Comicanalyse: Eine Einführung [1. Aufl. 2019] 978-3-476-04774-8, 978-3-476-04775-5

​Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Comics in all ihren vielfältigen Formen hat sich in den vergangenen Jahren auch

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Comicanalyse: Eine Einführung [1. Aufl. 2019]
 978-3-476-04774-8, 978-3-476-04775-5

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VI
Einleitung (Stephan Packard, Andreas Rauscher, Véronique Sina, Jan-Noël Thon, Lukas R. A. Wilde, Janina Wildfeuer)....Pages 1-12
Semiotische Comicanalyse (Stephan Packard, Andreas Rauscher, Véronique Sina, Jan-Noël Thon, Lukas R. A. Wilde, Janina Wildfeuer)....Pages 13-48
Multimodale Comicanalyse (Stephan Packard, Andreas Rauscher, Véronique Sina, Jan-Noël Thon, Lukas R. A. Wilde, Janina Wildfeuer)....Pages 49-72
Narratologische Comicanalyse (Stephan Packard, Andreas Rauscher, Véronique Sina, Jan-Noël Thon, Lukas R. A. Wilde, Janina Wildfeuer)....Pages 73-112
Genretheoretische Comicanalyse (Stephan Packard, Andreas Rauscher, Véronique Sina, Jan-Noël Thon, Lukas R. A. Wilde, Janina Wildfeuer)....Pages 113-150
Intersektionale Comicanalyse (Stephan Packard, Andreas Rauscher, Véronique Sina, Jan-Noël Thon, Lukas R. A. Wilde, Janina Wildfeuer)....Pages 151-184
Interkulturelle Comicanalyse (Stephan Packard, Andreas Rauscher, Véronique Sina, Jan-Noël Thon, Lukas R. A. Wilde, Janina Wildfeuer)....Pages 185-221
Back Matter ....Pages 223-228

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S. Packard, A. Rauscher, V. Sina, J.-N. Thon, L.R. A. Wilde, J. Wildfeuer

Comicanalyse Eine Einführung

.

Stephan Packard / Andreas Rauscher / . Véronique Sina / Jan-Noël Thon / Lukas R. A. Wilde / Janina Wildfeuer

Comicanalyse Eine Einführung

Mit zahlreichen Abbildungen

J. B. Metzler Verlag

Die Autorinnen und Autoren Stephan Packard ist Professor für Kulturen und Theorien des Populären an der Universität zu . Köln. Andreas Rauscher ist akademischer Oberrat für Medienwissenschaft/Medienästhetik mit den Schwerpunkten Filmwissenschaft und Game Studies an der Universität Siegen. Véronique Sina ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln. Jan-Noël Thon ist Associate Professor of Media Studies an der Norwegian University of Science and Technology (NTNU) in Trondheim, Norwegen. Lukas R. A. Wilde ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen. Janina Wildfeuer ist Assistant Professor in Language and Social Interaction, Communication and Information Science, University of Groningen, Niederlande.

ISBN 978-3-476-04774-8 ISBN 978-3-476-04775-5 (eBook) https://doi.org/10.1007/978–3-476–04775–5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart. Illustration © Kilian Wilde und Lukas Wilde. Website: www.wilde-grafik.com J. B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Inhaltsverzeichnis 1 1.1 1.2 1.3

Einleitung ................................................................................... Für wen ist diese Einführung gedacht? ............................................. Worauf baut diese Einführung auf? .................................................. Was will diese Einführung genau? ...................................................

1 1 3 7

2 2.1

Semiotische Comicanalyse ............................................................. Zeichenstrukturen im Comic .......................................................... 2.1.1 Cartoon ............................................................................ 2.1.2 Blickführung ...................................................................... 2.1.3 Schrift und Bild .................................................................. Zum Beispiel: Batman 1940 und 2018 .............................................. Fazit ...........................................................................................

13 14 20 27 33 38 45

Multimodale Comicanalyse ............................................................ Die multimodale Analyse von Comics .............................................. 3.1.1 Zeichenmodalitäten im Comic: Material, Form und Bedeutungskonstruktion ...................................................................... 3.1.2 Das Zusammenspiel von Zeichenmodalitäten im Comic: Intersemiose ...................................................................... Zum Beispiel: Mawils Kinderland (2014) .......................................... Fazit ...........................................................................................

49 49

2.2 2.3 3 3.1

3.2 3.3 4 4.1

4.2 4.3 5 5.1

5.2 5.3 6 6.1

6.2 6.3

52 58 62 69

Narratologische Comicanalyse ........................................................ 73 Narratologische Perspektiven der Comicforschung ............................. 74 4.1.1 Storyworlds und narrative Darstellung ................................... 75 4.1.2 Erzähler_innenfiguren und narratoriale Darstellung .................. 81 4.1.3 Figurensubjektivität und subjektive Darstellung ....................... 87 Zum Beispiel: Craig Thompsons Habibi (2011) ................................... 99 Fazit ........................................................................................... 108 Genretheoretische Comicanalyse ..................................................... Das Genre der Superheld_innen im Comic ........................................ 5.1.1 Semantik und Syntax eines Genres ........................................ 5.1.2 Settings und Standardsituationen .......................................... 5.1.3 Genregeschichte und Selbstreflexion ...................................... Zum Beispiel: Old Man Logan (2008) und Logan (2017) ...................... Fazit ...........................................................................................

113 114 117 124 133 140 146

Intersektionale Comicanalyse ......................................................... Intersektionalitätsforschung ........................................................... 6.1.1 Gender ............................................................................. 6.1.2 Race ................................................................................. 6.1.3 Dis/ability ......................................................................... Zum Beispiel: Kaisa Lekas I Am Not These Feet (2006) ........................ Fazit ...........................................................................................

151 151 153 157 164 170 180

V

Inhaltsverzeichnis

7 7.1

VI

7.2 7.3

Interkulturelle Comicanalyse .......................................................... Manga ........................................................................................ 7.1.1 Zum Kontext: Manga in Japan und Deutschland ...................... 7.1.2 Manga-Zeichensprache ........................................................ 7.1.3 Manga-Genrekonventionen ................................................... 7.1.4 Manga-Mediation ............................................................... Zum Beispiel: David Fülekis Struwwelpeter. Die Rückkehr (2009) ......... Fazit ...........................................................................................

185 188 191 195 201 205 209 215

8

Personenregister .......................................................................... 223

9

Werkregister ................................................................................ 227

1

1 Einleitung Das vorliegende Buch bietet eine leicht zugängliche und disziplinär vielfältige Einführung in die gängigsten Verfahren der Comicanalyse. Mit unterschiedlichen Perspektiven auf verschiedene Elemente, Strukturen und Kontexte von Comics schaffen die sechs Kapitel eine solide Grundlage für die Analyse ganz unterschiedlicher Comics, die sowohl notwendige theoretische Prämissen als auch praktische Methoden beinhaltet. Vorgestellt werden sechs in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussion zentrale transdisziplinäre Ansätze, die weitgehend voraussetzungslos studiert werden können und ein je spezifisches begriffliches Instrumentarium zur eigenständigen Comicanalyse anbieten.

1.1 | Für wen ist diese Einführung gedacht? Wenn Sie als Leser_in dieses Buch zur Hand genommen haben, möchten Sie sich vermutlich näher mit einer der populärsten Medienformen der Gegenwart auseinandersetzen – mit einem Comic, einer Graphic Novel, einem Manga, einem Comicstrip oder einer cartoonartigen Abbildung, der oder die Ihnen etwa in gedruckter Form als gebundenes Buch, als Heft oder als Teil einer Tageszeitung oder auch in digitaler Form auf Ihrem Laptop, Ihrem E-Reader oder Ihrem Mobiltelefon über den Weg gelaufen sein mag. Vielleicht sind Sie auf der Suche nach einem systematischen Zugang zur Analyse einzelner Details dieser Medienformen, möchten mehr über die Reichweite der Zeichen und Text-Bild-Kombinationen auf einer Comicseite erfahren oder sich in bestimmte Teilaspekte der Comicforschung, die Ihnen anderweitig schon begegnet sind, tiefer einarbeiten. Vielleicht ist Ihr Hintergrund auch klarer theoretischer oder praktischer Natur; oder Sie haben bereits Erfahrung in der Analyse von Comics gesammelt und spezifische Untersuchungsfragen formuliert und wollen nun weitere Schritte und detailliertere Untersuchungen unternehmen. Um Ihnen dies zu ermöglichen, werden Ihnen die in dieser Einführung versammelten Kapitel Instrumentarien und Anwendungsszenarien zur Seite stellen, mit denen Sie systematisch und fundiert Comicanalyse betreiben können. Die praktische Untersuchung von Comics in all ihren Erscheinungsformen steht dabei in allen Kapiteln im Fokus der Betrachtung und lädt Sie mit anschaulichen Beispielen dazu ein, über die jeweils vorgestellten Perspektiven der Comicanalyse zu reflektieren und sie Ihren eigenen Interessen folgend auf andere Untersuchungsobjekte aus dem weiten Feld des Comics als einer besonders vielfältigen Medienform anzuwenden. Wenn Sie bereits andere Einführungs- und Überblickswerke zur Comicanalyse oder -forschung lesen konnten, werden sie festgestellt haben, dass es keineswegs offensichtlich ist, welche Methoden, Disziplinen oder Instrumentarien besonders sinnvoll oder hilfreich für Ihre eigenen Interessen sind, da sich zunächst einmal eine breite Vielfalt an Möglichkeiten bietet. Comics stehen nicht erst seit Kurzem, aber doch seit etwa 15 Jahren immer stärker im Interesse unterschiedlichster Disziplinen und Forschungsrichtungen, und die Diversität von Kontexten, in denen sie J.B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Packard et al., Comicanalyse. Eine Einführung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04775-5 _1

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1

Einleitung

thematisiert werden, steigt weiter. Dies macht es immer schwieriger, spezifisches Wissen aus Einzelbereichen oder ganzen Disziplinen für die Analyse zu nutzen. Ein analytischer Zugang zu Comics kann also nur von Zusammenarbeit geprägt sein und sollte nicht anstreben, eine einzelne Disziplin oder analytische Perspektive aus der Vielfalt an Herangehensweisen herauszulösen. Genau diesen komplementären Zugang wählt auch diese Einführung, indem sie verschiedene Ansätze vorstellt – mehr dazu weiter unten. Während jedes der folgenden Kapitel einen möglichen Ansatz zur Comicanalyse präsentiert, soll dadurch freilich keineswegs die Vorstellung einer abgeschlossenen Analyse entstehen, die genau dann zu einem Ende kommt, wenn sie jeden der Aspekte aus jedem dieser Kapitel einmal berücksichtigt hat. Die Vielfalt der Comicanalyse ergibt sich vielmehr gerade aus dem immer neu akzentuierten Zusammenspiel mehrerer Perspektiven. Das heißt zum einen, dass weder die Semiotik noch die Narratologie, weder Theorien zur Multimodalität noch zum Genre, weder intersektionale noch interkulturelle Ansätze eine übergeordnete Matrix bieten, in die sich die anderen Kapitel einfügen. Stattdessen nimmt jede dieser Perspektiven einen immer wieder neuen Ausgangspunkt der Betrachtung und Untersuchung ein. Erst im weiteren Verlauf der Comicanalyse von einem dieser Interessen aus ergeben sich dann vielfältige Brücken und Bezüge zu den weiteren analytischen Perspektiven, Begriffsgebäuden und Theoriebeständen, auf die in den einzelnen Kapiteln jeweils hingewiesen wird. Zum anderen soll dieser komplementäre Ansatz einem Verständnis von der Eigenständigkeit des Medienartefaktes, also des einzelnen Comics, der analysiert werden soll, gegenüber jedem analytischen Ansatz gerecht werden. Keine der hier beschriebenen Theorien kann den einzelnen Comic zwingen, ihr zu entsprechen. Sie kann aber typische, häufig wiederkehrende Formen beschreiben und – dringender noch – Fragen vorschlagen, die an jeden Comic gestellt werden können. Dabei wird die Analyse erst durch die konkrete Frage fruchtbar: Comics sind keine wohldefinierten Gegenstände oder stellen gar letztgültig zu lösende Fragestellungen für die Analyse dar, sondern nur, wer sich eine bestimmte Aufgabe stellt, wer also zum Beispiel herausfinden will, wie die Kategorie ›Gender‹ in einem bestimmten Comic dekonstruiert wird, wie ein anderer mit Genreerwartungen und -konventionen spielt oder welche kulturellen Besonderheiten aus dem Kontext eines Comics diesen prägen – nur wer also eine klare Frage stellt, wird auch die Antwort auf diese Frage in der Comicanalyse darstellen können. Zur Vielfalt dieser Analyseansätze gehört schließlich auch, dass dieser Band nur in der Zusammenarbeit seiner Autor_innen mit ihren verschiedenen disziplinären Hintergründen, theoretischen Kenntnissen und methodischen Präferenzen möglich wurde. Sie werden deshalb feststellen, dass es sich bei der Comicanalyse, wie sie dieser Band versteht, vor allem um ein interdisziplinäres Unterfangen handelt, das unterschiedliche Wege zur Annäherung an und konkreten Auseinandersetzung mit dem Comic bereitstellt. Insofern ist auch diese Einführung in keiner Weise für einen spezifischen, disziplinären Leser_innenkreis gedacht, sondern richtet sich an Interessierte aller Forschungsrichtungen, vor allem aber an Studierende und Einsteiger_ innen – mit oder ohne Vorwissen zur Comicanalyse.

2

1.2

Worauf baut diese Einführung auf?

1.2 | Worauf baut diese Einführung auf? Die so skizzierte komplementäre Herangehensweise entspricht auch dem Gegenstand der vorliegenden Einführung, dem Comic, der nicht aus einer einzelnen Kunstschule oder in Abhängigkeit von einem technischen Medium, sondern an vielen verschiedenen Stellen gleichzeitig bzw. parallel entstanden ist. Versuche, abschließend zu definieren, was ein Comic sei, können heuristisch interessant sein, leiten aber dann in die Irre, wenn sie zu einer endgültigen Antwort führen sollen (vgl. z. B. Meskin 2007; Miodrag 2015; Packard 2016). Zwar lassen sich bestimmte formale Ähnlichkeiten zugrunde legen, die etwa semiotische und mediale Bestimmungen des Erzählens in mehreren Bildern in Sequenz fokussieren (siehe Kap. 2 und Kap. 3). Sie sind aber nicht weniger wichtig als die narrativen Strukturen, die regelmäßig zum Erzählen in Comics verwendet werden (siehe Kap. 4), die historische Entwicklung der Medienform und der damit assoziierten Genres (siehe Kap. 5), der Umgang mit Genderrollen und Körperrepräsentationen, der sich aus einer intersektionalen Analyse erschließt (siehe Kap. 6), oder die kulturell verschiedene Situierung von Comics (siehe Kap. 7). Anstelle eines eindeutig bestimmbaren Gegenstands vereinigt die Comicanalyse stattdessen die Verzahnung und Überschneidung ihrer methodischen Interessen, die sich auch aus der Geschichte der Comicforschung ergeben. Die Anfänge der Comicanalyse gehen dabei zurück bis in das frühe 20. Jahrhundert. Einige Forscher_innen setzen einen Beginn sogar bereits im 19. Jahrhundert mit dem Zeichner Rodolphe Töpffer an, der nicht nur als Vorreiter für viele spätere Comics und Bildergeschichten gilt, sondern sich parallel zu seinen eigenen Arbeiten auch reflexiv mit der Frage beschäftigt haben soll, wie seine Zeichnungen gelesen werden. Er soll somit eine erste Verbindung zwischen Praxis und Theorie hergestellt haben (vgl. z. B. Miller/Beaty 2014; Etter/Stein 2016). Daran anschließend entstehen in den USA erstmals in den 1920er Jahren, vor allem aber nach dem Zweiten Weltkrieg und dann auch im europäischen Raum, Auseinandersetzungen mit dem Comic als Kunstform mit literarischem Potenzial (eine ausführlichere multiperspektivische Rekonstruktion der hier und im Folgenden nur angerissenen Entwicklungen findet sich z. B. in Smith/Duncan 2017). Zunächst artikulieren sich dabei durchaus auch negative Haltungen, wie das folgende Zitat von Manfred Welke über die Sprache der Comics deutlich macht: Eine unübersehbar große Zahl verschiedenartiger Druckerzeugnisse wird heute der Jugend zum Kauf angeboten. Bücher, Broschüren, Hefte, Zeitschriften und Zeitungen wenden sich direkt an die 6- bis 16-Jährigen und versprechen ihnen die Erfüllung ihrer Leserwünsche. Doch was verbirgt sich hinter den bunten Bildumschlägen? Gute Jugendliteratur, wertlose Unterhaltungslektüre und – leider allzu oft – minderwertiges Schrifttum stehen in den Auslagen vieler Händler nebeneinander. (Welke 1974, S. 7)

Als »Schmutz und Schund« (ebd.) mit »chaotisch unangenehme[m] Stil« (ebd., S. 49) und »asozialer Sprache« (ebd., S. 73) beschreibt Welke in seiner Analyse überwiegend Phänomene der geschriebenen Sprache im Comic (wie z. B. Ellipsen, Onomatopoetika und Satzabbrüche), die vom Standard anderer literarischer Werke gravierend abweichen. Diese und ähnliche Meinungen zu Comics als Trivialliteratur oder als Medienform mit jugendgefährdenden verführerischen Inhalten (vgl. Wertham 1954) halten sich sowohl in Deutschland als auch in den USA über längere Zeit

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1

Einleitung

(vgl. auch der Überblick in Riedemann 1988), verlieren jedoch durch die vielen weiteren comicanalytischen Untersuchungen zunehmend an Bedeutung, die seit den 1970er und 1980er Jahren entstehen (vgl. z. B. Kloepfer 1977 in Deutschland; oder Eisner 1985 in den USA) und für die bereits Umberto Ecos kleinere Arbeiten von 1964 und 1972 als Ausgangspunkt gesehen werden. Denn in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlangen Comics oder comic books (engl.), bandes dessinées (frz., der Begriff prägte sich in den 1960er Jahren) oder fumetti (ital.) in ihren unterschiedlichsten Erscheinungsformen einen immer höheren Stellenwert als kulturelles Phänomen, als Kunstform oder als »Erweiterung des Operationsfelds der Literatur« (Dolle-Weinkauff 1990, S. 13). Von einem langen Kampf um Akzeptanz als seriöse Kunstform ist die Rede (vgl. z. B. Meskin et al. 2017, S. 1), von seiner ›Emanzipation‹ (vgl. z. B. Dolle-Weinkauff 1990, S. 289), und schließlich auch von einer globalen Comickultur mit enormer Freiheit (vgl. z. B. Knigge 2016, S. 36). Weit außerhalb westlicher Kulturräume, etwa in China (vgl. z. B. Lent/Ying 2017), Japan (vgl. z. B. Berndt 2015) und Korea (vgl. z. B. Brienza 2004), haben Comics unter Bezeichnungen wie ›Manhua‹ (in China), ›Manga‹ (in Japan) oder ›Manhwa‹ (in Korea) eine eigenständige Entwicklung mit ganz anderen Prägungen durchlaufen. Dass Comics damit auch zunehmend in den Blick der internationalen wissenschaftlichen Forschung geraten sind, ist nicht zuletzt solchen Disziplinen zu verdanken, die sich mit Kunst, Medien oder Literatur beschäftigen und ihr jeweils eigenes Interesse an Comics entwickeln und mit unterschiedlichsten Fragestellungen und kritischen Auseinandersetzungen mit dem Medium verbinden. Heute zeichnet die Fülle an wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Comics ein buntes und breit gefächertes Bild der Comicanalyse und -forschung. Comics werden dabei nicht nur in besonders ergiebiger Weise im Hinblick auf ihren Status als eine der populärsten Kommunikationsformen der Gegenwart oder unter Berücksichtigung der spezifischen Praktiken ihres Erzählens untersucht. Auch formale Aspekte ihrer materiellen Eigenschaften oder die Einordnung der im Comic diskutierten Themen in einen größeren Medienzusammenhang sind von Interesse. Mit theoretisch und methodologisch präzisen Instrumentarien werden sowohl exemplarische Beispiele als neuerdings auch größere Datenmengen korpus- und computergestützt analysiert. In zahlreichen Veröffentlichungen, auf internationalen Konferenzen und Workshops sowie in vielen Seminaren, Studienprogrammen und Fortbildungen wird so aktiv Comicanalyse betrieben. Wenngleich eine solche Forschung, die sich seit ihren Anfängen dynamisch und vielfältig weiterentwickelt, Gesellschaften und Verbände gegründet hat und in vielen Studienfächern inzwischen eine wichtige Rolle einnimmt, vielfältige disziplinäre Strukturen aufweist, ist die Frage nach dem tatsächlichen Status einer ›Comicwissenschaft‹ in Deutschland weiter ungeklärt und wird unterschiedlich diskutiert. Während zu Beginn der 2000er Jahre noch geltend gemacht wurde, eine solche Disziplin existiere nicht (vgl. Frahm 2002), gehen die Meinungen darüber seitdem auseinander: Es ist zum Beispiel die Rede von Comicwissenschaft in »Keimform« mit »Inseln der Aktivität [...] am Rande der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen« (Schüwer 2008, S. 13); Comicforschung wäre dann »eine transdisziplinäre Angelegenheit und der Prozess ihrer Etablierung auch noch keineswegs abgeschlossen« (Abel/Klein 2016b, S. V). Andererseits urteilt etwa Daniel Stein, dass »die Frage, ob es eine Comicwissenschaft in Deutschland gibt, durchaus mit einem vorsichtigen ›ja‹ beantwortet werden« (Stein 2012, o. S.) kann. Er hebt aber zugleich

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1.2

Worauf baut diese Einführung auf?

hervor, dass solche Beobachtungen über eine Comicwissenschaft als Disziplin nicht auf einen nationalen Kontext beschränkt werden dürfen. Tatsächlich werden diese Fragen im internationalen Kontext der Comicforschung weniger stark problematisiert, sondern die Betonung liegt vielmehr auf »the wide variety of traditions, genres, approaches, and disciplines with which comics studies engages« (Meskin et al. 2017, S. 3). Es ist zum Teil sogar schlicht die Rede von einer ›Anti-Disziplin‹, was wiederum insbesondere die Breite und Perspektivenvielfalt des Feldes ›ohne Ort‹ hervorhebt. So fragt etwa Charles Hatfield: What could it mean to build a »place« for a field that cannot quite be placed, one that has operated on the margins and in the interstices among the disciplines—literature, art, mass communications, film and media studies, design, philosophy, sociology, and many others? Comics Studies is a liminal field, defined by the unresolved nature of its very object of study. (Hatfield 2017, S. 1, Herv. im Original)

Viele neuere Übersichtswerke zum aktuellen Forschungsstand der Comicanalyse betonen diese Heterogenität des Forschungsfeldes und weisen zugleich auf die vielen Theorien und Methoden hin, die zur Analyse herbeigezogen und angepasst oder gar neu entwickelt werden müssen (vgl. Duncan/Smith 2012; Wirag 2012; Abel/ Klein 2016a; Bramlett et al. 2017; Domsch et al. [i. Vorb.]). Wie das zuvor angeführte Zitat von Charles Hatfield deutlich macht, entspringen diese Theorien und Methoden ganz unterschiedlichen Disziplinen von der Linguistik und Literaturwissenschaft bis hin zur Kunst-, Kultur- und Medienwissenschaft, orientieren sich aber zum Beispiel auch an neuesten Entwicklungen in der Psychologie oder den Neurokognitionswissenschaften (für einen ersten Überblick über die disziplinäre Vielfalt vgl. z. B. die Beiträge in Duncan/Smith 2012; Smith/Duncan 2017; Dunst et al. 2018). Comicforschung ist deswegen ein in hohem Maße interdisziplinäres Feld, das sich genau aus dieser Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Ansätze profiliert. Der produktiven Heterogenität der analytischen Perspektiven innerhalb der Comicforschung entspricht auch die Heterogenität ihrer Untersuchungsgegenstände. Der Begriff ›Comic‹ ist dabei vielleicht noch die allgemeinste Bezeichnung für die Vielfalt dessen, was im Interesse der Comicforschung und -analyse steht bzw. stehen kann. Comics erscheinen nicht nur in den unterschiedlichsten Formaten, statisch gedruckt »als Heftchen, als Streifen in der Presse, [...] broschierte Ausgaben, Taschenbücher und gebundene Bände« (Doderer 1990, S. 10), sondern auch digital und teilweise animiert in den sozialen Medien (zum Beispiel auf Instagram oder Twitter). Neben typischen Comicstrips, Comicserien oder Graphic Novels (vgl. z. B. Baetens/Frey 2014; Etter/Thon [i. Vorb.]), kulturell geprägten Formaten wie Manga (vgl. z. B. Berndt 2015; Aldama/González 2016), digitalen ›Objekten‹ wie Webcomics (vgl. z. B. Hammel 2014; Wilde 2015) oder intermedialen Phänomen wie Comicfilmen (vgl. Friedrich/Rauscher 2007; Sina 2016) können auch Cartoons oder Funnies im Zentrum einer Analyse stehen (vgl. z. B. Abate 2018). Außerdem geraten verschiedene Genres in den Blick, wie etwa Abenteuer- oder Superheld_innen-Comics (vgl. z. B. Cocca 2016; Etter et al. 2018). Und nicht nur der narrative, d. h. erzählerische Aspekt von Comics kann Anlass zur Analyse bieten, sondern auch eine Vielzahl von weiteren Einsatzmöglichkeiten, die Comics annehmen, z. B. als Lehr- und Sachbücher, Dokumentationen und Biographien (vgl. z. B. El Refaie 2012; Chute 2016). Wenn auch bis heute im Bereich der internationalen Comicforschung nur marginal vertreten, ist in jüngster Zeit außerdem eine wachsende Anzahl von Publikationen zu verzeichnen, die sich aus gender- und kulturkritischer Perspektive mit dem

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1

Einleitung

Comic, seiner Medialität, sowie seinen Produktions- und Rezeptionsbedingungen auseinandersetzen und dabei repräsentationskritische Fragestellungen in den Blick nehmen (vgl. u. a. Chute 2010; Cocca 2016; Sina 2016; Scott/Fawaz 2018; Køhlert 2019). Das Spektrum an Gegenständen, die in der Comicanalyse herangezogen werden können, umfasst somit alle seine Formen und Genres mit unterschiedlicher Komplexität und Ausgestaltung in allen medialen Kontexten. Mit der beginnenden und widerspruchsvollen Etablierung der wissenschaftlichen Comicforschung sind auch institutionelle Ressourcen entstanden, die bei der langfristigen Arbeit mit verschiedenen Perspektiven der Comicanalyse hilfreich sein können. Einen international einschlägigen Überblick über die Forschungsliteratur liefert die Bonner Online-Bibliographie zur Comicforschung (http://www.bobc.unibonn.de), die auf die Anstrengungen von Joachim Trinkwitz und seinen Mitarbeiter_innen zurückgeht. Sie sollte ein erster Anlaufpunkt für eine Recherche in diesem Feld sein. Weitere Orientierung bieten nationale und übernationale Institutionen, die in Webseiten und auf E-Mail-Verteilern Informationen und oft auch Ansprechpartner_innen bereithalten. Eine der ältesten ist die nach wie vor sehr aktive Comix Scholars-List oder [comixschl], die zum Mitlesen und Mitdiskutieren einlädt. In deutscher Sprache bestehen seit 2005 die Gesellschaft für Comicforschung (ComFor) sowie seit 2013 die AG Comicforschung der Gesellschaft für Medienwissenschaft, die nicht nur ihren Mitgliedern in Veranstaltungen und in der internen Kommunikation Auseinandersetzungen mit aktuellen Projekten zur Comicforschung ermöglichen. Die Webseite der ComFor (http://www.comicgesellschaft.de) gibt zudem einen breiten Überblick über Veranstaltungen, Ausstellungen und Publikationen zur Comicforschung in deutscher Sprache und weite Teile der internationalen Aktivität. Vergleichbare Organisationen gibt es in anderen Ländern und Sprachen: Das Comics Forum in Großbritannien verfügt über eine ebenso aktive Webseite (http://www.comicsforum.org), in Frankreich findet sich ACME, in den nordeuropäischen Ländern die Kooperation ENNCORE. 2014 wurde zudem die nordamerikanische, aber international ausgerichtete Comics Studies Society gegründet, die seit 2017 die Fachzeitschrift Inks herausgibt. Unter den inzwischen unüberschaubar vielen Zeitschriften für Comicforschung ist zudem auf jeden Fall das von John Lent seit 1999 herausgegebene International Journal of Comic Art IJoCA hervorzuheben. Hinzu kommen die Zeitschriften European Comic Art, ImageTexT. Interdisciplinary Comics Studies, Image & Narrative, Journal of Graphic Novels and Comics, The Comics Grid sowie Studies in Comics; in Deutschland das seit 2005 erscheinende Jahrbuch Deutsche Comicforschung und die seit 2014 erscheinende Online-Zeitschrift Closure. Kieler e-Journal für Comicforschung (http://www.closure.uni-kiel.de). Ein Desiderat bleibt, zumal in Deutschland, ein umfassendes Archiv für Comics. Größere bibliothekarische Bestände finden sich am Institut für Jugendbuchforschung an der Universität Frankfurt a. M. sowie bei der Arbeitsgruppe Graphische Literatur an der Universität Hamburg. Beide Orte bilden zugleich wichtige Schauplätze der Institutionalisierung der Comicforschung in Deutschland in den letzten Jahrzehnten. Hinzu kommen in Berlin die Comic-Bibliothek Renate und die 2014 gegründete Comic-Sammlung der Bibliothek des John-F.-Kennedy-Instituts für Nordamerikastudien. Unter den unzähligen internationalen Sammlungen sei hier nur als die wohl größte akademisch aufbereitete die Comic Art Collection der Michigan State University genannt.

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1.3

Was will diese Einführung genau?

Ein weiterer wichtiger Punkt, der in dieser Einführung nicht unerwähnt bleiben soll, ist die Tatsache, dass der textuelle Kanon der internationalen Comicforschung bis heute vornehmlich von männlichen Autoren dominiert wird (vgl. Sina [i. Vorb.]). Mit dem Ziel, dieser Dominanz entgegenzuwirken und die Sichtbarkeit weiblicher Comicforscherinnen zu erhöhen, wurde Anfang 2019 auf Twitter die #womenonpanels-Initiative ins Leben gerufen. »[M]isogyny in comics studies often takes the form of blind spots, rather than outright, intentional hostility« (Misener 2019, o. S.), erläutert etwa Leah Misener die Beweggründe für diese feministische Protestaktion. Der Mangel an ›weiblicher‹ Comicforschung und Diversität zeige sich etwa, so Misener, in Sammelbänden mit einem geringen Anteil an Beiträgen von Comicforscherinnen, an einer Comicgeschichtsschreibung, die sich vornehmlich auf männliche Comickünstler fokussiere, und an der mangelnden Bereitschaft von Comicforschern, weibliche Kolleginnen in ihren Publikationen zu zitieren, obwohl diese thematisch einschlägig seien. Im Sinne der im Rahmen der #womenonpanels-Initiative geäußerten Forderung nach Gleichstellung und -berechtigung in der gegenwärtigen Comicforschung wurde in diesem Buch bei der zitierten Literatur und der Zusammenstellung der Quellenverweise nicht nur auf Diversität, sondern auch auf Interdisziplinarität geachtet. Denn sowohl für die Comicforschung im Allgemeinen als auch für diese Einführung im Speziellen gilt, dass Forschung nur gelingen kann, wenn sie Vielfalt zulässt. Dass Comicforschung generell nur interdisziplinär gelingen kann, bestätigten auch die Erfahrungen beim Verfassen dieser Einführung. Im Einzelfall ist damit neben der breiten und weiten Lektüre und der Nutzung möglichst vieler und vielfältiger Ressourcen immer auch die Ermutigung zur Zusammenarbeit mit Kolleg_innen aus anderen Fächern gemeint, die die Comicforschung besonders reizvoll und lohnend macht. Eine Comicanalyse kann immer auch von der Frage profitieren: Mit wem sollte ich das machen? Wen sollte ich hierzu fragen? Wer will das noch wissen?

1.3 | Was will diese Einführung genau? Die Vielfalt und den Facettenreichtum von Comics nimmt diese Einführung als Chance und als Herausforderung, einen multiperspektivischen Zugang zur Analyse von Comics zu entwickeln, der zugleich offen dafür ist, individuelle Analyseinteressen zu berücksichtigen. Denn die Diversität des Feldes sowie seiner Untersuchungsobjekte bietet nicht nur Potenzial für unterschiedlichste Fragestellungen und Analysewege, sondern zugleich auch einige Schwierigkeiten. Der zum Teil doch recht unübersichtliche Bestand an Begrifflichkeiten, Modellen und Methoden einer interdisziplinären Comicforschung ist nicht einfach zu durchschauen. Die Wahl eines geeigneten Zugangs für die jeweils zugrunde liegende Forschungsfrage bleibt deswegen nicht selten eine signifikante Hürde. Während die bisher verfügbaren Einführungs- und Übersichtswerke viele unterschiedliche Möglichkeiten zur genaueren Untersuchung von Comics, ihrer Funktionsweisen, der Gestaltung und Nutzung aufzeigen, ohne diese explizit miteinander zu vergleichen oder zu strukturieren, fehlt es bislang – insbesondere im deutschsprachigen Bereich – an einer übergreifenden Orientierung und einem anwendungsbezogenen Leitfaden zur Comicanalyse. Genau diesen möchte die vorliegende Einführung bereitstellen, indem sie theoretische, begriffliche und methodische Reflexion mit konkreten medialen Beispiel-

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Einleitung

analysen verbindet und dabei vor allem solche analytischen Perspektiven in den Vordergrund stellt, die sich quer zu den mit Comics befassten Disziplinen und ihren jeweiligen Grenzen benennen lassen. Es geht also nicht darum, einen detaillierten Überblick über die Entstehung und Geschichte der Comicanalyse zu geben, eine Positionierung gegenüber disziplinären Fragestellungen vorzunehmen oder eine Zusammenfassung der bis heute verfügbaren wichtigsten Werke zur Comicanalyse zu liefern. Stattdessen will diese Einführung den Prozess der Beschäftigung mit dem Comic selbst in den Vordergrund stellen und praktische Anleitungen zur genauen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Aspekten der vielfältigen Medienform geben. In den sechs folgenden Kapiteln werden diejenigen Perspektiven der Comicanalyse vorgestellt und in praktischen Beispieluntersuchungen veranschaulicht, die sich in der Fülle von Ansätzen bereits bewährt haben und in diesem Sinne als etabliert gelten dürfen. Dabei sollen nicht nur Parallelen zwischen den hier unterschiedenen Perspektiven aufgezeigt werden, sondern vor allem die grundlegenden Eigenschaften von Comics in den Vordergrund gerückt und im Detail analysiert werden. Die Kapitel geben daher nicht nur einen Überblick über zentrale Perspektiven der Comicanalyse und der Comicforschung, sondern stellen immer auch den Prozess der Beschäftigung mit dem Comic selbst in den Fokus. Vorgestellt werden sechs in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussion zentrale Perspektiven der Comicanalyse, die weitgehend voraussetzungslos verfolgt werden können und ein je spezifisches begriffliches Instrumentarium im Sinne eines Werkzeugkastens zur eigenständigen Comicanalyse zur Verfügung stellen. Die Ansätze sind dabei miteinander kompatibel und – je nach Gegenstand und Forschungsinteresse – kombinierbar. Kapitel 2 stellt die semiotische Comicanalyse vor. Aus der großen Zahl an möglichen Ansätzen wurden drei Untersuchungswerkzeuge ausgewählt, die sich mit der karikierenden Körperdarstellung, das heißt vor allem mit der Cartoonästhetik im Comic auseinandersetzen, mit der Binnenstruktur der Sequenzen von Bildern auf der Seite und im Strip, die vielen Bestimmungen des Comics als ›sequenzielle Kunst‹ ihre Grundlage geben, und mit der Interaktion von Sprache und Bild, die nicht in allen, aber in sehr vielen Comics eine wichtige Rolle spielt. Beispielhaft dient eine vergleichende Analyse je einer Seite aus einem der ersten und einem der jüngsten Batman-Comics dazu, die analytische Produktivität des vorgestellten Werkzeugkastens vorzuführen. Kapitel 3 stellt die multimodale Comicanalyse vor, die sich mit sehr detaillierten Beschreibungen unterschiedlichster semiotischer Elemente innerhalb von Comics bzw. einzelnen Seiten oder Panels befasst. Dabei steht in einem ersten Schritt die Identifikation von semiotischen Elementen und die genaue Analyse ihrer Funktion als Zeichenmodalität im Vordergrund. In einem zweiten Schritt wird diskutiert, wie das Zusammenspiel dieser Elemente und Modalitäten zu bezeichnen und analysieren ist und welche Rolle dabei auch die Rezipierenden spielen. Schließlich werden diese theoretischen und methodischen Überlegungen im Detail auf einige Panels aus Mawils Comic Kinderland (2014) angewendet, um die analytische Produktivität des vorgestellten Werkzeugkastens zu demonstrieren. Kapitel 4 stellt die narratologische Comicanalyse vor. Zwar findet sich inzwischen ein breiter Konsens, dass es sich bei vielen (wenn auch vielleicht nicht allen) Comics um narrative Formen handelt, aber damit ist noch nicht viel darüber gesagt, wie Comics ihre – kurzen und langen, heiteren und ernsten, fiktiven und nicht-fiktiven – Geschichten erzählen. Das Kapitel fokussiert vor diesem Hintergrund auf die

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1.3

Was will diese Einführung genau?

durch Comics dargestellten Storyworlds, die durch sie eingesetzten Erzähler_innenfiguren und die in ihnen zu findenden Strategien zur Darstellung von Figurensubjektivität. Die analytische Produktivität dieses Werkzeugkastens wird anhand einer detaillierten Beispielanalyse von Craig Thompsons narrativ komplexer Graphic Novel Habibi (2011) illustriert. Kapitel 5 stellt die genretheoretische Comicanalyse vor. Am Beispiel der Superheld_innen-Comics wird eines der prägendsten Genres diskutiert. Die Entwicklung der Figurentypen, der wiederkehrenden Konflikte und der markanten Ikonographie erscheint nicht nur exemplarisch für die Spielregeln einer Genreform. Die für Superheld_innen charakteristische Tendenz zur hybriden Vermischung unterschiedlicher Genresysteme erweist sich zudem als wesentliche Grundlage für das in der Genretheorie zentrale Wechselspiel von Wiederholung und Variation. Mit den Begriffen der auf die Zeichenebene fokussierten Semantik und der auf die Strukturen konzentrierten Syntax werden zwei grundlegende Perspektiven der Genreforschung mit medienübergreifenden Anschlussmöglichkeiten dargestellt. Exemplarisch werden sowohl die eingeführten Begrifflichkeiten als auch die thematisierten Kontexte der Genreforschung in einer vergleichenden Analyse des Comics Old Man Logan (2008) von Mark Millar und Steve McNiven sowie seiner Verfilmung durch James Mangold in Logan (2017) zur Anwendung gebracht. Kapitel 6 stellt die intersektionale Comicanalyse vor. Nach einer genaueren Bestimmung des Begriffs der ›Intersektionalität‹ und seiner Produktivität für die Comicanalyse werden dabei beispielhaft drei unterschiedliche Differenzachsen, nämlich die Kategorien Gender, Race und Dis/ability sowie ihr wechselseitiges Ineinandergreifen und ihre Relevanz für ein besseres Verständnis ganz unterschiedlicher Comics erläutert. Im Anschluss daran werden die erarbeiteten theoretischen Grundlagen und Begrifflichkeiten wiederum in der detaillierten, exemplarischen Analyse eines konkreten Beispiels erprobt, bei dem es sich dieses Mal um Kaisa Lekas autobiographischen Comic I Am Not These Feet (2006) handelt. Kapitel 7 stellt die interkulturelle Comicanalyse vor. Dabei liegt der Fokus zunächst auf der Analyse eines kulturspezifischen Einsatzes von Zeichen, kulturspezifischer Genrekonventionen mit Blick auf narrative Darstellungsstrategien sowie eines unter dem Begriff der ›Mediation‹ zu fassenden, kulturspezifischen Kommunikationsgefüges zwischen Künstler_innen, Rezipierenden und der weiteren Medienlandschaft. Die Produktivität dieses Werkzeugkastens wird wiederum im Rahmen einer detaillierten Beispielanalyse von David Fülekis Struwwelpeter. Die Rückkehr (2009) illustriert. Die Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Manga rundet dabei auch die Einführung insgesamt ab, indem die kulturübergreifende Anwendbarkeit der zuvor vorgestellten Perspektiven demonstriert, dabei aber auch die Notwendigkeit kultursensibler Modifikationen betont wird. Comics sind ein internationales Phänomen. Die vorliegende Einführung empfiehlt daher, Comics jeweils in den Originalsprachen zu lesen und zu zitieren – und hält sich in den nachfolgenden Kapiteln auch selbst an diese Empfehlung, da die kulturelle Kontextualisierung in der Übersetzung allzu leicht verloren geht. Insbesondere sollte eine Comicanalyse nicht in die Falle tappen, die Sprache in Comics aufgrund der Wichtigkeit ihrer Bilder für zweitrangig und die Übersetzung deshalb für eine Trivialität zu halten. Das Gegenteil ist der Fall. Dafür sorgen die vielfältigen Verzahnungen zwischen Sprache und Bild, die eine Übersetzung nicht etwa einfach, sondern meist besonders schwierig machen.

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Einleitung

Beim Zitieren von Comics stellt sich zudem die Frage nach ihrer Autor_innenschaft, die sich in der Regel komplexer gestaltet, als das etwa bei literarischen Texten der Fall ist. Die folgenden Kapitel geben vor diesem Hintergrund für alle spezifisch zitierten Comics nicht nur die Autor_innen im Sinne des englischen writers, sondern auch Künstler_innen im Sinne des englischen illustrators und pencillers an. Für Informationen über weitere Mitglieder des Autor_innenkollektivs (wie etwa colorists oder letterers) sowie für weiterführende Informationen zu den noch einmal deutlich umfangreicheren Autor_innenkollektiven von in den Kapiteln bloß erwähnten Comicserien sei den Leser_innen ein Blick in die Grand Comics Database (http:// www.comics.org) empfohlen. Primärliteratur Füleki, David: Struwwelpeter. Die Rückkehr. Hamburg 2009. Leka, Kaisa: I Am Not These Feet [2003]. Caen 2006. Mawil: Kinderland. Berlin 2014. Millar, Mark/McNiven, Steve: Old Man Logan [Part 1]. Wolverine #66. New York 2008. Thompson, Craig: Habibi. New York 2011. Allgemeine Literatur Abel, Julia/Klein, Christian (Hg.): Comics und Graphic Novels. Eine Einführung. Stuttgart 2016a. Aldama, Frederick Luis (Hg.): Comics Studies Here and Now. New York 2018. Bramlett, Frank/Cook, Roy T./Meskin, Aaron (Hg.): The Routledge Companion to Comics. New York 2017. Domsch, Sebastian/Hassler-Forest, Dan/Vanderbeke, Dirk (Hg.): Handbook of Comics and Graphic Narratives. Berlin [in Vorbereitung]. Duncan, Randy/Smith, Matthew J. (Hg.): The Power of Comics. History, Form, Culture. New York 2009. Duncan, Randy/Smith, Matthew J. (Hg.): Critical Approaches to Comics. Theories and Methods. New York 2012. Etter, Lukas/Nehrlich, Thomas/Nowotny, Johanna (Hg.): Reader Superhelden. Theorie – Geschichte – Medien. Bielefeld 2018. Heer, Jeet/Worcester, Kent (Hg.): A Comics Studies Reader. Jackson 2009. Kukkonen, Karin: Studying Comics and Graphic Novels. Chichester 2013. Packard, Stephan/Sina, Véronique (Hg.): Perspektiven der Comicforschung. New York [in Vorbereitung]. Smith, Matthew J./Duncan, Randy (Hg.): The Secret Origins of Comics Studies. New York 2017. Zitierte Literatur Abate, Michelle Ann: Funny Girls. Guffaws, Guts, and Gender in Classic American Comics. Jackson 2018. Abel, Julia/Klein, Christian (Hg.): Comics und Graphic Novels. Eine Einführung. Stuttgart 2016a. Abel, Julia/Klein, Christian: »Vorwort«. In: Julia Abel/Christian Klein (Hg.): Comics und Graphic Novels. Eine Einführung. Stuttgart 2016b, V–VII. Aldama, Frederick Luis/González, Christopher (Hg.): Encyclopedia of World Comics. Manga, Anime, Tintin, and More from around the Globe, 2 Bände. Santa Barbara 2016. Baetens, Jan/Frey, Hugo: The Graphic Novel. An Introduction. Cambridge 2014. Berndt, Jaqueline: Manga. Medium, Kunst und Material/Manga. Medium, Art and Material. Leipzig 2015. Bramlett, Frank/Cook, Roy T./Meskin, Aaron (Hg.): The Routledge Companion to Comics. New York 2017. Brienza, Casey: »An Introduction to Korean Manhwa«. In: Aestheticism.com (2004), http:// caseybrienza.com/BRIENZA_MANHWA.pdf (30.04.2019). Chute, Hillary: Graphic Women. Life Narrative and Contemporary Comics. New York 2010.

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1.3

Was will diese Einführung genau?

Chute, Hillary: Disaster Drawn. Visual Witness, Comics, and Documentary Form. Cambridge, Mass. 2016. Cocca, Carolyn: Superwomen. Gender, Power, And Representation. New York 2016. Doderer, Klaus: »Vorwort«. In: Bernd Dolle-Weinkauff (Hg.): Comics. Geschichte einer populären Literaturform in Deutschland seit 1945. Weinheim 1990, 9–12. Dolle-Weinkauff, Bernd: Comics. Geschichte einer populären Literaturform in Deutschland seit 1945. Weinheim 1990. Domsch, Sebastian/Hassler-Forest, Dan/Vanderbeke, Dirk (Hg.): Handbook of Comics and Graphic Narratives. Berlin [in Vorbereitung]. Duncan, Randy/Smith, Matthew J. (Hg.): Critical Approaches to Comics. Theories and Methods. New York 2012. Dunst, Alexander/Laubrock, Jochen/Wildfeuer, Janina (Hg.): Empirical Comics Research. Digital, Multimodal, and Cognitive Methods. New York 2018. Eco, Umberto: »Lettura di Steve Canyon«. In: Apocalittici e integrati. Comunicazioni di massa e teorie della cultura di massa. Milan 1964, 130–183. Eco, Umberto: »The Myth of Superman. Review of The Amazing Adventures of Superman«. In: Diacritics 2/1 (1972), 14–22. Eisner, Will: Comics and Sequential Art. Princeton 1985. El Refaie, Elisabeth: Autobiographical Comics. Life Writing in Pictures. Jackson 2012. Etter, Lukas/Nehrlich, Thomas/Nowotny, Joanna (Hg.): Reader Superhelden. Theorie – Geschichte – Medien. Bielefeld 2018. Etter, Lukas/Stein, Daniel: »Comictheorie(n) und Forschungspositionen«. In: Julia Abel/Christian Klein (Hg.): Comics und Graphic Novels. Eine Einführung. Stuttgart 2016, 107–126. Etter, Lukas/Thon, Jan-Noël: »Beyond the Written Word. Graphic Novels in the 21st Century«. In: Sibylle Baumbach/Birgit Neumann (Hg.): New Approaches to the 21st-Century Anglophone Novel. Basingstoke [in Vorbereitung]. Frahm, Ole: »Weird Signs. Zur parodistischen Ästhetik des Comics«. In: Michael Hein/ Michael Hüners/Torsten Michaelsen (Hg.): Ästhetik des Comics. Berlin 2002, 201–216. Friedrich, Andreas/Rauscher, Andreas (Hg.): Superhelden zwischen Comic und Film. München 2007. Hammel, Björn: Webcomics. Einführung und Typologie. Berlin 2014. Hatfield, Charles: »Foreword. Comics Studies, the Anti-Discipline«. In: Matthew J. Smith/ Randy Duncan (Hg.): The Secret Origins of Comics Studies. New York 2017, xi–xii. Kloepfer, Rolf: »Komplementarität von Sprache und Bild. Am Beispiel von Comic, Karikatur und Reklame«. In: Roland Posner/Hans-Peter Reinecke (Hg.): Zeichenprozesse. Semiotische Forschung in den Einzelwissenschaften. Wiesbaden 1977, 129–145. Knigge, Andreas C.: »Geschichte und kulturspezifische Entwicklungen des Comics«. In: Julia Abel/Christian Klein (Hg.): Comics und Graphic Novels. Eine Einführung. Stuttgart 2016, 3–37. Køhlert, Frederik Byrn: Serial Selves. Identity and Representation in Autobiographical Comics. New Brunswick 2019. Lent, John A./Ying, Xu: Comics Art in China. Jackson 2017. Meskin, Aaron: »Defining Comics?« In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 65/4 (2007), 369–379. Meskin, Aaron/Cook, Roy T./Bramlett, Frank: »Introduction«. In: Frank Bramlett/Roy T. Cook/Aaron Meskin (Hg.): The Routledge Companion to Comics. New York 2017, 1–6. Miller, Ann/Beaty, Bart (Hg.): The French Comics Theory Reader. Leuven 2014. Miodrag, Hannah: »Origins and Definitions. Arguments for a Non-Essentialist Approach«. In: International Journal of Comic Art IJoCA 17/1 (2015), 24–44. Misener, Leah: »Taking Twitter Higher, Further, Faster. Leading the #Womenonpanels Event« (2019), http://techstyle.lmc.gatech.edu/taking-twitter-higher-further-faster-leading-thewomenonpanels-event (30.04.2019). Packard, Stephan: »Medium, Form, Erzählung? Zur problematischen Frage: ›Was ist ein Comic?‹«. In: Julia Abel/Christian Klein (Hg.): Comics und Graphic Novels. Eine Einführung. Stuttgart 2016, 56–73.

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Einleitung

Riedemann, Kai: Comic, Kontext, Kommunikation. Die Kontextabhängigkeit der visuellen Elemente im Comic Strip – exemplarisch untersucht an der Gag-Strip-Serie Peanuts. Frankfurt a. M. 1988. Schüwer, Martin: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur. Trier 2008. Scott, Darieck/Fawaz, Ramzi (Hg.): Queer about Comics. Special Issue American Literature 90/2 (2018). Sina, Véronique: Comic – Film – Gender. Zur (Re-)Medialisierung von Geschlecht im Comicfilm. Bielefeld 2016. Sina, Véronique: »Comic«. In: https://gender-glossar.de [in Vorbereitung]. Smith, Matthew J./Duncan, Randy (Hg.): The Secret Origins of Comics Studies. New York 2017. Stein, Daniel: »Comicwissenschaft in Deutschland. Ein Einschätzungsversuch«. In: Gesellschaft für Comicforschung (ComFor) (2012), https://www.comicgesellschaft. de/2012/01/02/comicwissenschaft-in-deutschland-ein-einschatzungsversuch-von-danielstein/#edn3 (30.04.2019). Welke, Hartmut: Die Sprache der Comics. Frankfurt a. M. 1974. Wertham, Fredric: The Seduction of the Innocent. New York 1954. Wilde, Lukas R. A.: »Distinguishing Mediality. The Problem of Identifying Forms and Features of Digital Comics«. In: Networking Knowledge 8/4 (2015), 1–14, http://ojs.meccsa.org.uk/ index.php/netknow/article/view/386 (30.04.2019). Wirag, Lino: Von Comicwissenschaft zu Comicwissenschaften. Bochum 2012.

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2 Semiotische Comicanalyse ›Semiotisch‹ heißen wissenschaftliche Verfahren, die sich für Zeichen interessieren. Eine typische zeichentheoretische Frage lautet: Woraus besteht das Verhältnis zwischen der materiellen Beschaffenheit eines Gegenstands, etwa eines Comichefts aus farbig bedrucktem Papier, und dem damit bezeichneten, vielfältigen Inhalt, etwa den Figuren der erzählten Geschichte, den Schauplätzen, den Ereignissen und allen anderen Aspekten, von denen der Comic offenbar handelt, während sie im Comicheft nicht körperlich vorhanden sind? Aber semiotische Beziehungen finden sich keineswegs nur zwischen Medienartefakten und den Botschaften, die sie vermitteln sollen. Zwischen einem Fußabdruck am Strand und dem Fuß, der ihn gemacht hat; dem Abschnitt eines DNACodes und dem damit synthetisierten Molekül; aber auch zwischen zwei Himmelskörpern und ihrer gegenseitigen Anziehung gemäß der Schwerkraft bestehen jeweils semiotische Verhältnisse, und in ihrer Interpretation kommen noch viele weitere hinzu: Der Fußabdruck ist eine Spur des Fußes, die DNA beschreibt das Molekül und wird von ihm interpretiert und die Bewegungen der Planeten zeigen ihre Anziehung an. In diesem Sinne verhält sich das Comicheft semiotisch nicht nur zu einer erzählten Geschichte. Es ist vielmehr auch Zeichen seiner kulturellen Voraussetzungen. Es ist Spur der Personen, Maschinen und Institutionen, die es gemacht haben. Es spiegelt die Inhalte früherer Hefte und anderer Medien ebenso wie die Verträge und Gesetze, unter deren Bedingungen das Heft entstand. Die erfolgreiche Verwendung der Zeichen im Heft, die die Produzent_innen gezielt einsetzen, ist schließlich von kognitiven und psychischen Gegebenheiten bei den Rezipierenden abhängig. Das alles sollen also Zeichen sein. Der Universalitätsanspruch der Semiotik, die wenigstens einige Aspekte wohl aller Dinge betrifft, die es überhaupt gibt, macht semiotische Analysen besonders reizvoll und bedarf zugleich besonderer kritischer Reflexion. Die Wissenschaft von den Zeichen ist selten einmal als eigenständige Disziplin behandelt worden (vgl. Nöth 2000, S. 1–3). Eher handelt es sich um eine Schnittmenge an Teilproblemen aus verschiedenen Fächern, die einige Probleme und Konzepte gemeinsam haben. Man kann Semiotik in diesem Sinne auch als eine ›Supertheorie‹ verstehen, wie Niklas Luhmann es von der Systemtheorie gesagt hat (Luhmann 1984, S. 19; vgl. dazu Ort 2010). Semiotische Analysen in einzelnen Disziplinen drohen sich daher zu verlieren, wenn sie nicht mit bestimmten Absichten begonnen werden. Die Frage: Wie funktionieren diese Zeichen? ist in jeder konkreten Comicanalyse kein Selbstzweck, sondern Mittel zur Beantwortung anderer Fragen. Der im Folgenden eingeführte Werkzeugkasten nützt aber nicht nur zur Bearbeitung solcher weiterführenden Fragen. Er hilft auch dabei, einige dieser Fragen überhaupt erst zu stellen, weil einige der erstaunlichsten Eigenschaften eines Comics erst deutlich werden, wenn nach seinen Zeichenbeziehungen gefragt wird. Eine semiotische Analyse kann daher einen guten Einstieg in eine vertiefte Auseinandersetzung mit einem einzelnen Comic darstellen. Sie eignet sich außerdem, um einige grundlegende formale Aspekte des jeweiligen Comics gesichert festzuhalten und sich mit anderen Comicforscher_innen darüber zu verständigen, welche fundamentalen Strukturen generell sowie im einzelnen Comic vorliegen. J.B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Packard et al., Comicanalyse. Eine Einführung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04775-5 _2

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Semiotische Comicanalyse

In diesem Kapitel stehen nach einer Einführung in einige semiotische Grundüberlegungen (2.1) drei dieser Untersuchungswerkzeuge im Vordergrund: 1. Die hier vorgeschlagene Methode geht zunächst von der Beobachtung aus, dass die meisten Comics mit einer gewissen Sicherheit an bestimmten Eigenschaften ihrer offensichtlichsten Zeichen wiedererkannt werden können. Es ist oft sinnvoll möglich, auf ein Bild zu zeigen und zu sagen: ›Das hier ist offensichtlich eine Comicfigur.‹ Semiotisch lassen sich einige dieser Ähnlichkeiten zwischen vielen Comics ebenso beschreiben wie Differenzierungen, die verschiedene Arten von Comics in dieser Hinsicht unterscheidbar machen; und es ergeben sich einige Möglichkeiten und Spezifika der Kommunikation durch Comics, die dabei helfen, einen bestimmten vorliegenden Comic besser zu verstehen. Kapitel 2.1.1 wird sich auf die Ästhetik des Cartoons konzentrieren, die sehr viele Comics weitgehend prägt. 2. Cartoons und andere Zeichen sind auf typischen Comicseiten in vielfachen und häufig sehr komplexen Weisen angeordnet und aufeinander bezogen. Kapitel 2.1.2 präsentiert Konzepte, mit denen eine semiotische Analyse diese Beziehungen greifbar machen kann. Sie kann sie zu unterscheiden helfen und dazu beitragen, dass die Besonderheiten in der Wirkung einer Comicseite, aber auch in den Techniken, die zu ihrer Herstellung beherrscht werden mussten, deutlicher werden. Ein Aspekt, der viele dieser Phänomene bündelt, ist die Untersuchung der Blickführung, die Elemente in einem Panel und mehrere Panel auf einer Seite in eine geordnete Beziehung zueinander setzt. Sie erlaubt es zugleich, verschiedene Arten von Elementen gemäß ihrer unterschiedlichen Rolle in diesem semiotischen Zusammenhang zu bestimmen. 3. Für viele Comics ist eine dieser Interaktionen zwischen den Elementen auf der Seite von besonders großer Bedeutung: das Verhältnis zwischen Bild und Schrift, mit dem sich Kapitel 2.1.3 beschäftigt. Obwohl nicht alle Comics Schrift enthalten, prägt die kulturelle Opposition zwischen Schrift und Bild im US-amerikanischen journalistischen Kontext um 1890, aus dem der moderne Comic stammt, viele typische semiotische Verfahren, die in Comics zum Einsatz kommen. In den zahlreichen Fällen, in denen Bild und Schrift tatsächlich gemeinsam auf einer Seite erscheinen, bietet die Semiotik außerdem eine Reihe von Verfahren zur Untersuchung ihrer vielfältigen Wechselbeziehungen an. Auf die Darlegung dieser drei Herangehensweisen folgt in Kapitel 2.2 eine Beispielanalyse, die semiotische Charakteristika aus einem der ältesten und einem der jüngsten Hefte der Batman-Serie im Vergleich behandelt und so einige der Erkenntnismöglichkeiten vorführt, die semiotische Verfahren bieten.

2.1 | Zeichenstrukturen im Comic In einem einfachen Sinne sind Zeichen als Relationen zwischen mehreren Elementen zu verstehen, von denen mindestens eines ein anderes referenziert, also das andere Element abbildet, auf es hinweist, es benennt, es bezeichnet oder auf andere Art darauf verweist. Zeichentheorie ist damit zuallererst an solchen Verhältnissen orientiert. Zwar sagt man im einfachen Sprachgebrauch manchmal: ›Wörter sind Zeichen‹ oder ›Bilder bestehen aus Zeichen.‹ Für eine semiotische Analyse ist es

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2.1

Zeichenstrukturen im Comic

Abb. 2.1: Zeichenstrukturen in einem Panel aus drüben! (Schwartz 2013, S. 31).

jedoch sinnvoll, sich bewusst zu machen, dass Zeichenhaftigkeit stets eine mehrteilige Relation meint, zu der der Zeichenkörper nur einen Teil beiträgt. Man sollte daher jedes Mal nachfragen: Wofür ist das ein Zeichen und für wen? Fast immer fallen die Antworten vielfältig aus, weil an einem Gegenstand sehr viele verschiedene Zeichenrelationen zugleich ansetzen. Das abgebildete Panel (siehe Abb. 2.1) aus Simon Schwartz’ autobiographischem Comic drüben! (2009; vgl. Krause 2013; Kumschlies 2015) zeigt eine Szene aus der Kindheit des Erzählers. Nachdem seine Eltern mit ihm aus der DDR geflohen sind, kommt er im Sommer zurück, um bei seinen Großeltern in Dresden Urlaub zu machen. Unter anderem erinnert er sich daran, »die Dinosaurier in Kleinwelka« besucht zu haben. Im Bild finden sich Zeichenkörper, die für den kleinen Simon stehen und für seine Großeltern, für drei Dinosaurier, für mehrere Pflanzen, eine Mauer, zwei Hinweisschilder, einen asphaltierten Gehweg und etwas Himmel sowie die Kleidungsstücke, die die Personen tragen. Aber darüber hinaus stehen die drei abgebildeten künstlichen Dinosaurier vermutlich für eine größere Zahl von künstlichen Dinosauriern in dem Park, die abgebildeten Laubpflanzen für viele weitere Pflanzen, der abgebildete Asphalt für mehr Asphalt. Die künstlichen Dinosaurier sind bereits innerhalb der dargestellten Welt Abbilder von vorgestellten lebendigen Dinosauriern. Die dargestellten Hinweisschilder

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Semiotische Comicanalyse

enthalten wohl Informationen über Dinosaurier; die Darstellung bietet diese Informationen den Rezipierenden nicht an, verweist aber darauf. Die Personen sind in gestischen Haltungen gezeigt, die Verhältnisse zwischen ihnen und den Ausstellungsstücken ausdrücken; zugleich steht dieser Augenblick mit diesen Körperhaltungen stellvertretend für ganze Ausflugstage, vielleicht für mehrere ähnliche Ausflüge zu diesem und anderen Zielen. Die drei Bilder der Personen verweisen aber nicht nur auf diese Personen, sondern auch auf alle anderen Bilder derselben Figuren, die vorher oder nachher im Band vorkommen; auf Schwartz’ Zeichenstil für Personen in diesem Band; und auf die Vielzahl anderer ähnlich gezeichneter Figuren in anderen Comics, die sich in diesem Stil spiegeln. Die Liste ließe sich sehr lange fortsetzen. Entsprechend vielfältig sind auch die Zeichenverhältnisse, in die die Wörter in dem schmalen Textkasten oben eingebunden sind: Die Bedeutung des Worts ›Dinosaurier‹ als konventionelles Zeichen in der deutschen Sprache wäre etwa eine große Menge von Tierspezies ebenso wie alle ihre konkreten Vertreter_innen. (Zur Konventionalität von Zeichen später unter dem Begriff des ›symbolischen Zeichens‹ mehr.) In diesem Fall bedeutet das Wort im übertragenen, metonymischen Sinn deren künstliche Abbilder in Kleinwelka; aber das hier gedruckte Wort verweist ebenso auf die Bilder der Dinosaurier darunter, und jene Bilder verweisen auf das Wort. Wenn sich die semiotische Analyse also für Zeichen als Zeichenverhältnisse interessiert, dann ist damit nicht in erster Linie gemeint, was einen Gegenstand zum Zeichen macht (was macht diese bedruckte Fläche zu einem zeichenhaften Panel?), sondern es geht darum, einzelne zeichenhafte Verhältnisse zu bemerken und genauer zu beschreiben (wie verhält sich der untere Dinosaurier zu anderen Bildern von Triceratopsen?). In aller Regel reichen dafür zweiteilige Beschreibungen (eines steht für ein anderes) nicht aus. Solche dyadischen Zeichenmodelle, die aus Bezeichnendem und Bezeichnetem (oft: ›Signifikant‹ und ›Signifikat‹) bestehen, sind vor allem in Zeichentheorien verbreitet, die sich mit sehr stark konventionalisierten Codes beschäftigen, insbesondere der Sprache. Am bekanntesten ist sicher das strukturalistische Modell des sprachlichen Zeichens, das auf den Schweizer Linguisten Ferdinand de Saussure zurückgeht und maßgeblich aus Mitschriften seiner Schüler publiziert wurde (hier Bally/Sechehaye 1916, S. 99; vgl. Jäger 2007). Dieses Modell beschreibt die semiotische Struktur einzelner Wörter, indem es ein einfaches dyadisches Verhältnis zwischen einem psychischen Lautbild (so klingt das Wort ›Dinosaurier‹ im Geist derjenigen, die es hören oder auch lesen) und einer ebenso psychischen Vorstellung vom bezeichneten Gegenstand annimmt (so denkt man, sei das Tier beschaffen, das von dem Lautbild gemeint ist). Die dyadische Skizze (siehe Abb. 2.2; arbor heißt Baum, equus heißt Pferd usw.) führt kein gegenständliches drittes Element auf, das dafür sorgt, dass Lautbild und Vorstellung überhaupt zusammenkommen, weil gemäß dieser Theorie gerade dieser unauflösliche, unvermittelte Zusammenhang die zu erklärende Natur der beschriebenen Sprache ausmache. Die Skizze reduziert dieses Verhältnis vielmehr auf die nur zweiseitige ›Barre‹, die hier als Doppelpunkt präsentiert wird, und die damit gemeinte sprachliche Beziehung zwischen Laut- und Vorstellungsbildern. Gerade das Wissen, das dem Lautbild ›Dinosaurier‹ seine Bedeutung zuordnet, macht diesen kleinen Teil der Kenntnis einer Sprache aus, in der es dieses Wort gibt. Die Antwort auf die Frage nach der Vermittlung zwischen Signifikant und Signifikat ist hier immer gleich: die konventionelle Sprache selbst.

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2.1

Zeichenstrukturen im Comic

Abb. 2.2: Der Strukturalismus erklärt das sprachliche Zeichen mit Bildern (Saussure nach Bally/Sechehaye 1916, S. 99).

Dass damit bildliche Medien sowie solche, die Sprache und Bilder kombinieren, nur unvollständig gefasst werden können, zeigt sich besonders augenfällig daran, dass in Saussures berühmten Zeichnungen Bilder an die Stelle der psychischen Vorstellungen von Gegenständen treten. Gerade weil sie in dieser Theorie sonst gar nicht vorkommen, können sie in Saussures Darstellung der Funktionsweisen von Sprache diese neue Bedeutung übernehmen. Es handelt sich um eine Ausweichkonstruktion, die Bilder einsetzt, obwohl hier gerade nur von Sprache die Rede sein soll. Wo aber konkrete Bilder regelmäßig neben geschriebener Sprache vorkommen, wie im Comic, ist diese Ausweichbewegung nicht so einfach. Die Vorstellung, die das Wort ›Dinosaurier‹ erweckt, lässt sich nicht einfach als ›irgendein Bild von Sauriern‹ vorstellen, wenn das Comicpanel drei sehr spezifische und tatsächliche Bilder von Dinosauriern dazugibt, die in der Illustration der sprachlichen Erzählung keineswegs aufgehen. Den dyadischen stehen triadische Modelle gegenüber, die in einem Zeichenverhältnis neben dem Zeichenkörper und seiner Referenz noch ein drittes Element vorsehen, welches den Bezug vom ersten auf das zweite erst herstellt. In der wohl einflussreichsten Zeichentheorie dieser Art, jener des amerikanischen Philosophen Charles Sanders Peirce, werden diese dritten Elemente als ›Interpretanten‹ bezeichnet (so etwa Peirce 1998; vgl. dazu Ort 2007). Wenn dem Lautbild ›Dinosaurier‹ also die Vorstellung von einem Dinosaurier zugeordnet wird, so geschieht dies durch die Beteiligung der deutschen Sprache als Interpretant. Von hier aus sind aber auch Bilder und alle anderen Elemente in Zeichenverhältnissen zu betrachten: Denn wie schon viele dyadische Zeichenrelationen an einem Zeichenkörper ansetzen können, so können auch viele Interpretanten gleichzeitig Relationen zwischen einem Zeichenkörper und seiner Referenz etablieren. So ist das hier aufgeschriebene Wort ›Dinosaurier‹ nicht nur durch die Sprachkenntnis der Rezipierenden mit der Vorstellung von den Tieren verbunden, sondern auch durch die Panelstruktur mit den abgebildeten Nachbildungen dieser Tiere. Man kann also nicht nur fragen, welche Sprache man beherrschen muss, um den oberen Textkasten in Abb. 2.1 zu lesen, sondern auch, welche weiteren Interpretanten jeweils beteiligt sein müssen, damit das Bild einen Jungen; den jungen Simon; den jungen Simon in dieser Geste; den jungen Simon auf vielen Ausflügen; und alle anderen Bedeutungen zeigt, mit der die Form auf dem Papier in der Lektüre verbunden wird. In den Traditionen der Zeichentheorie werden die europäischen und kontinentalen Modelle in der Folge von Saussure oft als ›Semiologien‹, die angelsächsischen

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Semiotische Comicanalyse

und ›pragmatizistischen‹ Modelle in der Folge von Peirce oft als ›Semiotiken‹ im engeren Sinne dieses Worts bezeichnet (das andererseits im weiteren Sinne auch für Zeichentheorie überhaupt verwendet wird). Der ›Pragmatizismus‹ bezeichnet dabei eine wichtige Differenz im Verständnis von Zeichen: Als Technik im Umgang mit Zeichen ist die Semiotik stets auf die Kontinuität zwischen einer beschriebenen und allen anderen Zeichenverwendungen als Handlungszusammenhang verwiesen. Simon Schwartz tut etwas, indem er jede der genannten Zeichenverhältnisse einführt oder zulässt, und die Rezipierenden werden ebenso vielfältig aktiv, wenn sie die Zeichen in diesen und vielleicht noch vielen neuen Weisen interpretieren. Zeichen können so nie getrennt von dem ›dramatischen Reichtum der konkreten Welt‹ verstanden werden, die sie umgibt. So hat es der Philosoph Helmut Pape in der Folge von Peirce beschrieben (2002). Gleichzeitig wird damit die Tragweite der Zeichentheorie ausgeweitet, insofern sie pansemiotisch wird: Das einzelne Zeichen hängt mit beliebig vielen anderen Phänomenen in der Welt zusammen, aber all diese anderen Phänomene werden aus dieser Perspektive ebenso zeichenhaft und die Theorie der Zeichen zu einer Semiotik, die sich als Universaltheorie versteht. Für die Comicanalyse ist diese Verschiebung vor allem aus einem Grund wichtig: Begreift man die Abhängigkeit eines Zeichenverhältnisses von der riesigen Zahl an weiteren Faktoren, die es umgeben, wird es unmöglich, sich semiotische Verhältnisse als zeitlos, ahistorisch und kulturell indifferent vorzustellen. Der Interpretant, mit dessen Hilfe Wörter im Deutschen verständlich werden, ist selbst ein überaus komplexes Geflecht von aufeinander verwiesenen Elementen verschiedenster Art. Er ist individuell von Mensch zu Mensch unterschiedlich, aber auch historisch, kulturell und biographisch wandelbar, von Dialekt zu Dialekt, Soziolekt zu Soziolekt, Diskurs zu Diskurs verschieden. In der semiotischen Comicanalyse ist daher nicht nur zu fragen: auf welchen dargestellten Gegenstand bezieht sich diese Form auf dem Papier?, sondern auch: durch welche weiteren Referenzen wird der Verweis auf jenen Gegenstand überhaupt erst möglich? Aus dieser Perspektive wird deutlich, wie untrennbar die drei Aspekte einer traditionellen semiotischen Analyse miteinander verbunden sind: ■ die Syntax, d. h. die Struktur einzelner Zeichenkörper und ihre Konstellation untereinander; ■ die Semantik, d. h. ihr Verweis auf die bezeichneten Gegenstände; ■ und die Pragmatik, d. h. der Handlungskontext, in dem eine Zeichenverwendung stattfindet. So gehört in diesem Beispiel zur Beschreibung der Syntax unter anderem, dass sich schriftliche ebenso wie bildliche Zeichen finden; dass die Schrift über dem Bild erscheint; dass die Schrift linksbündig und in zwei Zeilen arrangiert ist; dass die Zeichnung aus Grautönen besteht; dass der Knabe auf dem Papier rechts von den Erwachsenen gezeichnet ist; aber auch, dass die schriftlichen Zeichen die grammatischen Regeln der deutschen Sprache erfüllen und dass die Figurenzeichnungen feste Konturen und einfarbige Flächen enthalten. Die Semantik beinhaltet unter anderem, dass der Ort in Kleinwelka, Dinosaurier, Simon, seine Großeltern und Ausflüge in seiner Kindheit referenziert werden. Zur Pragmatik gehört, dass Schwartz den Comic gezeichnet hat und er gedruckt wurde, dass Leser_innen ihn erwerben, aufschlagen und lesen; sowie insbesondere alles, was Schwartz in diesem Panel durch die Kommunikation mit den Rezipierenden erreicht: etwa, dass er sie an seiner Erinnerung teilhaben lässt, aber auch, dass er sie über die Existenz

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Zeichenstrukturen im Comic

Kleinwelkas informiert (die hier, in der Autobiographie, sogar faktual zu verstehen ist; aber man kann auch über fiktive Orte wie Entenhausen informiert werden) und vieles mehr. Alle diese Listen sind nicht abgeschlossen und geben jeweils nur einen kleinen Ausschnitt des dramatischen semiotischen Reichtums jedes Zeichenvorgangs wieder: welche davon in einer Analyse interessieren, muss ein übergeordnetes Erkenntnisinteresse bestimmen. In jedem Fall aber sind Syntax und Semantik ohne Pragmatik nicht vorstellbar. Dass diese Abhängigkeit der Zeichenverhältnisse von Interpretanten leicht übersehen wird, ist jedoch nicht nur ein Hindernis für die wissenschaftliche Zeichentheorie, sondern gehört andererseits zu den Funktionsbedingungen vieler Medien. Marshall McLuhan hat dies geradezu zum Prinzip der Medialität schlechthin erhoben. »The medium«, so McLuhan, sei »the message« (McLuhan 1994, S. 7); und dieser Nachricht, die im Medium selbst bestehe, sei ebenso stets ein »content« gegenübergestellt, der »always another medium« (ebd., S. 8) sei. Der Content aber tendiere dazu, das Medium unsichtbar zu machen. In diesem Sinne verstellt die Verständlichkeit des hier vorliegenden schriftlichen Textes als Sprache den Blick darauf, dass es sich um Tinte auf Papier handelt. Genauso muss man sich in aller Regel erst daran erinnern, dass es nicht selbstverständlich ist, auf der Papierseite in Schwartz’ Comic Menschen anstelle von Tinte, einen mit den Großeltern verbrachten Tag anstelle einer erstarrten Szene, einen Park anstelle eines Ausschnitts, viele Ausflüge anstelle eines Tages und eine persönliche Erinnerung des Autors anstelle einer konkreten Gegenwart der Leser_innen zu sehen. Indem diese Verweisketten ständige Medienwechsel im Sinne McLuhans vornehmen – vom Schriftbild zur Sprache zum Gedanken oder vom Bild zur Szene zur Geschichte zur Erinnerung –, durchkreuzt die semiotische Analyse die modalen Differenzen zwischen verschieden verfassten Medien. Sie interessiert sich also nicht für radikale Differenzen, die vielleicht zwischen Schrift und Bild bestehen, sondern für die Art, wie zwischen ihnen fortlaufende Zeichenketten entstehen. (Komplementär verhält sich dazu eine von vornherein multimodale Comicanalyse, die auf diese Unterschiede und ihre Kombinationen achtet und die im nächsten Kapitel vorgestellt wird.) Dieses Verhältnis zwischen semiotischen Beziehungen und medialen Differenzen hat Sybille Krämer mit einem integrierenden Konzept beschrieben. Sie erklärt eine Differenz zwischen Medialität im engeren Sinne, die funktioniert, indem sie die Zeichenoberfläche vergessen macht, und dem semiotischen ›Starren‹, das sich für die kleinteilige Rekonstruktion jedes semiotischen Teilverhältnisses interessiert (vgl. Krämer 1998, S. 73–75). Eine mediale Betrachtung würde dann das Medienartefakt tendenziell als transparent zum dargestellten Gegenstand betrachten, während eine semiotische den Schritt vom Zeichen zum bezeichneten Gegenstand als unwahrscheinlich und erklärungsbedürftig versteht. Bisweilen werden manche Gegenstände aus dieser Sicht für semiotischer gehalten als andere: Roland Barthes nennt die Tendenz, gerade Bilder oft im Gegensatz zu Schrift und Sprache für natürlich und selbstverständlich zu halten, ›ideologisch‹ (Barthes 1964, S. 50–51). Dieser Ideologie des vermeintlich transparenten Bildmediums steht in der semiotischen Analyse das Ziel gegenüber, die scheinbar selbstverständliche Interpretierbarkeit auch der bildlichen Comicoberfläche zu hinterfragen und mit den semiotischen Funktionen zugleich die Bedingungen dieser Funktionen aufzudecken (vgl. Miller 2017). Die im Folgenden vorgestellten Werkzeuge widmen sich daher zunächst der Frage, inwiefern die visuellen Informationen in den Comicbildern noch anders funk-

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Semiotische Comicanalyse

tionieren denn als Abbilder, skizzieren dann Interrelationen zwischen bildlichen Elementen auf der Comicseite und untersuchen schließlich die besondere Inszenierung der Kombination von Schrift und Bild im Comic als Charakteristikum dieser Medienform.

2.1.1 | Cartoon Man kann viele Comics an der typischen Panelstruktur der Seite erkennen. Wenn aber auch ein einzelnes Bild bereits als comichaft erkannt wird (vgl. Stein et al. 2009), dann liegt dies wohl an der besonderen Ästhetik der Zeichnungen. Diese Ästhetik betrifft vor allem die dominanten Comicfiguren mit ihrem karikierenden Erscheinungsbild. Die meisten Beschreibungen des besprochenen Panels aus Schwartz’ drüben! werden nicht zufällig eher früh die Personen sowie vielleicht die Dinosaurier und eher später das Laub oder gar ausgewählte einzelne Blätter erwähnen, die auf dem Bild zu sehen sind. Gleichzeitig kann dem semiotisch ›starrenden‹ Blick auffallen, dass sich die Figuren zwar leicht als Menschen erkennen lassen, dass ihre Körper aber sehr stark reduziert und dass zumal ihre Gesichter stark vereinfacht, die Augen und Lippen übersteigert dargestellt sind. Die Personendarstellungen ziehen die Aufmerksamkeit der Betrachtenden auf sich und zugleich sind es Darstellungen besonderer Art. Freilich kennt man diese Art, Menschen zu zeichnen, gut und erkennt Comics nicht zuletzt an solchen Bildern. In seinem überaus einflussreichen populärwissenschaftlichen Grundlagenwerk Understanding Comics hat der amerikanische Comickünstler und -theoretiker Scott McCloud 1994 dafür den Begriff des ›Cartoons‹ neu geprägt (siehe Abb. 2.3). Das Wort war zuvor in anderen Bedeutungen geläufig, in denen es auch heute noch manchmal verwendet wird, insbesondere im Sinne von ›Einzelbildwitz‹ und im Sinne von ›Zeichentrickfilm‹. Im hier verwendeten Sinne meint es dagegen eine breite stilistische Tradition reduzierter, in Einzelheiten übertriebener und verformter Zeichnungen von Körpern. Solche Cartoons erscheinen zwar nicht in allen Comics – und sie erscheinen auch in anderen Medien wie eben Einbildwitzen und Animationsfilmen sowie in Computerspielen, als Popfigurinen und auf Hinweistafeln im öffentlichen Raum. Für die Ästhetik und Geschichte von Comics sind sie jedoch

Abb. 2.3: McCloud über das Geheimnis des Cartoons (McCloud 1994, S. 29).

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von so grundlegender Bedeutung, dass in den allermeisten Comicbildern eine semiotische Analyse bei den Cartoons einen effektiven Ausgangspunkt finden wird. McClouds Zeichnung deutet einige Thesen über die Funktionsweise – das ›Geheimnis‹ – des Cartoons an. McCloud sieht ihn als Entfernung von einer realistischen Darstellung, deren Realismus er als Photorealismus konzipiert. Die Entfernung des Cartoons von diesem Realismus abstrahiert das dargestellte menschliche Gesicht, reicht aber nicht ganz an das abstrakteste Extrem der Skala heran. Der Cartoon wäre demnach auf dem Weg zum Smiley, erreicht dessen Grad an Abstraktion aber nicht ganz, sondern enthält doch noch einige spezifischere und individuellere Eigenschaften. Zeichentheoretisch lässt sich nun zunächst fragen, wie der Cartoon seinen Gegenstand bezeichnet und wie sich dieses Zeichenverhältnis durch die besondere Reduktion und Verformung des Zeichens in Absetzung zu anderen Bildtypen charakterisieren lässt. Häufig werden Bilder vor allem als ikonische Zeichen beschrieben, als Zeichen also, die auf ihren Gegenstand verweisen, indem sie eine oder mehr Eigenschaften mit ihm gemeinsam haben. Bilder sehen, so diese Vorstellung, wie die Gegenstände aus, die sie darstellen: Ein Bild von einem Baum ähnelt einem Baum – und das Bild vom kleinen Simon ähnelt Simon. Es ist jedoch hilfreich, sich zu erinnern, dass Ikonizität und Visualität keine Synonyme sind (vgl. Bisanz 2010). Ikonisch sind auch der paronomastische Anteil des Worts ›Kuckuck‹, der nach dem Ruf des Vogels klingt; die instrumentelle Annäherung an Vogelgezwitscher in Beethovens Pastorale; das Parfüm, dessen Geruch an Rosen denken lassen soll; und der haptische Eindruck von gegerbter Tierhaut an Kunstleder. Nicht alles, worin ein Zeichen einem anderen Gegenstand ähnelt, ähnelt diesem visuell. Umgekehrt ist nicht jedes visuelle Zeichen nur durch Ähnlichkeit auf seinen Gegenstand bezogen. Das wird schon deshalb deutlich, weil auch die Schrift im oberen Teil des Panels selbstverständlich visuell wahrgenommen wird, aber nicht dadurch auf Dinosaurier oder gar auf Kleinwelka verweist, dass sie aussähe wie die Tiere oder der Ort. Sprachliche, hier: schriftliche Zeichen sind typische Vertreter der symbolischen Zeichenklassen, die durch eine erlernbare Konvention – man muss Deutsch verstehen und lesen können, um die schriftlichen Zeichen zu verstehen – auf ihren Gegenstand verweisen. In der von Peirce geprägten Unterteilung ist neben Ikon und Symbol noch ein dritter Typ vorgesehen: Indexikalische Zeichen verweisen auf ihren Gegenstand weder durch Ähnlichkeit noch durch Konvention, sondern durch eine reale Verbindung. Der ausgestreckte Zeigefinger kann deshalb einen Stuhl meinen, auf den er vielleicht zeigt, weil er und der Stuhl sich am selben Ort befinden und räumlich so angeordnet sind, dass der Finger auf den Stuhl zielt. Entfernt man diese reale Verbindung, indem man etwa in ein anderes Zimmer geht, ist der Zeigefinger kein Zeichen für den Stuhl mehr. In dem Panel aus drüben! sind etliche solche indexikalische Zeichen wiedergegeben: Die Schrifttafeln besprechen deshalb vermutlich die Dinosaurier, weil sie an deren Gehege angebracht sind. Die Blicke, die zwischen dem kleinen Simon und seinen Großeltern ausgetauscht werden, sind von der realen körperlichen und räumlichen Anordnung der Personen abhängig. Dass er seine Großeltern ansieht und seine Großeltern ihn ansehen, ist nur an dieser Anordnung zu erkennen, nicht daran, wie das eine oder das andere Augenpaar für sich aussieht. Cartoons gehören nach dieser Dreiteilung von Ikon, Index und Symbol zunächst zu den ikonischen Zeichen (vgl. Magnussen 2000). Indem sie die von ihnen gemein-

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Abb. 2.4: McCloud über die kommunikative Reduktion der Körperimagination im Cartoon (McCloud 1994, S. 35).

ten Körper reduziert abbilden, ähneln sie ihnen immerhin noch ein wenig – und sicher erkennt man den dargestellten Knaben vor allem an visuellen Ähnlichkeiten, wenn schon nicht mit einem echten Knaben, so doch wenigstens mit vielen anderen Bildern, die man von Kindern schon kennt. Wäre der Gegenstandsbezug von Cartoons aber allein ikonisch, wäre die Reduktion dieses Ähnlichkeitsverhältnisses eine bloße Einschränkung ihrer Funktionstüchtigkeit als Zeichen. Stattdessen lässt sich beobachten, dass Cartoons eine Reihe von zusätzlichen Funktionen übernehmen – und sie tun dies sogar besonders gut. Sie leisten damit nicht weniger, sondern mehr und jedenfalls anderes, als es detailreichere und realistischere Zeichnungen tun. Es gilt also, weitere Zeichenverhältnisse aufzufinden, die an denselben Konturen auf dem Papier ansetzen. McCloud weist auf zwei solche weiteren Funktionen hin: Cartoons, so argumentiert er, riefen eine besondere kommunikative Disposition von Menschen auf – und in ihrer Abstraktion vergrößerten sie außerdem das Identifikationsangebot auf möglichst viele Leser_innen, denen das allgemeinere Gesicht nun eher ähnele als ein individuelles Photo. Auf das zweite Argument wird später noch zurückzukommen sein. Mit der besonderen kommunikativen Disposition ist eine spiegelbildliche intersubjektive oder soziale Relation gemeint, die Menschen – jedenfalls in vielen heutigen Kulturen – gegenüber anderen Menschen, ihren Gesichtern und Körpern einzunehmen bereit sind (siehe Abb. 2.4): Sie denken bei dem Aussehen der Gegenüber und bei den Bewegungen, die sie an ihnen wahrnehmen, oft auch an die eigenen korrespondierenden Körperteile und die damit einhergehenden Affekte. So antwortet man auf ein Lächeln oft unwillkürlich mit einem Lächeln, auf ein Gähnen hin gähnt man – und wenn man eine Klinge auf ein fremdes Auge zukommen sieht, schließt man das eigene, um es zu schützen. McClouds Zeichnung weist besonders darauf hin, dass Menschen dabei dazu neigen, den visuellen Eindruck vom Gegenüber sowie die Vorstellung von ihrem

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eigenen Aussehen auf bestimmte Aspekte zu reduzieren – und dass Cartoons gerade diese Aspekte bewahren und übertreiben, während sie andere reduzieren: Im Gespräch mit einem anderen Menschen ist man gegenüber dessen Augenbrauen und Lippen eher aufmerksam als gegenüber einem beliebigen Quadratzentimeter auf der Wange – und man denkt auch eher an die eigenen Augen als an ein Stück Haut auf seiner Stirn. Der Cartoon zeichnet die Brauen und die Lippen, lässt aber die Texturen der Wangen und der Stirn fort. Dieser Zusammenhang kann vor dem Hintergrund verschiedener Disziplinen erklärt werden: phänomenologisch als Flucht der objektiven Welt zum anderen Subjekt (vgl. Sartre 1940), psychologisch als schematische Wahrnehmung (vgl. Lewis/ Ellis 2003), psychoanalytisch als Effekt des sog. ›Spiegelstadiums‹ (vgl. Lacan 1999; Packard 2009); kognitionswissenschaftlich in der Diskussion über mögliche Spiegelneuronen (vgl. Banissy et al. 2011); in der Evolution sozialen Verhaltens durch den besonderen Nutzen, der darin liegt, Situationen auf andere anwesende Subjekte und deren Absichten und Einschätzungen zu beziehen (vgl. Asma 2017); usw. Semiotisch interessiert jedenfalls, dass mit dieser intersubjektiven Körperimagination eine Funktion der Visualität aufgerufen ist, die über die bloße Wahrnehmung von Ähnlichkeiten hinaus geht (vgl. Packard 2006, S. 121–158). Der Cartoon sieht nicht nur aus wie ein Mensch, sondern man erwidert seinen imaginierten Blick. Ebenso laden in Darstellungen von Superheld_innen Wonder Womans oder SpiderMans extreme körperliche Gesten (vgl. Schüwer 2008, S. 75–82), in erotischen Comics überzeichnete Organe und affektive Zustände (vgl. Klar 2013) und in Funnies Ungeschicklichkeiten und Verletzungen der letztlich unsterblichen und unverwundbaren Figuren (vgl. Dolle-Weinkauff 2013) zur Bezugnahme auf die eigene Körperimagination der Rezipierenden ein. So kommt eine indexikalische Dimension zur ikonischen hinzu: Es entsteht eine reale Verbindung zwischen dem Bild auf dem Papier und der besonderen körperlichen Reaktion der konkreten Rezipierenden, wenn sie das Bild betrachten. Hinzu kommt außerdem eine ganze Reihe von symbolischen Beziehungen. Simon wird auf dem Bild nicht nur ikonisch deshalb wiedererkannt, weil er aussieht wie ein Knabe, und als Gegenüber indexikalisch konstituiert, weil sein Blick den der Betrachtenden anspricht. Vielmehr entspricht sein Bild hier auch der Darstellung Simons in den Panels davor und danach, woraus induktiv eine Regel entsteht. Ebenso entspricht die Darstellung seines Körpers in Schwartz’ Zeichenstil auch der von anderen menschlichen Körpern, hier seinen Großeltern, und nicht weniger ist darin jede andere ähnliche Darstellung eines Körpers aufgerufen, die man in unzähligen Bildern, Cartoons und Comics von anderen Zeichner_innen als Bild menschlicher Körper zu lesen gelernt hat. Alle diese Effekte beruhen auf Konventionen, die erlernbar sind. Man kann hier davon sprechen, dass eine Zeichenmodalität vorliegt (siehe Kap. 3). Umgekehrt sind Bilder in ungewohnten Zeichenstilen für neue Leser_innen zunächst oft schwerer zu dechiffrieren (siehe dazu auch Kap. 7). Für jeden einzelnen Cartoon, dem man begegnet, lassen sich auf dieser Grundlage mindestens drei analytische Fragen stellen: ■ Auf welche Eigenschaften reduziert das ikonische Bild die Ähnlichkeit zum dargestellten Körper? ■ Welche Körperimagination ruft die indexikalische Funktion des Cartoons auf? ■ Und welche erlernten Konventionen verwendet die symbolische Interpretation der Bilder?

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Indem nicht alle Elemente eines Comics gleichermaßen cartoonhaft dargestellt werden, ergeben sich außerdem eine Reihe besonderer Verfahren, die in Comics mit dieser Differenz spielen. Drei der häufigsten sind graduelle Cartoonisierung, Cartoongruppen und der Einsatz eines dritten Zeichenraums. Auf sie gehen die folgenden Seiten genauer ein. Am Ende der kurzen Sequenz aus The Dark Knight Returns (1986) von Frank Miller und Klaus Janson findet sich im Gesicht des Joker ein typischer, extremer Cartoon (siehe Abb. 2.5): der Anblick ist nur entfernt menschlich, einzelne mimische Aspekte sind weit übertrieben und dominieren die Darstellung. Die Markierung der zentralen Figuren der Handlung durch eine solche starke Cartoonisierung ist für Superheld_innen-Comics typisch (siehe auch Kap. 5). Mal ist sie durch das Geschehen in der erzählten Geschichte motiviert, wenn Batman eine Maske trägt; mal ist sie eine reine Funktion des Zeichenstils, wenn Clark Kents Gesichtszüge stärker konturiert werden, sobald er als Superman auftritt. Beim Joker ist generell und besonders in dieser Sequenz nicht völlig klar, wie viel von der Verzeichnung des Comicbildes, in dem die Comicleser_innen ihn sehen, in der Storyworld (der erzählten Welt; siehe Kap. 4) begründet wird. Hier scheint er als Insasse einer Nervenheilanstalt von seiner krankhaften Persona als Joker zunächst weitgehend geheilt. Er verwandelt sich erst in den Joker zurück, als er aus den Nachrichten von der Wiederkehr Batmans erfährt. Sein entstelltes Gesicht ist demnach jedenfalls keine reine Folge eines chemischen Unfalls, wie in den Comics dieser Zeit sonst oft erzählt wurde. Aber geht hier in der Storyworld des Comics Übernatürliches vor sich? Oder verzerrt diese Person ihr Gesicht nur zu einer extremen, aber körperlich

Abb. 2.5: Der Joker kehrt zurück (Miller/Janson 1986, S. 41).

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noch möglichen Grimasse und der Zeichner gibt dies als Cartoon noch drastischer wieder? Dass diese Frage nicht zu entscheiden ist, zeichnet das künstlerische Verfahren aus. Es deutet sich hier eine Logik des Cartoons an, die Comics sehr weitgehend prägt. Obwohl sie dominant visuell Informationen vermitteln, indem sie die dargestellten Gegenstände ikonisch abbilden, informieren die Bilder oft nicht darüber, wie die ikonisch abgebildeten Dinge aussehen. Das ist nur ein scheinbares Paradox: Möglich wird es durch die Kombination vieler verschiedener Zeichenrelationen und die Komplementarität von ikonischen, indexikalischen und symbolischen Anteilen an der Zeicheninterpretation. In der Sequenz aus Dark Knight wird die graduelle Cartoonisierung, also die Differenz zwischen dem schwächer cartoonisierten Gesicht zu Beginn und dem viel drastischeren Cartoon am Ende der kurzen Panelfolge zum Prinzip einer Klimax: Die Veränderung der Zeichnung von Panel zu Panel verfolgt eine Entwicklung in der Storyworld nach, die sowohl erhebliche Bedeutung für die erzählte Geschichte hat (siehe dazu auch Kap. 4) als auch den Bildern auf der Seite eine klare Richtung und Spannung gibt. In anderen Fällen wird die Differenz zwischen stärker und schwächer cartoonisierten Figuren nicht in der Zeit, sondern zur räumlichen, sozialen und narrativen Differenzierung eingesetzt. In vielen Abenteuer- und Held_innen-Geschichten in Comics sind die Held_innen stärker cartoonisiert als das übliche Personal – und viel stärker als Passant_innen im Hintergrund, die eher zur Szene als zur wesentlichen Handlung der erzählten Geschichte gehören. Auch in dem zitierten Beispiel signalisiert die Verwandlung von Jokers Cartoon, dass er nun wieder eine der zentralen Personen der erzählten Geschichte werden wird. Außerdem bietet die Cartoonisierung viele verschiedene Optionen zur Reduktion und Übersteigerung an. So unterscheiden sich Gruppen von Figuren durch die Weise ihrer Cartoonisierung: In einer typischen Szene aus Entenhausen weiß man, dass die menschenähnlichen Enten die Handlungstragenden sind, die Hundsköpfigen dagegen zur allgemeinen Stadtbevölkerung gehören. In den Peanuts sind alle Kinder Variationen desselben einfachen Cartoons mit riesigem Kopf, Augen, Halbkreisnase und großem einfachen Mund. Snoopy und Woodstock aber gehören zu einer anderen Gruppe, in der die Hundeschnauze und der Vogelschnabel gleichermaßen auf eine ovale Umrisslinie reduziert werden. Dass diese Cartoongruppen zugleich kommunikative Grenzen markieren – die Kinder können alle miteinander sprechen, aber Snoopy und Woodstock verstehen sich nur untereinander – passt zur angedeuteten Regel, die die beiden Typen von Protagonist_innen unterscheidet und eine symbolische Dimension dieser Zeichen erfüllt. In den letzten beiden Fällen wird zudem deutlich, dass die Vielzahl der semiotischen Beziehungen, in denen der Cartoon steht, zusätzliche Referenzen erlaubt, die über die reduzierte ikonische Ähnlichkeit mit dem dargestellten Gegenstand hinausgehen. Donald sieht in vielerlei Hinsicht aus wie ein Mensch, aber eben auch wie eine Ente. Snoopy sieht aus wie ein Hund und Woodstock wie ein Vogel – und dennoch sehen Snoopy und Woodstock einander ähnlich. Diese zusätzlichen ikonischen Referenzen, die Cartoons neben ihrer ersten ikonischen Beziehung zwischen dem Anblick auf der Seite und dem gemeinten Gegenstand in der Storyworld zusätzlich noch bedeuten, kann man als einen weiteren, als dritten Zeichenraum bezeichnen (vgl. Packard 2006, S. 137–141; Wilde 2018, S. 354–362). Cartoongruppen und dritter Zeichenraum werden in Art Spiegelmans MAUS (1980–1991 bzw. 2003), zur Darstellung (nicht nur) nationalsozialistischer Rassen-

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ideologie verwendet. Die teils autobiographische Erzählung berichtet in der Binnennarration von Arts Vater Vladek, der Auschwitz überlebt. In der Rahmenerzählung führt sie einen ›Artie‹ als dessen Sohn und Überlebenden zweiter Generation vor. In MAUS sind alle Jüd_innen als anthropomorphisierte Mäuse, alle Deutschen als Katzen, alle Amerikaner_innen als Hunde gezeichnet und so fort. Aber Spiegelman gibt damit die rassistischen Interpretationsregeln der Antisemit_innen weder als Tatsachen wieder, noch karikiert er sie andererseits als leicht zu überwindende Propaganda. Er schreibt die fragliche Identitätszuschreibung zu diesen Gruppen in jeden Blickwechsel zwischen Figuren, jede dargestellte Handlung einer Figur und jeden Blickwechsel zwischen Cartoon und Rezipierenden ein. So arbeitet er an einer bedrückenden ebenso wie erhellenden Erzählweise: Sie nimmt die Unausweichlichkeit ernst, mit der Machtverhältnisse, Rassismen und existenzielle Bedrohungen das Selbstbild und die eigene und fremde Betrachtung von Körpern durchdringen. Es ist nicht möglich, die im Comic vorgeführte diskriminierende Wahrnehmung an einem realistischen Bild zu entscheiden, das etwa zu sehen gäbe, ob jemand die physiognomischen Charakteristika ›tatsächlich‹ hat, die der Rassismus einer bestimmten Gruppe zuschreibt. ›Ob da eine jüdische Nase ist‹, lässt sich nicht an der angeblichen Realitätsnähe eines Photos entscheiden. Da ist vielmehr immer schon ein menschliches Gesicht, das nicht unverstellt betrachtet werden kann, sondern in ein dichtes semiotisches Geflecht aus vermeintlichen Ähnlichkeiten, kulturellen Regeln und intersubjektiven Beziehungen eingebunden ist (ausführlicher zum ›Passing‹ als Entzug aus der Sichtbarkeit siehe Kap. 6). Aus dieser Perspektive erscheint McClouds zweites Argument über die Funktion von Cartoons fraglich: Er hatte behauptet, Cartoons würden universelle Identifikationsangebote leisten. Diese Universalität erscheint nun aber selbst als eine bloße semiotische Konstruktion, die in den entsprechenden Bildern eher behauptet und allererst konstruiert als aufgerufen wird. Die Ausweitung des Identifikationsangebots durch Reduktion auf ein möglichst allgemein gültiges Gesicht auf McClouds Skala legt nämlich nahe, dass das allgemeinste gültige menschliche Gesicht männlich, weiß und mittleren Alters sei (siehe dazu auch noch einmal Kap. 6). McCloud ist in der jüngeren Forschung dafür kritisiert worden. Werke wie Spiegelmans MAUS dekonstruieren nicht nur den nationalsozialistischen Rassismus ebenso wie die zu einfache Überzeugung, man könne sich ihm durch mehr Realismus entziehen. Sie haben darüber hinaus Anteil an einer subversiven Verwirklichung semiotischer Möglichkeiten, wie Ole Frahm sie beschrieben hat: »Comics etablieren im 20. Jahrhundert eine parodistische Ästhetik, die die rassistischen, sexistischen und klassenbedingten Stereotypen reproduziert und zugleich aufgrund ihrer immanent erkenntniskritischen Anlage reflektiert« (Frahm 2010, S. 11–12). Frahms »These ist, dass Comics die Vorstellung eines Originals und damit eines vorgängigen Außerhalb der Zeichen parodieren. Sie sind eine Parodie auf die Referenzialität der Zeichen« (ebd., S. 36). In jedem Fall subvertiert die Semiotik von Comics allzu einfache Vorstellungen von Zeichen: Ikonische Zeichen werden nicht selbstverständlich aufgrund einer offensichtlichen Ähnlichkeit wiedererkannt. Reale, indexikalische Beziehungen können nicht nur in der Storyworld, sondern auch zwischen dem Cartoon auf der Seite und den Rezipierenden entstehen. Symbolische Zeichenregeln betreffen nicht nur Sprache und Schrift, sondern nicht weniger die Bilder im Comic. Vor allem aber garantiert die dominante Visualität, mit der die Zeichen des Comics ihren Gegenstand repräsentieren, nicht, dass der Anblick des Gegenstands visuell in Erschei-

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nung tritt: Man sieht Donald auf dem Papier und weiß doch nicht, wie er aussieht – nicht einmal, ob er eine Ente ist oder ein Mensch, lässt sich mit Sicherheit sagen. Deshalb ist in Comics generell die Frage nach den Grenzen der darstellerischen Entsprechung (»limitations of representational correspondence«; Currie 2010, S. 59) virulent, auf die Gregory Currie aufmerksam gemacht hat: Nur bestimmte Eigenschaften scheinbar ikonischer Zeichen sollen als Ähnlichkeiten auf die dargestellte Storyworld übertragen werden (vgl. hierzu ausführlicher Thon 2016, S. 85–105; siehe auch Kap. 4). Einige werden es nie (Donald kann nicht fliegen), andere stets (Clark Kent kann sich erfolgreich als Superman verkleiden) und einige bleiben gezielt offen (wie sehr kann der Joker sein Gesicht verziehen?). Im Sinne einer ›Aufteilung des Sinnlichen‹ (partage du sensible), wie der französische Philosoph Jacques Rancière sie beschrieben hat (vgl. Rancière 2000), erweist sich der Cartoon damit als historisch jeweils tief verwurzelte, Ideologien reflektierende und ausweisende Kombination verschiedener Zeichenrelationen. Er verhandelt eine Kategorie des Sichtbaren, die eben nicht auf eine wie natürlich transparente bloße Ähnlichkeit zwischen Abbild und Vorbild aufbauen kann, sondern deren Ikonizität nur in der Abstraktion von und Kombination mit zahlreichen weiteren semiotischen Bestimmungen gelesen wird. Zusätzlich zu den Fragen nach den ikonischen, indexikalischen und symbolischen Anteilen und über den Einsatz von comictypischen Stilmitteln wie graduelle Cartoonisierung, Cartoongruppen und drittem Zeichenraum hinaus können sich Comicanalysen also auch diesen Fragen widmen: Welche Universalität wird in einem bestimmten Cartoon konstruiert? Wie werden die Sichtbarkeit des Bildes und jene der dargestellten Storyworld gegeneinander ausgespielt? Welche Ideologie eines zu einfachen Zeichenverständnisses wird parodiert?

2.1.2 | Blickführung Comics bestehen selbstverständlich nicht aus einzelnen Cartoons. Auf einer Comicseite werden Cartoons mit etlichen anderen Zeichen in vielfältige Interrelationen gesetzt. In Definitionsversuchen der Kunstform Comic steht häufig die Anordnung der Panels, die je einige Zeichen zusammenfassen, zu Sequenzen aus etlichen Panels im Vordergrund: In Anlehnung an Will Eisner (u. a. 1996, S. 6) definiert etwa McCloud Comics als »[j]uxtaposed pictorial and other images in deliberate sequence« (McCloud 1994, S. 9). Der französische semiologische Comicforscher Thierry Groensteen weitet diesen Blick, in dem er gegenüber der bloßen linearen Sequenz von einer in viele Richtungen ausgreifenden »soldarité iconique« (Groensteen 1999, S. 21) spricht, einer ikonischen Solidarität, durch die die einzelnen Bilder auf der Comicseite in engen Zusammenhängen stehen. In einer Auseinandersetzung mit der semiologischen dyadischen Zeichentheorie macht er deutlich, dass sich die reguläre Struktur der Bildervielfalt in Comics gerade in diesem Punkt von einer Sprache wie Französisch, Deutsch oder Englisch unterscheidet: Im Comic sind es erst die künstlerischen Verfahren, mit denen jedes einzelne Bild in Bezug zu den anderen Bildern auf der Seite gesetzt wird. Im Gegensatz dazu müssen sich die Wörter in einem Satz einer bestimmten Sprache bereits grammatisch aufeinander beziehen, damit die Sprache überhaupt funktioniert. In der Sprache können dann gegebenenfalls zusätzliche künstlerische Bezüge wie Reime, Versmaß und so fort einzelne Wörter noch stärker miteinander verbinden.

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(Die linguistische strukturalistische Tradition erklärt so poetische Effekte in der Sprache überhaupt; vgl. Roman Jakobson 2010.) Der Comic besteht dagegen aus einzelnen Bildern, die bereits als Bilder verständlich sind und die dann durch weitere Verfahren zueinander in Bezug gesetzt werden. In den kognitivistischen Experimenten von Neil Cohn (2013) zeichnet sich allerdings ab, dass auch diese zusätzlichen ikonischen Solidaritäten erlernt und in verschiedenen Dialekten entwickelt sind, so dass etwa in der Unterscheidung einer nordamerikanischen und einer japanischen ›Bildsprache‹ auch auf dieser Ebene wieder eine ähnliche Differenzierung möglich ist wie zwischen dem Englischen und dem Japanischen als gesprochener Sprache. Aus einer anderen Perspektive lässt sich die Fragerichtung umkehren: Einerseits entstehen zwar die vielfältigen Bezüge zwischen den Bildern auf einer Comicseite aus sequenziellen und solidarischen Verknüpfungen zwischen ihnen. Andererseits aber begegnet die Seite zunächst als Ganzes. Damit die typischen Konstellationen eines Comics möglich werden, müssen die einzelnen Elemente daher auch ihre Eigenständigkeit erkennbar machen. Die Seite ebenso wie jedes einzelne Panel wird also in seine verschiedenen Bestandteile auseinandergeschnitten, woraus sich die artikulierte Struktur ergibt: Die Bauweise einer Comicseite lässt sich so auch als eine Anatomie verstehen (vgl. Packard 2006). Die drei Dimensionen der Sequenz, der ikonischen Solidarität und der Anatomie lassen sich als Blickführung zusammenfassen. Damit ist nicht immer der spezifische Weg gemeint, den der tatsächliche Blick einer lesenden Person auf einer Comicseite nimmt. Dessen genauere Untersuchung legt nämlich nahe, dass Comicleser_innen kaum richtig wahrnehmen können, in welcher Reihenfolge sie in Sekundenbruchteilen tatsächlich welche Elemente auf einer Seite betrachten, und dass sie mehrere verschiedene denkbare Wege für den Blick im Nachhinein rekonstruieren, um sich ihre eigenen Interpretation verständlich zu machen (vgl. Bridgeman 2010; Cohn 2013). Für eine kognitionswissenschaftliche Analyse ist der tatsächliche Weg des Blicks gerade deshalb besonders aufschlussreich. Für die semiotische Analyse steht dagegen die Vielfalt der verschiedenen Wege im Vordergrund, die bei der Lektüre für eine Seite gleichzeitig konstruiert werden können. Auf der Doppelseite aus Marjane Satrapis autobiographischem Persepolis (2017; siehe Abb. 2.6) ergeben die Panellinien mit dem breiten weißen Zwischenraum oder gutter gemeinsam mit dem klar abgesetzten schwarzen Kasten, in dem die Überschrift steht, zunächst eine sehr deutliche Anatomie der Fläche in 11 Einheiten: Überschrift und 10 Panels. Letztere sind auf die zwei Seiten verteilt, jede Seite enthält drei Zeilen von 1–2 Panels. Die Regelmäßigkeit der rechten Seite legt nahe, einen schematischen Seitenentwurf (eine Zeichenmodalität; siehe Kap. 3) von dreimal zwei gleich großen Panels zugrunde zu legen, gegenüber dem die linke Seite dann als gezielte Abweichung zu lesen ist: Das erste größere Panel wird für ein Panorama, eine Totale mit Außenansicht auf den Schauplatz, genutzt, das zweite für die Präsentation der WG-Bewohner_innen. In der mittleren Zeile der linken Seite verhält sich das größere Panel mit der Innenansicht der WG zu dem kleineren, schmaleren Panel mit der Ansicht von Marjanes Zimmer wie die Größenverhältnisse der damit gezeigten Räume. Damit ist eine zweite Anatomie angesprochen, die mit der Anatomie der Elemente auf der Seite verflochten wird: jene des dargestellten Raums. Er wird nicht nur auf den ersten beiden Panels in Außen- und Innenansicht zerteilt, sondern gerade diese Grenze wird dann zum Schauplatz der ersten beiden Panels auf der zweiten Seite.

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Zeichenstrukturen im Comic

Abb. 2.6: Blickführung durch eine WG in Wien (Satrapi 2017, o. S.).

Die dreistufige graduelle Annäherung an immer kleinere Räume und an Marjanes Lebensort gibt ebenso nicht nur den ersten Panels eine logische Klimax, sondern wird mit dem noch kleineren Raum des Fensterrahmens, in dem sie auf der nächsten Seite wieder eingeführt wird, fortgesetzt: Er wird im zweiten Panel der zweiten Seite nochmals verengt. Liest man daher diese beiden Panels als Fortsetzung der ersten drei, ergibt sich eine Opposition zum letzten Panel der ersten Seite. Der von den Mitbewohner_innen eingenommene untere Raum der Seite kehrt dann auf der zweiten Seite wiederum unten wieder, als Marjane sich auf den letzten beiden Panels, auf der gleichen Höhe der Doppelseite, an die anderen wendet. Diese Verflechtung zweier räumlicher Ordnungen – Groensteen nennt sie spatio-topisches System (»système spatio-topique«; Groensteen 1999, S. 31) – setzt in Comics das Netzwerk der bildlichen Darstellungen an den verschiedenen Stellen, die sie auf der Seite einnehmen, in eine Relation zu den räumlichen Verhältnissen der Orte in der Storyworld. Eine dritte Anatomie betrifft das Auseinanderfallen der Panels in mehrere, verschiedenartige Elemente. So ist es für Satrapis naiven, an Holzschnitte erinnernden Zeichenstil typisch, dass die Cartoons der agierenden Figuren aus großen zusammenhängenden und dunklen Flächen bestehen, während die restlichen Elemente im Raum in Umrisslinien gezeichnet sind. Wo einzelne schwarze bzw. weiße Flächen aufeinanderstoßen, werden sie durch schmale weiße bzw. schwarze Streifen voneinander abgesetzt. Dadurch sind die Körper der WG-Bewohner_innen, wo sie im letzten Panel der ersten Seite als Gruppe und im letzten Panel der zweiten Seite in der Umarmung zusammenstehen, nicht anders voneinander getrennt als die verschiedenen Teile eines Körpers in der groben Anatomie, die diese Cartoons haben: Derselbe schmale weiße Streifen trennt eine Person von einer anderen wie auch den Arm einer Person von ihrem Torso.

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Diese Zerteilung der dargestellten Körper wird im vierten Panel der zweiten Seite zu einem Extrem gesteigert. Marjane erscheint hier zweimal, als würde sie sich von einem Körper aus in zwei verschiedene Richtungen teilen. Der Effekt wird noch stärker, weil es sich nicht um ein einfaches sequenzielles Phasenbild handelt: Es lässt sich kaum sagen, ob sie sich zuerst nach links und dann nach rechts wendet oder umgekehrt. Der verdoppelte Körper kann indes daran erinnern, dass Marjane hier insgesamt nicht etwa zweimal, sondern elfmal erscheint. Dass der Körper der dargestellten Personen durch die wiederholte Darstellung nochmals zweigeteilt wird, hat Donald Ault mit kubistischen Verfahren und psychoanalytischen Deutungen von Objekt- und Subjektwahrnehmung verbunden und wegen der Wiederholungstruktur von der Ästhetik des cutting up again gesprochen (vgl. Ault 2000). Die künstlerischen Traditionen und die Funktionen dieser Anatomie der Körper und Gegenstände werden sich von Comic zu Comic unterscheiden; wie sie im einzelnen Fall umgesetzt werden, kann gerade deshalb aufschlussreich sein. Zu der offensichtlichen Absicht, Marjanes Aufregung darzustellen, kommt in diesem Fall eine Öffnung des Raums hinzu: Nach dem vieldirektionalen Auseinanderrennen ist ihr Körper nicht mehr im Zentrum einer Serie ineinander eingebetteter Innen- und Außenräume zu denken, sondern als vieldirektionaler Akteur in einem offenen Raum. Die Küche im nächsten Panel wird dann auch nicht mehr durch die Differenz von Innen und Außen, sondern mit in dem offenen weißen Raum platzierten einzelnen Möbelstücken und Personen gezeichnet. Dass die verschiedenen Bilder auf der Doppelseite zu einem zusammenhängenden Entwurf gehören, ist jedoch nicht allein diesen Verfahren von Trennung und Zusammenführung geschuldet. Die ikonische Solidarität zwischen den dunkelflächigen Personendarstellungen einerseits und den weißen, in klaren Linien konturierten Raum- und Objektdarstellungen bezieht diese Elemente ohnehin aufeinander. Die erste Raumordnung verengt sich wie gesehen sukzessive auf Marjanes Ort: Diese Abfolge wird unterstützt, indem jeweils der Weg ins Innere eines von außen gezeigten Raumes durch eine ähnliche schwarze Fläche dargestellt wird. Fenster und Tür führen im ersten Panel ins Innere des Hauses (wie auch des Hauses nebenan), die einzigen schwarzen Objektflächen im zweiten Panel sind im Inneren von Marjanes Raum, in dem sie im dritten Panel auf der großen schwarzen Fläche ihrer Matratze sitzt. In den ersten Panels der zweiten Seite erscheint wiederum der Innenraum dunkel, der Außenraum hell. Die Serie dieser ikonischen Bezugnahmen ließe sich noch lange fortsetzen. Während sie die einzelnen Elemente in viele verschiedene Richtungen miteinander verbinden, ergibt sich jedoch auch eine klare lineare Sequenz. Sicher ist sie zuallererst der Konvention geschuldet, die mit der Leserichtung vieler westlicher Schriften geteilt wird: Sie beginnt links oben und folgt den Panels in Zeilen bis rechts unten, auf jeder Seite neu beginnend. Hinzu kommen semantische klimaktische Effekte, die oben bereits diskutiert wurden. Die Struktur der Sequenz bedient sich jedoch noch weiterer konventioneller Regeln, die der Linguist Ulrich Krafft bereits 1978 mindestens für die franko-belgische Tradition detailliert beschrieben hat. Krafft beobachtet, dass gerade hier eine Ähnlichkeit zwischen Comics und Sprache besteht: nicht in der Verbindung der Bilder mit Sprache, deren »Synthese [...] gerade nicht auf der Ebene des Zeichensystems« stattfindet, »sondern erst im jeweiligen Comic-Text« (Krafft 1978, S. 112). Im starken Gegensatz dazu lässt sich die sequenzielle Struktur der aufeinander folgenden Panels ähnlich der ›Phorik‹ sprachlicher Texte, also als Schema von Wiederaufnahmen

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2.1

Zeichenstrukturen im Comic

und Verweisen zwischen nacheinander folgenden Zeichen auf frühere und spätere Zeichen verstehen. Nach Kraffts Modell zerfallen Panels in mehrere Domänen. Für jede Domäne lässt sich nachvollziehen, wann eine Sequenz begonnen wird, indem ein neues Element in der Domäne gesetzt wird, und wo die schon begonnene Sequenz stattdessen fortgeführt wird. Der Schlüssel zur Besonderheit von Panelfolgen in Comics liegt nun darin, dass die Fortsetzung einer Sequenz entweder in der Wiederholung einer Besetzung oder im Wegfall der Besetzung liegen kann; nur eine andere Neubesetzung beginnt eine neue Sequenz. Damit ist etwa gemeint, dass auf der besprochenen Doppelseite die Besetzung des Raumes mit dem Haus und der darin befindlichen WG, einmal eingeführt, weiter als gültig angenommen werden, auch wenn sich die Darstellung drastisch zwischen Innen- und Außenansicht ändert und sogar wenn der Raum schließlich völlig wegfällt, wie in der mittleren Zeile der zweiten Seite. Marjanes Cartoon besetzt indessen die Domäne der Protagonist_in durchgehend und stiftet so nicht nur einen Zusammenhalt zwischen den einzelnen Panels, sondern auch einen Ansatzpunkt zum Verständnis jedes Panels. Die anderen Elemente jedes Panels sind auf ihre Orientierung ebenso bezogen wie die Sequenz auf die Modifikationen ihres Körperbildes. Krafft unterscheidet Handlungszeichen wie Marjanes Cartoon vom Raumzeichen auch dadurch, dass Letztere leichter reduziert werden und nicht im strengen Sinne abzählbar sind: Am Ende der Sequenz lässt sich sowohl sagen, wie viele Personen in der Wohnung leben, als auch, wie viele in der Küche sitzen, nicht aber, wie viele Fenster, wie viele Zimmer und wie viele Küchenstühle die Wohnung enthält. In der Handlungssequenz werden Handlungszeichen seltener und oft eher teilweise statt vollständig getilgt, während mit den Raumzeichen sehr viel freier verfahren werden kann. Als dritte Domäne dazwischen lassen sich Requisiten betrachten, die mal als Raumzeichen, mal als Anteile von Handlungszeichen verwendet werden. In der ersten Funktion können sie ebenso leicht fortfallen wie die übrigen Raumzeichen; in der zweiten werden sie mit der Körperdarstellung verbunden. In dieser Sequenz ist der Telefonhörer im dritten Panel der zweiten Seite ein gutes Beispiel. Dass er plötzlich auftaucht, obwohl er in den gezeichneten Räumen zuvor nicht enthalten war, überrascht nicht: Es wurde nie angenommen, dass die Raumdarstellung in diesem Sinne vollständig oder verbindlich war. Ganz anders wird der Hörer in diesem Panel verwendet, in dem er in einer abgeschlossenen Kontur mit Marjanes Cartoon verbunden wird. Zur typischen Darstellung der handelnden Figuren als stark cartoonisierte Körper kommt damit deren verschiedene Behandlung in der Sequenz hinzu. In sehr vielen Comics wird beides eingesetzt: Die Figuren auf dieser Doppelseite sind flächig und einfach gezeichnet und unterscheiden sich dadurch von den strenger perspektivischen Linien, die Häuser und Möbelstücke repräsentieren. Zugleich werden die Cartoons als abzählbar präsentiert und Marjanes zentraler Cartoon wird in jedem Bild der Sequenz wiederholt, während die Objekte im Raum erscheinen und verschwinden können. Der flächig, aber perspektivisch gezeichnete Telefonhörer markiert in beiden Hinsichten einen Zwischenraum für typische Requisiten. McCloud hat darauf hingewiesen, dass derselbe Gegenstand häufig stärker cartoonisiert wird, wenn eine Person ihn aufhebt und als Requisite verwendet, als wenn er davor oder danach als Objekt im Raum erscheint (vgl. McCloud 1994, S. 44–45). Insbesondere gewinnt er eine der cartoonhaften Reduktion entgegengesetzte Detailgenauigkeit, wenn er von einer Figur genau betrachtet wird. Damit ist

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Semiotische Comicanalyse

eine vierte Dimension der Blickführung angesprochen, die Zeichenmaterial und Zeichenkombination im Comic verflicht: Der Blick des Cartoons selbst. Sehr häufig geben laterale Blickrichtungen von Cartoons eine Leserichtung an: Marjane schaut auf der Doppelseite in der Regel nach rechts zur fortgesetzten Sequenz. Andere, für die Handlung sekundäre Cartoons antworten gegen die Leserichtung, die aber an der Besetzung der Handlungsdomäne durch Marjanes Cartoon im nächsten Panel fortgesetzt wird, während die sekundären Personen jeweils entfallen. Besonders auffällig ist dies im zweiten Panel auf der zweiten Seite, wo die temporale Struktur eigentlich mit der Rede des Mitbewohners beginnt, die Abfolge der Körper in der Bildsequenz aber Marjane vor dem Mitbewohner platziert. Die Ausnahmen von dieser lateralen Anordnung betreffen die räumliche Desorientierung im aufgeregten vierten Panel der zweiten Seite sowie die vier Gelegenheiten (im ersten, zweiten, vierten und fünften Panel), in dem Marjanes Cartoon frontal aus der Ebene der Seite auf die Leser_innen schaut. An diesen Stellen ist die Wiedergabe der Handlung in der Storyworld pausiert. Im fünften Panel ist dies besonders deutlich, da auch der Text durch den Wechsel der Zeitebene den Kommentar der Erzählerin von dem folgenden Dialog absetzt. In dem Gruppenbild am Ende der ersten Seite heben die vielen frontalen Cartoons das Panel vollständig aus der Sequenz heraus: Ob die Personen sich innerhalb der Storyworld je einmal zu diesem Gruppenbild versammelt haben oder nur von Satrapi als Gruppenbild präsentiert werden, können die Leser_innen kaum entscheiden. Es handelt sich um eine Darstellung der Gruppe, die die Erzählerin anbietet, nicht um einen Augenblick in der Abfolge der Ereignisse, die sie erzählt. Diese Differenz zwischen die Sequenz bremsenden frontalen und die Sequenz treibenden lateralen Cartoons findet sich in vielen Comics. Im Beispiel sind damit noch einige Linien nicht berücksichtigt: Die Grenzen der rechteckigen Panels, die spiralförmigen Runen (siehe Kap. 3) über dem Kopf der aufgeregten Protagonistin im vierten Panel der zweiten Seite und die Umrisse der Sprechblasen und Textblöcke. Diese und weitere Zeichenkörper, die sich nicht auf die räumlichen Verhältnisse der dargestellten Welt beziehen, sondern sich nur auf der zweidimensional arrangierten Fläche der Seite verorten lassen, nennt man oft Folienzeichen. Damit ergeben sich einige simpel definierte Domänen in Panels, deren Besetzung in der Sequenz jeweils als Teil einer semiotischen Comicanalyse beschrieben werden kann: ■ die in der Regel cartoonhaften Handlungszeichen, die – frontal die Sequenz bremsen – oder lateral die Sequenz antreiben; ■ die Requisitenzeichen, die Gegenstände zwischen Handlungs- und Raumzeichen darstellen, indem sie die semantisch gleichen Objekte in der Darstellung – mal als Teile von Handlungszeichen präsentieren und – mal als reduzierbare Teile von Raumzeichen; ■ die Raumzeichen, die fast beliebig reduziert werden können; ■ und die sog. ›Folienzeichen‹, also abstrakte Linien um Panels, Sprechblasen, Titelzeilen und ähnliche Elemente, die die Seite ungegenständlich gliedern. Da es sich bei der ikonischen Solidarität nicht um eine strenge Sprache handelt, können diese Regeln keineswegs vorausgesetzt werden; sie können in einzelnen Comics nicht etwa nur gebrochen werden, sondern Comics können auch ganz an-

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Zeichenstrukturen im Comic

dere Regeln einführen (siehe Kap. 3). Die beschriebene Gliederung findet sich jedoch in sehr vielen Comics. Auch in anderen lässt sich entsprechend fragen, welche Elemente stärker cartoonisiert werden als andere, welche in der Sequenz reduziert werden, welche Elemente die fortgesetzte lineare Sequenz signalisieren, welche ikonische Solidarität produzieren und welche die Anatomie der Seite ausdrücken.

2.1.3 | Schrift und Bild Comics müssen keine Schrift enthalten. ›Pantomimische‹ Comics etablieren durch die bisher beschriebenen Verfahren komplexe semiotische Strukturen, ohne einen einzigen Buchstaben einzusetzen oder jemals sprachliche Zeichen zu verwenden. Dennoch wird die Kombination von Schrift und Bild sehr häufig als ein Wesensmerkmal von Comics identifiziert. So verweist die italienische Bezeichnung der Kunstform als fumetti auf die Verwendung von Sprechblasen, an denen Bild und Schrift zusammenstoßen. Jens Balzer und Lambert Wiesing betrachten die Einführung der Sprechblase sogar als ›Erfindung des Comic‹ schlechthin (2010; sie datieren beides – kontrovers – auf Richard Outcaults Yellow Kid). Krafft (1978) hat dagegen darauf hingewiesen, dass die Verbindung von Sprache und Bild im Comic stets irregulär bleibe und immer neu interpretiert werden müsse, anstatt dass sie je nach bestimmten Routinen geschehe, wie sie für die Struktur der Bilder im Panel durchaus gelten. Ole Frahm hat dies mit dem Prinzip der parodistischen Ästhetik schlechthin enggeführt (vgl. Frahm 2010, S. 13). Die Bedeutung der Verbindung von Bild und Schrift im Comic ergibt sich zum einen aus der zentralen Rolle, die sie in jener großen Mehrheit der Comics einnimmt, in denen Schrift eben doch eingesetzt wird. Zum anderen erwächst sie aber auch aus dem historischen Ort, an dem Comics – jedenfalls in der nordamerikanischen Tradition, auf die sich viele weitere beziehen – entstanden sind. In einem Publikationskontext in täglichen oder wöchentlichen Periodika, insbesondere in den großen Tageszeitungen, die in New York verlegt wurden, ist die Platzierung von Bildern zunächst als markierte Ausnahme gegenüber den schrift- und damit zugleich sprachdominierten Mehrheiten der übrigen Druckerzeugnisse, aber auch gerade der Zeitungen zu sehen, in denen die ersten Strips erschienen. Sie waren zwar keineswegs die einzigen Bilder in Bleiwüsten. Aber sie entwickelten eine subversive Geste, die das Potenzial einer aufkommenden neuen visuellen Kultur, die als Bilderflut wahrgenommen werden sollte, gegenüber der dominanten Schrift immer wieder durchspielte. Die semiotische Bedeutung dieser Opposition lässt sich vielleicht am besten an der Kritik älterer zeichentheoretischer Modelle nachvollziehen. In Roland Barthes grundlegender Rhetorik des Bildes (1964) werden nur zwei interpretatorische Verhältnisse zwischen Bild und Schrift für diejenigen Medienartefakte angenommen, die – wie etwa Werbetafeln – Elemente beider Art enthalten: Das seltenere Relais, in dem Schrift und Bild gleichermaßen zur Bedeutung des gesamten Artefaktes beitragen, und die ›Verankerung‹ des Bildes durch Schrift, bei der die schriftlich wiedergegebene Sprache festlegt, wie aus einer große Zahl von möglichen Interpretationen des Bildes eine oder wenige jeweils richtige ausgewählt werden sollen. Die offensichtliche dritte kombinatorische Möglichkeit, dass das Bild die Interpretation der Schrift festlegt, scheint sich hier gar nicht erst zu ergeben. Während diese dritte Option semiotisch ohne weiteres denkbar wäre, nehmen die von Barthes beschrie-

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Semiotische Comicanalyse

benen kulturellen Interpretanten also eine Dominanz der schriftlichen Bedeutungszuschreibung an. Comics beweisen ständig, dass es andere Interpretanten geben muss, die hier anders handeln. Aber wie schon in der Dekonstruktion einer ideologischen Annahme ikonischer Transparenz im Cartoon ignorieren Comics die vermeintliche Dominanz der Schrift nicht etwa, sondern gehen in verschiedener Weise damit um. Schrift und Bild sind daher in Comics regelmäßig nicht einfach gleichberechtigt, sondern sie sind dennoch gleichberechtigt, gegen eine vermeintliche Dominanz der Schrift. Diese Dominanz wird in Comics immer wieder durch eine andere semiotische Konstellation ersetzt. Gerade deshalb muss die genaue Art dieser neuen Kombination, wie Krafft festgestellt hat, im einzelnen Comic immer wieder neu ausgehandelt werden. Die semiotische Beschreibung des Bild-Schrift-Verhältnisses ist daher in der Regel die Beschreibung einer auf der Comicseite vollzogenen dynamischen Transformation, die sich aus einem spannungsreichen Spiel von Widersprüchen ergibt. Die Machtgefüge und mit ihnen korrespondierenden Verankerungen, die dabei regelmäßig neu verhandelt werden, liegen selten so sehr an der Oberfläche wie auf der zitierten Seite aus der ersten Sequenz in Marjorie Lius und Sana Takedas Fantasy-Saga Monstress (2015; siehe Abb. 2.7). Der Verkauf der jungen Frau als Sklavin inszeniert nicht nur graphisch in vielfacher Weise Beziehungen aus Macht, Abhängigkeit, Exponiertheit, Unterwerfung, Trotz und Konkurrenz. Die zwei Präsentationen von Schrift setzen diese ohnehin schon komplexe Struktur fort. Die Erzählblöcke (siehe auch Kap. 4), die ikonisch Papierfetzen nachempfunden sind, geben die Stimme einer Erzählerin wieder. Sie verhält sich von vornherein negativ zur dargestellten Szene: Das ›ich‹ hat sich fest vorgenommen, so eine Situation nie wieder zuzulassen, erfährt man. In einer einfachen Verankerung würde dies die Szene interpretieren: Durchaus sinnfällig würde die menschenunwürdige Behandlung kritisiert. Aber die Beziehung der Schrift zum Bild stellt die Rezipierenden vor größere Schwierigkeiten. Hier, zu Beginn der Erzählung, wissen die Leser_innen noch nicht sicher, auf wen sie die Schrift beziehen sollen: Ist das ›ich‹ die Frau, die verkauft werden soll? Ist es eine der anderen Personen im Raum? Oder bezieht sich die Rede in den Blöcken vielleicht auf eine ganz andere Situation und eröffnet bereits einen parallelen Handlungsstrang? Solange die narratoriale Stimme in den Erzählblöcken nicht klar auf die Szene bezogen ist, besteht eine semiotische Konkurrenz zwischen den beiden Ordnungen. Erst wenn die Erzählsituation geklärt ist, die diese Stimme situiert, wird auch der von Bild und Schrift erzählte Personenhandel klar. Bis dahin sind die semiotischen Hierarchien ebenso wie die dargestellten Machtverhältnisse greifbar aus dem Lot. Zu dieser Dynamik tragen außerdem die verschiedenen Verfahren bei, mit denen die Schrift in Comics platziert wird. Eine solche Platzierung geschieht in mindestens dreifacher Hinsicht: durch die graphische Gestaltung, die die Schrift in die gesamte visuelle Komposition aufnimmt; durch die spatio-topische Verortung auf der Seite und in der Storyworld; und durch die Semiotik der Rede, die in der Schrift wiedergegeben wird. Die graphische Gestaltung schließt in diesem Beispiel an eine aktuelle Konvention US-amerikanischer Mainstream-Comics an: Zwei verschiedene Präsentationsweisen trennen eine Erzählstimme in Blöcken von Dialogstimmen in Sprechblasen. Beide sind von der bildlichen Darstellung der Storyworld klar getrennt. Das muss nicht immer der Fall sein: In anderen Fällen können die Grenzen verwischt werden, Schrift kann typographisch aufwändiger gestaltet oder zugleich gegenständlich in-

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Zeichenstrukturen im Comic

Abb. 2.7: Machtgefüge in Schrift und Bild (Liu/Takeda 2015, S. 3).

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Semiotische Comicanalyse

Abb. 2.8: Bild als Darstellung von Rede und von Gegenständen in der Storyworld (demian5 2000, Chapter 1.2).

terpretierbar sein, wenn etwa Objekte der Storyworld zugleich wie Buchstaben geformt sind. Insbesondere ist die Trennlinie zwischen Rede und Bild nicht immer semiotisch so klar besetzt wie hier. In anderen Comics, wie etwa demian5s Webcomic When I am King (2000; siehe Abb. 2.8) sind Innen- und Außenseite der Trennlinie um die Sprechblasen piktoral besetzt, so dass allein die Konvention der Trennlinie selbst unterscheidbar macht, dass das eine Bild die Situation beschreibt, in der gesprochen wird, das andere den Inhalt der gesprochenen Rede. Die spatio-topische Verortung der Schrift ist auf die doppelte räumliche Anatomie der Comicseite bezogen, die einerseits eine zweidimensionale Zeichenfläche und andererseits einen dargestellten Raum der Storyworld betrifft. So lässt sich einerseits an der Seite aus Monstress beschreiben: dass die fünf Erzählblöcke so in ihren Panels und auf der Seite platziert sind, dass der Anspruch, sich nie wieder so behandeln zu lassen, oben und der erwogene Suizid unten steht, was eine einfache vertikale Metaphorik aufgreift; dass der dritte und vierte Kasten im Gegensatz zu den ersten beiden zwischen die Sprechblasen montiert sind und den Dialog daher eher punktieren als ihn parallel zu kommentieren; und dass der letzte Kasten am Übergang zur nächsten Seite platziert ist, was zu der mit der Aposiopese angedeuteten, zu erwartenden Fortsetzung passt. Ebenso ist festzustellen, dass – wie schon im obigen Zitat aus Persepolis – auch hier der Dialog in Sprechblasen in Opposition zur Anordnung der Personen in der Reihenfolge der Blickführung steht: Die Äußerung von dem alten Mann auf dem Stuhl ist in der Schrift vor, nämlich über der Antwort der Sklavenverkäuferin positioniert. In der Leserichtung des Bildes aber ist diese links und also vor jenem verortet. Andererseits lassen sich all diese Schriftzüge darauf untersuchen, wo sie im dargestellten Raum stehen. Um nur einige der augenfälligsten aus den vielen möglichen Beobachtungen zu erwähnen, die sich hier ergeben: Die Rede der Verkäuferin umgibt die versklavte Frau ebenso, wie die Verkäuferin sie körperlich umfasst. Nur der Körper der versklavten Frau wird jemals von Schrift bedeckt. Und die zwei Fettungen in den Sprechblasen im ersten Panel entsprechen den beiden räumlichen Positionen: jener des Sprechers (»human«) und jener der zugeschrieben Position der Versklavten (»savages«). Die Betonungen vermeiden es dagegen, die Opposition zu unterstreichen, die der Sprecher herstellt (»criminals« bzw. »savages«). Die spatio-topische Verortung der Schrift wird deutlich komplexer, wenn sie in die vielfältigen Verweise der Semiotik der Rede eingebunden wird. Die präsentierte Sprache ruft potenziell alle semiotischen Eigenschaften von Sprache auf und verweist damit auf zahlreiche weitere Referenzen in und außerhalb des Comics. Sie sind potenziell endlos. Tatsächlich sind hier alle Überlegungen der Linguistik, der Literaturwissenschaft und aller anderen Medienwissenschaften am Platz, die sich mit sprachlicher Kommunikation beschäftigen. Aber die wichtigsten dieser Aspekte umfassen für Comics jedenfalls wenigstens die Bezugnahme auf Sprechende, Angesprochene und Besprochene. So ist, wie

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Zeichenstrukturen im Comic

schon gesehen, die erste Sprechblase gleichzeitig oben auf der Seite platziert und in einer sekundären Hinsicht rechts unten im selben Panel, wo der Sprecher sitzt. Mit dem Pronomen »she« verweist die Rede auf ihren Gegenstand, die zum Objekt der Rede und des Handels reduzierte, versklavte Frau, mit »you« auf die angesprochene Sklavenhändlerin. In der Beziehung auf den besprochenen Gegenstand kann insbesondere auffallen, dass in dem Panel, in dem die Händlerin die körperliche Auffälligkeit der versklavten Frau bespricht und der potenzielle Körper immer noch mit dem Zeigefinger darauf zeigt, diese Auffälligkeit gerade nicht im Bild erscheint. Sie ist zwar in der Mitte des großen ersten Panels zu sehen (und war es noch deutlicher in einer Totalen auf der Seite zuvor), aber als Gesprächsthema der Sklaventreiber wird die Amputation ihnen im Bild entzogen: Das mittlere Panel ist entsprechend beschnitten und im folgenden Bild ist der Winkel so gewählt, dass der verletzte Arm nicht zu sehen ist. Während die Beziehung zur sprechenden Person häufig durch den Dorn der Sprechblase ausgedrückt wird, der die Dynamik sichtbar macht, die diesem Schriftzug sofort noch einen anderen Ort zuweist als jenen, an dem er tatsächlich erscheint, sind Anrede und Gegenstand der Rede in der Regel nur durch die Interpretation der Sprache und der Situation zuzuordnen. Die Dynamik dieser Interpretation lässt sich meist gut fassen (vgl. Packard 2006, 259–275), indem die Rede im Sinne der Sprechakttheorie als Handlung mit Gelingensbedingungen aufgefasst wird, die unter anderem gerade im Bild erfüllt werden, aber auch verfehlt werden können. Jede Äußerung wird damit auf eine Handlungsabsicht bezogen, die nur durchgeführt werden kann, wenn die Situation die konventionellen Voraussetzungen erfüllt, die für diese Handlung angenommen wird. Wer zum Beispiel auf etwas zeigen möchte, muss sich im selben Raum wie dieser Gegenstand befinden. Während dies innerhalb der Storyworld offensichtlich der Fall ist, widerspricht die Gestaltung der Bilder der Redeabsicht des Käufers. Wer einen Verkauf durchführen möchte, muss die Auktion leiten können. Dass eine der anwesenden Personen der Händlerin diese Rolle abspricht, wird nicht nur durch ihre sprachliche Unterbrechung des Vorgangs ausgedrückt, sondern dieser erfolgt auch nach einem Blickwechsel von der versklavten Frau ins Off, aus dem die zunächst unsichtbare dritte Frau nun sichtbar wird und die Rezipierenden ebenso überrascht wie die anderen Anwesenden in der Storyworld. Im selben Sinne lässt sich nach dem Scheitern der Erzählstimme fragen: Immerhin ist auch beim ersten Lesen zu vermuten, dass in der Stimme der Erzählerin eine Person zu Wort kommt, die in der Szene der Versklavung nicht gehört wird. Die Untersuchung sollte deutlich gemacht haben, dass das Verhältnis von Schrift und Bild im Comic nicht aus allgemeinen medialen Differenzen zwischen Zeichentypen hergeleitet werden kann. Stattdessen ist vor einem historischen Kontext, der tendenziell Schrift mit einem Definitions- und Machtmonopol und Bilder demgegenüber mit Subversivität und Widerspruch konnotiert, auf die je spezifische Inszenierung der Differenz und Kombination einzelner Schriftzüge mit einzelnen Bildelementen zu achten. Eine semiotische Analyse der problematischen Verankerung von Bildern in Schrift oder Schrift im Bild, der mehrfachen spatio-topischen Verortung und der vieldirektionalen Verweise, die sich aus der Semiotik der wiedergegebenen Rede ergeben, kann diese spannungsreichen Transformationen aufdecken.

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Semiotische Comicanalyse

2.2 | Zum Beispiel: Batman 1940 und 2018 Da eine semiotische Analyse potenziell unabschließbar ist, ist sie in der Regel in den Dienst einer übergeordneten Frage zu stellen. Diese Frage kann allerdings wiederum aus semiotischen Beobachtungen gewonnen werden: Sie kann sich an den Auffälligkeiten im Zeichengebrauch eines Comics erst entwickeln und erlaubt es dann, zusammengehörige semiotische Beobachtungen zu funktionalisieren. Ein einfaches und oft produktives Verfahren zur Fokussierung, das zugleich den heuristischen Mehrwert dieser Auffälligkeiten bewahrt, kann ein Vergleich sein. Unter der ungeheuer großen Zahl an Charakteristika, die eine semiotische Comicanalyse aufdecken könnte, werden so von vornherein vor allem jene in den Blick genommen, die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen zwei Comics betreffen. Im Folgenden wird ein sehr beschränkter Vergleich zwischen nur zwei Seiten aus einem der ältesten und einem der jüngsten Comics der Batman-Reihe unternommen. Dabei geht es an dieser Stelle noch nicht um eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem durch den prototypischen Superhelden gestifteten Genre und dessen Geschichte (siehe dazu ausführlicher Kap. 5). Stattdessen geht es darum, durch eine erste semiotische Untersuchung Auffälligkeiten zu isolieren, aus denen sich weiterführende Fragen für eine Analyse entwickeln lassen. Beide hier ausgewählten Seiten behandeln einen Auftritt des Jokers (siehe Abb. 2.9 und Abb. 2.10). Die erste stammt aus dem Heft, in dem der Widersacher des Batman 1940 von seinen Schöpfern Bill Finger und Bob Kane zuallererst eingeführt wurde. Die Seite schließt die Erzählung mit der Auseinandersetzung zwischen Batman und dem Joker, dessen Inhaftierung und einer kurzen Coda ab. Die andere Seite stammt aus Tom Kings aktuellem Run der inzwischen nach dem Helden benannten Serie. In dem Heft von 2018, das Mikel Janin gezeichnet hat, wird der Joker nach längerer Abwesenheit wieder in die Serie eingeführt. Dies geschieht allerdings als Rückblende: In der Rahmenerzählung berichtet Bruce Wayne von einer seiner Auseinandersetzungen mit dem Joker. Dieser Rückgriff wird noch potenziert, insofern der Joker in der Binnenerzählung die Fähigkeit zu lachen verloren hat, so dass selbst die Vorgeschichte auf einer noch viel längeren Vorgeschichte aufruhen muss, vor deren Folie diese Entwicklung allen Beteiligten außerordentlich erscheint. In dieser Episode der Binnenerzählung übernimmt der Joker die Kontrolle über eine Mafiafamilie. Ein allgemeines Frageinteresse, das durch die ersten Ergebnisse erst weiter spezifiziert werden muss, könnte also zunächst lauten: Wie verändern sich die comicspezifischen Verfahren dieser Superheldencomics in fast 80 Jahren? Und wie verändert sich insbesondere der Umgang mit diesem Superschurken? Eine erste oberflächliche Gegenüberstellung lässt sofort die drastisch veränderte Syntax des Zeichenmaterials aufscheinen. Die jüngere Seite ist weitaus detaillierter gezeichnet. Alle Elemente, auch die Cartoons, sind einer recht streng eingehaltenen Perspektive unterworfen, die bei Kane nur ansatzweise umgesetzt ist. Leere Folien finden sich bei Jalin fast gar nicht; der einzige Kandidat, die hellblaue Fläche im letzten Panel, könnte sehr leicht gegenständlich als wolkenloser Himmel gelesen werden. Dass die feinere Linienführung, die präzisere Granularität und die weit differenzierter abgestuften Farben erheblich veränderten Produktionsbedingungen und Drucktechniken geschuldet sind, verringert ihre erhebliche Wirkung nicht.

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Zum Beispiel: Batman 1940 und 2018

War dieses Ergebnis halbwegs erwartbar, so ist die Untersuchung der Semantik beider Seiten bereits aufschlussreicher. Die von den Bildern und Schriftelementen der Seite von 1940 angesprochenen Gegenstände und Ereignisse finden sich fast alle auf der Seite selbst. Die meisten Elemente verweisen immer wieder auf diese Seite zurück: Die narratoriale Darstellung in den Erzählblöcken (siehe Kap. 4) kommentiert meist die Ereignisse im selben Panel. Alle erwähnten Figuren erscheinen auch im Bild und umgekehrt. Über die Seite hinaus verweisen nur drei Stellen. Erstens tut dies die Ortsbeschreibung »in front of police station« (Finger/Kane 2014, S. 21) in der Zeitung, was sich in dieser Formulierung leicht als Zusammenfassung eines leicht imaginierbaren Panels lesen lässt: denn hier ist eine sichtbare Szene beschrieben, anstatt das bloße Ereignis (etwa: ›sich der Polizei stellen‹) abstrakter zu notieren. Zweitens verweist der geheimnisvolle Hinweis des Jokers: »I know of a way out« (ebd.) auf einen Ausweg, der nicht auf der Seite erscheint. Ebenso ist drittens Werbung für die nächste Geschichte im allerletzten Panel auf die Zukunft gerichtet. Semantisch nicht eingeholt sind damit vor allem die Inhalte, die sich die Leser_innen von der weiteren Serie noch versprechen sollen. Ganz anders geht in dieser Hinsicht die jüngere Seite vor. Die Mutter des Mafioso (es ist wahrscheinlich Carmine) erscheint in der gesamten Serie nicht. Die Vorstellung, dass die Rede und auch die Zähne auf dem Tisch auf sie verweisen, ohne dass sie in der Darstellung eine eigene Rolle spielt, unterstreicht die Absurdität des grausamen Vorgangs. Eine weitere, männliche Person wird besprochen (»he’s not dead«; King/Janin 2018, S. 15), die mit etwas Kombinationsgabe nach der bisherigen narrativen Darstellung als Riddler identifiziert werden kann, den der Joker angeblich ermorden lassen wollte. Diese Präsentation erfordert aber eine erhebliche Interpretationsleistung, um diese semantische Referenz herzustellen. Aber auch bis auf die körperliche Ebene sind etliche der Personen, die an der gezeigten Szene unmittelbar beteiligt werden, kaum vollständig dargestellt: Wie viele Bewaffnete in der Türe stehen und wer sie sind, lässt sich nicht genau sagen. Sie werden geradezu wie Raumzeichen behandelt, obwohl die narrative Darstellung dazu auffordert, wenigstens den Austausch zwischen Joker und Carmine ernst zu nehmen. Dem entspricht eine allgemeine Pragmatik der Desorientierung. Zum einen soll sie sicher die Erfahrung wiedergeben, die den Bewaffneten beim Betreten des Zimmers widerfährt. Zum anderen aber entspricht sie einer weitaus komplexeren und anspruchsvolleren Erzählweise, als sie 1940 üblich war. Den Rezipierenden werden vor allem Fragen präsentiert, von denen sich einige in Zukunft erst noch beantworten lassen sollen, andere aber unbeantwortet bleiben werden. Dass etwa nie ganz klar wird, ob die Zähne wirklich von Carmines Mutter stammen (auf der nächsten Seite wendet ein überlebender Schurke ein, diese wohne doch in einer anderen Stadt), vergrößert die Unsicherheit noch, was die Grausamkeit des Jokers einerseits potenziell mildert (vielleicht waren es keine echten Zähne), potenziell aber auch noch größer erscheinen lässt (wenn sie echt waren, wem gehörten sie stattdessen?). Weiter fällt auf, dass auf der Seite von 2018 kaum ein Gefälle zwischen verschiedenen Graden an Cartoonisierung besteht. Ist auf der Seite von 1940 die Differenz zwischen den maskierten Gegenspielern im Kampf einerseits und den zivilen Gesichtern von Bruce Wayne und Dick Grayson andererseits ein klares Signal, das den Höhepunkt der Handlung von der Coda trennt, so ist 2018 der Joker trotz seines kalkweißen Gesichts kaum plakativer gezeichnet als Carmine. Die Tradition, die das ältere Heft gestiftet hat, wird hier in Jokers Gesicht geradezu unterlaufen: Wo ist

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Semiotische Comicanalyse

Abb. 2.9: Der Joker wird 1940 gefasst (Finger/Kane 2014, S. 21).

sein Grinsen? Es ist auf makabre Weise auf die Zähne auf dem Tisch verlagert. Diese rufen sicher eine Körperimagination auf – aber nicht die eines Grinsens, sondern die eines grausamen Zähneziehens. So stellt das Bild Jokers sprachliche Interpretation in Frage, wenn dieser behauptet: »I made a smile. / On your desk« (ebd.). Anstelle einer Geste, die zur Identifikation einlädt, steht hier ein angedeuteter verschobener Ekel.

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Zum Beispiel: Batman 1940 und 2018

Abb. 2.10: Der Joker tötet 2018 (King/Janin 2018, S. 15).

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Dem steht eine konsistente Körperimagination auf der Seite von 1940 gegenüber. Im Zentrum steht der Faustschlag, der die Handlung entscheidet und den der Erzähltext als erfolgreichen »final blow« (Finger/Kane 2014, S. 21) beschreibt. Der Dialog der Figur stimmt zu: »Your last hand, Joker!« (ebd.). Die Cartoonisierung erreicht hier einen Höhepunkt, insofern der Schlag selbst nicht zu sehen ist, sondern nur durch die drastische Körperhaltung der Figuren und den Umriss des Sterns und der Bewegungslinien angedeutet wird. Die ikonische Reduktion intensiviert nicht nur den Eindruck von diesem Schlag, sondern sie macht ihn streng genommen überhaupt erst möglich: In der Fiktion ist er als mächtig und entscheidend vorzustellen, ohne jedoch dem Joker auch nur bleibende Blessuren zuzusetzen. In der Realität hätte ein solcher Schlag nicht nur das Gesicht beschädigt, sondern wohl auch Batmans Handknochen zertrümmert. Für die Körperimagination ist noch ein weiteres Element der älteren Seite interessant: Gerade angesichts der allgemein groben Darstellung der Körperanatomien auf den meisten Panels fällt die Präzision auf, mit der die Haltung der beiden Körper im zweiten Panel dargestellt ist: Die Körperempfindung des Jokers ist hier deutlich und auf bestimmte Körperwahrnehmungen übersetzbar. Hier ist der Cartoon von einer realistischen Darstellung stattdessen dadurch entfernt, dass diese Körperpositionen mit den Panels davor und danach kaum zu vermitteln sind, nach denen Batman den Joker von oben hätte greifen müssen. Die Kombination dieser Mittel bewirkt eine interessante Antithese: Einerseits wird der Körper des Jokers als fragil und bedroht dargestellt: Er stürzt beinahe in den Tod, er wird ungelenk von hinten gehalten und er unterliegt im Faustkampf. Andererseits wird in der konkurrierenden temporalen Ordnung der versprochenen Serialität – der Joker wird wiederkommen! – eine Unverletzlichkeit suggeriert, die für cartoonhafte Körper typisch ist. Diese Unverletzlichkeit wird in dem Comic von 2018 in komplexer Weise gespiegelt. Auf der Seite geschehen mehrere Morde und Carmines Mutter ist wohl grausam verstümmelt worden. Die eigentliche Verwundung aber ist in beiden Fällen nicht zu sehen; sie ist wie das Grinsen auf den Schreibtisch gewissermaßen verschoben worden. Diesmal geschieht dies nicht durch die Cartoonisierung der Körper, sondern durch die absurde Handlungsfolge in der Storyworld. Das Verfahren steht nun nämlich auch dort in Widerspruch zu der erwarteten Cartoonisierung, die Grinsen und Unverletzlichkeit beim Joker suchen würde. Der Comic von 1940 zeigt das erwartete Grinsen nicht zufällig im Vorausverweis auf die zukünftige Fortsetzung der Serie. Er präsentiert den Cartoon dabei als Schlusspunkt der Sequenz frontal, als direkte Anrede der Rezipierenden, ohne dass die Äußerung der Figur einen klaren Zeitpunkt in der Storyworld hätte. Angesprochen werden auch nicht ein an- oder abwesender Batman oder die vorgestellten Polizisten: sie sind vielmehr in die dritte Person gerückt (»They can’t keep me here!«; ebd.). Das fehlende Grinsen des Jokers wird 2018 dagegen noch unterstrichen, indem er eine eindeutig andere Cartoongruppe als die Bewaffneten an der Türe besetzt: Er ist nämlich nicht mit weniger, sondern mit mehr Details gezeichnet als deren Gesichter. Das macht aus seinem Gesicht mithin einen angesehenen Gegenstand anstelle eines blickenden Gegenübers, was die Wahrnehmung der Rezipierenden denen der Bewaffneten annähert, die den Joker entsetzt betrachten dürften. Da den Rezipierenden aber auch das Gesicht der Bewaffneten kaum angeboten wird – nur einmal ist Carmine in der Mitte der Seite von vorne zu sehen –, fehlt jeder Eingang

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2.2

Zum Beispiel: Batman 1940 und 2018

in die Seite, der einen klaren Ausgangspunkt für die Blickführung durch die Konstellation der Bilder auf der Seite anbieten würde. Dafür steht der drohende Blick des Jokers den Leser_innen 2018 wie jenen 1940 frontal gegenüber. Wollte man auf dieser Grundlage nach einem dritten Zeichenraum fragen, käme man wohl zu einem erstaunlichen Ergebnis: Batman und Joker sind 1940 auf der Seite und in der Storyworld als Fledermaus und als Spielkarte verkleidet, und der Cartoon wird in der bekannten Weise eingesetzt, um die völlige Maskierung von Bruce Wayne und die umfassende Fantastik von Jokers Anblick zu plausibilisieren. Der Joker von 2018 aber trägt gewissermaßen nichts anderes als ein misslungenes, weil nicht grinsendes Kostüm des Jokers – des Superschurken, nicht der Spielkarte. In der Anatomie des Raums der dargestellten Villa, der erst am Ende der Szene durch eine Außenansicht zusammengefasst und vereindeutigt wird, nähert sich die Perspektive in Schritten dem Joker. Anatomisch zerstückelt erscheinen dagegen seine Opfer – die Mutter, die Körperorgane hat lassen müssen, aber auch die Bewaffneten, die schon im ersten Panel durch die Panellinie von ihren sichtbaren Gliedmaßen getrennt werden. Wie mit ihnen hier verfahren wird, verfährt die Seite von 1940 mit dem Joker: Dort ist es sein Körper, der in wiederholten Bildern in verschiedenen Perspektiven und Bewegungsrichtungen hin- und hergewendet und malträtiert wird. Die Sequenz folgt einerseits den Bewegungen des Batman, der als verletzlicher Körper außer im zentralen triumphalen Schlag andererseits nie im Vordergrund steht. Dieses Versteckspiel unterstützen die narratorialen Darstellungen in den Erzählblöcken der ersten drei Panels, indem sie zwischen generischen Beschreibungen der Protagonisten und ihre Namen hin- und herwechseln, als müsste man die beiden Personen erst immer wieder aufs neue wiedererkennen: aus »the Joker« wird »the frantic man«, aus »a hand« wiederum »the strong arm of the Batman« (ebd.). Eine ikonische Solidarität zeigen auf der Seite von 1940 neben den beschriebenen Cartoonisierungen vor allem die Perspektivierungen der Fassade in den ersten drei Panels. Hier rückt auch die Fassadenzeile auf eine etwa gleiche Blickhöhe durch alle drei Panels und alle Bilder, die die Fassade überhaupt enthalten, stehen in derselben Panelzeile. Auf der restlichen Seite sind die Räume kaum beschrieben, eine konsistente Sequenz lässt sich nicht ausmachen: Die Zelle ist nur durch das Gitter, der Raum im Anwesen der Waynes überhaupt nur durch Bruces sitzende Geste und den schwachen Umriss seines Stuhls angedeutet. Die Räume sind hier ab dem entscheidenden Schlag zugunsten reiner Cartoonpanel verschwunden. Eine weitere ikonische Solidarität leistet 1940 die drastische Farbgebung. Hier sind die violetten Körperdarstellungen des Jokers konsequent über die ganze Seite hinweg miteinander verbunden; die Teile der blau kolorierten Fassade ebenso. Das triumphale Rot aus dem Panel mit dem entscheidenden Schlag kleidet im friedlicheren Panel darunter Bruce und Dick ein. Ihre Überlegenheit ist außerdem nahegelegt, indem das Panel mit ihrer Coda im selben Grün erscheint wie der abschließende Kasten der Erzählstimme, der geformt ist wie Batmans Silhouette und damit in derselben Zeile auf Bruce links mit Batman rechts antwortet. Die Farbgebung von 2018 ist demgegenüber subtiler und soll wohl insgesamt realistischer wirken. Innen- und Außenraum werden jeweils von einem Farbton dominiert. Dieser wird im ersten Panel vom Grün der Stühle und dem Orange des Teppichs unterbrochen, die die Farben von Jokers Gesicht vorwegnehmen und den Raum bereits auf den ersten Blick darauf auslegen, auf dieses Gesicht hinzulenken.

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Semiotische Comicanalyse

Die einzige drastische Farbe ist interessanterweise das Violett einiger seiner Kleidungsstücke, das hier eher als Tradition bis auf 1940 und viele Comics seither als auf ein anderes Element auf derselben Comicseite verweist. Es wurde bereits erwähnt, dass die verankernde Funktion der Sprache mit den Bildern 1940 vollkommen konvergiert. Nicht nur die narratoriale Darstellung in den Erzählblöcken, sondern auch die Sprechblasen sind jeweils an den Rand der Bilder gerückt, die sie so geradezu regelmäßig kommentieren, ohne sie zu stören. Die Bilder sind sich mit der Sprache der Erzählstimme, der Figuren und der dargestellten Zeitung in der Interpretation der Ereignisse völlig einig – ihnen widerspricht allein das Grinsen des Jokers, der im vorletzten Panel eine Fortsetzung ankündigt, die der Erzähler im letzten Panel jedoch ebenso akzeptiert. Dem steht die Interpretation des Jokers gegenüber, die nicht anders als absurd erscheint. Nur das Soundwort Bangbangbangbangbang im letzten Panel kann im Sinne Barthes’ als Relais gelesen werden, das dem Bild eine Bedeutung verleiht, die es ohne Schrift nie hätte: Es teilt mit, was in dem nicht mehr sichtbaren Innenraum der Villa geschieht. Die erste Sprechblase verweist auf ihren Sprecher im Abseits des Panels, der auch für das Blickgefüge fehlt; ihr Inhalt gibt die Desorientierung wieder, die die ganze Seite dominiert. Die Dynamik des Widerspruchs zwischen Bild und Schrift ist wiederum mit dem verschobenen Grinsen verbunden: Die Sprechblasen: »I made her smile« und vor allem »On your desk« (King/Janin 2018, S. 15) sind über dem Körper des Jokers platziert, an dem das Grinsen fehlt, und verweisen fort von ihm auf die Zähne auf dem Tisch, die sich in einem anderen Panel finden, das noch dazu vorausliegt, während die Handlung drängend zum Mord fortschreitet, zu dem der Joker seine Waffe hebt. Diese Überlegungen können Ausgangspunkt für weitergehende Analysen und Forschungen sein, die mit semiotischen und vielen anderen Verfahren zu verfolgen wären: Wie typisch sind beide Darstellungsweisen für welche Comics aus welcher Zeit? Der Vergleich hat im jüngeren Comic ein viel größeres Zeichenvokabular gefunden. Diese Erweiterung wäre zu präzisieren: Wann wird welches Verfahren eingeführt, wann wird es konventionalisiert, welchen verschiedenen Funktionen dient es wo? Der Vergleich trägt aber auch dazu bei, diese Erweiterung der semiotischen Mittel zu präzisieren: Teils leben sie von einer Reflexion der älteren Stilmittel, die als Tradition fortgeführt werden und die sich für eine weitere Historisierung anbietet, teils von einem größeren Produktionsaufwand, der weitere Vergleiche mit anderen Produktionsbedingungen nahelegt. Die jüngere Seite verändert außerdem den Interpretationshorizont. Die Serialität der narrativen Darstellung wird eher als Vergangenheit mitgeführt, auf die sich die Traditionen, mit denen hier gespielt wird, ebenso beziehen wie die doppelte Ausrichtung der erzählten Geschichte auf eine nicht näher datierte frühere Zeit: So schreibt der jüngere Comic an seiner eigenen Genrehistoriographie mit. Dem steht eine ästhetisch gewollte Desorientierung gegenüber, die nicht Fragen für die Zukunft stellt, die die Serie noch beantworten soll, sondern Unklarheiten einführt, die das Auftreten des Jokers und die Bedrohung und den Ekel, die die Szene und seinen Auftritt kennzeichnen, unterstreichen. Ihr wäre in einer detaillierten Auseinandersetzung mit dem restlichen Batman-Run von Tom King nachzugehen.

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2.3

Fazit

2.3 | Fazit Der Werkzeugkasten, der hier für eine grundlegende semiotische Analyse von Comics empfohlen wird, beginnt mit der Sicherung der drei Ebenen jedes Zeichenzusammenhangs: ■ Woraus besteht die Syntax der verwendeten Zeichen und ihrer kombinierten Präsentation? ■ Wie lässt sich die Semantik der damit referenzierten Gegenstände bestimmen? ■ Und wie verhalten sich beide zur Pragmatik des Handlungszusammenhangs, in dem derart kommuniziert wird? Damit ist bereits die Dekonstruktion einer Ideologie zu einfacher, scheinbar transparenter Zeichenverständnisse angelegt: ■ Wie verdecken die verwendeten Zeichen die Voraussetzungen, unter denen sie sinnvoll werden? Welcher Inhalt konkurriert wie mit der Zeichenoberfläche um die Aufmerksamkeit der Rezipierenden? Als Einstieg in detailliertere und comicspezifische Zeichenverwendungen lässt sich dann nach den verwendeten Cartoons fragen: ■ Was bilden sie ikonisch ab und worauf reduzieren sie dieses Abbildungsverhältnis? Was übersteigern sie? ■ Welche indexikalischen Körperimaginationen der Rezipierenden werden angespielt? Wie ergeben sich aus diesen Blickgefügen zwischen Cartoonfiguren und Rezipierenden intersubjektive Beziehungen? ■ Und schließlich: welche Konventionen und Traditionen werden als bekannt vorausgesetzt? Was muss an diesen Cartoons wiedererkannt werden, damit sie verstanden werden? Die Funktionalisierung des Cartoons kann dann einerseits über Aspekte ■ der graduellen Cartoonisierung, ■ der Einteilung von Figuren in Cartoongruppen ■ und der semantischen Füllung des dritten Zeichenraums genauer beschrieben werden. Andererseits lässt sich die Ideologie dieser Funktionen darauf befragen, welche Universalisierungen durch einen solchen Umgang mit Zeichen naturalisiert werden: ■ Was wird als allgemeinere Norm eines Anblicks als selbstverständlich vorausgesetzt? Was wird als Abweichung positioniert? Die Zusammenfügung der Comiczeichen auf der Seite lässt sich aus mindestens drei Perspektiven untersuchen: ■ Erstens ist sie als Anatomie von Elementen beschreibbar, die sowohl die zweidimensionale Fläche auf der Seite als auch den dargestellten dreidimensionalen Raum und die dargestellten Körper, Gebäude, Gegenstände und Personen betrifft. ■ Zweitens lässt sich nach der ikonischen Solidarität fragen, mit der sich Bilder aufeinander durch Ähnlichkeiten und Oppositionen beziehen. ■ Und drittens lassen sich die Wiederaufnahmen und Unterbrechungen beschreiben, mit denen sich eine lineare Sequenz aus mehreren Panels in den Domänen der verschiedenen Panelelementen abzeichnet.

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Semiotische Comicanalyse

Alle Comics – auch pantomimische – können darauf untersucht werden, ■ ob sie ein subversives, anarchisches Verhältnis zu Schrift aufweisen, ob ihre Bilder also trotz Schrift oder gegen Schrift positioniert werden. Wo sie auf der Comicseite zusammen mit Schrift auftreten, lässt sich nach den Dominanzverhältnissen ■ in der graphischen Gestaltung und ■ in der spatio-topischen Verortung von Schrift auf der Seite und im dargestellten Raum ■ sowie nach der vielfältigen Semiotik der Rede in der Verflechtung mit den graphisch präsentierten Bedingungen ihrer Interpretation fragen. Damit konnte dieses Kapitel die Möglichkeiten einer semiotischen Comicanalyse selbstverständlich nicht ausschöpfen. Es liegt in der Natur eines pansemiotischen Ansatzes, dass grundsätzlich keine Aspekte eines Comics und aller ihn betreffenden äußeren Faktoren aus einer solchen Analyse ausgeschlossen sind. Gerade deswegen gilt es, jede semiotische Analyse auch inhaltlich zu begrenzen und bereits in ihrer Anlage klar zu funktionalisieren: Gilt es, einige grundlegende Bestimmungen zu notieren, um sich mit anderen über die fundamentale Struktur des Interpretationsangebots zu verständigen? Soll die Analyse semiotische Besonderheiten aufdecken, denen dann mit semiotischen und anderen Mitteln weiter nachgegangen werden soll? Oder ist die semiotische Analyse in eine andere Argumentation eingebettet, aus der sich bereits Fokussierungen für die anzustellenden Beobachtungen ergeben? Die folgenden Kapitel kommen auf grundlegende semiotische Bestimmungen gerade in diesem Sinne immer wieder zurück, um mit Hilfe von genauen Beschreibungen der Interpretationsangebote im jeweiligen Comic jeweils verschiedene andere Fragen zu bearbeiten. Primärliteratur demian5: When I am King (2000), http://www.demian5.com/king/wiak.htm (30.04.2019). Finger, Bill/Kane, Bob: »Batman vs. the Joker« [1940]. In: The Joker. A Celebration of 75 Years. New York 2014, 9–21. King, Tom/Janin, Mikel: »The War of Jokes and Riddles Part Two«. In: Batman #26 (2018). Liu, Marjoire/Takeda, Sana: Monstress #1. Portland 2015. Miller, Frank/Janson, Klaus: The Dark Knight Returns. New York 1986. Satrapi, Marjane: Persepolis [2000–2003]. Paris 2017. Spiegelman, Art: The Complete MAUS [1980–1991]. New York 2003. Schwartz, Simon: drüben! [2009]. Berlin 52013. Allgemeine Literatur Bisanz, Elize: Die Überwindung des Ikonischen. Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Bildwissenschaft. Bielefeld 2010. Cohn, Neil: The Visual Language of Comics. Introduction to the Structure and Cognition of Sequential Images. London 2013. Groensteen, Thierry: Système de la bande dessinée. Paris 1999. Krafft, Ullrich: Comics lesen. Untersuchungen zur Textualität von Comics. Stuttgart 1978. Krämer, Sybille: »Das Medium als Spur und als Apparat«. In: Sybille Krämer (Hg.): Medien. Computer. Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt a. M. 1998, 73–94. Magnussen, Anne: »The Semiotics of C. S. Peirce as a Theoretical Framework for the Understanding of Comics«. In: Anne Magnussen/Hans-Christian Christiansen (Hg.): Comics & Culture. Analytical and Theoretical Approaches to Comics. Kopenhagen 2000, 193–207.

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Fazit

McCloud, Scott: Understanding Comics. The Invisible Art. New York 21994. Miller, Ann: »Consensus and Dissensus in bande dessinée«. In: Yale French Studies 131–132 (2017), 109–137. Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik. Stuttgart 2000. Ort, Nina: Reflexionslogische Semiotik. Weilerswist 2007.

Zitierte Literatur Asma, Stephen T.: »Epistemic Territory and Embodied Imagination«. In: Evolutionary Studies in Imaginative Culture 1/1 (2017), 33–36. Ault, Donald: »›Cutting Up‹ Again Part II. Lacan on Barks on Lacan«. In: Anne Magnussen/ Hans-Christian Christiansen (Hg.): Comics & Culture. Analytical and Theoretical Approaches. Kopenhagen 2000, 123–140. Bally, Charles/Sechehaye, Albert (Hg.): Ferdinand de Saussure. Cours de linguistique générale. Paris 1916. Balzer, Jens/Wiesing, Lambert: Outcault. Die Erfindung des Comic. Bochum 2010. Banissy, Michael J./Garrido, Lúcia/Kusnir, Flor/Duchaine, Bradley/Walsh, Vincent/Ward, Jamie: »Superior Facial Expression, but Not Identity Recognition, in Mirror-Touch Synesthesia«. In: Journal of Neuroscience 31/5 (2011), 1820–1824. Barthes, Roland: »Rhétorique de l’image«. In: Communications 4 (1964), 40–51. Bisanz, Elize: Die Überwindung des Ikonischen. Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Bildwissenschaft. Bielefeld 2010. Bridgeman, Theresa: »Keeping an Eye on Things. Attention, Tracking and Coherence-Building«. In: Belphegor 4/1 (2010). Cohn, Neil: The Visual Language of Comics. Introduction to the Structure and Cognition of Sequential Images. London 2013. Currie, Gregory: Narratives and Narrators. A Philosophy of Stories. Oxford 2010. Dolle-Weinkauff, Bernd: »Types of Violence in Sequential Art. The Mise en Scène of Violent Action in Comics, Graphic Novels and Manga«. In: Daniela Elsner/Sissy Helff/Britta Viebrock (Hg.): Films, Graphic Novels & Visuals. Developing Multiliteracies in Foreign Language Education. An Interdisciplinary Approach. Berlin 2013, 87–104. Eisner, Will: Graphic Storytelling & Visual Narrative. Tamarac 1996. Frahm, Ole: Die Sprache des Comics. Hamburg 2010. Groensteen, Thierry: Système de la bande dessinée. Paris 1999. Jäger, Ludwig: Ferdinand de Saussure zur Einführung. Hamburg 2007. Jakobson, Roman: »Linguistics and Poetics«. In: Selected Writings III. Poetry of Grammar and Grammar of Poetry. Berlin 2010, 18–51. Klar, Elisabeth: »Tentacles, Lolitas, and Pencil Strokes. The Parodist Body in European and Japanese Erotic Comics«. In: Jaqueline Berndt/Bettina Kümmerling-Meibauer (Hg.): Manga’s Cultural Crosroads. New York 2013, 112–142. Krafft, Ullrich: Comics lesen. Untersuchungen zur Textualität von Comics. Stuttgart 1978. Krämer, Sybille: »Das Medium als Spur und als Apparat«. In: Sybille Krämer (Hg.): Medien. Computer. Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt a. M. 1998, 73–94. Krause, Marlene: »drüben! Als Ganzschrift. Analyse eines autobiografischen Comics zur DDR-Geschichte«. In: Geschichte lernen 153–154 (2013), 66–71. Kumschlies, Kirsten: »Literarisches und historisches Lernen mit der Graphic Novel drüben!« In: Praxis Deutsch 252 (2015), 33–35. Lacan, Jacques: »Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je«. In: Ecrits I. Paris 1999, 92–99. Lewis, Michael B./Ellis, Hadyn D.: »How We Detect a Face. A Survey of Psychological Evidence«. In: International Journal of Imaging Systems and Technology 13/1 (2003), 3–7. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Frankfurt a. M. 1984. Magnussen, Anne: »The Semiotics of C. S. Peirce as a Theoretical Framework for the Understanding of Comics«. In: Anne Magnussen/Hans-Christian Christiansen (Hg.): Comics & Culture. Analytical and Theoretical Approaches to Comics. Kopenhagen 2000, 193–207. McCloud, Scott: Understanding Comics. The Invisible Art. New York 21994.

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McLuhan, Marshall: Understanding Media. Cambridge, Mass. 1994. Miller, Ann: »Consensus and Dissensus in bande dessinée«. In: Yale French Studies 131–132 (2017), 109–137. Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik. Stuttgart 2000. Ort, Nina: Reflexionslogische Semiotik. Weilerswist 2007. Ort, Nina: »Sinn und Unsinn in der Semiotik. Über Luhmanns Versuch, Klarstellungen zum semiotischen Zeichenbegriff zu leisten«. In: Zeitschrift für Semiotik 32/1–2 (2010), 67–79. Packard, Stephan: Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse. Göttingen 2006. Packard, Stephan: »Was ist ein Cartoon?«. In: Stephan Ditschke/Katerina Kroucheva/Daniel Stein (Hg.): Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums. Bielefeld 2009, 29–51. Pape, Helmut: Der dramatische Reichtum der konkreten Welt. Der Ursprung des Pragmatismus im Denken von Charles S. Peirce und William James. Weilerswist 2002. Peirce, Charles Sanders: »Short Logic«. In: The Essential Peirce, Bd. 2, hg. v. Nathan Houser et al. Bloomington 1998, 11–26. Rancière, Jacques: Le partage du sensible. Esthétique et politique. Paris 2000. Sartre, Jean-Paul: L’imaginaire. Paris 1940. Schüwer, Martin: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur. Trier 2008. Stein, Daniel/Ditschke, Stephan/Kroucheva, Katerina: »Birth of a Notion. Comics als populärkulturelles Medium«. In: Daniel Stein/Stephan Ditschke/Katerina Kroucheva (Hg.): Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums. Bielefeld 2009, 7–27. Thon, Jan-Noël: Transmedial Narratology and Contemporary Media Culture. Lincoln 2016. Wilde, Lukas R. A.: Im Reich der Figuren. Meta-narrative Kommunikationsfiguren und die ›Mangaisierung‹ des japanischen Alltags. Köln 2018.

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3 Multimodale Comicanalyse Die multimodale Analyse von Comics setzt sich mit der Frage auseinander, wie die unterschiedlichen semiotischen Elemente innerhalb eines Comics als Zeichenmodalitäten in ihrem Zusammenspiel Bedeutung konstruieren. Dabei geht es nicht allein um die Elemente Bild und Text bzw. schriftlicher Text, sondern auch um kleinere Einheiten wie zum Beispiel (Bewegungs-)Linien, Farben, bestimmte Rahmungen oder auch den Einsatz von Schrifttypen oder Interpunktion. Die Analyse hat zum Ziel, die unterschiedlichen Rollen und Funktionen dieser einzelnen Bestandteile des Comics genauer zu beleuchten und zu untersuchen, wie sie die Leser_innen in ihrer Rezeption und Interpretation des Comics lenken und beeinflussen. Um diese Rezeption und Interpretation aus multimodaler Sicht genauer beschreiben zu können, wird dieses Kapitel die verschiedenen Untersuchungsebenen multimodaler Analyse genauer betrachten. Nach einem kurzen Überblick über das Forschungsfeld ›Multimodalität‹ (siehe Kap. 3.1) steht in einem ersten Schritt die Identifikation von semiotischen Elementen und die genauere Analyse ihrer Funktion als Zeichenmodalität im Vordergrund (siehe Kap. 3.1.1). In einem zweiten Schritt soll diskutiert werden, wie das Zusammenspiel dieser Elemente und Modalitäten zu bezeichnen und analysieren ist und welche Rolle dabei auch die Rezipierenden spielen (siehe Kap. 3.1.2). Im zweiten Teil des Kapitels werden diese theoretischen und methodischen Überlegungen etwas ausführlicher auf einige Panels aus Mawils Comic Kinderland (2014) angewendet (siehe Kap. 3.2).

3.1 | Die multimodale Analyse von Comics Eine wichtige Vorannahme für den Blick auf das multimodale Zusammenspiel von Elementen des Comics ist die Tatsache, dass die in einem Comic erzählte Geschichte oder der dargestellte Sachverhalt, also die in ihm enthaltene Bedeutung (Semantik), immer aus der Kombination von Text und Bild entsteht. Im Gegensatz zu einem Roman sind es also nicht allein die sprachlichen Zeichen, der schriftliche Text in den Sprechblasen und Textblöcken oder als Lautbilder (Onomatopoetika) im Panel, sondern auch alle anderen visuellen Elemente, die zu dieser Bedeutung beitragen. »Language is no longer the central semiotic mode« (Kress/van Leeuwen 1998, S. 73), heißt es in den frühen Arbeiten der Multimodalitätspioniere Gunther Kress und Theo van Leeuwen. Und so wird auch allen anderen semiotischen Elementen in einem multimodalen Artefakt, allen voran dem Bild, aber darin spezifischer auch Linien, Farben oder Schattierungen, eine Funktion für die Bedeutungskonstruktion zugeschrieben. Für Disziplinen, die sich überwiegend mit Fragen nach der Bedeutung bzw. Semantik von Texten auseinandersetzen, also zum Beispiel für die Linguistik oder auch die traditionelle Literaturwissenschaft, war (und ist) dies eine revolutionäre Vorstellung. Zwar hat es in der Vergangenheit und bis heute viele Ansätze gegeben, die die Sprache von Medientexten und -artefakten genauer diskutieren – und damit ist nicht nur die verbale Sprache, sondern auch eine visuelle oder musikalische J.B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Packard et al., Comicanalyse. Eine Einführung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04775-5 _3

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Multimodale Comicanalyse

Sprache gemeint (vgl. z. B. zur Sprache des Films Metz 1974; zu Bildern, Musik und Text Barthes 1977a; zur Sprache des Comics Saraceni 2003). Allerdings ist dabei sehr schnell deutlich geworden, dass die grammatischen Strukturen gesprochener oder geschriebener Sprache nicht vollständig auf nicht-sprachliche, non-verbale Äußerungen übertragen werden können. Und noch viel weniger können die Funktionen eines Bildes und die daraus entstehenden Bedeutungen in einem Lexikon oder Wörterbuch nachgeschlagen werden, wie dies für sprachliche Einheiten größtenteils möglich ist. Zwar sind einige Bedeutungen bildlicher Einheiten durchaus vertraut und es lassen sich aufgrund von etablierten Gestaltprinzipien bestimmte Formen, Muster und Figuren (wieder)erkennen, aber grundsätzlich gilt: Die Bedeutung nicht-sprachlicher Einheiten ist in einem weitaus größeren Maße als Sprache kontextabhängig und kann erst aufgrund ihrer Kombination mit anderen sprachlichen und nicht-sprachlichen Einheiten erschlossen werden. Eine wichtige Aufgabe multimodaler Analyse ist es deswegen, nicht nur die einzelnen Bestandteile eines komplexen multimodalen Artefaktes herauszuarbeiten und zu beschreiben, sondern diese Bestandteile vor allem im Hinblick auf ihre Verbindungen miteinander, ihre wechselseitigen Beeinflussungen, ihr sogenanntes intersemiotisches Zusammenspiel zu untersuchen. Genau diese Aufgaben verfolgen Forscher_innen rund um das Thema Multimodalität erst seit ungefähr zwei Jahrzehnten in unterschiedlichsten Disziplinen – zunehmend auch im interdiziplinären Feld der Comicforschung. Denn trotz der Tatsache, dass nahezu alle Kommunikation von Beginn an multimodal ist – zum Beispiel ›reden‹ Menschen doch immer auch mit Mimik und Gestik, wenn sie sich unterhalten, und ein Roman bringt immer auch Interpunktion, Typographie und ein bestimmtes Layout mit sich –, ist doch noch sehr wenig darüber bekannt, wie die unterschiedlichen Elemente in solchen multimodalen Situationen und Artefakten miteinander wirksam werden. Während Disziplinen wie die Kunstgeschichte, die Musik- und die Sprachwissenschaft vielfältige Ansätze zur Beschreibung der Mechanismen von Bildern, Musik und Sprache entwickelt haben, sind sie in den meisten Fällen (noch) nicht in der Lage, genauso systematisch die tatsächlichen Mechanismen der Verbindung von unterschiedlichen Ressourcen wie etwa Bildern mit Sprache oder Musik innerhalb eines Artefaktes zu beschreiben. Allerdings zeigen all diese Disziplinen ein starkes Bewusstsein dafür, dass es nicht mehr ausreicht, die einzelnen Ausdrucksformen allein zu beschreiben. Die Linguistik beispielsweise betrachtet schon sehr lange Parameter wie Intonation in ihren Analysen von Interaktion und untersucht seit einiger Zeit auch den Einsatz von Mimik und Gestik (vgl. z. B. Norris 2004; Deppermann 2018); die Kunstgeschichte schaut sich digitalisierte Kunstobjekte und Graffiti im öffentlichen Raum an, deren Materialität sich von analogen Objekten stark unterscheidet (vgl. u. a. Huemer 2014); und auch die Musikwissenschaft fragt, in welchen Kombinationen und mit welcher Funktion Musik (zum Beispiel im Film) auftaucht (vgl. z. B. Schmid 2012; Wildgen 2018). Dieses Bewusstsein und die Motivation, auch andere als die disziplineigenen Forschungsobjekte in die Analyse miteinzubeziehen, haben das Schlagwort ›Multimodalität‹ heute sehr populär gemacht und auch in vielen etablierten Disziplinen zu neuen Analyseansätzen und -forschungsfragen geführt. Multimodale Analyse steht folglich immer genau dann im Vordergrund, wenn es um Fragen nach der Kombination von semiotischen Elementen in Kommunikationsformen und um Aspekte der Bedeutungskonstruktion durch diese Kommunikationsformen geht.

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Die multimodale Analyse von Comics

Erste Ansätze in Richtung dieser Forschungsorientierung lassen sich etwa innerhalb von Arbeiten zu einer visuellen Grammatik von Bildern (vgl. Kress/van Leeuwen 1996, 2006) sowie zum Zusammenspiel von visuellen und verbalen Zeichen in computervermittelter Kommunikation (vgl. Kress/van Leeuwen 1998), Werbung (vgl. Stöckl 1998), wissenschaftlichen Texten (vgl. Lemke 1998) und schließlich auch Comics (vgl. Kaindl 1998) beobachten. Seit diesen Anfängen hat sich die Multimodalitätsforschung enorm weiterentwickelt und betrachtet heute grundsätzlich alle Formen vielschichtiger, multimodaler Kommunikation – zum Beispiel in Filmen, auf Webseiten, innerhalb von Social-Media-Plattformen und -Profilen, auf Theaterbühnen, in Computerspielen und in vielen anderen kommunikativen Kontexten. Einen Überblick mit zahlreichen Fallstudien geben z. B. John Bateman und Kolleg_innen (2017). Handbücher und Einführungen zum Thema sind u. a. von Carey Jewitt (2014), Jewitt und Kolleg_innen (2016) sowie von Nina-Maria Klug und Hartmut Stöckl (2016) erschienen. Die Analyse von Comics spielt in diesem Zusammenhang ebenfalls eine Rolle, auch wenn der explizite Umgang mit der Multimodalität von Comics und multimodaltheoretische Ansätze zur Analyse der Bedeutungskonstruktion in Comics vermehrt erst seit den 2010er Jahren aufgekommen sind (vgl. zum Beispiel Müller 2012; Veloso/Bateman 2013; Bateman/Wildfeuer 2014; Cohn 2016; Cohn et al. 2017). Viele dieser Arbeiten nehmen eine explizit multimodal-theoretische oder methodologische Perspektive auf die Einheiten und strukturellen Eigenschaften von Comics ein. Sie untersuchen dabei zum Beispiel die Erzählstruktur oder den Aufbau und die Anordnung von Panels auf einer Seite. In jüngeren Arbeiten wird außerdem ein stärker empirischer Blick auf eine größere Menge von Daten in und aus Comics und ihre zum Teil automatisierte Analyse geworfen (vgl. z. B. Dunst et al. 2019). Ähnlich gelagerte, aber nicht unter dem Schlagwort ›Multimodalität‹ zu findende Arbeiten innerhalb der Comicforschung, die sich ebenfalls vornehmlich der Kombination von Text und Bild widmen, sind teilweise schon in den 1960er und 1970er Jahren entstanden. Zu dieser Zeit lenkte man innerhalb der Linguistik und Semiotik den Blick von rein sprachlich dominierten Artefakten auf kulturelle Artefakte wie Werbung, Photographie oder Film, um ihre einzelnen semiotischen, d. h. zeichenhaften Bestandteile im Hinblick auf ihre gemeinsame Bedeutungskonstruktion zu untersuchen. Nachdem Umberto Eco bereits in den 1960er Jahren für eine semiotische und nicht allein sprachliche, sondern alle Zeichen in den Blick nehmende Lesart von Comics plädiert hatte (Eco 1964), spielten auch die Arbeiten von Roland Barthes (1967, 1977a, b) eine wichtige Rolle, um linguistische Analysen um nichtsprachliche (im Comic vor allem bildliche) Einheiten zu erweitern (einen Überblick über diese Entwicklungen von linguistischen und semiotischen Perspektiven für die Comicforschung in Deutschland geben Wildfeuer/Bateman 2016; für eine ausführlichere Beschäftigung mit semiotischer Comicanalyse siehe Kap. 2). Auch in der zeitgenössischeren Comicanalyse sind bis heute viele Arbeiten entstanden, die sich zwar nicht explizit mit Multimodalität auseinandersetzen, jedoch ganz ähnliche Fragestellungen entwickeln und hierfür neben der Semiotik auch Entwicklungen aus der Narratologie (siehe Kap. 4) oder Medienwissenschaft hinzuziehen (vgl. u. a. Packard 2006; Groensteen 2007; Kukkonen 2013; Thon 2016). Die neuere und zeitgenössische multimodale Comicanalyse profitiert von all diesen Ansätzen. Der Psychologe Neil Cohn beispielsweise untersucht die multimodale Interaktion von visuellen und verbalen Einheiten mit Blick auf eine visuelle narrative Grammatik (vgl. Cohn et al. 2017). In seinen Studien verweist er unter anderem

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Multimodale Comicanalyse

auf die wichtige Arbeit von Scott McCloud (1994) und dessen Taxonomie von Bedeutungsbeziehungen zwischen Text und Bild im Comic (siehe auch Kap. 3.1.2), die für Cohn und Kolleg_innen »the most prominent theory of multimodality in comics« (Cohn et al. 2017, S. 19) darstellen. In beiden Ansätzen liegt der Schwerpunkt der Beschreibung auf der allgemeinen Verbindung von Bild und Text im Comic, weitere Zeichenmodalitäten oder gar Besonderheiten ihrer Kombination diskutieren die Autoren aber nicht. McCloud und Cohn folgen einer spezifischen Richtung innerhalb der Sprach- und Medienanalyse, nach welcher besonders die Kombinationen von Text und Bild in unterschiedlichsten Medienformen untersucht wird (für einen Überblick vgl. Bateman 2014). Die multimodale Analyse von Comics beschäftigt sich aber nicht nur mit dem Zusammenspiel der Einheiten Text und Bild, sondern geht grundsätzlich davon aus, dass Comics deutlich komplexer und mehrdimensionaler sind und deswegen noch viele weitere Elemente im Hinblick auf ihre semiotische Ausdruckskraft untersucht werden sollten. Victor Fei Lim (2007) unterstreicht deswegen auch die Notwendigkeit eines integrativen Ansatzes zur Beschreibung aller semiotischen Elemente im Comic. Eine weitere theoretische Auseinandersetzung liegt in Bateman und Wildfeuer (2014) vor. Erste analytische Ansätze in diese Richtung unternahmen zum Beispiel Marcus Müller (2012), der sich visuelle Elemente wie Körperhaltungen und Gesichtsausdrücke von Comicfiguren als Indizien für stereotypische soziale Interaktion anschaut, und Charles Forceville (2010, 2011), der bestimmte Formen von Sprechblasen und bildhaften Runen sowie den Gebrauch von multimodalen Metaphern untersucht. Diese Arbeiten konzentrieren sich damit auf kleine semiotische Elemente und ihre Funktion für die Bedeutungskonstruktion im Comic. Sie deuten auf das enorme Potenzial hin, das multimodale Analysen mit sich bringen und für das im Folgenden ein systematischer Zugang erarbeitet wird. Für diesen Zugang werden zunächst die Identifikation und genauere Analyse der bedeutungskonstruierenden Elemente im Comic im Vordergrund stehen. Dazu noch eine Vorbemerkung: Da viele grundlegende Arbeiten zur Multimodalität und zur multimodalen Analyse in englischer Sprache erschienen sind und das Thema in Deutschland erst seit relativ kurzer Zeit verstärkte Aufmerksamkeit erfährt, wird im Folgenden immer wieder auch auf die englischen Begriffe zurückzukommen sein, für die es deutsche Entsprechungen zu finden gilt.

3.1.1 | Zeichenmodalitäten im Comic: Material, Form und Bedeutungskonstruktion Ein zentraler Begriff innerhalb der Multimodalitätsforschung ist der der ›(Zeichen-) Modalität‹, der im englischsprachigen Kontext dem Ausdruck semiotic mode entspricht. Mit ihm werden Einheiten in einem kommunikativen Artefakt bezeichnet, die innerhalb eines bestimmten Kontextes und in spezifischer Kombination mit anderen Zeichenmodalitäten eine Bedeutung tragen bzw. zu der Bedeutung des kommunikativen Artefaktes, die von den Rezipierenden erschlossen werden muss, beitragen. Tatsächlich gibt es eine Menge unterschiedlicher Definitionen für diesen Begriff, die zum Teil grundlegend voneinander abweichen. Einen Überblick über die unterschiedlichen Verwendungsweisen geben Klug und Stöckl (2015). Es herrscht Uneinigkeit und oft auch Verwirrung darüber, was unter einem mode bzw. einer ›Modalität‹ zu verstehen ist, zumal neben Zeichenmodalitäten für die Rezeption von

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3.1

Die multimodale Analyse von Comics

Bedeutung immer auch das Konzept der Sinnes- oder Wahrnehmungsmodalität eine Rolle spielt, die beiden Begriffe aber keinesfalls gleichzusetzen sind. In der deutschsprachigen Multimodalitätsforschung wird außerdem neben ›Modalität‹ auch der Begriff ›Modus‹ verwendet. Problematisch dabei ist, dass beide Ausdrücke in ihrer Bedeutung bereits vorgeprägt sind, vor allem in der Disziplin der Sprachwissenschaft: ›Modalität‹ bezeichnet dort eine semantische Eigenschaft eines Satzes, die beschreibt, welche Einstellung der_die Sprecher_in des Satzes zum jeweiligen Inhalt vertritt. Mit dem ›Modus‹ eines Verbs im Satz kann genau diese Eigenschaft ausgedrückt werden (zum Beispiel im Indikativ oder Konjunktiv). Im Rahmen dieses Kapitels wird die Rede von ›Zeichenmodalität(en)‹ sein. Mit dem Ziel, diesen Begriff auch im Rahmen konkreter Analysen verwenden zu können und nicht nur eine theoretisch-abstrakte Definition für ihn zu bieten, soll er im Folgenden genauer beleuchtet und klar von anderen Begriffen abgegrenzt werden. Dafür sollen Kriterien zu seiner Bestimmung angeführt werden, die es möglich machen, von Zeichenmodalitäten als Einheiten zu sprechen, die in der praktischen Analyse identifiziert werden können. Viele Definitionsansätze sind sich darin einig, dass eine Zeichenmodalität immer ein Ergebnis eines Prozesses der Bedeutungszuschreibung innerhalb einer bestimmten Nutzer_innengemeinschaft ist. Gunther Kress und Kollegen (2000) zum Beispiel betonen, dass sich Bilder generell aufgrund ihrer materiellen und strukturellen Eigenschaften sowie anhand ihres Gebrauchs und Einsatzes in der Kommunikation als eigenständige Zeichenmodalität beschreiben lassen. Allerdings umfassen Bilder zum Beispiel auch so unterschiedliche Formate wie Photographien und Gemälde, die nicht nur unterschiedliche materielle Eigenschaften besitzen, sondern für die Expert_innen, also zum Beispiel professionelle Photograph_innen und Künstler_innen, auch jeweils eigene Gestaltungs- und Gebrauchsregeln aufweisen können. Dies wiederum gibt Anlass dazu, sie jeweils als Zeichenmodalitäten eigener Art zu betrachten. Photographien und Gemälde werden in bestimmter Weise auch in Comics eingesetzt, als Teil der erzählten Geschichte oder um die erzählte Welt (Storyworld) oder einen Sachverhalt in dieser Welt darzustellen (vgl. Schmitz-Emans 2012; Pedri 2015; siehe auch Kap. 4). Dann haben diese Elemente eine andere Materialität und Form, weil Photographien beispielsweise nicht mehr in einem typischen Papierformat wie z. B. 13 × 18 cm, sondern innerhalb eines anders dimensionierten Panels reproduziert werden. Zugleich eröffnen sie aber ein Bedeutungspotenzial, das möglicherweise dem der Photographie außerhalb eines Comics sehr ähnelt. Es stellt sich dann zum Beispiel die Frage, ob Photographien in Comics in dieser Erscheinungsform eine andere Zeichenmodalität darstellen als Photographien ohne Einbindung in einen Comic. Für die Beantwortung dieser Frage muss man sich die Ebenen der Beschreibung einer Zeichenmodalität, die hier schon ansatzweise Erwähnung finden, genauer anschauen. In der obigen kurzen Diskussion der Beispiele Photographien und Gemälde war bereits die Rede von materiellen und strukturellen Eigenschaften sowie von Gestaltungs- und Gebrauchsregeln, die es möglich machen, die entsprechenden Artefakte zu verstehen und zu analysieren. Genau diese Eigenschaften und Regeln sind es, die eine Zeichenmodalität näher bestimmen, so dass sie sich auch als Kriterien zur Definition heranziehen lassen. Dabei wird zum einen zwischen Materialität und Struktur bzw. Form unterschieden, zum anderen wird festgelegt, dass die Gestaltungs- und Gebrauchsregeln mehr darüber verraten, in welchem Kontext und

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unter welchen Bedingungen sich welche Bedeutung aus den Artefakten konstruieren lassen. Dies führt dann zu folgender Definition von Zeichenmodalität: Eine Zeichenmodalität besteht (1) aus einer Ebene der Materialität, (2) aus einer Ebene der Form und Struktur dieser Materialität und (3) aus einer Ebene der Bedeutungskonstruktion auf Grundlage dieser Form und Struktur im Kontext. Alle drei Ebenen beeinflussen sich wechselseitig und können nicht getrennt voneinander betrachtet werden.

Diese Definition ist eine allgemeine, disziplinunabhängige Bestimmung der Zeichenmodalität und weniger linguistisch geprägt als diejenige, die zum Beispiel in Bateman (2016) und Wildfeuer/Bateman (2018) diskutiert wird. Zugleich ermöglicht sie aber die direkte Überprüfung und Analyse der jeweiligen Ebenen, was in anderen Definitionen nicht gegeben ist und diese daher eher abstrakt bleiben lässt (vgl. zum Beispiel Kress 2010 und den Überblick in Bateman et al. 2017, S. 18). Mit der obigen Definition ist es möglich, semiotische Elemente innerhalb eines kommunikativen Artefaktes im Hinblick auf ihre Funktion für die Bedeutungskonstruktion genau zu untersuchen und zu hinterfragen, ob sie in ihrer spezifischen Materialität und Form bzw. Struktur Teil einer Zeichenmodalität sind oder eine eigenständige Zeichenmodalität darstellen. Beispielsweise ließe sich im Sinne der oben gestellten Frage überprüfen, inwiefern sich die jeweilige Bedeutungskonstruktion auf Grundlage einer Photographie ändert, wenn zum Beispiel ihre Materialität oder Form bzw. ihre Struktur durch ihre Einbindung innerhalb eines Comics beeinflusst ist. Im Folgenden wird es aber weniger um Photographien, sondern mehr um comicspezifische Elemente gehen, deren Funktionen als Zeichenmodalität analysiert werden sollen. Zur besseren Veranschaulichung der abstrakten Definition folgt zunächst ein Beispiel, mit dem sich die jeweiligen Beschreibungsebenen genauer erläutern lassen. Abbildung 3.1 zeigt vier Panels aus Scott McClouds berühmten Understanding Comics (1994), in denen der Autor sich selbst mit einer Pfeife zeigt, die von Wellenlinien begleitet wird, die hier Rauch darstellen sollen: »This is the artist’s cartoony way of telling you there’s smoke coming from the pipe« (McCloud 1994, S. 128). Wenn man McClouds Comic in gedruckter Form vor sich hat, hat man es dabei mit gedruckten schwarzen Tintenlinien auf weißem Papier zu tun, die zuvor höchstwahrscheinlich von McCloud per Hand gezeichnet und entsprechend im Druck re-

Abb. 3.1: Panelreihe aus McClouds Understanding Comics (McCloud 1994, S. 128).

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produziert worden sind. Die Panels liefern also Material, von dem aus sich über die Ebenen der Zeichenmodalität und damit auch über ihre Bedeutung nachdenken lässt. Mit Blick auf die erste Ebene, die Ebene der Materialität, lässt sich festhalten, dass das Material in diesem Beispiel aus der Aktivität des Malens mit einem Stift auf Papier und der darauf erfolgten Reproduktion entstanden ist. Grundsätzlich kann das Material einer Zeichenmodalität verschiedenste Formen und Eigenschaften haben. Es kann ebenso gut auch Produkt eines technischen Prozesses in einem Bildbearbeitungsprogramm sein. Durch diese Eigenschaften ist das Material durch die jeweiligen Nutzer_innen kontrollierbar und wurde so in einer zielgerichteten und zweckmäßigen (und nicht zufälligen) Artikulation hervorgebracht. Das bedeutet, dass eine Zeichenmodalität nur dann vorliegt, wenn ihr entsprechendes Material mit einer spezifischen Motivation und einem kommunikativen Ziel eingesetzt wird. Ein Stein, der aus dem Meer an den Strand gespült wurde, ist somit zwar ein Zeichen verschiedener Vorgänge, die ihn dorthin gebracht haben (siehe Kap. 2), aber noch kein semiotisches Element innerhalb einer Zeichenmodalität, weil er nicht zielgerichtet und zweckmäßig an diese Stelle am Strand gelegt wurde, um etwas zu kommunizieren (vgl. dazu die Ausführungen in Bateman et al. 2017, S. 77– 100). Für Comics nimmt man dagegen an, dass alle Elemente der Gestaltung zielgerichtet und zweckmäßig zur Kommunikation einer Geschichte oder eines Sachverhalts eingesetzt werden. Die von McCloud gezeichneten Linien sind zum Beispiel zum Zweck der Darstellung und mit dem Ziel der Verdeutlichung von Rauch entstanden – und geübte Comicleser_innen sind in der Lage, dies zu erkennen, ohne dass McCloud in seiner Sprechblase explizit darauf aufmerksam machte. Ausschlaggebend für diese Interpretation ist, dass das Material der gedruckten schwarzen Linien spezifischer als ›Wellenlinien‹ beschrieben werden muss, weil es sich durch seine wellenförmige Gestaltung ja deutlich von anderen schwarzen Linien in den Panels unterscheidet. Diese Beschreibung befindet sich bereits auf der zweiten Ebene, der Ebene der Form und Struktur, die es erlaubt, noch präzisere Aussagen zur Gestaltung dieses Materials zu machen. Man kann zum Beispiel feststellen, dass McCloud eine bestimmte Art der Wellenlinie einsetzt, die er vermutlich aus einem ziemlich großen Repertoire an Linien ausgewählt hat. Oben wurde bereits die Arbeit von Forceville (2011) erwähnt, die ein solches Repertoire an Linien und bildhaften Runen für andere Comics genauer beschreibt und damit deutlich macht, dass solche Formen innerhalb von Comics und auch innerhalb einer Nutzer_ innengemeinschaft immer wieder auftauchen und damit systematisch zur Bedeutungskonstruktion eingesetzt werden (vgl. auch Cohn 2013). Man spricht bei einem solchen Repertoire auch von einem ›Paradigma‹ an Optionen, von denen eine in einer spezifischen Kommunikationsäußerung ausgewählt und mit anderen Elementen (›syntagmatisch‹) kombiniert wird (hier zeigt sich eine Nähe zur linguistischen Ebene der Syntax, also der Kombination von Elementen in einem Satz). Auch die Frage nach dieser Kombination mit anderen Elementen gehört zur Ebene der Form und Struktur und erlaubt eine genauere Beschreibung, in welchem Zusammenhang spezifische Formen des Materials verwendet werden. Wenn zum Beispiel nach anderen Linienformen in seinem Comic gesucht wird, finden sich – ganz bewusst von McCloud so eingesetzt – bereits nur wenige Panel später (siehe Abb. 3.2) sehr ähnliche Wellenlinien. Sie stehen jetzt nicht mehr in der Nähe der Pfeife, sondern sind neben einer umgekippten Mülltonne abgebildet, deren Inhalt auf dem Boden verteilt liegt. In dieser Form und in diesem Zusammen-

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Abb. 3.2: Zwei weitere Panelreihen aus McClouds Understanding Comics (McCloud 1994, S. 128).

hang symbolisieren sie nicht mehr Rauch, sondern das sonst unsichtbare Phänomen von schlechtem Geruch oder Gestank, der von dem Müll ausgeht. Trotz der visuellen Ähnlichkeit der beiden Linienformen und der gleichen Materialität sind die strukturellen Eigenschaften dieser semiotischen Elemente im Kontext also verschieden. In der Kombination mit den anderen Elementen, der Pfeife und dem Müll, tragen sie dementsprechend eine andere Bedeutung. Dies veranlasst auch McCloud dazu, von »two very different sets of lines« (McCloud 1994, S. 128) zu sprechen. Im Rahmen der Multimodalitätsforschung werden das Material und damit Elemente wie Linien oder Farben dabei oft als ›semiotische Ressourcen‹ (semiotic resource) bezeichnet. Der Begriff entstammt dem Forschungsbereich der Soziosemiotik, der von Michael A. K. Halliday in den 1970er Jahren als eine auf die sozialen Dimensionen von Bedeutung zielende Forschungsrichtung innerhalb der Semiotik begründet wurde. Halliday zufolge ist Sprache eine »resource for making meaning« (Halliday 1978, S. 192), also eine Ressource zur Konstruktion von Bedeutung. Diese Definition ist in einer multimodalen Analyse grundsätzlich auf alle Elemente zu übertragen, die im Rahmen einer Kommunikation eine Rolle spielen können, also auf Bilder, Farben, Körperhaltung, Musik u. v. m.

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Theo van Leeuwen betont in diesem Zusammenhang, dass Ressourcen im Rahmen traditioneller Semiotik als ›Zeichen‹ bestimmt wurden und zum Teil auch noch werden. Der Gebrauch von ›Ressource‹ jedoch berücksichtige, so van Leeuwen, dass semiotische Elemente keine vorgegebene Bedeutung haben, wie dies oft für Zeichen angenommen wird, sondern dass sie stattdessen über ein Bedeutungspotenzial verfügen, das je nach Gebrauch und Kontext unterschiedlich realisiert bzw. interpretiert werden kann (vgl. van Leeuwen 2005, S. 3–5; siehe dazu auch Kap. 2). Tatsächlich werden die Ausdrücke ›semiotische Ressource‹ und ›Zeichenmodalität‹ (bzw. semiotic resource und semiotic mode) oft synonym verwendet, was allerdings nicht der hier vorgenommenen Definition von Zeichenmodalität entspricht. Innerhalb der hier vorgeschlagenen Definition ist vielmehr jede Form von Material, das zur Kommunikation zielgerichtet eingesetzt wurde, eine semiotische Ressource, jedoch noch nicht unbedingt eine Zeichenmodalität, da zur Bestimmung dieser auch die anderen Beschreibungsebenen notwendig sind. An McClouds Beispiel wird sichtbar, dass das Bedeutungspotenzial der beiden unterschiedlichen Linienformen aufgrund ihrer strukturellen Andersartigkeit auch jeweils anders aktualisiert wird, nämlich abhängig von ihrer Kombination mit den anderen Elementen und dem sie umgebenden Kontext. Hier kommt nun die dritte Ebene, die Ebene der Bedeutungskonstruktion auf Grundlage von Form und Struktur im Kontext ins Spiel, die insbesondere nach den für die Comicrezeption relevanten Gestaltungs- und Gebrauchsregeln fragt. Während die zweite Ebene, die Ebene der Form und Struktur, zunächst nur die Kombination der Elemente in einem größeren Zusammenhang beschreibt, spielt für die dritte Ebene der gesamte Kontext eine Rolle, also auch jener situations- und rezeptionsabhängige Zusammenhang, der Welt- und Genrewissen der Rezipierenden (siehe dazu auch Kap. 5), Wissen über logische Zusammenhänge in Texten und Artefakten und nicht zuletzt auch Wissen über die im Comic erzählte Geschichte berücksichtigt. Im konkreten Fall von McClouds Darstellung einer Pfeife in Understanding Comics kann man zum Beispiel erkennen, dass beide Linienarten die Funktion erfüllen, genauere Informationen bzw. Ergänzungen zum Rest der bildlichen Darstellung zu liefern, die Bedeutung also um spezifische Details zu erweitern. Ohne diese Linien wäre die Abbildung der Pfeife zwar weiterhin die Darstellung einer Pfeife. Sie würde aber zum Beispiel nicht deutlich machen, dass die Pfeife auch angezündet wurde und deswegen Rauch entstehen lässt. Sowohl in der ersten als auch in der zweiten Abbildung werden diese Linien eingesetzt, um die Bedeutung des gegenständlichen Bildes zu erweitern. Auch in den weiteren Beispielen, die McCloud einige Panels später anführt (ein weiteres Mal Linien über einem Mülleimer; Linien von einem Mantel ausgehend, den eine Figur trägt; Linien über einem Hund), lassen sich diese Funktionen erkennen. In Forcevilles Arbeit (2011; siehe oben) sind es solche und ähnliche Linien in einer Ausgabe des Comics Tim und Struppi, für die der Autor eine Typologie sowie entsprechende Regeln für ihre Anwendung beschreiben kann. Dass visuelle oder auch sprachliche Bestandteile eines Artefaktes einzelne andere Elemente mit Informationen bereichern und sie erweitern können, weil sie in räumlicher Nähe zueinander gezeichnet sind, ist ein Wissen, das Leser_innen in die Rezeption des Comics miteinbringen und das sich als Gestaltungs- und Gebrauchsregeln formieren lässt. Diese Regeln sind nicht beliebig, sondern lassen sich systematisch in Form eines überschaubaren Inventars festlegen, das in den meisten Fällen Regeln entspricht, die man für sprachliche Texte kennt. Wichtig ist hierbei,

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zwischen Regeln für ganze Texte, Artefakte oder auch Diskurse und solchen für kleinere Einheiten wie Wörter oder Sätze zu unterscheiden. Denn Letztere sind nur sehr begrenzt übertragbar, wie oben bereits festgestellt wurde. Die multimodale Analyse bedient sich sehr häufig Beschreibungsinstrumentarien aus der Sprachund auch Literaturwissenschaft, die die Bedeutung und Struktur oder den Zusammenhang von Äußerungen in sprachlichen Texten und Diskursen herausarbeiten, um zum Beispiel sprachliche und bildliche Artefakte oder Kombinationen aus beiden zu vergleichen. Dabei zeigt sich, dass sprachliche und bildliche Kommunikation auf der textuellen Ebene sehr ähnlich funktionieren (vgl. z. B. zur Textualität von Comics Krafft 1978; zur Textualität von Film Wildfeuer 2013; siehe auch Kap. 3.1.2). Sowohl die unterschiedlichen Wissens- und Informationsquellen als auch die Gestaltungs- und Gebrauchsregeln, die für und während der Rezeption eine Rolle spielen, lassen sich unter dem Begriff ›Kontext‹ zusammenfassen. Wie das Beispiel der Wellenlinien gezeigt hat, ist es also möglich, einen systematischen Gebrauch dieser semiotischen Elemente im Comic mit Blick auf ihr Material, ihre Struktur und ihre Form festzuhalten sowie ihre Funktion(en) für die Bedeutungskonstruktion im Kontext näher zu bestimmen. Dies legt fest, wie oben definiert, ob ein bestimmtes semiotisches Material eine eigenständige Zeichenmodalität ist oder nicht: Durch die Analyse der drei oben beschriebenen Ebenen lässt sich überprüfen, welche semiotischen Ressourcen in welcher Art und Weise als Zeichenmodalitäten agieren. Die Wellenlinien aus McClouds Beispiel gehören demnach insofern zu einer Zeichenmodalität, als dass sie in einer spezifischen Form und Struktur zielgerichtet artikuliert wurden und durch den so entstehenden spezifischen Kontext es den Rezipierenden unter Rücksichtnahme auf die in diesem Kontext geltenden spezifischen Gebrauchsregeln ermöglichen, eine Bedeutung zu konstruieren. Wie oben ebenfalls bereits ausgeführt wurde, lässt sich der so verstandene Begriff der ›Zeichenmodalität‹ in der Comicanalyse in verschiedener Weise anwenden. Dabei ließe sich etwa eine deutlich größere Anzahl an Beispielen für Wellenlinien in unterschiedlichen Comics untersuchen und mit den Ergebnissen der eingangs präsentierten Analyse sowie zum Beispiel auch mit den Überlegungen Forcevilles vergleichen. So wäre eine genauere Vorstellung davon zu entwickeln, wie Zeichenmodalitäten in unterschiedlichen Kontexten, Genres und auch Zeitabschnitten verwendet werden und wurden und welche Gebrauchsregeln dabei eine Rolle spielen können. Dabei ist freilich auch wichtig, wie Zeichenmodalitäten in einem multimodalen Artefakt grundsätzlich funktionieren, wie sie also mit anderen Zeichenmodalitäten zusammenwirken. Denn in der multimodalen Analyse geht es genau nicht darum, lediglich die einzelnen Modalitäten voneinander zu separieren und für sich zu beschreiben, sondern ihre Kombinationen systematisch zu erfassen und dabei herauszufinden, wie Rezipierende daraus Bedeutung konstruieren können.

3.1.2 | Das Zusammenspiel von Zeichenmodalitäten im Comic: Intersemiose Neben der Definition von Zeichenmodalitäten und ihrer Analyse in konkreten Beispielen ist ein weiteres wichtiges Ziel multimodaler Analyse die genaue Erfassung des Zusammenspiels unterschiedlicher Ressourcen und Modalitäten in multimodalen Umgebungen. Folglich geht es in der multimodalen Comicanalyse nicht allein

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darum, die comicspezifischen Zeichenmodalitäten zu erfassen und einzeln zu beschreiben, sondern diese auch in ihren typischen Kombinationen und mit Blick auf ihre Gebrauchsregeln näher zu bestimmen. Die Rede ist dann von der sogenannten Intersemiose der semiotischen Elemente, d. h. ihrem wechselseitigen Zusammenspiel in Kombination miteinander. Der Begriff der ›Intersemiose‹ geht zurück auf das Konzept der Semiose nach Charles Sanders Peirce, der jede Interpretation von Zeichen (oder allgemeiner: semiotischen Elementen) als dynamischen Interpretationsprozess ansieht, in dem nicht nur das Zeichen (das semiotische Element selbst), sondern immer auch die Interpretation eine Rolle spielt, durch welche demselben Zeichen von zwei unterschiedlichen Rezipierenden verschiedene bezeichnete Objekte zugeschrieben werden können (vgl. Peirce 1998; siehe auch Kap. 2). ›Intersemiose‹ bezeichnet dann sowohl die spezifische Kombination von mehreren semiotischen Elementen und die gegenseitigen Wechselwirkungen, die durch ihre Kombination entstehen, als auch den Prozess der aktiven Bedeutungskonstruktion aus den einzelnen Elementen durch die Rezipierenden. In dem oben diskutierten McCloud-Beispiel ist deutlich geworden, dass die unterschiedlichen Wellenlinien jeweils nur in der Kombination mit anderen semiotischen Elementen eine Bedeutung erhalten. Es wurde bereits kurz skizziert, inwiefern sich diese einzelnen Elemente gegenseitig beeinflussen bzw. welche Funktionen sie jeweils erfüllen und in welcher Relation sie dabei zueinander stehen. Im Fall der Linien ist dies eine Erweiterung der Bedeutung bzw. eine Spezifizierung durch zusätzliche Informationen, z. B. in Form von Rauch, der aus der Pfeife kommt und damit andeutet, dass die Pfeife auch angezündet wurde. Bei der Frage danach, welchen Beitrag die jeweiligen Modalitäten zur Bedeutungskonstruktion leisten und wie diese einzelnen Beiträge miteinander integrieren, besteht allerdings immer das Problem, dass die einzelnen Elemente nicht einfach additiv miteinander verbunden sind. Stattdessen ist grundsätzlich anzunehmen, dass die Elemente in ihrer Kombination mehr ergeben als die Summe ihrer Teile, es also zu einer Bedeutungsmultiplikation (multiplying meaning) kommt, wie Jay Lemke (1998) es beschreibt. Dies konnte man auch anhand des Beispiels sehen: Die zu dem Müllhaufen hinzugefügte Wellenlinie konstruiert nicht einfach eine zusätzliche Bedeutung, sondern präzisiert den dargestellten Sachverhalt genauer bzw. fügt dem Dargestellten sogar etwas hinzu, was eigentlich gar nicht sichtbar ist. Wie verhält es sich also mit der Multiplikation dieser Informationen? Zwar hat man es in diesem Beispiel beide Male mit graphischen Darstellungen zu tun, aber doch auch mit je unterschiedlichen Modalitäten, die auch verschiedene Bedeutungen tragen, je nachdem in welcher Kombination sie vorgefunden werden. Bei der Abbildung von Wellenlinien einerseits und der Pfeife andererseits verhält es sich dann wie mit Äpfeln und Birnen – diese lassen sich nicht einmal rechnerisch wirklich miteinander multiplizieren: 4 Äpfel multipliziert mit 4 Birnen ergeben vielleicht eine Menge Obst, aber anderweitig ist diese Rechnung nicht zu lösen. Welcher Sinn lässt sich also daraus konstruieren? Vielmehr beruht diese Zuschreibung auf einem wichtigen Aspekt in der Analyse multimodaler Artefakte, der sich auf die Rolle der Rezipierenden im Prozess der Bedeutungskonstruktion bezieht. Erst durch logische Schlussfolgerungen darüber, dass die Wellenlinien in der Nähe der Abbildung einer Pfeife Rauch signalisieren können und mit Rückgriff auf das Weltwissen, dass Rauch normalerweise aus einer Pfeife kommt, wenn sie angezündet wurde, entsteht die Bedeutung der ›rauchenden Pfeife‹, von der McCloud auch in der Sprechblase im Panel spricht. Diese für die

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Bedeutungskonstruktion notwendigen Details sind aber weder Teil der bildlichen Darstellung, sie sind also gar nicht explizit im multimodalen Artefakt ›genannt‹, noch sind sie feste Regeln, die man wie jene einer sprachlichen Grammatik allgemeingültig festhalten könnte, sondern sie müssen von den Rezipierenden inferenziell, d. h. hypothesenbildend, erschlossen werden (zu weiteren hier relevanten Inferenzprozessen siehe auch Kap. 4). Diese Form der inferenziellen Bedeutungskonstruktion spielt in der Auseinandersetzung mit Medien, die nicht allein mit sprachlichen Informationen arbeiten, eine wichtige Rolle und wird immer öfter auch für das Verstehen von Comics explizit diskutiert (vgl. z. B. Yus 2008; Bateman/Wildfeuer 2014; Cohn/Wittenberg 2015; Wildfeuer 2019). Dabei wird angenommen, dass Rezipierende die Bedeutung in Comics aufgrund von Inferenzen (logischen Hypothesen bzw. Schlussfolgerungen) erschließen, die ihnen im Prozess der Bedeutungskonstruktion und auf Grundlage der Informationen, die durch das Material und seine Form bzw. Struktur vermittelt wurden, sowie mit Rückgriff auf generelles Weltwissen verfügbar sind. Die daraus erschließbare bestmögliche und plausibelste Bedeutungszuschreibung bleibt allerdings immer eine grundsätzlich anfechtbare Hypothese, die zugleich auf dem Wissen der Rezipierenden und ihrer Erfahrung im Lesen von Comics (oder anderen Medien) beruht, sich aber durch andere und neue Informationen, die im Comic später dazukommen, auch ändern kann. Auch dies wurde bereits oben skizziert: Im Falle der Wellenlinien bei McCloud ließe sich in Form einer ersten Hypothese folgern, dass mit diesen Linien Rauch (einer Pfeife) angezeigt wird. Nur wenige Panels später ist dann aber festzustellen, dass nicht jedes Vorkommen dieser Linien genau diese Bedeutung trägt, sondern damit ebenso Geruch bzw. Gestank angezeigt werden kann. Weil die Rezipierenden schlussfolgern, dass Müll in den meisten Fällen eher Geruch bzw. Gestank produziert und nicht Rauch, Ersteres also die in dem Moment plausiblere Bedeutungszuschreibung für dieses spezifische Vorkommnis der Linien sein dürfte, verändert sich die zuvor aufgestellte Hypothese aufgrund der neu hinzugekommenen Informationen: Wellenlinien können sowohl Rauch (etwas Sichtbares) als auch Geruch oder Gestank (etwas Unsichtbares) darstellen. Für eine systematische Analyse von Intersemiose bedeutet dies, dass nicht nur besonders darauf geachtet werden muss, welche Zeichenmodalitäten in welcher Kombination auftreten, sondern auch, welche Mechanismen der Bedeutungskonstruktion dabei wirken bzw. was und wie Rezipierende aus dieser Kombination schlussfolgern können. Um diese Schlussfolgerungsmöglichkeiten systematischer erfassen zu können, wird der Zusammenhang zwischen den einzelnen Elementen in der multimodalen Analyse häufig in Form von sogenannten Bedeutungsrelationen beschrieben, die von den Rezipierenden während der Interpretation des Artefaktes zwischen den Elementen gezogen werden. Diese Relationen werden entsprechend auch als intersemiotische oder intermodale Relationen bezeichnet (vgl. z. B. Iedema 2003) und für viele multimodale Artefakte sind inzwischen einige Inventare an solchen Relationen vorgestellt worden. Im Bereich der Comicforschung gibt es die bereits erwähnten Arbeiten zur Kombination von Text und Bild (siehe oben) sowie erste Auseinandersetzungen, die ähnlich dem folgenden Beispiel detaillierte Beschreibungen für das Zusammenwirken einzelner kleinerer semiotischer Elemente liefern (vgl. zum Beispiel Bateman/Wildfeuer 2014; Wildfeuer/Bateman 2014). Im Folgenden sollen nun einige Beispiele für solche Relationen im Comic betrachtet werden, die auf grundlegenden logischen Relationen beruhen, die Rezipie-

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3.1

Die multimodale Analyse von Comics

Relation

Beschreibung der bestehenden Verhältnisse zwischen den Elementen

Erweiterung

Spezifizierung eines Ereignisses/Zustandes/Objektes durch einen weiteren Umstand

Teil

Teil-Ganzes-Beziehung zwischen zwei Ereignissen/Zuständen/Objekten

Kontrast

Strukturelle Ähnlichkeit, aber semantische Unähnlichkeit zwischen zwei Ereignissen/Zuständen/Objekten

Parallele

Strukturelle und semantische Ähnlichkeit zwischen zwei Ereignissen/Zuständen/ Objekten

Narration

Zeitlich-örtliche Aufeinanderfolge und gemeinsames Thema zweier Ereignisse/ Zustände/Objekte

Tab. 3.1: Beispiele für intersemiotische Relationen in Comics.

rende für viele andere Zusammenhänge in Texten und Medien und in ihrem Alltag annehmen. Viele Diskussionen über diese Relationen beruhen auf Beschreibungen von Zusammenhängen zwischen Sätzen in einem sprachlichen Text, gehen also auf linguistische Analyseinstrumentarien zurück, die Kohärenzverhältnisse in sprachlichen Texten aufzuzeigen versuchen (vgl. für sprachliche Diskurse z. B. Asher/ Lascarides 2003; für Film van Leeuwen 1991; für Bild-Text-Kombinationen allgemein Liu/O’Halloran 2009, u. v. m.). Im Folgenden wird die Diskussion dieser Beispielrelationen aber so allgemein wie möglich gehalten und ohne Rückgriff auf linguistische Details geführt. Tabelle 3.1 listet beispielhaft fünf intersemiotische Relationen auf, die in unterschiedlichen Analysen für die Zusammenhänge zwischen semiotischen Elementen im Comic gefunden werden konnten (vgl. die Analysen und Relationen in Bateman/ Wildfeuer 2014; Wildfeuer/Bateman 2014). Die Beschreibungen auf der rechten Seite der Tabelle geben Informationen darüber, welche Bedingungen bzw. Verhältnisse jeweils zwischen den semiotischen Elementen gelten, damit diese Relationen inferiert (erschlossen) werden können. Für die Rekonstruktion der inferenziellen Schlussfolgerung durch die Rezipierenden bieten diese Beschreibungen nun die Möglichkeit, die Hypothesenbildung aufgrund der im Comic verfügbaren Informationen genauer nachzuvollziehen. Jede Relation macht dabei explizit, welche inferenziellen Schritte für den Prozess der Bedeutungskonstruktion notwendig sind. In dem McCloud-Panel ist es beispielsweise die Tatsache, dass das Objekt Pfeife durch den Umstand Rauch, der durch die Wellenlinien dargestellt wird, spezifiziert wird. Deswegen kann von den Rezipierenden eine Relation der Erweiterung zwischen den beiden Elementen inferiert werden. In der weiteren Rezeption des McCloud-Comics kann dann die Hypothese aufgestellt werden, dass das zweite Vorkommnis der Wellenlinien eine Parallele zum ersten Vorkommen darstellt, weil die beiden Linienformen prinzipiell durchaus sehr ähnlich sind. Die tatsächlich plausiblere Bedeutungskonstruktion entsteht allerdings aufgrund der Schlussfolgerung, dass diese Linien die Bedeutung des Müllhaufens erweitern, indem sie ihm einen Geruch bzw. Gestank zuweisen. Damit stellen sie gleichzeitig einen Kontrast zu den Linien im ersten Panel dar. Innerhalb dieser wenigen Panels lassen sich also bereits vier unterschiedliche intersemiotische Relationen beschreiben, die einerseits den Zusammenhang der semiotischen Elemente näher bestimmen, andererseits aber ebenso nachzeichnen können, dass sich Bedeutungszuschreibungen im Verlauf eines Comics und seiner dyna-

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mischen Rezeption ändern können. Mit Blick auf zusätzliche Details der Panels in Abbildung 3.1 und Abbildung 3.2 lassen sich einige weitere Zusammenhänge erschließen. So können auch Relationen ›oberhalb‹ der Panelebene, also in der Abfolge der einzelnen Panels identifiziert werden, die den Rezipierenden etwas über die räumlich-zeitliche Anordnung der Elemente auf der Seite und so über die narrative Struktur des Comics verraten (siehe dazu ausführlicher Kap. 4). Wenn McCloud davon spricht, dass er mit seiner Pfeife spazieren geht und zu einem Müllhaufen gelangt, lässt sich bereits eine zeitliche und örtliche Zustandsveränderung und damit eine basale narrative Struktur inferieren. Bildlich wird diese Zustandsveränderung tatsächlich nur minimal durch die kombinierte Darstellung von Pfeife und Müllhaufen in einem Panel angedeutet; zur Schlussfolgerung tragen vor allem die verbalen Informationen in den Sprechblasen bei, die zum Beispiel durch unterschiedliche Zeitformen der Verben eine entsprechende zeitliche Folge angeben. Je nach Fokus der Untersuchung lassen sich die in Tabelle 3.1 beschriebenen Relationen also zur Analyse der Zusammenhänge unterschiedlicher Einheiten im Comic nutzen. Die verschiedenen auf den vorangegangenen Seiten dargestellten Arbeiten aus der Comicforschung geben dafür genauere Hilfestellungen und in den meisten Fällen auch präzisere Beschreibungen der Relationen und der für sie notwendigerweise vorliegenden Bedingungen. Unabhängig von dem jeweiligen Schwerpunkt verfolgen alle Analysen mit dieser Beschreibung dann das, was oben bereits mehrfach ausgeführt wurde: Zeichenmodalitäten in einem multimodalen Artefakt wie dem Comic, die in Kombination mit anderen Zeichenmodalitäten vorkommen, müssen immer im Hinblick auf ihre gegenseitigen Wechselwirkungen analysiert werden und können nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Dabei müssen immer auch diejenigen Informationen in Betracht gezogen werden, die die Rezipierenden in die Bedeutungskonstruktion miteinbringen und inferenziell aus den Zeichenmodalitäten und ihrer Kombination erschließen. In Kapitel 3.2 soll diese wichtige Voraussetzung für jede Form von multimodaler Comicanalyse nun an einem ausführlicheren Beispiel noch genauer verdeutlicht werden.

3.2 | Zum Beispiel: Mawils Kinderland (2014) Im Folgenden sollen die oben vorgenommenen Begriffsbestimmungen auf konkrete Analysen einiger Beispielseiten aus dem Comic Kinderland (Mawil 2014) übertragen und damit auch ihre Anwendung demonstriert werden. Während McClouds Understanding Comics eine Art Metacomic ist, »a sort of comicbook about comics« (McCloud 1994, S. 1), das Definitionen und Analysemuster in narrativer Comicform an die Rezipierenden übermittelt, handelt es sich bei Mawils Kinderland um eine typische Comicerzählung ohne darüber hinausgehende, die Medialität des Comics explizit erklärende Funktion. Es behandelt auf knapp 300 Seiten Leben und Schulzeit des fiktiven Protagonisten Mirco Watzke in der DDR kurz vor dem Mauerfall 1989. Mirco spielt gerne Tischtennis, ist Jungpionier und Messdiener und hat mit den üblichen Problemen eines Jugendlichen in der Auseinandersetzung mit seinen Mitschüler_innen zu tun. Zur Gestaltung der narrativen Darstellung setzt der Autor unterschiedlichste semiotische Elemente wie zum Beispiel verschiedene Linien, lautmalerische Einhei-

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3.2

Zum Beispiel: Mawils Kinderland (2014)

Abb. 3.3: Einzelnes Panel aus Kinderland (Mawil 2014, S. 65).

ten, unterschiedliche Farben im Hintergrund der Panels u. v. m. ein. Das Seitenlayout als Anordnung der Panels auf der Seite ist sehr regelmäßig und die (in den meisten Fällen gleichmäßig gezeichneten und mit einem schwarzen Rand umgebenen) Panels sind oft in Form eines Gitternetzes bzw. einer Tabelle angeordnet. In einigen Fällen reichen kleinere Elemente wie Sprechblasen oder Lautmalereien über die Panelgrenzen hinweg. Vor diesem Hintergrund werden nun zunächst einige einzelne Panels und ihre semiotischen Elemente genauer betrachtet und deren Funktion als Zeichenmodalitäten in diesem Comic diskutiert. In einem weiteren Schritt wird dann eine Comicseite im Ganzen analysiert, wobei ein Fokus auf den intersemiotischen Relationen zwischen den Elementen liegen wird. Abbildung 3.3 zeigt ein einzelnes Panel aus dem ersten Drittel des Mawil-Comics, in dem der Protagonist Mirco beim Verlassen eines verfallenen Gebäudes eine auf dem Boden liegende Karte aus einem Kartenspiel aufhebt. Er wird dabei offensichtlich von einer anderen Figur beobachtet, deren Arm und Bein an der rechten Panelgrenze dargestellt sind. Das Panel entstammt einer Szene, in der Mirco mit zwei anderen Mitschülern in einem verfallenen Gebäude unterwegs ist und verschiedene Spielkarten mit interessanten Motiven entdeckt. Während Mircos Freunde aus dem Inneren des Gebäudes heraus Mitschüler außerhalb mit einer Steinschleuder angreifen, gelangt Mirco auf der Suche nach weiteren Karten nach draußen, wo ihn die attackierten Mitschüler zur Rede stellen. Auch in diesem Beispiel gibt es kleinere semiotische Elemente, die zur Bedeutungskonstruktion im Panel beitragen: Die Darstellung der Bewegungen Mircos wird zeichnerisch mithilfe von Linien neben seinem rechten Fuß, der sich noch in der Luft befindet, sowie mit kleinen wolkenartigen Formen um den linken Fuß herum unterstützt. In der Comicanalyse identifiziert man diese Elemente als ›Bewegungslinien‹, die im Englischen als motion lines (vgl. Cohn 2013; Cohn/Maher 2015) oder auch speed lines (vgl. Masuch et al. 1999) bezeichnet werden und die eine Lauf- oder Bewegungsbahn anzeigen (hier im Bild von links hinten nach rechts vorne bzw. aus dem Gebäude heraus). Cohn beschreibt unterschiedliche Typen solcher Bewegungslinien, deren Erscheinungsbild sich je nach Herkunft des Comics unterscheiden kann: In Europa sind es eher wenige, kurze Linien, in amerikanischen Comics dagegen größere und längere Linien, oft mit spezieller Farbgestaltung (vgl. Cohn 2013, S. 39). Auch im vorliegenden Fall sind die Bewegungslinien eher kurz, ihre Unterlegung aber ist farblich vom Rest des Panels abgesetzt.

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Multimodale Comicanalyse

Für die kleinen wolkenartigen Elemente gibt es in der Comicanalyse weniger eindeutige Begriffsbestimmungen: Cohn spricht bei ähnlichen Elementen, die dann aber meistens sternenförmig sind und häufig in Verbindung mit Bewegungslinien auftauchen, von »impact stars« (ebd., S. 41), die einen Effekt eines Objekts auf ein anderes Objekt darstellen. McCloud führt in seiner Auflistung unterschiedlicher Symbole, die mit der Zeit in das Comicvokabular eingegangen sind, eine ähnliche wolkenartige Darstellung auf, allerdings vom Mund einer Figur ausgehend (vgl. McCloud 1994, S. 129). Auch dort ist eine Art physikalischer Effekt, ausgehend vom Atem der Figur, gemeint. Eine nähere Begriffsbestimmung nimmt McCloud aber nicht vor. Im vorliegenden Fall begleiten die Elemente die Bewegung des Protagonisten, nämlich das Auftreten seines Fußes auf den Boden. Im Folgenden werden diese Elemente entsprechend als ›Effektwolken‹ bezeichnet. Die unterschiedlichen Beschreibungen dieser Elemente in der Literatur zur Comicanalyse machen bereits deutlich, dass es sich um häufig eingesetzte Einheiten handelt und daher Gestaltungs- und Gebrauchsregeln für sie aufgestellt werden können. Wie oben bereits festgehalten wurde, sind dies Indizien dafür, dass diese Elemente in ihrer semiotischen Funktion als Zeichenmodalitäten angesehen werden können, für die je nach Kontext ein entsprechendes Bedeutungspotenzial festgelegt werden kann. Dass damit in den meisten Fällen eine Bewegung oder eine kraftvolle physikalische Einwirkung ausgedrückt wird, ist bereits eine sehr allgemeine Festlegung, die in spezifischen Kontexten jeweils konkret spezifiziert werden muss. Für eine genauere Bestimmung dieser Elemente als Zeichenmodalitäten lässt sich zunächst festhalten, dass es sich um gezeichnete schwarze Linien (Ebene der Materialität) in einer jeweils spezifischen Form (Ebene der Form und Struktur) handelt: gerade und lang bzw. wolkenartig und im Hintergrund farblich vom Rest des Panels abgegrenzt. Es ist außerdem zu erkennen, dass beide Elemente sowohl individuell in Kombination mit der Darstellung des Protagonisten als auch in ihrem komplexen Zusammenspiel das gezeigte Ereignis genauer veranschaulichen bzw. die Bedeutung um spezifische Details erweitern (Ebene der Bedeutungskonstruktion auf Grundlage von Form und Struktur im Kontext). Im Fall der Bewegungslinien in Kombination mit dem sich dadurch tatsächlich noch ›in Bewegung‹ befindenden rechten Fuß ist dies die Dynamik der Bewegung, die durch die Linien zum Ausdruck kommt. Im Fall der Effektwolken in der Nähe des linken Fußes, dessen Bewegung bereits abgeschlossen ist, ist es das Ergebnis der Bewegung, der daraus resultierende und ebenfalls dynamische Tritt auf den Boden. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch danach fragen, ob Mawils Comic diese Elemente häufiger und in ähnlichen Kombinationen aufzuweisen hat, und dabei herausfinden, ob der Prozess der Bedeutungskonstruktion in diesen Kombinationen ebenfalls ähnlich oder gleich ist. Abbildung 3.4 zeigt zwei weitere Panels aus dem ersten Drittel des Comics, in dem beide Elemente erneut und in gleicher Funktion eingesetzt werden. Auch in diesem Fall zeigen die Bewegungslinien in der Nähe der Füße die Bewegung des Protagonisten an, der in dieser Szene zu lauter Musik durch die Wohnung tanzt und dabei auf den Boden und diverse Möbelstücke springt. Im linken Panel ist sogar ein weiteres Beispiel von Bewegungslinien zu erkennen, die allerdings nicht dem Protagonisten, sondern der nicht in diesem, aber im vorhergehenden Panel gezeigten Figur der Schwester, die vor Mirco flüchtet, inferenziell zugeordnet werden können (siehe auch Kap. 3.1.2). Die Linien deuten in allen Fällen die Bewegung als bereits erfolgte und nicht als zukünftig noch zu erfolgende Aktivität an.

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3.2

Mawils Kinderland Kinderland (2014) Zum Zum Beispiel: Beispiel: Mawils

Abb. 3.4: Zwei aufeinander folgende Panels aus Kinderland (Mawil 2014, S. 92).

In seiner visuellen Grammatik hält Cohn dazu fest: »[I]t is ungrammatical to have a motion line that precedes the moving object to show what path it will be traversing (just like footprints can only show where someone did walk, not where they will walk)« (Cohn 2013, S. 39). Es ist nicht Ziel dieses Kapitels, über die ›Grammatikalität‹ oder ›Ungrammatikalität‹ von visuellen Einheiten zu diskutieren, auch wenn sich dies als lohnenswertes Unternehmen verstehen lässt (vgl. dazu zum Beispiel Bateman/Wildfeuer 2014; Cohn 2018). Allerdings bleibt festzuhalten, dass es durchaus denkbar ist, dass andere Kombinationen von Bewegungslinien genau eine solche Interpretation zukünftiger oder in einem nächsten Panel erfolgender Bewegungen ermöglichen – bildlichen Darstellungen und ihren Verwendungsmöglichkeiten sind doch nahezu keine Grenzen gesetzt! In dem vorliegenden Fall ist es tatsächlich plausibler, die Linien der nicht mehr im Bild zu sehenden Figur der Schwester, die vorher bereits als ängstlich dargestellt wurde, zuzuordnen. Auch die zweite Sprechblase, deren Dorn aus dem Panel herausweist, unterstützt diese Bedeutungszuschreibung. Damit kann auch die Effektwolke rechts neben bzw. vor den Füßen, die zwar der Figur des Protagonisten im Bild sehr nahe, jedoch in direkter Verbindung mit den Bewegungslinien der Schwester gezeichnet ist, als Resultat der Flucht der Schwester verstanden werden. Diese Überlegungen sind also bereits Teil der Rekonstruktion von Bedeutungspotenzialen intersemiotischer Relationen, auf die im Folgenden noch näher einzugehen sein wird. Zuvor ist jedoch noch ein weiteres Panel zu betrachten, in dem die Effektwolken erneut Anwendung finden, diesmal aber ohne Kombination mit Bewegungslinien. Abbildung 3.5 zeigt ein einzelnes Panel aus dem zweiten Drittel des Comics, in dem eine weitere wichtige Figur der Geschichte, Tors- Abb. 3.5: Einzelnes Panel aus Kinderland ten, auf den Angriff einiger Mitschüler rea- (Mawil 2014, S. 111).

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3

Multimodale Comicanalyse

giert und über die Bank springt, auf der er zuvor gesessen hat. In diesem Panel werden zwei Effektwolken, die denen in den ersten beiden Panels stark ähneln, neben dem Kopf der Figur eingesetzt. Auch in diesem Panel ist durch die Darstellung der Figur ›im Sprung‹ über die Bank eine gewisse Dynamik angelegt, ohne dass aber Bewegungslinien zum Einsatz kommen. Die Bestimmung der Bedeutung der Effektwolken ist dagegen nicht so eindeutig wie in den bisherigen Fällen, da von ihnen kein direkter Effekt der Bewegung erschlossen werden kann. Stattdessen legt die Nähe der Effektwolken zum Kopf der Figur eher eine Ausrichtung der Bedeutungskonstruktion auf ihren mentalen Zustand nahe, also zum Beispiel den Ausdruck von Wut oder Ärger. Eine solche Bedeutungskonstruktion wird umso plausibler, wenn Rezipierende als erfahrene Comicleser_innen an ähnliche Elemente in der Nähe von Köpfen denken, die als »emotional state markers« (Bateman et al. 2017, S. 302) oder »upfixes [...] to depict emotional or cognitive states« (Cohn 2013, S. 42) verstanden werden können. Auch eine Nähe zu dem metaphorischen Ausdruck ›Dampf ablassen‹ ist hier recht offenkundig gegeben. Noch stärker wird diese Bedeutungskonstruktion von dem Kontext unterstützt, in den das Panel eingebunden ist, und in dem zuvor der Angriff der Mitschüler_innen auf die Figur und daran anschließend weitere wütende Reaktionen der Figur vorkommen. Auch diese Überlegungen sind also zentraler Bestandteil einer Analyse der Intersemiose der unterschiedlichen Einheiten, auf die im Folgenden noch ausführlicher zurückzukommen sein wird. Bereits jetzt lässt sich aber festhalten, dass auch der in Abbildung 3.5 gezeigte Einsatz der Effektwolken eine Spezifizierung der Bedeutung im Panel vornimmt und den mentalen Zustand der Figur unterstützt, der ohne diese Effektwolken nur minimal durch den Gesichtsausdruck der Figur angedeutet werden würde. Auch weitere Vorkommnisse solcher und ähnlicher Effektwolken und Bewegungslinien im Mawil-Comic, die hier aber nicht weiter diskutiert werden können, dienen einer Spezifizierung der jeweiligen Bedeutungen. So lässt sich ein systematischer Gebrauch dieser Elemente in Kinderland erkennen. Entsprechend lässt sich festhalten, dass sowohl die Bewegungslinien als auch die Effektwolken in Mawils Comic insofern Zeichenmodalitäten sind, als dass sie in ihrer spezifischen Form und Struktur zielgerichtet artikuliert werden und durch den um sie herum entstehenden spezifischen Kontext und mit Bezug auf die in diesem Kontext geltenden spezifischen Gebrauchsregeln ihre Bedeutung konstruieren. In einer stärker empirisch und auf größere Datenmengen (z. B. mit ähnlichen Comics oder Comicseiten) ausgerichteten Analyse könnte diese Erkenntnis auf andere semiotische Elemente übertragen werden, da die vorgenommenen Bestimmungen auf den unterschiedlichen Definitionsebenen für eine Zeichenmodalität zum Beispiel auch für den Gebrauch von Sprechblasen oder den Einsatz von bestimmten Farben angewandt werden könnten. Ein umfassender Blick auf Kinderland macht unter anderem deutlich, dass verschiedenen Formen von Sprechblasen (rund, gezackt oder gestrichelt) verschiedene, aber systematisch eingesetzte Funktionen (Aussage, erhöhte Lautstärke der Aussage, Flüstern) zugewiesen werden können. Außerdem wechselt etwa die Farbe im Hintergrund der Panels, sobald es zu einem Szenenwechsel kommt, so dass die unterschiedlichen Szenen und Orte im Comic anhand der Hintergrundfarbe identifiziert werden können. Abbildung 3.6 zeigt Seite 169 in Mawils Kinderland, auf der sechs Panels in sehr regelmäßiger Gitternetzanordnung zu sehen sind. Die Panels sind Teil einer relativ

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3.2

Mawils Kinderland Kinderland (2014) Zum Zum Beispiel: Beispiel: Mawils

Abb. 3.6: Einzelne Seite mit 2 × 3 Panels in Kinderland (Mawil 2014, S. 169).

langen Szene, die ein wichtiges Tischtennisspiel zwischen dem Protagonisten Mirco, seinem Freund Torsten und ihren Rival_innen aus höheren Schulstufen zeigt. Insgesamt wird diese Szene über 35 Seiten hinweg ausgebreitet und stellt damit eine zentrale Passage in der Geschichte dar. Ein besonderes Augenmerk lässt sich dabei auf die vier Panels im unteren Teil der Seite legen, die durch ihre ähnliche Gestaltungsweise und ihre symmetrische Anordnung besonders hervorstechen. Auch in diesem Beispiel deuten (unterschiedliche Formen von) Bewegungslinien und Effektwolken sowie lautmalerische Ele-

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3

Multimodale Comicanalyse

mente mit besonderen Gestaltungsweisen bereits innerhalb der einzelnen Panels eine entsprechende Dynamik an. Hierfür können intersemiotische Relationen zwischen den jeweiligen Körperteilen der Figuren (Füße und Arme bzw. Hände) und den Bewegungslinien in Panel 1, 2 und 4 inferiert (erschlossen) werden, die eine entsprechende Spezifizierung bzw. Erweiterung der Bedeutung um die jeweilige Dynamik signalisieren. Ähnliches gilt für den Zusammenhang zwischen den Tischtennisbällen in Panel 2 und 4 auf der rechten Seite und den dazu gehörigen, gestrichelten Bewegungslinien sowie den gelben »impact stars« (Cohn 2013, S. 41), den sternförmigen Effektelementen. Außerdem ist ein Kontrast zwischen der Bewegung von Objekten (wie den Tischtennisbällen) und der Bewegung von Figuren inferierbar: Erstere wird mit gestrichelten Linien und sternenförmigen Elementen, Letztere mit durchgezogenen Linien und einer weißen Effektwolke dargestellt. Die Dynamik innerhalb der einzelnen Panels beeinflusst zudem das Verständnis der Gesamtanordnung: Die Panelgrenzen in der Mitte der vier Panels scheinen auf den ersten Blick zu verschwinden, so dass ein quadratischer Tisch erkennbar wird, an dem die vier Spielteilnehmer gegeneinander spielen. Die Bewegungselemente sind so aufeinander abgestimmt, dass es scheint, als würden die Tischtennisbälle jeweils in das schräg gegenüberliegende Panel geschlagen. Allerdings ist diese Bedeutungszuschreibung irreführend und lässt sich präzisieren, wenn die Rezipierenden ihr Wissen darüber einfließen lassen, wie Tischtennisplatten normalerweise gebaut sind (nämlich als Rechteck) und wie Spieler_innen im Doppel neben- und gegeneinander spielen (nämlich zwei Spieler_innen auf jeder kürzeren Seite des Rechtecks). Dann wird eine dem Weltwissen entsprechende Bedeutungskonstruktion in großen Teilen plausibel, obwohl lediglich der Sprung von Panel 2 zu Panel 3 und der über diese beiden Panels hinweg geschlagene Ball diesem Wissen entspräche, wenn die Rezipierenden die Panels als kontinuierliche bildliche Darstellung betrachten würde. Der gutter, die Linien zwischen den Panels, unterbricht diese kontinuierliche Darstellung allerdings und begründet damit sowohl die zeitliche als auch die räumliche Trennung der Panels. Stattdessen können zum einen in der logischen Rekonstruktion der Abläufe und Ereignisse temporal-räumliche Zustandsveränderungen und also narrative Relationen zwischen den Panels inferiert werden (siehe auch Kap. 4). Sie deuten eine zeitliche Abfolge der Pässe von oben links nach unten rechts an. Zum anderen lässt sich jeweils eine Kontrastrelationen zwischen der linken und rechten Seite des 4×4-Gitternetzes inferieren, die die beiden Teams nicht nur bildlich, sondern auch semantisch voneinander trennt. So kann eine komplexe narrative Struktur für die Abfolge der Panels bzw. den sich dynamisch entfaltenden Plot des Comics beschrieben werden, wie in Abbildung 3.7 dargestellt. Eine solche komplexe Verflechtung von Einheiten im Comic ist nicht unüblich, in Mawils Comic selbst lässt sie sich auf mehreren Seiten so oder ähnlich wiederfinden. Auch im Comic ganz anderer Kulturkreise und Genres findet man diese Form der intersemiotischen Relation sehr häufig. Beispielsweise beschreiben Bateman und Wildfeuer (2014, S. 201–203) eine sehr ähnliche Struktur für eine Comicseite aus Civil War #1 (Millar/McNiven 2006) in Marvels Superheld_innen-Universum. Mit der Analyse der Bedeutungsbeziehungen auf unterschiedlichen Ebenen des Comics lassen sich folglich die komplexen intersemiotischen Zusammenhänge in Mawils Comic genau beschreiben und der Prozess der Bedeutungskonstruktion durch die Rezipierenden theoretisch nachvollziehen. Dies erlaubt in einem weiteren

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3.3

Fazit

Abb. 3.7: Narrative Struktur der vier Panels aus Kinderland (Mawil 2014, S. 169).

Schritt auch Hypothesen darüber, ob eine solche komplexe Struktur von Panels möglicherweise interessanter und ggf. auch wirksamer ist als eine Sequenz von Panels, die lediglich mithilfe von narrativen Relationen erschlossen wird. Diese Hypothesen wären dann ein spannender Ausgangspunkt für empirische Analysen mit Eye-Tracking- oder anderen psychologischen Verfahren, die Reaktionen von Rezipierenden einfangen und genauer beschreiben könnten (vgl. z. B. die unterschiedlichen Arbeiten in Dunst et al. 2019).

3.3 | Fazit Multimodale Comicanalyse, so haben es die Beispieluntersuchungen in diesem Kapitel gezeigt, befasst sich mit sehr detaillierten Beschreibungen unterschiedlichster semiotischer Elemente innerhalb von Comics bzw. einzelnen Seiten oder Panels. Hauptziel der Analyse ist dabei zunächst die genaue Untersuchung der Bedeutungskonstruktion durch diese Elemente. Zu Beginn des Kapitels wurde kurz skizziert, dass dieses Verfahren einen Trend in der gegenwärtigen Medien- und Kommunikationsanalyse darstellt, der sich erst seit einiger Zeit beobachten lässt, der aber immer mehr Aufmerksamkeit in den unterschiedlichsten Disziplinen und vor allem auch in interdisziplinären Kooperationen erfährt. Hintergrund ist dabei meistens, dass viele der semiotischen Elemente sowohl einzeln als auch gerade in ihrer Kombination miteinander immer noch schwer zu fassen sind und erst seit Kurzem systematische Herangehensweisen für die Analyse dieses intersemiotischen Zusammenspiels vorliegen. Der im Rahmen der multimodalen Analyse entwickelte Werkzeugkasten bietet demnach Anwendungsvorschläge, die es aber für die einzelnen Medien, also auch für Comics, stetig weiterzuentwickeln gilt. Auch die Multimodalitätsforschung ist noch sehr jung und muss verstärkt mit Expertisen aus anderen Disziplinen, wie z. B. der Comicforschung im engeren Sinne, zusammenarbeiten. So stellen vor allem die oben angedeuteten Untersuchungsprojekte mit größeren Korpora von unterschiedlichen Comicseiten oder ganzen Comics, die im Hinblick auf ihre Zeichenmodalitäten und deren Intersemiose untersucht werden sollten, bislang noch Desiderate der Comicforschung dar. Seitdem die Zusammenstellung größerer Korpora in den letzten Jahren ein erklärtes Ziel digitaler Comicforschung geworden ist, beginnen die tatsächlichen Untersuchungen und Auswertungen gerade erst (vgl. zum Beispiel Pedersohn/Cohn 2016). Wie in diesem Kapitel gezeigt wurde,

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Multimodale Comicanalyse

liefern prinzipiell aber bereits die aus kleineren Analysen gewonnenen Ergebnisse wertvolle Informationen und Ansatzpunkte für unterschiedlichste Bereiche der Comicforschung – nicht nur für solche, die an der Verarbeitung und Auswertung größerer Mengen von Daten interessiert sind. Auch für Projekte, die sich dem besseren Verständnis von Comics auf Grundlage ihrer semantischen Bedeutungskonstruktion widmen, zum Beispiel aus narratologischer, kulturwissenschaftlicher, psychologischer oder kognitiver Perspektive, ist es wichtig, die unterschiedlichen Details in der Gestaltung einer Comicseite oder einzelner Panels systematisch beschreiben zu können, um darüber hinausgehende Analysen und Interpretationen (besser) begründen zu können. Multimodale Analyse ist deswegen von Beginn an ein interdisziplinäres und kooperatives Unterfangen, für das die Rezipierenden ihr spezifisches Wissen einbringen, es mit und um andere Wissensbestände ergänzen und auf unterschiedlichste Aspekte von Kommunikation – etwa im Comic – anwenden können. Die unterschiedlichen Beobachtungen können so produktiv mit anderen Beobachtungen zusammengeführt und schlussendlich der Blick auf das große Ganze, die Komplexität umfassender Artefakte, gelenkt werden, die von und mit spezifischen Einzelheiten in all ihren Kombinationen getragen wird. Primärliteratur Mawil: Kinderland. Berlin 2014. Millar, Mark/McNiven, Steve: Civil War #1. New York 2006. Allgemeine Literatur Bateman, John A./Wildfeuer, Janina: »A Multimodal Discourse Theory of Visual Narrative«. In: Journal of Pragmatics 74 (2014), 180–218. Bateman, John A./Wildfeuer, Janina/Hiippala, Tuomo: Multimodality. Foundations, Research and Analysis. A Problem-Oriented Introduction. Berlin 2017. Cohn, Neil: The Visual Language of Comics. Introduction to the Structure and Cognition of Sequential Images. New York 2013. Cohn, Neil: »A Multimodal Parallel Architecture. A Cognitive Framework for Multimodal Interactions«. In: Cognition 146 (2016), 304–323. Cohn, Neil/Taylor, Ryan/Pederson, Kaitlin: »A Picture Is Worth More Words Over Time. Multimodality and Narrative Structure across Eight Decades of American Superhero Comics«. In: Multimodal Communication 6/1 (2017), 19–37. Kress, Gunther: Multimodality. A Social Semiotic Approach to Contemporary Communication. London 2010. McCloud, Scott: Understanding Comics. The Invisible Art. New York 21994. Sekundärliteratur Asher, Nicholas/Lascarides, Alex: Logics of Conversation. London 2003. Barthes, Roland: Elements of Semiology. London 1967. Barthes, Roland: Image – Music – Text. London 1977a. Barthes, Roland: The Rhetoric of the Image. London 1977b. Bateman, John A.: Text and Image. A Critical Introduction to the Visual/Verbal Divide. London 2014. Bateman, John A.: »Methodological and Theoretical Issues for the Empirical Investigation of Multimodality«. In: Nina-Maria Klug/Hartmut Stöckl (Hg.): Handbuch Sprache im multimodalen Kontext. Berlin 2016, 36–74. Bateman, John A./Wildfeuer, Janina: »A Multimodal Discourse Theory of Visual Narrative«. In: Journal of Pragmatics 74 (2014), 180–218. Bateman, John A./Wildfeuer, Janina/Hiippala, Tuomo: Multimodality. Foundations, Research, Analysis. A Problem-Oriented Introduction. Berlin 2017.

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Fazit

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4 Narratologische Comicanalyse Vielleicht mehr noch als viele andere Medien lassen sich Comics als narrative Formen verstehen. Es mag zwar einige Beispiele nicht-narrativer Comics wie etwa Robert Crumbs »Abstract Expressionist Ultra Super Modernistic Comics« (1967) geben, aber die allermeisten Comics erzählen – kurze und lange, heitere und ernste, fiktive und nicht-fiktive – Geschichten. Vor diesem Hintergrund wird es kaum überraschen, dass sich auch die Comicforschung mit den Techniken und Strategien befasst, die Comics zur Vermittlung dieser Vielfalt von Geschichten einsetzen, und also narratologische Perspektiven der Comicanalyse entwickelt. Während aber die aus dem französischen Strukturalismus der 1960er Jahre entstandene literaturwissenschaftliche Narratologie als Methode für die Analyse literarischer Erzähltexte weitgehend etabliert ist (vgl. etwa Schmid 2014; Lahn/Meister 2016; Martínez/Scheffel 2016) und auch die Filmwissenschaft seit spätestens den 1980er Jahren begonnen hat, narratologische Ansätze zur Analyse filmischen Erzählens zu entwickeln (vgl. z. B. Bordwell 1985; Branigan 1992; Kuhn 2011), kann bislang kaum in vergleichbarer Weise von einer Comicnarratologie als einem weitläufig etablierten Forschungsfeld gesprochen werden. Zumindest aber lässt sich ein gerade in den letzten Jahren deutlich gestiegenes Interesse der Comicforschung an narratologischen Fragestellungen konstatieren und Comics werden in der Regel als ein durchaus zentraler Bereich der transmedialen Narratologie behandelt – einer Narratologie also, die sich mit den erzählerischen Möglichkeiten und Grenzen verschiedener Medien jenseits des literarischen Textes befasst (vgl. z. B. Ryan 2006; Herman 2009; Thon 2016). Darüber hinaus wurden in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Studien zu den medienspezifischen Erzählstrategien des Comics vorgelegt, die nicht nur auf basale Elemente der Medialität des Comics wie die Kombination von Bildern und Wörtern, das Zusammenspiel von Panels und Panelrahmen oder die Anordnung von Panelsequenzen in verschiedenen Seitenlayouts fokussieren (siehe Kap. 2 und Kap. 3), sondern etwa auch Fragen der medienspezifischen Realisierung von transmedialen Erzählstrategien und narratologischen Begriffen wie dem der ›erzählten Welt‹ bzw. der ›Storyworld‹, des ›Erzählers‹ bzw. der ›Erzählerin‹ oder der ›Perspektivierung‹ bzw. ›Fokalisierung‹ in den Blick nehmen (vgl. z. B. Schüwer 2008; Horstkotte/Pedri 2011; Groensteen 2013; Kukkonen 2013; Postema 2015; Mikkonen 2017; sowie die Beiträge in Stein/Thon 2015). Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden auf drei zentrale Theorie- oder Begriffsbereiche der Comicnarratologie zu fokussieren sein, die sich mit der Analyse von Storyworlds (siehe Kap. 4.1.1), der Analyse von Erzähler_innenfiguren (siehe Kap. 4.1.2) und der Analyse von Figurensubjektivität (siehe Kap. 4.1.3) befassen. Es liegt dabei in der Natur eines Einführungsbandes, dass das narratologische Theorieund Begriffsinventar hier nicht bis ins Letzte auszuleuchten sein wird. Stattdessen soll vermittelt werden, wie sich die Fragen der Comicnarratologie insbesondere mit Blick auf die Analyse narrativ komplexer Comics produktiv machen lassen – und dabei soll nicht zuletzt mit Hinweisen auf zentrale Begriffe, Ansätze und Autor_innen eine erste Orientierung im terminologischen Dickicht narratologischer Theorieund Begriffsbildung gegeben werden. Abschließend soll zudem die Produktivität der so eingeführten analytischen Perspektive durch eine umfangreichere Beispielanalyse von Craig Thompsons Habibi (2011) demonstriert werden (siehe Kap. 4.2). J.B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Packard et al., Comicanalyse. Eine Einführung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04775-5 _4

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Narratologische Comicanalyse

4.1 | Narratologische Perspektiven der Comicforschung Zwar wird die Narrativität medialer Darstellungen innerhalb der Narratologie durchaus kontrovers diskutiert, aber zuletzt haben sich zunehmend prototypische Konzeptualisierungen durchgesetzt, die narrative Darstellungen als Phänomen mit unscharfen Rändern und Narrativität als eine graduelle Qualität verstehen, welche sich konkreten narrativen Darstellungen in mehr oder weniger umfassender Weise zuschreiben lässt (vgl. z. B. Jannidis 2003; Ryan 2006, S. 6–12; Thon 2016, S. 1–31). Anders als sich primär am literarischen Erzählen orientierende Ansätze, die Narrativität häufig an die Präsenz einer als Ursprung narrativer Rede verstandenen Erzähler_innenfigur oder Erzähler_inneninstanz zu binden versuchen (vgl. z. B. Genette 2010; Schmid 2014, S. 1–11; sowie kritisch Köppe/Stühring 2011), haben sich prototypisch ausgerichtete Konzeptualisierungen von Narrativität zudem als besonders kompatibel mit dem über literarische Texte hinausweisenden Erkenntnisinteresse der transmedialen Narratologie erwiesen. Zwar gibt es auch hier durchaus unterschiedliche Vorstellungen davon, was die zentralen Eigenschaften einer prototypischen narrativen Darstellung sind, aber weitgehend unstrittig ist doch mindestens, dass es sich dabei um Darstellungen von in Raum und Zeit verorteten und von Figuren bevölkerten Welten handelt (vgl. Ryan 2006, S. 6–12; Herman 2009, S. 105–136; Thon 2016, S. 1–31). Weitere ›narrativitätssteigernde‹ Eigenschaften wie die kausale Verkettung der dargestellten Ereignisse, die Präsenz einer Erzähler_innenfigur oder der ›direkte Zugang‹ zu subjektivem Figurenerleben werden demgegenüber eher als optional betrachtet (zur Diskussion verschiedener ›optionaler Narreme‹ vgl. auch ausführlicher Wolf 2002, 2017). Zu betonen ist hier freilich auch, dass sich das Erkenntnisinteresse der literaturwissenschaftlichen ebenso wie der transmedialen Narratologie nicht in definitorischen Fragen erschöpft, sondern vielmehr vor allem auf die Entwicklung eines Begriffsinventars für die detaillierte Analyse narrativer Medienformen ausgerichtet ist (vgl. z. B. Genette 2010; wiederum Thon 2016; sowie kritisch Dawson 2017). Es geht mit anderen Worten nicht so sehr um die Frage, ob ein bestimmtes Artefakt (etwa ein Comic) narrativ ist, sondern vielmehr darum, wie sich das entsprechende Artefakt als narrativ verstehen lässt und welche narrativen Strategien es zur Darstellung einer (oder mehrerer) in Raum und Zeit verorteten und von Figuren bevölkerten Welt(en) einsetzt. Entsprechend sind die folgenden Überlegungen zur Analyse von Storyworlds und den von Comics eingesetzten allgemeinen Strategien narrativer Darstellung, zur Analyse von Erzähler_innenfiguren und den ihnen zugeschriebenen Strategien narratorialer Darstellung sowie zur Analyse von Figurensubjektivität und den von Comics eingesetzten Strategien subjektiver Darstellung am besten als Elemente eines hier noch recht grundlegenden Werkzeugkasten zu verstehen, dessen Inhalt aber mindestens eine erste analytische Annäherung an die mehr oder weniger stark ausgeprägte narrative Komplexität ganz verschiedener Comics ermöglichen wird (vgl. zum Folgenden auch Thon [i. Vorb.]).

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Narratologische Perspektiven der Comicforschung

4.1.1 | Storyworlds und narrative Darstellung Prototypische narrative Darstellungen sind Darstellungen von in Raum und Zeit verorteten und von Figuren bevölkerten Welten. Die allermeisten Comics stellen derartige erzählte Welten, oder eben: Storyworlds, in mehr oder weniger komplexer Weise dar (vgl. auch Herman 2009, S. 105–136; Thoss 2015, S. 33–122; Thon 2016, S. 125–175). Die Wirkmächtigkeit dieses narrativen Templates lässt sich dabei bereits an einem kurzen zweiten Blick auf Robert Crumbs eingangs bereits erwähnten Comic »Abstract Expressionist Ultra Super Modernistic Comics« illustrieren, insofern Crumb hier trotz des programmatischen Bemühens um Abstraktion doch mindestens die Möglichkeit zur im weitesten Sinne narrativen Interpretation der entsprechenden Panelsequenzen offen hält (siehe Abb. 4.1). Dies gilt in besonderem Maße für die Panelfolge am unteren Rand der Seite, die durch die Darstellung von erkennbar menschenähnlichen Gestalten und den Einsatz von – freilich auf ihre konventionalisierte Form reduzierten – Sprechblasen ein sich über einige Zeit erstreckendes Gespräch nahezulegen scheint, das mit dem Zu-Boden-gehen der beiden Figuren zu enden scheint, deren Füße sich im letzten Panel dem dunklen Himmel entgegenstrecken. Es gilt aber ebenso für die weiteren Panels, in denen sich verschiedene Sprechblasen ebenso wie als – teils auch deutlich mit Gesichtern und sekundären Geschlechtsmerkmalen versehene – Figuren zu erkennende Formen finden. Es wäre nun sicher kaum plausibel, in diesen Panels und Panelfolgen eine durch den Comic dargestellte, zusammenhängende Geschichte erkennen zu wollen, aber Crumb ruft hier gerade in der Verweigerung bzw. Subversion einer konventionalisierten Form der narrativen Darstellung eben doch nicht nur semiotische, sondern durchaus auch narrative Comickonventionen auf. Auch für weniger abstrakte Comics ist freilich aus narratologischer wie allgemeiner darstellungstheoretischer Perspektive festzustellen, dass die narrative Darstellung nicht mit den von ihr dargestellten Figuren, Ereignissen, Situationen und eben: Storyworlds zusammenfällt (siehe auch Kap. 2). An diese Feststellung ließe sich nun eine ganze Reihe von Fragen etwa nach der Relation zwischen Darstellung und Dargestelltem oder nach der Medienspezifik gezeichneter Bilder anschließen (vgl.

Abb. 4.1: Dekonstruktion des narrativen Templates in »Abstract Expressionist Ultra Super Modernistic Comics« (Crumb 1967, o. S.).

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Narratologische Comicanalyse

etwa Thon 2017; Packard 2018; Wilde 2019). Mit Blick auf Storyworlds in Comics ist dabei vor allem relevant, dass Rezipierende im Rahmen der hier zentralen Verstehensprozesse sowohl ›Leerstellen‹ innerhalb der entsprechenden Darstellungen unter Rekurs auf ihr Weltwissen auffüllen als auch bestimmte Elemente dieser Darstellungen ignorieren, wenn sich sogenannte ›externe Erklärungen‹ für deren Vorliegen finden lassen. Diese beiden grundlegenden, sich spiegelbildlich ergänzenden Rezeptionsprinzipien lassen sich mit Marie-Laure Ryan (1991, S. 48–79) als Prinzip der minimalen Abweichung (principle of minimal departure) und mit Kendall Walton (1990, S. 174–183) als Prinzip des wohlwollenden Verständnisses (principle of charity) beschreiben. So bemerkt etwa Ryan (1991, S. 48–79) im Rahmen ihres frühen Versuchs, fiktive Welten als eine spezifische Form von möglichen Welten zu konzeptualisieren, zum Prinzip der minimalen Abweichung, dass Rezipierende diese Welten in ihrer Imagination so eng wie möglich an ihrem Wissen über die Wirklichkeit orientieren und dabei nur so weit von diesem Wissen abweichen, wie es durch den Text (oder hier: den Comic) als notwendig markiert wird. Solange nichts anderes dargestellt wird, nehmen Rezipierende an, dass Menschen innere Organe haben, denken können, der Schwerkraft unterworfen sind usw. Damit ist nicht gemeint, dass das Prinzip der minimalen Abweichung die komplette Vervollständigung notwendigerweise unvollständiger Storyworlds ermöglichen würde, sondern vielmehr, dass plausible Schlussfolgerungen und Hypothesenbildungen etwa über die Körperlichkeit, Psyche und Sozialität von dargestellten Figuren einen nicht unerheblichen Teil der Rezeption narrativer Darstellungen bestreiten und Comics ihren Leser_innen daher etwa nicht im Detail zeigen müssen, dass die von ihnen dargestellten Figuren ›das Herz am rechten Fleck‹ haben (für einen allgemeineren Überblick zu medialen Figurendarstellungen vgl. auch Eder et al. 2010). Dabei ist allerdings zu beachten, dass der Referenzrahmen, auf den sich das Prinzip der minimalen Abweichung bezieht, nicht vollständig aus unmittelbarem Erfahrungswissen generiert wird. Rezipierende verlassen sich bei der Imagination von Storyworlds vielmehr ebenso auf Wissen über die reale Welt wie auf Wissen über fiktive Welten, Medien- und Genrekonventionen. Insbesondere Letzteres hängt dabei aber auch mit dem von Kendall L. Walton (1990, S. 174–183) für die Analyse von unterschiedlichen Formen im weitesten Sinne künstlerischer Darstellungen fruchtbar gemachten Prinzip des wohlwollenden Verständnisses zusammen. Nach Walton wird im Rahmen von Imaginationsspielen die ›Generierung‹ bestimmter fiktiver Sachverhalte ›blockiert‹ oder zumindest weniger stark betont, weil sie die fiktive Welt auf unangenehme Weise paradox erscheinen lassen und folglich zu Schwierigkeiten während ihrer Imagination führen würden. Walton diskutiert in diesem Zusammenhang etwa die Frage, ob Othello in Shakespeares gleichnamigem Theaterstück (1603–1604) ›tatsächlich‹ in perfekt geformten Versen spricht, obwohl es sich bei ihm um einen Feldherren und nicht um einen Dichter handelt, und weshalb die dreizehn Tischgäste in Leonardos Das Abendmahl (1494–1497) alle auf einer Seite des Tisches sitzen anstatt sich um die Tafel herum zu verteilen. In diesen und vielen weiteren Fällen, in denen für das Vorliegen von Merkmalen einer künstlerischen Darstellung, die derart problematische fiktive Sachverhalte zu generieren scheinen, eine alternative Erklärung verfügbar ist, legt eben diese Verfügbarkeit einer alternativen Erklärung nach Walton nahe, die Generierung des fraglichen fiktiven Sachverhalts nicht anzuerkennen.

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4.1

Narratologische Perspektiven der Comicforschung

Abb. 4.2: Sam Kieths und Mark Dringenbergs Sandman in The Sandman. Preludes & Nocturnes (Gaiman et al. 2010, o. S.).

Abb. 4.3: Mark Hempels Sandman in The Sandman. The Kindly Ones (Gaiman et al. 2012b, S. 14).

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Narratologische Comicanalyse

Vielleicht deutlicher noch als in vielen anderen narrativen Medien zeigen sich die Grenzen dessen, was Gregory Currie (2010, S. 58–64) als darstellerische Entsprechung (representational correspondence; vgl. auch Kap. 2) beschreibt, in der Spannung zwischen gezeichneten Bildern und den von diesen Bildern dargestellten Figuren, Ereignissen, Situationen und Welten. Ein gutes Beispiel dafür, dass sich Rezipierende den Unterschied zwischen Darstellung und Dargestelltem mindestens dann bewusst machen können, wenn die Alternative in von Walton und auch von Currie als ›unsinnig‹ beschriebene Fragen (silly questions) münden würde, findet sich etwa in Neil Gaimans Comicserie The Sandman (1989–1996). Es wäre in der Tat ›unsinnig‹ im Sinne von Walton und Currie, nach einer Erklärung dafür zu verlangen, wieso sich das Aussehen der titelgebenden Hauptfigur Dream of the Endless verändert hat, wenn sich doch eigentlich nur der Stil der narrativen Darstellung im Lauf der Serie verändert, weil Gaiman hier mit einer ganzen Reihe von einschlägigen Comickünstler_innen kollaboriert hat (siehe die unterschiedliche Darstellung der Figur in Abb. 4.2 und 4.3). Der Wechsel der für die Bilder verantwortlich zeichnenden Künstler_innen macht also eine ›externe Erklärung‹ für die Unterschiede in ihrer Gestaltung verfügbar, die Rezipierende davon abhält, ›unsinnige Fragen‹ etwa nach den Gründen für das sich verändernde Aussehen der Figur Dream innerhalb der Storyworlds von The Sandman zu stellen (wobei sich durchaus derartige ›interne Erklärungen‹ für die verschiedenen Erscheinungsformen von Dream in The Sandman finden, aber eben nicht für die oben angesprochenen Unterschiede in der narrativen Darstellung der Figur). Tatsächlich kommt das Prinzip des wohlwollenden Verständnisses gerade mit Blick auf comicspezifische Darstellungsstrategien regelmäßig zum Einsatz. Wenn etwa in Alan Moores und Dave Gibbons Watchmen (2005) der geniale Bösewicht Ozymandias während eines Kampfs mit Rorschach und Night Owl recht umfassend von seinen Plänen zum Massenmord und anschließendem Weltfrieden berichtet, werden die allermeisten Rezipierenden geneigt sein, das Missverhältnis zwischen der wahrscheinlichen Dauer der dargestellten Kampfhandlungen und der wahrscheinlichen Dauer der dargestellten Figurenrede zu ignorieren (siehe Abb. 4.4). So wichtig nun diese eher grundsätzlichen darstellungstheoretischen Fragen für ein Verständnis von narrativen Darstellungen im Medium des Comics sind, so klar ist es auch, dass Comics eine ganze Reihe von komplexeren Erzählstrategien einsetzen, die vielleicht noch deutlicher als die bisher diskutierten Fragen narratologischer Aufmerksamkeit bedürfen. Mit Blick auf die Struktur der von Comics dargestellten Storyworlds lässt sich dabei zunächst grundsätzlich zwischen den lokal dargestellten Situationen und der in der Regel umfangreicheren globalen Storyworld in ihrer Gesamtheit unterscheiden (dazu und zum Folgenden vgl. wiederum Thon 2016, S. 46–56, 2017). Diese Unterscheidung ermöglicht es, die teilweise recht komplexen räumlichen, zeitlichen, kausalen und ontologischen (d. h. auf verschiedene Modi der Existenz bezogenen) Relationen zwischen den lokalen Situationen innerhalb der globalen Storyworld zu analysieren, deren Rekonstruktion die Rezipierenden von Comics des Öfteren vor nicht unerhebliche kognitive Herausforderungen stellt. Ein noch überschaubar komplexes Beispiel hierfür wäre die eben bereits zitierte Seite aus Alan Moores und Dave Gibbons Watchmen (siehe Abb. 4.4), deren Panels jeweils im Wechsel den Kampf zwischen Ozymandias und Rorschach sowie zentrale Ereignisse aus der von Ozymandias während dieses Kampfes erzählten Geschichte darstellen. Die Rezipierenden müssen hier also nicht nur nachvollziehen, dass einige Panels den Kampf zwischen Ozymandias und Rorschach

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Narratologische Perspektiven der Comicforschung

Abb. 4.4: Faustkampf mit intradiegetischem Erzähler in Watchmen (Moore/Gibbons 2005, Chapter XI, S. 19).

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Narratologische Comicanalyse

darstellen, während andere Panels die von Ozymandias während dieses Kampfes erzählte Geschichte zeigen (und also eine ontologische Differenz zwischen den entsprechenden Situationen etablieren), sondern auch rekonstruieren, wie sich die ganz unterschiedlichen Situationen innerhalb der von Ozymandias erzählten Geschichte zueinander verhalten. Die potenzielle Komplexität bereits der räumlichen, zeitlichen und kausalen Relationen zwischen lokal dargestellten Situationen lässt es zudem hilfreich erscheinen, nicht nur zwischen der Geschichte als chronologischer Abfolge der dargestellten Ereignisse (innerhalb der Storyworld) und ihrer narrativen Darstellung, sondern darüber hinaus auch zwischen der Geschichte und dem Plot als Abfolge der Ereignisse in der Reihenfolge ihrer Darstellung zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ließe sich dann mit Blick auf die zitierte Seite aus Watchmen etwa so produktiv machen: Innerhalb der von Watchmen dargestellten Storyworld ist eine Reihe von Ereignissen vorgefallen und bei der von Watchmen erzählten Geschichte handelt es sich um die Anordnung dieses ausgewählten Sets von Ereignissen in chronologischer Reihenfolge. Die Reihenfolge, in der diese Ereignisse in Watchmen dargestellt werden, weicht nun aber von der Chronologie innerhalb der Storyworld ab, der Plot als Anordnung der dargestellten Ereignisse in der Reihenfolge ihrer Darstellung fällt also nicht mit der Geschichte zusammen. Und schließlich gilt hier nach wie vor, dass die narrative Darstellung dieser Ereignisse unabhängig von der Frage ihrer (nicht-)chronologischen Anordnung nicht mit den so dargestellten Ereignissen selbst zusammenfällt. Allerdings sagt die Unterscheidung zwischen der Storyworld, der Geschichte, dem Plot und der narrativen Darstellung eines Comics noch nicht allzu viel über die sogenannten ontologischen Relationen zwischen lokal dargestellten Situationen aus. In der Tat lassen sich die vier farblich abgesetzten Panels auf der besagten Seite aus Watchmen kaum ausschließlich als Rückblenden analysieren, sondern sind wohl angemessener als piktoriale Illustrationen der von Ozymandias verbal erzählten Geschichte zu verstehen, die nicht nur räumlich und zeitlich, sondern eben auch ontologisch zu unterscheidende Situationen darstellen. In der Narratologie wird die Darstellung von derartigen ontologisch distinkten Situationen in der Regel unter Bezug auf Gérard Genettes Überlegungen zu narrativen bzw. diegetischen Ebenen diskutiert. Genette schreibt hierzu: »[J]edes Ereignis, von dem in einer Erzählung erzählt wird, liegt auf der nächst höheren diegetischen Ebene zu der, auf der der hervorbringende narrative Akt dieser Erzählung angesiedelt ist« (Genette 2010, S. 148). Wie später noch genauer auszuführen sein wird, lassen sich die je nach ihrer globalen Position im Existenzgefüge der Storyworld als Ganzes unterschiedenen diegetischen Ebenen und die diesen zugeordneten Erzähler_innen im Anschluss an Genette, Mieke Bal (1981) und Shlomith Rimmon-Kenan (2002, S. 92– 95) als extradiegetisch, intradiegetisch und hypodiegetisch bezeichnen. Im Falle der besagten Seite aus Watchmen lässt sich also ein kontinuierlicher Wechsel von der diegetischen Ebene der Storyworld, in der Ozymandias und Rorschach kämpfen, auf die von Ozymandias während dieses Kampfes erzählte hypodiegetische Ebene und wieder zurück konstatieren. Comics verwenden nun üblicherweise entweder erzählende Figuren wie Ozymandias oder eingebettete narrative Artefakte wie die intradiegetischen »Black Freighter«-Comics in Watchmen, die »Tommy Taylor«-Romane in Mike Careys und Peter Gross’ The Unwritten. Tommy Taylor and the Bogus Identity (2010) oder die »Ronin«-Fernsehserie in Frank Millers Rōnin (1987), um Darstellungen ontologisch

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Narratologische Perspektiven der Comicforschung

distinkter ›Sub-Welten‹ innerhalb der gewissermaßen ›höher liegenden‹ Storyworld zu verorten. Allerdings ist hier auch – wiederum im Anschluss an Genette und andere – zu betonen, dass der Einsatz verschiedener Erzähler_innen und narrativer Medien nicht das einzige Mittel ist, das Comics zur Verankerung ihrer ›tiefer liegenden‹ diegetischen Ebenen bzw. eben: Sub-Welten einsetzen können. Stattdessen verwenden Comics wie Moores und Gibbons’ Watchmen, Gaimans The SandmanSerie oder Frank Millers Sin City-Serie (1991–1992), Chris Wares Jimmy Corrigan. The Smartest Kid on Earth (2000), Charles Burns Black Hole (2005) oder Craig Thompsons Habibi auch eine Reihe ganz unterschiedlicher Darstellungsstrategien, um etwa die Träume, Halluzinationen, Fantasien oder Erinnerungen von Figuren als ontologisch distinkte ›Sub-Welten‹ zu etablieren. Im Folgenden wird sich zunächst Kapitel 4.1.2 etwas detaillierter mit den von Comics eingesetzten Erzähler_innenfiguren befassen, bevor sich Kapitel 4.1.3 mit den von Comics eingesetzten Strategien subjektiver Darstellung beschäftigt.

4.1.2 | Erzähler_innenfiguren und narratoriale Darstellung Mit Blick auf die erzähltheoretische Modellierung von Erzähler_innen im Comic lässt sich zunächst feststellen, dass der Erzähler_innenbegriff bereits innerhalb der literaturwissenschaftlichen Narratologie umstritten ist. Insbesondere ist die im Anschluss an Genette (2010) kanonisierte Behauptung nicht unwidersprochen geblieben, dass zumindest in fiktionalen Texten grundsätzlich ein_e Erzähler_in spricht, der_die weder mit auf die eine oder andere Weise ›implizierten‹ noch mit historischen Autor_innen zusammenfällt (vgl. wiederum Schmid 2014, S. 45–106; Lahn/ Meister 2016, S. 16–17; Martínez/Scheffel 2016, S. 11–22; sowie die kritische Rekonstruktion einschlägiger Argumente in Köppe/Stühring 2011). Während es in literarischen Texten noch Gründe dafür geben mag, derart dogmatisch von der Präsenz von Erzähler_innen auszugehen, denen sich anstelle von Autor_innen die sprachliche Erzählung zuschreiben lässt, erscheint eine in diesem Sinne ›pan-narratoriale‹ Position mit Blick auf die nicht ausschließlich sprachliche Darstellung von Storyworlds in multimodalen Medien wie dem Comic noch einmal deutlich problematischer (vgl. z. B. Schüwer 2008, S. 382–419; Thon 2016, S. 123–220; Mikkonen 2017, S. 129–149). Die sich mit der Übertragung des Erzähler_innenbegriffs auf andere narrative Medien als den literarischen Text ergebenden Schwierigkeiten lassen sich dabei jedoch ein wenig entschärfen, wenn Erzähler_innen als durch den literarischen Text mehr oder weniger explizit dargestellte Figuren verstanden werden, denen sich der Akt der sprachlichen Narration zuschreiben lässt (vgl. z. B. Jannidis 2006; sowie wiederum Schüwer 2008, S. 382–419; Thon 2016, S. 123–220; Mikkonen 2017, S. 129–149). Die Möglichkeit der Übertragbarkeit eines solchen – milde antropomorph gehaltenen – Erzähler_innenbegriffs auf sprachliche Erzähler_innen in multimodalen Medien scheint dann weitgehend unstrittig und erlaubt es dennoch, die comicspezifischen Besonderheiten solcher Erzähler_innen genauer zu fassen. Zwar bietet dieses Kapitel keinen Raum für eine ausführliche Diskussion der selbst mit einer solch engen Konzeptualisierung von Erzähler_innen als ›in figuraler Gestalt organisierte‹ Konstrukte aufgerufenen, theoretischen und theoriegeschichtlichen Probleme, aber es sind doch mindestens einige weitere Anmerkungen zu den auch auf Erzähler_innen – oder vielleicht besser: Erzähler_innenfiguren – in Co-

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Narratologische Comicanalyse

mics anwendbaren kanonischen Unterscheidungen narratologischer Theoriebildung vorzunehmen. Auf sprachlich verfasste narrative Texte übertragen bezeichnet der Erzähler_innenbegriff bzw. der Begriff der ›Erzähler_innenfigur‹ ein durch reale oder hypothetische Autor_innen geschaffenes, figural in Erscheinung tretendes Konstrukt, dem nicht nur die sprachliche Darstellung der Ereignisse, sondern auch die Selektion und Anordnung derselben zugeschrieben werden können (siehe auch die Unterscheidung zwischen Storyworld, Geschichte, Plot und narrativer Darstellung in Kap. 4.1.1, auf die zudem in Kap. 4.2 noch einmal zurückzukommen sein wird). Dabei weisen narrative Texte nicht selten mehrere Ebenen auf, die von verschiedenen Erzähler_innen hervorgebracht werden und ihrerseits wieder verschiedene Erzähler_innen hervorbringen können. Entsprechend ist die Frage nach der Position von Erzähler_innenfiguren innerhalb der narratorialen Hierarchie als eines ontologischen Relationsgefüges auch für die Analyse von Erzähler_innenfiguren im Comic zentral. Die so unterschiedenen diegetischen Ebenen und die diesen zugeordneten Erzähler_innenfiguren lassen sich, wie oben bereits erwähnt, im Anschluss an Genette, Bal und Rimmon-Kenan als extradiegetisch, intradiegetisch und hypodiegetisch beschreiben. Extradiegetische Erzähler_innen erzählen dabei die primäre, diegetische Ebene der Storyworld. Innerhalb dieser können wiederum intradiegetische Erzähler_innen als Figuren vorkommen, welche eine sekundäre hypodiegetische Ebene der Storyworld erzählen. Findet sich auch hier wiederum ein_e hypodiegetische_r Erzähler_in, so lässt sich die Ebene der Storyworld, die diese_r erzählt, als hypo-hypodiegetisch bezeichnen und so weiter und so fort (vgl. auch Thon 2016, S. 152–156; sowie z. B. Schmid 2014, S. 80–86; Lahn/Meister 2016, S. 90–94; Martínez/Scheffel 2016, S. 79–85). Eine zweite von Genette (2010, S. 158–164, 239–245) eingeführte Unterscheidung, die inzwischen zu allgemeiner Verbreitung gefunden hat, ist die zwischen heterodiegetischen und homodiegetischen Erzähler_innen. Während homodiegetische Erzähler_innen als Figuren zugleich Teil der von ihnen erzählten Geschichten bzw. der von ihnen erzählten Welten sind, gilt dies für heterodiegetische Erzähler_ innen nicht. Obwohl nun die Genetteschen Kategorien bereits mit Blick auf literarische Texte in unterschiedlicher Hinsicht problematisiert werden könnten und zudem sowohl innerhalb der klassisch-strukturalistischen als auch innerhalb der postklassischen Narratologie noch einige weitere Kategorien zur Beschreibung von Erzähler_innen entwickelt worden sind (vgl. wiederum Thon 2016, S. 151–156; sowie z. B. Schmid 2014, S. 71–95; Lahn/Meister 2016, S. 73–111; Martínez/Scheffel 2016, S. 71–94), lassen sich die Unterscheidungen zwischen extradiegetischen, intradiegetischen und hypodiegetischen sowie zwischen heterodiegetischen und homodiegetischen Erzähler_innen doch recht produktiv auf die Analyse von Erzähler_innenfiguren im Comic übertragen und erlauben es etwa, Ozymandias in Watchmen als intradiegetischen, homodiegetischen Erzähler zu identifizieren. Wichtig ist dabei freilich, beim Transfer dieser Unterscheidungen ›medienbewusst‹ vorzugehen und also nicht dem Trugschluss zu verfallen, dass sich anhand literarischer Texte entwickelte Begriffe unmodifiziert auf Comics übertragen ließen. So führt beispielsweise die Entscheidung, den Erzähler_innenbegriff auf solche figural in Erscheinung tretende Konstrukte zu begrenzen, denen sprachliche Erzählungen zugeschrieben werden können, nicht zuletzt dazu, dass in Comics wie Jeff Smiths Bone (2004), Daniel Clowes’ Ghost World (2000) oder Arne Bellstorfs Acht, Neun, Zehn (2006) intradiegetischen Erzähler_innen wie Smiley, Enid oder Christoph Bachmanns Mutter auftreten können, deren Akt des Erzählens innerhalb

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der Diegese als Storyworld erster Ordnung zu verorten ist, ohne dass zuvor ein extradiegetischer Erzähler oder eine extradiegetische Erzählerin eingeführt worden wäre, der oder die außerhalb dieser diegetischen Ebene der Storyworld zu verorten sein würde. Das ändert nichts daran, dass Comics nicht selten auch extradiegetische, heterodiegetische oder extradiegetische, homodiegetische Erzähler_innen zur Rahmung der verbal-piktorialen bzw. eben multimodalen Darstellung einsetzen, wie das etwa in Alan Moores und David Lloyds V for Vendetta (2005), Frank Miller und David Mazzucchellis Batman. Year One (1997) oder Gaimans The SandmanSerie der Fall ist (siehe auch wiederum Kap. 2 und Kap. 3). Gaimans The Sandman bietet dabei auch ein gutes Beispiel für die Vielfalt von narratorialen Modi, in denen Erzähler_innenfiguren im Comic erzählen können (siehe Abb. 4.5). Die drei zentralen narratorialen Modi sind dabei mündliches, schriftliches und gedankliches Erzählen. Es handelt sich bei narratorialen Modi also um jene Modi, in denen Erzähler_innenfiguren erzählen und nicht etwa um die deutlich über sprachliches Erzählen hinausgehenden, allgemeiner narrativen Modi, die in einem Comic insgesamt zur Darstellung der Storyworld eingesetzt werden. Aber insbesondere im Fall von extradiegetischen, heterodiegetischen Erzähler_innenfiguren bleibt der Modus, in dem erzählt wird, nicht selten unbestimmt. So mag die Gestaltung der einleitenden Erzählblöcke in The Sandman. Preludes & Nocturnes einen schriftlichen Modus des Erzählens nahelegen, aber die Rezipierenden erfahren letztlich nicht genug über die Erzählsituation, um den Modus, in dem diese erste, nur schemenhaft als figural in Erscheinung tretende, aber doch deutlich als extradiegetisch und heterodiegetisch markierte Erzähler_innenfigur erzählt, bestimmen zu können. Das ist offenkundig anders im Fall der hier ebenfalls dargestellten intradiegetischen heterodiegetischen Erzählerin, die eine Geschichte vorliest und also ein schriftlich erzählendes intradiegetisches narratives Medium in eine mündliche Erzählung übersetzt. Allerdings wird die narratoriale Konfiguration in The Sandman. Preludes & Nocturnes durch die später erfolgende Einführung einer weiteren Erzählstimme erheblich verkompliziert. Insofern die fragliche Erzählstimme klar als die Stimme der Figur Dream markiert ist, bei der es sich, wie bereits erwähnt, um die Hauptfigur der Sandman-Serie handelt, hat man es offenkundig mit einem homodiegetischen Erzähler zu tun. Allerdings wird das erlebende Ich von Dream innerhalb der die Erzählerrede begleitenden Panels nicht als sprechend dargestellt, so dass zunächst unklar bleibt, ob es sich hier um einen extradiegetischen oder doch eher um einen denkenden intradiegetischen Erzähler handelt, dem sich dann die in den Erzählblöcken dargestellten Äußerungen als Gedankenrede zuschreiben ließe. Es kommt hinzu, dass Dream aufgrund seiner Fähigkeit, in die Träume anderer Figuren einzudringen, nicht nur als letztlich wohl doch größtenteils extradiegetischer, sondern im weiteren Verlauf des Comics auch sowohl als intradiegetischer als auch als hypodiegetischer sprechender Erzähler auftritt, wenn er beispielsweise in den hypodiegetischen Traum von Alex Burgess eindringt (siehe Abb. 4.6). Bereits die Analyse der Position von Erzähler_innen in der narratorialen Hierarchie, ihrer Involvierung in die von ihnen erzählten Geschichten sowie des narratorialen Modus, in dem sie diese Geschichten erzählen, kann also einigermaßen komplex ausfallen. Abschließend sei noch eine vierte wichtige Dimension der Analyse von Erzähler_ innenfiguren im Comic erwähnt, die die Relation zwischen der etwa in Sprechblasen und Erzählblöcken dargestellten, verbalen narratorialen Erzähler_innenrede und der keinen Erzähler_innenfiguren zuzuschreibenden non-narratorialen Dar-

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Narratologische Comicanalyse

Abb. 4.5: Extradiegetische Erzähler_innenrede in Erzählblöcken und vorlesende intradiegetische Erzählerin in The Sandman. Preludes & Nocturnes (Gaiman et al. 2010, o. S.).

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Narratologische Perspektiven der Comicforschung

Abb. 4.6: Dream als hypodiegetischer sprechender Erzähler in The Sandman. Preludes & Nocturnes (Gaiman et al. 2010, o. S.).

stellung der Storyworld im Rahmen von Panels und Panelfolgen betrifft. Diese Relation lässt sich wiederum in ganz verschiedener Hinsicht analysieren; am wichtigsten dürfte hier aber die Unterscheidung zwischen rahmenden und nicht-rahmenden Erzähler_innenfiguren sein. Intradiegetische oder auch hypodiegetische Erzähler_innenfiguren sind nicht-rahmend, wenn die non-narratoriale Darstellung in den Panels und Panelfolgen zwar den Akt der Erzählung darstellt, aber sonst nicht weiter zur Darstellung der von diesen Erzähler_innenfiguren dargestellten Storyworlds beiträgt. Dies liegt etwa im Fall der intradiegetischen vorlesenden Erzählerin und dem hypodiegetischen sprechenden Erzähler Dream in Alex Burgess Traum aus The Sandman. Preludes & Nocturnes vor (siehe Abb. 4.5 und 4.6). Sie

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sind rahmend, wenn die non-narratoriale verbal-piktoriale Darstellung nicht nur den Akt der Erzählung darstellt, sondern zudem die sprachliche Narration der entsprechenden Erzähler_innenfiguren mehr oder weniger ausführlich illustriert und so zur Darstellung der von diesen intradiegetischen Erzähler_innenfiguren eröffneten hypodiegetischen Storyworlds beiträgt. Auch im Fall der homodiegetischen Erzählerin Enid aus Ghost World oder des (zunächst) heterodiegetischen Erzählers Gaheris in The Sandman. Worlds’ End (Gaiman et al. 2012a) ist dies zu konstatieren (siehe Abb. 4.7 und 4.8).

Abb. 4.7: Enid als intradiegetische, homodiegetische, rahmende Erzählerin in Ghost World (Clowes 2000, S. 10).

Abb. 4.8: Gaheris als intradiegetischer, (zunächst) heterodiegetischer, rahmender Erzähler in The Sandman. Worlds’ End (Gaiman et al. 2012a, o. S.).

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4.1

Narratologische Perspektiven der Comicforschung

Schließlich sei ein weiteres Mal betont, dass es sich bei diesen Begriffen um eine Heuristik für die Analyse von Erzähler_innenfiguren im Comic und nicht etwa um die Ergebnisse einer solchen Analyse handelt. Es ist insbesondere wichtig, in der Analyse die Wandlungsfähigkeit nicht nur von Erzähler_innenfiguren und ihren narratorialen Rollen, sondern auch von Leser_innenhypothesen über diese narratorialen Rollen herauszuarbeiten. So gilt nicht nur, dass Erzähler wie Dream aus The Sandman manchmal intradiegetisch und manchmal hypodiegetisch oder dass Erzähler wie Gaheris aus The Sandman. Worlds’ End manchmal heterodiegetisch und manchmal homodiegetisch sein können. Vielmehr kann sich eine Erzählsituation, die die Leser_innen zunächst für extradiegetisch und/oder heterodiegetisch gehalten haben mögen, durchaus im weiteren Verlauf eines Comics als intradiegetisch und/oder homodiegetisch herausstellen. Dies ist etwa beim schriftlichen homodiegetischen Erzählen in Rorschachs Tagebuch in Watchmen der Fall, das zunächst extradiegetisch erscheint, sich dann aber als intradiegetisch herausstellt – oder bei der zunächst extradiegetisch und heterodiegetisch erscheinenden Erzählstimme in Peter Milligan und Duncan Fegredos The Enigma (1995), die sich am Ende des Comics als Stimme einer intradiegetischen, homodiegetischen Echse entpuppt. Mit den bislang skizzierten heuristischen Unterscheidungen ist also durchaus noch nicht die ganze mögliche Komplexität narratorialer Konfigurationen im Comic erfasst. Die hier vorgestellten Begriffe werden dennoch dabei helfen, die ersten Schritte einer Analyse von Erzähler_innenfiguren im Comic und den ihnen zuzuschreibenden Formen narratorialer Darstellung zu unternehmen. Freilich handelt es sich bei der Bestimmung der Position einer Erzähler_innenfigur innerhalb der narratorialen Hierarchie, dem Grad ihrer Involvierung in der durch sie erzählten Geschichte, dem narratorialen Modus, in dem sie diese Geschichte erzählt, und der Relation zwischen der ihr zugeschriebenen narratorialen Darstellung und der nonnarratorialen Darstellung der Geschichte in Panels, Panelfolgen und Seitenlayouts tatsächlich nur um den ersten Schritt einer Analyse der narratorialen Konfiguration narrativ komplexer Comics, der nicht selten Anlass zu weiterführenden Fragen geben wird, etwa nach der Zuverlässigkeit oder Unzuverlässigkeit von Erzähler_innenfiguren (vgl. z. B. auch Giesa et al. 2013; Thon 2016, S. 152–166; Mikkonen 2017, S. 129–149). Eine häufig zu findende Form der narratorialen Unzuverlässigkeit ergibt sich dabei aus der subjektiven Erinnerung oder Bewertung des Geschehens durch hochgradig involvierte Erzähler_innenfiguren wie Vincent Carl Santini in J. M. DeMatteis und Glenn Barrs Brooklyn Dreams (2003), die dann nicht – wie etwa Cluracan in The Sandman. Worlds’ End – lügen, deren Erzählung aber dennoch nicht dem entspricht, was in der Storyworld des Comics tatsächlich vorgefallen ist.

4.1.3 | Figurensubjektivität und subjektive Darstellung Nachdem die vorangegangenen Kapitel sich allgemein mit der Darstellung von Storyworlds im Comic und dem Einsatz von Erzähler_innenfiguren befasst haben, soll nun das Problem der Darstellung von Figurensubjektivität in den Blick genommen werden. Wohl auch, weil die Darstellung von Subjektivität als eines der zentralen prototypischen Merkmale des Erzählens betrachtet werden kann (vgl. z. B. Fludernik 1996, S. 9–38; Ryan 2006, S. 6–12; Herman 2009, S. 137–160), stehen die hierzu eingesetzten Strategien bereits seit mehr als fünf Jahrzehnten im Fokus narratologischer Aufmerksamkeit. Entsprechend findet sich ein beeindruckendes Korpus an Forschungsarbei-

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Narratologische Comicanalyse

ten zur Darstellung von Figurensubjektivität. Aber die dem Problembereich entgegengebrachte intensive Aufmerksamkeit hat nicht zuletzt zu einer Vielzahl unterschiedlicher und häufig widersprüchlicher Bezeichnungen und Begriffe geführt, die der Verständigung nur bedingt förderlich ist. Das Fehlen eines Konsens wird dabei insbesondere in den scheinbar endlosen Diskussionen deutlich, die sich um die drei für die Beschreibung der Darstellung von Subjektivität in literarischen Texten und anderen Medien zentralen Begriffe ›Point of View‹, ›Perspektive‹ und ›Fokalisierung‹ drehen (vgl. z. B. Niederhoff 2009a, 2009b; sowie die Beiträge in Hühn et al. 2009). Insbesondere der auf frühe Arbeiten von Genette (2010, S. 121–127, 217–221) und Bal (2017, S. 132–153) zurückzuführende Begriff der ›Fokalisierung‹ hat sich dabei nicht zuletzt in der Comicforschung als durchaus anschlussfähig erwiesen. Dabei gilt aber auch, dass einerseits Theoretiker_innen wie Martin Schüwer (2008, S. 392– 404), Karin Kukkonen (2011a), Silke Horstkotte und Nancy Pedri (2011) sowie Kai Mikkonen (2017, S. 150–173) den Begriff sehr unterschiedlich konzeptualisieren – und dass anderseits Theoretiker wie David Herman (2009, S. 137–160), Thierry Groensteen (2013, S. 121–131), Achim Hescher (2016, S. 116–144) und Jan-Noël Thon (2016, S. 221–326) bei der Analyse von Figurenbewusstsein bzw. Figurensubjektivität weniger stark auf Begriffe wie ›Fokalisierung‹, ›Perspektive‹ und ›Point of View‹ setzen. So lässt sich mit Thon (2016, S. 237–264) zwischen der für die narrative Form nachgerade konstitutiven Darstellung von Subjektivität und spezifischen Strategien subjektiver Darstellung unterscheiden. Zwar sind mehr oder weniger explizit als subjektiv markierte Segmente der narrativen Darstellung, die den Rezipierenden einen ›direkten Zugang‹ zu den inneren Welten von Figuren im Comic zur Verfügung stellen (vgl. auch Palmer 2004, S. 1–27), häufig in besonderer Weise analyserelevant, aber die Bandbreite der Strategien, die Comics zur Darstellung von Figurensubjektivität einsetzen, geht deutlich über derartige Segmente im engeren Sinne subjektiver Darstellung (bzw. ›interner Fokalisierung‹) hinaus. So können Rezipierende häufig auch dann mehr oder weniger konkrete Vorstellungen vom ›Innenleben‹ von Figuren entwickeln, wenn diese ausschließlich durch Segmente intersubjektiver Darstellung (bzw. ›externer Fokalisierung‹) etabliert werden. Weiter ist festzuhalten, dass Comics sowohl narratoriale als auch non-narratoriale Strategien subjektiver Darstellung einsetzen können und dass in der Tat der Einsatz von Erzähler_innen zur Darstellung von Figurenbewusstsein, von figuralen Wahrnehmungen oder Quasi-Wahrnehmungen oder von ggf. auch narratorial gerahmten inneren Stimmen von Figuren in narrativ komplexen Comics keineswegs ungewöhnlich ist. Dabei gilt, dass narratoriale Strategien subjektiver Darstellung auch im Comic durchaus subtil realisiert werden können. Wenn etwa der extradiegetische, homodiegetische Erzähler Wallace in Frank Millers Sin City. Hell and Back davon redet, dass »the short hairs on your arms carry an electric tingle, teasing, hinting at a coming storm« (Miller 2005, S. 10), so bezieht sich Wallaces erzählendes Ich hier trotz der ungewöhnlichen grammatischen Form offenkundig auf die subjektiven Sinneswahrnehmungen des erlebenden Ichs, das im Panel beim Fahren eines Sportwagens mit offenem Verdeck dargestellt ist. Wie das für extradiegetische, homodiegetische Erzähler_innenfiguren durchaus üblich ist, vermittelt das erzählende Ich in der Folge dann aber auch umfassendere Einblicke in das subjektive Figurenbewusstsein des erlebenden Ichs, wenn das erzählende Ich etwa über eine in der durch die Panels dargestellten Situation nur seinem erlebenden Ich zugängliche Gemüts- und Motivationslage berichtet. Das ist

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Narratologische Perspektiven der Comicforschung

Abb. 4.9: Jimmy Corrigans direkt in die Panels geschriebene innere Stimme und piktoriale Gedankenblasen in Jimmy Corrigan. The Smartest Kid on Earth (Ware 2000, o. S.).

nun sicher keine besonders spektakuläre Form von ›direktem Zugang‹, die aber gerade deswegen demonstriert, dass Comics eben recht häufig ›unspektakuläre‹ narratoriale Strategien subjektiver Darstellung einsetzen, um Rezipierenden einen umfassenderen Einblick in subjektives Figurenbewusstsein zu geben. Gleichermaßen demonstriert diese Form, dass der Einsatz von Erzählblöcken durchaus nicht auf die klar markierte Darstellung der inneren Stimme einer erlebenden Figur reduziert werden kann. Freilich geht die Bandbreite der durch Comics bei der Realisierung von Strategien subjektiver Darstellung verwendeten Techniken so oder so deutlich über den Einsatz verschiedenfarbiger Erzählblöcke oder der ebenfalls stark konventionalisierten Gedankenblase hinaus, wie sich an Chris Wares Jimmy Corrigan illustrieren lässt, wo direkt in die Panels geschriebener Text zur Darstellung der narratorial gerahmten inneren Stimme des erlebenden Ichs eingesetzt wird, aber die Gedanken des Letzteren zudem durch mit gezeichneten Bildern gefüllte Gedankenblasen dargestellt werden (siehe Abb. 4.9). Nun ist aber die Bandbreite der im Comic zu beobachtenden non-narratorialen Strategien subjektiver Darstellung, die meist in erster Linie piktorial markiert und realisiert werden, nicht weniger groß. Dabei handelt es sich etwa bei räumlichen Point-of-View-Sequenzen um Segmente eines Comics, die die Storyworld von der räumlichen Position einer bestimmten Figur aus darstellen. Dies ist im ersten Band von The League of Extraordinary Gentlemen (2002) der Fall, wenn der unsichtbare Mr. Griffin vor einem Spiegel weißes Make-Up auf sein Gesicht aufträgt (siehe Abb. 4.10). Diese kurze räumliche Point-of-View-Sequenz zeigt bereits, dass sub-

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Abb. 4.10: Räumliche Point-of-View-Sequenz in The League of Extraordinary Gentlemen, Vol. 1 (Moore/O’Neill 2002, o. S.).

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jektive Darstellungen, die die räumliche Position einer Figur simulieren, nicht durch eine klassische Point-of-View-Struktur markiert sein müssen, die zunächst die wahrnehmende Figur, dann das durch die Figur wahrgenommene Objekt und dann wieder die wahrnehmende Figur darstellen würde. Sie können ebenso Markierungen auf der Ebene des Dargestellten verwenden, um es den Rezipierenden zu ermöglichen, die entsprechenden Schlüsse zu ziehen: In diesem Fall handelt es sich bei diesen Markierungen vor allem um das geschminkte Gesicht im Spiegel und den davor schwebenden Make-Up-Topf. Während die räumliche Position einer Figur immer auch deren Wahrnehmung beeinflusst, stellen derartige räumliche Point-of-View-Sequenzen nach wie vor intersubjektiv gültige Versionen der Storyworld dar, weshalb es sich hier wohl um die am wenigsten subjektive der hier diskutierten Strategien subjektiver Darstellung handelt. Das ist anders im speziellen Fall einer subjektiven Darstellung, die sich als (quasi-)perzeptuelle Point-of-View-Sequenz beschreiben lässt. Dabei nähert sich die piktoriale Darstellung nicht nur der räumlichen Position einer Figur an, sondern stellt auch eindeutig subjektivere Aspekte ihrer Wahrnehmung bzw. ihres Bewusstseins dar, was dann in der Darstellung von Storyworld-Elementen resultiert, die nicht mehr als intersubjektiv gültig betrachtet werden können. So etwa im ersten Band von The League of Extraordinary Gentlemen, wenn die Rezipierenden erfahren, dass Mr. Hyde die Welt insofern auf eine recht spezielle Art wahrnimmt, als er Wärme ›sehen‹ kann (siehe Abb. 4.11). Diese – auch für den weiteren Fortgang der Handlung nicht unwichtige – Information wird dabei auf eher konventionelle Weise mit Hilfe einer (quasi-)perzeptuellen Point-of-View-Sequenz vermittelt. Das zweite Panel zeigt die wahrnehmende Figur Mr. Hyde, das dritte Panel zeigt das von ihm Wahrgenommene und das vierte Panel zeigt wieder Mr. Hyde. Im vorliegenden Fall verwendet die narrative Darstellung also eine Kombination von kontextuellen und textuellen Subjektivitätsmarkierungen, um deutlich zu machen, dass das im dritten Panel Gezeigte keine intersubjektive Version der Storyworld, sondern eben eine Darstellung von Mr. Hydes subjektiver Wahrnehmung derselben ist – auch und gerade wenn Letztere Mr. Hyde in dieser spezifischen Situation einen narrativ hochgradig relevanten Wissensvorsprung vor den anderen Figuren der Storyworld verschafft. Freilich müssen subjektive Darstellungen keineswegs die räumliche Position einer Figur simulieren: Vielmehr kann die verbal-piktoriale Darstellung zwar (quasi-) perzeptuelle Aspekte des Bewusstseins einer Figur darstellen, nicht aber deren räumliche Position simulieren, was sich als (quasi-)perzeptuelle Überlagerung beschreiben lässt. Dies lässt sich etwa an einer Sequenz aus Frank Millers Sin City. From Hell and Back illustrieren, während derer Wallace eine Droge verabreicht bekommt, die zu heftigen Halluzinationen führt. Dabei fungiert das Verabreichen der Droge zunächst als eine kontextuelle Subjektivitätsmarkierung, wird aber mit einer Reihe weiterer – wenig subtiler – Subjektivitätsmarkierungen innerhalb der subjektivierten Panels ergänzt, die sich sowohl auf der Ebene des Dargestellten als auch auf der Ebene der Darstellung verorten lassen. Einerseits betont die – für einen ansonsten weitgehend in Schwarzweiß gehaltenen Comic – auffällige Farbgebung des Segments dessen Subjektivität. Auf der anderen Seite entspricht jedoch das Dargestellte ebenfalls recht offensichtlich nicht den zuvor etablierten Regeln der Storyworld, was die Rezipierenden – auch ohne die auffällige Farbgestaltung – nach alternativen Erklärungen suchen lassen würde (siehe Abb. 4.12). Zur Subjektivierung der visuellen Darstellungselemente gesellt

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Abb. 4.11: Quasi-perzeptuelle Point-of-View-Sequenz in The League of Extraordinary Gentlemen, Vol. 1 (Moore/O’Neill 2002, o. S.).

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Abb. 4.12: Intensive quasi-perzeptuelle Überlagerung in Sin City. Hell and Back (Miller 2005, S. 187).

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Narratologische Comicanalyse

sich in diesem Fall wiederum eine Subjektivierung der verbalen Darstellungselemente, insbesondere in Form von Wallaces innerer Stimme, die die Geschehnisse laufend kommentiert. Dass allerdings – bei aller Spektakularität – auch dieser Fall von (quasi-)perzeptueller Überlagerung zumindest teilweise die Wahrnehmung der Storyworld durch Wallace darstellt, wird deutlich, wenn die Wirkung der Droge langsam abklingt und die Intensität sowohl der Halluzinationen als auch der Farbgebung ihrer Darstellung graduell nachzulassen beginnt, so dass Wallace (und mit ihm auch die Rezipierenden) zumindest bereits wieder das Auto erkennen kann (können), in dem er ›verunglückt wurde‹ (siehe Abb. 4.13). Wie bereits bei der (quasi-)perzeptuellen Point-of-View-Sequenz erscheint das, was im Rahmen von (quasi-)perzeptueller Überlagerung dargestellt wird, gelegentlich näher an der inneren Welt einer Figur als an der Storyworld, bleibt aber doch immer eine Darstellung der subjektiven Wahrnehmung eben jener Storyworld. Es ist dieses letzte Kriterium, das es erlaubt, die (quasi-)perzeptuelle Überlagerung von der voll ausgeprägten Darstellung innerer Welten zu unterscheiden, die kontextuell oder textuell als weder der Storyworld noch ihrer subjektiven Wahrnehmung durch eine Figur entsprechend markiert werden und stattdessen ›exklusive‹ QuasiWahrnehmungen wie Halluzinationen, Erinnerungen, Träume oder Fantasien einer Figur darstellen. Diese hochgradig subjektiven Formen der Darstellung charakterisiert, in anderen Worten, ein Wechsel der diegetischen Ebene, ein Sprung der nonnarratorialen Darstellung in die ›tiefer liegende‹, ontologisch distinkte, hypodiegetische Sub-Welt. Dabei können Comics eine Kombination von kontextuellen Markierungen, textuellen Markierungen und Markierungen auf der Ebene des Dargestellten verwenden, um diese ›diegetischen Sprünge‹ kenntlich zu machen. So etwa in The Sandman. Season of Mists (2011), wo zunächst der schlafende Träumer, Hob Gadling, dann eine Darstellung seines Traums und abschließend noch einmal Hob dargestellt wird, während er aufwacht. Die Traumsequenz enthält dabei eine seltsame Kombination von Elementen aus unterschiedlichen Zeiten, was als Teil des Traums nicht weiter verwundert, da Hob praktisch unsterblich ist, aber als Teil der Storyworld deutlich größeren Erklärungsbedarf produzieren würde. Schließlich verwendet The Sandman zur Darstellung des Traums verhältnismäßig blasse Farben und verschwommene Linien, sowie eine ›zittrige‹ Linie zur Panelbegrenzung, bei der es sich wiederum um übliche Subjektivitätsmarkierungen auf der Ebene der narrativen Darstellung handelt (siehe Abb. 4.14 und 4.15). Auch hier gilt jedoch, dass die formale Bandbreite in der Realisierung von nonnarratorialen Darstellungen innerer Welten im Comic recht groß ist, wie etwa diese Sequenz aus Frank Millers Sin City. Hell and Back illustriert, die den Übergang zur Darstellung von Wallaces meditativer Vorstellungswelt durch die in Abbildung 4.16 gezeigte, metaphorische Verortung selbiger ›in Wallaces Kopf‹ darstellt, ohne mit Blick auf die Darstellung der Vorstellungsinhalte weitere Subjektivitätsmarkierungen auf der Ebene der narrativen Darstellung zu verwenden. Umgekehrt werden in Charles Burns Black Hole hochgradig konventionalisierte ›wellige‹ Panelrahmen zur Gestaltung angedeuteter Gedankenblasen-Panels eingesetzt, die eine ganze Reihe von Träumen und Erinnerungen parallel zu den träumenden oder sich erinnernden Figuren darstellen, ohne sich dabei starker kontextueller Subjektivitätsmarkierungen zu bedienen (siehe Abb. 4.17). Abschließend sei hier noch einmal betont, dass eine umfassende Analyse der Subjektivitätsstruktur eines Comics immer auch Segmente intersubjektiver Darstellung mitberücksichtigen muss. Der vorangegangene Überblick über aktuelle An-

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Narratologische Perspektiven der Comicforschung

Abb. 4.13: Abklingende quasi-perzeptuelle Überlagerung in Sin City. Hell and Back (Miller 2005, S. 193).

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Narratologische Comicanalyse

Abb. 4.14: Beginn der Traumsequenz in The Sandman. Season of Mists (Gaiman et al. 2011, o. S.).

Abb. 4.15: Ende der Traumsequenz in The Sandman. Season of Mists (Gaiman et al. 2011, o. S.).

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4.1

Narratologische Perspektiven der Comicforschung

Abb. 4.16: Darstellung von Wallaces Vorstellungswelt in Sin City. Hell and Back (Miller 2005, S. 47).

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Narratologische Comicanalyse

Abb. 4.17: Gedankenblasen-Panels in Black Hole (Burns 2005, o. S.).

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Zum Beispiel: Craig Thompsons Habibi (2011)

sätze zur Analyse von allgemeinen narrativen Darstellungsstrategien, die zur Imagination mehr oder weniger komplexer Storyworlds einladen (siehe Kap. 4.1.1), von narratorialen Darstellungstrategien, die primär sprachlich erzählenden Erzähler_innenfiguren zugeschrieben werden können (siehe Kap. 4.1.2), sowie von subjektiven Darstellungsstrategien, die den Rezipierenden ›direkten Zugang‹ zu subjektivem Figurenbewusstsein versprechen (siehe Kap. 4.1.3), zielt vor allem darauf ab, eine erste allgemeine Vorstellung davon zu geben, mit welcher Art von Fragen sich die Comicnarratologie befasst. Die Produktivität der so eingeführten analytischen Perspektive auf die Narrativität des Comics soll nun durch eine umfangreichere Beispielanalyse von Craig Thompsons Habibi im Detail demonstriert werden.

4.2 | Zum Beispiel: Craig Thompsons Habibi (2011) Craig Thompsons 2011 veröffentlichte und trotz ihrer offenkundigen künstlerischen Verdienste kontrovers rezipierte Graphic Novel Habibi erzählt auf 655 Seiten und in neun Kapiteln die Geschichte von Dodola und Zam, zwei versklavten und dann geflohenen Personen in einer vage arabisch geprägten, fiktiven Storyworld (vgl. auch Hatfield 2011; sowie zum Begriff der ›Graphic Novel‹ Tabachnick 2010; Meyer 2015; Etter/Thon [i. Vorb.]). Die in Habibi dargestellte Geschichte thematisiert dabei durchaus komplexe politische Fragen im Spannungsfeld von Religion, Ethnie, Klasse, Gender, Sexualität, Familie, Arbeit, Kapitalismus und Umweltschutz, aber der Fokus der hier vorgestellten Beispielanalyse liegt weniger auf der thematischpolitischen als vielmehr auf der narrativ-ästhetischen Komplexität von Thompsons Graphic Novel (vgl. auch Thon 2015; 2016, S. 187–193; sowie allgemeiner Sina 2016, S. 71–83 zum Verhältnis von Comics und Gender; und den Überblick in Packard 2019 sowie die Beiträge in Packard 2014 zum Verhältnis von Comics und Politik; siehe auch Kap. 6). Es geht, mit anderen Worten, im Folgenden vor allem um die Fragen, wie Habibi die Storyworld darstellt, in der Dodola und Zam sich finden, verlieren und wieder finden; ob bzw. in welcher Weise Habibi bei der Darstellung dieser Storyworld Erzähler_innenfiguren einsetzt; und ob bzw. in welcher Weise Habibi Strategien subjektiver Darstellung einsetzt, um Rezipierenden ›direkten Zugang‹ zu den subjektiven Wahrnehmungen, Vorstellungen, Erinnerungen oder Träumen etwa von Dodola und Zam zu gewähren. Dabei ist zunächst auffällig, dass sich die von Habibi erzählte Geschichte (d. h. die Anordnung der dargestellten Situationen und Ereignisse in chronologischer Reihenfolge) über fast zwei Jahrzehnte erstreckt: Dodola ist neun Jahre alt, als sie von ihrem Vater in die Ehe mit einem deutlich älteren Mann verkauft wird; sie ist zwölf Jahre alt, als Banditen ihren Ehemann ermorden und sie auf einem Sklavenmarkt in einem namenlos bleibenden Dorf zum Verkauf anbieten, wo sie den seit seiner Geburt versklavten, drei Jahre alten Zam (geboren als Cham) trifft und mit ihm flieht. Dodola und Zam leben gemeinsam in der Wüste südlich des wohlhabenden Staates Wanatolien, bis Zam zwölf Jahre alt ist und die dann 21-jährige Dodola einmal mehr in die Fänge von Sklavenhändlern gerät. Während Dodola über sechs Jahre als Konkubine im Harem des Sultans von Wanatolien gefangen gehalten wird und das Kind des Sultans gebiert, wird Zam Mitglied einer Gruppe von Eunuchen in dem namenlos bleibenden Dorf südöstlich von Wanatolien, bevor er ebenfalls von einem im Dienste Wanatoliens stehenden Sklavenhändler gefangen und in den Palast des

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Narratologische Comicanalyse

Sultans gebracht wird. Schließlich gelingt es der dann 27-jährigen Dodola und dem dann 18-jährigen Zam ein weiteres Mal, aus der Versklavung zu fliehen und – auf Dodolas Wunsch hin – eine Familie zu gründen, indem sie ihren wenigen Besitz nicht etwa zum Erwerb eines Bootes – und also einer Möglichkeit, aus ihrem alten Leben zu entkommen –, sondern vielmehr dazu einsetzen, ein junges Mädchen aus der Versklavung freizukaufen, um sie als ihre Tochter aufzuziehen. Habibis Plot als Anordnung der dargestellten Situationen und Ereignisse in der Reihenfolge ihrer Darstellung ist freilich noch einmal deutlich komplexer und durch eine Reihe temporaler und ontologischer Sprünge zwischen verschiedenen Zeitpunkten und diegetischen Ebenen innerhalb der globalen Storyworld des Comics gekennzeichnet, die vor allem durch Dodolas extradiegetisches erzählendes Ich­ zusammengehalten werden, deren omnipräsente Erzählerinnenstimme in einer Vielzahl allerdings recht konventioneller Erzählblöcken dargestellt wird. Bereits das erste Kapitel, »River Map«, demonstriert dabei das ungewöhnlich breite (Schrift-) Wissen der extradiegetischen Erzählerin Dodola, die ihre Geschichte nicht etwa mit dem durchaus als fragwürdig dargestellten Heiratshandel zwischen ihrem Vater und ihrem Ehemann oder mit der Ermordung des Letzteren und ihrer darauf folgenden Versklavung, sondern vielmehr mit einer mythisch-religiösen Geschichte über den Ursprung allen Lebens beginnt (siehe Abb. 4.18). Auch in den folgenden Kapiteln changiert die extradiegetische Erzählerin Dodola immer wieder zwischen einer Reihe von mythisch-religiösen Geschichten, die sich etwa auf den Koran, das Buch Genesis oder stärker fiktionalisierte bzw. weniger stark spezifizierte Quellen beziehen, und den verschiedenen Teilen ihrer eigenen Geschichte. Dabei wird der Plot durch den wiederholten Wechsel zwischen der Darstellung von Situationen während Dodolas Leben mit Zam bis zu ihrem 21. Lebensjahr, Dodolas Leben im Palast des Sultans von Wanatolien zwischen ihrem 21. und ihrem 27. Lebensjahr, Zams Leben in der Eunuchen-Gruppe zwischen seinem 12. und seinem 18. Lebensjahr sowie dem gemeinsamen Leben von Dodola und Zam nach ihrer Flucht aus dem Palast des Sultans geprägt. Es handelt sich also bei Dodolas extradiegetischem erzählenden Ich um eine sowohl heterodiegetische (bei den mythisch-religiösen Inhalten) als auch homodiegetische (bei den autobiographischen Inhalten) Erzählerin. Ihre narratoriale Darstellung in Form einer verbalen Erzählung wird aber in beiden Fällen durch die non-narratoriale Darstellung in Form verbal-piktorialer Panels und Panelfolgen mit Sprechblasen und anderen Comiczeichen umfassend illustriert bzw. vervollständigt. Die temporale Komplexität des Plots wird dabei von einer nicht weniger ausgeprägten ontologischen Komplexität begleitet, insofern Habibi neben der extradiegetischen Erzählerin Dodola auch eine Reihe von intradiegetischen Erzähler_innenfiguren verwendet und zudem immer wieder Strategien subjektiver Darstellung einsetzt, von denen einige ebenfalls Storyworlds zweiter Ordnung (und also hypodiegetische narrative Ebenen) eröffnen. In der Tat setzt Habibi eine durchaus beeindruckende Bandbreite an rahmenden und nicht-rahmenden, heterodiegetischen und homodiegetischen sowie zuverlässigen und unzuverlässigen, intradiegetischen Erzähler_innenfiguren ein. Aber die narratoriale Konfiguration der Graphic Novel fokussiert auch auf der intradiegetischen Ebene primär auf Dodola, deren erlebendes Ich in der Storyworld erster Ordnung (und also auf der diegetischen narrativen Ebene) wiederholt selbst zu einem intradiegetischen erzählenden Ich wird, dessen manchmal hetero-, manchmal homodiegetische narratoriale Darstellung wiederum durch die non-narratoriale Darstellung der verbal-piktorialen Panels

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Zum Beispiel: Craig Thompsons Habibi (2011)

4.2

Abb. 4.18: Geschichte vom Ursprung des Lebens in Habibi (Thompson 2011, S. 9).

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Narratologische Comicanalyse

Abb. 4.19: Seitenränder mit Ornamenten in Habibi (Thompson 2011, S. 32).

und Panelfolgen illustriert und vervollständigt wird (und es sich bei ihr dann also um eine rahmende Erzählerin handelt). Dabei markiert Habibi jene Segmente der non-narratorialen, verbal-piktorialen Darstellung, welche die durch die verbalen Erzählungen der intradiegetischen Erzählerin Dodola eröffneten hypodiegetischen Storyworlds zweiter Ordnung illus-

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Zum Beispiel: Craig Thompsons Habibi (2011)

4.2

Abb. 4.20: Seitenränder mit schwarzer Tinte in Habibi (Thompson 2011, S. 56).

trieren bzw. vervollständigen, nicht nur mit Hilfe der narratorialen Darstellung in den die non-narratoriale Darstellung begleitenden Erzählblöcken. Vielmehr werden ontologische Ebenensprünge der non-narratorialen Darstellung in Habibi recht konsistent durch die abweichende Gestaltung der Seitenränder markiert. So sind die Seitenränder jener Segmente der non-narratorialen, verbal-piktorialen Darstellung, welche die mythisch-religiösen Erzählungen der intradiegetisch-heterodiegetischen Erzählerin Dodola illustrieren bzw. vervollständigen, mit filigranen Ornamenten gefüllt (siehe Abb. 4.19). Die Seitenränder jener Segmente der non-narratorialen, verbal-piktorialen Darstellung, welche die an ihre Dienerin Nadidah gerichtete Erzählung der intradiegetisch-homodiegetischen Erzählerin Dodola von ihrem Leben mit Zam illustrieren bzw. vervollständigen, sind dagegen vollständig mit schwarzer Tinte gefüllt (siehe Abb. 4.20). Diese Markierung von ontologischen Ebenensprüngen durch die Gestaltung der Seitenränder legt nicht zuletzt auch nahe, dass es sich bei den die Plotstruktur des zweiten Kapitels, »Veils of Darkness«, bestimmenden temporalen Sprüngen zwischen der ›Gegenwart‹ am Hof des Sultans und der ›Vergangenheit‹ von Dodolas Leben mit Zam immer auch um ontologische Sprünge zwischen der diegetischen

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4

Narratologische Comicanalyse

Ebene der Storyworld erster Ordnung und der hypodiegetischen Ebene der Storyworld zweiter Ordnung handelt, die durch die intradiegetisch-homodiegetische Erzählerin Dodola erst hervorgebracht wird, obwohl sie sich deutlich auf die diegetische Storyworld erster Ordnung bezieht. Mit Blick auf die Relation zwischen narratorialer und non-narratorialer Darstellung ist zudem der metareferenzielle Einsatz von kalligraphischer Schrift und diagrammatischen Elementen bemerkenswert (für allgemeinere Überlegungen zur Metareferenzialität von Comics vgl. auch Kukkonen 2009; Thoss 2011; Kunz 2017). Zwar handelt es sich bei Habibi um eine fiktionale Graphic Novel und Dodola wird hier grundsätzlich nicht als Zeichnerin der verbal-piktorialen Panels und Panelfolgen eingeführt. Ganz anders ist dies bei den extradiegetischen Erzähler_innenfiguren Artie in Art Spiegelmans MAUS (1980–1991) bzw. The Complete MAUS (2003), Lynda in Lynda Barrys One! Hundred! Demons! (2002) oder Alison in Alison Bechdels Are You My Mother? (2012), die als Alter Egos der Autor_innen der entsprechenden ›Graphic Memoirs‹ dargestellt werden (vgl. z. B. Chute 2010; El Refaie 2012; Pedri 2015). Zugleich scheint jedoch Habibis Einsatz von kalligraphischen und diagrammatischen Elementen die vermeintlich klare Trennung zwischen verbaler, narratorialer und verbal-piktorialer, non-narratorialer Darstellung an mehr als einer Stelle zu unterlaufen. Anders gesagt: An zahlreichen Stellen können und müssen sich die Rezipierenden fragen, ob nicht auch mindestens Anteile der Panels und Panelfolgen Dodola als extradiegetischer Erzählerin zuzuschreiben sind, ob also die extradiegetische Erzählerin zumindest ein Stück weit auf die Panels und Panelfolgen der vermeintlich non-narratorialen Darstellung in Habibi Einfluss nehmen kann (vgl. hierzu auch ausführlicher Thon 2016, S. 187–193). Nachdem sie während ihrer kurzen Ehe Lesen und Schreiben gelernt hat, entwickelt Dodola ein intensives Interesse an eben jenem Verhältnis zwischen Schrift und mythisch-religiöser Erfahrung, das auch ein zentrales Thema der gesamten Graphic Novel bildet. Während nun aber auch das intradiegetische erlebende Ich Dodolas als lesend und schreibend dargestellt wird, geht die Darstellung kalligraphischer Elemente in Habibi deutlich über eine Reproduktion der intradiegetischen Kalligraphie Dodolas hinaus. Gleichzeitig sind jedoch diese extradiegetischen kaligraphischen Elemente eng mit der extradiegetischen Erzählerinnenrede verbunden, so dass die extradiegetische Erzählerin Dodola zumindest einen Teil der non-narratorialen, verbal-piktorialen (bzw. eben: kalligraphischen) Darstellungen zu kontrollieren scheint (siehe Abb. 4.21). Noch deutlicher wird dieses Unterlaufen der Grenzen zwischen narratorialer und non-narratorialer Darstellung, wenn Habibi Karten darstellt und sich die extradiegetische Erzählerinnenrede direkt auf diese Karten bezieht, indem eine Reihe von diagrammatischen und deiktischen (d. h. auf diese Karten bzw. bestimmte Bereiche dieser Karten hinweisenden) Markierungen genutzt werden (siehe Abb. 4.22). Wie bereits erwähnt, werden aber die räumlichen, zeitlichen, kausalen und ontologischen Relationen zwischen den lokal dargestellten Situationen innerhalb von Habibis globaler Storyworld nicht nur durch eine komplexe narratoriale Konfiguration, sondern auch durch eine nicht weniger komplexe Subjektivitätsstruktur definiert: Dabei überrascht es zunächst nicht, dass insbesondere die der extradiegetischen Erzählerin Dodola zuzuschreibende narratoriale Darstellung zahlreiche subjektivierende Elemente beinhaltet und den Rezipierenden wiederholt ›direkten Zugang‹ zu Wahrnehmungen, Vorstellungen, Erinnerungen und Träumen nicht nur ihres (extradiegetischen) erzählenden Ichs, sondern auch ihres (intradiegetischen)

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Zum Beispiel: Craig Thompsons Habibi (2011)

4.2

Abb. 4.21: Kalligraphische Elemente in Habibi (Thompson 2011, o. S. [S. 659]).

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Narratologische Comicanalyse

Abb. 4.22: Karte mit diagrammatisch-deiktischen Markierungen in Habibi (Thompson 2011, o. S. [S. 28]).

erlebenden Ichs ermöglicht. Die non-narratoriale Darstellung innerhalb der verbalpiktorialen Panels und Panelfolgen verbleibt dabei größtenteils innerhalb eines intersubjektiven Darstellungsmodus, setzt aber punktuell auch stärker als subjektiv markierte Darstellungsstrategien wie (quasi-)perzeptuelle Überlagerungen oder als Panels fungierende verbal-piktoriale Gedankenblasen ein, die insbesondere im vierten Kapitel, »Mirage«, mehr oder weniger umfassend die hypodiegetischen Halluzinationen, Vorstellungen und Erinnerungen ihres intradiegetischen erlebenden Ichs darstellen (siehe Abb. 4.23). Obwohl der Fokus also zunächst auch hier auf der Subjektivität Dodolas zu liegen scheint, ist abschließend zu betonen, dass sich die Panels und Panelfolgen in Habibi immer wieder von Dodolas verbaler Erzählung lösen und die non-narratoriale Darstellung sowohl intersubjektive als auch subjektive Darstellungsstrategien einsetzt, die deutlich über den Wissensstand der extradiegetischen Erzählerin Dodola hinausgehen. So fokussieren beispielsweise das dritte Kapitel, »Raping Eden«, und das fünfte Kapitel, »Hand of Fatimah«, auf Zams erlebendes Ich, wobei die – im fünften Kapitel dann auch nicht mehr durch Dodolas extradiegetische Erzählerinnenstimme begleitete – non-narratoriale Darstellung eine Kombination von intersubjektiven Segmenten und Strategien subjektiver Darstellung verwendet, um nicht nur Zams Erlebnisse etwa während der sechsjährigen Trennung von Dodola, sondern auch seine hypodiegetischen Fantasien, Fieberträume und Erinnerungen an Dodola und die von ihr erzählten Geschichten darzustellen. Obwohl Habibis narratoriale Konfiguration also primär durch die extradiegetische Erzählerin Dodola bestimmt ist, lässt sich der Plot von Thompsons Graphic Novel nicht auf Dodolas erlebendes Ich reduzieren. Dass es sich im Gegenteil bei

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Zum Beispiel: Craig Thompsons Habibi (2011)

4.2

Abb. 4.23: Verbal-piktoriale Gedankenblasen in Habibi (Thompson 2011, S. 275).

Habibi um die Geschichte von Dodola und Zam handelt, wird durch den Einsatz von intersubjektiven und subjektiven Darstellungsstrategien, die auf Zams erlebendes Ich fokussieren, ebenso betont wie durch das achte Kapitel, »Orphan’s Prayer«, das über neun Seiten ausschließlich den inneren Monolog Zams darstellt, der am

107

4

Narratologische Comicanalyse

Abb. 4.24: Zams innerer Monolog in Habibi (Thompson 2011, S. 597).

Staudamm von Wanatolien über Suizid nachdenkt (siehe Abb. 4.24). Diese ungewöhnliche formale Gestaltung demonstriert hier also einmal mehr Habibis narrativästhetische Komplexität, bevor das neunte und letzte Kapitel, »Start Breathing«, die Geschichte von Dodola und Zam ebenso wie den Plot von Habibi mit der ›Adoption‹ des versklavten Mädchens zu einem angesichts des desolaten Zustandes der Storyworld überraschend hoffnungsvollen Ende führt.

4.3 | Fazit Als drei zentrale Theorie- und Begriffsbereiche einer transmedialen Narratologie wurden hier erstens Storyworlds und die von Comics eingesetzten allgemeinen Strategien narrativer Darstellung (siehe Kap. 4.1.1), zweitens Erzähler_innenfiguren und die ihnen zugeschriebenen Strategien narratorialer Darstellung (siehe Kap. 4.1.2) und drittens Figurensubjektivität und die Strategien subjektiver Darstellung vorgestellt, die Comics einsetzen, um ihren Rezipierenden ›direkten Zugang‹ zu den Wahrnehmungen, Vorstellungen, Erinnerungen und Träumen von Figuren zu ermöglichen (siehe Kap. 4.1.3). Wie nicht zuletzt die abschließende Beispielanalyse von Craig Thompsons Habibi demonstriert hat, generieren bereits diese drei Ansätze eine Reihe analyseleitender Fragen, die sich mit Blick auf ganz unterschiedliche Comics produktiv machen lassen. Zugleich sei aber auch noch einmal betont, dass das narratologische Theorie- und Begriffsinventar damit nicht erschöpfend rekonstruiert werden konnte. So finden sich in der gegenwärtigen narratologischen Forschung nicht nur eine ganze Reihe weiterer wertvoller analytischer Begriffe wie ›Figur‹ (vgl. z. B. Aldama 2010; Meinrenken 2010) oder ›Metalepse‹ (vgl. z. B. Kukkonen 2011b; Thoss 2015, S. 125–175), die sich ebenfalls für die narratologische Comicanalyse produktiv machen lassen, sondern Letztere setzt zudem bereits den genauen Blick auf grundlegende semiotische Prozesse (siehe Kap. 2) und multimodale Konfigurationen (siehe Kap. 3) voraus. Freilich wird es eine multiperspektivische Comicanalyse nicht bei der Analyse von semiotischen, multimodalen und narrativen Darstellungsstrategien eines Co-

108

Fazit

4.3

mics belassen, sondern vielmehr weiter beispielsweise den verschiedenen Comicgenres und deren Verhältnis zu Genres in anderen Medien (siehe Kap. 5), den politischen Implikationen der comicspezifischen Repräsentation von intersektionalen Differenzachsen (siehe Kap. 6) oder den (inter)kulturellen Kontexten verschiedener Comics (siehe Kap. 7) nachgehen. Zwar handelt es sich dabei nicht um ›klassisch-narratologische‹ Fragen, aber sie führen doch letztlich alle auch zu einem besseren Verständnis des Comics als einer narrativen Form und demonstrieren so einmal mehr die Vorzüge einer multiperspektivisch ausgerichteten Comicanalyse. Primärliteratur Barry, Lynda: One! Hundred! Demons! [2001–2002]. Montreal 2002. Bechdel, Alison: Are You My Mother? A Comic Drama. Boston 2012. Bellstorf, Arne: Acht, Neun, Zehn. Berlin 2006. Burns, Charles: Black Hole [1995–2005]. New York 2005. Carey, Mike/Gross, Peter: The Unwritten. Tommy Taylor and the Bogus Identity [2009]. New York 2010. Clowes, Daniel: Ghost World [1993–1997]. London 2000. Crumb, Robert: »Abstract Expressionist Ultra Super Modernist Comics«. In: Zap Comix #1 (1967). DeMatteis, J. M./Barr, Glenn: Brooklyn Dreams [1994]. New York 2003. Gaiman, Neill/Kieth, Sam/Dringenberg, Mike/Jones, Malcolm, III: The Sandman. Preludes & Nocturnes [1988–1989]. New York 2010. Gaiman, Neill/Jones, Kelley/Dringenberg, Mike/Jones, Malcolm, III/Wagner, Matt/Giordano, Dick/Pratt, George/Russell, P. Craig: The Sandman. Season of Mists [1990–1991]. New York 2011. Gaiman, Neill/Allred, Michael/Amaro, Gary/Buckingham, Mark/Giordano, Dick/Harris, Tony/Leialoha, Steve/Locke, Vince/Pensa, Shea Anton/Stevens, Alec/Talbot, Bryan/Watkiss, John/Zulli, Michael: The Sandman. Worlds’ End [1993]. New York 2012a. Gaiman, Neill/Hempel, Marc/Case, Richard/D’Israeli/Kristiansen, Teddy/Dillon, Glyn/Vess, Charles/Ormston, Dean/Nowlan, Kevin: The Sandman. The Kindly Ones [1993–1995]. New York 2012b. Miller, Frank: Rōnin [1983–1984]. New York 1987. Miller, Frank: Sin City. Hell and Back [1999–2000]. Milwaukie 22005. Miller, Frank/Mazzucchelli, David: Batman. Year One [1987]. New York 1997. Milligan, Peter/Fegredo, Duncan: The Enigma [1993]. New York 1995. Moore, Alan/Gibbons, Dave: Watchmen [1986–1987]. London 2005. Moore, Alan/Lloyd, David: V for Vendetta [1988–1989]. New York 2005. Moore, Alan/O’Neill, Kevin: The League of Extraordinary Gentlemen, Vol. 1 [1999–2000]. London 2002. Smith, Jeff: Bone [1991–2004]. Columbus 2004. Spiegelman, Art: The Complete MAUS [1980–1991]. New York 2003. Thompson, Craig: Habibi. New York 2011. Ware, Chris: Jimmy Corrigan. The Smartest Kid on Earth [1995–2000]. New York 2000. Allgemeine Literatur Brunken, Otto/Giesa, Felix (Hg.): Erzählen im Comic. Berlin 2013. Groensteen, Thierry: Comics and Narration. Jackson 2013. Herman, David: Basic Elements of Narrative. Chichester 2009. Hühn, Peter/Meister, Jan Christoph/Pier, John/Schmid, Wolf (Hg.): Handbook of Narratology, 2 Bände. Berlin 22014. Kukkonen, Karin: Contemporary Comics Storytelling. Lincoln 2013. Mikkonen, Kai: The Narratology of Comic Art. New York 2017. Postema, Barbara: Narrative Structure in Comics. Making Sense of Fragments. Rochester 2015. Schüwer, Martin: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur. Trier 2008.

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Narratologische Comicanalyse

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110

Fazit

4.3

Kunz, Tobias: »›Oopsie, I made a universe!‹. Narration und Metareferenz in Brian K. Vaughan und Fiona Staples’ Saga«. In: Medienobservationen (2017), https://www.medien observationen.de/2017/kunz-narration-metareferenz-saga/ (30.04.2019). Lahn, Silke/Meister, Jan Christoph: Einführung in die Erzähltextanalyse. Stuttgart 32016. Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München 102016. Meinrenken, Jens: »Figurenkonzepte im Comic«. In: Rainer Leschke/Henriette Heidbrink (Hg.): Formen der Figur. Figurenkonzepte in Künsten und Medien. Konstanz 2010, 229– 246. Meyer, Christina: »Un/Taming the Beast, or Graphic Novels (Re)Considered«. In: Daniel Stein/Jan-Noël Thon (Hg.): From Comic Strips to Graphic Novels. Contributions to the Theory and History of Graphic Narrative. Berlin 22015, 271–299. Mikkonen, Kai: The Narratology of Comic Art. New York 2017. Niederhoff, Burkhard: »Focalization«. In: Peter Hühn/John Pier/Jörg Schönert (Hg.): Handbook of Narratology. Berlin 2009a, 115–123. Niederhoff, Burkhard: »Perspective/Point of View«. In: Peter Hühn/John Pier/Jörg Schönert (Hg.): Handbook of Narratology. Berlin 2009b, 384–397. Packard, Stephan (Hg.): Comics und Politik/Comics and Politics. Berlin 2014. Packard, Stephan: »Der dramatische Reichtum der Multimodalität. Überlegungen zur Selbstorganisation semiotischer Ressourcen anhand von Sichtbarkeit und Visualität«. In: IMAGE. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft 28 (2018), 123–136. Packard, Stephan: »Comics and Politics«. In: Sebastian Domsch/Dan Hassler-Forest/Dirk Vanderbeke (Hg.): Handbook of Comics and Graphic Novels. Berlin [in Vorbereitung]. Palmer, Alan: Fictional Minds. Lincoln 2004. Pedri, Nancy: »Graphic Memoir. Neither Fact Nor Fiction«. In: Daniel Stein/Jan-Noël Thon (Hg.): From Comic Strips to Graphic Novels. Contributions to the Theory and History of Graphic Narrative. Berlin 22015, 127–153. Postema, Barbara: Narrative Structure in Comics. Making Sense of Fragments. Rochester 2015. Rimmon-Kenan, Shlomith: Narrative Fiction. Contemporary Poetics. London 22002. Ryan, Marie-Laure: Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory. Bloomington 1991. Ryan, Marie-Laure: Avatars of Story. Minneapolis 2006. Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie. Berlin 32014. Schüwer, Martin: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur. Trier 2008. Sina, Véronique: Comic – Film – Gender. Zur (Re-)Medialisierung von Geschlecht im Comicfilm. Bielefeld 2016. Stein, Daniel/Thon, Jan-Noël (Hg.): From Comic Strips to Graphic Novels. Contribution to the Theory and History of Graphic Narrative. Berlin 22015. Tabachnick, Stephen E.: »The Graphic Novel and the Age of Transition. A Survey and Analysis«. In: English Literature in Transition, 1880–1920 53/1 (2010), 3–28. Thon, Jan-Noël: »Who’s Telling the Tale? Authors and Narrators in Graphic Narrative«. In: Daniel Stein/Jan-Noël Thon (Hg.): From Comic Strips to Graphic Novels. Contributions to the Theory and History of Graphic Narrative. Berlin 22015, 67–99. Thon, Jan-Noël: Transmedial Narratology and Contemporary Media Culture. Lincoln 2016. Thon, Jan-Noël: »Transmedial Narratology Revisited. On the Intersubjective Construction of Storyworlds and the Problem of Representational Correspondence in Films, Comics, and Video Games«. In: Narrative 25/3 (2017), 286–320. Thon, Jan-Noël: »Comics Narratology«. In: Sebastian Domsch/Dan Hassler-Forest/Dirk Vanderbeke (Hg.): Handbook of Comics and Graphic Novels. Berlin [in Vorbereitung]. Thoss, Jeff: »›This Strip Doesn’t Have a Fourth Wall‹. Webcomics and the Metareferential Turn«. In: Werner Wolf (Hg.): The Metareferential Turn in Contemporary Arts and Media. Forms, Functions, Attempts at Explanation. Amsterdam 2011, 551–568. Thoss, Jeff: When Storyworlds Collide. Metalepsis in Popular Fiction, Film and Comics. Amsterdam 2015. Walton, Kendall L.: Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts. Cambridge, Mass. 1990.

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Narratologische Comicanalyse

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5

5 Genretheoretische Comicanalyse Seit den Anfängen des Comics zählen Genres zu den zentralen Verständigungsbegriffen zwischen Produzent_innen und Rezipierenden. Sie können an bestehende literarische Traditionen der Phantastik, der Romanze und der Abenteuerliteratur anschließen. In einigen Fällen stehen sie in enger Verbindung mit dem Format der Publikation, von den Sonderseiten der Sonntagszeitung bis hin zu webspezifischen Inhalten. Autobiographische Erzählungen und Sachcomics verpflichten sich graduell auf dokumentarische Anteile. Manche Genreformen wie die Superheld_innen-Comics dehnen sich auf andere Medien wie Filme und Computerspiele aus. In den 2000er und 2010er Jahren avancieren Verfilmungen der Superheld_innen-Comics sogar zum erfolgreichsten Genre Hollywoods. An dieser Entwicklung zeigt sich nicht nur die besondere Aktualität von Genrekonzepten in der Diskussion der zeitgenössischen Populärkultur, sondern auch ihre medienübergreifende Relevanz. Die in den Superheld_innen-Filmen zum Einsatz gebrachten Konventionen greifen auf eine lange Tradition eines der prägendsten Comicgenres des 20. Jahrhunderts zurück. Die Genreformen der Comicvorlagen bestimmen die Bildsprache, die Standardsituationen, den dramaturgischen Aufbau, die Typologie der auftretenden Figuren und die Spielregeln der entworfenen Welt. Das vorliegende Kapitel betrachtet anhand des Superheld_innen-Genres exemplarisch, welche theoretischen Perspektiven sich innerhalb der Comicforschung anbieten, um die Figuren, die Zeichen, die Struktur, die Handlungsräume, die Standardsituationen und die historische Entwicklung eines Genres zu diskutieren. Die vorgestellten Verfahren lassen sich natürlich auch auf andere Comicgenres wie Abenteuer, Science-Fiction, Agenten- und Detektivgeschichten, Fantasy usw. übertragen. Das Genre der Superheld_innen bietet sich aufgrund der kontinuierlichen Vermischung mit anderen Genres jedoch besonders an, um ein möglichst breites Spektrum an Begrifflichkeiten der Genretheorie zu diskutieren. Nach einer grundlegenden Übersicht zum Genre der Superheld_innen im Comic widmet sich Kapitel 5.1.1 den für die genretheoretische Analyse grundlegenden Begriffen der Semantik, die sich auf die verschiedenen Zeichen und Bedeutungsträger_ innen konzentriert, und der Syntax, die sich auf die wesentlichen Strukturelemente bezieht (vgl. Altman 1999). Im Anschluss daran werden unter 5.1.2 die mit der Bezeichnung des Settings assoziierten Raumstrukturen und die Standardsituationen des Superheld_innenGenres vorgestellt. Durch die serielle Struktur der fortlaufenden Comicreihen, die sich wie in den Publikationen der Verlage DC und Marvel auch immer wieder überschneiden und gegenseitig ergänzen, entstehen umfangreiche Erzählungen. Deren Übertragung in andere Medien wie Filme, Fernsehserien und Computerspiele befördert transmediale Adaptions- und Austauschprozesse. Die fortlaufende Aktualisierung und Neuverhandlung der Mythologie um Superheld_innen prägt eine umfassende Genregeschichte, deren Analyse Auskunft über kulturelle Kontexte und gesellschaftliche Repräsentationsmechanismen in den Bereichen Race, Class und Gender ermöglicht (vgl. Sina 2016; siehe auch Kap. 6 zur intersektionalen und Kap. 7 zur interkulturellen Comicanalyse). In einigen Fällen eröffnen die Bezüge auf die Genrekonventionen und deren Variation eine kommenJ.B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Packard et al., Comicanalyse. Eine Einführung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04775-5 _5

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5

Genretheoretische Comicanalyse

tierende und kritische Perspektive, wie in Kapitel 5.1.3 erläutert wird. Diese Form der Selbstreflexivität kann die Spielregeln des Genres sowohl dekonstruieren als auch fortschreiben und um neue Handlungsmöglichkeiten erweitern. Abschließend bringt die Analyse des Comics Old Man Logan (2008) von Mark Millar und Steve McNiven die vorgestellten Begrifflichkeiten exemplarisch zur Anwendung. Die Austauschbeziehungen zwischen Superheld_innen-Genre und Western veranschaulichen im Fall von Old Man Logan den für die aktuelle Forschung zur Hybridität von Genres zentralen Prozess der Vermischung (vgl. Kuhn et al. 2013; Scheinpflug 2014; Stiglegger 2019). Der abschließende Vergleich mit der Verfilmung Logan (2017) durch den Regisseur James Mangold erweitert die comicspezifische Diskussion außerdem um die weiter gefassten Kontexte der Transmedialität, die sich mit Hilfe einer pragmatischen Genretheorie pointiert erfassen lassen.

5.1 | Das Genre der Superheld_innen im Comic Der Begriff des Genre lässt sich auf das französische Wort für Typ oder Art zurückführen. Die kulturelle Auseinandersetzung mit Genres reicht bis zur Poetik des Aristoteles zurück (vgl. Aristoteles 1982). Die dort getroffene Unterscheidung zwischen Tragödie und Komödie bildet eine der ersten Ausdifferenzierungen von Genresystemen. Genres dienen als Verständigungsbegriffe zur Kommunikation zwischen Produzent_innen und Rezipierenden (vgl. Casetti 2001; Hickethier 2002). Mit ihnen werden besondere Erwartungshaltungen, kulturelle Codes, charakteristische Figurentypen und ikonographische Bilder assoziiert (vgl. Kuhn et al. 2013; Scheinpflug 2014; Stiglegger 2019). Generell zeichnen sich Genres durch ein Wechselspiel zwischen industrieller Normierung und kreativer Variation aus (vgl. Grant 2007). Der genretheoretische Diskurs in der Comicforschung schließt einerseits an literaturwissenschaftliche Debatten an und nutzt andererseits auch Genretheorien der Filmwissenschaft, in der Genres aufgrund der internationalen Produktionsstandards und der globalen kulturellen Austauschprozesse eine zentralere Rolle als in anderen Disziplinen einnehmen. Genres dienen der kulturindustriellen Standardisierung von Arbeitsabläufen in der Produktion. Zugleich können sie durch individuelle Auslegungen, subversive Abweichungen und ausdifferenzierte Repräsentationsmechanismen aber auch zur Verhandlung des kulturellen Selbstverständnisses einer Gesellschaft dienen. Genres treten sowohl medienübergreifend als auch in medienspezifischen Ausformungen auf (vgl. Harvey 2019). Während Genrekonventionen immer wieder neu ausgehandelt werden, werden deren medialen Bedingungen materiell bestimmt (siehe auch Kap. 3 zu Multimodalität): Genre conventions are genuine rules specified by humans, whereas the constraints and possibilities offered by media are dictated by their material substance and mode of encoding. But, insofar as they lend themselves to many uses, media support a variety of genres. (Ryan 2004, S. 19)

Die literaturwissenschaftliche Genrediskussion im 20. Jahrhundert war neben der Untersuchung von Motivtraditionen und Themen einzelner Genres, in deren Rahmen etwa der Literaturwissenschaftler Northrop Frye in seiner Studie Anatomy of Criticism (1957) die Rückbezüge diverser Genres auf mythische Stoffe verfolgte, von formalisti-

114

Das Genre der Superheld_innen im Comic

5.1

schen, auf die syntaktische Struktur fokussierten Ansätzen geprägt. Sie gingen oft von Vladimir Propps umfassender Studie zur sogenannten Morphologie des russischen Märchens aus (vgl. Propp 1972). An diese Tradition knüpfen auch narratologische Überlegungen zu den narrativen Strukturen eines Genres wie Tzvetan Todorovs Studien zur Phantastik an. Todorov situiert die Wirkung der phantastischen Literatur zwischen den Polen des Wunderbaren und des Unheimlichen (vgl. Todorov 2013). Die Genres Science-Fiction, Fantasy und Horror lassen sich graduell zwischen diesen beiden gegensätzlichen Tendenzen verorten. Die Science-Fiction befindet sich dem Wunderbaren am nächsten, während Horror am stärksten zum Unheimlichen neigt und Fantasy Elemente beider Tendenzen integriert. Im Unterschied zur rein formalistischen Analyse narrativer Strukturen erfährt in Todorovs Ansatz auch die ästhetische Wirkung der Erzählung eine entsprechende Berücksichtigung. Parallelen zu mythischen Strukturen bestimmen maßgeblich die Studie The Hero with a Thousand Faces des Anthropologen Joseph Campbell von 1949 (dt. Der Heros in tausend Gestalten; vgl. Campell 1999). Das von ihm in den unterschiedlichsten Kulturkreisen als grundlegende Struktur für mythische Erzählungen ausgemachte Modell der Held_innenreise umfasst im Anschluss an Propp zwölf Stationen, die die Held_innen zu absolvieren haben. Ein ungewöhnlicher Zwischenfall oder ein traumatisches Ereignis initiiert den Ruf des Abenteuers. Entsprechend dem Schema der Held_ innenreise, das sich in Comicverfilmungen wie auch in Abenteuerromanen besonderer Beliebtheit erfreut (vgl. Krützen 2004; Vogler 2007), folgt auf den Aufbruch aus der gewohnten Alltäglichkeit der Weg der Prüfungen und schließlich die Rückkehr aus dem Abenteuer mit wertvollen Erfahrungen. Campbell bezieht sich in seinem Modell auf die Archetypenlehre C. G. Jungs, die sich in Figuren wie Mentor_innen, undurchsichtigen Gestaltwandler_innen, hilfreichen Gefährt_innen und den Gegenspieler_innen als schattenhafter Kontrast zu den Held_innen niederschlägt (vgl. Campbell 1999). Campbells Modell erfreut sich nicht nur als Strukturmuster für erfolgreiche Genrefilme wie die Star Wars-Saga (seit 1977) besonderer Beliebtheit. Der Katalog der von ihm diskutierten Archetypen findet sich in Superheld_innen-Comics in den unterschiedlichsten Varianten. Auch Versatzstücke der Held_innenreise lassen sich als wesentliche Bausteine des Superheld_innen-Genres identifizieren. Die Konfrontation mit Gegenspieler_innen, die zeitweilige Sinnkrise voller Selbstzweifel und Angst vor dem Scheitern an der bevorstehenden schwierigen Aufgabe gehören zum festen Repertoire. Eine erste prägende Grundlage für die akademische Analyse von Comics, die sich als besonders fruchtbar für die Diskussion von Genreformen erwies, leistete im Rahmen einer weiter gefassten Beschäftigung mit Phänomenen der Populärkultur der italienische Philosoph und Semiotiker Umberto Eco. In seinem 1962 erstmals publizierten und 1972 in englischer Übersetzung erschienen Aufsatz »Der Mythos von Superman« (1984) diskutiert er das Phänomen der Mythisierung als »unbewusste Symbolisierung« (ebd., S. 187) im Rahmen industriell produzierter Massenmedien. Im symbolischen Bild Supermans entdeckt Eco in der populären Vorstellungswelt eine Konstante – von Herkules zu Siegfried, von Roland über Pantagruel bis zu Peter Pan. Häufig erscheinen seine übernatürlichen Kräfte als die erhabene Verwirklichung eines natürlichen Vermögens [...] in einer Industriegesellschaft, die den Einzelnen seiner Besonderheit enteignet zugunsten einer förmlichen Organisationsgewalt, die für ihn entscheidet, [...] in einer solchen Gesellschaft muss der positive Held die Selbständigkeitswünsche und Machtträume, die der einfache Bürger hegt, aber nicht befriedigen kann, geradezu exzessiv auf sich versammeln. (Ebd., S. 193)

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5

Genretheoretische Comicanalyse

Die episodischen Erzählungen der einzelnen Hefte verzichten nach Ecos Interpretation zu Gunsten ihres mythischen Potenzials auf eine Entwicklung. Sie erzeugen die »Illusion einer unbeweglichen Gegenwart« (ebd., S. 204) und »spielen sich in einer Art Traumsphäre ab – vom Leser unbemerkt –, in der ganz und gar undeutlich bleibt, was vorher und was nachher passiert ist« (ebd., S. 202). Die Struktur der immer wieder auf den Ausgangspunkt zurückkehrenden Dramaturgie erweist sich für Eco als »ein zirkuläres und statisches Gefüge, als Träger einer ihrem Wesen nach starren pädagogischen Botschaft« (ebd., S. 213). Ecos Analyse kann als kennzeichnend für ein strukturalistisches Verständnis der Superheld_innen gedeutet werden. Die gesellschaftliche Funktion des konstruierten Mythos und der mit ihm verbundenen Struktur als System von Oppositionen steht im Mittelpunkt des Interesses. Obwohl Superman sich durch ironische Finessen für Eco von den Produkten des reinen Kommerzes abhebt, bleibt der Figurentypus letztendlich eindimensional: Superman ist in hohem Maße mit den anderen Superhelden austauschbar. Er ist und bleibt ein Topos, von dem Kontext, in dem er agiert, deutlich abgetrennt. Er handelt unterhalb seiner Möglichkeiten, verweigert sich dem Wahrscheinlichen, das verlangt vom Leser die »suspension of disbelief«. (Ebd., S. 218)

Ecos Analyse von Superman benennt einige wesentliche Merkmale des Superheld_ innen-Genres wie den episodischen Aufbau der frühen Comics und deren zyklische Struktur, das Aufeinandertreffen von Archetyp und Alltäglichkeit sowie die für klassische Comicheld_innen charakteristische Doppelidentität. Supermans Alter Ego des ungeschickten Reporters Clark Kent nährt nach Eco die Hoffnungen des Lesers bzw. der Leserin, »eines Tages die Fesseln der Mittelmäßigkeit, die ihn an seine Lebensverhältnisse binden, abstreifen zu können: von einem Biedermann zu einem Weltbeweger zu werden« (ebd., S. 194). Die strukturalistische Lesart der Superheld_innen als eines medial konstruierten Mythos bildet einen wichtigen und hilfreichen Ausgangspunkt für eine kritische Auseinandersetzung mit den Motiven und Figurenkonzepten des Genres (vgl. Packard 2010). Barry Keith Grant erläutert die Bedeutung des Mythos im Kontext von Genreformen: [T]he term ›myth‹ refers to a society’s shared stories, usually involving gods and mythic heroes, that explain the nature of the universe and the relation of the individual to it. Such mythic narratives embody and express a society’s rituals, institutions and values. (Grant 2007, S. 29)

Unschwer lassen sich deutliche Parallelen zwischen diesem Verständnis von Mythen und den Superheld_innen erkennen, die in immer wieder neu erfolgenden Aushandlungsprozessen die Werte einer Gesellschaft repräsentieren. Der Comicforscher Peter Coogan definiert Superheld_innen als heroische Figuren, die sich ganz dem Wohl der Gemeinschaft verschrieben haben und deren Selbstverständnis in ihren Kostümen und ihren Codenamen Ausdruck findet: Eine heroische Figur mit einer selbstlosen prosozialen, universellen Mission; die übernatürliche Kräfte besitzt – außergewöhnliche Fähigkeiten, avancierte Technologie, oder auch hochentwickelte körperliche und/oder mentale Leistungsfähigkeit (einschließlich mystische Fähigkeiten); deren Identität als Superheld durch einen Codenamen und ein ikonisches Kostüm symbolisiert wird, die üblicherweise ihre Biographie oder ihren Charakter, ihre Kräfte und ihren Ursprung (Verwandlung einer gewöhnlichen Person in einen Superhelden) zum Aus-

116

Das Genre der Superheld_innen im Comic

5.1

druck bringen; und die generisch markiert ist, d. h. aufgrund von Gattungskonventionen von Figuren verwandter Genres (Fantasy, Science-Fiction, Krimis, etc.) unterschieden werden kann. (Coogan 2018, S. 85)

Der französische Kulturkritiker und Philosoph Roland Barthes untersucht in seiner 1957 entstandenen, prägenden Studie Mythen des Alltags (2012), wie politische Interessen und Herrschaftsverhältnisse durch medial lancierte Mythen legitimiert werden. Wie Claude Lévi-Strauss (1967) und Umberto Eco (1977) begreift Barthes den Mythos als Sprache und Zeichensystem. Die ritualisierte Wiederholung gewisser Mythen dient seinem Verständnis nach der Verfestigung von Machtverhältnissen durch eine scheinbare Naturalisierung: »Hier sind wir beim eigentlichen Prinzip des Mythos: Er verwandelt Geschichte in Natur« (Barthes 2012, S. 278). Die Mythen des Alltags bringen falsche Kausalitäten hervor und verschleiern gesellschaftliche Machtstrukturen. Die suggerierte Naturalisierung bewirkt zugleich eine Enthistorisierung. An diesem Punkt kann Genretheorie als Ideologiekritik ansetzen, indem der Mythos als ein konstruiertes Zeichensystem verstanden und gegengelesen wird (vgl. Rauscher 2019, S. 205–239). Über die von Eco thematisierten Wiederholungsstrukturen hinaus erweisen sich für eine reflektierte Kritik an den Mythen des populärkulturellen Alltags, in dessen Ausprägung die Superheld_innen eine zentrale Rolle spielen, insbesondere die mit Genreformen verknüpften Variationen als wesentliches Merkmal (vgl. Grant 2007, S. 1). Der Medienwissenschaftler Peter Scheinpflug betont in Abgrenzung zu einem essenzialistischen Genreverständnis, wie es sich noch in Ecos Lektüre der Superman-Comics findet: »Genres sind kein stabiles Set an Konventionen, sondern hochgradig dynamisch, da jeder einzelne Text Genre-Konzepte aktualisiert [...] GenreKonzepte werden in Diskursen in Interdependenz von Texten und ihren Rezipienten ausgehandelt« (Scheinpflug 2014, S. 13–14). Eine genauere Betrachtung der Semantik und der Syntax der Superheld_innen-Comics verdeutlicht die dynamischen Prozesse innerhalb des Genres. Sie bieten sich ganz allgemein als erster Anhaltspunkt für die Analyse eines Genres an, bevor in einem zweiten Schritt die Handlungsorte und Standardsituationen diskutiert werden. Aus den Akzentverschiebungen, Formatierungen (siehe Kap. 7) und Konfigurationen lassen sich in einem dritten Schritt kulturelle Kontexte und historisierende Perspektiven erschließen.

5.1.1 | Semantik und Syntax eines Genres Ein kursorischer Blick auf die Figuren der Verlage Marvel und DC verdeutlicht, dass sich in deren Konzeption für die Fantasy typische Held_innen (Thor, Wonder Woman) ebenso ausfindig machen lassen wie Science-Fiction-affine Tüftler_innen und Techniker_innen (Batman, Spider-Man, Iron Man, Wasp, Shuri), Außerirdische (Superman, die Guardians of the Galaxy, Captain Marvel), Mutanten (die X-Men) und vergleichsweise klassische Action-Held_innen und Agent_innen (Nick Fury, Black Widow, Captain America, Elektra, Black Canary, Green Arrow). Bereits ein Zusammentreffen von Superman, Batman und Wonder Woman bedient streng genommen drei verschiedene Genretypen: Superman bewegt sich als Außerirdischer vom Planeten Krypton, dem die Strahlung unserer Sonne außergewöhnliche Kräfte verleiht, im Grenzbereich zur Science-Fiction und als Reporter Clark Kent im

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Genretheoretische Comicanalyse

journalistischen Alltag einer Redaktion, die als Kulisse eines Hollywood-Films der 1930er oder 1940er Jahre dienen könnte. Insbesondere das Verhältnis Clarks zu seiner Kollegin und späteren Partnerin Louis Lane, die im Lauf der Comics seine geheime Identität erfährt, erinnert an schlagfertige und gewitzte Wortgefechte, wie sie sich in Komödien des klassischen Hollywoodkinos (classical Hollywood cinema) um Journalist_innen wie beispielsweise Howard Hawks His Girl Friday (1940) finden. Der Arbeitsalltag von Batman konzentriert sich hingegen auf Nachtschichten im düsteren Moloch Gotham City. Seine extravaganten Gegenspieler_innen, wie der von Conrad Veidt in Paul Lenis The Man Who Laughs (1928) inspirierte Joker oder die je nach Handlungsverlauf als Femme Fatale oder sogar als Lebensabschnittspartnerin auftretende Diebin Selina Kyle alias Catwoman, setzen sowohl Traditionen der Schauerromantik als auch des Film Noir fort. Batmans bürgerliches Alter Ego, der Millionär Bruce Wayne, könnte hingegen, würde er sich nicht abends ein Fledermaus-Kostüm überziehen und in den Bereich der expressionistischen Phantastik wechseln, ebenso als Armchair- und Amateur-Detektiv in der Tradition der britischen Kriminalliteratur des frühen 20. Jahrhunderts in Aktion treten. Wonder Womans ursprüngliche Identität als Kriegerin, die auf der Insel der Amazonen aufwächst, verweist von allen drei Figuren am deutlichsten auf die Ursprünge der Superheld_innen in der klassischen Mythologie. In ihrer zivilen Identität als Diana Prince arbeitete sie ursprünglich während des Zweiten Weltkriegs als Ärztin und Agentin sowie später als Übersetzerin für die Vereinten Nationen und in der gegenwärtigen, von der Schauspielerin Gal Gadot in den DC-Filmen verkörperten Variante als Museumskuratorin. Diese vielseitigen stilistischen Spielarten der Superheld_innen ergeben sich aus der Flexibilität der Semantik und der Syntax. In der Genreforschung werden diese Begriffe in einer abgewandelten Bedeutung verwendet, die sich in der strukturalistischen Tradition aus ihrer früheren semiotischen und linguistischen Bestimmung entwickelt (siehe Kap. 2 und Kap. 3). Die Semantik gibt nach diesem Verständnis Aufschluss über die Bildsprache und deren Konventionen, die an die Stelle der bedeuteten Inhalte treten; die Syntax über die grundlegenden Strukturen der Erzählung und ihrer Komposition. Das mit einem Genre verbundene Repertoire an Zeichen und die mit den Formen des Genres verbundenen Strukturen bilden so unabhängig vom jeweiligen Medium einen der ersten Anhaltspunkte der genretheoretischen Analyse. Barry Keith Grant unterscheidet in Anlehnung an Rick Altman die semantische und die syntaktische Ebene: »[G]enres are composed of both semantic and syntactic elements – roughly distinguishing iconography and conventions, from themes and narrative structures, or outer and inner form« (Grant 2007, S. 39). Das von Altman ursprünglich auf Filmgenres bezogene semantisch-syntaktische Genremodell lässt sich mit leichten Variationen auch auf andere Medien wie Computerspiele (vgl. Rauscher 2011) und Comics übertragen. Coogan benennt eine konsequent verfolgte Mission, exzeptionelle Kräfte und eine durch Codename und Kostüm bestimmte Identität als zentrale Kennzeichen der Superheld_innen: Die drei Elemente – Mission, Kraft und Identität, kurz MKI – bilden den Kern des Genres. Aber es gibt auch Superhelden, die diesen drei Konventionen nicht ganz entsprechen, und es gibt auch in anderen Genres Helden, welche die drei Konventionen zwar erfüllen, aber nicht als Superhelden klassifiziert werden sollten. Diese offensichtliche Unbestimmtheit liegt in der Natur des Phänomens ›Genre‹. (Coogan 2018, S. 92)

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Das Genre der Superheld_innen im Comic

5.1

Im Bereich der Superheld_innen lässt sich der von Altman wie Coogan untersuchte Prozess sehr gut an Figuren wie Luke Cage (vgl. Coogan 2018, S. 95–98) und Black Widow verdeutlichen. Sie entsprechen zwar in ihrer Semantik nicht dem klassischen Bild der Superheld_innen, erfüllen aber in ihrer Syntax die Erfordernisse des Genres. Beide Figuren könnten gemäß ihrer Typologie auch in anderen Genres auftreten. Der an die afro-amerikanischen Held_innen der Blaxploitation der 1970er Jahre angelehnte Luke Cage ermittelt in der Tradition eines Privatdetektivs. Ihm könnte man jederzeit auch in einem urbanen Kriminalfilm begegnen. Black Widow verfügt hingegen über eine umfassende Ausbildung als in allen Finessen der Martial Arts geschulte Geheimagentin. Sie könnte auch in den Bereich des Agenten-Abenteuerfilms, wie er seit Jahrzehnten exemplarisch von den James Bond-Filmen (seit 1962) bedient wird, wechseln. Ihr Erscheinungsbild lässt sich ebenfalls nicht unbedingt auf den ersten Blick dem Superheld_innen-Genre zuordnen. Im Unterschied zum deutlich als Superheld_innen-Dienstkleidung erkennbaren Fledermauskostüm Batmans oder dem modernisierten Amazonengewand Wonder Womans treten Luke Cage meist mit einer schwarzen Lederjacke, die an den afro-amerikanischen Actionhelden John Shaft erinnert, und Black Widow in einem schwarzen Jumpsuit auf. Kennzeichen wie die Kleidung und das Erscheinungsbild der Held_innen fallen in den Bereich der Ikonographie. In Anlehnung an den Kunsthistoriker Erwin Panofsky werden mit dem Begriff der ›Ikonographie‹, wie Grant erklärt, symbolisch aufgeladene thematische Bezüge und Motivtraditionen auf der Bildebene bezeichnet: Themes or concepts were expressed by symbolically-charged objects and events. Genre critics such as Lawrence Alloway adapted the idea of iconography – that familiar symbols in work of art have cultural meaning beyond the context of the individual work in which they appear. (Grant 2007, S. 12)

Beispielsweise ließe sich aus dem schwarzen Jumpsuit Black Widows eine ganze Kulturgeschichte der modebewussten Action-Held_innen ableiten, vom Swinging London der 1960er Jahre, in dem die Schauspielerin Diana Rigg als Ermittlerin Emma Peel das Kleidungsstück zum Kultobjekt erhob, über die Kleidung der Hacker_innen in der Matrix-Trilogie (USA/Australien 1999–2003, Lana und Lilly Wachowski) bis hin zu den deutlich von den bunten Kostümen der Comicvorlage abweichenden Anzügen der X-Men in den von 2000 bis 2019 produzierten Verfilmungen. Die Ikonographie der Superheld_innen-Kostüme in den Comics erweist sich sonst in der Regel als relativ traditionell. Das in Parodien immer wieder gerne bemühte Stereotyp der Held_innen-in-Strumpfhosen setzt sich von Supermans blaurotem Anzug mit Umhang und Logo bis hin zu Captain Americas Stars-and-StripesAnzug fort. Dass Luke Cage und Black Widow trotz ihres leicht abweichenden Kleidungsstils dem Superheld_innen-Genre angehören, liegt nicht nur an dem durch ihre Zugehörigkeit zu den Defenders bzw. den Avengers gewählten Berufsverband. Sie verfolgen gemeinsam mit ihren aufgrund der traditionellen Kostüme deutlicher als Superheld_innen identifizierbaren Kolleg_innen ebenso höhere moralische Ziele, verfügen über exzeptionelle Kräfte und kultivieren eine heroische Identität innerhalb eines weiter verzweigten Superheld_innen-Kosmos. Im Sinne der Familienähnlichkeiten des Philosophen Ludwig Wittgenstein (vgl. Wittgenstein 2013) lässt sich nach Coogan keine eindeutige Bestimmung des Begriffs Superheld_in festlegen. Dennoch ermöglichen Ähnlichkeiten und Verwandt-

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schaftsbeziehungen im Gebrauch des Begriffs ein genaueres Verständnis der Superheld_innen. Die Eigenschaft der Unbestimmtheit und der theoretischen Annäherung über den pragmatischen Gebrauch des Begriffs im wissenschaftlichen Diskurs teilen sie mit den Genres. Die genretheoretische Semantik bietet dabei sowohl auf der inhaltlichen Ebene des Comics selbst als auch in ihren weiter gefassten kulturellen Bezügen einen ersten wichtigen Anhaltspunkt. Die Kostüme und die fest mit einzelnen Figuren verknüpften Posen, die auf Covermotiven und in sogenannten besonders akzentuierten ganzseitigen Splash Panels abgebildet werden, geben Auskunft über die von Coogan thematisierte Identität der Superheld_innen. Während Batman durch sein dunkel gehaltenes Kostüm in den Schatten der Nacht verschwinden kann, posieren Superman und Wonder Woman in deutlich heroisch geprägten Haltungen. Die Held_innen der Marvel-Comics tendieren zwar ebenfalls zu heldenhaften Posen, nehmen aber eine deutlich vermenschlichte Haltung ein. Die Bildmotive der Superheld_innen-Comics können wie das in Abbildung 5.1 gezeigte Treffen zwischen Batman und Superman von 1952 kulturelle Stereotypen ihrer Entstehungszeit zum Ausdruck bringen. Supermans Kollegin und spätere Partnerin, die Journalistin Lois Lane, befindet sich auf einem brennenden Dach in einer typischen damsel-in-distress-Position (siehe auch Kap. 6). Nahe an der Grenze zur unfreiwilligen Selbstparodie streiten Superman und Batman darüber, wer die um Hilfe rufende Journalistin retten darf. Das Motiv der in Bedrängnis geratenen Lois Lane verdeutlicht nicht nur die Reproduktion regressiver paternalistischer Stereotypen in den Comics der frühen 1950er Jahre. Auf einer abstrakteren Ebene verdeutlicht das Covermotiv auch, wie Semantik und Syntax ineinander übergehen können. Elemente wie die Handlung vorantreibende Bilder im Comic oder Kamerabewegungen im Film würden streng genommen zur Syntax gehören. Dennoch können sie selbst zu ikonischen Zeichen werden, beispielsweise in den als Markenzeichen gepflegten Posen des an seinen Netzfäden durch die Straßenschluchten Manhattans navigierenden Spider-Man oder der Lasso schwingenden Wonder Woman. Sowohl die Covermotive klassischer Superheld_innen-Comics als auch die Plakate zu zahlreichen Comicverfilmungen bieten aussagekräftiges Anschauungsmaterial für die Vermischung von Semantik und Syntax. Aufgrund von Bewegung andeutenden speed lines lässt sich auf dem abgebildeten Cover relativ deutlich erahnen, dass Superman und Batman sich beide auf die auf dem brennenden Dach stehende Lois Lane zubewegen und nicht in ihrer angedeuteten Pose über den Flammen erstarren. Die semantische Ebene der ikonographischen Beschreibung, die sich den charakteristischen Merkmalen der drei Figuren widmet, könnte erkennen, dass Superman im Unterschied zu dem an einem Seil ins Bild schwingenden Batman fliegen kann. Dass sie gerade eine Rettungsaktion durchführen, die aufgrund ihres generischen Charakters kaum einer weiteren Erläuterung bedarf, würde jedoch die syntaktische Ebene der Struktur betreffen. Peter Scheinpflug weist wie einige Kritiker_innen Altmans (vgl. am prominentesten Neale 2000) auf die nicht gänzlich trennscharfen Übergänge zwischen Syntax und Semantik hin: Unter Semantik zählt Altman ganz verschiedene Aspekte wie Ikonographie, Charaktere, Setting oder auch Einstellungen. Die Syntax oszilliert hingegen bei ihm irgendwo zwischen Narration und Code [...] Die Semantik, wenn sie nicht allein für Ikonographie, sondern für eine spezielle Bedeutung steht, wird erst durch die Anordnung verschiedener semantischer Ele-

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Abb. 5.1: Genderstereotype im paternalistischen Rettungseinsatz: Covermotiv von Win Mortimers Superman #76 (Hamilton et al. 1952, Titel).

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mente, also durch eine syntaktische Struktur konstituiert. Die Semantik, die in Altmans Modell also scheinbar der Syntax vorangeht, ist im Rezeptionsprozess auch ihr logischer Effekt. (Scheinpflug 2014, S. 10)

Rick Altman reagierte auf die Kritik an seinem Modell mit der Erweiterung um eine pragmatische Komponente. In Film/Genre erläutert er, dass sich Genres auf zwei unterschiedliche Arten entwickeln können, »either a relatively stable set of semantic givens is developed through syntactic experimentation into a coherent and durable syntax, or an already existing syntax adopts a new set of semantic elements« (Altman 1999, S. 221–222). Die Semantik eines Genres wird wie die Superheld_innenKostüme mit einer gewissen Haltung verbunden, aus der sich die auf der syntaktischen Ebene angesiedelte Missionen für das Wohl der Allgemeinheit ergeben. Umgekehrt sorgt die mit den Superheld_innen assoziierte Syntax für die Integration von Grenzgänger_innen wie der Agentin Black Widow oder den eigentlich stärker der Science-Fiction und dem Horrorfilm angehörigen Mutant_innen von den X-Men in das Genre. Das bewusste Spiel mit der durch die Syntax erzeugten Erwartungshaltung durch einen abweichenden Gebrauch der Semantik kann, wie in dem folgenden Beispiel aus der Graphic Novel Hush (2009) von Jeph Loeb und Jim Lee, maßgeblich zum Variantenreichtum eines Comics beitragen. Supermans Freundin Lois Lane gerät, wie auf Abbildung 5.2 zu sehen ist, erneut in eine damsel-in-distress-Position. Doch im Unterschied zu dem unter Abbildung 5.1 gezeigten Covermotiv von 1952 kommen die beiden Helden Superman und Batman erst verspätet an den Einsatzort. Batmans Freundin Catwoman, alias Juwelendiebin Selina Kyle, versucht anstelle der altbewährten männlichen Helden Lois Lane aus der brenzligen Situation zu retten. Selina erklärt Lois, sie sei nicht besonders gut in der Rolle der damsel-in-distress. Das klischeehafte Szenario wird bewusst heraufbeschworen, um in einer semantischen Abweichung nicht einen männlichen Helden, sondern Catwoman als Retterin zur Hilfe kommen zu lassen. Doch Lois Lane lehnt es aufgrund ihrer hehren moralischen Ideale ab, sich von einer Gelegenheitsdiebin, die unter Umständen sogar auf der anderen Seite des Gesetzes steht, retten zu lassen. Im Gerangel um die abgewiesene Hilfe stürzt Lois doch noch in den Abgrund. Batman beobachtet aus der Distanz den Vorfall und wägt ab, dass Catwoman und er beide notfalls noch eingreifen könnten. Im weiteren Verlauf wird Lois Lane wie in einem etwas eigenwilligen Beziehungsritual doch wieder einmal von Superman gerettet. Sie begrüßt ihn wie nach einem langen Arbeitstag mit dem ironischen Kommentar, dass er offensichtlich wieder zu Hause sei. Batman und Catwoman reagieren lediglich mit einem wissenden Achselzucken. Ob die ironische Paraphrase der damsel-in-distress-Situation in Hush als Wiederholung oder Variation wahrgenommen wird, hängt in erster Linie von der Einstellung der Rezipierenden ab. Auf eine für avancierte Mainstream-Formate charakteristische Weise lässt sie gleich mehrere Lesarten zu: Sie kann einerseits als affirmative Wiederholung der klischeebehafteten Rolle Lois Lanes wahrgenommen werden, die sich auch in dem deutlich männlich geprägten Blick des zweiten und dritten Panels zeigt. Das etwas modernere und emanzipiertere Paar Catwoman und Batman kommentiert andererseits die bizarre Alltäglichkeit der zum Standard geronnenen Ausnahmesituation sarkastisch. Je nach Präferenz lassen sich die Konnotationen der Situation deuten. Semantik und Syntax erweisen sich im selbstreferenziellen Spiel mit Motiven und Handlungsabläufen selbst als Variablen.

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Abb. 5.2: Ironische Revision der Genderstereotype: Catwomans Rettungseinsatz in Hush (Loeb et al. 2009, o. S.).

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5.1.2 | Settings und Standardsituationen Die Idee einer von allen Figuren des Verlags gemeinsam geteilten Welt setzt sich in den Marvel-Comics der 1960er Jahre durch. In einer Studie über Media Franchising (2013) merkt der Medienwissenschaftler Derek Johnson an, dass Marvel seine verschiedenen fortlaufenden Superheld_innen-Reihen zu einem als diegetischer Kosmos der Marke verstandenen Universum bündelte: »Marvel differentiated itself from competitor DC in the 1960s and 70s by embracing continuity across its entire catalog and enabling heroes like The Avengers, the Fantastic Four, the X-Men to guest star in each others’ stories« (Johnson 2013, S. 73). Die Held_innen eines Verlags wie Marvel oder DC gehören nicht nur zum gleichen Sortiment an parallel fortlaufenden, unter dem gleichen Label vertriebenen Comicreihen. Sie können sich innerhalb der einzelnen Geschichten über den Weg laufen und in Crossover-Publikationen, sogenannten Marvel Team-Ups, gemeinsam aktiv werden. Marvel-Autor_innen kultivieren bis heute in ihren Comics Querverweise auf andere Bände des Verlags. Beispielsweise kann Spider-Man alias Peter Parker beim Einkaufen einem Mitglied der X-Men begegnen. Wenn sich die Begegnung in einem Spider-Man-Comic ereignet, verweist ein Kommentar in einem kleinen Textblock unter dem entsprechenden Panel auf die nächste Nummer der X-Men und umgekehrt. Das Marvel-Universum ist vor dem Hintergrund der systematischen Vernetzung weniger als rein narratives Konstrukt im Sinne einer Storyworld (siehe Kap. 4) zu verstehen, sondern eher als Markenpflege vor dem Hintergrund eines Franchise, das ständig narrative Überschüsse produziert. Auf der Basis des Verlagsuniversums, das die Vernetzung sämtlicher Superheld_innen aus durch den Verlag veröffentlichten Comics vorsieht, können von Autor_innen Leerstellen wie die Abenteuer der ersten X-Men in den 1960er Jahren ausgefüllt oder alternative Szenarien wie die Marvel Noir-Reihe entworfen werden, in der prominente Figuren in einer schwarz-weiß gehaltenen Variante im Stil des Film Noirs der 1940er Jahre auftreten. Die Filme des Marvel Cinematic Universe (MCU) übernehmen das Prinzip der zu einem transmedialen Universum vernetzten Handlungsräume (vgl. Rauscher 2010; Burke 2015; McEniry et al. 2016; Vignold 2017). Das MCU wurde 2008 mit dem ersten Iron Man-Film von Jon Favreau initiiert. Der Comicverlag Marvel, der zuvor gemeinsam mit externen Filmfirmen wie 20th Century Fox die X-Men-Filme (2000– 2019) und mit Sony die Spider-Man-Filme (seit 2001) produziert hatte, gründete ein eigenes Studio. Im Rahmen einzelner vorgeplanter Phasen wurden unter der Schirmherrschaft des Dachkonzerns Disney unterschiedliche Figuren wie Thor, Iron Man, Hulk und Captain America mit eigenen Filmreihen eingeführt. Das Eigenleben der mit Marvel assoziierten Superheld_innen zeigt sich daran, dass, wie im Fall von Spider-Man geschehen, in langwierigen Verhandlungen Figuren, deren Verfilmungsrechte sich im Besitz anderer Studios befanden, mit entsprechenden Vereinbarungen erst einmal wieder zurück gekauft werden mussten. Die komplizierten Prozesse erinnern trotz des fiktionalen Charakters der Figuren an die Situation im klassischen Hollywood-System, in dem Schauspieler_innen an einzelne Studios gebunden waren und nur durch detaillierte Sonderverträge in den Produktionen eines anderen Studios auftreten konnten. In den seit 2012 in regelmäßigen Abständen produzierten Avengers-Filmen treffen die verschiedenen Protagonist_innen im Rahmen von Großereignissen, wie etwa einer Invasion außerirdischer Mächte, zusammen (vgl. Rauscher 2014). In einem

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Gastauftritt, einem sogenannten Cameo, tritt beispielsweise am Ende des Films Doctor Strange (2016) der Held Thor auf und besucht den Protagonisten. Zu Beginn des Films Thor – Ragnarok (2017) wird dieser Besuch erneut aufgegriffen, indem Doctor Strange Thor während eines Aufenthalts in New York kurz bei der Suche nach einem verschollenen Verwandten hilft und anschließend wieder seinen eigenen, im Film nicht mehr gezeigten Angelegenheiten nachgeht. Eine derartige Verknüpfung der verschiedenen einzelnen Reihen wurde in den Comicvorlagen bereits seit den 1960er Jahren praktiziert und gilt in der Comicgeschichte als eines der prägnantesten Beispiele für Inter- oder Transtextualität. Durch die Kombination der verschiedenen Reihen werden auf diese Weise nicht nur diverse Figuren eines Verlages, sondern auch unterschiedliche Genrekontexte miteinander verbunden. Der Comicforscher Jochen Ecke erklärt das Prinzip einer transtextuellen Storyworld folgendermaßen: »Als besonders effektiv erwies es sich dabei, alle hauseigenen Reihen in eine gemeinsame storyworld einzubinden und das Wissen um die Geschichte dieser storyworld mit kulturellem Prestige zu belegen« (Ecke 2016, S. 243; Herv. im Original; siehe auch Kap. 4; sowie zur Verknüpfung zwischen Storyworld und Raumsemantiken vgl. Packard 2015; zum Verhältnis von werkspezifischen, transtextuellen und transmedialen Storyworlds innerhalb sogenannter transmedialer Universen vgl. Thon 2015). Bereits der Vergleich zwischen zwei fortlaufenden Serien verdeutlicht, dass eine tiefergehende Analyse eine Kombination verschiedener Perspektiven sowohl auf die einzelne Erzählung als auch auf den weiter gefassten Rahmen der transtextuell bzw. zunehmend transmedial geteilten Storyworld und deren Verortung innerhalb des Superheld_innen-Genres erfordert. Als verbindendes Element zwischen den einzelnen Superheld_innen-Konzepten dient der geteilte Raum der Erzählung, der verschiedene urbane Settings wie bei DC Gotham City und Metropolis, die beide auf dem Stadtbild New Yorks aufbauen, vereint. Das Setting bezeichnet »the physical space and time – where and when a film’s story takes place« (Grant 2007, S. 14). Die Schauplätze in den Geschichten von DC und Marvel können vom New York der Gegenwart über die phantastischen Hauptquartiere der Held_innen und ihrer Gegenspieler_innen bis hin zu Parallelwelten und anderen Dimensionen reichen. Jederzeit können innerhalb des Superheld_innen-Genres Plots aus anderen Genres integriert werden. Superman und Batman trafen 1940 im Rahmen der Weltausstellung in New York erstmals aufeinander und bespielen seitdem gemeinsam, unterstützt von anderen Vertreter_innen der Justice League, diverse Formate wie den von 1941 bis 1986 in monatlichen Abständen publizierten Team-Up-Band World’s Finest und dessen Nachfolger. Die in den Batman-Comics immer wieder relativ deutlich vorhandenen Versatzstücke aus Detektiv- und Spionagegeschichten treten bei den gemeinsamen Abenteuern mit dem Kollegen vom Planeten Krypton zu Gunsten größerer Konflikte von globalen, wenn nicht gar intergalaktischen Ausnahmen in den Hintergrund. Ähnlich verhält es sich mit den Figuren des Marvel-Universums. Peter Parker bewegt sich als Schüler und später als Student in einem überschaubaren Setting, das in den Nebenhandlungen häufig für alltägliche Beziehungsdramen und romantische Miniaturen genutzt wird. Begibt er sich jedoch in die Welt der ständig mit Gefahren größeren Ausmaßes bis hin zum galaktischen Infinity War beschäftigten Avengers, so nehmen die Konstellationen andere Dimensionen an, obwohl man sich nach wie vor innerhalb des Superheld_innen-Genres befindet. Die Crossover-Geschichten Marvels ermöglichen Konstellationen, in denen die vertraute Syntax der Superheld_innen-Abenteuer um zusätzliche komplexere Kon-

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flikte erweitert wird. Wenn der Millionär Tony Stark alias Iron Man auf seinen aus einfacheren Verhältnissen stammenden Kollegen Peter Parker alias Spider-Man trifft, tritt die Konfrontation mit den Gegenspieler_innen beinahe zu Gunsten einer Milieustudie in den Hintergrund. Während Tony seine Geheimidentität publikumswirksam der Öffentlichkeit offenbart hat, kann Peter nicht seinem Beispiel folgen, obwohl er es gerne täte. Im Unterschied zum vermögenden Tony Stark verfügt er nicht über ein durch alle möglichen technischen Mittel gesichertes Hauptquartier, sondern wäre in seiner bescheidenen Mietswohnung im New Yorker Viertel Forest Hills in Queens jederzeit hilflos seinen Gegenspieler_innen ausgeliefert. Erzählungen wie diese Nebenhandlung aus dem Crossover-Event Civil War (2006–2007) verdeutlichen, dass die heutigen Abenteuer der Comicheld_innen über die von Eco diskutierte traditionelle Struktur deutlich hinausgehen. Die Komplexität der zufälligen und gezielten Begegnungen in den Comics von DC und Marvel ergibt sich aus einer systematischen Überlagerung der konventionellen Handlungsmuster. Der traditionelle Aufbau einer Superheld_innen-Geschichte, mit dem sich Eco in seinem Aufsatz über Superman beschäftigt, folgt dem Schema einer aus dem Gleichgewicht geratenen Ordnung. Wie Stephan Ditschke und Anjin Anhut in einem Aufsatz über die narrative Struktur von Superheld_innen-Comics anschaulich zusammenfassen, existiert in vielen Genrevertretern eine grundlegende Grenzüberschreitung im Sinne der Raumsemantik des Erzähltheoretikers Juri Lotman (vgl. Ditschke/Anhut 2009, S. 144). Aus der Transgression zwischen abgegrenzten Räumen ergibt sich ein Problem, das die bestehende semantische Ordnung bedroht. Die einfachste Variante würde im Angriff eines Superschurken oder einer Superschurkin auf die Stadt der Held_innen bestehen. Nicht ohne Grund wird immer wieder gerne das Western-Genre zur Erläuterung der Grenzüberschreitung herangezogen. Durch das Vordringen der Outlaws in die von den Held_innen beschützte Stadt wird das Gesetz und damit auch die semantische Ordnung in Frage gestellt. In der Regel wird nach der Verhaftung der Halunk_innen die herrschende Ordnung wiederhergestellt. An den klassischen Spider-Man-Geschichten von Stan Lee und Steve Ditko aus den 1960er Jahren lässt sich eine bewusste Verkomplizierung der Grenzüberschreitung nachvollziehen, nachdem hier verschiedene semantische Ordnungssysteme parallel zueinander gelten. Der ohnehin von Geldsorgen und seinem Außenseiterstatus an Schule und Universität geplagte Peter Parker muss sein nicht sonderlich einfaches Beziehungsleben mit seinen Superhelden-Aktivitäten als Spider-Man in Einklang bringen. Nebenbei sorgt er für seine verwitwete alte Tante May. Die verschiedenen Handlungsräume, High School beziehungsweise Universität, SpiderMans Einsatzgebiet in der Innenstadt von New York und das Familienleben in Forest Hills sowie Queens, sollten seiner Ansicht nach voneinander getrennt bleiben. Bereits die Grenzüberschreitungen, die zu Konflikten zwischen Studium und Familienleben führen, würden für das eine oder andere Coming-of-Age-Drama reichen. Peter versucht ständig, die eine semantische Ordnung aufrecht zu erhalten, ohne die andere Ordnung ins Wanken zu bringen. Die schlecht bezahlte Arbeit als Fotoreporter für die Zeitung Daily Bugle macht es ihm schwer, sich angemessen um seine Freundin Mary-Jane Watson und Tante May zu kümmern. Durch seine heimliche Haupttätigkeit als Superheld Spider-Man verkomplizieren sich die alltäglichen Konflikte noch weiter. Die Grenzüberschreitung scheint vorprogrammiert zu sein, denn im Unterschied zu Batman, der sich in den meisten Fällen als Millionär Bruce Wayne auf seinen Landsitz Wayne Manor zurückziehen

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kann und die Aufgaben des Alltags seinem Butler Alfred oder seinen Firmenvertreter_innen überlässt, geraten bei Peter Parker immer wieder Privatleben und der berufliche Alltag durcheinander. Einer seiner frühen Erzfeinde, der Green Goblin, entpuppt sich als Vater seines einzigen und besten Freundes. In einer der dramatischsten Episoden der Genregeschichte kommt Peters Freundin Gwen Stacy durch den Goblin zu Tode. Ein anderer Gegenspieler erweist sich als sein Physik-Professor. In vielen Szenen fällt es Peter schwer, seiner Freundin Mary-Jane zu erklären, weshalb er ständig zu spät oder manchmal auch gar nicht zu den gemeinsamen Verabredungen kommt. Die im Unterschied zu traditionelleren Superheld_innen-Geschichten von Marvel angestrebte Kontinuität in den Erzählungen resultiert schließlich im Lauf der späteren Jahre in mehreren Akzentverschiebungen. Peter weiht Mary-Jane schließlich in sein Berufsgeheimnis ein und heiratet sie in den 1980er Jahren sogar, mit dem Resultat, dass sie in den 1990er und 2000er Jahren eine alles andere als einfache Fernbeziehung zwischen New York und Los Angeles eingehen. Angesichts des Genrepluralismus der Universen von DC und Marvel stellt sich aus heutiger Sicht die Frage, wie genau eine Grenzüberschreitung aussieht, wenn der Handlungsraum so unterschiedliche Wesen wie antike Gottheiten, außerirdische Zivilisationen, Vampire, Werwölfe und die eigene Klischeehaftigkeit kommentierende Antiheld_innen wie Deadpool umfasst. Die semantischen Ordnungsprinzipien befinden sich durch das systematische Crossover in ständiger Bewegung. In einer klassischen Science-Fiction-Geschichte signalisiert der Eintritt in eine mysteriöse Paralleldimension noch den Beginn eines neuen Handlungszusammenhangs und in einer traditionellen Horrorgeschichte markiert das Auftreten eines Vampirs in einer modernen Großstadt, wie beispielsweise Draculas Reise ins viktorianische London, noch den Auslöser eines Konflikts. In den Marvel- und DC-Comics geben sich die übernatürlichen Wesen mit einer derartigen Regelmäßigkeit die Klinke in die Hand, dass sie die semantische Ordnung nicht mehr wirklich aus dem Gleichgewicht bringen. Stattdessen erweitern sie die Struktur des gemeinsamen Handlungsraums um neue Settings. Der vom Magier Doctor Strange begleitete Wechsel in eine andere Dimension zieht für Peter Parker die unangenehme Konsequenz nach sich, dass er eine Verabredung mit Mary-Jane Watson versäumt. In der traditionelleren Raumstruktur einer alltäglichen Welt, die im Marvelkosmos ebenfalls im Umfeld der High-School und der Universität existiert, würde der Eintritt in phantastische Paralleluniversen eine Grenzüberschreitung bedeuten. Das Crossover zwischen Spider-Man und dem Fantasy-Setting von Doctor Strange resultiert hingegen in der Standardsituation einer geplatzten Verabredung, in dem der Abstecher in eine Paralleldimension einer verpassten U-Bahn gleichkommt. Für eine vergleichende Analyse verschiedener Superheld_innen-Reihen bietet sich ebenso wie in der allgemeinen Diskussion von Genres nach der Ermittlung der prägenden Semantik und Syntax die Betrachtung signifikanter Standardsituationen an. Auf deren Basis lassen sich ausbaufähige medienkomparatistische Ansätze gewinnen, beispielsweise im Vergleich der gleichen Situation in verschiedenen medialen Formaten. Computerspiele wie Lego Batman oder Lego Avengers greifen die vertrauten Standardsituationen der zu Grunde liegenden Comicreihe, wie beispielsweise das Eingreifen Batmans nach Erstrahlen des auf dem Dach des Polizeireviers befestigten Batsignals, auf eine ganz andere Weise auf als die Adaption der gleichen Situation in einer der zahlreichen Comicverfilmungen (vgl. auch Rauscher 2018). Standardsituationen werden mit wiederkehrenden Handlungsmotiven, dem Publikum vertrauten Konflikten und von ihm erwarteten Szenarien eines Genres asso-

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ziiert (vgl. Koebner et al. 2016). Superheld_innen-Comics haben eine Vielzahl an derartigen wiederkehrenden Situationen herausgebildet, von der ersten Konfrontation mit den Gegenspieler_innen über die Komplikationen des möglichst unauffälligen Wechsels ins Superheld_innen-Kostüm bis hin zum obligatorischen Kampf mit dem Gegner oder der Gegnerin im Showdown. Die besondere Wirkung von Standardsituationen lässt sich anschaulich am für die Held_innen konstituierenden Moment der origin story erklären. Sie bestimmt die Identität der Held_innen und gibt Auskunft über die psychologische Motivation für die zukünftigen heroischen Taten. Die Parallelen zwischen einer origin story und dem Ruf des Abenteuers, der Campbells Held_innenreise eröffnet, erscheinen auffällig. Zugleich prägt die origin story ikonische Bildmotive, die immer wieder in den späteren Comics aufgegriffen werden und als Standardsituation den dramaturgischen Ausgangspunkt für die Identität der Held_innen zusammenfassen. Die origin story gibt in vielen Fällen auch die von der Medienwissenschaftlerin Michaela Krützen in ihren dramaturgischen Studien thematisierte backstory wound vor (vgl. Krützen 2004, S. 25). Die Held_innen werden während ihrer Abenteuer immer wieder von der prägenden Erinnerung an eine traumatisierende psychologische Wunde aus der Vergangenheit heimgesucht. Welche unterschiedlichen Motive für Held_innen sich aus ihrer origin story ergeben können, zeigt der folgende Vergleich zwischen den Hintergrundgeschichten von Batman und Spider-Man. Beide Geschichten prägen zentrale Standardsituationen aus dem Bildrepertoire beider Helden. In Frank Millers Graphic Novel The Dark Knight Returns (Miller 1986) reichen einige fragmentarisch gehaltene Panels, um das Trauma Batmans anzudeuten und wenn in einem Spider-Man-Comic die Verwandlung Peter Parkers in Erinnerung gerufen werden soll, genügt das Motiv der radioaktiv verseuchten Spinne, die ihn einst gebissen hat. Als Kind muss der junge Bruce Wayne hilflos mit ansehen, wie seine Eltern bei einem Raubüberfall von einem Gangster getötet werden. Das nie ganz überwundene Trauma bewirkt seine spätere Entscheidung, in einem Fledermaus-Kostüm auf Verbrecher_innenjagd zu gehen (siehe Abb. 5.3). Batmans 1939 erstmals publizierte origin story beinhaltet gleich zwei für die Mythologie der Figur zentrale Standardsituationen. Zunächst die Ermordung seiner Eltern in einer dunklen Gasse: Der junge Bruce blickt entsetzt und hilflos auf die beiden Leichen. Eine weitere Standardsituation markiert der im achten Panel gezeigte Moment, als er beim Anblick einer Fledermaus beschließt, Batman zu werden. Die besondere Bedeutung des Settings zeigt sich im düster gezeichneten Hintergrund. Ikonographisch integriert sich Batman im fertigen Kostüm im neunten Panel in den von Fledermäusen und einem Vollmond geprägten Hintergrund von Gotham City. Die origin story verdeutlicht außerdem die von Anfang an im Superheld_innen-Genre präsente Tendenz zur Vermischung unterschiedlicher generischer Zeichensysteme. Der im vierten Panel im Labor arbeitende und im siebten Panel in einem Polstersessel sinnierende Bruce Wayne ließe sich auch problemlos in eine Detektivgeschichte integrieren. Erst durch die selbst geschaffene Identität des dunklen Ritters Batman wird er zur Nachtgestalt. Deutliche inhaltliche und ikonographische Akzentverschiebungen finden sich hingegen in der Hintergrundgeschichte des Marvel-Helden Spider-Man. Er entspricht einem moderneren Verständnis der Heldenfigur. Der schüchterne und unscheinbare ›Nerd‹ Peter Parker wird von einer radioaktiven Spinne gebissen und übernimmt deren proportionale Fähigkeiten. Im Unterschied zum traumatisierten,

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Das Genre der Superheld_innen im Comic

5.1

Abb. 5.3: Origin story des dunklen Ritters Batman in Detective Comics #33 (Kane/Finger 1939, o. S.).

aber auch wohlhabenden und den Sorgen des Alltags enthobenen Bruce Wayne, der durch ausdauerndes Training und technische Brillanz zum dunklen Ritter Batman wird, erlebt Peter Parker die neu gewonnenen Fähigkeiten sowohl als faszinierendes Talent wie auch als Belastung (siehe Abb. 5.4). Die origin story Spider-Mans arbeitet deutlicher als im Fall von Batman mit Äquivalenten zur filmischen Großaufnahme, wenn die radioaktive Spinne in Panel 2 und Panel 3 in den Mittelpunkt gerückt

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Abb. 5.4: Spinnenbiss mit unerwarteten Folgen: Die origin story von Spider-Man (Lee/Ditko 1962, S. 3).

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Das Genre der Superheld_innen im Comic

5.1

wird, bevor sie der ahnungslose Peter überhaupt wahrnehmen kann. Der Unterschied im gesellschaftlichen Status zwischen Bruce Wayne und Peter Parker zeigt sich auch darin, dass Spider-Man in mehreren Varianten seiner origin story sein Kostüm selbst anfertigen muss. Batman kann in Sachen Kostümpflege hingegen jederzeit auf die Kompetenz seines Butlers Alfred vertrauen. Das alltagsnähere Setting der Marvel-Comics zeigt sich im Fall von Spider-Man auch daran, dass er in der einfacheren Umgebung von Forest Hills in der unteren Mittelschicht von Queens zu Hause ist und sich mit den ganz gewöhnlichen Problemen des schulischen und später des universitären Alltags auseinandersetzen muss. Gemäß seiner backstory wound (vgl. Krützen 2004) fühlt sich Peter für den Tod seines Onkels verantwortlich. Völlig fixiert auf seine neuen Fähigkeiten, durch die er Spinnenfäden verschießen und an Wänden hochklettern kann, lässt Peter aus gekränkter Eitelkeit bei einem Überfall einen Kleinkriminellen entkommen. Kurz darauf ermordet derselbe Gangster seinen Onkel. Wie die meisten Marvel-Held_innen wird Peter daraufhin von Zweifeln geprägt. Er verfügt über kleinere Charakterschwächen und sinniert trotz aller lockeren Sprüche, ob seine Kräfte ein Segen oder ein Fluch seien. Im Unterschied zur nach Umberto Eco gleichbleibenden Folie Supermans ergeben sich für Spider-Man im Lauf der Comics weitere backstory wounds. Je nach Auswahl der fiktionalen biographischen Phase können sie entsprechend für einzelne Geschichten in Anspruch genommen werden. Für Abenteuer in den Jugendjahren erscheint der Tod des Onkels als wesentliche backstory wound, in späteren Erzählungen um den erwachsenen Peter spielt hingegen der schon erwähnte Tod seiner Freundin Gwen Stacy in den frühen 1970ern eine zentralere Rolle. Noch Jahrzehnte später, in denen Peter der inkonsistenten Zeitlogik der Comicreihen entsprechend nur wenige Jahre gealtert ist, fühlt er sich für Gwens Tod verantwortlich. Für die 2003 veröffentlichte Graphic Novel Spider-Man. Blue (Loeb 2003) bilden die ihn immer noch quälenden Schuldgefühle den dramaturgischen Ausgangspunkt. Das Setting der Marvel-Comics rückt gegenüber dem Konkurrenten DC nicht nur näher an den New Yorker Alltag, in dem das Phantastische Einzug hält. Die Syntax ermöglicht auch spätere Konsequenzen entscheidender Ereignisse, die semantisch zu einer Vertiefung der Figuren beitragen. Im Unterschied zu Ecos Annahme, dass die serielle Comicerzählung sich zyklisch wiederholen müsse, deuten die Schicksalsschläge im Lauf von Spider-Mans Comic-Biographie eine rudimentäre Entwicklung an. Mit dem veränderten Charakter der Marvel-Held_innen treten auch graduelle Veränderungen in der Figurenzeichnung des Genres an sich ein. Stephan Ditschke und Anjin Anhut erstellen einen narratologisch geprägten Merkmalskatalog und eine Figurentypologie, die die drei Varianten Beschützer, Rächer und Zweifler umfasst (vgl. Ditschke/Anhut 2009). In den Marvel-Comics spitzen sich diese drei Figurentypen derart zu, dass die für klassische Superheld_innen noch prägende Geheimidentität in den Hintergrund tritt. Eine Figur wie Wolverine von den X-Men, die Elemente eines Helden und eines Antihelden in sich vereint, wechselt je nach Autor_innen der Erzählung sogar zwischen allen drei Figurentypen. Als Mitglied des Mutant_innen-Teams X-Men übernimmt Wolverine die Rolle des Beschützers. Auf sich allein gestellt agiert er in seinen Solo-Abenteuern immer wieder auch als Rächer und Zweifler. Es gehört zu den häufig erst unterschwellig vollzogenen Paradigmenwechseln der einzelnen Stilepochen, dass die in der Analyse Ecos noch scheinbar von jeder dramaturgischen Entwicklung freigesprochenen Held_innen sich nicht nur den veränderten soziokul-

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Genretheoretische Comicanalyse

turellen Kontexten anpassen. Durch zusätzlich ausgestaltete biographische Hintergrundgeschichten und in eigenständigen Graphic Novels reflektierte backstory wounds entwickeln sie sich immer mehr zu flottierenden Signifikanten, die je nach Kontext unterschiedliche Bedeutung annehmen können. Im Sinne poststrukturalistischer Literatur- und Kulturtheorien (vgl. Köppe/Winko 2013, S. 97–132) lassen sich die Superheld_innen durch wechselnde, in manchen Fällen sogar konträre Bedeutungszusammenhänge dekonstruieren. Die Dekonstruktion, deren Ansätze maßgeblich von dem französischen Philosophen Jacques Derrida geprägt wurden, geht von der Prämisse aus, dass »die Bedeutung eines Zeichens nie ›gegeben‹ [sei], da sie stets anderswo, d. h. in Abgrenzung zur Bedeutung anderer Zeichen, entstehe« (Köppe/Winko 2013, S. 115). Daher käme der Versuch, die Bedeutung eines Zeichens festzustellen auch nie an ein Ende, da sich stets weitere Begriffe zur Auseinandersetzung heranziehen ließen. Ein prominentes Beispiel für eine dekonstruktivistische Lesart bietet neben Frank Millers The Dark Knight Returns die 1989 erschienene Graphic Novel Arkham Asylum von Grant Morrison und Dave McKean. Innerhalb des surreal gestalteten Settings der psychiatrischen Anstalt von Arkham werden auf einer langen dunklen Reise durch die Nacht die strukturellen Parallelen zwischen Batman und seinen Gegner_innen manifest (vgl. Morrison/McKean 1989). Der lediglich als dunkler Schatten gezeichnete Batman irrt durch das von seinen Gegenspieler_innen besetzte Arkham Asylum. Auf einer abstrakten assoziativen Ebene erinnert die Gestaltung an Lewis Carrolls Alice-Erzählungen, nutzt diese jedoch zugleich für ein surreales Spiel um die Figuren, die Motive und die comichistorischen Kontexte des Batman-Franchise. Am Ende stellt sich heraus, dass es in der Anstalt noch eine weitere freie Zelle gibt, die für den Helden selbst gedacht ist. Der Unterschied zwischen Batman und seinen Gegenspieler_innen erscheint verschwindend gering. Zwar gibt es gewisse Grundeigenschaften von Superheld_innen, die immer wieder auftauchen, aber je nach dramaturgischen und medialen Kontexten lassen sie sich in einem vorgegebenen Spielraum immer wieder neu konfigurieren (oder ›formatieren‹; siehe Kap. 7). Der Medienwissenschaftler Colin B. Harvey bezeichnet dieses Phänomen als transmediale Konfiguration, verstanden als »the process of manipulation and negotiation by which participants engage with transmedia networks. This might extend to deciding which element of transmedia network to engage with« (Harvey 2019, S. 158). Die durch die Rezeption vorgenommene Einschränkung der Konfiguration bietet eine gewisse Auswahl innerhalb der verfügbaren, durchaus konträren Auslegungen einer Comicfigur. Die teils widersprüchlichen und dramaturgisch nicht zusammenpassenden Interpretationen von Superheld_innen innerhalb von über mehrere Jahrzehnte hinweg fortgesetzten Serien korrespondieren mit der Idee von multiplicity im Sinne serieller Vielfalt (siehe auch Kap. 7). Die Filmwissenschaftler_innen Amanda Ann Klein und Barton Palmer (2016) definieren den Begriff in Abgrenzung zum in sich geschlossenen Einzelwerk. Eine derartige potenzielle Vielschichtigkeit, deren Gehalt von der Wahrnehmung sowie der Formatierung und Konfiguration der Rezipierenden abhängt, bildet nicht nur ein prägendes Kennzeichen von Fortsetzungen, Vorgeschichten, Reihen und anderen seriellen Formaten. Die Idee konträrer Auslegungen ohne einen eindeutigen Wahrheitsanspruch findet sich in Comicreihen spätestens ab den Brüchen der 1960er Jahre als reguläres Element der Universen von DC und Marvel. Gerade dass es in den meisten fortlaufenden Comicreihen zwar stilistische Epochen und temporäre

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Das Genre der Superheld_innen im Comic

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Individualstile, aber kein eindeutiges Original mehr gibt, befördert die Dynamik der verschiedenen Interpretationen. Ob Captain America als eindimensionale Heldenfigur wie in den ursprünglichen Comics der 1940er Jahre oder doch eher als gebrochener, aus der Zeit gefallener Protagonist wahrgenommen wird, hängt nicht zuletzt sowohl von der Lektüreauswahl der in sich widersprüchlichen Comics aus über siebzig Jahren Comicgeschichte als auch von der Perspektive der einzelnen Autor_ innen ab.

5.1.3 | Genregeschichte und Selbstreflexion Die über Semantik und Syntax erfassten Wiederholungen und Variationen der verschiedenen Superheld_innen, ihrer Settings und der mit beiden verbundenen Standardsituationen lässt sich in einem weiteren Schritt im Rahmen einer historischen Perspektivierung verorten. Daraus ergeben sich sowohl Spuren verschiedener Entwicklungen des Genres als auch Ansätze zur Selbstreflexion. Die Komplexität der Referenzsysteme innerhalb der einzelnen Comicreihen und ihrer Überschneidungen im Rahmen der Crossover-Formate eines Verlagssortiments ermöglicht im Lauf der Jahre eine zunehmend differenzierte Figurenzeichnung mit unterschiedlich ausgeprägten Reflexionsgraden. Analog zur Variation im Bereich der Standardsituationen kommen im Lauf der 1990er und 2000er Jahre Figurenkonzepte auf, die Elemente der Antiheld_innen aufgreifen, ohne gleich das gesamte Superheld_innen-Genre zu negieren. Die von Brian Michael Bendis und Michael Gaydos erdachte rebellische Jessica Jones verweigert sich konsequent ihrer Veranlagung als Superheldin. Sie arbeitet lieber als Privatdetektivin als sich den Avengers oder einem anderen kostümierten Team anzuschließen. Gelegentlich kämpft sie mit Suchtproblemen und immer wieder gerät sie in Abenteuer, die bewusst zwischen Kriminalgeschichte und Superheld_innen-Kosmos angesiedelt sind. Die Verschiebung der Genresemantik in den Jessica Jones-Comics hin zum Hardboiled- und Noir-Setting ermöglicht eine realistischere Perspektive auf das Marvel-Universum. Im Kontext des sarkastischen Söldners Deadpool gehört das Spiel mit der kommentierenden Metaebene sogar zur festen Konzeption der Figur (vgl. z. B. Thon 2017). Die Elemente eines Metacomic werden selbst zur neuen Genrekonvention. Als Metacomic definiert Lukas Werner »Comics, die ihren eigenen Status als Comic herausstellen, indem sie die Produktionsbedingungen, den künstlerischen Entstehungsprozess, die Art und Weise, wie sie gestaltet sind, und ihre Distribution, sowie die konkrete Rezeption durch den Leser thematisieren« (Werner 2016, S. 304). Im Independent-Bereich wäre ein klassischer Metacomic die Reihe American Splendor, in der Harvey Pekar seinen Alltag als Krankenpfleger in Cleveland und leidenschaftlicher Sammler von Jazzalben dokumentiert. Mit dem Rückgriff auf eine realistische Ästhetik grenzt sich Pekar bewusst von den Konventionen aufwändig produzierter Comics ab, deren Standards innerhalb der Comics selbst diskutiert werden. Ein für Mainstreamvarianten signifikantes Spiel mit der Metaebene findet sich hingegen in dem 2019 erschienenen Comic Black Panther vs. Deadpool. Deadpool weist seinen Kollegen, den afrikanischen König und Helden Black Panther, darauf hin, dass dieser wesentlich unfreundlicher als sein filmisches Alter Ego im gleichnamigen Hollywood-Blockbuster sei. Nachdem der Panther auch noch den Schriftsteller Ta-Nehisi Coates erwähnt, der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung als Autor für die Black Panther-Reihe verantwortlich zeichnet, reagiert Deadpool verstimmt:

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Genretheoretische Comicanalyse

Abb. 5.5: Die Durchbrechung der vierten Wand als spielerische Genreoption: Black Panther vs. Deadpool (Kibblesmith/Ortiz 2019, o. S.).

Die Durchbrechung der vierten Wand durch eine Marvel-Figur sei ausschließlich sein Privileg. Doch wider Erwarten erklärt der afrikanische Superheld, der in seiner zivilen Identität als T’Challa das utopische Land Wakanda regiert, dass er Deadpool nicht folgen könne. Die Metaebene bleibt ihm verschlossen. Er erkennt sie nicht einmal. Von Ta-Nehisi Coates sind dem Black Panther lediglich seine Romane und nicht seine Comics vertraut. Aus den Erzählungen von Coates bezieht T’Challa Einblicke in die US-amerikanische Mentalität. Dass der Schriftsteller auch die Comics verfasst, in denen T’Challa selbst auftritt, hat er bisher im Gegensatz zu Deadpool noch nicht bemerkt (siehe Abb. 5.5). Wie hier unschwer zu erkennen ist, wird zwar in den Dialogen mit Deadpools Bewusstsein über die Metaebene und mit T’Challas Unkenntnis derselben gespielt. Doch im Unterschied zu den selbstreflexiven Metacomics eines Marc-Antoine Mathieu, in denen sich auch schon einmal vorab ausgerissene Seiten als Reflexion auf das eigene Format finden, bleiben die Anordnung der Panels und der narrative Fluss intakt. Die Durchbrechung der vierten Wand und die Adressierung des Publikums wird im Fall von Deadpool selbst zur transmedialen Genrekonvention. Andere Figuren wie T’Challa treten zwar ebenfalls in Comics, Filmen und Computerspielen auf. Doch Deadpool zeigt sich als einziger Super-Antiheld des Marvelkosmos des Medientransfers und seines Status als lizensierte Marke, als Intellectual Property (IP), bewusst.

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Das Genre der Superheld_innen im Comic

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Die kalkulierte Anarchie des Antihelden Deadpool, der in allen Medien vom Comic über Computerspiele bis hin zu Filmen ständig die Konventionen der eigenen Inszenierung kommentiert, verdeutlicht die zentrale Bedeutung der Spielregeln des Genres. Auch wenn sich der Protagonist ständig an das Publikum wendet, bleiben die Regeln der Superheld_innen-Erzählung ansonsten weiterhin bestehen. Dieser Effekt ergibt sich aus der ungebrochenen Gültigkeit der Syntax, die Deadpools Eskapaden vom vollständigen Wechsel auf die Ebene eines Metacomics abhält. Die entsprechenden Standardsituationen wie Kämpfe gegen Kolleg_innen und Gegenspieler_innen, die Beteiligung an entscheidenden Konflikten und elaborierte Actionszenen kompensieren jene selbstironischen Momente, in denen Deadpool auf Distanz zur eigenen Rolle und zum eigenen Genre geht. In den Deadpool-Filmen (2016, Tim Miller; 2018, David Leitch) wird dieses Prinzip aufgrund des Blockbuster-Formats vielleicht sogar noch deutlicher als in den Comics. Trotz aller Seitenhiebe auf die kulturelle Bedeutung der Marvel-Filme und obwohl er in einer Szene sogar seinen eigenen Darsteller Ryan Reynolds erschießt, damit er nicht den Vertrag für den kommerziellen Misserfolg Green Lantern (2011, Martin Campbell) des Konkurrenten DC unterschreiben kann, folgt die Struktur der beiden Deadpool-Filme nach wie vor einem klassischen Superheld_innen-Abenteuer. Entwicklungen wie die bestimmte Negation des Genres durch Jessica Jones und der temporäre Bruch mit der eigenen Fiktion durch Deadpool verdeutlichen die Eigendynamik von Genreformen. Zugleich lässt sich in den selbstreflexiven Ansätzen dieser beiden Reihen der Bezug zu historischen Phasen der Comicgeschichte erkennen. Die Antiheld_innen, die sich wie Jessica Jones ihrem traditionellen Rollenbild verweigern oder wie Deadpool sarkastisch das eigene Genre kommentieren, integrieren jene reflexiven Brüche, die in den 1980er Jahren durch Graphic Novels wie Watchmen (Moore/Gibbons 1986) noch als externe Auteur-Perspektive auf das Genre entwickelt wurden, in das Formenrepertoire des Genres selbst. Für die Analyse selbstreflexiver Ansätze in Superheld_innen-Comics erweist sich daher die Verortung innerhalb der Entwicklung des Genres als entscheidend. Auch wenn die Einteilung der Genregeschichte in ein Golden Age, ein Silver Age, ein Bronze Age und ein Dark Age aufgrund ihrer teleologischen Implikationen als nicht unumstritten gilt, bietet die Aufteilung in entsprechende Epochalstile dennoch einen hilfreichen Referenzrahmen zur Kontextualisierung von Semantik, Syntax, Setting und Standardsituationen. In enzyklopädischen Handbüchern und stellenweise auch in der akademischen Forschungsliteratur hat sich folgende grobe Unterteilung etabliert: Im Golden Age der 1930er bis späten 1940er Jahre wurden durch Figuren wie Superman, Batman, Wonder Woman und Captain America die grundlegenden prägenden Archetypen des Genres geschaffen (vgl. Coogan 2012, S. 77; Ecke 2016, S. 234). Im Silver Age der 1950er bis in die frühen 1970er Jahre hinein realisierten insbesondere die MarvelComics erste Brüche, die eine Psychologisierung der häufig als Außenseiter_innen geltenden Protagonist_innen ermöglichten. Die Schauplätze beschränkten sich ab dem Silver Age nicht mehr auf phantastische Stadtbilder wie Metropolis und Gotham City, sondern bestanden in den Marvel-Comics aus unterschiedlichen Stadtteilen New Yorks. Reale Ereignisse und Bezüge zur Popkultur und zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation fanden Eingang in die Comics. Dies setzt sich auch noch lange nach dem Silver Age in MarvelComics fort: In den Spider-Man-Comics der frühen 2000er Jahre wurden durch den Autor J. Michael Straczynski sogar der 11. September 2001 und die Anschläge auf

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das World Trade Center eingearbeitet (vgl. hierzu ausführlicher Ossa 2019). Gegen den realen Terror waren innerhalb der Diegese der Spider-Man-Comics sowohl die Superheld_innen als auch ihre Gegenspieler_innen machtlos. Während die Einteilung in Golden Age und Silver Age allgemein anerkannt wird, bestehen unterschiedliche Ansichten über die folgenden Perioden ab den 1980er Jahren. Das Zeitalter der selbstreflexiven, literarisch ambitionierten Graphic Novels wie Watchmen (Moore/Gibbons 1986) und The Dark Knight Returns (Miller 1986) wird wahlweise als Bronze Age oder Dark Age bezeichnet (vgl. Ecke 2016, S. 234). Der Comicautor Grant Morrison spricht sogar von einem Renaissance Age der neuen Klassik, das in den 1990er und 2000er Jahren auf das Dark Age der gebrochenen Held_innen folgt (Morrison 2011, S. 265). Der Comic-Experte und Schriftsteller Dietmar Dath (2016) weist hingegen diese Konzeption in seinem Einführungsband über Superheld_innen zu Gunsten eines gegenwärtigen stilistischen Pluralismus zurück. Die Diskussion um die Zeitalter der Superheld_innen-Comics erinnert nicht von ungefähr an die langjährige Debatte um Genrezyklen in der Filmgeschichte (vgl. Hickethier 2002, S. 71; Scheinpflug 2014, S. 8). Entsprechend einer klassischen Dramaturgie gehen Autor_innen wie Thomas Schatz (1988) in seiner Studie zu den Genres des klassischen Hollywoodkinos, aber auch Coogan in der Comicforschung von Genrezyklen aus (vgl. Coogan 2012, S. 204). Auf eine experimentelle Phase, in der die Ausdrucksformen und Inhalte des Genres erprobt werden, folgt eine klassische Phase, in der die Konventionen perfektioniert werden. Die daraufhin einsetzende barocke Phase markiert bereits eine Ära der Manierismen und der selbstreflexiven Ansätze, bevor schließlich nach den entsprechenden Erschöpfungserscheinungen eine Phase der Rekonstitution einsetzt. Inwiefern die Historisierung durch Stilepochen selbst zum Gegenstand eines Comics werden kann, demonstriert die Graphic Novel Marvels (1994) von Kurt Busiek und Alex Ross. Die prägendsten Ereignisse aus der Mythologie der MarvelHeld_innen werden aus der Sicht eines Journalisten und Foto-Reporters noch einmal neu als eine Alternativgeschichte des 20. Jahrhunderts erzählt. Die aufwändig gemalte Graphic Novel leistet eine Aktualisierung der Marvel-Mythen, die ein neues Interesse an den ursprünglichen Vorlagen wecken soll. Die Aufbereitung der eigenen Geschichte sorgt für eine Selbstvergewisserung der eigenen pophistorischen Relevanz (siehe Abb. 5.6). Ikonische Szenen aus der Geschichte der Marvel-Comics werden zu einer stilisierten Chronik gebündelt. Die gemalten Panels heben sich noch einmal zusätzlich von den einfacher gehaltenen Zeichnungen der ursprünglichen Comics ab. Die Abenteuer der Avengers um Iron Man und Thor verdichten sich durch die nur vage angedeuteten Trennlinien der einzelnen Panels zu einem Zeitbild. Die kommentierenden Erinnerungen des Journalisten, dass ihm die Einsätze der Avengers wie eine Operninszenierung und die größte Show der Welt vorgekommen wären, betont die selbstreflexive Komponente, die zugleich Erinnerungsarbeit an die eigene popkulturelle Vergangenheit bedeutet. Die gewählten Superlative lassen sich sowohl auf die innerdiegetischen Ereignisse in den Marvel-Comics der 1960er Jahre als auch auf deren extradiegetische Vermarktung beziehen, die ihren ganz eigenen Jargon der Superheld_innen und Sensationen kultivierte. Rezeptionsgeschichte und fiktionale Historiographie ergänzen sich in Marvels gegenseitig, wie nicht zuletzt die zentrale Platzierung der Zuschauer_innen auf der abgebildeten Seite verdeutlicht. Die dargestellten Motive von Iron Man und Thor in Aktion würden sich auch problemlos als Motive für akzentuierte ganzseitige Panels qua-

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Das Genre der Superheld_innen im Comic

5.1

Abb. 5.6: Selbstvergewisserung der eigenen pophistorischen Relevanz: Marvels (Busiek/Ross 1994, o. S.).

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Genretheoretische Comicanalyse

lifizieren. Dennoch scheint für Busiek und Ross die Einbeziehung der Augenzeug_ innen wichtiger. Eigenständige Interpretationen einer Figur oder kuratorisch-künstlerische Archivaufbereitungen wie Marvels vermitteln die genrespezifische Mythologie analog den heutigen Verfilmungen einem breiteren Publikum und einer neuen Generation. Die Revisionen und Umdeutungen können zur ›Entrümpelung‹ allzu kompliziert gewordener transtextueller oder auch transmedialer Storyworlds bzw. Universen dienen. Eine derartige Strategie realisiert die als Referenzwerk der DC-Comics geltende Sonderreihe Crisis on Infinite Earth (1985) von Marv Wolfman und George Pérez. Die sämtliche seit Gründung des Verlags entstandenen Welten und Figuren umfassende Reihe etabliert ein narratives Muster, nach dem sowohl entlegene Superheld_innen als auch sämtliche Paralleluniversen in eine konsistente narrative Logik einbezogen werden. Zugleich wird in Crisis on Infinite Earth das allzu unübersichtliche DC-Universum durch eine folgenschwere Katastrophe neu vermessen. Das Resultat erinnert an jene Taktiken, die durch sogenannte Reboots mittlerweile zum Standard geworden sind. Für eine überschaubare Anzahl an Ausgaben kann selbst das Unmögliche wahr werden, danach wird wie bei einem Computer der Reset-Button für den Neustart betätigt. Eine weitere Möglichkeit zur Aktualisierung besteht in der Rekrutierung bekannter Autor_innen und Künstler_innen. Derartige Kooperationen können neben der offensichtlichen Steigerung des kulturellen Ansehens zur Integration reflexiver und kritischer Perspektiven in die Reihen führen. Eine der außergewöhnlichsten Kooperationen zwischen den Marvel-Comics und einem politisch engagierten, bekannten Autor ergab sich durch die Verpflichtung des Schriftstellers Ta-Nehisi Coates für die aktuelle Variante des Black Panther (vgl. Coates/Steelfreeze 2016). Die Abenteuer des 1966 von Stan Lee und Jack Kirby erdachten afrikanischen Königs T’Challa standen von Anfang an im Zeichen afro-amerikanischer Identitätspolitik (vgl. Howe 2012). Über die repräsentative Symbolpolitik hinaus entwickelte sich die Reihe nach und nach zu einem Science-Fiction-Forum für unterschiedliche afro-amerikanische Künstler_innen. Frank Kelleter und Daniel Stein machen in ihren Studien zur Serialität Autorisierungskonflikte als ein bestimmendes Element der Superheld_innen-Reihen aus: Insofern Serien Kultur machen, machen sie eine bestimmte Art von Kultur: eine, die den involvierten Akteuren – Produzenten wie Rezipienten, Texten wie Medien – zunehmend fließende Handlungsrollen zur Verfügung stellt [...]. Ab einem bestimmten Punkt ist die Unterscheidung zwischen einem Produkt der so genannten Kulturindustrie und einem Fan- oder Amateur-Artefakt dann nicht mehr leicht zu treffen [...]. Die traditionellen Fragen nach der Produktion sozialer Identität (Race, Class, Gender) können auf dieser Ebene vielleicht neu gestellt werden. Zwangsläufig nämlich offenbaren die Selbstidentifikationen populärkultureller Akteursgruppen Autorisierungskonflikte. Kommerzielle Massenkommunikation ist per Definition arbeitsteilig und multiauktorial. (Kelleter/Stein 2012, S. 260)

Die Geschichte der Black Panther-Comics verdeutlicht, wie diese nicht nur im Subtext, sondern relativ konkret auf der Ebene der Handlung selbst zum Verhandlungsort diverser Akteur_innengruppen wurden. Der ursprüngliche Sparring Partner der Fantastic Four, der diese in den ersten Comics aus den späten 1960er Jahren zu einem gemeinsamen Training in das afrikanische Land Wakanda einlädt, entwickelt sich in den Publikationen der 1970er und 1980er Jahre zu einer Symbolfigur für das komplexe Verhältnis zwischen Afrika und der Diaspora in den USA.

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Das Genre der Superheld_innen im Comic

5.1

Die gegenwärtigen Black Panther-Comics und deren Verfilmung beziehen inzwischen sogar sehr bewusst eine gewisse symbolische Autorisierung durch die Verpflichtung literarischer Stars wie Ta-Nehisi Coates oder eines afro-amerikanischen Regisseurs mit eigenen thematischen und stilistischen Merkmalen wie Ryan Coogler ein. 2019 wurde Cooglers Verfilmung Black Panther als erste Comicverfilmung in der Filmgeschichte in der Kategorie des Besten Films für den Oscar nominiert. Setting und Figurenzeichnung der Black Panther-Comics beziehen wesentliche Inspirationen aus dem Science-Fiction-Konzept des Afrofuturismus, das in den 1970er Jahren von dem experimentellen Musiker Sun Ra geprägt worden war. Die Kulturwissenschaftlerin und Künstlerin Ytasha L. Womack nennt eine markante Kombination aus Technologie und Spiritualität, die die Erfahrung der afrikanischen Diaspora verarbeitet, als besonderes Kennzeichen des Afrofuturismus: Technik und Wissenschaft sind für den Afrofuturismus die Kehrseite der Mystik. Für das Genre ist es ganz natürlich, Logik und Spirituelles zu mischen. Verweise auf Spiritualität und Glauben, besonders auf einen, der sich aus afrikanischen und afrikastämmigen Religionen speist (Candomblé, Santeria), sind häufig anzutreffen. Alles ist mit allem innig verwoben. (Womack 2017, S. 112)

Die durch den Afrofuturismus noch stärker politisierte Perspektive der ohnehin häufig auf gesellschaftliche Entwürfe und Modelle bezogenen Science-Fiction verdeutlicht noch einmal mit Nachdruck, dass sich nicht einfach ein fester Kern der Superheld_innen-Geschichten ausmachen lässt. Vielmehr finden die kulturellen und politischen Praktiken um eine Figur und eine Reihe in Fällen wie Black Panther Eingang in die Figurenzeichnung und in die Handlung selbst. Der Kosmos von Black Panther verdeutlicht noch einmal das kulturelle und politische Potenzial von Genreformen und deren Eigendynamik. Die Syntax eines Superheld_innen-Abenteuers wird mit einer Umdeutung traditioneller Science-FictionSemantik kombiniert. Das Setting des fiktionalen afrikanischen Staates Wakanda integriert Elemente des Afrofuturismus und funktioniert zugleich als Erweiterung des Marvelkosmos. Die repräsentative Funktion des Black Panther als politische Korrektur der von männlichen Weißen dominierten Superheld_innen-Comics zeigt sich in der Erweiterung seiner Geschichte um eine als Retro-Continuity im Nachhinein hinzugefügte Begegnung mit Captain America, in der er in der Standardsituation eines Zweikampfs von einem Vorfahren des Black Panther besiegt wird. Die Kontextualisierung der Figur des Black Panther vor dem Hintergrund der Bürgerrechtsbewegung und dem verstärkten Aufkommen afro-amerikanischer Held_innen in den Filmen und Comics der 1970er Jahre demonstriert die wesentliche Bedeutung gesellschaftshistorischer Hintergründe für die soziokulturelle Repräsentationsfunktion der Figur. Die von Coogan genannten Superheld_innen-Kriterien der Mission, des Kostüms und der Identität werden zwar auch von T’Challa alias Black Panther nach wie vor beispielhaft erfüllt. Die Erweiterung der verhandelten Themen um afro-amerikanische Identitätspolitik verdeutlicht sowohl das selbstreflexive Potenzial der Genreformen als auch deren Aktualisierung durch kulturelle Akzentverschiebungen. Ausgehend von den Grundlagen der Semantik und der Syntax ermöglicht die genauere Betrachtung des Settings und der Standardsituationen eine Verortung der jeweiligen Genreformen in einer historischen Perspektive. Für die nicht-essenzialistische, kulturwissenschaftlich ausgerichtete Genreforschung können kulturelle Kontexte oder die an einer vertrauten, genrespezifischen Ikonographie vorgenommenen

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Genretheoretische Comicanalyse

Revisionen und Korrekturen zentraler sein als die Frage nach dem abstrakten Kern eines Genres. Dass Genres angesichts der gegenwärtigen Medienverbünde auch in transmedialen Zusammenhängen gedacht werden sollten, zeigt sich in der abschließenden Beispielanalyse.

5.2 | Zum Beispiel: Old Man Logan (2008) und Logan (2017) Innerhalb von zwei Jahrzehnten adaptierten die Marvel-Verfilmungen, beginnend mit den X-Men-Filmen (seit 2000), die unterschiedlichsten Formen von Comicerzählungen und lancierten somit Alternativen und Ausdifferenzierungen gegenüber der einfachen origin story, die sich in traditionelleren Verfilmungen zum generischen Topos entwickelt hatte. Anstelle eines einzelnen Einstiegspunkt in die Handlung bieten die X-Men-Filme und die Produktionen des MCU eine Vielzahl an Perspektiven, die in unterschiedlichen Genrekonstellationen resultieren (vgl. Rauscher 2012). Der Konflikt um die Bürgerrechte der Mutant_innen folgt klassischen Themen der Science-Fiction. Die eigenständigen Filme um den von Hugh Jackman gespielten Wolverine begeben sich hingegen in den Bereich des Agententhrillers, des Noir und schließlich in den Bereich des Western, der von Coogan und anderen Theoretiker_ innen häufig zum Vergleich mit Superheld_innen-Geschichten herangezogen wird (vgl. Coogan 2012). In der folgenden Beispielanalyse werden die mit den Adaptionsprozessen verbundenen Genrereflexionen noch einmal am Beispiel des Comics Old Man Logan (2008) und dessen Verfilmung Logan (2017) durch James Mangold zusammengefasst. Die Comicvorlage wurde von dem schottischen Comicautor Mark Millar verfasst. Besonders deutlich geraten die für seine Arbeiten wie Civil War charakteristischen selbstreflexiven Ansätze im zwischen Spätwestern und Endzeitabenteuer angesiedelten Comic Old Man Logan. Die von Regisseur James Mangold realisierte Verfilmung Logan greift die Ansätze der Vorlage auf, um diese in einen Dialog mit transmedialen Adaptionsprozessen zu befördern. Vergleichbar mit Frank Millers einflussreicher Graphic Novel The Dark Knight Returns (1986) bricht Mark Millars Erzählung mit einem der von Umberto Eco im Mythos von Superman diskutierten Paradigmen. Entgegen dem ungeschriebenen Gesetz der episodischen seriellen Erzählform, die am Ende wieder zur Ausgangssituation zurückkehrt, altern sowohl Batman in Frank Millers Superhelden-Dämmerung als auch der an einen mürrischen Western-Helden erinnernde Logan. Obwohl beide Comicerzählungen wie die Fortsetzung der vertrauten Serienkonstellation erscheinen, konstruieren sie zugleich einen Epilog, der als Nachspiel mit den Konventionen der zugrunde liegenden Serie bricht. In The Dark Knight Returns kehrt Batman nach über einem Jahrzehnt noch einmal in ein apokalyptisches Gotham zurück. Old Man Logan lässt, entsprechend dem Titel, einen sichtlich gealterten Wolverine nach Jahrzehnten in der Anonymität noch einen letzten Auftrag annehmen. Nachdem die vereinten Schurk_innen des Marvel-Universums die Superheld_innen vernichtet hatten, zog sich Wolverine in die kalifornische Provinz zurück. Er legte seine alte Identität ab. Zu Beginn der Graphic Novel hört er nur noch auf den Namen Logan und lebt gemeinsam mit seiner Familie auf einer entlegenen Farm. Als diese von einer aus Nachkommen des Hulk bestehenden Biker-Gang bedroht wird, nimmt Logan ein Angebot des erblindeten ehemaligen Avengers Hawkeye an. Für

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Zum Beispiel: Old Man Logan (2008) und Logan (2017)

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die Begleitung während eines kritischen Transportauftrags verspricht er Wolverine eine Prämie. Mit dieser beabsichtigt Logan die von der Gang verlangten Schutzgelder zu begleichen und somit seine Familie zu schützen. Gemeinsam durchqueren Logan und Hawkeye die USA von Westen nach Osten. Wie zuvor Peter Fonda, Dennis Hopper und Jack Nicholson in Easy Rider (1969, Dennis Hopper) folgen sie in einer symbolischen Umkehrung der entgegengesetzten Route der US-amerikanischen Pioniere. Auch die Muster der Held_innenreise erfahren eine raffinierte Revision. Die von Hawkeye idealistisch als Chance begriffene Mission, an der Ostküste einen neuen Widerstand gegen die herrschenden Despoten aufzubauen, führt in eine sorgfältig von ihren Gegenspieler_innen vorbereitete Falle. Die Heimkehr am Ende der Held_innenreise erweist sich als Illusion. Logan findet seine Farm zerstört und seine Familie brutal ermordet vor. Old Man Logan bietet ein besonders pointiertes Beispiel für die Variationsmöglichkeiten innerhalb der verschiedenen Genreregister. Die zentralen narrativen Elemente einer Superheld_innen-Erzählung nach Ditschke und Anhut (2009) werden zwar noch in Ansätzen, aber nicht mehr in ihrer Vollständigkeit eingelöst. Den Ausgangspunkt bildet zwar noch der Alltag (vgl. Ditschke/Anhut 2009, S. 141), doch im Vergleich zu den gewöhnlichen Szenarien des Genres haben sich dessen Rahmenbedingungen durch den Triumph der Schurk_innen weitgehend verändert. Der Wechsel vom ursprünglich nicht allzu weit vom US-amerikanischen Alltag der Gegenwart entfernten Marvel-Universum in das mit Westernelementen aufgeladene trostlose Wüstengebiet bewirkt sogar einen Wechsel des generischen Settings vom gegenwartsbezogenen Superheld_innen-Abenteuer in den Bereich der postapokalyptischen Endzeitvisionen, wie sie sich in dem zwischen Abenteuerspielplatz und warnender Allegorie angesiedelten ›Wasteland‹ der Mad Max-Filme (1979–2015, George Miller) finden. Das gewöhnlich zentrale narrative Merkmal einer Superheld_innen-Erzählung, dass ein Problem die Ordnung und deren Bestehen bedroht, hat sich hier so weit verlagert, dass die ursprüngliche Ordnung des Genres gar nicht mehr besteht. Entgegen der klassischen Raumsemantik lässt sich im veränderten Setting die Grenzüberschreitung im Sinne von Juri Lotman nicht mehr ohne Weiteres ausmachen. Anstelle eines allgemeinen Genrealltags wird stattdessen die eigene Comicgeschichte zum Referenzrahmen, wenn Logan durch die Trümmer des Marvel-Kosmos reist. Die Insignien des Marvel-Universums haben sich in variable Zeichen, flottierende Signifikanten, verwandelt, die für eine selbstreflexive Erzählung über den eigenen Mythos verwendet werden. Lediglich die innere Überwindung der backstory wound bleibt vom Muster der Held_innenreise erhalten. Im Lauf der Reise gesteht Logan gegenüber Hawkeye, dass er es selbst war, der durch eine heimtückische Wahnvorstellung am Abend der Machtübernahme durch die Schurk_innen seine eigenen Verbündeten, die anderen X-Men, massakriert hat. Die Schuldgefühle konnte er niemals überwinden. Nachdem er die eigene Schuld an der im Blutrausch begangenen Tat erkannt hat, versuchte er, wie eine Rückblende zu Beginn des Comics offenbart, sich auf einem Bahngleis das Leben zu nehmen. Aufgrund seiner Selbstheilungskräfte überlebte er jedoch, wie es eigentlich bereits zu erwarten war, jeden Selbstmordversuch. Resigniert beschloss er, zumindest Wolverine symbolisch zu töten und zog sich in die Anonymität seines neuen Lebens als Farmer zurück. Durch den Verlust seiner Familie kehrt Logan schließlich wieder zu seiner Identität als Wolverine zurück. In einem brutalen Rachefeldzug tötet er die Mörder_innen. Seine Wiedergeburt vollzieht

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5

Genretheoretische Comicanalyse

sich nicht sonderlich subtil, indem er sich mit seinen Krallen einen Weg aus dem Magen des dem Wahnsinn verfallenen ursprünglichen Hulk alias Bruce Banner bahnt, der versuchte, ihn zu verspeisen. Das für Mark Millars etwas kruden Humor charakteristische Szenario lässt sich sowohl als ironisch überhöhte Variante des wiedergeborenen Helden aus dem Repertoire der Held_innenreise wie auch als versteckte Anspielung auf die Einführung Wolverines in den Marvel-Comics deuten. Seinen ersten Auftritt absolvierte der krallenbewährte Mutant 1974 in einem Zweikampf gegen den Hulk in The Incredible Hulk, Vol. 1 #181 (vgl. Wein 1974). Mit der letzten Station kehrt Logan in Old Man Logan an seine Ursprünge in der Geschichte der Marvel-Comics zurück. Der Abschluss von Logans innerer Reise beschränkt sich in Old Man Logan jedoch nicht auf den zynischen Gag und einen intertextuellen Querverweis. Die Konfrontation mit dem Hulk leitet eine weitere Transformation ein, die von einem mythischen Genresystem der Comicgeschichte in ein anderes wechselt. Den jüngsten Sohn des Hulk verschont Logan. Er nimmt ihn als Adoptivsohn mit sich und reitet in den Sonnenuntergang. Die Ikonographie betont weiterhin die Anleihen an das Genre des Western. Die Konstellation des Outlaws erinnert hingegen an die unter anderem von Frank Miller mit eigenen Covervarianten für die US-amerikanische Veröffentlichung versehene japanische Kult-Manga-Reihe Lone Wolf and Cub, die 1970 von Kazuo Koike und Goseki Kojima konzipiert wurde. In deren Mittelpunkt steht ein als Ronin gemeinsam mit seinem kleinen Sohn durch das mittelalterliche Japan streifender Samurai. Millars Comic enthält im Setting ikonographisch neben den Westernreferenzen auch Anspielungen auf Endzeitfilme wie die Mad Max-Reihe (1979; 1982; 1985; 2014). Die Zusammenführung beider Genres als geteilte Topographie, die den hybriden Charakter des Szenarios auch in räumlicher Hinsicht realisiert, erscheint naheliegend. Auf einer symbolischen Ebene ergänzt sich dieses Setting mit dem ungewissen Status des Superheld_innen-Genres in einer Phase des Übergangs. Auf der einen Ebene dienen die revisionistischen Endspiele des Western dazu, um einen möglichen Abschluss für den gealterten Helden Wolverine zu erreichen, der unter den gewöhnlichen Parametern der X-Men-Comics nicht vorstellbar wäre. Zugleich findet sich in Old Man Logan jedoch noch eine weitere Ebene, die das Szenario der Postapokalypse nutzt, um darin einen möglichen Ansatz für die Neuerfindung der Figur zu kreieren. Der Ritt Wolverines in die Weite der Prärie bei Sonnenuntergang lässt sich sowohl als ein Verschwinden in den Mythos als auch als Beginn eines neuen Mythos deuten. Die erste Variante repräsentiert John Wayne am Ende von John Fords in Deutschland unter dem Titel Der schwarze Falke bekanntem Western The Searchers (1955), wenn er durch die geöffnete Tür hinaus in die Wildnis verschwindet. Die zweite Variante realisiert beispielhaft Mel Gibson als ehemaliger Cop Max, der am Ende des ersten Mad Max-Films in das postapokalyptische Wasteland verschwindet, das er in den folgenden Filmen als road warrior durchstreift. Diese Motivwanderungen und Remedialisierungen verdeutlichen das besondere Potenzial der Genretheorie sowohl als analytisches Werkzeug für formalästhetische Kontexte wie auch als medienkulturwissenschaftlicher Seismograph popkultureller Erschütterungen, die im Rahmen einer pophistorischen Spurensuche Auskunft über gesellschaftliche Befindlichkeiten geben (zur Remedialisierung von Comic und Film vgl. auch noch einmal Friedrich/Rauscher 2007; Sina 2016).

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Zum Beispiel: Old Man Logan (2008) und Logan (2017)

5.2

Abb. 5.7: Western-Referenzen in Old Man Logan (Millar/McNiven 2008, o. S.).

Millar nutzt das Erscheinungsbild von Clint Eastwood als gealtertem Cowboy in Unforgiven (1991) als ästhetischen Ausgangspunkt. Aus den ikonographischen Referenzen ergibt sich der Ansatz von Old Man Logan. Die deutlichen Parallelen zu Eastwoods William Munny, der nur widerwillig ein letztes Mal in die Rolle des WesternGunslingers zurückkehrt, setzt nicht nur jene Zweifel an der traditionellen Held_innenrolle fort, die Eastwood in seinem Film begann. Auf einer theoretischen Ebene werden auch die grundlegenden Prämissen des Superheld_innen-Genres und dessen kultureller Bedeutung hinterfragt. Visuell finden sich in der Eröffnungssequenz des Comics Anspielungen auf die markanten Einstellungsgrößen in den Western von Sergio Leone, in denen Details einzelner Gesichter durch die Kamera besonders hervorgehoben werden (siehe Abb. 5.7). In dieser Hinsicht ähneln die neueren, mit Anspielungen auf Filme durchzogenen Superheld_innen-Comics bereits den Storyboards, mit denen die einzelnen Einstellungen eines Films bei komplizierteren Sequenzen zur besseren Orientierung für das Team bereits vorskizziert werden.

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5

Genretheoretische Comicanalyse

Abb. 5.8: Sichtung des Western-Klassikers Shane (1956) in der Comicverfilmung Logan (2017).

James Mangold realisierte seine Verfilmung des Comics unter dem Titel Logan Anfang 2017 als düsteres Endspiel des Superheld_innen-Genres und als Abschluss der seit 2000 erfolgreich mit Hugh Jackman als Wolverine fortgesetzten X-Men-Filmreihe. Er erweitert die Handlung um eine zusätzliche reflexive Ebene, auf der die medialen Diskurse um die in Comic und Film verarbeiteten Popmythen selbst einbezogen werden. In einer Dokumentation zum Film Logan vergleicht Mangold den Superheld_innen-Film in den 2010er Jahren mit der Situation des Western in den 1950er Jahren. In diese Zeit fallen André Bazins Schriften zu diesem Genre als US-amerikanischen Mythos par excellence (vgl. Bazin 2004). Der französische Filmtheoretiker beobachtet eine Entwicklung hin zur Reflexion der eigenen mythischen Form. Filme wie The Searchers (1955) und Shane (1953) vollzogen zwar nicht die radikalen Brüche der späteren Italo-Western, in denen sich der moralische Code der Westernheld_innen nicht mehr erfüllen ließ. Aber dennoch wurde das Verhältnis zwischen Held_in und Gesellschaft in der Handlung mitverhandelt. In Logan taucht der Film Shane, in dem ein mysteriöser Fremder (Alan Ladd) den von einem Viehbaron bedrängten Siedler_innen zur Hilfe kommt, im Fernsehen auf. Patrick Stewart als der von Logan beschützte, schwer kranke Professor Charles Xavier sieht sich diesen gemeinsam mit der jungen Mutantin Laura (Dafne Keen) Shane in einem Hotelzimmer an (siehe Abb. 5.8). In Shane steht die wesentliche Frage im Mittelpunkt, ob die Waffe an sich bereits schlecht sei oder erst diejenigen, die den Abzug bedienen. Am Ende verlässt der schuldig gewordene Shane das Tal. Um die Familie zu retten, hat er einen Gegner erschossen. Es fällt nicht allzu schwer, in den moralischen Konflikten Shanes die Situation der Wolverine-Figur in den Filmen und zahlreichen X-Men-Comics wiederzuerkennen. Allerdings besteht zu Alan Ladd als Shane der feine Unterschied, dass Wolverine in den meisten Fällen gar keinen Wert darauf legt, sich in die Gesellschaft zu integrieren. In Logan gerät der innere Konflikt Wolverines jedoch komplexer, indem im Unterschied zu Old Man Logan nicht er es war, der die eigenen Kolleg_innen von den X-Men auf dem Gewissen hat, sondern Professor Xavier, der in einem Anfall von Demenz seine telepathischen Kräfte nicht kontrollieren konnte. Logan verschweigt seinem langjährigen Mentor und Freund, was tatsächlich geschehen ist. Der Filmkritiker Ulrich von Berg schreibt über die Parallelen zwischen dem Film Shane und dessen Protagonisten:

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Zum Beispiel: Old Man Logan (2008) und Logan (2017)

5.2

Abb. 5.9: Meta-X-Men-Comic im Film Logan (2017).

Wie seine Titelfigur ist auch der Film Shane ein Außenseiter geblieben, in der Geschichte seines Genres steht er irgendwo zwischen den opulenten Edelwestern der 1950er Jahre und den sich damals noch in weiter Ferne befindlichen Spät- und Antiwestern, die mit schmutzigem Realismus Authentizität herstellen wollten und auf Entmythologisierung aus waren. (von Berg 2003, S. 169)

Dieses Niemandsland sucht Mangold bewusst auf, um seine eigene, reduzierte Variante der Old Man Logan-Vorlage zur Geltung zu bringen. Aus Copyright-Gründen musste er auf potenzielle Auftritte von Marvel-Figuren wie Hulk und Hawkeye verzichten, die sich im Besitz der Disney-Studios befinden. Die Abwesenheit dieser ikonischen Figuren verleiht dem Kammerspiel um Logan, Professor Charles Xavier und Laura eine ausgeprägte Konzentration auf das Wesentliche. Genremotive wie die Bezüge zum Western und die symbolische Aufladung des Endzeitsettings rücken durch den Verzicht auf einen an die Jurassic Park-Filme (seit 1993) angelehnten Dinosaurier aus dem Comic stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Mit dem Remake des Hollywood-Klassikers 3:10 to Yuma (2007) und dem JohnnyCash-Biopic Walk the Line (2005) hatte Mangold bereits sein Interesse an den Mythen des Western zum Ausdruck gebracht. Bezeichnenderweise nutzt er die klassische und nicht die vollständig dekonstruierte Variante des Westernhelden als Basis für Logan. Zwar kann Logan im Gegensatz zu Shane einer bedrängten Familie auf einer Farm im späteren Verlauf des Films nicht mehr helfen und muss hilflos mit ansehen, wie diese von seinen Verfolgern massakriert werden. Aber die Reflexion der postklassischen Situation durch die Beschäftigung mit den klassischen Erzählungen des Genres bleibt als Option bestehen und wird am Ende als Frage an die Rezipierenden weitergegeben. Denn genau so wie Shane und dessen Variation in Clint Eastwoods Pale Rider (1985) wird in Logan die Bedeutung des eigenen Comicmythos verhandelt. Im Gegensatz zu Eastwoods mit biblischen Motiven aufgeladenen apokalyptischem Reiter, der als Rächer aus dem Jenseits inszeniert wird, suchen in Logan nicht die mysteriösen Geister Unschuldiger, sondern die materiellen medialen Inkarnationen der Genrevorbilder den Film heim. Neben Shane tauchen X-Men-Comics in der Handlung selbst auf, die eigens für den Film angefertigt wurden (siehe Abb. 5.9). In diesen Comics verhilft Logan einer Gruppe verfolgter Mutant_innen zur Flucht an einen sicheren Ort, der als neues Eden gedeutet wird. Konfrontiert mit seinem eigenen gezeichneten Abbild erklärt Wolverine Laura, dass

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5

Genretheoretische Comicanalyse

höchstens ein Viertel der Geschichten wahr sei und dass selbst diese in einer ausgesprochen verzerrten Form erzählt wären. Am Ende verhilft Logan, obwohl die vermeintliche Zuflucht Eden nicht wirklich existiert, doch noch unter Einsatz seines eigenen Lebens den von den Handlanger_ innen eines Konzerns verfolgten Jugendlichen um Laura zur Flucht über die Grenze nach Kanada. Die für den klassischen Western untypische Bewegung von der Westan die Ostküste aus dem Comic greift Mangold auf, indem er Wolverine, Professor Xavier und Laura von Mexiko nach Kanada, also von Süden nach Norden reisen lässt. Das Land south of the border diente in zahlreichen Gangsterfilmen und Western als ersehnter Zufluchtsort. In Logan erweist es sich, ähnlich wie in diversen Spätwestern wie unter anderem in Sam Peckinpahs The Wild Bunch (1969), lediglich als temporäre Zwischenstation. Die Mythen des popkulturellen Alltags werden in Logan im Hinblick auf ihre Konstruktion und deren Wahrheitsgehalt thematisiert. Sie existieren als filmische Fundstücke und als Comics. Sie erscheinen deutlich geschwächt, können aber durch die entsprechende kulturelle Praxis wieder mit Bedeutung aufgeladen werden. In dieser Hinsicht liefert Logan einen adäquaten Abschluss für Wolverines Handlungsstrang innerhalb der X-Men-Reihe, artikuliert aber zugleich auch, dass Genres niemals gänzlich verschwinden, so wie der Film Shane als Relikt im Hotelfernsehen die eigenen Nachfolger_innen aus den Marvel-Comics heimsucht. Die Kommunikationsprozesse und Verständigungen über das durch Genreformen zum Ausdruck gebrachte kulturelle Selbstverständnis setzen sich über die einzelnen Medien hinweg fort. Einen ökonomisch bedingten vorläufigen Schlusspunkt setzte der Verkauf des Studios 20th Century Fox und somit auch der X-Men-Figuren im Frühjahr 2019 an Disney und die mit diesen assoziierten Marvel Studios. Mangold hat mit den letzten Szenen von Logan einen vorläufigen Abschluss für den Zyklus realisiert, für den die sogenannten Spätwestern mit ihren gebrochenen Held_innen und ihren ambivalenten Konstellationen die adäquate ästhetische Vorlage lieferten. Doch ebenso wie für den Western gilt auch für die Superheld_innen der X-Men, dass sie nicht wirklich sterben können. Die Option des Neuanfangs gehört zu den festen Varianten der Genreform.

5.3 | Fazit Der Genretheorie kommt als pragmatischer Vermittlerin zwischen weitläufigen, abstrakten Modellen und konkret gegenstandsbezogenen Fallstudien eine besondere Relevanz zu. Der pragmatische Gebrauch der Grundlagen von Semantik und Syntax bietet eine erste Erschließung von Ikonographie und Handlungsstrukturen, die die für den Comic konstitutiven Ebenen des Bildes und des Textes gleichermaßen in den Blick nimmt. Sie verbindet die Top-Down-Perspektive weit gefasster Theorien und Begriffskonstruktionen mit der Bottom-Up-Analyse konkreter Comics als Arbeit am Gegenstand. Die Begrifflichkeiten von Semantik und Syntax lassen sich jederzeit neben der hier ausgeführten Anwendung auf die Superheld_innen-Comics auch auf andere Genres wie Abenteuergeschichten, Romanzen, Science-Fiction, Horror, Fantasy oder Western übertragen.

146

Fazit

5.3

Die Superheld_innen-Comics bringen jedoch aufgrund der Kombination unterschiedlicher von den urbanen Schauplätzen gegenwärtiger Großstädte bis hin zu phantastischen Parallelwelten den hybriden Charakter von Genres besonders anschaulich zum Ausdruck. Die Entwicklung sogenannter Standardsituationen ermöglicht Variationen und Brüche, die Aspekte aus der Definition der Superheld_innen nach Coogan wie die heroische Mission, das Kostüm und die durch einen Codenamen bestimmte Identität relativieren. Im Sinne einer nicht mehr auf einen festen und eindeutigen Kern fixierten pragmatischen Genretheorie, die auch die fließenden Übergänge zwischen Semantik und Syntax mitbedenkt, lassen sich sowohl selbstreflexive Ansätze als auch historische Perspektiven herausarbeiten. Beispielsweise bietet die Popularität von Antiheld_innen seit den 1990er Jahren eine aussagekräftige Perspektive auf die Eigendynamik von Genreformen. Die ursprünglich als Verstöße gegen die formalästhetischen und inhaltlichen Regeln des Genres wahrgenommenen Brüche wie die Durchbrechung der vierten Wand entwickeln sich im Kommunikationsprozess zwischen Produzent_innen und Publikum selbst zu neuen Genrekonventionen. Die gegenwärtige Diskussion zeichnet sich durch eine Aufwertung der Rezipierenden und den multiplen Variantenreichtum des Genres als kultureller Medienpraxis aus. Häufig beschränken sich die vernetzten Genreformen nicht mehr auf ein einzelnes Medium, sondern gehen inter- und transmediale Austauschprozesse ein. Auf diese Weise können, wie die exemplarische Analyse des Comics Old Man Logan und des von diesem inspirierten Film Logan gezeigt hat, die Adaptionsprozesse eine reflexive Komponente bezüglich der Mythen und Motive eines Genres annehmen. Die Verfilmung verdeutlicht auch noch einmal den hybriden Charakter des Superheld_innen-Genres, indem sie sich zwischen Western-Ikonographie und Endzeitparabel positioniert. Dass diese Transferprozesse zwischen den einzelnen Medien sich nicht auf eine einseitige Wirkung reduzieren lassen, verdeutlicht die klare Bezugnahme der Comicvorlage auf filmhistorische Vorbilder. Das Spektrum der Anspielungen reicht von Sergio Leones Italo-Western bis hin zu Clint Eastwoods Western-Dekonstruktion Unforgiven, der für den Comic Old Man Logan und den Film Logan eine wichtige Inspirationsquelle bildet. Genrebegriffe lassen sich nicht auf Dauer eindeutig festlegen, sondern zeichnen sich durch ihre spezifischen kulturellen, rezeptionsästhetischen und produktionshistorischen Bedingungen aus. In der Erschließung spezifischer stilistischer Epochen, medienkultureller Praktiken und formalästhetischer Tendenzen bilden die mit Genres verknüpften Prozesse und Motivwanderungen einen aufschlussreichen Brückenschlag von Film-, Medien- und Literaturwissenschaft zur Kunst- und Kulturgeschichte. Verknüpfungen dieser Art nachzuzeichnen entspricht ganz dem multiperspektivischen Charakter der Comicanalyse. Primärliteratur Busiek, Kurt/Ross, Alex: Marvels. The Remastered Edition [1994]. New York 2018. Coates, Ta-Nehisi/Steelfreeze, Brian: Black Panther. A Nation under Our Feet. Book 1. New York 2016. Hamilton, Edmond/Swan, Curt/Mortimer, Win: Superman #76. New York 1952. Kane, Bob/Finger, Bill: Detective Comics #33. New York 1939. Kibblesmith, Daniel/Ortiz, Ricardo López: Black Panther vs. Deadpool. New York 2019. Lee, Stan/Ditko, Steve: Amazing Fantasy #15. New York 1962. Loeb, Jeph/Lee, Jim/Williams, Scott: Batman. Hush [2002–2003]. New York 2009. Loeb, Jeph: Spider-Man. Blue [2002–2003]. New York 2003.

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5

Genretheoretische Comicanalyse

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148

Fazit

5.3

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Genretheoretische Comicanalyse

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6 Intersektionale Comicanalyse Der Begriff der ›Intersektionalität‹ hat Hochkonjunktur. Immer häufiger ist sowohl im akademischen wie auch im öffentlichen Kontext von ›intersektionaler Perspektivierung‹, ›intersektionalem Denken‹ oder dem ›Paradigma der Intersektionalität‹ die Rede. Doch was genau bezeichnet der abstrakte Begriff der ›Intersektionalität‹ überhaupt? Was ist unter Intersektionalitätsforschung zu verstehen und wie kann eine intersektionale Comicanalyse aussehen? Im Rahmen dieses Kapitels wird diesen Fragen nachgegangen. Dabei wird zunächst der Begriff der ›Intersektionalität‹ näher beleuchtet und ein einführender Einblick in die Grundlagen der Intersektionalitätsforschung gegeben (siehe Kap. 6.1). In einem weiteren Schritt werden beispielhaft drei unterschiedliche Differenzachsen, nämlich die Kategorien Gender (siehe Kap. 6.1.1), Race (siehe Kap. 6.1.2) und Dis/ability (siehe Kap. 6.1.3) sowie ihr wechselseitiges Ineinandergreifen und ihre Relevanz für das Medium Comic erläutert. Im Anschluss daran werden die erarbeiteten theoretischen Grundlagen und Begrifflichkeiten auf die detaillierte, exemplarische Analyse eines ausgewählten Comics – und zwar auf das autobiographische Werk I Am Not These Feet (2006) der finnischen Künstlerin Kaisa Leka – angewendet und damit gleichzeitig veranschaulicht, vertieft und für die interdisziplinäre Comicforschung anschlussfähig gemacht (siehe Kap. 6.2).

6.1 | Intersektionalitätsforschung Im Fokus »intersektionaler Ungleichheitsforschung« (Lünenborg/Maier 2013, S. 70) steht das wechselseitige Ineinandergreifen und Zusammenwirken differenz- und identitätsstiftender Strukturkategorien wie etwa Gender, Sexualität, Alter, Klasse, Nationalität, Dis/ability, Religion oder Race sowie die Analyse der mit diesem Wechselspiel einhergehenden hierarchischen Machtverhältnisse. Der Begriff der ›Intersektionalität‹ (intersectionality) wurde von der amerikanischen Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw in ihrem international rezipierten Aufsatz »Demarginalizing the Intersection of Race and Sex. A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics« (1989) eingeführt, um die sexistischen und rassistischen Diskriminierungen zu verdeutlichen, unter denen schwarze Frauen immer wieder zu leiden haben. Mit Hilfe der Metapher einer Straßenkreuzung (intersection) verdeutlichte Crenshaw, dass Rassismus und Sexismus in den meisten Fällen Hand in Hand gehen und daher nicht als voneinander getrennte Phänomene betrachtet werden sollten: Consider an analogy to traffic in an intersection, coming and going in all four directions. Discrimination, like traffic through an intersection, may flow in one direction, and it may flow in another. If an accident happens in an intersection, it can be caused by cars traveling from any number of directions and, sometimes, from all of them. Similarly, if a Black woman is harmed because she is in the intersection, her injury could result from sex discrimination or race discrimination. (Crenshaw 1989, S. 149)

Auch wenn der Begriff der ›Intersektionalität‹ zunächst im Rahmen des US-amerikanischen black feminism Verwendung gefunden hat (vgl. Schrader/von Langsdorff J.B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Packard et al., Comicanalyse. Eine Einführung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04775-5 _6

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2014, S. 10; zur Entstehung der Intersektionalitätsforschung vgl. ebenfalls Walgenbach 2012; Meyer 2017), lässt sich die Metapher der Straßenkreuzung sowie die durch sie beschriebene Verzahnung verschiedener Formen von Diskriminierung und Ausgrenzung nicht ausschließlich auf Phänomene des Rassismus und Sexismus beschränken. Mit dem Begriff der ›Intersektionalität‹ soll vielmehr auf eine ganze Spannbreite der Überlagerung und Überschneidung unterschiedlichster Normierungs- und Ausschlussprozesse hingewiesen und auf die »Verschränkung verschiedener Ungleichheit generierender Strukturkategorien« (Küppers 2014, o. S.) aufmerksam gemacht werden. So bemerkt etwa Carolin Küppers, dass intersektionale Theorie darauf abzielt, das Zusammenwirken verschiedener Positionen sozialer Ungleichheit zu analysieren und zu veranschaulichen, dass sich Formen der Unterdrückung und Benachteiligung nicht additiv aneinanderreihen lassen, sondern in ihren Verschränkungen und Wechselwirkungen zu betrachten sind. Durch die Beachtung verschiedener Strukturkategorien wie Geschlecht, Ethnizität, Klasse, Nationalität, Sexualität, Alter etc. soll gezeigt werden, dass keine dieser Kategorien alleine steht, sondern sowohl für sich als auch im Zusammenspiel mit den anderen einen die gesellschaftlichen Machtverhältnisse mitkonstituierenden Effekt hat. (Ebd.)

Das Konzept der Intersektionalität stellt also ein nützliches Instrument dar, um die Interdependenz »multiple[r] Ungleichheits- und Unterdrückungsverhältnisse« (ebd.) in den Blick zu nehmen und zu analysieren. Hierbei ist zu beachten, dass eine intersektionale Perspektivierung sowohl im nationalen als auch internationalen Diskurs im Kontext verschiedener Disziplinen wie etwa der Sozialwissenschaften, der Philosophie und Anthropologie, der Literaturwissenschaften oder aber der Gender und Queer Studies zum Einsatz kommt (vgl. Cho et al. 2013, S. 787). Es lässt sich daher nicht von einer feststehenden Form oder Methodik der Intersektionalitätsforschung sprechen (bzw. schreiben). Intersektionales Denken und Forschen sollte vielmehr als eine Form der Sensibilisierung betrachtet werden, die – wie Küppers ausführt – »auf Schnittmengen von Diskriminierungen« aufmerksam macht und so »die Prozesshaftigkeit binärer Differenzlinien« (Küppers 2014, o. S.) verdeutlicht. Darüber hinaus vermag ein intersektionaler Ansatz »die jeweiligen Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnisse, in die kategoriale Zuschreibungen eingebettet sind« (ebd.) zum Vorschein zu bringen. »Damit hat sich Intersektionalität zu einem in zahlreichen Disziplinen wie auch interdisziplinär Verwendung findenden Konzept entwickelt, das sowohl auf einer theoretischen als auch auf einer methodologischen Ebene angesiedelt ist« (ebd.). In diesem Sinne lässt sich Intersektionalität als disziplinenübergreifendes analytisches Instrument (analytical tool) verstehen (vgl. Cho et al. 2013, S. 788), mit dessen Hilfe sowohl die (diskursive) Konstitution und Verschränkung identitätslogischer Kategorien als auch multiple Formen der Diskriminierung und normativen Klassifizierung in den Blick genommen werden. Für die interdisziplinäre Comicforschung eröffnet eine intersektionale Perspektivierung die Möglichkeit, medientheoretische und -ästhetische Fragestellungen genauso zu berücksichtigen wie gesellschaftspolitische Aspekte, ohne dabei die repräsentationskritische Ebene zu vernachlässigen. Wie im Folgenden exemplarisch verdeutlicht wird, können durch eine intersektionale Betrachtung unterschiedliche Ausprägungen hegemonialer Ausgrenzungs- und Machtstrukturen sowie heteronormative Zuweisungen in der ›sequenziellen Kunst‹ aufgedeckt und ihre sozio-kulturelle sowie künstlerisch-mediale Form der Repräsentation und (Re-)Produktion einer differenzierten Betrachtung unterzo-

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gen werden. Aber auch für die Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte des Comics sowie für dessen Inhalte, Narration und Ästhetik übernehmen identitätslogische Kategorien wie Gender, Race und Dis/ability sowie ihre wechselseitigen Verschränkungen eine strukturierende Funktion, die es im Rahmen einer intersektionalen Analyse zu reflektieren gilt.

6.1.1 | Gender Wie Inge Stephan und Christina von Braun erläutern, handelt es sich bei dem Begriff ›Gender‹ ursprünglich um »eine lexikalisch-grammatische Kategorie« (Stephan/ von Braun 2006, S. 3). Genau wie das französische genre oder der spanische Begriff genero ist auch die Bezeichnung ›Gender‹ von dem lateinischen Verb generare abgeleitet, welches übersetzt so viel wie ›erzeugen‹ bedeutet und in enger Beziehung zum Genrebegriff steht: »In der Literaturwissenschaft und den Kulturwissenschaften dient genre der Kategorisierung von literarischen Gattungen oder der Zuordnung zu einem bestimmten kulturellen Gebiet« (ebd., Herv. im Original). Wie Stephan und von Braun weiter ausführen, macht die Abstammung von dem lateinischen Verb generare darauf aufmerksam, dass es sowohl bei dem Gender- als auch bei dem Genrebegriff um »das Erzeugen von Bedeutungen, Klassifikationen und Beziehungen« (ebd.) geht (für eine ausführlichere Diskussion des Genrebegriffs siehe Kap. 5). Eine grundlegende Beziehung, welche mit dem aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum übernommenen Genderbegriff aufgegriffen, thematisiert und gleichzeitig problematisiert wird, ist die binäre Differenzierung von soziokulturellem Geschlecht (Gender) auf der einen und biologischem Geschlecht (Sex) auf der anderen Seite. Denn wie Stephan und von Braun erläutern, kann durch die Differenzierung zwischen sex und gender [...] eine Unterscheidung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht getroffen werden, die im deutschen Sprachgebrauch in dieser Weise nicht möglich ist. Die stillschweigende Festschreibung von Männlichkeit und Weiblichkeit auf angeblich unhintergehbare biologische und/oder epistemologische Gegebenheiten kann aufgesprengt werden. Durch die Einführung der sex-gender-Relation entsteht ein kultureller und historischer Rahmen, in dem die Frage nach der Konstruiertheit von Geschlecht, sei es in Hinsicht auf die Kategorie gender oder sei es in Hinsicht auf sex, überhaupt erst möglich wird. (Ebd., S. 3–4, Herv. im Original)

Auch wenn eine Unterscheidung zwischen Sex und Gender zunächst sinnvoll erscheint, um auf die diskursive, d. h. gesellschaftlich konstruierte Dimension von Geschlecht aufmerksam zu machen, so wird mit der Sex-Gender-Differenz doch eine binäre Struktur aufrechterhalten, die es aus Perspektive der Gender und Queer Studies dauerhaft zu überwinden gilt (vgl. hierzu u. a. Braun/Stephan 2009; Lünenborg/Maier 2013; Peters/Seier 2016). Einen entscheidenden Beitrag zur Dekonstruktion des Dualismus von Sex und Gender liefert die amerikanische Philosophin und Gendertheoretikerin Judith Butler. In ihren poststrukturalistischen Arbeiten stellt Butler die These auf, dass nicht nur das soziale Geschlecht (Gender), sondern auch das biologische Geschlecht (Sex) und der vermeintlich ›natürliche‹ Körper als von Diskursen geprägt zu begreifen sind: »this construct called ›sex‹ is as culturally constructed as gender; indeed, perhaps it was always already gender, with the consequence that the distinction between sex and gender turns out to be no distinction at

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all« (Butler 1997b, S. 280). Ebenso wenig wie die Kategorie Gender ist demnach die Kategorie Sex etwas, was ›schon immer da war‹ oder von Natur aus gegeben ist. Geschlechtliche Identität nach Butler erweist sich vielmehr als ein performatives, d. h. als ein auf gesellschaftlichen Konventionen und stetigen Wiederholungen basierendes doing gender (oder auch doing sex bzw. doing sexuality) – also als etwas, was permanent getan, ausgeführt bzw. aufgeführt werden muss, um sich überhaupt erst zu konstituieren. Bei der Heteronormativität handelt es sich um einen weiteren zentralen Begriff der Gender und Queer Studies, der von Butler maßgeblich geprägt wurde. Innerhalb der von Butler als Zwangsordnung beschriebenen binären Geschlechterdifferenz (also der als normativ gedachten ›sexuellen Differenz‹ zwischen ›männlich‹ und ›weiblich‹) wird Heterosexualität als hegemoniale und damit als dominante und erstrebenswerte Norm angesehen. Homosexualität dagegen wird als etwas Abnormes und Unnatürliches konzipiert, was (gewaltsam) ausgeschlossen und verworfen werden muss. Wie Butler betont, werden intelligible, heterosexuelle und damit gesellschaftlich anerkannte geschlechtliche Identitäten »um den Preis der Homosexualität oder vielmehr durch das Verwerflichmachen der Homosexualität angenommen« (Butler 1997a, S. 160). Dieses Regime der Zwangsheterosexualität führt wiederum dazu, dass abweichende, als deviant markierte Sexualitäten unsichtbar gemacht und zum Verschwinden gebracht werden. Als kritische Analysekategorie zielt Heteronormativität also darauf ab, die »Naturalisierung und Privilegierung von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit« (Kleiner 2016, o. S.) in Frage zu stellen. Zusammengefasst bedeutet dies, »dass nicht nur die auf Alltagswissen bezogene Annahme, es gäbe zwei gegensätzliche Geschlechter und diese seien sexuell aufeinander bezogen, kritisiert wird, sondern auch die mit Zweigeschlechtlichkeit und (ehevertraglich geregelter) Heterosexualität einhergehenden Privilegierungen und Marginalisierungen« (ebd.), wie es etwa Bettina Kleiner pointiert formuliert. Durch die von Butler beschriebene Entkoppelung von Sex und Gender wird demnach der Annahme widersprochen, dass weibliche oder männliche Geschlechtsmerkmale zwangsläufig zu einer weiblichen oder männlichen Geschlechtsidentität bzw. zu einem genderspezifischen Handeln, Verhalten oder heterosexuellen Begehren führen (vgl. u. a. Hark 2009, S. 309; Sina 2016, S. 18). Bei der scheinbar kohärenten Verkettung von Sex, Gender, heterosexuellem Begehren und geschlechtlicher Identität handelt es sich vielmehr um eine Zwangsordnung, im Rahmen derer beispielsweise »einem vermeintlich natürlichen männlichen Körper eine männliche Identität und ein Begehren nach Frauen zugewiesen wird. In dieser Logik stabilisiert die Heterosexualität, also das sexuelle Begehren nach dem (eindeutig) anderen Geschlecht, die Zwei-Geschlechter-Ordnung« (Lünenborg/Maier 2013, S. 22). Laut Butler kann die Performativität des Geschlechts unter gewissen Umständen subversiv sein und die Möglichkeit zur Kritik an der heteronormativen Zwangsordnung bieten. Wie bereits angedeutet wurde, definiert sich das Konzept der Performativität in erster Linie als das gesellschaftlich sanktionierte, zwanghafte Zitieren und Wiederholen soziokultureller Diskurse und konventionalisierter Machtstrukturen. Und genau dieser zwanghafte, auf Wiederholung basierende Charakter ist es, welcher den Raum für Irritationen und subversive Verschiebungen öffnet. Denn keine Wiederholung gleicht hundertprozentig der anderen (vgl. Sina 2016, S. 18). In diesem Sinne erhält die Performativität des Geschlechts ihre produktive Kraft in dem Moment, in dem eine genaue Wiederholung ritualisierter Konventio-

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Abb. 6.1: Gender, Genre und Performativität im Comicstrip (Hochstaedter 2010, S. 70).

nen scheitert und somit »neue Möglichkeiten für die Geschlechtsidentität eröffnet [werden], die den starren Codes der hierarchischen Binarität widersprechen« (Butler 1991, S. 213). Mit diesem performativen Verständnis von Geschlecht im Hinterkopf gilt es nun, die Relevanz der Kategorie Gender für das Medium Comic näher zu bestimmen. Welcher erkenntnistheoretische Mehrwert lässt sich durch die Einbeziehung einer gendersensiblen Perspektivierung für die Analyse des Comics gewinnen? Zur Beantwortung dieser Frage soll zunächst ein kurzer Comicstrip des deutschen Comickünstlers Robert Hochstaedter näher betrachtet werden (siehe Abb. 6.1). Der aus einer Abfolge von vier gleichgroßen Panels bestehende titellose Comicstrip zeigt ein sich wiederholendes und zugleich variierendes Motiv: In jedem der vier Panels stehen sich eine weibliche und eine männliche Figur vor einem identischen Hintergrund gegenüber. Während sich in den einzelnen Panels weder der Bildausschnitt noch die Position der Figuren zu unterscheiden scheinen, verändert sich in jedem der vier Panels die Kleidung der Protagonist_innen. Aber nicht nur die beiden Figuren werden von Panel zu Panel kontinuierlich wiederholt und gleichzeitig modifiziert, sondern auch das für das Medium Comic als typisch empfundene Gestaltungsmittel der Sprechblase. In jedem der vier dargestellten Panels ist es die weibliche Figur, die zu ihrem männlichen Gegenüber mit Hilfe einer einzelnen Sprechblase spricht. Dabei verändert sich sowohl der Inhalt der Sprechblase von Panel zu Panel (in jeder Sprechblase wird ein anderes Wort bzw. eine andere Abfolge von Wörtern artikuliert) als auch die Typographie (die Abstände zwischen den Buchstaben innerhalb der letzten Sprechblase sind größer als in der vorherigen) und damit ebenfalls die Klangfarbe des Ausgesagten (die Anordnung der Buchstaben weist in diesem Zusammenhang auf eine lautere Aussprache bzw. intensivere Betonung hin). Zusammengenommen ergeben die auf vier Panels bzw. Sprechblasen verteilten und von derselben, sich aber dennoch stetig verändernden Figur gesprochenen Wörter folgenden Satz: »IRGENDWIE... / IST ES... / IMMER... / DAS GLEICHE!« (Hochstaedter 2010, S. 70). Wie der Kunsthistoriker Dietrich Grünewald beschreibt, leitet sich der Begriff des ›Comicstrips‹ »aus der spezifischen Form und dem Inhalt ab: Comic-Strips bestehen aus einer inhaltlich-chronologischen Folge von Einzelbildern (Panel), in einem Streifen angeordnet, und erzählen komisch-witzige Geschichten« (Grünewald 2000, S. 3). Im konkreten Beispiel von Hochstaedters Comic kommt die Komik des Strips durch das widersprüchliche Zusammenspiel von Bild und Text zustande. Denn während der im Comicstrip zu lesende Text Unveränderlichkeit suggeriert, ist auf der bildlichen Ebene durchaus eine Differenz von Panel zu Panel zu beobachten (vgl. Sina 2016, S. 64). Das hier präsentierte ironische Wechselspiel von Differenz

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und Wiederholung vermag sein (komisch-witziges) Potenzial jedoch erst unter Einbezug der Kategorie Gender und ihrer strukturierenden Funktion vollends zu entfalten. Betrachtet man den Comicstrip durch die ›Genderbrille‹, so wird hier nicht nur eine pointierte Darstellung der binären Geschlechterdifferenz deutlich, sondern auch ein ironischer Verweis auf das Konzept der Geschlechterperformativität sowie auf das ihr zugrunde liegende Prinzip der Differenz und Wiederholung. Aber auch das konstitutive Wechselverhältnis von Gender und Genre wird in Hochstaedters Comicstrip thematisiert und ironisiert (vgl. ebd., S. 65). Denn die Wahrnehmung eines Genres als bestimmtes Genre erfolgt auch immer über spezifische Geschlechterkonstellationen, da, wie Claudia Liebrand und Ines Steiner bemerken, Genres im Allgemeinen »auf kulturelle Gender-Narrative und Gender-Inszenierungen« (Liebrand/Steiner 2004, S. 7) rekurrieren. Indem die Kleidung der Figuren in Hochstaedters Comicstrip von Panel zu Panel wechselt, verändert sich also nicht nur die Typisierung der Figuren, sondern auch ihre jeweilige Genrezuweisung und die mit ihr verbundenen stereotypen Genderrollen. So werden beide Figuren im ersten Panel zunächst nackt dargestellt. Dass es sich bei der linken Figur um eine weibliche und bei der rechten um eine männliche handelt, wird durch die Darstellung geschlechtlich codierter, konventionalisierter Körper verdeutlicht: Während die männliche Figur mit einem markanten eckigen Gesicht, einem Adamsapfel, kurzen Haaren, Bartstoppeln und breiten muskulösen Schultern gezeichnet ist, wird die linke Figur mit Hilfe langer Haare, weicher runder Gesichtszüge und schmaler Schultern als weiblich markiert. Zudem ist auf dem nackten Oberkörper der linken Figur am unteren Panelrand der Ansatz weiblich konnotierter Brüste zu erkennen. Im zweiten Panel werden die Figuren nicht nur aufgrund ihrer anatomischen Merkmale, sondern auch durch ihre Kleidung und Kopfbedeckung (die männliche Figur trägt u. a. einen Cowboyhut, die weibliche ein Stirnband mit Federschmuck) einem eindeutigen Geschlecht innerhalb der binären heterosexuellen Matrix und dabei gleichzeitig auch einem Genre, nämlich dem Western-Genre zugeordnet. Auch im dritten Panel verändert sich erneut die ›Kostümierung‹ der Figuren (die männliche Figur trägt eine mittelalterliche Rüstung, die weibliche Figur ist wie eine mediävale Maid gekleidet), so dass beide Protagonist_innen nunmehr dem Abenteuer-Genre entsprungen zu sein scheinen. Im vierten Panel wird schließlich auf das Science-Fiction- bzw. Horror-Genre verwiesen, indem die weibliche Figur als Hommage an Ellen Ripley (die von Sigourney Weaver verkörperte Protagonistin der Alien-Filmreihe) mit kahlgeschorenem Kopf dargestellt und die männliche Figur durch ein Alien-Monster ersetzt wird. In diesem Comicstrip ist also eine ›Vergeschlechtlichung‹ des Mediums Comic und der repräsentierten Inhalte zu beobachten. Diese ›Vergeschlechtlichung‹, die sich auch als Einlagerung geschlechtlicher Codes beschreiben ließe, erfolgt sowohl auf der inhaltlichen, narrativen sowie formal-ästhetischen Ebene des Comics (vgl. Sina 2016). Aber auch für die Produktion des Comics übernimmt die Kategorie Gender – bzw. eben die Geschlechterdifferenz – eine strukturierende Funktion, die es im Rahmen einer intersektionalen Analyse zu beachten gilt. So handelt es sich bis heute bei den meisten Produzent_innen sowie Konsument_innen von (westlichen) Comics um Männer. Dementsprechend gilt die sequenzielle Kunst im Allgemeinen als ein besonders ›männliches‹ Medium (vgl. Knigge/Schnurrer 1978, S. 5; Brunner 2010, S. 7; Etter/Thon [i. Vorb.]; Sina [i. Vorb.]). Diese Beobachtung kann auch auf die Comicforschung übertragen werden, deren textueller Kanon bis heute vornehmlich von männlichen Autoren dominiert wird. Darüber hinaus muss die binäre Ge-

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schlechterordnung auch bei der Analyse von Zielgruppen und Rezeptionsmustern mitgedacht werden. So scheinen beispielsweise gerade die auf eine männliche Leserschaft ausgerichteten Action- und Superhelden-Comics durch eine als stereotypisch männlich konnotierte Dynamik und Geradlinigkeit gekennzeichnet zu sein. Dementsprechend weist auch Kathleen Martindale auf das genrespezifische »Gendering visueller Sprachen« (Martindale 2011, S. 342) im Medium Comic hin, wenn sie bemerkt, dass [j]ede_r weiß[,] dass es girly ist, sentimentale, kommunikationsbasierte Comics zu bevorzugen[,] und dass es macho ist, Action-Comics mit Superheld_innen und Aliens toll zu finden. Im Hinblick auf die visuelle Sprache werden in Comics für Buben bevorzugt Bewegung dargestellt, während Comics für Mädchen sich auf Gefühle konzentrieren. (Ebd.; Herv. im Original)

Besonders ausgeprägt ist die auf unterschiedlichen Genretypen basierende geschlechtsspezifische Adressierung von Rezipierenden auf dem asiatischen Comicmarkt. Die sogenannten shōnen-Manga richten sich etwa an eine vornehmlich junge männliche Leserschaft, während die shōjo-Manga auf ein junges weibliches Publikum abzielen (vgl. Dolle-Weinkauff 2010, S. 22). Im Falle der shōnen- und shōjo-Manga übernimmt also nicht nur die Kategorie Gender eine strukturierende Funktion, sondern auch die Kategorie des Alters. Geschlecht und Alter gehen hier eine interdependente Verbindung ein, die im Rahmen einer intersektionalen Analyse Berücksichtigung findet. Hier wird bereits im Ansatz deutlich, dass die Kategorie Gender niemals für sich alleine steht, sondern sich stets in einem Dialog mit anderen Strukturkategorien befindet (für eine ausführlichere Analyse kultureller Unterschiede in der Comicproduktion, -rezeption und -ästhetik siehe auch Kap. 7). Um dies zu veranschaulichen, setzt sich das nächste Unterkapitel mit der Kategorie Race und ihren komplexen Verschränkungen mit Gender auseinander.

6.1.2 | Race Zu Beginn seines Aufsatzes »Das Licht der Welt. Weiße Menschen und das FilmBild« bemerkt der britische Film- und Kulturwissenschaftler Richard Dyer, dass Körper »nicht nur von Geschlecht, sondern auch von ›Rasse‹ definiert werden« (Dyer 2016, S. 177). Mit ›Rasse‹ bzw. Race ist hier eine »erkenntnistheoretische politische Kategorie« gemeint, die, wie auch Dyer konstatiert, im Rahmen einer kritisch-reflexiven Betrachtung medialer Texte »umfassend behandelt und analysiert werden« (ebd., S. 178) muss. Genau wie bei der Kategorie Gender handelt es sich auch bei Race um eine soziale Konstruktion, die es von einem biologischen, essenzialistischen ›Rassen‹-Begriff und -Verständnis zu unterscheiden gilt (für einen allgemeinen Überblick vgl. Kimmich et al. 2016). Aufgrund seiner negativen Konnotation, die der Begriff im Rahmen deterministischer und rassistischer Ideologie(n), wie etwa der Rassentheorie des 19. Jahrhunderts oder der nationalsozialistischen Rassenlehre, erhalten hat, wird ›Rasse‹ im Rahmen diskurs- und repräsentationskritischer Forschungskontexte oftmals in (einfache) Anführungszeichen gesetzt oder aber es wird in deutschsprachigen Texten – wie auch in diesem Kapitel – auf die englische Bezeichnung Race zurückgegriffen. Darüber hinaus hat sich u. a. durch die Arbeiten des britischen Soziologen und Cultural Studies-Vertreters Stuart Hall der Begriff der Ethnizität (ethnicity) etabliert

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(vgl. Hall 1996, S. 446). Im Gegensatz zum Begriff der ›Rasse‹ schwingt im Begriff der ›Ethnizität‹ die Dimension der historischen, politischen und sozio-kulturellen Konstruktion stets mit, wie das folgende Zitat von Hall verdeutlicht: If the black subject and black experience are not stabilized by Nature or by some other essential guarantee, then it must be the case that they are constructed historically, culturally, politically – and the concept which refers to this is ›ethnicity‹. The term ethnicity acknowledges the place of history, language and culture in the construction of subjectivity and identity, as well as the fact that all discourse is placed, positioned, situated, and all knowledge is contextual. (Ebd.)

Ähnlich wie die Kategorie Gender ist also auch Race bzw. Ethnizität als »biologisch und sozial konstruiertes Ordnungsprinzip« (Lutz 2001, S. 220) zu verstehen und nicht als ahistorische kulturelle Konstante. Im Rahmen eines intersektionalen Forschungsansatzes gilt es folglich, Race, Gender und weitere differenzstiftende Strukturkategorien in »ihrer zeitlichen und räumlichen Dis-Kontinuität« (ebd.) zu konzeptualisieren und ihre wechselseitigen Verknüpfungspunkte zu analysieren. So bemerkt auch Stuart Hall, dass »die zentralen Themen der ›Rasse‹ historisch immer in einer Artikulation und Formation mit anderen Kategorien und Spaltungen erscheinen« (Hall 1994, S. 19) und sich permanent mit anderen Strukturkategorien, wie etwa Klasse und Geschlecht, überkreuzen. Anders ausgedrückt kann und darf »die Frage nach dem schwarzen Subjekt nicht ohne den Bezug auf die Dimensionen von Klasse, Geschlecht, Sexualität und Ethnizität dargestellt werden« (ebd.). Dass die Kategorie Race eng mit anderen Strukturkategorien und deren »Funktions- und Wirkungsweisen« (ebd., S. 218) verzahnt ist, verdeutlicht ein Blick auf die langjährige Comicstrip-Serie Krazy Kat (1913–1944) des US-amerikanischen Künstlers George Herriman. Als eigenständiger Zeitungsstrip erscheint die surrealistische Serie von 1913 bis 1944 und inszeniert – in unzähligen performativen Wiederholungen derselben Grundhandlung – die Abenteuer der schwarzen Katze Krazy, der weißen (von einigen Kritiker_innen als jüdisch identifizierten) Maus Ignatz und der Bulldogge Offissa Pupp. Die grundlegende Figurenkonstellation ist schnell erzählt: Die vom Geschlecht her unbestimmte Katze Krazy ist in den zynischen Mäuserich Ignatz verliebt, der das Werben der Katze regelmäßig damit quittiert, dass er ihr_ihm einen Ziegelstein an den Kopf wirft. Anstatt sich davon abschrecken zu lassen, (miss) versteht Krazy den Ziegelsteinwurf jedoch als Sympathiebekundung. Während Ignatz nur Abneigung für Krazy übrig hat, ist Offissa Pupp wiederum unsterblich in die geschlechtslose Katze verliebt, weswegen er ständig versucht, die bösartige Maus dingfest zu machen. Die auf einer Dreiecksbeziehung basierende Konstellation siedelt George Herriman in der bizarren Wüstenlandschaft Coconino County an. Im Gegensatz zur gleichbleibenden Grundhandlung befindet sich diese Kulisse des Strips in ständiger Veränderung. So kann die Landschaft innerhalb eines Strips etwa von Panel zu Panel plötzlich variieren, wie auch Elisabeth Crocker bemerkt: »Trees change into buildings, then into rock formations, and cliffs become fortresses, then shrink to pup-tents within a single episode« (Crocker 1996, o. S.). Genau wie die Kulisse verändern sich auch die einzelnen Panelgrößen und -formen, und die Platzierung des Titelschriftzugs variiert von Panel zu Panel bzw. Folge zu Folge. Aber auch Panelgrenzen werden in Krazy Kat wiederholt durchbrochen oder lösen sich sogar gänzlich auf. Dies führt dazu, dass die Seitengestaltung der ComicstripSerie oftmals wie ein surrealistisches, graphisches Experiment anmutet.

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Darüber hinaus kreiert Herriman für seine Comicfiguren, speziell für die Figur der Krazy Kat, eine eigene Sprache, die sich als eine Art Pidgin beschreiben lässt, also als eine Mischung aus englischer Umgangssprache, Jiddisch, französischen, spanischen, deutschen und kreolischen Elementen, die innerhalb des Strips immer wieder für Verwirrung und Missverständnisse sorgt: [Krazy Kat’s] language is a mixture of ethnic dialects, primarily New York Yiddish and TexMex Spanish accents, combined with anachronistic syntax and literalized metaphors. The potential for ambiguity and misinterpretation in language intrigues Krazy Kat, but he does not deliberately employ it in an ambiguous manner. Herriman’s narration of the strips, however, relies upon the indeterminacy inherent in language to draw out the instabilities in the subject-positions language constructs. Such constructions of gender often come under fire in the polymorphous identity of the Kat. (Crocker 1996, o. S.)

Insgesamt sind also sowohl die Ästhetik als auch die Narration und mediale Beschaffenheit des Comicstrips von Instabilität, Uneindeutigkeit und Diskontinuität geprägt. Dieselbe Beobachtung lässt sich auch im Hinblick auf die Kategorien Race und Gender machen. So wird den Rezipierenden etwa in einem schwarzweißen Comicstrip aus dem Jahr 1915 eine Unterhaltung zwischen Krazy Kat und Ignatz Maus präsentiert, in der die beiden Protagonist_innen über den ›doppelten Ehestand‹ (dual matrimony) philosophieren, da Erstere_r sich nicht sicher ist, ob er_sie einen Mann oder eine Frau ehelichen sollte: »Y’see I don’t know whether to take unto mayself a wife, or a husband« (Herriman 2004, S. 214; siehe Abb. 6.2). Während Ignatz auf diese Äußerung im vierten Panel des Strips zunächst mit deutlicher Verblüffung reagiert, wirft er Krazy Kat im fünften und letzten Panel in gewohnter Manier einen Ziegelstein an den Kopf und kommentiert seine Handlung mit den Worten »take care, take care« (ebd.; Übersetzung: »mach’s gut« oder »pass auf dich auf«), woraufhin Krazy Kat mit »That Probily. Would be best« (ebd.) antwortet und der Strip zu einem abrupten, offenen und uneindeutigen Ende kommt. Aber nicht nur Ignatz’ Antwort scheint hier seltsam deplatziert und aus dem Zusammenhang gerissen, auch die vertikale Anordnung des Strips (die ersten drei Panels sind unter- und nicht nebeneinander platziert) führt zu einem gewissen Grad der Orientierungslosigkeit und Verwirrung, da sie die gewohnte, konventionelle Leserichtung (von links nach rechts) stört. Zudem besticht auch der Hintergrund des Strips durch Diskontinuität und Unbeständigkeit: In keinem der fünf Panels wird dieselbe Landschaft abgebildet. Während im ersten und vierten Panel noch so etwas wie Steine oder Häuser zu erkennen sind, werden die Gebilde im Hintergrund des zweiten und fünften Panels zunehmend undefinierbarer. Im dritten Panel ist sogar keinerlei Landschaft zu erkennen, sondern es sind vielmehr Ignatz und Krazy Kat, die in den Hintergrund gerückt und dabei zugleich durch eine Art Teleskopansicht fokussiert werden. Insgesamt wirken Bildausschnitt und Perspektive in diesem Comicstrip seltsam verschoben. So wird Krazy sowohl zu Beginn als auch am Ende des Strips vom Panelrand abgeschnitten, obwohl die Figur hier eine prominente Rolle mit hohem Sprechanteil einnimmt. Die durch Krazy Kat geäußerte bzw. verkörperte ›Verwirrung der Geschlechter‹ geht hier also Hand in Hand mit der formal-ästhetischen Experimentierfreudigkeit und Uneindeutigkeit der Comicform. In einer weiteren Episode der Comicstrip-Serie gerät nicht nur Krazy Kats Geschlechtsidentität ins Wanken, sondern auch seine_ihre Ethnizität. Genauer gesagt ist die Fluidität von Krazy Kats Geschlecht hier untrennbar an einen Farbwechsel

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Abb. 6.2: Gender trouble im Krazy Kat-Comicstrip von 1915 (Herriman 2004, S. 214).

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Abb. 6.3: Fluidität von Gender und Race im Krazy Kat-Comicstrip von 1921 (Herriman 1990, S. 47).

gebunden (vgl. Kaufmann 2008). In der ersten Panelreihe des ganzseitigen, in Schwarzweiß gehaltenen Comics wird Krazy von einem herunterfallenden Eimer voller Kalkfarbe getroffen, die die schwarze Katze völlig bedeckt und weiß werden lässt (siehe Abb. 6.3). Um die Kalkfarbe abzuwaschen, geht Krazy Kat zu einem See, an dessen Ufer Ignatz Maus sitzt und sich eine wunderschöne Nymphe herbeiwünscht, der er beim Baden zusehen könne (»Gosh, I wish a beautiful nymph would come along and take a bath right now, while I’m here«; Herriman 1990, S. 47). Als er den_die weiß gefärbte Krazy Kat erblickt, verfällt Ignatz in Entzücken und beschreibt das für ihn nunmehr als weiblich konnotierte Objekt seiner Begierde als weiß wie eine Lilie und rein wie Schnee (»white as a lily, pure as the driven snow«; ebd.). Wie Elisabeth Crocker in ihren Ausführungen zu der Comicstrip-Serie betont, scheint Ignatz nicht (mehr) in der Lage zu sein, Krazy Kat wiederzuerkennen, wenn diese_r weiß gefärbt ist. Darüber hinaus wird Weiß-Sein hier unweigerlich mit Schön- sowie Begehrenswert- und gleichzeitig auch mit Frau-Sein assoziiert und positiv konnotiert: »Krazy’s whiteness in this page is both literally and figuratively white-wash, able to obscure whatever lies beneath it, and to cleanse away Krazy’s gender, Krazy’s Katness, Krazy’s very identity« (Crocker 1996, o. S.). Krazy Kat wird hier die Möglichkeit des Passings zugeschrieben, also die Fähigkeit, der Sichtbarkeit – im Sinne einer diskriminierenden Markierung – zu entgehen und ›unsichtbar‹, sprich weiß zu werden. In der Einleitung zu dem Sammelband Passing and the Fictions of Identity definiert die Herausgeberin Elaine K. Ginsberg das Konzept des Passings wie folgt: [P]assing is about identities: their creation or imposition, their adoption or rejection, their accompanying rewards or penalties. Passing is also about the boundaries established between identity categories and about the individual and cultural anxieties induced by boundary crossing. Finally, passing is about specularity: the visible and the invisible; the seen and the unseen. (Ginsberg 1996, S. 2–3)

Das Konzept des Passings erhält auch in Bezug auf den Comickünstler George Herriman eine besondere Bedeutung. In dessen Geburtsurkunde wird der 1880 in New Orleans zur Welt gekommene Herriman nämlich als farbig (colored) ausgewiesen. Aufgrund seiner hellen Hautfarbe wurde der Comickünstler von seinem Umfeld je-

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doch als weiß wahrgenommen. Wie Gabrielle Bellot in dem Artikel »The Gender Fluidity of Krazy Kat« (2017) darlegt, hätte Herriman sicherlich seine Anstellung als Cartoonist aufgrund der damals vorherrschenden Rassentrennungsgesetze verloren, wäre er nicht als weiß durchgegangen, sondern als Afro-Amerikaner geoutet worden: »When Herriman worked at the Los Angeles Examiner, as a staff artist, the paper published multiple articles about light-skinned African-Americans who had tried to pass as white and were subsequently ›exposed‹« (ebd., o. S.). Da Herriman in der Lage war, die Kennzeichen seiner ethnischen Differenz zu verbergen, gelang es ihm, kulturelle Grenzen erfolgreich zu durchbrechen und dabei gleichzeitig soziale Mobilität zu erlangen und seine Anstellung als Comickünstler zu behalten (vgl. ebenfalls Tisserand 2016). Diese Erfahrungen konnte er wiederum in die Gestaltung seiner Krazy Kat-Comics und der darin inszenierten Dreiecksbeziehung einfließen lassen, die, wie Bellot treffend bemerkt, nicht nur formalästhetisch, sondern auch inhaltlich auf dem Prinzip der Umkehrung basiert: The structure of the strip was built on reversals: a cat loves a mouse, a dog protects a feline, and, at a time when anti-miscegenation laws held sway in most of the United States, a black animal yearns for a white one. (Bellot 2017, o. S.)

Was am Beispiel George Herrimans bzw. der Comicstrip-Serie Krazy Kat deutlich wird, ist die (diskursive) Wirkungsmacht symbolischer Grenzlinien sowie die mit binären Gegensatzpaaren, wie etwa schwarz/weiß oder männlich/weiblich, verbundenen Machtbeziehungen und Hierarchisierungsstrukturen. Denn wie auch Stuart Hall mit Bezug auf den dekonstruktivistischen Philosophen Jacques Derrida feststellt, »besteht immer eine Machtbeziehung zwischen den Polen binärer Oppositionen« (Hall 2004, S. 118). Symbolische Grenzlinien, so führt Hall weiter aus, »sind somit zentral für jede Kultur. Differenz kenntlich zu machen, führt uns symbolisch gesehen dazu, die Reihen zu schließen, die Kultur abzuschotten und alles, was als unrein oder anormal definiert wird, zu stigmatisieren und auszugrenzen« (ebd., S. 120). In diesem Zusammenhang kommt auch dem Prozess des sogenannten Othering eine besondere Bedeutung zu. Die vom englischen other (zu deutsch: andersartig) abgeleitete Bezeichnung kann wohl am ehesten mit »jemanden anders(artig) machen« (Schönhuth 2017, o. S.) oder als Prozess des zum ›AnderenGemacht-Werden‹ (vgl. Schrader/von Langsdorff 2014, S. 14) übersetzt werden. Mit dem an prominenter Stelle von der Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak eingeführten Begriff des ›Othering‹ wird ein auf Hierarchisierung, (Ab-)Wertung und Ausgrenzung basierendes Relationsgefüge beschrieben (vgl. Spivak 1985). Ziel des Othering ist »die Distanzierung oder Differenzierung zu anderen Gruppen, um seine eigene ›Normalität‹ zu bestätigen« (Schönhuth 2017, o. S.). Othering beschreibt also den Prozess, sich selbst bzw. sein soziales Image positiv hervorzuheben, indem man einen anderen bzw. etwas anderes negativ brandmarkt und als andersartig, das heißt ›fremd‹ klassifiziert, sei es wegen der Rasse, der geographischen Lage, der Ethik, der Umwelt oder der Ideologie. (Ebd.)

Um den Prozess des Otherings zu veranschaulichen, soll noch einmal das populäre, comictypische Genre der Superhelden herangezogen werden. Zu den Konventionen des (männlich geprägten) Superhelden-Genres, die sich insbesondere im sogenannten Golden Age (also dem goldenen Zeitalter der US-amerikanischen Comicindustrie zwischen Ende der 1930er und Mitte der 1950er Jahre) etabliert haben und bis

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6.1

Abb. 6.4: Tod eines verworfenen Superhelden in Kick-Ass (Millar/John Romita Jr. 2010, o. S.).

heute eine gewisse Erwartungshaltung bei ihrem Zielpublikum wecken (siehe auch Kap. 2 und Kap. 5), gehören neben einer heldenhaften Figur mit Superkräften, einem Bösewicht und der Doppelidentität des Protagonisten auch die Inszenierung eines normativen Männlichkeitsbildes. So definiert sich ein klassischer Superheld in der Regel durch den Besitz besonderer Superkräfte, einen gestählten, vor Kraft strotzenden, muskulösen Körper und durch besondere mentale Fähigkeiten sowie den Einsatz von Gewalt. Aber auch seine Attraktivität, Jugend und Tugendhaftigkeit kennzeichnen den klassischen Superhelden des Golden Age à la Superman, Batman und Co. Weitere definierende Eigenschaften eines klassischen Superhelden lassen sich in dessen Heterosexualität sowie in seiner Charakterisierung als ›hundertprozentiger Amerikaner‹ ausmachen. Mit dem Ausdruck ›hundertprozentiger Amerikaner‹ ist an dieser Stelle der sogenannte WASP, also der White Anglo-Saxon Protestant male gemeint (vgl. Sina 2016, S. 203). Comicfiguren, die nicht diesem dominanten, hegemonialen Ideal heterosexueller, weißer, protestantischer Männlichkeit entsprechen, erfüllen im klassischen Superhelden-Comic nur selten die Rolle des erfolgreichen, agilen, strahlenden Protagonisten. Als von der Norm abweichende Figuren befinden sie sich vielmehr in einer marginalen oder gar antagonistischen, sprich ausgegrenzten Position des ›Anderen‹. Die hier beschriebene wechselseitige Verquickung verschiedener identitätspolitischer Kategorien sowie die mit ihr einhergehende Verzahnung von Macht, Differenz und Ausgrenzung lässt sich beispielsweise in dem Superheld_innen-Comic Kick-Ass (2010) des schottischen Comicautors Mark Millar und des US-amerikanischen Comiczeichners John Romita Jr. beobachten.

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Auf den ersten drei Seiten des Comics wird den Rezipierenden ein vermeintlicher Superheld präsentiert, welcher sich – in der Annahme, er könne mit Hilfe seines Superheldenkostüms fliegen – mitten in New York City von dem Dach eines Hochhauses in den sicheren Tod stürzt (siehe Abb. 6.4). Begleitet wird diese Szenerie von einem Voice-Over-Kommentar, der zunächst suggeriert, es handle sich bei dem dargestellten Superhelden um den Protagonisten der Erzählung, so dass erzählendes und erlebendes Ich dieselbe Person wären (siehe auch Kap. 4). Dieses ›Missverständnis‹ wird schließlich im letzten Panel der dritten Seite durch den Kommentartext »That wasn’t me, by the way« (Millar/John Romita Jr. 2010, o. S.) aufgeklärt. Darüber hinaus wird die Tatsache, dass es sich bei dem hier präsentierten, ›unechten‹ Superhelden nicht etwa um den ›wahren‹, heldenhaften Protagonisten des Comics, sondern vielmehr um einen geistig verwirrten Nachahmer handelt, im selben Panel durch einen zweiten Kommentartext verdeutlicht: »That was just some Armenian guy with a history of mental health problems who read about me in the New York Post« (ebd., Herv. im Original). Mit dem Marker der ethnischen Differenz und der mental illness, also einer psychischen ›Behinderung‹, versehen wird die Figur des ›verrückten‹, ausländischen Superhelden in dieser Szene von dem ›wahren‹ Protagonisten des Comics verworfen (»that wasn’t me«; ebd.) und gleichzeitig zu einer Art Negativfolie stilisiert, anhand derer sich die vermeintliche ›Normalität‹ bzw. ›Echtheit‹ des ›realen‹, weißen, gesunden, westlichen (also amerikanischen) Superhelden Kick-Ass ablesen lässt (vgl. Sina 2016). Anhand dieses kurzen Beispiels wird das konstitutive Zusammenspiel von Weiß-Sein und heroischer Männlichkeit deutlich. Im Rahmen eines Othering-Prozesses wird eine stereotype Weltanschauung propagiert, die auf Ausschlussmechanismen und binären Oppositionsbildungen basiert und darum bemüht ist, non-konforme Aspekte geschlechtlicher sowie ethnischer Differenz(en) auszublenden, abzulehnen und auszugrenzen. Weiß-Sein wird hier mit Normalität, Vitalität, (Super-)Heldentum und hegemonialer, erstrebenswerter Männlichkeit gleichgesetzt, während das potenziell ›Andere‹ als minderwertig verworfen und abgelehnt wird. Prozesse der Normierung, Ausgrenzung und Verwerfung spielen also stets eine zentrale Rolle, wenn es um die Herstellung und Aufrechterhaltung hegemonialer Macht- und Differenzverhältnisse geht. Dies soll im folgenden Unterkapitel durch die Fokussierung einer weiteren identitätsrelevanten Strukturkategorie, nämlich der Kategorie Dis/ability und ihrer intersektionalen Verflechtungen, verdeutlicht werden.

6.1.3 | Dis/ability Genau wie bei Gender und Race handelt es sich auch bei Dis/ability um eine identitäts- und differenzstiftende Strukturkategorie, deren »Funktions- und Wirkungsweisen« (Hall 2004, S. 218) im Rahmen eines intersektionalen Forschungsansatzes Beachtung geschenkt werden sollte (vgl. Raab 2012). Allen drei Kategorien ist gemein, dass sie im öffentlichen sowie akademischen Diskurs lange Zeit als stabile, ahistorische und ›naturgegebene‹ Größen angesehen wurden, deren Grundlage der menschliche Körper bilde. Denn ohne Körper gebe es »weder Geschlecht noch Behinderung« (Köbsell 2010, S. 18), wie Swantje Köbsell treffend bemerkt. Und auch das Konzept der ›Rasse‹ ist – wie zuvor verdeutlicht wurde – in der Moderne selten ohne einen Bezug auf den ›biologischen‹ Körper gedacht worden. Die in den 1980er

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Jahren entstandenen und vornehmlich in den USA und Großbritannien etablierten Disability Studies haben jedoch – genau wie die Postcolonial Studies, Critical Race Studies oder die Gender und Queer Studies – zu einer vermehrten Wahrnehmung von ›Behinderung‹ und Körper als diskursive, d. h. gesellschaftlich konstruierte Konzepte beigetragen. In einem Satz zusammengefasst beschäftigen sich die von feministischen Theorien inspirierten Disability Studies mit der diskursiven Hervorbringung sowie Aufrechterhaltung von ›Behinderung‹ in Gesellschaft, Kultur, Politik und Medien (vgl. u. a. Linton 2005; Jacob et al. 2010; Waldschmidt et al. 2017). Im Gegensatz zu einem medizinisch-biologischen Modell, das Behinderung als ›Defekt‹, also als rein medizinisches Problem betrachtet (vgl. Köbsell 2010, S. 18), das geheilt werden muss, versteht das innerhalb der Disability Studies propagierte sozio-kulturelle Modell Behinderung als gesellschaftliches Konstrukt, ohne dabei individuelle Formen der Beeinträchtigung zu negieren. Dabei wird davon ausgegangen, dass »Beeinträchtigung [...] nicht durch die individuelle Besonderheit an sich zur Behinderung [wird], sondern durch die gesellschaftlichen, ideologischen und diskursiven Bedingungen, die die Idee einer stabilen Norm festschreiben und so das Defizitäre des von ihr Abweichenden überhaupt erst produzieren« (AG Disability Studies in Deutschland 2007, o. S.), so die Formulierung der AG Disability Studies in Deutschland. Zum besseren Verständnis soll an dieser Stelle auf Rosemarie GarlandThomson verwiesen werden, eine Wegbereiterin der anglo-amerikanischen Disability Studies, die in ihrem Aufsatz »Disability and Representation« (2005) einleuchtende Beispiele aufführt, wie Behinderung in der Gesellschaft hervorgebracht wird. Garland-Thomson schreibt: Stairs disable people who need to use wheelchairs to get around, but ramps let them go [to] places freely. Reading print in a phone book or deciphering the patterns on a computer screen is an ability that our moment demands. So if our minds can’t make sense of the pattern or our eyes can’t register the print, we become disabled. In other words, we are expected to look, act, and move in certain ways so we’ll fit into the built and attitudinal environment. If we don’t, we become disabled. (Garland-Thomson 2005, S. 524)

Wie das Zitat von Garland-Thomson verdeutlicht, handelt es sich bei ›Behinderung‹ um eine differenzstiftende Strukturkategorie, die im Rahmen hegemonialer Diskurse als Abweichung von der ›Norm‹ dargestellt und dementsprechend negativ konnotiert wird. Infolgedessen wird Behinderung, wie Swantje Köbsell betont, in der Regel gleichgesetzt mit »Unfähigkeit, Abhängigkeit, Unattraktivität und Passivität«, während der als Norm begriffenen ›Nichtbehinderung‹ positive Eigenschaften zugeschrieben werden wie etwa »Fitness, Kompetenz, Aktivität, Attraktivität und Unabhängigkeit« (Köbsell 2010, S. 17). Unter Behinderung ist somit ein diskursiver Prozess des ›Behindert-Werdens‹, der ›Ver/Behinderung‹ zu verstehen (vgl. ebd., S. 19; sowie Jacob et al. 2010; Walgenbach 2012; Waldschmidt 2017), dessen Voraussetzung zwar eine körperliche und/oder geistige bzw. psychische Beeinträchtigung ist; die daraus resultierende Behinderung ist jedoch nicht ahistorisch oder naturgegeben, sondern vielmehr Ergebnis einer gesellschaftlichen Konstruktion. Oder wie Köbsell es in Anlehnung an die Kategorie Gender und Simone de Beauvoir ausdrückt: »Behindert ist man nicht, behindert wird man« (Köbsell 2110, S. 19). Innerhalb der Disability Studies wird dies u. a. durch die Schreibweise des Begriffs der ›Dis/ability‹ mit einem Schrägstrich verdeutlicht: »The introduction of the slash indicates that one should no longer problematize just the category of disability, but rather the interplay between ›normality‹ and ›disability‹« (Waldschmidt 2017, S. 25–26).

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Hier wird zudem deutlich, dass innerhalb der Disability Studies zwischen dem Konzept der Behinderung (disability) und dem Konzept der Beeinträchtigung (impairment) unterschieden wird. Während Beeinträchtigung »die funktionale Einschränkung einer Person aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Schädigung« (Köbsell 2010, S. 19) bezeichnet, ist mit Behinderung »der Verlust oder die Beschränkung von Möglichkeiten, am Leben in der Gemeinschaft gleichberechtigt teilzunehmen aufgrund räumlicher und sozialer Barrieren« (ebd.) gemeint. Obwohl eine binäre Unterscheidung zwischen disability und impairment – ähnlich der Sex-Gender-Differenz – zunächst als sinnvoll erscheint, geht es auch hier nicht darum, Dualismen zu festigen, sondern diese vielmehr dauerhaft zu überwinden (vgl. ebd., S. 28) und den vermeintlich ›natürlichen‹ Körper als von Diskursen geprägt zu begreifen. Insgesamt steht in den Disability Studies also »weniger die Sicht auf einzelne Beeinträchtigungen im Vordergrund, sondern vielmehr die Art und Weise, wie Behinderung gesellschaftlich und kulturell verstanden, konstruiert, diagnostiziert, zu- und festgeschrieben wird« (AG Disability Studies in Deutschland 2007, o. S.). Wie Rosemarie Garland-Thomson (2016) in ihrem Vorwort zum Sammelband Disability in Comic Books and Graphic Narratives betont, bietet die spezifische Medialität des Comics ideale Voraussetzungen für die Repräsentation von Dis/ability. Denn die mediale Beschaffenheit des Comics ist nicht nur durch ein hybrides, spannungsgeladenes Wechselspiel von Bild und Text sowie Einzelbild und Bildfolge geprägt. Als graphisches Medium bedient sich der Comic zudem einer ganz bestimmten, abstrakten Repräsentationsästhetik, die als »überzeichnete Reduktion« (Sina 2016, S. 48) beschrieben werden kann (zur Cartoonästhetik im Comic siehe auch Kap. 2). Diese befreit den Comic nicht nur vom Prinzip der unmittelbaren Darstellung, sondern eröffnet gleichzeitig auch die Möglichkeit, gängige, auf Naturalisierung setzende Ästhetiken als medial-diskursive Inszenierungen von Transparenz und Kohärenz sichtbar und erfahrbar zu machen. Dementsprechend stellt auch Garland-Thomson fest, dass das Prinzip der überzeichneten Reduktion – oder hyperbole, wie sie es nennt – das Medium Comic zu einem »welcome home for mutants, monsters, freaks, and all manner of people with disabilities« (Garland-Thomson 2016, S. xii) macht. Daher verwundert es auch nicht, dass gerade im körperbetonten Genre der Superheld_innen zahlreiche Figuren vorzufinden sind, die aufgrund ihrer phantastischen Superkräfte sowie diverser Beeinträchtigungen von der Norm abweichen. Hier wären z. B. der blinde Superheld Daredevil, der im Rollstuhl sitzende Professor Xavier, der mit einem Herzfehler kämpfende Iron Man, der an Nervenschäden leidende Dr. Strange oder der (partiell) taube Hawkeye zu nennen. In all diesen Fällen dient die jeweilige Superkraft der Helden in der Regel dazu, ihren physischen Defekt, ihre Differenz und Andersartigkeit zu (über)kompensieren und damit gleichzeitig unsichtbar zu machen und durch heroische (Hyper-)Maskulinität und/oder überdurchschnittliche kognitive Fähigkeiten zu ersetzen. Es lohnt sich also, wie auch José Alaniz feststellt, das Medium Comic im Allgemeinen sowie das Genre der Superheld_innen im Speziellen unter dem »Disability Studies microscope« (Alaniz 2014, S. 35) genauer zu betrachten. Um dies zu verdeutlichen, wird im Folgenden die Figur der Superheldin Oracle alias Barbara Gordon näher beleuchtet. Ihren ersten Auftritt hat Barbara Gordon 1967 in der Detective Comics-Ausgabe Nummer 359: Sie ist promovierte Bibliothekarin, ausgebildete Judo-Kämpferin und die Adoptivtochter von Police Commissioner Jim Gordon (vgl. Fox/Infantino 1967). Während Barbara zunächst als Batgirl das Verbrechen in Gotham City bekämpft und

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6.1

Abb. 6.5: Vom Batgirl zu Oracle (Moore/Bolland 1988, o. S.).

in den 1970er Jahren sogar für den Kongress kandidiert, wird sie in dem von den britischen Künstlern Alan Moore und Brian Bolland kreierten Comic Batman. The Killing Joke (1988) von Batmans Erzrivalen Joker angeschossen (siehe Abb. 6.5). Die Kugel zertrümmert ihre Wirbelsäule, so dass die Superheldin fortan gelähmt und an den Rollstuhl gefesselt ist. Nach einer depressiven Phase beschließt Barbara, erneut das Verbrechen zu bekämpfen, dieses Mal nutzt sie jedoch ihr photographisches Gedächtnis und ihre überdurchschnittliche Intelligenz, um den Bösewichten von Gotham City als SuperHackerin Oracle den Garaus zu machen. Obwohl Barbaras Lähmung (zunächst) als permanent und inoperabel gilt, kehrt sie 2011 im Rahmen des als New 52 bezeichneten Re-Launchs von insgesamt 52 DC-Comicserien nach einem experimentellen Eingriff als fully abled Batgirl zurück. Bereits aus dieser kurzen Beschreibung von Barbara Gordons langjähriger Superheldinnen-Karriere wird deutlich, dass es sich bei Oracle um eine zwiespältige Figur handelt. Als eine im Rollstuhl sitzende Protagonistin einer eigenen Comicreihe trägt die Superheldin zwar zur Sichtbarkeit von Differenz und Vielfalt in einem Genre

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bei, das bis heute immer noch von weißen, heterosexuellen, agilen, männlichen Heldenfiguren dominiert wird. Darüber hinaus handelt es sich bei Barbara Gordon alias Oracle um eine äußerst fähige, kämpferische, junge, attraktive, kompetente und gebildete Superheldin (vgl. Cocca 2014, o. S.). Damit unterläuft die Darstellung und Charakterisierung der Protagonistin zwar eine stereotype Repräsentation ›behinderter‹ (weiblicher) Figuren als schwach, mitleiderregend, einsam, unattraktiv und unselbstständig. Indem aus der zunächst hilflosen, depressiven Barbara im Verlauf der Comicserie durch pure Willenskraft, hartes (körperliches) Training, Bildung, finanzielle Ressourcen und technisches Equipment die Super-Hackerin Oracle wird, stellt das ehemalige Batgirl jedoch eine besonders privilegierte Figur dar. Überdies erfüllt sie durch ihre Charakterisierung und Darstellung das populäre Stereotyp des sogenannten supercrip – also des ›Super-Krüppels‹, das die US-amerikanische Comicforscherin und Politikprofessorin Carolyn Cocca (2014) als behinderten Helden bzw. behinderte Heldin definiert, der bzw. die aufgrund überdurchschnittlich großer Ressourcen in der Lage ist, Dinge zu vollbringen, die für jede Person – ob beeinträchtig oder nicht – nur schwerlich bis unmöglich zu vollbringen wären. Durch das medial (re)produzierte Stereotyp des supercrip wird, so Cocca, der falsche Eindruck vermittelt, dass eine Behinderung ›einfach so‹ überwunden werden könne. Tatsächlich überwindet Barbara ihre Behinderung nicht nur, im Rahmen einer ideology of cure wird ihr gelähmter Körper schließlich sogar geheilt und entspricht damit wieder den soziokulturellen Vorstellungen eines ›normalen‹, gesunden Körpers. Als attraktive behinderte Frau wird Barbara alias Oracle zudem auf zweifache Weise objektifiziert. Denn wie Rosemarie Garland-Thomson verdeutlicht, ist sowohl der weibliche als auch der behinderte Körper Objekt eines voyeuristischen und zugleich objektifizierenden (männlichen) Blicks: Whereas feminists claim that women are objects of the evaluative male gaze [...] the disabled body is the object of the stare. If the male gaze makes the normative female a sexual spectacle, then the stare sculpts the disabled subject into a grotesque spectacle. The stare is the gaze intensified, framing her body as an icon of deviance. (Garland-Thomson 1997, S. 26)

So ist auf den Titelbildern der dreiteiligen von Kevin Vanhook, Julian Lopez und Fernando Pasarin gestalterisch umgesetzten Mini-Serie Oracle. The Cure (2009) beispielsweise eine extrem schlanke und vollbusige Barbara Gordon zu sehen, die wahlweise in ihrem Rollstuhl sitzend oder aber hilflos auf dem Boden liegend dargestellt wird und deren freizügiges Dekolleté die (voyeuristischen) Blicke der Rezipierenden gezielt auf ihre sexualisierten, ›weiblichen Rundungen‹ lenkt und sie damit zu einem (passiven) Anschauungsobjekt stilisiert (siehe Abb. 6.6). Im Fall von Barbara Gordon alias Oracle bedarf es also scheinbar sowohl eines überragenden Intellekts als auch einer besonders attraktiven äußeren Erscheinung, um den physischen ›Defekt‹ der Protagonistin auszugleichen und sie trotz ihrer ›Andersartigkeit‹ als begehrenswerte, weibliche Figur zu charakterisieren. Für eine differenzierte Analyse der Superheldin ist es folglich nicht ausreichend, sie lediglich unter dem »Disability Studies microscope« (Alaniz 2014, S. 35) oder durch die ›Genderbrille‹ zu betrachten, vielmehr bedarf es einer intersektionalen Perspektivierung, welche die Verschränkung und soziokulturelle Relevanz dieser unterschiedlichen Differenzkategorien sowie die mit ihnen einhergehenden repräsentationspolitischen Implikationen konsequent mitdenkt und zusammenführt.

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Abb. 6.6: Zweifache Objektifizierung einer Superheldin (Vanhook et al. 2009, Titel).

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6.2 | Zum Beispiel: Kaisa Lekas I Am Not These Feet (2006) Seit einigen Jahren ist eine zunehmende »Konjunktur des Autobiografischen« (Dollhäubl 2009, S. 53) im Medium Comic zu beobachten. Werke wie Art Spiegelmans mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneter Comic MAUS. A Survivor’s Tale (1980–1991 bzw. 2003), Marjane Satrapis Persepolis (2017), Alison Bechdels Fun Home. A Family Tragicomic (2006) oder Phoebe Gloeckners The Diary of a Teenage Girl. An Account in Words and Pictures (2002) sind nur einige wenige Beispiele sequenzieller Kunst, die eine »autobiografische Färbung« (Schröer 2016, S. 263) aufweisen und die mit ihrem internationalen Erfolg maßgeblich zur kulturellen Legitimation des einst als ›Schundliteratur‹ verpönten Comics beigetragen haben (vgl. auch Etter/Thon [i. Vorb.]). Laut Hillary Chute greifen immer mehr Künstler_innen auf die Form des autobiographischen Comics zurück, um ihre persönlichen und gleichzeitig gesellschaftspolitisch relevanten Geschichten zu inszenieren, da sich die mediale Beschaffenheit des Comics besonders gut dafür eignet, alternative Lebenswege aufzuzeigen und das ›sichtbar‹ zu machen, was sich häufig außerhalb des öffentlichen, hegemonialen Diskurses befindet (vgl. Chute 2010, S. 4–5). Als mediale Form, welche nicht nur Bild und Text, sondern auch »verbal and gestural expression« (Squier 2008, o. S.), also verbale und gestische Ausdrucksformen miteinander verbindet, stellen Comics zudem ein ideales Vehikel zur Repräsentation und Verhandlung von Krankheit, Trauma und Körperlichkeit dar (vgl. ebd.; El Refaie 2012; Williams 2015). Denn wie bereits durch die vorherigen Ausführungen zu Gender, Race und Dis/ability verdeutlicht wurde, spielt die Darstellung von Körpern bzw. Körperbildern in der sequenziellen Kunst eine zentrale Rolle. Während in rein literarischen Texten Aussehen und Körper einer Figur nicht zwingend be- bzw. festgeschrieben werden müssen, ist die visuelle Repräsentation von Körpern im graphischen Medium Comic nahezu unvermeidbar (vgl. Klar 2011, S. 223). Dabei vermag der Comic nicht nur soziokulturelle Vorstellungen von geschlechtlich und ethnisch codierter Körperlichkeit zu repräsentieren. Mit Hilfe seines formal-ästhetischen ›Werkzeugs‹, wie etwa dem Zeichenstil, der Rahmung, der Panel- und Figurengestaltung sowie Gesten und Körperhaltung, gelingt es dem Medium, auch die mit Körper-Repräsentationen einhergehenden Diskurse von ›Gesundheit‹ und ›Normalität‹ zu thematisieren und (kritisch) zu reflektieren (vgl. Squier 2008, o. S.). Im Folgenden wird der autobiographische Comic I Am Not These Feet (2006) der finnischen Künstlerin Kaisa Leka einer differenzierten intersektionalen Analyse unterzogen. Der 60 Seiten umfassende, in Schwarzweiß gehaltene Comic ist erstmalig 2003 auf Finnisch in dem in Helsinki beheimateten Verlag Absolute Truth Press erschienen und wurde drei Jahre später für den franko-belgischen Markt übersetzt und von Éditions Cactus neu herausgebracht. Letztere Version des Comics liegt der hier präsentierten Analyse zugrunde. Wie die Rezipierenden bereits auf der ersten Seite des Comics erfahren, kam Kaisa 1978 mit zwei ›missgebildeten‹ Füßen zur Welt, die ihr im Laufe ihres Lebens zunehmend große Schmerzen bereitet haben (siehe Abb. 6.7): »Quelque chose m’est arrivé quand j’étais toute petite. / Mes pieds n’allaient jamais vraiment bien. / Mais ça s’avérait être bien pire qu’on ne s’y attendait« (Leka 2006, S. 1; Übersetzung: »Etwas ist mir passiert, als ich ganz klein war. / Meinen Füßen ging es niemals wirklich gut. / Aber es erwies sich als schlimmer, als man erwartet hatte«). Im Alter von 24 Jahren fasst Kaisa schließlich den Entschluss, sich beide Füße amputieren zu lassen. In ihrem autobiographischen Comic berichtet die Künstlerin

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Zum Beispiel: Kaisa Lekas I Am Not These Feet (2006)

6.2

Abb. 6.7: Inszenierung von Krankheit, Trauma und Körperlichkeit in I Am Not These Feet (Leka 2006, S. 1).

nicht nur von der schmerzhaften Zeit vor der Amputation, sondern auch von dem Entscheidungsprozess, dem operativen Eingriff sowie der langwierigen Rehabilitation, den Carbonprothesen, die ihr schließlich erlauben, wieder zu gehen und ihrer neu gefundenen Identität als Hare Krishna-Anhängerin. Besonders auffällig ist der karikaturhafte, reduzierte Zeichenstil, den die Künstlerin für die Inszenierung ihres autobiographischen Comics wählt, sowie der Rückgriff auf anthropomorphe Tierfiguren. So werden in I Am Not These Feet – bis auf eine Ausnahme – sämtliche Figuren, inklusive der Protagonistin, als nahezu identisch aussehende Mäuse porträtiert. Einzig Kaisas Freund und späterer Ehemann Christoffer Leka (im Comic »Leka« genannt) wird in Form einer Ente dargestellt. Um die Protagonistin von den anderen Mäusefiguren zu unterscheiden, trägt Kaisa im Comic ein T-Shirt, auf dem ein großes »K« abgebildet ist. Wie Daniela Kaufmann in ihrem Aufsatz »Tierische Tatsachen. Zur Verschränkung von Schicksal und Charakter im Tiercomic« (2013) verdeutlicht, findet [d]as Wort Anthropomorphismus [...] seinen Ursprung im Griechischen ανθρωπομορφισμός (anthrōpómorphos) [sic], zu Deutsch menschähnlich, und bezeichnet die Übertragung menschlicher Eigenschaften und Verhaltensweisen auf nicht menschliche Dinge und Wesen. Im Comic fand das Gestaltungselement der anthropomorphen Tierfigur gegen Ende des 19. Jahrhunderts Einzug. Waren es zuvor menschliche Charaktere, die mit ihren Kommentaren die Panels verschiedener Comicstrips beherbergten, so setzen einzelne Karikaturisten und Comiczeichner nun gezielt Tiere in Szene und bereicherten so das noch junge Medium. (Kaufmann 2013, S. 275; Herv. im Original)

Zu den bis heute wohl bekanntesten und beliebtesten anthropomorphen Comictierfiguren zählen neben den bereits erwähnten Figuren aus George Herrimans Krazy Kat sicherlich auch Disneys Mickey Mouse und Donald Duck. Aber auch der jüdischamerikanische Comickünstler Art Spiegelman greift in MAUS (einem autobiographischen Werk, in dem Spiegelman sowohl die Beziehung zu seinem Vater als auch die

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Erlebnisse seiner Eltern während des Holocaust verarbeitet) auf die Tiermetapher, genauer gesagt auf den traditionellen ›Katz-und-Maus-Cartoon‹ zurück, wenn er Jüd_ innen mit Mäuseköpfen, Deutsche bzw. Nazis mit Katzenköpfen und Amerikaner_innen mit Hundeköpfen darstellt (vgl. u. a. Freitag 1998; Ewert 2000; Frahm 2006; Thon 2016; Kaufmann 2017; Heindl/Sina [i. Vorb.]). In MetaMAUS (2011) – einem Werk, welches nicht nur die Entstehungs-, sondern auch die Rezeptionsgeschichte von Spiegelmans berühmtesten Werk beleuchtet – erläutert der Comickünstler, dass ihm der Einsatz der Tiermetapher die Möglichkeit eröffnet hat, einen individuellen Bezug zu seinen Figuren herzustellen und dabei gleichzeitig eine bestimmte Distanz zu wahren (vgl. Spiegelman 2011, S. 149). Zudem lässt die Tiermetapher in Spiegelmans Comic »das Individuum hinter einer kollektiven Figur verschwinden, die dennoch Menschlichkeit und Persönlichkeit vermittelt. Die Ursache hierfür liegt einerseits in den menschlichen Körpern der Mäuse, andererseits in dem [...] Phänomen der stilistischen Abstraktion«, wie Daniela Kaufmann (2017, S. 136) bemerkt. Das von Kaufmann erwähnte Phänomen der stilistischen Abstraktion lässt sich jedoch nicht nur in Spiegelmans MAUS beobachten. In der Tradition der Karikatur verhaftet bedient sich das graphische Medium Comic im Allgemeinen einer ganz bestimmten, selbstbezüglichen, abstrakten Repräsentationsästhetik. Diese kann – wie bereits erwähnt – als ›überzeichnete Reduktion‹ verstanden werden (vgl. Sina 2016). Denn obwohl keineswegs von einem einheitlichen oder einzigen, konsequent durchgehaltenen Comicstil die Rede sein kann, sind Zeichenstile im Allgemeinen als Formen der (Über-)Codierung und Vereinfachung zu verstehen (zur überzeichneten Cartoonästhetik am Beispiel von MAUS siehe auch Kap. 2). Um mit Hilfe relativ weniger Zeichenstriche eine möglichst eindeutige (visuelle) Aussage treffen zu können, werden Figuren im Comic meist auf ihre wesentlichen Züge reduziert – und gleichzeitig überzeichnet –, so dass sie jederzeit von den Rezipierenden identifiziert und wiedererkannt werden können (vgl. Morgan 2011, S. 142–143). »So werden charakteristische Merkmale im Aussehen der Figuren [im Comic] hervorgehoben und dieselben simplifiziert. Einzelne Personen unterscheiden sich nur noch durch Haarschnitt oder Kleidung voneinander oder durch andere leicht wiedererkennbare und reproduzierbare Merkmale« (Klar 2011, S. 223). Aufgrund der starken Ähnlichkeit der einzelnen Mäusefiguren im Comic ist der einzige visuelle Marker, der Kaisa Leka, die Protagonistin, vor der Amputation ihrer ›missgebildeten‹ Füße von den andere Figuren unterscheidet, nicht etwa die Darstellung ihrer körperlichen Beeinträchtigung – in der Tat werden ihre Beine und Füße genauso gezeichnet wie die der restlichen Figuren –, sondern das »K« auf ihrem T-Shirt. Wie Ian Williams in seinen Ausführungen zu I Am Not These Feet bemerkt, befreit der Rückgriff auf eine anthropomorphe Tiergestalt die Künstlerin von der Notwendigkeit einer akkuraten Selbstrepräsentation: »anthropomorphic animals allow for the reconsideration of human stories in a different light. The mouse avatar (literally) stands in for Leka, representing her altered body and reframing her experience« (Williams 2015, S. 121). Indem Kaisa Leka für die zeichnerische Repräsentation ihrer Beine und ›missgebildeten‹ Füße dieselbe, aus zwei schwarzen Strichen und weißen Kringeln bestehende, reduzierte Darstellungsform wählt wie für die restlichen ›gesunden‹ anthropomorphen Tierfiguren, entzieht sie die graphische Repräsentation ihres Selbst nicht nur einem voyeuristischen und zugleich objektifizierenden Blick. Die auf Reduktion und Abstraktion basierende Form der Repräsentation führt ebenfalls zu ei-

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KaisaLekas LekasIIAm AmNot These Feet (2006) Zum ZumBeispiel: Beispiel:Kaisa NotThese

6.2

Abb. 6.8: Reduktion und Simplifizierung in I Am Not These Feet (Leka 2006, S. 15).

ner visuellen Auslassung ihrer ›physischen Differenz‹, ohne dabei ihre persönliche Beeinträchtigung zu negieren: By drawing herself in the same style as she draws the other characters, Leka refuses to be defined only by her disability. In other words, on the pages of the comic book she can decide how she wants to perform her body in relation to the idea of a normative healthy body. (Romu 2016, S. 205)

Und auch nach dem operativen Eingriff bleibt den Rezipierenden ein voyeuristischer Blick verwehrt, da zunächst lediglich die dick bandagierten Beine der Protagonistin gezeigt werden. Auf Seite 15 des Comics wird den Rezipierenden schließlich in einem fast ganzseitigen Panel eine detaillierte Anleitung für das ›korrekte Bandagieren des Stumpfes‹ (»Comment faire un bandage correct du moignon«; Leka 2006, S. 15) präsentiert (siehe Abb. 6.8). Diese recht nüchterne Darstellung von Kaisas körperlicher Beeinträchtigung schafft eine sachliche, klinische Distanz zum Gezeigten und steht so in einem direkten Kontrast zu einer emotional aufgeladenen und voyeuristisch motivierten Schaulust, wie auch das folgende Zitat von Williams verdeutlicht:

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The simplified detail of Leka’s lower legs [...] frustrates our prurient curiosity and desire to see her deformity, allowing her to control the distance between author and reader. Deciding how much information to release, Leka withholds from us the emotional details, denying the graphic depictions the reader might desire [...]. Rather than immersing us in a melodramatic autobiography, her restraint draws us in and fires our intrigue. (Williams 2015, S. 121)

Darüber hinaus kann auch der Titel des autobiographischen Comics I Am Not These Feet (Übersetzung: »ich bin nicht diese Füße«) bereits als erster Hinweis darauf verstanden werden, dass sich weder die Comickünstlerin noch ihre graphische Repräsentation (ausschließlich) durch ihre körperliche Beeinträchtigung oder die daraus resultierende Behinderung definieren lassen (vgl. Williams 2015, S. 122). Die Tatsache, dass es zunächst Kaisa ist, die ihren Arzt auf eine potenzielle Amputation ihrer Füße anspricht und nicht anders herum, unterstreicht diese selbstbestimmte Haltung noch zusätzlich (vgl. Leka 2006, S. 3). Aber auch das Foto, das auf dem Cover der französischen Ausgabe des Comics zu sehen ist, zeigt eine fröhlich in die Kamera blickende Kaisa Leka, die in kurzen Hosen und Sportschuhen gekleidet selbst-

Abb. 6.9: Schematische Darstellung von Kaisas Carbonprothese(n) (Leka 2006, S. 34).

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KaisaLekas LekasIIAm AmNot These Feet (2006) Zum ZumBeispiel: Beispiel:Kaisa NotThese

6.2

bewusst ihre Carbonprothesen zur Schau stellt, anstatt diese vor neugierigen Blicken zu verbergen. Wie die Rezipierenden im Verlauf des Comics erfahren, erhält Kaisa ihre speziell angefertigten Prothesen ca. einen Monat nach der Amputation ihrer Füße. Ähnlich wie das korrekte Bandagieren ihrer Beinstümpfe werden auch Kaisas Carbonprothesen (bzw. eine der beiden Prothesen) zunächst in einer schematischen, ja geradezu technisch anmutenden Zeichnung dargestellt, die sich fast über die gesamte Comicseite erstreckt (siehe Abb. 6.9). Mit der Überschrift »Mercredi 3 Avril 2002. J’adore mes nouveaux pieds« (Leka 2006, S. 34; Übersetzung: »Mittwoch 3. April 2002. Ich liebe meine neuen Füße«) versehen wird den Rezipierenden mit Hilfe von verschiedenen Blocktexten und Pfeilen, die auf eine detaillierte zeichnerische Darstellung der Prothese zeigen, sowohl deren Funktionsweise als auch ihre Handhabung erläutert. Im weiteren Verlauf des Comics muss sich Kaisa im Rahmen eines schmerzhaften Prozesses erst an ihre neuen Prothesen gewöhnen, bevor sie diese problemlos tragen kann und sie sogar ein Teil von ihr werden. So ist im ersten Panel der vorletzten Seite des Comics zu sehen (bzw. zu lesen), wie Kaisa mit sichtbaren Prothesen vor einer Klasse steht und sich den ihr gegenübersitzenden Schüler_innen vorstellt (»Salut, je m’appelle Kaisa«; Leka 2006, S. 53; Übersetzung: »Hallo, ich heiße Kaisa«). Im darauffolgenden Panel scheinen ihre Prothesen verschwunden zu sein, da ihre Beine sowie Füße nun wieder (genau wie zu Beginn des Comics) mit Hilfe einfacher schwarzer Striche und weißer Kringel dargestellt werden (siehe Abb. 6.10). Am unteren Panelrand ist dementsprechend folgender Kommentar der Erzählerinnen-Stimme zu lesen: »Maintenant les prothèses font partie de moi« (ebd.; Übersetzung: »Nun sind die Prothesen ein Teil von mir«). Trotz dieses vermeintlichen Happy Ends präsentiert I Am Not These Feet keineswegs die ›Erfolgsgeschichte‹ einer stereotypen supercrip-Figur, wie dies etwa bei Barbara Gordon alias Oracle der Fall ist. Auch wenn Kaisa im Verlauf des Comics lernt, ihren ›körperlichen Defekt‹ zu

Abb. 6.10: Kaisas Beinprothesen ›verschwinden‹ von einem Panel zum nächsten (Leka 2006, S. 53).

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akzeptieren und mit ihrer persönlichen Beeinträchtigung zu leben, geschieht dies erst nach einem langen schmerzhaften Prozess. Am Ende ist ihre körperliche Beeinträchtigung weder gänzlich überwunden noch ›einfach so‹ verschwunden oder gar geheilt. Durch den Rückgriff auf sich ähnelnde anthropomorphe Tiergestalten und das Prinzip der ›überzeichneten Reduktion‹ gelingt es der Künstlerin vielmehr, die Aufmerksamkeit der Rezipierenden gezielt auf ihre körperliche Beeinträchtigung zu lenken, ohne dabei auf ein voyeuristisches ›Schauobjekt‹ reduziert zu werden. Eine Beobachtung, die auch Krista Quesenberry teilt, wenn sie schreibt, dass the style of the comic makes it impossible to consider any kind of difference other than the focal point of the comic – her physical disability. The only thing that visibly changes over the course of the narrative is her feet. This emphasis solidifies the narrator’s ›disabled‹ [...] identity from the comic’s first page to its last, regardless of the appearance of her feet. (Quesenberry 2017, S. 426)

Anders ausgedrückt bewegt sich Kaisa Lekas autobiographischer Comic aufgrund seiner formal-ästhetischen Beschaffenheit im Spannungsfeld von Sichtbarkeit und Un-Sichbarkeit, von Zeigen und Nicht-Zeigen, von Repräsentanz und Nicht-Repräsentanz. Dieses Spannungsfeld ist nicht nur mit Bezug auf die Repräsentation von Krankheit, Trauma und Dis/ability zu beobachten, sondern lässt sich auch im Hinblick auf die mediale Inszenierung und Verhandlung weiterer, ineinandergreifender, soziokultureller Strukturkategorien und Identitätsmarker wie etwa Gender, Klasse, Sexualität, Religion und Race in I Am Not These Feet ausmachen. So finden sich etwa auf einer Doppelseite zu Beginn des Comics zwei nahezu seitengroße Panels, in denen im rechten, unteren Bildrand die Protagonistin zu sehen ist, die sich mit einer riesigen, mit Text gefüllten Sprechblase direkt an die Rezipierenden wendet (siehe Abb. 6.11). In der ersten Sprechblase auf Seite vier ist u. a. folgender Text zu lesen: Il y une certaine ironie dans ma vie. À 14 ans, je détestais tellement mes pieds bizzares et déformés que j’aurais bien aimé qu’on me les coupe. Ils ne m’inspiraient que du dégôut. Jusqu’au jour où j’ai rencontré Leka qui m’a appris à voir mon corps différemment. Pour la première fois j’au réalisé que ma maladie n’était pas une simple plaisanterie de dieu mais – selon mon karma – la conséquence d’une action antérieure. (Leka 2006, S. 4; Übersetzung: In meinem Leben gibt es eine bestimmte Ironie. Mit 14 Jahren habe ich meine bizarren und entstellten Füße dermaßen gehasst, dass ich es gerne gehabt hätte, wenn man sie mir abgeschnitten hätte. Sie haben nur Ekel in mir geweckt. Bis zu dem Tag, an dem ich Leka getroffen habe, der mir beigebracht hat, meinen Körper anders wahrzunehmen. Zum ersten Mal habe ich realisiert, dass meine Krankheit nicht einfach nur ein Scherz Gottes war, sondern – gemäß meines Karmas – die Konsequenz einer vergangenen Handlung.)

Auf der darauffolgenden Seite führt Kaisa ihren Monolog fort: Les médias nous bombardent d’images de femmes (en apparence) heureuses, belles et en bonne santé. Toute ma vie je mes suis comparée à elles. Être malheureux, malade et moche est synonyme d’échec dans notre société. Il n’y a que le succès matériel qui compte. (Ebd., S. 5; Übersetzung: Von den Medien werden wir mit Bildern von (scheinbar) glücklichen, schönen und gesunden Frauen bombardiert. Mein gesamtes Leben habe ich mich mit diesen Frauen verglichen. Unglücklich, krank und hässlich zu sein ist ein Zeichen von Versagen in unserer Gesellschaft. Nur der materielle Erfolg zählt.)

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KaisaLekas LekasIIAm AmNot These Feet (2006) Zum ZumBeispiel: Beispiel:Kaisa NotThese

6.2

Abb. 6.11: Kritische Reflexion soziokultureller Strukturkategorien und Identitätsmarker in I Am Not These Feet (Leka 2006, S. 4–5).

Durch die Größe, Anordnung und Textfülle der beiden Panels bzw. Sprechblasen wird die Lesegeschwindigkeit verlangsamt und der Lesefluss unterbrochen, da die Rezipierenden an dieser Stelle geradezu gezwungen werden, einen Augenblick innezuhalten und auf der Doppelseite zu verweilen. Damit wird nicht nur den beiden Bildern per se, sondern auch ihrem textuellen Inhalt eine besondere Rolle innerhalb der narrativen Darstellung zugeschrieben. In ihrem appellhaften, doppelseitigen Monolog kritisiert Kaisa sowohl die westliche, konsumorientierte Leistungsgesellschaft als auch geschlechtlich codierte, normative Schönheitsideale, die immer wieder durch Medien vermittelt und (re)produziert werden. Mit dem Verweis auf Leka sowie die Hare Krishna-Bewegung, die Kaisa dabei geholfen haben, ihr Schicksal bzw. ›Karma‹ zu akzeptieren (vgl. Leka 2006, S. 5), erhält der Sprechblasentext darüber hinaus eine religiöse Konnotation (vgl. Romu 2016, S. 207). Kaisa Leka scheint also darum bemüht, mit Hilfe einer reduzierten, karikaturhaften Darstellungsform soziokulturelle identitäts- und differenzstiftende Marker auszublenden und zum Verschwinden zu bringen, um so den Fokus auf ihre persönliche Krankheitsgeschichte zu lenken. Keine der im Comic vorkommenden, anthropomorphen Tierfiguren wird etwa durch übertrieben lange Wimpern, volle Lippen oder geschlechtlich codierte Darstellungen von kurzen bzw. langen Haaren, muskulösen Oberkörpern oder runden Brüsten usw. als stereotypisch männlich oder weiblich markiert (vgl. ebd., S. 4). Keine der dargestellten Figuren entspricht hegemonialen Schönheitsidealen oder normierten Körperbildern. [I]nstead of highlighting physical, cultural, social or gender differences Leka chooses to emphasise the shared human experience. Her anthropomorphic animal characters do not promote a certain body image but provide equal freedom for everyone to determine how their own bodies are defined. (Ebd.)

Und auch Kategorien wie Race, Ethnizität, Klasse, Sexualität oder Alter scheinen für die visuelle Repräsentation der anthropomorphen Tierfiguren keine besondere Bedeutung zu haben. Dementsprechend scheint die von Kaisa Leka gewählte Form der »non human self-representation« (Quesenberry 2017, S. 418) eine alternative mediale Darstellungsweise jenseits intersektionaler, identitätslogischer Strukturkategorien und der mit ihnen verbundenen Hierarchisierungsverhältnisse und Normierungsprozesse anzubieten.

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Wie das oben aufgeführte Beispiel der seitengroßen ›Sprechblasen-Panels‹ jedoch verdeutlicht, lässt die textuelle Ebene des Comics keinen Zweifel daran, dass es sich bei Kaisa um eine weibliche Figur handelt, die in einer heterosexuellen Beziehung lebt, die nicht frei von (hetero)normativen Vorstellungen ist. Darüber hinaus bezeichnet sich Kaisa im Verlauf der Narration selbst bzw. ihre Füße als »bizarr« und »missgebildet« (»bizarres et déformés«; Leka 2006, S. 4) und damit als von der Norm abweichend und dis/abled (vgl. Quesenberry 2017, S. 423). Zudem spielt auch ihre explizit erwähnte Hare Krishna-Mitgliedschaft – und damit die Kategorie Religion – eine zentrale Rolle für Kaisas persönliche Identitätsfindung und -konstitution. Schließlich weisen die in I Am Not These Feet präsentierten anthropomorphen Mäusefiguren eine starke Ähnlichkeit zu Walt Disneys Mickey Mouse auf, der international wohl berühmtesten Funny Animal-Figur (vgl. Romu 2016, S. 203). Wie Romu darlegt, ist diese Ähnlichkeit durchaus beabsichtigt, da Kaisa Leka in einem Interview erläutert, dass Walt Disneys Mickey Mouse für sie eine (populärkulturelle) Verkörperung hegemonialer Normvorstellungen darstellt, die sie in ihrem autobiographischen Comic mit Hilfe der von ihr gezeichneten Mäusefiguren wiederum zu parodieren (ver)sucht (vgl. ebd.). Mit dem parodistischen Verweis auf Disneys Mickey Mouse durch die zeichnerische Darstellung schwarzer Mäusefiguren mit weißen Gesichtern, Händen und Füßen kommt jedoch auch der Kategorie Race innerhalb der Repräsentationslogik des Comics eine besondere Bedeutung zu, die im Rahmen einer intersektionalen Analyse mitgedacht werden muss. Denn wie Kaufmann mit Bezug auf Art Spiegelmans MAUS erläutert, tritt Disneys Mickey Mouse [m]it seiner markant weiß umrandeten Augen- und Mundpartie sowie den weißen Handschuhen [...] in die Fußstapfen der blackface-Darsteller aus den nicht ausschließlich, aber vielfach rassistisch geprägten minstrel shows, in der weiße Schauspieler schwarz geschminkt und mit hypertroph weiß bemalten Lippen auftraten. (Kaufmann 2017, S. 128, Herv. im Original)

Indem Kaisa Leka die Darstellung ihrer anthropomorphen Mäusefiguren an das Erscheinungsbild von Mickey Mouse anlehnt, schafft sie nicht nur einen parodistisch bzw. ironisch-selbstreferenziellen Verweis auf Disneys berühmteste Figur, sondern schreibt auch die Kategorie Race mit all ihren Implikationen in die Repräsentation ihrer Comicfiguren ein. Es lässt sich also festhalten, dass Comicfiguren und ihre Körper im (autobiographischen) Comic »durch Proportionen und andere Gestaltungsmerkmale, Kleidung, Attribute, Gestik und Mimik auf soziale Rollen, Haltungen, Innere Vorgänge« (Dollhäubl 2009, S. 56), ja ganz allgemein auf identitäre Strukturen verweisen, diese (mit)konstituieren und (re)produzieren. Darüber hinaus ist bei einer Analyse von »Figurenkörpern« im Medium Comic stets zu beachten, dass die Figurendarstellung nicht statisch ist, »sondern sie entsteht in der sequenzförmigen Erzählung« (ebd.). Denn bedingt durch die Sequenzialität sowie Serialität des Mediums müssen Figuren im Comic immer wieder von Panel zu Panel, Seite zu Seite oder Ausgabe zu Ausgabe wiederholt und neu geschaffen werden. Bei einer Comicfigur handelt es sich demnach zwangsläufig um eine performative Figur, da diese sich ausschließlich durch ihre »materialen Wiederholungen« (Frahm 2010, S. 42) konstituiert, wie Ole Frahm in seinem Buch Die Sprache des Comics verdeutlicht. Damit erfolgt nicht nur die »Konstruktion von Identität [...] sichtbar stückweise, prozesshaft« (Dollhäubl 2009, S. 56). Auch die (mediale) Konstitution und (Re-)Produktion unterschiedlicher soziokultureller Strukturkategorien wie etwa Gender, Race und Dis/

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KaisaLekas LekasIIAm AmNot These Feet (2006) Zum ZumBeispiel: Beispiel:Kaisa NotThese

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Abb. 6.12: Ästhetik des Gemachten in I Am Not These Feet (Leka 2006, S. 32).

ability erweisen sich als performativ, also veränderbar und damit alles andere als stabil oder ahistorisch. Darüber hinaus lenkt die graphische Sprache des Comics die Aufmerksamkeit der Rezipierenden unweigerlich auf den künstlerischen Herstellungsprozess, sprich auf die Ästhetik des Gemachten und damit ebenfalls auf den artifiziellen Status der repräsentierten Bilder und deren Inhalte (vgl. Backe et al. 2018). So wird in I Am Not These Feet die Gemachtheit des Gezeigten nicht nur durch den reduktionistischen, karikaturhaften Zeichenstil, sondern auch durch die unregelmäßige Linienführung, die teils schief-gezogenen Panelrahmen oder das ausschließlich aus Großbuchstaben bestehende Schriftbild zusätzlich hervorgehoben. An einigen Stellen sind im Comic sogar schwarze Tintenflecke zu finden, mit denen Rechtschreibfehler korrigiert wurden. Aber auch die Textanordnung innerhalb der einzelnen Panels wirkt oftmals ungleichmäßig. In einigen Fällen scheint der vorgesehene Platz für den Text nicht ausreichend gewesen zu sein, weswegen die Schrift seltsam gedrungen wirkt oder es so wirkt, als habe die künstlerische Hand beim Schreiben des Textes mehr Raum eingenommen als bei der Konzeption des Panels für die handgeschriebenen Lettern vorgesehen war (siehe Abb. 6.12). Gleichzeitig ermöglicht genau dieses Spannungsverhältnis von Transparenz und Opazität, von Illusionsschaffung und Illusionsbruch, das aus der Gemachtheit des Comics, der »handwrittenness of comics« (Chute 2011, S. 11) resultiert, einen besonders hohen Grad an ›Authentizität‹ und Glaubwürdigkeit, wenn es um die Form des autobiographischen Comics geht (vgl. Sina 2018). Als bewusste Abweichung von indexikalischen oder photorealistischen Repräsentationsformen erinnert die handgezeichnete Linie stets an die Konstruiertheit des Gezeigten (vgl. Etter 2017, S. 96–97) und verdeutlicht somit, dass es sich bei dem »vermeintlichen Objektivitätsanspruch der Autobiografie«, wie Marie Schröer schreibt, lediglich um »Annäherungen an die und Übersetzungen von ›Wirklichkeit‹« (Schröer 2016, S. 269) han-

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delt. Und auch Romu weist in ihren Ausführungen zu I Am Not These Feet darauf hin, dass die im Comic sichtbar eingelassenen ›Fehler‹ als dokumentarische Geste interpretiert werden können (zum dokumentarischen Comic vgl. u. a. Grünewald 2013; Mickwitz 2015; Chute 2016), mit deren Hilfe die ›Vollkommenheit‹ und ›Originalität‹ der performativen Comicfigur bzw. des autobiographischen Selbst und der repräsentierten Körperbilder verhandelt und hinterfragt werden können (vgl. Romu 2016, S. 208).

6.3 | Fazit In diesem Kapitel wurde das disziplinenübergreifende Konzept der Intersektionalität veranschaulicht und für die Comicforschung anschlussfähig gemacht. Anhand der exemplarischen Auseinandersetzung mit den drei unterschiedlichen Differenzachsen Gender, Race und Dis/ability wurde nicht nur das produktive Potenzial einer intersektionalen Perspektivierung aufgezeigt, sondern auch das wechselseitige Ineinandergreifen verschiedener identitätslogischer Strukturkategorien im Medium Comic verdeutlicht. Durch die Vermittlung sowohl theoretischer als auch analytischer Kenntnisse wurde das Gespür der Leser_innen für unterschiedliche Formen und Ausprägungen (hetero)normativer Zuweisungen geschärft. Wie die Auseinandersetzung mit verschiedenen Beispielen gezeigt hat, stellt das Konzept der Intersektionalität ein nützliches Instrument dar, um die mediale (Re-) Produktion und Konstitution hegemonialer Differenz- und Machtverhältnisse im Medium Comic in den Blick zu nehmen und zu analysieren. Die differenzierte Analyse des autobiographischen Comics I Am Not These Feet (2006) der finnischen Künstlerin Kaisa Leka hat zudem das produktive Potenzial des Mediums verdeutlicht, diskursive Bezeichnungs- und performative Konstitutionsprozesse sichtbar zu machen und kritisch zu reflektieren. So lassen sich in den verschiedenen Ausprägungen des Mediums zwar immer wieder (Re-)Produktionen sexistischer, homophober oder rassistischer Zuschreibungen ausmachen. Aufgrund seiner medialen Beschaffenheit verfügt der Comic jedoch über das formal-ästhetische ›Werkzeug‹, um diskursive Bezeichnungsprozesse, (Körper-)Normierungen, Ausschließungen und Diskriminierungen als solche kenntlich zu machen und zu unterlaufen (vgl. Sina 2016, S. 84–85). Ob oder wie das (subversive) Werkzeug des Comics zum Einsatz kommt, gilt es im Rahmen detaillierter und fallspezifischer intersektionaler Analysen von Comic zu Comic, von Panel zu Panel zu untersuchen und näher zu beleuchten. Denn wie Judith Butler in ihren gendertheoretischen Ausführungen bemerkt, »gibt [es] nur ein Aufgreifen von Werkzeugen dort, wo sie liegen, wobei dieses Aufgreifen gerade durch das Werkzeug, das dort liegt, ermöglicht wird« (Butler 1991, S. 213–214). Primärliteratur Alison Bechdel: Fun Home. A Family Tragicomic. New York 2006. Herriman, George: George Herriman’s Krazy and Ignatz. Sure as Moons Is Cheeses. The Komplete Kat Comics, Vol. 6. [1921], hg. v. Bill Blackbeard. Forestville 1990. Herriman, George: Krazy Kat. The Comic Art of George Herriman [1913–1944], hg. v. Patrick McDonnell et al. New York 2004. Fox, Gardner/Infantino, Carmine: »The Million Dollar Debut of Batgirl!« In: Detective Comics #359, Januar 1967.

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Fazit

6.3

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Fazit

6.3

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Intersektionale Comicanalyse

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7 Interkulturelle Comicanalyse Viele der Begrifflichkeiten und Analysemethoden, die in den ersten Kapiteln dieses Bandes vorgestellt wurden, sind weder an bestimmte Gattungen noch an Comics bestimmter Epochen oder Kulturkreise gebunden. Sie sollten prinzipiell überall fruchtbar zur Anwendung kommen (können), wo sich Gegenstände finden lassen, die typischen Comics mehr oder minder ähneln. Einerseits ist dies plausibel und sinnvoll, da die Darstellung populärer Geschichten in gezeichneten Bildern häufig als Nationalgrenzen und kulturelle Grenzen überwindendes Phänomen angesehen wird (vgl. Berninger et al. 2010; Berndt 2011; Brienza 2015a, 2016). Andererseits drängt sich die Frage auf, inwiefern einheitliche Beschreibungskategorien – wie die bislang vorgestellten – nicht dazu führen können, dass wichtige Unterschiede zwischen etwa US-amerikanischen Serienpublikationen, französischen bandes dessinées oder deutschen Webcomic-Blogs übersehen werden. Eine rein formale Definition von ›Comics‹ (beispielsweise als narrative Folge mindestens zweier Bilder; siehe Kap. 1) ist schließlich blind gegenüber spezifischen kulturellen Erzähltraditionen, gegenüber den Unterschieden zwischen Genres, Publikationsformaten und Produktionsweisen und ihren jeweiligen Einsatzmöglichkeiten innerhalb unterschiedlicher kultureller Kontexte. ›Interkulturalität‹ beschreibt ganz grundsätzlich Phänomene kultureller Beziehungen, zu denen prominent Kulturunterschiede zählen. Prinzipiell lassen sich diese Unterschiede aus zwei verschiedenen Richtungen betrachten: aus einer abstrakten, einzelkulturübergreifenden Perspektive einerseits sowie anhand spezifischer kultureller Gemeinschaften andererseits. Gemein ist beiden Zugängen, dass sich kulturelle Phänomene insofern nicht wie gegebene Objekte miteinander vergleichen lassen, als es keine neutrale Beobachtungsposition geben kann: Jeder Vergleich findet stets aus einer ›eigenen‹ kulturellen Perspektive heraus statt. Was überhaupt thematisch wird, was vergleichenswert erscheint und nach Klärung verlangt, ist maßgeblich durch eine Abweichung von dem bestimmt, was als vertraut und ›normal‹ erscheint. Eine Analyse, die die eigene Position nicht mitreflektiert, ist damit mindestens problematisch. Christoph Ernst formuliert diese Ausgangssituation wie folgt: »In interkulturellen Verstehenssituationen, in denen Gemeinsamkeiten ein knappes Gut sind, ist die Erfahrung des intersubjektiv anderen eine Erfahrung des anderen als ›Fremden‹« (Ernst 2008, S. 31). Die zentralen Kategorien der interkulturellen Analyse sind damit stets Eigenheit vs. Fremdheit sowie Verstehen vs. Missverstehen (vgl. Kogge 2002 sowie die Beiträge in Ernst et al. 2008 und Sachs-Hombach 2016). Der Versuch, dieses ›Fremde‹ zu verstehen, birgt dabei stets die Gefahr, es sich gewissermaßen gewaltsam anzueignen, indem es dem bereits Bekannten unterworfen wird und somit gerade seine Eigenständigkeit verliert. Daraus ergibt sich nicht nur ein ethisches, sondern auch ein analytisches Problem. Auf der einen Seite lässt sich diesem Problem der Begegnung mit dem ›Fremden‹ oder ›Unverständlichen‹ (allgemeiner spricht man von Alterität; vgl. Schröter 2004) auf eine abstrakte, einzelkulturübergreifenden Weise begegnen. Dies wäre der Ansatz einer ethnologischen oder philosophischen Kulturhermeneutik, die ein Verstehen des ›Fremden‹ aus eben diesen Perspektiven heraus verfolgt. Ähnliche Ansätze finden sich auch in der Phänomenologie des Fremden, die systematisch zu beschreiJ.B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Packard et al., Comicanalyse. Eine Einführung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04775-5 _7

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Interkulturelle Comicanalyse

ben versucht, wo verschiedene Aspekte der Erfahrung auf etwas Ungewohntes und Widerständiges stoßen, das sich nicht ohne Mühe mit der (›eigenen‹) Lebenswirklichkeit und ihren verinnerlichten Strukturen, Ordnungen und Begriffen in Einklang bringen lässt (vgl. Waldenfels 1997, 2006). Da ethnologische, kulturphilosophische und phänomenologische Zugänge aber hochgradig abstrakt sind, eignen sie sich eher zur Theoriebildung als zur konkreten Analyse von spezifischen Artefakten wie beispielsweise Comics. Auf der anderen Seite lässt sich ein Zugang wählen, der an bestimmten (›fremden‹) kulturellen Gemeinschaften ansetzt. Das größte Wissen und der reichste Schatz an Methodiken hierzu lässt sich in den jeweiligen Regionalwissenschaften finden, deren institutionelles Tagesgeschäft genau darin besteht, die relevanten Kontexte fremdkultureller Phänomene zu beleuchten (soweit sie in ihr jeweiliges Hoheitsgebiet fallen), um sie damit zugleich erklärbar zu machen. So ist etwa die Amerikanistik prädestiniert dafür, Wissen über US-amerikanische Traditionen und ihre historischen Hintergründe bereitzustellen, ebenso wie die Sinologie, die Skandinavistik oder die Indologie für ihre jeweiligen kulturellen Gemeinschaften. Die methodischen Verfahren hierzu sind notgedrungen interdisziplinär, insofern linguistische, philologische, historische, soziologische und viele weitere Ansätze gleichermaßen dazu beitragen können – oder gar müssen –, ein ›fremdes‹ Phänomen besser einordnen und analysieren zu können. Dieses Kapitel ist aus Perspektive einer Japanologie verfasst, die sich insbesondere medienwissenschaftlicher Begriffe und Verfahren bedient (vgl. neben Schröter 2004 oder Ernst 2008 auch spezifisch auf japanische Populärkultur bezogen Berndt 2018, 2019). Der Fokus auf Manga ist nicht zufällig gewählt: Nirgendwo wurde Comicinterkulturalität intensiver diskutiert als für den Bereich des japanischen Manga (wörtlich: ›spontane Bilder‹), der sich vom prototypischen US-amerikanischen Superheld_innen-Comic ebenso deutlich unterscheidet wie von einem französischen Album im Stil der ›klaren Linie‹. Japan verfügt über Jahrhunderte zurückreichende Traditionen visuellen Erzählens (vgl. Köhn 2005; Kern 2006), die in der Nachkriegszeit von einer hochkomplexen Medien- und Publikationsindustrie aufgegriffen und gemeinsam mit ausländischen Einflüssen zu einem einzigartigen Massenmedium transformiert worden sind (zur Geschichte vgl. auch Berndt 2015a). Fernöstliche Ausprägungen des Comics sind in Japan alters-, geschlechts- und berufsübergreifend Bestandteil des täglichen Lebens (vgl. Kinsella 2000; für einen Überblick über die japanische Manga-Industrie aus dem Jahr 2017 vgl. Berndt 2017a). Im Rest der Welt wurde dies lange übersehen, bis sich Ende der 1990er Jahre Wellen der Manga-Begeisterungen regelrecht über den Erdball ausbreiteten und verschiedene ›Manga-Booms‹ auslösten (vgl. Johnson-Woods 2010, S. 235–350). Japanische Bilderzählungen konnten so rasch international zum meistübersetzten Comicsegment aufsteigen (vgl. Jüngst 2008). Verbunden ist diese Begeisterung oft mit einer Faszination für das Ursprungsland: Japans Sprache, Kultur und vor allem Populärkultur, die sich im Manga in vielfacher Weise niedergeschlagen zu haben scheinen; in eigenen Publikationsformaten, eigenen Genres, einer eigenen Zeichensprache. Älteren Generationen von Comicleser_innen ist diese Kultur oft unbekannt oder gar unverständlich – und dies bereits auf der Oberfläche der Bilder. Schon die ›entgegengesetzte‹ Leserichtung – auf der Seite von rechts oben nach links unten, im Band von ›hinten‹ nach ›vorne‹, wie im japanischen Schrifttext – mag bei Lektürebeginn für Irritationen sorgen, von zahllosen anderen Konventionen ganz zu schweigen.

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Interkulturelle Comicanalyse Fazit

6.3 7

Zu diesen Konventionen gehörten und gehören sicherlich auch die für Manga typische Figurenästhetik mit großen Augen, winzigen Mündern, dreieckigen Nasen und spitz abstehenden Haaren. Gerade diese Abgrenzung von der Populärkultur der Elterngeneration war zweifellos auch für den raschen Aufstieg des Manga als globale Jugendkulturform verantwortlich (vgl. Brienza 2015a). Comicerfahrene Leser_ innen waren durch ihre überwiegend US-amerikanisch geprägte Sozialisation in Sachen Populärkultur (oder franko-belgisch geprägte Sozialisation in Sachen Comics) zumeist kaum in der Lage, diese ›neue‹, hochkomplexe Zeichensprache zu entziffern (vgl. Bouissou et al. 2010). Für die Comicanalyse bietet sich hier ein gravierendes methodisches Problem, das etwa Zoltan Kacsuk (2018) in besonderer Klarheit herausgearbeitet hat: Um Manga verstehen und angemessen analysieren zu können, scheint man als Forschender gezwungen, sich zunächst der ›fremden‹ Kultur (hier: Japan) zuwenden zu müssen. Bereits seit Jahrzehnten stellen Manga jedoch eine Ausdrucksform dar, mit der Jugendliche in Südamerika ebenso aufwachsen wie in Deutschland (vgl. hierzu differenziert Richter 2012 sowie die Beiträge in Berndt 2018). Ist ein Comic also nur dann ein Manga, wenn er in Sachen Herkunftsland, Ethnizität (der Künstler_innen? der typischen Leser_innen?) oder Originalsprache an jenes ›ursprüngliche‹ Herkunftsland geknüpft ist? Fans erachten Manga doch auch weit außerhalb Japans als ›ihre‹ Tradition – die sie nicht nur konsumieren, sondern im Internet diskutieren, selbst produzieren, auf Messen verkaufen oder im Cosplay mit dem eigenen Körper nachstellen (vgl. Brienza 2016). Cathy Sell hat für Manga, die nicht aus Japan stammen, die Bezeichnung ONJ manga (original non-Japanese manga) geprägt (vgl. Sell 2011). Ein früher Vertreter war etwa Stan Sakais Usagi Yojimbo (seit 1984), die Geschichte eines Hasen-Samurais, die von einem US-Amerikaner (mit japanischen Großeltern) komplett auf Englisch kreiert wird. Bei englischsprachigen Werken spricht man von OEL manga (original English-language manga), im Deutschen meist von Germanga. Was hierzulande auf den ersten Blick wie ein typischer Manga aussieht, kann sich daher tatsächlich – inhaltlich wie auf der Oberfläche der Zeichen – vom angenommenen ›Heimatland‹ Japan weit entfernt haben. Die Konventionen des Manga werden häufig mit anderen, lokal vertrauten oder internationalen Einflüssen verschmolzen oder durchdrungen, mit neuen Stoffen verbunden, umgedeutet und innerhalb von Fangemeinschaften immer wieder neu ausgehandelt. Ein international bekanntes Beispiel hierfür ist Brian Lee O’Malleys Serie Scott Pilgrim (2004–2010), in der die kanadische Lebenswelt der jugendlichen Protagonist_innen ganz selbstverständlich von japanischer Populärkultur geprägt ist. Auch ästhetisch wie inhaltlich ist Scott Pilgrim als eine Art Hybrid, eine Verschmelzung zwischen nordamerikanischen und (›domestizierten‹) japanischen Comiceinflüssen aufzufassen (vgl. Pedinotti 2015). Casey Brienza definiert gegenwärtige globale Manga-Produktionen daher auch zusammenfassend als »published sequential art products of a sometimes globalized, sometimes transnational, sometimes hyperlocal world in which something its producers and consumers might call ›manga‹ can be produced without any direct creative input at all from Japan« (Brienza 2015b, S. 4). Wie kann eine interkulturelle Comicanalyse diesem Spannungsverhältnis zwischen ›Manga als made in Japan‹ und ›Manga als globalem Stil‹ begegnen? Noch einmal anders gefragt: in welchem Verhältnis stehen regional, sprachlich und historisch unterschiedene Kulturen (Japan vs. Deutschland) zu Fankulturen? Kulturelle Differenzen dürfen schließlich

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Interkulturelle Comicanalyse

nicht als bloße Sprachunterschiede missverstanden werden. Weder garantiert eine geteilte Sprache problemlose kulturelle Verständigung (englischsprechende Muttersprachler_innen in Indien vs. Australier_innen), noch ist es Mitgliedern unterschiedlicher Sprachgemeinschaften unmöglich, sich in Teilen nicht doch der gleichen kulturellen Gemeinschaft zugehörig zu fühlen. Der folgende Beitrag wird sich daher nicht nur mit regionalen Kulturunterschieden befassen können, sondern zugleich den Bezug von solchen zu unterschiedlichen Fankulturen aufzeigen müssen, um seinem Ziel gerecht zu werden, Verfahren der interkulturellen Comicanalyse zu verdeutlichen.

7.1 | Manga Zunächst sind einige Vorbemerkungen zur Methodik der Medienwissenschaft aus japanologischer Perspektive erforderlich, die auch über den Bereich Japan/Manga hinaus exemplarisch für die interkulturelle Comicanalyse stehen können. Dieses Kapitel möchte drei Analysekategorien zur Verfügung stellen, die Ansätze aus den vorigen Kapiteln erweitern und dabei eine pragmatische erste Annäherung an Kulturunterschiede im Comic bieten. Durch eine kultursensible Anwendung dieser Kategorien lassen sich ›fremde‹ Aspekte ausfindig machen, deren Erklärung und Analyse ohne kulturelles Kontextwissen Schwierigkeiten bereitet. Es lassen sich zunächst aber genaue Beobachtungen anstellen hinsichtlich ■ eines (spezifischen) Einsatzes von Zeichen (in Sachen Bildlichkeit, Schriftlichkeit sowie in Spatio-Topik und Blickführung), ■ (spezifischer) Genrekonventionen mit Hinblick auf Figuren, Geschichten und Storyworlds sowie ■ eines (spezifischen) Kommunikationsgefüges zwischen Künstler_innen, Rezipierenden und der weiteren Medienlandschaft; jener dritte Aspekt wird hier unter dem Begriff der ›Mediation‹ gefasst. Als kulturelle Gemeinschaften (cultural communities) lassen sich mit dem Japanologen und Kultursemiotiker Rein Raud (2016, S. 23–31) alle Gruppen von Akteur_innen bezeichnen, die gemeinsame Interpretations- und Verwendungsweisen kultureller Artefakte miteinander teilen: »It is, in principle, possible to speak about single-text and single-practice communities [...] such as groups of people united only by the fact that they collect stamps or went to Woodstock« (ebd., S. 24). Insofern ist der Übergang von regional unterschiedenen Kulturgemeinschaften zu Fankulturen (oder mit Raud: zu ›Subkulturen‹) tatsächlich fließend; zudem handelt es sich nicht um einen hierarchischen, ›sauber‹ ineinander verschachtelten Unterschied: [T]he borders of subcultures need not respect the borders of the parent-cultures. Fans of Harry Potter may inhabit many countries and they may partake of the adventures of their hero in a multitude of languages – all being members of the same community based on a shared text. (Ebd., S. 26)

Obwohl regionale Kulturunterschiede auch in Zeiten globalisierter Medienkulturen weiterhin erheblichen Einfluss auf Mitglieder ihrer jeweiligen Gemeinschaften ausüben, nehmen sie analytisch keinen grundlegend anderen Stellenwert ein als inter-

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Manga

7.1

nationale Ausdifferenzierungen in populären Fankulturen. Wie bereits angesprochen wurde, ist es auch wenig ergiebig, stets nur nach dem ›Fremden‹ zu suchen und alles Ungewohnte durch dessen kulturelle Eigenheiten erklären zu wollen. Es wird wohl kaum eine ›unbekannte‹ Comickultur der Welt geben, die nicht merklichen Einflüssen der drei ›großen‹ Traditionen (Frankreich/Belgien, USA sowie Japan) ausgesetzt gewesen wäre und die deren Konventionen in Bezug auf Zeichen, Genre und Mediation nicht teilweise übernommen hätte. Diese Übernahmen werden umgekehrt aber niemals bruch- und reibungslos vonstattengegangen sein. Denn auch jene drei ›großen Traditionen‹ selbst erweisen sich bei genauerem Blick in verschiedener Hinsicht als zusammengewachsen. Man könnte etwa an die immense Bedeutung des städtischen Einwander_innenmilieus für die Entwicklung des frühen US-amerikanischen Zeitungscomics denken (vgl. Gardner 2015). Dies aber bedeutet: Noch vor der Ausweitung des Paradigmas ›Interkulturalität‹ auf Fankulturen, also noch innerhalb eines engen Interkulturalitätsbegriffs, der sich entlang regionaler Kulturunterschiede entfaltet, kann dennoch jede Comicanalyse stets nach Interkulturalität fragen (ebenso wie sie immer nach semiotischen, multimodalen, narratologischen, genretheoretischen oder intersektionalen Gesichtspunkten und Fragestellungen verfahren kann). Das heißt nicht, dass alles ›immer interkulturell‹ wäre – dann würde der Begriff fraglos nichts mehr bedeuten! Es heißt aber, wie Anthony Pym als Übersetzungswissenschaftler ausgeführt hat, dass einzelne Kulturen erst aus Phänomenen und Erfahrungen von Interkulturalität heraus beschreibbar und beobachtbar werden. Man muss also nicht zuerst lernen, wie das ›Wesen‹ einer (fremden oder eigenen) Kultur ist, um ihre Begegnung mit einer anderen zu beschreiben – sondern umgekehrt: »In this way, a [...] history based on interculturality could tell us about cultures, and not the other way round« (Pym 1998, S. 191). Nach Pyms Konzeption wird Interkulturalität so als eine Überlappungszone zwischen kulturellen Gemeinschaften aufgefasst, in denen sich Autor_ innen, Übersetzer_innen und Leser_innen in ihrem Handeln begegnen und treffen, um ihre kulturelle Identität zwischen den Polen des Eigenen und des Fremden neu zu thematisieren und dabei auch zu dritten, also neuen Entwürfen von kulturell geprägten Ausdrucksweisen zu gelangen (vgl. ebd., S. 177–192; sowie für den Manga Sell 2011). Entgegen vielen nationalgeschichtlichen Vereinnahmungsversuchen lassen sich Spielarten des Comics schließlich kaum auf Landessprachen und politische Grenzen projizieren. Das muss nicht bedeuten, dass keine Unterschiede zwischen den Ländern und ihren Traditionen bestehen; wohl aber, dass diese Unterschiede erst dort greifbar – und relevant – werden, wo sie aufeinandertreffen und etwas Drittes entstehen kann. Hier liegt, wie der Pionier der Manga-Forschung Bernd Dolle-Weinkauff erklärt, der Übergang »von der begeisterten Imitation hin zur kreativen Verarbeitung« (Dolle-Weinkauff 2010, S. 96). Da Manga längst ein globales Phänomen darstellt, das kulturelle Gemeinschaften, Sprachen und Staaten durchquert, lässt sich diese Spielart des Comics am besten als ein besonderer medialer Ausdrucksmodus charakterisieren (vgl. Richter 2012, S. 123). Wie Brienza zeigt, wird darunter meist ein vage definierter Manga-Stil verstanden (vgl. Brienza 2015b, S. 13). Mit Stephan Köhn lässt sich dieser vielleicht etwas präziser als eine besondere mediale »Formensprache« (Köhn 2016, S. 260) ansehen. Eine Form ist zunächst einmal nichts anderes als ein wiedererkennbares »arrangements of elements – an ordering, patterning, or shaping« (Levine 2015, S. 3; Herv. im Original). Ganz allgemein handelt es sich somit bei einer Form um eine

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Interkulturelle Comicanalyse

wiederholte Strukturierung – von Materialien, Ausdrucksweisen, Geschichten und dargestellten Welten, aber auch vom sozialen Gebrauch von Comics (vgl. umfassender Wilde [i. Vorb.]). Wenn sich die individuelle Erfahrung solcher Formen (im konkreten Gebrauch) mit den Erfahrungen zu decken scheint, die andere Akteur_innen offenbar machen, entsteht eine geteilte, intersubjektive Ebene; oder umgekehrt ausgedrückt: eine intersubjektiv geteilte Form ist dann vorhanden, wenn bestehende Praxen und Konzepte von Akteur_innen in der Weise internalisiert werden, dass sie zur Strukturierung der individuellen, persönlichen Erfahrungen einen Beitrag leisten können. Mit Raud bildet dies die Grundlage einer kulturellen Gemeinschaft, die aber stets weiter ausgehandelt werden muss (vgl. Raud 2016, S. 38–54). Das Individuum geht daher niemals vollständig in der angenommenen Gemeinschaft auf; diese bleibt immer ein hypothetisches Konstrukt, das sich im Handeln, in einem »network of practices« (ebd., S. 89), weiter bewähren muss. Typische Manga-Strukturen bzw. eben Manga-Formen können auf semiotischer (zeichentheoretischer) wie auf inhaltlicher oder sozialer Ebene gesucht und beschrieben werden. Dass etwa der Umgang mit Comics eine Verteilung von Rollen vorsieht – beispielsweise in Produktion (Künstler_innen und Herausgeber_innen), Distribution (Verlagshäuser und Comichandel) und Rezeption (Fans und Kritiker_ innen) – ist in keiner Weise ›naturgegeben‹, sondern Ergebnis spezifischer Strukturierungen oder Formatierungen des Medienbereichs ›Comic‹. Diese können sich kulturspezifisch in signifikanter Weise voneinander unterscheiden. Mit Manga-Formen sind also zusammenfassend nicht nur die Medienformate und deren Gebrauch im engeren Sinne gemeint (etwa Manga-Trägermedien wie das Taschenbuch oder das Magazin), sondern auch bestimmte Genrekonventionen. Auf elementarster Ebene wiederum weisen diese einen ganz bestimmten Zeicheneinsatz auf, an welchem sie oft überhaupt erst als Manga erkannt werden. Auf jener semiotischen Ebene nähern sich Formen damit Zeichenmodalitäten an (siehe Kap. 3). All diese Manga-Formen scheinen zunächst ›typisch japanisch‹ zu sein, doch gerade in ihrer kreativen Weiterverarbeitung – ihrer Nutzung und vielgestaltigen Aushandlung – können Potenziale für interkulturelle Begegnungen entstehen. Im folgenden Kapitel 7.1.1 soll zunächst ein unverzichtbarer Überblick über relevante Kontexte des Manga und seiner Verbreitung geboten werden. Da sich die kulturellen Formatierungsweisen von Comics hervorragend an den Ausprägungen und Verwendungsweisen von Manga in Deutschland (Germanga) verdeutlichen lassen, wird deren Entwicklung kurz umrissen. Im Anschluss kann dann genauer auf drei zentrale Analysekategorien eingegangen werden, in denen sich diese interkulturellen Berührungspunkte am deutlichsten bemerkbar machen – Zeichen (siehe Kap. 7.1.2), Genre (siehe Kap. 7.1.3) und Mediation (siehe Kap. 7.1.4). Zur Demonstration der analytischen Produktivität der so entwickelten Analysekategorien soll abschließend wiederum eine kompakte Beispielanalyse von David Fülekis Struwwelpeter. Die Rückkehr (2009b) geboten werden (siehe Kap. 7.2), bevor in einem knappen Fazit etwas allgemeiner nach der Übertragbarkeit der vorgestellten analytischen Perspektive auf weitere kulturelle Comicgemeinschaften zu fragen sein wird.

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Manga

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7.1.1 | Zum Kontext: Manga in Japan und Deutschland Ein genauer Blick auf kulturelle Begegnungen und Hybridisierungen – also auf Verbindungen von Comicformen unterschiedlicher Kulturtraditionen – ist aus Sicht der Japanologie unbedingt nötig, weil der japanische Manga ebenfalls nicht von problematischen Vorstellungen einer (geopolitischen) ›Monokultur Japan‹ aus gedacht werden kann: Obwohl gern auf die vorgeblich jahrtausendealten Traditionen des Manga verwiesen wird, sind diese doch keinesfalls ungebrochen oder frei von ›äußeren‹ Einflüssen. Ganz im Gegenteil lässt sich zeigen, wie der moderne, in der Nachkriegszeit entstandene Manga auch – und vielleicht sogar besonders – als eine kulturelle Hybridisierung verstanden werden kann, die sich auf verschiedenen Ebenen ausländischer Einflüsse bedient und diese mit Bestehendem verbunden hat (vgl. Dolle-Weinkauff 2010; Köhn 2010; Kern 2017). Wie die Japanologin Jaqueline Berndt es pointiert ausdrückt: »What is globally known today as ›manga style‹ is, in fact, the result of intercultural exchange« (Berndt 2008, S. 299). Darüber hinaus kann kaum von ›einem‹ Manga-Stil gesprochen werden. Die Bandbreite von jährlich über 12.000 Neuerscheinungen im Heimatland reicht vom literarisch-cineastisch inspirierten gekiga (wörtlich: ›dramatische Bilder‹, Graphic Novels nicht unähnlich) über eine gewaltige Menge an Sach- und Lern-Manga zu allen erdenklichen Themen (vgl. Berndt 2017b) sowie die derzeit boomenden Manga-Essays bis hin zu Phänomenen wie Boys Love (shōnen ai, erotische Ge-

Abb. 7.1: Eine mangatypische Kampfsequenz aus All You Need Is Kill (Sakurazaka et al. 2014, S. 158–159).

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Interkulturelle Comicanalyse

schichten über homosexuelle Männer, die fast ausschließlich von weiblichen Autorinnen für weibliche Leserinnen produziert werden, vgl. McLelland 2006). Innerhalb dieser Vielfalt von ›Manga‹ als einem Phänomen zu sprechen, wäre also zweifellos verfehlt. Nichtsdestotrotz lassen sich aber durchaus Merkmale des typischen Manga identifizieren. Was global als ›Manga-Stil‹ bekannt geworden ist (vgl. Berndt 2016, S. 128), stammt aus international vertriebenen Serien wie Akira Toriyama Dragon Ball (1984–1995), Eiichirō Odas One Piece (seit 1997), Masahi Kishimotos Naruto (1999–2014), Hajime Isayamas Attack on Titan (seit 2009) oder neuerdings Kōhei Horikoshis My Hero Academy (seit 2014). Abbildung 7.1 zeigt eine typische Doppelseite aus einer überbordenden Kampfsequenz in der SciFi-Actionserie All You Need Is Kill, geschrieben von Hiroshi Sakurazaka und Ryūsuke Takeuchi und gezeichnet von Takeshi Obata (2014). Zwei Protagonist_innen kämpfen hier in Mecha-Kampfanzügen gegeneinander. Die linke Seitenhälfte wird fast vollständig von ungegenständlichen Bewegungslinien und überlagerten Soundwörtern (in der japanischen Silbenschrift Katakana) dominiert, so dass kaum zu sagen ist, was dort eigentlich abgebildet wird oder wie sich die angeschnittenen Darstellungen von Körperteilen um die zentrale Zeichnung des Kampfanzugs herum zum dargestellten Raum verhalten: Die Seite steht ganz im Dienst, einen Eindruck von Geschwindigkeit und Kraft zu vermitteln. Mögen solche Action-Mangas anderen Comics zwar oberflächlich ähneln, unterscheiden sie sich doch auch in weiteren Aspekten wie ihren Publikations- und Rezeptionsweisen, ihren Genres, ihrer Eingebundenheit in ein umfassenderes Mediensystem, ihren Leser_innenschaften und ihrer kulturellen Anerkennung – all jene Aspekte also, unter denen sich typische Manga als Medien betrachten lassen, wie im Folgenden genauer ausgeführt werden wird. In Deutschland setzte der Manga-Boom deutlich später ein als etwa in den USA oder in Frankreich. Nach den späten Erfolgen von Akira Toriyamas Dragon Ball und Naoko Takeuchis Sailor Moon in den Jahren 1997/1998, denen geradezu die Rettung europäischer Verlage aus der damaligen Comickrise nachgesagt wird, begannen deutsche Verlage bald damit, neben ca. 800 übersetzten Titeln jährlich (Stand: 2018, vgl. Feil 2018, S. 100) auch originäre Germanga zu produzieren (zur Übersicht vgl. Bouissou et al. 2010). Seit dem Erscheinen des ersten kommerziellen Germanga (Dragic Master von Robert Labs, 2001) begannen Verlagshäuser wie Carlsen, Egmont und später Tokyopop, auch sukzessive eine ›Homegrown‹-Kultur der Eigenproduktionen aufzubauen. Dies erwies sich in der deutschen Manga-Szene nicht zuletzt deshalb als vergleichsweise einfach, da sich bereits im Jahr 2003 über die Hälfte aller deutschen Manga-Leser_innen auch selbst (zumindest) als Gelegenheitszeichner_innen identifizierten (vgl. Malone 2010, S. 228). Bis in die jüngste Zeit hinein stammten so fast alle deutschen Manga-Autor_innen aus der Fanszene (vgl. ausführlich Malone 2009, 2010, 2011 sowie Eckstein 2016, S. 50–67). Bekannte frühe Vertreterinnen waren Judith Park (Dystopia. Love at Last Sight, 2004) und Christina Plaka (Prussian Blue bzw. Yonen Buzz. Plastic Chew, 2004–2012). Der Weg in den Markt führte bis etwa ins Jahr 2012 recht klar über Zeichenwettbewerbe auf der Leipziger Buchmesse. Die Manga der Gewinner_innen wurden nach japanischem Vorbild in den (mittlerweile eingestellten) Magazinen Banzai (Carlsen, 2001–2005), Manga Power (Ehapa, 2002–2004) und Daisuki! (Carlsen, 2003–2012) oder in Anthologien wie Manga Fieber (Tokyopop, 2005–2007) veröffentlicht (vgl. Eckstein 2016, S. 58).

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Manga

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Der kanadische Germanist Paul M. Malone, der diese Entwicklungen aus etwas größerer Distanz erforscht hat, kommt dabei nach zahlreichen Einzelstudien zu dem Schluss, dass bis etwa 2010 ein Imitieren als ›japanisch‹ empfundener Merkmale als unbedingt verpflichtend galt (vgl. Jüngst 2006; Malone 2010). Um diese Zeit herum jedoch begannen sich weitreichende Änderungen abzuzeichnen. Zu den zuvor eher unhinterfragt gültigen Konventionen gehörte etwa ein Übernehmen der ›umgedrehten‹ Leserichtung und Manga-typischer Symboliken und Darstellungskonventionen (institutionalisiert durch international standardisierende Zeichenratgeber und -serien wie Carlsens Reihe How to Draw Manga, vgl. Bainbridge/Norris 2010). Germanga-Figuren trugen zumeist auch japanische Namen, deutsche Schauplätze wurden vermieden. Die Übersetzungswissenschaftlerin Heike E. Jüngst kritisiert daher auch eine »fake Japaneseness« (Jüngst 2006, S. 250). Im US-Bereich bemängelt Robin Brenner ganz ähnlich, dass »many [comics] also seem to adopt the [manga] style without using the elements correctly« (vgl. Brenner 2007, S. 19; unsere Herv.). Ein solcher Zwang, ›authentische‹ japanische Konventionen ›korrekt‹ einhalten zu müssen, wurde durchaus auch von Autor_innen der ersten Generation (wie Labs oder Plaka) als restriktiv empfunden (vgl. Eckstein 2016, S. 64 sowie für Nordamerika Ruh 2005). Diese Situation sollte sich jedoch mit Entwicklung der GermangaSzene schrittweise ändern. Zum einen sind viele deutsche Mangaka (MangaKünstler_innen) mittlerweile auch in anderen Comic-Szenen sehr gut sichtbar (etwa Olivia Vieweg oder Marei Sann); zum anderen ist die Vielfalt des deutschen Manga heute kaum noch zu überblicken (vgl. dazu den Versuch eines Überblicks bei Decomain 2014). Brienza spricht daher von der deutschen Manga-Szene auch als »the richest and most interesting field of locally-produced original manga today« (Brienza 2015b, S. 12). Einigen Zeichner_innen wie Anike Hage gelang mit Serien wie Gothic Sport (2006–2010) auch längst der internationale Durchbruch. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch neue Online-Publikationswege, etwa über Online-Portale wie Animexx.de, wo zehntausende Nutzer_innen im Erstellen eigener Serien aktiv waren (vgl. Cavcic 2015). Auch wenn viele dieser Serien weiterhin in einem ›imaginären Japan‹ spielen: Malone erkennt in dieser oft multi-ethnischen und interkulturellen Gemeinschaft weniger ein ›fake‹ oder ein ›Imitat‹, sondern etwas, das er metaphorisch als Mangascape bezeichnet (vgl. Malone 2011, S. 56); eine Art imaginärer Begegnungsstätte, ein »exotic but neutral meeting place« (Malone 2010, S. 232; vgl. auch Napier 2007), in welchem die tatsächliche Nationalität, Ethnizität oder Sexualität von Autor_innen und Rezipierenden eine weit geringere Rolle spielt als in anderen Comicszenen (vgl. Wong 2006). Kristin Eckstein urteilt in ihrem Vergleich deutscher Mädchenmanga mit den ›Originalen‹ ähnlich: »Bereits auf den ersten Blick ist erkennbar, dass es sich zwar um einen Manga handelt, dieser jedoch nicht aus Japan stammt – dies ist nicht als Nachteil, sondern als besonderes Merkmal zu begreifen« (Eckstein 2016, S. 232). Dies lässt sich erneut auf Pyms Interkulturalitätstheorie beziehen (vgl. Pym 1998, S. 177–192). Germanga wären demnach Überlappungszonen zwischen kulturellen Gemeinschaften, in denen sich Künstler_innen und Rezipierende in ihrem Handeln begegnen und treffen, um ihre kulturelle Identität zwischen den Polen des Eigenen und des Fremden neu zu thematisieren und dabei auch zu dritten, also neuen Entwürfen von kulturell geprägten Ausdrucksweisen zu gelangen (vgl. Sell 2011). Für die interkulturelle Manga-Analyse erscheint es daher hilfreich, solche Germanga-Werke heranzuziehen, die gerade die Konventionen typischer Manga aufgreifen, sich kreativ mit ihnen auseinandersetzen – und dabei etwas genuin Neues

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erzeugen. Insbesondere bietet sich dafür das Werk von David ›Def‹ Füleki an, der in der deutschen Comiclandschaft ein bemerkenswertes Phänomen darstellt. David Fülekis Arbeiten, die zunächst im Heimverlag Delfinium Prints erschienen sind und mit zunehmender Sichtbarkeit beim namhaften Verlag Tokyopop nachgedruckt wurden, rechnen sich selbst ausdrücklich dem »Trashcomic« (Füleki 2014a, S. 7) zu: Sie erzeugen nicht den Hauch des Anscheins ›literarischer‹ Qualität. Fülekis bisheriges Opus Magnus, 78 Tage auf der Straße des Hasses, ist ein blutrünstiges Gewaltfeuerwerk, gespickt mit – oder zusammengesetzt aus – Film-, Comicund Computerspielzitaten (siehe auch Kap. 5). Die Protagonisten, fiktionalisierte Avatare des Autors sowie des Delfinium Prints-Mitherausgebers Roy Seifert, treten dabei als soziopathische Serienmörder auf. Sie werden von zwei Gangster-Jugendlichen namens Max und Moritz, »zwei dümmliche[n] jugendliche[n] Straftäter[n]« (Füleki 2016, S. 146), zu einem gewalttätigen ›Battle Royal‹ um den Titel des »krassesten Lausbubenduos« (Füleki 2014a, S. 64) herausgefordert. Daraufhin versetzt es sie auf eine magische »Insel der tausend Düfte« (ebd., S. 70). Hier beginnt ein etwa 350 Seiten langes Spektakel der blutigen Gefechte, in die nicht nur unzählige weitere bekannte Figuren und Figurentypen der (westlichen wie japanischen) Populärkultur verwickelt sind, sondern auch Protagonist_innen, die aus anderen Werken der deutschen Germanga-Szene stammen. Bereits im rahmenden ›Comicvorwort‹ der Neuauflage wird eröffnet, der Autor habe die Geschichte bloß »aus Jux und Geigelei« (ebd., S. 6) angefertigt. Dass es sich dabei um eine literarische Aufarbeitung seiner sozialen Wirklichkeit und seinen Jugenderfahrungen handeln könnte, die in der interpretierenden Lektüre geborgen werden könnten, parodiert Füleki sogleich selbst: »Anfangs war das Ganze noch eher so’n Insider-ding, in dem ich metaphorisch Schul- und Uni-Traumata aufgegriffen hab. Nee, obwohl... kann man so auch nicht sagen. Ha ha!« (ebd., S. 7). Füleki lässt seinen Avatar davon phantasieren, wie er den Max-und-MoritzPreis (die sicherlich hochrangigste deutsche Comicauszeichnung) hätte gewinnen können, »wenn er sein Leben nicht dem Trashcomic, sondern kritikerfreundlicheren Geschichten verschrieben hätte« (ebd.). Jede 78 Tage-Analyse, die auf ›literarische Gehalte‹ abzielt, dürfte also ins Leere laufen, da sie in diesem derben Mix aus clowneskem Humor, Insider-Scherzen, Popkultur-Referenzen und ironischem Spiel kaum Ergiebiges zutage fördern könnte. Das ›Fremde‹, das Erklärungsbedürftige, scheint also etwas mit dem Ausdrucksmodus ›Manga‹ selbst zu tun zu haben, den eine interkulturelle Comicanalyse verständlich machen sollte. Denn in der Tat gilt Füleki als einer der wichtigsten Mangaka in Deutschland. Bereits 2011 erhielt er für seine Serie Entoman den Sondermann-Preis der Frankfurter Buchmesse. 2015 wurde er für 78 Tage mit dem PENG!-Preis des Comicfestivals München ausgezeichnet und 2016 sogar tatsächlich für den Max-und-MoritzPreis nominiert. Zwei Jahre später war auf dem internationalen Comic-Salon eine Werkausstellung zu seinem Schaffen zu bewundern, die laut Katalog »sein tiefes Verständnis der Kunstform Comic« (Comic-Salon 2018, o. S.) illustrieren sollte. Der Tagespiegel sprach von »eine[m] der besten und produktivsten deutschen Comicautoren seiner Generation« (von Törne 2016, o. S.). Was also kann eine Comicanalyse in diesem Werk zu Tage fördern, das nicht im dargestellten Inhalt und seinen literarischen bzw. symbolischen ›Gehalten‹ liegt? Was gibt es in Fülekis besonderer Verwendung des Comics zu erkennen oder zu entdecken, das gerade in einer kreativen und besonders originellen Aushandlung mit der medialen Formensprache des Manga beruht? Hier nun kann die interkulturelle Comicanalyse ansetzen.

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Einen Grundstein der Analyse bildet dabei der bereits zuvor eingebrachte Begriff der medialen Form. Dabei handelt es sich um wiederholt verwendete, sozial geteilte Strukturierungsweisen von medialen Artefakten und damit verbundenen Praxen, die auf sehr unterschiedlichen Ebenen untersucht werden können. Wenn der individuell bedeutsame und der intersubjektiv beobachtbare Gebrauch dieser Formen sich einander anzunähern scheinen, so bilden sie die Grundlage für eine kulturelle Gemeinschaft (vgl. Raud 2016, S. 38–54). Typische Manga-Strukturen und -Konventionen – Manga-Formen – können auf semiotischer (Zeichensprache) wie auf inhaltlicher (Genrekonventionen) oder auf werkübergreifender Ebene (Mediation) gesucht und beschrieben werden. Künstler_innen steht es ganz frei, sich dieser Formen – als wiederholte und wiedererkennbare Strukturierungs-, Gestaltungsund Gebrauchsweisen von Comics – zu bedienen, sie gewohnt oder auch ungewohnt einzusetzen. »[I]ntercultures, like any other form of culture, are living phenomena populated by real people« (Sell 2011, S. 105), erinnert Cathy Sell. Da Formen also nur dann (weiter) existieren, solange sie von Künstler_innen und Rezipierenden auch tatsächlich als solche erkannt und verwendet werden, könnte man auch den etwas dynamischeren Begriff der Formatierung verwenden: Manga erscheint dann als eine bestimmte Art und Weise, Comics in Formen zu bringen, welche Fans und Schöpfer_innen wechselseitig als Manga vertraut sind. Formatierungen zeichnen sich allgemein dadurch aus, bestimmte Angebotscharakteristiken (sogenannte affordances; vgl. Jensen 2010, S. 74–82) zu bieten. Dieser Angebotscharakter führt neben Möglichkeiten immer auch bestimmte Einschränkungen mit sich. Beispielsweise bieten sich durch die Formatierung der fortlaufenden Serie andere Arten von Figuren an als in einem abgeschlossenen Werk: In der Serie können sich Figuren leichter weiterentwickeln als in einer kurzen Comicerzählung, dürfen sich aber auch nicht zu sehr verändern, will die Serie eine bestimmte Kontinuität bewahren. Ein Beispiel für eine davon ganz verschiedene Comicformatierung wäre der 4-Panel-Gag-Strip, dessen Folgen häufig in beliebiger Reihenfolge gelesen werden können, da die Figuren scheinbar keine Erinnerung an vergangene Episoden besitzen (vgl. Newgarden/Karasik 2017). Im Folgenden kann es in der gebotenen Kürze nicht darum gehen, Manga entlang solcher Angebotscharakteristiken erschöpfend zu charakterisieren. Illustriert werden soll stattdessen eine bestimmte Methodik: auf welchen Ebenen lässt sich untersuchen, wie sich im Comic ›eigene‹ und ›fremde‹ Formatierungsweisen und deren Angebotscharakteristiken begegnen können?

7.1.2 | Manga-Zeichensprache Die augenfälligste Formatierung des Manga liegt zweifellos in einem besonderen Umgang mit der Zeichensprache des Comics (vgl. hierzu auch Cohn 2013, S. 153– 172). Semiotische Formatierungen lassen sich damit als bestimmte Zeichenmodalitäten verstehen, die durch einen geregelten Bezug zwischen materiellen und strukturellen Eigenschaften einerseits und systematisch beschreibbaren Gestaltungs- und Gebrauchsregeln innerhalb einer bestimmten Nutzer_innengemeinschaft andererseits bestimmt sind (siehe Kap. 3). Die Manga-Formatierung beginnt bereits bei der (im Japanischen) ›umgedrehten‹ Leserichtung. Nachdem ins Deutsche übersetzte Manga vor dem Boom der 1990er Jahre noch gespiegelt auf westliche Gewohnheiten ›ummontiert‹ worden waren, ging der Carlsen Verlag mit Dragon Ball (1997–

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2000) erstmals das große Wagnis ein, die japanische Leserichtung quasi als Authentizitätsmerkmal beizubehalten. Ein entsprechender Hinweis auf der vermeintlichen Seite 1, dass hier tatsächlich das Ende des Bandes zu finden sei, markierte damit bereits an der Schwelle zum Werk dessen Fremdartigkeit. Lange galt die japanische Leserichtung auch als verpflichtend für alle Werke, die als Manga gelten wollten. Fülekis frühe Publikationen in der deutschen Manga-Anthologieserie Shounen Go! Go! (2008–2012) waren entsprechend auch alle in japanischer Leserichtung gehalten. Seit etwa 2012 entspannt sich dieser ›Formatierungszwang‹ sichtlich und viele Manga-Autor_innen passen die gewählte Leserichtung häufig wechselnd an den jeweiligen Inhalt oder die adressierte Leser_innenschaft an. Füleki kehrt in 78 Tage zur ›westlichen‹ Leserichtung zurück, parodiert in der Delfinium-Erstveröffentlichung (von 2008) gar die Behauptung der Authentizität, indem er seinen Leser_innen per Avatar auf der (›westlichen‹ und tatsächlichen) ersten Seite den folgenden Ausruf entgegenwirft: »Halt!! Du bist hier ganz richtig!! Das ist die erste Seite. Viel Spaß, Kumpel!« (zit. nach Füleki o. J., o. S.). Am typischsten für die Manga-Zeichensprache in 78 Tage dürfte der konkrete Umgang mit Schriftlichkeit und Bildlichkeit sein. Dieser geht gerade nicht mit der augenscheinlichen Differenz von sichtbaren gegenüber unsichtbaren Phänomenen einher (siehe bereits Kap. 2). Verschiedene Arten von Soundwörtern (on’yu, wörtlich ›Klangmetaphern‹) besitzen im japanischen Manga kalligraphische Züge und sind Teil der Handzeichnungen (und nicht des Druckverfahrens), wie bereits an Abbildung 7.1 zu sehen war. Sie beschränken sich auch nicht auf die Darstellung von Lauten. Neben lautimitierenden Worten (giongo) existieren im Japanischen viele zustandsimitierende oder mimetische Worte (gitaigo): Niko niko etwa bezeichnet den ›Zustand eines freundlichen Lächelns‹, shiin eine auffallende Stille. Viele psychologisch-symbolische Lautmalereien (shinriteki-shōchōteki-na gion) dienen ebenfalls oft der Charakterisierung des Innenlebens von Figuren (vgl. Sell/PasfieldNeofitou 2016). Füleki greift diese Formen auf, indem er augenscheinliche ›Soundwörter‹ (ganz wie mimetische gitaigo) humoristisch als beschreibende Kommentare einsetzt: »Wegwerf« (vgl. Füleki 2014a, S. 31), »Anzieh!« (ebd., S. 54), »Erschein!« (ebd., S. 101) oder »Schockwell!!!« (Füleki 2014b, S. 18; siehe auch Abb. 7.5 weiter unten). Linguistisch handelt es sich hierbei um Inflektive, Reduktionen von Tätigkeitswörtern, die im Deutschen nach der einflussreichen Disney-Übersetzerin Erika Fuchs auch scherzhaft als ›Erikative‹ bezeichnet werden (vgl. Teuber 1998). Um also japanische Sprachlichkeit zu parodieren, greift Füleki auf deutsche Übersetzungen USamerikanischer Comics zurück – oder zumindest auf Comickonventionen, die maßgeblich durch solche interkulturellen Begegnungen geprägt wurden. Eine weitere japanische Zeichenformatierung: In Kampfsequenzen übernehmen seitenfüllende Soundwörter fast die eigentliche Hauptrolle und organisieren die Anordnung der Bilder mit (siehe auch noch einmal Abb. 7.1 weiter oben). Die konkreten Lautfolgen sind dabei zumeist assoziativ und relativ willkürlich (»BrzZ!!«, »TSCHuuN!«), da vor allem ihre graphische Gestaltung Relevanz besitzt (vgl. Füleki 2014b, S. 31–36). Umgekehrt dürfen die Bilder des Manga nicht vorschnell als Darstellung sichtbarer Phänomene verstanden werden (was, wie in Kapitel 2.1.1 und Kapitel 4.1.1 ausgeführt wurde, für Comics generell, für den Manga aber in besonderem Maße gilt). Anders als es etwa für den Realfilm häufig angenommen wird, lassen die gezeichneten Bilder keinesfalls unvermittelt in die dargestellte Welt ›blicken‹. Auch wenn Filme, insbesondere fiktionale und digital produzierte Vertreter, sicherlich

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nicht als indexikalische Spuren einer aufgezeichneten ›Realität‹ missverstanden werden dürfen (vgl. Manovich 2001), bleibt die Illusion, ›unvermittelt‹ in Storyworlds blicken zu können, für die meisten Realfilme erhalten (und auch für viele Animationsfilme, die sich daran orientieren). Für die Bilder vieler Comics und der meisten Manga hingegen ist eine ›Ästhetik des Gemachten‹ (vgl. Backe et al. 2018) unübersehbar. Die Manga-Zeichensprache besteht etwa aus zahllosen piktogrammatischen Zeichen (Stephan Köhn spricht von Visuo-Symbolen; vgl. Köhn 2005, S. 85–88), deren Sinn sich ungeübten Betrachter_innen nicht unbedingt erschließt: Regenwolken über dem Kopf symbolisieren düstere Emotionen (vgl. Füleki 2014a, S. 13), Augen verwandeln sich bei Benommenheit in Spiralwirbel (vgl. ebd., S. 25). Viele dieser Visuo-Symbole gehen auf ursprünglich kulturspezifische Sprachmetaphern zurück, die aber seit langem Bestandteil der globalen Manga-Formensprache geworden sind (vgl. Shinohara/Matsunaka 2009). Typisch japanische Visuo-Symbole sind beispielsweise eine Blase (aus Mund oder Nase) als Zeichen für Schlaf, Blutstropfen (aus der Nase) als Zeichen für sexuelle Erregung oder ein überschattetes Gesicht als Zeichen für extremen Ärger (siehe auch Kap. 3). Gerade diesen allzu typischen ›Japan-Code‹ verwendet Füleki jedoch nicht, auf Einzelbildebene könnten seine Zeich-

Abb. 7.2: Zwei Nebenfiguren aus 78 Tage, die sogleich Opfer der Gewaltexzesse werden (Füleki 2014b, S. 52).

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Abb. 7.3: Der Grad an Cartoonisierung und Abstraktion wechselt urplötzlich in den chibi-Modus (Füleki 2014b, S. 53).

nungen häufig auch aus westlichen Einbild-Witzen, Karikaturen oder Zeichentrickfilmen stammen. Doch auch wo die Bilder konkrete Figuren und Gegenstände innerhalb der Storyworld zeigen, enthüllen sie oft gerade nicht, wie diese innerhalb der dargestellten Welt wahrnehmbar wären (siehe erneut Kap. 2 und Kap. 4). Protagonist_innen ›verwandeln‹ sich für die Dauer eines Bildes häufig in emoticonartige Versionen ihrer selbst (man nennt dieses Stilmittel chibi oder SD, super deformed). »Der Wechsel ins SD-Format dauert nur für den Zeitraum eines Panels an. In den folgenden Panels werden die Figuren wieder in ihrer normalen Gestalt gezeichnet« (Eckstein 2016, S. 137). Der Grad an Cartoonisierung und Abstraktion kann also von Bild zu Bild wechseln (vgl. Füleki 2014a, S. 176; 2014b, S. 72, 131; 2016, S. 26). In Abbildung 7.2 und Abbildung 7.3 lässt sich beispielsweise dasselbe Personenpaar in beiden Panels ausmachen. Die beiden sind in eine Unterhaltung vertieft, bis der männliche Protagonist Opfer eines blutigen Angriffs wird. Seine Begleiterin ›verwandelt‹ sich im gleichen Augenblick in eine Karikatur ihrer selbst, durch welche ihre inneren, affektiven Zustände repräsentiert werden – es handelt sich hier also keineswegs um eine ›magische‹ körperliche Verwandlung, sondern lediglich um eine Veränderung der bildlichen Darstellungsmittel. Die sichtbaren Unterschiede (in Cartoonisierung und Abstraktion) liegen damit im dritten Zeichenraum (siehe Kap. 2) und müssen von den Rezipierenden im Prozess der Intersemiose (siehe Kap. 3) metaphorisch gedeutet werden. Narratologisch gesprochen muss die darstellerische Entsprechung zwischen Zeichenmaterial und Storyworld in solchen Fällen also stets als verhältnismäßig ›indirekt‹ gedacht werden. Es findet keinerlei ›magische Verwandlung‹ statt, allenfalls handelt es sich um eine Form der subjektiven Darstellung (siehe Kap. 4). Selbst die Haarfarbe von Figuren kann im Manga im dritten Zeichenraum liegen (vgl. Packard 2006, S. 137; Wilde 2018a, S. 354–362) und alleine aus Gründen der formalen Gestaltung von Bildkomposition zu Bildkomposition wechseln; blonde Figurendarstellungen (wie in Naoko Takeuchis Sailor Moon) stehen nur selten für dargestellte Europäer_innen, häufig nicht einmal für Figuren mit blond gefärbten Haaren (vgl. Dolle-Weinkauff 2011, S. 35). Generell wird im japanischen Manga-Diskurs darum auch vertreten (vgl. Wilde 2018a, S. 110–112), dass es sich nicht um ›eigentliche Bilder‹ handele (die das Aussehen von Dingen, Personen oder Objekten wiedergeben), sondern um formelhafte Symbole und Abstraktionen, die eher bestimmte – häufig vage – Anweisungen an die Imagination und die inferenzielle Konstruktion von Storyworlds liefern (siehe Kap. 3 und Kap. 4). Viele dieser Konventionen lassen sich mit Bezug auf klassische japanische Unterhaltungsformen (wie das

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sogenannte Kabuki-Theater) deuten, die ebenfalls keine ›naturalistischen‹ Nachahmungen der physischen Wirklichkeit zum Ziel hatten (vgl. Natsume 1997, S. 89; Bouissou 2010, S. 20). Ungeübte haben vielfach Schwierigkeiten mit dieser kodifizierten Formatierung. Selbst Werke zu ernsten Themen wie Keiji Nakazawas Barfuß durch Hiroshima (2008) von 1973, in welchem der Autor das Trauma des Abwurfs der Atombombe behandelt, arbeiten mit gigantischen, schreienden oder lachenden Mündern, wasserfallartigen Tränenaugen und verzerrten Gliedmaßen, um die Affekte ihrer Protagonist_innen dazustellen. Nach Berndt gehört zu den typischen Erwartungen an diese ›Sprache‹ des Manga so auch, dass die Bilder schnell und auf einen Blick zu erfassen sein sollen, anstatt dass man sie kontemplativ betrachten müsste (vgl. Berndt 2015b). Ein besonders wichtiges Comicgestaltungsmittel stellen für Manga stets die PanelArrangements und das Seitenlayout als Ganzes dar (auf Japanisch spricht man bei beidem vom koma-wari, vgl. Natsume 2008, 2010), also Blickführung und spatio-topische Gestaltung (siehe Kap. 2). Dass Füleki die Angebotscharakteristiken dieser Manga-Gestaltung vielfältig einsetzt, wird insbesondere in den überbordenden Kampfsequenzen deutlich. Zwischen der Erstveröffentlichung von 78 Tage im Eigenverlag und der Neuauflage bei Tokyopop überarbeitete Füleki den ersten Band fast vollständig und zeichnete ihn größtenteils neu, ohne dass sich die Änderungen auf Ebene der Storyworld niederschlagen würden (siehe Kap. 4): Es geht alleine um Perfektionierung von Layout, Perspektivierung und Blickführung, um das Timing und den Rhythmus der Leser_innenblicke gekonnter anzusprechen und auf seitenlangen Kampfsequenzen den Eindruck von Bewegung, Dynamik und Kräfteverhältnissen widerzuspiegeln (»Merkt ihr’s? Da steckt viel mehr Drive drin!«, kommentiert Fülekis Avatar diesen Unterschied im redaktionellen Inhalt; Füleki 2014a, S. 176). Weniger die einzelnen Bilder und deren Inhalte, sondern das Arrangement des Layouts und der Umgang mit Soundwörtern und Bewegungslinien wird hier als zentrales Angebotscharakteristikum der Manga-Ausdrucksmittel herausgestellt. In Abbildung 7.4 etwa kann die zentrale Diagonale des ersten Panels (Roys AngriffsLinien mit einem Gummihuhn) als Einladung aufgefasst werden, den Blick auf die geworfene Waffe im darunterliegenden Panel folgen zu lassen, in welchem Roy die Waffe aus der Luft schnappt. Die über dem gleichen Schnittpunkt platzierte Sprechblase (»Komm zu Daddy!«) stellt sicher, dass dieses Seitenelement längere Aufmerksamkeit erfährt, da der entsprechende Text gelesen werden muss: der Blick der Rezipierenden kann so im Kontakt mit Roys Waffe ebenfalls arretieren (zu derartigen ›Bewegungsbahnen‹ vgl. auch Schüwer 2008, S. 66–82, 458–465). Die Hintergründe verschwinden oft vollständig und werden allein durch Folienzeichen und Geschwindigkeitslinien ersetzt (siehe erneut Kap. 2). In vielen Fällen bleibt unbestimmt, ob diese Linien den Eindruck optischer Unschärfe oder eher (metaphorische) innere Bewegung bzw. gewaltige (physische/psychische/magische) Kräfte repräsentieren. In Abbildung 7.5 etwa lassen sich zahllose Kreise, Strahlen und Linien um die kämpfenden Protagonisten herum erkennen, die für unbestimmte ›Kräfte‹ zwischen Wind, Staub, Licht, oder geheimnisvollen ›Energien‹ stehen. Viele entscheidende Momente sind zudem gerade nicht zu sehen, sondern bleiben der Imagination überlassen (siehe dazu auch Abb. 7.10 weiter unten). So vage die Manga-Bildlichkeit damit auch hinsichtlich des Dargestellten bleibt, umso wichtiger ist die Dynamik, die zwischen den Bildern entsteht und Angebote an den Leser_innenblick – quer über die Seitengestaltung hinweg – macht.

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Abb. 7.4: Panel-Arrangement als zentrales Gestaltungsmittel von 78 Tage (Füleki 2016, S. 107).

Abb. 7.5: Das Dargestellte in 78 Tage bleibt oft vage und unbestimmt (Füleki 2014b, S. 18).

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An anderer Stelle zeigt Füleki auch konkurrierende Formatierungsmöglichkeiten des Manga auf. Als seine gewalttätigen Protagonisten auf eine stereotyp dargestellte junge Dame treffen, werden die Darstellungskonventionen des sogenannten shōjoManga für weibliche Leserinnen übernommen (vgl. Füleki 2014a, S. 98): Hintergründe weichen subjektivierten Bildern figuralen Innenlebens, metaphorische Blumen wehen durch die Luft. Die spatio-topische Gestaltung des Layouts erweckt den Eindruck eines ikonisch dargestellten Scherbenhaufens. Durch den kurzzeitigen Wechsel ins Genre des Mädchen-Manga (shōjo) wird die strukturierende Funktion der Kategorie Gender für das Medium Comic im Allgemeinen sowie für den Manga im Speziellen deutlich: die dargestellte Welt wird gewissermaßen durch die Gender- und Genrelinse des konkurrierenden Jungen-Manga (shōnen) hindurch betrachtet (zu den damit nur angerissenen Fragen von Comics, Gender und Intersektionalität vgl. wiederum Sina 2016; siehe auch Kap. 6). Diese besonderen Gender- und Genrekonventionen können als zweite wichtige Analysekategorie der Interkulturalität erachtet werden: Es geht dabei nicht mehr primär um die Formatierung von Zeichen, mit denen Welten, Geschichten und Figuren dargestellt werden, sondern um eine kulturspezifische Formatierung eben dieser Welten, Geschichten und Figuren selbst. Erneut ist hierbei ein kurzer Blick auf den Kontext notwendig.

7.1.3 | Manga-Genrekonventionen Durch Manga wurden – in Deutschland, wie auch in den USA – neue Comicleser_ innenschaften erschlossen. Zugleich wurde damit nur deutlicher, dass die Comicproduktion und -rezeption aus Genderperspektive keinesfalls ›neutral‹ war, ist oder sein könnte. Bestand das Publikum zuvor zumeist aus jungen und heranwachsenden Männern, machen beim Manga verstärkt Leserinnen einen Großteil der neuen ›Comicgemeinschaften‹ aus. Dies hängt maßgeblich damit zusammen, dass sich Genrekonzepte im Manga wesentlich von ›westlichen‹ Konventionen unterscheiden. Während hierzulande durch Genres eher bestimmte thematische Erwartungen strukturiert zu werden scheinen (siehe wiederum Kap. 5), dienen Genres im japanischen Markt primär der Adressierung und Bildung einer alters- und geschlechtsspezifisch bestimmten Leser_innenschaft. Zwar müsste man diesen ersten Kontrast zunächst insofern wieder einschränken, als Genre und Gender generell Hand in Hand gehen und daher nicht voneinander zu trennen sind (siehe wiederum Kap. 6), doch ist dies im Bereich des Manga in vielfacher Hinsicht expliziter: dieser Zusammenhang muss hier nicht erst in der kritischen Analyse am Text herausgearbeitet werden, sondern wird auf allen Ebene der Manga-Zirkulation ganz explizit gemacht und auch mit Marktlogiken verbunden. Dies wiederum tut den Möglichkeiten zur subversiven Aushandlung von Identität keinen Abbruch. Zwar lassen sich auch japanische Manga nach thematisch-inhaltlichen Genres ordnen (wie Science-Fiction, Romance oder Fantasy) und selbstredend haben japanische Manga auch eigene inhaltliche Genres ausgebildet (zu denken wären hier etwa an Mecha-Abenteuer, die sich um Kämpfe zwischen futuristischen Kampfrobotern und gigantischen Monstern in Großstadtzentren drehen). Doch bis heute gilt: »Gender is the principle publishing classification for manga« (Prough 2010, S. 93; vgl. auch Prough 2011). Generell wird die Kluft zwischen den Geschlechtern in Japan als sehr groß empfunden (vgl. Mackie 2003). Im Manga wird diese durch

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das Publikationsformat des Magazins begünstigt, welches seit 1959 als Erstpublikationsort neuer Serien fungiert und sich stets an eine spezifische (alters-, geschlechts-, sexualitäts- oder berufsbestimmte) Leser_innenschaft richtet. Die Anzahl solcher seriell gedruckter Manga-Magazine beträgt in Japan immer noch über 200 jährlich (vgl. Berndt 2017a). Die typischsten japanischen Manga, die oben bereits genannt wurden, fallen in die Kategorie shōnen und richten sich an eine jugendliche, männliche Leserschaft zwischen 12 und 18 Jahren. Dem gegenüber steht das bereits angesprochene Genre shōjo, das primär junge Mädchen adressiert. Ältere Leserinnen suchen Publikationen aus dem Bereich josei, ältere männliche Jugendliche (etwa ab dem Studierendenalter) aus dem Bereich seinen. Diese Genderkategorien sind derart kodifiziert, dass sie sich auf beinahe jedes Manga-Gestaltungsmittel niederschlagen, von der visuellen Figurendarstellung über den Schrift- und Sprachgebrauch bis hin zum Layout der Panelanordnung. Der shōjo-Manga hat so seit den frühen 1970er Jahren eine sehr eigenständige Innovationsgeschichte durchgemacht (vgl. Toku 2007, 2015). Damit ist nun keinesfalls impliziert, dass es keine Querleser_innen gäbe. Bei der Klassifizierung eines Manga (als shōnen oder shōjo) handelt es sich vielmehr um die Kommunikation einer bestimmten Erwartung an Handlungsstrukturen, Figurenzeichnungen und -entwicklungen. Diese gemeinschaftlich geteilten Erwartungen sind unabhängig von thematischen Genrekategorien, also nicht etwa fest mit Sport-, Science-Fiction- oder Fantasy-Manga verbunden. Shōnen-Manga bieten sogar häufig eine Mixtur aus thematischen Genres. In ›westlichen‹ Comics wäre im Kontrast etwa ein urplötzliches Wechseln vom Hochdramatischen zum Slapstick eher ungewöhnlich. Für shōnen-Werke ist dies hingegen typisch (was sich selbst in ernsthaften Werken wie Barfuß durch Hiroshima wiederfindet lässt). Vereinfacht gesagt sind shōnen-Manga ausgesprochen handlungsbetonte Manga für ›Jungs‹, die einen meist männlichen Helden (oder eine Gruppe von Held_innen) bei einer abenteuerlichen Entwicklung begleiten (vgl. Drummond-Mathews 2010). Gefahren müssen überwunden, Widerständen muss getrotzt werden. Im Kern drehen sich die meisten shōnen-Werke damit um die Handlungsfähigkeit (agency) ihrer Protagonist_innen, welche durch äußere Herausforderungen innere Reifeprozesse durchleben, ohne aufgeben zu dürfen. Es stehen also oft keine komplexen sozialen Entwicklungen im Zentrum, sondern Figuren mit einem ansprechenden Character Design, mit denen Rezipierende sich besonders gut identifizieren können (sollen). Häufig werden diese Figuren dann in anderen medialen Kontexten weiterverwendet, etwa in eigenen Fanwerken (siehe Kap. 7.1.4). Genres können insofern kulturell formatiert sein, als darunter bestimmte typische Abfolgen von Ereignissen und Handlungen subsumiert sind, die in einer Gemeinschaft aus Autor_innen, Zeichner_innen und Leser_innen als wechselseitig bekannt vorausgesetzt werden. Andrea Braidt (2008) sieht die vielleicht wirkungsmächtigste Schnittstelle zwischen Genre und Gender insbesondere dort, wo es um die (erfolgreiche oder nicht erfolgreiche) Handlungsfähigkeit von Figuren geht (vgl. zur Übersicht auch Blaseio 2004). Genremuster stellen »die soziale Parallelisierung von Erwartungen und Handlungen in komplexen Handlungssituationen« (Braidt 2008, S. 105; vgl. auch bereits Braidt 2004) bereit. Das klassische Beispiel hierfür wäre das Melodram, in dem typische Männer üblicherweise anders agieren und interagieren als im Western. Auch dies lässt sich als ein generisches Angebotscharakteristikum auffassen: Die Storyworlds von shōnen-Manga sind durch ein bestimmtes Ethos gekennzeichnet,

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unabhängig davon, ob dieses im Weltraum, in einem Fantasy-Reich oder auf einem Mittelschule-Sportplatz angesiedelt ist. Gemeint ist mit Ethos »the explicit and implicit ethics of the world and (moral) codex of behaviour, which characters in the world are supposed to follow« (Klastrup/Tosca 2004, o. S.). Das shōnen-Ethos besteht zumeist darin, dass Probleme durch entschlossenes Handeln gelöst werden (und nicht etwa über langwierige Dialoge); dass die Held_innen nicht bereits ausgelernt haben, sondern inmitten einer fortwährenden Entwicklung stehen. Vor der Wahl zwischen Aufgeben und Durchhalten sollten sie sich stets für Letzteres entscheiden. Häufig sind die Geschichten phantastisch, so dass nicht nur ein privates Problem, sondern die Rettung der ganzen Welt auf dem Spiel steht. Obgleich die Genderkategorisierung im deutschen Manga nie eine so starke Rolle gespielt hat wie in Japan, dient sie auch Manga-Fans hierzulande zur Orientierung. Füleki verortet sich klar im Bereich des shōnen-Manga. Unter den in 7.1.1 vorgestellten, größtenteils weiblichen Germanga-Künstlern gehört er damit eher zu einer Minderheit. Obgleich die Hauptfigur Fülekis eigenen Namen trägt (was im japanischen shōnen so quasi nie vorkommt), handelt es sich ersichtlich keineswegs um ein autobiographisches Werk: Füleki verwandelt sich gewissermaßen selbst in einen shōnen-Helden, ein von der tatsächlichen Realität weit entferntes Manga-Wesen. Diese genrespezifische Figurenkonzeption muss bekannt sein, damit 78 Tage umfassend verstanden und analysiert werden kann. Umgekehrt legt Füleki aber auch viele Stereotypen offen, die mit diesen Angebotscharakteristiken verbunden sind. Gleich auf den ersten Seiten wird das ›Retten der Welt‹ parodiert, indem Defs und Roys Reise von dem Erzähler als »eine Reise, die über das weitere Schicksal aller Existenzen entscheiden sollte« eingeführt wird (Füleki 2014a, S. 11). Diese und viele andere ›Vorwegnahmen‹ erweisen sich aber als falsche Fährten, die später nicht mehr aufgegriffen werden. Dass die shōnen-typische Kampfstruktur häufig gewaltverherrlichende Züge besitzt, ist dem Genre als Angebotscharakteristikum inhärent und wurde immer wieder besorgt wahrgenommen, häufig sogar mit tatsächlichen Gewalttaten von Jugendlichen in Verbindung gebracht (vgl. Lamarre 2009, S. 248). Bei Füleki wird diese Kritik gewissermaßen umgedreht. Anders als typische shōnen-Abenteuer für Leser_innen ab 12 Jahren kennzeichnet Tokyopo 78 Tage mit dem Altershinweis »16 +«. Füleki bezeichnet die Aventüren seiner Helden im Einführungssatz auch sogleich als »Geschichte zweier junger Männer, die gesellschaftlich nicht untragbarer hätten handeln können. Zwei Soziopathen mit den Namen Roy und Def« (Füleki 2014a, S. 11). Immer wieder wird daran erinnert, dass es sich bei Roy um einen »Massenmörder« (ebd., S. 92) und einen »soziopathische[n] Psychokiller« handele (ebd., S. 93). Das Battle Royal, dem die Leser_innenschaft mit viel Freude folgen darf, wird von Def ebenfalls wenig schmeichelhaft eingeleitet: »Immerzu geraten wir in perverse und lebensverachtende Szenarien« (ebd., S. 76). Ohne dass es sich dabei um eine ernste Kritik am Genre handelt (die den Spaß an der Lektüre trüben würde), stellt Füleki hier doch geschickt die Genreregeln aus, die nicht mit der Realität verwechselt werden oder auf diese bezogen werden sollen. Ebenso wird aber auch mit Genderstereotypen verfahren, die in manchen Manga anzutreffen sind (siehe Kap. 6). Häufig handelt es sich dabei, wie soeben angeführt, um Vorerwartungen, was für Männer oder Frauen, Jungs oder Mädchen als angemessenes (und in der Storyworld als erfolgreiches) Handeln gilt. Als eine ihrer ersten Gegner_innen treffen Def und Roy auf eine stereotype Schönheit namens ›Ice

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Abb. 7.6: Die Bildgestaltung wechselt in shōjo-Zeichensprache (Füleki 2014a, S. 98).

Cream Lilly‹, die außer ihrer knappen Bekleidung und ihrer normierten Körperlichkeit über wenige Eigenschaften zu verfügen scheint. Die Figur Roy macht ihr flache Komplimente, die für sich genommen als stark sexistisch zu werten wären. Füleki macht deutlich, dass es sich um einen reflektiert-subversiven Umgang mit dem (vielfach fragwürdigen) Ethos des Genres handeln soll, indem er die shōnenBegegnung in shōjo-Zeichensprache ›übersetzt‹: Ice Cream Lilly entwickelt mitten im Kampf ›ungewollte Gefühle‹ für Roy, die durch einen innere Monolog dargestellt werden (»Was sind das nur für Gefühle...? Was hat dieser Roy mit mir gemacht...?«; Füleki 2014a, S. 93). Gemäß der stereotypisch weiblich konnotierten shōjo-Konventionen löst sich der Hintergrund in Dekomuster aus Lichtern und Farben auf, die Lillys Gefühlswelt symbolisch ausdrücken; Blüten wehen durchs Bild, ihre Gestalt erscheint als bloße Silhouette (siehe Abb. 7.6). Wie bereits angedeutet wurde, steht im shōjo-Manga das Innenleben der Protagonist_innen und die Darstellung ihrer sozialen Beziehungen im Zentrum. Formal macht sich dies durch mehrschichtige Seitencollagen, vorgelagerte Ganzkörperporträts und häufige Unterbrechungen des linearen Leseflusses bemerkbar: Die Panels sind also nicht mehr nacheinander (als einzelne ›Zeitmomente‹) angeordnet, sondern ineinander (als gleichzeitige ›Empfindungsmomente‹) verschränkt. Die wichtigsten narrativen Informationen werden über innere Monologe vergeben. Die Bedeutung der einzelnen Bildelemente ist dabei häufig nur metaphorisch erschließbar: »Blumen können darin sowohl für angenehme Gerüche als auch für Frühlingsgefühle stehen, Explosionen für inneren und äußeren Aufruhr, Lor-

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Manga

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beerkränze für einen Triumph, fallende Blätter für Melancholie und Depression« (Nielsen 2009, S. 349–350). Obwohl diese Formatierungsmöglichkeiten und ihre Angebotscharakteristiken quer zu thematischen Genrekategorien liegen, bleiben sie meist über Werk und Serie hinweg konsistent. Fülekis abwechselnder Bruch mit beiden Formatierungsweisen (also denen des shōnen- und denen des shōjo-Manga) macht deutlich, wie Genrekategorien immer auch mit Genderkategorien verbunden sind. Ähnlich wie Kampf und Zerstörung als generischer Handlungsansatz können diese Kategorien in der ironischen Reflexion ausgestellt werden. Ob das ironische Spiel, wie es hier beschrieben wurde, tatsächlich als subversiv aufzufassen ist oder problematische Stereotype wie in Abbildung 7.6 nicht dennoch bestätigt werden, kann aus dieser kurzen formalen Untersuchung allerdings nicht entschieden werden. Die mutmaßlichen oder tatsächlichen Intentionen des Künstlers wären dafür auch nicht alleine ausschlaggebend. Hier müsste gerade eine detaillierte intersektionale Analyse ansetzen (siehe hierzu auch erneut Kap. 6). Der beschriebene Umgang mit Genrekonventionen richtet sich in jedem Fall an eine bestimmte Leser_innschaft, die sie einzuordnen weiß. Dies führt zum vielleicht zentralen Aspekt der Manga-Formatierung zurück: ihr Eingebundensein in kommunikative Gemeinschaften aus Zeichner_innen und Rezipierenden, zwischen denen sie vermitteln; Gemeinschaften, die durch Manga sogar maßgeblich hervorgebracht werden. Dieser Umstand soll unter dem Begriff der ›Manga-Mediation‹ noch einmal eingehender beleuchtet werden.

7.1.4 | Manga-Mediation ›Medium‹ meint auf Latein ganz wörtlich ›das Mittlere‹ oder das, was sich zwischen zwei Dingen befindet und dadurch eine Beziehung oder ein Austauschgeschehen erzeugt (vgl. zur Übersicht Grampp 2016; Kampmann/Schwering 2017). Mit MangaMediation ist der Umstand angesprochen, dass Manga insbesondere zwischen Autor_innen, Zeichner_innen und Leser_innen vermitteln und verbinden und so ein bestimmtes Kommunikationsgefüge erzeugen, das ohne sie nicht existieren würde. Dadurch werden zugleich bestimmte mediale Handlungsrollen erzeugt – wie die Unterscheidung in Künstler_innen und Leser_innen, die ja nicht ›von Natur aus‹ besteht. Wer Manga als geschlossene ›Werke‹ behandelt, läuft Gefahr zu übersehen, was sie eben zu Medien macht: Sie schaffen, in Japan wie international, kulturelle Gemeinschaften und ›Mangascapes‹ im Sinne Malones, in denen die Beteiligten ihre Identitäten (oft in Abgrenzung zu als dominant empfundenen kulturellen Gemeinschaften) anders aushandeln und sich durch eine Aneignung und Internalisierung von Manga-Formatierungsweisen geradezu ›heimisch‹ fühlen können. Manga stellen aber nicht nur eine Vermittlung und Verbindung – eine Mediation – zwischen Künstler_innen und Rezipierenden her, sondern auch zwischen vielen anderen Teilen der sie umgebenden Medienökologie. Japanische Manga sind etwa typischerweise in (trans)mediale Kontexte aus Animationsfilmen, Realfilmen oder Computerspielen eingebunden (siehe auch die allgemeineren Überlegungen in Kap. 5). Erfolgreiche Serien werden häufig sofort in mediale Verwertungsketten überführt, durch die man die gleichen Figuren in einer Vielzahl an Medien wiedertreffen kann. Als besonders bedeutsam hat sich der Einfluss von Computerspielen auf den Manga erwiesen. Japanische Autoren wie Gō Itō (2005) oder Hiroki Azuma (2007)

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Interkulturelle Comicanalyse

haben darauf aufmerksam gemacht, dass sich gegenwärtige Manga nicht mehr adäquat erfassen lassen, wenn man sie mit Literatur, Film oder anderen Erzählmedien vergleicht. Für Jugendliche seien längst Computerspiele zum zentralen Leitmedium aufgestiegen, deren Imitation und Nachahmung sich der Manga zunehmend verschrieben habe (vgl. dazu Kacsuk 2016). Ein solcher Einfluss ist auch auf 78 Tage unübersehbar, worauf hier aber nicht genauer eingegangen werden soll. Während derlei Verzahnungen zwischen Medien in Europa oder den USA unter Schlagwörtern wie Medienkonvergenz oder transmedia storytelling verhandelt werden (für einen knappen Überblick vgl. z. B. Thon 2015; sowie ausführlicher zum japanischen Kontext Steinberg 2012), existieren ähnliche Perspektiven in Japan schon länger unter etwas anderen Begriffen (vgl. Wilde 2018b; zu Medienbegriffen im Japanischen vgl. etwa Schäfer 2017 oder Steinberg/Zahlten 2017). ›Mediation‹ kann als ein allgemeiner Übergriff verwendet werden, der auch Intertextualität und Intermedialität umfasst, also die Beziehung auf andere Texte, Serien oder Medien (etwa durch Formzitate oder Parodien, vgl. Rajewsky 2002; Leschke 2003, S. 306–318; Rippl/Etter 2015; siehe auch Kap. 5). Vor allem Berndt hat immer wieder darauf hingewiesen, dass Formen der Mediation für einen genauen Blick auf den Manga mindestens genauso wichtig sein dürften wie alle dargestellten Inhalte und deren Bedeutungen (vgl. Berndt 2019, S. 7). Es empfiehlt sich demnach, darauf zu achten, welche Kommunikationsgemeinschaften (innerhalb der weiteren Medienlandschaft) mit und durch Manga hervorgebracht werden. Das geht über eine ›Textanalyse‹ hinaus, insofern es eben eine Untersuchung der Kontexte, der Publikationsgeschichte sowie der Verwendungsweisen von dargestellten Welten, Geschichten und Figuren nahelegt – oft über viele einzelne Artefakte hinweg. Dennoch lassen sich auch in spezifischen Werken häufig Hinweise und Spuren einer solchen Manga-Mediation finden. In 78 Tage können sie insbesondere in den rahmenden Begleittexten nachvollzogen werden, in denen ein Avatar des Autors immer wieder Aspekte der Mediation transparent macht und reflektiert. Auf seiner Webseite schreibt Füleki etwa häufig besondere Aktionen aus, wie sein Avatar berichtet: Das Zombie-Heer, das ab Kapitel 4 die Insel angreift, geht fast vollständig auf tatsächliche Leser_innen zurück, die ihm zu diesem Zweck Bildmaterial von sich zukommen ließen (»Makaber, oder?«; Füleki 2014b, S. 65). Figuren wie der ›Battle Maverick Garet‹ gehen unmittelbar auf eingesandte Vorschläge von Leser_innen zurück, die dafür Entwürfe zur Verfügung stellten (vgl. ebd., S. 138); und immer wieder dürfen Gastzeichner_innen konkret in das Werk eingreifen. Der dritte Band endet gar mit einem kollaborativen Feuerwerk, in dem sechs namhafte Zeichner_innen wie Natalie Wormsbecher, Sascha Wüstefeld oder Sarah Burrini die Abenteuer von Def und Roy in unterschiedlichsten Storyworlds fortdenken. Für den japanischen Manga wäre eine solch direkte Interaktion zwischen Künstler_innen und Fans eher unüblich. Dort funktioniert die Interaktion (die Mediation) zwischen Künstler_innen und Fans zumeist über einen besonderen Umgang mit Figuren. Im japanischen dōjinshi (Fan-Manga) wird zu etwa 90 % auf Figuren aus bereits bestehenden Werken zurückgegriffen, um diese um- und weiterzuschreiben; es handelt sich damit quasi um Fan Fiction (vgl. Hellekson/Busse 2006) in MangaFormatierung. Die Duldung solcher Urheberrechtsverletzung durch große Verlage, ein ›stillschweigendes Einverständnis‹ (anmoku no ryōkai, vgl. Noppe 2010; Hülsmann 2016), ist in Japan weiterhin kulturell noch stark etabliert. Dōjinshi zu bestehenden Werken gelten in den meisten Fällen nicht als Piraterie oder Kopie, son-

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Manga

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dern als kreative Zweitproduktion (niji sōsakubutsu), die den Inspirationsvorlagen zusätzliche Legitimität verleiht (vgl. Tamagawa 2012; McInerney 2018). Figuren fungieren damit in Japan häufig als Schnittstellen oder Knotenpunkte innerhalb von Manga-Gemeinschaften. Sie können in eigentlich unvereinbaren Storyworlds zugleich auftreten, sind an keine bestimmte diegetische Biographie gebunden und legen ihre jeweiligen Rollen wie Masken an und ab. Zwar existieren selbstredend auch bei populären westlichen Figuren manchmal alternative Versionen gleichzeitig (etwa der Wolverine aus Marvels Comicuniversum und aus dem Filmuniversum; siehe auch Kap. 5). Manche Forscher_innen sprechen dabei dann jedoch von verschiedenen Figuren gleichen Namens. Im japanischen Kontext wird die Identität vieler Figuren im Kontrast häufig gerade nicht über einen Storyworld-Kontext bestimmt. Vergleichbar mit westlichen Cartoonprotagonist_innen wie Bugs Bunny oder Daffy Duck, die wie Schauspieler_innen in unterschiedlichen Storyworlds auftreten, können solche ›Figuren‹ also rekontextualisiert – und dabei stets neu formatiert – werden, ohne dass es ihrer Identität einen Abbruch täte. Ganz im Gegenteil, es scheint sogar eine ihrer medialen Besonderheiten auszumachen, ›flottierende Signifikaten‹ zu bleiben (siehe erneut Kap. 5). Da es umstritten ist, ob beides gleichermaßen als ›Figuren‹ bezeichnet werden kann, empfiehlt es sich, bei Zweiteren – Knotenpunkten zur Rekontextualisierung innerhalb von Fankulturen – die japanische Spezialbezeichnung kyara zu verwenden (vgl. Wilde 2018a, 2018b). Im deutschen Germanga-Bereich scheint ein ›parasitärer‹ Einsatz von Figuren als kyara noch relativ selten – auch aus juristischen Gründen, denn selbstredend verletzen die meisten dieser Praxen das Urheberrecht (vgl. Decomain 2014, S. 100). In kaum einer anderen Hinsicht unterscheidet sich die deutsche und die japanische Manga-Kultur so deutlich voneinander. Füleki geht indes sehr kreativ mit dem medialen Potenzial der Figurenrekontextualisierung – der Mediation durch Figuren – um. Manche seiner Protagonist_innen sind an Literaturklassiker angelehnt, wo keine klagenden Rechteinhaber_innen zu erwarten sind. Neben Max und Moritz tritt ein sinisterer Pinoccio auf (vgl. Füleki 2016, S. 10), andere Protagonist_innen stellen leicht veränderte Parodien bestehender Figuren dar (etwa aus Pokémon oder Dragon Ball). Die Originaltexte und -figuren werden über ihre Verwendung als kyara aber zugleich umgedeutet: Waren Max und Moritz in Wilhelm Buschs Werk noch positiv besetzte Lausbuben, überzeichnet Füleki sie als überhebliche PseudoGangster, die am meisten um ihren Ruf besorgt sind (»Unsre Streiche sin’ voll Mafia, ey!!«; Füleki 2014a, S. 63). 78 Tage gibt aber zugleich spielerisch vor, es handele sich um die identischen Figuren derselben Storyworld – sie kommen vor ihrem Zusammentreffen mit Def und Roy unmittelbar von der Witwe Bolte, wie man es bei Busch quasi ›nachlesen‹ kann. Zugleich setzt Füleki beide Werke damit jedoch in eine originelle Relation: Im Wetteifern ihrer ›lustigen Streiche‹ können Def und Roy dem Brathühnerdiebstahl ihrer Konkurrenten entgegenhalten, dass sie zuvor einem Interpolagenten, »der uns wegen Schwerverbrechen einbuchten wollte, ’nen riesigen Holzpflock durch den Wanst gerammt« (ebd., S. 64) haben. Durch den Aufgriff der bestehenden Figuren (Max und Moritz) werden so zugleich die ›Originale‹ (und Buschs Werk im Gesamten) kommentiert: Seine Helden waren eigentlich nur Tunichtgute, sein ›generisches Ethos‹ ziemlich langweilig, konfrontiert man ihn mit Fülekis shōnen-Storyworld und den darin bestehenden Handlungsmöglichkeiten für Figuren. Mit Entoman hat Füleki indes einen eigenen kyara geschaffen, die sich quer zu all seinen Serien bewegen kann. Da Entoman noch aus Fülekis frühesten Experi-

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Interkulturelle Comicanalyse

Abb. 7.7: Ein Avatar des Autors adressiert die Leser_innenschaft und berichtet über die Publikationsgeschichte von 78 Tage (Füleki 2014b, S. 138).

menten stammt, bleibt seine Körperdarstellung auch vor detailliertesten Hintergründen auf eine Art abstraktes Strichmännchen reduziert (siehe wiederum Abb. 7.4 weiter oben). Die Cartoonisierung erreicht hier eine maximale Ausprägung, insbesondere gegenüber anderen Cartoongruppen der detaillierter gezeichneten CoProtagonist_innen (siehe Kap. 2). Ab Kapitel 8 von 78 Tage treten schließlich auch Figuren eines anderen Germanga-Autors auf: Marcel Hugenschütts Alter Ego ›Hugi‹ und sein tierischer Begleiter Joe, ein menschenfressender Elefant. Zur Zeit der Erstpublikation von 78 Tage sind diese parallel in Hugenschütts nicht weniger anarchistischen ›Trash-Manga-Serie‹ Elefantenfriedhof (2011–2013) eingeführt worden (vgl. Hugenschütt 2018). Derlei ›Crossover‹ und Kollaborationen finden sich insbesondere ab dem Jahr 2005 in der jungen Germanga-Szene sehr häufig. Neben dem Online-Forum Animexx fungieren etwa die acht Bände der Anthologie-Serie Shounen Go! Go! (2008– 2012) als regelrechte Tauschplattform für Figuren, die allesamt eine gemeinsam gestaltete ›Go!Go!verse‹-Storyworld bewohnten (vgl. Wild 2015). Fülekis Webcomic Studieren mit Rind (2007–2014) brachte viele Protagonist_innen seiner damaligen Mitkünstler_innen zusammen, die sich wiederum an seinem Figurenpersonal bedienen durften. Das Go!Go!verse war als ›Multiversum‹ konzipiert, so dass auch widersprüchliche und unvereinbare Fassungen von Figuren und Ereignissen problemlos nebeneinander bestehen konnten (vgl. wiederum Thon 2015). Damit begegnen sich gewissermaßen die figurenvermittelte japanische Manga-Mediation (Fans greifen Figuren bestehender Werke als kyara auf und erzählen deren Geschichten weiter) mit der direkteren Germanga-Mediation (Leser_innen und befreundete Zeichner_innen interagieren unmittelbar mit Künstler_innen und deren Serien).

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DavidFülekis FülekisStruwwelpeter. Struwwelpeter. Die Die Rückkehr Zum ZumBeispiel: Beispiel:David Rückkehr (2009)

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Von all dem erzählt 78 Tage in seinen Begleittexten, durch die ein Avatar des Autors führt und dabei die Publikationsgeschichte der Serie beleuchtet. In Abbildung 7.7 sieht man einen ›David Füleki‹ (unterschieden vom ›Def‹ der gewöhnlichen 78 Tage-Storyworld), der seine Leser_innen scheinbar aus der Seite heraus anblickt und in direkter Rede adressiert, um mehr über die Publikationsgeschichte des gerade gelesenen Kapitels zu erzählen und auf Leser_innen-Interaktion aufmerksam zu machen. Auch hierbei handelt es sich scheinbar um eine gängige Konvention der Manga-Formatierung. Im (japanischen wie auch deutschen) shōjo-Bereich geben sich die Autorinnen häufig in Kommentarspalten zu erkennen, um sich für die Qualität ihrer Zeichnungen zu entschuldigen oder die Entstehung der Geschichte zu kommentieren (vgl. Eckstein 2016, S. 175–182). Wenn bei dieser Form der Mediation zwischen Autor_innen und Rezipierenden gewöhnlich die Authentizität entscheidend ist, so deutet Füleki auch dieses Element kreativ um: Im einleitenden Begleittext zu Band 2 behauptet Fülekis Avatar etwa, er habe seine Hände durch einen »Unfall im Sägewerk« (Füleki 2014b, S. 5) verloren und könne nun nicht mehr zeichnen. Stattdessen ruft er die österreichische Mangaka Melanie Schober (bekannt etwa für Personal Paradise, 2008–2011) zu Hilfe, die für einige Seiten übernimmt. Auch der Begleittext ist damit fiktionalisiert und die vermeintlich auktoriale Erzählerfigur ›David Füleki‹ stellt sich als Bestandteil einer rahmenden Storyworld heraus, die sich durch Fülekis gesamte Publikationsgeschichte zieht (vgl. Füleki 2014a, S. 178). In dieser spielerischen Mediation zwischen Künstler_innen und Fans ist die eigentliche Besonderheit des Manga als einem formatierten Medienbereich zu suchen, die sich von sonstigen Comics recht deutlich unterscheidet. Diese Zusammenhänge sind zwar wesentlich außerhalb des eigentlichen Werks zu finden, werden zugleich aber erst durch einen kreativen Manga-Umgang erzeugt und ausgedeutet. Dabei geht es weniger um ›literarische Inhalte‹, sondern um die Herstellung einer bestimmten (Jugend-)Kultur- und Ausdrucksform, die sich in Deutschland von der tatsächlichen Manga-Formatierung in Japan ebenso sehr unterscheidet, wie sie ihr im Vergleich zu anderen Comicbereichen doch auch ähnelt. 78 Tage setzt sich so auf allen Ebenen der Formatierbarkeit von Comics – Zeichen, Genre, Mediation – mit den Konventionen des japanischen Manga auseinander, schafft dabei aber auch genuin Neues. In kaum einem Aspekt fühlt Füleki sich ›japantreuer Authentizität‹ verpflichtet. Dennoch kann er auf die am Manga geschulte Medienkompetenz seiner Leser_innenschaft vertrauen, die dem selbstbewussten Spiel mit Genuss zu folgen vermag. Als abschließendes Analysebeispiel soll ein anderes Werk von Füleki herangezogen werden, dem eine durchaus ernsthafte Beschäftigung mit seinem Stoff kaum abzusprechen ist: Struwwelpeter. Die Rückkehr (2009b).

7.2 | Zum Beispiel: David Fülekis Struwwelpeter. Die Rückkehr (2009) Struwwelpeter. Die Rückkehr ist vom Publikationsformat her zunächst einmal eher Manga-untypisch. Es handelt sich um einen abgeschlossenen, 174-seitigen Band, der vom Verlag Tokypop zum 200. Geburtstag Heinrich Hoffmanns in Auftrag gegeben wurde. Explizit wurde »die Manga-Adaption eines klassischen deutschen litera-

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Abb. 7.8: Struwwelpeter-Originaltexte neben Füleki-Illustrationen im großen Buch der Störenfriede (Füleki 2009a, S. 5).

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Zum Beispiel: David Fülekis Struwwelpeter. Die Rückkehr (2009)

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rischen Werks« (Füleki 2014b, S. 170) angestrebt (wie erneut dem Rahmentext von 78 Tage zu entnehmen ist). Da das Jubiläum der Figuren Max und Moritz bereits vorüber war, »gingen Tokypop und ich zum nächstgelegenen Klassiker über: dem Struwwelpeter« (ebd.). Fülekis Avatar Def tritt hier auch nicht selbst auf, ebenso wenig wie das weitere Personal seiner sonstigen Figurenriege (wie Entoman). Stattdessen lassen sich hier Protagonist_innen aus Heinrich Hoffmanns Kinderbuch von 1845 in einer dystopischen Zukunft wiedertreffen und ›neuen Abenteuern‹ des titelgebenden Protagonisten folgen. Die Geschichte beginnt mit Struwwelpeters Rückkehr von einer langen Weltreise, nach der dieser überrascht feststellt: Zuhause wird er als Staatsfeind Nr. 1 »tot oder lebendig« (Füleki 2009b, S. 13) gesucht, denn: Hier herrscht nun Ordnung! Er aber gilt als der größte der legendären Störenfriede, steht für Unordnung und Anarchie – und so etwas hat man »seit Jahren nicht mehr gesehen« (ebd., S. 19). Nikolaus, der bei Hoffmann noch für die Vollstreckung von Sanktionen zuständig war, hat sich nun zum Herrscher durchsetzen können und wacht gemeinsam mit dem Jäger (vgl. ebd., S. 25) über die Einhaltung der Ordnung. Um die Menschen aus der Tristesse und Langeweile zu befreien, muss Struwwelpeter zunächst die anderen legendären Störenfriede ausfindig machen und rekrutieren – die Riege aller unbraven Kinder um Zappelphilipp, Suppenkaspar und Hans Guck-in-die-Luft, die Hoffmann in seinen moralisierenden Reimen zu erziehen suchte und grausam bestrafen ließ. Es handelt sich also um die ›Re-Formatierung‹ eines europäischen Klassikers in die Formensprache des Manga, was keinesfalls selten vorkommt. Franca Feil (2018) etwa argumentiert, dass Manga seit den 1970er Jahren eine Schlüsselrolle darin zufallen, europäische Klassiker für ein globales Publikum wiederzubeleben. Im Rückgriff auf die eingeführten Analysekategorien lässt sich genauer betrachten, wie dies im Falle von Fülekis Struwwelpeter vonstattengeht. Abhängig von den jeweiligen Besonderheiten eines Werks und der gewählten Fragestellung kann es sinnvoll sein, die Analysekategorien in unterschiedlichen Reihenfolgen anzuwenden. Im Folgenden wird daher gewissermaßen ein Blick von ›weit weg‹ bis zu ›nahe dran‹ gewählt: Die folgende Analyse setzt bei der Mediation ein, blickt dann genauer auf Genrefragen und endet schließlich bei der Zeichensprache. Obwohl das abgeschlossene und nicht kollaborativ entstandene Büchlein vom Publikationsformat her eher Manga-untypisch ausgefallen ist, stellt der Umgang mit Hoffmanns Figuren doch eine äußerst originelle Anwendung der figurenvermittelten Manga-Mediation (Figuren als kyara) dar. Der Bezugspunkt, Hoffmanns Struwwelpeter von 1845, ist natürlich deutlich zu erkennen. Der titelgebende Held bietet sich für eine Manga-typische Rekontextualisierung geradezu an, da er bereits im Original als einzige Figur in keine Geschichte integriert war: Hoffmann hatte ihn zunächst ad hoc als Lückenfüller auf den weißen Papiergrund der letzten Seite platziert. »[W]egen seines verwegenen Aussehens bildete er für das kindliche Interesse den Hauptanziehungspunkt« (Ries 2016, S. 13). In dieser Hinsicht (sicher nicht in vielen anderen) gleicht er also durchaus modernen Manga-kyara, die ebenfalls eher durch ein prägnantes und attraktives Character Design definiert sind als durch eine (bestimmte) Geschichte in einer (bestimmten) Storyworld. Fülekis Manga-Adaption steht zudem in einer langen Reihe von Struwwelpeter-Adaptionen und Parodien (unter anderem bereits 1860 von niemand geringerem als Wilhelm Busch; vgl. Ries 2016, S. 16 sowie umfassend Gohrbandt 2010). Die Bilder, die heute präsent sind, wurden sogar maßgeblich durch

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eine frühe russische ›Übersetzung‹ von Gregorij Hohenfeld beeinflusst, an dessen Neuzeichnungen sich Hoffmann wiederum selbst für die endgültige Fassung von 1857 orientierte. Die interkulturellen Begegnungen gehen also weit zurück. Interessant an der Tokyopop-Variante ist zunächst, dass der Verlag zeitgleich zu Struwwelpeter. Die Rückkehr eine höchst ungewöhnliche ›Neuzeichnung‹ des Originals auf den deutschen Markt bringen ließ: Struwwelpeter. Das große Buch der Störenfriede (vgl. Füleki 2009a). In diesem, ebenfalls von Füleki illustrierten Bilderbuch finden sich die kompletten Originaltexte des Struwwelpeters, die jedoch neu bebildert wurden (siehe Abb. 7.8). Zugleich taucht ein Werk gleichen Titels, eben Das große Buch der Störenfriede, in der Storyworld von Struwwelpeter. Die Rückkehr selbst auf – und zwar als Kampfschrift des Nikolaus, die dieser verfassen und unters Volk bringen ließ. Der autoritäre Ton der »Warngeschichten« (Ries 2016, S. 18) wird damit einem neuen, fiktiven Autor (Nikolaus) zugeschrieben, der dafür höchst eigennützige Motive hat: Es geht ihm schließlich um nichts anderes als die Unterwerfung seines Reiches und die Unterdrückung aller Widerstände. Doch auch die Zeichnungen Hoffmanns werden Nikolaus’ Regime zugeschrieben: auf einem Steckbrief (»Gesucht – tot oder lebendig«; Füleki 2009b, S. 12; siehe Abb. 7.9) ist der OriginalStruwwelpeter zu sehen, was die shōnen-Version von Füleki abschätzig mit »Was’n hier los?! So bescheuert seh ich gar nicht aus!« (ebd., S. 13) kommentiert. Füleki zieht die Figuren des Originals somit heran, als wären sie nicht an einen (bestimmten) Text eines bestimmten Autors gebunden, sondern als könnten sie zwischen Werken bzw. deren Storyworlds umherwandern. Dabei handelt es sich aber nicht um eine ›glatte‹ oder unkritische Auseinandersetzung mit dem Original: Die drei Knaben, die im Original den »Mohr« (Hoffmann 2013, S. 6) verspotten, bekommen als »die rassistischen Typen von Platz vier« (Füleki 2009b, S. 54) lediglich eine kurze Erwähnung in Fülekis Werk. Durch diese Mediation zwischen Manga und Original, durch die Rekontextualisierungen der Figuren, kommt es zu zahlreichen weiteren Umdeutungen: Plötzlich sind die »Störenfriede« – abgesehen eben von den drei »Rassisten« (ebd.) – die Held_innen, aus dem Autor der Originaltexte wird ein autoritärer Tyrann.

Abb. 7.9: Die ursprüngliche Struwwelpeter-Illustration wird in Die Rückkehr zum Wanted-Poster (Füleki 2009b, S. 12).

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DavidFülekis FülekisStruwwelpeter. Struwwelpeter. Die Die Rückkehr Zum ZumBeispiel: Beispiel:David Rückkehr (2009)

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Gegenüber dem blutigen 78 Tage folgt Fülekis Struwwelpeter den shōnen-Konventionen wesentlich treuer: Es handelt sich um eine actionreiche Abenteuergeschichte voll dramatischer Wendungen, Überraschungen und Kämpfe, die aber für Jugendliche ab 13 Jahren konzipiert wurde. Gefechte fallen nicht blutig aus, der Ton bleibt optimistisch und die Handlung endet in einem versöhnlichen Happy End. Die bekannten Figuren werden als Manga-Helden neu eingeführt, die dem Ethos und den Angebotscharakteristiken einer shōnen-Storyworld für Jugendliche unterworfen sind. Im Mittelpunkt stehen nicht ihr individuelles Innenleben, sondern ihre denkwürdige und einprägsame visuelle Gestaltungen. Struwwelpeters lange Fingernägel werden als Klauenhände umgedeutet, mit denen sich bestens gegen Soldaten kämpfen lässt. Seine langen Haare sind nun eine Afro-Frisur, aus der er allerhand nützliche Gegenstände hervorzaubern kann: Die Figuren sind also auf die Bewältigung von Konflikten ausgelegt, um – auch hier nun – die Welt zu retten! Füleki nimmt auch zahlreiche Anleihen aus Science-Fiction-, Fantasy- und Superheld_innen-Comics, so dass sich der Zappel-Philipp etwa mit atemberaubender Geschwindigkeit bewegen kann, solange er genug Kaffee zu trinken bekommt. Paulinchen wiederum wird als unheimliche Pyromanin eingeführt, die in einem Hochsicherheitslabor der Regierung gefangen ist und mit Medikamenten unter Kontrolle gehalten werden muss. Die Anleihen gegenüber Katsuhiro Otomos Manga-Klassiker Akira (1982–1990) sind hier unverkennbar: Der Topos von Experimenten an gefährlichen ›Super-Kindern‹ mit telekinetischer Begabung wurde durch dieses Werk fest im populärkulturellen Manga-Gedächtnis verankert. Es bleibt aber bei einem Zitat: Das shōnen-Genre lässt es niemals so ernst werden wie im aufgerufenen Original Akira. Wenn Menschen in Struwwelpeter verletzt werden, tragen sie nur piktogrammatische Visuo-Symbol-Beulen davon; und selbst als ein Mann Feuer fängt, erzeugt dies lediglich einen komischen Effekt, der keine ernstlichen Konsequenzen nach sich zieht (vgl. Füleki 2009b, S. 68). Während die Gewaltdarstellungen in 78 Tage also recht drastisch ausfallen, werden sie hier vor allem Hoffmann zugeschrieben. Die ›Übersetzungen‹ seiner Originaltexte in neue Illustrationen (im Großen Buch der Störenfriede) lassen die Brutalität der Szenarien erschreckend hervortreten. Die Kinder, mit denen dort so grausig verfahren wird, erscheinen plötzlich nicht mehr aus historischem Abstand als bloße Symbole für Ungehorsam, sondern als Manga-Helden, mit denen man mitfiebert und deren Abenteuern man emphatisch folgt. Umso drastischer erscheint es nun, wenn dem Daumenlutscher auf blutige Weise der Finger abgeschnitten wird (vgl. Füleki 2009a, S. 17). Während die Manga-Zeichensprache im Großen Buch der Störenfriede auf VisuoSymbole (etwa Schweißperlen und innere Bewegungslinien) und Figurenästhetik beschränkt bleibt, zieht Füleki im Hauptwerk Struwwelpeter. Die Rückkehr alle Register, um einen dynamischen Manga-Lesefluss zu generieren. Shōnen-gemäß wechseln sich höchst detaillierte Hintergründe mit chibi-Abstraktionen von Figuren ab. In Actionsequenzen werden die Bildräume häufig fast gänzlich durch speed lines und Soundwörter gefüllt. Die Darstellung vieler Kampfszenen wäre für ›westliche‹ (etwa US-amerikanische) Actionserien ebenfalls unüblich. Als etwa Hase und Jäger wieder aufeinandertreffen und einen dramatischen Showdown bestreiten, zeigen die vier, auf einen Blick erfassbaren Panel nichts vom eigentlichen Kampfgeschehen: Es bleibt bei der Ausgangs- und Endsituation, Großaufnahmen ihrer Gesichter sowie einem rätselhaften Soundwort (»ZACK!«; Füleki 2009b, S. 163). Das eigentliche Ereignis bleibt ganz der Imagination der Rezipierenden überlassen (siehe Abb. 7.10).

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Interkulturelle Comicanalyse

Abb. 7.10: Bekannte Figuren im Manga-Arrangement von Struwwelpeter. Die Rückkehr (Füleki 2009b, S. 163).

Auch wenn so insbesondere die Dynamik der narrativen Darstellung (Blickführung und spatio-topische Gestaltung) sich etablierter Manga-Formatierungen und ihrer Angebotscharakteristika bedient, finden sich auch formale Elemente, die eher untypisch sind: Erneut ist die Leserichtung ›westlich‹ (von links nach rechts) gehalten, manche Figuren scheinen eher aus einer Zeitungskarikatur oder einem US-amerikanischen Cartoon-Film als aus einem japanischen Werk zu stammen. Schließlich darf nicht übersehen werden, dass Füleki sich dem wichtigsten formalen Gestaltungsmittel Hoffmanns bedient und dieses in neues Gewand kleidet: dem Reim. Durchgehend wird das Werk von gereimter Erzähler_innenrede durchzogen, die das Geschehen in humoristischer Weise kommentiert. Teile der Originalgedichte werden sogar direkt zitiert und in neuem Kontext fortgeführt: »Seht her, das macht‹ ihn weltbekannt: Der Afro und die Krallenhand. Seinen Namen kennt hier jeder: Es ist – pfui! – / Der Struwwelpeter!!!« (Füleki 2009b, S. 13–14). Entstanden ist damit eine dezidiert interkulturelle Neuinterpretation von Hoffmanns Werk durch eine ›Re-Formatierung‹ in der Formensprache des Manga. Durch eine bestimmte Strukturierung der Manga-typischen Mediation bestehender Texte ergibt sich eine neue Perspektive auf Hoffmanns Schauplätze, Figuren und Werte. So sehr sich Hoffmanns Struwwelpeter und Buschs Max und Moritz zunächst auch voneinander unterscheiden mögen – die moralische Warnung, die bei Hoffmann noch im Zentrum stand, wurde von Busch in einen kurzen Vorspruch verbannt, seine Helden bleiben so unpädagogisch wie möglich –, so sehr gleichen sie sich doch in anderen Aspekten, wie der Busch-Forscher Hans Ries bemerkt. Nicht nur dass beide Werke den europäischen Comic geradezu vorbereitet haben, nein: »Bei beiden Büchern ist entscheidend, dass ihre Helden keiner Besserung unterliegen. Sie sind – und bleiben! – Helden im Bösen« (Ries 2016, S. 20). Gerade diese Grundannahme der Hofmannschen Erzählungen kehrt Füleki aber um: Selbst Friederich, der Wüterich, der sich gegen Ende des Bandes als heimlicher Schurke und finsterer Drahtzieher hinter dem dystopischen Regime entpuppt, kann geläutert werden. Sein größter Streich sollte die erzwungene Ordnung werden, damit

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Fazit

7.3

er endlich als »der unangefochten größte Störenfried« (Füleki 2009b, S. 154) gelten kann. Struwwelpeter und seine Freunde können ihn hingegen daran erinnern, dass Streiche vor allem lustig sein sollten. Das versöhnliche Ende lässt die Figuren im Lichte des shōnen-Ethos triumphieren: Das Chaos, die ›Struwwelisierung‹ der Welt, darf bestehen, nun aber im Lichte des Vergnügens und der Freundschaft.

7.3 | Fazit Wie die Analysen dieses Kapitels gezeigt haben, bleibt das Themenfeld der Interkulturalität keineswegs auf die Untersuchung ›exotischer‹ Sonderfälle von Comics beschränkt. Ganz im Gegenteil lässt sich in der interkulturellen Comicanalyse der Schlüssel zur kulturellen Verortung eines jeden Comics ausmachen, mit der die vorigen Analyseverfahren kontextspezifisch präzisiert werden können. Auch die Untersuchung von Fankulturen lässt sich schließlich als Sonderfall der Kulturanalyse betrachten. Bei der Betrachtung von Comics aus kulturellen Gemeinschaften, mit denen nur wenige Praxen und/oder keine gemeinsamen Sprachen geteilt werden, sind die kulturellen Kontexte nur unübersehbarer und nötigen geradezu zu entsprechenden Reflexionen, die sonst vielleicht eher ausgeblendet bleiben können. Die interkulturelle Comicanalyse verlangt in jedem Fall Kenntnisse über die jeweiligen Formatierungsweisen und ihre entsprechenden Angebotscharakteristika und lässt sich daher nicht ohne Weiteres auf beliebige kulturelle Kontexte übertragen. Bereits für den chinesischen Manhua (vgl. Lent/Ying 2017) oder den koreanischen Manhwa (vgl. Brienza 2004) sind viele der angeführten Manga-Formatierungen nicht unmittelbar einschlägig – auch wenn sich dies auf den ersten Blick nicht unbedingt sehen lässt (vgl. Berndt 2013). Asiatische Nachbarländer Japans sind auf Zeichenebene etwa durchaus von den Darstellungskonventionen des Manga beeinflusst, haben aber andere seiner Formatierungsweisen gerade nicht übernommen. Beispielsweise konnte sich das Erstpublikationsformat des Magazins, das für die Manga-Mediation so wichtig ist, nirgendwo sonst in der Welt ebenso durchsetzen. Damit sind viele weitere mediale Unterschiede in Sachen Leser_innenschaft, Genreerwartungen, kulturellem Status und der Einbettung in die weitere Medienökologie verbunden, die in der Comicanalyse überaus relevant sein können (vgl. erneut Kacsuk 2018). Wie kann eine interkulturelle Comicanalyse verfahren, wenn sie sich in noch ›fremdere‹, hierzulande eher unbekannte kulturelle Kontexte vorwagt, beispielsweise in die Comickulturen des arabischen Raums? Die angeführten Spezialbegriffe (wie Visuo-Symbole oder kyara) wären sicher kaum übertragbar. Auch die übergreifenden Analysekategorien (Zeichen, Genre und Mediation) können nur eine erste Annäherung bieten. Entsprechend mag der hier vorgestellte Werkzeugkasten zwar auch dort einen produktiven Ausgangspunkt der Analyse bilden, muss aber um weitere Elemente erweitert werden. Er ersetzt keine Recherche und kein Studium, in dem zunächst etwas über die Traditionen und Beharrungskräfte einer Comickultur gelernt werden muss, sei es durch wissenschaftliche Forschungsliteratur (wo sie vorhanden ist), anhand journalistischer Erkenntnisse, durch Gespräche mit Künstler_innen, Leser_ innen oder Expert_innen – und natürlich nicht zuletzt durch viele eigene Leseerfahrungen.

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Interkulturelle Comicanalyse

Primärliteratur Füleki, David: »Manga-Madness. Comicserien« (o. J.), http://manga-madness.de/serien/ page1.html (30.04.2019). Füleki, David: »Studieren mit Rind« (2007), http://www.mycomics.de/comic/3241-studierenmit-rind.html (30.04.2019). Füleki, David: Struwwelpeter. Das große Buch der Störenfriede. Hamburg 2009a. Füleki, David: Struwwelpeter. Die Rückkehr. Hamburg 2009b. Füleki, David: 78 Tage auf der Straße des Hasses 1. Lausbuben Battle Royal. Hamburg 2014a. Füleki, David: 78 Tage auf der Straße des Hasses 2. Boston Bleach Bones. Hamburg 2014b. Füleki, David: 78 Tage auf der Straße des Hasses 3. Im Angesicht des Spielführers. Hamburg 2016. Hoffmann, Heinrich: Der Struwwelpeter. Ungekürzte Fassung. Köln 2013. Hugenschütt, Marcel ›Hugi‹: Elefantenfriedhof 1 [2011]. Krumbach 52018. Nakazawa, Keiji: Barfuß durch Hiroshima 1. Kinder des Krieges [1973]. Hamburg 2008. Park, Judith: Dystopia. Love at Last Sight. Hamburg 2004. Sakurazaka, Hiroshi 桜坂洋/Takeuchi, Ryūsuke 竹内良輔/Obata, Takeshi 小畑健: All You Need is Kill 2. Tokyo 2014. Wild, Michael (Hg.): Shounen Go! Go! Special. Norderstedt 2015. Allgemeine Literatur Berndt, Jaqueline: »Manga, Which Manga? Publication Formats, Genres, Users«. In: Andrew Targowski/Juri Abe/Hisanori Katō (Hg.): Japanese Civilization in the 21st Century. New York 2016, 121–134. Berndt, Jaqueline (Hg.): Manga, Comics and Japan. Area Studies as Media Studies. Special Issue Orientaliska Studier 156 (2018), https://orientaliskastudier.se/okategoriserade-en/156 (30.04.2019). Brienza, Casey (Hg.): Global Manga. ›Japanese‹ Comics without Japan? Farnham 2015a. Johnson-Woods, Toni (Hg.): Manga. An Anthology of Global and Cultural Perspectives. New York 2010. Kacsuk, Zoltan: »Re-Examining the ›What Is Manga‹ Problematic. The Tension and Interrelationship between the ›Style‹ versus ›Made in Japan‹ Positions«. In: Arts 7/26 (2018), 1–18. Köhn, Stephan: Traditionen visuellen Erzählens in Japan. Eine paradigmatische Untersuchung der Entwicklungslinien vom Faltschirmbild zum narrativen Manga. Wiesbaden 2005. Malone, Paul M.: »Mangascape Germany. Comics as Intercultural Neutral Ground«. In: Mark Berninger/Jochen Ecke/Gideon Haberkorn (Hg.): Comics as a Nexus of Cultures. Essays on the Interplay of Media, Disciplines and International Perspectives. Jefferson 2010, 223– 234. Raud, Rein: Meaning in Action. Outline of an Integral Theory of Culture. Cambridge 2016. Richter, Steffi: »›Trans‹ and ›Inter‹. An Attempt at Definition«. In: Jaqueline Berndt (Hg.): Manhwa, Manga, Manhua. East Asian Comics Studies. Leipzig 2012, 117–129. Sell, Cathy: »Manga Translation and Interculture«. In: Mechademia 6 (2011), 93–108. Zitierte Literatur Azuma, Hiroki 東浩紀: Gēmu-teki riarizumu no tanjō. Dōbutsu-ka suru posutomodan 2 [Die Geburt eines ludischen Realismus. Die animalisierende Postmoderne, Teil 2]. Tokyo 2007. Backe, Hans-Joachim/Eckel, Julia/Feyersinger, Erwin/Sina, Véronique/Thon, Jan-Noël Thon (Hg.): Ästhetik des Gemachten. Interdisziplinäre Beiträge zur Animations- und Comicforschung. Berlin 2018. Bainbridge, Jason/Norris, Craig: »Hybrid Manga. Implications for the Global Knowledge Economy«. In: Toni Johnson-Woods (Hg.): Manga. An Anthology of Global and Cultural Perspectives. New York 2010, 235–252. Berndt, Enno: »Manga-Geschäftsmodelle im Zeitalter der Digitalisierung. Comic-Markt Japan«. In: Comic! Jahrbuch 2018 (2017a), 174–179. Berndt, Jaqueline: »Considering Manga Discourse. Location, Ambiguity, Historicity«. In: Mark W. MacWilliams (Hg.): Japanese Visual Culture. Explorations in the World of Manga and Anime. Armonk 2008, 295–310.

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Fazit

7.3

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Interkulturelle Comicanalyse

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Fazit

7.3

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Fazit

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8

8 Personenregister A Alaniz, José 166 Altman, Rick 118, 120 Anhut, Anjin 126, 131, 141 Aristoteles 114 Ault, Donald 30 Azuma, Hiroki 205 B Bal, Mieke 80, 82, 88 Balzer, Jens 33 Barr, Glenn 87 Barry, Lynda 104 Barthes, Roland 19, 33, 51, 117 Bateman, John 51 Bazin, André 144 Beauvoir, Simone de 165 Bechdel, Alison 104, 170 Bellot, Gabrielle 162 Bellstorf, Arne 82 Bendis, Brian Michael 133 Berndt, Jaqueline 191, 199, 206 Bolland, Brian 167 Braidt, Andrea 202 Braun, Christina von 153 Brenner, Robin 193 Brienza, Casey 187, 189, 193 Burns, Charles 81, 94 Burrini, Sarah 206 Busch, Wilhelm 207, 211, 214 Busiek, Kurt 136 Butler, Judith 153, 180 C Campbell, Joseph 115 Carey, Mike 80 Chute, Hillary 170 Clowes, Daniel 82 Coates, Ta-Nehisi 133, 138–139 Cocca, Carolyn 168 Cohn, Neil 28, 51, 63–65 Coogan, Peter 116, 118–120, 136, 140, 147 Coogler, Ryan 139 Crenshaw, Kimberlé 151 Crocker, Elisabeth 158, 161 Crumb, Robert 73, 75 Currie, Gregory 27, 78 D Dath, Dietmar 136 DeMattei, J.M. 87 demian5 36 Derrida, Jacques 132, 162

Ditko, Steve 126 Ditschke, Stephan 126, 131, 141 Dolle-Weinkauff, Bernd 189 Dyer, Richard 157 E Ecke, Jochen 125 Eckstein, Kristin 193 Eco, Umberto 4, 51, 115–117, 126, 131, 140 Eisner, Will 27 Ernst, Christoph 185 F Fegredo, Duncan 87 Feil, Franca 211 Finger, Bill 38 Forceville, Charles 52, 55, 57–58 Frahm, Ole 26, 33, 178 Frye, Northrop 114 Fuchs, Erika 196 Füleki, David 9, 190, 194, 196–197, 199– 200, 203–207, 209, 211–213 G Gaiman, Neil 78, 81, 83 Garland-Thomson, Rosemarie 165–166, 168 Gaydos, Michael 133 Genette, Gérard 80–82, 88 Gibbons, Dave 78, 81 Ginsberg, Elaine K. 161 Gloeckner, Phoebe 170 Grant, Barry Keith 116, 118–119 Groensteen, Thierry 27, 29, 88 Gross, Peter 80 Grünewald, Dietrich 155 H Hage, Anike 193 Hall, Stuart 157–158, 162 Harvey, Colin B. 132 Hatfield, Charles 5 Herman, David 88 Herriman, George 158–159, 161–162, 171 Hescher, Achim 88 Hochstaedter, Robert 155–156 Hoffmann, Heinrich 209, 211–214 Hohenfeld, Gregorij 212 Horikoshi, Kōhei 192 Horstkotte, Silke 88 Hugenschütt, Marcel 208

J.B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Packard et al., Comicanalyse. Eine Einführung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04775-5

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Personenregister

I Isayama, Hajime 192 Itō, Gō 205 J Janin, Mikel 38 Janson, Klaus 24 Jewitt, Carey 51 Johnson, Derek 124 Jung, C.G. 115 Jüngst, Heike E. 193 K Kacsuk, Zoltan 187 Kane, Bob 38 Kaufmann, Daniela 171–172, 178 Kelleter, Frank 138 King, Tom 38, 44 Kirby, Jack 138 Kishimoto, Masahi 192 Klein, Amanda Ann 132 Kleiner, Bettina 154 Klug, Nina-Maria 51–52 Köbsell, Swantje 164–165 Köhn, Stephan 189, 197 Koike, Kazuo 142 Kojima, Goseki 142 Krafft, Ulrich 30–31, 33–34 Krämer, Sybille 19 Kress, Gunther 49, 53 Krützen, Michaela 128 Kukkonen, Karin 88 Küppers, Carolin 152 L Labs, Robert 192 Lee, Stan 126, 138 Leka, Kaisa 9, 151, 170–178, 180 Lemke, Jay 59 Lévi-Strauss, Claude 117 Liebrand, Claudia 156 Lim, Victor Fei 52 Liu, Marjorie 34 Lloyd, David 83 Lopez, Julian 168 Lotman, Juri 126, 141 Luhmann, Niklas 13 M Malone, Paul M. 193, 205 Mangold, James 9, 114, 140, 144–146 Martindale, Kathleen 157 Mathieu, Marc-Antoine 134 Mawil 8, 49, 62–64, 66, 68 Mazzucchelli, David 83

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McCloud, Scott 20, 22, 26–27, 31, 52, 54–62, 64 McKean, Dave 132 McLuhan, Marshall 19 McNiven, Steve 9, 114 Mikkonen, Kai 88 Millar, Mark 9, 114, 140, 143, 163 Miller, Frank 24, 80, 83, 91, 94, 128, 132, 140, 142 Milligan, Peter 87 Misener, Leah 7 Moore, Alan 78, 81, 83, 167 Morrison, Grant 132, 136 Müller, Marcus 52 N Nakazawa, Keiji 199 O Obata, Takeshi 192 Oda, Eiichirō 192 O’Malley, Brian Lee 187 Otomo, Katsuhiro 213 P Palmer, Barton 132 Panofsky, Erwin 119 Pape, Helmut 18 Park, Judith 192 Pasarin, Fernando 168 Pedri, Nancy 88 Peirce, Charles Sanders 17–18, 21, 59 Pekar, Harvey 133 Pérez, George 138 Plaka, Christina 192 Propp, Vladimir 115 Pym, Anthony 189, 193 Q Quesenberry, Krista 176 R Rancière, Jacques 27 Raud, Rein 188, 190 Rimmon-Kenan, Shlomith 80, 82 Romita Jr., John 163 Romu, Lena 178, 180 Ross, Alex 136 Ryan, Marie-Laure 76 S Sakai, Stan 187 Sakurazaka, Hiroshi 192 Sann, Marei 193 Satrapi, Marjane 28, 170 Saussure, Ferdinand de 16–17

Personenregister

Schatz, Thomas 136 Scheinpflug, Peter 117, 120 Schober, Melanie 209 Schröer, Marie 179 Schüwer, Martin 88 Schwartz, Simon 15–16, 18–20, 23 Seifert, Roy 194 Sell, Cathy 187, 195 Smith, Jeff 82 Spiegelman, Art 25, 104, 170–171, 178 Spivak, Gayatri Chakravorty 162 Stein, Daniel 4, 138 Steiner, Ines 156 Stephan, Inge 153 Stöckl, Hartmut 51–52 Straczynski, J. Michael 135 Sun Ra 139 T Takeda, Sana 34 Takeuchi, Naoko 192, 198 Takeuchi, Ryūsuke 192 Thompson, Craig 9, 73, 81, 99, 108

8

Thon, Jan-Noël 88 Todorov, Tzvetan 115 Töpffer, Rodolphe 3 Toriyama, Akira 192 Trinkwitz, Joachim 6 V Vanhook, Kevin 168 van Leeuwen, Theo 49 Vieweg, Olivia 193 W Walton, Kendall 76 Ware, Chris 81, 89 Welke, Manfred 3 Werner, Lukas 133 Wiesing, Lambert 33 Williams, Ian 172 Wittgenstein, Ludwig 119 Wolfman, Marv 138 Womack, Ytasha L. 139 Wormsbecher, Natalie 206 Wüstefeld, Sascha 206

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9 Werkregister A „Abstract Expressionist Ultra Super Modernistic Comics“ 73, 75 Acht, Neun, Zehn 82 Akira 213 All You Need Is Kill 192 American Splendor 133 Are You My Mother? 104 Arkham Asylum 132 Attack on Titan 192 B Banzai 192 Barfuß durch Hiroshima 199, 202 Batman 14, 38 Batman. Hush 122 Batman. The Dark Knight Returns 24, 128, 132, 136, 140 Batman. The Killing Joke 167 Batman. Year One 83 Black Hole 81, 94 Black Panther 133, 138 Black Panther vs. Deadpool 133 Bone 82 Brooklyn Dreams 87 C Civil War 68, 126 Crisis on Infinite Earth 138 D Daisuki! 192 Detective Comics 129 Diary of a Teenage Girl, The. An Account in Words and Pictures 170 Dragic Master 192 Dragon Ball 192, 195, 207 drüben! 15 Dystopia. Love at Last Sight 192 E Elefantenfriedhof 208 Enigma, The 87 Entoman 194 F Fun Home. A Family Tragicomic 170 G Ghost World 82, 86 Gothic Sport 193

H Habibi 9, 73, 81, 99–100, 106, 108 How to Draw Manga 193 I I Am Not These Feet 9, 151, 170, 172, 174– 175, 178–180 Incredible Hulk, The 142 J Jimmy Corrigan. The Smartest Kid on Earth 81, 89 K Kick-Ass 163 Kinderland 8, 62, 66 Krazy Kat 158–159, 162 L League of Extraordinary Gentlemen, The 89 Lone Wolf and Cub 142 M Manga Fieber 192 Manga Power 192 Marvels 136 MAUS 25–26, 104, 170–172, 178 Max und Moritz 214 Monstress 34 My Hero Academy 192 N Naruto 192 O Old Man Logan 9, 114, 140, 142–144, 147 One! Hundred! Demons! 104 One Piece 192 Oracle. The Cure 168 P Peanuts 25 Persepolis 28, 170 Personal Paradise 209 Plastic Chew 192 Pokémon 207 Prussian Blue/Yonen Buzz 192 R Rōnin 80

J.B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2019 S. Packard et al., Comicanalyse. Eine Einführung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04775-5

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Werkregister

S Sailor Moon 192, 198 Sandman, The 78, 81, 83, 87 Sandman, The. Preludes & Nocturnes 83, 85 Sandman, The. Season of Mists 94 Sandman, The. Worlds’ End 87 Scott Pilgrim 187 Shounen Go! Go! 196, 208 Sin City 81, 88 Sin City. From Hell and Back 91 Sin City. Hell and Back 94 Spider-Man 130, 136 Spider-Man. Blue 131 Struwwelpeter (1845) 211 Struwwelpeter. Das große Buch der Störenfriede 212 Struwwelpeter. Die Rückkehr 9, 190, 209, 213 Studieren mit Rind 208 Superman 121

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T 78 Tage 194, 196, 199, 203, 206, 208, 213 U Understanding Comics 20, 54, 57, 62 Unwritten. Tommy Taylor and the Bogus Identity, The 80 Usagi Yojimbo 187 V V for Vendetta 83 W Watchmen 78, 80–82, 87, 135–136 When I am King 36 World’s Finest 125 Y Yellow Kid, The 33