung bedeutet nicht nur den Beginn der neuen Schöpfung, sondern auch den Beginn des von Hamann in apokalyptischen Farben geschilderten Eschatons. Der göttliche „Dieb" (206,20) ist im Kommen. Er „mag durch Geschöpfe - durch Begebenheiten - oder durch Blut und Feuer und Rauchdampf reden" (203,18-204,2). D.h. er redet nicht nur episch und dramatisch 100 , sondern auch in jenen apokalyptischen Ereignissen, die das Ende von Natur und Geschichte ankündigen, was in Hamanns dialektischer Ontologie untrennbar verbunden ist mit dem endgültigen Untergang des Nichtigen, welches in der aufgeklärten Vernunft mit dem Anspruch des allgemein Gültigen, ja des Göttlichen daherkommt. Die Wiederkunft Christi ist für ihn insbesondere mit der Verwerfung einer ,,philosophische[n] Muse" verbunden, die sich dem Kampf „gegen Kinder und Kinderlehren" und damit gegen die unaufgeklärte Einfältigkeit des christlichen Glaubens verschrieben hat. Neben Voltaire („philosophische Muse") zeichnet Hamann in einer gezielten „Hyperbel" (211,13) auch dessen Gönner, den aufgeklärten Preußenkönig, in die Figur des despotischen Herodes ein, der aus Angst um seine Herrschaft den neugeborenen Thronanwärter auf grausame Weise verfolgt. Der endgültige Sieg Gottes über Sünde und Tod steht freilich noch aus, solange seine „Kinder" - der bethlehemitische Kindermord dient als typologischer Hintergrund dieses Gedankens 101 - „getötet", gemeint ist: mundtot gemacht werden und ihre einfältigen „Kinderlehren" - eine Anspielung auf den von Hamann geschätzten Kleinen Katechismus Luthers 102 - verachtet werden. Deshalb ruft Hamann, als wolle er die endgültige Erfüllung der Heilsverheißung vorantreiben, gegen das etablierte, zur Staatsräson gewordene Denken und Handeln, welches den „Geist der Weissagung" (212,10) so wirkungsvoll zum Schweigen bringt, mit einem viermalig hämmernden 100 101 102

Vgl. Anm. 6. Vgl. Mt 2,16. Vgl. O. Bayer, Leibliches Wort, 125ff („Sokratische Katechetik?").

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„Laß" nach einer neuen, gleichfalls hyperbolischen Inszenierung der in Mt 2,1-11 erzählten Ereignisse 103 , damit der „Name [Christi] unter Feinden desselben, die sich gleichwohl nach ihm nennen, kund werde". Durch „neue Irrlichter" und „neue Sterne" soll die Neugier dieser christlichen, sich jedoch ihres Christentums schämenden 104 Intellektuellen „geweckt werden". Gleich den Magiern im Matthäusevangelium mögen sie, wenn sie unter den zahllosen ,,Irrlichter[n]" ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse das eine „Licht" der Herrlichkeit Christi wahrnehmen, seinem Ruf folgen und ihm „ihre Schätze" bringen. An ihrem Gehorsam und an ihrer Anbetung ist Hamann „mehr gelegen" als an den von ihm nicht unterschätzten Fertigkeiten dieser, wie er sie auch nennt, „Virtuosen des gegenwärtigen Aeons" (200,17). Er wünscht sich Mitstreiter, die ihre wissenschaftlichen und poetischen „Schätze" dem „Zeugnis JESU" (212,10) dienlich machen und so „den verbitterten Geist der Schrift versöhnen" (211,27). Nicht nur die Einfalt des Glaubens, sondern auch taktische Klugheit müssen sie besitzen, um dieses „Zeugnis", wie einst die „Weisen" aus dem „Morgenlande", vor dem Zugriff aufgeklärter Landesherren zu schützen. „Laß Könige durch sie geäfft werden", ruft Hamann und weist damit gleichzeitig auf seine eigene Kunst hin, im irrlichternden Gefüge eines stilistisch verspielten Textes die größtmögliche Eindeutigkeit des Bekenntnisses mit einer Mehrdeutigkeit zu verbinden, die der preußischen Zensur in der Regel keine Angriffsflächen bot. 105 Mit dem letzten „Laß" macht Hamann deutlich, wie ernst es ihm mit seinem Ruf zur Nachfolge ist. Das Wüten der „Feinde" hat, wie der sprichwörtliche bethlehemitische Kindermord, schon zahlreiche unschuldige Opfer gefordert. Das in Mt2,17f als Erfüllung von Jer 31,15 geschilderte „Weinen und Wehklagen" der Rahel zu Rama läßt im Kontext der Hamannschen Interpretation das ganze Elend einer Welt schlaglichtartig aufleuchten, in der die Gegner des Evangeliums das Sagen haben. In die zuvor mit harter Polemik bedachte „Sündfluth" (207,22) des Unglaubens mischt sich jetzt die Tränenflut weinender Mütter, mit der die Sinnlosigkeit unschuldigen Leidens angesprochen ist. Mit der Figur der Rahel, die in der Tradition der kirchlichen Kunst häufig als Allegorie auf die um ihre Märtyrer weinende Kirche erscheint 106 , schließt Hamann die Gesamtheit derer in seine Fürbitte mit ein, die im weitesten Sinne um der „Wahrheit" willen leiden müssen. Es sind die „Narren" des Glaubens, die in ihrem gesellschaftlichen Umfeld mit der Realität des Unglaubens konfrontiert werden. Das große Zeitalter der Toleranz hat seine eigenen Methoden der Verfolgung, und wer, wie Hamann, der „philo103 Vgl. N 11,211,11-13. 104 105

106

Vgl. N 11,210,3-6. Anläßlich von Zensurschwierigkeiten entstand der Entwurf zu einem „Briefwechsel, die Bücherzensur betreffend" ( N IV,259-263); vgl. dazu S.-A. Jörgensen, J.G. Hamann, 56.

Vg] N

vi,320.

164

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sophischen Muse" eine andere „Muse" 1 0 7 , nämlich die des christlichen Glaubens kritisch entgegenstellt, muß damit rechnen, ins gesellschaftliche Abseits gedrängt zu werden. Christen sind, wie Hamann in der „Glose Philippique" sagt, „Narren um der Liebe Christi willen, schwach, getadelt, piacula mundi, der Abschaum der Republik der Wissenschaften." 108 Es kann sein, daß Hamann mit seiner Rolle als Märtyrer des Glaubens ein wenig kokettierte und daher sein gesellschaftliches Außenseitertum auch sich selber zuzuschreiben hatte. In zahllosen Briefstellen beklagt er, zur Hypochondrie neigend, seine eingebildeten und wirklichen Leiden 109 ; dem Leiden anderer, zumal in den Jahren nach dem siebenjährigen Krieg 110 , ist kaum eine Zeile gewidmet. Um so wichtiger ist deshalb der Hinweis auf die weinende Rahel. 111 Ihre Tränen scheinen „vergeblich" geflossen zu sein, ganz gleich, ob man sie als Symbol unschuldigen Leidens oder der verfolgten Kirche versteht. Hamann bittet darum, daß dieses Weinen „nicht vergeblich" sei; er läßt damit durchblicken, daß auch er noch keinen Sinn darin erkennen kann. Er mutet seinem Leser hier also nicht eine eigene Deutung des die Heilsgegenwart Gottes infrage stellenden „Nichts" (204,11) zu, sondern thematisiert in gezieltem Kontrast zu der perfektischen Darstellung der matthäischen Geburtsgeschichte die schmerzliche Unabgeschlossenheit der christlichen Existenz, zu der auch die Unabgeschlossenheit des Verstehens gehört. 112 Daß sich trotz dieser Ohnmacht auch das „Nichts" einer fast unerträglichen „Leere" als ein „nichts als" des göttlichen Heilshandelns erweisen möge, ist eine vom Kreuz Christi her begründete Hoffnung, deren Erfüllung, ebenso wie die Vision eines neuen Aufbruches der „Weisen", nur geglaubt und erbeten werden kann. Eine solche Hoffnung freilich schützt Hamanns Betrachtungsweise vor dem Umschlagen in Zynismus und Nihilis107 108 109 110 111

112

Vgl. N 11,197,10; 200,22; 207,10. Mit „Muse" meint Hamann immer Christus. N 295,11-13 (übersetzt von Susanne Fritsch); vgl. 1 Kor 4,10.13. Vgl. J. Nadler, Hamann, 181. Vgl. S.-A. J0rgensen, J.G. Hamann, 76. In der Schrift „Entkleidung und Verklärung" wird Hamann im Rückblick auf seine Autorschaft schreiben, daß es seine Absicht gewesen sei, „die einsam weinende Rahel irgend eines christlich-protestantischen Lesers in der Wüsten mit der symbolischen Verwandtschaft der irrdischen Dornen- und himmlischen Sternenkrone und dem kreutzweis ausgemittelten Verhältnis der tieffsten und erhabensten Erhöhung beyder entgegengesetzten Naturen zu trösten [...]" ( N 111,405,27-407,3). Dieser seelsorgerliche Impetus Hamannscher Autorschaft läßt sich m.E. an der besprochenen Aesthetica-Stelle besonders deutlich greifen. Durch die geistliche Interpretation von „Natur und Schrift" bei Hamann „wird nicht die Sicherheit der Erkenntnis erreicht, die sagen ließe, nun sei der Mensch der Welt mächtig, weil er ihre Bilder gedeutet und ihre Texte entschlüsselt habe. Es bleibt nur die fortlaufende Interpretation, die nicht an ihr Ende gelangt, [sondern] erst eschatologisch beendet zu denken ist. Es bleibt eine letzte Unmächtigkeit, die nicht als bedrohlich erscheint, weil die Ordnung des Textes der Wirklichkeit auch im Unverstandenen als von Gott garantierte geglaubt und gewußt wird" (R. Piepmeier, Hamanns Auseinandersetzung, 23).

Teilhabe des Menschen an der Verborgenheit Gottes

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mus. Sie befähigt ihn vielmehr dazu, einen mehr als nur „buchstäbliche[n] Sinn" (203,35f) wahrzunehmen in den einer scheinbar sinnlos gewordenen Welt.

2.6 Teilhabe des Menschen an der Verborgenheit Gottes Hamanns theologische Deutung gesellschaftlicher Umstände zeigt deutliche Unterschiede zur Betrachtungsweise der Londoner Schriften. Der dort anzutreffende enthusiastische Einschlag ist einem eschatologischen Vorbehalt gewichen, der klar am neutestamentlichen Zeugnis orientiert ist und insbesondere an die paulinischen Aussagen über die endzeitliche Enthüllung der Heilswirklichkeit erinnert. 113 Das Wesen der Dinge ist noch verborgen, leichtfertige Antworten auf die Frage nach dem Sinn von Schuld und Leid werden verweigert. Die Monotonie natürlicher Abläufe und der Aberwitz geschichtlicher Prozesse verhüllen mehr, als sie enthüllen, und was sich an Zusammenhängen erkennen läßt, bleibt bruchstückhaft. Insbesondere der in diese Zusammenhänge verstrickte Mensch ist ein Rätselwesen, welches sich einerseits nach Erlösung sehnt, andererseits aber konsequent die Mittel bekämpft, durch die ihm Erlösung angeboten wird. Die Kreuzigung Jesu, die Infragestellung der Bibel als Wort Gottes und die mutwillige Zerstörung der Natur als eines Kunstwerkes sieht Hamann auf der Ebene konsequenter Sinnverweigerung stehen, die trotz erkennbarer Analogien auch für den Glaubenden eine große Herausforderung darstellt. Die Frage nach der „Schuld" an diesen Umständen möchte Hamann nicht eindeutig beantworten. Sie „mag aber liegen, woran sie will, (außer oder in uns)" (198,32f). Er spricht lieber von einem „Knoten" (198,4), in den sich die verschiedenen Handlungsstränge des „heilsgeschichtlichen Dramas" 114 bis zur Unentwirrbarkeit verflechten und der, vergleichbar einer ausweglosen Situation in der szenischen Entwicklung des antiken Schauspiels, nach Auflösung ruft, nach einem „DEUS intersit - dignus vindice nodus" 115 . Sind es hier die Götter „ex machina", die mit einem Gewaltstreich den „Knoten" entwirren und damit das Ende des Stückes einleiten, so findet Hamann einen Hinweis auf die Lösung des Widerspruches von menschlichem Eigenwillen und göttlichem Heilswillen in dem biblischen Bericht von der Erschaffung des Menschen: „Endlich krönte GOTT die sinnliche Offenbarung seiner Herrlichkeit durch das Meisterstück des Menschen. Er schuf den Menschen in Göttlicher Gestalt; ~ zum 113 114 115

Vgl. 1 Kor 13,8-12. E. Büchsei, Biblisches Zeugnis, 81. N 11,107,10 (Wolken) und ZH V , 3 2 9 , 2 2 (an Jacobi am 22. Jan. 1785). Hamann zitiert hier aus Horaz, De arte poetica; (vgl. R. Knoll, Hamann und Jacobi, 28, Anm. 57).

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Einheit von Sinn und Sinnlosigkeit

Bilde GOttes schuf er ihn. Dieser Rathschluß des Urhebers löst die verwickeltesten Knoten der menschlichen Natur und ihrer Bestimmung auf. Blinde Heyden haben die Unsichtbarkeit erkannt, die der Mensch mit GOTT gemein hat. Die verhüllte Figur des Leibes, das Antlitz des Hauptes, und das Äußerste der Arme sind das sichtbare Schema, in dem wir einher gehn; doch eigentlich nichts als ein Zeigefinger des verborgenen Menschen in uns [...]" (198,1-9). Entscheidend für das Verständnis des Abschnitts ist die Zuordnung der Begriffe „Bild", „menschliche Natur" und „sichtbares Schema" einerseits und „Bestimmung", „Unsichtbarkeit" und ,,verborgene[r] Mensch" andererseits. In dem „Bild", welches der göttliche Künstler als sein „Meisterstück" betrachtet, wird Unsichtbares sichtbar; mit der Erschaffung des Menschen erniedrigt sich der unsichtbare Gott zum sichtbaren „Bild" seiner selbst. Im „Bilde GOttes" zeigt er sich, aber er zeigt sich als der Unsichtbare und gibt so dem Menschen, dessen Sichtbarkeit er annimmt, Anteil an seiner göttlichen Unsichtbarkeit, die Hamann als Hinweis, als „Zeigefinger" des „verborgenen Menschen in uns" versteht, der noch nicht offenbar ist. Mit „Rathschluß" spielt Hamann auf die Selbstaufforderung Gottes (Gen 1,26) an: „Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sey, die da herrschen!" (200,4f). Die in V.27 geschilderte Ausführung dieses Beschlusses zitiert Hamann auffälligerweise nicht nach dem Wortlaut der LutherÜbersetzung. Während Luther nämlich die beiden im hebräischen Urtext gebrauchten Ausdrücke „demut" und „sVm" tautologisch mit „Bild" wiedergibt, übersetzt Hamann sie mit „Gestalt" und „Bild".1Nicht ohne Absicht. Denn durch die Hinzufügung des Prädikats „göttlich" erhält das Zitat unversehens einen Anklang an Phil 2,6, wo der Entschluß des präexistenten Christus, sich seiner „göttlichen Gestalt" zu entäußern, besungen wird. Das heißt: Die „Bestimmung" des Menschen läßt sich, wenn es doch eine seiner Wirklichkeit vorauseilende, ja diese überhaupt erst begründende „Bestimmung" sein soll, nicht von seiner „Natur" abstrahieren. Hamann sieht auch hier die infralapsarische Verwirrung der menschlichen Existenz durch die Sünde in die Erzählung von seiner Erschaffung eingeblendet. Die „verwickeltesten Knoten der menschlichen Natur und ihrer Bestimmung", man könnte auch sagen: der aufgrund der gottmenschlichen Unterschiedenheit zu erwartende und vom Schöpfer auch erwartete Konflikt zwischen menschlichem Eigensinn („Natur") und göttlichem Heilswillen („Bestimmung") wird schon durch seine Erschaffung figürlich („Zeigefinger") mit dem Ereignis seiner Überwindung durch die Selbsterniedrigung Gottes verbunden. Mit der Vorstellung von der Teilhabe des Menschen an der göttlichen „Unsichtbarkeit" vertieft Hamann die in den Londoner Schriften entwickelte Dialektik des Geschöpflichen. Zwar ist der Mensch ein „Bild Gottes", aber als solches ist er eben auch eine verhüllende „Figur", hinter der sich seine 116

Zur Bedeutung der hebräischen Nomina vgl. C. Westermann, BK 1.1, 201-203.

Teilhabe des Menschen an der Verborgenheit Gottes

167

wahre „Bestimmung" nur schemenhaft abzeichnet. Das muß nun auch auf dem Hintergrund der ästhetischen Problematik verstanden werden: Wie die wahre Natur sich nicht mit dem Begriff der „schönen Natur" erfassen läßt, so stellt auch das „Bild Gottes" nicht den schönen, edlen Menschen dar, wie ihn etwa Goethe projizieren wird 117 , und schon gar nicht den Übermenschen Nietzsches. Es zeigt vielmehr „nichts als" die „Gestalt" dessen, der sich seiner „Göttlichen Gestalt" um des Menschen und seiner Sünde willen entäußert. Die „Unsichtbarkeit [...], die der Mensch mit Gott gemein hat", hätte dann nicht nur mit der Unergründlichkeit Gottes, sondern auch mit der verhüllenden Niedrigkeit des Menschen und seiner sinnlich-leiblichen „Natur" etwas zu tun. Sie wäre einerseits als Hinweis auf den menschlichen „Antheil an der Göttlichen Natur" (207,8f), andererseits aber auch als Hinweis auf die geschöpfliche Unvollkommenheit zu verstehen, weil der Mensch eben noch nicht eins ist mit dem, den er zeigt. Die „Unsichtbarkeit", „die der Mensch mit Gott gemein hat", ist, wenn ich Hamann hier richtig verstehe, zugleich eine Verborgenheit, die den Menschen von Gott trennt. Sie ist Bestandteil des göttlichen „Meisterwerkes", mit dem der Schöpfer „die sinnliche Offenbarung seiner Herrlichkeit [...] krönte." Sie ist aber auch Ausdruck derjenigen Gottesferne, aufgrund derer der Mensch sich der „Offenbarung" verweigert. Als „Bild Gottes" ist der Mensch dazu bestimmt, eine unsichtbare Wirklichkeit zu zeigen, als ,ßild Gottes" kann er jedoch gar nicht anders, als das Gezeigte zu verhüllen. Die „verwickeltesten Knoten" bezeichnen auch hier den (gleichfalls in den Londoner Schriften bereits ausgesprochenen) Gedanken, daß die Gottesferne der Sünde notwendigerweise mit derjenigen Bildhaftigkeit des endlichen Seins zusammenhängt, durch die Erlösung möglich wird. 118 Denkt man hier weiter, gerät man in einen unauflöslichen Zirkel hinein: Denn was das Bild-Sein des Menschen und seiner Welt ermöglicht (nämlich daß Gott darin redend sichtbar wird), das macht es zugleich notwendig: das im Bild Verborgene drängt auf Offenbar-Werdung, die Differenz von Gezeigtem („Natur") und Gemeintem („Bestimmung") muß überwunden werden. Zur Frage nach der Herkunft dieser „Knoten" wird Hamann konsequenterweise an Jacobi schreiben: „Der Knoten des Misverhältnißes liegt zwar in unserer Natur, kommt aber wie sie selbst nicht von uns, und wird durch kein philosophisches Tichten und Trachten aufgelöst werden." 119 Nur aufgrund dieser Dialektik läßt sich für Hamann die Spannung zwischen der menschlichen „Natur" und derjenigen „Bestimmung" des Menschen 117 118

119

Vgl. J.v. Lüpke, Menschlich und göttlich zugleich, 139-148. Es sei daran erinnert, daß Sünde von Hamann nicht nur geschichtlich, sondern auch ontologisch verstanden wird, nämlich als das Moment der Nicht-Übereinstimmung von Bild-Natur und abgebildeter Bestimmung. ZH V,329,20-22 (s. Anm. 115).

168

Einheit von Sinn und Sinnlosigkeit

begreifen, die in Christus bereits verwirklicht ist und auf deren Verwirklichung der christliche Ästhet noch hofft. Die hier angedachte Möglichkeit einer ontologischen Zusammengehörigkeit von Gottesebenbildlichkeit und Sünde muß daher im Kontext der ästhetischen Fragestellung verstanden werden: Sie verbietet eine idealisierende Reduktion des Menschen auf seine (von Hamann ja nicht bestrittene) „Göttliche Natur" (207,8f) ebenso wie die idealisierende Reduktion des Wirklichen auf den Begriff der „Schönen Natur". Wie wichtig diese Verbindung von Ästhetik und Anthropologie ist, mag durch einen kurzen Vergleich Hamanns mit Johann Gottfried Herder erhellt werden. Wenn die „menschliche Natur" aufgrund der „Knoten" von ihrer göttlichen „Bestimmung" zwar nicht getrennt, aber auch nicht mit dieser verwechselt werden darf, dann läßt sich Hamanns Rede von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen nicht in der Weise verstehen, wie Herder sie verstanden und im Sinne einer ontologischen Identität von menschlicher „Natur" und göttlicher „Bestimmung" in einen anthropologischen Idealismus transformiert hat. 120 Herder geht davon aus, daß der Mensch sich im Prozeß seiner geistigen Entwicklung dem göttlichen Bild bis zu einer gottmenschlichen Personalunion anzunähern vermag, wobei der Sündenfall als Chiffre für die notwendige Grenzüberschreitung des Menschen eine durchaus positive Wertung erfährt.121 Bei Hamann geht es jedoch gerade „nicht um den Gedanken einer .werdenden Gottesebenbildlichkeit'."122 Er faßt den Begriff der Imago Dei in Anlehnung an den platonischen Analogiebegriff123 strenger, wenn er ihn als Hinweis auf eine die Wirklichkeit des Menschen grundsätzlich bestimmende Einheit von Einheit und Unterschiedenheit von Bild und Abgebildetem versteht. Diese von Herder nicht beachtete Ambivalenz des Analogiebegriffes versucht Hamann mit dem Gedanken der menschlichen Teilhabe an göttlicher „Unsichtbarkeit" zum Ausdruck zu bringen, jener Eigenschaft, in der „Natur" und „Bestimmung", menschliches Elend und göttliche Würde wie die „verwickeltesten Knoten" ineinander verschlungen sind. So ist der Mensch ein „exemplum Dei", dessen „Gestalt" er trägt. „Die verhüllte Figur des Leibes, das Antlitz des Hauptes, und das Äußerste der Arme" stehen bei Hamann chiffrenartig für die Fülle menschlicher Existenz, aus welcher der in ihr Verborgene sichtbar werden kann. „Das unsichtbare Wesen unserer Seele offenbart sich durch Worte" 124 , aber auch, wie Hamann später hinzufügen wird, durch Taten, durch Sexualität, da all dies worthaftzeugenden Charakter hat. Aber das „Wesen" hinter der „Figur" bleibt sche120 121 122 123

124

Vgl. J.v. Lüpke, aaO (Anm. 117), 80-90. S. u. Kap. III.l. J.v. Lüpke, aaO (Anm. 117), 65. Bei Piaton können die „poetischen Bilder [...] nicht das wahrhaft Seiende [...] bilden, sondern sind lediglich .Nachbildungen' von .Schattenbildern'" (J.v. Lüpke, ebd, 89, Anm. 157). ZH 1,393,28 (an Lindner im August 1759). Vgl. dazu auch die Aussage: „Das menschliche Leben scheinet in einer Reihe symbolischer Handlungen zu bestehen, durch welche unsere Seele ihre unsichtbare Natur zu offenbaren fähig ist [...]" (N 11,139,26-28; Die Magi aus Morgenlande).

Zusammenfassung

169

menhaft, und seine „Unsichtbarkeit" erfährt der Mensch auch als ein SichSelbst-Verborgensein, welches ihn mit der Unabgeschlossenheit und Vieldeutigkeit seiner Existenz konfrontiert. „Wir sind Seines Geschlechts - die Differentia specifica liegt blos darinn, daß wir noch in der Mache sind, und unser Leben verborgen mit Christo in Gott." 125 Der „Antheil an der Göttlichen Natur" (207,8f), von dem Hamann immer wieder sprechen wird, ist deshalb kein Sein, sondern ein Werden. Das Kunstwerk Mensch mit seinen dramatischen Zügen ist noch nicht vollendet, aber es wird vollendet. Der „Knoten" ist noch nicht gelöst, aber er wird gelöst. Diese Vollendung und Lösung erfährt der Glaubende als einen Prozeß, der einerseits schmerzhaft, weil mit dem Loslassen alter Überzeugungen und Verhaltensmuster verbunden ist, der ihm andererseits aber die beglückende Zuversicht vermittelt, seiner „Bestimmung" und damit Christus immer ähnlicher zu werden. Denn das macht Sinn.

2.7 Zusammenfassung 1. Als grundlegend für das Verständnis der „Aesthetica" hat sich die Vorstellung eines universalen Inspirationsgeschehens erwiesen. Wie die „Schrift", so muß auch die „Natur" in ihrer Bezogenheit auf das Christusgeschehen gelesen und verstanden werden; wie der Text der Bibel, so enthält auch der „Text der Natur" poetische Bilder und Figuren für die Sünde des Menschen und das Ereignis ihrer Überwindung. Mit Hilfe dieser christologischen Punktation läßt sich das auch „Buch" der Natur mit seinen sinnlos gewordenen ,,Turbatverse[n]" revokalisieren. 126 Der christliche Künstler vernimmt den „DEI Dialectus" 127 ; er übersetzt ihn in freier Urheberschaft und bezeugt die Wirklichkeit als Kunstwerk göttlicher Selbsterniedrigung. Das Schöne und künstlerisch Nachahmenswerte ist das in den Gegensätzen des Wirklichen verborgene Wort, in dem Gott den Menschen und zugleich sich selber imitiert. Folglich besteht Kunst nicht in der zweckfreien Nachahmung des Schönen, sondern ist imitatio des den Menschen imitierenden und sich so offenbarenden Gottes. 128 125

ZH V,265,27-29 (an Jacobi am 14. Nov. 1784). „Versucht es einmal die Iliade zu lesen, wenn ihr vorher durch die Abstraction die beyden Selbstlauter a und co ausgesichtet habt, und sagt mir eure Meynung von dem Verstände und Wohlklange des Dichters" (N 11,207,16-19). Zur Veranschaulichung des daraus entstehenden Un-Sinns zitiert Hamann einen entsprechend devokalisierten Satz aus der Ilias 1.1 (N 11,207,20). Die Anspielung auf Offb 1,8 bzw. Offb 21,6 macht deutlich: Der „Text der Natur" (N II,207,21f) ist ohne Christus, den .Anfang und Ende" allen Lebens, nicht zu verstehen. 127 N 11,171,17 (Kleeblatt). 128 V g l d a s z i t a t v o n l K o r n > 1 a l s Schlußmotto der „Wolken" (N II,109,8f.). 126

170

Einheit von Sinn und Sinnlosigkeit

2. „Man muß, um Hamann und seine Ästhetik zu verstehen, immer nah beim Wunder der ,göttlichen Torheit' sich aufhalten; die ganze Welt ist freier Abstieg des göttlichen Geistes in die Höllen der Geschöpflichkeit und Materialität, und gerade dieser Abstieg, diese Demut und Armut Gottes ist es, deren Herrlichkeit aus allem hervorstrahlt; sie ist das eigentlich Erscheinende, und deshalb auch das Herz aller Schönheit." 129 Das ist in der Tat die nux der Hamannschen Ästhetik. Die Welt ist, wahrgenommenen im „Licht" des Schöpfungsmittlers, ein Kunstwerk, eine den ,,unbestimmte[n] Fähigkeiten, unerschöpflichefn] Begierden, unendliche[n] Bedürfniße[n] und Leidenschaften" 130 der menschlichen Natur entsprechende Bilderrede. Gott übersetzt darin seine Wirklichkeit („Engelsprache") in die Sprache des Menschen, und zwar indem er den Menschen reden läßt. Diese Naturoffenbarung, wie sie vorzugsweise im Mythos und in der Dichtung begegnet, bedarf ihrerseits der Übersetzung. Wie schon im Umgang mit der Bibel bedient sich Hamann dazu einer typologischen Interpretation, durch die die Funktionalisierung des Mythos durch den Logos nachvollzogen wird. 3. Hamann verbindet die ästhetische mit der hermeneutischen Frage. Diese Akzentverschiebung verdankt sich im wesentlichen seiner kritischen Neubesinnung auf die „Frage nach dem Sinn eines philologisch-historischen Studiums" angesichts einer „universalen Offenbarung". 131 Konsequent lehnt Hamann, seinem Wahrheitsbegriff entsprechend, die methodische Differenzierung zwischen profanen und sakralen Texten und die damit begründete Handhabung unterschiedlicher hermeneutischer Verfahrensweisen ab, wie sie z.B. von J.D. Michaelis gehandhabt wird. 132 Das Sakrale ist immer nur geschichtlich überliefert und unterliegt damit der historischen Fragestellung; es ist insofern nicht sakral, als es sich aus seinem historischen Kontext nicht aussondern läßt. Das Profane hingegen, an herausragender Stelle Sokrates und Homer, muß wie die Bibel auch in seiner Bestimmtheit durch den Christus-Logos verstanden werden, um nicht mißverstanden zu werden. 133 Es ist insofern nicht profan, als es nach Hamann keine Wirklichkeit außerhalb dieser Bestimmung geben kann. „Hamann trennt also weder die beiden Bereiche der Sakral und Profanhermeneutik, noch nivelliert er ihre Besonderheiten aufgrund eines normativ gesetzten Philologieverständnisses, sondern er verbindet beide Bereiche zu einer den Kontrast nicht scheuenden ,Communicatio idiomatum'." 134 Die „Natur" läßt sich ebensowenig wie die „Schrift" von 129

H.U.v. Balthasar, Hamanns Theolog. Ästhetik, 49. N 111,192,7-9 (Zweifel und Einfälle). 131 S.-A. Jorgensen, Hamann, 52. 132 V g i v Hoffmann, Hamanns Philologie, 161ff. 133 S.-A. Jorgensen, J.G. Hamann, 52: „Das Geschehen, unbeschadet seiner Historizität, [ist] deutungsbedürftig. Eine kausale, historische Betrachtung genügt nicht, denn die Struktur der Geschichte ist wie die Struktur der Sprache final." 134 V. Hoffmann, Hamanns Philologie, 169. 130

Zusammenfassung

171

der Zufälligkeit des Natürlichen reinigen. Hier hat nun Hamanns drastische Akzentuierung von ,,Sinne[n] und Leidenschaften", in der älteren Forschung nicht selten mit dem Kern seiner Auffassung verwechselt, ihren Ort. Der Geist des Evangeliums läßt sich nicht rekonstruieren; er kann nur genossen und erfahren werden. 4. Hamann demonstriert seinen ästhetischen Begriff nicht nur positiv (durch Übersetzungsarbeit) und kritisch (durch Abgrenzung von anderen „Lesarten"), sondern auch anhand einer positiven Deutung der kritisierten Ästhetik bzw. Hermeneutik. Der Instrumentalisierung von „Natur und Schrift" durch die aufgeklärte Vernunft rückt er die Funktionalisierung von intellektuellen Verhaltensmustern durch den Geist Gottes als dem „Autor" 135 des genannten Textzusammenhangs gegenüber. D.h.: Nicht nur die Sinnlosigkeit einer von der Naturwissenschaft als eigengesetzlich behaupteten Wirklichkeit, sondern auch die Sinnfeindlichkeit der aufgeklärten Vernunft hat für ihn einen geistlichen Sinn. Eine Ästhetik, die die geschöpfliche Wirklichkeit in ihrer Vielfalt nach den Vorgaben wirklichkeitsferner Ideale purifiziert und als Kunst nur gelten läßt, was ihren Reinheitskriterien entspricht, weist Strukturanalogien auf zu jener Purifizierung des Göttlichen, wie sie auf Golgatha in letzter und tödlicher Konsequenz geschehen ist. 5. Christliche Künstlerschaft, wie Hamann sie versteht, dient der Verkündigung des Evangeliums. Dies kann „nicht einfach Privileg des dichterischen Menschen" 136 sein. Wenn der Glaube, wie Hamann in scharfem Kontrast zu dem Geniekult der Aufklärung betont, genial ist insofern, als er den Glaubenden an göttlicher Genialität teilhaben läßt 137 , dann ist jeder Christ zu dieser Künstlerschaft befähigt. Ihre Ausübung ist ein prophetisches Amt, welches ein Miteinander von ,,philosophische[m]" und ,,poetische[m] Genie" 138 , einen klaren Blick für das „Gegenwärtige" sowie die Fähigkeit zur Interpretation von „abwesender Vergangenheit und Zukunft" erfordert. Hamann führt dies in der „Aesthetica" vor, indem er die für das Denken der Aufklärung maßgeblichen „Lesarten" auf die Bühne des heilsgeschichtlichen Dramas versetzt und sie als Figuren theologisch zu qualifizierender Verhaltens- und Argumentationsmuster agieren läßt. Die spielerische Gebärde dieser Vorführung, die man durchaus auch im Sinne einer intellektuellen Selbstdarstellung ihres Autors 135 136 137

138

Vgl. ZH V,272,14-18 (an Jacobi am 1. Dez. 1784). H.U.v. Balthasar, Hamanns Theol. Ästhetik, 40. Dieser Gedanke spielt vor allem in Hamanns Sokrates-Deutung eine tragende Rolle. „In diesem göttlichen der Unwissenheit, in diesem menschlichen des Genies scheinet vermuthlich die Weisheit des Widerspruches verborgen zu seyn, woran der Adept scheitert und worüber ein Ontologist die Zähne blökt [...]" ( N 11,98,16-19). Das Eingeständnis eigener Unwissenheit und die geniale Eingebung sind für Hamann im Glauben koinzident, der freilich unvereinbar ist mit einem Denken, für das Unwissenheit nicht göttlich, sondern ein durch Aufklärung zu behebender Mangel ist. Dieses und die folgenden zwei Zitate: N 111,382,33-384,5 (Entkleidung und Verklärung).

172

Einheit von Sinn und Sinnlosigkeit

mißverstehen könnte, soll nur der Absicht dienen, den Leser aus der Distanz des literarischen Konsumenten auf diese Bühne zu ziehen und ihn seine ihm zukommende Rolle gleichsam im Vollzug einer erzwungenen Übersetzungsarbeit lernen zu lassen. Wenn der Geist Gottes den Menschen in die Gemeinschaft mit seinem Schöpfer ruft, so wird die künstlerische Nachahmung dieses Rufes keine selbstgefällige Spielerei, sondern ein Ruf in die Nachfolge Christi sein, der, wo immer er auf verschlossene Ohren trifft, zum Gebetsruf wird. 6. Die in der „Aesthetica" scharf sich abzeichnende Spannung zwischen der als vollendet zu glaubenden Heilswirklichkeit und einer Wirklichkeit, deren Bestimmung noch „in Knechtsgestalt" (213,10) verborgen ist, spitzt Hamann zu in dem Gedanken einer Teilhabe des Menschen an der göttlichen Verborgenheit. Was in den Londoner Schriften bereits formuliert ist, klingt hier mit dem Motiv der „verwickeltesten Knoten" wieder an, um dann in „Konxompax" zu einem geschichtstheologischen Modell entfaltet zu werden: Der Widerspruch des Menschen gegen Gott, der sich als „Circul menschlicher Vergöttung und göttlicher Incarnation"139 in die Geschichte hinein fortsetzt, ist Bestandteil des göttlichen Kunstwerkes. Er zwingt das DazwischenTreten dessen herbei, der am Kreuz diesen Widerspruch richtet und zugleich in einen ewigen Zuspruch verwandelt. Der „Knoten" wird dadurch nicht aufgelöst, aber das Drama hat seine entscheidende Wende genommen, die der Glaube im „ästhetischen Gehorsam des Kreuzes" 140 für sich gelten läßt. In deutlicher Anlehnung an Luthers Unterscheidung von theologia gloriae und theologia crucis setzt Hamann damit einer aesthetica gloriae eine aesthetica crucis entgegen, die mit dem klassizistischen Schönheitsideal seiner Zeit auch einen Wahrheitsbegriff in die Krise führt, der, wie das nächste Kapitel zeigen wird, im Wesentlichen auf die intellektuelle und künstlerische Selbstrechtfertigung des Menschen zielt. Hamann weiß zwar, daß „das liebe Kreuz" 141 als „das ästhetische Geheimniß der schönen Natur" für den Kunstund Wissenschaftsbetrieb seiner Zeit ein „Noli me tangere" ist. Und doch gilt seine ganze Autorschaft, wie er später rückblickend sagen wird, dem „Schönsten unter den Menschenkindern mitten unter den Feinden des Königs" 142 . Es ist die verborgene Schönheit des Gekreuzigten, die der Welt ihre Ordnung und ihren Sinn einstiftet und die in das Sein des Sünders hineingestaltet werden soll. Es geht Hamann dabei nicht um Idealisierung oder gar Verherrlichung des Leidens, sondern um die einzig von Christus her mögliche Zusammenschau von sichtbarem Leiden und noch verborgener, jedoch zu er139 140

141 142

N III,224,6f (Konxompax). N III,234,22f (Zwey Scherflein); vgl. dazu O. Bayer und C. Knudsen, Kreuz und Kritik, 100-114. Dieses und die zwei folgenden Zitate N 11,34726-348,1 (Leser und Kunstrichter). N III,401,lf (Fliegender Brief).

Zusammenfassung

173

wartender Vollendung der Existenz. Schönheit, auch die Schönheit der Natur ist, um mit Paulus zu sprechen 143 , im „Seufzen" und den „Ängsten" der Kreatur verborgen wie die Herrlichkeit Gottes in der Niedrigkeit des Gekreuzigten. Aber dieses schuldhafte und unschuldige Unterworfensein trägt die Verheißung der „herrlichen Freiheit der Kinder Gottes" in sich. So ist wahre Schönheit letztlich nichts anderes als die Wahrheit des Gottes, der das Geringe erhöht und das Erhabene stürzt, um sein Kunstwerk zu vollenden.

143

Vgl. Rom 8,18-24 und Hamanns Paraphrase dieser Stelle in N 11,206,26-31.

3. Einheit von Zufall und Notwendigkeit: Die communicatio idiomatum als Interpretament des Geschichtlichen („Konxompax") 3.1 Hinführung: Hamanns Gespräch mit Herder über die Bedeutung des Sündenfalls „Der Mensch, der in seiner Selbstbestimmung der göttlichen Schöpfungsbestimmung widerspricht" 1 , ist für Hamann ein Hinweis auf den im Menschen verborgenen Menschen. Dieser Gedanke beinhaltet keimhaft eine theologische Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Menschheitsgeschichte angesichts der Wirklichkeit des Bösen. Oder, anders formuliert: Er stellt den Versuch dar, die Freiheit Gottes mit der Freiheit des Menschen zusammenzudenken in einer Weise, die sowohl der Eigenverantwortlichkeit des Menschen hinsichtlich der Sünde als auch der von Hamann seit seinem Londoner Erlebnis immer wieder beschworenen „Einheit des göttl[ichen] Willens" 2 Rechnung zu tragen versucht. Hamanns Versuch, heilsgeschichtliches Handeln Gottes und geschichtliche Kontingenz zusammenzudenken, soll in diesem Kapitel anhand einer Analyse der Schrift „Konxompax" dargestellt werden. Ausgehen möchte ich jedoch zunächst von dem Briefgespräch zwischen Johann Gottfried Herder und Hamann vom April 17683, in welchem Herder dem älteren Freund seine Interpretation von Gen 3 hinsichtlich der ihn seit seiner Beschäftigung mit Rousseau bewegenden Frage nach dem Ursprung des Bösen zur Begutachtung vorlegte. 4 Von dieser Interpretation fühlte Hamann sich seinerseits zu einer Deutung der biblischen Urgeschichte herausgefordert 5 , in der seine später in den Schriften zur Sprache fixierte Kritik an Herders Menschenbild ebenso angelegt ist6 wie seine typologische Verschränkung von Geistesgeschichte und Heilsgeschichte, die im Rahmen dieses Kapitels von Bedeutung ist. Die Ausgangsfrage Herders lautet: „[...] Wie wurden wir aus einem Geschöpf Gottes, das, was wir jetzt sind, ein Geschöpf der Menschen? Da unser jetzige Zustand doch wahrhaftig nicht der ursprüngliche seyn kann, wie ward er? wie ward das Uebel der Welt?" (408,33-409,2) 1 2 3

4 5

6

E. Brunner, Der Mensch im Widerspruch, 164. B W 343,6f ( N 1,40). ZH 11,408-415. Zitate werden im folgenden Abschnitt mit Seiten- und Zeilenzahlen im Text nachgewiesen. Vgl. E. Büchsei, HH IV, 22-26. ZH 11,415-418 (Brief an Herder vom 23. Mai 1768). Zum folgenden vgl. H. Graubner, „Origines" (Bückeburger Gespräche 1988), 108-132. „Der Gegensatz, der später in dem literarischen Gefecht fixiert wird, ist mehr oder weniger von Anfang an da. Er ist Hamann tiefer bewußt als Herder selbst" (E. Büchsei, HH IV, 21).

Hamanns Gespräch mit Herder

175

Grundlegend für Herders Überlegungen ist die schon durch die Fragestellung vorgegebene, deutlich von Rousseau inspirierte 7 Gegenüberstellung eines ,,Zustande[s] der Natur" (409,16) und dem „jetzigen Uebel der Welt" (409,17). Allerdings meint Herder mit „Naturzustand" nicht die Wirklichkeit des noch nicht durch Gesellschaft verdorbenen Menschen. Er denkt dabei vielmehr an den in der Bibel beurkundeten Urständ des von Gott geschaffenen Wesens, das sich im Prozeß seiner Menschwerdung befindet. Denn als „Geschöpf Gottes" (408,35) ist der Mensch strenggenommen noch gar kein Mensch, sondern ein auf Entwicklung seiner Instinkte angelegtes „Thier" (410,29), das sich erst im „Umgang mit künstlichem und listigen Thieren" (410,10) über die Tierwelt hinauszuentwickeln vermag. Das in der biblischen Geschichte vom Sündenfall erzählte Geschehen läßt sich für Herder als das Ereignis jenes Übergangs dechiffrieren, der in einem zeitlich gestreckten Evolutionsprozeß das Erwachen des instinktgeleiteten Menschen zum Bewußtsein, mithin die Menschwerdung des Menschen beinhaltet. 8 „Nun ists für mich, u. vielleicht auch für Sie das schönste Bild, daß wenn die Quelle unsres Uebels Klugheit seyn sollte, wie es Bibel und der dümmste Verstand zugeben muß - daß kein edleres [...] Bild seyn kann, als: Baum des Erkenntnisses] u. nach dieser Klugheit verlangen: eßen wollen vom Baum" (410,13-17), schreibt er, offenkundig Hamanns Zustimmung erwartend. Das Erwachen dieser „Klugheit" findet Herder also im „Bild" vom „Baum des Erkenntnisses]" (410,16) und den Folgen des verbotenen Griffes nach seiner Frucht erzählt. Im Kontext seiner „Betrachtungen über die sich auseinander wickelnde[n] Zustände der Menschen" (408,32f) zeigt dieser Griff das für die Entwicklung des Menschen notwendige Verlassen seines Naturzustandes und damit den Übergang aus einem Zustand weitgehender Fremdbestimmtheit in den Zustand intellektueller Selbstbestimmung, der zwar „das Uebel" in die „Welt" (409,2) bringt, gleichwohl den Menschen auf den ihm zugedachten Weg der Selbstverwirklichung stellt. Am Beginn dieses Weges steht das eigenverantwortliche Handeln gegen Gottes Gebot und damit „das Risiquo, das der Mensch auf sich nahm, außer seinen Schranken, sich zu erweitern, Erkenntn. zu sammeln, fremde Früchte zu genießen, andern Geschöpfen nachzuahmen, die Vernunft zu erhöhen, und selbst ein Sammelplatz aller Instincte, aller Fähigkeiten, aller Genußarten seyn zu wollen, zu seyn wie Gott (nicht mehr ein Thier) [...]" (410,25-29).

7

8

Vgl. Herders Selbstbezeichnung als ehemaliger „eifriger Roußeauianer" (ZH 11,409,15) und dazu E. Büchsei, H H I V , 21f. Zur Bedeutung dieser genetischen Betrachtungsweise für Herder vgl. H. Graubner, „Origines", 113f. Nach Graubner war es Herders „Ziel, den [...] Ursprung so zu deuten, daß aus ihm die selbstständige Entwicklung des einmal Geschaffenen nach .Naturgesetzen' erfolgen konnte."

176

Einheit von Zufall und Notwendigkeit

Herder, nicht nur von Rousseau, sondern in jenen Jahren auch von der Lektüre der „Aesthetica" nachweislich beeinflußt 9 , sieht wie Hamann in der Gottesebenbildlichkeit („seyn wie Gott") die Bestimmung des Menschen, die ihn von allen anderen Geschöpfen unterscheidet. Zu ihrer Verwirklichung muß der Mensch die ihm durch seine Natur gesetzten Grenzen aufsprengen, muß also bestehende Abhängigkeitsverhältnisse aufkündigen und das „Uebel der Welt" (409,2) als Folge der dadurch gewonnenen Autonomie in Kauf nehmen. Als ein zur „Klugheit" erwachtes Wesen ist der Mensch nun nicht mehr primär ein von fremden Einflüssen geformtes Geschöpf, sondern avanciert zum gottesebenbildlichen Schöpfer seiner selbst, wodurch das schöpferische Handeln Gottes strenggenommen überflüssig wird. Hans Graubner sieht hier gar eine „Spätform des physikotheologischen Gottesbeweises", ist es doch „für Gott [...] am würdigsten [...], wenn er als eingreifend gegenwärtiger Gott aus der Genese selbst verschwindet und seine Größe nur indirekt durch die Selbstständigkeit und Großartigkeit des anfangs geschaffenen Werks beweist: durch die Selbstentfaltung des Kosmos und des Menschen." 10 Mit der Menschwerdung des Menschen scheint die Aufgabe des Schöpfers erfüllt, und Herder wertet den gleichsam erschrockenen Ausruf Gottes von Gen 3,22 und die damit verbundene Begrenzung der menschlichen Lebensdauer nicht als Strafmaßnahme, sondern als ein Geschehen zugunsten des Menschen. 11 Im Licht dieser Genese muß der betrübliche Jetzt-Zustand des Menschen trotz seiner „Uebel" ein bejahenswerter Zustand intellektueller Freiheit sein. Denn nicht der seinem Schöpfer gehorsame, sondern der seine „Schranken" überschreitende, damit freilich auch das Gebot übertretende Mensch ist der wahre Mensch. Nur als solcher kann er „sich emporarbeiten in der Erkenntnis Gottes und seiner Gottesebenbildlichkeit." 12 Entsprechend sieht Herder den Menschen auch nicht als Verlierer, sondern als Sieger aus dem Sündenfall hervorgehen, und diese Sicht ist tatsächlich, wie Elfriede Büchsei schreibt, der „Quellpunkt der großen Umwertung des ,Sündenfalls' ins Positive, die für den deutschen Idealismus fundamental ist." 13 Nicht nur die Sünde des Menschen hat in dieser Protologie keinen Platz. Auch das biblische Gottesbild zeigt bei Herder eine unverkennbar deistische Tönung, in der seine spätere Anthropomorphismus-Kritik angelegt ist. 14 9 10 11

12 13 14

Vgl. E. Büchsei, HH IV, 20f und 67, Anm. 5. „Origines", 114. .Aber diesem Gotte [gem. ist der Mensch] würde nichts größere Strafe gewesen seyn, als die Unsterblichkeit [...]" (ZH 11,412,17f). E. Büchsei, HH IV, 84. Ebd, 23. Vgl. H. Graubner, „Origines", 115. Diese Anthropomorphismus-Kritik ist wiederum von Hamann im Zusammenhang seiner späteren Auseinandersetzung mit Herder über den Sprachursprung schärfstens kritisiert worden, vgl. N 111,18,17-29.

Hamanns Gespräch mit Herder

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Höchst aufschlußreich ist nun zunächst die Art und Weise, mit der Hamann in seinem Antwortschreiben Herders Bitte um eine Stellungnahme entspricht. 15 Herder hatte, wohl um sein großes Interesse an der Lösung des von ihm so genannten „Mittelknotenjs]" (409,15) zu bekunden, am Ende seines Briefes den hypothetischen Wunsch geäußert, daß, wenn er „aus dem Alterthum [mit] drei Menschen sprechen sollte" (412,24f), er sich für Moses, Homer und Plato entscheiden würde. Hamann fängt diese von Herder hingeworfene Bemerkung auf und macht sie zum Aufhänger seiner Stellungnahme. Als wollte er Herder fragen, warum er sich diesen Wunsch nicht längst erfüllt habe, spricht er, halb im Scherz, von seinem eigenen Umgang mit diesen und anderen Berühmtheiten: „[...] So habe ich mit Moses, Homer und Plato, warum nicht gar mit Christo und Belial, mit dem Gesetz und den Propheten, und leider auch mit Weltweisen und Dichtern gebuhlt, und mehr die inferna eines Torso als die superna einer Büste zu erkennen und zu unterscheiden gesucht. Und meine grobe Einbildungskraft ist niemals im Stande gewesen, sich einen schöpferischen Geist ohne genitalia vorzustellen" (415,18-23). Die Vorstellung einer gegenüber Herders Gesprächswünschen metaphorisch in den Bereich des Geschlechtlichen gesteigerten Form von Kommunikation („buhlen") zeigt an, worüber Hamann sich im folgenden mit Herder auseinanderzusetzen gedenkt. Er will nicht über die materialen Inhalte seiner Auslegung der biblischen Urgeschichte reden. Er stellt mit dieser Äußerung vielmehr das hermeneutische Vorgehen Herders und damit „den spekulierenden Menschen selbst" 16 grundsätzlich in Frage, d.h. dessen Verständnis von Lesen, Lernen und Erkennen. Den grundlegenden und eine inhaltliche Auseinandersetzung überflüssig machenden Fehler Herders sieht Hamann darin, daß jener mit einer Haltung an die Texte herangetreten ist, die im Grunde nur die Bestätigung einer bereits gefundenen Antwort zuläßt, was einen echten, dialogischen Lernprozeß von vorneherein ausschließt. Herder hat gelesen, aber er hat nicht „gebuhlt"; er hat sich von dem biblischen Zeugnis nicht befruchten lassen und folglich auch keine Erkenntnis empfangen, die er nicht schon aus anderen „Offenbarungen und Ueberlieferungen" 17 empfangen hätte. Herder steht ja selber, wie jeder Mensch, mitten auf der Bühne des Geschehens, über dem er zu stehen glaubt; „Lust der Erkenntnis und Spekulation [...] ist als Geschmack der verbotenen Frucht zu durchschauen", und auch daß „der wahre Ort des Menschen im Nichtwissen, im Angewiesensein auf Offenbarung" 18 liegt, sieht Hamann durch Herders kühne Umdeutung der biblischen Geschichte bestätigt. 15 16 17 18

S. Anm. 5. Zitate werden mit Angabe der Seiten- und Zeilenzahlen im Text nachgewiesen. E. Büchsei, HH IV, 24. N 111,50,15; (Philolog. Einfälle und Zweifel). E. Büchsei, HH IV, 24.

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In dieselbe Richtung zielt der andere Hinweis: Herders Interesse gilt den „superna einer Büste", also den geistigen Eigenschaften eines körperlosen, in künstlerischer Idealität dargestellten Kopfes. Dieser kann zwar ein „cogito" denken und daraus seine Schlüsse ziehen. Aber er kann ohne die „inferna eines Torso" nicht im eigentlichen Sinne schöpferisch tätig werden, gibt es doch nach Hamann keine Erkenntnis ohne Empfängnis, keine Intellektualität ohne Sexualität. 19 Deshalb betont er sein Interesse an den „inferna" einer unvollendeten oder gar zerstörten Skulptur. Der „Torso", bei dem häufig nur noch die Geschlechtsorgane zu erkennen sind, verdichtet sich bei ihm zum Bild für den „schöpferischen Geist" und damit auch zum Bild für die „stamina und menstrua"1®, die er selber als unersättlicher Leser in seinem weitgestreuten Umgang mit verschiedensten Geistern („Christ[us] und Belial" 21 ) empfangen zu haben glaubt. Diese Form der Empfängnis ist für alles Erkennen symptomatisch: „Wenn ,Sinne und Leidenschaften' die Königswege menschlicher Erkenntnis sind, auf denen die Vernunft aufruht, dann darf das Zentrum von Sinnlichkeit und Leidenschaft, die Sexualität nicht ausgeschaltet und ihre Ursprungsfunktion für alle Kopfgeburten nicht vergessen werden." 22 Alles Geistige, sei es menschlich oder göttlich, begegnet nur in einer „anthropomorphe[n] Gebundenheit" 23 . So ist des Menschen „Geist" ebenso wie der Geist Gottes nicht „ohne genitalia" vorstellbar, „da der Anthropomorphismus auf ein Ohr, Auge, Hand und Mund sich nicht allein erstrecken kann" (415,25f). Wie der „schöpferische Geist" Gottes sich in seinem Reden und Handeln vorbehaltlos auf den Menschen einläßt, so ist der gottesebenbildliche Mensch ein - im eigentlichen sowie im übertragenen Sinne - auf Partnerschaft, auf Befruchtung durch andere „Geister" angewiesenes Wesen. 19 20

21 22 23

D a z u s . U.Kap. V I . l . „Die stamina und menstrua unsrer Vernunft sind daher im eigentlichsten Verstände Offenbarungen und Ueberlieferungen, die wir zu unser[em] Eigenthum aufnehmen, in unsre Säfte und Kräfte verwandeln und dadurch unsrer Bestimmung gewachsen werden, die kritische und archontische Würde eines politischen Thiers theils zu offenbaren theils zu überliefern ( N 111,39,13-19; Philolog. Einfälle und Zweifel). - Stamina sind Samenfaden (des männlichen Samens); menstruum ist ein Fachausdruck aus der Chemie und bezeichnet eine substanzlösende Flüssigkeit (vgl. E. Büchsei, HH IV, 223). Hier ist aber wohl eher das weibliche Gegenstück zu den „stamina" gemeint. V g l . N 11,146,26; N 111,223,12. H. Graubner, „Origines", 121. H. Graubner schreibt: „Was Kant erst in der .Kritik der reinen Vernunft' zugestehen wird, daß die theoretische Vernunft nicht, w i e vordem angenommen, mit der göttlichen identisch sei, daß sie nur .Erscheinungen' entwerfen, aber d e s w e g e n in den Gesetzmäßigkeiten dieses Entwurfs nichts über Gott ausmachen kann, sondern alle Vernunftbeweise von dessen Dasein fahren lassen muß, das hat Hamann in seiner Auffassung von der anthropomorphen Gebundenheit aller menschlichen Erkenntnis schon früh gedacht. Und er hat es radikaler als später Kant gedacht, weil er die Vernunftentwürfe nicht nur für untauglich hielt, Gott zu fassen, sondern ebenso für unfähig, der Geschichte gewachsen zu sein" („Origines", 116).

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Was immer er hervorbringt: Er bringt nichts hervor, was er nicht zuvor, und zwar auf eine „der thierischen Haushaltung" 24 analoge Weise, empfangen hätte. So ist gerade die von Herder gepriesene - und von Hamann ja nicht bestrittene - „Klugheit" und deren schöpferisches Vermögen das Ergebnis eines Kommunikationsgeschehens, eines Geschehens allerdings, dessen Kehrseite der verweigerte Gehorsam, die vom Menschen verweigerte Kommunikation mit dem Schöpfer darstellt und das nun allem Erkennen als conditio sine qua non gleichsam anhaftet. Der Sündenfall des Menschen mit seinen sexuellen Implikationen, oder, wie Hamann etwas anzüglich formuliert, die Empfängnis des Ungehorsams durch die „Vertraulichkeit mit einem Thiere" (417,10) läßt sich daher nicht, wie Herder es tut, lediglich als Durchgangsstadium im evolutiven Prozeß der Menschwerdung des Menschen begreifen. Er bleibt der Gottesebenbildlichkeit „vorgeschaltet" 25 . Aber diese will Hamann nun im Gegensatz zu Herder nicht anthropologisch und schon gar nicht genetisch, sondern heilsgeschichtlich verstanden wissen, „gehört" doch „zu einer Geschichte der Schöpfung [...] unstreitig Offenbarung" (416,11), worunter Hamann die ganze in der Bibel erzählte Geschichte, beginnend mit der alttestamentlichen „Theorie der Opfer" (417,10) bis hin zu dem endgültigen Opfer des „Neuen Bunde[s]" (417,11) versteht. In diesem biblischen Kontext, der bei Herder völlig ausgeblendet ist, muß die „Geschichte der Schöpfung" verstanden werden, also im Spannungsfeld von gottwidriger Empfängnis des Bösen und einer heilsschaffenden Empfängnis, die der „schöpferische Geist" durch sein Zeugnis bewirkt. So „ist freylich [...] die Mähre von einer Jungfrau, die von dem heiligen Geiste der Ueberschattung gewürdigt wurde, [...] mit der Mähre von einer Ehebrecherin, die es mit einem schönen Geiste, fürchterlichen Andenkens, zu thun hatte, immer eines der größten orientalischen Systeme, die in kein ander menschlich Herz noch Sinn jemals gefallen sind" (416,14-18).

Hamann formuliert hier, was man, cum grano salis, als seine geschichtstheologische Weltsicht „in nuce" bezeichnen könnte. 26 Der „schöne Geist, fürchterlichen Andenkens", von dem sich die Eva der Urgeschichte mit unabsehbaren Konsequenzen „befruchten" läßt, steht in einer geheimnisvollen, gleichwohl systematisch zu nennenden Beziehung zu dem „heiligen Geiste", dessen neuschöpferisches Handeln die Menschheit aus dem Bann eben jener Folgen befreien wird. Dabei stellt der zuvor mit dem Bild des „Torso" eingeführte Gedanke der Geschlechtlichkeit die typologische 24 25 26

N 111,39,20 (Philolog. Einfälle und Zweifel). H. Graubner, „Origines", 122. Vgl. die in Kap. 1.3 dieses Teils besprochene Stelle aus demselben Brief (ZH 11,417,1216), an der gleichfalls an entscheidender Stelle der Begriff „System" erscheint.

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Bezugsebene her zwischen der Geschichte Marias (als der „Mähre von einer Jungfrau") und der Geschichte Evas (als der „Mähre von einer Ehebrecherin"). Gemeinsam ist beiden, daß sie durch ihre jeweilige Empfängnis die Vorzeichen menschlicher Geistesgeschichte und göttlicher Heilsgeschichte gegeneinander setzen. Die Ahnfrau empfängt mit der versprochenen „Erkenntnis" das Bewußtsein der Schuld und setzt somit das Vorzeichen des Todes vor die Geschichte, Maria empfängt den diesen überwindenden Samen des fleischgewordenen Logos. „Christfus] und Belial" (415,19) sind Todfeinde; dennoch bleibt ihr Handeln im Bild aufeinander bezogen, ja es stellt sogar eine gewisse Einheit dar. Die Uneinholbarkeit dieser Einheit („in kein ander menschlich Herz noch Sinn jemals gefallen" 27 ) dient Hamann als Hinweis darauf, daß sich dahinter ein planmäßiges Handeln verbirgt, eben „die Kunst des Werkmeisters" (416,24), der „hinter dem Zifferblatte" (416,23) der Weltenuhr agiert. So läßt sich dann auch die folgenreiche „Vertraulichkeit mit einem Thiere" (417,10), nämlich die Verführung des Menschen zur Sünde, als Bestandteil des „orientalischen Systems" begreifen. Der Sündenfall als kommunikatives Ereignis zwischen Mensch und „schönem Geiste" hat damit auch für Hamann eine, von Herders Sicht allerdings radikal unterschiedene, positive Bedeutung. In freier Partnerwahl entscheidet sich der Mensch für „Belial" und gegen „Christus"; aber diese Freiheit ist nicht denkbar ohne die Abhängigkeit von einem „schöpferischen Geist", der den damit vollzogenen „Ehebruch" zu einem Bild für die „Überschattung" des Menschen durch Gott, also zu einem Hinweis auf das Ereignis der Menschwerdung umformt. Die „älteste Schoossünde der Selbstabgötterey" 28 steht sowohl in einem antitypischen als auch in einem antizipierenden Verhältnis zu dem, was für Hamann das Telos menschlichen Daseins ist. Dieser Gedanke ist bereits begegnet: Sünde ist Widerspruch gegen die göttliche Heilsordnung, aber im Vollzug des Widersprechens stellt der Sünder selber die „Materialien" 29 her, mit denen der „heilige Geist" diesen Widerspruch verurteilen und überwinden wird. Daß sich in der positiven Bewertung des Sündenfalles zwischen Herder und Hamann eine durchaus bedenkliche Übereinstimmung ausmachen läßt, ist bereits gesehen worden und wird im folgenden ebenso zu bestätigen sein wie die „große sachliche Differenz", die „zwischen Hamanns und Herders Geschichtstheorie" besteht. 30 Auch Hamann kann dahingehend verstanden werden, daß für ihn „der Sündenfall im Grunde gar kein Fall, sondern eine

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Vgl. 1 Kor 2,9. N 111,224,19f (Konxompax; Hervorheb. aufgeh.). N II,210,7f (Aesthetica). W. Oelmüller, Lessing und Hamann, 365.

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notwendige Bedingung zum Fortschritt der Menschheit" 31 sei. 3 2 Am theologisch entscheidenden Punkt gehen die Wege von Hamann und Herder jedoch auseinander: Für diesen stellt die biblische Geschichte vom Sündenfall den Beginn menschlicher Selbstverwirklichung dar; seine Deutung der Sündenfallgeschichte ist folglich ein Plädoyer für die Gerechtigkeit des von seiner Vernunft Gebrauch machenden Menschen, das eine dezidiert nichtbiblische Antwort auf die Frage nach der Theodizee beinhaltet. Für Hamann hingegen ist der Sündenfall notwendiger Bestandteil eines unsichtbaren Geschehenszusammenhangs 33 , über dessen Abfolge nicht der Mensch, sondern Gott als „Autor" bzw. „Schriftsteller" entscheidet. Der Griff des Menschen nach der Gottgleichheit bleibt für ihn eingebunden in die „geistige Oekonomie" 34 einer Geschichte, die vom Christusereignis herkommt und ihm entgegengeht. Mit dem Fall beginnt daher nicht, wie für Herder, die Geschichte des Menschen, der sich in Freiheit selber vollendet, sondern die Geschichte des Widerspruches von menschlicher Freiheit und göttlicher Wahrheit, dessen Überwindung einzig von dem Kreuz Christi her denkbar ist, wo der Sünder zum Werkzeug der Erlösungstat Gottes wird. 35 Hamanns Überzeugung, daß der menschliche Widerspruch durch sein Bezogensein auf den göttlichen Zuspruch immer auch verkündigenden, die christliche Wahrheit in negativer Umkehrung bezeugenden Charakter hat, wird in seiner Auseinandersetzung mit Reimarus und Lessing eine letzte Vertiefung erfahren. 31 32 33

34 35

Ebd. Vgl. BW 294,23-30 (N I,232f); zu Rom 6,4. Das „unsichtbare System" (ZH II,417,15f) ist und bleibt unsichtbar, d.h. es ist durch keine Geschichtsphilosophie zu erkennen und zu erklären. N III,39,21f (Philoiog. Einfälle und Zweifel). Daß Hamann damit implizit die bei Herder anklingende Zuordnung von Erkenntnis und Autonomie in Frage stellt, liegt auf der Hand. Zwar ist auch für ihn „die Freyheit [...] das Maximum und Minimum aller unsrer Naturkräfte" (N 111,38,10-12), aber sie ist es nur im Zusammenhang mit der Verantwortung, die sich aus der - von Herder in seiner Deutung völlig ausgeblendeten - „Erkenntniß des Guten und Bösen" ergibt. Freiheit kann damit ebenso wenig wie „Klugheit" eine Folge des Sündenfalls sein, sondern geht ihm schon im Duktus der Urgeschichte voraus, und zwar nicht nur als das Recht auf die Beherrschung der Welt, wie es in Gen 2,19 zum Ausdruck kommt, sondern auch als Recht des Menschen auf die Wahl seiner Kommunikationspartner. Schon vor dem Fall ist der Mensch „ein denkendes Geschöpf' (N IV,249,6), und das heißt auch: Schon bevor ihm „die Augen aufgetan" (Gen 3,7) werden, kann der Mensch frei darüber entscheiden, von welchem „schöpferischen Geist" er sich inspirieren und beeinflussen läßt und von welchem nicht. Zugespitzt ließe sich formulieren: Die „menschliche Natur" (N 11,198,4) ist insofern frei, als sie sich zwischen verschiedenen Verhältnissen der Abhängigkeit entscheiden kann, und entsprechend versteht Hamann den Sündenfall im Gegensatz zu Herder nicht etwa als Befreiung von, sondern lediglich als einen Wechsel der „Vormundschaft" (ZH V,291,24), der, so deutet er Gen 3,7, mit einer schmerzlichen Bewußtwerdung der eigenen Torsohaftigkeit einhergeht, also „Selbsterkenntnis" (N 111,202,3) sowohl im sexuellen wie im existentiellen Sinne bewirkt.

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3.2 Vernunft als Gegenstand des Glaubens Den Gedanken einer heilsökonomischen Funktionalisierung der Sünde deutet Hamann im Gespräch mit Herder nur an. In seiner Schrift „Konxompax" 36 entfaltet er ihn jedoch zu einem zentralen Argumenationsmuster im Kontext der strittigen Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Geschichte bzw. dem Verhältnis von Religion und Offenbarung, die Ernst Cassirer als die Grundfrage der Aufklärung bezeichnet hat. 37 Die radikale Beantwortung dieser Frage durch die seit 1774 von Gotthold Ephraim Lessing publizierten „Fragmente eines Ungenannten" 38 hatte die auf Ausgleich bedachte, maßgeblich von der Neologie geprägte Theologie der Aufklärung in eine Krise gestürzt. Neben Lessing war es wohl vor allem Hamann, der die Chance dieser Krise erkannte und, wenn auch in gänzlich anderer Richtung als dieser, nutzen wollte. An Herder schreibt er am 25. Nov. 1778: „Daß es mir an Sympathie für die gegenwärtige Crisin in der Theologie nicht fehlt, bester Gevatter! können Sie sich leicht vorstellen." 39 Schon mit dem Untertitel seiner bald darauf erscheinenden Schrift „Konxompax" macht Hamann deutlich, auf welche Weise er in die „gegenwärtige Crisin" einzugreifen beabsichtigt. Er nennt sie „Fragmente einer apokryphischen Sibylle über apokalyptische Mysterien" (215) und stilisiert sie damit als den Arbeiten des Reimarus zumindest in formaler Hinsicht vergleichbare Enthüllungen bislang unentdeckter Erkenntnisse, die einer zwar nicht kanonischen, gleichwohl anerkannten Autorität zuzuschreiben sind, nämlich der einer orakelnden „Sibylle". Noch wichtiger ist eine weitere Anspielung. Daß die „Fragmente eines Ungenannten" im Namen der zur Autorität erhobenen Vernunft „nichts weniger als einen Hauptsturm auf die christliche Religion unternommen" hatten, wie Lessing formuliert 40 , ist bei Hamann mit dem Prädikat „apokalyptisch" reflektiert. Denn auch seine „Sibylle" will mit ihren Enthüllungen die kanonischen Grundlagen einer sich etablierenden Religion ins Wanken bringen, und dies im Wortsinn einer Stelle aus dem von Reimarus in seiner Glaubwürdigkeit bezweifelten Neuen Testament. In der „aitoKaXuxpig |j,xjcn:r)piou" (Rom 16,25) sind die Offenbarung der christli-

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N 111,215-228. Zitate werden im folgenden Abschnitt mit Seiten- und Zeilenzahlen im Text nachgewiesen. Zum folgenden ist zu vergleichen: E.J. Schoonhoven und M. Seils, Mysterienschriften (HH V); I. Manegold, J.G. Hamanns Schrift „Konxompax". Zum Titel der Schrift vgl. HH V, 189. „Vernunft und Geschichte werden klar geschieden und in einer ständigen Spannung gegeneinander erhalten, auf welcher die gesamte innere Bewegung des religiösen Denkens im 18. Jahrhundert beruht" (E. Cassirer, Philosophie der Aufklärung, 244f). Abgedruckt in: G.E. Lessing, Werke (hrsg. v. G. Göpfert), Bd. 7 (abgekürzt.: G VII), 313ff. ZHIV,34,31f. Lessing, Werke Bd. 8 (abgekürzt: G VIII), 31 (Eine Duplik).

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chen Wahrheit und die Vernichtung des alten Äons, dem die neue Religion in Wirklichkeit angehört, nicht zu trennen. Es ist der „Kanon gesunder Vernunft" 41 , nach dessen Richtlinien Reimarus eine Krise über die biblische Offenbarungsreligion heraufgeführt hat und den Hamann nun metakritisch 42 an der Richtschnur des biblischen Kanons messen will. Auch die „gegenwärtige Crisin" betrachtet er als ein Sprachereignis, welches es „in Geschick zu bringen" 43 gilt. Hamann will diese Krise in einer ihr entgegengesetzten Stoßrichtung auf die Spitze treiben 44 , indem er die vernünftigen Kritiker der Bibel selber als Protagonisten eines im Sinne von Rom 16,25 zu verstehenden „apokalyptischen" Geschehens auftreten läßt. Reimarus ist zwar verstorben (1768), aber seine Rolle ist von anderen übernommen worden, die den „Hauptsturm" auf den Schauplätzen ihres Könnens weiterführen; Johann August Starck, aber auch der Herausgeber der „Fragmente" selber, der von Hamann im Verlauf der Schrift deutlich in die Auseinandersetzung mit einbezogen wird, sind hier zu nennen. Der Konflikt zwischen aufgeklärter Vernunft und geschichtlich überlieferter Religion ist für Hamann ein neues Kapitel in der Geschichte des Konfliktes zwischen menschlicher Freiheit und göttlicher Wahrheit, der mit dem Sündenfall begann und den „sinnlich zu machen" 45 er sich berufen fühlt. Reimarus selbst scheint in den sibyllinischen Fragmenten nur wenig zu Wort zu kommen. Denn vordergründig stellt die Schrift eine Auseinandersetzung mit Johann August Starcks „Apologie des Ordens der FreyMäurer" (1778) dar. Der Königsberger Oberhofprediger, den Hamann persönlich gut kannte 46 , hatte in dieser Schrift versucht, das Freimaurertum - und damit sich selber - gegen den Verdacht der Heterodoxie zu verteidigen 47 , einen Verdacht, den er sich durch ein von ihm 1775 herausgegebenes Buch mit dem Titel „Hephästion" eingehandelt hatte. 48 Das Freimaurertum, so Starck, könne nicht als neuheidnische Konkurrenz der christlichen Religion verstanden werden, zumal es selber keinerlei religiösen Charakter habe. 49 Es weise lediglich Analogien zu den antiken Mysterienreligionen auf 50 , deren im 41

42

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49 50

N III,177,29f (Zweifel und Einfälle); vgl. dazu J.v. Lüpke, Hamann und die Krise der Theologie im Fragmentenstreit (Acta V), 353. Metakritisch zu verfahren heißt, „den Autor mit seinen eigenen Worten, bzw. mit den Implikationen seiner eigenen Theorie zu kritisieren" (C. u. U. Knudsen, Erläuterung zur „Glose Philippique" [Hamann und Frankreich], 142). Zur theologischen Begründung dieses Verfahrens bei Hamann verweise ich auf J.v. Lüpke, Anthropologische Einfälle, 2582 6 2 („Metakritische Anthropologie"). N II,199,2f (Aesthetica). Vgl. J.v. Lüpke, Hamann und die Krise, 345-347. N IV,281,41. Vgl. J. Nadler, J.G. Hamann, 191f. Einen Überblick über den Inhalt der Schrift gibt E.J. Schoohoven, HH V, 175-180. Eine gegen ihn vom Königsberger Konsistorium in Berlin eingereichte Klage wurde zwar abschlägig behandelt, brachte ihn jedoch in Verruf und dürfte sich vor allem auch auf seine Position in der Loge negativ ausgewirkt haben (vgl. HH V, 175f). Vgl. ebd, 178. Vgl. ebd, 178f.

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wesentlichen philosophische Inhalte es, trotz zeitlich bedingter Unterschiede, weitertrage. Starck propagiert damit indirekt das Freimaurertum als die aufgeklärte Fortsetzung antiker Mysterienkulte, in denen er, wie er schon in „Hephästion" deutlich gemacht hatte, die ursprünglichsten Erscheinungsweisen einer dem Menschen natürlichen, d.h. allgemein vernünftigen Religion sieht. 51 Die Besonderheit dieser Mysterien sei gewesen, daß in ihnen „der ganze Vorhang aufgezogen, und die nackte Wahrheit [...] so, wie sie ist, den Augen der Eingeweihten vorgestellt [ward]." 52 Auch wenn Starck nicht „behaupten" will, „daß ein genaues Parallel zwischen den Mysterien der Alten und den Geheimnissen der Freymäurerey gezogen werden könnte" 53 , macht er doch deutlich, daß es hier wie dort letztlich um die unmittelbare Begegnung mit einer „Wahrheit" gehe, die man „wirklich als den Anfang zum Leben" 54 erkennen kann und die sich vom Christentum nur darin unterscheidet, daß sie aller sinnlichen und materiellen Elemente völlig entkleidet und insofern „rein" ist. Die strenge Geheimhaltung desjenigen, was nur eine kleine Schar von Eingeweihten erkennen kann, wird von Starck in einer für den Leser strapaziösen Weise betont. 55 Er scheint damit aber der Eigenart der von ihm hier gemeinten „Wahrheit" entsprechen zu wollen: Sie ist sprachlos und sie macht sprachlos, und schon deshalb ist ihre Bedeutung im doppelten Sinne des Wortes unbeschreiblich. Auch wenn Starcks Buch mit seinen eigenartigen Beweisgängen insgesamt wohl ein Kuriosum aufklärerischer Literatur darstellen dürfte 5 6 , hat es allem Anschein nach Hamanns Aufmerksamkeit in besonderem Maße geweckt. 5 7 Offenkundig stellt für ihn die äußere Unbedeutsamkeit der Schrift nur die Schale einer gleichsam unbeabsichtigten Bedeutsamkeit dar, um deren Aufweis es ihm geht. Denn indem Starck nichts sagt, verrät er viel. In der Berufung auf antike „Mysterien" macht sich für Hamann die Auflösung des christlichen Wahrheitsbegriffes ebenso bemerkbar wie die damit verbundene Bereitwilligkeit, sich „apokryphen" Autoritäten zu unterwerfen, über deren Herkunft sich nichts Sicheres ausmachen läßt. Auch wenn Starck sich in der „Apologie" ausdrücklich von der Religionskritik des Reimarus distanziert 58 , so operiert er doch wie dieser mit der Unterscheidung von „Wahrheit" und christlicher „Volks-Religion" 59 , ohne sich wohl im klaren darüber zu sein, daß eine solche Unterscheidung notwendig zu dem Konflikt der Autoritäten führt, den Reimarus in aller Schärfe reflektiert. Hamann weist zunächst die versteckten Verbindungslinien zwischen Starck und Reimarus auf. Er führt vor, wie sich der inhaltsleere Begriff des 51 52 53 54 55 56

57 58 59

Vgl. ebd, 167. Apologie, 189 (zit. nach HH V, 178). Apologie, 196 (zit. nach HH V, 178). Apologie, 215 (zit. nach HH V, 179). Vgl. Schoonhoven, HH V, 176. Nadler beschreibt Starck als „eine der wenigen Persönlichkeiten, durch die das chaotisch flutende Gedankengut des Jahrhunderts an die Oberwelt wallte" (J.G. Hamann, 189). Vgl. Schoonhoven, HH V, 170. Vgl. Apologie, 196f (zit. bei Schoonhoven, 178). Ebd.

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von Starck propagierten „Mysteriums" der Wahrheit zur Illustrierung derjenigen Autorität einsetzen läßt, die Reimarus als „eine untriegliche Richtschnur der göttlichen Erkenntnis und eines frommen Wandels" 60 bezeichnet und dem biblischen Kanon als kritische Instanz gegenübergestellt hat. 61 Denn was bei der Suche nach dem „Mysterium" bestenfalls gefunden werden kann, ist, wie schon der seinerzeit bekannte Religionsphilosoph Christoph Meiners angemerkt hatte, „entweder ein reines Nichts oder ein zweydeutiges Etwas [...], das wie gut und böse entgegengesezt" (218,7f) sei und entsprechend das eine oder das andere bedeuten könne. 62 Wenn dies zutrifft, so folgert Hamann, dann wäre die bei Starck so geheimnisvoll umnebelte „Wahrheit" durchaus vergleichbar mit den „höchsten allgemeinen Gattungsideen" des abstrakten Denkens: Vichts und Etwas, gut und böse" (218,9f). Diese, so formuliert er in Anlehnung an eine Definition von Johann August Eberhard 63 , „sind bekanntermaaßen die ersten Gründe (Initia) und lezten Resultate (teXetch) aller theoretischen und practischen Erkenntnis. Aus ihrer Zusammensetzung und Anwendung durch's Anschauen des Einen in dem Vielen entsteht das außer- und übersinnliche oder transcendentale Licht der Vernunft (von welchem Lichte, Grund und Logos unsere heutigen Apostel in ihren Opusculis profligatis predigen, daß es alle Menschen erleuchte in diese und jene Welt hineinzukommen - auf dem schmalen Wege - durch die enge Pforte) und ihrer Fackelträgerin, der eigentlichen Wissenschaft" (218,10-19). Hamann präsentiert mit diesem Abschnitt einen Flickenteppich, in den er Grundbegriffe der Philosophie, aus der Sprachwelt der Mysterienreligionen und Schlüsselworte des Neuen Testaments hineingewoben hat. So entsteht das Bild einer geheimnisvollen Religion, in der strenge Rationalität und eine geradezu abergläubische Unterwürfigkeit keine Gegensätze zu sein scheinen, sondern sich gegenseitig bedingen. Die „ersten Gründe" und die „lezten Resultate" des rechten Vernunftgebrauchs, denen nach Reimarus kanonische Bedeutung zukommt, lassen sich für Hamann durchaus mit den Initiationsriten („Initia"; „te^etcu") der von Starck beschriebenen Mysterien vergleichen. Der dort zu betrachtenden „nackten Wahrheit" 64 entspricht die Erleuchtung durch das „außer- und übersinnliche oder transcendentale Licht der Vernunft", welches sich dem Adepten im Prozeß der stufenweise durchgeführten Deduktion erschließt. Hier wie dort geht es darum, „die aus den leidi60 61 62

63 64

G VII, 342 (Von Verschreiung der Vernunft auf den Kanzeln). Vgl. J.v. Lüpke, Hamann und die Krise, 352f. Christoph Meiners „Über die Mysterien der Alten" (Leipzig 1776). Das Buch enthält u.a. eine „religionsphänomenologische Zusammenschau" der damals bekannten Mysterienreligionen und diente Hamann bei der Abfassung von „Konxompax" als eine Art „Kompendium" (HH V, 180). Vgl. HH V, 200, Anm. 7. S. Anm. 52.

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gen Schranken des Raums und der Zeit unendlich zusammengesezte Mannigfaltigkeit" (219,7-9) zu überwinden, um „nicht nur zum Schrein der mystischen Einheit im allgemeinen Begriff, sondern auch zur anschaulichen Erkenn tniß oder Epopsie der allgemeinen Wahrheit hindurchzudringen" (219,911). Daß hierbei die „ersten Gründe" mit den „lezten Resultaten" identisch sind, zeigt an, daß dieser Aufstieg eine grandios inszenierte Selbsttäuschung ist. Die gefundene „Wahrheit" ist nichts anderes als die für wahr gehaltene Voraussetzung ihrer selbst; der Erkenntnisprozeß ein auswegloser Zirkel. Die umfangreiche Apposition zu „Licht" hat Hamann nicht in Klammern gesetzt, um sie als nur von untergeordneter sachlicher Bedeutung zu kennzeichnen. Im Gegenteil. Er zeigt darin das soteriologische Selbstverständnis einer Philosophie auf, die zentrale Aussagen der christlichen Religion gleichsam an sich reißt und unter dem Vorzeichen allgemeiner Vermittelbarkeit neu besetzt. Die „hochgelobte Vernunft mit ihrer Allgemeinheit, Unfehlbarkeit, Überschwenglichkeit, Gewißheit und Evidenz" (225,3f), wie sie von den modernen ,,Apostel[n] in ihren Opusculis profligatis" - ein deutlicher Hinweis auf Reimarus 65 - gepredigt wird, erscheint als Trägerin christologischer und soteriologischer Attribute. Sie selber ist bei Reimarus und Starck der Heilsweg, der, von Hamann in Anspielung an Mt 7,14 und Lk 13,24 ironisch als beschwerlicher Weg mühsamer Denkarbeit stilisiert, den Menschen seiner ihm zugedachten Bestimmung zuführt. An die Stelle des menschgewordenen Gottes tritt die zur Gottheit erhobene „Vernunft" als rettende und richtende Instanz. Nicht mehr der ewige „Grund und Logos", dem sich „Vernunft" und „Welt" verdanken 66 , sondern die „Vernunft" selbst entscheidet nun, ob etwas „Nichts" oder ob es „Etwas", ob es „gut" oder „böse" sei. Für Hamann jedenfalls weist die „natürliche Religion" (222,4) durchaus Charakteristika derjenigen positiven Religionen auf, die sie als akzidentielle Erscheinungsformen ihrer selbst relativiert. Während ihre „abergläubischen Prediger" (222,3) den Sakramentalismus solcher Religionen als unzumutbaren Zauber verspotten, konsekrieren sie selber die „hochgelobte Vernunft" zum Heilsmittel, indem sie diese mit undurchsichtigen Praktiken in eine „göttliche" Substanz verwandeln und sie als solche dem Gläubigen darreichen. 67 Johannes von Lüpke schreibt: „Nicht weniger wundergläubig als die 65

66 67

Der Ausdruck bedeutet wörtlich soviel wie: „Heillose Fragmente". Vgl. Hamanns Entschlüsselung in einem Brief an Herder vom 18. April 1779, ZH IV,70,12f. Vgl. ZH V,95,21. „Der Gegenstand eurer Betrachtungen ist nicht GOtt, sondern ein blosses Bildwort, wie eure allgemeine Menschenvernunft, die ihr durch eine mehr als poetische Licenz zu einer wirklichen Person vergöttert, und dergleichen Götter und Personen macht ihr durch die Transsubstantiation eurer Bildwörter so viel, daß das gröbste Heidentum und blindste Pabsttum in Vergleichung eurer philosophischen Idololatrie am jüngsten Gericht gerechtfertigt und vielleicht losgesprochen seyn wird" ( N 111,106,32-40; Neue Apologie des Buchstaben h).

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Annahme dieser .Transsubstantiation' ist der Glaube an die selbstschöpferische Kraft der Vernunft, die sich selbst aus ihrer Verkehrung zur Unvernunft befreien können soll. Die endliche Vernunft wird sich selbst zum Gegenstand des Glaubens [...]. Sie verwechselt sich mit dem ewigen Logos Gottes; sie maßt sich dessen ,Licht' an." 68 So wird der christliche Glaube abgelöst „durch einen neuen Köhlerglauben an einen neuen Bund der Vernunft" (223,7f), mit dem sich der Gläubige, der sich religiöser Bevormundung entledigt zu haben glaubt, in ein viel erniedrigenderes Abhängigkeitverhältnis begibt. Die sich bei Starck und Reimarus gleichermaßen abzeichnende Theologisierung der Vernunft ist typisch für die geistige und religiöse Situation der Aufklärung, wie Hamann sie wahrnimmt. Er zeichnet sie in einem Gegenzug genau in denjenigen Kontext ein, der aus der Perspektive einer natürlichen Religion am heftigsten zu kritisieren bzw. zu ignorieren ist: den biblischen Kontext von Sünde und Gesetz.

3.3 Vernunft im Kontext von Sünde und Gesetz Mit der zweimaligen Erwähnung des Wortpaares „gut und böse" (218,8.10) hatte Hamann dem aufmerksamen Leser chiffrenartig angedeutet, auf welchem geschichtlichen Schauplatz seine „Sibylle" ihre Figuren gruppiert. Eine um „gut und böse" wissende, sich mit christologischen Prädikaten schmükkende und folglich auch das Prädikat der Gottgleichheit für sich beanspruchende Vernunft evoziert den theologischen Hintergrund der biblischen Erzählung vom Sündenfall. Damit führt Hamann das „tendentiell eschatologische Selbstbewußtsein" 69 einer Vernunft, die Rechenschaft fordert von geschichtlich gewordenen Autoritäten, die neben ihr und gegen sie Anspruch auf Wahrheit und Allgemeingültigkeit erheben, in einem Gegenzug zurück auf seine Ursprünge. Er möchte zeigen, daß dieses „Selbstbewußtsein" sich einem geschichtlich durchaus zufälligen Akt freiwilliger Unterwerfung verdankt, von dem die Sündenfallgeschichte prototypisch berichtet. Ist es doch „,die heilige Vernunft! die ihnen die Stelle einer Offenbarung vertritt und vor Vernunftschlüßen, sie mögen noch so fein, sie mögen noch so weit hergeholt seyn' (sie mögen auf ihrefm] Bauch oder auf Vieren gehen) ,das Knie mit Ehrfurcht zu beugen' befiehlt" (218,20-23).

Im Gespräch mit Herder hatte Hamann behauptet, daß das den Menschen von der übrigen Kreatur unterscheidende Wesensmerkmal in der relativen 68 69

Hamann und die Krise, 356. Ebd, 354.

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Freiheit bestehe, sich zwischen verschiedenen Abhängigkeitsverhältnissen entscheiden und in entsprechender Weise offenbarend tätig werden zu können. Dieser Gedanke erhält nun scharfe Konturen. Indem nämlich der Mensch „die heilige Vernunft" an „die Stelle" der biblischen „Offenbarung" rückt, um sich von dieser zu emanzipieren, offenbart er selber das wahre Verhältnis seiner Abhängigkeit. 70 Die Ursprünge dieser „Offenbarung" liegen, hier stimmt Hamann Starck ironisch zu, im Dunkeln; das blinde Vertrauen in die Zuverlässigkeit von „Veraunftschlüßen" ist nämlich ebenso unerklärlich wie der Ungehorsam des adamitischen Menschen, der sich von einem sprechenden Tier zum Mißtrauen seinem Schöpfer gegenüber überreden läßt. Wieder steht der entscheidende Hinweis in Klammern. Hamann fügt darin dem von ihm ausdrücklich gekennzeichneten Zitat einer Stelle aus Moses Mendelssohns „Briefen über die Empfindungen" 71 eine Anspielung auf Gen 3,14 hinzu, wo die kriechende Fortbewegungsweise der Schlange mit der Strafe Gottes für die Verführung Evas ätiologisch in Verbindung gebracht wird. Hamann will m.E. damit deutlich machen, daß für ihn das Davor und das Danach des Sündenfalls angesichts der Wirklichkeit des Menschen keine entscheidende Rolle spielt. Ob die Schlange „auf Vieren" geht oder ob sie kriecht 72 : Der Mensch ist ihr im Zeitalter der Vernunft ebenso gehorsam, wie er es schon am Anfang der Welt war, als er „den Sohn\ [...] mit Füßen" getreten und das ,J3lut der Besprengung" verachtet hat, „durch welches er geheiligt ist" (225,17f). 73 Die „jüngste Offenbarung" (225,8) des Reimarus führt die uralte Tradition der Gottesverachtung fort; sie zeigt, daß der sich seiner Vormünder entledigende Mensch keineswegs am Ziel seiner Bestimmung angelangt ist, sondern immer noch im Bann jener ältesten Vormundschaft steht, die theologisch als Existenz des Sünders unter dem Gesetz zu qualifizieren ist. 74 Zwar macht die „hochgelobte Vernunft" (225,3) in den „Opusculis profligatis" (225,7) von sich reden. Jedoch „das ganze Nostrum ihrer Marktschreierey erstreckt sich nicht weiter als auf die Entblößung und Erkenntniß der Sünde und Schande, welche sich wie die verführte Heva durch Übertretung desjenigen, was sie selbst für heilig, recht und gut hält, eingeführt hat, damit die Leichtgläubigkeit des Unglaubens überaus sündig würde" (225,10-15). Mit diesen Hinweisen auf zentrale gesetzestheologische Aussagen des Römerbriefes 75 spannt Hamann seine protologische Deutung des aufkläreri70

71 72

73 74 75

„Die jüngste Offenbarung' geschieht eben dort, wo im Namen der Vernunft die Möglichkeit einer geschichtlichen Offenbarung grundsätzlich verworfen wird" (ebd, 357). Vgl. HH V, 201, Anm. 1. Vgl. die parallele Formulierung in N 11,289,29-33 und dazu die Interpretation von C. u. U. Knudsen, Glose Philippique (Hamann und Frankreich), 111. Vgl. Heb 10,29 und 1 Petr 1,2. Vgl. dazu O. Bayer, Umstrittene Freiheit, 148f. Vgl. Rom 7,7ff; vor allem Rom 7,12f.

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sehen Vernunftkultes in denjenigen Horizont ein, den er eingangs mit dem Prädikat „apokalyptisch" bereits genannt hatte. Urzeit und Gegenwart, der mythische Kniefall des Menschen vor einer Schlange und seine höchst aktuelle Servilität vor der „Vernunft" als einem fiktiven ,JLns rationis" (225,4f) haben ihre gemeinsame Ebene in deijenigen Gespaltenheit, die Paulus in Römer 7 mit unübertroffener Prägnanz formuliert; sie sind sich einig in der „Übertretung desjenigen", was der Mensch „selbst für heilig, recht und gut hält". Die „verführte Heva" ist hier nicht nur in barocker Emblematik als „Allegorie der Vernunft" 7 6 zu verstehen, sondern auch als Urbild des sündigen Menschen, dessen „Unglaube" in denkwürdigem Gegensatz zu seiner „Leichtgläubigkeit" steht, mit der er gegen seine eigenen Prinzipien verstößt. Hamann folgt der paulinischen Auffassung, wonach der Mensch sich wider besseres Wissen unter die Herrschaft des Gesetzes begibt. 77 Der Sünder vertauscht die Autorität des Wortes, das ihm Leben ermöglicht, mit der Autorität des Gesetzes, das gerade diese „Übertretung" mit dem Tode bestrafen muß. In der Sprache der Urgeschichte heißt das: Die „Schlange" (224,35) lockt mit der Erkenntnis von „gut und böse", und indem sie ihr Versprechen hält, betrügt sie den Menschen um das Versprochene. Er weiß nun, was „gut und böse" (218,10) ist, und er weiß vor allem, daß er selber „böse" und damit nicht Gott, sondern ein an Leib und Seele „nackter" Mensch ist, der sich aufgrund dieser „Entblößung und Erkenntniß der Sünde und Schande" nunmehr für sein Sünder-Sein zu verantworten hat. 78 Weil er als solcher sein ursprüngliches Vertrauen zu dem rechtfertigenden Wort Gottes nicht mehr findet, muß er sich in immer neuen, verzweifelten Versuchen eine eigene Daseinsberechtigung schaffen: „Denn diese TipoXriipig Gott gleich zu seyn hatte aller philosophischen Erkenntniß und gesetzlichen Gerechtigkeit die Bahn gebrochen" (224,20-22). Ebenso wie Paulus versucht, dem Begriff des vo^iog in seiner Ambivalenz von heilvollem Gebot und durch die Sünde pervertierter Todesmacht gerecht zu werden, zeichnet auch Hamann im Zusammenhang seiner Kritik des aufklärerischen Vernunftkultes ein bei genauerem Hinsehen auffallend dif-

76 77

78

I. Manegold, Konxompax, 154. „Die Zerspaltenheit des Ich ist ein Kennzeichen des Menschen unter dem Gesetz" (O. Michel, Der Brief an die Römer, 171, Anm. 4). Für Hamann ist diese Bewußtwerdung auch mit dem Erwachen des Schuld- und Schamgefühls verbunden. „Unschuld", sagt er in dem sog. Stellenlosen Blatt, „kennt keinen Unterscheid des Guten und Bösen, weiß daher auch von keiner Schande oder Schaam" (zit. nach HH V, 363 [vgl. N 111,213,23-26]). Der Mensch, so versteht Hamann Rom 7, wird nicht erst durch den Sündenfall zum Sünder, sondern er „weckt" durch seine Hinwendung zu dem (Vernunft-) Gesetz die in ihm ruhende Sünde (vgl. Rom 5,12). Wichtig ist für Hamann wie für Paulus der Unterschied zwischen der Sünde, die ohne das Gesetz „tot" bzw. ohne Kraft ist (1 Kor 15,56), und der „Schuld", die der Sünder vor Gott zu verantworten hat. Vgl. auch O. Michel, Der Brief an die Römer, 173.

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ferenziertes Bild von den Möglichkeiten ,,philosophische[r] Erkenntniß" 79 . Wenn die „hochgelobte Vernunft" (225,3) nichts als ein toter „Ölgötze" (225,5) ist, „dem ein schreyender Aberglaube der Unvernunft göttliche Attribute andichtet" (225,5f), dann wird deutlich, daß die von Hamann in die Krisis geführte „Vernunft" eine durch „Unvernunft", also eine durch ihr Gegenteil pervertierte Vernunft ist. Der „Köhlerglaube an einen Neuen Bund der Vernunft" (223,7f) 80 stellt, wie für Paulus der Gesetzesglaube des Alten Bundes, immer schon den Mißbrauch der Vernunft bzw. der ihr eigenen Gesetze dar, durch den sie sich selber aufhebt. So gehört die „Vernunft" zwar, wie Hamann betont, zu den „göttlichen Adiutoria" (224,37), d.h. zu den dem Menschen mit der Einsetzung zur Herrschaft über die Schöpfung geschenkten Geistesgaben. Der sich seines Verstandes bedienende Mensch befindet sich jedoch immer im Widerspruch zu dieser „Vernunft" des „inwendigen Menschen" (Rom 7,22), durch die Gott ihn vor unerlaubten Grenzüberschreitungen warnt. 81 Wie das von der Sünde in Beschlag genommene Gesetz, so führt auch eine durch die „Unvernunft" (225,5f) der Selbstüberschätzung verdorbene Vernunft den Menschen auf einen Irrweg, weil sie ihn glauben macht, er könne durch sie die Folgen seiner als unvernünftig anerkannten „Übertretung" überwinden. Wäre dann aber nicht eine sich kritisch auf ihre Grenzen besinnende, von allem ,,Aberglaube[n]" (225,5) gereinigte Vernunft das geeignete Mittel, das Ziel menschlicher Bestimmung zu erreichen? Daß Hamann diese Frage ernst genommen hat, zeigt seine Auseinandersetzung mit der „Kritik der reinen Vernunft" Immanuel Kants, mit der dieser angesichts der von ihm gleichfalls bemerkten Pervertierung des Vernunftgebrauches durch verschiedene philosophische Ideologien den „kritischen Weg" als den einzig noch offenen erschließen will. 82 Kant wußte als Philosoph etwas von der „Übertretung" (225,12f) derjenigen Grenzen zu sagen, die der Vernunft gesetzt sind, und er hätte Hamanns Analyse der bei Reimarus und Starck greifbaren „Unvernunft" im wesentlichen zustimmen müssen. In „Konxompax" geht es jedoch um eine von der Ebene selbstkritischer Rationalität zu unterscheidende „Crisin", nämlich um die zwar auf philosophische Fragestellungen übertragbare, 79

Die Zusammenschau von jüdischer Gesetzeslehre und philosophischer Erkenntnis bzw. von „Judentum" und „Heidentum" (vgl. N 111,165,7-10) als den koinzidierenden Merkmalen aufklärerischer Philosophie taucht vor allem in den Briefen Hamanns immer wieder auf: „Unsere Vernunft ist also eben das, was Paulus das Gesetz nennt - und das Gebot der Vernunft ist heilig, gerecht und gut. Aber ist sie uns gegeben - uns weise zu machen? eben so wenig als das Gesetz de[n] Juden sie gerecht zu machen, sondern uns zu überführen von dem Gegentheil, wie unvernünftig unsere Vernunft ist, und daß unsere Irrthümer durch sie zunehmen sollen, wie die Sünde durch das Gesetz zunahm" (ZH 1,355,36-356,5; an Lindner am 3. Juli 1759). Vgl. ZH 1,379,32-35 u. ZH V,326,20-23.

80

Vgl. N 111,29,12 und N III,240,34f. Vgl. Rom 2,14-16. Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A XII und A 856.

81 82

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grundsätzlich jedoch nur theologisch begründbare Kritik einer mit der „gesetzlichen Gerechtigkeit" (224,21f) vergleichbaren Haltung. Dies bedeutet, daß Hamann die an intellektueller Gesetzeserfüllung orientierte „Gerechtigkeit" als eine „Unvernunft" identifiziert, die zum Scheitern verurteilt ist, in diesem Scheitern aber auch als die einzige Chance des Menschen sieht, durch die „Erkenntniß der Sünde und Schande" ( 2 2 5 , l l f ) zum Glauben an das Wort der Rechtfertigung zu finden. Hamanns Kritik einer „Vernunft", deren positives Vermögen mit geradezu zwanghafter Notwendigkeit in die „Unvernunft" abergläubischer Selbstüberschätzung umschlägt, stellt eine, will man sich in diesem Zusammenhang auf die Begrifflichkeit reformatorischer Gesetzeslehre einlassen, aktualisierende Anwendung des usus theologicus oder elenchticus legis auf die „philosophische Erkenntniß" (224,21) dar, so daß Elfriede Büchsei mit Recht von einem „usus elenchticus rationis" 83 gesprochen hat. „Die Vernunft'', schreibt Hamann an anderer Stelle, „ist heilig, recht und gut; durch sie kommt aber nichts als Erkenntnis der überaus sündigen Unwissenheit [...]." 84 Folglich ist „das Amt der Philosophie [...] der leibhafte Moses, ein Orbil zum Glauben" 85 . Es zwingt den Erkennenden gleichsam zur Bejahung dessen, was seine Unvernunft immer nur verneinen kann. Denn das Einzige, was der Mensch kraft seiner Vernunft zu erkennen vermag, ist seine „Sünde und Schande" (225,12) und damit die Einsicht in das völlige Unvermögen, seine Existenz in ihrer Geschiedenheit von Gott zu rechtfertigen.

3.4 Vernunft im Kontext von Verheißung und Evangelium Daß die menschliche Vernunft aufgrund der Sünde mit geradezu zwanghafter Notwendigkeit in ihr Gegenteil umschlägt, veranlaßt Hamann nicht zu einer irrationalistischen Identifizierung von Vernunft und Unvernunft, auch wenn dieser Vorwurf immer noch erhoben wird. 86 Die verhängnisvolle Täuschung („Ttpartov ijjEuöog" [224,25]) 87 des Menschen durch das Böse besteht ja 83 84 85 86

87

Paulinische Denkfiguren (Acta V), 405. N 11,108,19-21 (Wolken). N II,108,27f. Mit HH V, 239. Daß Isaja Berlin Hamann gleichwohl einen „hatred and blind irrationalism" (The Magus, 121) vorwirft, ist meiner Einschätzung nach nur mit der Ausblendung des Zusammenhangs von Vernunft und Gesetz und seiner Dialektik zu erklären (s. das Zitat in Anm. 79). Berlins eindimensionale Interpretation des Hamannschen Vernunftbegriffes führt notwendig zu einer Verzerrung des gesamten Denkens Hamanns, und es wundert nicht, daß Hamann dann sehr rasch als geistiger Vater eines „social and political irrationalism, particulary in Germany" (ebd) bezeichnet wird. Dem ist mit Nachdruck zu widersprechen. Mit diesem Ausdruck bezeichnet Aristoteles in der „Analytica priora" die „Prämisse, die in einem Syllogismus die Falschheit der Konklusion verschuldet" (HH V, 237, Anm. 10). Vgl. auch N IV,414,33-36.

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nicht darin, daß ihm die „Erkenntnis" von Gut und Böse versprochen, sondern daß ihm dadurch der Aufstieg in die Sphäre des Göttlichen, daß ihm also die „Erkenntnis" als Weg zum „Leben" angeboten wird. 8 8 Nicht in der von Gott verfügten „Analogie des Menschen zum Schöpfer" 89 , sondern in der eigenmächtigen „jipoXr^ig Gott gleich zu seyn" (224,20f) besteht der „apjtayixog" (224,25), der den Unterschied zwischen der „Selbstabgötterey" (224,19f) des Unglaubens und derjenigen Gottgleichheit markiert, die „es nicht für einen Raub [betrachtete], Gott gleich zu sein" (Phil 2,6). Nicht die Vernunft als göttliche Gabe, sondern die widervernünftige „ j t p o ^ r ^ i g " der Vernunft gilt es für Hamann zu kritisieren. Und dies nicht nur, weil sie einen unerlaubten Eingriff in göttliches Recht darstellt, sondern auch, weil sie selbstzerstörerischen Charakter hat. Der Güte Gottes mißtrauend, versucht der Mensch, sich die Gottgleichheit gleichsam selber zu .erjagen', er trifft dabei jedoch nur, „wie ein schlechter Schütze, den Schatten für den Körper", der lediglich „ein bloßes Schattenbild des Dings Selbst ist" (224,23-25). 90 Der Sündenfall philosophischer Selbstverwirklichung ist zeitübergreifend; er bringt den Menschen immer wieder dazu, „die Bilder, die sich ihm vor Augen stellen, für die Sache selbst zu halten und überdies zu verkennen, daß der wirkliche Mensch, der sich [...] auf der Leinwand philosophischer Systeme abschattet, im Verhältnis zur göttlichen Wirklichkeit [...] nur einem Schattenbild gleicht." 91 In immer neuen Grenzüberschreitungen etabliert sich der Mensch als ein Verfolger des Wortes, dem er sein Leben verdankt, und bis in die Gegenwart des 18. Jahrhunderts häufen sich die dabei erbeuteten Trophäen, „tausend mythologische Namen, Idole und Attribute" (224,17), zu denen wohl auch jene ,,göttliche[n] Attribute" hinzuzuzählen sind, die „ein schreyender Aberglaube" einer zur Gottheit erhobenen Vernunft „andichtet" (225,5f). Diese Verwechslung von „Schatten" und Wirklichkeit läßt sich theologisch als Verwechslung von Gesetz und Evangelium qualifizieren, denn das anklagende „Gesetz" (im paulinischen Sinne) und der hinweisende „Schatten" (im Sinne von Heb 10,1) gehören für Hamann ontologisch zusammen. Sein Verständnis von „jrpoX.r|\J)L5" ist jedoch gerade aufgrund dieser Zusammengehörigkeit nicht auf den gerichtstheologischen Aspekt beschränkt. 88 89 90

91

Vgl. ZH V,329,9-11; ZH VI,492,9-11. N 11,206,32 (Aesthetica). Der Ausdruck „Ding" (vgl. N 111,224,15) ist ebenso wie ,ßns rationis" (N III,225,4f) oder ,J¡ns entium" (N 111,226,12) eine Anspielung auf den metaphysischen Gottesbegriff (HH V, 235, Anm. 4). Da „Ding" eine „im 18. Jahrhundert ziemlich geläufige" Beschreibung für das männliche Genitale war (I. Manegold, Konxompax, 116), schwingt wohl zugleich eine positive Konnotation mit, die in diametraler Entgegensetzung zu diesem Gottesbegriff die Vorstellung der Leiblichkeit Gottes als eines lebendigen, schöpferischen Wesens evoziert - man vergleiche die oben besprochene Stelle aus dem Brief an Herder (ZH II,415,25f). J.v. Lüpke, Menschlich und göttlich zugleich, 89.

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In der Schrift „ K o n x o m p a x " scheint vielmehr der usus elenchticus rationis mit einem eigenartigen usus paedagogicus eng verflochten zu sein, dessen gedankliche Vorläufer bereits in den Londoner Schriften auszumachen waren und der auch in der eingangs besprochenen Stelle aus dem Briefwechsel mit Herder auftauchte. Die „JtpoXri^ic; Gott gleich zu seyn" steht als Chiffre für den Unglauben des Menschen nicht nur in einem antithetischen, sondern auch in einem positiv abbildenden Verhältnis zur B e s t i m m u n g des Menschen. Ist die Antizipation des Verheißungsgutes nicht denkbar ohne die Imagination des V o r w e g g e n o m m e n e n , dann m u ß das „Schattenbild" des sich selbst vergottenden Sünders zugleich die Funktion eines typologisch zu deutenden Vorbildes haben. „Gleichwie aber die Sanktion und Satzung des Todes das aller[er]ste, feste, prophetische Geheimniß für die neuerschaffne Erde war; so legte Jehova den ersten Laut und Strahl des evangelischen Geheimnisses von der Bestimmung des Menschen zum 2uv0povia^co t 9 2 l (einer nicht blos figürlichen, sondern leibhaften Theilnehmung der göttlichen Natur) dem Lügenprediger Luzifer in den Mund, der weder als Morgenstern noch Schlange gefeyertt 93 !, die Arglist seiner Verrätherey an Gott und Menschen durch neue Mißverständnisse zu verewigen, und selbst durch die göttlichen Adiutoria der Vernunft und Schrift, des Buchstabens und Geistes, der mancherley Gaben, der mancherley Ämter und mancherley Kräfte, dem Zweck Jesu und Seiner Jünger entgegen zu arbeiten" (224,28-225,2). Entscheidend f ü r das Verständnis dieses zentralen Satzes ist sein inhaltliches Gefälle. „Jehova" ist das handelnde Subjekt, der „Lügenprediger" trotz der beschriebenen Aktivitäten das leidende Objekt eines Geschehens, das, wie Hamann mit der Anspielung auf den Titel des letzten Teiles der „Fragmente" im letzten Halbsatz deutlich machen will, bis in die Gegenwart andauert. H a m a n n s Grundüberzeugung erfährt hier eine letzte Zuspitzung: Der Widerspruch der Sünde mit seinen tödlichen Folgen wird schon im Prozeß seines Entstehens zu einem lebensschaffenden Zuspruch umgeformt. Zwar steht die „neuerschaffne Erde" von A n f a n g an im Zeichen des in Gen 2,17 angekündigten Todes, aber für H a m a n n scheint gerade die Unverbrüchlichkeit dieser Prophezeiung in paradoxer Spiegelung ein Beweis („gleichwie") für die Unverbrüchlichkeit derjenigen Heilszusage zu sein, die als „evangelischefs] Geheimniß" dem Menschen die Rettung v o m Tod verheißt.

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93

Hamann verweist zu diesem Wort auf eine Stelle in dem Buch von Meiners (s. Anm. 62), wo es im Zusammenhang der Darstellung der Eleusinischen Mysterien heißt: „Die Eingeweihten [...] erhielten im Reiche der Freuden höhere Stufen von Seligkeit, eine genauere Gemeinschaft mit den seligen unsterblichen Göttern und so gar Theilnehmung an deren Herrschaft" (zit. n. HH V, 181). Nicht „gefeyert" bedeutet hier: nicht aufgehört zu arbeiten (vgl. HH V, 239, Anm. 17).

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Zunächst zu „Lucifer". Der Widerspruch der „Vernunft" gegen das ihr gleichgeordnete adiutorium94 der „Schrift" transzendiert die Dimension menschlichen Ungehorsams; er ist nur funktionaler Bestandteil in einer Kette von absichtlich herbeigeführten ,,Mißverständnisse[n]", die alle den einen „Zweck" haben, den „Buchstaben" gegen den „Geist", das sich ergänzende Miteinander verschiedener „Gaben", „Ämter" und „Kräfte" in ein die Güte Gottes infrage stellendes Gegeneinander zu verwandeln, „um unsre Sinne von der Einfältigkeit im Worte zu verrücken und den Frieden Gottes auf Erden dem verbuhlten Geschmack der Vernunft zu versalzen" (224,26-28). Das lauernde „Sollte Gott gesagt haben?" (Gen 3,1) untergräbt ja durch die darin zum Ausdruck gebrachte Bezweiflung der Wahrhaftigkeit göttlicher Anrede zugleich die Verläßlichkeit jeglichen Redens und damit „Treue und Glauben in der ganzen Natur" 95 . Mit der „Einfältigkeit im Worte" (224,26) wird die vertrauensstiftende Einheit von Gesagtem und Gemeintem zerstört 96 ; das ist der Inbegriff derjenigen Gottesferne, die sich für Hamann in der Geschichte vom Turmbau zu Babel urbildlich manifestiert. 97 Selbstüberhebung und Sprachverwirrung bedingen einander bis in den philosophischen Diskurs der Gegenwart hinein. 98 Unmittelbar greifen läßt sich diese Aufhebung der „Einfältigkeit im Worte" für Hamann in dem letzten „Fragment des Wolfenbütteischen Ungenannten" 99 , wo Reimarus die verkündigende Darstellung des Wirkens Jesu durch die „Jünger" als ein dem „Zwecke" Jesu entgegengesetztes Unterfangen bezeichnet. Vielleicht ohne es zu wollen, schafft Reimarus bei seinen Lesern eine Atmosphäre des Mißtrauens gegenüber der Zuverlässigkeit neutestamentlicher Texte, indem er sie fast pausenlos mit den darin enthaltenen Unstimmigkeiten und Widersprüchen konfrontiert. Er fände, 94

95 96

97 98 99

Hamann verweist in einer Fußnote auf „Genesis 11.18" und knüpft damit an den schon in den Londoner Schriften auftauchenden Gedanken des ehelichen Miteinanders von „Vernunft und Schrift" an. Mit adiutorium" übersetzt die Vulgata in diesem Vers das hebräische Wort für „Gehilfin". Wichtig ist allerdings, daß Hamann nicht die „Vernunft" oder die „Schrift" als adiutorium des jeweils anderen, sondern beide in ihrem ursprünglichen Miteinander als „göttliche adiutoria" des Menschen bezeichnet. Die Aussage von M. Seitz, daß für Hamann „Offenbarung und Vernunft [...] Gegensätze im strengsten Sinn" seien (Bezzel, 100), läßt sich daher in dieser Allgemeinheit nicht aufrecht erhalten. N 11,207,lf (Aesthetica). Mit der Verläßlichkeit des gesprochenen Wortes wird, für Hamann wohl der entscheidende Aspekt von Sünde, die Voraussetzung für das Gelingen von Kommunikation zerstört. Indem der Mensch dem göttlichen Wort mißtraut, kann er sich grundsätzlich nicht mehr sicher sein, was ein anderer - Gott oder Mensch - mit seinem Wort meint. Damit tritt der Zustand der Sprachverwirrung ein, der gelingende Kommunikation von einer angemessenen Übersetzung und Auslegung des gesprochenen Wortes abhängig macht (vgl. N 11,198,32-199,3: ,4isiecti membra poetae"). Vgl. N 111,158,8-12. Vgl. N III,302,28ff. G VII, 4 9 6 - 6 0 4 (Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger).

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schreibt Reimarus, „große Ursache, dasjenige, was die Apostel in ihren eigenen Schriften vorbringen, von dem, was Jesus in seinem Leben würklich selbst ausgesprochen und gelehret hat, gänzlich abzusondern." 1 0 0 Zwar geht es ihm um die Freilegung des „würklichen" Gehaltes der christlichen Botschaft, wie er unablässig beteuert. Aber zur Erreichung dieses „Zweckes" scheinen ihm auch gewagte Hypothesen als Mittel recht zu sein, wenn er z.B. die Botschaft von der Auferweckung Jesu als eine Zwecklüge bezeichnet, mithilfe derer die Apostel das Scheitern ihres Herrn zu bewältigen suchten. 101 So erweist die kritische Vernunft des Exegeten im Umgang mit dem Wort Gottes ihre fundamentale Abhängigkeit von einem Diabolos, dessen aufreizende Frage den grundsätzlichen Zweifel an der Zuverlässigkeit des Wortes Gottes zum leitenden Prinzip menschlicher „Selbstverwirklichung" 1 0 2 macht. Diabolisch ist die Aufspaltung des einen Wortes in den gesprochenen, vorgebrachten „Buchstaben" und einen dahinter sich verbergenden, wirklichen „Geist" bzw. Sinn, der möglicherweise etwas ganz anderes oder auch gar nichts meint. Auch Reimarus ist für Hamann damit ein Werkzeug des „Lügenprediger[s]", der die aufgeklärt-kritische Einstellung der Bibel gegenüber dazu nutzt, „dem Zweck Jesu und Seiner Jünger entgegen zu arbeiten". Aber - und das ist die Pointe des zitierten Abschnitts - wie Reimarus in „Konxompax" als Exeget gezeichnet wird, der gleichsam unfreiwillig seinen eigenen Gesetzen widerspricht und deshalb das Gegenteil von dem erreicht, was er erreichen will, so erscheint auch „Lucifer" hier nurmehr als Werkzeug einer höheren Gewalt. Denn für Hamann bleibt das „prophetische Geheimniß" des sanktionierenden Todesfluches proleptisch bezogen auf das „evangelische Geheimnis von der Bestimmung des Menschen zum 2i)v6povia|aüj (einer nicht blos figürlichen, sondern leibhaften Theilnehmung der göttlichen Natur"103, welches die begehrte Folge der verbotenen Tat zur Verheißung endzeitlichen Heils macht: „Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist" (Gen 3,5b). Ohne ihn zu zitieren, interpretiert Hamann diesen Satz, indem er ihm, die Methode des „Lügenpredigerfs]" imitierend, eine ihn verdrehende, mit dem ursprünglich Gemeinten nicht identische Bedeutung unterschiebt: „Im Synonym finden das heilsmäßig Irrige und das heilsmäßig Wahre wörtlich zusam100

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Ebd, 498. Zu den theologiegeschichtlichen Folgen dieser Äußerung vgl. O. Bayer, Zeitgenosse, 160-162. „Es ist bisher gezeiget worden, daß das Neue veränderte Systema der Apostel von einem geistlichen leidenden Erlöser, der vom Tode auferstehen solle [...], in seinem ersten Hauptgrunde, nämlich der Auferstehung von den Toten, erdichtet und falsch sei" (G VII, 565). O. Bayer umschreibt mit diesem Begriff einen der „vier Götzen der Neuzeit", die Hamann „zu Spott" machen will (Leibliches Wort, 108f). Vgl. 2 Petr 1,4 und Offb 3,21.

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men." 1 0 4 Der Verderber wird damit zum Offenbarer des „evangelischen Geheimnisses", welches die Überwindung des von ihm heraufgeführten Verderbens in sich birgt. 105 Hier verschafft sich Hamanns unverbrüchliche Gewißheit Geltung, „daß die Macht des Satans eine schon gebrochene ist" 106 , ja daß sie sich durch die beabsichtigte Untergrabung göttlicher Macht selber untergräbt. Die „göttlich-dramatische Ironie" 107 des Bibeltextes setzt Hamann als stilistische Waffe ein: Selbst im irreführenden, diabolischen Wort - auch in dem eines Reimarus! - zeigt sich das eine Evangelium, welches dem Menschen einen Platz an der Seite Gottes verheißt. Was der Sünder sich mit Hilfe von ,,philosophische[r] Erkenntniß und gesetzlichefr] Gerechtigkeit" (224,21f) selber zu nehmen versucht, bleibt zwar als „blos figürliche" Gottgleichheit dem Todesgericht ausgeliefert. Und doch steht am Anfang der Heilsgeschichte nicht der Triumph des Bösen, sondern der Sieg Gottes über Sünde und Tod, durch den der Mensch zum Teilhaber („leibhafte Theilnehmung der göttlichen Natur") des Lebens wird, das ihm unter dem Gesetz nur als „Schatten" zugänglich war. 1 0 8 Festzuhalten ist: Für Hamann steht die Wirklichkeit des Menschen unter dem fordernden und strafenden „Gesetz der Sünde und des Todes" (Rom 8,1) in einem abbildenden Verhältnis zur Heilswirklichkeit des Evangeliums. Die Gottgleichheit, die der Mensch an sich reißt, ist nicht weniger, aber auch nicht mehr als die „blos figürliche" Antizipation seiner „Bestimmung" mit sowohl gesetzlich-richtendem als auch verheißendem Charakter. Sie muß „dem Zwecke Jesu und seiner Jünger" dienlich sein insofern, als sie den Gottesmord antizipiert, durch den der Sünder von Anfang an auf das Geschehen am Kreuz bezogen bleibt.

3.5 Der „ewige Circul" als Strukturmerkmal des Geschichtlichen Der Sündenfall ist für Hamann der Beginn einer Geschichte, deren Bewegung er mit Metaphern wie der des „symbolischen Rade[s]" 109 oder auch der des „Zifferblattes" 110 einer Uhr beschreibt. Dieser Zirkel ist mit dem „jtpcjTOV IJJEUSOG" der Verwechslung von Erkenntnis und Gottgleichheit vorge104 105

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I. Manegold, Kommentar, 132. „Der Fürst dieser Welt mag so schwarz vorkommen wie er will; so ist er des lieben Gottes sein Diakonus, und der heilige Geist schwebt auch in deßen Kapelle" (ZH IV,340,13; an Herder am 15. Sept. 1781). W. Leibrecht, Gott und Mensch, 148. S.-A. J0rgensen, Zu Hamanns Stil, (WdF 511), 378. „Diese drei Momente: ursprüngliche Verheißung, heidnische Antizipation und moderne Verfehlung umschließt der vieldeutige Ausdruck , 2 w 6 p o v i a n o s ' " (I. Manegold, Konxompax, 154). N 11,200,12 (Aesthetica). ZH 11,416,23 und 417,14.

Der „ewige Circul" als Strukturmerkmal des Geschichtlichen

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zeichnet, und von hier aus versteht Hamann Geschichte als einen zirkulär sich entfaltenden Prozeß menschlicher Selbstüberschreitungen. Mit reformatorischer Terminologie gesagt: Sich der Gerechtigkeit verweigernd, die ihm durch das Wort Gottes zugesprochen ist, gerät der Mensch unter Rechtfertigungsdruck; er setzt alles daran, sein Dasein zu rechtfertigen, wobei es für Hamann keinen Unterschied macht, ob er dies im Medium der „philosophischen Erkenntniß" (224,21f) oder der „gesetzlichen Gerechtigkeit" (ebd) tut. Die Tragik des Menschen unter dem Gesetz besteht darin, daß er seine mittels der Vernunft erkannte „Sünde und Schande" (225,12) nun auch mittels der Vernunft zu überwinden versucht und gerade dadurch das „Leben" verliert, welches ihm angeboten wird. „Durch den Baum der Erkenntnis werden wir der Frucht des Lebens beraubt, und jener ist kein Mittel zum Genuß dieses letzten Endzwecks und Anfangs." 111 Der Raub der „Frucht" mit seinen Folgen bestätigt für Hamann allerdings nicht nur die gänzliche Unverfügbarkeit des „Lebens" durch die „Erkenntnis", sondern auch den Sieg des „Lebens" über die „Sanction und Satzung des Todes" (224,28f). Nicht die „Erkenntnis", die der Mensch sich selber verschafft, sondern das „Leben", welches ihm einzig Gott als Schöpfer und Erlöser zusprechen kann, ist der „Endzweck" und „Anfang" allen Seins, „Endzweck" und „Anfang" auch einer Philosophie, die selbst in ihrer Verfehltheit auf dieses „Leben" hinweisen muß. Die „älteste Schoossünde der Selbstabgötterey" (224,19f) entwickelt sich zu einer „natürlichen Religion" (222,4) der Gottesfeindschaft, die nach Hamann allen Religionen ebenso eigen ist wie der sich in ihnen äußernde Gottesbezug. Diesen Gottesbezug kann Hamann als „das im Herzen und Munde aller Religionen verborgene Senfkorn der Anthropomorphose und Apotheose"112 bezeichnen, traut er doch „jedem vernünftigen Menschen und Geschöpf ein inneres Bedürfnis und inneres Leben der Wahrheit zu." 113 Obwohl sich das „Senfkorn" aufgrund der Sünde nicht entfalten kann, enthält es doch keimhaft die Liebe eines Gottes, die sich noch in dem ihr widerstrebenden Haß des Menschen Geltung zu verschaffen weiß, ja diesen, wie das Kreuz Christi zeigt, zum Werkzeug ihrer Verwirklichung macht. Damit wird deutlich, was Hamann meint, wenn er von dem „ewigen mystischen, magischen und logischen Circul menschlicher Vergöttung und göttlicher Incarnation" (224,6f) redet. Er beschreibt damit eine Kreisbewegung, die den Drang des Menschen nach Göttlichkeit als geschichtstheologische Figur seiner ihm von Gott zugedachten „Bestimmung" (224,31) darstellt. 114 In seiner Mimesis des ,,Lügenprediger[s] Luzifer" (224,34) wird der Sünder 111 112 113 114

ZH VI,492,9-11 (Brief an Wizenmann vom 22. Juli 1786). N 111,192,20-22 (Zweifel und Einfälle). N IV,458,35f (Über das Spinozabüchlein, Hervorh. aufgeh.). Mit HH V, 233f.

198

Einheit von Zufall und Notwendigkeit

z u m Mitverkünder des „evangelischen Geheimnisses" (224,31), und

dies,

o b w o h l er, s e i e s d u r c h „ m y s t i s c h e " , „ m a g i s c h e " o d e r „ l o g i s c h e " Praktiken, sich d e s „Lebens" z u b e m ä c h t i g e n sucht und sich s o m i t als Feind d e s Evang e l i u m s e r w e i s t . W e i l für H a m a n n d i e s e G o t t e s f e i n d s c h a f t nur a l s e i n e d u r c h d i e M e n s c h e n l i e b e G o t t e s g e f o r m t e z u d e n k e n ist, e v o z i e r t für ihn j e d e F o r m „menschlicher Vergöttung"115 -

auch die geschlechtliche Vereinigung

l e i b l i c h e r V o l l z u g der „ E r k e n n t n i ß " g e h ö r t für i h n d a z u 1 1 6 -

als

e i n B i l d der

, , g ö t t l i c h e [ n ] Incarnation". W a s Hamann mit „magisch" und „logisch" meint, dürfte im Zusammenhang seiner Kritik an Starck und Reimarus klar geworden sein. W a s aber meint er mit „mystischer" „Vergöttung"? Es ist diejenige Form menschlicher Selbstüberschreitung, die Christoph Meiners in seiner Religionsphänomenologie übersehen und folglich für die Erfassung des Religiösen nicht berücksichtigt hat. Meiners beschäftigt sich zwar eingehend mit den Phänomenen des K u l t s 1 1 ' und d e s M y t h o s . 1 1 8 Hamann vermißt j e d o c h in dieser „Induction die christliche Mystik ungeachtet ihrer hervorstechenden Analogie mit der heidnischen Telesiurgie" ( 2 2 3 , 2 3 - 2 5 ) . D i e s e „Ähnlichkeit" der polytheistischen Mysterienreligionen mit den v o n Hamann in unanständiger Manier induzierten Ausprägungen der christlichen M y s t i k 1 1 9 besteht im 115

116 117 118 119

An Herder, den er um die Besorgung der Drucklegung von „Konxompax" gebeten hatte, schreibt Hamann zu diesem Ausdruck: „Vergöttung, ein mystisches Kunstwort; das ich nicht gern im Druck verballhornt sehen möchte" (ZH IV,70,17f; Brief vom 18. April 1779). Vgl. I. Manegold, Konxompax, 118. Vgl. HH V, 208f. Vgl. ebd, 210f. Unter den Vorarbeiten zu „Konxompax" finden sich gründliche Studien zur Theosophie, insbesondere zu Böhme und Gichtel (vgl. I. Manegold, Konxompax, 114f). Hamanns Hinweis auf dessen „erbauliche theosophische Sendschreiben" (N 111,223,30-224,3) macht deutlich, daß er an dieser Stelle den Begriff „christliche Mystik" in seiner engsten Bedeutung verstanden wissen will. Normalerweise meint Hamann mit diesem Begriff und dem Adjektiv „mystisch" den allgemeinmenschlichen Drang zur Überwindung von Gegensätzen, der nicht nur das sexuelle Verhalten bestimmt, sondern beispielsweise auch das quasi-religiöse Bemühen des Menschen, ihm gesetzte Grenzen zu überschreiten und damit „nicht nur zum Schrein der mystischen Einheit im allgemeinen Begriff, sondern auch zur anschaulichen Erkenntniß oder Epopsie der allgemeinen Wahrheit hindurchzudringen" (N 111,219,9-11). Alle diese Formen des „Mystischen", für die nach Hamann auch eine ganz und gar unchristliche Sprachlosigkeit typisch ist (vgl. N 111,284,26-29) und zu denen er die „christliche Mystik" offenbar hinzuzählt, bezeugen die sündhafte Verwechslung von „Erkenntniß" - auch Sexualität ist ja eine Form von Erkenntnis! - und „Leben". R. Unger (Hamann und die Aufklärung, 562) und insbesondere J. Nadler sind hier den entgegengesetzten Weg gegangen und haben unter Berufung auf diese Stelle Hamann selber für einen - wenn auch sehr eigenwilligen - Vertreter christlicher Mystik gehalten (vgl. N VI,376 [„Telesiurgie"] und Nadler, J.G. Hamann, 330; kritisch dazu bereits Schoonhoven, HH V, 229-231). Dieses Mißverständnis der „Induction", mit der Hamann ja nicht den kuriosen Beweisgang Starcks widerlegen, sondern ihn durch eine drastische Überbietung in die Zirkelbewegung jeglicher „Mystik" einzeichnen will, hat bei Nadler zu weitreichenden Fehldeutungen des gesamten Hamannschen Denkens geführt (vgl. K. Gründer, HH I, 90-96). Auch die „christliche Mystik" steht wie die heidnischen Mysterien in der Tradition des Sündenfalls, weil sie ei-

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gemeinsamen Merkmal einer entweder durch geschlechtliche Praxis oder durch Metaphern aus dem Bereich der Sexualität symbolisierten „Vereinigung mit der Gottheit" (223,27). Diese bei Meiners fehlende Analogie ist die leibliche und deshalb von Hamann überaus ernstgenommene Seite der Vernunfterkenntnis, auch wenn die „spätantike Definition des Symbols, die er anführt, [ausspricht], daß Zeichen und Bezeichnetes nicht mimetisch gleich, sondern pure Gegensätze sind." 120 Ziel dieser „Induction" ist es, die Ambivalenz von Gesetz und Vernunft, die ich oben aufgezeigt habe, mit der Ambivalenz des Religiösen in Beziehung zu setzen. Nichtig und vergeblich sind für Hamann alle intellektuellen und religiösen Versuche menschlicher Selbstvergottung; nichtig sind Kult, Mythos und Sexus, wenn sie für solche Versuche verwendet werden. Jede noch so sublime Form „menschlicher Vergöttung" ist, „gleich dem ganzen Universo unter der Sonne, ein blendendes Nichts, ein eitles Etwas, dem philosophischen Fluch und Widerspruch der Contingenz unterworfen" (219,1215), gefährlich nur durch die verführerische Kraft ihrer Suggestion. Wichtig ist, daß entsprechende Ausprägungen des Christlichen für Hamann hier keineswegs eine Ausnahme bilden. Zugleich aber gilt, ins Positive gewendet: Alle Religionen, die aufgeklärte Vernunftreligion eingeschlossen, sind „Mysterien" im eigentlichen, d.h. im biblischen Sinne insofern, als ihre Riten und Mythen eine verborgene Bedeutung haben, so daß sie durchaus an der einen Wahrheit, nach der sie streben, partizipieren. Jede Religion birgt in sich ein „Mysterium" (226,14f), eine Teilwahrheit, in der je ein Aspekt der einen „Wahrheit Gottes" (227,17) besonders anschaulich wird. Das „einzige Mysterium des Judentums" (226,14) hat beispielsweise den ,,geoffenbarte[n] Namen" (226,13) Gottes, auch wenn es in einer Weise auf der Einzigkeit und Heiligkeit dieses Namens beharrt, daß er nicht mitteilbar ist. Im Gegensatz dazu tastet das polytheistische „Heidentum" (226,15) nach diesem „Namen", löst ihn dabei jedoch in ein ,,tausendzüngige[s] Mysterium" (226,15) auf, weil jeder Kult hier seine eigene Gottheit produziert. Beide Haltungen sind im natürlichen Menschen gewissermaßen koinzident: Als ,Jude' kennt er den Namen Gottes, spricht ihn aber nicht aus; als ,Heide' kennt er diesen Namen wiederum nicht und umkreist ihn mit einer Vielzahl selbsternannter Gottesnamen. 121 Diesen Selbstwiderspruch stellt Hamann nicht nur bei den sogenannten nichtchristlichen Religionen, sondern auch bei allen Formen aufgeklärter Religiosität fest. Ganz gleich, ob es Reimarus ist, der „die vornehmsten Wahrheiten unsrer naturalisirten Religion auf eine begreifliche Art erklärte und rettete" (225,30f) 122 ,

120 121 122

genmächtig eine Einheit mit Gott herzustellen versucht, die von der am Kreuz gegebenen Einheit schlechterdings ausgeschlossen ist. I. Manegold, Konxompax, 152; vgl. N 111,223,39-42. Vgl. dazu O. Bayer, Die Geschichten der Vernunft, 68, Anm. 162. Anspielung auf ein 1754 von Reimarus veröffentlichtes Buch mit dem Titel: „Vornehmste Wahrheiten der natürlichen Religion auf eine begreifliche Arte erkläret und gerettet" (vgl. HH V, 243, Anm. 5).

200

Einheit von Zufall und Notwendigkeit

ob Starck mit seinen abstrusen Vorstellungen von einer aufgeklärten Mysterienreligion 123 oder Lessing mit seinem sorgfältig verschleierten Wahrheitsbegriff 124 : Sie alle reden von einem ,JLns rationis" (226,12f), welches, gerade weil es sich nicht nennen läßt, in zahllosen Kulten verehrt wird. Der Deismus der natürlichen Religion schlägt um in den Polytheismus religiöser Individualität; denn da es für Hamann „die" Vernunft nicht gibt, muß es soviel natürliche Religionen geben, als es „Vernünfte" gibt. 125 Es geht in „Konxompax" also nicht nur, wie E.J. Schoonhoven meint, um den Kontrast von polytheistischem Heidentum der Antike und Gegenwart einerseits und der geoffenbarten Wahrheit des Christentums andererseits. 126 Es geht um den Aufweis des einander widerstrebenden Miteinanders von Verfehlung und Antizipation der einen, allerdings mit dem Namen Jesu Christi unauflöslich verbundenen Wahrheit durch den Menschen, der unter dem „Gesetz" von vernünftiger und geschlechtlicher „Erkenntniß" steht. Die Existenz dieser „natürlichen Religion" 127 will Hamann beweisen, einer Religion, die zwar nach der Wahrheit fragt, sich aber der Antwort Gottes auf diese Frage verschließt. 128 Es ist die Religion des „Unglaubens" 129 , der Sünde und des Gesetzes, die sich durch die Identifizierung von antizipierender „Erkenntniß" - dazu gehören für Hamann alle Formen einer „blos figürlichen [...] Theilnehmung der göttlichen Natur" (224,32f) - mit dem realen „Leben", mithin durch die Identifizierung von Gesetz und Evangelium immer neu hervorbringt und deshalb seit ihren Anfängen im Kreis dreht. Daß dieser Drang als Ausdruck menschlichen Unglaubens sich nicht nur negativ zu der „Bestimmung" (224,31) verhält, die dem Menschen zugedacht ist, wird von Hamann deutlich hervorgehoben, und seine sich daraus ergebende Verhältnisbestimmung von nichtchristlichen Religionen und dem christlichen Glauben läßt 123 Ygj jsj HI,225,35f: „[...] weise Frau, die Götter aus der Erden steigen sähe". 124

Vgl. N 111,225,37-226,2: „Verschleyerte Isis". „Es gibt keine Vernunft; es gibt nur Vernünfte" (O. Bayer, Autorität und Kritik, 39). 126 y g j jjg zusammenfassenden Thesen in „Natuur en Genade", die ganz auf der Gegenüberstellung von „natuurlijke en geopenbaarde religie" beruhen (200f). I. Manegold macht mit Recht darauf aufmerksam, daß der für die Deutungen Nadlers, Blankes und Schoonhovens konstitutive Gegensatz von heidnischer „Vernunft" und christlichem „Geheimnis" eigentlich „eine differenzierte Fassung des Schemas: Rationalismus - Irrationalismus" darstellt, „welches die ältere Hamann-Forschung bereitstellte" (Konxompax, 135) und welches heute allgemein, mit Ausnahme des neuen Hamann-Buches von Isaja Berlin, als überholt betrachtet wird (vgl. Anm. 86). Vgl. dazu auch K. Gründer, HH I, 134f und M. Seils, Aspekte, 98-105. 127 Das positive Verständnis dieses Begriffes lehnt Hamann ab: „Erstl. natürl. Religion ist für mich was natürl. Sprache, ein wahres Unding, ein ens rationis. Zweytens, das was man natürl. Religion nennt, ist eben so problematisch u. polemisch als Offenbarung" (ZH IV,195,13-16; an Herder am 25. Juni 1780). 128 Vgl. N 11,206,8-10. 129 „Auch Unglaube ist Religion, die natürlich[st]e und stärkste" (ZH VI,231,2f; an Jacobi am 15. Jan. 1786). 125

Zum Verhältnis von Kontingenz und Glaubenswahrheit

201

sich daher nicht als Vorwegnahme eines zentralen Anliegens der Dialektischen Theologie verstehen. 130 Für ihn ist auch das Christentum eine geschichtliche Religion mit Ausprägungen, die ,,Analogie[n] mit der heidnischen Telesiurgie" (223,24f) aufweisen, während umgekehrt auch die sog. „natürliche Religion" (222,4) des Vernunftglaubens durchaus Offenbarungscharakter hat und insofern in einer dem antiken Heidentum vergleichbaren Weise an der Wahrheit des Christentums partizipiert. Auch hier zeigt sich das hinter dem „Zifferblatt" 131 der sichtbaren Welt verborgene Strukturprinzip des Kontingenten: Es ist die Sünde „menschlicher Vergöttung", die noch in ihren modernen Versionen auf die heilvolle Durchbrechung des „Circuls" durch die „göttliche Incarnation" hinweist. Dies ist m.E. der zentrale Gedanke des Hamannschen Religionsverständnisses, der auch für seine Kritik an Lessing, der es sich nun zuzuwenden gilt, von fundamentaler Bedeutung ist.

3.6 Zum Verhältnis von Kontingenz und Glaubenswahrheit Das Gegeneinander von Wahrheitsliebe, ohne die es nach Hamann weder begründetes Denken („philosophische Erkenntniß") noch Handeln („gesetzliche Gerechtigkeit") geben kann, und der Infragestellung der Wahrheit durch eine unvernünftige Vernunft ist als Grundmuster des „mystischen, magischen und logischen Circul[s]" (224,6) erkennbar geworden. Der Zirkel einer gleichsam auf der Stelle tretenden Geistesgeschichte konzentriert sich im Selbstwiderspruch des Menschen, der aus Liebe zur Wahrheit die Freiheit verliert, um sogleich im Griff nach der Freiheit die Wahrheit wieder aufs Spiel zu setzen. Daß der Dichter und Philosoph Gotthold Ephraim Lessing in hervorzuhebender Weise ein Liebhaber der Wahrheit war, stand für Hamann außer Frage. Er schätzte Lessing wohl richtig ein, wenn er in einem Brief an Herder über ihn schreibt, er sei ein „Mann, der selbst gedacht hat und dem es ein Ernst gewesen eine neue Bahn zu brechen." 132 Auch Lessing hat die Zirkelbewegung einer Theologie, die sich der religiösen Wahrheit mithilfe des rationalen Beweises zu vergewissern suchte, klar erkannt. Durch die Herausgabe der „Fragmente" wollte er wohl vor allem zeigen, daß sich eine vernünftig 130

131 132

S.-A. J0rgensen sieht in „Konxompax" drei Problemkreise, von denen der erste („Verhältnis der heidnischen Mysterienreligionen zum Christentum") wohl „der theologisch interessanteste" sei, „weil sich da eine Verbindung zur dialektischen Theologie in ihrem Anfangsstadium, zu der für die evang. Theologie [...] wichtigen Diskussionen um Karl Barth mühelos ziehen läßt" (J.G. Hamann, 80f). ZH 11,416,23 und 417,14. ZH V,403,13f (an Herder am 28. März 1785). Vgl. dazu auch W. Oelmüller, Lessing und Hamann, 340f.

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bewiesene Wahrheit ebenso vernünftig widerlegen läßt. Einer solchen „Theologiekritik", die sich „als Kritik der theologischen Vernunft" 133 verstand, hat Hamann seine Zustimmung nicht verweigert. Und doch äußert er im Kontext der eben zitierten Briefstelle auch seine Enttäuschung darüber, daß Lessing als der „Genius unsers Seculi spornstreichs sich in das Papsttum wieder stürzt besonders dadurch, daß man dem Volk die Bibel durch alle mögl. Sophistereyen zu verleiden und aus den Händen zu spielen sucht -" 1 3 4 . Diese Distanzierung läßt sich auch in „Konxompax" greifen. Hamann bezieht sich bereits hier, obwohl er sich 1779 noch kein abschließendes Urteil über Lessing gebildet hatte, gleichsam durch Starck und Reimarus hindurch auch kritisch auf Lessing. 135 Denn dieser hat trotz seiner distanzierten Haltung im Fragmentenstreit der biblischen Offenbarungsreligion gegenüber Stellung bezogen, und zwar für Hamann eine von seinem Standpunkt aus zu kritisierende Stellung, von der er hoffte, sie korrigieren zu können. Hamanns Grundfrage an Lessing, die sich für ihn aus der Lektüre der ihm bekannten theologiekritischen Schriften 136 ergab, lautet: Wie kann man nach der Wahrheit der Religion suchen und zugleich aus Angst vor dem, was Lessing „Bibliolatrie" 137 nennt, die Bibel als Gestalt der Wahrheit ablehnen? Ist die Bibel wirklich nur ein menschliches Buch, das sich von der darin mitgeteilten Wahrheit abstreifen läßt wie das Kleid von dem, den es einhüllt? Muß, wenn sich „die Wahrheit [...] in abstracto" doch nicht fassen läßt 138 , nicht ein neues Kleid für sie geschneidert werden?

3.6.1 Das Problem des Verhältnisses von Vernunft und Geschichte Um die Schärfe der Kritik Hamanns an Lessing verstehen und von derjenigen an Reimarus unterscheiden zu können, muß etwas ausgeholt werden. Lessing hat in der Schrift „Beweis des Geistes und der Kraft" nicht, wie Reimarus, die „Unmöglichkeit einer Offenbarung" 139 überhaupt behauptet. Hatte Reimarus noch im Gefolge von „[...] Spinoza den absoluten Wahrheitswert der religiösen Offenbarung durch den Einblick in ihre Geschichte zu bestreiten

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Vgl. J.v. Lüpke, W e g e der Weisheit, 12-17. ZHV,403,15-17. Mit HH V, 173. Es sind dies die in „Konxompax" namentlich erwähnten Schriften: „Über den Beweis des Geistes und der Kraft" (G VIII, 9-14), „Eine Duplik" (G VIII, 30-101) „Lessings nötige Antwort auf eine sehr unnötige Frage des H m Hauptpastor Goeze" (G VIII, 309313) und „Ernst und Falk" (G VIII, 451-488). G VII, 667-672. N III,131,25f (Prolegomena). Vgl. G VII, 344-388 (Zweites Fragment).

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gesucht, so will Lessing durch diese Einsicht eine Restitution, eine Rettung der Religion vollziehen." 140 Tatsächlich geht es ihm um die Frage, ob eine auf bloßen „Nachrichten" beruhende, also nicht unmittelbar wirkende Offenbarung Anspruch auf Autorität erheben könne, ob man also die Wahrheit der Religion unter Hinweis auf diese Autorität gleichsam sichern, beweisen könne. 141 Lessing stellt die historische Zuverlässigkeit dieser „Nachrichten [...] von Weissagungen und Wundern" nicht grundsätzlich in Frage 142 , bestreitet aber definitiv, „daß Nachrichten von erfüllten Weissagungen" selbst „Weissagungen" und „daß Nachrichten von Wundern" selbst „Wunder" 143 seien. Jene im Neuen Testament erzählten Ereignisse, in denen der „Geist" in der Unmittelbarkeit zeitlicher Gegenwärtigkeit wirkte, seien „zu menschlichen Zeugnissen von Geist und Kraft herabgesunken" 144 . Sie können, so beeindruckend und „unwidersprechlich" sie sein mögen, nicht „durch ein Medium wirken, das ihnen alle Kraft benimmt" 145 . Weil das materielle „Medium" dem Raum der Kontingenz, der „Beweis des Geistes" hingegen dem des Notwendigen zuzuordnen ist, gilt der berühmte Satz: „Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftswahrheiten nie werden." 146 Lessing beschreibt das hermeneutische Grundproblem der Theologie mit richtungsweisender Präzision als das Problem des Verhältnisses von Vernunft und Geschichte. Gemeinsamkeiten mit Hamann sind dabei nicht zu übersehen, wenn er z.B. deutlich macht, daß die „Wahrheit" der Religion nicht „durch die Feststellung historischer Tatsachen bewiesen werden könnte" 147 , weil zum Glauben immer auch die „subjektive Erfahrung" des Geistes gehöre. „Tatsachen" sind auch für Hamann die „Geschichtswahrheiten" ja „nicht so sehr im Sinne der objektiven Begründung historischen Wissens" 148 , zumal 140 141 142

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E. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, 256f. Vgl. O. Bayer, Zeitgenosse, 175. „Wer leugnet es - ich nicht daß die Nachrichten von jenen Wundern und Weissagungen eben so zuverlässig sind, als nur immer historische Wahrheiten sein können? - Aber nun: wenn sie nur eben zuverlässig sind, warum macht man sie bei dem Gebrauche auf einmal unendlich zuverlässiger?" (G VIII, 11, Beweis des Geistes). G VIII, 10. Ebd. Ebd. Ebd, 12. Zum Verständnis dieses Satzes vgl. J.v. Lüpke, W e g e der Weisheit, 82-88. V. Lüpke zeigt, daß Lessing mit dieser Gegenüberstellung zweier (logisch) nicht vermittelbarer Kategorien von Wahrheit generell die Möglichkeit „bestreitet", die Wahrheit der Religion „sowohl unter dem Aspekt der sinnlichen als auch unter dem der rationalen Evidenz" (85) beweisen zu können. Im Gegensatz zu einem bisher gängigen LessingVerständnis hieße dies, daß Lessing den „notwendigen Vernunftswahrheiten" im Sinne „apriorisch evidenter Wahrheiten" (84) ebenso wenig Beweiskraft für die „innere Wahrheit" der Religion einräumt wie der biblischen Offenbarung. Dieses und das folgende Zitat: J.v. Lüpke, Hamann und die Krise, 378, Anm. 107. Ebd, vgl. N 111,304,33.

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für ihn, wie übrigens auch für Lessing, alle historischen „facta" ja selber „auf Glauben [beruhen]" 1 4 9 . Sie sind es vielmehr in dem unverrückbaren „Sinne dessen, was ,Gott zum Besten der Menschen gethan' hat" 1 5 0 und was der Glaubende selbst als verläßlich und wahr erfahren hat. Ohne diesen Glauben, hier stimmt Hamann Lessing ohne Ironie zu, können „Buchstabe und historischer Glaube desselben weder Siegel noch Schlüssel des Geistes seyn" (227,13f). Der biblizistische Fundamentalismus ist auch für ihn eine Larve desjenigen Rationalismus, den zu bekämpfen er beabsichtigt. Die Frage für Hamann ist nur: Wenn, wie Lessing scharf erkennt, die „zufälligen Geschichtswahrheiten" der Bibel keinerlei Beweiskraft für die religiöse Wahrheit im Sinne logischer Beweisführung haben, ist christlicher Glaube dann etwa auch ohne „Buch" und ohne „Buchstaben" möglich, wie Lessing behauptet? 1 5 1 Läßt nicht seine unbestreitbare Aussage, daß „zufällige Geschichtswahrheiten [...] der Beweis von notwendigen Vernunftswahrheiten nie werden [können]" 1 5 2 , zumindest die Möglichkeit eines Christentums ohne Offenbarung zu? Um Lessings Position in dieser Frage zu verdeutlichen, ziehe ich seine Schrift „Erziehung des Menschengeschlechts" heran, obwohl Hamann zur Zeit der Abfassung von „Konxompax" nur die bis dahin erschienenen Paragraphen 1-53 kennen konnte. 153 Zwar vermag nach Lessing eine „Erziehung" durch „Offenbarung" 154 durchaus jene „Reinigkeit des Herzens" 155 zu fördern, die für ihn, in einer der eschatologischen Ausrichtung Hamanns zumindest formal vergleichbaren Zukunftsbezogenheit, die Bestimmung des Menschen darstellt. Jedoch „gibt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde" 156 , weil - so verstehe ich diese Stelle - „Offenbarung" und „Vernunft" nur gleich viel (und gleich wenig) zu der von Lessing intendierten „Erziehung" beitragen können. Wenn, wie Falk in den Freimaurergesprächen von dem Geheimnis der „Freimaurerei" sagt, „man auch durch eignes Nachdenken eben so wohl darauf verfallen könne, als man durch Anleitung darauf geführet wird" 157 , dann bedarf die religiöse Wahrheit, um die es hier geht, keiner externen Instanz mehr. Das Wesen von Religion wäre dann zu bestimmen als der alle kontingenten Erscheinungsweisen von Religion in sich begreifende und letztlich überwindende Geist versöhnten Miteinander, wie er im „Nathan" vorgestellt wird.

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ZH VII,487,17f (an Jacobi am 24. Mai 1788). J.v. Lüpke, Hamann und die Krise, 378, Anm. 107; vgl. N 111,312,10. Vgl. G VIII, 136 („Der Buchstabe ist nicht der Geist, und die Bibel ist nicht die Religion" [Axiomata III]). G VIII, 12 (Beweis des Geistes). Vgl. G VIII, 706f. G VII, 477 / G VIII, 490 (Erziehung § 4). G VIII, 507 (Erziehung § 80) G VII, 477 / G VIII, 490 (Erziehung § 4). Vgl. aber die dem offenkundig widersprechende These § 77 (ebd, 507) und dazu J.v. Lüpke, Wege der Weisheit, 184f, Anm. 90. G VIII, 453 (Erstes Gespräch).

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Ganz so unüberbrückbar scheint dann aber der „garstige breite Graben" 1 5 8 nicht zu sein, den zu überspringen Lessing sich nicht zutraut. Er macht ja selber deutlich, daß „die Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftswahrheiten [...] schlechterdings notwendig [sei], wenn dem menschlichen Geschlechte damit geholfen sein soll." 1 5 9 Das heißt: Wenn weder Vernunft noch Offenbarung eine apriorische Beweiskraft für die religiöse Wahrheit haben, so ist doch dem Glaubenden nicht zuzumuten, mit der Bibel gegen die Vernunft zu glauben. Im „Sprung" kann und soll der „Graben" zwar nicht überwunden werden. 1 6 0 Wohl aber im Prozeß der Wahrheitsfindung, den man als Prozeß der Entflechtung von Wahrheit aus den Verstrickungen des Kontingenten beschreiben könnte und von dem zu erwarten ist, daß er ihre Vernünftigkeit zumindest aposteriorisch erweist. Dieser zu erwartende Erweis berechtigt den Suchenden schon jetzt dazu, sich dem paradoxen Gedanken der Vermittelbarkeit des „Geistes" im Medium des „Buchstabens" zu widersetzen. Folglich fordert Lessing auch schon jetzt die „Emanzipation vom Buchstaben der Bibel" 1 6 1 . Diese Emanzipation „setzt die Gegenwart des Geistes voraus, dessen Kraft Vernunft und Herz des Menschen bestimmt, ohne noch einer äußeren Vermittlung zu bedürfen." 1 6 2

3.6.2 Der Zusammenhang von Bibel und Inkarnation Eben dieses „Verständnis des Geistes" ist „zwischen Lessing und Hamann strittig", genauer: „das Verhältnis von Wort und Geist." 1 6 3 Hamann ist der Meinung, daß Lessing mit seiner Ablehnung der Bibel als eines gegenwärtig wirksamen Heilsmittels („Speise und Arzney": 225,21f) nicht etwa ein Akzidens, sondern die Substanz des christlichen Glaubens, nämlich die Inkarnation aufs Spiel setzt. Er schreibt: „Wie nun! Soll eine scheinheilige Philosophie und hypokritische Philologie das Fleisch kreutzigen und das Buch ausrotten, weil Buchstabe und historischer Glaube desselben weder Siegel noch Schlüssel des Geistes seyn kann? Wird aber der mystische Sinn der Schrift durch die Engel des Lichts erfüllt, ohn daß sie wissen, was sie böses thunl -l, noch unterscheiden den Leib des HErrn von Kelch und Tisch der Dämonen: so wird zwar die Wahrheit Gottes durch die innerefn] Lügen oder Widersprüche der Vernunft herrlicher zu Seinem Preis: aber ihre Verdammniß ist ganz recht; - und daß der als ein Sünder gerichtet werde, der übel thut, auf daß Guts herauskomme - Oder sollen wir außer der Littera scripta noch einer andern Regulae LesbiaeD warten? - " (227,11-22). 158 159 160 161 162 163

G VIII, 13 (Beweis des Geistes). G VIII, 506 (Erziehung § 76). Vgl. J.v. Lüpke, W e g e der Weisheit, 87. J.v. Lüpke, Hamann und die Krise, 354. Ebd. O. Bayer, Zeitgenosse, 175.

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Der letzte Satz, eine ironisch auf Lessings Gewichtung der „Regula fidei" anspielende Frage, läßt die kritische Bezugnahme der ganzen Passage auf Lessing, dessen „scheinheilige Philosophie" hier in einem Atemzug mit der „hypokritischen Philologie" des Reimarus genannt wird, klar hervortreten. Lessing hatte in seiner Auseinandersetzung mit Goeze davon gesprochen, daß „nicht die Schrift", sondern die „Regula fidei [...] der Fels [sei], auf welchen die Kirche Christi erbauet worden." 164 Hamann hält es jedoch für widersinnig, neben der bereits geschriebenen Bibel („Littera scripta"), die seiner Ansicht nach allen Anforderungen an ein Bekenntnis gerecht wird, noch andere Glaubensgrundlagen ins Spiel bringen zu wollen. Auf ein solches Glaubensbekenntnis, das sich wie eine „Regula lesbia" „schmiegsam den verschiedensten Zeiten und Umständen anpaßt und trotzdem den Bau des Ganzen bestimmt" 165 , kann man seiner Ansicht nach lange „warten"; es gibt nichts, was der Bibel an Weite und Aktualität vergleichbar ist. Wieder zeichnet Hamann, um nun seinerseits die unaufhebbare Notwendigkeit der Bibel und der darin überlieferten „zufälligen Geschichtswahrheiten" für den Glauben zu erweisen, das Schema von Widerspruch und der indirekten Bestätigung des Widersprochenen durch diesen Widerspruch. Er wirft Lessing vor, daß dieser, wenn auch im Interesse des Erweises der Unverfügbarkeit des göttlichen „Geistes" durch den ,,historische[n] Glaube[n]", mit der Infragestellung der Bibel die einzig gültige Grundlage des christlichen Glaubens verwirft. Ohne es zu wissen - das jedenfalls glaubt Hamann ihm zugute halten zu müssen - reiht sich Lessing damit ein in die Schar jener trügerischen „Engel des Lichts", die im unerlaubten Zugriff auf die Offenbarung „das Fleisch kreutzigen und das Buch ausrotten" und damit den Gott zum Schweigen bringen, der sich in Christus mit dem „Fleisch" des Menschen und im Geist mit dem „Buchstaben" der Schrift verbunden hat. Natürlich, dies gesteht Hamann unumwunden zu, ist die fides historica von jenem „inneren Gefühl" zu unterscheiden, welches die „innere Wahrheit" der Religion für sich gelten läßt. 166 Auch Hamann betont ausdrücklich das johanneische fleisch und Buch ohne Geist ist kein Nütze" (227,9f) 167 , auf welches Zwingli im Streit mit Luther immer wieder hinwies und das auch für Lessings Argumentation im Streit mit Goeze eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Allerdings ist für Hamann die Betonung der „inneren Wahrheit" nur stimmig in Verbindung mit der von Luther betonten Einsicht, daß Gott sein heilsschaffendes Wirken an die Materien von Wort und Sakrament gebunden hat. Die „innere Wahrheit", die Lessing als dem Menschen gnaden164

Vgl. G VIII, 311 (Lessings nötige Antwort §§ 6f). HH V, 255. 166 G V I I I j i 4 9 _ i 5 9 (Axiomata X); vgl. dazu J.v. Lüpke, W e g e der Weisheit, 66ff („Zum Begriff der inneren Wahrheit"). 167 Vgl. Joh 6,63.

165

Zum Verhältnis von Kontingenz und Glaubenswahrheit

207

haft eingestifteten „Antrieb" 168 dem intellektuellen bzw. moralischen Vermögen vorordnet 169 , gerät für Hamann ohne diese Anbindung an das Medium ihrer Mitteilung in einen unaufhebbaren Gegensatz zu dem universal gegenwärtigen „Geist", der dem Menschen in seiner Zufälligkeit und Individualität gleichsam buchstäblich zu entsprechen sucht. „Fleisch" und „Buch" sind, obwohl dem „philosophischen Fluch und Widerspruch der Contingenz unterworfen" (219,14f), sakramentale Träger des „Geistes"; wer sie beiseite schiebt, sitzt nicht mehr am Tisch des sich schenkenden Gottes, sondern am „Tisch der Dämonen", wie Hamann drastisch formuliert. Hinter Lessings Infragestellung der Bibel als alleiniger Grundlage des Glaubens sieht Hamann offenkundig eine noch viel einschneidendere Gegnerschaft. Denn die „Depotenzierung des biblischen Wortes" 170 als eines gegenwärtig wirksamen Heilsmittels ist für ihn gleichbedeutend mit der subjektiven Verachtung des im Sakrament dargebotenen Christus. Hamann sieht in ihr eine Geistesverwandschaft mit der von Paulus in 1 Kor lOf kritisierten Haltung, die „den Leib des Herrn von Kelch und Tisch der Dämonen" 171 nicht zu unterscheiden vermag und folglich auch „Christus mit Lucifer" (223,12) 172 und die „göttliche Kraft und göttliche Weisheit des Evangelii" (223,13f) 173 mit den „ewigen Regeln" (ebd) einer verführten Vernunft verwechselt. Indem Lessing das „Buch" zurückweist, zeigt er sich auch als Verächter des von Gott angenommenen ,,Fleisch[es]", und seine späteren Aussagen zur Christologie werden diesbezüglich eine deutliche Sprache sprechen. 174 Schon deshalb will Hamann Lessings „scheinheilige Philosophie" unter das von Paulus entlehnte Verdikt stellen: „So wird zwar die Wahrheit Gottes durch die innere[n] Lügen und Widersprüche der Vernunft herrlicher zu Seinem Preis: aber ihre Verdammniß ist ganz recht." 175 Lessing selber hatte ja mit der Herausgabe der „Fragmente" gewissermaßen absichtlich übel getan bzw. tun wollen, „auf daß Guts herauskomme". Das erspart ihm aber nicht, daß sich die von ihm heraufbeschworene Krise der Theologie nun auch gegen ihn selbst wendet, so daß auch er „als ein Sünder gerichtet" wird, auch wenn seine Sünde, wie alle Sünde, „der Ehre Gottes dienen muß" 176 . 168

G VIII, 455 (Ernst und Falk); vgl. auch Hamanns Zitat dieser Stelle in N 111,222,32-223,3. Vgl. J.v. Lüpke, Wege der Weisheit, 150-157 („Die Begründung der Moralität im Begriff der Gnade"). 170 J.v. Lüpke, Hamann und die Krise, 363. 171 Vgl. 1 Kor 10,21 und 11,29. 172 Ygj 2 Kor 6,15. Hamann ändert das von Paulus verwendete „Belial" in „Lucifer", um seine Gegner damit „ironisch als Bringer des falschen Lichts der Aufklärung" ( N VI, 232) zu bezeichnen. 173 Vgl. 1 Kor 1,24. 174 „Ob Christus mehr als ein Mensch gewesen, das ist ein Problem" (G VII, 711; Die Religion Christi § 1). 175 Vgl. Rom 3,7f. 176 HH V, 255. 169

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Einheit von Zufall und Notwendigkeit

Hamann hat gesehen, daß Lessing mit der „Bibliolatrie" 177 auch das zu beseitigen droht, was in jüngster Zeit von Dorothee Solle und Eugen Drewermann übereinstimmend als „Christolatrie" angeprangert worden ist 178 , so daß der von ihm gezeichnete Bogen durchaus noch weiter gespannt werden könnte. Die „Ausrottung" des Buches impliziert die „Kreuzigung" des Fleisches und umgekehrt. Aber im darin sich äußernden Widerspruch sieht Hamann „die Wahrheit Gottes", der am Kreuz den Widerspruch erträgt, figürlich bestätigt: Der „mystische Sinn der Schrift" 179 wird „durch die Engel des Lichts erfüllt".

3.6.3 Der sakramentale Charakter der biblischen Heilsgeschichte Hamann rückt die Theologiekritik Lessings ebenso wie die Offenbarungskritik des Reimarus in die metakritische Perspektive des Kreuzes Christi. Dieses, als „Baum des Lebens" 180 nicht anerkannt, wird für den „Sünder" zu einem „Baum der Erkenntniß [...], dessen faule Früchte und kahle Blätter weder zur Speise und Arzney noch zu Schürzen dienen" (225,20f). Wenn das „Geheimnis" der „inneren Wahrheit" rein innerlich bleibt, sich also nicht richtend und rechtfertigend äußert, dann vermag es den Schaden der Sünde nicht einmal notdürftig zu bedecken (vgl. Gen 3,7), geschweige denn zu heilen (vgl. Hes 47,12). „Speise und Arzney" für den Menschen kann einzig das auf „Fleisch" und „Buch" Gottes weisende ,floc est Corpus meuml" (218,30) sein, auf welches Hamann gegenüber Reimarus und Lessing in bewußter Nachahmung der schroffen Geste Luthers gegenüber Zwingli hinweist. Das „Corpus" der „inneren Wahrheit" ist die mit allen Sinnen zu schmeckende Gegenwart des Gekreuzigten im Sakrament des Abendmahls, welches die Güte Gottes in ihrer Tatsächlichkeit bezeugt. Für die Frage des Verhältnisses von Vernunft und Geschichte heißt das: Hinter der Zufälligkeit des Geschichtlichen, was so und auch anders hätte geschehen können, verbirgt sich die Gegenwart dessen, der nur so und nicht anders sein will. Weil diese Gegenwart verborgen ist wie Leib und Blut Christi in den Elementen des Abendmahls, fordert sie Glauben, und zwar nicht nur im Sinne einer subjektiven Gewißheit, sondern auch im Sinne einer vertrauensvollen Bejahung der objektiven Faktizität göttlicher Anrede in den Ele177

178 179 180

S. Anm. 137. Höchst bezeichnend ist die in diesem Fragment überlieferte Kritik Lessings an Luther. Tadelnswert sei, so Lessing, daß dieser „die Heilige Schrift mehr als einmal Gott genennet" habe, aber „noch weit anstößiger" sei Luther ihm „an einer anderen Stelle, wo er sagt, daß die heilige Schrift Christus geistlicher Leib sei, und eine solche Crudität mit seinem treuherzigen Wahrlich besiegelt" (Bibliolatrie, 667f). In einem Rundfunkgespräch, das am 31. März 1994 im Südwestfunk ausgestrahlt wurde. „Mystisch" heißt hier soviel wie „verborgen". Vgl. ZHV,329,9-11.

Zum Verhältnis von Kontingenz und Glaubenswahrheit

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menten der biblischen Heilsgeschichte. Wenn Gott sich in Christus mit dem Zufälligen verbunden hat, wenn er in ihm selber zu einem ,,physische[n] Factum" 181 und zu einem ,,politische[n] Phänomenon" 182 geworden ist: Dann partizipieren auch die Zufälligkeiten einer Offenbarung, die ja wahrhaftig „der Beweis von notwendigen Vernunftswahrheiten nie werden können" 183 und es auch nicht sollen 184 , an der heilsgeschichtlichen Notwendigkeit der darin sich mitteilenden Wahrheit. „Ohne die Zufälligkeit als Prädikat der Geschichtswahrheiten zu leugnen, will Hamann die Präsenz des göttlichen Geistes im Medium der Kontingenz zu verstehen geben." 185 Die „göttliche Kraft und göttliche Weisheit" (223,13f) ist nicht mit dem „Buch" der Bibel und auch nicht mit dem „Fleisch" des Gekreuzigten identisch. Aber weil sie sich nicht anders als durch „Fleisch" und „Buch" mitteilt, ist sie ohne diese sakramentalen media nicht zu haben und auch nicht zu glauben. Sie sind das „hoc est Corpus meum", in dem von Anbeginn an die Geschichte liebender Selbsthingabe Gottes an den Menschen verborgen ist. Die kritische Energie desjenigen ,,Hauptsturm[s]", den Reimarus mit seinen „Fragmenten" auf die „christliche Religion unternommen hat" 186 , sieht Hamann von Lessing nicht in positive Energien gewandelt. Mit seiner epochemachenden Entscheidung, die Wahrheit der Religion („Geist") im Interesse des Erweises ihrer Nicht-Beweisbarkeit und Nicht-Widerlegbarkeit von der Faktizität ihrer geschichtlichen Vermittlung („Buchstaben") zu trennen 187 , weicht er eben dem Skandalon der christlichen Heilsbotschaft aus, welches sich für Hamann als communicatio von Kontingenz und Wahrheit auch philosophisch artikulieren läßt. Vom Ereignis der Menschwerdung Gottes her kann das Zufällige auch dann wahr sein, wenn sich dessen WahrSein dem Wahrheitsbegriff der Vernunft widersetzt. 181

Hamann spielt mit diesem Ausdruck auf eine briefliche Äußerung J.D. Semlers an, nach der dieser „das physische factum der Auferstehung dahin gestellt seyn" lassen wollte (vgl. ZH IV,54,24f mit ZH IV,70,5-9). 182 Hier steht eine Äußerung Lessings im Hintergrund, wonach das Christentum „durch die Predigt der Auferstehung Christi über die heidnische und jüdische Religion gesieget hat" (G VIII, 40; Eine Duplik). 183 Q VIII, 12 (Beweis des Geistes), wozu Hamanns radikalisierend ausgeweitetes Zitat dieses Satzes zu vergleichen ist ( N 111,218,26-29). J.v. Lüpke hat in seiner Interpretation die Momente dieser Übereinstimmung sorgfältig herausgehoben, „damit der Konflikt zwischen Lessing und Hamann nicht auf der falschen Ebene lokalisiert wird" (Hamann und die Krise, 360). Für Lessing „zeigt der Terminus .zufällige Geschichtswahrheiten' " ebenso wie für Hamann „die Grenze historischer Erkenntnis an. Er schließt jedoch nicht die ontologische Behauptung in sich, daß alles Geschichtliche grundlos, das Produkt des blinden Zufalls sei" (J.v. Lüpke, W e g e der Weisheit, 82). 184

185 186 187

Ein solcher Beweisgang wäre im Sinne der Logik eine „|XETaßaoig ei? aXAo yevog" (G VIII, 13; Beweis des Geistes). J.v. Lüpke, Hamann und die Krise, 363. G VIII, 31 (Eine Duplik). Vgl. G VIII, 136 (Axiomata III).

210

Einheit von Zufall und Notwendigkeit

3.7 Zum Verhältnis von Judentum und Heidentum Daß Hamann mit seiner scharfen Kritik an Lessing diesen nicht von sich stoßen, sondern zur „Unterscheidung und Selbstklärung" 188 ermuntern wollte, zeigen die eigenartig verschlüsselten „sibyllinischen Liebeserklärungen" 189 , mit denen er am Schluß von „Konxompax" um die Freundschaft des Kritisierten wirbt. Gleichwohl legt Hamann mit seiner Parallelisierung von „Fleisch" und „Buch" (227,12) den Nerv der Theologiekritik Lessings frei: Nicht an den Grundregeln der Logik, sondern am christologischen Bekenntnis trennen sich ihre Wege. Nur wer das „Fleisch" des Menschgewordenen in seiner Verletzlichkeit und Anfechtbarkeit bejaht, kann auch dem ,,Buchstabe[n]" (227,13) der Bibel trotz seiner menschlichen Gestalt eine Bedeutung zuerkennen. 190 Dabei darf nicht übersehen werden, daß sich bei Lessing, wie Johannes von Lüpke geltend gemacht hat, der Glaube an „eine göttliche Vorsehung" 191 als theologisches Interpretament der religiösen Wahrheit greifen läßt. Wenn schon nicht „in erkenntniskritischer Absicht", so wolle Lessing doch in „ontologischer Absicht die Anwesenheit der inneren Wahrheit in den Gestalten ihrer geschichtlichen Verwirklichung zu[]gestehen." 192 Daß sich die Wahrheit im Raum des Kontingenten, beispielsweise durch das Tun des Guten verwirklicht, bestreitet Lessing folglich nicht, wohl aber, daß sie sich als „physisches Factum" und „politisches Phänomenon" (218,27f) geschichtlich fassen und beim Namen nennen läßt. Für ihn gilt: „Der Charakter des Göttlichen ist seine Universalität, die jede Beschränkung im Individuellen und jede Bindung an Individuelles ausschließt." 193 Es ist ein zwar universal gegenwärtiges, gleichwohl geschichtlich erst noch einzuholendes „Etwas" (226,10) 194 , das es immer neu zu suchen und dessen Beschreibung es immer

188 189 190

191

J.v. Lüpke, Wege der Weisheit, 186, Anm. 110. HH V, 256. Von da aus ist Hamanns letztendlich harte Zurückweisung Lessings ebenso zu verstehen wie seine später geäußerte Vermutung, daß „der Hamburger Oelgötze [gemeint ist J.M. Goeze, der Verfasser der sog. Antifragmente] bey aller seiner Dummheit im Grunde Recht gehabt" habe: „Lag nicht im Eifer des unglückl. Mannes, Feindschaft gegen das Christentum auf dem Boden?" (ZH V,274,21-24; an Jacobi am 1. Dez. 1784). Kann sich Hamann ein Jahr nach der Abfassung von „Konxompax" an der Lektüre des noch unfertigen „Nathan" begeistern (vgl. ZH IV,77,20f), so wird er kurze Zeit später schon über die „Erziehung des Menschengeschlechts" urteilen: „Nichts als Ideenwanderung in neue Formeln u Wörter. Kein Schiblemini, kein rechter Reformationsgeist, keine Empfängnis, die ein Magnificat verdiente" (ZH IV,182,21-23; an Herder am 12. April 1780).

Wege der Weisheit, 112. Ebd, l l l f . 193 E. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, 253. 194 Yg| j v Lüpte^ Wege der Weisheit, 119-125 („Universalität und Aktualität der Offenbarung"). 192

Zum Verhältnis von Judentum und Heidentum

211

neu festzulegen gilt. 195 Konsequenterweise verweigert Lessing, beispielsweise in „Ernst und Falk", als „verschleyerte Isis" (225,37) eine konkrete Auskunft auf die Frage nach dem Namen der Wahrheit und spricht lediglich davon, daß sie „nichts willkürliches, nichts entbehrliches: sondern etwas notwendiges [sei], das in dem Wesen des Menschen und der bürgerlichen Gesellschaft gegründet ist." 196 Die vom Neuen Testament her gebotene christologische Begründungsstruktur der „Verwirklichung" von religiöser Wahrheit blendet Lessing damit aus. Er akzeptiert nicht, daß sich die Wahrheit primär in der individuellen Person Christi und erst von ihr aus in einer Geschichte verwirklicht, die durch diese Person aposteriorisch ihre Begründung erfährt. Die Verwirklichung der „inneren Wahrheit", beispielsweise in den Taten der Freimaurer oder in der versöhnenden Liebe des weisen Nathan, ist für ihn, abhängig einzig von dem ihr zugrundeliegenden Vorsehungsglauben, immer gleich wirklich. Sie ist, das muß wohl hinzugefügt werden, aufgrund ihrer universalen Präsenz jedoch auch immer gleich unwirklich. Die „Universalität der Wahrheit" ermöglicht die Vielfalt der „Antriebe" 197 und damit ein gleichberechtigtes Nebeneinander der Religionen: das ist die Botschaft des „Nathan". Sie widerstrebt dieser Vielfalt jedoch zugleich, d.h. sie bejaht zwar die Freiheit religiöser Entfaltung, muß aber gleichzeitig anmahnen, daß diese Freiheit die Einheit der Wahrheit und mit ihr die Einzigkeit des „Antriebes" gefährdet: Das ist die Botschaft von „Ernst und Falk". Hamann, dies wurde schon gesagt, chiffriert mit der Unterscheidung von „Judentum" und „Heidentum" jene Zirkelstruktur des Religiösen, von der er auch die Theologiekritik Lessings geprägt sieht und durch die sie sich seiner Meinung nach selbst aufhebt. So schreibt er, eindeutig auf den in „Ernst und Falk" vorgestellten Wahrheitsbegriff („Geheimnis") Lessings Bezug nehmend: „Was sollen wir nun von der ganzen Mystagogie sagen? - .Nichts willkürliches, nichts entbehrliches, nichts müßiges, sondern Etwas Nothwendiges, das in dem Wesen des Menschen' und seinen Verhältnissen zum Ens entium gegründet ist. Weil aber auch dieß ein ens rationis ist: so wurde der geoffenbarte Name des Dings K a r ' e^oxr|v das einzige Mysterium des Judentums und die n p o ? o i i j j i g seines verschwiegnen Namens das tausendzüngige Mysterium des Heidentums" (226,9-15).

195

196 197

Gerade dieses Anliegen, welches Lessing als den im Vergleich zu Hamann moderneren Denker kenntlich macht, kann und will dieser nicht gelten lassen. Er ist davon überzeugt, daß Gott sich in Christus nicht nur finden läßt, sondern vom Ereignis des Kreuzes alles menschliche Suchen im Medium von ,,philosophische[r] Erkenntnis und gesetzliche[r] Gerechtigkeit" (224,20f) dem Gericht überantwortet. G VIII, 4 5 3 (Ernst und Falk). G VIII, 455.

212

Einheit von Zufall und Notwendigkeit

Um Lessing geht es auch hier. Er ist es, der in „Ernst und Falk" den „geoffenbarten Namen" Gottes - er kennt ihn ja! - zu einem unzugänglichen „Mysterium" macht; er ist es folglich auch, der durch das dadurch provozierte Rätselraten ein „tausendzüngiges Mysterium" in die Welt setzt, das sich mit seinem theologischen Anliegen ganz und gar nicht verträgt. 198 Das Verhältnis von „Judentum" und „Heidentum" ist auch bei ihm kein friedliches, sich befruchtendes Miteinander, sondern ein ständiges Umschlagen von gesetzlicher Strenge, die sich der Einheit der Wahrheit verschreibt, in eine alle geschichtlichen Bindungen leugnende religiöse Indifferenz. Mit seinem Beharren auf der Universalität der Wahrheit stellt Lessing die Individualität und Partikularität göttlicher Selbstmitteilung infrage, auf der anderen Seite löst er jedoch die Einheit dieser Wahrheit in die Vielfalt des Beliebigen hinein auf. 199 Das verschwiegene und in gewisser Hinsicht elitäre „Judentum" des Freimaurers Lessing und das beredte „Heidentum" des Theologen und Dramatikers Lessing verharren auf einer vorchristlichen Stufe. Das, meint Hamann, müßte so nicht sein. Lessing weiß doch wie wenige seiner Zeitgenossen darum, daß sich die göttliche Wahrheit dem Zugriff des rationalen Begriffes widersetzt. Und er weiß auch, wie schon gesagt, daß diese Wahrheit Gestalt annimmt in der bedingungslosen Nächstenliebe; im „Nathan" könnte man ein säkularisiertes Verständnis des lutherischen „hoc est Corpus meum" angedeutet sehen. 200 Aber: Einheit und Konkretion der Wahrheit sieht Hamann bei Lessing nicht überzeugend vermittelt, sondern miteinander im Widerstreit liegend. Denn wie kann die religiöse Wahrheit in der zwischenmenschlichen Liebe als solche identifizierbar sein, wenn sie nicht beim Namen genannt werden kann? Woher will Lessing die Gewißheit nehmen, im „corpus" der guten Tat das Göttliche und nicht etwa dessen maskiertes Gegenteil zu ertasten? Hamann sieht nur die folgende Möglichkeit der Vermittlung: „Die Vereinigung dieser beyden Tincturen

aber, der neue Mensch,

nach d e m

Ebenbilde seines Schöpfers - nicht Grieche und Jude; Beschneidung und Vorhaut;

198

199

200

Typisch dafür ist folgender Wortwechsel aus dem ersten Gespräch: ,ßrnst: Wovon ich einen Begriff habe, das kann ich auch mit Worten ausdrücken. Falk: Nicht immer; und oft wenigstens nicht so, daß andre durch die Worte vollkommen eben denselben Begriff bekommen, den ich dabei habe. Ernst: Wenn nicht vollkommen eben denselben, doch einen etwanigen. Falk: Der etwanige Begriff wäre hier unnütz und gefährlich. Unnütz, wenn er nicht genug; und gefährlich, wenn er das geringste zu viel enthielte" (G VIII, 454). Hamann spricht daher an anderer Stelle auch von einer „Scheidewand" zwischen „Judentum" und „Heidentum", vgl. N III,289,25f (Metakritik) und N 111,149,12 (Hierophantische Briefe). Vgl. J.v. Lüpke, Wege der Weisheit, 126-132 und 150-157.

Zum Verhältnis von Judentum und Heidentum

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Barbar, Scythe; Schaarwerker, Freymäurer; a X k a j t a v t a K a i EV i t a a i - " (226,1619). 2 0 1

Das Zitat von Kol 3,11 wird an zwei Stellen in bezeichnender Weise abgewandelt. Dort wird die eschatologische Relativierung ethnischer („nicht mehr Grieche oder Jude"), religiöser („Beschnittener oder Unbeschnittener") kultureller („Nichtgrieche, Skythe") und sozialer („Sklave, Freier") Unterscheidungen als Folge des neuen Lebens in Christus beschrieben. Die letzte Gegenüberstellung ersetzt Hamann aktualisierend durch diejenige eines Fronarbeiters202 mit einem „Freymäurer". Den letzten Halbsatz von V . l l zitiert Hamann im griechischen Wortlaut, wobei er das zum Verständnis des Satzes entscheidende „Xpicrto?" durch einen Gedankenstrich ersetzt. Hatte Lessing in „Ernst und Falk" die „Wahrheit der Religion" mit seinem Geheimnisbegriff in die Sphäre des Ungreifbaren entrückt203, so konfrontiert Hamann den Leser jetzt mit dem Namen dieser Wahrheit, indem er ihn, in ironischer Nachahmung seines betretenen Verschwiegen-Werdens, nicht ausspricht. Dieser Name, das hebt Hamann durch die Auslassung emphatisch hervor, ist der „geoffenbarte Name des Dings K o t ' e^oxTlv, in dem die göttliche Wahrheit konkret wird und die Liebe eine personale Begründung erfährt. Dieser Name ist das „einzige Mysterium des Judentums" und das „tausendzüngige Mysterium des Heidentums", das in der exklusiven Offenbarung des Alten Bundes ebenso verborgen ist wie in den Mythen seiner polytheistischen Umwelt. 204 Nicht um die Vernichtung „dieser 201

Zunächst fällt der eigentümliche Ausdruck „Tincturen" auf, mit dem Hamann auf eine Stelle aus Gichteis „Theosophia Practica" anspielt (Vgl. HH V, 232, Anm. 7). Gichtel bezeichnet damit die durch den Sündenfall verloren gegangene Einheit des androgyn geschaffenen Urmenschen, einer ,,männliche[n] Jungfrau". „Christus hat beyde Tincturen, welche in dem ersten Adam durch des Teufels List in Mann und Weib zertrennet worden, wieder in Eine herstellet, nemlich in eine Jungfräuliche Mannheit" (zit. nach HH V, ebd). Erlösung wird hier primär als Überwindung der als widernatürlich, ja gottwidrig empfundenen sexuellen Polarität verstanden. - Es wird in der Forschung diskutiert, ob und inwieweit auch Hamann von diesen Gedanken beeinflußt gewesen ist (vgl. die Aussage Hamanns in seinem sog. „Letzten Blatt" ( J e s sexes se denaturent"; Text nach Bayer/Knudsen; Kreuz und Kritik, 52). Zu diesem Problem vgl. W. Koepp, Hamann und die Senel-Affäre, 84f; H.U.v. Balthasar, Hamanns Theolog. Ästhetik, 53. In „Konxompax" blendet Hamann diesen Gedanken jedenfalls aus, und dies ist um so auffälliger, als der von ihm hergestellte biblische Kontext dazu eine exegetische Basis gegeben hätte. Er zitiert jedoch mit Kol 3,11 eine Stelle, die die entsprechende Aussage von Gal 3,28 um eben die fragliche Behauptung einer Auflösung des Geschlechtlichen in der eschatologischen Existenz kürzt.

202

Vgl. N VI, 336. „Das Geheimnis der Freimäurerei [...] ist das, was der Freimaurer nicht über seine Lippen bringen kann, wenn es auch möglich wäre, daß er es wollte" (G VIII, 476). „Nicht nur die ganze Geschichte des Judentums war Weissagung; sondern der Geist derselben beschäftigte sich vor allen übrigen Nationen, denen man das Analogon einer ähnlichen dunkeln Ahndung und Vorempfindung vielleicht nicht absprechen kann, mit dem Ideal eines Retters und Ritters [...]" (N 111,311,17-21; Golgatha und Scheblimini).

203 204

214

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beyden Tincturen" geht es also, sondern um ihre „Vereinigung" zu einem organischen Ganzen, in dem die von Hamann genannten Gegensätze versöhnt sind, ohne etwas von ihrer idiomatischen Wirksamkeit zu verlieren. 205 Daß hier dann auch das Freimaurertum Starcks und Lessings als moderne Ausprägung des „tausendzüngigen Mysteriums" seinen Platz finden wird, ist nur konsequent. In dem „Alles und in allen ist Christus" laufen die Gedankenfäden von „Konxompax" zusammen. Für Hamann verbindet sich in der Person Christi die vom „Judentum" geforderte „Einheit des Hauptes" mit der im „Heidentum" sich äußernden „Spaltung des Leibes in seinen Gliedern und ihrer differentia specifica" (226,20f). Diese Einheit von „Einheit" (219,9) und „unendlich zusammengesezte[r] Mannigfaltigkeit" (219,8f) bzw. von göttlicher „Wahrheit" und menschlicher „Freyheit" (227,8) „ist das Geheimniß des Himmelreichs von seiner Genesis an bis zur Apocalypsi - der Brennpunkt aller Parabeln und Typen im ganzen Universo, der Histoire generale und Chronique scandaleuse aller Zeitläufte und Familien [...]" (226,21-25). Christi Leib ist es also, der nicht nur das Buch der Bibel („Genesis" - „Apocalypsis"), sondern auch die unübersehbare Vielheit von Natur und Geschichte zu einer sinnvollen Einheit („icavta") zusammenfügt, indem er sich in sie („ev jtaaL") hineinbegibt. Evert Jansen Schoonhoven schreibt: „Sein Leib ist die Mitte der Geschichte; wie in einem Brennpunkt zieht Er alle Linien der geschichtliche Wirklichkeit, des Größten und des Kleinsten, des öffentlichen und privaten Lebens, in sich und seinem Leib zusammen [...]. Im ganzem Universum können sich dem Glauben ,Parabeln und Typen' dieses Himmelreichs auftun." 2 0 6 Und Helmut Gießer schließt sich an: „Diese Einheit ist das wahre Mysterium Gottes; alle anderen Mysterien werden durch dieses eine Mysterium als vorläufig aufgewiesen - im positiven und negativen Sinne." 207 Das „einzige Mysterium des Judentums", welches die Identität der göttlichen „Wahrheit" (227,8) verbürgt, und das „tausendzüngige Mysterium des Heidentums", in welchem sich die „Freyheit" (227,8) des Menschen artikuliert, sind Teilaspekte des „evangelischen Geheimnisses" (224,31), die in Hamanns Vision des „neuen Menschen" zu einem versöhnten Miteinander finden. Der Christ ist Jude und Heide in einer Person; er weiß sich gebunden an die universal wirksame Wahrheit, die seine individuelle Wirklichkeit bestimmt, und ist zugleich frei, als ein „Gott der Erde" 2 0 8 denkend und handelnd diese Wirklichkeit zu gestalten. In Weiterführung dieses Gedankens 205

206

207 208

„Wenn man alle jüdische[n] und heidnische[nj Bestandteile vom Christentum [...] absondern wollte: so bliebe [...] ein materielles Nichts oder ein geistiges Etwas [übrig], das im Grunde [...] auf Einerley hinaus läufft" ( N 111,142,4-9; Hierophantische Briefe). HH V, 249. Vgl. die Formulierung dieses Gedankens in den Londoner Schriften ( B W 184,36-185,6 [N I,123f]). „Communicatio" und ihre Strukturen, 122. N 111,199,15 (Sibylle über die Ehe).

Zusammenfassung

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müßte man sagen, daß der „neue Mensch" niemals ohne und schon gar nicht gegen die Geschichte existieren kann, die seinen Glauben formt. Glaubensgehorsam und Erwählungsbewußtsein als elitäre, mit der Geschichte des jüdischen Volkes verbindende Momente hätten dann ihr Gegengewicht in der spielerischen, zuweilen maskenhaften Gebärde christlicher „Narren" 209 , die ohne Berührungsängste in einer nachchristlichen Welt leben, um in der Vielzahl postmoderner Mysterien das „einzige Mysterium" zur Sprache zu bringen. Die hier sich andeutende „peculiar combination of absolutism and relativism" 210 gehört zu den bemerkenswerten Eigenarten dessen, was Hamann unter christlicher Existenz versteht.

3.8 Zusammenfassung 1. Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte angesichts der Wirklichkeit des Bösen entscheidet sich an der Bewertung der biblischen Geschichte vom Sündenfall. Eine gewisse Einigkeit zwischen Hamann und Herder in dieser Bewertung ließ sich feststellen: Für beide steht der Sündenfall nicht nur in einem negativen, sondern auch in einem positiven Verhältnis zu der Bestimmung des Menschen. Stellt in Herders idealistischer Sicht allerdings der Sündenfall die conditio sine qua non für die Menschwerdung des Menschen dar, so will Hamann ihn in seiner proleptischen und antithetischen Relation zu der biblischen Heilsgeschichte zu verstehen geben. Den Griff des Menschen nach der Gottgleichheit versteht er nicht als notwendiges Übergangsstadium im Prozeß der menschlichen Evolution, sondern als einen die Geschichte bestimmenden Akt menschlichen Ungehorsams, der alles rationale Bemühen mit dem Signum des unerlaubten Strebens nach Gottgleichheit und Selbsterlösung versieht. Allerdings sieht Hamann diesen Akt eingebunden in ein ,,unsichtbare[s] System" 211 von Empfangen und Hervorbringen, von Bestimmt-Sein und Bestimmen-Können. Die Freiheit, mit der der Mensch der Geschichte seine „Handschrift" 212 gleichsam aufzwingen kann, ist geformt und begrenzt von der göttlichen Wahrheit. 2. Um die Frage des Verhältnisses von menschlicher Freiheit und religiöser Wahrheit bzw. um die Frage des Verhältnisses von Geistesgeschichte und geoffenbarter Heilsgeschichte geht es auch in der Schrift „Konxompax". Hamann versucht mit dieser Schrift, die durch das Erscheinen der „Fragmente eines Ungenannten" ausgelöste Krise der Theologie für seine Verkündigung fruchtbar zu machen. Bezugnehmend auf die auch in der Theologie aufbre209 210 211 212

Vgl. N 295,11-13 und dazu 1 Kor 4,10.13. J. O' Flaherty, Unity and Language, 56. ZH 11,417,15; vgl. o. Anm. 33. N 111,240,28 (Zwey Scherflein).

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chende Diastase von Vernunft und geschichtlicher Offenbarung zeigt er, daß die aufgeklärte Vernunftreligion, wie Starck und Reimarus sie propagieren, durchaus auch Charakteristika derjenigen positiven Religionen aufweist, die sie als akzidentielle Erscheinungsformen ihrer selbst relativiert. In ihr lassen sich „mystische" Tendenzen zur Vereinheitlichung einer „unendlich zusammengesezte[n] Mannigfaltigkeit" (219,8f) ebenso nachweisen wie eine polytheistische Aufspaltung des Göttlichen in „tausend mythologische Namen, Idole und Attribute" (224,17). Ihr „Palladium" (223,5) ist eine Vernunft, die sich mit soteriologischen Attributen schmückt, einen eigenen Kult zelebriert und eine Dogmatik entwickelt, die einen bedingungslosen, unkritischen Glauben fordert.213 3. Damit erweist sich die aufgeklärte Vernunft als Übertreterin ihrer eigenen Gesetze. Indem Hamann diese Übertretung als neuzeitliche Aktualisierung des Sündenfalls darstellt und mit Hilfe zentraler Aussagen des paulinischen Gesetzesverständnisses interpretiert, stellt er eine äußerst differenzierte Sicht vom Menschen zur Diskussion: Der Mensch sub lege ist dadurch definiert, daß er sein Dasein mithilfe einer ihre Grenzen nicht kennenden und damit unvernünftigen Vernunft rechtfertigt und im Vollzug dieser Grenzüberschreitung den ihm bekannten Gesetzen einer vernünftigen Vernunft widerspricht. Wie Paulus den Selbstwiderspruch des sich gesetzlich rechtfertigenden Juden aufdeckt, ohne das Gesetz als göttlichen Willen infrage zu stellen, so deckt Hamann den Selbstwiderspruch des sich vernünftig rechtfertigenden Heiden der Aufklärung auf, ohne die ordnende und insofern dem Gesetz vergleichbare Kraft der Vernunft mit der Unvernunft ihres verkehrten Gebrauchs zu identifizieren. 4. Den Zirkel intellektueller Selbstrechtfertigung zeichnet Hamann ein in die Dialektik von Gesetz und Evangelium, die sich als theologisches Interpretament der „Dialektik des Wirklichen" bestimmen läßt. Ihm geht es um die Erfassung der Existenz des Sünders sub lege angesichts der unaufhebbaren Wirklichkeit des „evangelischen Geheimnisses" (224,31), das die ihm entgegengesetzte „Sanction und Satzung des Todes" (224,28f) zum Symbol seiner selbst umprägt. „Philosophische Erkenntniß" und „gesetzliche Gerechtigkeit" (224,21f) sind einander darin komplementär, daß sie als Folge und Vollzug menschlichen Widerspruchs gegen die „Wahrheit Gottes" (227,17) diese gleichsam von innen heraus bestätigen, was Hamann eindrücklich am Beispiel der radikalen Bibelkritik von Reimarus illustriert. Von großer Bedeutung erweist sich dabei die Unterscheidung einer „blos figürlichen [...] Theilnehmung der göttlichen Natur" von der durch diese antizipierten „leibhaften Theilnehmung". Die intellektuelle und sexuelle „Erkenntnis" des 213

Das ist die eigentümliche Koinzidenz von „Zweifelsucht" und „Leichtgläubigkeit" ( N 111,317,31), die Hamann dem aufklärerischen Religionsbegriff immer wieder entgegenhält.

Zusammenfassung

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Menschen gehört - mit allen ihren Folgen! - eindeutig in den Bereich der gesetzlichen, und das heißt für Hamann: der Erlösung entgegengesetzten und sie zugleich ankündigenden Wirklichkeit. 214 Sünde ist bei Hamann dadurch definiert, daß sie eben diese Zuordnung verschleiert. Aus einem grundsätzlichen Mißtrauen gegenüber der Wahrhaftigkeit göttlicher Anrede resultiert die kontinuierliche Verwechslung von „blos figürliche[r]" und ,,leibhafte[r] Theilnehmung der göttlichen Natur" (224,32f), von abbildendem Gesetz und abgebildetem Evangelium. 5. Es geht Hamann in „Konxompax" nicht ausschließlich um das Verhältnis von Mysterienreligionen einerseits, zu denen auch die aufgeklärte Vernunftreligion zu zählen wäre, und dem Christentum andererseits. Es geht ihm um eine Deutung des in allen Religionen tradierten Sündenfalls im Licht des „evangelischen Geheimnisses" (224,31), welches die „menschliche Vergöttung" (224,6f) als dunkle Kehrseite der ,,göttliche[n] Incarnation" (224,7) und damit als paradoxe Antizipation des Kreuzesgeschehens verstehen lehrt. Konzentriert zeigt sich diese Dialektik in einer religionsphänomenologischen „Induction" (223,23), in der Hamann verschiedene Formen von Religion als gleichermaßen gesetzliche Antizipationen der Vereinigung von Mensch und Gott nebeneinanderstellt. Die Sehnsucht des Menschen nach „Leben" äußert sich für ihn in allen Formen von Selbstüberschreitung, zu denen nicht nur die Religiosität, sondern beispielsweise auch die Sexualität gehört, die dann im 20. Jahrhundert tatsächlich zu einer Art Erlösungsreligion proklamiert worden ist. 215 Alle diese Formen sind im Verhältnis zu der erstrebten Erlösung „blos figürlich" (224,32) und deshalb gleichermaßen dem „philosophischen Fluch und Widerspruch der Contingenz unterworfen" (219,14f). Und doch offenbart sich in ihnen die gnädige Durchbrechung des Zirkels durch die „göttliche Incarnation" als das „apokalyptische" Mysterium, welches sowohl 214

Auch die menschliche „Freyheit", von Hamann als „das Maximum und Minimum aller unsrer Naturkräfte" (N 111,38,10-12) keinesfalls bestritten, erweist sich damit als eine von der Vorsehung Gottes mitverantwortete und insofern relative Freiheit. Einerseits gilt: Wenn der Mensch frei ist, dann ist er auch dazu frei, die Wahrheit zu bezweifeln. Wenn Gottes Wort jedoch wahr ist, dann kann die Freiheit des Menschen die Wahrheit Gottes nicht aufheben, muß also als eine Freiheit „causae secundae" bedacht werden (zum Begriff vgl. J. Konrad, Art. „Vorsehung", RGG VI, 1498). Auch sie ist als Freiheit sub lege nur eine Figur deijenigen „Freyheit" (227,8), zu der der Mensch bestimmt ist und die es ohne die Bejahung der „Wahrheit" (ebd) nicht geben kann: „Wahrheit ohne Freyheit ist ein vergrabener Schatz, eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Bornt -l; Freyheit aber ohne Wahrheitsliebe, unrecht Gut in eines Gottlosen Hause, ein feindseliger geringer Ephat-1 der stupidesten Schalkheit und sublimsten Bosheit Pallium und Palladium" (N 111,363,4-8; Entkleidung und Verklärung). Diese Vorstellung einer „blos figürlichen" Freiheit zielt nicht auf eine Relativierung der Sünde, sondern bedeutet nichts weniger als eine Restitution der lutherischen Auffassung vom unfreien Willen im Zeitalter der Autonomie.

215

Vgl. G. Kuenzlen, Der neue Mensch, 211-220 („Otto Groß: Psychoanalyse und Revolution als Weg zum Paradies des Neuen Menschen").

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Einheit von Zufall und Notwendigkeit

die Rechtfertigung des Sünders als auch die Verwerfung einer Vernunft bedeutet, die sich zur Richterin über die göttlichen Offenbarung erhebt. 6. In dieser Dialektik ist Hamanns Kritik an Lessing begründet. Dieser redet ja ähnlich wie Hamann von einer universalen Wahrheit, die dem Menschen als „Antriebskraft" gnadenhaft eingestiftet ist und die im Prozeß von „Erziehung" bzw. „Offenbarung" die fehlgeleitete Vernunft des Menschen durch die göttliche Weisheit überformen wird. Für Hamann erliegt jedoch auch Lessing eben derjenigen Verwechslung von gesetzlicher Vernunft und befreiendem Geist, die dieser der rationalistischen Theologie vorgeworfen hat. Seiner epochemachenden Einsicht in die Unzulässigkeit des historischen Beweises für die religiöse Wahrheit kann Hamann nur zustimmen, entlarvt sie jedoch auch als Maske einer fundamentalen Offenbarungskritik, die maßgeblich von der für Lessing wichtigen Diastase zwischen notwendigem Geist und zufälligem Buchstaben, der als autorisierter Träger des Geistes nicht akzeptiert wird, bestimmt ist. Diesem geschichtstheologischen Idealismus setzt Hamann in Weiterführung des lutherischen Verständnisses von Wort und Sakrament einen „theologischein] Materialismus"216 entgegen, der sich für ihn aus der seinsgründenden Verschränkung von „Geist" und „Buchstaben" durch den fleischgewordenen Logos ergibt. Er versteht Geschichte als Zusammenspiel einer zyklisch verlaufenden Geistesgeschichte, die hinter dem theologischen Vorzeichen des Gesetzes steht, mit der Heilsgeschichte Gottes, die sich aus einem jeden dieser Zyklen typologisch ablesen läßt. Die facta und phaenomena der „zufälligen Geschichtswahrheiten" partizipieren als theologisch zu deutende Figuren der Heilsgeschichte an deren Wahrheit, wie sich umgekehrt diese Wahrheit nicht ohne die Zufälligkeiten einer heillosen Menschheitsgeschichte erschließt. 7. Wie zuletzt deutlich gemacht werden konnte, weist der „Circul" (224,6) von Selbstvergottung und göttlicher Selbsterniedrigung einen inneren Zusammenhang auf mit den „verwickeltesten Knoten der menschlichen Natur und ihrer Bestimmung"217, von denen im letzten Kapitel die Rede war. Denn er verkündigt den im alten Menschen verborgenen „neuen Menschen" als Erfüllung der alttestamentlich-jüdischen Heilsverheißung („Judentum"; „Senfkorn der Anthropomorphose"218) und zugleich als Erfüllung derjenigen menschheitlichen Sehnsüchte („Heidentum"; „Apotheose"219), wie sie sich in allen Religionen - auch in der aufgeklärten Vernunftreligion - äußern. Mit Lessing hält Hamann an der Universalität der religiösen Wahrheit fest („alles ist göttlich"), gegen ihn behauptet er die Partikularität und Geschichtlichkeit 216 217 218 219

J.v. Lüpke, Menschlich und göttlich zugleich, 106. N II,198,4f (Aesthetica). N 111,192,20 (Zweifel und Einfälle). N 111,192,21.

Zusammenfassung

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dieser Wahrheit, die den unauswechselbaren Namen Jesu Christi trägt. Nicht in dem von Lessing angedachten Weltethos, sondern in der mit diesem Namen verbundenen Selbsthingabe Gottes am Kreuz verwirklicht sich die eine Wahrheit. Und nur die alle anderen Bindungen ausschließende Bindiing an diese einzige Wahrheit, die den Menschen zum Glied des Gottesvolkes macht, ermöglicht jene schöpferische Freiheit, die den einen Namen in zahllosen Figuren wahrzunehmen und auszusprechen vermag. „Judentum" und „Heidentum", „Wahrheit und Freyheit" (227,8), die Einheit des Bekenntnisses und die Vielfalt seiner Inszenierungen sieht Hamann im „neuen Menschen" versöhnt. „Wie ein schlechter Schütze", so Hamann, habe der Mensch im Griff nach der Gottgleichheit „den Schatten für den Körper" (224,23f) getroffen, also das Bild mit dem Abgebildeten verwechselt. Seine damit gegebene Deutung von Vernunft und Religion entspricht der Aussage von Kolosser 2,17, wo es in Bezug auf das Gesetz heißt: „Das ist doch nur ein Schatten des Zukünftigen; der Leib aber ist Christi." 220 Wie wichtig für Hamann die Wirklichkeit des „Schattens" ist, gerade weil sich darin das „Zukünftige" nicht nur abschattet, sondern dem Glaubenden auch sakramental mitteilt, sollen die folgenden Kapitel zeigen. Hier wird es um die intellektuelle, gesellschaftliche und geschlechtliche Dimension menschlicher Wirklichkeit zwischen dem Gesetz und der darin sich Geltung verschaffenden Heilswirklichkeit Gottes gehen.

220

Mit „CKD^a x o u xpLcrtou" ist m.E. gemeint: Die leibhafte Wirklichkeit des Heils - im Gegensatz zum abbildenden „Schatten" - ist in Christus gegenwärtig. Vgl. auch Heb 810, w o der Zusammenhang von Typos und Gesetz noch klarer hervortritt.

4. Einheit von Begriff und Anschauung: Die communicatio idiomatum als Interpretament des Vernunftbegriffes („Metakritik über den Purismum der Vernunft"1) 4.1 Vernunft zwischen Selbstbegrenzung und Grenzüberschreitung Die Entmythologisierung der aufgeklärten Vernunft und ihrer Mysterien im Kontext der paulinischen Gesetzestheologie ist eines der zentralen Anliegen Hamanns. Außerhalb dieses Kontextes hatte nicht nur die Theologiekritik Lessings, sondern auch die Philosophie Immanuel Kants ein vergleichbares Interesse, und nicht zuletzt deshalb kann die Geschichte Hamanns mit Kant als „eine Geschichte der Gemeinsamkeit und des Widerspruchs" 2 beschrieben werden. Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist eine Bemerkung Hamanns über sein Verhältnis zu Kant in dem berühmten Brief an Christian Jacob Kraus vom 18. Dezember 1784: „Wie sehr ich unsern Plato liebe und wie gern ich ihn lese wißen Sie[;] auch will ich mich seiner Vormundschaft zur Leitung meines eigenen Verstandes, doch cum grano salis gefallen laßen, ohne eine Selbstverschuldung durch Mangel des Herzens zu besorgen." 3 Das ist in erster Linie auf Hamanns geistige Auseinandersetzung mit der „Kritik der reinen Vernunft" (1781) seines Königsberger Zeitgenossen zu beziehen. 4 Was Hamann an Kant vor allem interessierte war die Tatsache, daß dieser mit seiner „Kritik" die auch ihn beschäftigende, philosophiegeschichtlich beherrschende Alternative von „Dogmatismus" und „Skeptizismus" überwunden zu haben glaubte. 5 „Christian Wolf unter den Dogmatikern, und David Hume unter den Sceptikern sind velut inter ignes Luna minores. Der kritische Weg war allein noch offen" 6 , so schreibt er in seiner Rezension der „Kritik", um dann sogleich die Hauptthese seiner „Metakritik" vorwegzunehmen: Nämlich daß „der kritische Weg" die Rückkehr zu eben demjenigen philosophischen „Indifferentismus" 7 sei, den Kant einerseits

1 N 111,281-289. Zitate aus dieser Schrift werden im Text nachgewiesen. Zum folgenden vgl. O. Bayer, Die Geschichten der Vernunft sind die Kritik ihrer Reinheit (Acta IV), 987; E. Metzke, Kant und Hamann (Coinicidentia oppositorum), 294-319. 2 O. Bayer, Die Geschichten, 11. 3 ZH V,289,12-15. 4 Diese Auseinandersetzung (zu einem Gespräch mit Kant kam es dabei allerdings nicht) erstreckte sich von 1781 (Hamann las die „Kritik" schon vor ihrem Erscheinen auf Druckfahnen und schrieb eine Rezension) bis 1784 (vgl. O. Bayer, aaO [Anm. 1], 10). Von der Intensität dieser Auseinandersetzung zeugen auch zahlreiche Briefstellen, von denen auf einige einzugehen sein wird. 5 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (KrV), A X-XII. 6 N 111,279,30-33 ([Rezension von:] Kritik der reinen Vernunft); vgl. KrV A 856. 7 N 111,279,35 (Rezension). „Jetzt, nachdem alle Wege [...] vergeblich versucht sind, herrscht Überdruß und gänzlicher Indifferentism, die Mutter des Chaos und der Nacht [...]" (KrV A X ) .

Vernunft zwischen Selbstbegrenzung und Grenzüberschreitung

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zwar „,als eine Wirkung nicht des Leichtsinns, sondern der gereiften Urtheilskraft unsers Zeitalters'" 8 zu schätzen weiß, den er aber auch als „Mutter des Chaos und der Nacht" 9 bezeichnet hatte. Das doppelte Urteil Kants über die „sceptische Anarchie" 10 wendet Hamann damit auf Kants „Kritik" zurück. Der darin vorgestellte neue „Weg" gebe sich zwar „gerne für kritisch aus" 11 , stelle in Wahrheit aber selber eine durchaus „.erkünstelte Gleichgiltigkeit in Ansehung solcher Materien und Gegenstände'" dar, „,die der menschlichen Natur und ihrem Interesse nicht gleichgiltig seyn könnenl."12 Trotz der ,,unverstellte[n] Achtung" 13 , mit der „der Recensent" das monumentale Werk ankündigen muß, kann er seinem Autor den Vorwurf der Verstellung nicht ersparen: „Im Gegensatz so wol zu der sceptischen Anarchie, die über dem Chaos ihrer Methode zur Faulheit verzweifeln muß, als des dogmatischen Despotismus, der durch ucrtepa jtparcepa [...] zu Werk geht" 14 , könnte Kants „Indifferentismus füglich hypokritisch oder auch politisch heissen." 15 Der Kritizismus, das will Hamann damit sagen, überwindet den uralten Gegensatz von „Sensual- und [...] Intellectualphilosophie" 16 nicht wirklich, sondern trägt ihn lediglich auf einer höheren Stufe der Reflexion weiter. Worin sieht Hamann nun Kants Hypokrisis? Schon mit den Fragen nach der „Möglichkeit menschlicher Erkenntnis von Gegenständen der Erfahrung ohne und vor aller Erfahrung" und nach der „Möglichkeit einer sinnlichen Anschauung vor aller Empfindung eines Gegenstandes" (283,20-23) 17 nimmt Kant Hamanns Meinung nach eine Wertung vor, die sich nicht nur mit dem Anspruch intellektueller Überparteilichkeit nicht verträgt, sondern auch auf der „doppeltefn] (/«-Möglichkeit und dem mächtigen Unterschiede analytischer und synthetischer Urtheile gründet" (283,23-25). Die Frage nach erfahrungsunabhängiger Erkenntnis und nach empfindungsunabhängigen Anschauungsformen postuliert eine transzendentale Reinheit des „Vernunftvermögens überhaupt" 18 : Dies ist, wie Hamann zeigen will, unmöglich. Zudem 8 9 10

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14 15 16 17

18

N 111,279,35-37 (Rezension); vgl. KrV A XI. S.Anm. 7. N III,280,3f (Rezension; Hervorheb. aufgeh.). Kant spricht davon, daß die „Gesetzgebung" der Metaphysik „unter der Verwaltung der Dogmatiker [...] in völlige Anarchie" ausgeartet sei (KrV A X). N 111,279,37 (Rezension). N 111,279,37-40; vgl. KrV A X. Dieses und das folgende Zitat: N III,277,7f (Rezension). Zu „unverstellte Achtung" vgl. KrV XI, Anmerkung. N 111,280,3-7 (Rezension). N 111,280,2f. N III,279,23f. „Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt" (KrV A 12). KrV A XII.

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Einheit von Begriff und Anschauung

disqualifiziert sie mithilfe einer „mächtigen", aber in ihrer Herkunft nicht überzeugend geklärten Unterscheidung von „Urtheilen" die Wirklichkeiten von „Erfahrung und Materie" als das „Gemeine, durch dessen Absonderung die gesuchte Reinigkeit gefunden werden soll"19: Dies ist parteilich. Nur unbeeinträchtigt „von aller Ueberlieferung, Tradition und Glauben daran" (284,8f) vermag ja nach Kant die Vernunft „das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntnis aufs neue zu übernehmen und einen Gerichtshof einzusetzen, der sie bei ihren gerechten Ansprüchen sichere, dagegen aber alle grundlose Anmaßungen, nicht durch Machtansprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen, abfertigen könne." 20 So erklärt sich die Vernunft selbst zum kritischen Subjekt desjenigen Objekts, das zu untersuchen und zu erkennen sie beabsichtigt. Als solches kann sie sich, da sie „weder einen empirischen oder ästhetischen noch logischen oder discursiven Begrif nöthig hat, sondern blos in subjectiven Bedingungen besteht" (283,31-284,2), jeglicher von außen herangetragener Kritik ohne Not entziehen. Kant hätte dies sicherlich anders gesehen. Der von ihm in der „Einleitung" der „Kritik" als Metapher bemühte Erkenntnisbaum21 hat erklärtermaßen nur die Funktion, das Vermögen der Vernunft in seinem Umfang kanonisch festzulegen und insofern zu begrenzen.22 Bis dahin ist Hamann ihm gerne gefolgt, und er läßt keinen Zweifel daran aufkommen, daß für ihn die „Kritik der reinen Vernunft" als Propädeutik des Verstandesgebrauchs einen Meilenstein der Philosophiegeschichte darstellt.23 Das kritische Unternehmen Kants dient der Disziplinierung der Vernunft, „welche trefflich parallel läuft mit der paulinischen Theorie der Disciplin des Gesetzes " 2 4 Aber es verliert in den Augen Hamanns dort den Boden unter den Füßen, wo es die „reine" Verstandeserkenntnis als ein anamnetisches Aus-Sich-Selber-Schöpfen der menschlichen Verstandeskräfte propagiert.25 „Diese letzte Möglichkeit nun, die Form einer empirischen Anschauung ohne Gegenstand und Zeichen derselben aus

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N 111,278,18f (Rezension). „Es heißt aber jede Erkenntnis rein, die mit nichts Fremdartig e m vermischt ist. Besonders wird aber eine Erkenntnis schlechthin rein genannt, in die sich überhaupt keine Erfahrung oder Empfindung einmischt, welche mithin völlig a priori möglich ist" (KrV A 11. In der zweiten Ausgabe der KrV ist dieser Satz weggelassen). KrVAXIf. KrV A 15. KrV A l l f . Hier verwendet Kant die wichtigen Begriffe „Organon", „Kanon" und „Propädeutik". Besonders hebt Hamann Kants „vorzügliche con amore ausgearbeitete Critik aller speculativen Theologie" ( N 111,279,12-14) hervor, mit der er, wie er kurz darauf in einem Brief an J.F. Reichhardt bemerkt, „aller speculativen Theologie [...] das Maul stopft" (ZH IV,330,16f). N III,279,19f (Rezension). „Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwürfe hervorbringt [...]" (KrV B XIII).

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der reinen und leeren Eigenschaft unsers äußern und innern Gemüths herauszuschöpfen, ist eben das Aog ^oi Jtou crtco und Jtpcoxov tyeuöog, der ganze Eckstein des kritischen Idealismus und seines Thurms und Logenbaues der reinen Vernunft" (289,11-16). Der an die biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel erinnernde Ausdruck „Thurm und Logenbau" hat Signalfunktion. Denn für Hamann öffnet sich mit dem Unternehmen Kants wiederum der theologische Horizont von Sünde und Gesetz 26 : Die Vernunft als Medium selbstkritischer Beschränkung, welches die „Kritik" mit einer gewissen Endgültigkeit zu sein beansprucht, ist zugleich ein Medium unheilvoller Selbst-Entschränkung in der Tradition des biblischen Sündenfalls, der sich bei Kant in dem Versuch eines neuen „Thurmbaues" manifestiert, also darin, sich zur begrifflichen Reinheit einer absoluten „Idee" emporzuarbeiten, jenem krönenden Schlußstein des transzendentalen „Gewölbes", aus dem sich alle Verstandeserkenntnis wird ableiten lassen. 27 Die Kehrseite dieser Bewegung ist die Hintanstellung jeglicher „Erfahrung", für Hamann gleichzusetzen mit der „Offenbarung" 28 dessen, was ein Mensch sich nicht selber zu sagen vermag und mit der seiner Ansicht nach das Erkennen nicht nur beginnt, sondern in der es in jedem Fall begründet ist. 29 So „verdient" Kant mit seiner bedingungslosen Skepsis gegenüber der Metaphysik einerseits „den Titel eines preußischen Hume"30. Gleichwohl schlägt auch bei ihm die kritische Strenge, die ihn als würdigen Vertreter eines philosophischen „Judentums" erscheinen läßt 31 , um in eine unkritische Verehrung der Vernunft als dem Subjekt dieser Strenge. Hatte David Hume seine Dialoge, wie Hamann sagt, „mit der jüdischen und platonischen Hofnung eines Propheten der noch kommen soll"32, also in Erwartung eines Vollenders des skeptischen Weges beendet 33 , so sieht Hamann in Kant diese „Hofnung" über die Maßen erfüllt. Denn dieser vollendet die „Skepsis" zum 26 27 28

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Vgl. O. Bayer, Die Geschichten, 19-21. O. Bayer, Die Geschichten, 29; vgl. KrV A 641. Zur Identität von „Erfahrung" und „Offenbarung" bei Hamann vgl. ZH V,265,34f (an Jacobi am 14. Nov. 1784). Vgl. dagegen KrV B 1: „Wenn aber gleich alle unsre Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung." ZH IV,293,36 (Brief an Herder vom 10. Mai 1781). Der Kontext dieser Briefstelle gibt Auskunft über die hohe Wertschätzung Humes durch Hamann, vgl. ebd, 294,7-14. Vgl. dazu O. Bayer, Die Geschichten, 29-32 („Humes Judentum"). ZH IV,294,10-12 (s. Anm. 30). Er spielt damit auf die Schlußpassage in Humes „Dialogues concerning natural religion" an, worin Cleanthes „ein sehnsüchtiges Verlangen und Hoffen" zum Ausdruck bringt, „daß es dem Himmel gefallen möge, diese tiefe Unwissenheit dadurch zu zerstreuen oder wenigstens zu mildern, daß er der Menschheit irgendeine nähere Offenbarung schickt und ihr Natur, Eigenschaften und Handlungsweisen des göttlichen Gegenstandes unseres Glaubens enthüllt" (zit. n. D. Hume, Dialoge, übers, v. N. Hoerster, 141f); vgl. N 111,274, 10-17 (Hamanns Übersetzung von Humes „Dialogues").

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Einheit von Begriff und Anschauung

Gesetz, ist es doch nunmehr die Kritik, der sich alles unterwerfen muß [,..]." 34 Das „Jtpartov ijJE'uöog" des Sündenfalles äußert sich auch hier in einer unauflöslichen Antinomie, weil „durch einen unvermeidl. Zirkel der reinen Vernunft [...] die SKEIJUS selbst zum dogma [wird]." 35 Alles, was bisher als gültig galt, wird sich nach Kant an den „Prinzipien" 36 der reinen Vernunft messen lassen müssen. „Bewilligt" diese doch „nur demjenigen [unverstellte Achtung], was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können." 37 Aber an der begründenden Struktur dieser Forderung entscheidet sich, so urteilt Hamann, ob sie wirklich Befreiung von Vorurteilen und Bevormundung schafft, oder ob sich nicht auch hier nur ein Wechsel der Abhängigkeiten im Gewand einer „ästhetischen Lüge" 3 8 vollzieht.

4.2 Priorität des Gedachten und Posteriorität des Gegebenen Worin besteht nun nach Hamann der „unvermeidl. Zirkel der reinen Vernunft"? Kant hatte davon gesprochen, „daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden." 39 Hamann versucht deutlich zu machen, daß Kant sich gar nicht an dieses Bild hält. Er greift die Metapher des Erkenntnisbaumes auf und korrigiert sie im Sinne des Lesers, der den Autor besser zu verstehen glaubt als dieser sich selbst. Daß „Sinnlichkeit und Verstand [...] aus Einer gemeinschaftlichen Wurzel [entspringen]" (286,29-31) 40 , ist für Hamann natürlich nicht zu bestreiten. Er richtet an Kant gleichwohl die Frage, „zu welchem B e h u f diese „Wurzel" durch eine „so gewaltthätige, unbefugte, eigensinnige Scheidung desjenigen, was die Natur zusammengefügt hat" (286,32-34), zerrissen wird, wobei er an die in der „Transcendentalen Elementarlehre" durchgeführte methodische Trennung von ästhetischem und logischem Vermögen denkt. Und weiter: „Werden nicht alle beyde Stämme durch eine Dichotomie und Zweispalt ihrer gemeinschaftlichen Wurzel ausgehen und verdorren? Sollte sich nicht zum Ebenbilde unserer Erkenntnis ein einziger Stamm besser schicken, mit zwei Wurzeln, einer 34 35 36 37 38 39 40

KrV A XI, Anmerkung. ZH V,432,35f (Brief an Herder vom 8. Mai 1785). KrV A XII. KrV XI, Anmerkung. N 111,280,9 (Rezension). KrV A 16. Vgl. ebd. In N 111,278,10-12 zitiert Hamann die Stelle genauer („unbekannte Wurzel").

Priorität des Gedachten und Posteriorität des Gegebenen

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obern in der Luft und einer untern in der Erde? Die erste ist unserer Sinnlichkeit Preis gegeben; die letzte hingegen unsichtbar und muß durch den Verstand gedacht werden, welches mit der Priorität des Gedachten und der Posteriorität des Gegebenen oder genommenen [...] übereinstimmt" (286,34-287,3). Natürlich weiß Hamann, daß Kant sich „in der Lage eines Chemikers" befindet, „der, um die Wirkungsweise der Stoffe kennenzulernen, gezwungen ist, diese Stoffe erst einmal [...] frei von allen zufälligen Beimischungen isoliert darzustellen." 41 Hamann hält dieses chemische Verfahren jedoch nicht für übertragbar; er kritisiert es als „gewaltthätige" und widernatürliche „Scheidung" und schlägt statt dessen das Bild eines Baumes mit „zwei Wurzeln" vor, wobei er durch die Hinzufügung der Adjektive „obern" und „untern" die theologischen Implikationen dieses Vorschlages andeutet. Denn Erkenntnis „von oben" ist, so jedenfalls versteht Hamann Kant, als Offenbarungserkenntnis „unserer Sinnlichkeit Preis gegeben", scheidet also für das diskursive Verfahren aus. Es bleibt dann nur eine „uns unbekannte" Wurzel der Erkenntnis, die „der Sinnlichkeit entzogen ist und nur als ens rationis vorgestellt werden kann." 42 Genau in dieser Annahme, daß die „Wurzel" der Erkenntnis nicht sinnlich wahrnehmbar, sondern nur denkbar bzw. konstruierbar sei, sieht Hamann das von Kant behauptete Gleichgewicht von „Sinnlichkeit und Verstand" gestört. So ist entgegen Kants eigener Beteuerung, daß „keine dieser Eigenschaften [...] der anderen vorzuziehen" 43 sei, durchaus von einer „Priorität des Gedachten und der Posteriorität des Gegebenen" zu reden. 44 Bei Kant „[darf] in der kritischen Überlegung [...] die Sinnlichkeit dem Verstand bloß .unterlegt' sein; wenn sie hingegen in ihn .einfließt', wird sie zum Grund des Irrtums." 45 Nur durch die „unaufhörliche Censur einer durch Sinnlichkeit oft genug getäuschten [...] Vernunft", so Kant an anderer Stelle, „beweiset [...] die vorher nur problematische transzendentale Theologie ihre Unentbehrlichkeit" bei der Bestimmung des „höchsten Wesen[s]" als eines „fehlerfreien Ideal[s] [...], welches die ganze menschliche Erkenntnis schließt und krönet." 46 Diese „Censur" vollzieht sich nach Hamann in einem dreifachen „Purismus" (284,23): Zunächst „in dem theils misverstandenen, theils mislungenen Versuch, die Vernunft von aller Ueberlieferung, Tradition und Glauben daran 41 42 43 44

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R. Schmidt, Die drei Kritiken, 102; vgl. KrV A 842. J. Simon, Hamann, Schriften zur Sprache, 261f (Anmerkungen). KrV A 51. Hamann spielt möglicherweise auf folgende Stelle an: „Umgekehrt ist die systematische Einheit [der Verstandeserkenntnisse] (als bloße Idee) nur projektierte Einheit, die man sich nicht als gegeben, sondern nur als Problem ansehen muß; welche aber dazu dient, zu dem Mannigfaltigen und besonderen Verstandesgebrauche ein Principium zu finden" (KrV A 647). G. Wohlfart, Logik und Ästhetik, 77. KrV A 641.

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Einheit von Begriff und Anschauung

unabhängig zu machen" (284,8-10), dann in dem Versuch, „eine Unabhängigkeit von der Erfahrung und ihrer alltäglichen Induction" zu gewinnen (284,lOf). „Der dritte höchste und gleichsam empyrische Purismus betrifft also noch die Sprache, das einzige erste und letzte Organon und Kriterion der Vernunft [...]" (284,23-25). Eine von der Wirklichkeit des „Gegebenen" gereinigte Erkenntnis steht in diametralem Gegensatz zu der Behauptung einer „Priorität" der sinnlichen Wahrnehmung, die Hamann in der „Aesthetica" aus dem Ereignis der Anrede Gottes abgeleitet hatte. Doch äußert sich für ihn in den Kantischen Purismen nicht nur der göttliche Geltungsanspruch der kritischen Vernunft, sondern auch der damit gegebene „Circul" 47 , durch den dieser Anspruch sich selber aufhebt, weil er die Gültigkeit dessen beweist, das zu revolutionieren er vorgibt. Die von Kant verfochtene „Priorität" der „reinen" Verstandeserkenntnis sieht Hamann widerlegt durch die Tatsache, daß auch sie eine in der Sinnenhaftigkeit von Sprache vermittelte Geschichte hat, auf die sich Kant nicht nur kritisch, sondern durchaus auch creditiv bezieht. Sie verdankt sich für Hamann dem Apriori eines die ganze Philosophiegeschichte beherrschenden Piatonismus, aus dessen Traditionen sie schöpft. 48 „Seine transcendental Theolfogie] scheint mir auf ein Ideal der Entität hinauszulaufen", schreibt er an Herder. „Ohne es zu wißen, schwärmt er ärger als Plato in der Intellectualwelt, über Raum und Zeit." 49 Das ist der „Zirkel" der kritischen Vernunft, die sich der Widersprüche des Zufälligen entledigt zu haben glaubt: Auch das „Gedachte", welches an die Stelle des bislang „Gegebenen" treten soll, um die von Kant geforderte Selbsterkenntnis der Vernunft zu ermöglichen, erweist sich bei näherem Hinsehen als ein „Gegebenes". 50 Die Antwort der kritischen Vernunft auf die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen von apriorischer Erkenntnis beinhaltet eine klare Verneinung von Offenbarung und Geschichte als möglichen Begründungsfaktoren für die Erkenntnis. Gerade mit diesem „Purismum" offenbart sie jedoch, daß sie sich keineswegs aus den Verstrickungen ihrer eigenen Geschichte zu lösen vermag. 51 Sie übernimmt vielmehr ein Vorurteil, das so alt ist wie das Denken: Nämlich daß Gott ein Feind desselben sei.

47 48 49 50

51

N 111,224,6 (Konxompax). Vgl. O. Bayer, Die Geschichten, 26-29. ZH IV,293,36-294,3 (Brief an Herder vom 10. Mai 1781). „Es ist keineswegs eine apriorisch reine, sondern eine durchaus geschichtlich zufällige Handlung, mit der Kant sich auf Leibniz und Locke, auf Plato und Hume bezieht" (O. Bayer, Die Geschichten, 43). Vgl. O. Bayer, Die Geschichten, 42f.

Idiomenwechsel der Sprache

227

4.3 Idiomenwechsel der Sprache ,„Ohne Zauberkünste'", so paraphrasiert Hamann den Anspruch Kants, werde „die Einzige aller Wissenschaften ihre absolute Vollendung, und zwar in kurzer Zeit [...] erleben, [...] ,alles aber aus Principien.'" 52 Kants Erkenntnisweg kann jedoch für Hamann aufgrund der ,,doppelte[n] (7/z-möglichkeit" (283,23) einer sich selber reflektierenden „Vernunft" den „mystischen, magischen und logischen Circuí" 53 nicht durchbrechen. Er steht in der Tradition menschlicher Selbstentgrenzung, die das „Gegebene" (287,1) für ihre Zwecke nicht akzeptiert. Einem „gnostischen Haß gegen Materie" (285,15) entspricht eine „mystische Liebe zur Form" (285,15f) 54 , die den Liebenden in Anbetracht des Geliebten immer mehr in Sprachlosigkeit versinken läßt.55 Die nichtssagenden „Hieroglyphen und Typen idealischer Verhältnisse" verheißen mit religiösem Pathos „ein so sinnloses, läufiges, unstätes, unbestimmtes Etwas = x" (285,32f) 56 , so daß dieses mit dem „nothwendigen und unfehlbaren Stein der Weisen" vergleichbar ist, „dem die Religion ihre Heiligkeit und die Gesetzgebung ihre Majestät flugs unterwerfen wird" (284,17-19). Dessen „Beschwörung" erinnert Hamann an magische Praktiken. Die transzendentale Selbstentleerung, mit der Kant sich auch in die Tradition von Descartes begibt 57 , ist eine dem Bestreben mystischer Religiosität vergleichbare Fiktion. Ist dann die „Idee einer Transcendentalphilosophie"58 nichts als ein fauler Zauber? Hamanns Kritik an Kant ist ganz sicher auch von dem im „Konxompax" entworfenen Schema gezeichnet; daß sie nicht ernstlich auf Kant einginge oder gar sich „nicht eigentlich" gegen Kant selbst wende 59 , kann jedoch nicht gesagt werden. Seine „Metakritik" basiert auf der legitimen Gegenfrage, ob denn der Begriff einer von „Erfahrung und Materie" 60 unabhängigen Vernunft überhaupt denkbar sei. Die „reine" Vernunft manifestiert sich ja auch in Kants „Kritik" in einer höchst „konkreten Vernunft" 61 mit einem unverwechselbaren Sprachcode, worin Hamann im Falle Kants den „Afiffe/punct des Misverstandes der Vernunft mit ihr selbst' (286,9f) 62 sieht. Die ständige Verwechslung von konkreter, sprachlich überlieferter Vernunft und der vorgeblich einen, „reinen Vernunft" schafft keine wirkliche Befreiung des 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62

N 111,277,27-30 (Rezension). N 111,224,6 (Konxompax). Vgl. dazu N 111,279,8-11. Vgl. O. Bayer, Die Geschichten, 28. Vgl. KrV A 250 (Anmerkung). Vgl. ZH V,366,19-32. N III,277,20f (Rezension). J. Simon, Einleitung, 68. N 111,278,18 (Rezension). J. Simon, Einleitung, 71. Vgl. KrV A XII.

228

Einheit von Begriff und Anschauung

Denkens von der Kontingenz des Empirischen. Sie hat vielmehr zur Folge, daß eine zur Befreiung von gegebenen Abhängigkeiten anleitende Kritik umschlägt in eine neue Form von intellektueller Despotie, weil „die reine Vernunft" kein positives Verhältnis haben kann zu der Relativität sprachlich bedingter Vernünfte. Ich möchte Hamanns Beantwortung der sich bei Kant stellenden Fragen in drei Schritten darstellen.

4.3.1 Vernunft ist Sprache Zunächst ist die metakritische Verschiebung der Fragestellung Kants durch Hamann zu beachten, auf die Oswald Bayer aufmerksam gemacht hat. 63 Nicht wie das Vermögen „ohne und vor aller Erfahrung" (283,21) zu denken möglich sei, lautet für Hamann die Grundfrage der Erkenntnistheorie, sondern „wie das Vermögen zu denken [überhaupt] möglich sey" (286,lf). 64 Hamann fragt damit genau nach jener „gemeinschaftlichen Wurzel" (286,35), die seiner Ansicht nach von Kant in nicht zu rechtfertigender Weise auseinandergerissen wird. Seine Antwort lautet, denkbar knapp: „Das ganze Vermögen zu denken beruht auf Sprache" (286,6f). Das heißt: „Vernunft" ist niemals ohne „Sprache" und damit auch niemals ohne „Erfahrung" und „Ueberlieferung". Sie ist aufgrund ihrer „empyrischen Realität" 65 mit der sprachlich geformten Erfahrungswelt des Denkenden unauflöslich verbunden. Nur im materiellen Medium der Sprache, so Hamann, empfangen wir, was „wir ohne Gegenstand noch Zeichen [einer empirischen Anschauung]" niemals „aus der reinen und leeren Eigenschaft unsers äußern und innern Gemüths heraus[]schöpfen" (289,11-13) könnten. Durch ,Laute und Buchstaben" (286,14) als den „wahren, ästhetischen Elementefn] aller menschlichen Erkenntnis und Vernunft" (286,161) erhält jeder Gedanke sinnliche Präsenz, wird äußerlich und materiell, mitteilbar und kritisierbar. Nicht die Vernunft selbst, sondern „die Sprache", durch die sie sich äußert, ist „das einzige erste und letzte Organon und Kriterion der Vernunft" (284,24f). „Denken heißt - in Gedanken sprechen." 66 Insbesondere die „gemeine Volkssprache" ist für Hamann „[...] das schönste Gleichnis für die hypostatische Vereinigung der sinnlichen und verständlichen Naturen, den gemeinschaftlichen Idiomenwechsel ihrer Kräfte, 63 64

65 66

Vgl. Die Geschichten, 40. „[...] Weil die Hauptfrage immer bleibt, was und wie viel kann Verstand und Vernunft frei von aller Erfahrung, erkennen, und nicht, wie ist das Vermögen zu denken selbst möglich?" ( K r V A X V I I ) . J.G. Hamann, Entwurf zur „Metakritik"; abgedruckt in: O. Bayer, Die Geschichten, 86. G. Wohlfart, Logik und Ästhetik, 76.

Idiomenwechsel der Sprache

229

die synthetischen Geheimnisse beyder correspondirenden und sich widersprechenden Gestalten a priori und a posteriori, samt der Transsubstantiation subjectiver Bedingungen und Subsumptionen in objective Prädicate und Attribute durch die copulam eines Macht- oder Flickworts zur Verkürzung der langen Weile und Ausfüllung des leeren Raums [...]" (287,17-24). In der Sprache erfahren die von Kant streng getrennten Wirklichkeiten der Wahrnehmung („Rezeptivität") und des Denkens („Spontaneität") eine Synthese. „Durch die copulam" des hier als „Macht- oder Flickwort" bezeichneten Prädikates wird, der geheimnisvollen „Transsubstantiation" von Brot und Wein durch das konsekrierende Wort des Priesters vergleichbar, eine Anschauung zu einem objektiv gültigen Begriff, der fortan durch die ursprünglich „subjectiven Bedingungen und Subsumptionen" dessen definiert ist, der durch ihn ein Ding begriffen und dem Begreifen anderer vorgegeben hat. „Vernunft ist Sprache" 67 , mittels derer der Erkennende sich eine in „Laute und Buchstaben" gefaßte Bedeutung aneignet, dieses ihm „Gegebene" mit den unverwechselbaren Eigenheiten des eigenen Erkenntnisvermögens verbindet und so in ein Gedachtes „verwandelt", welches nunmehr selber zum Gegebenen, zum sprachlich geformten Apriori anderer Erkenntnisse im Sinne einer von anderen bejahten oder verworfenen „Erfahrung" bzw. „Offenbarung" wird. 68 Dies läßt sich für Hamann anhand der Solözismen eines Dialektes („Busenschlange der gemeinen Volkssprache") ebenso erweisen wie etwa an den Solözismen der Bibel. 69 Denn wer das („Macht"-) Wort hat, kann die Wirklichkeit auch gegen die Regeln der Logik gestalten, und dies gilt nicht nur von jenem „Kayser", der auf dem Konstanzer Konzil in Ermangelung lateinischer Sprachkenntnisse fälschlich „Schismam" sagt und angeblich unter Hinweis auf seine kaiserliche Macht auf dieser Wortschöpfung bestanden haben soll. 70 Es gilt insbesondere auch von den Verfassern der biblischen Bücher, die mit ihrem oft fehlerhaften „humili generi dicendi"71 selbst den Modus göttlichen Redens bestimmen. Die methodische Trennung von Ästhetik und Logik, wie Kant sie vornimmt, wird durch den von Hamann beobachteten „Idiomenwechsel" hinfällig:

67 68 69 70

71

ZH V, 177,18 (an Herder am 6. Aug. 1784). Vgl. N 111,39,7-19. Vgl. N 11,171,15f. N 11,171,18-21 (Kleeblatt). Hamann spielt hier auf eine überlieferte Begebenheit an, die sich auf dem Konstanzer Konzil zugetragen haben soll. „Wir wollen kein Schismam haben", sagt dort Kaiser Sigismund und entgegnet dem Hinweis seiner Berater, daß „Schisma" Neutrum sei, mit den Worten: „So bin ich ein Keyser, und höher als [die Grammatiker], kan wol gar ein andere Grammatic machen. Dann bin ich ein Herr der Recht und Sachen über die Wort" (J.W. Zinkgräf der Teutschen scharfsinnige kluge Sprüche 1644, zit. n. N 11,406). N 11,171,31 (Kleeblatt).

230

Einheit von Begriff und Anschauung

„Wörter haben [...] ein ästhetisches und logisches Vermögen. Als sichtliche und lautbare Gegenstände gehören sie mit ihren Elementen zur Sinnlichkeit und Anschauung, aber nach dem Geist ihrer Einsetzung und Bedeutung, zum Verstand und Begriffen. Folglich sind Wörter sowohl reine und empirische Anschauungen, als auch reine und empirische Begriffe: Empirisch, weil Empfindung des Gesichts oder Gehörs durch sie bewirkt; rein, in so fern ihre Bedeutung durch nichts, was zu jenen Empfindungen gehört, bestimmt wird" (288,1-9). Mit der Gegenüberstellung von „Elementen" und ,,Einsetzung[swort]" klingen wiederum dogmatische Termini, diesmal diejenigen der augustinischen Definition des Sakramentsbegriffes an. 72 Jedes gesprochene Wort ist Element, seine „Laute und Buchstaben [...] die wahren ästhetischen Elemente aller menschlichen Erkenntnis und Vernunft" (286,14-17). Es gleicht in seiner sinnlichen Wahrnehmbarkeit den Elementen von Brot und Wein, die für sich genommen zwar schon schmecken, aber ohne das hinzutretende verbum significans nicht der sakramentalen Vergegenwärtigung von Leib und Blut Christi dienen können. Entsprechend bedarf auch „die Materie des Worts" (288,25) als zufällige Anordnung von Vokalen und Konsonanten einer formgebenden „Einsetzung", die die „Bedeutung" dieses Wortes bei aller Vielfalt des Sprachgebrauchs auf eine eindeutige, andere Bedeutungen ausschließende Weise festlegt, was Hamann dem Leser sogleich in einem metakritischen Kabinettstückchen anhand „des Worts Vernunft" vorexerziert. 73 Die „Bedeutung" eines Begriffes „und ihre Bestimmung entspringt [...] aus der Verknüpfung eines a priori willkührlichen und gleichgiltigen, a posteriori aber nothwendigen und unentbehrlichen Wortzeichens mit der Anschauung des Gegenstandes selbst, und durch dieses wiederholte Band wird dem Verstände eben der Begriff vermittelst des Wortzeichens als vermittelst der Anschauung selbst mitgetheilt, eingeprägt und einverleibt" (288,16-22). Das Geschehen der „Einsetzung" durch ein „Wortzeichen" setzt einen Prozeß in Gang, durch den eine Anschauung (z.B. Farbe, Form, Geruch, Geschmack) zunächst mit einer „a priori" zufälligen Abfolge von Buchstaben in Verbindung gebracht und dann durch Gewöhnung und common sense, also „a posteriori" zu einem Begriff verknüpft werden. Also sind für Hamann nicht Raum und Zeit, sondern „Laute und Buchstaben" (286,14) „die wahren transzendentalen, d.h. Erkenntnis ermöglichenden ästhetischen Elemente" 74 . „Wörter" sind sowohl „empirisch, weil Empfindung des Gesichts oder Gehörs durch sie bewirkt", als auch „rein, in so fern ihre Bedeutung durch nichts, was zu jenen Empfindungen gehört, bestimmt wird." Erfahrungsunabhängige Reinheit und erfahrungsabhängige Empirizität eines Wortes sind 72

73 74

„Accedit verbum ad elementum, et fit sacramentum" (Augustin, Tractatum in Ioann. 80,3; Corpus Christianorum 36,529,5f), zit. n.: Alte Kirche (Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Bd. 1), 205. Vgl. N 111,288,23-289,10. G. Wohlfart, Logik und Ästhetik, 78.

Idiomenwechsel der Sprache

231

daher als Eigenschaften zwar noch zu unterscheiden, werden aber aufgrund des „Idiomenwechsels" zwischen Sinnlichkeit und Verstand auch zu Eigenschaften seiner jeweils anderen „Natur". Nur so ist es möglich, daß ein sichtbares und hörbares Wort die unsichtbare und unhörbare Bedeutung repräsentiert, in die dieses Wort im hoheitlichen Akt seines Ausgesprochen-Werdens „eingesetzt" worden ist. Nun wird deutlich, warum Hamann von einem „Sacrament der Sprache" (289,2lf) sprechen kann. Denken ist nicht möglich ohne den ,Genuß' dessen, was andere bereits gedacht und geäußert haben. Hörend oder lesend wird das Wort empfangen, redend oder schreibend verteilt der Empfänger es weiter. Die Sprache hat als das „a priori" einer jeden Verstandeserkenntnis eine der göttlichen Selbstmitteilung analoge Struktur.

4.3.2 Das Bild von der Himmelsleiter Daß Hamann die in der Sprache zutage tretende „Vereinigung" (287,17f) dessen, was Kant einer so ,,gewaltthätige[n] Scheidung" (286,32f) unterzieht, mit der christologischen Figur der communicatio idiomatum beschreibt, zeigt die gleichnishafte Transparenz des Erkenntnisprozesses auf einen umfassenderen „Idiomenwechsel", den Hamann in der berühmten Stelle aus der Rosenkreuzer-Schrift als „Grundgesetz" und „Hauptschlüssel aller unsrer Erkenntniß und der ganzen sichtbaren Haushaltung" 75 bezeichnet hatte. Diese figürliche Sichtweise erklärt, warum Hamann das Miteinander von Anschauung und Begriff nun zusätzlich mit einem Bild aus der biblischen Heilsgeschichte anschaulich zu machen versucht. Er wolle, so schreibt er, „[...] dem Leser die Augen öfnen, daß er vielleicht sähe - Heere von Anschauungen in die Veste des reinen Verstandes hinauf- und Heere von Begriffen in den tiefen Abgrund der fühlbarsten Sinnlichkeit herabsteigen, auf einer Leiter, die kein Schlafender sich träumen läßt - und den Reihentanz dieser Mahanaim oder zweier Vernunftheere - die geheime und ärgerliche Chronik ihrer Buhlschaft und Notzucht - und die ganze Theogonie aller Riesen- und Heldenformen der Sulamith und Muse, in der Mythologie des Lichts und der Finsternis - bis auf das Formenspiel einer alten Baubo mit ihr selbst - inaudita specie solaminis, wie der heilige Arnobius sagt - und einer neuen unbefleckten Jungfrau, die aber keine Mutter Gottes seyn mag [...]" (287,29-40). Das biblische Motiv der Himmelsleiter 76 dient als Bild für das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand, den beiden „Wurzeln" des Erkenntnisbaumes. Hier ist es nun allerdings die „Veste des Verstandes", die weithin sichtbar in luftiger Höhe liegt, während die „fühlbarste Sinnlichkeit", durch das Bild 75 76

N 111,27,11-14 (Ritter von Rosencreuz). Vgl. Gen 28,12. Hamann verwendet das Motiv auch in ZH 1,367,5-11 und N III,225,24f.

232

Einheit von Begriff und Anschauung

gleichsam nach unten hin ausgedehnt, einen „tiefen Abgrund" darstellt. Aber: was ganz oben ist, muß „herabsteigen", und was ganz unten ist, steigt hinauf. Die fest umrissene Klarheit der „Begriffe" läßt sich in einer kondeszendenten Bewegung herab in die schillernde, ja abgründige Vielfalt der „fühlbarsten Sinnlichkeit", während die „Anschauungen" die „Veste des reinen Verstandes" gleichsam erobern. Die „sinnlichen und verständlichen Naturen" (287,18) kommunizieren über diese „Leiter" der Sprache miteinander, so daß die Prädikate „rein" und „empirisch" wechselweise angewendet werden können. In das Bild vom transzendentalen „Reihentanz" mischt Hamann derbe Metaphern hinein, mit denen er die, wie er meint, einer sexuellen Beziehung vergleichbare Intimität dieses „Idiomenwechsels" sprachlich veranschaulichen möchte. 77 Von Kant geheimgehalten, so Hamanns ironische Unterstellung, weil der postulierten Independenz der Verstandeskräfte zuwider, wird die „ärgerliche Chronik" dieser im Sinne der transzendentalen Methode u n züchtigen' Beziehung zwischen Empirischem und Rationalem, obwohl sie sich schon in den apotheotischen und inkarnatorischen Kreisbewegungen uralter Mythen ablesen läßt. Die „Riesen- und Heldenformen" 78 nicht erst der kritischen Philosophie stehen in der Tradition jener Geschichten, wonach auch die Götter gezeugt und empfangen werden. Mit „Sulamith und Muse" spielt Hamann auf einen Vers im Hohenlied der Liebe (Hld 7,1) an.79 Möglicherweise will er mit diesem Hinweis andeuten, daß selbst die tanzende „Sulamith" sich in der Figur der auf- und abbewegenden Engelsheere bewegt.80 Die „Mythologie des Lichts und der Finsternis", gemeint ist die biblische und außerbiblische Offenbarung, kündigte dann die Erniedrigung Gottes und die Erhöhung des Menschen ebenso an, wie es die communicatio von Anschauung und Begriff in jedem Wort tut. Kants transzendentale Frage stemmt sich der geistleiblichen Struktur der Wirklichkeit und damit auch der Struktur des Denkens entgegen. Sein Versuch, die Vernunft zum Gegenstand ihrer selbst zu machen, ist, wie Hamann mit dem Hinweis auf „Baubo" 81 sagen will, sexueller Selbstbefriedigung vergleichbar. 82 Oder, etwas weniger drastisch formuliert: Die sich aus Furcht vor 77

78

79

80 81 82

„Für Hamann vollzieht sich sozusagen in der Sprache selbst ständig diese Bewegung ,auf der großen Leiter zwischen Himmel und Erde', [und] in ganz besonderer Weise gilt [dies] für seine eigene Autorsprache im Zeugendienst [...]" (E. Büchsei, Biblisches Zeugnis, 95). Vermutlich eine Anspielung auf die in Gen 6,lf berichtete Begebenheit der Vermischung von „Göttersöhnen" und „Menschentöchtern". In seiner eigenen Übersetzung des Hohenliedes lautet der Vers, abweichend vom Luthertext: „Kehre wieder, kehre wieder, o Schulamith, kehre wieder, kehre wieder und wir werden schauen in dir. Was werdet ihr schauen in der Schulamith? Wie die Reigen Machanaim" (N IV,255,6-8). Vgl. NIV,255,45. Vgl. dazu N VI, 46. Vgl. O. Bayer, Die Geschichten, 35.

Idiomenwechsel der Sprache

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Sinnestäuschungen in die „jungfräuliche Erde" (278,19) einer Formenlehre vergrabende Vernunft gleicht einer „neuen unbefleckten Jungfrau". ,Jiein" mag sie sein, aber eine Gottheit - auch dies ein Seitenhieb auf die theologischen Implikationen der Ideenlehre Kants - wird sie nicht zur Welt und damit auch nicht auf den Begriff bringen. Denn unproduktiv bleibt eine Vernunft, die sich nicht demütig auf das „Gegebene" einlassen will, welches ihr nur in der zufälligen Form von ,,Laute[n] und Buchstaben", nämlich als sprachliches „a priori" (286,14) begegnen kann. 83

4.3.3 Wort und Glaube als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis Hamanns Verwendung von Begriffen aus der Christologie und aus der Abendmahlslehre entspricht der eigenwilligen Systematik seines Denkens. Das Bild der „Himmelsleiter" bestätigte dies: Hamann stellt damit den Prozeß des Erkennens als mikrologische Figur der heilsgeschichtlichen Bewegung von „menschlicher Vergöttung und göttlicher Incarnation" 84 dar. Sowohl die Einheit von „Begriff und „Anschauung" als auch die diese Einheit als Ergebnis einer Vereinigung schlechthin entgegengesetzter, „himmelweit" unterschiedener Wesenheiten kennzeichnende Differenz sind als Strukturmerkmale der sprachlichen Vernunft zu verstehen. Als Verleiblichung des Geistigen, als Ästhetisierung des Logischen kann jedes Wort menschlichen Sprechens auch als ein Symbol des einen Wortes verstanden werden, welches „am Anfang bei Gott" war und welches sich dem Menschen mitteilt. Aber das ist nicht alles. Das Wort hat für Hamann, dies wurde schon bei der Analyse des Gesprächs mit Lessing deutlich, immer auch etwas mit der sakramentalen Vergegenwärtigung des darin Ausgesprochenen zu tun. Gleich der „sichtbaren Haushaltung" 85 in Natur und Geschichte, durch die Gott zum Menschen redet, hat auch das Wort vernünftiger Rede, durch das der Mensch zum Menschen redet, sakramentalen Charakter. Denn es kann in der säkularen Dimension positiv verändernd, weil Kommunikation ermöglichend, in das Gefüge menschlichen Miteinander eingreifen. Gesagt wird das freilich nicht: „Was die Transcendentalphilosophie metagrabolisiertl86], habe ich um der schwachen Leser willen, auf das Sacrament der Sprache, den Buchstaben ihrer Elemente, den Geist ihrer Einsetzung gedeutet, und überlasse es einem jeden, die geballte Faust in eine flache Hand zu entfalten" (289,20-24), schreibt Hamann. Dem Leser obliegt es damit, aus dem Gesagten die Folge83 84 85 86

Vgl. ZH VII,26,35-37 (Vernunft als „causa sui"). N III,224,6f (Konxompax). N 111,27,13f (Ritter von Rosencreuz). Ein von Hamann gebildetes Kunstwort aus drei griechischen Wörtern. Es bedeutet soviel wie „schreibend Leeres ausloten" (E. Büchsei, HH IV, 201), also viel Worte machen um etwas, das es nicht gibt.

234

Einheit von Begriff und Anschauung

rungen zu ziehen, die den Rahmen der metakritischen Bezugnahme auf Kant gesprengt hätten. Ist die Sprache ein „Sacrament", dann müßte ja nicht nur das Sprechen, sondern auch die Annahme des Gesprochenen oder das Verweigern dieser Annahme durch den Angesprochenen thematisiert werden. Immerhin kann man ein Wort ja auch hören, ohne dem Gesagten Glauben zu schenken. Hier nur einige Hinweise: Wenn „jeder allgemeine Satz auf gute[m] Glauben beruht" 87 , dann gehören Wort und Glaube im erkenntnistheoretischen Sinne zusammen. Indem der Hörende sich darauf verläßt, daß das gesprochene Wort mit einer unsichtbaren Bedeutung übereinstimmt, nimmt er eine dem religiösen Glauben vergleichbare Haltung ein. Glaubend läßt er sich auf die Präsenz der unsichtbaren Bedeutung im Wort ein; Glauben fordernd gibt er das Wort weiter. Solcher „Glaube", das hatte Hamann schon in den „Somatischen Denkwürdigkeiten" gesagt, „ist kein Werk der Vernunft und kann daher auch keinem Angrif derselben unterliegen; weil Glauben so wenig durch Gründe geschieht als Schmecken und Sehen."88 Was man glaubt, ja selbst wovon man sich im philosophischen Diskurs überzeugen läßt, wäre dann im wahrsten Sinne des Wortes Geschmackssache. Für Hamann haben die gottmenschliche communicatio und die zwischenmenschliche Kommunikation eine analoge Struktur. Auf das Gespräch mit Kant angewendet bedeutet dies: Dessen Philosophie kann ohne das Wissen um diese Analogie zu gültigen und verläßlichen Erkenntnissen gelangen. Sie kann dies aber nicht ohne das Risiko, das allen Formen der Wahrheitsfindung gemeinsam ist und welches sie für Hamann letztlich in das Sich-Ereignen von göttlicher Wahrheit einbindet: nämlich das Risiko glaubenden SichEinlassens auf sprachlich vermittelte Gegebenheiten, welches eine letzte „Gewißheit" über die Wahrheit des für wahr Gehaltenen grundsätzlich ausschließt. Was für den religiösen Glauben gilt, gilt damit für alle Formen der Kommunikation: „Gewißheit hebt den Glauben, wie Gesetz Gnade auf." 89 Oder: „Es giebt keine absolute[n] Geschöpfe, und eben so wenig absolute Gewißheit." 90 Wer intellektuelle Gewißheit fordert oder zu gewährleisten verspricht, hat nicht verstanden, daß Erkennen auch im nichtreligiösen Kontext immer etwas mit „Glauben" und „Gnade" zu tun hat und deshalb auch damit, welchen intellektuellen „Geschmack" der Denkende hat. Das gilt natürlich genauso für die Glaubensgewißheit im religiösen Kontext. 91 87 88 89

90 91

N III,190,18f (Zweifel und Einfälle). N 11,74,2-5 (Sokrat. Denkwürdigkeiten). ZH IV,5,26f (Brief an Lavater vom 18. Jan. 1778). Zur Bedeutung dieses Satzes für S. Kierkegaard („Das ist ja mein Satz") vgl. S. Steffensen: Kierkegaard und Hamann (Orbis litterarum XXII, 1967), 402f. ZH VII,174,17f (an Jacobi am 30. April 1787). Diesen philosophischen Begriff von „Glauben" hat Hamann von David Hume übernommen. Dieser, so schreibt er an Herder, „ist immer mein Mann, weil er wenigstens das

Vernunft zwischen Wahrheit und Lüge

235

Die bereits erwähnte „peculiar combination of absolutism and relativism" 9 2 im Denken Hamanns ist deutlich zu erkennen. Wie sich für ihn die „ewigen Wahrheiten" 93 der Religion nur im Glauben an ihre „unaufhörlich zeitliche" Präsenz im leiblichen Wort, also sub contrario vergegenwärtigen und damit die Möglichkeiten historischer Vergewisserung grundsätzlich ausschließen, so auch alle Wahrheiten im Sinne philosophischer Erkenntnis. Das letztlich unbegründbare Vertrauen auf die Kongruenz von sichtbarem „Element" und verborgener „Bedeutung" ist die dem religiösen Glauben analoge Grundhaltung jeglicher Erkenntnis. Damit verbunden bleibt das Risiko des Vertrauens; es läßt sich nicht ausschalten, sondern zeigt vielmehr die fundamentale Abhängigkeit aller Erkenntnis von einem zuvor gesprochenen Wort, in welchem eine Bedeutung unsichtbar gegenwärtig ist - oder den täuscht, der sich auf sie verläßt.

4.4 Vernunft zwischen Wahrheit und Lüge „Bey mir", schreibt Hamann an Jacobi, „ist weder von Physik noch Theologie die Rede, sondern Sprache, die Mutter der Vernunft und Offenbarung, ihr A und £2. Sie ist das zweyschneidige Schwert für alle Wahrheiten und Lügen. [...] Es ist meine alte Leyer - aber durch sie sind alle Dinge gemacht." 9 4 Die sprachphilosophische Durchführung des Erkenntnisproblems hat ihm deutlich werden lassen, daß es bei allen Formen von Erkenntnis nicht nur um die Unterscheidung von richtig und falsch geht, sondern um die Unterscheidung von „Wahrheiten und Lügen" im Zusammenhang eines sowohl das Physische als auch das Metaphysische transzendierenden Horizontes. Daß sich für Hamann „Vernunft und Offenbarung" ein- und derselben „Sprache", nämlich der Sprache Gottes verdanken, sagt er in der „Metakritik" nicht. Dieses geschwisterliche Verhältnis von Vernunft und Offenbarung ist gleichwohl für das Verständnis der „Metakritik" von fundamentaler Bedeutung und soll deshalb zumindest ansatzweise „entfaltet" werden. Es geht um die Frage, inwiefern auch die „Kritik der reinen Vernunft" und ihre Botschaft in den Horizont der Anrede Gottes eingezeichnet werden kann. Steht das

92 93 94

Principium des Glaubens veredelt und in sein System aufgenommen [hat]" (ZH IV,294,7f). Daß Hamanns Begriff von „Glauben" im Sinne einer existentiellen Grundhaltung dem Glaubensbegriff Luthers nicht nur entspricht, ist angesichts unbestritten großer Übereinstimmungen zwischen Hamann und Luther bislang wenig beachtet worden. Wenn Hamann die religiöse und philosophische „Gewißheit" als etwas Unmögliches, weil dem zur Kommunikation notwendigen Glauben Entgegengesetztes befehdet, zeigt sich bei ihm eine tiefgehende Skepsis, die tatsächlich den von Kant eingeschlagenen „kritischen Weg" noch zu überbieten sucht. J. OTlaherty, Unity and Language, 56. Dieses und das folgende Zitat: N lll,303,36f (Golgatha und Scheblimini). ZH VI,108,20-25 (an Jacobi am 22. Okt. 1785).

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Einheit von Begriff und Anschauung

Miteinander von Selbstbegrenzung und Grenzüberschreitung, das Hamann im Kontext der Methodenfrage ausgemacht hatte, in irgend einem Zusammenhang mit dem, was Hamann „Wahrheit" nennt, oder läßt es sich nur als im Widerspruch dazu stehend, also als „Lüge" bzw. „Irrtum" begreifen? Wenn, wie von Hamann behauptet, alles, auch die Wirklichkeit des Denkens, worthaften Charakter hat und folglich menschlich und göttlich zugleich ist: Hätte dann nicht auch die „Kritik", die ja gerade den Wortcharakter der Vernunft ausblendet, ein Wort zu sagen? „Vernunft [...] ist die Quelle aller Wahrheiten und Irrthümer. Sie ist der Baum des Erkenntnißes Gutes und Böses. Also haben beide Theile Recht, beide Unrecht, die selbige vergöttern und selbige lästern" 95 , schreibt Hamann, wiederum in einem Brief an Jacobi. Er unterstreicht damit noch einmal den ambivalenten Charakter dessen, was er unter „Vernunft" versteht. Sie ist eben nicht nur menschlich, sondern ist als göttliches adiutorium 96 auch ein Sprachrohr des Wortes Gottes; sie warnt den Menschen, wie einst die Stimme Gottes im Paradies, vor den Folgen des Ungehorsams. 97 Daß die „Vernunft", ursprünglich die „Quelle aller Wahrheiten", zu einer „Quelle aller Irrthümer" wird, gehört zu den Folgen, vor denen sie selber warnt, denn der unerlaubte Griff nach dem „Baum des Erkenntnisses" führt in eine universale Sprachverwirrung der Vernünfte, durch die die Geschichte vom Turmbau zu Babel immer neu aktualisiert wird. Jeder hat nun seine eigene, nicht mehr kommunikable Erkenntnis, seinen eigenen „Logos", seinen eigenen Gott. 98 Auch Kants „Kritik" ist ein solcher „Baum des Erkenntnißes". Sie warnt, und sie verfällt ihrem eigenen Verdikt. Hamann liest sie primär als Sprachzeugnis dieses Selbstwiderspruches, welches im Strom von „Offenbarungen und Ueberlieferungen" 99 mitschwimmt und in dem, wie in allen großen Zeugnissen menschlicher Kultur, „Wahrheit" und „Lüge" eng beieinander liegen. Zunächst gilt für ihn: Kant redet „menschlich", indem er den transzendentalen Zweifel am „Gegebenen" (287,1) zum Grundprinzip des Denkens macht. Diesem Zweifel verdankt sich seine „vorzügliche [...] Critic aller speculativen Theologie" 100 , die Hamann nur begrüßen kann. Ihm verdankt sich aber auch die trügerische Annahme, daß die Autorität der kritischen Vernunft sich intern, d.h. in völliger Selbstbezogenheit beglaubigen könne und damit keiner externen Autorität mehr verpflichtet sei. Der sich im Sinne 95 96 97 98

99 100

ZH VII,172,36-173,1 (am 29. April 1787). Vgl. N 111,224,37 (Konxompax). Vgl. Kapitel 3.3. „Das A und Q läuft im Grunde auf nichts, als ein Ideal der reinen Vernunft heraus, und dadurch gewinnt man unendlichen Spielraum zu den willkührlichsten Einbildungen [...]. Durch diese Sprachverwirrung wird der Thurmbau von selbst aufhören" (ZH VI,339,1721; an Herder am 2. April 1786). N 111,39,15 (Philolog. Einfälle und Zweifel). N 111,279,12-14 (Rezension).

Vernunft zwischen Wahrheit und Lüge

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Kants seines eigenen Verstandes bedienende Mensch lehnt Verantwortung nicht ab. Aber er lehnt Verantwortung vor externen Autoritäten ab. Er will sich keinen anderen Gesetzen beugen als denen seiner eigenen Vernunft, die er für unfehlbar, ja für ewig hält. Der mit der „Materie" von Natur und Geschichte allem „Gedachten" bereits vorgegebene „Eckstein" (289,14) wird verworfen 101 und durch ein Konstrukt ersetzt, das, gleich dem Archimedischen Punkt, eine reine Wunschvorstellung ist. Als gegeben wird nurmehr akzeptiert, was der Mensch im Gebrauch seiner Verstandeskräfte aus sich selber hervorbringt und sich selber gibt: sei es die Sprache, die religiöse Wahrheit oder die Organisation der Verstandeskräfte. Die Vernunft wird bei Kant selber zur Schöpferin der intellektuellen Welt, nach welcher sich die physische Welt zu richten 102 und vor der sie sich zu verantworten hat. 103 Auch zur „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" wird Hamann nur noch sagen können, daß „Kants guter Wille [...] wohl kein anderer als der Göttliche [sei], wie seine reine Vernunft der wahre Logos"104. Damit hätte die Vernunft im Sinne Kants alle wichtigen Prädikate und Funktionen des biblischen Gottes an sich gezogen: sie erschafft sich nicht nur ihre Welt, sondern ist auch deren Gesetzgeberin („guter Wille") und Mittlerin („wahre[r] Logos"). Dem Menschen zu appropriieren, was allein dem Schöpfer gebührt, ist „Selbstabgötterey" 105 . Aber auch hier gilt: Wie die Schlange in der Geschichte vom Sündenfall zwar den Menschen belügt, mit dieser Lüge jedoch zur unfreiwilligen Botin des göttlichen Heilswillens wird, so auch die von dieser Schlange verführte „Vernunft". Wenn Kant an einer Stelle in der „Kritik" behauptet, daß „der größte und vielleicht einzige Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft [...] wohl nur negativ" sei, „da sie nämlich nicht, als Organon, zur Erweiterung, sondern, als Disziplin, zur Grenzbestimmung dient, und, anstatt Wahrheit zu entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrthümer zu verhüten" 106 , dann formuliert er mit unüberbietbarer Klarheit den legitimen Geltungsanspruch einer sich gesetzlich verstehenden Vernunft. Es ist im theologischen Sinne wahr, daß die „philosophische Erkenntniß" 107 ebenso we101

102 103

104 105 106 107

Hamann spielt mit „Eckstein" auf Ps 118,22 in der christologischen Deutung durch die Evangelien (Mk 12,10 parr) an. KrV B XVI: „Die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntniß richten". KrV B XIII: „Die Vernunft muß mit ihren Principien [...] in einer Hand, und mit dem Experiment [...] in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers [...], sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nöthigt auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt." Mit dieser Formulierung zeigt Kant an, daß es sich bei diesem Verfahren nicht um eine Belehrung im eigentlichen Sinne handelt, sondern lediglich um Hilfeleistungen für den „Richter", der über wahr und unwahr selber zu befinden hat. ZH VII,83,32f (an Jacobi am 7. Dez. 1786). N 111,224,19f (Konxompax). KrV A 795. N 111,224,21 (Konxompax).

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Einheit von Begriff und Anschauung

nig wie die „gesetzliche Gerechtigkeit" 108 vermögend wäre, „Wahrheit zu entdecken", und es ist gleichfalls wahr, daß eine so verstandene Vernunft den Menschen niemals zu einer unüberlegten Grenzüberschreitung verführen würde, sondern ihn vielmehr in heilvoller Weise begrenzen, um nicht zu sagen: demütigen will. 109 Kant ist, und darin unterscheidet er sich für Hamann von den meisten Philosophen vor ihm, ein Gesetzeslehrer der Vernunft. Der nicht reflektierte „Thurmbau" seines transzendentalen Systems und die sehr wohl reflektierte Funktionalisierung der Vernunft als Zuchtmeisterin auf eine ihr unzugängliche „Wahrheit" sind als (menschliche) „Lüge" und (göttliche) „Wahrheit" in seiner Philosophie koinzident. Daß die Vernunft sich selber reflektieren könne, ist der Irrtum, der nach Hamann in der Tradition des Sündenfalles steht. Daß gleichwohl die durch die Sünde völliger Selbstbezüglichkeit korrumpierte Vernunft zu wahren Einsichten über ihr eigenes Vermögen kommt, zeigt für Hamann, daß der methodisch ausgeklammerte Erkenntnisfaktor „Gott" auch in der „Kritik der reinen Vernunft", und zwar in hervorgehobener Weise, zur Sprache kommt. „Vernunft und Schrift sind im Grunde Einerley = Sprache Gottes. Dies Thema in eine Nuß zu bringen ist mein Wunsch und das punctum saliens meiner kleinen Autorschaft." 110 So ist für ihn Kants Philosophie wohl in stärkerem Maße noch als diejenige David Humes „allemal Orthodoxie und ein Zeugnis der Wahrheit in dem Munde eines Feindes und Verfolgers derselben." 111 Dieses Lob darf in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden, auch wenn Hamann es Kant gegenüber nicht so offen ausspricht. Was philosophisch im positiven Sinne möglich ist, hat Kant Hamanns Meinung nach jedenfalls in einer Weise verwirklicht, daß sich nicht nur dessen Philosophie selbst, sondern auch alle Philosophie nach ihm an ihrer „Wahrheit", nämlich der Wahrheit des Vernunft-Gesetzes, das seinen Übertreter anklagt, wird messen lassen müssen.

4.5 Zusammenfassung 1. Hamanns Kritik an Kant konzentriert sich im Wesentlichen auf die Kritik der transzendentalen Ausgangsfrage Kants und der darin implizierten Prämissen. Ist die Frage nach der Möglichkeit von apriorischer Erkenntnis sinnvoll, wenn nicht zuvor die Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt geklärt ist? Ist der „kritische Weg" überhaupt ein Weg, der aus dem Dilemma der Philosophie führen kann, oder bedeutet er nicht vielmehr eine Radikali108 109 110 111

Ebd, 21f. Vgl. E. Metzke, Kant und Hamann, 249. ZH VI,296,6-8 (an Jacobi am 2. März 1786). ZH 1,356,20-22 (an Lindner am 22. Juni 1759).

Zusammenfassung

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sierung des Zirkels, in dem die alles hinterfragende Skepsis zum unhinterfragbaren Dogma wird? Mit seiner Beantwortung der Frage nach der „Möglichkeit menschlicher Erkenntnis von Gegenständen der Erfahrung ohne und vor aller Erfahrung" (283,20f) bringt Kant den „logischen Circul" 112 auf den schlechterdings nicht denkbaren Begriff einer Vernunft, die sich selber kritisch gegenübertritt. 2. Die Notwendigkeit dieser Selbstkritik bestreitet Hamann nicht, macht jedoch geltend, daß sie aufgrund der eingeforderten transzendentalen Reinheit in Konflikt mit ihrem Anspruch der Überparteilichkeit geraten muß. Er versucht zu zeigen, daß jede Philosophie auf sprachlich überlieferten Vorentscheidungen aufbaut und deshalb nicht nur durch ihre Geschichte, sondern auch durch eine Form des gläubigen Für-wahr-Haltens bedingt ist. Zu der von Kant geforderten intellektuellen Autonomie „gehört nicht die Annahme, ohne Vorurteil urteilen zu können; zu ihr gehört vielmehr, bewußt und kritisch mit Vorurteilen umzugehen." 113 Diese Distanz vermißt Hamann bei Kant. Denn mit der von ihm eingeforderten „Scheidung des Empirischen vom Rationalen" 1 1 4 macht er den Zweifel am „Gegebenen" (287,1) zur methodischen Prämisse von Erkenntnis überhaupt und schreibt ein Vorurteil fest, welches sich wie ein roter Faden durch die Philosophiegeschichte zieht. Hamann sieht einen Zusammenhang zwischen dieser „Scheidung" und dem urgeschichtlichen Auseinandertreten von (dem Menschen gegebenen) göttlichem „Wort" bzw. „Zeichen" (289,26f) und der dieses in Zweifel ziehenden „Vernunft" bzw. „Weisheit" (289,27). 115 Für ihn ist der intellektuelle Zweifel Kants in seiner dogmatischen Grundsätzlichkeit transparent auf die existentielle Haltung des Unglaubens gegenüber dem Wort, dem sich der Mensch, seine Geschichte und seine Vernunft verdanken. 3. Die Wirklichkeit des sinnlich Wahrnehmbaren und die der reinen Verstandeserkenntnis sieht Hamann durch einen „Idiomenwechsel" (287,19) aufeinander bezogen, der nicht nur die transzendentale Fragestellung ihrer „doppelten [/«-Möglichkeit" (283,23) überführt, sondern auch den bei Kant so „mächtigen Unterschied analytischer und synthetischer Urtheile" (283, 24f) relativiert. Hamann spricht von einer Synthese der sowohl „correspondirenden" als auch „sich widersprechenden Gestalten a priori und a posteriori" (287,20f), weil im Prozeß sprachlichen Begreifens ein a priori zufälliges „Wortzeichen" (288,19) in ein a posteriori notwendiges und damit in einen festen Begriff umgeprägt wird. Nicht Raum und Zeit, sondern ,J.aute und 112 113 114

N 111,224,6 (Konxompax). O. Bayer, Autorität und Kritik, 78 („Vernunftautorität und Bibelkritik"). I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 291; vgl. dazu O. Bayer, Zeitgenosse im Widerspruch, 158f. „Vielleicht ist aber ein ähnlicher Idealismus die ganze Scheidewand des Judentums und Heidentums. Der Jude hatte das Wort und die Zeichen; der Heide die Vernunft und ihre Weisheit [...]" ( N 111,289,26-29).

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Einheit von Begriff und Anschauung

Buchstaben sind [...] reine Formen a priori" (286,14), die nur in Verbindung mit einer „unreinen" Anschauung die Mitteilung und das Begreifen der darin mitgeteilten Bedeutung ermöglichen. Die communicatio von empirischer Anschauung und abstraktem Begriff im Wort der Sprache ist die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis. Hamanns Hinweis auf die Idiomenkommunikation und der Vergleich des Erkenntnisprozesses mit dem biblischen Bild der Engelsleiter zeigt: Das gesprochene Wort, durch welches ein Ding begriffen und dem Begreifen anderer zugänglich gemacht wird, ist in einem Zusammenhang mit Christus zu sehen, in dem die „Wahrheit" des ,,ursprüngliche[n] Seyn[s]" und die „Gnade" seiner Selbstmitteilung sich nicht gegenseitig aufheben. 116 Als fleischgewordenes Wort ist Christus das Urbild aller materiellen Gegebenheiten, als ewiger Logos ist er ihr geistiger Ursprung; er ist geschaffenes und schöpferisches Wort in einer Person. 117 M.E. ist diese in Christus begründete Einheit von Wahrheit und Mitteilungsbedürftigkeit das Konstitutivum des Hamannschen Verbalismus, der die mikrologische Innenstruktur des in Konxompax vorgestellten geschichtstheologischen Weltverständnisses darstellt und damit aus systematisch-theologischer Perspektive sicherlich den wichtigsten Beitrag zu Kants Unternehmen liefert. Daß das Erkennen sowohl intellektuelle Spontaneität und Identität als auch eine kondeszendente Bewegung, ein nicht ohne Sprache durchführbares Sich-Einlassen auf das dem Erkennen vorgegebene Sein beinhaltet, mag für einen Philosophen wie Kant nicht nachvollziehbar gewesen sein. Dem biblischen Erkenntnisbegriff jedoch, wonach sich das Erkennen im Wesentlichen in einer sprachlich geformten Beziehung zwischen Partnern ereignet, kommt Hamanns Ansatz sehr nahe. Deshalb kann er - und das war wohl der Grund, warum sich zwischen ihm und seinem großen Antipoden keine echte Beziehung in diesem Sinne entwickelte - den Diskurs über Vernunft nicht führen, ohne zugleich über die um Erkenntnis sich bemühenden Menschen, ihre Beziehungen und ihre Geschichten nachzudenken. 4. Geschichte ist primär die Geschichte der menschlichen Vernunft, die sich darin tradiert; umgekehrt ist Vernunft immer schon die sprachlich vermittelte Geschichte ihrer selbst. „Hamann denkt" jedoch, und darin ist Josef Simon zuzustimmen, „die Sprache nicht um ihrer .Geschichtlichkeit' willen." 118 Sie steht vielmehr „für die Einheit von Geschichtlichem und Übergeschichtlichem im .unsichtbaren', nicht eindeutig unter einem abstrakten Wesensbegriff zu verdeutlichenden Menschen." 119 Aus dem Geflecht individueller Vernünfte formt sich ein - im Zeitalter der Aufklärung noch andauern116 117

118 119

Vgl. ZH V,271,28f. Mit Luther gesagt: „Ibi [nämlich in Christus] creator et creatura unus et idem est" ( W A 39/11,105,6f [Disputatio de divinitate et humanitate Christi]). Vgl. dazu O. Bayer, Schöpfung als Anrede, 18f. J.G. Hamann, Schriften zur Sprache (Einleitung), 37. Ebd.

Zusammenfassung

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des - Sprachgeschehen, welches wohl vom Menschen zu verantworten ist, dessen „Bedeutung" (288,4) als Ergebnis eines göttlichen Aktes der „Einsetzung" (ebd) von ihm jedoch schlechterdings nicht verursacht und letztlich auch nicht beeinflußbar ist. „Weiß man erst, was Vernunft ist" - nämlich daß sie Sprache ist - „so hört aller Zwiespalt mit der Offenbarung auf." 120 Wie aber bestimmt Hamann das Verhältnis von göttlicher und menschlicher Sprache? Anders gefragt: Inwiefern kann das „Sacrament der Sprache" (289,21f) in einer dem Wort Gottes vergleichbaren Weise sakramentalen, d.h. heilsvermittelnden Charakter haben, wenn die Vernunft eben diesem Wort laufend widerspricht? Ist eine derartige Umformung des Sakramentsbegriffes, die eine direkte Folge der Umformung der communicatio idiomatum darstellt, aus theologischer Sicht überhaupt vertretbar? Wie sehr diese Fragen in der Forschung umstritten sind, zeigt die bei H. Gießer dargestellte Diskussion. 121 Grundsätzlich dürfte Gießer zuzustimmen sein, wenn er von einer „Nivellierung" des Sakramentsbegriffes durch Hamann spricht. 122 Freilich meint „Sacrament" nicht die Sprache an sich, sondern die der Anrede Gottes in ihrer Verläßlichkeit und in ihrer beziehungsstiftenden Kraft entsprechende Sprache, die einerseits Vertrauen fordert, es andererseits aber auch ermöglicht, eben weil sie es nicht enttäuscht. Diese sakramentale Struktur von Sprache und Vertrauen ist nun für Hamann nicht nur im Kontext begrifflicher Verständigung, sondern auch im Kontext gesellschaftlichen und sozialen Miteinanders erkennbar. Dies soll im folgenden Kapitel dargestellt werden.

120 121 122

ZH V I I , 2 7 , l f (an Jacobi am 26 Okt. 1786). „Communicatio" und ihre Strukturen, 91-93. Ebd, 93.

5. Teilhabe am göttlichen Recht der Rede: Die communicatio idiomatum als Interpretament des Gesellschaftlichen („ Golgatha und Scheblimini "1) 5.1 Natürliches Recht und widernatürliche Pflicht „Kritik", so lautet eine Definition von Michel Foucault, heißt: „der Regierung und dem von ihr verlangten Gehorsam universale und unverjährbare Rechte entgegensetzen, denen sich jedwede Regierung, handle es sich um den Monarchen, um das Gericht, um den Erzieher, um den Familienvater, unterwerfen muß." 2 Um diese Entgegensetzung leisten zu können, bedarf es eines gültigen Maßstabes, an dem das Überkommene und Bestehende sich messen läßt. Welchem Recht ist der Mensch in Wahrheit verpflichtet? Dem eines anderen - oder einzig seinem eigenen? Diese Frage führt heran an die rechtsphilosophische Kontroverse zwischen Hamann und Moses Mendelssohn, die im ersten Teil der Schrift „Golgatha und Scheblimini" (1784)3 ihren Niederschlag gefunden hat.4 Hatten Reimarus, Lessing und Kant in je unterschiedlichen Kontexten die Gültigkeit positiver, d.h. geschichtlich gewordener Autoritäten infrage gestellt, so fragt Mendelssohn in seiner 1783 erschienenen Schrift „Jerusalem oder über die religiöse Macht und Judentum"5 nach der Legitimität kirchlicher und synagogaler Gesetzgebung. Wenn Religion, wie Lessing gezeigt hatte, eine innere und sich auch innerlich beglaubigende Wahrheit zum Gegenstand hat 6 : Auf welchem Recht fußen die Verfassungen religiöser Institutionen? Wer oder was berechtigt beispielsweise die Synagoge im Preußen des 18. Jahrhunderts, in einer der staatlichen Gesetzgebung vergleichbaren Weise „Macht" über die Gläubigen auszuüben, etwa durch Vollstreckung des sogenannten Banns? Anders gefragt: Darf „überhaupt eine Glaubensgemeinschaft andere als bloß innerliche Autorität besitzen?" 7 1

N 111,291-320. Zitate werden mit Angabe von Seiten- und Zeilenzahlen im Text nachgewiesen. Zum folgenden vgl. L. Schreiner, J.G. Hamann, Golgatha und Scheblimini (abgekürzt: HH VII), 45ff; O. Bayer, Zeitgenosse im Widerspruch, 193-204; S. Dunning, The Tongues of Men, 59ff. 2 M. Foucault, Was ist Kritik?, 13f. 3 „Scheblimini" ist aus Ps 110,1 genommen und heißt: „Setze dich zu meiner Rechten!". Nach L. Schreiner verwendet Hamann „Scheblimini" als ,JDeckname[n] für den Geist Luthers, den Geist der Reformation, insofern er sich lebendig und wirksam erweist" (HH VII, 21). Mit der Zusammenstellung „Golgatha und Scheblimini" meint er die Einheit von der Erniedrigung Gottes und der Erhöhung des Menschen in der Person Jesu Christi. 4 Zur Entwicklung des geistigen Verhältnisses beider vgl. K. Gründer, Hamann und Mendelssohn, 113ff. 5 M. Mendelssohn, Ges. Schriften, hrsg. v. F. Bamberger u.a., Bd. 8 , 9 9 - 2 0 4 (abgek: JubA VIII). 6 Vgl. Werke, Bd 8, 149-159 (Axiomata X). 7 L. Schreiner, HH VII, 25.

Natürliches Recht und widernatürliche Pflicht

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Der Frage nach dem Verhältnis von Religion und (Kirchen-) Recht hat Hamann die Legitimität nicht abgesprochen. Auch sie zielt ja, wie schon die Fragestellung Lessings, auf eine Form der Veräußerlichung bzw. Verrechtlichung des Religiösen, die es von seinem theologischen Standpunkt aus als „gesetzlich" zu kritisieren gilt.8 Dennoch kann Hamann der Beantwortung dieser Frage durch Mendelssohn in keinem Punkt zustimmen, weil, wie er gleich zu Anfang seiner Schrift nach einer freundschaftlichen captatio benevolentiae 9 klarstellt, „eine große Kluft zwischen unsern religiösen und philosophischen Grundsätze[n] befestiget ist" (293,18f). Mendelssohn ist Jude, Hamann Christ, jener versteht sich als aufgeklärter Jude, dieser als Kritiker einer Aufklärung, die sich seiner Meinung nach selbst nicht richtig versteht und ihren eigenen Prinzipien ständig widerspricht. Befreiung von Vormundschaften zu predigen und neue Abhängigkeiten zu schaffen: dessen glaubt Hamann auch Mendelssohn überführen zu müssen. Wie zuvor schon bei Kant, „so erfordert es" auch hier „die Billigkeit, den Verfasser blos mit sich selbst und keinem andern, als seinem eigenen, von ihm gegebenen Maasstabe zu vergleichen" (293,20f).

5.1.1 Grundlinien des Gedankengangs in Mendelssohns „Jerusalem" Der Maßstab, an dem Mendelssohn die Rechtsansprüche religiöser Institutionen messen will, heißt Naturrecht. Seine Argumentation basiert auf dem Postulat eines dem Menschen eigenen Selbstbestimmungsrechts, welches alle Formen positiven Rechts relativiert. In enger Anlehnung an zeitgenössische Naturrechtstheorien 10 fingiert er dazu einen „Stand der Natur", in dem das vernünftige Individuum ein natürliches „Recht auf gewisse Güter oder Mittel zur Glückseligkeit" 11 hat, „in so weit solches den Gesetzen der Weisheit und Güte nicht widerspricht." 12 Aus diesem durch keinerlei „positive Pflichten" 13 eingeschränkten „Recht" läßt sich nach Mendelssohn eine „natürliche Freyheit" bzw. „Unabhängigkeit" des Menschen ableiten, „die einen großen Theil 8

Dies begründet übrigens auch einen antikatholischen Affekt Hamanns, der in der Römischen Kirche das Pendant zur aufklärerischen Vernunftreligion sah und gerne, die antirömische Polemik Luthers imitierend, den ,,Aberglaube[n] des Papsttums" und „Unglauben des Theismus" als Korrelata ein- und derselben gesetzlichen Verfehlung des christlichen Glaubens bezeichnete (vgl. N III,164f und N 111,297,12-18). Vgl. dazu O. Bayer, Leibliches Wort, 145f („Sokrat. Katechetik").

9

Vgl. N 111,293,1-11. Vgl. HH VII, 26. JubA VIII, 114. Ebd. Ebd, 117: „Im Stande der Natur sind alle positive Pflichten der Menschen gegen einander blos unvollkommene Pflichten; so wie ihre positiven Rechte auf einander blos unvollkommene Rechte [sind]."

10 11 12 13

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Teilhabe am göttlichen Recht der Rede

seiner Glückseligkeit ausmacht." 14 „Der Selbstverpflichtung auf ein anderes hin liegt prinzipiell die Selbstbestimmung voraus; sie macht jene erst möglich."" Diese „Freyheit" ist folglich für Mendelssohn unaufgebbare Grundlage aller rechtstheoretischen Überlegungen auch dann, wenn der Mensch durch eine „Willenserklärung"16 einzelne Rechte an Personen oder Rechtsinstanzen abgetreten hat. Sie wird dann zwar durch den „gesellschaftlichen Vertrag" und durch „Positivgesetze" begrenzt 17 , bleibt jedoch qua „Naturrecht" bestehen. Das heißt: Einem Staat kommt zwar, wie Mendelssohn es nennt, das „Zwangsrecht" 18 zu, seinen Bürgern Pflichten aufzuerlegen und die Erfüllung dieser Pflichten zu erzwingen. Was der Mensch als Bürger tut und läßt, unterliegt der „physischen Gewalt" 19 des von der Gesellschaft beauftragten Gemeinwesens; dieses kann und muß ihn für seine „Handlungen" 20 haftbar machen. „Das Recht auf unsere eigene[n] Gesinnungen" hingegen ist „unveräusserlich"21 und bleibt deshalb auch unantastbar. Was der Mensch im Privatleben glaubt oder denkt, muß er vor keiner staatlichen oder religiösen Institution verantworten. Zugespitzt formuliert: Als Staatsbürger muß der Mensch handeln, und sei es gegen seinen Willen oder gar wider besseres Wissen; als vernünftiges Individuum jedoch hat er die Freiheit zu denken, was immer er will. Nicht um eine Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse geht es Mendelssohn, obwohl ihm seine Theorie dazu durchaus die Möglichkeiten geboten hätte. 22 Ihm geht es vielmehr um die Frage, ob „der Anspruch einer Glaubensgemeinschaft auf andere als geistige Rechte nicht eine Gebietsübertretung gegenüber dem Staat [bedeutete]" 23 . Wenn innere und damit auch religiöse Überzeugungen unveräußerlich sind: „Giebt es" dann, so lautet eine seiner Leitfragen, „nach dem Gesetze der Vernunft, Rechte auf Personen und Dinge, die mit Lehrmeinungen zusammenhängen, und durch das Einstimmen in dieselben erworben werden?" 24 Mendelssohn verneint diese Frage. Religion ist Gesinnungssache, „Gesinnungen leiden ihrer Natur nach keinen Zwang." 25 Folglich hat „die Kirche 14 15 16 17 18 19 20

21 22 23 24 25

Ebd, 120. O. Bayer, Zeitgenosse, 198. JubA VIII, 122. Ebd, 125. Ebd, 114. Ebd. „Nun gehöret zur wahren Erfüllung unserer Pflichten, zweierlei: Handlung und Gesinnung. Durch die Handlung geschieht das, was die Pflicht erfordert, und die Gesinnung macht, daß es aus der wahren Quelle komme [...]" (ebd, 110). Ebd, 129. Vgl. O. Bayer, Zeitgenosse, 197. H H V I I , 25. JubA VIII, 151; vgl. dazu N 111,298,10-12. JubA VIII, 137.

Natürliches Recht und widernatürliche Pflicht

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kein Recht [...] auf Gut und Eigentum, keinen Anspruch auf Beytrag und Verzicht" 26 , auch „kein Recht Handlungen zu belohnen oder zu bestrafen." 27 So sind „Bann und Verweisungsrecht, das sich der Staat zuweilen erlauben darf, [...] dem Geiste der Religion schnurstracks zuwider." 28 Nicht einmal eine „Bezahlung" kirchlicher Funktionsträger möchte Mendelssohn zugestehen, sie sei für eine so „erhabene Beschäftigung" wie Predigen und Lehren geradezu „unnatürlich" 29 . „Das Einstimmen" in „Lehrmeinungen" muß nicht notwendig einen Einfluß auf das „sittliche Vermögen" 30 des Gläubigen und damit ethische Konsequenzen haben, während umgekehrt der vernünftige Gottesdienst 31 eines tugendhaften bürgerlichen Lebens keiner Festlegung auf eine religiöse Richtung bedarf. „Religion und Ethik sind geschieden wie Gesinnungen und Handlungen." 32 Von hier ergibt sich die polemische Stoßrichtung der Schrift: Nicht den Staat, sondern die religiösen Institutionen („äußerliche Kirche, Synagoge oder Moschee" 33 ) gilt es in ihre Schranken zu weisen, sofern sie unveräußerliche „Gesinnungen" an äußere „Handlungen", an die Bejahung von „Lehrmeinungen" und an die Einhaltung von bestimmten Riten binden und sich dabei „Zwangsrechte" staatlicher Gerichtsbarkeit anmaßen. Daß Mendelssohn sich in dieser Weise gegen eine Verrechtlichung des Religiösen wendet, hat auch politische Hintergründe: Sein Fernziel ist die gesellschaftliche Anerkennung der Juden durch den preußischen Staat. Unter ausdrücklicher Bekundung seiner Solidarität mit diesem Staat 34 versucht er nachzuweisen, daß der „bürgerlichen Vereinigung" 35 von Judentum und Christentum nichts mehr im Wege stehe, da doch beide Religionen in den „ewigen Vernunftwahrheiten von Gott, Mensch und Welt" 36 übereinstimmten und damit gleichermaßen auf dem Fundament der „natürlichen Religion" aufbauten. 37 Die „mosaische Verfassung" 38 , in der „Staat und 26 27 28 29 30 31 32 33 34

35 36 37

38

Ebd, 127. Ebd, 128. Ebd. Ebd. Ebd, 114. Vgl. ebd, 126f. HH VII, 29. JubA VIII, 140. „Ich habe das Glück, in einem Staate zu leben, in welchem diese meine Begriffe weder neu, noch sonderlich auffallend sind" (ebd, 146). Ebd, 200. E.J. Schoonhoven, Hamann in der Kontroverse mit Mendelssohn (Acta V), 312. „Nicht durch unmittelbare Offenbarung", also nicht „durch Wort und Schrift" hat das „allerhöchste Wesen" die ewigen Vernunftwahrheiten „eingegeben." Vielmehr wurden sie „allen vernünftigen Geschöpfen durch Sache und Begriff geoffenbaret, mit einer Schrift in die Seele geschrieben, die zu allen Zeiten und an allen Orten leserlich und verständlich ist" (JubA VIII, 191; vgl. N 111,304,1-6). E.J. Schoonhoven, Hamann in der Kontroverse, 311.

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Teilhabe am göttlichen Recht der Rede

Religion tatsächlich identisch gewesen" 39 seien, gehöre der Vergangenheit an, und auch das „Zeremonialgesetz" 40 stelle, da es lediglich auf „Geschichtswahrheiten" 41 gegründet sei, nichts eigentlich Trennendes mehr dar. Folglich muß das aufgeklärte, sich auf seine Grundlagen besinnende Judentum nicht mehr als gesellschaftspolitisches Risiko gewertet werden. Denn es hat, wie Mendelssohn mit seiner Schrift zeigen will, gelernt, vernunftgeleitete Überzeugungen (innere „Wahrheitsgründe" 42 ) von politischen Gegebenheiten und Sachzwängen (äußere „Bewegungsgründe" 43 ) streng zu unterscheiden 44 und gleichwohl daran festzuhalten, daß Religion und Staat in der „gesunden Vernunft, deren Göttlichkeit wir alle anerkennen müssen" 45 , eine gemeinsame Wurzel und in der sowohl zeitlichen als auch ewigen „Glückseligkeit" des Menschen ein gemeinsames Ziel haben. 46

5.1.2 Hamann: Das Recht der Natur ist das Recht des Stärkeren Hamanns „ganze Kritik an Mendelssohns Jerusalem", so urteilt Hans Urs von Balthasar, „spitzt sich zu in dem Vorwurf der Betrügerei durch unklares Denken." 47 Sie gilt, wie schon bei Lessing und Kant, weniger der Intention Mendelssohns als vielmehr der Argumentationsstruktur, die seiner Meinung nach auf einer fragwürdigen Prämisse beruht. Nämlich: „Herr Mendelssohn glaubt an einen Stand der Natur, welchen er der Gesellschaft, wie die Dogmatiker einen Stand der Gnade, theils voraus-, theils entgegen setzt" (293, 22f). Hamann sieht in dieser Prämisse „das organisierende Prinzip" 48 , mit dem die Argumentation Mendelssohns steht und fällt. Er konzentriert sich in seiner Replik zunächst auf die darauf aufbauende Klassifizierung von „Rechthabende[n]", die ihr „Recht" einem „sittlichen Vermögen" (295,2) 49 verdanken, und „Pflichtträger[n]" (295,1), deren Pflichten einer „sittlichen N o t wendigkeit" (295,3) entsprechen. 50 Unstimmig, so Hamann, sei diese Unter39

Ebd. JubA VIII, 200. Ebd, 192. 42 Ebd, 110. 43 Ebd. 44 Vgl. auch Mendelssohns Zuordnung von „äussern Sinne[n]" und „innern Sinn" (JubA VIII, 133). 45 Ebd, 145. 46 „Staat und Kirche haben zur Pflicht, die menschliche Glückseligkeit in diesem und jenem Leben, durch öffentliche Vorkehrungen, zu befördern" (ebd, 137). 47 Hamanns Theolog. Ästhetik, 37. Vgl. auch N 111,394,24-29. 4 ® O. Bayer, Zeitgenosse, 197. 49 „Die Befugniß (das sittliche Vermögen) sich eines Dinges als Mittel seiner Glückseligkeit zu bedienen, heißt ein Recht" (JubA VIII, 114). 50 „Was nach den Gesetzen der Weisheit und Güte geschehen muß [...]: heißt sittlich nothwendig" (ebd, 115). 40 41

Natürliches Recht und widernatürliche Pflicht

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Scheidung deshalb, weil „bey den Rechthabenden [...] blos auf den Stand der Natur; bey den Pflichtträgern zugleich mit auf den Stand der Gesellschaft Rücksicht genommen [wird]" (295,4-6). Sie „scheint [...] darauf hinauszulaufen, daß der Mensch im Stande der Natur ein Rechthabender sey, insofern sein Gebrauch eines Dinges zum Mittel der Glückseeligkeit mit den Gesetzen der Weisheit und Güte bestehen kann; hingegen zum Pflichtträger werde, so bald der Gebrauch eines Dinges, als Mittels zur Glückseeligkeit, den Gesetzen widerspricht" (296,5-10). Dieser Widerspruch ist nach Mendelssohn für den Naturstand freilich undenkbar, da doch das Tun und Lassen des „Rechthabenden" dadurch definiert ist, daß es keiner „sittlichen Notwendigkeit" unterliegt, oder, wie Hamann zugespitzt paraphrasiert, „Pflichten und Gewissen [...] für den Rechthabenden ganz entbehrliche Begriffe, unbekannte Grössen und qualitates occultac zu seyn [scheinen]" (297,33-35). Konkret bedeutet das für Hamann: „Wenn ich ein Recht habe, mich eines Dinges als Mittels zur Glückseeligkeit zu bedienen, so hat jeder Mensch im Stande der Natur ein gleiches Recht; gleichwie der Soldat, währendes Krieges, die Befugnis hat, den Feind umzubringen, und der Feind ihn" (295, 15-18). Entweder, so Hamann, ist das von Mendelssohn postulierte „Recht" des „Rechthabenden" nur als schon immer durch das Recht eines anderen begrenztes Recht zu denken 51 , oder es herrscht der von Hobbes beschriebene .Naturzustand' des Krieges aller gegen alle. 52 Die Hypothese eines Naturstandes bricht in sich zusammen, sobald nicht nur ein Rechthabender, sondern mehrere Rechthabende angenommen werden. 53 „Wenn ich also ein Recht habe etwas zu thun; so kann mein Nebenmensch kein Recht haben, mich daran zu verhindern" 54 , hatte Mendelssohn gesagt, um zu zeigen, daß ein „Recht", wie er es versteht, absolut ist und keinen Widerspruch duldet. Hamann weist ihn darauf hin, daß der Besitz eines solchen Rechtes die völlige Entmündigung derer bedeutet, die zwar ein gleiches „Recht", jedoch nicht die Macht haben, dieses durchzusetzen. In einer Gesellschaft, in der theoretisch ein jeder „Recht" hat, gilt faktisch das Recht des Stärkeren. Das „sittliche Vermögen" (298,33f) des „Rechthabenden" ist in Wirklichkeit die „physische Gewalt" (298,34) seiner Durchsetzungsfähigkeit. Die „vollkommenen Pflichten" (298,34f) des „Pflichtträgers" hingegen 51

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„Entspricht aber jedem Recht eine Pflicht: so entspricht auch dem sittlichen Vermögen ein sittliches Unvermögen, sich eines Dings als Mittels zur Glückseeligkeit zu bedienen" (N 111,295,9-11). Insofern wäre der Krieg tatsächlich eine dem ,Naturstand' angemessene Beschreibung. Mendelssohn hingegen meint, daß „der Kriegsmann [...] diese Befugniß nicht als Mensch; sondern als Mitglied, oder Söldner des kriegsführenden Staats" habe (JubA VIII, 115, Anm.). Diese Annahme hält Hamann - im Gegensatz zu Mendelssohn - für absolut notwendig, weil „für ihn [...] die Natur nicht nur die Sphäre des Möglichen und Notwendigen, sondern vor allem die Sphäre des Wirklichen" darstellt (O. Bayer, Zeitgenosse, 198). JubA VIII, 115.

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Teilhabe am göttlichen Recht der Rede

beruhen in Wirklichkeit einzig auf der „physischen Notwendigkeit mit Gewalt erpreßter Handlungen" (298,35f) 55 , weil es eben auch im Paradies der „Rechthabenden" noch Aufgaben gibt, deren Erfüllung notfalls erzwungen werden muß. Mit seiner Zuordnung von „sittlichem Vermögen" und „sittlicher Nothwendigkeit" verschleiert Mendelssohn den Sachverhalt, daß es, wo immer Menschen zusammenleben, (in jeder Hinsicht) Vermögende und (in jeder Hinsicht) Unvermögende gibt, was zudem, wie Hamann feinsinnig anmerkt, „eher Noth, als Nothwendigkeit' (295,llf) ist. Daß das Recht des Stärkeren zählt, ist eben keine Notwendigkeit; es müßte so und es dürfte so nicht sein. Darin sieht Hamann die fatale Selbsttäuschung der eudämonistischen Ethik Mendelssohns 56 : Der hierarchisch gegliederte „Stand der Gesellschaft" ist kein anderer als der auf Kosten der Schwächeren verwirklichte „Stand der Natur", in dem das „speculative Recht der Natur" (298,37) durchaus identisch sein kann mit dem ,,höchste[n] Unrecht" (299,1) derer, die sich dieses „Recht" zu verschaffen wissen. 57 „Das metaphysische Gesetz königlicher Selbst- und Eigenliebe" (295,20f) ist die Antriebskraft des Menschen, der sein vermeintes „Recht" auf Erfüllung seiner Bedürfnisse theoretisch zwar auch seinem „Nebenmenschen" zugestehen muß, es faktisch aber nur auf dessen Kosten verwirklichen kann.

5.1.3 Die Herrschaft des „Ich" in Natur und Gesellschaft „Mir, und mir allein, kömmt also im Stande der Natur [d.h. bevor irgend ein Vertrag unter den Menschen statt gefunden] das Entscheidungsrecht zu, ob und wieviel, wenn, wem, und unter welchen Bedingungen ich zum Wohlthun verbunden bin? und ich kann im Stande der Natur durch keine Zwangsmittel, keinerley Zeit, zum Wohlthun angehalten werden" 58 , so lautet der Spitzensatz Mendelssohns. Wer aber ist es denn, der hier so redet? Ist es Mendelssohn selber? Oder vielleicht eine beiden bekannte Persönlichkeit? An dieser Stelle wird Hamann ungemein konkret. Er selber ist ein Bürger des von Mendelssohn verherrlichten Staates. Deshalb will er diesem nun auch vorführen, wie sich für ihn, den kleinen Zollbeamten unter französischer Administration, der von Mendelssohn beschriebene „Stand der Natur" auswirkt: 55 56 57

58

„Zwangsrechte dürfen mit Gewalt erpreßt, Bitten aber verweigert werden" (ebd). Vgl. HH VII, 28. Für Hamann geht Mendelssohn deshalb kaum über die materialistische Staatslehre „eines Hobbs" hinaus: „Ich habe schon die Verwandtschaft desjenigen, was der eine Recht und der andere Macht nennet, gerügt" (N III,302,5f; vgl. 303,21-26). JubA VIII, 117.

Natürliches Recht und widernatürliche Pflicht

249

„Ist aber das Ich, selbst im Stande der Natur, so ungerecht und unbescheiden, und hat jeder Mensch ein gleiches Recht zum Mir\ und Mir allein\ - so laßt uns fröhlich seyn über dem Wir von Gottes Gnaden, und dankbar für die Brosamen, die ihre Jagd- und Schooßhunde, Windspiele und Bärenbeißer unmündigen Waysen übrig lassen!" (300,4-9) Nicht ohne Bitterkeit führt Hamann hier vor, wie das selbstbewußte „Ich" der Theorie Mendelssohns zu einem Chor von „Rechthabenden" anschwillt, die Vielzahl dieser Stimmen aber unversehens einmündet in die einzige und eisige Stimme des absolutistischen „Wir" der preußischen Monarchie. 59 Dieses „Wir" beansprucht zwar, die Rechte seiner Untertanen stellvertretend wahrzunehmen, ja selber deren erster „Pflichtträger" zu sein. 60 Für Hamann jedoch ist dieses „Wir" nur die kleine Summe jener „Jagd- und Schooßhunde", die durch Herkunft oder Bildung ohnehin schon auf der Seite des einzigen „Rechthabenden" stehen und sich als „Windspiele" nach seinem Winde richten. Alle anderen Münder speist diese Elite mit „Brosamen" und entmündigt sie zu pflichtschuldigen Objekten obrigkeitlicher Willkür. 61 Hamann findet in dieser Hinsicht jedenfalls wenig Grund zum „fröhlich seyn". 62 Denn das widersprüchliche Verhältnis von Fiktion und Realität, wie es in Mendelssohns Theorie begegnet, erweist sich als transparent auf den politischen und sozialen Jetztzustand des aufgeklärten Absolutismus, wie

59 60 61

62

Vgl. dazu J.C. O'Flaherty, Bemerkungen zu Hamann und Friedrich II (Acta 1976), 298308; dort insbes. 298f.307f. Vgl. K.O.Fr.v. Aretin, Vom Deutschen Reich, 531ff. („Das friderizianische Preußen"). Über seine eigene politische Situation schreibt Hamann in einem Brief an Herder: „Mir sind die Hände so gebunden, daß ich nichts bin, und unter lauter Ursurpateurs lebe [...]. Alles reißt en Roi den Schein des Rechts an sich und wirft sich zum Despoten auf und schlummert, wie der welsche Geschmack, auf seinen Lorbeern ein" (ZH IV,295,12-16; am 10. Mai 1781). M.E. ist das „so laßt uns fröhlich seyn über dem Wir von Gottes Gnaden" ironisch gemeint. L. Schreiner hingegen versteht es als grundsätzliches Bekenntnis Hamanns zum staatlichen Absolutismus im Sinne des im Vergleich zu dem Naturzustand des ,Jiomo homini lupus" geringeren Übels: „Lieber das ,Wir' des Absolutismus als den Triumph des ,Ich' in der Monarchie" (HH VII, 83). Er kommt so zu einer Entgegensetzung, die m.E. den Sinn der Stelle verfehlt: Denn es ist ja gerade das „Wir", in dem sich der „Triumph" des „Ich" auf eine so groteske Weise äußert. Der „Philosoph ohne Gram [= sans souci] und Scham" (N III,299,39f) ist für Hamann sicherlich kein vicarius Dei, sondern der Inbegriff des sich vergötzenden Ichs, welches sich nicht nur an die Stelle Gottes setzt, sondern die ganze Schöpfung in Angst und Schrecken versetzt (vgl. die Anspielung auf Hiob 40,18 [„Behemoth") und 41,1 [„Leviathan"] im Schlußsatz des Abschnitts und die harte, wohl auf Friedrich II. zu beziehende Polemik in N 111,301,11-17). - Auch Hegel hat in seiner Hamann-Rezension diese Stelle dahingehend verstanden, daß es hier um dem Konflikt zwischen „der Absolutheit des zufälligen partikulären Willens und des an und für sich allgemeinen göttlichen Willens" gehe, daß jedoch der sich aus dem „partikulären Willen" ergebende „Gedanke des monarchischen Princips" für Hamann angesichts der politischen Wirklichkeit „sogleich zur Farce" wird (Werke, Bd. 11, 334).

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Teilhabe am göttlichen Recht der Rede

Hamann ihn in seiner bescheidenen Existenz als „Pflichtträger" erleidet. 63 Eine schmale Oberschicht von rechthabenden Intellektuellen und Staatsbediensteten befindet über Wohl und Wehe einer faktisch rechtlosen Mehrheit. Ohne einen Namen zu nennen, fragt Hamann im Hinblick auf den prominentesten aller ihm bekannten „Rechthabenden": „Wer darf über seine Gewissenhaftigkeit den Stab brechen? Wer ihm zu einer so kritischen Entscheidung die Waage aufdringen? Das Recht ist ja in seiner Hand!" (297,35-37) 64 Im „Wir von Gottes Gnaden" vollzieht sich die .Fleischwerdung' der personifizierten Vernunft, wie Hamann sie schon in seinem fingierten Brief Au Salomon de Prusse mit einer unvergleichlichen Metaphorik geschildert hatte. 65 Der aufgeklärte König ist Symbolgestalt eines säkularen Messianismus, ein „Philosoph a la Greque, ein König des Friedens und der Gerechtigkeit" (316,5f). Die naturrechtlich verankerte Freiheit des vernünftigen Individuums erscheint bei Mendelssohn als eine schöne Fiktion: Das „Ich" ist König. Wo dieses Königtum jedoch konkrete politische Formen annimmt, da wird „die Freyheit" zum „Schlachtopfer sittlicher Notwendigkeit" (295,27f), ist doch der König das einzig rechthabende „Ich". So verstanden, ist das von Mendelssohn postulierte Selbstbestimmungsrecht kein leeres Ideal; es ist längst zu einer höchst gegenwärtigen politischen Realität geworden.

5.2 Naturrecht als Recht zur Rede Es ist bemerkenswert, daß nicht Mendelssohn, sondern der politisch „von Hause aus naiv monarchisch-patriachalisch gesinnte" Hamann 6 6 zu solchen Ansätzen einer Gesellschaftskritik gelangt, die bei näherem Hinsehen ein vernichtendes Urteil über die politischen Zustände im friderizianischen Preußen enthält. Dabei geht es Hamann gar nicht um eine solche Kritik - ganz abgesehen davon, daß er sich um Kopf und Kragen geredet hätte, wäre er hier deutlicher geworden. Er will vielmehr zeigen, daß die von Mendelssohn vorgetragene Naturrechtstheorie nicht nur eine Reihe von Unstimmigkeiten aufweist, sondern auf einem grundsätzlichen, theologisch zu qualifizierenden Irrtum beruht. Dieser Irrtum besteht darin, daß der idealtypische Naturstand des Menschen als Zustand eines gleichsam durch keinerlei äußere Beziehungen ge63

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65 66

„Was hilft mir das Feyerkleid der Freyheit, wenn ich daheim im Sclavenkittel [sitze]?", fragt Hamann in einem Brief an C.J. Kraus v o m 18. Dez. 1784 (ZH V,291,34f). Vgl. dazu auch ZH VI,481,19-30. Hamann „litt [...] unter der Autorität eines Herrschers, der alles das verkörperte, was ihm selbst auf dem Gebiet der Religion, der Philosophie, der Literatur, der Ethik und der Staatskunst höchst zuwider war" (J.C. O'Flaherty, Bemerkungen, 289f). N 111,55-60; vgl. dazu E. Büchsei, HH IV, 271 ff. S.-A. Jorgensen, J.G. Hamann, 77.

Naturrecht als Recht zur Rede

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hemmten Egozentrismus beschrieben wird, der keinen Raum läßt für den Gedanken einer .natürlichen' Verantwortung des Menschen seinem Schöpfer gegenüber. „Unsere schönen und süssen Geister, die vom starken Getränk ihrer Allweisheit und Menschenliebe berauscht [sind]" (297,12-14), haben Gott als den einzigen „Geber" von „Weisheit und Güte" (297,7f) entthront. Die aufgeklärte Vernunft rückt an die Stelle der obersten Rechtsinstanz; wer sie hat, hat das Recht, und wer das Recht hat, ist niemandem zu Rechenschaft verpflichtet. Mendelssohns Naturstand ist vor allem der Urständ des sich selber rechtfertigenden Sünders. Ein anderer Maßstab ist zu nennen für das, was die religiöse Wahrheit von einer säkularen Wirklichkeit unterscheidet. Hamann entwickelt ihn in drei Schritten. Er setzt ein bei dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur, welches er in Entgegensetzung zu Mendelssohn als ein Verhältnis gegenseitiger Verpflichtung beschreibt. Sodann verläßt er demonstrativ den rechtsphilosophischen Kontext und zeigt die theologische Begründung dieser Verhältnisbestimmung auf: Die Verpflichtung des Menschen der Natur gegenüber ist bedingt durch seine Einsetzung zum vicarius Dei über die Schöpfung; sie gründet in seiner Gottesebenbildlichkeit. Aus diesem Miteinander von absoluter Verpflichtung und gnadenhafter Berechtigung ergibt sich dann schließlich das Verhältnis von „sittlichem Vermögen" und ,,sittliche[r] N o t w e n d i g keit" (295,2f) im Raum der gesellschaftlichen Wirklichkeit, von dem her Hamann auch die Mendelssohnsche Verhältnisbestimmung von Religion und Staat widerlegen wird.

5.2.1 Naturvertrag zwischen Mensch und Welt Schon vor seinem freiwilligen Zusammenschluß durch den sogenannten Gesellschaftsvertrag 6 7 ist der Mensch durch eine vertragliche Beziehung definiert. Hamann spricht von einem „natürlichen [Contract], der ächter und älter seyn, und auf dessen Bedingungen der gesellschaftliche beruhen muß" (299,8f). Der Mensch findet sich als Mensch immer schon in einem gleichsam vertraglichen Verhältnis vor, hinter dem kein verhältnisfreies Sein als Urständ konstruiert werden kann. Aufgrund dieses ,,Contract[s]" ist freilich „der Mensch im Stande der Natur von ihren Gesetzen abhängig, d.i. positiv verpflichtet eben denselben Gesetzen gemäß zu handeln, denen die ganze Natur und vornemlich des Menschen seine, die Erhaltung des Daseyns, und den Gebrauch aller dazu gehörigen Mittel und Güter zu verdanken hat" (299,11-15).

67

Zu Herkunft und Bedeutung des „contrat social" vgl. HH VII, 77f.

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Der Stand der Natur ist ein Verhältnis nicht der „Gleichberechtigung", sondern der „Gleichverpflichtung aller Menschen." 68 Der „Geber" (297,8) aller Güter, den Hamann hier in sich auf den Sprachgebrauch Mendelssohns einlassender Weise mit „Natur" bezeichnet 69 , nimmt den Menschen durch „Gesetze" in die Pflicht, damit dieser die „ganze Natur" und „vornehmlich" sich selber - hier ist nun „Natur" als Inbegriff der dem Menschen gegebenen „Mittel und Güter" zu verstehen - nicht durch Mißbrauch zerstört. Hart formuliert Hamann, entsprechende Aussagen Mendelssohns in ihr Gegenteil überführend: Der Mensch hat „am allerwenigsten ein ausschließendes Recht und verhaßtes Monopol auf seine Fähigkeiten, noch auf die Producte derselben, noch auf die unfruchtbare[n] Maulesel seiner Indùstrie" (299,16-18). 70 Denn all dieses verdankt er nicht sich selber, sondern einzig und allein der „Weisheit und Güte des Gebers" (297,7f), ohne die es weder ihn noch irgend ein Gut gäbe. Gott ist der einzig legitime „Rechthabende"; er ist als Schöpfer des Lebens und seiner Güter die erste Bezugsperson und der erste Vertragspartner des Menschen. Also nicht dem eigenen Gutdünken, so folgert Hamann, „sondern jenen Gesetzen der Weisheit und Güte, die uns in dem unermeßlichen Reiche der Natur vorleuchten, ist das sittliche Vermögen untergeordnet, sich der Dinge als Mittel zu bedienen, und alle Bedingungen, unter welchen das Prädicat der Glückseeligkeit dem Subject eines Pflichtträgers zukommt, sind ihm als solchen, nicht als Rechthabenden, durch das Recht der Natur und das Gesetz ihrer Gerechtigkeit und seiner eigenen Vernunft gegeben. Er hat also weder ein physisches noch moralisches Vermögen zu einer anderen Glückseeligkeit, als die ihm zugedacht, und wozu er beruffen ist" (299,21-30). Deutlich wird: Das „sittliche Vermögen" und die damit verbundenen Rechte des Menschen sind ,naturrechtlich' (Hamann wird sein Verständnis dieses Begriffs noch erläutern) an eine Haltung des Gehorsams gebunden, die sowohl von einem externen „Gesetz der Gerechtigkeit" als auch von „seiner eigenen Vernunft" eingefordert wird. 71 Nur in Übereinstimmung mit „jenen" universal gegenwärtigen „Gesetzen der Weisheit und Güte" 72 ist der Mensch 68 69

70 71

72

Ebd, 78. Vgl. auch Hamanns ironische Rede von der „alma mater Natur" in N III,27,15f (Ritter von Rosencreuz). Vgl. dagegen JubA VIII, 116. Vgl. auch die Formulierung in N III,299,2f und den Gebrauch des Ausdrucks bei Mendelssohn, JubA VIII, 115. Das Verhältnis dieser beiden Ausdrücke zueinander dürfte in etwa demjenigen von ,,gesetzliche[r] Gerechtigkeit" und ,,philosophische[r] Erkenntniß" entsprechen (vgl. N III,224,21f). Hierzu gehört für Hamann die Vorstellung einer lex naturalis (Vernunft-Gesetz) ebenso wie die einer lex divina (Dekalog bzw. geoffenbartes Gesetz). Daß er beides nicht einfach gleichsetzt, geht aus N III,309,21f hervor, wo er von der „Überlegenheit seiner [sc: Gottes] zehn Worte über die zusammengebettelte[n] zwölf Tafeln" spricht (entweder eine Anspielung auf die Tafeln der Urteile und Kategorien in Kants Kritik der reinen Vernunft,

Naturrecht als Recht zur Rede

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dazu berechtigt, „sich der Dinge als Mittel zu bedienen", was für Hamann gleichbedeutend ist mit der inhaltlichen Festlegung des durch solche „Mittel" zu erreichenden Zieles. Der dem Menschen gestattete Gebrauch natürlicher Güter unterliegt nicht, wie bei Mendelssohn, eudämonistischen Zielvorstellungen, nach denen „die Gesetze der Weisheit und Güte so mannigfaltig, als mein und jedes andern Ich" (295,18-20) zu sein hätten. Er ist vielmehr zweckgebunden an eine „Glückseeligkeit", die der Mensch von sich aus nicht erstreben würde: Genau an dieser Stelle sprengt Hamann mit den beiden Verben „zugedacht" und „beruffen" den terminologischen Rahmen einer rechtstheoretischen Kontroverse. Bisher ist zu sehen: Nicht ein Naturstand, sondern ein den Stand des Menschseins überhaupt erst begründender Naturvertrag ist „der Gesellschaft [...] theils voraus-, theils entgegen" (293,22f) zu setzen. Dieser Vertrag hat ganz deutlich den Charakter eines „pactum supra partes" 73 , durch den alle Partner von einer übergeordneten Instanz in gleicher Weise zum Gehorsam verpflichtet werden, wobei diese Verpflichtung aber dem Telos eines „allen Völkern auf Erden verheissenen und gelobten Seegens" (293,30f) zugeordnet ist. Hamann knüpft damit zweifellos an den biblischen Abrahambund an 74 , den er ontologisch als Begründung einer „diathetischen Ordnung" 73 zwischen Gott und Welt interpretiert.76 Das „Gesetz" der universalen „Gleichverpflichtung" 77 enthält eine Verheißung; es ist sowohl im Sinne einer Schutzordnung zu verstehen (diesen primus usus legis streicht Hamann insbesondere hier, herausgefordert durch den Antinomismus Mendelssohns, scharf heraus), jedoch auch als vorbereitendes „Mittel" des dem Menschen von Gott ,,zugedacht[en]" Heils: dies entspräche in etwa dem secundus usus legis, um den es im folgenden gehen wird.

5.2.2 Die Pflicht, Gott gleich zu sein Was ist nun der Inhalt des „natürlichen Contracts", der gleichsam über die Köpfe der Menschen hinweg geschlossen wird? Anders gefragt: Wozu wird der Mensch verpflichtet, und an welche Art von „Glückseeligkeit" (299,29) sieht Hamann sein „Vermögen" (ebd) gebunden?

73 74 75 76

77

[vgl. KrV A 70 und A 80] oder, was im Kontext einleuchtender wäre, auf das altrömische Zwölftafelgesetz). HHVII, 58. Vgl. N 111,293,28-31 und HH VII, 78. Vgl. K. Gründer, Figur und Geschichte, 87-91. „Als Jude hätte Mendelssohn wissen müssen, daß nicht ein konstruierter Vertrag unter Menschen, sondern der überlieferte Bund Gottes mit Abraham den Ausgangspunkt seines Denkens hätte bilden sollen" (S.-A. J0rgensen, J.G. Hamann, 88). HHVII, 78.

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Teilhabe am göttlichen Recht der Rede

Zunächst ist zu sagen: Der „natürliche Contract" darf nicht so verstanden werden, daß der Mensch vor Gott ein gänzlich rechtloses, vertraglich entmündigtes Wesen sei. Obwohl durch ihn jeglicher Rechtsanspruch auf Gebrauch und Genuß der natürlichen Güter ausdrücklich verwehrt wird, beinhaltet der Naturvertrag nicht eine Entmündigung, sondern eine Bevollmächtigung des Menschen. Paradoxerweise besteht dessen einzige Pflicht darin, daß er sich gegenüber der „Natur" ebenso verhält, wie Gott sich ihr und damit auch ihm gegenüber verhält. Denn die „Gesetze" (299,12), zu deren Einhaltung der Mensch „positiv verpflichtet" (ebd) ist, sind keine anderen als die „Gesetze der Weisheit und Güte" (295,22), von denen auch das schöpferische und erhaltende Handeln Gottes geleitet ist und die einzig das Wohl des Menschen zum Ziel haben. So ist der die politische Wirklichkeit und damit die gesamte Ethik begründende „natürliche Contract" zwar eine einseitige Setzung, durch die der Schöpfer den Menschen zum „Pflichtträger der Natur" (299,15) macht. Aber der Mensch wird dadurch zu nichts anderem verpflichtet, als zu dem sich der einzig „Rechthabende" nicht selber verpflichtet hätte: ,JEr spricht: so geschichts! - ,und wie der Mensch alle Thiere nennen würde, sollten sie heissen'. - Nach diesem Vor- und Ebenbilde der Bestimmtheit sollte jedes Wort eines Mannes die Sache selbst seyn und bleiben. Auf diese Ähnlichkeit des Gepräges und der Überschrift mit dem Muster unseres Geschlechts und dem Meister unserer Jugend - auf dieses Recht der Natur, sich des Worts, als des eigentlichsten, edelsten und kräftigsten Mittels zur Offenbarung!••] und Mittheilung unserer innigsten Willenserklärung zu bedienen, ist die Gültigkeit aller Verträge gegründet [...]" (301,18-26). Für Hamann gilt: Naturrecht ist Gottesrecht. Das „Recht der Natur" ist das menschliche Rechtsansprüche ausschließende Gottesrecht der Rede. Es ist das Recht Gottes, dessen absolut verläßlichem Wort sich, wie das Teilzitat von Ps 33,9 zeigt, die Schöpfung und, wie die altertümliche Flexion des Verbums „geschehen" der von Hamann verwendeten Lutherübersetzung 78 anschaulich macht, die Geschichte verdanken. Dieses „Recht der Natur, sich des Worts [...] zu bedienen", ist zugleich das Recht, welches Gott dem Menschen in einem Akt der Selbsterniedrigung abtritt, indem er ihn bevollmächtigt und beauftragt, „die Erde zu bevölkern und zu beherrschen durchs Wort des Mundes" 79 . Die Begabung des Menschen mit der göttlichen Gabe der Sprache, wie Hamann sie in seinen Schriften zum Sprachursprung aus dem in Gen 1,28 und Gen 2,19 berichteten Geschehen der Einsetzung des Menschen über die Schöpfung abgeleitet hatte, ist der geschichtliche Hintergrund des „natürlichen Contract[s]", den Hamann 78

79

Vermutlich die in der Biga unter der Nr. 24/139 C.H.v. Canstein (1741); vgl. N V, 27. N III,3l,32f (Ritter von Rosencreuz).

nachgewiesene

Ausgabe

von

Naturrecht als Recht zur Rede

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mit dem Abrahambund gewissermaßen zusammenschaut. Mit der Sprache wird dem Menschen ein göttliches Grundrecht gegeben, aus dem dieser wohl Ansprüche ableiten darf, auf welches selbst er jedoch schlechterdings keinen Anspruch erheben kann: „Es gibt eben keine Rechthaber [...], sondern nur Rechtsprecher." 80 Genau auf diesen Gedanken zielt Hamann durch die Kombination der beiden Bibelstellen hin. Denn er zitiert nur die erste Vershälfte von Ps 33,9. Das zweite membrum des Parallelismus („so Er gebeut, so stehet's da") ersetzt er durch die zweite Vershälfte von Gen 2,19, so daß das menschliche Benennen der Tierwelt als ein dem göttlichen Handeln entsprechendes Tun erscheint. Der Schöpfer macht von seinem Recht Gebrauch, sich im Wort zu entäußern, und es entsteht eine seiner „innigsten Willenserklärung" gemäße Wirklichkeit. In Analogie dazu, aber erst auf Anordnung des Schöpfers macht auch der Mensch von einem ihm mit der Sprache verliehenen Recht Gebrauch: Er ergreift die ihm noch sprachlos gegenüberstehende Schöpfungswirklichkeit im Medium von „Ratio et Oratio" (300,39), und es entsteht die ihn angehende Wirklichkeit der Anrede Gottes in menschlicher Sprache. Hamann interpretiert damit die priesterschriftliche Aussage über die Herrschaft des Menschen unter Einbeziehung von Gen 2,19 als eine Herrschaft, die der Mensch mithilfe der Sprache, nämlich durch die bestimmende Kraft der den Dingen von ihm zugewiesenen Namen und Begriffe ausübt. Der Mensch durchformt die ihn umgebende Schöpfung mit der ihm gegebenen Nennkraft; er beherrscht sie, indem er ihre Erscheinungen synthetisch mit seinen eigenen Begriffen ergreift und ordnet: „denn wie der Mensch [die Tiere] nennen würde, so sollten sie heißen." 81 „Durchs Wort des Mundes" redend, d.h. am Gottesrecht der „Offenbarung" partizipierend und seine naturvertraglichen Pflichten erfüllend ist der Mensch ein göttliches Wesen. Dieses sprachliche Schöpfertum, welches der Erhaltung geschöpflicher Ordnungen zugeordnet ist, bezeichnet Hamann auch als „Analogie des Menschen zum Schöpfer" 82 . Sie „ertheilt allen Kreaturen ihr Gehalt und Gepräge, von dem Treue und Glauben in der ganzen Natur anhängt." Wichtig ist der Zusammenhang von Analogie und communicatio, den Helmut Gießer aufgedeckt hat. 83 In der menschlichen Teilhabe am göttlichen 80 81 82 83

HH VII, 85. N 11,206,31; vgl Gen 2,19b. Dieses und das folgende Zitat: N 11,206,32-207,2 (Aesthetica). Communicatio und ihre Strukturen, 176. Was ich bei Gießer allerdings nicht verstehe, ist, daß er diese, wie er es nennt, „Bildhaftigkeit der Communicatio" als eine „Struktur" neben anderen Strukturen verhandelt („Sprachhaftigkeit; Zeithaftigkeit; Leibhaftigkeit"). Hinzu kommt, daß Gießer von einer „Kommunikation" dieser Strukturen untereinander spricht (aaO, 177 u. 201). M.E. wird hier nicht gesehen, daß für Hamann der Sprachcharakter der Welt (bzw. deren Zeitlichkeit und Leiblichkeit) die Wirklichkeit Gottes figürlich ins Bild setzt, die Sprache also der Sichtbarwerdung des Unsichtbaren funktional zugeordnet ist („Rede, daß ich dich sehe"). Gießers Unterscheidungen verdecken die fun-

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Teilhabe am göttlichen Recht der Rede

Recht der Rede zeigt sich das „Ebenbild" des „unsichtbaren Gottes in unserem Gemüth"84, zeigt sich eine „Ähnlichkeit des Gepräges [...] mit dem Muster unseres Geschlechts und dem Meister unserer Jugend." Der redende Mensch ist nicht Gott, sondern ein Bild nach dem „Muster" Gottes. Die anthropologische Umformung der communicatio idiomatum wird hier deutlich der Vorstellung von einem universalen Sprachgeschehen subsumiert. Zwar begründet sie die .natürliche', d.h. den geschöpflichen Menschen prägende Teilhabe am wortschöpferischen Sein Gottes, so daß Gott und Mensch durch das ihnen gemeinsame Analogon „des Worts" und der darin sich ereignenden „Offenbarung und Mittheilung" aufeinander bezogen bleiben. Gleichwohl begründet sie mit all ihren intellektuellen und sozialen Implikationen kein gottmenschliches Verhältnis im Sinne des christlichen Glaubens, sondern zeichnet lediglich das Bild eines solchen Verhältnisses. Mit dem Mitmenschen redend und durch zuverlässige Rede ein tragendes Netz zwischenmenschlicher Beziehungen knüpfend, entspricht der Mensch seiner „politischen Bestimmung"85, die inhaltlich exakt mit dem übereinstimmt, was Hamann in „Konxompax" als „blos figürliche Theilnehmung [...] der göttlichen Natur"86 bezeichnet hatte. Durch diese „figürliche Theilnehmung" wird der Mensch selber zu einem „Vor- und Ebenbilde der Bestimmtheit", sofern er das von ihm ausgesprochene „Wort" in verläßlicher Weise an die dadurch begriffene „Sache" bindet, die der göttlichen Einheit von Wort und Tat analog ist. So wird der Mensch durch die Sprache zum Offenbarer seiner selbst, wobei sein Reden immer auch die Offenbarung einer Wirklichkeit beinhaltet, die mehr als nur er selbst ist.87 Das „Recht der Natur" ist also nicht der uneingeschränkte Anspruch des Menschen, sich unabhängig von seiner Bestimmung „eines Dinges als Mittels damentale Unterscheidung von „figürlicher" (und insofern auch leiblicher) und „leibhaftiger" (d.h. die Dimension der Leiblichkeit und Zeitlichkeit überwindender) communicatio. Das gottmenschliche Miteinander der Offenbarung, welches sich ja immer auch als ein verhüllendes Gegeneinander zeigt, ist als communicatio ebenso wie alle Formen der zwischenmenschlichen „Kommunikation" unter den Begriff des „Bildes" zu subsumieren. D.h. es ist zugesprochenes, zeitlich begrenztes und leiblich erfahrbares, allerdings nicht ohne Glauben zu empfangendes „Zeichen, Sinnbild und Unterpfand" ( N 111,32,22) der dem Menschen verheißenen Bestimmung, die nach christlicher Vorstellung mit einer Aufhebung des Zeitlichen und Leiblichen verbunden ist, während sich hingegen die Schau des Bildes zu einer unmittelbaren Schau des Abgebildeten steigert (vgl. 1 Kor 13,12). Auch das Sprachvermögen des Menschen ist, ebenso wie Vernunft und Sexualität, dieser Wirklichkeit des Figürlichen zuzuordnen. 84 85 86 87

N II,207,2f (Aesthetica). N 111,31,32 (Ritter von Rosencreuz). N 111,224,32f (Konxompax). Schon im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Herder hatte Hamann die „Bestimmung" des Menschen darin gesehen, im Gebrauch der Sprache „die kritische und archontische Würde eines politischen Thiers theils zu offenbaren theils zu überliefern" ( N 111,39,17-19; Philolog. Einfälle und Zweifel).

Naturrecht als Recht zur Rede

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zur Glückseeligkeit zu bedienen" (295,15f). Der „Würde" menschlicher Selbstbestimmung, wie Mendelssohn sie versteht, liegt immer schon eine Abhängigkeit zugrunde, eine sprachlich geformte Beziehung zu Gott, die der Mensch nicht geknüpft hat. 88 Im Verhältnis zu Gott ist der Mensch ein grundsätzlich rechtloses, weil sündiges Wesen; er bedarf einer gleichsam vertraglich geregelten Rechtfertigung seiner politischen und sozialen Existenz. Hamann sieht diese darin, daß der Schöpfer dem Menschen das „Recht" zuspricht, durch einen verläßlichen Umgang mit dem „Wort" jene „Glückseeligkeit" zu empfangen und zu vermitteln, „die ihm zugedacht, und wozu er beruffen ist" (299,29f): die Gemeinschaft mit Gott, die im geordneten Miteinander seiner Geschöpfe Gestalt annehmen kann. Auf diesem „Recht" gründet für Hamann nicht nur, wie gezeigt, das „Vermögen zu denken" 89 , sondern auch alles, was unter dem Stichwort „sittliches Vermögen" zu verhandeln ist.

5.2.3 Die Einheit von „Gesinnung" und „Tat" im Wort Die vertraglich geregelte Grundpflicht des Menschen besteht in der Wahrnehmung des ,,Recht[s] zur Rede" 90 nach dem „Vor- und Ebenbilde der Bestimmtheit", die dem göttlichen Reden eignet. Dieses ist für Hamann in einzigartiger Weise dadurch gekennzeichnet, daß das ergehende Wort („er spricht") und das durch dieses Wort bezeichnete Tun („so geschichts") eine unauflösliche Einheit bilden. Gott ist frei, sich sprechend zu entäußern oder sich schweigend zu verbergen. Redet er aber, so tritt er mit seinem Wort ein in die sichtbare Welt und läßt sich darin gleichsam behaften; er wird zum „Pflichtträger" seiner selbst.91 Dieses Moment göttlicher Selbstverpflichtung überträgt Hamann auf die sozialethische Problematik. Wenn es das „Recht zur Rede" 92 ist, das der Mensch mit Gott gemein hat, dann verbietet der christliche Glaube diejenige Verabsolutierung der Gesinnungsfreiheit, wie sie bei Mendelssohn begegnet. 88

Im Vermögen der Sprache besteht die „Würde", die den Menschen von anderen Geschöpfen unterscheidet, aber diese „Würde [...] setzt noch keine innere Würdigkeit noch Verdienst unsrer Natur zum voraus; sondern ist, wie letztere selbst, ein unmittelbares Gnadengeschenk des großen Allgebers" ( N 111,37,28-38,3). Die Anspielung auf Luthers Erklärung des 1. Artikels im Kleinen Katechismus ist unüberhörbar.

89

N III,286,6f (Metakritik). HH VII, 84. Es ist also keineswegs so, daß Gott der uneingeschränkt Freie, der Mensch hingegen der uneingeschränkt Verpflichtete wäre. Der biblische Glaube an einen redenden Gott verbietet gerade diese Vorstellung eines Absolut-Seins Gottes, die auch ein NichtVerpflichtet-Sein Gottes seinem eigenen Wort gegenüber - meist wohl im Sinne des Erweises der Unzumutbarkeit eines solchen Glaubens - geltend machen will. Gott redet eben nicht, ohne daß sein Wort der geschichtlichen Bewahrheitung des Ausgesprochenen nicht absolut verpflichtet wäre. HH VII, 84.

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Teilhabe am göttlichen Recht der Rede

Das „Recht" des Menschen muß dann beschrieben werden als Partizipation an der göttlichen Freiheit, die den Gegensatz zur Bewahrheitung des gegebenen Wortes nicht kennt, die diesen Gegensatz aber auch nicht duldet. Für Hamann heißt das: „[...] alle gesellschaftliche[n] Verträge beruhen, nach dem Rechte der Natur, auf dem sittlichen Vermögen Jal oder Nein! zu sagen, und auf der sittlichen Nothwendigkeit, das gesagte Wort wahr zu machen. Das sittliche Vermögen Ja! oder Nein! zu sagen gründet sich auf dem natürlichen Gebrauch der menschlichen Vernunft und Sprache; die sittliche Nothwendigkeit, sein gegebenes Wort zu erfüllen, darauf, daß unsere innere Willenserklärung nicht anders als mündlich oder schriftlich oder thätlich geäußert, geoffenbart und erkannt werden kann, und unsere Worte, als die natürlichen Zeichen unserer Gesinnungen, gleich Thaten gelten müssen. Vernunft und Sprache sind allso das innere und äußere Band aller Geselligkeit, und durch eine Scheidung oder Trennung desjenigen, was die Natur durch ihre Einsetzung zusammengefügt hat, wird Glaube und Treue aufgehoben, Lüge und Trug, Schand und Laster zu Mitteln der Glückseeligkeit gefirmelt und gestempelt" (300,22-36). Hamann konzentriert die Problematik des Verhältnisses von „sittlichem Vermögen" und „sittlicher Nothwendigkeit" auf die Frage nach dem Verhältnis von „Vernunft und Sprache". In der Sprache sieht er nicht nur das intellektuelle „Vermögen" des Menschen begründet, die ihn umgebende Welt begreifen und genießen zu können. Sie bzw. das durch sie gegebene „Recht der Natur" (301,23) ist zugleich Ursache für das „sittliche Vermögen J a ! oder Neinl zu sagen", durch welches der Mensch seine politische Wirklichkeit („Gesellschaft") vertraglich - und nur insofern auch verträglich - gestalten kann. „Eure Rede sey ja ja, nein, nein; alles übrige ist des Teufels - und hierinn besteht der ganze Geist der Gesetze und des gesellschaftlichen Vergleichs [...]" 93 , schreibt Hamann an anderer Stelle. Wichtig ist jedoch: In der Sprache, die dieses „sittliche Vermögen" bedingt, ist das bindende Moment göttlicher Selbstverpflichtung immer mit eingeschlossen. Wie jedes Wort Gottes eine geschichtliche Tat darstellt, in der die Freiheit des Redenden eins ist mit der Bewahrheitung des Gesprochenen, so ist das dem Menschen mitgeteilte „Vermögen" nicht zu trennen von der „sittlichen Nothwendigkeit, das gesagte Wort wahr zu machen". Die Sprache wäre dann nicht nur als das „Organon und Kriterion der Vernunft" 9 4 , sondern auch als das „Organon" der „inneren Willenserklärung" zu bewerten: Die ausgesprochenen „Worte", von Hamann hier wieder in Anlehnung an sakramentale Terminologie mit „natürlichen Zeichen" gleichgesetzt, werden zu kritischen Instanzen der darin sich äußernden „Gesinnungen". Mit Stephen Dunning formuliert: „The model for the right relation between words and deeds is the way in which God fulfills the prophetic promises He makes in 93 94

N 111,24,10-12 (Zwo Rezensionen). N III,284,24f (Metakritik).

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Naturrecht als Recht zur Rede

the Old Testament in Christ and the events of the New Testament." 95 Oder mit Karlfried Gründer: „Das Versprechen, mit dem Gott sich selbst bindet, wird zur positiv ordnenden Macht der Gemeinschaft und des Daseins mit ihr." 96 Mendelssohns Zuordnung von auf „Wahrheitsgründen" beruhenden „Gesinnungen" und auf „Bewegungsgründen" beruhenden „Handlungen" 97 erweist sich angesichts des Hamannschen Verständnisses von „Vernunft und Sprache" als unhaltbar. „Unsere Worte" haben für Hamann nicht nur in ihrer ästhetisch-logischen, sondern auch in ihrer ethischen und politischen Funktion eine dem Wort Gottes und damit dem Sein Jesu Christi analoge Struktur, ein unsichtbares Innen und ein sichtbares Außen. Sie repräsentieren nicht nur die „Bedeutung" des durch sie bezeichneten Gegenstands, sondern repräsentieren als „Thaten" die hinter diesen stehenden „Gesinnungen", die durch sie zeichenhaft offenbar und äußerlich werden. Jedes Wort, mit dem eine Absicht bekundet oder eine Entscheidung gefällt wird, ist das sakramentale „Zeichen" einer das gesellschaftliche Gefüge beeinflussenden „That". Mit ihm legt sich der Redende unwiderruflich fest, so daß er im Falle eines seiner Festlegung zuwiderhandelnden Tuns bei diesem Wort behaftet werden kann. Er hat die sittliche Freiheit, „ja (zum Guten) oder nein (zum Bösen) zu sagen". Bleibt die Erfüllung eines gegebenen Versprechens jedoch aus, tritt das gegebene Wort dem Redner als ein ihn richtendes Wort gegenüber. Einerseits „kann" er „nicht anders", als das Gedachte oder Gewollte im Medium des Wortes zu äußern, sei es „mündlich oder schriftlich oder thätlich". Andererseits „müssen" diese Worte sich entweder als „wahr" erweisen oder, etwa bei einem gegebenen Versprechen, wahrgemacht werden. Das gegebene Wort wird im Moment der Äußerung zum Kriterium seiner Bewahrheitung, der Redende zum „Gesetzgeber" seiner selbst. 98 Hamanns Kritik an der „Scheidung oder Trennung desjenigen, was die Natur durch ihre Einsetzung zusammengefügt" hat, macht deutlich: Was sich in Gottes Zusagen dem Menschen gegenüber als unauflösliche Einheit von „Wort" und „Sache" (301,20) von selbst versteht, ist im Miteinander der Menschen ein Problem, für Hamann das Grundproblem des Ethischen überhaupt. Der Mensch tendiert „im Stande der Natur" dazu, das „Band aller Geselligkeit" zu zerschneiden, welches die Subjektivität des individuellen Verstandesgebrauchs an die Objektivität des kollektiven Sprachgebrauchs bindet. Was sich im Ereignis göttlichen Redens nicht unterscheiden läßt, zerfällt im Kontext menschlichen Miteinanders: Den Worten der einen folgen keine Taten, 95 96 97

The Tongues of Men, 191. Figur und Geschichte, 91. Vgl. JubA VIII, 110. J e d e r ist sein eigener Gesetzgeber, aber zugleich der Erstgeborne Unterthanen" (N 111,38,16f; Philolog. Einfälle und Zweifel).

und Nächste

seiner

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und die Taten der anderen sind verantwortungslos. Das Dem-anderen-etwasVormachen wird dann zur zweiten Natur des Menschen, „Lüge und Trug, Schand und Laster zu Mitteln der Glückseeligkeit gefirmelt und gestempelt." Wenn etwa eine Gesinnung aus Angst vor politischer Verfolgung nicht in freier Rede geäußert werden kann, ist ihre Freiheit politisch bedeutungslos, eine „Farce", wie Hegel später, Hamann in diesem Punkt zustimmend, bemerkt." Hamann rückt damit den von ihm in Mendelssohns Theorie aufgedeckten „Riß" (298,37) zwischen Freiheit und Verantwortung in den Kontext des Wortes Gottes, welches dem Menschen ursprünglich als Ganzes, und zwar als in seiner Ganzheit von Gesagtem und Gemeintem auf das Sein Jesu Christi hinweisendes Wort gegeben ist. An diesem Wort, welches alles Reden begründet, hat sich letztlich alles Reden zu orientieren. Gehört es doch zur Gottesebenbildlichkeit des Menschen, daß er „beyde Naturen des Herrn und Dieners in einer Person" 100 vereinigt und damit auch „Herr und Diener" des eigenen Wortes zu sein hat. Für Hamann „komt [es]" gerade im Kontext gesellschaftlichen Miteinanders „darauf an, die beyden Naturen eines Unmündigen u[nd] Vormunds zu vereinigen" und nicht etwa „beyde zu sich selbst widersprechenden Hypokriten zu machen" 101 . „Sittliches Vermögen" und „sittliche Notwendigkeit" lassen sich als „Recht" der Rede und „Pflicht" zur Verwirklichung des Gesprochenen nicht trennen. Weil auf der absoluten Verläßlichkeit eines gegebenen Wortes jede Form menschlicher Gemeinschaft und Verständigung beruht, dürfen „Treue und Glaube" nicht, wie Mendelssohn es tut, als für die Vernunft inakzeptable Formen ungeprüften Für-wahr-Haltens religiöser „Lehrmeinungen" abgetan 102 , sondern müssen als Grundlagen aller zwischenmenschlichen Verhältnisse zur Geltung gebracht werden. Daß die Figur der Idiomenkommunikation für die Bestimmung des Verhältnisses von Freiheit und Verantwortung nicht etwa eine von ihr unabhängige anthropologische Sicht argumentativ unterstützt, sondern diese konstituiert, läßt sich im Kontext dieses Kapitels besonders gut greifen. Die Struktur des von Gott ausgehenden Wortes ist nicht eine abstrakte Koinzidenz von Geist und Materie, sondern die konkrete Einheit von göttlicher Souveränität und Selbstverpflichtung, von Herrschaft und Dienst. Wenn, wie die biblischen Texte es nach Hamann nahelegen, die communicatio dieser „beyden Naturen" das göttliche Ethos im Umgang mit dem Menschen bestimmt, muß sie auch als Maßstab nicht nur einer christlichen, sondern auch einer allge99 100 101

102

S. Anm. 62. ZH 111,48,2 (an Nicolai am 7. Juni 1773). ZH V,291,30-32 (an C.J. Kraus am 18. Dez. 1784). Zu dieser Stelle vgl. O. Bayer, Umstrittene Freiheit, 66-96 („Selbstverschuldete Vormundschaft"); insbes. 81. Vgl. JubA VIII, 166.

Kirche und Staat im Kontext von Gesetz und Evangelium

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mein begründbaren Sozialethik im Sinne des primus usus legis geltend gemacht werden. Die Teilhabe am göttlichen Recht der Rede macht aus dem Menschen ein souveränes und damit verantwortliches Wesen, ja es macht ihn überhaupt erst zum Menschen. In der Verwirklichung dieser Bestimmung besteht seine Pflicht, in der Tatsache, daß er sie trotz seiner Begabung nicht verwirklicht, seine Schuld. Die Gabe der mit der Sprache gegebenen Freiheit wird zum Gesetz, die Unerfüllbarkeit dieses Gesetzes zum Grundproblem des gesellschaftlichen Miteinanders.

5.3 Das Verhältnis von Kirche und Staat im Kontext von Gesetz und Evangelium 5.3.1 Gegen die Trennung von Kirche und Staat im Kontext des Gesetzes Zu einer Klärung des Verhältnisses von Staat und denjenigen Institutionen, „die sich auf Verhältnisse des Menschen zu Gott beziehen" 103 , will Mendelssohn beitragen. Fundament seiner Argumentation ist dabei die Unterscheidung zwischen bloß äußerlicher „Handlung" und der inneren, dem äußeren Zugriff entzogenen „Gesinnung". Sie erlaubt ihm die Behauptung individueller Gewissensfreiheit, ohne die Realität deijenigen Abhängigkeiten leugnen zu müssen, die im „Stand der Gesellschaft" als politische Sachzwänge diese Freiheit einschränken. Die Zuständigkeiten von Staat und Religionsgemeinschaft sind bei Mendelssohn klar abgegrenzt. Dem Staat obliegt die Aufsicht über das äußere Verhalten seiner Bürger; er „hat Rechte [...] auf Güter und Handlungen der Menschen. Er kann nach dem Gesetze geben und nehmen, vorschreiben und verbieten [...], bestrafen und belohnen"104, wobei er sich „allenfalls mit todten Handlungen, mit Werken ohne Geist, mit Uebereinstimmung im Tun, ohne Uebereinstimmung in Gedanken" 105 begnügen muß. „Wenn innere Glückseligkeit der Gesellschaft nicht völlig zu erhalten stehet; so werde wenigstens äussere Ruhe und Sicherheit allenfalls erzwungen." 106 Zum Handeln kann der Mensch also durch äußere „Bewegungsgründe" 107 mehr oder weniger gezwungen werden. „Nicht also die Religion! Diese kennet keine Handlung ohne Gesinnung, kein Werk ohne Geist, keine Ueberein103

104 105 106 107

„Oeffentliche Anstalten zur Bildung des Menschen, die sich auf Verhältnisse des Menschen zu Gott beziehen, nenne ich Kirche; zum Menschen - Staat" (JubA VIII, 110). Mendelssohn bezeichnet daher auch die nichtchristlichen religiösen Institutionen („Synagoge oder Moschee") als „Kirche" (ebd). Ebd, 126. Ebd, 113. Ebd. Dieses und das folgende Zitat: Ebd, 110.

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Stimmung im Thun, ohne Uebereinstimmung im Sinne. Religiöse Handlungen [...] müssen an und für sich selbst aus dem Geiste kommen, und können weder durch Belohnung erkauft, noch durch Strafen erzwungen werden." 108 Die Aufgabe einer Religionsgemeinschaft besteht daher in ,ßelehren und Trösten; durch ihre göttlichen Lehren dem Bürger gemeinnützige Gesinnungen beyzubringen, und durch ihre überirdische Trostgründe den Elenden aufzurichten, der als ein Opfer für das gemeine Beste zum Tode verurtheilt worden." 109 Ihr obliegt die Pflege vernünftiger und moralischer „Gesinnungen", die, da nach Mendelssohn der „Conflikt zwischen Gott und Menschen, [zwischen den] Rechten der Gottheit und Rechten des Menschen" nur ein „vorgespiegelte^]" ist 110 , nicht ernsthaft mit den bürgerlichen Pflichten kollidieren können. Entsprechend soll sich eine Religionsgemeinschaft nach Mendelssohn nicht etwa als ein kritisches Gegenüber zu weltlicher Machtausübung verstehen. Sie verleiht vielmehr staatsbürgerlichen „Pflichten und Obliegenheiten nur erhabenere Sanctionl