CoachAusbildung: Ein strategisches Curriculum [2 ed.] 9783896445681, 9783896735683

Coaching unterstützt Menschen darin, ihre Wahrnehmung zu erweitern, entscheidungsfähig zu werden, Verhaltensalternativen

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CoachAusbildung: Ein strategisches Curriculum [2 ed.]
 9783896445681, 9783896735683

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2., überarb. u. erw. Auflage

Rolf Meier ⎮ Axel Janßen

CoachAusbildung − ein strategisches Curriculum

Verlag Wissenschaft & Praxis

Dr. Rolf Meier ⎪ Dipl.-Päd. Axel Janßen

CoachAusbildung – ein strategisches Curriculum 2., überarb. u. erw. Auflage

Verlag Wissenschaft & Praxis

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-89673-568-3 © Verlag Wissenschaft & Praxis Dr. Brauner GmbH 2011 D-75447 Sternenfels, Nußbaumweg 6 Tel. +49 7045 930093 Fax +49 7045 930094 [email protected] www.verlagwp.de © Einbandbild: sellingpix – Fotolia.com

Alle Rechte vorbehalten Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis

Vorwort Die Mitwirkenden und die sehr, sehr herzliche Danksagung

Seite 8 11

1 1.1

Coachinganlässe Coachingansätze im Vergleich

12 15

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7

Theorie vom „Selbstorganisierten Coaching” Theorieverständnis Definition und Begriffe Axiome Begründungen und Herleitungen Empirische Operationalisierung und Postulate Praxiseinsatz Kontextualisierung

23 24 25 25 26 27 29 31

3

Grundlagen — Strukturmerkmale des Curriculums und ihre Deutung

34

4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8

Kompetenz in der systemischen Betrachtung Kompetenz als Anspruch Kompetenzmodelle Das Kompetenzmodell der Hamburger Schule Die Interdependenz von Kompetenz Anspruchsgruppen an Kompetenz Potenzialanforderungen an Auszubildende und Ausbilder Kompetenz und grundlegende Pflichten des Ausbilders Die Multifunktionalität des Ausbilders — Der Mentor

37 37 37 38 39 40 44 47 58

5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9 5.10

Didaktik und praktische Handhabung Die Didaktik einer Ausbildung Axiomatik der systemisch-konstruktivistischen Didaktik und Methodik Die inhaltliche Ebene der Didaktik Die Feedbacksystematik als curriculare Kontrollinstanz Zentrale Lernmethoden und Ihre Entwicklung Planung der Ausbildung orientiert am Kompetenzmodell Die Lernzieltaxonomie innerhalb des Kompetenzmodells Die Lern- und Zielorganisation einer Ausbildung Beispiel eines Ausbilderleitfadens Dramaturgie

60 60 61 62 63 66 79 80 82 87 95 5

Seite 6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9 6.10

Fähigkeiten des Coach Einleitung Selbsteinschätzung des eigenen Verhaltens Fragen Bedeutungen und Zusammenhänge klären Hypothesenbildung auf Abstraktionsebene Prozess führen Angebote auf Abstraktionsebene Perspektivwechsel auslösen Kommunikationskontext vereinbaren Branchen-, themenspezifische oder kulturelle Fähigkeiten

97 97 98 101 105 108 112 129 140 143 146

7

Identifikation von pädagogischer und betriebswirtschaftlicher Qualität Die Zertifizierung — Überprüfung von Coachkompetenzen Kriterienkatalog für die Auswahl von Coachs

151 151 157

Rechtliche, normative und betriebswirtschaftliche Bezüge einer Ausbildung Recht im Coaching PAS 1093 (Deutsches Institut für Normierung e.V., 10. Juli 2009) Marketingkonzeption und ihre Merkmale Der Businessplan und seine Merkmale

164 164 190 191 192

7.1 7.2 8 8.1 8.2 8.3 8.4 9 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5

Die mentale Vorbereitung und Durchführung eines Coaching Das Modell der kritischen Erfolgsfaktoren im Coaching Zentrale Werte und Normen des Managementcoaching Denken in Kontexten — das MVWK-Modell Coachingdokumentation — Thema „Freiraum” Coachingdokumentation — Thema „Führungskraft in turbulenten Strukturen”

194 194 195 195 197

10

Ausbildungsbezogenes Wörterbuch

252

11 11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 11.6

Coachingrelevante Wissensgebiete Andragogik Axiomatik Betriebswirtschaft Curriculum Entscheidungstheorie — ET Führung

303 304 315 321 328 337 343

6

213

Seite 11.7 11.8 11.9 11.10 11.11 11.12 11.13 11.14 11.15 11.16 11.17 11.18 11.19 11.20 11.21 11.22 11.23 11.24 11.25 11.26 11.27 11.28 11.29 11.30 11.31 11.32 11.33 11.34 11.35 11.36 11.37 11.38 11.39

Führungswissen für den Führungsalltag Glaube Handlungslernen Kommunikation Konsequenzen aus der psychologischen Lernforschung Konstruktivismus/pädagogischer Konstruktivismus Kreativität Lehren und Lernen Lernen Linguistik Logik Marketing und Markenmanagement Motivationspsychologie — Motive und Motivation Naturheilkunde Neuro-Linguistisches Programmieren — NLP Neurowissenschaftliches Wissen für Veränderungen und Lernen Pädagogik Philosophie Psychologie Psychologie der Enscheidung Psychotherapie Rechtswissenschaft Semantik besser verstehen Soziologie Strategie — eine Begriffsführung Supervision Systemtheorie Transaktionsanalyse — TA Visionen — woher und wofür? Werte — Lichtspiele Wissenschaftstheorie Ziele Autorinnen und Autoren der Coaching relevanten Wissensgebiete

354 364 370 380 391 399 406 414 424 435 443 449 456 478 489 507 526 534 544 552 559 575 587 591 603 612 623 632 640 646 652 659 664

Persönliches Nachwort der Herausgeber

668

7

Vorwort Wie wirkt Coaching? Die Frage zielt auf den Coachingprozess und auf das Coachingergebnis. „Wie wirkt Coaching?” wird auch als Wirkungserwartung verstanden und manchmal umschrieben mit Coachingansatz. Coaching ist aber auch im sprachlichen Alltag Synomym für Beratung, Training, Supervision und manches mehr. „Coaching“ ist also kein geschützter und klar definierter Begriff. Das Thema Coaching zu deuten oder zu verstehen beinhaltet, sich des situativen und thematischen Rahmens bewusst zu sein, aus dem heraus dies unter Mitwirkung vieler Beteiligter geschieht. Wir haben Coaching einen eigenen Rahmen (Kontext) gegeben, der sich bewusst von beratenden oder therapierenden Verständnissen distanziert, um Coaching zur Eigenständigkeit zu verhelfen. Aus diesem gedeuteten Kontext heraus verstehen wir auch die Ausbildung zum Coach. In erster Linie ist dieses Buch für Kolleginnen und Kollegen geschrieben, die eine Coachausbildung kreieren wollen. Doch ist es auch möglich, die eigene Coachsausbildung anhand der angebotenen Strukturen zu bewerten und vielleicht zu optimieren oder zu legitimieren. Mit diesem Buch möchten wir Ihnen — auch zur Diskussion und Weiterentwicklung der Thematiken Coach, Coaching und Ausbildung zum Coach — eine Orientierung anbieten und die kompetenzorientierte Planung einer eigenen Ausbildung ermöglichen. Wie wir Coaching verstehen Unserem Verständnis nach ist Coaching ein dramaturgisch geleiteteter Kontext, der sich durch konsequente Orientierung an den Werten Freiheit, Freiwilligkeit, Ressourcenverfügung und Selbststeuerung im Verhalten des Coach auszeichnet. Durch einen geordneten Coachingprozess (methodisches Vorgehen) soll erreicht werden, dass der Coachee sich selber in Bezug auf sein Veränderungsthema analysiert und bewertet. Mit der selbstständigen Suche durch den Coachee nach geeigneten Ressourcen für die durch ihn zu initiierten neuen Verhaltensalternativen wollen wir durch Wahrnehmungserweiterungen die Entscheidungsfähigkeit des Coachee sichern. Coaching, seine Legitimation (verstanden als Haltung) und seine Handhabung (verstanden als Handwerk), können wir nur in einem systemisch-konstruktivistischen Verständnis begreifen. Daraus leiten wir den Begriff „autonomes Coaching” ab und verstehen darunter ein Coaching, das ohne direkte oder indirekte Denk- und Lösungsbeeinflussung durch den Coach als Prozessverantwortlicher im Veränderungsvorhaben des Coachee auskommt. Wir beschreiben und begründen, wie es geht, in Theorie und Praxis. Coaching selber ist keine Wissenschaft, setzt aber viel Wissen aus Wissenschaften voraus. Menschenbild Die Diskussion über Coaching beinhaltet immer die Frage nach dem Menschenbild, das dem Coaching zugrunde liegt. Das Menschenbild im Kontext „autonomes Coaching” orientiert sich am ...

8

1. Konstruktivismus Der Konstruktivismus impliziert, dass der Mensch alle thematischen Zusammenhänge aus sich heraus identifiziert, bewertet und deutet. Grundsätzlich ist er Ausdruck für eine wissenschaftliche Denk- und Erkenntnishaltung, die davon ausgeht, dass Wissen, Erkenntnisse, Vorstellungen und andere Inhalte nicht naturgegeben sind, sondern vom Menschen als erkennendes Subjekt konstruiert werden. Unser Wahrnehmungsvermögen, unsere Sprache und unsere kognitiven Strukturen „begrenzen” grundsätzlich unser Wissen. Diese Tatsache gilt unabhängig vom Intellekt. 2. allgemeinen Persönlichkeitsrecht Der Ursprung des Coaching kann in dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG zur freien Entfaltung der Persönlichkeit gesehen werden. Es schützt nicht nur den individuellen Achtungsanspruch einer Person, sondern auch die individuelle Lebensgestaltung. Dieses Freiheitsgrundrecht leitet sich aus der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG und der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG ab. 3. Humanismus Der Humanismus beschreibt den Menschen als Einheit von Körper, Seele und Geist. Durch seinen Geist ist der Mensch sich seines Selbst bewusst. Er besitzt ein Selbstbewusstsein und damit einhergehend die Fähigkeit, sowohl über die Gegenwart als auch die Vergangenheit zu reflektieren und die Zukunft zu planen. Das menschliche Selbstbewusstsein beinhaltet auch die reflektierte Erkenntnis des anderen. Dieser Ansatz ist — soweit uns bekannt — bisher einzigartig. Auf Basis der damit gegründeten Theorie vom „Selbstorganisierten Coaching” haben wir das „Curriculum der Coachausbildung nach der Hamburger Schule“ entwickelt. Mit Hamburger Schule wird pointiert die Erklärungssystematik zum Coachingverständnis in Tiefe und Breite bezeichnet. In Hamburg ist sie entwickelt worden und in Hamburg wird sie als Coachausbildung gelehrt und gelernt. Mit diesem Buch wollen wir Ihnen eine Orientierung über strategische Elemente eines curricularen Systems zur Ausbildung zum Coach anbieten Wir gehen davon aus, dass Sie Begrifflichkeiten, definitorische Deutungen von Sachverhalten oder Axiomatiken im Zusammenhang von Coaching und Coachausbildung als Innovation in den nachfolgenden Seiten kennenlernen werden. Dazu zählen: • Konstruktivismus als eine bedingende Deutungsgrundlage, • systemisches Verständnis als Antipode zu systemtheoretischen Verständnissen, • die Theorie vom Selbstorganisierten Coaching, • die zentrale Methode als Coachingprozess, • Coaching als Kontext, • Lernen in Kontexten, • Axiomatik Coaching, • Axiomatik Lernen, • konstruktivistische Taxonomiestufen, • Transferlernen, • Diagnosemodelle für den Coachee und • Entwicklung eines Curriculums unter systemisch-kontruktivistischen Bedingungen.

9

Als Teil des Curriculums finden Sie einen Vorschlag zur Gestaltung des Ausbildungsvertrags und den Allgemeinen Geschäftsbedingungen als Coachanbieter sowie ein praktisches „ausbildungsbezogenes Wörterbuch“. Weitere Orientierung für die Praxis geben Hinweise zum Marketing, ein Businessplan, ein exemplarischer Ausbilderleitfaden und zwei Dokumentationen eines Coachingprozesses. Die didaktische Legitimation einer Coachausbildung im Verständnis „autonomes Coaching” Die im zweiten Teil des Buches veröffentlichten wissenschaftlichen Themen (Abstracts) sind Angebote zur didaktischen Gestaltung einer Coachausbildung, aber auch Reflexionsangebote für den Coachausbilder, ob sein Verständnis, Denken und Handeln darüber wissenschaftlich fundiert ist. In unserer Darstellung der inhaltlichen Teile des strategischen Curruculums einer Coachausbildung verweisen wir auf einzelne Abstracts als Quelle und Legitimation unseres Verständnisses von Coaching und des methodischen Vorgehens im Lerngeschehen. Insofern ist das Curriculum mit seinen definierten Teilen ein Konzept und wird durch das Füllen mit didaktischen und methodischen Inhalten zur Konzeption Drei Hinweise Zum Schluss noch etwas Entwirrendes zu möglichen Verwirrungen im Buch: •





10

Der Begriff „Coach” wird hier im Buch nicht nach üblichen grammatikalischen Deutungen in der Syntax benutzt. Sie finden nicht: des Coaches oder des Coachs noch sonstige Schreibvarianten in Singular oder Plural abgebildet am Genitiv, Dativ oder Akkusativ. Im ersten Teil des Buches finden Sie kein wortwörtliches Zitieren oder die Übernahme von konkreten Textteilen anderer Autoren, da dieser Teil des Buches nur thematische Verweisungen auf die im 2. Teil des Buches publizierten Abstracts vornimmt. Die Unterscheidung in weibliche und/oder männliche Schreibweisen von Begriffen erscheint uns nicht erkenntnisfördernd.

Die Mitwirkenden und die sehr, sehr herzliche Danksagung! Dieses Buch — unser Kind — hatte zu seiner Entstehung viele wohlmeinende und hilfreiche Unterstützer. In einem traditionellen biologisch-kulturellen Sprachgebrauch kann folgendes Bild entstehen: Die Eltern Rolf Meier und Axel Janßen — sowas geht auf natürliche Weise eben nur beim Buchschreiben. Das Jugendamt Nina Meier, die als Volljuristin nicht nur das Abstract „Recht” schrieb, sondern auch das Kapitel Recht innerhalb des Curriculums. Zudem wirkte sie am Wörterbuch mit. Darüber hinaus wachte sie als junge Lehrcoach, dass die beiden älteren Lehrcoachs auch immer alles so beschrieben haben, wie es dem Geist vom „selbstorganisierten Coaching” auf hohem Praktikerniveau gebührt. Die Babysitterin Gilda Meier, die alle Texte zusammenstellte und dafür sorgte, dass nichts verloren ging und die eine oder andere nicht abgestimmte Erziehungsmethode einsetzte, was dem Gedeihen des Kindes guttat. Der Patenonkel Dr. Brauner vom Verlag Wissenschaft & Praxis, der mit absoluter Toleranz unser Buchvorhaben akzeptiert und unterstützt hat. Die Tanten und Onkel Alle Autorinnen und Autoren der Abstracts haben sich unentgeltlich und mit großem Engagement für dieses Buchvorhaben eingesetzt. Die Namen, ihre Professionen und die Orte ihres beruflichen Wirkens sind in einer Extraliste nach den Abstracts aufgeschrieben. Die Omas und Opas Viele werden sich an Oma und Opa gerne erinnern. Friedlich war's. Mit allgemeinen, aber eher wenig hilfreichen Hinweisen und Wünschen für das Leben wurde man versorgt. Irgendwie spürte oder wusste man: Sie sind nicht mehr von dieser Welt. Unsere Omas und Opas sind die vielen Bücher über Coaching, aber auch einige Coachingverbände, die sich im tradierten Verständnis über Coaching besonders wohl befinden. Die Enkelkinder Die Teilnehmer unserer Ausbildung Systemischer Management Coach (SMC)® auf der Basis der Hamburger Schule waren uns immer klare und wertschätzende Spiegel unseres Denkens und Handelns. Die Kegel Seit dem Erscheinen unserer Internetpräsenz www.Hamburger-Schule.net haben sich zunehmend Leser und Kritiker gemeldet, die uns Ansporn waren, in unserem Gedankengebäude über Coaching weiter zu werkeln. Last but not least Erich Paulmichl aus Augsburg hat mit viel Engagement die Cartoons erstellt. 11

1 Coachinganlässe Gegenwärtig zeigt sich der Markt so, dass fast ein atomistischer Themenmarkt an Coachinganlässen festzustellen ist. Die Themen sind nicht immer eindeutig bestimmten Kategorien oder allein einer Kategorie zuzuordnen. Die am Markt festgestellten Coachinganlässe lassen sich einteilen in ... • • •

persönliche Themen, Themen der Kooperation und Themen der Struktur.

Eine Ausbildung will den Coach befähigen, unterschiedlichsten Anlässen seiner potenziellen Kunden gerecht zu werden. Einen Coachinganlass zu bearbeiten, ist Ausdruck der Erwartung, die der Markt an Coaching hat. Coaching begegnet dieser Erwartung durch unterschiedliche Coachingansätze.

12

Coachinganlässe — Persönliche Ebene

Persönliches

Marketing

Sinnkrise

Akzeptanzsteigerung

Reflexion von Krisensituationen

Arbeitsplatzverlust

Selbst-Marketing

Berufliche Neuorientierung

Selbstwert

Jobeinstieg Kommunikation Kündigung Neu als Führungskraft Neue Partnerschaft PE-Maßnahme Persönliche Entwicklungsfelder Rethorik/Präsentation Selbstmanagement Standortbestimmung Start in der Freiberuflichkeit Stellenwechsel

Wachstum

Work-Life-Balance

Entscheidungssicherheit

Gesprächsführung

Standortbestimmung/ Lebensphilosophie

Selbstsicherheit

Durchsetzungsfähigkeit

Ergebnis aus Management-Audits

Persönliche Krise Spiegel der eigenen Gedankenmodelle

Werte und Sinn

Delegationsfähigkeit

Entscheidungshilfe

Identitätskrise

Reflexion von Krisensituationen Potenzialnutzung Emotionales Selbstmanagement

Beitrag zum persönlichen Erfolg Blockaden auflösen (Leistungsblocker/ Kreativitäts-/Motivationsblockaden) Kompetenzentwicklung

Entwicklungswünsche

Kreativitätssteigerung

Persönliche Potenziale entdecken und entwickeln

Performance-Optimierung

Persönlichkeitsentwicklung

Persönliche Ziele erreichen

Stärken- und Schwächen-Analyse

Persönlichkeitsentwicklung Ressourcenausbau

Entlastung

Steigerung der Lebensqualität

Bore-out Burn-out

Karriere

Stressabbau

Berufliche Ziele entwickeln und erreichen

Stressbewältigung

Bewerbungsberatung

Umgang mit Ängsten

Brüche in der Karriereplanung

Umgang mit Leistungsdruck

Karriereschritte

Todesfall

Karrieresprung

Überforderung

Neuorientierung

Umgang mit Impulsen

Optimale Vorstellungsgespräche

Umzug Vorbereitung auf den Ruhestand Wiedereinstieg

Umgang mit Stillstand Veränderung Änderungen von Gewohnheiten

Zeitmanagement

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Coachinganlässe — Kooperationsebene Teamverhalten

Motivation

Veränderung

Kooperation im Team

Akzeptanzsteigerung

Begleitung von Veränderungen

Kooperation mit Peers

Umgang mit Ressourcenengpässen

Change-ManagementProzesse

Mobbing Führung von Personen

Konflikte

Generationswechsel

ethische Konflikte lösen

Burn-out bei Mitarbeitern

Konfliktbearbeitung

Führungssituationen

Konflikte in Projekten

Gesprächsführung

Konflikte mit Kunden

Neu als Führungskraft Personalentscheidungen

Konfliktlösung zwischen Mitarbeiter und Management

Sparringspartner gesucht

Konfliktmanagement

Verhalten mit anderen Partnerschaftskrisen

Organisatorische Veränderungen Reorganisationsprojekte Steuerung von Veränderungsprozessen Umgang mit Veränderungsprozessen

Konfliktmoderation Kundenbindung

Projektarbeit

Sales-Performance

Reflexion von Krisensituationen

Umgang mit Spannungen/ Streitigkeiten

Umgang mit Impulsen

Coachinganlässe — Strukturebene Strukturveränderung

Organisation

Veränderung

Expansion

Änderung von Gewohnheiten

Begleitung von Veränderungen

Fusionen

Auftragsklärung

Projektarbeit

Erhöhung der Sitzungseffizienz

Change-ManagementProzesse

Reorganisationen/ Umstrukturierungen

Funktionsklarheit schaffen

Sales-Performance Übernahme

Generationswechsel

Gesprächsführung

Organisatorische Veränderungen

Kreativitätssteigerung

Reorganisationsprojekte

Kundenbindung

Steuerung von Veränderungsprozessen

Umgang mit Ressourcenengpässen

Projektleiter Coaching

Unternehmensgründung

Reflexion von Krisensituationen Schnittstellenklärung

Umgang mit Veränderungsprozessen Führung von Personen Personalentscheidungen

14

1.1 Coachingansätze im Vergleich Ein Ansatz im Coaching ist die Wirkungs- oder Wirksamkeitserwartung von Coaching, aus der sich die grundsätzliche Haltung und Verfahrensweise (Vorgehensweise) ableitet, mit der ein Coach das erreicht, was er an Wirksamkeit von Coaching erwartet (Haltung plus Handwerk). Ein Ansatz definiert sich durch ... • • • • •

das Verständnis von Coaching (Was will Coaching erreichen?), die Werteorientierung (ethischer Aspekt/Haltung des Coach), die Bewertung und Deutung der Veränderungsthematik (systemisch-konstruktivistisch durch den Coach oder den Coachee), die Aufteilung der Verantwortlichkeiten zwischen Coach und Coachee (Wer initiiert was, wer verantwortet Handeln?), die Art des Ablaufes von Coaching (Coachingprozess Anfang-Ende).

Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Ansätzen Ansätze am Coaching-Markt können generell in zwei Gruppen aufgeteilt werden: 1. 2.

Autoritäre Ansätze Autonome Ansätze

Wird dem Coaching der Konstruktivismus zugrunde gelegt, das heißt die Akzeptanz, dass ein Mensch Zusammenhänge aus sich selbst heraus deutet, können alle Ansätze, die den Coachee sich und die Zusammenhänge selbst bewerten lassen, um darauf aufbauend Veränderung auszulösen, als „autonome Ansätze” betrachtet werden (autonom = Möglichkeiten, sich ohne direkten oder indirekten Einfluss von außen selbst organisieren zu können). Diese Ansätze orientieren sich grundsätzlich an den Werten: • • •



Freiheit — das heißt, der Coachee hat die Freiheit, selbst zu bewerten, zu deuten, Schlussfolgerungen zu ziehen und selbst zu lernen. Freiwilligkeit — das heißt, der Coachee entscheidet im Coaching freiwillig, was er verändern möchte und wie er sich auf das Coaching einlässt. Ressourcenverfügung — das heißt, der Coachee trägt alle Ressourcen zur Veränderung in sich und kann selbst bewerten, welche ihm innerhalb seines thematischen Kontextes fehlen. Die marktgängige Formulierung „die Lösung liegt im Coachee“ wird durch diesen Wert ausgedrückt. Selbststeuerung — das heißt, der Coachee kann sich selbst verändern. Die marktgängige Formulierung „Hilfe zur Selbsthilfe“ wird durch diesen Wert ausgedrückt.

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Wird der Markt an Coachingangeboten betrachtet, so können Schlagwörter wie „Freiwilligkeit“, „die Lösung liegt im Coachee“, „der Coachee hat die Lösungsverantwortung“ und „Coaching ist Hilfe zur Selbsthilfe“ fast überall identifiziert werden. Wie jedoch diese Schlagworte interpretiert werden, das heißt, welchen Wertgehalt sie haben, hängt vom Verständnis des Coach in der Situation ab. Gemeinsam sind vielen Coachingverständnissen der Wert „Freiwilligkeit“ und die Sicht auf die Aufteilung der Verantwortlichkeiten im Coaching. Der Coach hat die Verantwortung für die Einhaltung des Coachingprozesses — der Coachee hat (die Lösungsentwicklungs- und) die Ergebnisverantwortung. Auf einer abstrakten Ebene existiert ebenfalls ein gemeinsames Verständnis, dass die Lösung im Coachee liegt, Coaching demnach „Hilfe zur Selbsthilfe ist“. Aus diesem Verständnis leitet sich auch die Aufteilung der Verantwortlichkeiten ab. Auf einer konkreten Ebene wird am Markt unter „Hilfe zur Selbsthilfe“ verstanden: • • • •

die Hilfe auf der Handlungsebene (zur Erreichung einer konkreten Lösung für einen Anlass) die Hilfe auf der Abstraktionsebene (zur Erreichung einer nachhaltigen Selbstlernkonzeption) die Hilfe zur persönlichen Optimierung, orientiert an einem auf Erfahrungswissen basierenden Ideal des Coach die Hilfe zur persönlichen Optimierung, orientiert am Ergebnis einer therapeutischen Diagnose des Coach

Deutet und bewertet ein Coach seinen Coachee und dessen Kontext(e) aus seiner Person heraus, ist sein Ansatz autoritär (autoritär = aus der Deutung/dem Einfluss der eigenen Person). Beeinflusst er seinen Coachee, indem er seinem Coachee Handlungsvorschläge unterbreitet oder für seinen Coachee die Selbstwirksamkeitserwartung formuliert, so ist der Coach manipulativ. Beispiel Autoritäre Deutung — „Sie sind ein Mensch, der ein starkes Verlangen nach positivem Feedback aus dem Umfeld hat. Ein Ziel im Coaching könnte für Sie sein, etwas selbstsicherer zu werden. Wollen wir dieses Ziel vereinbaren?“ Handlungsvorschlag — „Mal angenommen, Sie würden Ihre Arbeit delegieren, wäre das eine Lösung für Sie?“ Selbstwirksamkeitserwartung — „Sie haben alle Ressourcen in sich, um höher, weiter und schneller zu springen als alle anderen. Überlegen Sie mal, wie gut sich das anfühlt.“ Autoritäre Ansätze Diagnostische Ansätze Kennzeichnend für diese Ansätze ist, dass der Coach, basierend auf erworbenen Erkenntnissen einer bestimmten Lehre, z.B. aus der Soziologie, Psychologie, Therapie, Transaktionsanalyse, Supervision oder dem NLP, selbst den Coachee und seinen Kontext diagnostiziert. Aus seiner Diagnose, die einem Therapieverständnis folgt, leitet der Coach im Coaching Angebote für den Coachee ab. Er deutet Informationen, basierend auf Abweichungen von der zugrunde liegenden Lehre. Ergebnis der Diagnose 16

des Coach ist ein Veränderungsziel, das der Coach einschließlich der Strategie mit dem Coachee gleichberechtigt vereinbart (siehe die Abstracts Psychologie, TA und NLP). Im Unternehmen entspricht diese Haltung einer Zielvereinbarung, der Coach übernimmt eine Vorgesetztenfunktion auf freiwilliger Basis. Verständnis von Coaching Hilfe auf der Handlungsebene, orientiert am Ergebnis einer therapeutischen Diagnose des Coach. Werteorientierung Da sich das Ziel des Coaching und die Veränderungsstrategie auch aus der Bewertung des Coach ergeben, der Coach sich vom Coachee nur die Zustimmung für dieses Vorgehen erteilen lässt, entscheidet der Coach „aus der Person heraus“ (autoritär), in welchem Maße er „Freiheit“ zulässt. Der Wert „Freiwilligkeit“ wird in Bezug auf die freiwillige Entscheidung für das Vorgehen des Coach interpretiert. Eine Berücksichtigung der Werte „Ressourcenverfügung“ und „Selbststeuerung“ ist nicht gegeben, da diese Verständnisse grundsätzlich die „Hilfe des Coach“ erfordern. Hinweis — In einer psychologischen Deutung impliziert Autorität die Gefahr von Übertragungen, Projektionen und Widerständen. Bewertung und Deutung Der Coach selbst bewertet und deutet das Anliegen, den Kontext, den Coachee und seine Erkenntnisse. Der Konstruktivismus wird nur aus der Sicht des Coach berücksichtigt. Aufteilung der Verantwortlichkeiten Durch die Vereinbarung von Ziel und Strategie übernehmen Coach und Coachee zugleich Verantwortung für den Prozess und das Ergebnis. Ablauf von Coaching Der Coachingprozess dient dem Coach zur systematischen Erfassung von Informationen zur Diagnose und Ableitung von Angeboten auf der Handlungsebene. Der Prozess ist mit dem Ablauf einer strukturierten Beratung vergleichbar. Eine strukturierte Beratung zeichnet sich z.B. durch Beschreibung der Ist-Situation, Ursachenanalyse, Bewertung, Schlussfolgerung und der Entscheidung aus. Dieser Ansatz erfordert ein hohes Maß an reflektiertem, diagnostischem Fachwissen, das entweder in der Ausbildung vermittelt werden muss oder aber als Qualifikation Voraussetzung für die Teilnahme an einer Ausbildung ist. Die Qualität dieses Ansatzes ist direkt abhängig von den diagnostischen Fähigkeiten des ausgebildeten Teilnehmers. Durch den bewertenden Charakter dieses Ansatzes wird Coaching daher oft als „Beratung auf Prozessebene“ verstanden (siehe dbvc.de). Ausbildungen mit diesem Ansatz sind mit Beraterausbildungen vergleichbar. Behavioristische Ansätze Kennzeichnend für diese Anlässe ist, dass sie auf dem Neuro Linguistischen Programmieren (NLP) basieren. NLP deutet die menschliche Wahrnehmung als individuelle, kognitive Repräsentation der sinnlichen Eindrücke. Nicht erfolgreiches Verhalten in einer bestimmten Situation wird auf einschränkende Glaubenssätze (z.B. „Ich muss perfekt sein.“) zurückgeführt. Erfolgreiches Verhalten wird einerseits durch Auflösen des einschränkenden Glaubenssatzes und Ersetzen durch einen subjektiv förderlichen Glaubenssatz ausgelöst oder durch Nachahmen (Modelling) von erfolgreichen Verhaltensweisen (englisch „behavior“ das Verhalten) anderer (siehe die Abstracts NLP und Konsequenzen aus der psychologischen Lernforschung). 17

Der Coach deutet aus sich heraus das Anliegen, den Kontext und den Coachee und diagnostiziert einen einschränkenden Glaubenssatz. Oftmals wird lediglich das Anliegen nach „Zahlen, Daten und Fakten“ erfasst und daraus ein Angebot für den Coachee abgeleitet. Angebote des Coach und durch den Coachee gefundene Lösungen werden sinnlich wahrnehmbar gestaltet, um die Attraktivität einer Veränderung zu erhöhen. Dieser Coachingansatz berücksichtigt den Konstruktivismus nicht, nutzt aber die konstruktivistische Interpretation der sinnlichen Wahrnehmung des Modells durch den Coachee, um Veränderung auszulösen. Verständnis von Coaching Hilfe auf der Handlungsebene, Hilfe zur persönlichen Optimierung orientiert an einem Ideal (dem Modell). Werteorientierung Im Diagnostizieren eines einschränkenden Glaubenssatzes handelt der Coach „aus der Person heraus“ (autoritär). Nimmt der Coachingansatz auch den „programmierenden“ Aspekt des NLP auf, so liegt in der Autorität des Coach auch die Gefahr der Manipulation. Der Wert „Freiwilligkeit“ wird in Bezug auf die freiwillige Entscheidung für das Coaching und das Vorgehen des Coach interpretiert. Eine Berücksichtigung der Werte „Ressourcenverfügung“ und „Selbststeuerung“ ist nicht gegeben, da diese Ansätze grundsätzlich die „Hilfe des Coach“ erfordern. Das dem Behaviorismus eigene „Modelling“, das heißt der Versuch, erfolgreiches Verhalten begrifflich so abzubilden, dass es dem Coachee möglich ist, dieses Verhalten nachzuahmen und einzuüben, geht davon aus, dass der Coachee ungenügende Ressourcen hat und aus sich heraus keine Lösung herbeiführen kann. Oft ist das Handeln des Coach an einem Wert „win-win“ orientiert, der als Konsens interpretiert wird. Der Wert „win-win“ beeinflusst die Werte Freiheit und Freiwilligkeit, da der Coachee animiert wird, grundsätzlich seine Erkenntnisse am Wert „win-win“ auszurichten. Dieser Wert kann auch als Kompromiss interpretiert werden. In dieser Interpretation lässt der Coach demnach nur den „gemeinsamen Nenner“ als Freiheitsgrad zu. Bewertung und Deutung Über die Diagnose eines einschränkenden Glaubenssatzes bewertet und deutet der Coach das Anliegen, den Kontext und den Coachee. Der Coachee bewertet seine Wahrnehmungen ausschließlich emotional auf einer Handlungsebene. Eine kontextbezogene, reflektierte Deutung erfolgt nicht. Der Konstruktivismus wird fachlich nicht berücksichtigt, sondern durch das Phänomen „Repräsentationssysteme“ ersetzt. Repräsentationssysteme gehen davon aus, dass die Sinne, mit denen das Individuum die Umwelt wahrnimmt, kognitive Strukturen generieren. Diese Strukturen werden Repräsentationssystem genannt. Aufteilung der Verantwortlichkeiten Rein behavioristische Ansätze kennen eine Aufteilung der Verantwortlichkeiten in Prozess- und Lösungsentwicklungs-/Ergebnisverantwortung nicht. Ablauf von Coaching Rein behavioristische Ansätze akzentuieren den Beziehungsaufbau zwischen Coach und Coachee und beinhalten einen „Sorgfaltsgedanken“, das heißt, sie überprüfen z.B. die Vor- und Nachteile von Entscheidungen (NLP: Ökologie), zukünftige Schritte (NLP: future pace) u.a. In der Regel folgt auf die Schilderung des Anliegens durch den Coachee direkt ein methodisches Angebot des Coach. Da behavioristische Ansätze eine monokausale Diagnose nutzen und Coaching auf das Anwenden von Methoden reduzieren, die in behavioristischer Tradition durch Vormachen und Nachmachen vermittelt werden, ist eine Ausbildung zeitlich sehr effizient und erfordert von den Ausbildern wenig pädagogisches Können. 18

Der Beziehungsaufbau nimmt viel Raum ein, da eine besonders tragfähige Beziehung eine Voraussetzung ist, damit der Coachee den Ideen des Coach folgt. Die einfache Anmutung der Materie und die Reduktion auf die richtige Handhabung von „Tools“ (Werkzeugen), kombiniert mit einem zeitgenössischen „win-win“-Gedanken befriedigen in hohem Maße die Erwartungen vieler Teilnehmer. In der Praxis stößt die vereinfachte behavioristische Sicht oft rasch an ihre Grenzen, sodass diese Ansätze um Anteile aus anderen Ansätzen angereichert werden oder aber Ausbildungsteilnehmer weiterführende Ausbildungen buchen. Individual-erfahrungsbezogene Ansätze Kennzeichnend für diese Ansätze ist, dass sie auf der individuellen Erfahrung der Ausbilder oder des praktizierenden Coach basieren. Die individuelle Erfahrung folgt dabei keiner wissenschaftlichen Orientierung. In der Regel wird zwischen Coaching, Training, Beratung und Therapie nicht differenziert bzw. diese Themen werden aus einer individuellen Deutung heraus unter dem Begriff Coaching subsumiert. Soll dieser Coachingansatz weiter entwickelt werden, ist das aus o.a. Gründen nur erschwert möglich. Die gänzlich fehlende Orientierung drückt sich oftmals in einer extrem vereinfachten, anlassbezogenen Vorgehensweise aus. Der Coach ordnet das Anliegen des Coachee einem bestimmten Anlass, z.B. Konflikt, Work-Life-Balance oder Karriere zu und wählt aus dem Anlass heraus ein „marktgängiges“ Format (Lösungswerkzeug) für seinen Coachee. Aus einer auf individueller Erfahrung basierenden Einschätzung heraus schätzt der Coach Entwicklungsmöglichkeiten seines Coachee ein und „coacht“ ihn zu dieser Erkenntnis. Verständnis von Coaching Hilfe auf der Handlungsebene, Hilfe zur persönlichen Optimierung, orientiert an einem persönlichen, auf seinem Erfahrungswissen basierenden Ideal des Coach. Werteorientierung Der Coach handelt „aus der Person heraus“. „Freiheit“ im Denken wird als Annahme oder Verzicht von Ratschlägen interpretiert. Der Wert „Freiwilligkeit“ bezieht sich auf die freiwillige Entscheidung für das Coaching und das Vorgehen des Coach. Eine Berücksichtigung der Werte „Ressourcenverfügung“ und „Selbststeuerung“ ist nicht gegeben, da diese Ansätze grundsätzlich die „Hilfe des Coach“ erfordern. Oft ist das Handeln des Coach an nicht hinterfragten, zeitgenössischen Werten, z.B. „ganzheitlich“, „nachhaltig“, „erfolgsorientiert“ oder „individuell“ orientiert. Meist ergeben sich diese Werte des Coach im Hinblick auf die Vermarktbarkeit seiner Dienstleistung. Bewertung und Deutung In der Regel bewertet und deutet der Coach selbst das Anliegen, den Kontext und den Coachee aus seiner individuellen Erfahrung heraus. Ein Coach mit diesem Verständnis kann nicht einem konstruktivistischen Gedanken von Coaching entsprechen, da mit dem Zulassen der Bewertung und Deutung von Zusammenhängen durch den Coachee gleichsam ein Verlust seiner Interpretationsherrschaft einhergeht. Der Coach verliert somit die ausgebildete oder selbst erworbene Fachkompetenz. Aufteilung der Verantwortlichkeiten Individual-erfahrungsbezogene Ansätze kennen eine Aufteilung der Verantwortlichkeiten in Prozess- und Ergebnis-/Lösungsverantwortung oftmals nicht. Erfolgt eine Aufteilung, so orientiert sie sich an der persönlichen Erfahrung des Coach. Bisweilen handelt es sich auch um nachgeahmte Qualitätsanmutungen ohne erkennbare Anwendung. 19

Ablauf von Coaching Individual-erfahrungsbezogene Ansätze akzentuieren oft den Beziehungsaufbau zwischen Coach und Coachee, da eine besonders tragfähige Beziehung eine Voraussetzung ist, damit der Coachee den Ideen des Coach folgt. DerAblauf ist eher individual-logisch erklärbar. In der Regel folgt auf die Schilderung des Anliegens durch den Coachee direkt ein Handlungsangebot des Coach. Verläufe orientieren sich an der Erfahrung des Coach bzw. der Ausbilder und sind größtenteils unreflektiert einer allgemeinen Marktsicht entnommen. Ein Coachingansatz, der gänzlich aus individuellen, unreflektierten Erfahrungen des Praktizierenden besteht, wird aus willkürlich zusammengestellten Inhalten bestehen und das Auswendiglernen und Anwenden von Methoden beinhalten. Die curriculare Struktur drückt sich in dem aus, was der Ausbilder für vermarktbar hält. Fazit — Die curriculare Gestaltung von Coachausbildungen, die autoritäre Ansätze verfolgen, erfordert, dass ein Coach über ein Höchstmaß an diagnostischem Können verfügt, um sein Vorgehen zu legitimieren. Vergleichbar einem professionellen Berater. Autorität impliziert Verantwortung für die Lösung und das Ergebnis. Da Autorität, die nicht vereinbart ist, Reaktionen wie z.B. Abwehr hervorrufen kann, muss ein Curriculum Anteile enthalten, die dem Coach helfen, diesen Reaktionen zu begegnen und eine Beziehungsebene herzustellen, die z.B. abwehrendes Verhalten des Coachee einschränkt, damit die Wirkungserwartung von Coaching eintritt. Autoritäre Ausbildungen sind zeitintensiv. Autonomer Ansatz Abstrahierender, selbst-lernorientierter, systemisch-konstruktivistischer Ansatz Diese Ansätze verfolgen konsequent den Gedanken des Konstruktivismus, der den Menschen als individuellen Deuter und Konstrukteur von Zusammenhängen (System = das Zusammengesetzte) sieht. Der Mensch deutet keine ganzen Systeme, sondern aus sich heraus Kontexte. Der systemisch konstruktivistische Coach ist sich dieser Tatsache bewusst und lässt ausschließlich den Coachee sich selbst und seine Situationen bewerten. Der Coach stellt daher keine Diagnose, sondern bildet ausschließlich Hypothesen auf einer Abstraktionsebene anhand von wissenschaftlich überprüfbaren Modellen, Theorien und Axiomen. Damit begegnet er der Gefahr der Deutung aus seiner Person heraus. Seine Hypothesenbildung ist grundsätzlich vernetzt, das heißt, sie verfolgt keine monokausale Logik. Aus der Bewertung seiner Hypothesen heraus entscheidet er sich für Reflexionsangebote auf der Abstraktionsebene, um dem Coachee die Möglichkeit zu geben, sich und seinen Kontext deduktiv selbst zu bewerten und zu deuten. Reflexionsangebote dieses Ansatzes sind Angebote, eigene Ressourcen mit dem Anliegen in Wahlfreiheit zu verknüpfen und aus der abstrakten Erkenntnis heraus selbst eine konkrete Lösung bzw. ein konkretes Ergebnis abzuleiten. Diese Ansätze verstehen den Coachingprozess als zentrale Vorgehensweise, um eine nachhaltige Selbstlernkonzeption beim Coachee auszulösen und verfolgen als zentrale Anliegen, die Wahrnehmung des Coachee zu erweitern, seine Entscheidungsfähigkeit zu fördern und Verhaltensalternativen durch den Coachee auszulösen. 20

Der Coachee kann dadurch seine Erkenntnis auf vergleichbare, ähnliche Situationen übertragen. Verständnis von Coaching Reflexionsangebote zur Erreichung einer nachhaltigen Selbstlernkonzeption. Werteorientierung Konsequente Orientierung am Konstruktivismus und an den Werten Freiheit, Freiwilligkeit, Selbststeuerung und Ressourcenverfügung (des Coachee). Bewertung und Deutung Die Bewertung und Deutung erfolgt ausschließlich durch den Coachee. Aufteilung der Verantwortlichkeiten Konsequente Aufteilung der Verantwortlichkeiten in Prozess- und Lösungsentwicklungs- und Ergebnisverantwortung. Ablauf von Coaching Der Coachingprozess ist die Methodenstruktur, die dem Coachee ein kreatives, teilautonomes Handlungslernen ermöglicht. Teilautonom, da der Coach die Verantwortung für den Prozess hat, der Coachee aber autonom lernen und seine Erkenntnisse auf vergleichbare Situationen übertragen kann. Beispiel autonomer Ansatz Stellt der Coach dem Coachee Strukturen zur Verfügung, um sich selbst in seinem thematischen Kontext zu diagnostizieren und daraus Verhaltensalternativen abzuleiten, ist sein Ansatz autonom. Durch die Orientierung an Werten, besonders am Wert Freiheit, verzichtet der Coach auf jedwede Form der Bewertung und verzichtet damit auch bewusst auf jede bewusste oder unbewusste Manipulation der Selbstwirksamkeitserwartung seines Coachee. Autonome Deutung – Was hängt alles mit Ihrem Thema zusammen? In welchem Zusammenhang steht es zu Ihrem Thema? Welche Bedeutung haben die Zusammenhänge für Ihr Thema? Wenn Sie darauf schauen, was alles mit Ihrem Thema zusammenhängt, was werden Sie persönlich mit der Bearbeitung Ihres Themas erreicht haben? Entwickeln von Verhaltensalternativen (nachdem Ressourcen identifiziert wurden)—- Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Ihren Motiven und Ihrem Coachingthema? Was sagt Ihnen das in Bezug auf Ihr Ziel? Selbstwirksamkeitserwartung — Bitte bewerten Sie einmal selbst Ihre (identifizierten) Ressourcen im Hinblick auf ihre Wirksamkeit zur Zielerreichung. Fazit Die curriculare Gestaltung von Coachausbildungen, die autonome, das heißt deduktive Ansätze verfolgen, erfordert, dass ein Coach sich selbst im Kontext Coaching bewerten und deuten kann, um dem Coachee die Freiheit geben zu können, sich als Coachee selbst zu bewerten und zu deuten. Da die Deutung durch den Coachee erfolgt, muss der Coach über faktisch richtiges Wissen auf abstrakter Ebene verfügen, nicht aber über umfangreiches diagnostisches Wissen, sodass theoretische Anteile erheblich gekürzt werden können. Die theoretische Reduktion kann sich in einer Axiomatik ausdrücken.

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2 Theorie vom „Selbstorganisierten Coaching” Wer sich für Qualitätssicherung und Weiterbildung im Coaching einsetzt, sollte über eine differenzierte Komplexität von Beeinflussungsstrategien verfügen. Diese Komplexität bietet eine Theorie, da sie nicht nur isoliert einen Coachingsprozess darstellt oder undifferenziert von schulübergreifenden Inhalten spricht oder einzelne Schulen in den Mittelpunkt stellt, ohne deren Legitimation zu kennen. Die Theorie vom Selbstorganisierten Coaching beschreibt alle coachingrelevanten Wirkmechanismen. Erst diese Geschlossenheit ermöglicht es, Qualität zu entwickeln und zu überprüfen. Aktuelle Marktsituation Qualitätsstandards oder Qualitätsvorstellungen von Coaching und Coachausbildung sind konkret nicht systematisiert. Übereinkünfte und gemeinsames Verständnis bestehen lediglich auf hoher Abstraktionsebene. Dazu zählen die nachfolgenden drei werthaltigen Aussagen: A

Coaching ist Hilfe zur Selbsthilfe. (Die konkrete Hilfe und typische Vorgehensweisen werden nicht hinreichend definiert.)

B

Die Prozessverantwortung liegt beim Coach. Der Coachee trägt die Lösungsentwicklungs- und Ergebnisverantwortung. (Die Prozessstruktur ist nicht legitimiert, die methodische Generierung von Handlungsalternativen ist nicht beschrieben und die Strukturmerkmale der Ergebnisverantwortung sind nicht festgelegt.)

C

Coaching ist keine Psychotheraphie (im Sinne der Behandlung seelisch Kranker). (Diese Übereinkunft wird nicht eingehalten, da Lösungsangebote auf der Handlungsebene im Sinne therapeutischer Beratung gegeben werden.)

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Die nachfolgend beschriebene Theorie vom „Selbstorganisiertem Coaching” dient ... • •



den Ausbildern von Coachs als Grundlage zur Gestaltung und Legitimierung ihres curricularen Ausbildungsangebotes; praktizierenden und zukünftigen Coachs zur Selbstbewertung ihres Coachingansatzes (Coachingverständnisses und ihres praktischen Handelns) und zur Entwicklung eigener Vorgehensweisen, basierend auf der Theorie vom „Selbstorganisierten Coaching”; der wissenschaftlichen Welt als mögliche Grundlage, Coaching zu bewerten und Anstöße zur Weiterentwicklung zu geben.

2.1 Theorieverständnis Eine Theorie ist ein Gedankenmodell, das zur Erklärung von Erscheinungen oder zur Konstruktion von neuen Welten herangezogen werden kann. Sie kann auch als die Gesamtheit eines gedanklich konstruierten Bildes — im Gegensatz zur Praxis — verstanden werden. Danach ist eine Theorie ein vereinfachtes Bild eines Ausschnittes der Realität. Aufgrund von Modellvorstellungen (Theoriekonstrukt) zu einem gegebenen Thema sollen theoriegeleitete bzw. -gestützte Prognosen und Handlungsempfehlungen ausgesprochen werden. Eine Theorie muss den Vorschriften der Logik und Grammatik entsprechen und dabei widerspruchsfrei und überprüfbar sein. Verwendete Begriffe müssen genau definiert und empirisch verankert sein. Die Verträglichkeit mit bestehenden Theorien, die Lieferung eines Erklärungswertes, ohne dabei ein spezielles thematisches Erkenntnismodell darzustellen, sowie die Möglichkeit zur Erstellung von (eintreffenden) Prognosen runden die Anforderungen an eine Theorie sinnvoll ab. Theorien dienen als Erklärungskonstrukt einer thematischen Wirklichkeit, die Erkenntnis bzw. Erkenntniserweiterung betreffend. Hinsichtlich ihrer Entstehungsweise herrscht kein Einvernehmen, jedoch wird im Allgemeinen zwischen folgenden methodischen Konstrukten unterschieden: 1. 2. 3.

Induktive Theorien entstehen durch die Erarbeitung, Strukturierung und Bewertung von Datenmaterialien im empirischen Prozess. Deduktive Theorien entstehen durch die Aufstellung sinnvoller Annahmen, welche in der Praxis (erfolgreich) überprüft werden können. Abduktive Theorien entstehen eher spontan, wenn eine erklärende Hypothese für ein eingetretenes (überraschendes) Ereignis aufgestellt werden muss/kann. Der Wahrheitswert ist somit nicht gesichert.

Jede Theorie basiert auf Axiomen. In der Literatur ist kein eindeutiger Hinweis zu finden, aus welchen Elementen und dazugehörigen Interaktionen eine beliebige Theorie bestehen muss oder welches logische Strukturkonstrukt notwendig ist, um als Theoriekonstrukt im wissenschaftlichen Sinne anerkannt zu werden. Die von uns gewählten Merkmale und Strukturverläufe entsprechen unserem Verständnis nach einer deduktiven Theorie. Somit gilt: Die Theorie vom „Selbstorganisierten Coaching” ist eine deduktive 24

Theorie. Unser Bemühen ist — durch die vorliegende detaillierte Untersuchung des Faches Coaching — das Wissen darüber zu fokussieren und zu seiner reflektierten Betrachtung anzuregen.

2.2 Definition und Begriffe Definition Die Theorie vom „Selbstorganisierten Coaching” beschreibt auf der Basis eines wertegeleiteten empathisch-dramaturgischen Kontext und mittels eines strukturierten Ablaufes, wie durch kreatives Selbst-Lernen die individuelle Entscheidungsfähigkeit als nachhaltige Selbstlernkonzeption ausgelöst und gefördert wird. Allgemeine Grundbegriffe • Freiheit — bezeichnet die Befähigung und die Verpflichtung, aus Alternativen nach bestimmten individuellen Selektionskriterien zu wählen • Freiwilligkeit — bedeutet absichtliches und/oder spontanes Handeln • Ressourcenverfügung — bedeutet uneingeschränkter Zugriff auf innere und äußere Mittel • Selbststeuerung — ist die Fähigkeit, eigene Ziele und Handlungen zu bilden und sie gegen innere und äußere Widerstände umzusetzen • Selbstwahrnehmungserweiterung — ist die Fähigkeit, das eigene Selbstbild unter unterschiedlichen Kontextanforderungen zu deuten • Handlungsalternativen — sind unterschiedliche, vom menschlichen Willen gesteuerte Verhalten • Entscheidungsfähigkeit bezeichnet das Potenzial, aus Alternativen zu wählen

2.3 Axiome Im Sprachgebrauch ist ein Axiom eine unbeweisbare, aber in sich einsichtige, grundlegende Aussage, die als Ausgangspunkt einer ableitbaren Theorie dient. Nachfolgend die 20 Axiome, die wir als Grundlage der Theorie vom „Selbstorganisierten Coaching” setzen. Coaching vollzieht sich unter den verschiedensten Rahmenbedingungen; entscheidend ist die Beachtung folgender Werte: • Freiheit — in der Bedeutung: Die Freiheit als Coachee, als Gruppe oder als Team die nachhaltige Selbstlernkonzeption selbst festzulegen. • Freiwilligkeit — in der Bedeutung: Die Freiwilligkeit als Coachee, als Gruppe oder als Team über die Veränderungsthematik und den Zeitpunkt der Veränderung selbst entscheiden zu können. • Ressourcenverfügung — in der Bedeutung: Der Coachee, die Gruppe oder das Team haben selbstständigen Zugriff auf die Ressourcen, die zur Selbstorganisation und Veränderungsrealisierung benötigt werden. • Selbststeuerung — in der Bedeutung: Der Coachee, die Gruppe oder das Team sind in der Lage, Veränderungsanforderungen selbst zu erkennen und selbst zu realisieren. • Coaching muss der Komplexität der Lebens- und Erfahrungswelt des Coachee, der Gruppe oder des Teams gerecht werden. In diesem Sinne ist Coaching immer „systemisch”. 25



• • • • • • • • • • • • • • • •



Coaching führt den Coachee, die Gruppe oder das Team vom linearen zum vernetzten Denken und Handeln. Es geht darum, Freiheitsgrade für eigenes Verhalten innerhalb eines „Bezugskontextes” zu identifizieren und zu „Vergleichbarem” zu erweitern. Coaching basiert auf Modellen von wissenschaftlicher Erkenntnis. Coaching definiert sich über eine wertegeleitete Arbeitshaltung und operationalisierbares Handwerk (Einhalten der Prozessstruktur). Die Lösung liegt im Coachee, in der Gruppe oder im Team. Erfahrungen bilden die Grundlage jeder individuellen und kollektiven Wirklichkeitskonstruktion. Systemisches Denken und konstruktivistisches Denken und Handeln sind nicht identisch, ergänzen sich aber. Motivgeleitete Interessen und Erkenntnisse bilden einen Zusammenhang. Menschen orientieren sich innerhalb individuell definierter und gedeuteter Kontexte an Werten. Ein Kontext (Konstrukt oder auch Handlungssystem) ist dem Individuum, der Gruppe oder dem Team dann bewusst, wenn er/sie ihn kognitiv erschließen kann/können. Körper, Gehirn, Geist und Emotionen bilden eine unzertrennbare Einheit. Entscheidungen für ein Verhalten/eine Handlung werden durch Motive, Bedürfnisse, innerhalb von, durch Werte gedeuteten Kontexten beeinflusst. Menschen handeln, da sie für sich einen persönlichen Vorteil im Sinne der Erfüllung von Motiven, Bedürfnissen und Werten erwarten. Dies gilt auch für Gruppen und Teams. Werte entstehen durch wiederholtes, individuell erfolgreiches Handeln/Verhalten in einem spezifischen Kontext. Grundsätzliche Verhaltensmuster ergeben sich aus Werten, die für das Individuum, die Gruppe oder das Team kontextübergreifend gelten. Werte, die handlungsleitend sind, aber hinsichtlich ihrer Bedeutung nicht reflektiert werden, führen zu Glaubenssätzen. Glaube ist ein Wertekontext, der nicht hinterfragt wird. Leitwerte sind Werte, die für das Individuum, die Gruppe oder das Team in allen konstruierten Kontexten gelten. Sie bilden die Schnittmenge aller Werte innerhalb dieser Kontexte. Werte bilden die Grundlagen für Entscheidungen. Der Beginn einer Entscheidung ist die gefühlsmäßige Wahrnehmung eines Wertes. Der Abschluss einer Entscheidung begründet einen Wert (subjektiv) rational. Wahrnehmung basiert auf der Wahrnehmung von Unterschieden.

2.4 Begründungen und Herleitungen • • •



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Die Theorie vom Selbstgesteuerten Coaching ist ein eigenständiger didaktisch-methodischer Ansatz zum Verständnis von Coaching und zur Entwicklung von Coachs. Prozess ist im Coaching die festgelegte Ablaufstruktur, die mit Hilfe von Reflexionsangeboten auf Abstraktionsebene die nachhaltige Selbstlernkonzeption auslösen will. Die Ableitung von Reflexionsangeboten orientiert sich an Hypothesen, die aus wissenschaftlichen Modellen, wissenschaftlichen Theorien und der Axiomatik der Hamburger Schule gebildet werden. Im Coaching geht es darum, Freiheitsgrade für eigenes Verhalten innerhalb eines „Bezugskontextes” zu identifizieren und zu erweitern.



Hypothesen und Prognosen — Die Wirkungserwartung der Theorie vom Selbstorganisierten Coaching begründet sich in der Abhängigkeit, Interaktion und strukturierten Bearbeitung der Aussagen unter konsequenter Wahrung der Werte Freiheit, Freiwilligkeit, Ressourcenverfügung und Selbststeuerung: — Die Lösung liegt im Coachee Der freiwillige Veränderungsprozess eines Menschen orientiert sich an seinen motivalen Zukunftsvorstellungen in einem Kontext. Durch die Bereitschaft zur Veränderung ist der Coachee bereit, seine eigenen Ressourcen neu zu bewerten, und erkennt, welche ihm zur Lösung (Handlungsalternative) noch fehlen. — Vertraue auf den Prozess Der formalisierte Coachingprozess als die zentrale Methode im Coaching stützt sich aus den Erkenntnissen der KEPPNER-TREGOE-Methode, dem Rubikon-Modell der allgemeinen Handlungsphasen, dem Handlungslernen und den Transfertheorien. Die methodische Struktur des Cochingprozesses besteht aus der Abfolge und Bearbeitung folgender Merkmale: 1. Phase „Kontakt und Kontrakt“ 1.1. Vorstellung und Erwartung 1.2. Coachingablauf, Verantwortungsbereiche und Kommunikationskontext vereinbaren 1.3. Thema und Veränderungswunsch skizzieren 2. Phase „Thema- und Zielklärung“ 2.1. „Ist-Zustand aufnehmen/Thema schriftlich fixieren und visuell systemisch aufstellen“ 2.2. Zielformulierung und systemische Zielerreichungsmerkmale schriftlich fixieren 3. Phase „Ressourcenidentifikation” 3.1. Motive, Bedürfnisse, Werte, Gefühle im Kontext ermitteln 3.2. Hypothesengeleitetes Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten im Kontext ermitteln 3.3. Ressourcen aus anderen Kontexten 3.4. Bisheriges Analyse- und Lösungsverhalten im thematischen Kontext identifizieren 3.5. Bewertung der Ressourcen im Kontext 3.6. Strukturelle Ressourcen aktualisieren 4. Phase „Entwicklung und Auswahl von Verhaltensalternativen” 4.1. Initialisierung der Selbstlernkonzeption 4.2. Handlungsplan 4.3. Analyse potenzieller Probleme 4.4. Ressourcen- und Planaktualisierung 4.5. Selbstlernkonzeption des Coachee sichern 5. Phase „Controlling und Abschluss“ 5.1. Motive und Werte zielgerecht bewerten 5.2. Verhaltensnachhaltigkeit feststellen

2.5 Empirische Operationalisierung und Postulate Messkonzepte der empirischen Prognosen und Hypothesen • Im Coaching Eng verbunden mit allen Coachtätigkeiten und Coachingprozessen sind die Fragen nach der Wirksamkeit von Coaching und der damit einhergehenden Überprüfungen. Der Maßstab des 27

Coachingerfolgs wird vom Coachee, von der Gruppe, dem Team in seinem/ihrem Veränderungsziel und den Erreichungsmerkmalen, die Coachee, die Gruppe, das Team freiwillig und in seiner/ihrer Entscheidungsfreiheit erarbeitet hat/haben, festgelegt. Der Coach trägt die Prozessverantwortung, das heißt, er verantwortet die grundsätzliche Ablaufstruktur und er leitet aus dem Veränderungsziel seines Coachee in Verbindung mit den vereinbarten Erreichungsmerkmalen eine logische Abfolge von Reflexionsangeboten ab. Der Coachee, die Gruppe, das Team trägt/tragen die Ergebnisverantwortung. Er/sie/es allein ist für die Festlegung und Erreichung seines/ihres beabsichtigten Veränderungsziels verantwortlich. Es können vom Coachee, der Gruppe, dem Team quantitative (messbare) und qualitative (beschreibbare) Kriterien (Erreichungsmerkmale) definiert werden. Daher handelt es sich bei der Evaluation von Coaching immer um ein Selbstcontrolling. • Coachausbildung und Zertifizierung Durch die Zertifizierung von angehenden Coachs soll sichergestellt werden, dass Coachs über Kompetenz im Sinne der Theorie vom Selbstorganisierten Coaching verfügen. Belege und Widersprüche für die Theorie Um Systeme, in denen wir leben, in ihrer Komplexität allgemein hinreichend und zutreffend beschreiben zu können, bedarf es einer Berücksichtigung von unbestimmt vielen Parametern. Die Definitionen, Bedeutungen und Deutungen der Begriffe System oder systemisch sind aus den Welten bekannter Wissenschaftsdisziplinen in die Welt des systemischen und konstruktivistischen Coaching nicht übertragbar und/oder anwendbar. Die Wissenschaften, insbesondere die Soziologie, betrachten, analysieren und deuten ganze Systeme. Systeme in ihrer Gänze haben auch in diesen Wissenschaftsdisziplinen unbestimmt viele Merkmale = offene Systeme, dynamisches Interagieren der Systemmerkmale oder der Beteiligten bei Verhalten und Entscheidungen oder auch durch den Charakter der Irrationalität. Es sind sozusagen Wesensmerkmale von Systemen (im Sinne dieser Wissenschaftsdisziplinen). Insofern sind Erkenntnisse über diese System-Welten immer Einzelfall übergreifend abstrakt. Die daraus abgeleiteten Erkenntnisse lassen daher die Individualität der Einzelsituation im konstruktivistischen Coaching nicht zu. Systemisches Coaching hat als Betrachtungs- und Deutungsbezug immer die Einzelfallsituation des Coachee, seiner Person und seiner Veränderungsthematik. Daher akzeptiert und bearbeitet systemisches Coaching grundsätzlich individuelle Anforderungen und Deutungen der thematischen Bezüge eines Menschen unter dem Aspekt des Konstruktivismus (gefühlte Objektivität des Subjekts). Die Systeme des Coachee sind komplexitätsreduzierte Erklärungen seiner Bezugswahrnehmung (Kontext). Konkrete Wahrnehmungen und deren Beschreibungen von Bezügen, Kontexten oder Systemen sind nur mit einer überschaubaren Zahl von Parametern in ihrer konkreten Handlungswelt möglich. Insofern sind die Systeme des Coachee überschaubar. „Systemisch” im Coaching bedeutet die Akzeptanz der nicht wiederholbaren Einzigartigkeit von Personen, der thematischen Ausprägung und den damit verbundenen dynamischen Interaktionen und Integrationen in Kontexten. Beeinflussende Parameter im Kontext und zwischen Kontexten (= systemisch): • Geltende Werte und Normen • Akzeptierte Werte und Normen • Motive und Bedürfnisse • Abhängigkeiten • Interaktionen zwischen Menschen und zwischen Kontexten • Deutungen, Bedeutungen und Bedeutungszusammenhänge • Zeit • Komplexität der Parameter • Feedback-Systematiken 28

Lernen • Bewusste und unbewusste Erfahrungen von Ausbildern und Lernenden sind systemisch-konstruktivistische Rahmenbedingungen für Lernen. • Lernen ist ein systemisch-konstruktivistischer Prozess, der vom Lernenden bewusst gesteuert werden kann. • Lernen erfolgt in Abhängigkeit von individuellen Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen, Werten, Intellekt und Selbstwirksamkeitserwartungen innerhalb systemisch-konstruktivistisch gedeuteter Kontexte. • Lernen ist im Ergebnis individuell pragmatisch und unvorhersehbar. • Lernen löst Bewusstsein und Motivation für routinierte Lösungsstrategien innerhalb bekannter Kontexte aus. • Lernen löst kreative und gewollte Lösungsstrategien für unbekannte Verhaltenskontexte aus. • Ausbilder sind Organisatoren individuell authentischer, komplexer Lehr-, Lern- und Anwendungskontexte. • Lernen erfordert Rückmeldungen über Unterschiede und Übungen aus dem Lehr-/Lernkontext zur individuellen Orientierung. • Faktenwissen und Faktendeutungen von Ausbildern und Lernenden sind untereinander vernetzt und individuell in unterschiedliche Anwendungskontexte transferfähig. • Lerner sind in der Regel kompetenter in ihren Anwendungskontexten als Ausbilder.

2.6 Praxiseinsatz Konkrete Handlungsempfehlungen • Praxisorientierung Um im Alltag bestehen zu können, muss die Ausbildung von Coachs praxisorientiert sein. Typische Coachingthemen, typische Coachingsituationen, typische Coachingkontexte, typische Coachingbeteiligte, typische Coachingverläufe in der Privat- und Berufswelt sind Inhalt und Gegenstand einer Coachausbildung. • Pragmatisch Die Entwicklung der Kompetenzen eines Coach orientieren sich am Pragmatismus: Das didaktisch-methodische Vorgehen eines Coachausbilders innerhalb einer Coachausbildung orientiert sich neben dem Konstruktivismus auch am praktischen Nutzen für den Coachee. Reflektierte, erlebte Coachingerfahrung im Arbeitsalltag, gekoppelt mit analytischem und erprobtem Vorgehen, ermöglichen wirksame Ergebnisse im Coaching. Gleichzeitig bedeutet es den Verzicht auf konstruierte Fallbeispiele und Rollenspiele, da eine individuelle, emotionale Bindung der Teilnehmer hier nicht hergestellt werden kann und somit kein Nutzen für die Kompetenzentwicklung für ihn ableitbar ist. Rollenspiele „entfernen” den Lernenden von seiner Identität. • Abgrenzung Als eigenständiges Erklärungssystem von Coaching grenzt sich die Theorie vom Selbstorganisierten Coaching bewusst von anderen Erklärungssystemen von Coaching ab. Das bedeutet auch, das bewusste Verwenden und das bewusste Ausgrenzen von Begriffen, die nicht der Axiomatik der Theorie vom Selbstorganisierten Coaching entsprechen. Begriffsdefinitionen die in einem alltagssprachlichen Verwendungsverständnis dieser Begriffe zu „Irritationen” führen, werden im Sinne eines Lehrdogmas nicht verwendet. Dazu zählen insbesondere die Begriffe: Rat, Ratschlag, raten, Beratung, beraten, vermitteln, Tipps, Rolle, Rolle ausfüllen, 29

Rolle einnehmen und vergleichbare, lösungvorwegnehmende (lösungantizipierende) Formulierungen. Begriffe aus der Methodik bestehender Ausbildungen wie z.B. TA und NLP werden im Sprachgebrauch der Theorie vom Selbstorganisierten Coaching nicht verwendet bzw. sollen, um „Übertragungen” auszuschließen, nicht verwendet werden. • Vermittlung Das Verwenden und Anbieten von thematischem Struktur- oder Orientierungswissen (abstraktes Wissen) ist kein Training oder keine Ausbildung im Sinne von situativ angebotener Lösungskompetenz. • Nachhaltige Selbstlernkompetenz Durch den Coachingprozess kann der Coachee in Kongruenz zu seinem Veränderungsziel selbstständig Veränderungen initiieren und sein Verhalten durch Selbstreflexion auch in sich wandelnden Kontexten in der Zukunft stabilisieren. Ethik Die Ethik setzt Normen für das Verhalten eines Coach, der im Sinne der Theorie vom Selbstorganisierten Coaching handeln will. Verhaltensgrundsätze im Sinne dieser Ethik reflektieren die Tätigkeit des Coach und des Coachens. Dabei berücksichtigen sie insbesondere die Interessen der zu coachenden Person im Kontext von Coaching. Die Ethik beschreibt konkretes Verhalten zu den Merkmalen ... • Grundhaltungen eines professionellen Coach, • vertragliche Grundlage von Coaching, • Verschwiegenheit und Datenschutz im Coaching, • Darstellung/Transparenz der Kompetenz des Coach und von Coaching und • Verwendung von Referenzen durch den Coach. Merkmale von Coachausbildungen Coaching als bewusste Veränderungsarbeit basiert auf im Menschen vorhandenen und im Wechselspiel wirkenden Motiven, Werten, Bedürfnissen sowie Fakten und Wissen innerhalb individueller, dynamischer Kontexte sowie auf ... • der konsequenten didaktisch-methodischen Ausrichtung auf Basis des Konstruktivismus, des Pragmatismus und fundierter systemischer Feldkompetenz; • der konsequenten Unterscheidung von Modell, Methode und Werkzeug; • der Betonung der Vermittlung von strukturellen Feldkompetenzen, die von Führungskräften innerhalb ihrer komplexen Anforderungen im Führungsalltag sonst nicht erlernt werden. Individueller Ausbau situativer Führungs- und Selbstführungskompetenz; • der Betonung der situativen Handlungskompetenz durch Förderung von Innovation und Kreativität. Teilnehmer entwickeln Methoden aus Modellen. Eigenentwicklung und Bewährtes sind kombinierbar; • der Betonung des „handwerklichen Aspektes” von Coaching im Sinne einer praktischen Kompetenzentwicklung; • der Betonung der Bezüge zur Berufs- und Arbeitswelt, kompatibel zu allen marktgängigen Zertifizierungsverfahren. Der Ausbilder trägt eine Mitverantwortung für die persönliche Lernkompetenz seiner Teilnehmer in deren praktischer Lernumsetzung. Umsetzungsmodelle • Kritische Erfolgsfaktoren • Kompetenzentwicklungsmodell • Kompetenzmodell 30

• • • •

Individuelle Wertentwicklung Zentrale Werte im Coaching MVWK-Modell mit vier Kontextvarianten Coachingprozess

2.7 Kontextualisierung (Bezüge zu anderen Theorien, Disziplinen und thematischen Sachgebieten) Coaching benötigt dafür inhaltliche Anleihen aus bestehenden Wissenschaftsdisziplinen, sowohl in seinem grundsätzlichen Verständnis als auch in seinem vollziehenden Tun. In der Regel sind damit die allgemeinen Erkenntnisse der Wissenschaftsdisziplin als auch deren spezifische Teilgebiete gefragt. • • • • • • • •

Erziehungswissenschaft (Andragogik, Curriculum, Handlungslernen, Lernen) Kommunikation (Führung, Kreativität, Linguistik, Semantik) Mathematik (Axiomatik, Entscheidungstheorie, Logik) Neurowissenschaften Philosophie (Glaube, Naturheilkunde, Werte, Wissenschaftstheorie) Psychologie (Motivation, NLP, Psychotherapie, Pädagogische Psychologie, TA) Rechtswissenschaft (Grundrechte, allgemeines Persönlichkeitsrecht, Zivilrecht insbesondere Vertragsgestaltung und Haftung) Soziologie (Konstruktivismus, Systemtheorie)

Daneben bieten folgende Disziplinen weitere Erkenntnisse zum Verständnis und Gestalten von Coaching: • Betriebswirtschaft, • Marketing, • Strategie, • Visionen, • Ziele und • Transfertheorien. Um diese Theorie vom „Selbstorganisierten Coaching” pädagogisch zu realisieren, bedarf es eines Curriculums. Um die Theorie vom „Selbstorganisierten Coaching” zu praktizieren, bedarf es der Kompetenz, die sich im praktischen Handeln als Coach zeigt (siehe die beiden Coachingdokumentationen).

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           3.1. Motive, Bedürfnisse, Werte, Gefühle im Kontext ermitteln .'&* )%#!**!))%0 !"!*%  +%(*!"!*%!$&%*-*($!**#% 3.3. Ressourcen aus anderen Kontexten  !) (!) %#.)+%1)+%),( #*%  !$* $*!) %&%*-*!%*!4/!(% 3.5. Bewertung der Ressourcen im Kontext 3.6. Strukturelle Ressourcen aktualisieren

Freiwilligkeit

5. Phase „„Controlling und Abschluss““ 5.1. Motive und Werte zielgerecht bewerten 5.2. Verhaltensnachhaltigkeit feststellen

4. Phase: „„Entwicklung und Auswahl von Verhaltensalternativen““ %!*!#!)!(+%(#)*#(%"&%/'*!&% %#+%)'#%  %#.)'&*%/!##((&#$ ))&+(%+%#%"*+#!)!(+%  #)*#(%"&%/'*!&%) & )! (%

Ressourcenverfügung ©2010, Dr. Rolf Meier, Axel Janßen

Selbststeuerung

+##%+)%%( & !%'(&/))%*)*%%!)*  Kepner-Tregoe-Methode, Selbstorganisiertes Lernen, Rubikon-Modell nach Heckhausen, Transfertheorien

Grundanliegen von Coaching: Wahrnehmungserweiterung, Handlungsalternativen, Entscheidungsfähigkeit

2. Phase „„Thema- und Zielklärung““ 2.1. „„Ist-Zustand aufnehmen/Thema schriftlich  4-!(%+%,!)+##).)*$!) +)*##%3 !#&($+#!(+%+%).)*$!) !#  ((! +%)$("$#) (!*#! 4-!(%

1. Phase „„Kontakt und Kontrakt““ 1.1. Vorstellung und Erwartung 1.2. Coachingablauf, Verantwortungsbereiche und Kommunikationskontext vereinbaren 1.3. Thema und Veränderungswunsch skizzieren

Freiheit

tur des Coachingproze Struk s s es e i D

Nachhaltige Selbstlernkonzeption

Coaching ist der durch die Werte Freiheit, Freiwilligkeit, Ressourcenidentifikation und Selbststeuerung gebildete Kontext, in dem mithilfe des strukturierten Coachingprozesses — in Bezug auf ein Thema — die Wahrnehmung erweitert, die Entscheidungsfähigkeit gefördert und Verhaltensalternativen ausgelöst werden, um eine emotional gewollte und nachhaltige Selbstlernkonzeption des Coachee, der Gruppe oder des Teams zu erreichen.

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3 Grundlagen — Strukturmerkmale des Curriculums und ihre Deutung SAUL B. ROBINSOHN ist es zu verdanken, dass der Begriff Curriculum wieder einzog in die Erziehungswissenschaft in Deutschland. ROBINSOHN war Abteilungsleiter am Max-Planck-Institut in Berlin und in dieser Funktion auch Professor an der Freien Universität Berlin. In Seminaren und Hauptseminaren (die der Autor dieser Zeilen als Student erlebte) lehrte, analysierte, interpretierte, verglich und diskutierte ROBINSOHN, in der Regel mit Unterstützung von ein bis zwei AssistentInnen, die Komplexität der Bildungssysteme. Ob das Westdeutsche oder Ostdeutsche (so der damalige Jargon Mitte der sechziger Jahre) oder das Englische, Amerikanische hin bis zum Skandinavischen. Immer war es die Frage nach dem Sinn der Struktur und Organisation einer gesellschaftlichen Bildungskultur, den damit verbundenen Zielen, den erkennbaren Werten des Bildungsanspruchs, den Beteiligten, den Inhalten, den Methoden und den Kostenstrukturen. ROBINSOHN bezieht ein Curriculum auf pädagogische Wirkungszusammenhänge. Der kulturelle Bildungsauftrag steht im Vordergrund. Die systemisch-konstruktivistische Betrachtung durch ein Curriculum versteht Bildung nicht um der Bildung willen, sondern als Interaktion aller Beteiligten, um in unterschiedlichen Transferkontexten als Individuum situativ erfolgreich zu sein. Die Strategie ist dabei die grundsätzliche, systemisch reflektierte Vorgehensweise, ein Ergebnis zu erreichen. Interessant — Ein Curriculum verfolgt dieselben Anliegen wie Coaching. Es galt nicht nur, zu erkennen, aus welchen Bestandteilen das Bildungssystem einer Gesellschaft bestand, welche Legitimationen und Erfolgschancen erhofft oder nachgewiesen werden konnten, auch der Vergleich der funktionalen Merkmale der Curricula zwischen den Systemen war gefordert, um über die Wahrnehmung von Unterschieden zu Erkenntnissen auf anderer Abstraktionsebene zu gelangen. Diese differenzierte Betrachtungsweise einer Bildungslandschaft würden wir heute wohl als systemische oder systemtheoretische oder vielleicht gar als konstruktivistische Haltung bezeichnen. Der Begriff Curriculum ist lateinischen Ursprungs und bedeutet soviel wie Lauf, Umlauf, Kreislauf. Currere meint im Lateinischen laufen. Wer einen Lebenslauf erstellen soll, schreibt ein Curriculum Vitae. Im Gedächtnis ist, dass ROBINSOHN den Begriff „Curriculum” bewusst verwandte, nicht nur um den im Mittelalter verwendeten Begriff zu reaktivieren, sondern um auch mit dem Begriff etwas zu signalisieren. Ein Curriculum beschreibt, warum und wie etwas entsteht. Es ist die Begründung für ein Ergebnis. Modern gedeutet ist ein Curriculum eine strategische Wirk-Struktur. ROBINSOHN hat sich als Bildungsforscher verstanden. Er hat den Sinn von Bildung verstanden als Bewältigung von Lebenssituationen. Wie und durch was aber wird die Bewältigung von Lebenssituationen ermöglicht? Hier setzt nun das ein, was als Curriculum oder curriculare Struktur oder curriculares Vorgehen bezeichnet wird. Wer absichtsvolle Bildung betreibt, sollte Auskunft geben über seine Absichten, Ziele, Vorgehensweisen und fachliche Begründungen. 34

Eine einfache Betrachtung eines Curriculummodells mit den vier Grundmerkmalen Lernziele, Lerninhalte, Lernprozess und Lernorganisation greift zu kurz. Eine curriculare Struktur bietet mehr — ja muss mehr bieten. Jedes Ausbildungsvorhaben wird seine eigene individuelle curriculare Struktur entwickeln müssen. Die Struktur des Curriculums listet die wesentlichen Strukturmerkmale des Ausbildungsvorhaben auf. Für die Ausbildung zum Coach nach der Hamburger Schule ergibt sich bei Würdigung aller Zusammenhänge folgendes curriculare System:

Ausgangspunkt aller Überlegungen, die philosophisch und andragogisch legitimiert sein sollten, ist die Frage in einem Ausbildungsvorhaben: Auf der Basis welchen Menschenbildes findet das Lernen und damit das Lehren statt? Damit einher geht die pädagogische Überlegung, ob Lernprozesse auf dem Verständnis des Behaviorismus, der kognitiven Lerntheorie, des Konstruktivismus oder von Mischformen auszugehen hat (siehe auch die Abstracts: Philosophie, Pädagogik, Andragogik, Handlungslernen). Das Handeln und Unterlassen des Ausbilders und seiner „Philosophie” muss praktisch beantwortbar, einsehbar und durch konkrete Vorgehensweisen überprüfbar und nachvollziehbar sein. „Herzstück” der Legitimation der Coachausbildung sind die drei Anliegen von Coaching: • Wahrnehmungserweiterung im Coachee auslösen, • Entwicklung von Handlungsalternativen durch den Coachee ermöglichen und • die Entscheidungsfähigkeit des Coachee sichern. 35

Durch den Coachingprozess soll damit die Unabhängigkeit des Coachee vom Coach durch das Auslösen einer nachhaltigen Selbstlernkonzeption erreicht werden (siehe die Abstracts Axiomatik, Logik, Entscheidungstheorie). Da Coaching nur in einem wertegeleiteten Kontext möglich ist, gilt es die den Kontext prägenden Werte zu definieren (wie Freiheit, Freiwilligkeit, Ressourcenzugriff und Selbststeuerung), aber auch die Werte zu bestimmen, die das konkrete Handeln des Coach beeinflussen (siehe auch Abstract Psychologie). Die Didaktik gibt Auskunft über die Inhalte, Themenkomplexe und wissenschaftlichen Quellen, die in der Ausbildung zur Anwendung kommen (siehe die Abstracts Führung, Führungswissen für den Führungsalltag). Die Methodik, also das allgemeine und konkrete Vorgehen in Lern-Lehrprozessen, muss die Werte und Anliegen sowie die systemisch-konstruktivistischen Bedingungen im Coaching unterstützen und ermöglichen (siehe Abstract Konstruktivismus/pädagogischer Konstruktivismus). In jedem Berufsstand gibt es typische Werkzeuge, Methoden und Modelle, die die Qualität des Tuns beeinflussen oder bedingen (siehe Abstract Motivationspsychologie — Motive und Motivation). Im Coaching ist der Prozess als Wirkmethode der eigentliche Star. Ihn zu verstehen und zu handhaben durch eine adäquate Lern- und Zielorganisation, ist die Voraussetzung für erfolgreiches berufliches Tun eines Coach. Verstehen bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die wesentlichen Bestandteile und Beeinflussungsmerkmale wie Kontext, Beteiligte, Thema, Kreativität, Ressourcen, Sprache, Reflexion, Abstraktion, Interaktion, Veränderung und Selbstverständnis im Coaching erkannt, gelernt und angewendet werden (siehe die Abstracts Betriebswirtschaft, Werte — Lichtspiele, Lehren und Lernen, Lernen). Der Coach ist Diener des Prozesses und damit in der qualitativen Durchführung Anwalt der unterschiedlichen Interessen der Anspruchsgruppen. Im Rahmen der Fürsorgepflicht gegenüber seinen Ausbildungsteilnehmern unterliegt der Ausbilder Rechtsvorschriften. Rechtskenntnisse benötigt zur Vertragsgestaltung nicht nur der Coachausbilder, sondern auch der am Markt agierende Coach (siehe Abstract Rechtswissenschaft und den Abschnitt Recht im Coaching). Sicherlich wird jeder Coachausbilder nach seinem Verständnis eine eigene Strategie bzw. curriculare Struktur entwerfen (siehe die Abstracts Curriculum, Marketing und Markenmanagement).

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4 Kompetenz in der systemischen Betrachtung 4.1 Kompetenz als Anspruch Umgangssprachlich werden die Begriffe Kompetenz, Qualifikation, Schlüsselqualifikation größtenteils synonym verwendet. Nähern wir uns dem Wort an, so finden wir als Wortstamm den lateinischen Begriff competenzia, der vom Verb competere abstammt. Er bedeutet sinngemäß: Zuständigkeit oder Befugnis. Diese Bedeutung des Begriffes blieb bis heute erhalten. Eine Zuständigkeit oder Befugnis wird in der Regel für einen Bereich, eine Sache oder eine Handlung durch außen zugeschrieben. Hinzugekommen ist die umgangssprachliche Deutung des Begriffes im Sinne von „Können“ bzw. „bestimmte Fähigkeiten haben“. „Können“ wird in der Regel als „anwenden können“ verstanden. So entstanden Wort-Kombinationen wie „Führungskompetenz“ oder „Kommunikationskompetenz“. Gemeinsam ist beiden Deutungen, dass Kompetenz immer in Bezug auf etwas zu sehen ist. Auch im Rahmen einer Zuständigkeit benötigt der Zuständige Fähigkeiten, die ihm bei der Erfüllung helfen. Und er muss sie anwenden können. Kompetenz kann demnach als situativ-erfolgreiches Verhalten in Kontexten verstanden werden (siehe Abstract Kommunikation). Kompetenz basiert auf Ressourcen. Faktenwissen, Fertigkeiten, Werte, Motive, Fähigkeiten und reflektierte Erfahrungen bilden zusammen die Ressourcen. Problematisch wird der Begriff Kompetenz erst, wenn beschrieben werden soll, was konkret jemand können muss, um kompetent zu sein. Abhängig davon, wie jemand z.B. Führung oder Kommunikation interpretiert, wird er andere Fähigkeiten im Sinne eines erfolgreichen Könnens auswählen wollen. Die Interpretation des Wortes orientiert sich an einem individuell definierten und gedeuteten Bezugsrahmen — an einem Kontext. Wird diese individuelle (konstruktivistische) Sichtweise zugrunde gelegt, so wird verständlich, warum eine Bewertung von Kompetenz im Allgemeinen schwierig bis unmöglich ist. Ausbilden beinhaltet die Notwendigkeit, das Ausgebildete zu überprüfen. Es ist ein breiter Konsens der Anspruchsgruppen an Kompetenz nötig, um Bewertungskriterien zu definieren. Die Sichtweise auf das Thema Coaching als empathisch-dramaturgischen Kontext beinhaltet einen Konsens in Bezug auf die Werte, die in diesem Kontext gelten. Die Werte dienen als Grundlage für eine Bewertung von Kompetenz. Die Wirkungserwartung von Coaching ist das „Erreichen einer nachhaltigen Selbstlernkonzeption“. Jede Auswahl von Fähigkeiten und Fertigkeiten eines Coach muss sich demnach an Folgendem orientieren: • •

Berücksichtigung der Werte des Kontextes Coaching Berücksichtigung des Sinns von Coaching

Zur strukturierten Auswahl von Fähigkeiten und Fertigkeiten eines Coach haben sich Kompetenzmodelle bewährt, die den Begriff Kompetenz aufgliedern.

4.2 Kompetenzmodelle Ein Kompetenzmodell ist zunächst einmal „kontext-frei“. Es beschreibt auf einer hohen Abstraktionsebene Anforderungen an Kompetenz im Allgemeinen, das heißt, ohne die Anforderungen bereits mit 37

einem konkreten Kontext bzw. mit konkreten Fähigkeiten und Fertigkeiten zu verknüpfen oder einen dezidierten Zweck zu formulieren. Untergliederungen in verschiedene „Kompetenzbereiche“ (z.B. persönliche Kompetenz, kommunikative Kompetenz, uvm.) bieten eine Struktur, die die Übersetzung in das Konkrete erleichtern soll. Auf der Abstraktionsebene allgemein verwendbarer Modelle können Ableitungen auf benötigte Fähigkeiten und Fertigkeiten in konkreten Kontexten getroffen werden. Ein „Leiter Controlling“ kann sich ebenso wie ein „Coach“ in Bezug auf seinen Kontext und den Zweck seiner Tätigkeit am Kompetenzmodell orientieren.

4.3 Das Kompetenzmodell der Hamburger Schule Das Kompetenzmodell der Hamburger Schule (Referenz) ist in erster Linie ein allgemein gültiges Modell. Ein Modell ist die komplexitätsreduzierende, abstrakte Darstellung von Wirklichkeit. Es beschreibt abstrakt die Fähigkeiten und Fertigkeiten, die ein Coach im Kontext Coaching entwickelt haben muss, um in diesem Kontext situativ erfolgreich zu sein. Tipp — Probieren Sie doch einmal, den Begriff Coach durch eine andere Funktionsbezeichnung, z.B. Leiter Forschung, zu ersetzen, um die allgemeine Gültigkeit des Modells zu erfahren. Das Kompetenz-Modell, das auch für den Kontext „Coaching“ gilt, besteht aus fünf einzeln zu betrachtenden, aber in der Situation interagierenden, thematischen Bereichen:

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dlungskompetenz

fachlichmethodische Kompetenz

FeldKompetenz

Persönliche Kompetenz

soziokommunikative Kompetenz

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HAMBURGER SCHULE Persönliche Kompetenz bedeutet, in einem Kontext eigene Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte undBegabungen identifiziert zu haben und sich selbst in seinem Verhalten einschätzen zu können. Fachlich-methodische Kompetenz bedeutet, über fachliche Kenntnisse und Fertigkeiten eines Kontextes zu verfügen und Prozesse ergebnisorientiert in diesem Kontext organisieren zu können.

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Sozial-kommunikative Kompetenz bedeutet, sich in einer Situation, selbstgesteuert mit Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen, Werten der eigenen Person und anderer Personen auseinanderzusetzen, Unterschiede zu erkennen, um dadurch einen sozialen Kontext zu vereinbaren, der die Interessen aller Beteiligten berücksichtigt. Feldkompetenz bedeutet, über reflektierte branchen-, themenspezifische und kulturelle Erfahrung in einem Kontext zu verfügen. Handlungskompetenz bedeutet, den Sinn eines Kontextes, sowie Unterschiede zu anderen Kontexten zu erkennen und die Koordination aller persönlichen Ressourcen selbstgesteuert in einem situativ-individuellen Handeln zu realisieren. Tipp — Im Coaching eignet sich dieses Modell hervorragend als Reflexionsangebot. In seiner groben Struktur durch den Coach erklärt, kann der Coachee es nutzen, um sich selbst zu überprüfen, was er, für ein erfolgreiches Verhalten in einem bestimmten Kontext, bereits an Kompetenz erworben hat und was er noch erwerben muss. Es werden Unterschiede wahrnehmbar, Entscheidungen möglich, eine „nachhaltige Selbstlernkonzeption“ entsteht. Verhalten verändert sich (siehe Axiomatik in der Theorie des Selbstorganisierten Coaching). Ausbildungs-Tipp — Das Kompetenz-Modell sollte bereits zu Beginn der Ausbildung eingeführt werden, sodass Teilnehmer aktiv eine Bestandsaufnahme machen können, einen persönlichen Lernplan ableiten und Fortschritte daran kontrollieren können.

4.4 Die Interdependenz von Kompetenz Der Begriff Kompetenz beinhaltet den Begriff Transfer (siehe Beitrag Transfertheorie im Wörterbuch), da Kompetenz grundsätzlich die höchste Taxonomiestufe widerspiegelt. Transfer bedeutet einerseits, dass Erkenntnisse aus einem Kontext zumindest gedanklich in einen anderen Kontext übertragen werden können, andererseits ist ein Transfer im Sinne eines Erkennens von Zusammenhängen zwischen den Kontextbereichen möglich und nötig. Beispiele Im Bereich persönliche Kompetenz hat ein Mensch für sich seine Motive und Werte identifiziert und einen Transfer auf den Kontext, z.B. Coaching, erbracht. Er hat erkannt (der Einfachheit halber wird nur eine Strebung referenziert), dass er ein starkes Streben nach positivem Feedback von außen hat, seinem Wesen nach ein sensibler Mensch ist und der Wert „Rücksichtnahme“ von hoher persönlicher Bedeutung ist. Im Bereich Handlungskompetenz ist durch die Überlegung „Wenn mein Wert Rücksichtnahme verletzt wird, wie reagiere ich dann? Habe ich vollen Zugriff auf meine Ressourcen?“ ein Transfer möglich. Im Bereich fachlich-methodische Kompetenz ist durch die Überlegung „Wenn mir positives Feedback Lust bereitet, spiegelt sich das auch in der Wahl meiner Methoden und fachlichen Kenntnisse wider?“ ein Transfer möglich. Im Bereich sozio-kommunikative Kompetenz ist durch die Überlegung „Wenn mir positives Feedback und Rücksichtnahme wichtig sind, wie wirkt sich das auf mein soziales Verhalten und mein Kommunikationsverhalten in bestimmten Kontexten aus?“ ein Transfer möglich. Im Bereich Feldkompetenz ist durch die Überlegung „Wenn mir positives Feedback Lust bereitet, spiegelt sich das auch in der Wahl meines Berufs und in den spezifischen Kenntnissen, die ich mir angeeignet habe, wider?“ ein Transfer möglich. 39

Ausbildungs-Tipp Nachdem die Teilnehmer Wissen über Motive und Werte erworben haben, können sie in Übungen dieses Wissen unter Verwendung des Kompetenzmodells anwenden und darüber reflektieren, welche Zusammenhänge für sie persönlich zwischen den Kompetenzbereichen existieren. Anschließend sind Transferübungen möglich, die auf der Frage basieren: „Welche Reflexion können Sie beim Coachee auslösen, wenn er über sein Thema, orientiert am Kompetenzmodell, reflektiert?“

4.5 Anspruchsgruppen an Kompetenz Kompetenz ist an einen Kontext gebunden. Ein Kontext selber kann, systemisch gesehen, wiederum Teil eines „größeren“ Kontextes sein und/oder Schnittmengen mit anderen Kontexten bilden. Verschiedene Gruppen stellen Ansprüche an eine Coachausbildung und erwarten, dass ihre Interessen berücksichtigt werden. Der Kontext Coachausbildung selber ist Teil der Kontexte seiner Anspruchsgruppen. Das heißt, die Werte des Kontextes Coaching müssen um die Werte der Anspruchsgruppen an Coaching bzw. eine Coachausbildung ergänzt werden. Diese Vorgehensweise entspricht einer systemischen Sicht (Marktsicht) auf Kompetenz. Beispiel — Coaching orientiert sich an den Werten Freiheit, Freiwilligkeit, Ressourcenverfügung, Selbststeuerung. Werte einer Anspruchsgruppe aus der Wirtschaft können z.B. Effizienz, Effektivität, Plausibilität sein. Sofern hier keine Kollision der Werte vorliegt, was die Ausbildung wenig glaubhaft machen würde, muss die Ausbildung im Sinne der Kompetenzen diese Werte ebenfalls berücksichtigen, sofern sie vom „Markt“ akzeptiert werden möchte. Hinweis — Im „Markt“ herrscht teilweise ein buntes Verständnis in Bezug auf Coaching. Die Deutungen reichen von Beratung über Training bis hin zur Therapie. Eine Übereinstimmung ist bisher nur darin zu erkennen, dass unter Coaching weitestgehend „Hilfe zur Selbsthilfe“ verstanden wird. Auch diese plakative Formulierung ist den unterschiedlichsten Deutungen unterworfen. Für die „Vermarktung“ einer Ausbildung bedeutet das, dass für die Ausbildung formuliert werden muss, was unter „Hilfe zur Selbsthilfe“ verstanden wird. So wird an vorhandenes Wissen „angedockt“ und gleichzeitig die Grundlage für den Kunden geschaffen, Ausführungen 40

zur Ausbildung bewerten zu können. Zur Vereinfachung wird festgelegt, dass die Anspruchsgruppen denselben Sinn im Coaching sehen. Curriculare Anspruchsgruppen Innerhalb des Curriculum-Modells der Hamburger Schule beeinflussen die Anspruchsgruppen über eine Interaktion mit den Themengebieten das Curriculum. Es gibt allgemein zwei Möglichkeiten der Interaktion: • •

Das Curriculum ist als Ganzes ausformuliert — bestimmte Gruppen fühlen sich angesprochen, da sie ihre Ansprüche im Curriculum verwirklicht sehen. Die Anspruchsgruppen werden bestimmt — deren Ansprüche werden in das Curriculum integriert.

Es gibt aus Sicht des Marketings zwei Möglichkeiten, den Begriff einzugrenzen: •



Die Ausbildung ist als Ganzes ausformuliert und wird beworben — bestimmte Gruppen fühlen sich angesprochen, da sie ihre Ansprüche im Angebot verwirklicht sehen (Marketing: Push-Strategie). Die Anspruchsgruppen werden bestimmt — Ansprüche werden integriert und die Ausbildung wird zielgruppengerecht beworben (Marketing: Pull-Strategie).

Je besser Ansprüche curricular verwirklicht werden, desto höher die Legitimation des Curriculums einer Ausbildung und umso wahrscheinlicher auch der Vermarktungserfolg. Hinweis — Auch die Auswahl von Anspruchsgruppen und die Überlegung, welche Interessen die Anspruchsgruppen haben können, erfordert Kompetenz. Unsere eigenen Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen wirken sich auf das aus, was wir vermuten, das andere es wollen. Sicherheit gibt hier nur die tatsächliche Befragung der Anspruchsgruppen vor dem Hintergrund bestmöglicher eigener Handlungskompetenz. Nachfolgende Ausführungen spiegeln die empirischen Kenntnisse der Autoren wider und orientieren sich am Curriculum-Modell der Hamburger Schule (siehe Abstract Systemtheorie). Aus den Ansprüchen werden Folgerungen abgeleitet, die in das Curriculum der Ausbildung eingehen. Gleichzeitig sind aus den Ansprüchen Folgerungen für das Marketingkonzept einer Coachausbildung ableitbar. Die Öffentlichkeit Öffentlichkeit sind alle Personen und Gruppen von Personen, die sich zum Thema Coaching eine Meinung gebildet haben oder sich eine Meinung bilden wollen. Diese Meinungsbildung kann über verschiedenste Medien geschehen. Jedes Ereignis, jede Entwicklung geht in die öffentliche Meinung ein. Eine Identität sowohl als Coach als auch als Thema Coaching entsteht dann, wenn eine Öffentlichkeit Unterschiede erkennen kann. Diese Unterschiede beziehen sich auf das, was Coaching erreichen will, und auf die Werte, die mit Coaching verbunden werden. Erst nach diesem Schritt werden Feinheiten, wie z.B. unterschiedliche Methoden, wahrgenommen. Damit ein Unterschied wahrgenommen werden kann, wird etwas Beobachtetes mit etwas Bekanntem verknüpft. 41

Beispiel — Zu den Themen Training, Therapie, Beratung existiert eine öffentliche Meinung. Jeder, der sich mit diesen Themen einmal beschäftigt hat, hat sich dazu eine Meinung gebildet. Das Thema ist bekannt. Ob die Meinung richtig oder falsch ist, wird durch denjenigen, der eine Meinung hat, nicht bewertet. Der Begriff „Coaching“ wird mit Bekanntem verknüpft. Erst wenn der Unterschied zu Bekanntem individuell als nicht mehr verknüpfbar empfunden wird, erhält etwas Neues seine Eigenständigkeit bzw. eine Identität. Coachs definieren Coaching bisweilen als „Beratung auf Prozessebene“. In dieser Formulierung steckt die scheinbare Tatsache, dass Coaching mit dem Bekannten „Beratung“ verknüpft ist. Die Wahrnehmung von Unterschieden kann nur noch über das Wort Prozessebene geschehen. In der öffentlichen Meinung, die sich über diese Definition gebildet hat, wird Coaching Beratung bleiben. Der Anglizismus des Wortes Coaching löst möglicherweise aus, dass es sich um eine „moderne“ Form der Beratung handelt. Es ist demnach möglich, dass eine Öffentlichkeit unter der Ausbildung von Coachs eine moderne Beraterausbildung versteht und mit dementsprechenden Erwartungen in eine Coachausbildung startet (siehe die Abstracts Linguistik und Semantik). Öffentlichkeit ist auch ein Kontext. Wird gedanklich die Öffentlichkeit als Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland genommen, so gilt in diesem Kontext das Grundgesetz. Das Grundgesetz formuliert die verbindlichen Werte (Normen), an denen sich alle im Kontext befindlichen Personen zu orientieren haben, um ein gedeihliches Miteinander zu ermöglichen. Coaching selbst ist ein Kontext, der innerhalb dieses Kontextes existiert. Demzufolge muss Coaching bestehende Gesetze berücksichtigen (siehe Abstract Rechtswissenschaft). Curriculare Folgerungen Das Curriculum muss geltende Gesetze und Verordnungen berücksichtigen, Ausbilder und zusätzliches Personal müssen eine „weiße Weste“ haben. Innerhalb des Curriculums muss der Begriff Coaching eine Eigenständigkeit erhalten. Um einer öffentlichen Meinung zu begegnen, muss das Curriculum den Teilnehmer als Marktteilnehmer sehen, der seine Dienstleistung gegenüber einer Öffentlichkeit vertritt (siehe auch Grafik „St. Galler Management Modell”). Die Ausbildungsteilnehmer Jedes Individuum innerhalb einer Ausbildung ist gleichzeitig eine Ressource. Eine Ausbildung profitiert vom „Input“ und Wesen ihrer Teilnehmer. Lernen orientiert sich an individuellen Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen, Werten, Begabungen und Erfahrungen. Lernen als Verhalten orientiert sich auch an den Anforderungen des Kontextes. Jeder Teilnehmer und jeder Ausbilder und Betreuer ist Teil des Lernkontextes. Die gemeinsamen Werte dieses Kontextes sind die Grundlage für eine Identitätsbildung der Ausbildungsgruppe. Die Identität als Ausbildungsgruppe wirkt sich auf das Lernverhalten aus. Ein Teilnehmer verbindet mit seiner Ausbildung eine Identitätserwartung. Er nimmt in seiner Entscheidung für eine Ausbildung Erwartungen an Werte vorweg. Dazu vergleicht er sich mit der Zielgruppe dieser Ausbildung und allem anderen Personal, das an der Lehre beteiligt ist. Auch das Ziel der Ausbildung und die curricularen Themengebiete müssen seine Erwartungen reflektieren. Seine Ansprüche gehen aus individuellen Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen, Werten, Begabungen und Erfahrungen im Kontext Ausbildung hervor. Eine Voraussetzung für Lernen ist das Wahrnehmen von Unterschieden. Erst dadurch wird individuell entschieden, ob der Unterschied von Interesse ist und der Unterschied durch Lernen geschlossen werden soll. Hinweis — In der Pädagogik wird oft zwischen heterogenen und homogenen Ausbildungsgruppen unterschieden, wobei die Merkmale, die zur Bewertung führen, oftmals nicht genannt wer42

den. Eine Ausbildungsgruppe kann über die Merkmale Alter, Geschlecht, Schulbildung als heterogen eingestuft werden. Über Merkmale wie Werte, Begabung, Erfahrung kann dieselbe Gruppe auch als homogen bewertet werden. Homogenität unterstützt die Identitätsbildung und das Lernen. Entscheidend sind jedoch die Merkmale, die zur Bewertung genutzt werden. Das aus dem Behaviorismus bekannte Modelllernen ist aus einer konstruktivistischen Sicht nicht haltbar. Die Akzeptanz eines Modells hängt von individuellen Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen, Werten, Begabungen und Erfahrungen innerhalb eines Kontextes Ausbildung ab. Nachmachen oder Nachahmen bedeutet nur, dass ein Teilnehmer nachahmen kann. Es bedeutet aber zwangsläufig nicht, dass er auch etwas lernt im Sinne seiner Individualität und im Sinne der Ausbildung bzw. im Sinne von Kompetenz. Beispiel — Ausbildungsteilnehmer verfügen in der Regel nicht über einen identischen unternehmenskulturellen Hintergrund. Die Kultur in einer Werbeagentur ist gänzlich anders als in einem Industrieunternehmen. Der Geschäftsführer einer Werbeagentur und der Geschäftsführer eines Industrieunternehmens unterliegen beide denselben betriebswirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten. Eine Identitätsbildung über den Wert, z.B. Unternehmer, ist möglich. Kommt ein talentierter Spezialist hinzu, ist die Identitätsbildung erschwert. Mit der Teilnahme an einer Coachausbildung verbindet ein Teilnehmer in der Regel die Absicht, Kompetenz als Coach zu erwerben. Seine Kompetenz möchte er in seinem individuellen Kontext, z.B. im Unternehmen oder als Selbstständiger anwenden können. Das verbindende Glied, das Bestandteil aller Kontexte ist, ist der Teilnehmer selbst. In Erwartung einer Verbesserung von Kompetenz in anderen Kontexten möchte ein Teilnehmer sich selbst erfahren und bewerten können. Curriculare Folgerungen Das Curriculum muss in jedem Fall den Konstruktivismus berücksichtigen. Die Auswahl der Teilnehmer, Ausbilder und von zusätzlichem Personal muss eine Identitätsbildung als Ausbildungsgruppe ermöglichen. Der Ausbildungskontext muss im Hinblick auf seine Werte für die Teilnehmer attraktiv sein. Curriculare Themengebiete müssen die individuellen Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte, Begabungen und Erfahrungen der Teilnehmer berücksichtigen. Das Curriculum muss Identität stiften, aber Unterschiede als Lernanreiz wahren. Das Curriculum muss Transfermöglichkeiten in die individuellen Kontexte der Teilnehmer enthalten. Der Kunde Kunde einer Ausbildung können Einzelpersonen sein. Sie sind mit dem Ausbildungsteilnehmer gleichzusetzen. Kunde ist auch das Unternehmen, das Coachs für eigene Vorhaben ausbilden lässt. Ein ausgebildeter Coach bereichert das Humankapital eines Unternehmens und wird Teil einer Personalentwicklungsstrategie sein. Abhängig vom Verständnis von Coaching wird ein Unternehmen den betriebswirtschaftlichen Nutzen von Coaching unterschiedlich bewerten: Eine „nachhaltige Selbstlernkonzeption“ bedeutet, dass der Kunde des Coach seine Erkenntnisse aus dem Coaching in andere Kontexte übertragen kann, und fördert damit seine Handlungskompetenz auch in anderen Kontexten. Wird unter Coaching eine „Lösungsorientierung“ verstanden, so besteht die Möglichkeit, dass der Kunde des Coach lediglich unter Anleitung eine Lösung für ein konkretes Thema entwirft, aber keinen Zugewinn an Kompetenz erfährt. Die Coachausbildung ist aus Sicht eines Unternehmens eine Investition in den Mitarbeiter, die sich in angemessener Zeit rentieren soll.

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Curriculare Folgerungen Der betriebswirtschaftliche Nutzen der Coachausbildung muss durch das Curriculum berücksichtigt werden und für ein Unternehmen erkennbar sein. Mit Abschluss der Ausbildung muss ein Coach ausgebildet bzw. kompetent sein und seine Funktion innerhalb der Personalentwicklungsstrategie wahrnehmen können. Die durch Abwesenheit des Mitarbeiters entstehenden Kosten und die Kosten für die Coachausbildung folgen dem Zusammenhang von Zeit-Kosten-Qualität. Der ausgebildete Coach versteht die Absicht seines Unternehmens in Bezug auf seine Ausbildung. Die für das Unternehmen relevanten Coachinganlässe müssen im Curriculum enthalten sein bzw. durch das Curriculum berücksichtigt werden. Die Ausbilder Eine konstruktivistische Sicht auf den Ausbilder beinhaltet die Erkenntnis, dass ein Ausbilder aufgrund eigener Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte, Begabungen und Erfahrungen selbst Ansprüche an eine Ausbildung stellt. Je höher die Kompetenz eines Ausbilders, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ausbilder über Ansprüche, die er selbst an eine Coachausbildung stellt, reflektieren kann. Auch die „intellektuelle Belastbarkeit“ des Ausbilders beeinflusst das, was ausgebildet wird. Ein Ausbilder wird in der Regel seinem intellektuellen Anspruch gerecht werden wollen. Beispiel — Ein Ausbilder, der ein starkes Streben nach positivem Feedback aus seinem Umfeld hat, reflektiert möglicherweise nicht darüber, wie sich dieses Streben curricular und im Handeln als Ausbilder bemerkbar macht. Eventuell ist die Ausbildung so angelegt, dass Konflikte vermieden werden. Das kann die Entwicklung der Teilnehmer und die Entwicklung des Ausbilders erheblich beeinflussen. Denkbar ist auch, dass ein Ausbilder selbst über keine Erfahrung in einem unternehmerischen Umfeld verfügt und einen geringen intellektuellen Anspruch hat. Dieser Ausbilder wird in der Regel keinen unternehmerischen Praxisbezug herstellen wollen und ein Niveau anstreben, das das eigene nicht übersteigt. Dieses Phänomen wirkt sich auf alle curricularen Themengebiete aus. Curriculare Folgerungen Ein Ausbilder soll die Kompetenz von Coachs entwickeln und bewerten können. Bewertet werden kann nur das, was auch entwickelt wurde. Die Qualität einer Ausbildung ist direkt abhängig von der Kompetenz der Ausbilder. Ein Ausbilder kann nur Ansprüchen gerecht werden, denen er selbst genügt. Im Curriculum ist die „Passung“ des Ausbilders zu den Ansprüchen der anderen Gruppen zu beachten.

4.6 Potenzialanforderungen an Auszubildende und Ausbilder Der Begriff Potenzial kann als Leistungsvermögen verstanden werden. Leistungsvermögen bezieht sich, ebenso wie der Begriff Kompetenz, auf einen konkreten Kontext. Um Kompetenz zu erreichen bedarf es eines Leistungsvermögens als Voraussetzung. Innerhalb der Psychologie wurden verschiedene Tests entwickelt, um Potenziale im Berufsleben zu messen. Diese Form der Bewertung unterliegt vor allem einem betriebswirtschaftlichen Nutzen, da falsche Entscheidungen in Bezug auf die Verwendung von Humankapital bestmöglich vermieden werden sollen. Auf diese Weise kann ebenfalls ein möglicher Aufwand an Ressourcen geschätzt werden, der für die Entwicklung von Kompetenz nötig 44

wäre. Mit dem Potenzialbegriff einher geht der Begriff Motivation. Ein Coach wird Kompetenz erreichen, wenn es ihm Lust bereitet, er — vereinfacht gesagt — das Gefühl hat, seine Motive im Kontext Coaching entfalten zu können. Erkenntnisse haben als Grundvoraussetzung das Interesse. Doch nutzen die stärksten Motive wenig, wenn das intellektuelle Leistungsvermögen und die motorischen Fähigkeiten nicht ausreichen, um zu lernen. Eine besondere Bedeutung im Zusammenhang mit dem Begriff Potenzial kommt dem Kontext zu. Menschen können ihre Motive dann entfalten, wenn auch die Werte des Kontextes für sie attraktiv sind. Auszubildende und Ausbilder müssen den Kontext und damit die Werte von Coaching als attraktiv empfinden (siehe Abstract Ziele). Hinweis — Bisher gibt es keine gesicherten Forschungsergebnisse, welches Potenzial ein angehender Coach mitbringen muss. Nachfolgende Hinweise können lediglich empirisch belegt werden. Der Begriff Motiv wird synonym zum psychologischen Begriff Strebung verwandt. Beispiele für Motive entstammen der komplexen, nicht hierarchischen Ordnung der Grundmotive des Menschen, so wie sie z.B. durch STEVEN REISS (Professor für Psychologie und Psychiatrie an der Ohio State University) und in der Weiterentwicklung durch die MotivStrukturAnalyse (MSAprofile Ltd. — Niederlassung Deutschland) formuliert worden sind. Förderliche Motive Streben nach Führung, Gestaltung, Verantwortung Der Coach trägt die Verantwortung für den Coachingprozess. Menschen mit dieser Strebung fällt es in der Regel leichter, die Prozessverantwortung zu übernehmen. Streben nach Intellektualität und dem Erkennen von Zusammenhängen Die Hypothesenbildung eines Coach ist um so wertvoller, je besser er Zusammenhänge verschiedener Theorien und Modelle erkennen kann. Streben nach Freiheit, Autarkie, Selbstgenügsamkeit Ein Coach, der die Bindung an seinen Coachee sucht, wird ggf. seiner ausschließlichen Verantwortung für den Prozess nicht gerecht. Streben nach Klarheit, guter Organisation, Struktur, Stabilität Der Prozess im Coaching als grundlegender, reflexionsauslösender Ablauf bietet durch seine Struktur Orientierung für Coachee und Coach. Die Gefahr, aus einer Lust an Flexibilität den Prozess zu verlassen, ist so deutlich geringer. Hinderliche Motive Streben nach sozialer Akzeptanz, Zugehörigkeit und positivem Selbstwert Ein Coach, dem ein positives Feedback sehr wichtig ist, wird ggf. auf Konfrontation verzichten und möglicherweise aus dem Wertekontext seines Coachee heraus agieren. Streben nach sozialer Gerechtigkeit und Fairness Im Coaching steht der Coach den Werten seines Coachee neutral gegenüber, da er den Werten von Coaching verpflichtet ist. Mit dieser Strebung geht die Gefahr einher, in den eigenen Werten durch den Coachee berührt zu werden und somit die Handlungskompetenz zu verlieren. Streben nach Freundschaft, Nähe zu anderen und Humor Coaching ist eine Arbeitsbeziehung, das heißt, eine Beziehung auf Zeit. Freundschaft und Nähe gefährden die Selbstständigkeit des Coachee. Streben nach Konkurrenz, Wettkampf Diese Strebung kann den Coach vom Thema entfernen, sodass er den Zweck von Coaching aus den Augen verliert. 45

Streben danach, anderen Menschen selbstlos zu helfen und sie zu unterstützen Im Coaching geht es darum, eine nachhaltige Selbstlernkonzeption zu entfalten. Jede Form von Hilfe und Unterstützung geht zulasten dieses Ziels. Förderliche Intelligenzen Nachfolgende Überlegungen beziehen das Prinzip der multiplen Intelligenzen von HOWARD GARDNER ein. Diese Theorie kritisiert die Auffassung, es gebe nur eine einzige Intelligenz, die mit psychometrischen Standardinstrumenten gemessen werden könnte. Sprachlich-linguistische Intelligenz Zur sprachlich-linguistischen Intelligenz gehört die Sensibilität für die gesprochene und die geschriebene Sprache, die Fähigkeit, Sprachen zu lernen, und die Fähigkeit, Sprache zu bestimmten Zwecken zu gebrauchen. Wichtigstes Medium des Coach ist die Sprache, ob von Angesicht zu Angesicht, per E-Mail oder am Telefon. Mit Sprache wird Komplexität reduziert, Reflexion ausgelöst uvm. Sprache ist generell unscharf. Worte erhalten ihre Bedeutung durch den Kontext der Wortverwendung. Aufgabe des Coach ist es, Bedeutungen und Bedeutungszusammenhänge zu hinterfragen, um a) die Hypothesenbildung zu legitimieren und b) über das Nachfragen Nachdenken auszulösen. Logisch-mathematische Intelligenz Zur logisch-mathematischen Intelligenz gehört die Fähigkeit, Probleme logisch zu analysieren, mathematische Operationen durchzuführen und wissenschaftliche Fragestellungen zu untersuchen. Das Problem des Coachee ist nicht das Problem des Coach. Die Fähigkeit logisch zu analysieren erleichtert die Hypothesenbildung und verbessert dadurch auch die Qualität der Reflexionsangebote. Naturalistische Intelligenz Als interpersonale Intelligenz wird die Fähigkeit bezeichnet, natürliche Objekte zu erkennen, zu klassifizieren und zu differenzieren. Eine Aufgabe des Coach ist es, Komplexität zu reduzieren und damit intellektuell bearbeitbar zu machen. Um seinem Coachee Reflexionsangebote zu machen, die ihm helfen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erkennen (Axiom 20) benötigt ein Coach diese Fähigkeit. Intrapersonale (emotionale) Intelligenz Die intrapersonelle Intelligenz ist die Fähigkeit, sich selbst zu verstehen, ein Bild der eigenen Persönlichkeit — mitsamt ihren Wünschen, Ängsten, Fähigkeiten — zu entwickeln und dieses Wissen im Alltag zu nutzen. Ein Coach muss persönliche Kompetenz entwickelt haben. Sie ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für Handlungskompetenz. Jedes Modell, jede Methode sollte ein Coach dazu an sich selbst erprobt haben. Erst wenn er sich selbst versteht, kann er, auch in einem ethischen Sinn, anderen helfen, sich zu verstehen. Zusammengefasst Potenzial ist abhängig ... • vom Kontext und dessen Anforderungen • von der Motivstruktur • vom intellektuellen Leistungsvermögen

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Eine Ausbildung sollte darüber informieren, welches Potenzial aus ihrer Erfahrung heraus notwendig ist, um die Kompetenzen eines Coach zu erfüllen. Der Ausbilder sollte über das Potenzial eines Coach verfügen und dabei beachten, dass sein Potenzial zumindest über dem querschnittlichen Potenzial seiner Teilnehmer liegt .

4.7 Kompetenz und grundlegende Pflichten des Ausbilders Innerhalb eines Curriculums hat ein Ausbilder eine zentrale Funktion. Wird ein Curriculum durch einen Ausbilder entwickelt, so entspricht das Curriculum oftmals dem Maß an Kompetenz, das der Ausbilder bereits erworben hat. Er selbst stellt Ansprüche an eine Ausbildung. Gleichzeitig stellt eine Ausbildung auch Ansprüche an den Ausbilder. Der Ausbilder ist für die Durchführung und das Ergebnis der Ausbildung verantwortlich, muss aber nicht selbst das Curriculum entwickelt haben. Neben einem gewissen Maß an „intellektueller Belastbarkeit“ ist eine der Voraussetzungen für einen Ausbilder, dass er selbst als Coach „kompetent“ ist. In einer Ausbildung muss er sich zusätzlich an Werten orientieren, die seine Verantwortung für die Durchführung der Ausbildung widerspiegeln. Seine Kompetenz ist also am Kontext „Ausbildung“ zu orientieren. Grundvoraussetzung für den Ausbilder ist, dass er die Interdependenzen bzw. gegenseitigen Abhängigkeiten des Kompetenzmodells erkannt hat und einen Transfer auf seine Funktion innerhalb des Kontextes Ausbildung erbringen kann.

Die folgenden Initiativpflichten werden orientiert am Kompetenzmodell beschrieben und sind für sich selbst wiederum „interdependent“. Der Sinn der individuellen Erfüllung dieser Pflichten liegt in der Handlungskompetenz des Ausbilders im Kontext Ausbildung.

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Die 14 Initiativpflichten eines Ausbilders im Spiegel des Kompetenzmodells Jede Initiativpflicht erfordert ein Zusammenspiel einzelner Fähigkeiten, auf die koordiniert zurückgegriffen werden kann, um situativ und individuell erfolgreich als Ausbilder zu handeln bzw. Handlungskompetenz als Ausbilder erreicht zu haben. 1. Auseinandersetzen mit der Zukunft Eine Ausbildung hat ein Ende. Doch ist diese Ausbildung auch Teil eines Marktes, der sich verändert. Trends, Technologien, wissenschaftliche Erkenntnisse, Werte und vieles mehr verändern sich. Dieser Tatsache stehen nicht nur die Teilnehmer einer Ausbildung gegenüber. Auch die Ausbildung als solche ist kein statisches Gebilde. Eine Auseinandersetzung mit der Zukunft bedeutet, dass heute bereits mögliche zukünftige Entwicklungen vorwegzunehmen und in die Ausbildung zu integrieren sind. Integration heißt in diesem Sinne Weiterentwicklung bzw. Evolution. Doch eine Auseinandersetzung kann auch bedeuten, das Bestehende gegebenenfalls zur Gänze einzureißen und neu aufzubauen (Revolution). Im Rahmen seiner persönlichen Kompetenz muss der Ausbilder sich fragen, welche seiner eigenen Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen diese Form der Auseinandersetzung begünstigen und eine Entwicklungsabsicht in Bezug auf die Berücksichtigung möglicher zukünftiger Entwicklungen fassen. Im Rahmen seiner fachlich-methodischen Kompetenz muss er darüber reflektieren, welches Wissen und welche Methoden er zukünftig benötigt, wie er sie anwenden wird und welcher Transfer dadurch möglich ist. Im Rahmen seiner sozio-kommunikativen Kompetenz muss der Ausbilder darüber reflektieren, welche Werte zukünftig Kommunikation und Lernen beeinflussen werden und welche Auswirkung das auf die Ausbildungsgestaltung haben wird. Das bezieht die Auseinandersetzung mit den Kontexten der Auszubildenden mit ein. Im Rahmen seiner Feldkompetenz muss er mögliche zukünftige Entwicklungen in den Branchen, Themen und der Unternehmenskultur der Anspruchsgruppen an die Ausbildung vorwegnehmen und die Auswirkungen auf den Kontext Ausbildung bewerten. 2. Motivation auslösen Jeder Mensch verfügt über eine individuell ausgeprägte Motivstruktur und hat in diesem Zusammenhang Werte und Kontexte identifiziert, in denen sich seine Motive entfalten können. Motivation auslösen bedeutet, diese Individualität zu berücksichtigen, sich der Motive und Werte seines Gegenübers bewusst zu sein und sie gezielt anzusprechen, sodass der Angesprochene einen Vorteil für sich selbst spüren kann und damit aktiviert ist. Aktivierung bedeutet, die innere Bereitschaft zu aktivieren, damit Teilnehmer aus sich heraus bereit sind, Lernerfahrungen zu machen. Im Rahmen seiner persönlichen Kompetenz muss sich der Ausbilder seiner eigenen Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen bewusst sein und darüber reflektiert haben, in welchen Kontexten bzw. durch welche Werte sie angesprochen werden. Aus dem Vergleich mit den unterschiedlichen Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen, Werten und Begabungen seiner Teilnehmer im Kontext Ausbildung gewinnt er Erkenntnisse, seine Fähigkeit Motivation auszulösen und zu verbessern. Im Rahmen seiner fachlich-methodischen Kompetenz benötigt ein Ausbilder wissenschaftlich überprüfbare Kenntnisse über Motivation und kann orientiert an den Motiven und Werten seiner Teilnehmer geeignete (aktivierende) Methoden auswählen bzw. gestalten. Er muss weiterhin 48

darüber reflektieren, welche methodischen Vorlieben er aufgrund seiner Persönlichkeit hat und ob diese Vorlieben die individuelle Motivstruktur seiner Teilnehmer berücksichtigen. Beispiel — Teilnehmer mit einem starken Streben nach Struktur, Klarheit und stabilen Prozessen bevorzugen eine Information zum Tagesablauf und zum Ziel eingesetzter Methoden, um dieses Motiv gezielt anzusprechen. Beispiel — Teilnehmer mit einem Streben nach Gestaltung, Führung und Einfluss bevorzugen Methoden wie Gruppenarbeiten, deren Arbeitsergebnisse in das Ausbildungsgeschehen einfließen. Beispiel — Teilnehmer mit einem starken Streben nach positiver Rückmeldung benötigen eine konkrete Rückmeldung, was sie wann warum besonders gut gemacht haben. Ausbildungstipp — Je mehr sich ein Ausbilder darüber bewusst ist, welchen Zusammenhang Methoden und Motivation bilden, desto mehr wird er dazu übergehen, eine methodische Vielfalt anzubieten, um im Verlauf einer Ausbildung querschnittlich den unterschiedlichsten Motiven gerecht zu werden. Im Rahmen seiner sozio-kommunikativen Kompetenz hat ein Ausbilder im Kontext Ausbildung Werte etabliert, die der Entfaltung individueller Motive und dem Ausbildungsziel förderlich sind. Beispiel — Der Wert „Respekt“ beinhaltet, dass Teilnehmer — auch wenn ihr Beitrag nur entfernt etwas mit Ausbildung und Coaching zu tun hat — erleben, dass ihr Ausbilder ihren Beitrag ernst nimmt. Er hilft, eine neue Sichtweise zu entdecken und so Motivation zu ermöglichen. Gleichzeitig bedeutet er auch, den Ausbilder in seiner Funktion zu „respektieren“. Der Wert „Struktur“ beinhaltet, dass es eine Lern- und Zielorganisation gibt. Teilnehmer mit einem starken Streben nach „Struktur, Klarheit und stabilen Prozessen“ können sich entfalten. Gleichzeitig gibt es Teilnehmer, die nach Flexibilität streben. Wäre die Struktur starr, könnte sich ihr Motiv so nicht entfalten. Innerhalb einer Ausbildung ist ein Wert demnach so zu deuten, dass er bestmöglich unterschiedlichsten Strebungen gerecht wird. Die innerhalb einer Ausbildung vorgelebten Werte bilden den Rahmen für das Verhalten aller Beteiligten. Sie gelten für Auszubildende und Ausbilder gleichermaßen. Genau genommen ist auch „kommunizieren“ ein Verhalten. Die Art und Weise, in der kommuniziert wird, orientiert sich an den Werten des Kontextes Ausbildung. Auch Pünktlichkeit und Verständlichkeit können Werte sein. Im Rahmen seiner Feldkompetenz benötigt der Ausbilder Erfahrung, aus welchen Kulturen (synonym zu unternehmerischem Kontext) seine Teilnehmer kommen, welche Werte z.B. in einer bestimmten Branche wichtig sind oder in einer bestimmten Unternehmensform (Rechtsform). Durch einen Transfer der Erfahrung in den Kontext Ausbildung muss er entscheiden, welche dieser kulturellen Werte seiner Teilnehmer integriert werden, damit sich individuelle Motive bestmöglich entfalten können. 3. Arbeitsabläufe planen Eine Methode, ein Prozess oder ein bestimmtes Vorgehen sind Arbeitsabläufe. Ein bestimmtes Ergebnis soll durch einen geplanten Ablauf an Arbeiten erreicht werden. Im Sinne einer Ausbildung wird das Ergebnis in der Qualität durch die Taxonomie beschrieben. Jeder Arbeitsablauf muss die Werte des Kontextes Ausbildung berücksichtigen. Die Planung eines Arbeitsablaufes 49

beeinflusst den verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen und macht den Arbeitsablauf gleichzeitig „bewertbar“. Auf diese Weise wird die Grundlage zur Optimierung von Abläufen geschaffen. Im Rahmen seiner persönlichen Kompetenz hat der Ausbilder reflektiert, welche seiner eigenen Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen der Planung von Arbeitsabläufen förderlich sind. Aus seiner Selbsteinschätzung leitet er ggf. eine Veränderungsstrategie ab. Im Rahmen seiner fachlich-methodischen Kompetenz verfügt der Ausbilder über das methodische Wissen zur Planung von Arbeitsabläufen. Er ist sich der Anforderungen des Kontextes Ausbildung bewusst und erschafft passende Arbeitsabläufe. Im Rahmen seiner sozio-kommunikativen Kompetenz ist sich der Ausbilder bewusst, dass jeder Arbeitsablauf in einem durch Werte gedeuteten Kontext, der Ausbildung, abläuft. Die Akzeptanz eines Ablaufs steht in Zusammenhang mit Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen, Werten und Begabungen der Ausbildungsteilnehmer. Der Ausbilder erbringt einen Transfer auf die Gestaltung der Arbeitsabläufe innerhalb der Ausbildung. Im Rahmen seiner Feldkompetenz nutzt ein Ausbilder seine persönliche Erfahrung über Arbeitsabläufe im Arbeitsumfeld seiner Teilnehmer und erbringt einen Transfer auf die Ausgestaltung von Arbeitsabläufen, die in der Ausbildung verwandt werden sollen. Beispiel — Nicht in jedem Unternehmen ist es üblich, mit bestimmten Medien, wie z.B. Powerpoint zu arbeiten. Beinhaltet ein Arbeitsablauf Mittel, die dem Teilnehmer nicht vertraut sind, so müssen auch diese Mittel orientiert an der Taxonomie eingeführt werden. 4. Führen mit Zielen Ein Ausbilder ist eine Führungskraft. Ihm obliegt die Verantwortung, ein Ergebnis zu erreichen. In diesem Sinne ist er wertschöpfend tätig. Ein Ziel kann als ein zu einem bestimmten Zeitpunkt eingetretenes, konkret beschriebenes Ergebnis verstanden werden. Im klassischen Sinne kann das Führen mit Zielen wie folgt unterschieden werden: Führen durch Zielanweisung. Dabei sind Menge, Güte, Zeit, Anforderungen, Verfahren und Abläufe konkret festgelegt und werden „fremd-kontrolliert“. Führen durch Zielvorgabe. Dabei ist das Ziel konkret vorgegeben, der Weg zum Ziel ist jedoch unbekannt. Entweder entwickelt der „Geführte“ selber einen Weg oder die Führungskraft entwickelt mit dem „Geführten“ gemeinsam einen Weg. Gemeinsam wird auch das Ergebnis kontrolliert. Führen durch Zielvereinbarung. Dabei entwickeln und vereinbaren Führungskraft und Geführter gemeinsam ein Ziel. Der Geführte findet entweder selbst einen Weg oder die Führungskraft coacht den „Geführten“, der für die Durchführung von Maßnahmen selbst verantwortlich bleibt. Gemeinsam wird das Ergebnis kontrolliert. Als Führungskraft führt ein Ausbilder mit „Lern-Zielen“. Die Taxonomie als Ziel- und Ergebnisbeschreibung enthält Hinweise auf den Grad der Eigenständigkeit, der einem Teilnehmer zugeschrieben wird. Im Rahmen seiner persönlichen Kompetenz hat ein Ausbilder eigene Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen identifiziert, die sein Führungsverhalten in Bezug auf das Führen mit Zielen beeinflussen. Er erkennt selbst, aus welchem Grund er bestimmte Verhaltensweisen bevorzugt und leitet ggf. eine Veränderungsstrategie ab. Im Rahmen seiner fachlich-methodischen Kompetenz verfügt ein Ausbilder über fachliche Kenntnisse und Fertigkeiten zum Thema Führen mit Zielen. Das Ergebnis seiner Reflexion über die Anforderungen des Kontextes Ausbildung fließt in die Planung ergebnisorientierter Abläufe ein. Im Rahmen seiner sozio-kommunikativen Kompetenz ist er fähig, das Ausbildungsgeschehen als einen Kontext zu vereinbaren, der „Führen mit Zielen“ als Wert enthält. 50

Im Rahmen seiner Feldkompetenz verfügt der Ausbilder über spezifische Kenntnisse zu „Führen mit Zielen“ im Kontext der Berufsbilder seiner Auszubildenden und erbringt einen Transfer in den Kontext Ausbildung. 5. Entscheiden Eine Entscheidung ist eine bewusste Wahl zwischen Alternativen. Sie hängt zusammen mit eigenen Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen, Werten und Begabungen innerhalb eines oder mehrer Kontexte. Grundlage für Entscheidungen sind Ressourcen, die der Komplexität des oder der Kontext(e) gerecht werden müssen, in denen Entscheidung stattfindet. Die emotionale und kognitive Vorwegnahme möglicher Folgen einer Entscheidung beschreibt die Attraktivität. Diese Folgerung ist die Grundlage einer Entscheidung. Entscheidungen sind selten rational, da die wirkliche Komplexität durch das Individuum selbst konstruktivistisch erfasst wird. Aus diesem Grunde werden die meisten Entscheidungen in Unsicherheit getroffen. Entscheiden ist der Beginn von beobachtbarem Verhalten. Entscheiden bedeutet im Kontext einer Ausbildung auch, bewusst Komplexität zu reduzieren. In Abhängigkeit vom Kontext, dem Ausbildungsziel und der zur Verfügung stehenden Zeit muss eine Wahl getroffen werden, in welchem Umfang welche Themen vermittelt werden. Aus der Pädagogik ist hier der Begriff „didaktische Reduktion“ bekannt. Beispiel — Das Themengebiet „Motivation“ umfasst u.a. geschichtliche Aspekte, unterschiedliche Theorien und Modelle. Das gesamte Gebiet kann im Rahmen einer Ausbildung nicht abgebildet werden. Selbst ein Studium würde nur eine Auswahl zulassen. Es ist nur erschwert möglich, die Komplexität dieses Themas zur Gänze abzubilden und dabei noch eine notwendige Vermittlungsintensität zu berücksichtigen. Entscheiden bedeutet hier, eine Auswahl zu treffen und die Komplexität des Themas soweit zu reduzieren, dass es dem Ziel der Ausbildung, dem Kontext, den unterschiedlichen Ansprüchen und dem Leistungsvermögen der Teilnehmer gerecht wird. Im Rahmen seiner persönlichen Kompetenz hat ein Ausbilder darüber reflektiert, wie seine eigenen Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen sein Entscheidungsverhalten innerhalb des Kontextes Ausbildung beeinflussen und leitet ggf. eine Veränderungsstrategie ab. Im Rahmen seiner fachlich-methodischen Kompetenz verfügt ein Ausbilder über fachliche und methodische Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Thema Entscheiden und wendet sie im Kontext Ausbildung an. Im Rahmen seiner sozio-kommunikativen Kompetenz ist sich der Ausbilder bewusst, dass seine Entscheidungen auf Gefühle, Motive, Bedürfnisse und Werte seiner Teilnehmer treffen und erbringt einen Transfer auf die Gestaltung des Kontextes Ausbildung. Im Rahmen seiner Feldkompetenz verfügt ein Ausbilder über spezifisches Wissen und Erkenntnisse, wie Entscheiden in den beruflichen Kontexten seiner Teilnehmer funktioniert, und kann diese Erkenntnisse auf die Ausbildung übertragen. 6. Delegieren Delegation ist ein Resultat unternehmerischen Wachstums. Genügte anfangs eine Person, um alle unternehmerischen Tätigkeiten auszufüllen, so macht zunehmende Größe Delegation notwendig. Über Delegation entsteht Organisation. Ausbildung erfordert ebenso Organisation wie ein Unternehmen. Delegiert werden können Verantwortlichkeiten oder Aufgaben. 51

Vergleichbar einer Führungskraft gibt es Verantwortung und Aufgaben, die nur der Ausbilder selbst wahrnehmen kann, es gibt aber auch Möglichkeiten, Verantwortung und/oder Aufgaben zu delegieren. Delegation ist zum einen wichtig für die Organisation, zum anderen wird durch die Delegation von Verantwortung bei bestimmten Menschen auch Motivation ausgelöst. Damit Delegation funktioniert, müssen die „Delegierten“ ebenfalls über Kompetenz verfügen, um der Verantwortung gerecht zu werden. Um bestimmte Aufgaben durchführen zu können, genügt es, über Fähigkeiten und Fertigkeiten zu verfügen, die in der Beschreibung der Aufgabe enthalten sind. Im Rahmen seiner persönlichen Kompetenz hat ein Ausbilder darüber reflektiert, wie im Kontext Ausbildung seine Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen sein Delegationsverhalten beeinflussen und leitet ggf. eine Veränderungsstrategie ab. Im Rahmen seiner fachlich-methodischen Kompetenz verfügt ein Ausbilder über fachliche und methodische Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Thema Delegation. Er bewertet sie im Kontext Ausbildung, nutzt sie und entwickelt sie weiter. Beispiel — Der Ausbilder trägt die Verantwortung für das Ergebnis der Ausbildung. Diese Verantwortung kann er nicht delegieren. Um das Ergebnis bzw. das Ausbildungsziel zu erreichen wird eine Methodik verfolgt. Innerhalb verschiedener Lernformen, z.B. Gruppenarbeit, ist Delegation möglich, indem der Ausbilder Verantwortung, z.B. für das Erreichen eines Ergebnisses der Gruppenarbeit, an die Gruppe oder an einen Einzelnen delegiert. Eine Gruppe wird sich selbst organisieren. Voraussetzung für die Selbstorganisation ist, dass die Gruppe das kann. Diese Fähigkeit ist dann der Gruppe zu vermitteln, damit Delegation von Verantwortung möglich ist. Gleiches gilt für den Einzelnen. Im Rahmen der Delegation von Verantwortung wird diese Gruppe üben, ihre Selbstorganisation zu bewerten und zu verbessern. Sie lernt. Im Rahmen der Selbstorganisation werden unterschiedliche Motive angesprochen; die Selbstorganisation an sich kann ein attraktiver Wert sein, sodass Motivation ausgelöst wird. Der Ausbilder kann auch Aufgaben delegieren, wie z.B. „Aufschreiben“, „an Pausenzeiten erinnern“. Bestimmte Aufgaben wird er jedoch selbst erledigen müssen, z.B. die Auswahl von Teilnehmern und die Lernund Zielorganisation. Der Vorteil von Delegation für den Ausbilder liegt in der Entlastung und, sofern er Verantwortung delegiert, im verbesserten Lernen. Im Rahmen seiner sozio-kommunikativen Kompetenz ist sich der Ausbilder bewusst, dass seine Art zu Delegieren auf Gefühle, Motive, Bedürfnisse und Werte seiner Teilnehmer trifft, vergleicht sein Verhalten mit den Anforderungen des Kontexts und leitet ggf. Veränderungsstrategien ab. Beispiel — Ist ein Wert wie Verantwortung Teil des Kontextes Ausbildung, wird er vorgelebt und von allen Teilnehmern als attraktiv empfunden, wird sich das Verhalten untereinander und die Kommunikation auch an diesem Wert orientieren. Im Rahmen seiner Feldkompetenz verfügt ein Ausbilder über spezifisches Wissen und Erkenntnisse, wie Delegation in den beruflichen Kontexten seiner Teilnehmer funktioniert, und kann diese Erkenntnisse auf die Ausbildung übertragen. 7. Koordinieren Alle Prozesse innerhalb einer Ausbildung dienen dem Ausbildungsziel. In verschiedene, z.T. parallel ablaufende Prozesse sind Ressourcen eingebunden. Einer Ergebnisorientierung folgend 52

sind Prozesse und Ressourcen im Kontext Ausbildung durch den Ausbilder (zeitlich) zu koordinieren. Innerhalb einer Ausbildung kann Lernen als Prozess betrachtet werden, an dem unterschiedliche Ressourcen beteiligt sind. Je besser Prozesse und Ressourcen aufeinander abgestimmt sind, desto höher ist die zeitliche Effizienz einer Ausbildung. Im Rahmen seiner persönlichen Kompetenz hat der Ausbilder darüber zu reflektieren, wie die Anforderungen an Koordination im Kontext Ausbildung, seine Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen sein Delegationsverhalten beeinflussen und leitet ggf. eine Veränderungsstrategie ab. Im Rahmen seiner fachlich-methodischen Kompetenz verfügt ein Ausbilder über fachliche und methodische Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Thema Koordination. Er bewertet sie im Kontext Ausbildung, greift auf sie zu und entwickelt sie kontextbezogen weiter. Im Rahmen seiner sozio-kommunikativen Kompetenz ist sich der Ausbilder bewusst, dass seine Art zu Koordinieren auf Gefühle, Motive, Bedürfnisse und Werte seiner Teilnehmer trifft, vergleicht sein Verhalten mit den Anforderungen des Kontexts und leitet ggf. Veränderungsstrategien ab. Im Rahmen seiner Feldkompetenz verfügt ein Ausbilder über spezifisches Wissen und Erkenntnisse, wie Koordination in den beruflichen Kontexten seiner Teilnehmer funktioniert, und kann diese Erkenntnisse auf die Ausbildung übertragen. 8. Organisieren und verbinden Um ein Ergebnis zu erzielen, ist eine Struktur erforderlich, die es ermöglicht, unabhängig voneinander ablaufende Prozesse miteinander zu verbinden. Die Lern- und Zielorganisation einer Ausbildung entspricht einer solchen Struktur. Die Methodik einer Ausbildung folgt dem Gedanken der Verbindung. Neues Wissen wird an vorhandenes Wissen angedockt. Methoden folgen der Struktur „vom Einfachen zum Schweren“. Curriculare Themengebiete werden in der Lernund Zielorganisation verbunden. Zusätzlich sind innerhalb einer Ausbildung Unterstützungsprozesse zu organisieren, z.B. Versorgung mit Arbeitsmitteln. Im Rahmen seiner persönlichen Kompetenz hat der Ausbilder darüber zu reflektieren, wie die Anforderungen an die Organisation sowie an die Lern- und Zielorganisation der Ausbildung seine Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen sein Organisationsverhalten beeinflussen und leitet ggf. eine Veränderungsstrategie ab. Im Rahmen seiner fachlich-methodischen Kompetenz verfügt ein Ausbilder über fachliche und methodische Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Thema Organisation und Lern- und Zielorganisation. Er bewertet sie im Kontext Ausbildung, leitet ggf. Veränderungsstrategien ab, greift auf sie zu und entwickelt sie kontextbezogen weiter. Im Rahmen seiner sozio-kommunikativen Kompetenz ist sich der Ausbilder bewusst, dass seine Art Lernen zu organisieren auf Gefühle, Motive, Bedürfnisse und Werte seiner Teilnehmer trifft; er vergleicht sein Verhalten mit den Anforderungen des Kontexts und leitet ggf. Veränderungsstrategien ab. Im Rahmen seiner Feldkompetenz verfügt ein Ausbilder über spezifisches Wissen und Erkenntnisse zum Thema Lern- und Zielorganisation von Ausbildungen, sowie über Wissen und Erkenntnisse, wie Organisation in den beruflichen Kontexten seiner Teilnehmer funktioniert, und kann diese Erkenntnisse auf die Ausbildung übertragen. 9. Informieren und kommunizieren Information ist keine „Holen-Schuld“. Um Information einzuholen, muss zuvor Information kommuniziert worden sein, wo es welche Information gibt. Einem „Holen“ von Information 53

geht ein „Bringen“ von Information voraus. Selbst eine fehlende Information ist eine Information. Informationen werden in einem Kontext durch ein Individuum aus eigenen Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen, Werten und Begabungen heraus interpretiert. Insofern kann Information nie auf einen Sachgehalt reduziert werden. Auch der Informationsgeber gibt Information in einem Kontextbezug aus eigenen Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen, Werten und Begabungen heraus. In dem Kontext selbst, der durch die Beteiligten gebildet wird, findet Kommunizieren statt. Kommunikation ist der Kontext zum Informieren und Kommunizieren. Informieren und Kommunizieren sind Medien der Feedbacksystematik einer Ausbildung und leisten einen Beitrag zur Kompetenzentwicklung der Teilnehmer. Information schafft Orientierung. Jede Information, ob zu Zielen, Abläufen, Administrativem, u.v.m. bietet Einzelnen, Teams oder Gruppen die Möglichkeit, sich in ihrem Verhalten „erfolgreich“ in einem Kontext zu orientieren. Voraussetzung dafür ist, dass Information individuell bewertbar ist. Die Bewertbarkeit einer Information wird durch Visualisierung von Zusammenhängen und Moderation individueller Interessen erleichtert. Im Rahmen seiner persönlichen Kompetenz hat der Ausbilder darüber zu reflektieren, wie seine Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen dem Thema „informieren und kommunizieren“ gegenüberstehen und wie die Anforderungen des Kontextes Ausbildung an das Thema sind. Gegebenenfalls leitet er eine Veränderungsstrategie ab. Im Rahmen seiner fachlich-methodischen Kompetenz verfügt ein Ausbilder über fachliche und methodische Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Thema „informieren und kommunizieren“. Er bewertet sie im Kontext Ausbildung, leitet ggf. Veränderungsstrategien ab, greift auf sie zu und entwickelt sie kontextbezogen weiter. Im Rahmen seiner sozio-kommunikativen Kompetenz ist sich der Ausbilder bewusst, dass seine Art zu informieren und zu kommunizieren auf Gefühle, Motive, Bedürfnisse und Werte seiner Teilnehmer trifft; er vergleicht sein Verhalten mit den Anforderungen des Kontexts und leitet ggf. Veränderungsstrategien ab. Im Rahmen seiner Feldkompetenz verfügt ein Ausbilder über spezifisches Wissen und Erkenntnisse zum Thema „informieren und kommunizieren“ im Kontext von Ausbildungen, sowie über Wissen und Erkenntnisse, wie „informieren und kommunizieren“ in den beruflichen Kontexten seiner Teilnehmer funktioniert, und kann diese Erkenntnisse auf die Ausbildung übertragen. 10. Fördern und entwickeln Alle Menschen sind gleich, doch jeder ist anders. Auf welche Art und Weise ein Mensch den Anforderungen eines Kontextes gerecht wird oder gerecht werden will, ist abhängig von seinen eigenen Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen, Werten und Begabungen. „Fördern und Entwickeln“ bezieht sich auf die Förderung und Entwicklung von Kompetenz. Basierend auf seinen Ressourcen findet ein Mensch individuelle Strategien, den Anforderungen eines Kontexts, einschließlich der Anforderungen bei einer Veränderung des Kontexts, gerecht zu werden. Eine Ausbildung verfolgt das „Fördern und Entwickeln“ von Kompetenz für einen konkreten Kontext. Wissen kann nur an reflektiertes Wissen, das heißt, an Erfahrung angedockt und mit Neuem verknüpft werden. Unterschiede des Wahrgenommenen werden individuell auf Basis von Bekanntem bewertet. Ein methodisches Angebot, das eine Gruppe anspricht, kann daher nur einem angenommenen Querschnitt der Gruppe gerecht werden. „Fördern und Entwickeln“ bedeutet für einen Ausbilder, in der Kompetenzentwicklung Individualität zu berücksichtigen und Angebote zu schaffen, die ein gemeinschaftliches und ein individuelles Lernen fördern. Im Rahmen seiner persönlichen Kompetenz hat der Ausbilder darüber reflektiert, wie seine Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen dem Anspruch des Kontextes Ausbildung, die Teilnehmer in ihrer Kompetenz zu fördern und zu entwickeln, gegenüberstehen. Gegebenenfalls leitet er eine Veränderungsstrategie ab. 54

Im Rahmen seiner fachlich-methodischen Kompetenz verfügt ein Ausbilder über fachliche und methodische Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, seine Teilnehmer in allen Belangen des Kompetenzerwerbs gemeinschaftlich und individuell zu fördern und zu entwickeln. Er bewertet sie im Kontext Ausbildung, leitet ggf. Veränderungsstrategien ab, greift auf sie zu und entwickelt sie kontextbezogen weiter. Im Rahmen seiner sozio-kommunikativen Kompetenz ist sich der Ausbilder bewusst, dass seine Verfügbarkeit von fachlich-methodischen Ressourcen auch die Gestaltung des Kommunikationskontextes beeinflusst. Das mit dem Fördern und Entwickeln verbundene Verhalten interagiert mit den Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen und Werten seiner Teilnehmer. Der Ausbilder vergleicht sein Verhalten mit den Anforderungen des Kontexts und leitet ggf. Veränderungsstrategien ab. Beispiel —Die 14 Initiativpflichten eines Ausbilders sind miteinander vernetzt. Um eine Ausbildung sinnvoll zu gestalten, sollte sich ein Ausbilder mit diesen Pflichten und den damit verbundenen Inhalten identifizieren. Wissen Ausbilder z.B. nicht, dass zu einem Feedback grundsätzlich ein allen Beteiligten verfügbarer Maßstab gehört, kann es sein, dass sie beim Feedback den Kommunikationskontext mit den Teilnehmern so gestalten, dass alle Beteiligten sich an einem Wert „Zuneigung“ orientieren, um Konflikte zu vermeiden. Stände ein Maßstab zur Verfügung, der den Teilnehmern hilft, sich selbst zu bewerten, so wäre er unabhängig von den Ausbildern. Mit diesem Maßstab erhalten die Teilnehmer gleichzeitig die Möglichkeit, sich einen Eindruck von der Qualität ihrer Ausbildung zu schaffen, da sie darüber reflektieren können, wie geeignet für sie persönlich der Ausbilder ist, um diesem Maßstab gerecht zu werden. Je weniger Ressourcen der Ausbilder hat, desto stärker muss er innerhalb der Ausbildung Werte etablieren, die helfen, Konflikte zu vermeiden. In der trügerischen Geborgenheit eines solchen Kontextes wird ein Verhalten, dass einem anderen Teilnehmer die Rückmeldung gibt „das war falsch“ oft rasch durch die Ausbilder mit einem Hinweis auf den Wert „Zuneigung“ mit aller gebotenen Liebenswürdigkeit sanktioniert. In der Regel sind Teilnehmer, die auf diese Weise „ausgebildet“ wurden, in der Praxis orientierungslos, da ihnen ein Maßstab zur Selbstbewertung fehlt. Im Rahmen seiner Feldkompetenz verfügt ein Ausbilder über spezifisches Wissen und Erkenntnisse zum Thema „Fördern und Entwickeln“ im Kontext von Ausbildungen, sowie über Wissen und Erkenntnisse, wie das Fördern und Entwickeln in den beruflichen Kontexten seiner Teilnehmer gehandhabt wird, und kann diese Erkenntnisse auf die Ausbildung übertragen. 11. Mitarbeiterauswahl und -einsatz Sind in einem Curriculum die curricularen Themengebiete, die Anspruchsgruppen und das Ziel der Ausbildung definiert, müssen dem Vorhaben Ausbildung personale Ressourcen zugeordnet werden. Je besser die Beteiligten dem Curriculum genügen, desto höher ist die Erfolgswahrscheinlichkeit. Ein hohes Maß an Gemeinsamkeit der personalen Ressourcen erleichtert zwar die Kontextbildung im Rahmen eines „erfolgreichen“ sozio-kommunikativen Verhaltens, an anderer Stelle können Nachteile überwiegen: Konflikte als notwendige Begleiterscheinung von Entwicklung bleiben aus. Die Weiterentwicklung einer Ausbildung, als Anpassung an veränderte Kontexte oder als Optimierung, ist stark eingeschränkt. Unterschiedliche Begabungen der Beteiligten werden nicht genutzt. In einer erweiterten Interpretation des Wortes Mitarbeiter sind auch die Teilnehmer als Mitarbeiter zu verstehen. Im Rahmen einer Ausbildung sind sie eine Ressource und eine Anspruchsgruppe innerhalb des Curriculums. Um der Verantwortung für eine Ausbildung gerecht zu werden, muss die Auswahl und der Einsatz von Mitarbeitern durch die Verantwortlichen selbst wahrgenommen werden. 55

Im Rahmen seiner persönlichen Kompetenz hat der Ausbilder darüber reflektiert, wie seine eigenen Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen ihn bei der Auswahl und dem Einsatz von Mitarbeitern beeinflussen. Er hat über die Anforderungen des Kontextes Ausbildung an das Thema reflektiert und leitet ggf. er eine Veränderungsstrategie ab. Im Rahmen seiner fachlich-methodischen Kompetenz verfügt ein Ausbilder über fachliche und methodische Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Thema „Mitarbeiterauswahl und -einsatz“. Er bewertet sie im Kontext Ausbildung, leitet ggf. Veränderungsstrategien ab, greift auf sie zu und entwickelt sie kontextbezogen weiter. Im Rahmen seiner sozio-kommunikativen Kompetenz ist sich der Ausbilder bewusst, dass seine Kriterien, Mitarbeiter auszuwählen und einzusetzen, im Ergebnis auf Gefühle, Motive, Bedürfnisse und Werte seiner Teilnehmer treffen; er vergleicht seine Kriterien mit den Anforderungen des Kontexts und leitet ggf. Veränderungsstrategien ab. Im Rahmen seiner Feldkompetenz verfügt ein Ausbilder über spezifisches Wissen und Erkenntnisse, wie Mitarbeiterauswahl und Mitarbeitereinsatz in den beruflichen Kontexten seiner Teilnehmer gehandhabt werden, und kann diese Erkenntnisse auf die Ausbildung übertragen. 12. Mitarbeiter-Schutz Mitarbeiter-Schutz ist in Gesetzen z.B. im Arbeitssicherheitsgesetz, der Arbeitsstättenverordnung und dem Arbeitsschutzgesetz bereits institutionell verankert. Diese Gesetze finden auch im Kontext Ausbildung ihre Anwendung und gelten für Teilnehmer und andere Beteiligte gleichermaßen. Der Schutzgedanke beinhaltet eine Fürsorgepflicht gegenüber anvertrauten Personen, die sich auf den Schutz vor Gefahren für Leib, Leben und Gesundheit bezieht. Der Begriff Leben ist hier einem allgemeinen Wohlergehen gleichzusetzen. Ein Ausbilder schafft nicht nur eine Lernumgebung, die bestmöglich vor Gefahren für Leib und Gesundheit schützt, er achtet auch darauf, dass innerhalb des Kontextes Ausbildung jeder Einzelne in seiner persönlichen Integrität geschützt ist. Beispiel — Raumgröße, -beleuchtung, -temperatur, Bestuhlung und dgl. sorgen für eine weitestgehend gefahrenfreie und förderliche Lernumgebung. Ein Mensch, der sich im Hinblick auf sein Wohlergehen in einem Kontext (noch) nicht selbst bewerten kann, mutet sich zu viel zu und verbringt bis weit in die Nacht hinein seine Zeit, indem er sich mit der Ausbildung beschäftigt. Möglicherweise geht das zulasten seiner Gesundheit. Ein Ausbilder muss das thematisieren. Innerhalb einer Gruppe kann es vorkommen, dass Teilnehmer sich anderen Teilnehmern gegenüber in „ungebührender Weise“ verhalten, sodass ein Betroffener diese Situation aus eigener Kraft nicht bewältigen kann. Auch hier muss ein Ausbilder eingreifen. Der Schutzgedanke bewirkt, dass ein Mensch für sich als Kapital erhalten bleibt. Wenn Lernen erfolgreich sein soll, dann muss die „Ressource Mensch“ bestmöglich geschützt werden. Im Rahmen seiner persönlichen Kompetenz hat der Ausbilder darüber reflektiert, wie seine Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen dem Schutzgedanken gegenüberstehen und wie die Anforderungen des Kontextes Ausbildung an das Thema sind. Gegebenenfalls leitet er eine Veränderungsstrategie ab. Im Rahmen seiner fachlich-methodischen Kompetenz verfügt ein Ausbilder über fachliche und methodische Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, zum Thema „Mitarbeiterschutz“. Er bewertet sie im Kontext Ausbildung, leitet evtl. Veränderungsstrategien ab, greift auf sie zu und entwickelt sie kontextbezogen weiter. Im Rahmen seiner sozio-kommunikativen Kompetenz ist sich der Ausbilder bewusst, dass der Schutzgedanken auf Gefühle, Motive, Bedürfnisse und Werte seiner Teilnehmer trifft; er ver56

gleicht sein Verhalten mit den Anforderungen des Kontexts und leitet ggf. Veränderungsstrategien ab. Im Rahmen seiner Feldkompetenz verfügt ein Ausbilder über spezifisches Wissen und Erkenntnisse zum Thema „Mitarbeiterschutz“ im Kontext von Ausbildungen, sowie über Wissen und Erkenntnisse, wie „Mitarbeiterschutz“ in den beruflichen Kontexten seiner Teilnehmer gehandhabt wird, und kann diese Erkenntnisse auf die Ausbildung übertragen. Dazu zählt auch die Kenntnis relevanter Gesetze und Verordnungen. 13. Selbstentwicklung Ein Ausbilder hat Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickelt, um im Kontext Ausbildung situativ erfolgreich zu sein. Ist er in einer Situation „misserfolgreich“, kann er sich selbst bewerten und sein Verhalten entwickeln. Der Kontext Ausbildung selbst ist nicht statisch. Orientiert am Curriculummodell genügt die Veränderung eines Elementes, um den Kontext Ausbildung zu verändern. Gegenwart und Zukunft der Ausbildung beinhalten die Pflicht für einen Ausbilder, sich permanent selbst zu entwickeln, um Veränderungen erfolgreich begegnen zu können. Im Rahmen seiner persönlichen Kompetenz hat der Ausbilder darüber reflektiert, wie seine Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen seine Selbstentwicklung beeinflussen und wie die Anforderungen des Kontextes Ausbildung an das Thema sind. Gegebenenfalls leitet er eine Veränderungsstrategie ab. Im Rahmen seiner fachlich-methodischen Kompetenz verfügt ein Ausbilder über fachliche und methodische Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten sich selbst zu entwickeln. Er bewertet sie im Kontext Ausbildung und leitet ggf. Veränderungsstrategien ab. Im Rahmen seiner sozio-kommunikativen Kompetenz ist sich der Ausbilder bewusst, dass Selbstentwicklung auch die Gestaltung von Kommunikationskontexten betrifft, in denen er mit den Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen und Werten seiner Teilnehmer interagiert; er vergleicht sein Verhalten mit den Anforderungen des Kontexts und leitet ggf. eine Selbstentwicklungsstrategie ab. Im Rahmen seiner Feldkompetenz verfügt ein Ausbilder über spezifisches Wissen und Erkenntnisse, wie das Thema „Selbstentwicklung“ in den beruflichen Kontexten seiner Teilnehmer gehandhabt wird, und kann diese Erkenntnisse auf die Ausbildung übertragen. 14. Messen und bewerten Soll Kompetenz entwickelt werden, muss es einen Maßstab für Kompetenz geben, der sowohl eine Rückmeldung zum Erreichungsgrad von Kompetenz ermöglicht als auch zur Qualität des Ergebnisses einer bestimmten Aufgabe im Rahmen der Kompetenzentwicklung. Messen und Bewerten schafft für den zu Entwickelnden eine Orientierung, sodass er sich selbst organisieren kann. Messen und Bewerten hilft, Unterschiede wahrnehmbar zu gestalten, und ist eine Rückmeldung für den Einzelnen und den Ausbilder, der ggf. die Methodik, eventuell sogar die Ziele anpassen muss. Die Rückmeldung dient ebenfalls der Erfolgsbestätigung und Erfolgssicherung und löst Motivation aus. Im Rahmen seiner persönlichen Kompetenz hat der Ausbilder darüber reflektiert, wie seine Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen dem Thema „Messen und Bewerten“ gegenüberstehen und wie die Anforderungen des Kontextes Ausbildung an das Thema und seine Person sind. Gegebenenfalls leitet er eine Veränderungsstrategie ab. Im Rahmen seiner fachlich-methodischen Kompetenz verfügt ein Ausbilder über fachliche und methodische Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Thema „Messen und Bewerten“. 57

Das beinhaltet in besonderem Maße die Verwendung nachvollziehbarer Maßstäbe. Er bewertet seine fachlich-methodische Kompetenz im Kontext Ausbildung, leitet ggf. Veränderungsstrategien ab, greift auf sie zu und entwickelt sie kontextbezogen weiter Im Rahmen seiner sozio-kommunikativen Kompetenz ist sich der Ausbilder bewusst, dass „Messen und Bewerten“ immer auf Grundlage eines, dem sozio-kommunikativem Kontext zur Verfügung stehenden, Maßstabes erfolgt und dass die Verwendung eines Maßstabes aus seiner Person heraus auf Gefühle, Motive, Bedürfnisse und Werte seiner Teilnehmer trifft und daher konfliktfördernd ist; er vergleicht sein Verhalten mit den Anforderungen des Kontexts und leitet ggf. Veränderungsstrategien ab. Im Rahmen seiner Feldkompetenz verfügt ein Ausbilder über spezifisches Wissen und Erkenntnisse zum Thema „Messen und Bewerten“ im Kontext von Ausbildungen sowie über Wissen und Erkenntnisse, wie „Messen und Bewerten“ in den beruflichen Kontexten seiner Teilnehmer gehandhabt wird, und kann diese Erkenntnisse auf die Ausbildung übertragen.

4.8 Die Multifunktionalität des Ausbilders — Der Mentor Die methodisch-didaktische Struktur eines Curriculums berücksichtigt Ansprüche von Gruppen. Innerhalb jeder Gruppe befinden sich jedoch Individuen mit ganz eigenen Ressourcen und Lernverhalten. Idealerweise ist die methodisch-didaktische Struktur eines Curriculums so aufgebaut, dass das Individuum bestmöglich gefördert wird. Damit gehen verschiedene Schwierigkeiten einher: Die Methodenvielfalt steigt an. Ist die eine Methode für einen Teilnehmer ansprechend, langweilt sich der andere. Auch wenn hierfür Strategien gefunden werden — eine individualisierte Methodik verursacht einen höheren Zeitaufwand. Entspricht es dem Anspruch des Marktes, eine Ausbildung in „kurzer“ Zeit durchzuführen und gleichzeitig individuelles Lernen zu ermöglichen, empfehlen sich als unterstützende Maßnahmen für diese Strategie individuelle wählbare Inhalte, bereitgestellt z.B. auf einer Internetplattform, die einen dialektischen Zugang des Lernenden ermöglichen. Selbstgesteuertes Lernen bedeutet, dass der Lernende selbst seine eigene Lernstrategie findet, Ressourcen aufbaut und seine Erfolge selbst bewerten kann. Die Fähigkeit, selbstgesteuert zu lernen, ist zu Beginn einer Ausbildung individuell sehr unterschiedlich. Nimmt der Ausbilder die Funktion eines persönlichen Mentors ein, kann er auch außerhalb der Ausbildung Einzelne in ihrer Entwicklung als Coach fördern (siehe Abstract Supervision). Als Mentor ist der Ausbilder ... • persönlicher Feedbackgeber/Rückmelder im Rahmen der Kompetenzentwicklung; • Bereitsteller individuell förderlicher Lernarrangements; • persönlicher Coach in allen Anliegen des Selbstlernens; • Sparringspartner; • Ansprechpartner für alle ausbildungsrelevanten Themen. Eine Ausbildung orientiert sich auch am Zusammenhang von Zeit, Kosten und Qualität. Alle 3 Größen sind in einem Kontext „Markt“ zu betrachten. Wird die Qualität als Konstante gesetzt — und hier ist es empfehlenswert, in der Kategorie Kompetenz zu denken, so bleiben als beeinflussbare Größen noch 58

Zeit und Kosten. Beide Größen werden durch die Anspruchsgruppen an die Ausbildung und die Ausbildung selbst beeinflusst. Die curricularen Themengebiete erfordern eine Auseinandersetzung mit dem Thema Zeit. Demgegenüber steht ein Markt, bzw. stehen die curricularen Anspruchsgruppen, die eine Verzinsung ihrer Investition in einer angemessenen Zeit erwarten. Soll eine Ausbildung diese Größen berücksichtigen, ist ein Mentor ein notwendiges Element innerhalb einer Ausbildung, um zeitlich effektiv und effizient zu lernen.

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5 Didaktik und praktische Handhabung 5.1 Die Didaktik einer Ausbildung Didaktik (aus dem griechischen: didáskein = lehren; die Unterrichtslehre) ist ein Teilgebiet der Erziehungswissenschaft und beschäftigt sich mit der Theorie der Organisation von Lehrveranstaltungen, die einen Austausch von Information, Erfahrungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, also Lernen ermöglichen sollen. Didaktik umfasst die inhaltliche Strukturierung eines Themas. Sie ist der „geistige Überbau“ einer Ausbildung. In einem systemischen Verständnis interagiert die Didaktik mit den curricularen Themengebieten, den Anspruchsgruppen und dem, was eine Ausbildung erreichen will. Die Wahl der Didaktik einer Ausbildung ist ein Ergebnis dieser Reflexion. Die Auswahl von Inhalten einer Ausbildung orientiert sich an der Didaktik. Tipp — Aus den Abstracts des zweiten Teils des Buches können Inhalte für eine Ausbildung entnommen werden. Im Coaching geht es darum, dass sich Menschen selbstgesteuert entwickeln. Die konstruktivistische Sichtweise auf den Menschen als Individuum, der aufgrund eigener Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Intellekt innerhalb eines Kontextes seine subjektive Wirklichkeit schafft (konstruiert), muss sich demnach auch in der Didaktik widerspiegeln. Konstruktivistische Didaktik versteht Lernen als ein selbstgesteuertes Verarbeiten von Information, das sich auf Basis einer individuellen Wirklichkeits- und Sinnkonstruktion des lernenden Individuums innerhalb eines Kontextes vollzieht. Lernen ist somit selbstgesteuert, individuell und unvorhersehbar. Der Ausbilder ist in der konstruktivistischen Didaktik ein Gestalter der Rahmenbedingungen von Lernen. Er schafft einen kommunikationsfördernden Kontext, der sich durch vielfältige Anreize bzw. Werte auszeichnet, die subjektive, individuelle Erfahrungen anspricht und Herausforderungen beinhaltet, die eine kreative, selbstgesteuerte Verarbeitung von Information fördert. Da der Lern-Kontext selbst Werte seiner curricularen Anspruchsgruppen enthält und diese Zusammenhänge berücksichtigt, ist die Didaktik einer Ausbildung eine systemisch-konstruktivistische Didaktik. Als Bestandteil der Didaktik ist Methodik die Lehre der angewandten Lehr- und Lernmethoden innerhalb eines bestimmten Fachgebietes wie z.B. der Ausbildung von Coachs. Methodik bezieht sich dabei nicht allein auf die fachlichen Methoden bzw. Übungen zu bestimmten Themen, sondern auch auf die Methoden des Lehrens und allgemein auf die Konzeption des gesamten Lernangebotes. Ziel der Methodik ist die Organisation von generellen und individuellen Lernprozessen. Hinweis — Methodik ist im Deutschen nicht gleichbedeutend mit Methodologie. Methodologie ist die theoretische Reflexion über Methoden eines bestimmten Gebietes, z.B. Coaching. An der Didaktik einer Ausbildung orientiert sich die Methodik. Das theoretische Konstrukt als Legitimation einer systemisch-konstruktivistischen Didaktik und Methodik ist die Axiomatik. Die Organisation aller Lernprozesse orientiert sich daran. 60

5.2 Axiomatik der systemisch-konstruktivistischen Didaktik und Methodik 1. 2. 3.

4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Bewusste und unbewusste Erfahrungen von Ausbilder und Lernenden sind systemisch-konstruktivistische Rahmenbedingungen für Lernen. Lernen ist ein systemisch-konstruktivistischer Prozess, der vom Lernenden bewusst gesteuert werden kann. Lernen erfolgt in Abhängigkeit von individuellen Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen, Werten, Intellekt und Selbstwirksamkeitserwartungen innerhalb systemisch-konstruktivistisch gedeuteter Kontexte. Lernen ist im Ergebnis individuell pragmatisch und unvorhersehbar. Lernen löst Bewusstsein und Motivation für routinierte Lösungsstrategien innerhalb bekannter Kontexte aus. Lernen löst kreative und gewollte Lösungsstrategien für unbekannte Verhaltenskontexte aus. Ausbilder sind Organisatoren individuell authentischer, komplexer Lehr-, Lern- und Anwendungskontexte. Lernen erfordert Rückmeldungen über Unterschiede und Übungen aus dem Lehr-/Lernkontext zur individuellen Orientierung. Faktenwissen und Faktendeutungen von Ausbildern und Lernenden sind untereinander vernetzt und individuell in unterschiedliche Anwendungskontexte transferfähig. Lerner sind kompetenter in ihren Anwendungskontexten als Ausbilder.

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Organisierte Komplexität des offenen Lernsystems einer Coachausbildung Transfer 

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5.3 Die inhaltliche Ebene der Didaktik

HAMBURGER SCHULE

Didaktik als Teil der Erziehungswissenschaft beschäftigt sich vor allem mit der Auswahl von Inhalten. Durch die Spezialisierung, wie z.B. auf die Ausbildung von Coachs, werden verschiedene Wissenschaften dahingehend untersucht, welche Inhalte für die Lehre verwandt werden können und wie diese Inhalte legitimiert und integriert werden können. Tipp — Siehe hier auch die verschiedenen thematischen Abstracts im Buch. Inhalte und auch Methoden erhalten ihre Legitimation durch ... • eine wissenschaftliche Überprüfbarkeit der Fakten; • Berücksichtigung der Interessen der Anspruchsgruppen an ein Curriculum; • Plausibilität im Rahmen der Kompetenzentwicklung.

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Die Auswahl der Inhalte einer Ausbildung orientiert sich an dem, was für den Kompetenzerwerb an notwendigem faktischem Wissen als Voraussetzung zu setzen ist. Unabhängig von curricularen Anspruchsgruppen, die einen Anspruch an die Kompetenz des Ausgebildeten stellen, müssen die gewählten Inhalte eine grundsätzliche Kompetenz als Coach ermöglichen. Hinweis — Eine beispielhafte Auswahl von Inhalten zur Kompetenzentwicklung als Coach ist im Teil „Fähigkeiten des Coach“ beschrieben.

5.4 Die Feedbacksystematik als curriculare Kontrollinstanz Innerhalb einer systemisch-konstruktiven Ausbildung ist Feedback eine Rückmeldung aus dem Kontext heraus, auf den das Verhalten bezogen ist. Rückmeldungen spiegeln die Anforderungen des Kontextes wider und dienen als Orientierung für eigenes Verhalten. Im Rahmen einer Kompetenzentwicklung orientiert ein Mensch situativ sein erfolgreiches Verhalten durch kontextbezogene Rückmeldungen. Feedback ist autoritär. Autorität ist dann angemessen, wenn sich Feedback auf konkret beschriebene Anforderungen im Sinne von richtig oder falsch beziehen. Die Abfrage von Faktenwissen bedient sich für die Rückmeldung einer dritten Instanz — der schriftlich fixierten Information. Der Ausbilder bezieht seine Autorität aus den Informationen, die allen Beteiligten zur Verfügung stehen. Coaching ist ein durch Werte gedeuteter Kontext. Verfügen alle Beteiligten über dasselbe Wertverständnis, so ist auf dieser Basis Autorität legitimiert. Existiert kein Maßstab, der von allen am Feedback Beteiligten geteilt wird, so verliert Autorität ihre Legitimation und weicht einer Willkür. Eine Orientierung ist nicht möglich. Der Maßstab für Feedback muss allen bekannt sein. Ist sich ein Feedbackgeber in einem Kontext nicht bewusst, welche eigene Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen ihn als Feedbackgeber beeinflussen, so ist sein Feedback autoritär. Diese unzureichende persönliche Kompetenz schlägt sich in der Regel in der sozio-kommunikativen Kompetenz nieder. Der Feedbackgeber „feedbackt“ das, was ihm persönlich wichtig ist. Damit erklärt er sich zum Maßstab. Den Sinn von Feedback, den Kontext, die Interessen seines Gegenübers und anderer Beteiligter erfasst er nicht. Der Feedbackgeber muss persönliche Kompetenz entwickelt haben, um Handlungskompetenz als Feedbackgeber zu erlangen. Im Rahmen seiner sozio-kommunikativen Kompetenz muss ein Feedbackgeber die Interessen aller am Feedback Beteiligten und den Sinn von Feedback berücksichtigen. Feedback versucht den „emotionalen Schaden” eines willkürlichen Verhaltens einzudämmen. Autoritäre Kommunikation wird durch Formulierungen, die einen Wunsch enthalten, abgemildert. Ein Interesse am Gegenüber wird durch Wertschätzung, das heißt, Schätzen im Sinne von Beachten oder Respektieren der Werte des Feedbacknehmers, gezeigt. Gemeinsam ist allen Vorgehensweisen, dass nur auf der Basis von Maßstäben konkret Beobachtetes „feedbackt“ werden kann. Der Feedbacknehmer erhält somit die Möglichkeit sich selbst zu bewerten. Je besser die persönliche Kompetenz des Feedbackgebers entwickelt ist, desto leistungsfähiger ist in der Regel die gewählte Feedbackmethode. Um 63

eine Methode bewusst auszuwählen, muss der Wählende über Wissen über Feedbackmethoden verfügen, es angewandt und darüber reflektiert haben. Der Feedbackgeber muss persönliche, fachlich-methodische Kompetenz und sozio-kommunikative Kompetenz entwickelt haben, um Handlungskompetenz als Feedbackgeber zu erlangen. Feedback erfordert auch aufseiten des Feedbacknehmers persönliche Kompetenz. Als konstruktivistisches Wesen erlebt der Feedbacknehmer eigene Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen im Zusammenhang mit einem Feedback. So kann ein Feedback als unangenehm empfunden werden — auch wenn der Maßstab des Feedbacks berücksichtigt wurde. Gewinnen Emotionen die Oberhand, ist es für den Feedbacknehmer oft nicht mehr möglich, im Feedback einen Nutzen zu erkennen. Beispiel — Ein sensibler Mensch, der nach positivem Feedback aus seinem Umfeld strebt, erhält eine Bewertung, die klar erkennen lässt, dass etwas „falsch“ war. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Mensch sich durch das Feedback in seinen Werten verletzt fühlt, ist hoch. Wie er mit seiner Verletzung umgeht, hängt davon ab, wie gut er eigene Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen in diesem Kontext identifiziert hat und sich dahingehend selbst steuern kann. Der Feedbacknehmer muss persönliche Kompetenz entwickelt haben, um Feedback nutzen zu können. Innerhalb der Kompetenzentwicklung ist es eine Voraussetzung für Lernen, dass sich ein Mensch im Rahmen der Anforderungen eines Kontextes selbst bewerten kann. Das Feedback über andere ist eine Kontrollinstanz für eigenes, situativ erfolgreiches Verhalten als Ergebnis einer Selbstbewertung. Je besser sich ein Mensch in einem Kontext selbst bewerten, bzw. sich selbst Feedback geben kann, desto erfolgreicher wird sein situatives Verhalten sein. Um sich selbst in einem Kontext bewerten zu können, muss ein Mensch die Anforderungen und den Sinn des Kontextes verstanden haben. Eine erfolgreiche Selbstbewertung beinhaltet demnach die Notwendigkeit, einen systemischen Maßstab zu entwickeln. Feedback durch andere unterstützt die Selbstbewertung. Konstruktivistisch betrachtet ist ein eigener Maßstab für Feedback auch Ausdruck eigener Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen. Mit dem eigenen Maßstab für Feedback geht die Gefahr von Willkür, auch gegen sich selbst, einher. Erst mit der Verwendung eines Modells erhält ein Maßstab eine Struktur, die es dem Verwender ermöglich, nicht aus der Person heraus (autoritär), sondern weitestgehend dissoziiert zu handeln. Das gilt ebenfalls für den Feedbackgeber. Feedback und Selbstbewertung orientieren sich an Modellen. Beispiel — Ist Teilnehmern das Modell „Zeit-Kosten-Qualität“ bekannt und haben sie die Zusammenhänge der drei Parameter verstanden, können sie einen Transfer erbringen, indem sie z.B. eine in Gruppenarbeit erarbeitete Strategie danach bewerten. Beobachten Teilnehmer ein Coaching, so können sie das Verhalten des Coach orientiert am Kompetenzmodell bewerten. Als allgemein gültiges Modell kann das Kompetenzmodell in unterschiedlichsten Kontexten zur Bewertung und Selbstbewertung genutzt werden. Hinweis — Feedbackgeber und Feedbacknehmer können auch Gruppen oder Teams sein. Entscheidend für ihre Entwicklung ist auch hier die Fähigkeit zur Selbstbewertung.

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Feedback korrespondiert auch mit der psychologischen Strebung „Anerkennung” nach positivem Feedback aus dem Umfeld. Anerkennung bereitet manchen Menschen, vereinfacht gesagt, Lust. Der Wunsch nach Anerkennung löst Motivation aus. Wie groß diese Lust ist und in welchem Kontext sie wie gelebt wird — darüber entscheidet der Mensch selbst. Innerhalb einer Ausbildung kann es sein, dass ein Teilnehmer den Ausbilder als Teil seiner Feedbacksystematik empfindet, ein anderer die anderen Teilnehmer. Für einige Teilnehmer ist positives Feedback aus dem Umfeld nur von untergeordneter Bedeutung. Es löst bei ihnen keine oder nur wenig Motivation aus. Der Maßstab, wann Feedback aus dem Umfeld als positiv empfunden wird, ist der individuelle Maßstab des Individuums. Im konstruktivistischen Sinne überlegt ein Individuum, welche Anforderungen der Kontext Ausbildung hat bzw. haben könnte, und orientiert sein Verhalten daran, in der Erwartung, positives Feedback dafür zu bekommen. Je besser es gelingt, die individuellen Anforderungserwartungen mit den tatsächlichen Anforderungen in Einklang zu bringen, desto einfacher ist es, „richtiges“ Verhalten zu „loben“. Feedback löst Motivation aus. Ausbilder, Teilnehmer und andere Interessengruppen sind Teil der Feedbacksystematik Einzelner. Feedback löst, systemisch gesehen, Reflexion bei allen Beteiligten aus. Nicht nur der Feedbacknehmer wird zum Nachdenken angeregt und bei seiner Selbstbewertung unterstützt, auch Feedbackgeber, Ausbilder und Teilnehmer als beteiligte Zuhörer nehmen Unterschiede zu ihrer eigenen Entwicklung wahr und werden zum Reflektieren angeregt. Je besser Beteiligte den Maßstab eines Feedbacks auf sich selbst anwenden können, desto besser können sie diese Unterschiede wahrnehmen. In diesem Zusammenhang steigt auch die Selbstbewertungsfähigkeit der Beteiligten als Gruppe. Feedback ist systemisch. Als Kontrollinstanz baut auch eine Zertifizierung auf Feedback auf. Zur Bewertung wird ein Maßstab angelegt, der allen bekannt ist. Eine gezeigte Leistung wird durch Dritte orientiert an diesem Maßstab bewertet. Merke — Jede Form der Bewertung einer gezeigten Leistung ist ein Feedback.

Aufbau einer Feedbacksystematik Die systemischen Anforderungen des Kontextes Coaching sind im Curriculum beschrieben. Als Teil der Didaktik und Methodik überprüft Feedback das, was auch ausgebildet wurde. Idealerweise sollte sich das Wie aus dem Was ergeben. Feedback ist die Rückmeldung für den Einzelnen, ein Team oder eine Gruppe in Bezug auf den curricular angestrebten Erreichungsgrad. Feedback ist erforderlich in Bezug auf die Kompetenzentwicklung eines Coach und nutzt entweder das Ziel der Ausbildung als Maßstab für einen angestrebten Erreichungsgrad oder setzt als Maßstab einen angestrebten Erreichungsgrad zu einem bestimmten Zeitpunkt im Laufe einer Ausbildung. Feedback ist auch erforderlich in Bezug auf konkrete Ressourcen, die ein Coach im Laufe der Ausbildung zu erwerben hat und nutzt als Maßstab ein „Richtig“ oder „Falsch“ in Bezug auf eine konkrete Ressource. Konkrete Ressourcen sind Wissen und Bewertung über eine Ressource und die Anwendung dieser Ressource in Kontexten. Der Transfergedanke selbst ist an die Kompetenzentwicklung gebunden. Die Feedbacksystematik einer Ausbildung orientiert sich an dem, was durch die Rückmeldung erreicht werden soll, und im Speziellen an den Elementen, die am Feedback beteiligt sind. 65

Elemente sind ... curriculare Themengebiete; curriculare Anspruchsgruppen; jeder Teilnehmer selbst. Voraussetzungen für eine Feedbacksystematik innerhalb eines Curriculums sind ... die Entwicklung von Handlungskompetenz als Feedbackgeber und Feedbacknehmer; die Verfügbarkeit von Maßstäben für Feedback; die Lern- und Zielorganisation. Curriculare Folgerungen Feedback ist Teil der Didaktik und Methodik des Curriculums. Feedback orientiert sich an Modellen. Das Curriculum muss einen Transfer vom Anwenden eines Modells als Ausbilder zum Anwenden des Modells als Feedbackgeber ermöglichen. Innerhalb der Kompetenzentwicklung genießt die Entwicklung der persönlichen Kompetenz Priorität. Alle Beteiligten, ob direkt oder indirekt, werden als Feedbackgeber genutzt. Feedback als Methode (Vorgehensweise) muss vermittelt und geübt werden. Lernziele und Kompetenzerreichungsgrade werden durch Feedback überprüft.

5.5 Zentrale Lernmethoden und ihre Entwicklung Die Didaktik ist der Filter, mit dem fachliche Inhalte bzw. der Lernstoff ausgewählt werden; die Taxonomien beschreiben qualitativ das Ziel jedes Lernvorhabens. Auf welche Art und Weise der Lernstoff dem Lernenden zur Aneignung angeboten wird, ist eine Frage der Methodik. In Verbindung mit einem Lernziel leiten sich alle spezifischen Lehr-/Lernmethoden aus der Didaktik und der Methodik einer 66

Ausbildung ab. Lernmethoden bzw. Lernprozesse orientieren sich klassisch an folgenden methodischen Grundsätzen: • • • •

Vom Bekannten zum Unbekannten Vom Einfachen zum Schwierigen Vom Konkreten zum Abstrakten Vom Allgemeinen zum Speziellen Tipp — Inhalte, die Sie in Methoden umwandeln können, finden Sie in den Abstracts im zweiten Teil des Buches.

Der Kommunikationskontext einer Methode Jede Methode will eine konkrete Taxonomiestufe realisieren. Wie erfolgreich diese Taxonomiestufe erreicht wurde, ist bewertbar, orientiert an der Feedbacksystematik. Mit der Höhe der beabsichtigten Taxonomiestufe steigt innerhalb jeder Methode das Maß an Freiheit für eigene Schlussfolgerungen und damit auch das Maß an Unvorhersehbarkeit des Lernens. Will eine Taxonomiestufe noch faktisch richtiges Wissen durch den Lerner abrufbar halten und damit das Maß an Freiheit für eigene Deutungen zugunsten eines gemeinsamen Bezugskontexts bewusst reduzieren, so lässt eine andere Taxonomiestufe einen konstruktivistischen Kontexttransfer zu. Der Unvorhersehbarkeit der Lernerkenntnisse wird durch die Feedbacksystematik begegnet, die dem Lerner die Selbstbewertung in seinem konstruktivistischen Kontext ermöglicht. Eine einzelne Methode verfolgt grundsätzlich das Erreichen einer Taxonomiestufe. Diese Taxonomiestufe soll in einem Kommunikationskontext realisiert werden, das heißt Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte, Begabungen und Erfahrungen jedes einzelnen Lerners gehen in den Kommunikationskontext einer Methode ein. Je höher die Taxonomiestufe, und damit die Berücksichtigung des Wertes Freiheit, desto besser gelingt es, einen erfolgreichen Kommunikations-(Lern-)kontext zu etablieren. Wiederholungen Viele Menschen verfügen über einen Führerschein und empfinden Autofahren als die normalste Tätigkeit der Welt. So normal, dass Sie während der Fahrt gleichzeitig mit anderen eine Unterhaltung führen können. Bevor diese Kompetenz erreicht war, mussten Verkehrsregeln faktisch richtig gelernt und das Fahren innerhalb dieser Regeln geübt werden. Mit zunehmender Übung hat sich unser Hirn dann so selbst organisiert, dass es Ressourcen aufgebaut hat, auf die während des Fahrens zurückgegriffen wird, sodass nebenbei noch eine Unterhaltung möglich ist. Neurowissenschaftlich argumentiert, wurden durch Wiederholung bzw. Übung synaptische Bahnen (Ressourcen) geschaffen. Die Methode einer Taxonomiestufe erreicht, dass Erkenntnisse in Bezug auf diese Taxonomiestufe entstehen. Ob eine bestimmte Intensität an Wiederholungen notwendig ist, um gefestigte neuronale Bahnungen zur Nutzung für Verhalten auszuprägen, kann die Methode einer Taxonomiestufe nicht angeben. Die Methode selbst kann daher nur einen Beitrag leisten, eine Taxonomiestufe in Bezug auf die Kompetenzentwicklung zu realisieren. Die Feedbacksystematik greift an zweierlei Stellen: Zum einen misst sie die Erreichung der Taxonomiestufe durch eine Methode, zum anderen misst sie den Beitrag 67

der Gesamtheit aller Methoden zur Kompetenzentwicklung, das heißt auch zur Entwicklung neuronaler Ressourcen. Kompetenz kann durch Wiederholung derselben Methode geschehen (so im Coaching) oder aber durch unterschiedliche Methoden, die aber dasselbe Lernziel (Taxonomiestufe) verfolgen. In der Praxis hat sich eine mindestens siebenmalige Wiederholung zur Entwicklung neuronaler Ressourcen bewährt. Die Gesamtheit von aufeinander bezogenen Methoden zur Erreichung von Kompetenzgraden ist Teil des Curriculums und wird in der Regel in einem „Ausbildungsleitfaden“ abgebildet. Bezugs- und Transferkontexte Auch die oben erwähnten methodischen Grundsätze sind in Kontexte eingebunden. Der einfache Grundsatz „vom Bekannten zum Unbekannten“ beinhaltet die Fragen: • Was genau ist dem Lerner (vom Lernthema) bekannt und was ist ihm unbekannt? • Aus welchem Kontextverständnis heraus deutet der Lerner das Bekannte und das Unbekannte? • In welchen Kontexten ist dem Lerner das Thema bekannt — in welchen Kontexten ist ihm das Thema unbekannt? Diese Fragen können analog auch zu den anderen methodischen Grundsätzen gestellt werden. Ein methodischer Grundsatz will zunächst einmal nichts anders, als darauf hinweisen, dass jede Lernmethode sich an diesem Grundsatz orientieren muss. Abstrakt verstanden sind Grundsätze die Werte, die im Kontext Lernen zu berücksichtigen sind. Durch den vereinbarten, verbindlichen Charakter werden aus diesen Werten jene Normen des Kontextes Lernen, mit denen sich jede Methode auseinandersetzen muss. In welchen kontextuellen Bezügen später konkret Lernen stattfindet ist abhängig davon, wie der Lerner selbst das Lernthema (konstruktivistisch) deutet und motivatorisch bewertet. Idealerweise bildet der Bezug, den der Lerner selbst zum Thema herstellt, den Bezug, der methodisch abzubilden ist. Das gelingt im Coaching. In Ausbildungsvorhaben ist eine Methode Teil eines Ziel-Strategiesystems – dem Curriculum. Das Ziel einer Ausbildung ist nicht durch den Lerner selbst formuliert. Voraussetzung für Lernen ist, dass die Veränderung, die der Lerner mit dem Ausbildungsziel verbindet, für ihn persönlich attraktiv ist. Die konstruktivistisch motivationale Bewertung des erreichten (Lern-)Zustands ist angenehm. Auf dieselbe Weise bewertet der Lerner auch Methoden. So ist für manche Lerner Gruppenarbeit angenehm, für andere unangenehm. Eine konkrete Lernmethode kann nie allen Interessen der Lerner gerecht werden. Sie bewegt sich zumindest in der Balance zwischen dem Lernziel einer Ausbildung, den Interessen der Ausbilder und den Interessen des Lerners. Die Tatsache, dass Menschen Themen aus einem Bezug heraus deuten, bedeutet für die Entwicklung von Methoden, dass eine Methode „grundsätzlich“ einen vereinbarten Bezugskontext enthalten muss, um eine gemeinsame Deutungsgrundlage für alle Beteiligten Lerner zu schaffen. Dieser Bezugskontext entspricht dem „Bekannten“ und muss daher auch allen Lernern bekannt sein. Beispiel Lernfrage — Welche Erfahrungen haben Sie mit Coaching? Bezugskontext — Individueller, konstruktivistischer Kontext, dem Ausbilder unbekannt. Lernfrage — Welche Erfahrungen haben Sie mit Coaching im Unternehmen? 68

Bezugskontext — Konstruktivistisch, das Unternehmen des Lerners. Lernfrage — Welche Erfahrungen haben Sie mit Coaching in Ihrer Ausbildung zum Coach? Bezugskontext — Die eigene Coachausbildung, allen bekannt. Je konkreter der einzelne Lerner den Bezugskontext als „bekannt“ identifizieren kann, desto besser kann er Unterschiede zu anderen Kontexten und anderem im Bezugskontext erkennen, sich also selbst in seinem Lernen im Bezugskontext bewerten. Eine konstruktivistische Deutung ist immer gegeben, je besser innerhalb einer Methode dem Lerner ein Kontext bekannt ist, aus dem heraus er deuten soll, desto erfolgreicher ist der Lerntransfer in andere, unbekannte Kontexte. Jede Taxonomiestufe erfordert einen Bezugskontext. Soll Lernen leisten, dass Erkenntnisse innerhalb eines Bezugskontextes in einen anderen Kontext transferiert werden, so benötigt Lernen zusätzlich einen Transferkontext. Eine besondere Betrachtung verdient die Taxonomiestufe „faktisch richtiges Wissen“, da sie scheinbar nicht mit einem Bezugskontext in Verbindung gebracht werden kann. Faktisch richtiges Wissen gelte für alle Kontexte. Doch definiert jeder Kontext faktisch richtiges Wissen für sich selbst. Auch die NEWTONSCHEN Gesetze, die scheinbar in allen Kontexten gelten, also als physikalisches Gesetz kontextlos sind, gelten nur im Kontext „ Erde“ und können im Kontext „Weltraum“ nicht angewandt werden. Noch anschaulicher verdeutlichen das verschiedene Wissenschaften, die ein und denselben sprachlichen Begriff ganz unterschiedlich definieren (siehe auch im Teil II Abstract „Strategie“). Faktisch richtiges Wissen wird aus einem thematischen Bezugskontext heraus definiert. Je präziser das faktisch richtige Wissen innerhalb des Bezugskontextes Coaching definiert ist, desto besser ist Lernen im Ergebnis vergleichbar (siehe Abstract „Kommunikation”). Beispiele für Bezugs- und Transferkontexte Taxonomiestufe 1 Bezugskontext — Faktisch richtiges Wissen über den Coachingprozess der Hamburger Schule. Transferkontext — Kein Transferkontext möglich, da die gemeinsame Vereinbarung von faktisch richtigem Wissen, in Bezug auf einen konkreten Kontext, erst die Grundlage für die Abbildung weiterer Taxonomiestufen schafft. Taxonomiestufe 2 Bezugskontext — Den Coachingprozess in Coachings innerhalb der Präsenzausbildung anwenden. Transferkontext — Den Coachingprozess in Coachings außerhalb der Ausbildung anwenden. Als Lernziel einer Methode formuliert genügt es in der Regel, nur den Transferkontext zu referenzieren und den Bezugskontext in der Beschreibung der Methode abzubilden. Beispiel — Taxonomiestufe 2 Der Lerner wird (Zeitpunkt) den Coachingprozess in Coachings außerhalb der Ausbildung angewandt haben. Beispiel — Taxonomiestufe 4 Der Lerner wird (Zeitpunkt) seine Lernerkenntnisse in Bezug auf den Coachingprozess in andere, selbst gewählte Kontexte übertragen haben. Jede Lernmethode berücksichtigt den Grundsatz: Vom faktisch richtigen, bezugskontextbezogenen Wissen zum konstruktivistisch gedeuteten Kontexttransfer. 69

Der Coachingprozess als Bezugs- und Transferkontext Eine Coachausbildung ist in erster Linie eine Ausbildung im Erkennen von grundsätzlichen Wirkungserwartungen. Wirkungserwartungen werden durch wiederholbare Abläufe „richtigen Tuns” objektiviert. Das methodische Vorgehen wird als „Ablauf richtigen Tuns” definiert. Die zentrale Methode ist der Coachingprozess im Kontext der vier Werte „Freiheit“, „Freiwilligkeit“, „Ressourcenverfügung“ und „Selbststeuerung“ und den drei Anliegen Wahrnehmungserweiterung, Entwicklung von Handlungsalternativen und Entscheidungsfähigkeit. Der Grundsatz „Bekannten zum Unbekannten“ gewinnt in diesem Zusammenhang eine weitere Bedeutung: Zu Beginn einer Ausbildung hat sich jeder Teilnehmer möglicherweise das Ziel gesetzt, die Kompetenz als Coach erworben zu haben. Was genau dazu gehört, ist, abhängig vom Vorwissen, in der Regel unbekannt. Aus neurowissenschaftlicher Sicht will jede Information mit einer anderen verknüpft werden. Auf diese Weise entstehen im Hirn durch Wiederholung synaptische Bahnen. Die Information ist über diese Bahnen abrufbar. Um diese Verknüpfungen zu realisieren, versucht das Hirn, neue Informationen mit vorhandenen (bekannten) Informationen selbstorganisiert zu verbinden. Sind neue Informationen nicht verbindungsfähig bzw. andockbar, so erfolgt kein Lernen (kognitives Rauschen). Ein Bezug oder Transfer kann durch den Lerner selbst nicht hergestellt werden. Zu Beginn eines jeden Lernvorhabens gilt es, gemeinsam Bekanntes als Bezugskontext zu etablieren. In einer Coachausbildung empfiehlt sich hier der Coachingprozess, da er als zentrale Methode das Skelett darstellt, an dem sämtliche Inhalte reflektiert und auf das sämtliche Inhalte transferiert werden können. Der Coachingprozess als Lernmethode Eine Ausbildung, die sich am Ablauf eines Coachings orientieren will, definiert damit gleichzeitig einen Lernprozess. Der Coachingprozess selbst leitet sich unter anderem aus dem Selbstorganisierten Lernen ab. Vereinfacht kann der Coachingprozess daher wie folgt pädagogisch beschrieben werden: Das Menschenbild vom Lernenden (beschrieben durch die Werteorientierung sowie die Vereinbarung der Verantwortlichkeiten in der Kontakt-/Kontraktphase) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 70

Die Benennung des Lerngegenstandes (das Coachingthema) Die Identifikation der Verästelungen bzw. Zusammenhänge des Lerngegenstandes (die visuelle Aufstellung) Die Festlegung des Selbstlernziels (die Zielformulierung) Etablierung der Feedbacksystematik zur Selbstbewertung des Lernens (die systemischen Zielerreichungsmerkmale) Selbstständige Identifikation, Bewertung und Aktualisierung der eigenen (Lern-)Ressourcen (die Ressourcenidentifikation) Mentale Verknüpfung der eigenen Ressourcen mit dem Lerngegenstand (Initialisierung der Selbstlernkonzeption) Erarbeitung eines Selbstlernplans orientiert am Ziel und an der Feedbacksystematik (der Handlungsplan)

8. 9. 10.

Selbstständiges Justieren der Ressourcen des Selbstlernplans bei Abweichungen (Analyse potenzieller Probleme und Planaktualisierung) Transfer der eigene Lernerkenntnisse in selbst gewählte Kontexte (Selbstlernkonzeption) Lernerfolgskontrolle (Controlling und Abschluss)

Innerhalb einer Coachausbildung bietet diese Methode folgende Vorteile: • Die Orientierung am Coachingprozess ermöglicht die Taxonomiestufe 4. • Die Lernenden lernen so, unabhängig von einem spezifischen Lerngegenstand, den Coachingprozess. • Durch die Verankerung des Rubikon-Modells innerhalb des Lernprozesses wird Motivation ausgelöst. • Der Prozess kann für Einzel- und Gruppenarbeiten genutzt werden. Ein Erlernen des Coachingprozesses bereits mit Beginn der Ausbildung ermöglicht es den Ausbildern, den Coachingprozess als Transferkontext in konkreten Übungen anzubieten, sodass sämtliche anderen Inhalte der Ausbildung durch die Lernenden auf die Struktur des Prozesses übertragen werden können. Je besser jeder Inhalt einer Ausbildung mit anderen Inhalten durch den Lernenden verknüpft werden kann, desto nachhaltiger ist das Lernen als solches. Das Lerngespräch Ein Lerngespräch orientiert sich an den o.a. Grundsätzen und kann sich in seiner Struktur einerseits am oben beschriebenen Prozess orientieren oder vereinfacht an der Abfolge der Taxonomiestufen. Beispiel Lerngespräch der Taxonomiestufe 3 Tax 1 — Was wissen Sie faktisch über Perspektivwechsel im Coaching? Bezugskontext — Definierter Kontext Coaching Transferkontext — Keiner Tax 2 — In welchem Zusammenhang wenden Sie im Coaching dieses Wissen an? Bezugskontext — Coaching Transferkontext — Die faktisch richtigen Phasen im Coachingprozess Tax 3 — Welche Reflexion wollen Sie damit beim Coachee auslösen? Bezugskontext — Die konkrete faktisch richtige Phasen im Coachingprozess Transferkontext — Anliegen von Coaching Beispiel Lerngespräch der Taxonomiestufe 4 Tax 1 — Was wissen Sie über faktisch über Fragen? Tax 1 — „Vom Allgemeinen zum Speziellen“: Welche Fragearten kennen Sie? Tax 1 — „Vom Bekannten zum Unbekannten“: Welche Fragearten im Coaching kennen Sie? Bezugskontext — allgemein gültige Definitionen „Fragen“ im Kontext Coaching Transferkontext — Keiner Tax 2 — Wo im Coachingprozess wenden Sie dieses Wissen an? Bezugskontext — Coachingprozess Transferkontext — Konkrete Phasen im Coachingprozess Tax 3 — Welche Absicht verfolgen Sie konkret mit Ihren Fragen in den einzelnen Phasen des Prozesses? Bezugskontext — Konkrete Phasen im Coachingprozess Transferkontext — Anliegen von Coaching 71

Tax 4 — In welchen anderen Zusammenhängen können Sie Ihre Erkenntnisse zu Fragen noch nutzen? Bezugskontext — Anliegen von Coaching Transferkontext — konstruktivistisch gedeuteter Kontext durch den Lernenden Innerhalb einer Coachausbildung bietet das Lerngespräch folgende Vorteile: • Alle Taxonomiestufen können abgebildet werden. • Der Ausbilder kann dem Konstruktivismus und der Motivation der Lernenden individuell und flexibel begegnen. • Teilnehmer lernen die Ablaufstruktur des Coachingprozesses. • Eine Feedbacksystematik zur Selbstbewertung kann innerhalb des Lerngesprächs entwickelt werden. Gruppenarbeiten In einer konstruktivistischen Betrachtung deutet und bewertet jedes Gruppenmitglied das Thema einer Gruppenarbeit bzw. den Lerngegenstand aus sich heraus. In der Auseinandersetzung mit dem Thema muss jeder Einzelne sich zwangsläufig auch mit den Deutungen und Bewertungen des Themas durch jeden anderen in der Gruppe auseinandersetzen. Eine Gruppe wird sich nur selbst organisieren, wenn die Gruppenmitglieder entweder selbstorganisiert ihr Lernziel vereinbaren oder der Ausbilder, orientiert an der verwandten Taxonomie, eine individuell attraktive Aufgabenstellung vorgibt. Der Zugang zu einem Thema in der Interaktion mit der Gruppe ermöglicht Lernen im Bereich der sozio-kommunikativen Kompetenz, da sich der Lerner nicht nur selbst mit dem Thema auseinandersetzen muss, sondern auch mit der Art und Weise, wie jedes einzelne Gruppenmitglied das Thema deutet und bewertet. Soll ein gemeinsames Ergebnis präsentiert werden, so muss zwischen allen Gruppenmitgliedern ein Kommunikationskontext vereinbart werden. Verständnisprobleme des Einzelnen werden durch die Gruppe selbst behoben. In dem Moment übernimmt ein Gruppenmitglied zusammen mit anderen Teilnehmern die Funktion des Lehrenden und lernt durch diese Anwendung von Wissen gleichzeitig selbst. Der Lerner wird Teil der Feedbacksystematik und hilft durch seine Rückmeldung dem Lehrenden selbst beim Lernen. Kennen sich die Gruppenmitglieder untereinander nicht und verfügen sie über keine reflektierte Erfahrung von Gruppenarbeit, nimmt die Vereinbarung eines Kommunikationskontextes und die Organisation des Lernens in der Gruppe mehr Zeit in Anspruch als bei Gruppenmitgliedern, die bereits über sich und die anderen reflektiert haben. Auch eine Partnerarbeit ist eine Gruppenarbeit. Innerhalb einer Coachausbildung bietet die Gruppenarbeit folgende Vorteile: • Der Unvorhersehbarkeit von Lernerkenntnissen kann in Bezug auf faktisch richtiges Wissen durch die gemeinsame Ergebnisverantwortung der Gruppe begegnet werden. • Die Taxonomiestufen 1-3 können durch den Ausbilder abgebildet werden. 72

• • • • • •

Die Taxonomiestufen 1-4 können selbstorganisiert durch die Gruppe abgebildet werden. Der Kompetenzbereich sozio-kommunikative Kompetenz wird besonders gefördert. Erkenntnisse können u.a. in das Coaching von Teams (Sonderform der Gruppe) übertragen werden. Die Gruppenarbeit kann mit anderen Methoden, z.B. Einzelarbeit, kombiniert werden. Eine Gruppe kann den Coachingprozess zur Organisation des Selbstlernens verwenden. Eine Gruppe kann eine Feedbacksystematik zur Selbstbewertung ihres Lernens etablieren.

Einzelarbeiten Wo und in welchem Zusammenhang faktisches Wissen angewandt wird, welche Reflexion ausgelöst wird und in welche anderen Kontexte Lernerkenntnisse übertragen werden, ist abhängig von der individuellen Deutung und Bewertung des Einzelnen. Die Taxonomiestufe 4 (konstruktivistischer Kontexttransfer) ist ein individueller Transfer der reflektierten Erkenntnisse in einen selbstgewählten Kontext. Nur das Individuum selbst kann beurteilen, welcher Kontext attraktiv für diesen Transfer ist. Aus diesem Grund ist die Taxonomiestufe 4 immer mit einer Einzelarbeit verbunden. Eine besondere Bedeutung erhält die Einzelarbeit im Coaching und in der Ausbildung von Coachs, da hier die Fähigkeit, sich selbst in einem Kontext zu bewerten (Kompetenzgedanke), besonders wichtig ist. Der Einzelne nutzt eine Feedbacksystematik, um sein Lernen selbst zu bewerten und Folgerungen für sein Lernen abzuleiten. Die Einzelarbeit kann ähnlich wie die Gruppenarbeit entweder zur Gänze selbst organisiert werden oder der Ausbilder bietet, orientiert an den Taxonomien, eine Struktur an. Die Struktur ähnelt der eines Lerngesprächs. Innerhalb einer Coachausbildung bietet die Einzelarbeit folgende Vorteile: • Es können alle Kompetenzbereiche und Taxonomiestufen abgebildet werden. • Da kein Kommunikationskontext mit anderen vereinbart werden muss, kann Einzelarbeit zeitlich effizienter als andere Methoden sein. • Die Fähigkeit zur Selbstbewertung wird gefördert. • Einzelarbeiten können mit jeder anderen Methode kombiniert werden. Übungen Bevor der Begriff Trainer Einzug in die deutsche Sprache gehalten hat, hieß der Trainer „Übungsleiter“. Er verantwortete und übte die Einhaltung eines durch ihn oder andere vorgegebenen Ablaufs. Eine Übung ist auch heute nichts anderes als eine Methode, mit der eine „richtige“ Anwendung von faktischem Wissen (dazu zählen auch Ablaufstrukturen) in einem vorgegebenen Kontext geübt wird. Wiederholendes Üben stabilisiert beabsichtigtes Verhalten. Fehlende oder nachlassende Übung destabilisiert beabsichtigtes Verhalten. Sämtliche Fähigkeiten und Fertigkeiten eines Coachs, die sich aus dem Kompetenzmodell ableiten lassen, müssen geübt und selbst bewertet werden, um ein stabiles Verhalten zu erreichen. Übungen bilden in der Regel die Taxonomiestufe 2 und 3 ab. Findet eine Übung zusätzlich in einem anderen Kontext, z.B. außerhalb der Ausbildung (Praxis), statt, wird der Lerner auch über die von ihm 73

individuell wahrgenommenen Unterschiede in der Anwendung reflektieren (Taxonomiestufe 3) und seine Erkenntnisse ggf. selbstständig in selbstgewählte Kontexte (Taxonomiestufe 4) transferieren. Ist es beabsichtigt, Übungen zur Erreichung der Taxonomiestufen 3 und 4 einzusetzen, so kann das in der Praxis erreicht werden. In diesem Zusammenhang ist es empfehlenswert, die Übung mit einer anschließenden Einzelarbeit zu kombinieren und Wiederholungen zur Bildung neuronaler Ressourcen einzuplanen. Ableitungen für Lernmethoden aus der Axiomatik „Lernen” Axiom 1 Bewusste und unbewusste Erfahrungen von Ausbilder und Lernenden sind systemisch-konstruktivistische Rahmenbedingungen für Lernen. Folgerung — Jede Lehr- und Lernmethode muss dahingehend geprüft werden, ob sie bewusste und unbewusste Erfahrungen von Ausbilder und Lernenden berücksichtigt. Beispiel — Die Sitzanordnung „Stuhlkreis“ soll den Dialog untereinander fördern. Teilnehmer empfinden einen Stuhlkreis nicht automatisch als angenehm. Der Mensch ist körpersprachlich als Ganzes sichtbar. Es kann sein, dass sich manche Teilnehmer schutzlos fühlen. Hier ist eine genaue Auseinandersetzung mit den Anspruchsgruppen an die Ausbildung nötig. Auch ein Wort wie z.B. „Ziele“ löst bisweilen aufgrund der Erfahrungen der Teilnehmer mit dem Wort in anderen Kontexten (Quartalsziele, Umsatzziele, Leistungsziele) unangenehme Gefühle aus. Sie verbinden mit dem Wort möglicherweise Bewertbarkeit oder Leistungsdruck. Ein Ausbilder war möglicherweise unter bestimmten Rahmenbedingungen erfolgreich oder misserfolgreich. Wurden diese Erfahrungen nicht reflektiert, gehen sie als Rahmenbedingungen in die Ausbildung ein. Axiom 2 Lernen ist ein systemisch-konstruktivistischer Prozess, der vom Lernenden bewusst gesteuert werden kann. Folgerung — Lehr- und Lernmethoden müssen die Möglichkeit für den Lernenden beinhalten, sein Lernen selbst zu steuern Beispiel — Steht dem Lernenden ein veröffentlichter Maßstab (siehe Feedbacksystematik als curriculare Kontrollinstanz) zur Verfügung, so kann er seine Lernfortschritte selbst bewerten und daraus ableiten, wie er sein Lernen ggf. verändern muss. Axiom 3 Lernen erfolgt in Abhängigkeit von individuellen Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen, Werten, Intellekt und Selbstwirksamkeitserwartungen innerhalb systemisch-konstruktivistisch gedeuteter Kontexte. Folgerung — Lehr- und Lernmethoden müssen diese Individualität berücksichtigen. Beispiel — Ein stark strukturiertes Angebot wird nicht von allen Teilnehmern als angenehm empfunden. Teilnehmer mit Lust an Flexibilität empfinden es in der Regel als unangenehm. Der Teilnehmer bewertet die Methode und den Inhalt individuell durch bisherige Erfahrungen in unterschiedlichen Kontexten und den emotionalen Nutzen (psycho-biologisches Wohlbefinden). Lehr- und Lernmethoden setzen oftmals voraus, dass alle Teilnehmer identische Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte, Intellekte und Selbstwirksamkeitserwartungen haben. Wechseln sich Methoden in dieser Ansprache ab, wird die Möglichkeit vergrößert, der Individualität der Teilnehmer gerecht zu werden. Axiom 4 Lernen ist im Ergebnis individuell pragmatisch und unvorhersehbar. Folgerung — Ein Lernziel kann zwar gesetzt und auch kontrolliert werden, doch kann niemand vorhersehen, ob dieses Ziel mit der gewählten Methode auch erreicht wird. Lernen muss daher 74

permanent Rückmeldungen beinhalten, um jederzeit in geeigneter Form dieser Unvorhersehbarkeit begegnen zu können. Beispiel — Ein Ausbilder erklärt die Vereinbarung eines Kommunikationskontexts. Ein Teilnehmer erkennt, dass er Vorteile hat, sein Anliegen durchzusetzen, wenn er geschickt mit den Werten seines Gegenübers umgeht. Ein anderer Teilnehmer erkennt, dass er mehr Verhaltensspielraum hat, wenn er seinem Gegenüber seine Interessen mitteilt. Axiom 5 Lernen löst Bewusstsein und Motivation für routinierte Lösungsstrategien innerhalb bekannter Kontexte aus. Folgerung — Ist Gelerntes emotional und kognitiv angenommen, so führt die Anwendung des Gelernten zu einer sich selbst stabilisierenden (routinierten) Lösungsstrategie in einem bekannten Kontext. Beispiel — Der Teilnehmer einer Coachausbildung hat für sich erkannt, dass Angebote auf einer Abstraktionsebene vorteilhaft sind, da sie ihm als Coach z.B. die Handlungsfähigkeit gewährleisten. Er will und wird diese Vorgehensweise wiederholen und im ihm bekannten Kontext Coaching Routine entwickeln. Axiom 6 Lernen löst kreative und gewollte Lösungsstrategien für unbekannte Verhaltenskontexte aus. Folgerung — Lehr- und Lernangebote sollen dem Lerner eine Möglichkeit bieten, sich unbekannte Verhaltenskontexte mit emotional gewollten Lösungsstrategien kreativ selbst zu erschließen. Beispiel — Versteht ein Teilnehmer die grundsätzlichen Zusammenhänge der Vereinbarung eines Kommunikationskontexts und hat er sie erfolgreich im Kontext Coaching angewandt, so kann er aus sich selbst Lösungsstrategien für die Vereinbarung von Kommunikationskontexten, z.B. im Kontext Beruf, erschaffen. Axiom 7 Ausbilder sind Organisatoren individuell authentischer, komplexer Lehr-, Lern- und Anwendungskontexte. Folgerung — Ein Ausbilder ist dafür verantwortlich, dass Lehr-, Lern- und Anwendungskontexte authentisch sind. Beispiel — Oftmals werden Rollenspiele (soziologisch Rolle: normative Zuschreibung an eine Person) genutzt, um bestimmte Verhaltensweisen zu üben. Eine Rolle zu spielen bedeutet, jemanden anderen, im Sinne der Erwartungen an die Rolle, zu imitieren. Ein Rollenspiel entfernt den Lernenden von seiner Identität und gedeuteten Wirklichkeit. Aufforderungen, wie z.B. „Sie spielen jetzt bitte einmal den verzweifelten Coachee, der beim Coach Hilfe sucht“ ermöglichen keinem der am Spiel Beteiligten einen authentischen emotionalen Kontakt mit einer Situation. Das in der Rolle Erlebte ist nicht übertragbar. In bestimmten Branchen haben Teilnehmer z.B. unterschiedliche Erfahrungen mit Lehr- und Lernkontexten. Sind Teilnehmer z.B. das Selbststudium gewöhnt, so ist dieser Lehr-und Lernkontext für sie authentisch. Axiom 8 Lernen erfordert Rückmeldungen über Unterschiede und Übungen aus dem Lehr-/Lernkontext zur individuellen Orientierung. Folgerung — Der Ausbilder trägt die Verantwortung für die Organisation einer Feedbacksystematik. Beispiel — Siehe Textteil „Feedbacksystematik als curriculare Kontrollinstanz” Axiom 9 Faktenwissen und Faktendeutungen von Ausbildern und Lernenden sind untereinander vernetzt und individuell in unterschiedliche Anwendungskontexte transferfähig. 75

Folgerung — Lehr- und Lernmethoden können die Vernetzung von Faktenwissen und Faktendeutungen von Ausbildern und Lernenden fördern und einen Transfer in unterschiedliche Anwendungskontexte anbieten. Beispiel — Ein Teilnehmer erzählt von seinem Faktenwissen über Motivation in seinem Unternehmen. Der Ausbilder ergänzt um Fakten zum Thema Motivation, die er z.B. über die Branche des Unternehmens weiß. Diese vernetzten Erfahrungen können anderen Teilnehmern zum Transfer z.B. auf die Gestaltung der Kontakt-/Kontrakt-Phase des Coachingprozess angeboten werden. Axiom 10 Lerner sind kompetenter in ihren Anwendungskontexten als Ausbilder. Folgerung — Lehr- und Lernmethoden berücksichtigen, dass Lerner bzw. Teilnehmer die konkreten Anforderungen ihres individuellen Anwendungskontextes kompetent bewerten können. Ausbilder respektieren die Deutungen des Lerners in Bezug auf seinen Anwendungskontext. Beispiel — Ein Ausbilder ist selten Teil des Anwendungskontextes seiner Teilnehmer. Selbst wenn er in derselben Firma, vielleicht sogar in derselben Abteilung arbeitet, haben seine Teilnehmer in der Regel andere Aufgaben oder andere Kunden und damit andere Erfahrungen. Ebenfalls entscheidend ist die konstruktivistische Deutung des Anwendungskontextes durch den Lerner, die durch einen Ausbilder nicht reproduziert werden kann. Ein Transfer in einen Anwendungskontext berücksichtigt, dass nur der Lerner selbst bewerten kann, ob er (selbst) mit einem bestimmten Verhalten erfolgreich ist. Beispiele von Planungshilfen zur Gestaltung einer Lehr- und Lernmethode und deren Einordnung in die Lern- und Zielorganisation 1. Kompetenzbereich — Fachlich-methodische Kompetenz Folgerung für die Lern- und Zielorganisation Die zu entwickelnde Lernmethode leistet einen Beitrag zum Kompetenzgrad in diesem Bereich. 2. Fähigkeit des Coach — Beispiel Fragen Die Fähigkeit ist aus der fachlich-methodischen Kompetenz abgeleitet. 3. Interagierende Kompetenzbereiche — Persönliche Kompetenz, sozio-kommunikative Kompetenz, Feldkompetenz Folgerung für die Lern- und Zielorganisation — Übungen der Taxonomiestufen 3 und 4 aus den interagierenden Kompetenzbereichen können Erkenntnisse aus der zu entwickelnden Übung reflektieren. Bevor die Fähigkeit „Fragen“ später in der Taxonomiestufe 3 ausgebildet werden kann, ist zumindest eine Entwicklung der Fähigkeiten aus dem Bereich persönliche Kompetenz der Taxonomiestufe 3 abzuschließen. 4. Taxonomiestufe 2 — Kontextbezogenes Anwenden von Wissen Das heißt selbstständiges Auswählen, Anordnen, Verarbeiten und Darstellen bekannter Sachverhalte (Wissen) unter vorgegebenen Gesichtspunkten in einem durch Übung bekannten Zusammenhang sowie selbständiges Übertragen des Gelernten auf vergleichbare neue Situationen, wobei es entweder um veränderte Fragestellungen oder um veränderte Sachzusammenhänge oder um abgewandelte Modelle, Methoden oder Werkzeuge gehen kann. Folgerung für die Lern- und Zielorganisation — Bevor die zu entwickelnde Lernmethode der Taxonomiestufe 2 angewandt werden kann, muss die Taxonomiestufe 1 abgebildet sein, das 76

heißt, der Teilnehmer verfügt über faktisch richtiges Wissen zum Thema Fragen. Folgerung für die Lehr- und Lernmethode — Da die Taxonomiestufe 2 das Anwenden von Wissen beinhaltet, wird die Methode eine Übung beinhalten. 5. Bezugskontext(e) — Ein allen Teilnehmern bekannter Kontext Folgerung für die Lehr- und Lernmethode — Die Teilnehmer wenden faktisches Wissen in einem bekannten Kontext, z.B. „Beruf“, an. Transferkontext — Der Coachingprozess Vernetztes Faktenwissen (Taxonomiestufe 1) — Fragearten, Frageabsichten Folgerung für die Lern- und Zielorganisation — Fragearten, Frageabsichten sind Teil des faktisch richtigen Wissens zum Thema. Vernetzbares bzw. zu vernetzendes Faktenwissen muss vorher vermittelt sein. 6. Didaktische Ressourcen (siehe auch „Abstracts“) — Semantik, Linguistik, Pädagogik, Kommunikationspsychologie, Philosophie, Soziologie, u.a. Folgerung für die Lern- und Zielorganisation — Die Auswahl geeigneter fachlicher Inhalte muss vor der Ausbildung geschehen. Folgerung für die Lehr- und Lernmethode — Das faktische Wissen muss im Rahmen der Übung nach semantischen Gesichtspunkten individuell sprachlich andockbar sein. 7. Feedbackmaßstab der Methode — Orientiert am Anwendungskontext die fachlich richtige Formulierung der Fragen. Beispiel für eine Übung zur Taxonomiestufe 2 Übungsname — Fragezirkel Ausgangssituation — Die Teilnehmer entstammen der Gesundheitsbranche und werden zum „Gesundheitscoach“ ausgebildet. Sie verfügen über faktisch richtiges Wissen zum Thema „Fragen im Coaching“ und zum Thema Gesundheit. Sie kennen die Struktur des Coachingprozesses (Taxonomiestufe 1), sowie die Werte und zentralen Anliegen von Coaching. Methode — Einzelarbeit Sitzanordnung — Stuhlkreis (Zirkel) Material — Karten mit zentralen, definierten Begriffen aus dem Thema Gesundheit, z.B. Ernährung, Regeneration, Vorbeugung, Ausdauer, Entspannung, Anspannung, Umwelt, Beweglichkeit... Die Anzahl der Karten entspricht der Anzahl der Teilnehmer. Anweisung — „Wir üben jetzt die Anwendung Ihres Wissens zum Thema Fragen in der Phase 4 des Coachingprozesses. Sie haben dazu jeder eine Karte mit einem Ihnen vertrauten Begriff erhalten. Ziel ist es, dass Sie zu jedem Begriff eine Frage formulieren können, die in Phase 4 gestellt werden kann. Dazu werden Sie von einem anderen Teilnehmer eine Aufforderung bekommen, eine bestimmte Frageart zu verwenden. Wir nutzen folgenden Feedbackmaßstab: Der Teilnehmer, der Ihnen die Aufforderung gegeben hat, entscheidet, ob ... a) Sie die Frage faktisch richtig formuliert haben; b) die Frage den Werten den zentralen Anliegen von Coaching und entspricht. Wenn Sie durch den auffordernden Teilnehmer die Rückmeldung: „Alles klar“ bekommen haben, dürfen Sie selber einen anderen Teilnehmer, der noch nicht dran war, auffordern, ebenfalls eine Frage zu seiner Karte zu formulieren. Die Art der Frage dürfen Sie sich wünschen. Die Übung endet, wenn alle einmal dran waren. In dieser Übung dürfen Sie gerne Ihre Phantasie verwenden.“ 77

Funktion des Ausbilders — Initialisierung und Beachten der Einhaltung des Verfahrens. Zur Initialisierung bittet der Ausbilder einen Teilnehmer aus der Runde, den Begriff einmal vorzulesen, damit alle „mitdenken“ können, äußert den Wunsch nach einer bestimmten Frageart und wendet die o.a. Feedbackkriterien an. Sobald dieser Teilnehmer die Kriterien erfüllt hat, darf er einen anderen Teilnehmer auffordern. Beispiel A. „Bitte lesen Sie den Begriff auf Ihrer Karte einmal vor.“ B. „Ernährung“ A. „Ich wünsche mir eine zirkuläre Frage.“ B. „Woran kann Ihr Chef die Qualität Ihrer Ernährung erkennen?“ A. „Alles richtig. Werte und Anliegen sind berücksichtigt. Weiter geht´s.“ Beispiel A. „Bitte lesen Sie den Begriff auf Ihrer Karte einmal vor.“ B. „Ausdauer“ A. „Ich wünsche mir eine hypothetische Frage.“ B. „Einmal angenommen, Sie würden Ihre Ausdauer verbessern, was hätten Sie davon?“ A. „Richtig formuliert, doch leider entspricht das nicht den Werten und Anliegen von Coaching. Es liegt keine Freiheit bzw. Möglichkeit zu wählen vor. Möglicherweise sind auch die Werte Selbststeuerung und Ressourcenverfügung betroffen. Die Anliegen von Coaching werden leider nicht berücksichtigt.“ Beispiel — Unterstützendes — Visualisierung des Feedbackmaßstabs Anschlussmöglichkeiten zu höheren Taxonomiestufen Methode — Lehrgespräch Beispiel — Fragen „Welche Absicht verfolgen Fragen in den unterschiedlichen Phasen des Coachingprozess?“ (Taxonomiestufe 1 — faktisch richtiges Wissen) „Wo genau im Prozess wenden Sie welche Fragearten an?“ (Taxonomiestufe 2 — kontextbezogenes Anwenden von Wissen) „Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Ihrer Fähigkeit zu fragen und Ihrer persönlichen Kompetenz?“ (Taxonomiestufe 3 — Reflexion systemischen Agierens) „In welchen Situationen können Sie Ihre Fähigkeit zu fragen noch anwenden?“ (Taxonomiestufe 4 — konstruktivistischer Kontexttransfer) Beispiel — Hausaufgaben „Bitte wenden Sie Ihre Fähigkeit, Fragen zu stellen, im Berufsalltag an und bewerten Sie die von Ihnen wahrgenommenen Unterschiede.“ (Taxonomiestufe 3 — Reflexion) Vertiefende Inhalte für Ihre Ausbildung finden Sie auch in den Abstracts: Andragogik Curriculum Handlungslernen Konstruktivismus Kommunikation Kreativität Lehren und Lernen Lernen Pädagogik Semantik Strategie Ziele 78

5.6 Planung der Ausbildung orientiert am Kompetenzmodell Jede Ausbildung hat ein Ziel, das den anzustrebenden „output“ formuliert. Diesem Ziel werden in einer zeitlichen Abfolge Inhalte unterschiedlicher Intensität zugeordnet. Nicht nur die Formulierung eines Ausbildungsziels ist ein „autoritärer Akt“ — auch die Auswahl von Methoden und Inhalten ist ihrem Wesen nach autoritär (aus der Person kommend). Je besser die Interessen der Anspruchsgruppen verwirklicht werden — bewerten können dies nur die entsprechenden Anspruchsgruppen selbst — desto höher ist aus dieser Sicht auch die Legitimation des Angebots. Das Kompetenzmodell Coach ist vergleichbar mit dem Ziel einer Ausbildung. Der Teilnehmer wird selbstgesteuerte Kompetenz im Kontext Coaching erreicht haben. Im Gegensatz zu herkömmlichen Lernzielformulierungen bietet es jedoch den Vorteil, dass die grundlegende Struktur dieses Modells weitaus differenzierter ist, als es eine herkömmliche Formulierung im Sinne eines einzigen Lernziels für die Ausbildung leisten kann. Diese Differenzierung, orientiert an Kompetenzbereichen, verbessert die planerische Auseinandersetzung bei der inhaltlichen und strukturellen Gestaltung der Ausbildung. Beispiel für ein herkömmliches Lernziel einer Ausbildung Der Teilnehmer verfügt über Fähigkeiten und Fertigkeiten, eigenständig eine nachhaltige Selbstlernkonzeption, bezogen auf das Veränderungsanliegen seines Coachee, auszulösen, und kann diese Fähigkeiten und Fertigkeiten auf andere Situationen übertragen. Beispiel für ein Lernziel einer Ausbildung, orientiert am Kompetenzbereich „persönliche Kompetenz“ Der Teilnehmer hat im Kontext Coaching eigene Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen identifiziert, kann sich selbst in seinem Verhalten als Coach einschätzen und eigene Veränderungen einleiten und überprüfen. Beispiel für ein Lernziel einer Ausbildung, orientiert am Kompetenzbereich „sozio-kommunikative Kompetenz“ Der Teilnehmer hat selbstorganisiert im Kontext Coaching einen Kommunikationskontext mit dem Coachee, der Gruppe oder dem Team vereinbart, der die Interessen aller Beteiligten berücksichtigt. Beispiel für ein Lernziel einer Ausbildung orientiert am Kompetenzbereich „fachlich-methodische Kompetenz“ Der Teilnehmer verfügt über fachliche Kenntnisse und Fertigkeiten des Kontextes Coaching und organisiert Arbeitsabläufe ergebnisorientiert. Beispiel für ein Lernziel einer Ausbildung orientiert am Kompetenzbereich „Feldkompetenz“ Der Teilnehmer verfügt über reflektierte Erfahrung im Thema „Gesundheit“ und transferiert seine Erkenntnisse auf alle Kompetenzbereiche im Kontext Coaching. Beispiel für ein Lernziel einer Ausbildung orientiert am Kompetenzbereich „Handlungskompetenz“ Der Teilnehmer hat den Sinn des Kontextes Coaching und Unterschiede zu anderen Kontexten erkannt und realisiert die Koordination aller Ressourcen der Kompetenzbereiche in einem situativ-individuellen Handeln als Coach.

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5.7 Die Lernziel-Taxonomie innerhalb des Kompetenzmodells Die Vermittlungsintensität der Fähigkeiten und Fertigkeiten wird durch eine „Taxonomie“ beschrieben. Eine Taxonomie (griech. táxis „Ordnung“, -nómos „Gesetz“) gliedert Lernziele orientiert an konkreten Vermittlungs- und Lernanforderungen. Die Formulierung einer „Ordnungsebene“ spiegelt dabei sprachlich die Vermittlungsintensität. Gleichzeitig beinhaltet sie einen Hinweis darauf, was im Sinne einer Lernzielerreichung durch die Ausbildungsverantwortlichen zu überprüfen ist. Basis einer Taxonomie ist Wissen über Begriffsdefinitionen, Axiome, Modelle, Theorien, Abläufe, Fakten. Wissen ist die Grundvoraussetzung für Kompetenz. Erst wenn Wissen vorhanden ist, wird eine Anwendung möglich. Der Vorteil der Verwendung einer Taxonomie liegt in der eindeutigen Belegung der Begriffe, sodass Lernziele deutlich kompakter werden, vom Leser jedoch anhand der verwandten Taxonomie verstanden werden. Die Qualität eines Lernziels kann danach beurteilt werden, ob voneinander unabhängige Personen dasselbe darunter verstehen. 1. Faktisch richtiges Wissen • Die Wiedergabe von Sachverhalten (Begriffsdefinitionen, Axiome, Modelle, Theorien, Abläufe, Fakten) aus einem begrenzten Gebiet und in einem wiederholenden Zusammenhang sowie • die Beschreibung und Verwendung gelernter und geübter Modelle, Methoden und Werkzeuge in einem begrenzten Gebiet und in einem wiederholenden Zusammenhang. 2. Kontextbezogenes Anwenden von Wissen • Selbstständiges Auswählen, Anordnen, Verarbeiten und Darstellen bekannter Sachverhalte (Wissen) unter vorgegebenen Gesichtspunkten in einem durch Übung bekannten Zusammenhang sowie • selbstständiges Übertragen des Gelernten auf neue Situationen, wobei es entweder um veränderte Fragestellungen oder um veränderte Sachzusammenhänge oder um abgewandelte Modelle, Methoden oder Werkzeuge gehen kann. 3. Reflexion systemischen Agierens • Reflektieren des eigenen Agierens in Bezug auf kontextbezogene systemische Zusammenhänge und deren Bedeutung für das Agieren. • Entwicklung eines systemischen Selbstbewertungsmaßstabs zur Überprüfung des eigenen Agierens im Hinblick auf einen situativen Erfolg im Kontext. 4. Konstruktivistischer Kontexttransfer • Reflektierte, kontextbezogene Erkenntnisse, die zu einem situativ erfolgreichen Agieren führten oder führen werden, werden auf einen individuell gedeuteten anderen Kontext übertragen. Tipp — Im Rahmen einer „nachhaltigen Selbstlernkonzeption“ kann die Taxonomie ebenfalls angewandt werden, um Erkenntnis zu fördern. Beispiele — Was wissen Sie über Führung? Wie und wo wenden Sie dieses Wissen an? Wie könnten Sie das auf Ihr (Coaching-)Thema übertragen? In welchen vergleichbaren oder ähnlichen Kontexten können Sie Ihre Erkenntnisse auch nutzen? 80

Anwendung des Kompetenzmodells und der Taxonomie zur Planung der Ausbildung Orientiert am Kompetenzmodell werden alle fünf Kompetenzbereiche betrachtet, denen zu vermittelnde Fähigkeiten und Fertigkeiten zugeordnet werden. Jeder Kompetenzbereich für sich enthält Beschreibungen im Sinne eines Ausbildungsziels. Innerhalb des Kompetenzmodells werden noch keine konkreten Inhalte vorgegeben. Alle kompetenzrelevanten Inhalte müssen selbstgesteuert in einem situativ individuellen Handeln koordiniert werden. Die Auswahl von Inhalten sowie die an den Taxonomiestufen orientierte Vermittlungsintensität sind von verschiedenen Faktoren abhängig, nämlich ... 1. von der Wirkungserwartung und dem Kontext des Themas; 2. von der Wirkungserwartung und dem Kontext der Ausbildung; 3. von den Ansprüchen der unterschiedlichen Anspruchsgruppen an die Ausbildung; 4. von Ressourcen der Anspruchsgruppen; 5. von der verwandten Didaktik. Wirkungserwartung und Kontext des Themas „Coaching“ Coaching will eine nachhaltige Selbstlernkonzeption erreichen und verfolgt dabei die drei zentralen Anliegen Wahrnehmungserweiterung, Entwicklung von Handlungsalternativen, Entscheidungsfähigkeit. Der Kontext des Themas Coaching wird durch die Werte Freiheit, Freiwilligkeit, Selbststeuerung und Ressourcenverfügung gebildet. Folgerung Sämtliche Inhalte sind daraufhin zu überprüfen, ob sie der Wirkungserwartung und den Anliegen von Coaching förderlich sind. Sämtliche Inhalte müssen sich auf der Handlungsebene (Fähigkeiten) an den Werten von Coaching orientieren. Wirkungserwartung und Kontext der Ausbildung Der Ausbildungsteilnehmer wird im Kontext Coaching, basierend auf kompetenzrelevanten Fähigkeiten, seine Ressourcen so eingesetzt haben, dass ein Coachee selbstgesteuert eine nachhaltige Selbstlernkonzeption erreicht hat. Folgerung Sämtliche Inhalte sind daraufhin zu überprüfen, ob sie dem Zweck der Ausbildung und den, mit dem Ausbildungskontext verbundenen, Ansprüchen genügen. Ansprüche der unterschiedlichen Anspruchsgruppen an die Ausbildung In den Kontext „Ausbildung“ gehen zusätzlich Ansprüche unterschiedlicher Gruppen ein. Folgerung Sämtliche Inhalte sind daraufhin zu überprüfen, ob sie den legitimierten Ansprüchen anderer an Ausbildungskontext genügen. Ressourcen der Anspruchsgruppen Die fachlichen und intellektuellen Ressourcen der Ausbildungsteilnehmer sind das, worauf ein Ausbilder zurückgreift, um Neues erlernbar zu gestalten. Das Anspruchsniveau einer Ausbildung zum Coach kann zur Entscheidung führen, nur bestimmte Teilnehmer zuzulassen oder bestimmte Ressourcen vorauszusetzten. Innerhalb einer zugelassenen Teilnehmergruppe gibt es in der Regel ein sehr heterogenes Lernverhalten. Etwas als leicht oder schwierig zu empfinden, hängt auch mit der intellektuellen Belastbarkeit des Einzelnen zusammen, oftmals ist es aber auch Ausdruck persönlicher, konstruktivistischer Lernvorlieben. 81

Folgerung Sämtliche Inhalte sind daraufhin zu überprüfen, ob sie den Ressourcen und der intellektuellen Belastbarkeit in der Summe gerecht werden. Die verwandte Didaktik Ein Teil der Didaktik, wenn auch selten ausgesprochen, ist das Menschenbild des Lernenden. Eine Coachausbildung ist grundsätzlich einer konstruktivistischen Didaktik verpflichtet, da diese Sichtweise impliziert, dass nur der Lernende sich selbst bewerten kann. Folgerung Sämtliche Inhalte sind daraufhin zu überprüfen, ob sie mit der verwandten Didaktik kompatibel sind. Nachfolgend werden, orientiert an o.a. Kriterien, zentrale Fähigkeiten eines Coach am Kompetenzmodell abgebildet. Fähigkeiten innerhalb der Kompetenzbereiche entsprechen einem konstruktivistischen Kontexttransfer, das heißt der Taxonomiestufe 4. Wird kontrolliert, ob ein Teilnehmer Fähigkeiten der Taxonomiestufe 4 erworben hat, so geschieht das durch Überprüfung des konstruktivistischen Kontexttransfers. Ist er in der Lage, das reflektorisch zu leisten, so ist ein Rückschluss erlaubt, dass Kompetenz als Coach vorliegt. Hinweis — Diese Art der Kontrolle geht über das hinaus, was Kompetenz als Coach bedeutet. Gleichzeitig beinhaltet es einen zeitlichen Mehraufwand. Da der Mensch aus sich heraus handelt, wenn er einen persönlichen Vorteil empfindet, bietet der Transfer auf andere Kontexte dem Teilnehmer die Möglichkeit, weitere Vorteile seiner Kompetenzen als Coach in diesen Kontexten zu entdecken. Die Taxonomiestufe 4 leistet damit einen Beitrag zur Verhaltensstabilisierung und macht dem Einzelnen sowie einem Unternehmen die Ressource „Coach“ in unterschiedlichen Kontexten nutzbar.

5.8 Die Lern- und Zielorganisation einer Ausbildung Unter Einbeziehung des Kontextes einer Ausbildung beschreibt ein Curriculum abstrakt die Lern- und Zielorganisation einer Ausbildung. Zum Thema „Curriculum der Coachausbildung“ werden unter Zuhilfenahme des Curriculummodells alle Zusammenhänge des Kontextes abgebildet und Bedeutungen hinterfragt. Gleichzeitig wird zusätzlich das Kompetenzmodell genutzt, um eine Wahrnehmungserweiterung auszulösen, ob und welche Kompetenzbereiche mit dem Thema der Ausbildung zusammenhängen. Unter Berücksichtigung der so gewonnenen Erkenntnisse wird der Zustand definiert, der mit Abschluss der Ausbildung erreicht sein wird. Das Kompetenzmodell dient hier als abstrakte Struktur zur Unterstützung der Zielformulierung, da ein Ausbildungsziel mit der Formulierung der kontextbezogenen Handlungskompetenz vergleichbar ist.

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Aus dem Ausbildungsziel wird die Strategie abgeleitet. Dazu wird die Perspektive in jedes aus dem Curriculummodell und dem Kompetenzmodell abgeleitete Element gewechselt (systemisch) und beschrieben, an welchem Zustand bzw. Merkmal das Element selber erkennen kann, dass das Ausbildungsziel erreicht ist. Auf diese Weise werden die Strategiemerkmale gewonnen, die in jedem Fall bei der curricularen Umsetzung des Themas Coachausbildung zu beachten sind. Die Strategie eines Curriculums beschreibt, wie Lernen zur Erreichung des kontextbezogenen Ausbildungsziel organisiert wird. Die Ressourcen zur Strategieentwicklung, auf die im Kontext Ausbildung zurückgegriffen wird, werden ebenfalls mithilfe der Strukturen aus dem Curriculummodell und dem Kompetenzmodell identifiziert. Das faktische Wissen zu jedem konkreten Element wird ermittelt und selbst bewertet. Werden Ressourcen als fehlend oder ungenügend identifiziert, geht die Erkenntnis als Merkmal in die Strategie ein. Möglicherweise werden die Ressourcen um weitere abstrakte Strukturen, die bei der Strategieentwicklung hilfreich sein können, ergänzt, z.B. durch das Rubikon-Modell, die MotivStrukturAnalyse, den Coachingprozess oder Modelle aus dem Marketing.

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Sind die Ressourcen im Kontext Ausbildung identifiziert, kann die Strategie formuliert werden. Jedem Strategiemerkmal werden Ressourcen zugeordnet und daraus Handlungen abgeleitet. Durch zeitliche Koordination und Festlegung, wann der Zustand eines Strategiemerkmals erreicht ist, entsteht der Handlungsplan. Der Handlungsplan wird auf potenzielle Probleme hin analysiert und ggf. aktualisiert. Eine Feedbacksystematik zum Controlling des Handlungsplans unterstützt die Umsetzung. Das Curriculum und die Strategie einer Ausbildung können orientiert am Coachingprozess entwickelt werden. Es ist durchaus denkbar, dass ein Coachee ein vergleichbares Thema hat. Die konkrete Lern- und Zielorganisation einer Ausbildung Da alle an einer Ausbildung beteiligten Elemente eine Vielzahl von Abhängigkeiten unterhalten, kann auf eine konkrete Planung eines reibungslosen Ausbildungsablaufs und der unterstützenden Prozesse nicht verzichtet werden. Der konkrete Ausbildungsablauf beinhaltet die zeitlich koordinierten (Lern-)Maßnahmen, die aus der Strategie abgeleitet wurden. Die konkrete Formulierung der Ziele und der Organisation dieser Maßnahmen findet im Ausbilderleitfaden statt. Auch hier ist der Coachingprozess zur Entwicklung hilfreich. Ein Ausbilderleitfaden ist vergleichbar mit einem konkreten Handlungsplan für die Durchführung einer zeitlich begrenzten Lerneinheit. Entwicklung eines Ausbilderleitfadens Ist der Ausbilderleitfaden das Thema, für das der Coachingprozess genutzt wird, müssen im nächsten Schritt alle Zusammenhänge im Kontext des Themas (systemisch) erfasst werden. Auch hier bieten sich das Curriculummodell und das Kompetenzmodell zur Wahrnehmungserweiterung an. Beide Modelle stellen Strukturen in Bezug auf einen Kontext da und sind daher auch in der Kombination abbildbar. Auswahl möglicher Zusammenhänge im thematischen Kontext Ausbilderleitfaden: • Lernmethoden, • Kompetenz und Kompetenzbereiche, • konstruktivistische Taxonomien, • Axiomatik der systemisch-konstruktivistischen Didaktik und Methodik, • alle in der Ausbildung vorkommenden Modelle, • alle in der Ausbildung zu bearbeitenden Inhalte, • Feedbacksystematik und • andere Ausbilder. Aus der Auseinandersetzung mit dem Kontext kann folgendes Ziel abgeleitet werden: „Ich (der Ausbildungsverantwortliche) werde zum 1.12.2010 den systemisch-konstruktivistischen Ausbilderleitfaden unserer Management-Coach-Ausbildung geschrieben haben.“ Im nächsten Schritt werden die Zielerreichungsmerkmale formuliert. Der Perspektivwechsel wird gedanklich unterstützt durch die Frage: „Woran merkt das konkrete Element, dass ich mein Ziel erreicht habe?“ 84

Beispiel Lernmethoden — Die Lernmethoden orientieren sich an der systemisch-konstruktivistischen Axiomatik des Lernens und den Grundsätzen zur Entwicklung von Lernmethoden. Kompetenz — Das Kompetenzmodell bildet den Rahmen des Ausbilderleitfadens. Kompetenzbereiche — Jeder Kompetenzbereich ist abgebildet und kann bewertet werden. Konstruktivistische Taxonomien — Jede Methode und die Kompetenzbereiche orientieren sich daran. Axiomatik — Die Axiomatik bildet den Kontext des Ausbilderleitfadens. Alle beabsichtigten Modelle (einzeln auflisten) — Der Coachingprozess ist als Modell Bezugskontext. Modelle, die der Coachingprozess als Strukturangebot nutzt, sind zeitlich vorgezogen. (Die Auswahl geeigneter Modelle und Inhalte ist eine didaktische Fragestellung und orientiert sich an der Axiomatik von Coaching und an der systemisch-konstruktivistischen Axiomatik des Lernens. Bsp.: St. Galler Management-Modell, TZI und 10-Felder-Modell in der visuellen Aufstellung und das Kompetenzmodell in der Phase Ressourcenidentifikation.) Alle beabsichtigten Inhalte — Inhalte wurden in Bezug auf faktisch richtiges Wissen ausgewählt. Inhalte, die den Coachingprozess als Bezugskontext betreffen, sind zeitlich vorzuziehen. Feedbacksystematik — Eine Feedbacksystematik zur Selbstbewertung steht in Bezug auf die persönliche Kompetenzentwicklung zur Verfügung und ist in jeder Methode enthalten. Andere Ausbilder — Ausbilder, die sich an der zugrunde liegenden systemisch-konstruktivistischen Didaktik und Methodik orientieren, werden den Ausbilderleitfaden nachvollziehen können. Auf diese Weise entstehen die Merkmale des Ausbilderleitfadens. Diesen Merkmalen werden später aus den Ressourcen abgeleitete Handlungen zugeordnet. Zunächst müssen vorhandene Ressourcen identifiziert, bewertet und ggf. um strukturelle Ressourcen ergänzt werden. Der Kontext des Themas „Ausbilderleitfaden“ wurde bereits mithilfe des Curriculum-Modells und des Kompetenzmodells erfasst. In einem ersten Schritt muss daher das faktisch vorhandene Wissen in Bezug auf den Kontext identifiziert werden. In unserem (reduzierten) Beispiel Lernmethoden Konstruktivistische Taxonomien Alle beabsichtigten Inhalte

Kompetenz Axiomatik Feedbacksystematik

Kompetenzbereiche Alle beabsichtigten Modelle Andere Ausbilder

Wie im Coachingprozess kann anschließend die Struktur des Kompetenzmodells genutzt werden, um spezifisches Wissen, Werte, Motive, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu identifizieren. Aus der Selbstbewertung aller Ressourcen erfolgt die Ableitung, welche konkreten Ressourcen aktualisiert werden müssen. Als strukturelle Ressource empfiehlt sich die „Designstruktur von Ausbilderleitfäden“. Diese Ressource beschreibt verschiedene Orientierungsmöglichkeiten einer Designstruktur, die in der grundsätzlichen Ausbilderleitfadenstruktur abgebildet werden müssen.

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Designstruktur von Ausbilderleitfäden in der Coachausbildung Die

HAMBURGER SCHULE

Orientierung: Kompetenzmodell

Orientierung: Veränderung des Lerners

Lerner zentriert

Transferkompetenzdes Coach

systemischkonstruktivistische Lehr-/Lernmethoden

Kompetenz als Coach themenorientierte Kompetenzgrade

klassische Lehr-/Lernprozesse Ausbilder zentriert

konkrete/ fallbezogene Kompetenz grundsätzliche Prozessfähigkeit

Thema

faktisch richtiges Wissen

kontext-  konstruktisyste- vistischer bezogenes Anwenden mischen Kontextvon Wissen Agierens transfer

Orientierung: Taxonomien

©2010, Dr. Rolf Meier, Axel Janßen

Der Handlungsplan zur Bearbeitung des Themas wird aus der Überlegung erstellt: „Wie kann ich meine identifizierten Ressourcen kombinieren und koordinieren, um ein konkretes Merkmal meines Ziels zu erreichen (Erreichungsmerkmal)?“ Aus dieser Überlegung heraus werden folgende Handlungen den Erreichungsmerkmalen zugeordnet: Beispiel Lernmethoden — Im Ausbilderleitfaden werden Transferkontexte abgebildet. Kompetenz — Das Kompetenzmodell wird im Leitfaden als Bezug beschrieben. Kompetenzbereiche — Es wird ein sprachliches Konstrukt „Kompetenzgrad“ geschaffen, das abstrakt beschreibt, wie weit ein bestimmter Kompetenzbereich in Bezug auf die „Transferkompetenz des Coach“ (Taxonomiestufe 4/Handlungskompetenz) mit Ende einer zeitlich geschlossenen Lerneinheit entwickelt sein soll. Konstruktivistische Taxonomien — Konstruktivistische Taxonomien werden im Ausbilderleitfaden abgebildet. Axiomatik — Vor Aufnahme von Inhalten und Methoden in den Ausbilderleitfaden werden sie auf Kompatibilität mit der Axiomatik durch den Autor geprüft. Alle beabsichtigten Modelle — Der Coachingprozess im Kontext seiner Werte und Anliegen wird als Bezugs- und Transferkontext etabliert. Alle Modelle werden in Bezug zum Coachingprozess analog zur Reihenfolge des Vorkommens gesetzt. 86

Alle beabsichtigten Inhalte — Alle Inhalte werden Bezugs- und Transferkontexte aufweisen. Feedbacksystematik — Die verwandte Systematik wird benannt. Andere Ausbilder — Andere Ausbilder werden sämtliche Informationen im Leitfaden finden, die es ihnen ermöglichen, die beschriebene Lerneinheit mit demselben qualitativen Ergebnis zu erreichen. Konkret sind das zusätzlich: Dauer, Sitzordnung, benötigtes Material ... Die so gefundenen Handlungen können als Plan zeitlich koordiniert werden. Im Ergebnis zeigen sie sich im fertigen Ausbilderleitfaden, der selbst aktualisiert und bewertet werden kann. Vertiefende Inhalte für Ihre Ausbildung finden auch in den Abstracts: Andragogik Curriculum Handlungslernen Konstruktivismus Kommunikation Kreativität Lehren und Lernen Lernen Pädagogik Semantik Strategie Ziele

5.9 Beispiel eines Ausbilderleitfadens Das Curriculum einer Ausbildung beschreibt ja nicht nur „was” inhaltlich ausgebildet werden soll, sondern kümmert sich auch darum „wie” konkret ausgebildet wird. Lerninhalte, methodisches Vorgehen im Lehr-/Lerngespräch, Zeitbedarf, Benennung der Taxonomiestufen, Hinweise auf Lernmedien und nicht zuletzt Anweisungen für die Raumgestaltung des Lernortes sind die wesentlichen Strukturmerkmale eines Ausbilderleitfadens. In dem nachfolgenden Ausbilderleitfaden sind für ein erstes Ausbildungsmodul einer Ausbildung zum Management-Coach alle zu beachtenden Merkmale beschrieben. Alle weiteren Module sind exemplarisch in der gleichen Systematik als Ausbilderleitfaden zu beschreiben.

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Teilnehmer erkennen darüber hinaus, dass sie Sachverhalte assoziiert und dissoziiert deuten und „konstruieren” und können auf Nachfrage darüber reflektieren.

a) ihre persönliche Entwicklung und b) für ihre Entwicklung als Coach.

Teilnehmer erkennen die Bedeutung der persönlichen Kompetenz für ...

Persönliche Kompetenz

Sozial-kommunikative Kompetenz bedeutet, sich in einer Situation selbstgesteuert mit Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen, Werten der eigenen Person und anderer Personen auseinanderzusetzen, Unterschiede zu erkennen, um dadurch einen sozialen Kontext zu vereinbaren, der die Interessen aller Beteiligten berücksichtigt.

Sozio-kommunikative Kompetenz Feldkompetenz bedeutet, über reflektierte branchen-, themenspezifische und kulturelle Erfahrung in einem Kontext zu verfügen.

Feldkompetenz

Teilnehmer klären Bedeutungen und Bedeutungszusammenhänge und können darüber Reflexionen auslösen. Die Teilnehmer wenden am Modell der TZI die Fähigkeit „Fragen” an und leiten geeignete Fragen daraus ab. Teilnehmer haben die Bedeutung der Hypothesenbildung im Coaching verstanden und können sie in den Coachingprozess einordnen.

Sie haben die Wirkungserwartung einzelner Phasen des Prozesses verstanden und können den Prozess im Coaching mit Unterstützung durch die Ausbilder anwenden.

Teilnehmer haben Coaching als systemisch-konstruktivistischen, wertegeleiteten Kontext verstanden, in dem der Prozess die zentrale Vorgehensweise zum Auslösen einer nachhaltigen Selbstlernkonzeption ist.

Fachlich-methodische Kompetenz Teilnehmer erkennen erste Zusammenhänge zu anderen Kompetenzbereichen. Insbesondere können sie die Bedeutung der Themen Wahrnehmung und Kommunikation für das Coaching einschätzen und in ersten einfachen Übungen einen Kommunikationskontext etablieren.

Sozio-kommunikative Kompetenz

Beispiel: Teilnehmer haben „state of the art”-Wissen zum Thema Führung und Management erworben (Feldkompetenz der Ausbildung), können es faktisch richtig wiedergeben, in ihren Berufsalltag einordnen, über die Bedeutung dieses Wissens im Coaching reflektieren und daraus geeignete Interventionen ableiten.

Feldkompetenz

Die Kompetenzgrade des Moduls — konkrete Beschreibung

Fachlich-methodische Kompetenz bedeutet, über fachliche Kenntnisse und Fertigkeiten eines Kontextes zu verfügen und Arbeitsabläufe ergebnisorientiert in diesem Kontext organisieren zu können.

Persönliche Kompetenz bedeutet, in einem Kontext eigene Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen identifiziert zu haben und sich selbst in seinem Verhalten einschätzen zu können.

B.

Fachlich-methodische Kompetenz

Das Kompetenzmodell der Ausbildung — abstrakte Beschreibung

Persönliche Kompetenz

A.

Teilnehmer greifen koordiniert und selbstgesteuert auf erworbene und reflektierte Ressourcen aus den Kompetenzbereichen in Diskussionen und Coachingübungen zurück.

Handlungskompetenz

Handlungskompetenz bedeutet, den Sinn eines Kontextes sowie Unterschiede zu anderen Kontexten zu erkennen und die Koordination aller persönlichen Ressourcen selbstgesteuert in einem situativ-individuellen Handeln zu realisieren.

Handlungskompetenz

Ausbildungsvorhaben als Management-Coach — Ausbildungsleitfaden Modul 1 (von 7) Thema des Moduls: „Coaching — das Fundament”

89

gemäß Unterrichtsmaterialien:

Feedback Zentrale These: Feedback benötigt immer einen Maßstab, der allen Beteiligten verfügbar ist.

Flipchart

Persönliche Kompetenz: 3 FachlichmethodiVisualisie- sche rung am KompeBoden tenz: 3 Soziokommunikative Kompetenz: 3

Persönliche Kompetenz: 2 Fachlichmethodische Kompetenz: 2 Soziokommunikative Kompetenz: 2

Gemäß Unterrichtsmaterialien:

Vorstellungsrunde Visuelle Aufstellung Konstruktivismus Semantik Coachingprozess Fachbegriffe Fragen Assoziation Dissoziation Irritation Konfrontation Werte im Coaching Anliegen von Coaching Kompetenzmodell Modelle im Coaching Abstraktionsebene Hypothesenbildung TZI St. Galler-ManagementModell Reflexionsangebot Abstraktionsebene Vernetzt denken

Medium/ TaxonomieThema stufe

Zusammenfassung auf 1 Seite

Inhalt/Thema

Administratives der Ausbildung

C.

Beschriebene Seite

Feedback-Maßstab

Lerngespräch Kurzbezeichnung: dissoziiertes Feedback Ablaufbeschreibung: Nach Aufnahme bisheriger Erfahrung mit Feedback, wird Bekanntes unter dem Gesichtspunkt Coaching durch die Teilnehmer bewertet und ggf. durch Ausbilder ergänzt. Die so erarbeiteten Feedbackregeln stehen für Ausbildung und Handeln als Coach zur Verfügung und werden in jeder Übung und im Coaching genutzt. Basisbausteine der Ausbildung für weitere Aktivitäten

1. Feedback ist zeitnah 2. Feedback enthält einen allen Beteiligten verfügbaren Maßstab 3. Feedback spricht nur für sich. Feedbackgeber bewertet nicht aus seiner Person heraus. 4. Gegebenes Feedback im Coaching korrespondiert mit den Werten und Anliegen von Coaching

Lerngespräch 1. Rückmeldung durch mit individueller Aktivität Ausbilder und TeilnehKurzbezeichnung: mer, ob Fragen assozisystemische Vorsteliert oder dissoziiert gelungsrunde stellt wurden. Ablaufbeschreibung: 2. Rückmeldungen durch jeder Teilnehmer stellt sich Ausbilder und Teilnehmit Hilfe von unterschiedmer, ob Handlungen der lich großen und farblich unTeilnehmer mit den Werterschiedlichen runden Moten und Anliegen von derationskarten vor. Er viCoaching korrespondiesualisiert sein System. Die ren. Einzelvorstellungen wer3. Rückmeldung durch den durch die Ausbilder in Ausbilder und Teilnehihrer Komplexität gesteimer, ob die Abfolge der gert. visuellen Aufstellung — Lernmethode: eigene Ist-Wahrnehvom Einfachen zum mung, WahrnehmungsSchwierigen — vom Konerweiterung durch Unterkreten zum Abstrakten — stützung und Kontextbilvom Bekannten zum Unbedung — durchgeführt ist. kannten

Lernmethode

Transfer ... Seminar- 1 Std. • zu den Werten und Anraum liegen von Coaching Stuhlkreis • zum Coachingprozess • zum Kompetenzmodell • zur persönlichen Kompetenz • zum Konstruktivismus • zu den Werten und Anliegen von Coaching • in den Berufsalltag der Teilnehmer bzw. zu beruflichen Themen

7 Std. abhängig von Teilnehmerzahl

Seminar- 30 Min. raum Stuhlkreis

geLernumgebung schätzte Dauer

Transfer ... Seminar• zur visuellen Aufstellung raum innerhalb des Coaching- Stuhlkreis prozesses • zur persönlichen Kompetenz • zur fachlich-methodischen Kompetenz • zur Handlungskompetenz • zum Konstruktivismus • zum Kompetenzmodell • zur Absicht von Fragen • zu den Werten und Anliegen von Coaching • zum Coachingprozess • zum Kompetenzmodell • in den Berufsalltag der Teilnehmer bzw. zu beruflichen Themen

Gesamte Ausbildung

Thematischer Transferkontext

Die Prozessmerkmale — zur Erreichung der Kompetenzgrade

Persönliche Kompetenz Fachlich-methodische Kompetenz Sozio-kommunikative Kompetenz Handlungskompetenz

Persönliche Kompetenz Fachlich-methodische Kompetenz Sozio-kommunikative Kompetenz Handlungskompetenz

Kompetenzgradbezug

90

Visuelle Wahrnehmung Auditive Wahrnehmung Haptische Wahrnehmung Nonverbale Kommunikation

Wirkungserwartungen der Phasen im Coachingprozess

Coachingprozess

Kritische Erfolgsfaktoren (Modell der Hamburger Schule)

Flipchart

Gemäß Unterrichtsmaterialien:

Flipchart

Gemäß Unterrichtsmaterialien:

Tische

Gemäß Unterrichtsmaterialien:

Persönliche Kompetenz: 3 Fachlichmethodische Kompetenz: 3 Soziokommunikative Kompetenz: 3

Fachlichmethodische Kompetenz: 3

Fachlichmethodische Kompetenz: 3

1. Rückmeldung durch Ausbilder und Teilnehmer, ob die vorgetragenen Erkenntnisse der Teilnehmer mit den Werten und Anliegen von Coaching korrespondieren 2. Rückmeldung durch Ausbilder Feedback-Maßstab: fachlich richtig

Übung mit anschließendem Rückmeldung der Teilnehmer sind dissoziiert Lerngespräch Kurzbezeichnung: Wahrnehmung Ablaufbeschreibung: Teilnehmer werden gebeten, körpersprachliche Signale ihres Gegenübers im Rahmen einer definierten Übung wahrzunehmen und Beobachtungen zu notieren. Die Notizen werden gemeinsam besprochen

Gruppenarbeit mit anschließendem Lerngespräch Kurzbezeichnung: Wirkungserwartungen der Phasen Ablaufbeschreibung: Teilnehmer konstruieren aus sich heraus anhand von Leitfragen, basierend auf dem bisher Gelernten die Wirkungsabsicht jeder einzelnen Phase und tragen ihre Arbeitsergebnisse vor. Im Lehr-Lerngespräch wird ggf. fachlich korrigiert.

Lerngespräch mit Übung 1. Rückmeldung durch Kurzbezeichnung: Ausbilder und Teilnehkritische Erfolgsfaktoren mer, ob Strukturen assoAblaufbeschreibung: ziiert oder dissoziiert Teilnehmer erhalten ein erstellt wurden. Kartenset der kritischen Er- 2. Rückmeldungen durch folgsfaktoren und entwiAusbilder und Teilnehckeln selbstständig durch mer, ob beabsichtigte die Auseinandersetzung Handlungen der Teilnehmit dem Modell eine Strukmer mit den Werten und tur der Faktoren. AnschlieAnliegen von Coaching ßend werden die Erkenntkorrespondieren nisse durch jeden Teilnehmer auf die Kontakt-/Kontrakt-Phase des Coachingprozesses und auf die mentale Vorbereitung eines Coaching abgebildet und an einer konkreten Coachingabfrage übertragen. Im Lehr-Lerngespräch erfolgt ein Transfer der Erkenntnis auf mögliche zukünftige Situationen.

Transfer ... • auf den Coachingprozess • auf die Hypothesenbildung • zum Kompetenzmodell • zum Konstruktivismus • zu den Werten und Anliegen von Coaching • zu Feedback • in den Berufsalltag der Teilnehmer bzw. zu beruflichen Themen

Transfer ... • auf die Vorbereitung eines Coaching • auf das Modell kritische Erfolgsfaktoren • zum Konstruktivismus • zum Kompetenzmodell • zur Absicht von Fragen • zu den Werten und Anliegen von Coaching • auf die Hypothesenbildung

3 Std.

Seminar- 1 Std. raum Stuhlkreis und Paararbeit

Seminarraum Gruppenarbeitsräume Gruppenarbeitsplatz mit Flipchart, Pinnwand, Moderationskoffer

Transfer ... Seminar- 2 Std. • auf die Kontakt-/Konraum trakt-Phase im CoaStuhlkreis chingprozess • auf die Vorbereitung eines Coaching • auf den laufenden Coachingprozess • auf das Controlling eines durchgeführten Coaching • zum Konstruktivismus • auf die Hypothesenbildung • auf die vier Werte und die drei Anliegen im Coaching

Fachlich-methodische Kompetenz Sozio-kommunikative Kompetenz Persönliche Kompetenz

Fachlich-methodische Kompetenz

Fachlich-methodische Kompetenz Handlungskompetenz

91

Offene Frage Geschlossene Frage Suggestivfrage Skalierende Frage Hypothetische Frage Zirkuläre Frage Fragekombinationen Frageabsicht Sprache Semantik Frageintention und -ziel Kontext Konstruktivismus Coachingprozess Hypothesenbildung Wahrnehmung Bedeutungen und Zusammenhänge Angebote auf Abstraktionsebene

Sprache Semantik Linguistik Konstruktivismus Vernetztes systemisches Denken Kontext Angebote auf Abstraktionsebene

Flipchart

Gemäß Unterrichtsmaterialien:

Flipchart

Gemäß Unterrichsmaterialien:

Fachlichmethodische Kompetenz: 3

Fachlichmethodische Kompetenz: 3

Lerngespräch mit integrier- 1. Rückmeldung durch ter Übung Ausbilder und TeilnehKurzbezeichnung: mer, ob Frageart und Fragearten und AbsichFrageabsicht fachlich ten richtig umgesetzt wurden Ablaufbeschreibung: 2. Rückmeldung durch Im Lehr-Lerngespräch werAusbilder und Teilnehden die Fragearten und demer, ob gestellte Fragen ren Absichten gemeinsam der Teilnehmer mit den erarbeitet und transferiert. Werten und Anliegen Anschließend wenden die von Coaching korreTeilnehmer ihre neuen spondieren Kenntnisse in einer Übung an. Die Übung nutzt pro Teilnehmer einen spezifischen Begriff aus dem Bereich Feldkompetenz, zu dem er nach Aufforderung durch einen anderen Teilnehmer eine bestimmte Frageart formulieren soll. Der auffordernde Teilnehmer bewertet die Antwort. Bei positivem Ergebnis fährt der Antwortende fort und fordert einen anderen Teilnehmer auf. Im Lerngespräch werden die Er-

Gruppenarbeit mit Lernge- 1. Das Nachfragen von Bespräch und abschließender deutungen und BedeuÜbung tungszusammenhängen Kurzbezeichnung: wurde fachlich richtig Bedeutungen und Bedeuumgesetzt tungszusammenhänge 2. Das richtige Nachfragen Ablaufbeschreibung: erfolgt in unterschiedliTeilnehmer bearbeiten in chen FormulierungsvariGruppen die Frage „Was anten beeinflusst unsere Sprache?” Aus den Erkenntnissen wird gemeinsam die Notwendigkeit, im Coaching Bedeutungen und Bedeutungszusammenhänge zu klären, abgeleitet. Die Erkenntnisse werden genutzt, um in Gruppen das Nachfragen anhand von Beispielen zu üben.

und faktisch richtig strukturiert visualisiert. Im Lerngespräch erfolgt ein Transfer der Erkenntnisse auf die Themen der Ausbildung.

Transfer ... • zu den Werten und Anliegen von Coaching • auf den Coachingprozess • auf die Hypothesenbildung • zum Kompetenzmodell • zum Konstruktivismus • in den Berufsalltag der Teilnehmer bzw. zu beruflichen Themen

Transfer ... • zur persönlichen Kompetenz • auf den Coachingprozess • auf die Hypothesenbildung • zum Kompetenzmodell • zum Konstruktivismus • zur Absicht von Fragen • zu den Werten und Anliegen von Coaching • in den Berufsalltag der Teilnehmer bzw. zu beruflichen Themen

2 Std.

Seminar- 2 Std. raum Stuhlkreis

Seminarraum Gruppenarbeitsräume Gruppenarbeitsplatz mit Flipchart, Pinnwand, Moderationskoffer

Fachlich-methodische Kompetenz Sozio-kommunikative Kompetenz Persönliche Kompetenz Handlungskompetenz

Fachlich-methodische Kompetenz Sozio-kommunikative Kompetenz Persönliche Kompetenz Handlungskompetenz

92

Führungsansichten Führungsaufgaben Organisation Führungseinsichten Führungsaufgaben Management Recht Motivation

Kompetenzmodell Coachingprozess Kontexte Selbstbewertung Analyse- und Lösungsmuster Strukturelle Ressourcen

Sprache Semantik Fragen Kontext Konstruktivismus Deutung Coachingprozess Hypothesenbildung Wahrnehmung Bedeutungen und Zusammenhänge Kompetenzmodell Angebote auf Abstraktionsebene

Flipcharts

Gemäß Unterrichtsmaterialien:

Flipchart

Gemäß Unterrichtsmaterialien:

Flipchart

Gemäß Unterrichtsmaterialien:

Feldkompetenz: 3

Fachlichmethodische Kompetenz: 3

Fachlichmethodische Kompetenz: 3

Rückmeldungen durch Ausbilder und Teilnehmer, ob Umdeutungsangebote der Teilnehmer mit den Werten und Anliegen von Coaching korrespondieren

Lerngespräch mit Akzent auf Transfer in den Berufsalltag Kurzbeschreibung: Führung Ablaufbeschreibung: Innerhalb des Komplexes Führung wird jedes Thema mit einem Lehrvortrag eingeführt. Nach einem

Transfer ... • zum Kompetenzmodell • auf die Hypothesenbildung • auf die Wirkungserwartung der Phase im Coachingprozess • in den Berufsalltag der Teilnehmer bzw. zu beruflichen Themen

Seminar- 8 Std. raum Stuhlkreis

Seminar- 2 Std. raum Stuhlkreis Gruppenarbeitsräume Gruppenarbeitsplatz mit Flipchart, Pinnwand, Moderationskoffer

Transfer ... Seminar- 1 Std. • zu den Werten und Anraum liegen von Coaching Stuhlkreis • auf den Coachingprozess • auf die Hypothesenbildung • zum Kompetenzmodell • zum Konstruktivismus • zur persönlichen Kompetenz • in den Berufsalltag der Teilnehmer bzw. zu beruflichen Themen

Rückmeldung durch Ausbil- Transfer ... der, ob spezifische The• zum Kompetenzmodell men fachlich richtig ver• auf die Hypothesenbilstanden wurden dung • auf den Coachingprozess • zu den Werten und Anliegen im Coaching

Gruppenarbeit mit anBerücksichtigung der Wirschließendem Lehr-Lernkungserwartung der Phase gespräch Ressourcenidentifikation Kurzbeschreibung: Ressourcenidentifikation Ablaufbeschreibung: Teilnehmer erarbeiten in Gruppen, auf was sie bei einer Entscheidung zurückgreifen können. Im LehrLerngespräch werden die Ergebnisse orientiert an der Phase Ressourcenidentifikation des Prozesses und orientiert am Kompetenzmodell durch die Teilnehmer strukturiert.

Gruppenarbeit mit Lerngespräch und abschließender Übung Kurzbezeichnung: Umdeuten (Reframing) Ablaufbeschreibung: Im Lehr-Lerngespräch wird die Bedeutung des Kontextes und des Konstruktivismus für die individuelle Deutung und Bewertung akzentuiert. In der anschließenden Partnerübung gibt ein Teilnehmer seine Deutung und Bewertung zu einem Thema aus dem Bereich Feldkompetenz der Ausbildung. Der andere Teilnehmer nutzt Fragen, um eine Umdeutung auszulösen.

spräch werden die Erkenntnisse auf ... transferiert.

Fachlich-methodische Kompetenz Sozio-kommunikative Kompetenz Persönliche Kompetenz Handlungskompetenz

Fachlich-methodische Kompetenz Sozio-kommunikative Kompetenz Persönliche Kompetenz Handlungskompetenz

Fachlich-methodische Kompetenz Sozio-kommunikative Kompetenz Persönliche Kompetenz Handlungskompetenz

93

Alle vorhergehenden Inhalte

Flipcharts Pinnwände

Gemäß Unterrichtsmaterialien:

Persönliche Kompetenz: 4 Fachlich-methodische Kompetenz: 4 Soziokommunikative Kompetenz: 4 Feldkompetenz: 4 Handlungskompetenz: 4

Praxis Jeder Teilnehmer coacht und wird durch einen Teilnehmer gecoacht. Jeder Coach erhält durch Ausbilder und Teilnehmer Feedback. Hinweis: Praxis ist abhängig von Raum- und Teilnehmeranzahl und verfügbaren Ausbildern. Empfohlen wird, dass ein Ausbilder maximal vier Teilnehmer in der Praxis betreut, sodass die Zeit bestmöglich im Sinne von Lernen genutzt wird

Transfer in den Berufsalltag erfolgt ein Transfer in die Themen von Coaching

1. Rückmeldungen durch Ausbilder und Teilnehmer, ob das Coaching mit den Werten und Anliegen von Coaching korrespondiert. 2. Rückmeldung durch Ausbilder und Teilnehmer zum Aufbau des Kommunikationstextes 3. Rückmeldungen durch Ausbilder und Teilnehmer zur Einhaltung der Prozessstruktur und der Prozessverantwortung. 4. Rückmeldung durch Ausbilder und Teilnehmer, ob das Coaching systemisch war. 5. Rückmeldungen durch Ausbilder zur Hypothesenbildung. 6. Rückmeldung, ob Reflexionsangebote auf Abstraktionsebene waren.

Transfer ... • durch jeden Teilnehmer, orientiert am Kompetenzmodell, in Bezug auf seine persönliche Entwicklung als Coach

• auf die Phase Ressourcenidentifikation im Coachingprozess • zur Absicht von Fragen • in den Berufsalltag der Teilnehmer bzw. zu beruflichen Themen drei Gruppenarbeitsräume, Coachingarbeitsplatz mit großem Tisch, Flipchart, Pinnwand, Moderationskoffer

8 Std.

Fachlich-methodische Kompetenz Sozio-kommunikative Kompetenz Persönliche Kompetenz Feldkompetenz Handlungskompetenz

94

Modulnachbereitung — Aufgaben

Individuelle Aufgaben

Transfer-/Hausaufgaben

1. Reflexion — Bitte setzen Sie sich gedanklich mit dem Thema Motive und Werte in Bezug auf Veränderung auseinander. 2. Bitte bereiten Sie sich darauf vor, dass Ihr neues faktisches Wissen und Coaching anhand von Praxisbeispielen abgerufen wird. Wenn Sie fachlich unsicher sind, rufen Sie bitte Ihren Mentor an. 3. Bitte bearbeiten Sie den Test Johari (online und im Arbeitsordner unter Tests). Anmerkung: Wir werden nicht Ihre Ergebnisse verwenden. Sie werden Ihnen im Modul 2 jedoch dabei helfen, Johari schneller zu verstehen. Bei Verständnisfragen bitte Ihren Mentor anrufen. 4. Bitte den Text für Modul 2 (Textordner) lesen. Anmerkung: Es geht hier um Überblickswissen zum Thema Veränderung.

Modulvorbereitung — Aufgaben

Stufe 1 — faktisch richtiges Wissen Stufe 2 — kontextbezogenes Anwenden von Wissen Stufe 3 — Reflexion systemischen Agierens Stufe 4 — konstruktivistischer Kontexttransfer

Lehrgespräch — Interaktion von Lehrenden und Lernenden orientiert an einer Taxonomiestufe mit dem Ziel, Reflexion beim Lernenden in Bezug auf das Lernthema auszulösen.

Für jede Stufe sind die vorhergehenden Stufen zu durchlaufen.

Taxonomiestufen —

Legende

Im nachfolgenden dreitägigen Modul „Veränderungen erfolgreich begleiten” liegt der Schwerpunkt im Verstehen und Anwenden des Zusammenhanges von Motiv, Verhalten, Wert und Kontext im Kontext Coaching und im Rahmen der Entwicklung der persönlichen Kompetenz.

Schwerpunkt der Anschlussthematik (Ausblick für Teilnehmer)

1. Bitte erarbeiten Sie sich auf der Basis des Modells der kriti- In Übereinstimmung mit individuellem Lernverhalten der Teilschen Erfolgsfaktoren für den Systemischen Managementnehmer durch den Mentor. Coach (57 Kärtchen) abrufbereite Formulierungen, aus denen ... • ein Kunde erkennen kann, was ein Coach und ein Coaching ist; • Sie sich bei Coachinganfragen schnell mental auf die thematischen Verästelungen und Zusammenhänge vorbereiten können. Ihre Lehrcoachs werden bei Anrufen auf das Thema konkret eingehen. 2. Reflexion — Welche Bedeutung hat der Prozess für das Coaching? 3. Reflexion — Wie entsteht ein Flexionsangebot? 4. Reflexion — Warum sollte der Coach zwischen einer abstrakten und einer Handlungsebene im Coaching unterscheiden? 5. Reflexion — Was löst Ihr neues Fragerepertoire aus? 6. Was antworten Sie auf die Frage: Was ist systemisches (Management-)Coaching? Wie schnell und wie sicher können Sie die Frage beantworten? 7. Überprüfen Sie sich bitte im Business-Alltag, wann Sie assoziiert und wann Sie dissoziiert sind.

D.

5.10 Dramaturgie Der Beginn eines neuen Lernabschnitts oder der Beginn eines neuen Moduls in der Coachausbildung ist für die Lehrenden und die Lernenden ein entscheidender Einschnitt. Beginn eines Abschnitts. Unbekanntes Terrain öffnet seine Türen und Tore. Gilt es nun, bisher Gelerntes, wohl sortiert im Gedächtnis, abrufbar bereitzuhalten und offen zu sein, für die neuen Dinge der Erkenntnis, die zu Kompetenzen ausgebaut werden müssen. Schmackhaft soll der neue Lernstoff dargeboten werden. Das Auge isst mit. Der Klang der Stimmen der Ausbilder soll gleich dem verführerischen Gesang der Sirenen aus der Antike den Lernenden in den Bann ziehen. Gute Erinnerungen aus der Lebenswelt der Lernenden gilt es zu aktivieren und mit dem neuen Angebot zu verbinden, damit die Lernangebote sich angenehm anfühlen — sozusagen vertraut sind, auch wenn man sich nicht genau kennt. Wie mutet das Neue an? Riecht es sozusagen nach Verstehen können und praktischem Erfolg? Dies und vieles mehr sollte ein Ausbilder beherrschen, um das Verstehen des Neuen zu ermöglichen und zu erleichtern. Dramaturgisches Können ist gefragt. Der Ausbilder als Dramaturg seines Tuns. Ein Dramaturg (Schauspielmacher) beschäftigte sich ursprünglich mit der Auswahl und Bearbeitung dramatischer Texte. Dies waren Theaterstücke, Libretti, Drehbücher und Hörspiele. Heute ist er eher Entwickler und Bearbeiter von Spielplänen, Literatursachverständiger gegenüber Regisseuren, Intendanten, Presse und Publikum. Ein guter Lehrer, Dozent oder Ausbilder ist nicht nur Pädagoge, der das Lernen nach Kompetenzzielen, richtigem Lernverlauf, strukturiert nach Lern- und Lehrmethoden und angemessenen Lernkontrollen organisiert. Nein — auch die emotionale Verpackung, die Kultur der Lernbühne, der Geruch nach Lernwerkstatt und die Festlichkeit des Augenblicks, wenn strenge Prüfer Zertifizierungswürdiges gefunden haben. Der Pädagoge, der Ausbilder ist auch Dramaturg. Im Marketing sprechen wir von Inszenierung, wenn nach Marketing-(dramaturgischen) Punkten eine neue Marke in ihrem Wesen dem Publikum bekannt gemacht wird. Im Fernsehen, im Hörfunk, in der Presse, an der Plakat- oder Litfasssäulenwand. Kommunikationskanäle werden beansprucht, um in einem ansprechenden Design von Hören, Sehen, Riechen, Schmecken und Fühlen Aufmerksamkeit (Werbung) zu erzeugen. Im Marketingdenken geht es um den Kaufimpuls des Verbrauchers. Kaufreue gilt es zu vermeiden. Also gelten die Regeln des „ehrbaren Kaufmanns”. EURIPIDES wollte mit seinen Theateraufführungen einen Läuterungsprozess auslösen — die Katharsis. Die „Katharsis” des Ausbilders als Dramaturg des Lehren und Lernens will Lernfreude, Identifikation mit den Inhalten und Zukunftshoffnung für eigenes kompetentes Gelingen in den praktischen Anwendungskontexten des Lernenden auslösen.

95

Zelebrieren Sie Ihre Lernangebote mit leuchtenden Augen, freudiger Stimme, zugewandter Körperhaltung und der Aura der erreichbaren Kompetenz. Nicht nur der Anfang eines Ausbildungsabschnittes ist dramaturgisch zu gestalten. Einer Dramaturgie bedarf die gesamte Ausbildung, genauso wie ein Ausbildungsmodul oder eine Lerneinheit. Wie gelingt dies? Vorbilder finden Sie in guten Filmen. Egal ob Action-, Liebes- oder Heimatfilm. Die interessante Abfolge von verdaulichen Neuigkeiten, unterschiedliche Orten mit unterschiedlichen Menschen, unterschiedliche Geschwindigkeiten im Fortschritt des Films, unterschiedliche Musiken mit unterschiedlichen Lautstärken oder spannende Kameraeinstellungen und rasante Filmschnitte. Egal, ob der Täter oder das Ergebnis des Films am Anfang dargeboten wird und dann der Prozess zum Ergebnis oder (traditionell) erst der Verlauf der Geschichte und dann die Auflösung angeboten wird. Einen Spannungsbogen in der Ausbildung zu kreieren, orientiert sich an dem. Eine tolle Varietévorstellung unterliegt dem Spannungsbogen genauso wie eine Zirkusveranstaltung mit Pfiff. Der Spannungsbogen will die Bereitschaft zum Mitmachen aufrechterhalten und verrät immer zum Schluss die Erkenntnis oder ermöglicht die Kompetenz — sonst bleibt keiner! Und das ist es, was wir wollen: Dabei bleiben bis zum Schluss — hoffend und wissend, dass der Kelch der Vorteile und der Erkenntnisse noch nicht leer ist.

96

6 Fähigkeiten des Coach 6.1 Einleitung Zu Beginn des vierten Kapitels wurde das Kompetenzmodell als Planungsgrundlage eingeführt. Soll sich ein Coach situativ erfolgreich im Kontext Coaching verhalten, was zum einen dem Lernziel einer Coach-Ausbildung und zum anderen im Kompetenzmodell der Handlungskompetenz entspricht, so können die thematischen Bereiche des Kompetenzmodells ... • Persönliche Kompetenz • Fachlich-methodische Kompetenz • Sozial-kommunikative Kompetenz • Feldkompetenz als Strukturangebot zur Formulierung von Fähigkeiten des Coach genutzt werden. Definition — Handlungskompetenz Handlungskompetenz bedeutet, den Sinn eines Kontextes sowie Unterschiede zu anderen Kontexten zu erkennen und die Koordination aller persönlichen Ressourcen selbstgesteuert in einem situativ-individuellen Handeln zu realisieren. Die Ausprägungen von Fähigkeiten innerhalb einer Kompetenzbetrachtung orientieren sich an Taxonomien. Die Handlungskompetenz als Coach entspricht innerhalb der im Buch verwandten Taxonomie einem „konstruktivistischen Kontexttransfer, Taxonomiestufe 4“, das heißt einer Übertragung der Erkenntnisse aus dem Kontext Coaching in vergleichbare, vom Coachee gedeutete, Kontexte. Jede Fähigkeit der Taxonomiestufe 4 beinhaltet innerhalb eines jeden der o.a. thematischen Bereiche des Kompetenzmodells die Taxonomiestufen ... • • •

Faktisch richtiges Wissen; Anwendung von Wissen im Kontext Coaching; Reflexion des systemischen Agierens als Coach.

Unabhängig von Ansprüchen unterschiedlicher Gruppen an die Kompetenz eines Coach, die zu einer thematischen Differenzierung im Bereich Feldkompetenz führen, will Coaching als wertegedeuteter Kontext eine nachhaltige Selbstlernkonzeption auslösen. Demzufolge verfügt jeder ausgebildete Coach über dieselben Fähigkeiten im Kontext Coaching. Verfolgt die Ausbildung Ansprüche, die zusätzlich branchen-, themenspezifische oder kulturelle Erfahrungen und Fähigkeiten erfordern, z.B. Gesundheits-Coach oder Projekt-Coach, so ändern sich nur die Fähigkeiten innerhalb der Feldkompetenz, nicht aber die Fähigkeiten der anderen thematischen Bereiche des Kompetenzmodells. Zuordnung von Fähigkeiten zu thematischen Bereichen des Kompetenzmodells „Coach” Persönliche Kompetenz • Selbsteinschätzung des eigenen Verhaltens

97

Fachlich-methodische Kompetenz • Fragen • Bedeutungen und Zusammenhänge klären • Hypothesenbildung • Prozess führen • Angebote auf Abstraktionsebene • Perspektivwechsel auslösen • Rechtsgrundlagen (werden im Abschnitt „Recht im Coaching” gesondert dargestellt) Sozial-kommunikative Kompetenz • Kommunikationskontext für Coaching vereinbaren Feldkompetenz • Branchen-, themenspezifische oder kulturelle Fähigkeiten (Spezialisierung) Ausblick Auf den nachfolgenden Seiten sind die Fähigkeiten des Coach inhaltlich aufgeführt. Jeder Fähigkeit ist o.a. eine Planungshilfe beispielhaft vorangestellt. In der curricularen Planung einer Ausbildung sind die Fähigkeiten der Taxonomiestufe 4 bildlich gesprochen die grundsätzlichen Zutaten für das Rezept „ausgebildeter Coach“. Wie diese Zutaten kombiniert werden, welche Gewürze noch hinzukommen, um das Rezept zu verfeinern, obliegt der Auseinandersetzung der Planenden mit den Ansprüchen an die Ausbildung. Hinweis Die Fähigkeiten des Coach gelten ebenfalls für den Coachausbilder.

6.2 Selbsteinschätzung des eigenen Verhaltens Taxonomiestufe Beispiel — 4 Kompetenzbereich Persönliche Kompetenz Interagierende Kompetenzbereiche Sozio-kommunikative Kompetenz, fachlich-methodische Kompetenz, Feldkompetenz Vernetztes Faktenwissen Verantwortlichkeiten im Coaching, Werte und Anliegen von Coaching, Coachingprozess, Wahrnehmung, Kontext, Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte u.a. Anwendungskontext(e) Jede Handlung als Coach Mögliche Transferkontexte Handlungen als Führungskraft, Gatte u.a. Unterstützende Wissenschaftsdisziplinen — dargestellt in den Abstracts ... Konstruktivismus, Pädagogik, Psychologie, Soziologie, Philosophie u.a. Feedbackmaßstab von Übungen Im Anwendungskontext konsequente Orientierung an den Werten von Coaching und den Verantwortlichkeiten im Coaching 98

Feedbackmaßstab innerhalb der Handlungskompetenz Im Coaching konsequente Orientierung an den Werten von Coaching und den Verantwortlichkeiten im Coaching Coaching ist eine Dienstleistung. Vereinfacht formuliert bedeutet das: Der Coach ist für den Coachee da. Als Coach hat er den Sinn von Coaching verstanden, kennt die Unterschiede zu Beratung, Therapie, Training, Supervision u.ä. und realisiert selbstgesteuert die Koordination aller persönlichen Ressourcen in einem situativ-individuellen Handeln. Selbststeuerung ist kein kognitiver Vorgang. Entscheidungen für ein Verhalten innerhalb eines Kontextes basieren nur zum Teil auf vorhandenem faktisch richtigem Wissen. Den größten Anteil daran haben Gefühle, Motive, Bedürfnisse und Werte. Situationen werden in der Regel assoziiert, das heißt, aus der Person heraus interpretiert und bewertet. Das, was Lust bereitet und individuell wichtig ist, beeinflusst unser Verhalten und die kognitiven Strukturen unseres Gehirns. Wir fühlen unsere Motive, Bedürfnisse und Werte (psycho-biologisches Empfinden). Erst danach werden Gefühle rational bewertet. Wird ein Verhalten als lustvoll, angenehm, erfolgreich empfunden, so sind wir bereit, dieses Verhalten erneut zu probieren und zu optimieren. Welches Fachwissen und welche Methoden sich ein Mensch in bestimmten Kontexten aneignet, hängt mit seinen Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen und Werten zusammen (siehe die 20 Axiome der Hamburger Schule innerhalb der Theorie vom Selbstorganisierten Coaching). Beispiel — Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch, dem es Lust bereitet, der danach strebt, klare Strukturen und Stabilität zu erleben, auch fachlich viel über Strukturen weiß und Methoden sein eigen nennt, die eben diese Lust reflektieren. Kommunikationskontexte werden strukturiert vereinbart. Das Wissen darum, was Lust bereitet, was individuell wichtig und bedeutsam ist, ist eine Ressource, die für Coach und Coachee gleichermaßen von Bedeutung ist. Wird dieses Wissen individuell mit der reflektierten Wahrnehmung innerhalb eines Kontextes verglichen, so kann das eigene Verhalten eingeschätzt und bei Bedarf verändert werden. Veränderungen werden dann als attraktiv empfunden, wenn das Ergebnis und seine Folgen als attraktiv für die eigenen Gefühle, Motive, Bedürfnisse und Werte empfunden wird. Hinweis — Natürlich ist Coaching die tollste Sache der Welt. Was aber, wenn es dem Coach keine Lust bereitet, den Prozess zu führen, wenn die Werte Freiheit, Freiwilligkeit, Selbststeuerung und Ressourcenverfügung für ihn persönlich nicht attraktiv sind? Motivation kann sich nur entfalten, wenn unsere Motive als unveränderliche Persönlichkeitsmerkmale die Werte des Kontextes als attraktiv empfinden. Ohne diese Motivation wird ein Coach keine Kompetenz erlangen. Assoziation und Dissoziation Assoziation bedeutet, als Coach in Kontakt mit den eigenen Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen und Werten zu sein. In dem Moment, in dem der Coach assoziiert ist, ist ihm ein koordinierter Zugriff auf seine Ressourcen nicht möglich. Er kann den Anspruch an eine professionelle Dienstleistung nicht oder nur eingeschränkt erfüllen, da er entweder in diesem Moment nicht handlungsfähig ist oder aber aus seiner Assoziation heraus, das heißt autoritär handelt. Beispiel — Ein Coach, der verärgert ist, weil sein Coachee unpünktlich ist; ein Coach, der betroffen darüber ist, dass sein Coachee eine Mitarbeiterin entlassen will; ein Coach, der sich die Situation seines Coachee zu Herzen nimmt; ein Coach, der findet, sein Coachee müsse sich end99

lich einmal wehren; ein Coach, dem wichtig ist, dass sein Coachee ihn mag — all das sind Situationen, in denen ein Coach assoziiert ist und vielleicht zu Ratschlägen neigt. Dissoziation bedeutet, als Coach Distanz zu eigenen Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen und Werten zu haben. Ohne diese innere Distanz wird sich ein Coach nicht an den Werten von Coaching orientieren und seiner Verantwortung für den Prozess gerecht werden. Eine Reflexion des eigenen Verhaltens ist ohne ausreichende Dissoziation nicht möglich. Voraussetzung für eine Dissoziation als Coach ist die Verfügbarkeit von Erklärungsstrukturen bzw. psychologischen Modellen, die Gefühle, Motive, Bedürfnisse und Werte erklären und in Zusammenhang setzen.

MVWK-Modell Motiv-Verhalten-Wert-Kontext

W W tex

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W ©2007, Dr. Rolf Meier, Axel Janßen

Der Coach kann daraus Rückschlüsse auf eigenes Verhalten ableiten und sich selbst innerhalb des Kontextes Coaching einschätzen. Im Coaching wird Dissoziation über Reflexionsangebote auf Abstraktionsebene erreicht. Der Coachee nutzt die angebotenen abstrakten Strukturen, um sich selbst systemisch zu reflektieren. Der Coach wird so von der Gefahr einer assoziierten Deutung durch ihn selbst entbunden. Bevor der Coach jedoch einen koordinierten Zugriff auf seine fachlich-methodischen Ressourcen hat, das heißt auf die optimale Auswahl von Reflexionsangeboten innerhalb des Coaching, muss er dissoziiert sein. Feedbacksystematik zur Selbsteinschätzung des eigenen Verhaltens Das eigene Verhalten systemisch zu reflektieren, nicht aus der eigenen Person heraus Menschen oder Situationen zu bewerten, ist für die Kompetenz als Coach von hoher Bedeutung — im Alltag jedoch 100

eher selten zu finden. Wir sind es gewohnt, aus uns heraus zu deuten und zu bewerten. Bestimmte berufliche Tätigkeiten, wie z.B. Beratung, fördern diese Handlungsweise. In der Coachausbildung soll in angemessener Zeit auch die persönliche Kompetenz entwickelt werden. Die zukünftigen Coach sollen ihr Verhalten selbst einschätzen können und selbstgesteuert Veränderungen hin zur Kompetenz einleiten. Beschränkt sich die Vermittlung von faktisch richtigem Wissen auch auf psychologische Modelle, die Gefühle, Motive, Bedürfnisse und Werte erklären und in Zusammenhang setzen, so ist der Aufwand immens, persönliche Kompetenz zu entwickeln. Eine neue „innere Haltung“ muss eingeübt werden. Zur permanenten Überprüfung der inneren Haltung ist eine Feedbacksystematik nötig, die in allen denkbaren Anwendungskontexten Rückmeldungen zum Lernfortschritt gibt. Beispiele Übungen, in denen der Teilnehmer seine Motive, Bedürfnisse und Werte über das Gefühl wahrnimmt, um Unterschiede festzustellen (emotionale Feedbacksystematik); Übungen in Kontexten außerhalb der Ausbildung zur Selbstüberprüfung, ob und wann der Teilnehmer assoziiert ist; Kontinuierliche Selbsteinschätzung der eigenen Entwicklung mit Controllingangebot durch den Ausbilder; Rückmeldung durch andere Teilnehmer, Mentoren und Ausbilder zur persönlichen Kompetenz von Beginn der Ausbildung an; Übungen zur Dissoziation bei inneren und äußeren Wertekonflikten; Coaching und Selbstcoaching von Themen des Teilnehmers. Über den zunehmenden Fortschritt des Vermögens, sich selbst einschätzen zu können und sich zu dissoziieren, erkennt der Lernende die Vorteile der inneren Haltung eines Coach für die Kompetenz als Coach und für unterschiedliche Transferkontexte. Erkennt der Coach diese Vorteile emotional an, wird er motiviert handeln.

6.3 Fragen Taxonomiestufe Beispiel — 4 Kompetenzbereich: fachlich-methodische Kompetenz Interagierende Kompetenzbereiche: persönliche Kompetenz, sozio-kommunikative Kompetenz, Feldkompetenz 101

Vernetztes Faktenwissen Fragearten, Frageabsichten, Werte und Anliegen von Coaching, Coachingprozess, Verantwortlichkeiten im Coaching, Sprache, Intonation, Mimik, Gestik, Wahrnehmung u.a. Anwendungskontext(e) Konkrete Phasen im Coachingprozess Mögliche Transferkontexte Umgang mit eigenen Kindern, Mitarbeitergespräch u.a. Unterstützende Wissenschaftsdisziplinen — dargestellt in den Abstracts ... Semantik, Linguistik, Pädagogik, Kommunikationspsychologie, Philosophie, Soziologie u.a. Feedbackmaßstab von Übungen Orientiert am Anwendungskontext fachlich richtige Formulierungen von Fragen Feedbackmaßstab innerhalb der Handlungskompetenz 1. Kompatibilität mit den Werten und zentralen Anliegen von Coaching 2. Die Frageabsicht orientiert sich an den Phasen des Coachingprozess 3. Orientierung an den Verantwortlichkeiten im Coaching

Sprache ist das zentrale Medium innerhalb der Kommunikation mit dem Coachee. Eine Frage im Coaching ist Ausdruck der Prozessverantwortung des Coach und verfolgt immer eine Absicht, die entweder Ausdruck der Prozessverantwortung ist oder aber die zentralen Anliegen von Coaching „Wahrnehmungserweiterung, Entscheidungsfähigkeit und Verhaltensalternativen” verfolgt. Die Absichten von Fragen im Coaching orientieren sich an den Werten von Coaching und der Wirkungserwartung des Coachingprozess. Frageabsichten können sein: • Perspektivwechsel auszulösen • Umdeuten auszulösen • Motivation ermitteln und/oder auszulösen • (Selbst-)Bewertung auszulösen • Veränderung durch den Coachee auszulösen 102

• • • • • • • • • • • • •

Konfrontation Irritation Kontexte, Bedeutungen und Bedeutungszusammenhänge ermitteln Faktenwissen erheben Ressourcen ermitteln Unterschiede wahrnehmbar machen Strategien ermitteln und auslösen Verlauf eines Geschehens ermitteln (zeitliche Abfolge) Abhängigkeiten ermitteln Reflexion über Folgen auslösen Ziel und seine systemischen Erreichungsmerkmale ermitteln Bestätigung des Sachverhalts, Paraphrasierung Entscheidungen festzuhalten (nur geschlossene Frage)

In der deutschen Sprache gibt es drei Fragearten: • Offene Frage • Geschlossene Frage • Suggestivfrage Jede Frageabsicht und Frageart ist durch den Coach dahingehend zu überprüfen, ob sie den Werten und zentralen Anliegen von Coaching gerecht wird. Die Suggestivfrage schließt sich daher von selbst aus dem Coaching aus. Frageabsichten können sich, abhängig von der dem Coaching zugrunde liegenden Axiomatik bzw. den wissenschaftlichen Theorien, stark unterscheiden. Spezielle Fragearten im Coaching — systemische Fragen Hypothetische Fragen Die Hypothese ist umgangssprachlich eine Vermutung oder Annahme. Mit der hypothetischen Frage erhält der Coachee ein Angebot, über sein Thema auf Basis einer bestimmten Annahme zu reflektieren. Um den Charakter einer Annahme zu unterstreichen, werden hypothetische Fragen mit den Worten „einmal angenommen“, „stellen Sie sich vor …“ oder Vergleichbarem eingeleitet. Beispiel — „Einmal angenommen, es vergehen 2 Jahre, was konkret hat sich in dieser Zeit verändert?“ Bewertung — Kompatibilität mit den Werten und zentralen Anliegen von Coaching liegt vor. „Einmal angenommen, Sie verhielten sich ab sofort kooperativ, welchen Vorteil hätten Sie dadurch?“ Bewertung — Die Werte und Anliegen von Coaching werden nicht berücksichtigt. Die Frage bewertet, indem sie dem Coachee unterstellt, er wäre nicht kooperativ. Der Coach ist autoritär. Die hypothetische Frage kann genutzt werden, um einen Perspektivwechsel beim Coachee auszulösen. Wird die Hypothese genutzt, um mögliche Lösungen anzubieten, so besteht grundsätzlich die Gefahr, dass der Coach seine Lösungsidee mit der hypothetischen Frage ausdrückt. Um dieser Gefahr zu entgehen, empfiehlt es sich, die hypothetische Frage grundsätzlich mit einer zirkulären Frage zu kombinieren. 103

Zirkuläre Fragen Zirkuläre Fragen lösen Reflexionen über Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Beteiligten aus. Mit der zirkulären Frage erhält der Coachee ein Angebot, einen Perspektivwechsel zu vollziehen. Der Coach erhält aus der visuellen Aufstellung die für einen Perspektivwechsel relevanten Kontexte. Beispiel — „Was würde Frau X zu diesem Thema sagen?“ „Was würde Herr Y über die Beziehung zwischen Ihnen und Ihren Mitarbeitern sagen?“ Die zirkuläre Frage selbst berücksichtigt die Werte von Coaching. In der Kombination mit einer hypothetischen Frage birgt auch sie die Gefahr in sich, als Coach zu bewerten. Beispiel — „Einmal angenommen, Sie wären freundlich, wie würden Ihre Mitarbeiter reagieren?“ Bewertung — Die Werte von Coaching werden nicht berücksichtigt. Die Frage bewertet, indem sie dem Coachee unterstellt, er wäre nicht freundlich. Hinweis — Aus der Familientherapie ist der Begriff „systemische Frage“ entlehnt, der sich ursprünglich begrifflich auf das „System Familie“ bezog. Die zirkuläre Frage z.B. erhielt ihren Namen durch die kreis-(zirkus-)förmige Sitzanordnung der Patienten. In der Coachingliteratur wird für die speziellen Fragearten im Coaching das Begriffspaar „systemische Fragen“ verwandt. Therapie verfolgt ein anderes Ziel als Coaching und hat demzufolge auch eine andere Frageabsicht. Die Frageart ist jedoch identisch, sodass das Begriffspaar mit der Absicht „Coaching“ verwandt werden kann. Skalierende Fragen Eine Skala ist eine Maßeinteilung. Motive, Gefühle, Bedürfnisse und Werte können nicht in bekannten Maßeinheiten, z.B. Kilo oder Meter usw., gemessen werden. Mit der skalierenden Frage erhält der Coachee ein Angebot, eigene Motive, Gefühle, Bedürfnisse und Werte und die von anderen zu bewerten und aus der Bewertung Erkenntnisse zu gewinnen. Die Bewertungsskala als Maßstab ist Teil der Frage und kann sowohl voran als auch im Anschluss übermittelt werden. Beispiel — „Auf einer Skala von 1-10, wobei 1 gering ist und 10 hoch, wie zufrieden sind Sie mit dem Ergebnis der Besprechung?“ oder „Wie zufrieden sind Sie mit dem Ergebnis der Besprechung auf einer Skala von 1-10, wobei 1 gering ist und 10 hoch ist?“ Die skalierende Frage selbst berücksichtigt die Werte von Coaching. In der Kombination mit einer hypothetischen Frage birgt auch sie die Gefahr in sich, als Coach zu bewerten. Beispiel — „Einmal angenommen, Sie wären freundlich, wie würde sich das auf einer Skala von 1-10, wobei 1 gering und 10 stark ist, auf Ihr Wohlbefinden auswirken?” Bewertung — Die Werte von Coaching werden nicht berücksichtigt. Die Frage bewertet, indem sie dem Coachee unterstellt, er wäre nicht freundlich, und verstärkt diese Bewertung durch die Konstruktion eines Zusammenhangs zwischen Freundlichkeit und Wohlbefinden.

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Hat der Coachee eine Bewertung vorgenommen, so kann die skalierende Frage dazu genutzt werden, eine Reflexion in Bezug auf eine Veränderung auszulösen. Der Coach bietet einen höheren oder niedrigeren Skalenwert als den seines Coachees an, um die Wahrnehmung eines Unterschiedes zu ermöglichen. Der Coachee reflektiert, durch welche Veränderung er selbst den angebotenen Unterschied erreichen kann. Die Veränderung des Skalenwertes nach unten hat die Absicht, eine Irritation herbeizuführen. Sie stört bewusst vorhandene kognitive Strukturen und löst über diese Störung eine Reflexion aus. Beispiel — „Was müssten Sie machen, um von einer 5 auf eine 7 zu kommen?“ oder „Was müssten Sie machen, um von einer 5 auf eine 3 zu kommen?“ Bewertung — Die Gefahr dieser Form der skalierenden Frage liegt darin, dass die vom Coach verfolgte Absicht nicht dem Ziel und den systemischen Erreichungsmerkmalen seines Coachees entspricht. Eine Kompatibilität mit den Werten und zentralen Anliegen von Coaching liegt in diesem Fall nicht vor. Der Coach handelt autoritär. Skalierende Fragen können mit hypothetischen und zirkulären Fragen kombiniert werden. Sie ermöglichen dem Coachee, über Bedeutungen und Bedeutungszusammenhänge zu reflektieren und Veränderungen abzuleiten. Der Coach erhält aus der Bewertung durch seinen Coachee Hinweise zur Hypothesenbildung. Fragen und Prozessverantwortung Mit Ausnahme der geschlossenen Frage und der Suggestivfrage lösen Fragen im Coaching grundsätzlich Reflexion aus. Entscheidend ist einerseits die Beachtung der Werte und der zentralen Anliegen von Coaching, andererseits die Prozessverantwortung des Coach. Die Absicht, die er als Coach mit einer Frage verfolgt, muss mit dem Sinn der Phasen im Coachingprozess korrespondieren. Beispiel — In der Kontakt- und Kontraktphase sind Thema, Ziel und systemische Erreichungsmerkmale noch nicht definiert. Fragen in dieser Phase dürfen nur die Absicht verfolgen, einen Kontakt herzustellen und den Kontrakt zu schließen. In der Phase Thema und Zielklärung darf nur die Absicht verfolgt werden, die Kontexte des Themas bestmöglich visualisieren zu lassen, Ziel und systemische Erreichungsmerkmale formulieren zu lassen. Jede Phase des Coachingprozess hat für sich ihren Sinn und leistet einen Beitrag zum Erreichen einer nachhaltigen Selbstlernkonzeption des Coachee. Erst in der Phase „Entwicklung und Auswahl von Verhaltensmöglichkeiten“ stehen Ressourcen zur Verfügung, die den Sinn dieser Phase unterstützen. Eine Frage mit der Absicht, eine Veränderung auszulösen, kann und darf erst hier gestellt werden. Eine Abweichung führt zu einer Destabilisierung des Prozesses und gefährdet das Coaching.

6.4 Bedeutungen und Zusammenhänge klären Taxonomiestufe Beispiel — 4 Kompetenzbereich Fachlich-methodische Kompetenz Interagierende Kompetenzbereiche Persönliche Kompetenz, sozio-kommunikative Kompetenz, Feldkompetenz 105

Vernetztes Faktenwissen Assoziation, Dissoziation, Ressourcen, Fragen, Frageabsichten, Werte und Anliegen von Coaching, Coachingprozess, Perspektivwechsel, Wert, Verhalten, Kontext, Feedback u.a. Anwendungskontext(e) Konkrete Phasen im Coachingprozess, Kontexte aus dem Alltag, z.B. Konfliktgespräch, Mitarbeitergespräch u.a. Mögliche Transferkontexte Alle kommunikationsrelevanten Kontexte mit Bezug zum Teilnehmer Unterstützende Wissenschaftsdisziplinen — dargestellt in den Abstracts ... Konstruktivismus, Neurobiologie, Linguistik, Semantik, Logik u.a. Feedbackmaßstab von Übungen 1. Kompatibilität mit den Werten und zentralen Anliegen von Coaching 2. Fachlich richtige Formulierung des Angebotes 3. Erkennen von sprachlichen Unschärfen Feedbackmaßstab innerhalb der Handlungskompetenz 1. Bedeutungen und Zusammenhänge werden über den gesamten Coachingprozess geklärt. 2. Feedbackgrundlage sind konkrete verbale und nonverbale Aussagen des Coachee. Das Veränderungsanliegen des Coachee wird von ihm konstruktivistisch, das heißt aus seiner Person heraus gedeutet und formuliert. Er selbst gibt in der Interaktion mit seinen wahrgenommenen Kontexten der Sprache und den Zusammenhängen eine Bedeutung. Der Coachee konstruiert semantisch Wort, Satz und Text. Der Empfänger von Sprache, in diesem Fall der Coach, nimmt die verbale und nonverbale Kommunikation, orientiert an seinen eigenen Deutungsmustern, auf und interpretiert sie. Je höher die mögliche „Deutungsbreite“ eines Wortes ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, Information aufgrund der sprachimmanenten Unschärfe anders als beabsichtigt zu interpretieren. Sprache selbst beinhaltet Worte, die ihrem Wesen nach unscharf, bzw. komplexitätsreduzierend sind. Beispiel — Das Wort „man“ ist unscharf. Wer genau verbirgt sich dahinter? Das Wort „alle“ ist unscharf. Wer oder was sind alle? Das Wort „immer“ ist unscharf. 24 Stunden und 365 Tage im Jahr lang? Wörter erhalten ihre Bedeutung aus dem vom Kommunizierenden wahrgenommenen Kontext heraus. Der Coachee gibt Wort, Satz und Text eine Bedeutung im Sinne einer Wertzuschreibung. Beispiel — Das Wort „Ordnung“. Was genau verstehen Sie darunter? Das Wort „Erfahrung“. Was genau verstehen Sie darunter? Das Wort „gewissenhaft“. Was genau verstehen Sie darunter? In Wort, Satz und Text spiegeln sich die Motive, Gefühle, Bedürfnisse und Werte sowie der individuell wahrgenommene Wertebezug (Bedeutung) innerhalb eines Kontextes wider. Ausgehend von dieser These ergeben sich zu einem Wort, dem vom Coachee ein Wert zugeschrieben wird, ergänzende Fragen, die helfen, die Wahrnehmung des Coachee zu erweitern.

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Beispiel — Das Wort „Ordnung“. Was genau verstehen Sie darunter? Welche Bedeutung hat Ordnung für Sie im Allgemeinen? Welche Bedeutung hat Ordnung für Sie im Zusammenhang mit Ihrem Thema? Ein Mensch merkt sich Wörter und deren Bedeutungen nicht mechanistisch und ordnet sie einer linearen Struktur zu — analog zur kognitiven Struktur des Gehirns speichert er Informationen netzartig ab. Dieser Vorgang erfolgt aufgrund individueller Erfahrungen. Gehirn, Kognition und Sprache bilden einen Zusammenhang. Aus Begriffen und ihren Beziehungen (Relationen) wird ein nach Bedeutung gebildetes Netz aufgebaut. Basierend auf diesem „vernetzten Wissen“ und, darauf aufbauend, den zukünftigen Handlungen des Individuums, entsteht neues Wissen. Da die Konstruktion von Zusammenhängen individuell unterschiedlich ist, ergibt sich die Notwendigkeit, die Art der Konstruktion von Zusammenhängen nachzufragen. Beispiel — „Das Verhalten von Frau XX ist falsch“. Was genau ist am Verhalten von Frau XX falsch? In welcher Situation (Kontext) ist das Verhalten von Frau XX falsch? Wie genau verhält sie sich? Wie hängt das Verhalten von Frau XX mit Ihrer Bewertung „falsch“ zusammen? Der Zusammenhang von Gehirn, Kognition und Sprache, eigene Motive, Gefühle, Bedürfnisse und Werte drücken sich auch über den Körper aus. Ein Coach nimmt unbewusst zu jeder Zeit körpersprachliche Signale seines Umfeldes wahr. Ist ihm bewusst, dass er während des Coachings die Körpersprache seines Gegenübers aus sich selbst heraus, das heißt, konstruktivistisch interpretiert, so ergibt sich daraus die Notwendigkeit, körpersprachliche Signale zu hinterfragen. Der Coach gibt eine Rückmeldung und leitet daraus ein Nachfragen ab. Beispiel — „Verschränkte Arme des Coachee“ Vielfach wird diese Geste in der Literatur als „ablehnend“ oder „Abwehrhaltung“ interpretiert. In unterschiedlichen kulturellen Kontexten hat die Geste eine unterschiedliche Bedeutung. Möglich ist, dass jemandem nur kalt ist, oder dass er diese Haltung als bequem empfindet. Konkret beschriebene Rückmeldung der Wahrnehmung — Ihre Arme sind verschränkt. Klärung von Bedeutung und Zusammenhang — Hat das eine Bedeutung für unser Coaching? Wahrnehmungserweiterung Jedes Nachfragen des Coach löst ein Nachdenken aus. Unser Wahrnehmungsvermögen, unsere Sprache und unsere kognitiven Strukturen „begrenzen” grundsätzlich unser Wissen. Diese Tatsache gilt unabhängig vom Intellekt. Die konstruktivistische Deutung der Welt deutet auch das Handeln anderer, hinterfragt in der Regel aber nicht die eigene Interpretation. Die Klärung von Bedeutungen und Zusammenhängen aus Sicht anderer, mit dem Thema des Coachee in Zusammenhang stehenden Personen heraus, ermöglicht dem Coachee eine Wahrnehmungserweiterung. Der Coach bedient sich dazu eines Perspektivwechsels. Beispiel — Das Verhalten von Frau XX ist falsch. Wie würde Frau Müller ihr eigenes Verhalten bewerten? Wie würde ein anderer das Verhalten von Frau Müller bewerten? Welchen Zusammenhang sieht Frau Müller? Durch die Reflexionsangebote des Coach werden diese „Begrenzungen” überwunden. 107

Hypothesenbildung Mit Klärung der Bedeutungen und Zusammenhängen aus Sicht des Coachee heraus hat der Coach die Grundlage für eine Hypothesenbildung geschaffen. Die Werte von Coaching sind berücksichtigt.

6.5 Hypothesenbildung auf Abstraktionsebene Taxonomiestufe Beispiel — 4 Kompetenzbereich Fachlich-methodische Kompetenz Interagierende Kompetenzbereiche Persönliche Kompetenz, sozio-kommunikative Kompetenz, Feldkompetenz Vernetztes Faktenwissen Assoziation, Dissoziation, Ressourcen, Werte und Anliegen von Coaching, Coachingprozess, Theorien, Modelle, Axiome u.a. Anwendungskontext(e) Phasen „Kontakt/Kontrakt“ bis Ende der Phase Thema und Zielfindung Mögliche Transferkontexte Mitarbeiterbeurteilung, Selbstcoaching u.a. Unterstützende Wissenschaftsdisziplinen — dargestellt in den Abstracts ... Konstruktivismus, Pädagogik und alle Disziplinen, die im Coaching verwendbare Theorien, Modelle und Axiome bereitstellen Feedbackmaßstab von Übungen 1. Kompatibilität mit den Werten und zentralen Anliegen von Coaching. 2. Die Hypothesenbildung orientiert sich am konkret Wahrgenommenen und basiert auf Theorien, Modellen oder Axiomen der Ausbildung. Feedbackmaßstab innerhalb der Handlungskompetenz 1. Die Hypothesenbildung ist mit Ende der Phase Ressourcenidentifikation abgeschlossen. 2. Die Hypothesenbildung orientiert sich am konkret Wahrgenommenen und basiert auf Theorien, Modellen oder Axiomen der Ausbildung. Der Coachingprozess als zentrale Vorgehensweise des Coach erwartet als Wirkung, dass die Wahrnehmung des Coachee erweitert sowie Entscheidungsfähigkeit und Verhaltensalternativen ausgelöst werden. Innerhalb der Phasen 3 und 4 des Prozesses ist es Aufgabe des Coach, orientiert am vereinbarten Kommunikationskontext, geeignete Angebote auf Abstraktionsebene bereitzustellen, um diese Wirkungserwartung zu unterstützen. In Phase 4 benötigt der Coach spezielle Angebote, die dem Coachee die „Entwicklung und Auswahl von Verhaltensalternativen“ ermöglichen. Die Auswahl dieser Angebote ist im Rahmen der Prozessverantwortung Aufgabe des Coach und orientiert sich dabei an den Hypothesen, die der Coach in Bezug auf die Veränderungsthematik seines Coachee trifft. Coaching akzeptiert, dass der Coachee seine Wirklichkeit konstruiert, sich selbst steuern kann und alle Ressourcen für eine Veränderung in sich trägt. Ein Coach, der seinen Coachee diagnostiziert, trifft eine Feststellung. Er beurteilt seinen Coachee. Das heißt, der Coach traut sich zu, alle thematischen Zusammenhänge seines Coachee systemisch-konstruktivistisch richtig zu interpretieren und auf dieser Basis den Coachingprozess zu gestalten. Auf diese Weise wird der Coach zum Experten für die Veränderung des 108

Coachee (autoritäres Coaching). Ein Coach, der seinen Coachee konstruktivistisch betrachtet und ihn als Experten für sein Thema sieht, bildet ausschließlich Hypothesen in Verknüpfung von Modellen, Theorien oder Axiomen (autonomes Coaching). Aus diesen Hypothesen leitet der Coach seine Reflexionsangebote ab (deduktives Vorgehen). Hypothesenbildung auf Abstraktionsebene Eine Hypothese im Coaching ist zunächst einmal eine Annahme in Bezug auf einen möglichen Zusammenhang, weshalb der Coachee seinen Veränderungswunsch bisher nicht selbst realisiert hat bzw. einen Coach braucht. Wird eine Hypothese aus der Person heraus gebildet, so ist die Hypothese das Produkt der typischen Deutungs- und Bewertungsmuster des Hypothesenbildenden. Wird die Hypothese auf einer Abstraktionsebene gebildet, das heißt, basierend auf faktisch richtigem Wissen zu Theorien, Modellen und Axiomen, so ist die Hypothese von Motiven, Gefühlen, Bedürfnissen, Werten und der Erfahrung des Hypothesenbildenden entkoppelt. Zentrale Inhalte zur Hypothesenbildung Da dem Coach nicht die Aufgabe zukommt, zu deuten, sondern, orientiert an wissenschaftlich überprüfbaren Zusammenhängen, Hypothesen zu bilden, ist ein solides faktisches Wissen auf Abstraktionsebene ausreichend. Zur Abstraktionsebene zählen: • Modelle (komplexitätsreduzierende, abstrakte Darstellung von Wirklichkeit) • Axiome (nicht widerlegbare Erkenntnisbausteine von Theorien) • wissenschaftlich legitimierte Definitionen (von Begriffen aus Theorien entnommen) Theorien, Modelle, Axiome, Definitionen innerhalb einer Ausbildung ergänzen sich gegenseitig, das heißt, sie dürfen sich nicht widersprechen und müssen mit der Wirksamkeitserwartung des Coachingansatzes korrespondieren. Die Quintessenz aller konstruktivistischen Lerntheorien ist, dass Motiv — Verhalten — Wert im Kontext einen Zusammenhang bilden (MVWK-Modell). Orientiert an dieser Erkenntnis bedeutet das für die Ausbildung von Coachs, dass der Coach über abstraktes, faktisch richtiges Wissen einschließlich der Zusammenhänge zu ... • Lernen • Motiv/Motivation • Wert/Werten • Kontext verfügen muss und es konstruktivistisch anwenden kann. Hinweis — Abhängig davon, aus welcher wissenschaftlichen Erkenntnis das Wissen geschöpft wird, sind ganz unterschiedliche Modelle, Axiome und Definitionen möglich. Zum besseren Verständnis wird definiert: Motiv ist ein unspezifischer Beweggrund im Sinne einer psychologischen Strebung, das heißt eines unveränderlichen Persönlichkeitsmerkmals. Bedürfnis ist ein spezifischer Beweggrund innerhalb eines Kontextes, aufbauend auf einer psychologischen Strebung. Werte sind innerhalb eines Kontextes Orientierung für Verhalten, psychologisch vergleichbar mit Reizen bzw. soziologisch vergleichbar mit Bedeutungen von Zuschreibungen. Kontext ist ein individuell definierter und gedeuteter Bezugsrahmen für das eigene Verhalten. Ein im soziologischen Sinne offenes System ist kein Kontext für individuelles Verhalten, da es durch seinen „offenen Charakter” keine Bezüge bieten kann (siehe die Abstracts Soziologie und Systemtheorie). Zentrale Inhalte zur Hypothesenbildung — Motive, Werte, Verhalten, Kontext Die Psychologie liefert zahlreiche Persönlichkeitsmodelle, die auf unveränderlichen Persönlichkeitsmerkmalen (Strebungen) aufbauen. Eine Strebung ist ein unspezifischer Beweggrund und kann als Motiv verstanden werden. Welches Persönlichkeitsmodell im Rahmen einer Ausbil109

dung eingesetzt wird, ist abhängig vom Fokus der Ausbildung, von den Werten und vom Ziel. Wichtig ist, dass das Modell als strukturelle Ressource dem Coachee einfach erklärt werden kann und der Coachee sich, orientiert an der Struktur des Modells, selbst einschätzen kann. Elektronische Varianten der Erhebung sind vorteilhaft, beinhalten jedoch den Nachteil einer zusätzlichen Investition. Wird eine Strebung vom Coach faktisch richtig und verständlich erklärt, so kann der Coachee sich anhand dieses Wissens selbst bewerten. In der allgemeinen Psychologie werden häufig folgende 3 Strebungen in verschiedenen sprachlichen Varianten zur Erklärung von Verhalten herangezogen: • Streben nach Vergleich, Wettkampf, Konkurrenz • Streben nach positivem Feedback aus dem Umfeld, sozialer Akzeptanz und Zugehörigkeit • Streben nach Herausforderungen, Veränderung, Neuem, Risiko Neuere Verfahren wie z.B. der Wertebericht (Hogan Assessment Systems, Inc.), die Motivstrukturanalyse (MSAprofile Ltd.) und das Reiss Profil (Reiss Profile Germany GmbH) erfassen psychologische Strebungen differenzierter und erlauben eine verbesserte Reflexion. Nach traditioneller Auffassung wird das Motiv einer Person durch Anreize in der Umwelt „angeregt“ und so Motivation ausgelöst. Aus lerntheoretischer Sicht ist Motivation abhängig vom Bedürfniszustand des Menschen in Verbindung mit entsprechenden inneren oder äußeren Reizen. Die äußeren Reize können soziale Signale, dazu zählt Sprache, aber auch Merkmale unbelebter Objekte sein. Ein Anreiz hat einen Wert. Er ist individuell berücksichtigenswert, wertvoll, bedeutsam, bedeutungsvoll oder wichtig. Er regt ein Motiv zum Entfalten an. Welche Werte innerhalb eines Kontextes wichtig sind, darüber entscheidet der Coachee selbst. Verhalten ist Ausdruck des Zusammenhangs von Motiv, Werten und dem Kontext. Aus dem abstrakten Wissen zu „MotivWert-Kontext“ kann er zum Thema seines Coachee z.B. folgende Hypothesen bilden: • Möglicherweise hat das Thema etwas mit Motiven zu tun. • Möglicherweise hat das Thema etwas mit Werten zu tun. • Möglicherweise hat das Thema etwas mit dem Kontext oder Kontexten zu tun. Eine Festlegung des Coach in der Hypothesenbildung auf nur ein Motiv oder nur einen Wert, z.B. Streben nach Vergleich, Wettkampf, Konkurrenz, Wert, Gerechtigkeit beinhaltet die Gefahr der Assoziation, da der Coach auswählt und damit aus sich heraus Möglichkeiten ausschließt. Aus diesem Grund wird die höchste Abstraktionsebene „Motive“ gewählt. Hinweis — Die Reduktion auf Motiv, Verhalten, Wert und Kontext spiegelt die Minimalanforderung an Coachs aus Sicht der Herausgeber wider. Wissenschaftliche Modelle verfolgen selten den Anspruch, allumfassend zu sein. Möglichkeit, Grenzen und Kombinationsmöglichkeiten verschiedener Modelle zu reflektieren, ist Teil der Professionalität eines Coach. Im Bereich der Motivation können z.B. Modelle von HECKHAUSEN, MASLOW, HERZBERG uvm. interessant sein. Zentrale Inhalte zur Hypothesenbildung — Das Kompetenzmodell Verfügt der Coach über das Kompetenzmodell als faktische Ressource, so kann er daraus folgende Hypothesen ableiten: • Möglicherweise hat das Thema etwas mit (Handlungs-)Kompetenz zu tun (höchste Abstraktionsebene). Diese Abstraktionsebene beinhaltet die geringste Gefahr einer assoziierten Deutung durch den Coach. Wird Kompetenz in Bereiche aufgeteilt, müssen konsequent alle Bereiche eines Modells in die Hypothesenbildung einbezogen werden, um der Gefahr einer assoziierten Auswahl der Bereiche durch den Coach zu entgehen. • Möglicherweise hat das Thema etwas mit dem Kontext zu tun, das heißt mit den Anforderungen bzw. Sinn und Zweck des Kontextes, Werten innerhalb des Kontextes. • Möglicherweise hat das Thema etwas mit der persönlichen Kompetenz zu tun, das heißt mit eigenen Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen, Werten und Begabungen und der Selbsteinschätzung innerhalb des thematischen Kontextes. 110

• Möglicherweise hat das Thema etwas mit sozio-kommunikativer Kompetenz zu tun, das heißt mit der Auseinandersetzung mit Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen, Werten der eigenen Person und der anderer Personen innerhalb eines Kontextes, dem Erkennen von Unterschieden und dem vereinbarten Kommunikationskontext, der die Interessen aller Beteiligten berücksichtigen sollte. • Möglicherweise hat das Thema etwas mit der fachlich-methodischen Kompetenz zu tun, das heißt, mit der Verfügbarkeit von reflektierten fachlichen Kenntnissen und Fertigkeiten innerhalb des thematischen Kontextes und mit der ergebnisorientierten Organisation von Arbeitsabläufen. • Möglicherweise hat das Thema etwas mit der Feldkompetenz zu tun, das heißt mit der Verfügbarkeit von reflektierter branchen-, themenspezifischer und kultureller Erfahrung innerhalb des thematischen Kontextes. Zentrale Inhalte zur Hypothesenbildung — Axiomatik Sicherlich ist die Bildung von Hypothesen, orientiert an Theorien, möglich und richtig — soll später aus der Hypothese ein Reflexionsangebot werden, so wird aufgrund der Komplexität einer Theorie die Handhabung schwierig. Aus diesem Grunde ist es einfacher, hypothesenorientiert an Modellen, zu bilden oder eine Axiomatik zu nutzen. Beispiel — Die von GEORGE HERBERT MEAD formulierte soziologische Theorie des „Symbolischen Interaktionismus“ erklärt soziale Handlungen. Der Coach kann, sofern er Hinweise auf die Theorie wahrnimmt, die Hypothese bilden: Möglicherweise hat das Thema meines Coachee etwas mit der Theorie des symbolischen Interaktionismus zu tun. Oder er entnimmt der Theorie ein Axiom und formuliert daraus eine Hypothese: Möglicherweise hat das Thema meines Coachee mit dem Axiom „Menschen handeln auf Grundlage der Bedeutung, die sie Objekten, Situationen und Beziehungen entgegenbringen“ etwas zu tun. Beispiele — zum Verständnis von Axiomen, die Motiv, Verhalten, Wert und Kontext konstruktivistisch definieren: • Motivgeleitete Interessen und Erkenntnis bilden einen Zusammenhang. • Menschen orientieren sich innerhalb individuell definierter und gedeuteter Kontexte an Werten. • Ein Kontext (Konstrukt oder auch Handlungssystem) ist dem Individuum, der Gruppe oder dem Team dann bewusst, wenn er/sie ihn kognitiv erschließen kann/können. • Entscheidungen für ein Verhalten/eine Handlung werden durch Motive, Bedürfnisse, innerhalb von durch Werte gedeuteten Kontexten, beeinflusst. • Menschen handeln, da sie für sich einen persönlichen Vorteil im Sinne der Erfüllung von Motiven, Bedürfnissen und Werten erwarten. Dies gilt auch für Gruppen und Teams. • Werte entstehen durch wiederholtes, individuell erfolgreiches Handeln/Verhalten in einem spezifischen Kontext. • Grundsätzliche Verhaltensmuster ergeben sich aus Werten, die für das Individuum, die Gruppe oder das Team kontextübergreifend gelten. • Werte, die handlungsleitend sind, aber hinsichtlich ihrer Bedeutung nicht reflektiert werden, führen zu Glaubenssätzen. Glaube ist ein Wertekontext, der nicht hinterfragt wird. • Leitwerte sind Werte, die für das Individuum, die Gruppe oder das Team in allen konstruierten Kontexten gelten. Sie bilden die Schnittmenge aller Werte innerhalb dieser Kontexte. • Werte bilden die Grundlagen für Entscheidungen. Der Beginn einer Entscheidung ist die gefühlsmäßige Wahrnehmung eines Wertes. Der Abschluss einer Entscheidung begründet einen Wert (subjektiv) rational.

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Ablauf der Hypothesenbildung Die Hypothesenbildung des Coach beginnt mit dem Kontakt zum Coachee. Vom Kontakt bis einschließlich der systemischen Zielerreichungsmerkmale (Ende Coachingphase 2) nimmt der Coach seinen Coachee wahr, klärt Bedeutungen und Zusammenhänge, bildet diese Wahrnehmung an ihm bekannten Modellen, Axiomen und Definitionen ab und gewinnt daraus Hypothesen. Im Laufe der Hypothesenbildung verdichten sich Hypothesen, das heißt, sie werden wahrscheinlicher — andere Hypothesen werden verworfen. Der Coach trifft die Entscheidung, welche Hypothesen er nutzen wird, im Rahmen seiner Prozessverantwortung. In der Phase 3 „Ressourcenidentifikation“ des Coachingprozesses leitet er aus seinen Hypothesen abstrakte Strukturen (inhaltlich nicht gefüllte oder bewertete Strukturen) ab, die er dem Coachee als strukturelle Ressource anbietet, um konkrete Ressourcen zu finden. In Phase 4 „Entwicklung und Auswahl von Verhaltensalternativen“, um Handlungsalternativen zu generieren. Die Qualität der Hypothesenbildung hängt vom verfügbaren Wissen des Coach über Modelle, Axiome, Definitionen und seiner reflektierten Anwendung ab. Zusammenfassung Ein Coach bildet ausschließlich Hypothesen, da er sich dem Konstruktivismus verpflichtet fühlt. Aus diesem Grund entstehen seine Hypothesen nicht aus seiner Person heraus, sondern abgeleitet aus wissenschaftlich überprüfbaren Theorien, Modellen, Axiomen und Definitionen. Da sein Coachee sich selbst diagnostizieren kann, hat der Coach faktisch richtiges Wissen auf einer Abstraktionsebene erworben und über die Zusammenhänge des von ihm angewandten Wissens reflektiert. Die Mindestanforderung beinhaltet reflektiertes Wissen auf Abstraktionsebene zu Motiv, Verhalten, Wert und Kontext. Feldspezifische Themen erfordern zusätzliches abstraktes Wissen. Die Hypothesenbildung beginnt mit dem Kontakt und endet mit den systemischen Zielerreichungsmerkmalen. In dieser Zeit verdichten sich die Hypothesen des Coach oder Hypothesen werden verworfen. Orientiert an den Hypothesen werden Ressourcen ermittelt. Fehlende strukturelle Ressourcen (Modelle, Axiome) werden durch den Coach vermittelt, jedoch nicht bewertet.

6.6 Prozess führen Taxonomiestufe Beispiel — 4 Kompetenzbereich Fachlich-methodische Kompetenz Interagierende Kompetenzbereiche Persönliche Kompetenz, sozio-kommunikative Kompetenz, Feldkompetenz Vernetztes Faktenwissen Kommunikationskontext, Assoziation, Dissoziation, Ressourcen, Frageabsichten, Werte und Anliegen von Coaching, Wert, Verhalten, Kontext, Controlling u.a. Anwendungskontext(e) Coaching, einzelne Phasen des Coachingprozess Mögliche Transferkontexte Selbstcoaching Unterstützende Wissenschaftsdisziplinen — dargestellt in den Abstracts ... Konstruktivismus, Pädagogik/Lernen/Handlungslernen, Entscheidungslehre, Kreativität, Motivationspsychologie, Wahrnehmungspsychologie, Logik, Wissenschaftstheorie u.a. 112

Feedbackmaßstab von Übungen 1. Fachlich richtiges Vorgehen, basierend auf dem festgelegten Coachingprozess der Ausbildung 2. Kompatibilität mit den Werten und zentralen Anliegen von Coaching 3. Orientierung an der Wirkungsabsicht der jeweiligen Phase des Prozesses Feedbackmaßstab innerhalb der Handlungskompetenz Analog zu Übungen Coaching will eine nachhaltige Selbstlernkonzeption erreichen. Als Ziel formuliert, lautet diese Absicht: Der Coachee wird in seinem thematischen Kontext, basierend auf seinen Ressourcen, selbstgesteuert eine nachhaltige Selbstlernkonzeption erreicht haben. Coaching selbst ist ein empathisch-dramaturgischer Kontext, in dem dieses Ziel realisiert wird, das heißt, alle Handlungen des Coach und alle Phasen des Prozesses orientieren sich an diesem Kontext und werden durch den Coach so beeinflusst, dass eine nachhaltige Selbstlernkonzeption erreicht werden kann bzw. erreicht ist. Der Prozess im Coaching ist die zentrale Vorgehensweise, um dieses Ziel zu erreichen. Die Aufteilung der Verantwortlichkeiten beinhaltet, dass der Coachee selbst die Verantwortung für seine Lösungsentwicklung und sein Ergebnis trägt. Der Coachingprozess als zentrale Vorgehensweise dient dem Coachee dabei als logische und selbst wiederholbare Abfolge von Phasen, die seine Wahrnehmung erweitern und Entscheidungsfähigkeit sowie Verhaltensalternativen auslösen. Lernen bezeichnet allgemein einen Prozess, der zu einer relativ überdauernden Veränderung im Wissen- oder Verhaltenspotenzial eines Organismus aufgrund von Erfahrung führt. Der Coachingprozess baut auf diesem Verständnis von Veränderung auf und bietet seine Struktur dem Coachee zum Handlungslernen an. Handlungslernen ist als teilautonomes Handlungslernen zu verstehen, da der Coachee autonom lernt, der Coach aber den Prozess verantwortlich führt.

Wirkungserwartung des Coachingprozess

Wirkungserwartung des Coachingprozesses

Abstrakte, deduktive Ebene 1. Kontakt & Kontrakt

2. Thema & Zielerklärung

3. Ressourcen    

4. Verhaltensalternativen

Wahrnehmungserweiterung

5. Controlling & Abschluss nachhaltige Selbstlernkonzeption

Entscheidungsfähigkeit Verhaltensalternativen Konkrete, induktive Ebene

©2009, Dr. Rolf Meier, Axel Janßen

Durch die konsequente Einhaltung des Prozesses (= Methode) als Vorgehensweise ist der Coachee praktisch in der Lage, ohne Begleitung des Coach (autonom) zu lernen. Diese Ebene des Prozesses induziert Lernen (induktive Ebene). Unser unreflektiertes Wahrnehmungsvermögen, unsere Sprache und 113

unsere kognitiven Strukturen „begrenzen” grundsätzlich unser Wissen. Diese Tatsache gilt unabhängig vom Intellekt. Durch die Reflexionsangebote des Coach werden diese „Begrenzungen” perturbiert (positiv verstört) und idealerweise überwunden. Die Reflexionsangebote des Coach innerhalb der einzelnen Prozessphasen unterstützen die Wirkungsabsicht jeder einzelnen Phase, indem sie auf einer abstrakten Ebene Angebote bereitstellen, aus denen der Coachee Verhaltensalternativen ableitet (deduktive Ebene). Der Coach gestaltet als Prozessverantwortlicher über seine Angebote die deduktive Ebene des Coachingprozesses. Das gekonnte Zusammenspiel zwischen deduktiver und induktiver Ebene bewirkt, dass der Coachee eine nachhaltige Selbstlernkonzeption erreicht. Hinweis — Abhängig von der wissenschaftlichen Legitimation der Vorgehensweise sind andere Ablaufstrukturen möglich. Die Unterschiede werden in der Regel gering sein, da die hier gewählte Ablaufstruktur auf dem Extrakt der Erkenntnisse verschiedener Wissenschaften und Theorien basiert. Modifizierbar ist die Abstraktionsebene, die mit frei wählbaren und wissenschaftlich überprüfbaren Modellen gestaltet werden kann. Zu beachten ist, dass die Verwendung eines Reflexionsangebotes auf Abstraktionsebene sich am Sinn der einzelnen Phasen orientiert. Die Phasen im Coachingprozess Der Leser kann die nun folgenden, grundsätzlichen Ausführungen auch in den beiden dokumentierten Coachings nachvollziehen. 1. Phase „Kontakt und Kontrakt“ Vor dem eigentlichen konkreten Coaching findet ein Kontakt zwischen Coach und Coachee statt. Es entsteht ein Kommunikationskontext, aus dem heraus der Coachee, aber auch der Coach die Entscheidung für eine Zusammenarbeit trifft. Diese Entscheidung mündet in einen formalen Vertrag in mündlicher oder schriftlicher Form. Aspekte der Phase Vorstellung und Erwartung Coach und Coachee stellen sich vor und erschaffen einen Kommunikationskontext. Sie bauen die Beziehung auf. Der Coach kann aus Informationen seines Coachee, zu denen auch ein grober Lebenslauf gehören kann, auf Werte seines Coachee schließen, die er in den Kommunikationskontext integriert und bereits jetzt zur Hypothesenbildung nutzen. Der Coach erwartet (erwartet vgl. „erwertet“ — einen Wert beanspruchen), dass der Coachee die Verantwortung für seine Lösungsentwicklung und sein Ergebnis selbst übernimmt. Der Coachee hat vielleicht gegenteilige Vorstellungen. Diese Erwartungen abzugleichen und daraus eine Entscheidung für ein Coaching oder etwas anderes abzuleiten sind ein wichtiger Aspekt dieser Phase und rechtlich ein Teil des Vertrages (Kontrakt). Coachingablauf, Verantwortungsbereiche und Kommunikationskontext vereinbaren Im Coaching trägt der Coach die Verantwortung für den Prozess. Der Ablauf des Coachings orientiert sich an den Phasen des Prozesses und ist Ausdruck der Wirkungserwartung. Für die Einhaltung des Coachingprozesses trägt der Coach die Verantwortung. Für den Coachee bedeutet das, dass er seinem Coach im Rahmen der Prozessverantwortung Autorität zubilligt, ohne dass die Werte von Coaching davon beeinträchtigt werden. Aus den Werten von Coaching leitet sich auch die Lösungs- und Ergebnisverantwortung des Coachee ab. Die Vereinbarung von Coach 114

und Coachee auf den Coachingprozess und die Teilung der Verantwortlichkeiten sind grundsätzliche Bestandteile des Vertrags, den beide Parteien zum Coaching schließen. Die Werte des Kontextes Coaching sind für Coach und Coachee eine Orientierung für ihr Verhalten während des Coachings. Demzufolge sind die Werte auch Werte des Kommunikationskontexts im Coaching und stellen eine qualitative Grundlage für die Beziehung zwischen Coach und Coachee dar. Hinweis — Die Aufteilung von Verantwortung, die Orientierung an Werten bei der Bildung eines Kommunikationskontexts sowie die Wahl der Methode sind vergleichbar mit dem Beziehungsaufbau in anderen Branchen, z.B. Arzt-Patient, Anwalt-Mandant, Lieferant-Kunde u.a. Thema und Veränderungswunsch skizzieren Damit auch der Coach seine Kompetenz in Bezug auf das Anliegen seines Coachee bewerten kann, und auch zur Vorbereitung auf das konkrete Coaching, skizziert der Coachee sein Thema und den Veränderungswunsch. „Skizzieren“ bedeutet, dass der Coachee in wenigen Worten sein Anliegen umreißt. Diese Phase endet mit dem formalen Abschluss des Coachingvertrages. Hinweis — Diese Phase kann auch zeitlich getrennt vor dem konkreten Coaching stattfinden. Wirkungserwartung dieser Phase Coaching ist eine Dienstleistung, an die alle Beteiligten Erwartungen stellen. Da der Begriff Coaching konstruktivistisch gedeutet wird, darf ein identisches Verständnis nicht unterstellt werden. Über die Klärung der Erwartungen und die saubere Bearbeitung aller Aspekte dieser Phase wird eine Beziehung zwischen Coach und Coachee aufgebaut. Die Phase Kontakt und Kontrakt erschafft den empathisch-dramaturgischen Kontext, um eine nachhaltige Selbstlernkonzeption zu erreichen. Der Coachee wird in den Vertrag einwilligen, wenn er die Werte von Coaching attraktiv findet. Auf diese Weise wird auch intrinsische Motivation für das Coaching ausgelöst. Zentrale Handlungen des Coach • Strukturen zum formalen Vertrag anbieten (Abstraktionsebene), z.B. variable Vertragsbestandteile wie Ort, Termin, Dauer, Zahlungsweise • Hypothesen in Bezug auf das vom Coachee skizzierte Thema bilden • Kommunikationskontext gestalten 2. Phase „Thema- und Zielklärung“ Nachdem durch die Phase „Kontakt und Kontrakt“ der Kontext für Coaching etabliert ist, findet jetzt das konkrete Coaching statt. Ein Coaching folgt immer einem Coachingthema. Wird der Zusammenhang des Themas visualisiert, sprechen wir von einem thematischen Kontext. Aspekte der Phase „Ist-Zustand aufnehmen/Thema schriftlich fixieren und visuell systemisch aufstellen“ Die erste Aktivität im Coaching ist die schriftliche Fixierung des Themas durch den Coachee. Er vergibt seinem Anliegen mit einem oder max. zwei Worten eine Überschrift und fokussiert so sein Interesse auf das Coaching. Durch die Reduktion auf ein Wort wird sichergestellt, dass die Themenformulierung des Coachee keinen (versteckten) Lösungshinweis enthält. Ein Lösungshinweis kann eine Analyse und Lösungsmuster beinhalten, das sich innerhalb des thematischen Kontextes des Coachee nicht bewährt hat und eine Wahrnehmungserweiterung einschränkt. Tipp — Besonders geeignet dafür sind Flipchartblätter, die während der gesamten Coachingdauer dauerhaft sichtbar aufgehängt werden. 115

Visuell systemisch aufstellen Ein Coachingthema folgt selten einer linearen „Wenn-Dann-Logik“. Es ist vernetzt und unterliegt wechselseitigen Abhängigkeiten. Der Coachee konstruiert Zusammenhänge und Bedeutungen. Die Visualisierung im thematischen Kontext bildet das System des Coachee (System: das Zusammengesetzte), also die konstruierten Zusammenhänge und Bedeutungen, die der Coachee mit seinem Thema verbindet. Der Coachee nimmt sein System nicht im Sinne einer systemtheoretischen Vollständigkeit wahr — er interpretiert seine Wahrnehmung vor dem Hintergrund der Zusammenhänge und Bedeutungen, die die am Thema beteiligten Faktoren für ihn haben. Insofern visualisiert er (nur) Kontexte. Hinweis — Systemtheoretische Überlegungen entsprechen der Betrachtung und Deutung durch eine dritte Instanz. Systemisches Coaching hat als Betrachtungs- und Deutungsbezug immer die Einzelfallsituation des Coachee, seiner Person und seiner Veränderungsthematik durch ihn. Daher akzeptiert und bearbeitet systemisches Coaching grundsätzlich individuelle Anforderungen und Deutungen der thematischen Bezüge eines Menschen unter dem Aspekt des Konstruktivismus (gefühlte Objektivität des Subjekts). Der Coachee betrachtet keine Systeme im systemtheoretischen Sinn — er betrachtet aus sich heraus Zusammenhänge und deutet sie. Diese Zusammenhänge bilden den Kontext. Wie der Coachee den Kontext bzw. die systemischen Zusammenhänge seines Veränderungsthemas wahrnimmt, wird in der visuellen Aufstellung deutlich. Benötigtes Material zum visuell-systemischen Aufstellen Für die Visualisierung haben sich runde Moderationskarten bewährt. Sie sind in verschiedenen Farben und Größen erhältlich. Doch auch ganz alltägliche Gegenstände eignen sich. Bis hin zu Figuren. Wichtig ist auch hier, dass der Coachee die Freiheit in der Wahl der Farben und Karten hat. Zusätzlich werden verschiedenfarbige Moderationsstifte zur Beschriftung der Karten benötigt. Runde Karten haben den Vorteil, dass der Coachee nicht zu symmetrischen Anordnungen verleitet wird, was bei eckigen Karten leicht passieren kann. Vorteile des visuell-systemischen Aufstellens a) Hypothesenbildung Der Coach erhält einen Einblick in die Art und Weise, wie sein Coachee seinen thematischen Kontext wahrnimmt. Er kann sehen und anhand der konkreten Wortwahl des Coachee hören, wer und was aus Sicht seines Coachee am Thema beteiligt ist und seinen Coachee fragen, welche (subjektive) Bedeutung einzelne Bestandteile des Themas haben und welche Zusammenhänge er wahrnimmt. Die Klärung von Bedeutungen und Bedeutungszusammenhängen ist die Grundlage jeder Hypothesenbildung des Coach, da er, um der Gefahr der Assoziation zu entgehen, nur und allein Hypothesen basierend auf der Deutung seines Coachee bilden darf. Hinweis — Die Hypothesenbildung orientiert sich an wissenschaftlich überprüfbaren Theorien, Modellen, Axiomen und Definitionen. Auch in der Phase „Thema- und Zielklärung“ nutzt der Coach Modelle auf Abstraktionsebene, um seinem Coachee die Möglichkeit zu geben, aus diesem oder aus diesen Angebot(en) zur Reflexion abzuleiten, was zu seinem Thema gehört. Ein einfaches Modell hierfür ist die Themenzentrierte Interaktion, TZI. Die Orientierung an einem Modell stellt sicher, dass der Coach nicht aus sich heraus, also assoziiert, eine Struktur anbietet. Tipp — In dieser Phase kann der Coach den Coachee irritieren, um eine Reflexion in Bezug auf die Bedeutung und den Zusammenhang auszulösen und damit einen Beitrag zur Wahrnehmungserweiterung seines Coachee zu leisten. Die Irritation kann durch Wegnahme oder Verschieben einzelner Karten oder eine hypothetische Frage geschehen. Dieser Vorgang klärt Bedeutungen und Zusammenhänge und verbessert dadurch die Hypothesenbildung. Eine Irritation ist eine Handlung innerhalb des vereinbarten Kommunikati116

onskontextes. Ist sie nicht Teil der Vereinbarung, so kann der Coach dem Coachee seine Absicht bekanntgeben und dem Coachee, orientiert am Wert Freiwilligkeit, ein Angebot zur Entscheidung machen. Beispiel — Darf ich Sie einmal irritieren? b) Ressource für Interventionen Im Verlauf des Coachingprozesses kann jederzeit auf die Aufstellung zurückgegriffen werden. Eine besondere Bedeutung erhält die Aufstellung hier als Ressource für spätere zirkuläre Fragen. c) Dokumentation Über die visuelle Aufstellung erhalten Coach und Coachee ein Bild der Ausgangssituation. Tipp — Zur Dokumentation des Coachingverlaufs kann der Coach seinen Coachee bitten, selbst seine Aufstellung nach jedem Entwicklungsschritt zu fotografieren. d) Flexibilität Im Gegensatz zu fixierten Visualisierungen, wie z.B. ein Mindmap, ist die systemische Visualisierung lose auf dem Tisch oder auf dem Boden. Sie ist flexibler, da zu jedem Zeitpunkt eine Veränderung durch den Coachee oder eine Irritation durch den Coach vorgenommen werden kann. Grundform der visuellen Aufstellung Nach der schriftlichen Fixierung des Themas wird der Coachee gebeten, sein Thema als beschriftete Karte in den Mittelpunkt zu legen. Zusätzlich ist es auch möglich, dass sich der Coachee als „Ich” zum Thema dazulegt. Anschließend erhält er die Aufforderung, alles, was aus seiner Sicht am Thema beteiligt ist, darzustellen und die Bedeutungen, die die „Beteiligten” für sein Thema haben, in geeigneter Form zu visualisieren. Das kann z.B. durch unterschiedliche Größe und Farbe der Moderationskarten geschehen oder durch Abstände zum Mittelpunkt. In der Grundform visualisiert der Coachee zunächst aus sich heraus (induktiv) seinen Kontext. Die Wahrnehmungserweiterung wird gefördert, indem der Coach anschließend ein Modell mit seinen Elementen anbietet, aus dem der Coachee zusätzlich Zusammenhänge ableiten kann (siehe die beiden Coachingdokumentationen). Exemplarische Inhalte der visuellen Aufstellung 1. Der Coachee wird gebeten, alles, was aus seiner Sicht zu seinem Veränderungsthema (thematischer Kontext) gehört, zu visualisieren und dabei individuelle Bedeutungen einzelner Elemente für sein Thema in geeigneter Form darzustellen. 2. Der Coachee erhält eine Grafik des Modells mit kurzer Erläuterung und wird gebeten, sich in der Aufstellung zusätzlich daran zu orientieren. 3. Alternativ nutzt der Coach seine Ressource, z.B. „TZI“ (Gedächtnisleistung), um daraus geeignete Fragen zur „Vollständigkeit“ der Visualisierung abzuleiten. 4. Alternativ erhält der Coachee die vollständigen einzelnen Elemente des gewählten Modells, z.B. der TZI, als Karten, trifft selbst eine Auswahl und orientiert sich daran bei der Visualisierung. 5. Der Coach hinterfragt Bedeutungen und Zusammenhänge der visualisierten Elemente und der vom Coachee verwandten Worte. 6. Der Coachee selbst deutet, welche unterschiedlichen Kontexte mit seinem Thema verbunden sind. Angebote auf Astraktionsebene in der visuellen Aufstellung Aus dem zur Wahrnehmungserweiterung angebotenem Modell leitet der Coachee ab, was konkret noch mit seinem Veränderungsthema zusammenhängt, und visualisiert es. Die im Rahmen der Prozessverantwortung zu treffende Auswahl, welches Modell angeboten wird, geschieht be117

reits in der Phase „Kontakt und Kontrakt”. Aus der skizzierten Beschreibung des Themas durch den Coachee entscheidet der Coach, welches abstrakte Angebot er zur Unterstützung der visuellen Aufstellung nehmen kann. Als hilfreiche Angebote haben sich in der Praxis bewährt ... • das „neue St. Galler Management-Modell” Als Strukturangebot eignet sich dieses Modell besonders für Themen im unternehmerischen Kontext, da es die (systemischen) Zusammenhänge einer Unternehmung beschreibt und sowohl auf ein Unternehmen als auch auf den Einzelnen im Kontext Unternehmen angewandt werden. • Das „10-Felder-Modell” Als Strukturangebot eignet sich dieses Modell besonders für Themen im persönlichen Kontext, da es die Einflüsse auf das psycho-biologische Wohlbefinden beschreibt (Work-LifeBalance). • Das Modell der „Themenzentrierten Interaktion (TZI)” nach RUTH COHN Als Strukturangebot eignet sich dieses Modell besonders für Themen, die einen Konflikt im Kontext mit anderen beschreiben.

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Teilkontexte bilden und Zusammenhänge und deren Bedeutung erkennen Nachdem der Coachee durch die Unterstützung einer der drei genannten Modelle seine Wahrnehmung des Themas erweitert und dadurch in der Regel noch weitere „Systempartner” visualisiert hat, wird er gebeten, alle Teile der visuellen Aufstellung nach Zusammenhang und Bedeutung zu bewerten. Es werden eine angemessene Zahl von Teilkontexten entstehen. Soweit sich in einem Teilkontext viele beschriftete Karten befinden, ist es ratsam, diese mit einem Oberbegriff zu ordnen. Jede einzelne Karte oder der Oberbegriff tangieren nach der Zielfestlegung als systemische (Ziel-)Erreichungsmerkmale. Zielformulierung und systemische Zielerreichungsmerkmale schriftlich fixieren Ein Ziel ist die bewusst angestrebte Befriedigung der eigenen Bedürfnisse zu einem bestimmten Zeitpunkt. Der Begriff Ziel impliziert eine abgeschlossene Veränderung. Im Coaching organisiert der Coachee diese Veränderung selbst, identifiziert Ressourcen, formuliert alternative Handlungen in der Phase „Entwicklung und Auswahl von Verhaltensmöglichkeiten“ und bewertet sie in der Phase „Controlling und Abschluss“. Mit der Formulierung des Ziels seines Veränderungswunsches (Thema) startet der Coachee seine Selbstorganisation. Der Coachingprozess ist der strukturierte Ablauf, der ihn dabei unterstützt. Die Zielformulierung Das Ziel des Coachee muss mit seinen Bedürfnissen im Einklang stehen, da sonst die Gefahr besteht, dass der Coachee wohl eine kognitive Einsicht hat, also die Notwendigkeit einer Veränderung formuliert, emotional jedoch keine Verbindung zum Ziel hat, das heißt, eine Unlust verspürt. Die emotionale Bindung an das Ziel löst Motivation aus und wird inhaltlich durch folgende Komponenten unterstützt: Emotionale Dimension der Zielformulierung Sinnstiftend — Das heißt, der Coachee formuliert sein Ziel positiv. Anspruchsvoll — Das heißt, der Coachee empfindet den Anspruch an die eigene Leistung, die er mit dem Ziel verbindet, als motivierend. Anspruchsvoll bedeutet auch, unter Anstrengung erreichbar (identitätsstiftend). Attraktiv — Das heißt, der Coachee empfindet den Kontext, den er mit der Realisierung seines Ziels verbindet, als attraktiv bzw. für die eigenen Motive anreizend. Selbst erreichbar — Das heißt, der Coachee bewertet seine Selbstwirksamkeit im Hinblick auf sein Ziel, empfindet das Ziel als in Verbindung mit den eigenen Ressourcen stehend und von ihm aus eigener Kraft erreichbar (psycho-biologisches Wohlbefinden). Realistisch — Das heißt, der Coachee bewertet das Ausmaß potenzieller Probleme, die in Verbindung mit seinem Ziel stehen könnten, als für ihn überwindbar. Strukturelle Dimension der Zielformulierung Auf der kognitiv strukturierenden Ebene muss das Ziel folgenden Merkmalen genügen: Adressat — Das heißt, die Zielformulierung enthält einen Empfänger. Im Coaching ist der Adressat immer der Coachee als Verantwortlicher für sein Ziel. Beispiel — „ich“ Zeit — Das heißt, die Zielformulierung enthält einen konkreten Zeitpunkt zu dem das Ziel erreicht ist. Dieser Zeitpunkt wird grammatikalisch als eine in der Zukunft abgeschlossene Handlung ausgedrückt. Im Deutschen entspricht das dem Futur II (siehe Abstract Motivationspsychologie — Motive und Motivation). Beispiel — „… werde am 7.12.2010 … erreicht haben“ Quantität — Das heißt, die Zielformulierung enthält eine Beschreibung zur Menge oder Anzahl. 121

Beispiel — „… eine Entscheidung …“ Qualität — Das heißt, die Zielformulierung enthält eine Beschreibung der Eigenschaften bzw. der Güte oder Anforderungen des Ziels. Beispiel — „ … effiziente Strategie …“ Kontextueller Bezug — Das heißt, die Zielformulierung enthält den Kontextbezug. Beispiel — „… meine Mitarbeiter …“ Die emotionalen und strukturellen Komponenten der Zielformulierung werden dem Coachee auf Abstraktionsebene angeboten. Er selbst formuliert und überprüft dahingehend sein Ziel. Beispiel — Ich (Adressat) werde am 7.12.2011 (Zeit) selbst (kontextueller Bezug) meine (Quantität) berufliche Zukunft gestaltet (Qualität) haben. Tipp — Mit Skalierungsfragen können die emotionalen Komponenten hinterfragt werden. Systemische Zielerreichungsmerkmale Das Ziel des Coachee steht im thematischen Kontext, in dem es realisiert werden soll. Die Reflexion über Interessen aller am Kontext beteiligten Teile (Menschen, Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte, Interaktionen u.v.m.) beeinflusst die Veränderungsabsicht, die der Coachee mit seinem Ziel verbindet. Gleichzeitig wird das Ziel systemisch messbar, da der Coachee Merkmale (systemische Teile der Visualisierung) zur Selbstkontrolle formuliert. Durch eine systemische Reflexion des Ziels innerhalb des in der Visualisierung aufgenommenen Kontextes oder der Kontexte wird die Wahrnehmung erweitert und die Entscheidungsfähigkeit gefördert. Vorteile systemischer Zielerreichungsmerkmale Der Coachee setzt sich mit den Interessen seines thematischen Kontextes auseinander und gewinnt ... Motivation, da er reflektiert, welche Bedeutung die Erreichung seines Ziels für jeden Teil seines Kontextes hat, und spürt, welche systemischen Vorteile mit der Zielerreichung verbunden sind; Erkenntnis in Bezug auf mögliche Interessenkonflikte, da er sein Ziel mit den Interessen seines Kontextes vergleicht. Gegebenenfalls revidiert er sein Ziel; Erste Ideen, welche Verhaltensalternativen zur Zielerreichung hilfreich sein könnten; Merkmale zur Selbstkontrolle, an denen er seine Zielerreichung messen kann. Grundform systemischer Zielerreichungsmerkmale Zur Reflexion des Ziels in Bezug auf alle Teile des Kontexts bedienen sich die Zielerreichungsmerkmale der zirkulären Frage, kombiniert mit einer hypothetischen Frage. Die hypothetische Frage versetzt den Coachee in den Zustand der Annahme, sein Ziel ist erreicht, und fördert eine Auseinandersetzung mit der Zukunft. Die zirkuläre Frage, die sich auf das Zielerreichungsmerkmal bezieht, leitet den Perspektivwechsel ein und dissoziiert den Coachee. Die Angebote zum Perspektivwechsel greifen sämtliche Teile der visuellen Aufstellung auf, das heißt, alle dort visualisierten Teile oder Kontexte sind Gegenstand von zirkulären Fragen, die zu den Zielerreichungsmerkmalen führen. Beispiele „Einmal angenommen, Ihr Ziel (Zielformulierung wiederholen) ist erreicht, woran kann die Karte „Mitarbeiter“ das erkennen?“ Alternativ „Woran kann die Karte ‚Mitarbeiter’ erkennen, dass Sie Ihr Ziel erreicht haben?“ In beiden Fällen antwortet die Karte Mitarbeiter, was sie erkannt hat. In der Regel wird dies die Beschreibung einer Aktion oder eines Zustands sein. „Welche Bedeutung hat es für die Karte „Mitarbeiter“, dass Sie Ihr Ziel erreicht haben?“ (Das Ziel bezieht sich auf den gesamten Veränderungskontext) Alternativ „Welche Bedeutung hat dieser Zustand bzw. diese Handlung für die Karte „Mitarbeiter?“ (Der Zustand bzw. die Handlung bezieht sich auf die Interessen der Karte) Alternativ „Welche Bedeutung hat dieser Zustand 122

bzw. diese Handlung für Sie und für Ihre Mitarbeiter?“ (Der Zustand bzw. die Handlung bezieht sich auf die Beziehung zwischen der Karte und dem Coachee — siehe Grundeinsicht 8 der Führung im Abstract Führungswissen für den Führungsalltag) Es gibt drei Absichten, die mit den Zielerreichungsmerkmalen verbunden sind: 1. Systemische Reflexion des mit der Zielerreichung verbundenen eigenen Verhaltens („Woran kann die Karte „Mitarbeiter” erkennen, dass Sie Ihr Ziel erreicht haben?“) 2. Systemische Reflexion der mit der Zielerreichung verbundenen Folgen („Welche Bedeutung hat dieser Zustand bzw. diese Handlung für die Karte ‚Mitarbeiter’?“) 3. Schriftliche Fixierung von konkreten Handlungen bzw. Zuständen und Bedeutungen (Erreichungsmerkmale) zur späteren Entwicklung des Handlungsplans. Jede mit der Realisierung des Ziels verbundene Handlung wirkt sich systemisch auf jedes Teil des thematischen Kontextes aus und ist daher durch diese Teile beobachtbar. Zielerreichungsmerkmale, die mithilfe des Perspektivwechsels ermittelt wurden, beschreiben diese beobachtbaren Veränderungen. Der spätere Handlungsplan zur Zielerreichung orientiert sich an diesen Merkmalen. Die Werte von Coaching bedingen, dass der Coachee selbst die Reihenfolge in der Bearbeitung der systemischen Zielerreichungsmerkmale vorgibt. Tipp — Zur verbesserten Auseinandersetzung mit dem Ziel und zur permanenten Visualisierung ist es empfehlenswert, die Zielerreichungsmerkmale auf Flipcharts durch den Coachee visualisieren zu lassen. Die Verwendung unterschiedlicher Farben zur Visualisierung von Verhalten und Bedeutungen erleichtert dem Coachee die Wahrnehmung von Unterschieden und gibt dem Schriftbild eine nachvollziehbare Struktur. Eine große Menge von Teilen in der Visualisierung kann durch die Bitte an den Coachee, Elemente sinnvoll zusammenzufassen, reduziert werden. Elemente, die keine Person darstellen, können mithilfe der hypothetischen Frage für einen Perspektivwechsel aufbereitet werden. Beispiel: „Einmal angenommen, auch Ihr Wert Gerechtigkeit ist in der Lage zu erkennen, dass Sie Ihr Ziel (Ziel wiederholen) erreicht haben, woran…“ Wirkungserwartung dieser Phase Die Phase „Thema- und Zielklärung” verfolgt die Anliegen, die Wahrnehmung des Coachee zu erweitern, und die Fertigkeit, das Veränderungsvorhaben auszuprägen. Sie ist das „systemische Mindmap“ des Coachee. Durch die Auseinandersetzung mit seinem System, mit Bedeutungen und Zusammenhängen, wird auch die Entscheidungsfähigkeit für neue Handlungen gefördert. Gleichzeitig ist sie ein „Themenspeicher“ für Handlungen, die im Rahmen der Selbstlernkonzeption zu berücksichtigen sind. In dieser Phase können bereits erste Verhaltensalternativen entstehen. Zentrale Handlungen des Coach • Hypothesen in Bezug auf Zusammenhänge mit dem Veränderungsthema bilden, • Strukturen anbieten (Abstraktionsebene), z.B. durch Strukturangebot zur Visualisierung oder die Komponenten eines Ziels, • Ziel formulieren lassen, • Systemische Zielerreichungsmerkmale und Bedeutung für die Zielerreichung visualisieren lassen, • Erkenntnisse des Coachee am Ende der Phase abfragen.

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3. Phase „Ressourcenidentifikation” Ressourcen sind alle Mittel, die dem Coachee zur Verfügung stehen und auf die er zurückgreifen kann, um sein Ziel zu erreichen. Coaching baut darauf auf, dass die Lösung im Coachee liegt und der Coachee über die Ressourcen verfügt, sein Ziel selbst zu erreichen. Sind diese Ressourcen dem Coachee bewusst, so kann er sie in nachfolgenden Phasen selbst organisieren, um sein Ziel und die damit verbundenen Erreichungsmerkmale zu realisieren. Ressourcen werden hypothesengeleitet ermittelt. Aus den zu Beginn der Phase „Ressourcenidentifikation“ bestehenden Hypothesen leitet der Coach abstrakte Angebote ab, um dem Coachee zu ermöglichen, Ressourcen zu identifizieren. Da dem Fragen eine Hypothese zugrunde liegt, geht der Frage nach Ressourcen eine geschlossene Frage zur Entscheidung durch den Coachee voraus: Beispiel — „Hat Ihr Thema etwas mit Motiven zu tun?“ Aspekte der Phase Motive, Bedürfnisse, Werte, Gefühle im Kontext ermitteln Ein Veränderungsthema betrifft nie nur die Sachebene. So wie ein Mensch die Entscheidung für ein Verhalten, orientiert an seinen Motiven, Bedürfnissen, Werten und Gefühlen, in Verbindung mit reflektiertem Wissen trifft, so verbindet auch der Coachee sein Thema damit. Eine Hypothesenbildung wird daher immer auch Theorien, Modelle und Axiome beinhalten, die Motive, Bedürfnisse, Werte und Gefühle beinhalten (siehe Abstract Psychologie der Entscheidung). Hypothesen geleitet Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten im Kontext ermitteln Coaching führt den Coachee von einem Kompetenz-Ist-Zustand zu einem Kompetenz-Soll-Zustand. Insofern ist das hier verwandte Kompetenzmodell generischer Bestandteil der Hypothesenbildung. Analog zum Kompetenzmodell beinhalten Ressourcen Wissen über den Kontext, z.B. Wissen über Werte des Kontextes und Interessen anderer Beteiligter. Die Ressourcen der persönlichen Kompetenz sind Wissen über eigene Motive, Bedürfnisse, Werte und Gefühle. Die Ressourcen der fachlich-methodischen Kompetenz beinhalten Funktionswissen, Fachwissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kenntnisse über Methoden (Abläufe, Vorgehensweisen) im Kontext. Die Ressourcen der Feldkompetenz beinhalten spezifisches Branchenwissen und Wissen über die Kultur des Unternehmens bzw. die Werte des thematischen Kontextes. Die Ressourcen der sozio-kommunikativen Kompetenz beinhalten die Fähigkeiten und Fertigkeiten, einen Kommunikationskontext zu gestalten, sowie Wissen um die Motive, Bedürfnisse, Werte, Gefühle der anderen Beteiligten. Diese eher betriebswirtschaftlich orientierte Ausdrucksweise lässt sich aufgrund ihres Abstraktionsgrades auch einfacher ausdrücken: Beispiel — Thema „Konflikt“ Kontext Was wissen Sie über die Interessen anderer Beteiligter (analog zur visuellen Aufstellung)? Was wissen Sie über das, was im Zusammenhang mit Ihrem Thema (die Kontexte der visuellen Aufstellung) wichtig bzw. bedeutungsvoll (die Werte der Kontexte) ist? Fachliche Kompetenz Was wissen Sie über Konflikte? Welche Strategien (Abläufe, Verfahrensweisen) zur Bearbeitung von Konflikten kennen Sie? Feldkompetenz Was wissen Sie darüber, wie in Ihrer speziellen Situation (in Ihrem Unternehmen, in Ihrer Familie — siehe visuelle Aufstellung) Konflikte gehandhabt werden?

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Sozio-kommunikative Kompetenz Was wissen Sie über die Motive, Bedürfnisse, Werte, Gefühle des oder der anderen, die am Konflikt beteiligt sind? Persönliche Kompetenz Was sind Ihre eigenen Motive, Bedürfnisse, Werte (Was ist Ihnen wichtig? Was ist für Sie von Bedeutung?), Gefühle? Ressourcen aus anderen Kontexten Der Coachee verfügt über Ressourcen. Dieser Wert des Coaching bedeutet auch, dass Ressourcen vorhanden, eventuell aber durch den Coachee bisher nicht kreativ aus anderen Kontexten auf sein Thema übertragen worden sind. Diese Kontexte können auch zeitlich in der Vergangenheit liegen. Beispiel — Eine Mutter oder Vater, die eigene Kinder erziehen, führen ihre Kinder. Die Erfahrung aus diesem Kontext kann in den Kontext eines Veränderungsthemas „Führung“ übertragen werden. Coach In welchen Situationen außerhalb Ihres Unternehmens führen Sie ebenfalls? Coachee In der Familie. Coach Welche Erkenntnisse (ergänzend Methoden) haben Sie da über Führung gewonnen? Coachee Kinder brauchen klare Regeln. Coach Können Sie diese Erkenntnis auch als Ressource für Ihr Thema nutzen? Bisheriges Analyse- und Lösungsverhalten im thematischen Kontext identifizieren Unabhängig davon, ob der Coachee sich durch das Coaching auf eine unbekannte Situation vorbereiten will oder sein Veränderungsthema einem aktuellen Kontext entspricht, hat der Coachee selbstorganisiert sein bisheriges Analyse- und Lösungsverhalten auf sein Thema angewandt. Dieses Verhalten hat der Coachee entweder übernommen, da er damit bisher in anderen Kontexten erfolgreich ist oder er hat es konstruiert, da er annimmt, damit erfolgreich zu sein. Die bisherigen Analyse- und Lösungsstrategien sind eine Ressource, da der Coachee auf sie zurückgreift. Aus diesem Grunde müssen sie identifiziert und damit für den Coachee wahrnehm- und bearbeitbar gemacht werden. So reduziert sich die Wahrscheinlichkeit, dass der Coachee erneut auf ein Analyse- und Lösungsverhalten zurückgreift, das misserfolgreich war. Das bisherige Verhalten entspricht im Kompetenzmodell der Handlungskompetenz. Der Coach identifiziert dieses Verhalten durch Fragen. Beispiel — Wie sind Sie bisher an das Thema herangegangen? Hinweis — Der Begriff „Verhaltensalternative“ bezieht sich auf das ursprüngliche Analyse- und Lösungsverhalten. Im Coaching wird die Wahrnehmung erweitert, sodass der Coachee Alternativen zu seinem bisherigen Verhalten finden kann. Bewertung der Ressourcen im Kontext Wahrnehmung basiert auf der Wahrnehmung von Unterschieden. Durch die Bewertung seiner Ressourcen kann der Coachee ableiten, welche Ressourcen für sein Thema zur Verfügung stehen und welche Ressourcen er gegebenenfalls aktualisieren oder neu erwerben muss. Hinweis — Die Aktualisierung der Ressourcen kann ein Teil der Selbstlernkonzeption sein. Erkenntnisse des Coachee sollten durch eine Visualisierung dafür verfügbar gemacht werden. Die Ableitung orientiert sich auch hier an der Abstraktionsebene, die der Coach innerhalb dieser Phase zur Verfügung stellt. Wird das Kompetenzmodell genutzt, so ergeben sich z.B. folgende Fragen des Coach: „Wie bewerten Sie Ihre Ressourcen in Bezug auf Ihre persönliche Kompetenz/fachlich-methodische Kompetenz/sozio-kommunikative Kompetenz?“ 125

„Wie bewerten Sie Ihr bisheriges Analyse- und Lösungsverhalten?“ Strukturelle Ressourcen aktualisieren Der Coach kann jedes wissenschaftlich überprüfbare Modell zur Hypothesenbildung nutzen. Beabsichtigt der Coach in Phase 4 „Entwicklung und Auswahl von Verhaltensmöglichkeiten“ diese Modelle dem Coachee als Reflexionsangebot anzubieten, so sind diese Modelle dem Coachee als strukturelle Ressource zu vermitteln. Strukturell, da der Coachee die Erklärungszusammenhänge des Modells lernt, nicht aber Inhalte oder Bewertungen. Wirkungserwartung der Phase „Ressourcenidentifikation“ Diese Phase bewirkt, dass der Coachee Ressourcen sammelt, auf die er zurückgreifen kann, um Handlungsalternativen zu entwickeln. Zentrale Handlungen des Coach • Strukturen zur Identifikation von Ressourcen anbieten. • Gegebenenfalls strukturelle Ressourcen anbieten. 4. Phase „Entwicklung und Auswahl von Verhaltensalternativen” In dieser Phase verknüpft der Coachee kreativ (siehe Abstract Kreativität) und selbstorganisiert seine Ressourcen mit seinem Veränderungsthema, um daraus Verhaltensalternativen für die Realisierung seines Ziels zu entwickeln. Aspekte der Phase Initialisierung der Selbstlernkonzeption Aus Phase 3 stehen dem Coachee reflektierte Ressourcen zur Verfügung. Die Leitfrage des Coach für diese Phase lautet auf der höchsten Abstraktionsebene: Wie müssten Sie Ihre Ressourcen organisieren bzw. zusammenzustellen, um Verhaltensalternativen zu entwickeln bzw. Ihr Ziel zu erreichen? Abhängig vom Abstraktionsvermögen des Coachee, den Ressourcen und dem Thema und den systemischen Zielerreichungsmerkmalen, leitet der Coach Angebote auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen ab, um dem Coachee die Verknüpfung seiner Ressourcen mit dem Veränderungsanliegen im Kontext zu ermöglichen. Beispiel — Welche Fähigkeiten könnten Sie zur Erreichung Ihres Ziels nutzen? • Wie müssten Sie diese Fähigkeiten organisieren? • Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Ihren Motiven und Ihrem Thema? • Was hat Ihr Thema mit Motiven zu tun? • Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Ihren Motiven und Ihrem Verhalten? • Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Ihren Werten und Ihrem Verhalten? • Was bedeuten die Werte Ihres Kontextes bzw. Ihres Gegenübers für Ihr Verhalten? • Welchen Zusammenhang gibt es zwischen dem Modell xyz (die strukturellen Ressourcen) und Ihrem Thema? Der Coach animiert den Coachee, das heißt, er gibt ihm ein Angebot auf Abstraktionsebene, seine jeweiligen Erkenntnisse in Verhaltensalternativen zu übersetzen. Tipp — Jede gefundene Alternative sollte in geeigneter Form visualisiert werden, da sie später für den Handlungsplan benötigt wird. Beispiel — Wie müssten Sie sich organisieren, um Ihr Ziel zu erreichen? Was müssten Sie anders machen, um Ihr Ziel zu erreichen? 126

In Phase 2 hat der Coachee systemische Zielerreichungsmerkmale formuliert. An ihrer Realisierung kann er selbst erkennen, ob er sein Ziel erreicht hat. Jedes Merkmal wird in dieser Phase durch den Coachee in Verbindung zu seinen Ressourcen gebracht, sodass er daraus Handlungsalternativen entwickeln kann. Der Coach animiert den Coachee, seine Ressourcen mit den Erreichungsmerkmalen zu verknüpfen und die so gewonnenen Verhaltensalternativen zu visualisieren. Integraler Bestandteil dieses Handelns ist es, Unterschiede wahrnehmbar zu gestalten, das heißt, den Ist-Zustand eines Zielerreichungsmerkmals aufzunehmen, sodass der Coachee die Leistung, die er zur Erreichung eines Merkmals erbringen muss, reflektieren kann. Beispiel — Erreichungsmerkmal: Ich werde gelassener sein. „Wie gelassen sind sie aktuell auf einer Skala von 1 bis 10, wobei 1 wenig und 10 sehr ist?“ Handlungsplan Der Coachee hat im Verlaufe des Prozesses Handlungsalternativen entwickelt und visualisiert. Ihm stehen damit neue Ressourcen zur Zielerreichung zur Verfügung. Mit dem Handlungsplan organisiert der Coachee die einzelnen Verhaltensalternativen so, dass er sie zeitlich koordiniert und selbstorganisiert umsetzen kann. Er entwickelt einen Handlungsplan. Analyse potenzieller Probleme Bei der Umsetzung des Handlungsplans in die Tat können potenzielle Probleme auftauchen, die der Realisierung entgegenstehen oder sie erschweren. Als Experte für sein Thema kann der Coachee, basierend auf seiner Erfahrung, diese Probleme gedanklich vorwegnehmen, bewerten und gegebenenfalls seine Ressourcen aktualisieren. Beispiel — für eine Frage nach potentiellen Problemen: „Gibt es mögliche Probleme, die bei der Umsetzung Ihres Plans auftauchen können?“ Tipp — Es ist empfehlenswert, an dieser Stelle auch zu überprüfen, ob der Plan wirklich im Einklang mit den eigenen Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen und Werten steht. Beispiel — „Gibt es mögliche Probleme bei der Umsetzung, wenn Sie an Ihre damit verbundenen Gefühle, Motive, Bedürfnisse und Werte denken?“

Ressourcen- und Planaktualisierung Potenzielle Probleme erfordern gegebenenfalls eine Aktualisierung der Ressourcen, das heißt, der Coachee verknüpft seine Ressourcen so, dass das Problem gelöst ist. Beispiel — auf hoher Abstraktionsebene Wie müssten Sie Ihre Ressourcen organisieren, um das Problem zu lösen? Selbstlernkonzeption des Coachee sichern Der Coachee hat im Verlauf des Coachings Erkenntnisse gewonnen bzw. seine Ressourcen aktualisiert. Diese Ressourcen stehen ihm damit auch für ähnliche oder vergleichbare Themen zur Verfügung. 127

Der Coach überprüft und sichert die Selbstlernkonzeption des Coachee, indem er ihn bittet, darüber zu reflektieren, in welchen Kontexten er seine Erkenntnisse ebenfalls verwenden kann. Beispiel — Wie können Sie Ihre Erkenntnisse aus dem Coaching auch auf ähnliche oder vergleichbare Kontexte übertragen? Wirkungserwartung der Phase „Entwicklung und Auswahl von Verhaltensmöglichkeiten“ In dieser Phase werden Ressourcen neu verknüpft und daraus wird eine Selbstlernkonzeption gebildet. Die Berücksichtigung von Motiven und Werten stellt sicher, dass der Coachee aus sich heraus motiviert ist, sein Ziel zu erreichen. In den vorangegangenen Phasen wurde die Wahrnehmung erweitert und die Entscheidungsfähigkeit gefördert, sodass der Coachee in dieser Phase in der Lage ist, selbstorganisiert Verhaltensalternativen zu entwickeln und auszuwählen. Zentrale Handlungen des Coach Angebote auf Abstraktionsebene zum Ableiten von Zusammenhängen machen. 5. Phase „Controlling und Abschluss“ Die Phase Controlling und Abschluss findet nach dem eigentlichen konkreten Coaching statt. Der Coachee hat in der vorangehenden Phase seine Erkenntnisse in einem Handlungsplan formuliert und überprüft jetzt die Umsetzung. Aspekte der Phase Motive und Werte zielgerecht bewerten Die Umsetzung des Handlungsplans beinhaltet, dass der Plan für die Motive und Werte des Coachee attraktiv ist bzw. in Einklang damit steht. Die in der Phase „Ressourcenidentifikation“ identifizierte Motive und Werte werden durch den Coachee mit dem Plan verglichen. Er bewertet, ob der Handlungsplan Motivation auslöst, sein in Phase 2 formuliertes Ziel zu erreichen. Gegebenenfalls erfolgt eine Wiederaufnahme des Coachings zu einem hier erkannten Thema. Verhaltensnachhaltigkeit feststellen Mit der Umsetzung des Handlungsplans ist zugleich ein Controlling verbunden. Das Controlling gewährleistet, dass die Umsetzung stattfindet, das heißt, dass sich das Verhalten des Coachee nachhaltig verändert. Zur Selbstkontrolle stehen dem Coachee die systemischen Zielerreichungsmerkmale zur Verfügung. Der Weg dorthin besteht jedoch aus einzelnen Handlungen des Handlungsplans, deren Ausführung ebenfalls durch den Coachee überprüft werden muss. Die zeitliche Terminierung innerhalb des Handlungsplans dient dabei als Messpunkt zur Umsetzungsüberprüfung. Der Coach kann als externe Instanz die Berichte der Umsetzungsüberprüfung durch den Coachee entgegennehmen, sofern der Coachee das mit dem Coach vereinbart. Wirkungserwartung der Phase „Controlling und Abschluss“ Nach dem Coaching nimmt der Coachee selbstorganisiert seine Verhaltensänderung vor. Er überführt sich selber in die Kompetenz, die er mit dem Ziel verbindet. Um Fortschritte in der Kompetenzentwicklung zu erkennen, benötigt er eine Feedbacksystematik, die ihm ermöglicht, Abweichungen festzustellen und seine Ressourcen neu zu organisieren. Das Umsetzungscontrolling unterstützt den Coachee beim Aufbau seiner Feedbacksystematik. Zentrale Handlungen des Coach Angebote auf Abstraktionsebene zum Ableiten eines Selbstcontrollings. Die Prozessverantwortung des Coach endet mit dieser Phase. 128

Die

tur des Coachingproze Struk s s es

Freiwilligkeit

Freiheit

1. Phase „„Kontakt und Kontrakt““ 1.1. Vorstellung und Erwartung 1.2. Coachingablauf, Verantwortungsbereiche und Kommunikationskontext vereinbaren 1.3. Thema und Veränderungswunsch skizzieren 2. Phase „„Thema- und Zielklärung““ 2.1. „„Ist-Zustand aufnehmen/Thema schriftlich  4-!(%+%,!)+##).)*$!) +)*##%3 !#&($+#!(+%+%).)*$!) !#  ((! +%)$("$#) (!*#! 4-!(%

           3.1. Motive, Bedürfnisse, Werte, Gefühle im Kontext ermitteln .'&* )%#!**!))%0 !"!*%  +%(*!"!*%!$&%*-*($!**#% 3.3. Ressourcen aus anderen Kontexten  !) (!) %#.)+%1)+%),( #*%  !$* $*!) %&%*-*!%*!4/!(% 3.5. Bewertung der Ressourcen im Kontext 3.6. Strukturelle Ressourcen aktualisieren

4. Phase: „„Entwicklung und Auswahl von Verhaltensalternativen““ %!*!#!)!(+%(#)*#(%"&%/'*!&% %#+%)'#%  %#.)'&*%/!##((&#$ ))&+(%+%#%"*+#!)!(+%  #)*#(%"&%/'*!&%) & )! (%

Nachhaltige Selbstlernkonzeption

5. Phase „„Controlling und Abschluss““ 5.1. Motive und Werte zielgerecht bewerten 5.2. Verhaltensnachhaltigkeit feststellen

Grundanliegen von Coaching: Wahrnehmungserweiterung, Handlungsalternativen, Entscheidungsfähigkeit +##%+)%%( & !%'(&/))%*)*%%!)*  Kepner-Tregoe-Methode, Selbstorganisiertes Lernen, Rubikon-Modell nach Heckhausen, Transfertheorien

Ressourcenverfügung

Selbststeuerung ©2010, Dr. Rolf Meier, Axel Janßen

6.7 Angebote auf Abstraktionsebene Taxonomiestufe Beispiel — 4 Kompetenzbereich Fachlich-methodische Kompetenz, Feldkompetenz Interagierende Kompetenzbereiche Persönliche Kompetenz, sozio-kommunikative Kompetenz Vernetztes Faktenwissen Coachingprozess, Verantwortlichkeiten im Coaching, Werte und Anliegen von Coaching, Fragearten, Frageabsichten, Wahrnehmung, Theorien, Modelle, Axiome u.a. Anwendungskontext(e) Konkrete Phasen im Coachingprozess Mögliche Transferkontexte Personalentwicklungsgespräch, Kindererziehung u.a. Unterstützende Wissenschaftsdisziplinen — dargestellt in den Abstracts Pädagogik, Logik, Entscheidungstheorie, Philosophie, Soziologie u.a. Feedbackmaßstab von Übungen Orientierung an den Kriterien zur Gestaltung von Methoden Feedbackmaßstab innerhalb der Handlungskompetenz 1. Orientierung an den Verantwortlichkeiten im Coaching 2. Orientierung an den Kriterien zur Gestaltung von Methoden

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Das Wesen von Veränderung Veränderung ist der (Über-)Lebenswille und/oder das Bedürfnis nach dem Besseren. Coaching selbst will eine „nachhaltige Selbstlernkonzeption“ erreichen, das heißt, der Coachee selbst legt fest, was für ihn das „Bessere“ ist, wo er es findet und welche Strategie er verfolgen wird. Seine Erkenntnisse kann er auf vergleichbare Situationen übertragen. Er lernt, sich selbst zu bewerten und zu deuten und wie er Bekanntes miteinander verknüpft, um das subjektiv „Bessere“ zu erreichen. Veränderung impliziert Lernen. Auf einer abstrakten Ebene benötigt ein Coach Modelle, Axiome und Definitionen, die Lernen abbilden. Der Coachingprozess als solcher ist ein Modell, das „Selbstlernen“ beschreibt. Durch die zeitliche und logische Abbildung wird das Modell des Selbstlernens zur zentralen Vorgehensweise des Coach. Die grundsätzliche Hypothese eines Coach, dass das Anliegen seines Coachee etwas mit Lernen zu tun hat, spiegelt sich im Angebot des Coachingprozesses wider. Ein Bedürfnis nach dem Besseren ist Ausdruck der Bewertung einer Situation durch den Coachee selbst. Jede Veränderung im Coaching ist daher auch eine Veränderung durch den Coachee selbst. Es geht darum, dass der Coachee Freiheitsgrade für seine Veränderung entdeckt. Freiheitsgrade sind enthalten ... • im thematischen Kontext des Veränderungsthemas Abhängig von der individuellen Erfassung und Wahrnehmung der Komplexität eines Kontextes werden Freiheitsgrade konstruiert. Je besser dem Coachee eine Erweiterung der Wahrnehmung eines Kontextes ermöglicht wird, desto eher wird er entscheiden können, welche Alternativen (Freiheitsgrade) er hat. • in der (emotionalen) Deutung und Bewertung des Kontextes Der Coachee bewertet einen Kontext aus seinen Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen und Werten heraus. Je besser der Coachee sich dahingehend selbst bewerten kann, desto eher wird er entscheiden können, welche Freiheitsgrade er in der Deutung und Bewertung eines Kontextes hat. • im Verhalten innerhalb eines Kontextes Der Coachee hat, um innerhalb eines Kontextes erfolgreich zu sein, Verhaltensstrategien entwickelt. Bewertet er diese Strategien als misserfolgreich, kann das ein Bedürfnis nach „Besserem“ auslösen. Je besser ein Coachee seine Verhaltensstrategien innerhalb eines Kontextes selber bewerten kann, desto eher wird er entscheiden können, welche Freiheitsgrade bzw. Alternativen er für sein Verhalten hat. Wenn dem Coachee ermöglicht werden soll, selbst zu lernen, so muss er über eine Möglichkeit verfügen, sein „Selbst“ strukturiert zu bewerten und in Bezug auf die Situation bzw. den Kontext seines Veränderungsthemas und seine Verhaltensstrategie zu deuten. Die Deutung und Bewertung der Anforderungen eines Kontextes durch den Coachee basiert auf seinen Ressourcen. Ressourcen sind das, worauf das der Coachee zurückgreift, um sich situativ erfolgreich zu verhalten. Aus der Kreativitätslehre (siehe Abstract „Kreativität”) ist bekannt, dass die Fähigkeit, neue Lösungen zu schaffen, nicht allein von der Motivation abhängt, sondern vor allem von der Fähigkeit, Bekanntes aus unterschiedlichen Kontexten zu Neuem zu verknüpfen. Reflexionsangebote auf Abstraktionsebene unterstützen die 3 zentralen Anliegen von Coaching und bieten dem Coachee an, auf der Ebene der Modelle und Axiome Erkenntnisse über Zusammenhänge seines Themas zu gewinnen und Wahlmöglichkeiten abzuleiten. Da der Coach diese Angebote nicht aus sich heraus, sondern auf Basis einer Hypothesenbildung, die sich an wissenschaftlich überprüfbaren Modellen orientiert, formuliert, besteht keine Gefahr der Bewertung des Coachee durch den Coach.

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Reflexionsangebote und Ressourcen Bildet der Coach eine Hypothese, so soll in Phase 4 „Entwicklung und Auswahl von Verhaltensalternativen“ aus der Hypothese ein Reflexionsangebot abgeleitet werden, das dem Coachee hilft, Zusammenhänge in Bezug auf sein Veränderungsthema selber abzuleiten. Voraussetzung für diesen deduktiven Vorgang ist die Verfügbarkeit von Ressourcen — Phase 3 „Ressourcenidentifikation” — des Coachee. Der Coachee konstruiert seine Ressourcen, indem er sie, bezogen auf sein Veränderungsthema, individuell deutet, bewertet und strukturiert. Die Hypothesen des Coach beziehen sich auf dieses Vorgehen des Coachee. Soll aus der Hypothese ein Reflexionsangebot folgen, so müssen die Ressourcen des Coachee in Bezug auf diese Hypothese erfasst werden. Gleichzeitig erhalten die Ressourcen eine Struktur, die dem Coachee ermöglicht, seine Ressourcen zu bewerten.

Orientiert z.B. an einer aus o.a. Kompetenzmodell gebildeten Hypothese „Möglicherweise hat das Thema etwas mit dem Kompetenzmodell zu tun“, werden Ressourcen wie Selbsteinschätzung als Person, fachlich-methodische, Feld-, sozio-kommunikative Erfahrung im Kontext des Veränderungsthemas und die bisherige Verhaltensstrategie identifiziert. Beispiel — Fragen nach Ressourcen, orientiert am Kompetenzmodell • Was wissen Sie über Anforderungen bzw. Sinn und Zweck des Kontextes? • Welche Werte gelten innerhalb des Kontextes? • Was sind Ihre eigenen Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen? • Was wissen Sie über Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte anderer Beteiligter? • Über welche fachlichen Kenntnisse und Fertigkeiten verfügen Sie in Bezug auf Ihren Kontext? • Was wissen Sie über Arbeitsabläufe/Methoden innerhalb Ihres Kontextes? • Was wissen Sie über (Ihre Branche) die Kultur innerhalb Ihres Kontextes? • Über welches spezifische Wissen in Bezug auf Ihr Thema verfügen Sie? • Verfügen Sie, orientiert am Kompetenzmodell, über Erfahrungen aus anderen Kontexten, die für Ihr Thema nützlich sind?

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Hinweis — Das Kompetenzmodell reflektiert über die „persönliche Kompetenz“ auch den Zusammenhang zwischen Motiv, Verhalten, Wert und Kontext. Je besser dem Coach diese Redundanzen bewusst sind, desto präziser kann er Ressourcen erfragen. Durch die konsequente, hypothesengeleitete Erfragung von Ressourcen erhält der Coachee eine Möglichkeit, a) sich seiner Ressourcen bewusst zu werden und b) seine Ressourcen strukturiert zu bewerten. Die Verfügbarkeit von Ressourcen ist die Voraussetzung für Reflexion. Der Wert „Ressourcenverfügbarkeit“, der autonomen Ansätzen zu eigen ist, ist abstrakt formuliert. Er bezieht sich darauf, dass der Coach davon ausgeht, dass sein Coachee auf konkret Vorhandenes zurückgreifen kann, um aus sich heraus eine nachhaltige Selbstlernkonzeption zu entwickeln. Plakativ gesprochen: Die Lösung liegt im Coachee. Gefühle, Motive Bedürfnisse und Werte sind Ressourcen, über die jeder Coachee verfügt, da sie Teil seiner Identität sind. Sie sind somit integraler Bestandteil der Phase Ressourcenidentifikation. Auf diese Ressourcen greift der Coachee unbewusst zurück. Damit diese Ressourcen für Coaching genutzt werden können, müssen sie bewusst durch den Coachee identifiziert werden können. Zur Identifikation bietet der Coach seinem Coachee Strukturen an, aus denen er seine Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte ableiten kann. Beispiel — Identifikation der Motive Der Coach bietet ein wissenschaftlich überprüfbares Modell an, aus dem der Coachee selbst seine Motive ableitet, z.B. die in der allgemeinen Psychologie häufig formulierten 3 Strebungen (Motive) • Streben nach Vergleich, Wettkampf, Konkurrenz — Motiv Wettkampf • Streben nach positivem Feedback aus dem Umfeld, sozialer Akzeptanz und Zugehörigkeit — Motiv Anerkennung • Streben nach Herausforderungen, Veränderung, Neuem, Risiko — Motiv Risiko. Er begleitet dieses Angebot mit einer Aufforderung im Rahmen seiner Prozessverantwortung: „Bitte wählen Sie aus diesem Angebot die Motive aus, die Sie als Menschen ausmachen.“ Ausbildungstipp Eine Visualisierung der strukturellen Ressourcen, z.B. in Form von laminierten Karten, unterstützt die Wahrnehmung und eröffnet dem Coachee Möglichkeiten, diese Ressource anderen visualisierten Ressourcen zuzuordnen und so seine Wahrnehmung zu erweitern. Hinweis Sollte der Coach die Annahme haben, dass der Coachee sozial erwünscht antwortet, so kann er den Coachee um ein Beispiel aus seinem Leben für ein gewähltes Motiv bitten. Da Strebungen unveränderliche Persönlichkeitsmerkmale sind, enthält das Leben des Coachee Beispiele dazu. Bei Bedarf gibt der Coach im Rahmen seiner Prozessverantwortung ein Feedback, das den Coachee mit der Vermutung der sozialen Erwünschtheit konfrontiert. Beispiel — Identifikation der Werte Abstraktionsebene Werte. Der Coach lässt den Coachee seine Werte identifizieren, z.B. unterstützt durch die Fragen: Welche Werte sind Ihnen persönlich wichtig? Was ist für Sie von Bedeutung? Für welchen Wert steht das?

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Ausbildungstipp Da Menschen über einen sehr unterschiedlichen sprachlichen Fundus verfügen, haben sich „Wertwörter“ bewährt. Wertwörter sind alle Worte, denen eine individuelle Bedeutung hinterlegt werden kann. Diese Wertwörter können selbst zusammengestellt und als Liste oder einzelne Karten dem Coachee als Wahlmöglichkeit angeboten werden. Zu beachten ist, dass die Wertwörter mit dem gewählten Persönlichkeitsmodell der Ausbildung kompatibel und vollständig sind. Aus den o.a. drei Strebungen folgen dann die Wertwörter: Vergleich, Wettkampf, Konkurrenz, Feedback, soziale Akzeptanz, Zugehörigkeit, Herausforderung, Veränderung, Neues, Risiko. Die Wörter können um Synonyme ergänzt werden. Die Bedeutung der gewählten Wertwörter wird durch den Coach geklärt. Ebenso hält die Psychologie z.B. Begriffe für Gefühle bereit, die auf vergleichbare Weise aufbereitet werden können. Strukturelle Ressourcen Arbeiten auf einer Abstraktionsebene setzt voraus, dass der Coachee über strukturiertes Wissen auf Abstraktionsebene verfügt. Wird z.B. das Kompetenzmodell zur Hypothesenbildung genutzt und später beabsichtigt, dieses Modell als Angebot auf Abstraktionsebene zu nutzen, so benötigt der Coachee ein abstraktes Verständnis dieses Modells. Das Modell wird so zur strukturellen Ressource des Coachee. Aus dieser Ressource kann er in Phase 4 des Prozesses Verhaltensalternativen entwickeln. Ist eine strukturelle Ressource nicht vorhanden, erklärt der Coach dem Coachee die Ressource in der Phase „Ressourcenidentifikation” und überprüft das Verständnis. Beispiel — In der Visualisierung haben Sie alles, was zu Ihrer Situation gehört, erfasst. Das Kompetenzmodell versteht diese Situation als Kontext. Erfolgreiches Verhalten ist im Modell die Handlungskompetenz und bedeutet, innerhalb dieses Kontextes alle Anforderungen erkannt zu haben, die dazu notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickelt zu haben und all diese selbst für das Handeln zu organisieren. Zur Übersichtlichkeit ist das Modell in Bereiche aufgeteilt, die für sich Teile der Kompetenz beschreiben. Persönliche Kompetenz bedeutet, dass Sie Ihre eigenen Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen innerhalb Ihres Kontextes einschätzen können. Sozio-kommunikative Kompetenz bedeutet, dass Sie sich mit Ihren eigenen Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen, Werten und denen der anderen Personen Ihres Kontextes auseinandergesetzt haben, Unterschiede erkannt haben und einen Rahmen vereinbaren, der die Interessen aller Beteiligten berücksichtigt. Fachlich-methodische Kompetenz bedeutet, dass Sie über reflektierte fachliche Kenntnisse und Fertigkeiten innerhalb Ihres Kontextes verfügen und Organisation von Arbeitsabläufen ergebnisorientiert organisieren können. Feldkompetenz bedeutet, dass Sie über reflektierte branchen-, themenspezifische und kulturelle Erfahrung innerhalb Ihres Kontextes verfügen. Strukturelle Ressourcen sind Modelle oder Axiome, die der Hypothesenbildung des Coach entsprechen und dem Coachee ohne Bewertung durch den Coach als Ressource zur Verfügung gestellt werden. Der Coach vermittelt ausschließlich die Struktur. In der Phase 4 des Prozesses „Entwicklung und Auswahl von Verhaltensalternativen“ nutzt der Coach diese Ressourcen, um dem Coachee zu ermöglichen, daraus selbst Erkenntnisse in Bezug auf sein Coachinganliegen abzuleiten. Der Coachee hat die Freiheit, eigene Erkenntnisse abzuleiten. Beispiel — „Was hat das Kompetenzmodell mit Ihrem Thema zu tun?” Der Coachee verknüpft die strukturelle Ressource Kompetenzmodell gedanklich mit seinem Thema und leitet daraus Erkenntnisse ab. „Was hat das Lesen des Buches wohl mit dem Kompetenzmodell zu tun?” 133

Dynamische Methoden Eine Methode ist ein reproduzierbares, themenspezifisches Analyse- oder Lösungsmuster, das ein „richtiges” Ablaufverfahren innerhalb eines Kontextes definiert. Im Coaching ist der Coachingprozess in diesem Sinne eine Methode: Der Kontext ist durch die Werte von Coaching gebildet — der Ablauf ist reproduzierbar. Der Kommunikationskontext, den der Coach mit dem Coachee vereinbart, orientiert sich zusätzlich an den Werten des Coachee. Eine Methode, die der Coach in diesem Kontext verwendet, um eine Wahrnehmungserweiterung, Entscheidungsfähigkeit und/oder Verhaltensalternativen beim Coachee auszulösen, ist aufgrund der Einzigartigkeit des Kommunikationskontextes nicht reproduzierbar. Die Methode passt sich an den Kontext an — sie ist dynamisch. Methoden eines Coach sind all das, was ein Coach im Rahmen seiner Prozessverantwortung unternimmt, um eine Wahrnehmungserweiterung, Entscheidungsfähigkeit und/oder Verhaltensalternativen beim Coachee auszulösen, was Ablaufcharakter und ein von anderen Abläufen unterscheidbares Analyse- und Lösungsmuster aufweist. Eine Methode ist im Coaching dann geeignet, wenn sie orientiert an folgenden Kriterien entwickelt wurde (siehe Abstract Wissenschaftstheorie): Kriterien zur Gestaltung von Methoden 1. Prozessorientierung Jede Phase im Coaching kann durch geeignete Methoden unterstützt werden. Die Methoden müssen dabei der Wirkungserwartung der jeweiligen Phase entsprechen. Beispiel — Die Phase „Thema- und Zielklärung“ erwartet eine Wahrnehmungserweiterung. Verwandte Methoden müssen das unterstützen und auf Abstraktionsebene Angebote bereitstellen, aus denen heraus der Coachee Erkenntnisse zur Wahrnehmungserweiterung in Bezug auf die systemischen Zusammenhänge seines Themas gewinnen kann. Beispiel — (Visualisierung orientiert am Modell der Themenzentrierten Interaktion): Haben auch andere (das WIR) mit Ihrem Thema zu tun? Beispiel — Die Phase „Ressourcenidentifikation” hat keine Erwartung im eigentlichen Sinne, sie verfolgt eine Bestandsaufnahme dessen, auf das der Coachee zurückgreift bzw. zurückgreifen kann. Verwandte Methoden müssen die Bestandsaufnahme strukturiert unterstützen. Beispiel: (Orientiert am Kompetenzmodell/fachlich-methodische Kompetenz): Über welches Fachwissen, welche Fähigkeiten, welche Methoden verfügen Sie in Bezug auf Ihr Thema? 2. Werteorientierung Die Werte von Coaching sind mit dem Coachee in der Phase Kontakt/Kontrakt vereinbart worden. Jede vom Coach verwandte Methode muss auf die Berücksichtigung dieser Werte überprüft werden. Abschreckendes Beispiel — Ein Rollenspiel im Coaching animiert den Coachee, aus einer Rolle (soziologisch: normative Erwartung) heraus sein Thema zu deuten und zu bewerten. Der Coachee kann das freiwillig tun. Doch hat er weder die Freiheit, dasselbe aus sich heraus zu tun, noch traut ihm der Coach zu, dafür Ressourcen verfügbar zu haben. Er entfernt den Coachee von sich selbst, wo er doch „Hilfe zur Selbsthilfe“ geben will (siehe Abstract Konstruktivismus/ pädagogischer Konstruktivismus).

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3. Orientierung am Kommunikationskontext In den Kommunikationskontext gehen die Gefühle, Motive, Bedürfnisse und Werte des Coachee ein (siehe Fähigkeiten des Coach — Kommunikationskontext vereinbaren). Gleichzeitig muss das Angebot sprachlich „andockbar“ (kognitiv anschlussfähig bzw. verknüpfbar) sein, um vom Coachee genutzt werden zu können. Jedes methodische Reflexionsangebot muss den Kommunikationskontext berücksichtigen. Beispiel — Der Coach nimmt wahr, dass es für seinen Coachee angenehm ist, wenn er zum Reflektieren Dinge anfassen kann, und bietet dem Coachee innerhalb der Methode Arbeitsmaterial in Form von Karten oder Gegenständen an. Beispiel — Der Coach nimmt eine starke Lust an Struktur beim Coachee wahr und entscheidet sich, dem Coachee unaufgefordert die Wirkungserwartung der gewählten Methode zu erklären. Beispiel — Der Coach nimmt wahr, dass sein Coachee häufig branchenspezifische Wörter verwendet. Er nutzt die Wortverwendung des Coachee, um sein Angebot andockbar zu gestalten. 4. Orientierung an wissenschaftlich überprüfbaren Modellen Eine Methode innerhalb eines Kommunikationskontextes kann aufgrund der Einzigartigkeit zwar nicht reproduziert werden, doch muss auch sie sich legitimieren können. Entwickelt der Coach eine Methode, basierend auf seiner individuellen Erfahrung, so ist sie nicht wissenschaftlich überprüfbar. Entwickelt der Coach eine Methode aus wissenschaftlich überprüfbaren Modellen, z.B. der TZI, so kann überprüft werden, ob das, was das Modell zu erklären versucht, im Einklang mit der Absicht des Coach steht. Beispiel — Ein Coach, der für sich definiert, dass Status das situative Machtverhältnis beschreibt, wird seinen Coachee vielleicht fragen: „Was hat Ihr Thema mit Ihrem Status innerhalb Ihrer Firma zu tun?” Eine solche Sichtweise ist derzeit wissenschaftlich nicht begründbar und entspricht der individuellen Sichtweise des Coach. Der Coach handelt autoritär. Beispiel — Ein Coach, der seinem Coachee das Transaktionsanalytische Modell der Kommunikation als strukturelle Ressource zur Verfügung stellt und fragt: „Was hat dieses Modell mit Ihrem Thema zu tun?“, bietet ein veröffentlichtes und wissenschaftlich überprüfbares Modell zur Reflexion an. Der Entwicklung einer Methode aus einem wissenschaftlich überprüfbarem Modell geht eine Hypothese des Coach, basierend auf demselben Modell, voran. 5. Orientierung an der Abstraktionsebene Der Coachee soll im Sinne der Werteorientierung von Coaching aus den Reflexionsangeboten Wahlmöglichkeiten ableiten können. Er hat die Freiheit der selbstgefundenen Lösung. Ein Angebot auf Handlungsebene enthält in der Regel keine Wahlmöglichkeit und bietet nicht die Freiheit, eine Lösung und ein Ergebnis selbst zu finden. Ein methodisches Angebot auf Handlungsebene beinhaltet ausschließlich eine Reflexion des Coachee in Bezug auf einen möglichen persönlichen Vorteil der angebotenen Handlung in einem konkreten Kontext. Ein Angebot auf Abstraktionsebene beinhaltet für den Coachee die Möglichkeit zu wählen, das heißt, über den Bezug der Zusammenhänge des Angebots zu etwas Konkretem zu reflektieren und selbst verschiedene Ableitungen zu treffen. Zudem lässt sich die135

ses Vorgehen durch den Coachee auf vergleichbare Kontexte übertragen und fördert damit eine nachhaltige Selbstlernkonzeption. Beispiel — für ein Angebot auf Handlungsebene Einmal angenommen, Sie würden einen Zeitplan für Ihr Projekt aufstellen, wie könnte Ihnen das helfen? Beispiel — für ein Angebot auf Abstraktionsebene Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Ihren Motiven und Ihrem Thema Selbstmanagement? Jedes wissenschaftlich überprüfbare Modell kann unter Beachtung o.a. Kriterien kreativ als dynamische Methode gestaltet werden. Beispiel — Aus der Betriebswirtschaft ist ein einfaches Modell bekannt, das besagt, dass Zeit, Kosten und Qualität einen Zusammenhang bilden. Ist dieses Modell dem Coachee als strukturelle Ressource verfügbar, so kann der Coach es zur Reflexion anbieten: Welchen Zusammenhang gibt es zwischen diesem Modell und Ihrem Thema? Am Markt vorhandene, veröffentlichte Methoden anderer Coachs oder Coachausbildungen können anhand dieser Kriterien auf Verwertbarkeit geprüft werden. Ebenen der Abstraktion Abstraktion reduziert Komplexität auf ihre wesentlichen Eigenschaften und Zusammenhänge. Sie ist eine grundsätzliche Voraussetzung, damit eine Fülle von Informationen kognitiv verarbeitet werden kann bzw. gelernt werden kann. Die Fähigkeit des Menschen zur Abstraktion ist individuell unterschiedlich stark ausgeprägt. Unser Wahrnehmungsvermögen, unsere Sprache und unsere kognitiven Strukturen „begrenzen” auch unsere Fähigkeit zu abstrahieren, das heißt, aus uns selbst heraus thematische Zusammenhänge zu erkennen. Angebote des Coach auf Abstraktionsebene unterstützen den Coachee darin, über thematische Zusammenhänge zu reflektieren und daraus Lösungen und Ergebnisse zu entwickeln. Abhängig von der Einschätzung der Abstraktionsfähigkeit des Coachee durch den Coach wählt der Coach eine zum Coachee passende Abstraktionsebene, um bestmöglich Reflexion auszulösen und dem Coachee eine logische Schlussfolgerung zu ermöglichen. Hinweis — Wissenschaftlich kann die Abstraktionsfähigkeit durch geeignete Tests ermittelt werden, z.B. innerhalb des 16 PF — 16-Persönlichkeits-Faktoren-Test (SCHNEEWIND, KURT A., SCHRÖDER, G. und CATTELL, R.B., 1994, Der 16-Persönlichkeits-Faktoren-Test). In der Praxis orientiert sich der Coach an der Regel „Vom Allgemeinen zum Speziellen“, das heißt, er wählt zunächst ein Angebot auf hoher Abstraktionsebene und nimmt den Umgang des Coachee mit diesem Angebot wahr. Stellt der Coach fest, dass sein Angebot vom Coachee nicht angenommen wird bzw. angenommen werden kann, wählt er ein Angebot auf einer niedrigeren Abstraktionsebene aus. Im Coaching stehen dem Coach drei Ebenen der Abstraktion zur Verfügung:

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Allgemeine Abstraktionsebene Die allgemeine Abstraktionsebene beinhaltet sämtliche in Phase 3 „Ressourcenidentifikation“ identifizierten Ressourcen einschließlich der strukturellen Ressourcen. Angebote auf dieser Ebene bieten diese Ressourcen in ihrer Gesamtheit dem Coachee zur Reflexion an. Der Coachee verknüpft gedanklich seine Schlussfolgerungen aus der Gesamtheit der Ressourcen mit seinem Thema. Hinweis — Mit dem Thema seines Coaching verbindet der Coachee (systemische) Zusammenhänge. Das Ziel des Coachee ist seine Schlussfolgerung aus einer individuellen Bewertung und Deutung des thematischen Kontextes, den er in der visuellen Aufstellung erfasst hat. Über sein formuliertes Ziel und die systemischen Zielerreichungsmerkmale drückt der Coachee seine beabsichtigte Veränderung aus, das heißt, sein durch Gefühle, Motive, Bedürfnisse und Werte ausgelöstes Bedürfnis nach dem Besseren. Ein Angebot des Coach auf Abstraktionsebene, das eine Verknüpfung mit dem Thema des Coaching beinhaltet, referenziert in der Regel das Thema, da hierin das Ziel enthalten ist. Gleichzeitig wird so die Freiheit, das Ziel zu verändern, gewährleistet. Dem Coach steht es frei, welche Zusammenhänge er zur Reflexion anbietet, sofern sein Angebot den Kriterien zur Gestaltung von Methoden entspricht. Folgt er der Regel „Vom Allgemeinen zum Speziellen”, so wird er zunächst Verknüpfungen mit dem Thema und anschließend Verknüpfung mit dem Ziel und den Erreichungsmerkmalen anbieten. Strukturebene Die Strukturebene beinhaltet alle strukturellen Ressourcen des Coach, das heißt seine ihm verfügbaren wissenschaftlich überprüfbaren Modelle, die er auch zur Hypothesenbildung nutzt. Der Coach bietet, basierend auf seiner Hypothese, seinem Coachee aus diesen Ressourcen ein vollständiges Modell zur Reflexion an. Voraussetzung ist, dass dem Coachee dieses Modell als Ressource zur Verfügung steht bzw. als strukturelle Ressource verfügbar gemacht wurde. Der Coachee verknüpft gedanklich seine Schlussfolgerungen aus dem Modell mit seinem Thema. Thematische Abstraktionsebene Innerhalb eines Modells sind Themen Teile der Aussage eines Modells. Der Coach bietet, basierend auf dem Modell, das er zur Hypothesenbildung genutzt hat, das Modell in thematischen Teilen an. Entscheidet er sich für diese Vorgehensweise, so muss er methodisch alle Themen des Modells zeitlich geschlossen, nacheinander zur Reflexion anbieten, da er sonst der Gefahr einer assoziierten Auswahl erliegt. Der Coachee verknüpft gedanklich seine Schlussfolgerungen aus jedem einzelnen Thema des Modells mit seinem Thema. Hinweis — Ein Axiom, auf dem das theoretische Gebilde einer Ausbildung beruht, gehört zur thematischen Abstraktionsebene. Die Axiomatik gehört zur Strukturebene. Beispiele von Reflexionsangeboten unterschiedlicher Abstraktionsebenen Innerhalb eines Teamcoaching hat der Coach die Hypothese gebildet „Möglicherweise hat das Thema des Teams etwas mit den „Teamphasen“ (Forming, Storming, Norming, Performing — nach BRUCE W. TUCKMAN) zu tun.” Er entscheidet sich, zu überprüfen, ob diese Ressource beim Team vorhanden ist, ggf. stellt er dem Team in Phase 3 „Ressourcenidentifikation“ die Teamphasen als strukturelle Ressource zur Verfügung. In Phase 4 „Entwicklung und Auswahl von Verhaltensalternativen“ will der 137

Coach die Entscheidungsfähigkeit des Teams fördern und Verhaltensalternativen auslösen, indem er dem Team anbietet, seine Ressourcen mit dem Ziel und den Erreichungsmerkmalen zu verknüpfen. Allgemeine Abstraktionsebene Der Coach bietet dem Team sämtliche identifizierten Ressourcen zur Reflexion an und lässt das Team gedanklich diese Ressourcen mit dem Thema und dem Ziel verknüpfen. Beispiel — Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Ihren Ressourcen als Team und dem Thema? Wie können Sie Ihre Ressourcen kombinieren und nutzen, um Ihr Ziel zu erreichen? Strukturebene Der Coach bietet dem Team das Modell (die Struktur des Modells) Teamphasen zur Reflexion an, indem er das Team diese Ressource gedanklich mit dem Thema und dem Ziel verknüpfen lässt. Beispiel — Welchen Zusammenhang erkennen Sie zwischen dem Modell der Teamphasen und Ihrem Thema? Wenn Sie sich daran orientieren, was müssten Sie dann tun, um Ihr Ziel zu erreichen? Thematische Abstraktionsebene Der Coach bietet dem Team nacheinander einzelne Themen des Modells der Teamphasen zur Reflexion an und lässt das Team diese gedanklich mit dem Thema und dem Ziel verknüpfen. Beispiele Welchen Zusammenhang erkennen Sie zwischen der Phase „Forming” und Ihrem Thema? Welchen Zusammenhang erkennen Sie zwischen der Phase „Storming” und Ihrem Thema? Welchen Zusammenhang erkennen Sie zwischen der Phase „Norming” und Ihrem Thema? Welchen Zusammenhang erkennen Sie zwischen der Phase „Performing” und Ihrem Thema? Wenn Sie sich an diesen Erkenntnissen orientieren, was müssten Sie dann tun, um Ihr Ziel zu erreichen? Themenspezifische Reflexionsangebote Coaching will eine „nachhaltige Selbstlernkonzeption” auszulösen, die dem Coachee ermöglicht, sich aus sich selbst heraus zu verändern. Ein systemisch-konstruktivistisch ausgebildeter Coach kann in allen Themen coachen, die den Wunsch seines Coachee nach Besserem bzw. nach Veränderung beinhalten, da er das Wesen von Veränderung verstanden hat. Die Anlässe des Coachee für seinen Veränderungswunsch stehen oft in Zusammenhang mit bestimmten thematischen Kontexten, die für sich in Kategorien zusammengefasst werden können. Theorien, Modell und Axiome aus diesen thematischen Kontexten helfen dem Coach dabei, zusätzlich Hypothesen, den thematischen Kontext betreffend, zu bilden und daraus Angebote auf Abstraktionsebene abzuleiten. Themenspezifische Modelle bieten dem Coachee ein Abstraktionsniveau, das direkt an sein Coachingthema andockbar ist und ihm damit das Abstrahieren erleichtert. Hinweis — Durch die geeignete Auswahl zusätzlicher themenspezifischer Modelle kann eine Ausbildung den Kompetenzerwartungen Ihrer Kunden gerecht werden. 138

Empfehlung für themenspezifische Reflexionsangebote Im Rahmen der fachlich-methodischen Kompetenz ist die Beachtung folgender thematischer Kontexte empfehlenswert: Konflikte Ein großer Teil von Coachinganlässen beinhaltet Themen, die innere Konflikte, z.B. Entscheidungen oder Konflikte mit anderen beinhalten. Work-Life-Balance-Themen sind Konfliktthemen. Genutzt werden können alle Modelle, die thematische Zusammenhänge von Konflikten und der Konfliktentstehung abstrahieren. Team In der betrieblichen Wirklichkeit arbeiten Menschen oft in Teams. Diese Situation kann zu Veränderungswünschen des Coachee führen. Genutzt werden können alle Modelle, die thematische Zusammenhänge von Team, Zusammenarbeit, Teamentstehung und Teamentwicklung abstrahieren. Visionen Visionen sind Ausdruck einer Zukunftshoffnung. Fehlt dem Coachee die motivationale Hinwendung, so kann sich das in einem Veränderungswunsch ausdrücken. Genutzt werden können alle Modelle, die thematische Zusammenhänge von Team, Zusammenarbeit, Teamentstehung und Teamentwicklung abstrahieren (siehe Abstract Visionen — woher und wofür?). Im Rahmen der Feldkompetenz ist die Beachtung folgender thematischer Kontexte empfehlenswert: Führung Ein großer Teil der Kunden von Coaching sind Führungskräfte. In der Regel ist, mit wenigen Ausnahmen, eine Führungskraft nicht im Führen ausgebildet. Unabhängig von einer Ausbildung bedeutet Führen die Auseinandersetzung mit einer komplexen Wirklichkeit, in die die Interessen der Mitarbeiter, des Unternehmens und der Führungskraft eingehen. Als Führungskraft dieser Komplexität zu begegnen, erfordert Kompetenz. Sich als Führungskraft situativ erfolgreich zu verhalten, ist Ausdruck vieler Veränderungswünsche im Coaching. Genutzt werden können alle Modelle, die thematische Zusammenhänge von Führung abstrahieren. Karriere Die Folgen einer Entscheidung wirken sich oftmals auf die Karriere aus. Karriere hat für den Einzelnen eine unterschiedliche Bedeutung. Ist der Beruf ein Kontext, mit dem der Coachee einen Großteil seiner Motivation verbindet, so gewinnt das Thema Karriere für ihn an Bedeutung. Genutzt werden können alle Modelle, die thematische Zusammenhänge von Karriere abstrahieren (siehe Abstract Marketing und Markenmanagement). Marketing Marketing ist die Führung des Unternehmens bzw. die Selbstführung des Einzelnen vom Markt her. Daher sind Marketingmodelle auch für Karrierethemen besonders geeignet. Will der Coachee den Anforderungen seines Kontextes bzw. seines Marktes gerecht werden, das heißt Kompetenz entwickeln, so kann sein Thema Marketing beinhalten. Die Verantwortung als Führungskraft, sich mit dem Markt des Unternehmens auseinanderzusetzen, kann zu Veränderungswünschen führen. Genutzt werden können alle Modelle, die thematisch systemische Zusammenhänge von Marketing abstrahieren, und systemische Modelle, aus denen Strategien abgeleitet werden können. Diese Modelle können direkt aus Wissenschaften kommen, die sich mit dem Thema Marketing beschäftigen oder eine systemisch-konstruktivistische Abstraktion von Zusammenhängen erlauben (siehe Abstract Marketing und Markenmanagement). 139

6.8 Perspektivwechsel auslösen Taxonomiestufe Beispiel — 4 Kompetenzbereich Fachlich-methodische Kompetenz Interagierende Kompetenzbereiche Persönliche Kompetenz, sozio-kommunikative Kompetenz, Feldkompetenz Vernetztes Faktenwissen Assoziation, Dissoziation, Ressourcen, zirkuläre Frage, Umdeuten, Frageabsichten, Werte und Anliegen von Coaching, Coachingprozess, Intonation, Mimik, Gestik, Wert, Verhalten, Kontext, Feedback, Angebote auf Abstraktionsebene u.a. Anwendungskontext(e) Konkrete Phasen im Coachingprozess Mögliche Transferkontexte Alle persönlichen Konfliktthemen, Verhandlungen u.a. Unterstützende Wissenschaftsdisziplinen — dargestellt in den Abstracts Kreativitätslehre, Motivationspsychologie, Logik u.a. Feedbackmaßstab von Übungen 1. Kompatibilität mit den Werten und zentralen Anliegen von Coaching 2. Fachlich richtige Formulierung des Angebotes 3. Orientierung an der Wirkungsabsicht der verwandten Phase des Coachingprozesses Feedbackmaßstab innerhalb der Handlungskompetenz Der Perspektivwechsel orientiert sich an den Phasen des Coachingprozesses und referenziert die visuelle Aufstellung. Die Betrachtung und Deutung einer Situation aus der eigenen Person heraus ist eine konstruktivistische Betrachtung. Eigene Motive, Gefühle, Bedürfnisse und Werte und die Interaktion innerhalb von Kontexten führen zu einer individuellen, assoziierten Bewertung einer Situation bzw. eines Kontextes. Handlungsstrategien, dieser Situation erfolgreich zu begegnen, entsprechen in der Regel der konstruktivistischen Bewertung des wahrgenommenen Kontextes durch den Coachee selbst. Sind diese Strategien nicht mehr erfolgreich, muss die Wahrnehmung „systemisch“ erweitert werden, um die Situation anders zu bewerten und zu entscheiden, welche Verhaltensalternativen sinnvoll sind. Der Coachee ist in einer Betrachtung des Kontextes aus sich heraus assoziiert. Er ist emotional in die Situation eingebunden. Je stärker die Anforderungen eines Kontextes durch den Coachee aus sich selbst heraus definiert werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich hierbei um Annahmen über mögliche Anforderungen handelt. Erst die Betrachtung der Anforderungen aus Sicht aller Elemente, die kontextrelevant sind, erhöht die Wahrscheinlichkeit, Strategien zu finden, um in diesem Kontext erfolgreich agieren zu können. Zugleich dissoziiert sich der Coachee, indem er seine emotionale Eingebundenheit verlässt und zur Betrachtung die Perspektive eines kontextrelevanten Elements einnimmt. Die Dissoziation ermöglicht ihm einen verbesserten Zugriff auf seine Ressourcen und unterstützt dadurch die zukünftige Handlungskompetenz. Hinweis — Die Psychologie formuliert dieses Phänomen als Problemfokussierung. Der verbesserte Zugriff auf Ressourcen dient der Lösungsfokussierung. 140

Die systemische Erweiterung der Wahrnehmung und Dissoziationsmöglichkeit ist der Perspektivwechsel. Ein Perspektivwechsel im Coaching ist das Angebot zur Verwendung einer, sich von der eigenen unterscheidenden Deutungsstruktur, um den Coachee zu dissoziieren und eine Wahrnehmungserweiterung zu ermöglichen. Der Coachingprozess als Förderer und Grundlage von Perspektivwechseln Die visuelle Aufstellung enthält den bzw. die für das Thema des Coachee relevanten Kontexte und damit alle Elemente, die für einen Perspektivwechsel genutzt werden können. Die Visualisierung der Kontexte selbst ermöglicht bereits eine Wahrnehmungserweiterung. Tipp — Es ist empfehlenswert, nach der visuellen Aufstellung den Coachee zu fragen, was er bereits im Hinblick auf sein Thema erkannt hat, um zu überprüfen, ob eine Wahrnehmungserweiterung stattgefunden hat, und Erkenntnisse zu sichern. Hinweis — Entscheidet der Coach später als Prozessverantwortlicher, einen Perspektivwechsel auszulösen, greift er auf die visuelle Aufstellung zurück. Angebote zum Perspektivwechsel, die nicht die visuelle Aufstellung des Coachee referenzieren, kommen aus der Person des Coach und sind demnach nicht mit den Werten von Coaching vereinbar. Eine Wahrnehmungserweiterung ist so nicht möglich, da der Coachee dieses Angebot nicht an „seine Welt andocken“ kann. Neben der visuellen Aufstellung sind die systemischen Zielerreichungsmerkmale integraler Bestandteil des Coachingprozesses. Der Coachee reflektiert hier aus der Perspektive seines/seiner Kontexte sein Ziel und die Bedeutung, die seine Zielerreichung für seinen Kontext hat. In der Prozessphase „Controlling und Abschluss” wird die Veränderungsstrategie einschließlich der dazugehörenden Maßnahmen systemisch in Bezug auf mögliche Umsetzungsschwierigkeiten reflektiert. Auch hier unterstützt der Perspektivwechsel die Wahrnehmung, die Entscheidungsfähigkeit und das Finden von Verhaltensalternativen und trägt so zu einer nachhaltigen Selbstlernkonzeption bei. Beispiele für prozessunterstützende Verfahrensweisen, um Perspektivwechsel auszulösen 1.

2.

3.

4.

Die zirkuläre Frage „Was würde Ihr Kunde zu Ihrem Anliegen sagen?“ Die Person als Teil der zirkulären Frage erhält der Coach aus der Visualisierung. Physische Änderung der Perspektive Abhängig vom Blickwinkel auf ein Bild, hier die visuelle Aufstellung, können sich für den Betrachter andere Erkenntnisse ergeben. Der Coachee wir gebeten, physisch seine Position im Raum zur Betrachtung zu verändern. Die Dissoziation kann durch Vergrößerung der Entfernung zum Bild verbessert werden. Ist die Aufstellung am Boden visualisiert, kann der Coachee sich auf ein Element stellen und dessen Perspektive einnehmen. Assoziation mit der anderen Perspektive Wird zum Perspektivwechsel eine Person aus der visuellen Aufstellung gewählt, so kann der Coachee gebeten werden, die Motive, Gefühle, Bedürfnisse und Werte dieser Person aufzugreifen und aus dieser Assoziation heraus sich selbst zu betrachten. Die Wahrnehmung des Coachee wird erweitert und trägt zu einer Verbesserung der Entscheidungsfähigkeit bei. Indirekter Perspektivwechsel Der Coachee wird gebeten, die Perspektive einer Person seines Kontextes auf eine andere Person seines Kontextes einzunehmen und Rückschlüsse auf Zusammenhänge innerhalb seines Kontextes zu ziehen. 141

5.

6.

Perspektivwechsel über Nicht-Personen Auch Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte, Normen, Prozesse uvm. können Teil der Visualisierung sein. Der Coachee nimmt z.B. die Perspektive „Prozess“ ein und erweitert seine Wahrnehmung über diese Betrachtungsweise. Hinweis — Die Art und Weise, in der der Kontext aufbereitet wird, ist abhängig von der durch den Coach zugrunde gelegten Struktur. Ein „Business-Coach“ wird zur Visualisierung ein anderes Modell nutzen als ein „Gesundheits-Coach“. Perspektivwechsel über Angebote auf Abstraktionsebene Der Coachee wird gebeten, z.B. ein Modell zu verwenden und aus dieser Perspektive heraus sein Thema zu deuten. Tipp — Das Kompetenzmodell oder auch das MVWK-Modell sind besonders gut geeignet, das eigene Verhalten zu reflektieren.

Sonderformen des Perspektivwechsels Umdeuten Ein Handeln kann in einem Kontext misserfolgreich sein und zu einem Veränderungswunsch führen. Dasselbe Handeln kann in einem anderen Kontext erfolgreich sein. Der Perspektivwechsel auf das Handeln aus einem anderen Kontext heraus dissoziiert den Coachee und macht Unterschiede wahrnehmbar, aus denen der Coachee Rückschlüsse ziehen kann. Beispiel für die Umdeutung des Kontextes — „ Gibt es Kontexte, in denen diese Art zu handeln erfolgreich ist? ... Welche sind das?“ Wörter erhalten ihre Bedeutung durch den Kontext, zu dem auch der Coachee mit seinen eigenen Motiven, Gefühlen, Bedürfnissen und Werten gehört. Der Mensch orientiert sich in seinem Handeln an dem subjektiven Wert, den ein bestimmtes Wort in seiner Wahrnehmung hat. Um dieses Phänomen wahrnehmbar zu machen und Unterschiede zu erkennen, kann der Coach eine andere Perspektive in Bezug auf die Bedeutung eines Wortes auslösen. Beispiel für die Umdeutung des Wortes „Welche andere (positive) Bedeutung kann das Wort Disziplin noch haben?“ Kombiniert mit einer zirkulären Frage wird ein verbesserter Perspektivwechsel ausgelöst. „Welche Bedeutung verbindet Herr X mit dem Wort Disziplin?“ „Welche Bedeutung hat das Wort Disziplin für den Kontext?“ Fakten sind verifizierte Sachverhalte. Wie Fakten individuell gedeutet und bewertet werden, hängt von der kontextbezogenen Bedeutung der Fakten für den Coachee ab. Darüber hinaus ist jeder Fakt Teil eines Zusammenhangs, den der Coachee aus sich heraus deutet und bewertet. Beispiel für die Umdeutung von Faktenbewertungen Die Mitarbeiterin XX kommt mittwochs zehn Minuten zu spät. Dieser Sachverhalt ist verifiziert und dem Coachee bekannt. Ausgesprochene Bewertung durch den Coachee: Das ist respektlos! Umdeutungsangebot durch den Coach: „Sind Ihnen alle Fakten bekannt? — Was wissen Sie konkret über die Hintergründe und Zusammenhänge?“ „Was war Ihnen im Zusammenhang mit dem Zuspätkommen wichtig?“ oder „Was war der Mitarbeiterin vielleicht wichtig?” — „Wie wird sie das Zuspätkommen bewerten?“ 142

Selbstdeutung über Modelle Ein Angebot des Coach auf Reflexionsebene ermöglicht einen Perspektivwechsel, in dem der Coachee seine Situation aus einem Modell heraus betrachtet. Er nutzt das strukturelle Angebot eines Modells, um sich und seinen Kontext zu deuten oder sich selbst zu bewerten. Diese Art des Perspektivwechsels dissoziiert den Coachee, löst eine Wahrnehmungserweiterung aus und ermöglicht ihm einen verbesserten Zugriff auf seine Ressourcen.

6.9 Kommunikationskontext vereinbaren Taxonomiestufe Beispiel — 4 Kompetenzbereich Sozio-kommunikative Kompetenz Interagierende Kompetenzbereiche Persönliche Kompetenz, fachlich-methodische Kompetenz, Feldkompetenz Vernetztes Faktenwissen Verantwortlichkeiten im Coaching, Werte und Anliegen von Coaching, Coachingprozess, Fragearten, Frageabsichten, Sprache, Intonation, Mimik, Gestik, Wahrnehmung, Recht im Coaching, Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte u.a. Anwendungskontext(e) Phase „Kontakt und Kontrakt“ im Coachingprozess Mögliche Transferkontexte Umgang mit dem Lebenspartner, Mitarbeitergespräch u.a. Unterstützende Wissenschaftsdisziplinen — dargestellt in den Abstracts ... Kommunikation, Linguistik, Semantik, Philosophie, Motivation, Soziologie, Pädagogik u.a. Feedbackmaßstab von Übungen Im Anwendungskontext Orientierung an den Werten von Coaching. Verantwortlichkeiten sind geklärt. Feedbackmaßstab innerhalb der Handlungskompetenz Konsequente Beachtung des vereinbarten Kontextes über den gesamten Coachingprozess. Im Coaching treffen sich Coach und Coachee (auch Team oder Gruppe) für eine zeitlich befristete, werteorientierte Zusammenarbeit mit klarer Trennung der Verantwortlichkeiten. In dieser Zeit stehen Coach und Coachee in Beziehung zueinander. Beziehungen, in denen ein Kunde zum Dienstleister eingeht, finden wir vergleichbar in der Beziehung, die ein Patient zum Arzt eingeht, die ein Christ zum Seelsorger eingeht, die ein Mandant zum Anwalt eingeht u.v.m. Es handelt sich um Beziehungen, die in einem bestimmten Kontext zeitlich befristet eingegangen werden. Durch Werte, die von allen Beteiligten in diesem Kontext akzeptiert werden, und die Trennung von Verantwortlichkeiten wird ein (Arbeits-)Kontext vereinbart, der die Interessen aller Beteiligten berücksichtigt. Der Kommunikationskontext im Coaching wird in der Phase „Kontakt/Kontrakt“ des Coachingprozesses vereinbart. Das Verhalten von Coach und Coachee als soziale, kommunikative Handlung im Coaching orientiert sich an vereinbarten Werten.

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Werteorientierung für Verhalten im Coaching

Freiheit

Prozessverantwortung

Selbststeuerung

Lösungs- und Ergebnisverantwortung

Ressourcenverfügung

COACH

COACHEE

Freiwilligkeit ©2009, Dr. Rolf Meier, Axel Janßen

Werte und Verantwortlichkeiten vereinbaren Der Coach orientiert sich im Coaching bei jeder Handlung an den Werten Freiheit, Freiwilligkeit, Selbststeuerung und Ressourcenverfügung. Das heißt, er beachtet in seiner Kommunikation mit dem Coachee, dass sein Kunde alle Ressourcen für eine selbstgewollte Veränderung in sich trägt, sich im Sinne einer Veränderung selbst steuern kann, nur freiwillig eine Handlung oder Veränderung vornimmt, sowie die Freiheit im Denken und Handeln hat. (Dieses am Freiheitsgedanken orientierte Menschenbild schließt jede Form der Beratung aus.) Zusätzlich übernimmt der Coach die Verantwortung für die Durchführung seiner Dienstleistung — den Coachingprozess. Der Coachee erhält mit dem Coaching durch die Werte Freiheit, Freiwilligkeit, Selbststeuerung und Ressourcenverfügung einen Raum (Kontext) zur Entfaltung und übernimmt durch die Akzeptanz dieser Werte die Lösungs- und Ergebnisverantwortung. Bewertet der Coachee die Aufteilung der Verantwortlichkeiten und die Werte von Coaching für sich als positiv, so wird er mit dem Coach diesen Kontext vereinbaren. Der vereinbarte Kommunikationskontext ist Teil des Kontrakts. Praxis-Tipp — In der Phase „Kontakt/Kontrakt“ kann der Coach dem Coachee die Trennung der Verantwortlichkeiten und Werte mündlich oder schriftlich erklären. Beispiel — Als Ihr Coach orientiere ich mich im Coaching bei jeder Handlung an den Werten Freiheit, Freiwilligkeit, Selbststeuerung und Ressourcenverfügung. Das heißt, ich beachte bei allem, was ich tue, dass Sie alle Ressourcen für Ihre selbstgewollte Veränderung in sich tragen, sich im Sinne Ihrer Veränderung selbst steuern können, nur freiwillig eine Handlung oder Veränderung vornehmen werden sowie in jeder Beziehung die Freiheit im Denken und Handeln haben. Für die professionelle Durchführung des Coachingprozesses trage ich die Verantwortung, die Verantwortung für die Lösung und das Ergebnis liegt bei Ihnen. Ich werde Sie nicht mit meinem Wissen oder Annahmen beeinflussen. Erwartungshaltung des Coachee aufnehmen Das Verständnis von Coaching des Coachee kann durch Nutzung unterschiedlicher Deutungsangebote zum Thema vom Verständnis des Coach abweichen. Erst wenn Erwartung des Coachee und Dienstleistung zueinander passen, wird eine Entscheidung für den Coach getroffen. In der Regel findet dieser Abgleich vor dem Coaching statt. Erwartungen verbindet der Coachee mit einer individuellen Bedeutung. Er erwartet, dass sich sein Coach daran orientiert. Er erwartet einen Wert. Soll ein Kontext geschaffen werden, der die Interessen aller berücksichtigt, so sind 144

die Erwartungen — sofern sie der Coach akzeptiert bzw. akzeptieren kann — Teil des vereinbarten Kommunikationskontextes. Praxis-Tipp — Mit der einleitenden Frage „Welche Erwartungen verbinden Sie mit dem Coaching?“ erhält der Coach einerseits die Möglichkeit, ggf. die Erwartungshaltung zu thematisieren, sodass der Coachee für sich eine Entscheidung finden kann, andererseits kann er Erwartungen, die den Werten und Verantwortlichkeiten entsprechen, aufnehmen und umsetzen. Beispiel — Zu den Erwartungen des Coachee zählen u.a.: Ausreichend Pausen, Berücksichtigung einer körperlichen Behinderung, Erlaubnis legerer Kleidung, Beachten der Abflugzeit des Fliegers, keine Provokationen u.v.m. Fragen nach Erwartungen können konkretisiert werden. Beispiel — „Welche Erwartungen haben Sie an den zeitlichen Ablauf unseres Coaching?” oder „Gibt es Dinge, die nicht passieren dürfen?“ Auseinandersetzung mit Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen, Werten Die mit dem Coaching verbundenen Werte implizieren, dass der Coachee die Freiheit hat, seine Werte verbal oder nonverbal zu äußern. Diese Werte müssen nicht vom Coach geteilt werden, können jedoch beim Coach Gefühle auslösen, sodass ihm die selbstgesteuerte Koordination aller persönlichen Ressourcen misslingt. Die Auseinandersetzung mit eigenen Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen, Werten in unterschiedlichen Kommunikationskontexten ist Teil der persönlichen Kompetenz eines Coach. Die sozio-kommunikative Kompetenz eines Coach zeichnet sich dadurch aus, dass er erkannt hat, wie seine Gefühle, Motive, Bedürfnisse und Werte sich in unterschiedlichen Kontexten auf sein Kommunikationsverhalten auswirken. Im Coaching koordiniert er seine Ressourcen so, dass sich sein Verhalten an den Werten von Coaching orientiert. Beispiel — Ein Coach, der in einer geschäftlichen Situation seinem Coachee von sich heraus das Du anbietet, folgt eher eigenen Kontakt- und Zuwendungsbedürfnissen, als dass er die Bedürfnisse seines Coachee und von Coaching (Werte) berücksichtigt. Hinweis — Am Markt wird oftmals die Bedeutung der Beziehungsebene stärker betont als notwendig. Diese Betonung steht oftmals im Zusammenhang mit einem autoritären Coachingansatz, da hier über Sympathie Vertrauen aufgebaut wird. Dieses Vertrauen ist notwendig, damit der Coachee den Ratschlägen folgt und so eine Lösung erreicht wird. Persönliche Kompetenz ist die Voraussetzung für sozio-kommunikative Kompetenz. Erst wenn sich ein Coach der eigenen Gefühle, Motive, Bedürfnisse und Werte bewusst ist, kann er Unterschiede zu den Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen und Werten anderer emotional und kognitiv wahrnehmen und daraus Hypothesen bilden. Hypothesen, die der Coach innerhalb des Aufbaus eines Kommunikationskontextes bildet, beziehen sich auf die Gefühle, Motive, Bedürfnisse und Werte seines Coachee. Aufbauend auf diesen Hypothesen gestaltet der Coach sein kommunikatives Angebot. Der Coachee hat das Interesse, als Individuum im Coaching respektiert zu werden. Der Coach hat das Interesse, bestmöglich die zentralen Anliegen und das Ziel von Coaching zu verfolgen. Er berücksichtigt insofern die Individualität seines Coachee, indem seine sprachlichen, visuellen und haptischen Reflexionsangebote der Individualität seines Coachee entsprechen. Beispiel — Der Coach nimmt wahr, dass sein Coachee ein großes Bedürfnis nach Struktur, Ordnung und Stabilität hat. Er entschließt sich, seinen Coachee periodisch zu fragen, in welcher Phase des Prozesses das Coaching gerade ist, um dieses Bedürfnis im Sinne der Interessen des Coachee und von Coaching zu nutzen. Beispiel — Der Coach nimmt wahr, dass sich sein Coachee sprachlich an einem Wert „Allgemeinverständlichkeit“ orientiert. Er entschließt sich, im Coaching besonders auf die Vermeidung von Fremdwörtern zu achten. Hinweis — Umgangssprachlich wird dieses Verhalten eines Coach als „wertschätzend“ bezeichnet. Der Coach schätzt bzw. respektiert die Werte (die Individualität) seines Coachee. Wertschätzendes Verhalten eines Coach ist ohne persönliche Kompetenz nicht möglich. 145

Sprachlich andocken Über Sprache (verbal und nonverbal) drücken Coachee und Coach ihre Gefühle, Motive, Bedürfnisse und Werte aus. Im Coaching nutzt der Coach Sprache (auch in Form von visuellen Angeboten), um Reflexion beim Coachee auszulösen und den Coachingprozess zu führen. Sind die sprachlichen Angebote des Coach vom Coachee nicht an seine vorhandenen Strukturen andockbar, das heißt, gelingt dem Coachee keine Verknüpfung mit Bekanntem, so verliert die Absicht des Coach ihre Wirkung. Im Coaching achtet der Coach darauf, seine sprachlichen Angebote für seinen Coachee andockbar zu gestalten. Als Ausdruck seiner Feldkompetenz eignet sich ein Coach branchen- und kulturspezifische Sprachanteile an. Als Ausdruck seiner persönlichen Kompetenz reflektiert der Coach seinen Sprachgebrauch im Kommunikationskontext und passt ihn an seinen Coachee an. Beispiel Feldkompetenz — Coaching in einer Werbeagentur. Der Coach kennt die Anglizismen dieser Branche, z.B. „Pitch“, „Crossmarketing“, „Keyvisual“. Beispiel persönliche Kompetenz — Der Coach verzichtet auf Wortverwendungen, die ausschließlich im Coaching üblich sind. Statt „assoziiert“ verwendet er „in Kontakt mit Gefühlen“. Sprache ist das Medium zum Aufbau eines Kommunikationskontextes. Formalen Kontrakt schriftlich vereinbaren Der formale Kontrakt im Coaching ist eine Vereinbarung aller Beteiligten zu rechtlichen Belangen der Dienstleistung Coaching. Da der Vertrag für die zeitlich befristete Zusammenarbeit von Coach und Coachee gilt, ist er Teil des Kommunikationskontextes. Er kann während des eigentlichen, konkreten Coaching geschlossen werden oder, z.B. als Rahmenvertrag, vorab. Die Fähigkeit des Coach, einen Kommunikationskontext zu vereinbaren, bezieht sich auf ... • die Vereinbarung von Werten und Verantwortlichkeiten; • die Aufnahme der Erwartungshaltung des Coachee; • die Auseinandersetzung mit Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen, Werten des Coachee; • die Vereinbarung eines formalen Kontrakts.

6.10 Branchen-, themenspezifische oder kulturelle Fähigkeiten Taxonomiestufe Beispiel — 4 Kompetenzbereich Feldkompetenz 146

Interagierende Kompetenzbereiche Fachlich-methodische Kompetenz, persönliche Kompetenz, sozio-kommunikative Kompetenz, Feldkompetenz Vernetztes Faktenwissen Hypothesenbildung, Angebote auf Abstraktionsebene, Coachingprozess, interagierende Kompetenzbereiche, Fragearten, Frageabsichten, Werte und Anliegen von Coaching, Verantwortlichkeiten im Coaching u.a. Anwendungskontext(e) Konkrete Phasen im Coachingprozess Mögliche Transferkontexte Analog zum gewählten Feld Unterstützende Wissenschaftsdisziplinen — dargestellt in den Abstracts ... Linguistik, Semantik u.a. abhängig vom gewählten Anteil im Bereich Feldkompetenz Feedbackmaßstab von Übungen Orientiert am Anwendungskontext Feedbackmaßstab innerhalb der Handlungskompetenz 1. Kompatibilität mit den Werten und zentralen Anliegen von Coaching 2. Orientierung an den Verantwortlichkeiten im Coaching Ein Coach ist dann ausgebildet, wenn er alle Fähigkeiten der Kompetenzbereiche „persönliche Kompetenz“, „sozio-kommunikative Kompetenz“ und „fachlich-methodische Kompetenz“ in der Taxonomiestufe 4 erreicht, den Sinn des Kontextes Coaching erfasst hat und die Koordination all dieser Ressourcen selbstgesteuert in einem situativ individuellen Handeln realisieren kann. In den Kontext Coaching können zusätzlich Anforderungen an Kompetenz unterschiedlicher Anspruchsgruppen eingehen. Orientiert an diesen Anforderungen, differenziert sich eine Ausbildung. Die allgemeinen Anforderungen, s.o., beinhalten, dass ein ausgebildeter Teilnehmer grundsätzlich coachen kann, und müssten demzufolge durch alle Coachausbildungen realisiert werden. Die speziellen Anforderungen an Kompetenz betreffen daher ausschließlich den Bereich der Feldkompetenz. Hinweis — Am Markt sind unterschiedliche Bezeichnungen der feldspezifischen Differenzierung von Coach zu finden. Oftmals ist auch der verwandte Ansatz Teil dieser Differenzierung. Beispiel — Systemischer Management-Coach: Der sich so bezeichnende Coach weist seinen Kunden damit darauf hin, dass er einen systemischen Ansatz verfolgt und über spezifische Erfahrung im Bereich Management verfügt. Eine Fähigkeit der Taxonomiestufe 4 bedeutet für den Bereich der Feldkompetenz, dass ein Coach entweder seine branchen- oder themenspezifische oder kulturelle Erfahrung oder in Kombination in seinem Handeln als Coach realisiert. Hinweis — Kultur ist ein sprachliches Konstrukt, das stellvertretend für den ethischen, das heißt wertegedeuteten Kontext, den eine Gruppe von Menschen bildet, steht. Der Coach hat im Sinne der Taxonomiestufe 4 ... 1.

faktisch richtiges Wissen in Bezug auf eine Branche, ein Thema, eine bestimmte Kultur erworben; 147

2. 3. 4.

dieses Wissen im Kontext einer Branche, eines Themas, einer Kultur angewandt; über sein systemisches Agieren in diesen Kontexten reflektiert und einen Transfer in den Kontext Coaching erbracht.

Feldkompetenz interagiert mit allen anderen Kompetenzbereichen und wirkt sich demzufolge auch auf alle, diesen Bereichen zugeordneten Fähigkeiten, aus. Themenspezifische Ausdifferenzierung von Fähigkeiten Beispiel Thema „Gesundheit“ Im Zusammenhang mit dem Thema werden für die Ausbildung fachliche Inhalte und Orientierungswissen zum Thema Gesundheit identifiziert. Das beinhaltet auch die etymologische Wortdeutung, die Vielfalt der Wortverwendung „Gesundheit“ in unterschiedlichen Kontexten und die Identifikation angrenzender, synonymer Begriffe. Thematische Ressourcen für eine Ausbildung können durch Recherche identifiziert werden, z.B. in: • privaten Einrichtungen • staatlichen Einrichtungen • Zertifizierungsinstanzen • Rechts- und Regelwerken, Verordnungen • Curriculare der Wettbewerber • Veranstaltungen (Messen, Kongresse, Vorträge u.a.) • bei Praktikern und „Professionals“ • Fachbibliotheken und Büchereien • Verbänden und Institutionen • eigenen Aus- und Weiterbildungen • Berufsbildern • Studiengängen Die Auswahl der fachlichen Inhalte eines Themas für eine Ausbildung orientiert sich • am „Gemeinsamen“ unterschiedlicher Quellen • an der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit • am Pragmatismus, das heißt, Inhalte und Strukturen des Themas müssen im Coaching in unterschiedlichen Abstraktionsniveaus angeboten werden können. • aachliche Kompatibilität zu anderen Themen der Ausbildung • an der Berücksichtigung des Konstruktivismus Die themenspezifische Ausdifferenzierung von Fähigkeiten bedeutet für den Bereich der fachlich-methodischen Kompetenz zusätzlich, dass der Coach seine thematische Ressource „Gesundheit“ nutzt, um seinem Coachee Modelle oder Axiome auf Abstraktionsebene anzubieten, die seine Wahrnehmung erweitern, seine Entscheidungsfähigkeit fördern und Verhaltensalternativen auslösen. Orientiert an der Wirkungserwartung der einzelnen Phasen im Coachingprozess trifft der Coach seine Entscheidung für ein Angebot. Innerhalb der Phase „Thema- und Zielklärung“ wird er zur visuellen Aufstellung Modelle einsetzen, die das Thema Gesundheit systemisch abbilden. Innerhalb der Phase „Ressourcenidentifikation“ wird er, orientiert am Kompetenzmodell, im Bereich „Feldkompetenz“ Ressourcen im Sinne von 148

Wissen und Erfahrung zum Thema „Gesundheit“ einschließlich Kenntnisse gesundheitsspezifischer Methoden/Vorgehensweisen/Abläufe identifizieren. Zusätzlich bietet er, basierend auf seiner Hypothesenbildung, gesundheitsspezifische, strukturelle Ressourcen an. Innerhalb der Phase „Entwicklung und Auswahl von Verhaltensalternativen“ wird er Ressourcen des Bereichs Feldkompetenz und gesundheitsspezifische, strukturelle Ressourcen zur Verknüpfung mit dem Thema Gesundheit anbieten und so Verhaltensalternativen auslösen. Branchen- und kulturspezifische Ausdifferenzierung von Fähigkeiten Beispiel — Das staatlich anerkannte Berufsbild einer Bürokauffrau (bzw. eines Bürokaufmanns) ist grundsätzlich in jeder Branche anwendbar. Sobald eine Bürokauffrau in einer bestimmten Branche arbeitet, wird sie zusätzlich branchenspezifische Fähigkeiten entwickeln müssen, um in ihrem spezifischen Feld situativ erfolgreich zu sein. In der Werbebranche kann das z.B. bedeuten, dass sie ... • branchenspezifische Wortverwendungen, z.B. „pitch“ oder „relaunch“ deuten kann; • tätigkeitsrelevante branchenspezifische Abläufe, z.B. „Crossmediabudgetabrechnungen“ beherrscht; • branchenspezifische Werte und Normen identifiziert hat und sich daran orientiert, z.B. die Anrede „Du“ für alle Ebenen eines Unternehmens anwendet oder Regelungen des Rundfunkstaatsvertrags (RStV) in ihrer Arbeit berücksichtigt. Ein Coach, der branchen- und kulturspezifisch ausgebildet ist, benötigt im Gegensatz zu einer Bürokauffrau keine spezifischen Fähigkeiten einer Branche, wohl aber muss er über reflektierte branchenund kulturspezifische Erfahrungen verfügen, um einen sozio-kommunikativen Kontext zu gestalten, der das „Besondere“ einer Branche berücksichtigt. Angebote auf Abstraktionsebene orientieren sich zusätzlich an diesen Besonderheiten, das heißt, sie berücksichtigen in der Branche oder der Kultur vorhandene oder bekannte Modelle oder Axiome. Sie sind in besonderem Maße sprachlich andockbar. Beispiel AIDA Modell — Ursprünglich zur Gliederung von Verkaufsgesprächen entwickelt, findet dieses Modell innerhalb der Werbebranche vielfach Anwendung von der Planung bis zum Controlling von Strategien. Dieses vollzieht sich in vier aufeinanderfolgenden Stufen: „attract Attention“ (Aufmerksamkeit erregen) „maintain Interest“ (Interesse aufrechterhalten) „create Desire“ (Besitzwunsch auslösen) „get Action” (handeln im Sinne von „kaufen“) Als kontextloses Modell ist es eine grobe Vereinfachung des Werbewirkungsprozesses und unterliegt damit oft fachlicher Kritik. Sobald es systemisch innerhalb des thematischen Kontextes angewandt wird, ist es für den Coachee als Reflexionsangebot auf Abstraktionsebene nutzbar. Z.B. in Themen wie Selbstvermarktung. Voraussetzung ist, dass in der Phase „Ressourcenidentifikation“ Ressourcen des Coachee identifiziert wurden, die in der Phase 4 des Coachingprozesses mit dem AIDA-Modell verknüpft werden können. Beispiel Ressourcenidentifikation — „Was wissen Sie über das, was in Ihrem Kontext wichtig bzw. bedeutsam ist (analog zu Werten)?“ „Welche Interessen gibt es in Ihrem Kontext (analog zu Motiven)?“ Beispiel Entwicklung und Auswahl von Verhaltensalternativen — „Welchen Zusammenhang gibt es zwischen dem AIDA-Modell und Ihrem Thema (Selbstvermarktung)?“ „Welche Ressourcen können Sie nutzen, um die einzelnen Phasen des Modells zu füllen?“ 149

Tipp — AIDA-Modell kann auch für Coachees eingesetzt werden, die nicht der Werbebranche entstammen. In diesem Fall ist es in der Phase „Ressourcenidentifikation“ als strukturelle Ressource zu verwenden. Hinweis — Eine wissenschaftlichen Überprüfung des AIDA-Modells sollte unter systemischkonstruktivistischen Gesichtspunkten im Anwendungskontext Coaching erfolgen. Ein Coachee nutzt ein Modell, da es ihm Zusammenhänge anbietet, aus denen er selbst Lösungen ableiten bzw. entwickeln kann. Insofern ist ein Modell im Coaching hingehend der Richtigkeit angebotener Zusammenhänge zu bewerten. Bedeutung des Feldkompetenzanteils einer Ausbildung für die Auswahl von Teilnehmern Feldkompetenz bedeutet in erster Linie Erfahrung in einem bestimmten Feld. Erfahrung ist das Ergebnis individueller Reflexion von Handlungen in einem bestimmten Kontext. Sie bezieht sich innerhalb der Feldkompetenz auf ein Thema, z.B. Gesundheit, auf eine Branche, z.B. Werbung und/oder Kultur. Diese Erfahrung wird idealerweise reflektiert auf andere Kompetenzbereiche übertragen. Fehlt die Erfahrung, ist die Grundlage für eine Reflexion systemischen Agierens (Taxonomiestufe 3) und einen konstruktivistischen Kontexttransfer (Taxonomiestufe 4) nicht gegeben. Für eine Ausbildung bedeutet das, dass entweder innerhalb der Ausbildung Erfahrung in einem bestimmten Feld ermöglicht wird oder aber bei der Auswahl von Teilnehmern auf eben diese Erfahrung geachtet wird.

Die beiden im Buch dokumentierten Coachings können Sie im praktischen Einsatz mit dem theoretischen Gerüst abgleichen.

150

7 Identifikation von pädagogischer und betriebswirtschaftlicher Qualität 7.1 Die Zertifizierung — Überprüfung von Coachkompetenzen Es sollte der Grundsatz gelten: Alles was gelehrt wird, ist prüfbar und alles was geprüft wird, muss gelehrt worden sein. Teilnehmer einer Coachausbildung haben einen Anspruch auf Transparenz, Fairness und Überprüfbarkeit ihrer Bewertung — aber nicht nur die Teilnehmer sondern alle Beteiligten innerhalb des Kontextes Coachausbildung. Das curricularen System legt fest, wer Beteiligter ist (und wer nicht). 7.1.1 Faktische Grundlagen der Prüfung Jedes Ausbildungsistitut wird für sich allein oder auf der Basis einer Verbandsmitgliedschaft die „Essentials” seiner Ausbildung definiert und veröffentlicht haben. Dazu (können) zählen: Die formalen Vorausssetzungen zur Zertifizierung • • • • • • • •

Alter Schulbildung Berufsausbildung Berufserfahrung Polizeiliches Führungszeugnis Selbsterklärung zur seelischen Gesundheit Nachweis der Ausbildungsteilnahme Bestätigung der Zertifizierungsreife durch den Ausbilder

Der Coachingprozess Der Prozess im Coaching ist eine Methode. Sie ist sozusagen d i e Methode von allen anderen Methoden, die im Coaching Anwendung finden können. Diese strategische Methode spiegelt den Ablauf wider, den das Ausbildungsinstitut definiert hat. Die Methode (der Prozess) soll gewährleisten, dass der Coachee in die Lage versetzt wird, aus eigenem Vermögen eine nachhaltige Selbstlernkonzeption zu kreieren. Der Coach als Hüter dieser strategischen Methode steht in der Beobachtung und Bewertung, ob die Schritte der Methode und den damit verbundenen, definierten Folgen (Interventionen) durch den Coach eingehalten werden. Über diese zentrale Bedeutung für das Coaching und den Coachingerfolg hinaus, sind weitere „Unterstützungsmerkmale” von Bedeutung: •

Respektvoller und wertschätzender Umgang des Coach mit dem Coachee. Wobei Respekt eine Haltung beim Coach bestimmt, die ihn den anderen als Menschen achten und dessen Menschenwürde anerkennen lässt. Wertschätzung bedeutet für den Coach auch, dass er dem Coachee mit hoher Aufmerksamkeit seiner Person, seinen Meinungen, Ansichten und Argumenten begegenet. Diese aufgeschlossene und zugewandte Anerkennung bedeutet aber nicht die „Kritiklosigkeit” des Anderen.

151





Der Coach realisiert eine professionelle Distanz zum Coachee. Hier sind die aus und an den Werten gebildeten Verhaltensweisen als Coach gemeint. Typische Werte sind für den Coach die Achtung der Freiheit der Entscheidung des Coachee, die Freiwilligkeit des Coachee sich zu ändern und damit die Inhalte seiner Veränderung festzulegen, das Recht des Coachee, selber in Freiheit und Freiwilligkeit Handlungsoptionen für sein zukünftiges Verhalten zu kreieren sowie uneingeschränkt die eigene Selbststeuerung zu realisieren. Der Coach hat die Prozessverantwortung. Der definierte Prozess als die strategische Methode, durch die der Coachee selbst organisiert und motiviert seine nachhaltige Selbstlernkonzeption entwickelt und controllt und um zukünftige Ereignisse zu identifizieren, die seine Verhaltensoptionen hindern, realisiert zu werden. Die Führungsverantwortung des Coach beinhaltet aber auch, seinen Coachee mit Reflexionen nach dem Ausmaß seiner notwendigen Selbstentwicklung zu konfrontieren, um gewollte Ziele mit Fertigkeiten und Fähigkeiten selbst geplant, koordiniert und mit Entschlusskraft zu realisieren. Mit den in den einzelnen Phasen des Prozesses angbotenen Reflexionsangeboten auf der Basis von Modellen und Axiomen delegiert der Coach die Denk- und Entwicklungsarbeit auf den Coachee. Der Coach führt auch dann den Prozess, wenn er seinen Coachee über die einzelnen Schritte seines Tuns informiert und dem Coachee die Möglichkeit des Einspruchs gibt, damit psychische und physische Überforderungen im Coaching entgegengewirkt werden. Der Coach beobachtet auch den Verlauf des Coaching auf die Frage hin, ob in der Kontraktphase beide als Arbeitspartner richtig ausgewält wurden.

Die sozio-kommunikativen Fertigkeiten und Fähigkeiten •



• •



Der Coach kommuniziert in einer für den Coachee lernbaren Sprache. Syntax, Sprachniveau, Begriffsverwendung und geeignete sprachliche Reduktionen prägen das situative Sprachverhalten des Coach. Hauptmittel der Kommunikation um Reflexion auszulösen, sind die Fragearten: offene Frage, zirkuläre Frage, hypothetische Frage, skalierende Frage sowie deren Kombination sowie Visualisierungsangebote, z.B. in Form von Begriffen auf laminierten Karten (wissenschaftlich überprüfbaren Modellen). Im Widerspruch zu den Werten des Coaching und damit der Kultur des Coaching sind geschlossene Fragen und suggestive Fragen anzusehen. Die sozio-kommunikative Kompetenz des Coach dient hauptsächlich der Wahrnehmungserweiterung innerhalb des Themas im Kontext durch den Coachee. Dazu zählt insbesondere auch das Bewusstwerden vorhandener und noch zu erwerbender Ressourcen für die kreative Entwicklung der Handlungsoptionen. Der Coach hat die Verantwortung für die Entwicklung eines tragfähigen gemeinsamen Kommunikationskontextes.

Die fachlich-methodischen Ausbildungsinalte Die fachlichen und methodischen Mindestanforderungen sollen im Coaching erkannt werden können. Sie orientieren sich an den Anforderungen des Coachingprozesses. Jede einzelne methodische Sequenz erfordert eigenständiges Wissen. Dazu zählen: • • • 152

Fähigkeiten des Coach Kenntnisse betriebswirtschaftlicher Zusammenhänge Rechtskenntnisse

7.1.2 Die Prüfungsteile Hausarbeit Die Hausarbeit dient dazu dem Prüfling Gelegenheit zu geben, zu zentralen Fragen des Coaching und der Coachtätigkeit Stellung zu nehmen. Die Anfertigung der Hausarbeit ist sozusagen die letzte Ausbildungseinheit, da der Prüfling aufgefordert ist, zu vorgegebenen Themen zu reflektieren und seine Meinung schriftlich zu fixieren. Die Ausführungen der Hausabeit können im Fachgespräch der Prüfung Gegenstand von Diskussionen werden. Die nachfolgenden Themen eignen sich besonders gut für die Hausarbeit: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Begründen Sie warum Coaching ein Teil Ihrer Identität ist. Reflektieren Sie anhand typischer Situationen Ihr Verhalten im Hinblick auf Ihre Assoziation und Ihre damit verbundenen Selbststeuerungsaktivitäten. Beschreiben Sie die grundsätzliche Vorgehensweise bei der Entwicklung von Methoden im Coaching. Reflektieren Sie über den Zusammenhang von sozio-kommunikativer, persönlicher und Handlungskompetenz. Entwickeln Sie einen möglichen „ethischen Maßstab“, um eine hinreichende, eigene Feldkompetenz im Coaching zu gewährleisten. Begründen Sie den betriebswirtschaftlichen Mehrwert von Coaching auch in Abgrenzung zu Training, Führung, Beratung, Supervision und Mediation. Welche persönlichen Lernprozesse mussten Sie durchleben und reflektieren, um zu merken, dass Sie ein professioneller Coach sind? Welche Strategien der weiteren Entwicklung als professioneller Coach haben Sie initiiert?

Das Fachgespräch Das Fachgespräch ist nicht die Situation, in der Faktenwissen abgefragt wird, wohl aber das Verständnis für eigenes Tun und Unterlassen. Ein Prüfling sollte in der Lage sein, über seine Coachtätigkeit in der Prüfungssituation zu reflektieren, Auskunft über Bewertungen, Alternativen aber auch Versäumnisse, Fehler in der Vorgehensweise und innere Entscheidungskonflikte aufzuzeigen. Im Kern geht es auch hier darum analog des Kompetenzmodells, Erkennisse für Bewertungen zu erhalten. Jede Frage, die dies berücksichtigt, ist auf der Basis des abgelaufenen Coaching sinnvoll und daher erlaubt. Die nachfolgenden Fragen dienen zur Ergänzung im Fachgespräch: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Was will Coaching erreichen? Welche Bedeutung hat der Prozess im Coaching? Welche wissenschaftliche(n) Grundlage(n) nutzen Sie zur Hypothesenbildung? Inwieweit beeinflussen Ihre eigenen Motive und Werte Ihre Arbeit als Coach? Wodurch konkret grenzen Sie Coaching, Beratung und Training voneinander ab? Welche Ressourcen benötigt ein Coach? Was ist systemisches Coaching? Welche Bedeutung hat der Wert „Loyalität“ für den Kontrakt? 153

9. 10.

Wie entsteht und wodurch begründet sich eine Methode? Was ist „Konstruktivismus“ und welchen Beitrag leistet er zum Coaching?

Commitment Die Tätigkeit des Coach ist vor allem durch Verantwortungsbewusstsein geprägt. Verantwortlich für eine Reihe von Beteiligten am Coaching, auch wenn sie nicht immer sichtbar oder präsent sind. Die Qualität und das Renommée einer Ausbildunginstitution wird in den Leistungen ihrer Absolventen sichtbar. Egal ob positive oder negative Wahnehmung durch die Marktteilnehmer — eine Frage wird sofort gestellt: „Wo ist der/die ausgebildet?” Schon im Eigeninteresse des Ausbilders sollte Einiges unternommen werden, um Qualitätsicherung zu etablieren. Und die fängt — wie so vieles — im Kopf an. Ein öffentliches Bekenntnis zu Werten und Normen eines ethisch-basierten Coaching wird für Viele handlungsbeinflussend sein. Sicherlich wird so ein zu bezeichnender „Eid” nicht in jedem Fall vor Unmoral schützen. Ein in der Öffentlichkeit, also ein so zu bezeichnender Eid vor Zeugen, abgelegtes Bekenntnis wird „haften bleiben”. Mediziner, Rechtsanwälte, Notare, Beamte, Polizisten, Minister usw. sind den Werten ihres Eides verpflichtet und damit auch überprüfbar und bewertbar. 7.1.3 Bewertung der Prüfung Der Schwerpunkt einer Prüfung oder Zertifizerung liegt in der Beobachtung und Bewertung von gezeigten Coachingleistungen. Insofern ist eine Zertifizierung eine Momentaufnahme des Könnens. Dieses situative Können, auch als Kompetenz definiert, gilt es zu erfassen, ist also keine Wertung, die auf vergangene Lernleistungen oder Lernbereitschaften abzielt, aber auch keine „Prognose”-Bewertungen, wie der Prüfling sich wohl in der Zukunft verhalten wird, insbesondere unter dem Aspekt, dass er in vielen Kontexten als Coach tätig sein wird, die mit dem Prüfungskontext wenig oder gar nichts gemein haben werden. Der Ausbilder trägt schon ein gerüttelt Maß an Verantwortung, wenn er den Teilnehmer einer Coachausbildung „frei spricht”, um zur Prüfung zugelassen zu werden. Durch den Umstand, dass eine Prüfung öffentlich sein soll, entsteht auch bewusst eine Prüfung für den Ausbilder. Bei verantwortungsvoller Betrachtung der Prüfungssituation wird schnell deutlich, dass wenige objekte Merkmale zur Prüfung aber viele subjektiv deutungsfähige Eindrücke zur Verfügung stehen. Objektive Merkmale der Bewertung von Kompetenzen 1. 2. 3. 4.

154

Faktisch richtiges Wissen von Modellen, Methoden und Werkzeugen Einhaltung des vorgegebenen Prozesses Reflexionsangebote auf Abstraktionsebene Auslösen einer nachhaltigen Selbstlernkonzeption

Drei Schritte der Bewertung Wer hat sich nicht schon über Prüfer geärgert, egal ob das Ergebnis „zu” negativ oder „nicht positiv genug” ausgefallen ist. Ja, Prüfer seien hier hier aber entschuldigt, denn auch sie konstruieren sich ihre Welt, deren Wahrnehmung und Deutung, denn sie können in der Regel nicht allen Anforderungen gerecht werden. Da unterscheiden sie sich weder vom Prüfling noch von den zukünftigen Kunden der geprüften Coachs — den Coachees. Dem Konstruktivismus, dem Systemischen vielleicht aber auch einigen Erkenntnissen von Systhemheorien sind wir alle verfallen oder unterliegen ihnen. Wie kann nun aber die subjekive Bewertung der Prüfer für die Prüflinge „erträglich” gemacht werden? Da die 100 %ige Objektivität nicht möglich ist, kann Folgendes praktisch erprobte Verfahren vielleicht helfen: 1.

2. 3. 4. 5. 6.

Festlegen eines Dreier-Schrittes: nicht bestanden, bestanden, überdurchschnittlich bestanden. Eine Bewertungsskalierung nach Schulnoten oder ein Punktesystem, wie an Universiäten scheint der Komplexität des Bewertungsvorganges nicht gerecht zu werden. Solange normierte Fakten abgefragt werden, kann es noch nachvollziehbar sein, was falsch und was richtig ist. Auch in deren Menge und Bedeutung, so es definiert ist. Aber schon bei einer Hausarbeit ist es nicht einfach, einen Maßstab zu definieren: Was ist „richtig” gefolgert, „richtig” logisch argumentiert oder „richtig” zwischen Alternativen entschieden? Gänzlich „unübersichtlich” zeigt sich die Situation „Coaching”. Die in einem Coachingprozess beteiligtigten Merkmale, Folgerungen, Interdependenzen und, und, und sind dermaßen vielfältig und komplex, dass sie für Beobachter nicht objektiv dokumentierbar und bewertbar sind. Auch Videoaufzeichnungen vom Coachingprozess des Prüflings führen selbst bei stundenlangen Diskussionen nicht zur Objekivität. Der Dreier-Schritt kann aber gut definiert werden, durch die seh- und hörbaren Merkmale. Sind die Merkmale definiert und in „Trockenübungen” mit den Prüfern reflektiert, können sie ... in praktischen Übungen „ohne Folgen” erprobt und dann in konkreten Prüfungssituationen angewendet werden. Ein erfahrener Supervisor sollte in den ersten vier bis sechs konkreten Prüfungssituationen anwesend sein und tätig werden.

Die Ausbildung der Prüfer und der Erhalt der Prüfungsqualität unterscheidet sich in der Methodik von der Qualifizierung von AC-Beobachter im Grunde nicht. Die absoluten „Dont's” des Prüflings Bei aller Nachsichtigkeit und angemessenem Wohlwollen gegenüber Prüflingen sollten einige Dinge festgelegt und kommuniziert sein, die zum Nichtbestehen führen. Also Merkmale, die nicht durch andere Prüfungsleistungen „heilbar” sind. Es sind deren wenige aber markante: 1.

2. 3.

„Black-Out” des Prüflings. Gemeint ist damit, dass der Prüfling sich durch sein Coachverhalten in eine Situation gebracht hat, aus der er nicht aus eigener Kraft wieder heraus kommt. „Ich weiß nicht weiter ...” ist die typische Redewendung. Fremde Hilfestellung, auch gut gemeinte, ist nicht akzeptabel. Die fremde Hilfe kann in verschiedenen Formen des Hörens, Sehens, Riechens oder anderer Unterstützung erfolgen. Ein Rat oder lösungsorienierte Kommunikationsangebote des Coach an den Coachee. 155

Die Wertigkeit der Prüfungsteile für die Gesamtbewertung In Einschätzung der Bedeutung einer Coachprüfung und eingedenk der Subjektivität in der Bewertung einer Coachingleistung, nicht nur von Prüfern sondern auch von künftigen Abnehmern der Coachingleistung, befürworten wir das Verhältnis 10 : 20 : 70. In das Gesamtergebis der Prüfung sollte die Hausarbeit mit 10 %, das Fachgspräch mit 20%, aber das eigentlich gezeigte Coaching mit 70% ins Gewicht fallen. Objektiv begründbar ist es nicht — aber aus der Erfahrung ist es sinnvoll und stößt auf breite Akzeptanz. Wiederholung der Prüfung Ja, „durchfallen” ist erlaubt. Es gibt mannigfaltige Gründe dafür. Sie sind nicht immer und in jedem Fall das Synomyn für „unfähig”. 1. 2.

Einzelne oder alle Prüfungsteile können bis zu zwei Mal wiederholt werden. Nicht gestattet sollte eine Prüfungswiederholung sein, die der Notenverbesserung dient.

Qualifikation der Prüfer Coachausbildungen mit Qualitätsansprüchen an die Ausbildungen legitimieren sich nicht nur durch ein begründbares curriculares Sytem mit seinen Inhalten, Methoden und Personen, sondern hauptsächlich durch die Qualität der Prüfer oder Zertifizierer. Der Prüfer ist nicht nur Kontrolleur oder Controller, er ist auch Wächter und Hüter. Die Prüfer entscheiden, wer als ausgebildeter und geprüfter Coach nicht nur Repräsentant des Ausbildungsinstitutes ist, sondern auch individuell wahrnehmbarer Vertreter der Coachingzunft. Erst durch den Mut und die Entschlusskraft der Prüfer, einem Prüfling ein Mindestmaß an Coachkompetenz abzuverlangen, wird Qualität gewährleistet. Als Prüfer sollte nur zugelassen werden ... 1. 2. 3. 4. 5.

wer selbst eine Coachausbildung absolviert hat; nachweislich als Coach tätig ist; sich der Ausbildung und Einarbeitung als Prüfer unterzogen hat; selbst rezertifiziert ist und als Mensch und Coach die zentralen Werte eines Coach lebt.

7.1.4 Zeitansatz der gesamten Prüfung Prüfer und Prüfling werden für die Prüfung strukturierte Zeit aufwenden müssen. Eine Hausarbeit, die der Komplexität der Thematik gerecht wird, wird drei bis fünf Stunden Aufwand bedeuten. Aus der Erfahrung, kann mit acht bis zwölf Seiten pro Prüfling gerechnet werden. Für den Prüfer bedeutet dieser Leseaufwand Frageschwerpunkte für das Fachgespräch zu entwickeln und eine Fragereihenfolge zu konstruieren, wohl insgesamt eine Stunde Zeitaufwand. Die konkrete Prüfung auf der Basis der Coachingsession sollte mit 60 Minuten veranschlagt werden, um einen realistischen Ausschnitt aus der Coachkompetenz des Prüflings zu erleben. Das anschließende Fachgespräch wird mit 15 Minuten veranschlagt. 156

Der Zeitansatz für die erlebbare Prüfung der Coachkompetenz des einzelnen Prüflings kann im Regelfall dann mit 90 Minuten angesetzt werden. 7.1.5 Re-Zertifizierung Wir können immer wieder am Markt beobachten, dass eine relativ große Zahl an neuausgebildeten Coachs auf den Coachingmarkt drängt. Wir wissen aber wenig über deren praktische Tätigkeiten als Coach. Die nur durch Übung aufrechtzuerhaltene Kompetenz als Coach geht aber ohne praktische Tätigkeit und deren Reflexion sonst verloren. Zum Erhalt des Coach-Zertifikats ist alle drei Jahre nach Zertifizierung eine Re-Zertifizierung durch den Prüfer oder Zertifizierer des Ausbildungsinstituts in folgenden Punkten ratsam: 1. 2. 3. 4.

Nachweis von mindestens drei Coach-Kunden pro Jahr mit insgesamt 30 Coaching-Stunden pro Jahr. Mindestens drei dokumentierte Coachings. Grundlage: Coaching-Prozess des Ausbildungsinstitus. Qualitative Auseinandersetzung — mündlich — mit der Handlungskompetenz als Coach. Schriftliche Selbstreflexion, orientiert am Kompetenzmodell. Die schriftliche Selbstreflexion beschreibt die Entwicklung der eigenen Kompetenzen seit der Zertifizierung und bietet einen Ausblick auf die Zukunft der Entwicklung.

7.2 Kriterienkatalog für die Auswahl von Coachs Vorbemerkung — Die Vorschläge zu Kriterien orientieren sich am Kompetenzmodell Coach und den Zusammenhängen von Zeit-Kosten-Qualität. Es wird davon ausgegangen, dass eine Vorauswahl, orientiert an der „Aktenlage“, getroffen wird. Die eigentliche Auswahl erfolgt nach einer persönlichen Vorstellung des Coach. Je sorgfältiger die Vorauswahl, desto wahrscheinlicher ist es, einen kompetenten Coach einzuladen. Unternehmensseitig ist zu prüfen, welches Verständnis von Coaching existiert und ob die Werte von Coaching mit der Unternehmenskultur korrespondieren. Es wird empfohlen, dass sich die zuständigen Funktionsträger selbst am Kompetenzmodell überprüfen, um „Sympathieentscheidungen“ zu vermeiden. Den Maßstab für den Kriterienkatalog bilden einerseits die vier zentralen Werte von Coaching: • Freiheit — Durch den Coachee selbst festgelegte nachhaltige Selbstlernkonzeption. • Freiwilligkeit — Der Coachee entscheidet persönlich seine Veränderungsthematik und den Zeitpunkt. • Ressourcenverfügung — Der Coachee hat selbstständigen Zugriff auf die Ressourcen, die zur Veränderungsrealisierung benötigt werden. • Selbststeuerung — Der Coachee ist in der Lage, Veränderungsanforderungen selbstständig zu erkennen und sich innerhalb von „Veränderungen“ zu steuern.

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Andererseits ist der Sinn von Coaching: • eine „nachhaltige Selbstlernkonzeption“ auszulösen. Es geht darum, dass der Coachee selbst erkennt, welche Kompetenzen er im Zusammenhang mit seinem Ziel erlangen muss und wie er diesen Weg beschreitet. Er verfügt über eine Konzeption zur Erreichung seines Ziels. „Nachhaltig“ meint, dass der Coachee aus sich heraus vergleichbare zukünftige thematische Situationen in unterschiedlichen Kontexten erfolgreich gestaltet. Kompetenzmodell Unter Kompetenz wird situativ-erfolgreiches Verhalten in Kontexten verstanden. Kompetenz basiert auf Ressourcen. Faktenwissen, Fertigkeiten, Werte, Motive, Fähigkeiten und reflektierte Erfahrungen bilden zusammen die Ressourcen. Ein Modell ist die komplexitätsreduzierende, abstrakte Darstellung von Wirklichkeit. Das Kompetenz-Modell für den Kontext „Coaching“ besteht aus fünf einzeln zu betrachtenden, aber in der Situation interagierenden thematischen Bereichen. Persönliche Kompetenz bedeutet in einem Kontext eigene Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen identifiziert zu haben und sich selbst in seinem Verhalten einschätzen zu können. Handlungskompetenz bedeutet, den Sinn eines Kontextes, sowie Unterschiede zu anderen Kontexten zu erkennen und die Koordination aller persönlichen Ressourcen selbstgesteuert in einem situativ-individuellen Handeln zu realisieren. Fachlich-methodische Kompetenz bedeutet, über fachliche Kenntnisse und Fertigkeiten eines Kontextes zu verfügen und Arbeitsabläufe ergebnisorientiert in diesem Kontext organisieren zu können.

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Sozio-kommunikative Kompetenz bedeutet sich in einer Situation selbstgesteuert mit Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen, Werten der eigenen Person und anderer Personen auseinanderzusetzen, Unterschiede zu erkennen um dadurch einen sozialen Kontext zu vereinbaren, der die Interessen aller Beteiligten berücksichtigt. Feldkompetenz bedeutet über reflektierte branchen-, themenspezifische und kulturelle Erfahrung in einem Kontext zu verfügen. Das abstrakt beschriebene Modell der Kompetenzen ist für spezifische Kontexte zu konkretisieren. Formale Kriterien Anhand formaler Kriterien wird eine Vorauswahl getroffen. Lebensalter Hinweis — Kompetenz erfordert reflektierte Erfahrung. Mit zunehmendem Lebensalter steigt die Wahrscheinlichkeit über reflektierte Erfahrung zu verfügen. Präferenzen der Kunden in Bezug auf das Lebensalter sollten berücksichtigt werden. Empfehlung — Mindestens 30 Jahre 159

Ausbildung • Ein Coach sollte über eine Ausbildung als Coach verfügen. Hinweis — Eine Aussage zur Kompetenz eines Coach ist aufgrund eines Ausbildungsnachweises nicht möglich. Der Nachweis erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass der Coach Coaching gelernt hat und es anwenden kann. Empfehlung — Nachweis von mindestens 150 Präsenzstunden • Ein Coach, der in einem unternehmerischen Umfeld arbeitet, sollte über eine nachweisliche Ausbildung in diesem Umfeld bzw. für dieses Umfeld verfügen. Hinweis — Im Rahmen seiner Feldkompetenz benötigt der Coach branchen-, themenspezifische und kulturelle Erfahrungen. Minimal benötigt er zumindest Orientierungswissen in Bezug auf die Kultur und Themen des auftraggebenden Unternehmens bzw. der Branche. Das bezieht auch Kulturen der Funktionsträger in das Unternehmen mit ein. Ein Coach, der Führungskräfte coacht, sollte selbst geführt haben und über ein Ausbildungsniveau verfügen, das eine formale Bewertung seiner intellektuellen Fähigkeiten ermöglicht. Der formale Nachweis branchen-, themenspezifischer und kultureller Erfahrungen im Feld des Auftraggebers erhöht die Wahrscheinlichkeit von Feldkompetenz. Empfehlung — Nachweis über „curriculum vitae” Erfahrung als Coach Kompetenz beinhaltet Erfahrung. Um situativ-erfolgreiches Verhalten im Kontext eines Unternehmens zu realisieren, es bewerten und transferieren zu können, muss ein Coach Praxis erworben haben. Vorteilhaft ist Praxis innerhalb der Branche des Auftraggebers. Hinweis — Der Nachweis von Erfahrung in Form von Referenzen oder Anzahl gecoachter Stunden erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass ein Coach Kompetenz entwickelt hat. Eine qualitative bzw. kompetenzorientierte Bewertung ist nicht möglich. Auch Aussagen „Dritter“ bieten keine Sicherheit, da zur Bewertung dasselbe Verständnis von Coaching wie das des Auftraggebers unterstellt werden müsste. Auch der Berater wird als sympathisch und hilfreich empfunden. Empfehlung — Nachweis der Praxisjahre/Anzahl der Coaching/mindestens drei Referenzen Methoden und Mittel Im Rahmen seiner Funktion trägt der Coach die Verantwortung für den Coachingprozess, der Coachee für das Ergebnis. Zentrale Methode ist der Coachingprozess. Der Prozess selbst hat das Ziel, die Anliegen von Coaching, s.o., zu ermöglichen und damit eine nachhaltige Selbstlernkonzeption zu erreichen. Er fördert das Lernen. Eingesetzte Methoden und Mittel sollten auf wissenschaftlich überprüfbaren Modellen basieren. Hinweis — Aus dem Prozess selbst muss plausibel ersichtlich sein, ob er einen Beitrag für eine nachhaltige Selbstlernkonzeption und die zentralen Anliegen von Coaching leisten kann. Verfügt ein Coach lediglich über Methoden, die auf Lebenserfahrung basieren und nicht aus wissenschaftlichen Theorien oder Modellen abgeleitet sind, besteht die Gefahr, dass die Auswahl der Methode über Hypothesen zustande kommt, die aus der Person des Coach kommen, demnach autoritär sind. In diesem Fall verfügt der Coach über kein Faktenwissen. Zum Faktenwissen gehört Wissen z.B. über Motivation. Diese mangelnden Ressourcen im Bereich fachlichmethodischer Kompetenz gehen zu Lasten der Handlungskompetenz. Nur Methoden zu kennen bedeutet, dass Methoden nicht selbst entwickelt werden können. Sobald der Coach auf eine Situation trifft, die nicht in seinem „Methodenkoffer“ enthalten ist, ist er „handlungsunfähig“. Empfehlung — Einreichen des Prozesses/Information über verwandte Theorien/Modelle/Axiome Wertesystem Das Wertesystem eines Coach ist Ausdruck des zugrundeliegenden Menschenbildes. Die Werte müssen mit den Werten von Coaching korrespondieren und zugleich unternehmerische Interessen des Auftraggebers wahren. 160

Hinweis — Ein Coach der weiß, „was gut für jemanden ist“, ist autoritär. Es besteht die Gefahr, dass er seinem Auftraggeber gegenüber nicht loyal ist und seinen Coachee zu der Erkenntnis coacht, das auftraggebende Unternehmen zu verlassen. Was in der Regel nicht im Sinne des Auftraggebers ist. Werte wie Loyalität, Diskretion sollten im Wertesystem des Coach enthalten sein. Sie bilden die Orientierung für sein „ethisches“ Verhalten. Empfehlung — Nachweis über die Ethik der Gemeinschaft eines Coach, z.B. Verband/Formulierung von mindestens fünf Werten, an denen sich der Coach orientiert. Verbandszugehörigkeit und Verbandszertifikate Hinweis — Dieses Kriterium erfordert Kenntnis des Verbandes und des Zertifizierungsverfahrens sowie der damit verbundenen Qualitätsaussage. Feldkompetenz kann z.B. kein Verband überprüfen. Zulassungskriterien eines Verbandes erfüllen die Funktion einer Vorauswahl anhand formaler Kriterien, z.B. Alter oder Studium plus Ausbildung als Coach. Empfehlung — Zertifikat als erwünscht sehen/Aufbau eigener Ressourcen zur Bewertung. Arbeitsprobe Hinweis — Arbeitsproben sollten durch einen Coaching-Kundigen bewertet werden, aber auch für den Laien verständlich sein (siehe Verständlichkeit). Zur Bewertung der Arbeitsproben werden „kritische Erfolgsfaktoren“ festgelegt, die in jedem Fall zu berücksichtigen sind. Diese Faktoren lassen eine Bewertung der fachlich-methodischen, der sozial-kommunikativen Kompetenz (Verständlichkeit für den Leser) und der Feldkompetenz zu. Als übergeordnetes Kriterium dient die Begrenzung der Arbeitsprobe auf jeweils eine DIN A4-Seite. Ein kompetenter Coach ist fähig, seine Ressourcen so einzusetzen, dass er Komplexität reduzieren und seine Hypothesenbildung begründen kann. Ein besonderes Augenmerk ist auf eine systemische Herangehensweise des Coach zu legen. Beispiel — Einleitung der Arbeitsproben „Bitte skizzieren Sie, basierend auf dem eingereichten Coaching-Prozess, auf maximal einer DIN A4-Seite Ihre Hypothesen und Ihre mögliche Vorgehensweise.“ Arbeitsprobe 1 — Ich will mehr Sport machen Kritische Faktoren — Unabhängig vom eigentlichen Ziel können andere Einflussgrößen den Veränderungswunsch ausgelöst haben (z.B. Ehefrau, Wert Ästhetik uvm.). Vorgehensweise und Hypothesenbildung müssen das berücksichtigen. Das Thema steht im Zusammenhang mit Motiven. Der Coach sollte dahingehend Hypothesen bilden. Idealerweise formuliert der Coach Hypothesen, die einen Antrieb in Bezug auf körperliche Aktivität berücksichtigen und bietet ein mögliches Vorgehen an, das seinen Coachee anregt, über seine Motive in Bezug auf o.a. Thema nachzudenken und sie zu bewerten. In jedem Fall sind Ressourcen in Bezug auf die gebildeten Hypothesen durch den Coachee zu bewerten. (In diesem Fall „minimal”. Wie steuert sich der Coachee in welcher Situation erfolgreich? Was weiß er über seine Motive?) Arbeitsprobe 2 — Ich will mein Zeitmanagement verbessern Kritische Faktoren — Zeit selbst kann nicht „gemanaged“ werden nur das Selbst. Der Coach sollte erkennen, dass es um Selbstmanagement bzw. Selbststeuerung geht und dahingehend Hypothesen bilden. Dafür ist es wichtig zu überlegen, in welcher Situation das Thema ein Thema ist und welche Motive mit diesem Thema in Zusammenhang stehen könnten. Der Coach bietet ein mögliches Vorgehen an, das seinen Coachee anregt, über seine Motive und Situationen in Bezug auf o.a. Thema nachzudenken und sie zu bewerten. In jedem Fall sind Ressourcen in Bezug auf die Hypothesen durch den Coachee zu erfassen. Arbeitsprobe 3 — Meine Mitarbeiter machen nicht das, was sie sollen Kritische Faktoren — Der Coach sollte erkennen, dass nur sein Coachee sich verändern kann und dies in seinem Vorgehen zum Ausdruck bringen. Im Rahmen seiner Feldkompetenz sollte er erkennen, dass es um Führung geht und plausible Hypothesen und Vorgehensweisen anbieten. Idealerweise erkennt er, dass es bei der Hypothesenbildung auch um Selbstführung und Motive 161

des Coachee und der Mitarbeiter geht. In jedem Fall sind Ressourcen in Bezug auf die Hypothesen durch den Coachee zu erfassen. Verständlichkeit Hinweis — Von einem Coach darf erwartet werden, dass er im Rahmen seiner Kompetenz in der Lage ist, über Anforderungen von Kontexten zu reflektieren und dass er sich in unterschiedlichen Kontexten situativ erfolgreich verhalten kann. Der Leser eingereichter Unterlagen darf im Umgang mit ihm Kompetenz erwarten. Anhand der Verständlichkeit, auch für Coaching-Laien, ist ein Rückschluss auf sozial-kommunikative, fachlich-methodische und Feldkompetenz möglich, die sich in der Handlung ausdrückt. Empfehlung — Alles Unverständliche, Nichtplausible auszusortieren Setting Hinweis — Setting bedeutet, dass der Coach eine bestimmte Ablaufstruktur für Coachingsitzungen bevorzugt. Am Markt gibt es oftmals Settings, die sich über mehrere Monate ausdehnen, wobei die einzelne Coaching-Sitzung max. zwei Stunden beträgt. Coaching bedeutet auch, dass der Coachee selbstständig wird. Kurze Sitzungen beinhalten An- und Abreise und Unterbrechungen der Wertschöpfungskette. Das Setting sollte zu den Anforderungen des Unternehmens passen, plausibel sein und die Werte von Coaching reflektieren. Lange Settings deuten oftmals darauf hin, dass ein Coach entweder wenig Ressourcen hat oder aber seinen Coachee in Abhängigkeit halten möchte. Empfehlung — Setting einfordern Information zum Kontrakt Hinweis — Zu jedem Coaching gehört ein Vertrag. Als Verantwortlicher für den Prozess sollte ein Coach den von ihm verwandten Prozess als Teil des Vertrages sehen und die Ergebnisverantwortung des Coachee akzentuieren. Wünschenswert sind Hinweise zum Verfahren bei Abbruch oder Versäumen eines Coaching durch Coach oder Coachee. Der Vertrag sollte rechtlich unbedenklich sein. Empfehlung — Informationen zur Vertragsgestaltung einfordern Kosten — Empfehlung: Informationen zu Kosten einfordern/eine sorgfältige und überlegte Vorauswahl vermindert Kosten Bewertungskriterien für die Auswahl Die engmaschigen Filter der Vorauswahl erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass nur Coachs eingeladen werden, die bereits eine hohe „Passung“ zum Unternehmen aufweisen. Empfehlenswert ist ein Auswahlgespräch unter Beteiligung von Linienvorgesetzten und ggf. des Betriebsrates. Allen Beteiligten müssen die Vorauswahlkriterien sowie Sinn und Anliegen von Coaching vertraut sein. Auf diese Weise kann die Akzeptanz der getroffenen Wahl erhöht werden. Ziel der Auswahl sollte es sein, zu überprüfen, ob der Coach Handlungskompetenz erworben hat. Empfehlenswert sind daher Aufgaben, Fragestellungen die einen Transfergedanken beinhalten. Bewährt hat sich in diesem Zusammenhang, einen engen zeitlichen Rahmen für bestimmte Aufgaben zu setzen (vergleichbar einem elevator-pitch/Fahrstuhlfahrzeit von 30 sec.). Wer als Coach Handlungskompetenz hat, ist fähig, auch in einem engen zeitlichen Rahmen verständlich und plausibel zum Ausdruck zu bringen, was er unter Coaching versteht. Zur Verbesserung der Bewertung wird empfohlen, Vergleichbarkeit herzustellen und Formen eines halb-strukturierten Interviews zu nutzen. Die Bewertung sollte sich am Kompetenzmodell und den unternehmensspezifischen Anforderungen orientieren und in diesem Rahmen das Kriterium Plausibilität nutzen. Empfehlung für Fragen (Struktur) • Was will Coaching erreichen? • Welche Bedeutung hat der Prozess im Coaching? • Welche wissenschaftliche(n) Grundlage(n) nutzen Sie zur Hypothesenbildung? • Inwieweit beeinflussen Ihre eigenen Motive und Werte Ihre Arbeit als Coach? 162

Hinweis — Diese Frage untersucht die persönliche Kompetenz des Coach. • Wodurch konkret grenzen Sie Coaching, Beratung und Training voneinander ab? • Welche Ressourcen benötigt ein Coach? • Was ist systemisches Coaching? • Welche Bedeutung hat der Wert „Loyalität“ für den Kontrakt? • Wie entsteht und wodurch begründet sich eine Methode? • Was ist „Konstruktivismus“ und welchen Beitrag leistet er zum Coaching? • Fragen zur Feldkompetenz im Rahmen der Anforderungen des Unternehmens Beispiele • Welche vertrieblichen Themen hat eine Versicherung? • Wie beeinflussen Veränderungen am Markt die Organisation von Versicherungen? • Wie beschreiben Sie die Organisationsform unserer Versicherung? • Welche Themen und welche Funktionsebenen coachen Sie? Bitte bewerten Sie Ihre Kompetenz im Hinblick auf unsere Anforderungen. Schlussbemerkung Auch die überlegteste Entscheidung wird letzten Endes in Unsicherheit getroffen. Ob die Wahl die „Richtige“ ist, kann nur über das Feedback der Coachees bewertet werden. Coaching sollte innerhalb des Personalentwicklungskonzeptes verankert und als Maßnahme Teil einer Strategie sein, die allen bekannt ist. Personal-, Personalentwicklungsverantwortliche, Führungskräfte der Coachees, Coachees und Coachs sollten am Prozess der Evaluation beteiligt sein.

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8 Rechtliche, normative und betriebswirtschaftliche Bezüge einer Ausbildung 8.1 Recht im Coaching Coaching gewinnt durch die zunehmende Zahl an Coachs, Coachausbildungen und dessen kommerzielle Akzeptanz sowie Bedeutung in der persönlichen und unternehmerischen Personalentwicklung immer mehr an Aufmerksamkeit. Eine knappe Darstellung der rechtlich relevanten Aspekte sowie zweier Vertragsmuster im Vertragsrecht von Coaching entspricht dem Bedürfnis der Praxis im Kontext Coaching. Vor allem Coachs und Coachausbilder ohne rechtliche Kenntnisse oder rechtsanwaltlichen Beistand scheuen sich, schriftliche Verträge zu gestalten. In diesem Kapitel werden grundlegende Rechtskenntnisse für die vertragliche Beziehung zwischen Coachausbildern und Teilnehmer sowie Coach und Coachee vorgestellt und sollen Orientierung geben. 8.1.1 Vertragsverhältnis Literatur — WOLFGANG JOECKS, Studienkommentar StGB, 8. Auflage 2009; JAN KROPHOLLER, Studienkommentar BGB, 11. Auflage 2008; HANS-JOACHIM MUSIELAK, Grundkurs BGB, 11. Auflage 2009; PALANDT, Bürgerliches Gesetzbuch, 69. Auflage 2010. Sowohl die Arbeit als Coach als auch als Coachausbilder beruht auf rechtlichen Rahmenbedingungen und einem zivilrechtlichem Vertragsverhältnis. Das bürgerliche Recht geht vom Grundsatz der Privatautonomie aus, sodass der Einzelne seine Lebensverhältnisse im Rahmen der Rechtsordnung eigenverantwortlich gestalten kann. Die Privatautonomie ist Teil der allgemeinen Selbstbestimmung/Handlungsfreiheit und wird primär durch Art. 1 GG und Art. 2 GG geschützt (vgl. BVerfGE 70, 123, BVerfGE 72, 170; HEINRICHS in PALANDT, BGB, Überblick vor § 104 Rn.1). Ein Vertrag ist ein zweiseitiges Rechtsgeschäft, an dem mindestens zwei Parteien beteiligt sind. Beide erklären dem jeweils Anderen ihren Willen zur gemeinsamen geschäftlichen Zusammenarbeit. Die Gemeinsamkeit kommt durch Verhandlung und die gemeinsame Bedeutung zustande. Folglich kommt es auf den konkreten Gegenstand, die Vertragsparteien sowie den jeweiligen Bindungswillen an. Vertragsart des Coachings und der Coachausbildung Damit der Bindungswille zum konkreten Vertragsgegenstand einer Person bestimmt werden kann, muss Klarheit über die Vertragsart von Coaching als auch einer Coachausbildung geschaffen werden. Im juristischen Kontext existiert eine Vielzahl von unbestimmten Rechtsbegriffen bzw. Wörtern, die ausgelegt werden müssen. Voraussetzung des unbestimmten Rechtsbegriffs in einer Rechtsnorm ist, dass ein Wort Niederschlag in einem Gesetz, einer Verordnung, einer Satzung, einer Rechtsverordnung oder einem öffentlich-rechtlichen Verwaltungsaktes bzw. eines öffentlich-rechtlichen Vertrages gefunden hat. Erst dann kann und muss der Begriff durch die vier Auslegungsmethoden (siehe Abstract Rechtswissenschaft) definiert, erörtert und angewendet werden. Hierbei hat der Gesetzesanwender zwar einen Beurteilungsspielraum, muss aber die einzig richtige Auslegung finden und anwenden. Das Ergebnis der Auslegung wird durch die Gerichte bzw. höhere Instanz überprüft. Derzeit findet sich das Wort Coaching oder coachen in keiner gesetzlichen Grundlage. Insofern fehlt es an der Voraussetzung eines Rechtsbegriffes. Dies könnte und sollte sich ändern. Hierbei kann einerseits sowohl die Exekutive bestimmte Gesetze ändern als auch die Judikative Gesetze auf das Coaching auslegen und anwenden; andererseits können zivilrechtlich Coachs und Coachausbilder für die Professionalität eine ein164

heitliche Definition mit Aufgaben des Coach und des Coachee erarbeiten, Ausbildungen mit objektivierbaren Zertifizierungen anbieten und diese durch eine Lizenz im Rahmen des Urheber- und Markenschutzes an die Absolventen weiterreichen, Berufsverbände im Rahmen der Vereins- und Verbandsautonomie durch einheitliche Zertifizierungen vorgeben oder klare Richtlinien über die anerkannte Zertifizierungsstelle des Deutschen Institutes für Normung e.V. (DIN) klare Richtlinien statuiert werden. Folglich müssen Coaching und Coachausbildung unter bestehendes Recht subsumiert werden. Zur konkreten Erklärung dient die Vorstellung dreier Vertragstypen wie der Auftrag, der Werkvertrag und der Dienstvertrag. § 662 BGB Vertragstypische Pflichten beim Auftrag Durch die Annahme eines Auftrags verpflichtet sich der Beauftragte, ein ihm von dem Auftraggeber übertragenes Geschäft für diesen unentgeltlich zu besorgen. Der Auftragnehmer (Schuldner des Auftrages) schuldet dem Auftraggeber (Gläubiger) die unentgeltliche Besorgung eines Geschäfts. Allein das besondere Vertrauen zwischen den Parteien prägt den Auftrag. Auch wenn der Auftraggeber keine Vergütung schuldet, muss er dem Auftragnehmer gem. § 670 BGB Ersatz für die Aufwendungen geben/zahlen. Gleichzeitig muss der Beauftragte dem Auftraggeber alles durch die Geschäftsbesorgung Erlangte herausgeben (vgl. MUSIELAK, BGB, Rn.688). Da sowohl der Coach als auch der Coachausbilder Geld verdienen wollen, liegt kein Auftrag vor. Vielmehr können die im Rahmen einer Coachausbildung verlangten Übungscoachings als Auftrag gewertet werden. Insofern wird in der üblichen Rechtssprache als auch in der allgemeinen Sprache unter einem Auftrag die entgeltliche Übertragung von Leistungen unter diversen Vertragstypen wie insbesondere Kauf-, Werk- Dienst-, Miet- und Maklervertrag, gemeint sein. Des Weiteren liegt einer Vollmacht/Vertretung in der Regel ein Auftrag zu Grunde. § 631 BGB Vertragstypische Pflichten beim Werkvertrag (1) Durch den Werkvertrag wird der Unternehmer zur Herstellung des versprochenen Werkes, der Besteller zur Entrichtung der vereinbarten Vergütung verpflichtet. (2) Gegenstand des Werkvertrages kann sowohl die Herstellung oder Veränderung einer Sache als auch ein anderer durch die Arbeit oder Dienstleistung herbeizuführender Erfolg sein. § 632 BGB Vergütung (1) Eine Vergütung gilt als stillschweigend vereinbart, wenn die Herstellung des Werkes den Umständen nach nur gegen eine Vergütung zu erwarten ist. (2) Ist die Höhe der Vergütung nicht bestimmt, so ist beim dem Bestehen einer Taxe die taxmäßige Vergütung, in Ermangelung einer Taxe die übliche Vergütung als vereinbart anzusehen. (3) Ein Kostenanschlag ist im Zweifel nicht zu vergüten. Der Werkvertrag legt die Art und die Eigenschaft des Werkes von Herstellungszeitraum, Fertigstellungszeitraum und Erfüllungsort dar. Der Werkhersteller (Schuldner des Werkes) schuldet dem Werkbesteller (Gläubiger) die Herbeiführung eines bestimmten Erfolges tatsächlicher Natur. Im Gegensatz zum Kauf ist beim Kaufvertrag die Verschaffung anstatt der Herstellung der Sache Vertragsgegenstand (vgl. MUSIELAK, BGB, Rn.674f). Diesen festgelegten Erfolg stellen vor allem handwerkliche Arbeiten wie Reparaturarbeiten, Bauarbeiten, Möbelanfertigung, Anfertigung eines Maßanzuges, Beschaffung von konkreten Informationen, die Herstellung eines individuellen Programms (Computersoftware) oder künstlerische Werke wie Skulpturen, Bilder aber auch Transportleistungen wie eine Spedition ein Taxi sowie die Erstellung von Gutachten und Plänen dar. Im Kontext des Coaching kann die Erstel165

lung von Leitfäden, Büchern, Abstracts oder Gutachten über Coachingleistungen ein Werkvertrag sein, jedoch ist das konkrete Coaching oder eine Coachausbildung kein Gegenstand eines Werkvertrages. Sowohl beim Coaching als auch bei einer (curricularen) Coachausbildung kann kein Erfolg von Kompetenzerwerb geschuldet werden, da es auf die Individualität des Lernens, des Lerners, der Lernumgebung sowie die individuellen Kompetenzen und individuellen Ziele ankommt. Die Dienstleistung von Coaching ist maßgeblich, sodass immer nur die nachhaltige Selbstlernkonzeption und die Kompetenzentwicklung angestrebt werden kann. Wichtig für die unternehmerische Seite ist, dass die Vergütung mit Abnahme des Werkes gem. §§ 640, 641 BGB eintritt, sodass der Unternehmer mit der Erstellung des Werkes in Vorleistung tritt. Allerdings können die Parteien etwas anderes dispositiv (Recht, welches nach Vereinbarung geändert werden kann) vereinbaren. § 611 BGB Vertragstypische Pflichten beim Dienstvertrag (1) Durch den Dienstvertrag wird der derjenige, welcher Dienste zusagt, zur Leistung der versprochenen Dienste, der andere Teil zur Gewährung der vereinbarten Vergütung verpflichtet. (2) Gegenstand des Dienstvertrages können Dienste jeglicher Art sein. § 612 BGB Vergütung (1) Eine Vergütung gilt als stillschweigend vereinbart, wenn die Dienstleistung den Umständen nach nur gegen eine Vergütung zu erwarten ist. (2) Ist die Höhe der Vergütung nicht bestimmt, so ist bei dem Bestehen einer Taxe die taxmäßige Vergütung, in Ermangelung einer Taxe die übliche Vergütung als vereinbart anzusehen. Der Dienstvertrag legt die Art und die Eigenschaft des Dienstes von Zeitraum und Erfüllungsort dar. Der Dienstverpflichtete (Schuldner der Dienstleistung) schuldet dem Dienstberechtigten (Gläubiger) die Leistung eines bestimmten Dienstes tatsächlicher Natur. Dieser Dienst kann selbstständig oder unselbstständig, abhängig, eigenbestimmt oder fremdbestimmt sein. Im Gegensatz zum Werkvertrag wird nicht ein besonderer Erfolg als Ergebnis geschuldet sondern die Ausführung einer Leistung als Weg/Prozess (vgl. MUSIELAK, BGB, Rn.669). Oft ist der Dienstvertrag ein Dauerschuldverhältnis und ist somit gleichrangig mit dem Geschäftsbesorgungsvertrag gem. § 675 BGB. Dieser Begriff der Geschäftsbesorgung umfasst nur selbstständige Tätigkeiten auf rechtlichem oder wirtschaftlichem Gebiet, so dass vor allem freiberufliche Tätigkeiten wie eines Rechtsanwaltes oder Steuerberaters erfasst werden. Es kann sowohl rechtlich als auch tatsächlich über eine Dienstleistung mit besonderer Vertrauensstellung diskutiert werden, da dem Coach sensible Daten über Geburtsdaten, Familie und Familienstand, den individuellen Lebenslauf mit den jeweiligen Motivationen und Leistungsblockern, als auch Konflikten, Kompetenzen und Kompetenzdefiziten sowie die persönlichen Visionen und Ziele bekannt werden. Allerdings wird diese Diskussion mit Folgen im Zivil- und Strafrecht noch geführt werden müssen. Da sowohl Coaching als auch Coachausbildung eher im Kontext der strukturellen oder individuellen Personalentwicklung zu finden sind als den Blick auf wirtschaftliche Aspekte zu fokussieren, ist zum derzeitigen Zeitpunkt von einem „normalen“ Dienstvertrag auszugehen. Der festgelegte Dienst ist vor allem die Arbeit als Angestellter/Arbeitnehmer, der Arztvertrag, der Krankenhausvertrag, der Mandatsvertrag mit einem Rechtsanwalt oder einem Steuerberater sowie Unterrichtsverträge. Grundsätzlich fallen alle Beratungs- und Trainingsleistungen unter den Dienstvertrag. Aus der Natur des Coaching heraus ist sowohl das Coaching als auch die Coachausbildung eine Dienstleistung. Insofern ist der Dienstgeber zur Zahlung der Vergütung verpflichtet. Die Höhe bestimmt sich nach der vertraglichen Vereinbarung. Bei jedem Dienstvertrag, sei er in einem abhängigen Verhältnis als auch in einem 166

selbstständigen Verhältnis, kann der Dienstverpflichtete seine Vergütung verlangen, wenn seine angebotene Dienstleistung nicht oder nicht rechtzeitig angenommen wird. Bei jedem Dienstvertrag ist die Vergütung zu entrichten, auch wenn ein vereinbarter Termin nicht wahrgenommen wurde/werden kann. Hervorzuheben ist, dass für einen angestellten Coach die arbeitsrechtlichen Vorschriften gelten. Dieses ist von der persönlichen Abhängigkeit des Arbeitnehmers zum Arbeitgeber sowie der persönlichen Erbringung der Arbeitsleistung gegen ein Entgelt geprägt. Daraus folgt, dass der Arbeitnehmer grundsätzlich weder seine Tätigkeit noch seine Arbeitszeit selbst bestimmen kann, da er in die Arbeitsorganisation des Arbeitgebers eingegliedert ist und typischerweise den Weisungen des Arbeitgebers über Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit (vgl. KROPHOLLER, BGB, vor § 611 Rn.2) unterliegt. Des Weiteren ist der Arbeitgeber nicht nur zur Zahlung eines Entgeltes/Vergütung sondern auch zur Fürsorgepflicht, der Beschäftigungspflicht, der Pflicht zur Urlaubsgewährung, der Gleichbehandlungspflicht, der Pflicht zum Ersatz von Aufwendungen und Schäden des Arbeitnehmers sowie zum Einblick in die Personalakte und zur Zeugniserteilung verpflichtet. Insofern liegt ein freiberuflicher Coach vor, wenn er selbstständig agiert und beispielsweise eine eigene Homepage mit seiner Person und seiner Dienstleistung unterhält, mit anderen Coachs als Gesellschaft bürgerlichen Rechts auftritt oder in einem Coachpool von Groß- und mittelständischen Unternehmen aufgenommen ist, sodass er auf Coachingaufträge wartet. Für den Arbeitsvertrag — eines angestellten Coach — gelten spezielle Vorschriften, sodass gem. § 106 GewO der Arbeitgeber ein Weisungsrecht gegenüber dem Arbeitnehmer hat, dieser jedoch einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle, im Erholungsurlaub sowie in der Elternzeit. Die Coachausbilder sind in den meisten Fällen selbstständige Unternehmer und arbeiten untereinander mindestens als Gesellschaft bürgerlichen Rechts zusammen, weil sie einen gemeinsamen wirtschaftlichen Zweck verfolgen. Wer punktuell zu Terminen gebucht wird, ist ebenfalls freiberuflich tätig. Des Weiteren ist das Verhältnis zum Teilnehmer der Coachausbildung ebenfalls eine Dienstleistung. Der Inhalt der angebotenen Coachausbildung sollte sich an der curricularen Ausgestaltung einer Coachausbildung in diesem Buch orientieren. Zustandekommen eines Vertrages Grundlage eines Rechtsgeschäfts ist eine auf das Rechtsgeschäft gerichtete Willenserklärung (vgl. MUSIELAK, BGB, Rn.36). Damit liegt keine rechtserhebliche Erklärung des Willens vor, wenn es sich um bloße Affekte oder Reflexhandlungen handelt oder jemand seine Meinung äußert, wie „Reichen Sie mir bitte den Stift“ oder „Von Coaching bin ich überzeugt“. Der Vertrag als zweiseitiges Rechtsgeschäft bedarf daher zweier aufeinander bezogener Willenserklärungen, nämlich Angebot und Annahme. Generell setzt sich eine Willenserklärung aus dem objektiven und dem subjektiven Tatbestand zusammen (vgl. Musielak, BGB Rn.41ff, 54 ff). Objektiv muss eine Erklärung tatsächlich vorliegen. Subjektiv muss diese Äußerung willentlich vorgenommen worden sein. Daher müssen Wille und Erklärung übereinstimmen, damit die Rechtsbindung gewollt ist. Ohne den Willen gibt es keine Handlung, ohne die Handlung gibt es keine Erklärung. Die subjektive Komponente enthält drei Arten des Willens, nämlich (a) Handlungswille, (b) Erklärungswille und (c) Geschäftswille. Der Handlungswille soll ein beliebiges menschliches Verhalten erst zu einem willentlichen Verhalten machen. 167

Beispiel — Führt eine Person (mit Gewalt) die Hand einer anderen Person zur Unterschrift, war der Schreiber nur der verlängerte Arm des Gewalttäters. Dem Schreiber fehlt der Wille zur Handlung, sodass der Schreiber nicht handelte. Menschen im Schlaf oder in der Bewusstlosigkeit haben keinen Willen zu einem Tun oder Unterlassen. Der Erklärungswille soll ein willentliches Verhalten zu einer rechtlich relevanten Erklärung werden lassen. Beispiel — Eine Person winkt auf einer Auktion einem Freund zu, was nach den Auktionsbräuchen als Gebot erscheint. Da die Person nur winken wollte und kein Gebot zur Auktion abgeben wollte, fehlt der Aspekt der rechtlich relevanten Erklärung, sodass dem Winker das rechtliche Bewusstsein fehlt. In feuchtfröhlicher Stimmung schießt eine Person auf der Abschiedsfeier auf einer auf dem Meer ankernden Jacht eine Rakete ab. Er weiß nicht, dass das Raketensignal bedeutet, man wolle in den Hafen geschleppt werden. Daraufhin wird die Jacht durch einen Schlepper mit Kosten in den Hafen gebracht. Wenn eine Person einen Vertrag unterschreibt, obwohl diese denkt, dass sie eine Glückwunschkarte unterzeichnet, liegt kein Erklärungswille vor. Denn mit der Unterzeichnung sollen keine rechtlichen Folgen entstehen. Allerdings liegt der Wille für eine rechtliche Folge der Vertragsbindung vor, wenn die Person einen Mietvertrag anstatt eines Kaufvertrages oder ein Beratervertrag anstatt eines Coachingvertrages unterzeichnet. Der Geschäftswille ist auf die Herbeiführung einer bestimmten Rechtsfolge gerichtet. Beispiel — Der Coach möchte einen Mindestpreis pro Stunde haben. Der Klient bucht beim Coach eine Beratung zu seinem Veränderungsthema. Ein Arbeitgeber will seinem Arbeitnehmer kündigen und diktiert ein Kündigungsschreiben. Seine Sekretärin legt ihm später ein Dokument zur Unterschrift vor, in dem der Arbeitnehmer angeblich gute Leistungen erbrachte und eine Gehaltserhöhung erhält. In der Annahme die Kündigungserklärung zu unterschreiben unterzeichnen der Arbeitgeber das Dokument. Der Geschäftswille ist nicht für die Wirksamkeit der Willenserklärung erforderlich, weil es allein auf den Rechtsbindungswillen ankommt, nämlich sich rechtlich zu binden. Denn der Erklärende muss besser aufpassen, da er sich öffentlich bewegt/kommuniziert usw. Um unangemessene Zustände zu vermeiden kann der Erklärende seine Willenserklärung aufgrund von Irrtümern nach den §§ 119 ff BGB i.V.m. § 142 BGB anfechten (vgl. KROPHOLLER, BGB § 142, Rn. 1; MUSIELAK, BGB, Rn.60 ). Die konkreten Konditionen sind für eine Willenserklärung irrelevant, da dies zu den folgenden Verhandlungen und der Unterscheidung von Angebot/Annahme bzw. wesentliche/unwesentliche Vertragsbestandteile gehört. Folglich tritt die Rechtsfolge einer Willenserklärung ein, weil diese gewollt ist. Objektiv liegt eine Willenserklärung vor, wenn der Wille ausdrücklich (mündlich oder schriftlich) oder konkludent durch schlüssiges Verhalten kundgetan wurde. Ob eine Willenserklärung vorliegt, wird aus der Sicht eines objektiven Dritten (sog. Empfängerhorizont) beurteilt. Messbare Kriterien werden herangezogen um zu beurteilen, ob eine andere Person (unbeteiligte Person) eine Erklärung oder eine Handlung oder ein Unterlassen als Willenserklärung auffassen konnte. 168

Sowohl das Angebot als auch die Annahme müssen den wesentlichen Vertragsinhalt wenigstens bestimmbar machen. Diese essentiali negotii sind die Vertragsparteien, der Vertragsgegenstand sowie der Vertragspreis. Für eine Coachausbildung bedeutet dies, dass erstens der Teilnehmer als auch die Coachausbilder bzw. das Ausbildungsinstitut, zweitens die Coachausbildung als auch drittens der Preis für die Coachausbildung bestimmt sein müssen. Hingegen für ein Coaching müssen erstens Coach als auch Coachee bzw. der Vorgesetzte im Unternehmen, welcher die Coachees bestimmt, zweitens die Dienstleistung Coaching mit einem zeitlichen Rahmen sowie drittens der Preis des Coach ausgehandelt sein. Die wichtigen Vertragsbestandteile dürfen nicht fehlen, ansonsten liegt ein versteckter Dissens vor, es sei denn, die Parteien sind sich bewusst, dass etwas Wichtiges später geregelt werden soll. Besteht allerdings (un-)bewusste Unklarheit über Vertragsinhalte, muss über den jeweiligen Willen der Partei sein Interesse anhand der §§ 133, 157 BGB erforscht werden (sog. Auslegung) (MUSIELAK, BGB, Rn.101). Hervorzuheben ist, dass die Willenserklärungen von Angebot und Annahme nicht deckungsgleich sind, da ansonsten zwei Angebote oder zwei Annahmen oder eine Annahme ohne Bezug auf das Angebot voriegen. Daher muss das Angebot so bestimmt sein, dass die Annahme nur noch mit Ja beantwortet werden muss (MUSIELAK, BGB, Rn.111ff). Beispielsweise ruft ein potenzieller Coachee an und bittet um einen Termin beim Coach. Beide sprechen zunächst über das Anliegen, die Wirksamkeitserwartung von Coaching sowie den Tagessatz nebst gesetzlicher Umsatzsteuer und anderen Kosten wie Fahrtkosten, Miete eines Seminarraumes samt Coachingausstattung. Daher muss entweder vom Coach oder vom Coachee ein konkretes Angebot für ein Coaching abgegeben werden. Allerdings sind Offerten im Internet, Flyer, Broschüren usw. kein Angebot, sondern jeweils eine invitatio ad offerendum, da es eine Einladung an eine Vielzahl von potenziellen Kunden darstellt (MUSIELAK, BGB, Rn.111). Im Kern sollen mehr Personen mit einem Angebot angesprochen werden, als entweder Ware oder Platz im Rahmen einer Coachausbildung bzw. im Terminkalender des Coach vorhanden ist. Im Kontext Coaching können hier Aufforderungen zur Anmeldung zu Informationsveranstaltungen von Coachausbildungen, zu Coachausbildungen oder zum Kontakt zu Coachs sein. Dann braucht der Interessent nur eine Anmeldung abzuschicken oder sich telefonisch anzumelden. Sinnvoll erscheint ein Buchungsformular mit Name und Kontaktdaten, damit derjenige in Falle eines Ausfalles informiert werden kann oder die Ernsthaftigkeit der Anmeldung getestet werden kann. Im Gegensatz zu den essentialia negotii existieren die accidentiala negotii, welche die vertraglichen Nebenpunkte ausmachen. Grundsätzlich müssen diese nicht ausgehandelt oder fixiert werden, da es gesetzliche Mindeststandards über Haftung und Beendigung, aber auch ungültige Bestimmungen oder vergessene Punkte usw. existieren. Die Aufzählung ist in dem Vertragsmuster über Coaching als auch im Muster einer AGB über eine Coachausbildung einsehbar. Der erforderliche Bindungswille in Form des Rechtsbindungswillens bzw. als Angebot erfolgt aus § 145 BGB. § 145 BGB Bindung an den Antrag Wer einem Anderen die Schließung eines Vertrages anträgt, ist an den Antrag gebunden, es sei denn, dass er die Gebundenheit ausgeschlossen hat. Dieser Antrag erlischt, sobald er im Sinne von § 146 BGB abgelehnt wurde, widerrufen wurde oder im Sinne von § 147 BGB nicht innerhalb einer bestimmten Frist angenommen worden ist.

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Nun ist zu fragen, wie der Erklärungsempfänger das Versprechen verstehen kann, sodass folgende objektive Umstände erkennbar sein sollen: Entgeltlichkeit, Wert der anvertrauten Güter, wirtschaftliche Bedeutung der Angelegenheit, Art der Verpflichtung oder Empfänger haben noch eine Eigenverantwortung. Mit diesen Kriterien wird folgende Aussage getroffen: Man haftet nicht dort, wo man will, sondern wo man soll. Sobald diese Voraussetzungen vorliegen, kann der Erklärungsempfänger das Angebot annehmen. Diese Willenserklärung kann ausdrücklich oder konkludent erfolgen (MUSIELAK, BGB, Rn.123ff). Zur Vermeidung von Missverständnissen und zu Beweiszwecken sollte die Annahme ausdrücklich erklärt werden. Sobald der Anbietende seine Erklärung modifiziert oder der Erklärungsempfänger den Antrag modifiziert, nach Fristablauf annimmt, liegt ein neuer Antrag vor (MUSIELAK, BGB, Rn.131ff). Dieser neue Antrag muss dann von der anderen Partei angenommen werden. § 150 BGB Verspätete und abändernde Annahme (1) Die verspätete Annahme eines Antrags gilt als neuer Antrag. (2) Eine Annahme unter Erweiterung, Einschränkungen oder sonstigen Änderungen gilt als Ablehnung verbunden mit einem neuen Antrag. Wichtig ist, dass das bloße Schweigen keine Annahme ist. Weder im privatrechtlichen noch im kaufmännischen Verkehr ist ein Schweigen weder ein Ja noch ein Nein (MUSIELAK, BGB, Rn.131ff). Allerdings gibt es Situationen, in denen eine fehlende Reaktion als eine konkludente Willenserklärung ausgelegt wird, sodass es auf die Sitte unter den Personen oder auf eine Vereinbarung unter den Personen ankommt. Entscheidend für das Zustandekommen eines Vertrages ist, dass diese genannten Willenserklärungen der anderen Person auch tatsächlich zugehen. § 130 BGB Wirksamwerden der Willenserklärung gegenüber Abwesenden (1) Eine Willenserklärung, die einem Anderen gegenüber abzugeben ist, wird, wenn sie in dessen Abwesenheit abgegeben wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in welchem sie ihm zugeht. Sie wird nicht wirksam, wenn dem Anderen vorher oder gleichzeitig ein Widerruf zugeht. (2) Auf die Wirksamkeit der Willenserklärung ist es ohne Einfluss, wenn der Erklärende nach der Abgabe stirbt oder geschäftsunfähig wird. (3) Diese Vorschriften finden auch Anwendung, wenn sie einer Behörde gegenüber abzugeben ist. Sowohl die Abgabe einer Willenserklärung als auch das Wirksamwerden einer Willenserklärung (Zugang) sind zu differenzieren. Abgegeben ist eine Willenserklärung, wenn diese vom Erklärenden mit seinem Willen (und bei empfangsbedürftigen Willenserklärungen in Richtung des Empfängers) verlautbart worden ist (vgl. KROPHOLLER, BGB § 130, Rn.2; MUSIELAK, BGB, Rn.66). Daran fehlt es, wenn das schriftliche Vertragsangebot ohne Willen des Anbieters durch einen Dritten versendet wird. Hierzu zählen fürsorgliche Ehe- oder Lebenspartner, Raumpflegerinnen oder Hauswarte, wenn diese keine weiterführenden Aufgaben für die Person oder im Unternehmen übernehmen dürfen. Nur die abgegebene Willenserklärung kann wirksam werden, weil diese erst dann die bestimmungsgemäße Rechtswirksamkeit entfaltet.

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Für das Wirksamwerden der Willenserklärung muss diese dem Empfänger zugehen. Zugang ist die Möglichkeit der Willenserklärung zur Kenntnisnahme (KROPHOLLER, BGB § 130, Rn.3ff; MUSIELAK, BGB, Rn.73). Nach § 130 BGB gibt es zwei Alternativen, nämlich unter Anwesenden und unter Abwesenden. Diese zeitlich übereinstimmende Übereinkunft kann mit folgenden Beispielen erklärt werden: Abwesend • Mitteilung wird hinterlassen • Mitteilung auf Anrufbeantworter/Mailbox • Mitteilung per e-Mail • Mitteilung per Fax • Mitteilung per Post • Mitteilung wird einem Boten übergeben Anwesend • vis à vis • Telefonat bzw. Telefonkonferenz • Chat • Videokonferenz Hieraus folgt, dass die Willenserklärung in den Machtbereich des Empfängers gelangen muss. Weiterhin ist wichtig, dass auf eine gemeinsame Sprache und ein gemeinsames Verständnis zu achten ist. Ein nicht deutsch Sprechender erhält erst Kenntnis vom Inhalt, wenn dieser übersetzt worden ist. Oder zwei Personen benutzen ein Wort nach demselben Verständnis, obwohl das Wort im allgemeinen Sprachgebrauch bzw. nach allgemeiner Definition anders erklärt/benutzt wird. Der Coachingvertrag sollte neben den Hauptleistungs- und Sorgfaltspflichten folgende Punkte fixieren: • • • • • • • • • •

Vertragsparteien (der Coach, der Coachee ggf. Auftraggeber eines angestellten Coachee) Art des Coachings (Einzelcoaching oder Teamcoaching (Mehrpersonencoaching) bzw. Coaching zu bestimmten Themen) Rechte und Pflichten des Coach Rechte und Pflichten des Coachee Ort des Coachings (Seminarraum mit bestimmter Größe sowie Ausstattung — Flipcharts, Pinnwände und Moderationskarten nebst bunten Stiften) Zeitlicher Rahmen des Coaching wie Anzahl, Dauer, Abstände Vergütung (Höhe, Aufwandsentschädigung für Spesen sowie die Fälligkeit und Zahlungsweise Kündigung) Allgemeines (eine Schriftformklausel, eine Salvatorische Klauseln) Ort, Datum und Unterschriften der Vertragsparteien

171

Schriftform Wenn ein Angebot angenommen wurde stellt sich die Frage, ob ein mündlicher Vertrag ausreicht oder eine schriftliche Form vorliegen muss. § 126 BGB Schriftform (1) Ist durch Gesetz schriftliche Form vorgeschrieben, so muss die Urkunde von dem Aussteller eigenhändig durch Namensunterschrift oder mittels notariell beglaubigten Handzeichen unterzeichnet werden. (2) Bei einem Vertrag muss die Unterzeichnung der Parteien auf derselben Urkunde erfolgen. Werden über den Vertrag mehrere gleich lautende Urkunden aufgenommen, so genügt es, wenn jede Partei die für die andere Partei bestimmte Urkunde unterzeichnet. (3) Die schriftliche Form kann durch die elektronische Form ersetzt werden, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt. (4) Die schriftliche Form wird durch die notarielle Beurkundung ersetzt. Aus dieser Rechtsnorm folgt, dass grundsätzlich jeder Vertrag mündlich geschlossen werden kann (HEINRICHS in PALANDT, BGB, § 125, Rn.1ff; vgl. MUSIELAK, BGB, Rn.47). In Ausnahmefällen müssen bestimmte Arten schriftlich fixiert und ggf. notariell beurkundet werden. Diese Ausnahmefälle sind vor allem im Gesellschaftsrecht sowie im Arbeitsrecht zu finden. Gesetzliche Formen der Schriftform sind ... • die Schriftform nach § 126 Abs. 1 und Abs. 2 BGB; • die elektronische Form nach §§ 126 Abs. 3, 126a BGB; • die Textform nach § 126b BGB; • die öffentliche Beglaubigung nach § 129 BGB sowie • die notarielle Beurkundung nach §§ 127, 128 BGB. Sinn und Zweck der Schriftform ist sowohl die Warnfunktion, die Klarstellungs- und Beweisfunktion als auch die Belehrungsfunktion (BT-Drs., 14/4987, S.16). Die Funktion der Warnung dient als Schutz vor unbedachten Willenserklärungen. Als Feststellung eines Abschlusses samt Inhalt eines Rechtsgeschäftes dient die Funktion der Klarstellung und des Beweises. Für einige Rechtsgeschäfte bedarf es der Zwischenschaltung einer dritten Person wie eines Notars zur Belehrung über Inhalt, Rechtsfolge aber auch Reichweite der Erklärung als Funktion der Belehrung. Grundsätzlich verlangt die Schriftform eine eigenhändige Unterzeichnung des Erklärenden, welche am Ende der Vertragsurkunde zu setzen ist. Wenn eine Anmeldung zum Informationsabend einer Coachausbildung erwünscht ist, kann man dies per Telefon, per Mail oder per Post tätigen. Wer sich kurzfristig entschließt, darf immer unangemeldet erscheinen. In diesem Fall freuen sich alle beteiligten Personen über reges Interesse, jedoch kann eine zeitliche Verschiebung oder ein Ausfall aufgrund Krankheit o.ä. nicht mitgeteilt werden. Wenn sowohl zur Beweissicherung als auch zur Warnfunktion ein Buchungsformular als Angebot zur Teilnahme an einer Coachausbildung erbeten wird, kann diese per Post, per Mail oder per Fax erfolgen, weil die Originalurkunde mit eigenhändiger Unterschrift nicht beim Erklärungsempfänger benötigt wird. Des Weiteren ist eine Kontaktanschrift und einer Kontaktmail keine alleinige Empfangsstel172

le, da ein Unternehmen bzw. ein Freiberufler/Gesellschaft bürgerlichen Rechts nur eine Hauptanschrift hat. Gleichzeitig wird keine einzelne Person als alleinig empfangsberechtigt deklariert, sodass alle Mitarbeiter und Kollegen Anfragen und Anmeldungen bearbeiten können. Hervorzuheben ist, dass die Schriftform eine eigenhändige Unterzeichnung des Erklärenden benötigt. Diese Unterschrift muss am Ende der Vertragsurkunde stehen, damit diese einen Abschluss darstellt. Es wird angenommen, dass alle weiteren Anmerkungen und Bestimmungen unter der Unterschrift nicht wahrgenommen wurden bzw. nachträglich hinzugefügt werden könnten. Etwas anderes ergibt sich, wenn im Vertragstext Verweise auf die Rückseite oder andere Quellen vorgenommen werden. Gleichzeitig sollen nachträgliche Angaben oder Änderungen bzw. Zusätze erkennbar sein. Sowohl für ein Coaching als auch für eine Coachausbildung als Dienstleistungsvertrag wird gesetzlich kein schriftlicher Vertrag benötigt, jedoch ist zum Nachweis eine schriftliche Fixierung dringend anzuraten. Im Falle eines Vertragsbruchs oder einer professionellen Darstellung der eigenen Dienstleistung, beispielsweise in einem großen Unternehmen, ist die Möglichkeit des Nachlesens wichtig. Insofern sei das Urteil des Amtsgerichts Kamen vom 06.05.2005 (Az.: 12 C 519/03) anzuführen, dass ein formaler Vertrag nicht zwangsläufig schriftlich verfasst werden und nicht ausdrücklich über eine Vergütung gesprochen werden müsse. Sachverhalt — Hintergrund des Urteils ist ein Fall, in dem es im Rahmen eines zunächst privaten Kontakts zwischen einem Coach und einer Führungskraft zu einem Besprechungstermin in einem Hotelseminarraum kam. Während des etwa dreistündigen Treffens wurden die berufliche Situation und Karrierefragen der Führungskraft thematisiert. Ein schriftlicher Vertrag wurde jedoch nicht vorab geschlossen. Im Nachgang bestritt die Führungskraft, dass es sich um ein berufliches Treffen gehandelt habe und weigerte sich, auch unter Verweis auf die fehlende schriftliche Vereinbarung, ein Honorar zu zahlen. Das Amtsgericht Kamen war jedoch anderer Meinung und verneinte die Notwendigkeit eines ausdrücklichen oder schriftlichen Auftrages zu einem Coaching. Bergündung — Dem Beratenen hätte durch das dienstliche Ambiente sowie der Tatsache, dass der Coach genau die Dienstleistung erbracht habe, die seinem Berufsbild entspricht, klar sein müssen, dass es sich nicht um einen privaten Termin gehandelt habe. Auch der Ablauf des Termins, das intensive gemeinsame Arbeiten und die Tatsache, dass für die Nutzung des Raumes Entgelt an das Hotel zu bezahlen war, hätten einen geschäftlichen Charakter des Treffens nahe gelegt. Mangels ausdrücklicher Vereinbarung ging das Gericht unter Bezugnahmen auf einen Sachverständigen schließlich von einer Vergütung in einem Rahmen von € 115,00-300,00 Nettostundenumsatz aus. Wird ein Coach in einen Coachpool aufgenommen, liegt grundsätzlich ein freiberufliches Rechtsverhältnis vor. In Ausnahmefällen kann der Coach auch angestellt werden, sodass arbeitsrechtliche Grundsätze gelten. Wegen des Gesetzes über den Nachweis der für ein Arbeitsverhältnis geltenden wesentlichen Bedingungen (Nachweisgesetz — NachwG) wird der Arbeitgeber verpflichtet dem Arbeitnehmer spätestens einen Monat nach Beginn des Arbeitsverhältnisses eine Niederschrift über die wesentlichen Arbeitsbedingungen auszuhändigen. Sollte der Arbeitgeber § 2 NachWG nicht einhalten, kann der Arbeitnehmer u.U. Schadensersatz verlangen und der Arbeitgeber kann im Rechtsfall seiner Darlegungs- und Beweislast nicht nachkommen. Benutzt ein Coach oder ein Coachausbilder ein Vertragsmuster, welches er in jedem Fall durch Ausfüllen der Vertragsparteien, der Daten und ggf. des Honorars ausfüllt oder stellt allgemeine Geschäftsbe173

dingungen bereit, so liegen vorformulierte Vertragsbedingungen vor. Diese im allgemeinen Sprachgebrauch genannten Allgemeinen Geschäftsbedingungen, bzw. umgangssprachlich Kleingedrucktes, werden nach den §§ 305 ff. BGB geregelt (vgl. KROPHOLLER, BGB, vor § 305 Rn.1, § 305 Rn.1). Aufgrund der Privatautonomie des Zivilrechts sieht das Gesetz zwar Regelungen für bestimmte Vertragstypen vor, erlaubt aber meistens eine Änderung oder Ergänzung der im Einzelfall zu treffenden Regelungen. Dennoch müssen elementare Aspekte berücksichtigt werden und sind nicht abdingbar, da sie nicht dispositiv sind. Insofern vereinfachen, standardisieren oder beschleunigen Allgemeine Geschäftsbedingungen Vertragsschlüsse, weil sie von einer Partei als vorformuliertes Klauselwerk genutzt werden. Um der Gefahr zu entgehen, dass eine wirtschaftlich starke und erfahrene Partei zu ihren Gunsten einseitige Regelungen durchsetzen kann, besteht das Bedürfnis der Kontrolle und Feststellung der Unwirksamkeit von bestimmten Regelungen. Im Rahmen der rudimentären rechtlichen Orientierung müssen diese vorformulierten Vertragswerke in den Vertrag wirksam einbezogen werden. Nach § 305 Abs. 2 BGB werden diese einbezogen, wenn erstens der Verwender ausdrücklich oder konkludent auf sie hinweist, sodass zweitens die andere Partei ohne unverhältnismäßige Schwierigkeiten die Möglichkeit der Kenntnisnahme erhält. Dritte Voraussetzung ist, dass diese andere Partei sich mit den Allgemeinen Geschäftsbedingungen einverstanden erklärt, was sowohl ausdrücklich als auch stillschweigend (konkludent) erfolgen kann. Gleichzeitig muss hervorgehoben werden, dass nach § 305c BGB individuelle Vertragsabreden Vorrang haben. Im Rahmen von Coaching ist dies, dass eine Ratenzahlung oder eine andere zahlende Person sowie spezielle Termine oder die Lösung, wenn ein Teilnehmer ein oder zwei Tage bzw. ein Modul nicht anwesend sein kann/sollte. Zweifel bei der Auslegung allgemeiner Geschäftsbedingungen gehen zu Lasten des Verwenders und sowohl überraschende als auch unzumutbare Klauseln werden nicht Bestandteil des Vertrages. Die rechtliche Inhaltskontrolle erfolgt nach den §§ 309, 308 und 307 BGB, welche von einem Rechtsanwalt oder Unternehmensjuristen festgestellt werden kann. Verantwortlichkeiten der Parteien Sowohl Coach und Coachausbilder als auch Coachee und Coachausbildungsteilnehmer nehmen unterschiedliche Pflichten im Rahmen ihrer Dienstleistung wahr. In diesem Zusammenhang ist auf die Verantwortlichkeit des Schuldners besonders hinzuweisen. Eine zivilrechtliche Haftung richtet sich nach Art und Verstoß einer Pflicht, wobei Maßstab in der Regel das Verschulden ist. § 276 BGB Verantwortlichkeit des Schuldners (1) Der Schuldner hat Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten, wenn eine strengere oder mildere Haftung weder bestimmt noch aus dem sonstigen Inhalt des Schuldverhältnisses, insbesondere aus der Übernahme einer Garantie oder eines Beschaffungsrisikos zu entnehmen ist. Die Vorschriften der §§ 827 und 828 finden entsprechende Anwendung. (2) Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. (3) Die Haftung wegen Vorsatzes kann dem Schuldner nicht im Voraus erlassen werden. Das Verschulden setzt sich somit aus Vorsatz und/oder Fahrlässigkeit zusammen. 174

Vorsätzlich handelt, wer den Schaden bewusst herbeiführt oder sich damit bewusst abfindet, dass als mögliche Folge seines Handelns ein Schaden eintritt. Insofern kommt es auf das Wissen und das Wollen des rechtswidrigen Erfolges an (HEINRICHS in PALANDT, BGB, § 276 Rn.10; KROPHOLLER, BGB, § 276 Rn.3; MUSIELAK, BGB, Rn.417 ff.; WOLF in SOERGEL, BGB, § 276 Rn.41). Wichtig ist, dass eine Rechtsblindheit der Person ihren Vorsatz nicht beseitigen kann. Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Die Sorgfalt muss vorhersehbar sein. Sie wird nach dem Urteil einer besonnenen und gewissenhaften Person bemessen, die zu dem Verkehrskreis gehört. Daher muss jeder Mensch überlegen, wie er in einem bestimmten Kontext agieren und reagieren muss. Im Zivilrecht ist die persönliche Eigenart des Handelnden, seine Fähigkeit und Kenntnisse, Erfahrungen und Grad der Einsicht gerade nicht entscheidend (vgl. BGHZ 39, 283 (Bestimmung des Verkehrskreises); BGH, NJW 1970, 1038 (Bestimmung des Verkehrskreises); EHMANN, NJW 1987, 402; HEINRICHS in PALANDT, BGB, § 276 Rn. 12, 15; KROPHOLLER, BGB, § 276 Rn. 2; MUSIELAK, BGB, Rn. 419 ff). Die subjektive Komponente ist im Zivilrecht nicht maßgeblich, sondern wird im Strafrecht bei der Frage der objektiven und subjektiven Schuld für eine strafbare Handlung erörtert (Vgl. BGHZ 39, 283 (Bestimmung des Verkehrskreises); BGH, NJW 1970, 1038 (Bestimmung des Verkehrskreises); EHMANN, NJW 1987, 402; HEINRICHS in PALANDT, BGB, § 276 Rn.12, 15; KROPHOLLER, BGB, § 276 Rn.2; MUSIELAK, BGB, Rn.419 ff). Besonders wichtig erscheint in der persönlichen Beziehung die Vermeidung von Nichtachtung und Missachtung (Beleidigung), Verrat von vertraulichen Informationen sowie von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen oder auch die Vermeidung von Körperverletzungen und Sachbeschädigungen zu sein. Im Rahmen von Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind Haftungsausschlüsse nur hinsichtlich der Fahrlässigkeit zulässig. Sowohl Vorsatz als auch die Verletzung von Leben, Körper und Gesundheit dürfen nie ausgeschlossen oder geändert werden. Handlungen wie Sachbeschädigung, Ehrverletzung wie Beleidigung, permanente Missachtung, Datenschutzmissbrauch, Mobbing wie Schikanieren und Diskriminierung, aber auch sexuelle Belästigung, Körperverletzung usw. sind verboten. Sämtliche Verletzungen stehen einmal zivilrechtlich unter Schadensersatz und Schmerzensgeldansprüche sowie strafrechtlich unter Sanktion. Tipp — Achten Sie weiterhin auf Verschwiegenheit und Datenschutz sowie einem Wettbewerbsverbot und verweisen Sie an Ärzte, Therapeuten und Rechtsanwälte, da diesen Personen sowohl das „Rechtsberatungs- als auch das Therapiemonopol“ obliegen. Der Coach nimmt die Prozessverantwortung wahr, arbeitet mit den fünf Phasen des beschriebenen Coachingablaufs, setzt dabei seine Coachkompetenzen ein, um die vier Grundwerte des Coaching sowie die drei Coachinganliegen zu ermöglichen. Als Nebenleistungspflicht muss der Coach auf die Gesundheit des Coachees achten, angemessen Pausen wahrnehmen und das Coaching abbrechen oder zumindest unterbrechen, wenn der Coachee sich (geistig) nicht mehr steuern kann. Der Coachausbilder nimmt die Ausbildungsverantwortung wahr, sodass er nach einem curricularen Aufbau Kompetenzen nach dem Kompetenzmodell durch unterschiedliche Lehr- und Lernmöglichkeiten vermittelt und ermöglicht. Dabei sind die Taxonomiestufen stets einzuhalten und es ist auf eine angenehme Lernumgebung zu achten, sodass Störungen vermieden werden. Als Nebenleistungspflicht 175

muss der Coachausbilder auf die Gesundheit der Teilnehmer achten und angemessen Pausen wahrnehmen. Bei der Durchführung ist eine Stellvertretung ausgeschlossen, da es sich jeweils um eine Art des höchstpersönlichen Rechtsgeschäftes handelt, § 613 S. 1 BGB. Denn der Coach muss als Dienstleister muss imstande sein, die Dienstleistung bei angemessener Anspannung seiner geistigen und körperlichen Kräfte auf die Dauer ohne Gefährdung seiner Gesundheit zu leisten (vgl. BAG, NZA 2004, 784; LINGEMANN in PRÜTTING/WEGEN/WEINREICH, BGB, 2. Aufl., 2007, § 611 Rn.4). Da allgemeine und besondere Kompetenzen erforderlich sind, was sich auch in der Persönlichkeit wie Verhalten, Wortwahl und Klangfarbe der Stimme niederschlägt, liegt quasi eine Einzelmandatierung vor. Damit ist die Dienstleistung nach § 613 S. 2 BGB unübertragbar und lässt eine Stellvertretung ausscheiden. Der Coachee nimmt seine Lösungsfindungs- und Ergebnisverantwortung wahr, sodass er sowohl alleine als auch durch die Interventionen des Coach die vier Grundwerte von Coaching ausleben und die drei Anliegen von Coaching erreichen kann. Als Nebenleistungspflicht sollte der Coachee authentisch sein, keine sozial erwünschten Antworten geben und das Coaching abbrechen, sobald er keine Hilfe mehr benötigt oder keine Hilfe mehr will. Der Coachausbildungsteilnehmer muss bei der Ausbildung anwesend sein, da eine Kompetenzaneignung und -entwicklung nur durch Theorie und Praxis entstehen kann. Er sollte vor allem die Taxonomiestufen durch Zuhören, Lernen, Fragen stellen, Hausaufgaben machen, Übungen durchführen und selber coachen sowie die Vernetzung auf sich selbst umsetzen. Als Nebenleistungspflicht sollte der Coachee die Ausbildungsangebote wahrnehmen und in Kommunikation mit allen beteiligten Personen treten. Sowohl der Coachee als auch der Coachausbildungsteilnehmer müssen die vereinbarte Vergütung zahlen. Selbstverständlich kann die Rechnung durch einen Dritten beglichen werden, wenn der Coachee ein Coaching geschenkt bekommt oder der Arbeitgeber das Coaching/die Coachausbildung im Rahmen der Personalentwicklung übernimmt. Der Coachee verfügt frei über sein Ziel und seine Bedürfnisse, löst Selbstreflexion aus und erarbeitet Strategien und Maßnahmen zur Erreichung seines Zieles. Genau wie bei der Testierfähigkeit muss der Coachee freiwillig aus autonomen Gründen entscheiden und handeln, er darf nicht von heteronomen Gründen gesteuert werden. Heteronom ist das Pendant zu autonom und bedeutet fremdbestimmt, sodass die Person von äußeren Einflüssen abhängig ist/sein will. Zwar sind in dem Prozess noch die Umwelt des Coachees samt wichtiger und die Situation betreffende Personen mit zu berücksichtigen, jedoch haben sie keine Befugnis zur Mitwirkung und Entscheidung. Insofern kann keine andere Person seine Ressourcen erkennen und erfolgreich einsetzen. Damit scheidet eine Stellvertretung aus. Beendigung Der Dienstleistungsvertrag endet entweder durch Abschluss des Coachings bzw. der Coachausbildung oder durch vorzeitige Beendigung. Regelfall der vorzeitigen Beendigung ist bei einem Dauerschuldverhältnis eine Kündigung oder sonst der Rücktritt vom Vertrag. Beide Erklärungen müssen als empfangsbedürftige Willenserklärung der anderen Partei gegenüber erklärt werden. Sowohl Rücktritt als auch Kündigung müssen nach den 176

§§ 620 ff. BGB für Dienstverhältnisse und Arbeitsverträge mit Dauerschuldcharakter sowie §§ 349 ff. BGB für einmaligen Charakter, schriftlich erklärt werden. Des Weiteren kommen Pflichtverletzungen in Betracht, die zum Schadensersatz nach §§ 249 ff. BGB führen können. In diesem Falle wenden Sie sich bitte an einen Rechtsanwalt. 8.1.2 Vertragsmuster Im Folgenden sollen zur Orientierung ein Muster einer Allgemeinen Geschäftsbedingung einer Coachausbildung sowie ein Muster eines Coachingvertrags vorgestellt werden. Muster — AGB Coachausbildung

Allgemeine Geschäftsbedingungen zur Ausbildung zum Coach 1. 1.1 1.2

1.3

1.4

2. 2.1 2.2

3 3.1

Präambel Die folgenden allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) beschreiben, welche Dienste Ihnen AUSBILDUNGSINSTITUT vermittelt und welche Dienste Sie von AUSBILDUNGSINSTITUT erhalten. Diese AGB regeln das vertragliche Verhältnis zwischen dem voll geschäftsfähigen Ausbildungsteilnehmer (im Folgenden Teilnehmer genannt) und Ausbildungsinstitut als AUSBILDUNGSINSTITUT. Durch den Zugriff auf und die Nutzung dieses Internetauftritts www. ausbildungsinstitut.de sowie der verbindlichen Anmeldung zur Ausbildung zum Coach erklären Sie sich als Teilnehmer mit den nachstehend aufgeführten Bedingungen einverstanden. Der Teilnehmer schließt den Vertrag zwischen AUSBILDUNGSINSTITUT, — Anschrift. Weitere Kontaktdaten können aus dem Impressum www.ausbildungsinstitut.de/impressum entnommen werden. Gegenstand der Ausbildung zum Coach AUSBILDUNGSINSTITUT bietet eine Ausbildung zum Coach in ORT an. Sie besteht aus sieben Modulen. Nähere Angaben erfahren Sie über unseren Internetauftritt www.ausbildungsinstitut.de. Die Ausbildung endet mit einer Zertifizierung. Zusätzlich können Sie sich unter den Bedingungen des Berufsverbandes z.B. Deutschen Verbandes für Coaching und Training (dvct) e.V. zertifizieren zu lassen. Auf die Kosten und Bedingungen wird auf den Berufsverband verwiesen. Des Weiteren können Sie sich unter den Bedingungen der Hamburger Schule zertifizieren lassen. Auf die Kosten und Bedingungen wird auf www.hamburger-schule.net verwiesen. Vertragsschluss Angebot Sie geben ein bindendes Angebot zum Vertrag ‚Ausbildung zum Coach’ ab, wenn Sie an uns Ihren Namen, Ihre berufliche Funktion, das Unternehmen, Ihre Anschrift, das Datum der Ausbildungsgruppe sowie Angaben über Zahlungsvereinbarung unterschrieben übermitteln. Bitte verwenden Sie das bereitgestellte Buchungsformular www.ausbildungsinstitut.deanmeldung.pdf.

177

3.2 Annahme 3.2.1 Sie erhalten dann eine Bestätigung Ihrer Anmeldung per e-Mail (Anmeldebestätigung), damit Sie über den Eingang Ihrer Anmeldung informiert werden. 3.2.2 Mit der Anmeldebestätigung werden Ihnen erstens das Datum, die Uhrzeit und den Ort der Ausbildung, zweitens das zu zahlende Honorar übermittelt sowie drittens die Literaturempfehlung bekannt gegeben. Erst jetzt ist der Vertrag zur Teilnahme zustande gekommen. 3.2.3 AUSBILDUNGSINSTITUT behält sich das Recht vor, die Anmeldebestätigung einseitig zu widerrufen und das Seminar abzusagen. Bereits vollzogene Zahlungen werden Ihnen erstattet. 4 Widerrufsbelehrung 4.1 Widerrufsrecht 4.1.1 Als Verbraucher können Sie Ihre Vertragserklärung innerhalb von zwei Wochen ohne Angaben von Gründen in Textform (z.B. Brief, e-Mail) widerrufen. Die Frist beginnt nach Erhalt dieser Belehrung in Textform, jedoch nicht vor Erfüllung unserer Pflichten gem. § 312e Abs. 1 S. 1 BGB in Verbindung mit § 3 BGB-InfoV. Zur Wahrung der Widerrufsfrist genügt die rechtzeitige Absendung des Widerrufs. 4.1.2 Der Widerruf ist zu richten an: oder

[email protected] AUSBILDUNGSINSTITUT -Anschrift-

4.2

Ausschluss des Widerrufs Bei einer Dienstleistung im Fernabsatz erlischt das Widerrufsrecht vorzeitig, wenn AUSBILDUNGSINSTITUT mit der Ausführung der Dienstleistung mit Ihrer ausdrücklichen Zustimmung vor Ende der Widerrufsfrist begonnen hat oder Sie diese selbst veranlasst haben.

4.3

Widerrufsfolgen Im Falle eines wirksamen Widerrufs sind die bereits empfangenen Leistungen zurück zu gewähren und ggf. gezogene Nutzungen (z.B. Zinsen) herauszugeben. Können Sie uns die empfangene Leistung ganz oder teilweise nicht oder nur in verschlechtertem Zustand zurückgewähren, müssen Sie uns insoweit ggf. Wertersatz leisten. Verpflichtungen zur Erstattung von Zahlungen müssen innerhalb von 30 Tagen erfüllt werden. Die Frist beginnt für Sie mit der Absendung Ihrer Widerrufserklärung, für uns mit deren Empfang.

5 5.1

Rücktritt Sie können monatlich Ihre Teilnahme an der Ausbildung zum Coach schriftlich gegenüber AUSBILDUNGSINSTITUT kündigen. Die schriftliche Erklärung gilt gleichzeitig als Widerruf der Einzugsermächtigung. Kündigen Sie ab dem 20./14. Tag vor Beginn der Ausbildung zum Coach, so ist der gesamte Betrag als entgangener Gewinn sofort zu zahlen. Wenn Sie einen Ersatzteilnehmer oder AUSBILDUNGSINSTITUT einen neuen Teilnehmer für den betroffenen Zeitraum stellen kann, werden Ihnen € 100,00/50,00 in Rechnung gestellt. Sie können aus persönlichen Gründen während der Ausbildung zum Coach bis zu zehn/sieben Tagen vor dem nächsten Modul kündigen. Die Kosten für die noch nicht besuchten Module werden Ihnen vom gesamten Nettobetrag abgezogen bzw. bei erfolgter Zahlung erstattet.

5.2 5.3

5.4

178

5.5

AUSBILDUNGSINSTITUT kann insbesondere bei zu geringer Teilnehmerzahl (weniger als sechs Teilnehmer) oder längerfristigen Erkrankung eines Lehrcoaches die Ausbildung zum Coach absagen. Dann erhalten Sie bereits erfolgte Zahlungen zurück.

6 6.1

Zahlungsbedingungen Sie können den Betrag per Rechnung oder per Lastschriftverfahren zahlen. Die aktuellen Preise finden Sie unter der Rubrik der Investition der Ausbildung www.ausbildungsinstitut.de/coachausbildung-investition. Der Betrag ist sieben Tage vor Beginn der Ausbildung zum Coach zu zahlen. In Ausnahmefällen kann entweder eine Teilzahlung oder eine Stundung vereinbart werden. Bei schuldhafter Verzögerung ist AUSBILDUNGSINSTITUT berechtigt, den durch den Verzug verursachten Schaden von Ihnen ersetzt zu verlangen. Kommen Sie in Zahlungsverzug, so ist AUSBILDUNGSINSTITUT berechtigt, Verzugszinsen in gesetzlicher Höhe über dem jeweiligen Basiszinssatz zu fordern. Falls AUSBILDUNGSINSTITUT ein höherer Verzugsschaden nachweisbar entstanden ist, kann dieser ebenfalls geltend gemacht werden.

6.2 6.3 6.4 6.5

7 7.1

Gewährleistung und Haftungsausschluss Sie als Teilnehmer erklären mit der Abgabe ihrer Anmeldung und Zahlungsvereinbarung, dass Sie das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben, voll geschäftsfähig sind und nicht in Therapie sind. Nur dann sind Sie zur Anmeldung berechtigt. AUSBILDUNGSINSTITUT weist hiermit auf die mögliche Strafbarkeit falscher Angaben hin.

7.2

AUSBILDUNGSINSTITUT haftet gleich aus welchem Rechtsgrund nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit. Im Falle der Verletzung wesentlicher Vertragspflichten haftet AUSBILDUNGSINSTITUT jedoch nur für jedes schuldhafte Verhalten seiner Mitarbeiter und Erfüllungsgehilfen.

8 8.1

Verjährung Ansprüche aus und mit dem Vertrag von Ihnen als Teilnehmer gegenüber AUSBILDUNGSINSTITUT verjähren in einem Jahr. Die Verjährung beginnt mit dem Ende des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und Sie als Nutzer von dem Umstand, die den Anspruch gegenüber AUSBILDUNGSINSTITUT begründen und diesem selbst als Anspruchsgegner Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste.

8.2

9 9.1

Datenschutz AUSBILDUNGSINSTITUT schützt alle Daten, die Sie an uns übermitteln. Die gesammelten Informationen verwenden wir, um unsere Angebote von AUSBILDUNGSINSTITUT für Sie so angenehm, interessenorientiert, zielgenau und effektiv wie möglich zu gestalten. Wir speichern Ihre Daten für unsere Rechnungslegung. Bei AUSBILDUNGSINSTITUT stehen Ihre Zufriedenheit und Ihre Sicherheit an erster Stelle. Unsere Mitarbeiter und Erfüllungsgehilfen sind nur Zugriffsrechte eingeräumt, die sie für ihre Arbeit benötigen. AUSBILDUNGSINSTITUT schützt nach bestem Wissen Ihre persönlichen Informationen.

10 Schlussbestimmungen 10.1 Der Vertrag und seine Änderungen bedürfen der Schriftform. Nebenabreden bestehen nicht. 179

10.2 AUSBILDUNGSINSTITUT behält es sich vor, diese AGB jeder Zeit ohne Nennung von Gründen zu ändern, es sei denn, das ist für Sie als Teilnehmer nicht zumutbar. Das AUSBILDUNGSINSTITUT wird sie als Teilnehmer über Änderungen der AGB rechtzeitig benachrichtigen. Widerspricht der Teilnehmer der Geltung der neuen AGB nicht innerhalb von zwei Wochen nach der Benachrichtigung, gelten die geänderten AGB als vom Teilnehmer angenommen. Das AUSBILDUNGSINSTITUT muss den Teilnehmer in der Benachrichtigung auf sein Widerspruchsrecht und die Bedeutung der Widerspruchsfrist hinweisen. 10.3 Sollten einzelne Regelungen dieser AGB unwirksam sein oder werden, wird dadurch die Wirksamkeit der übrigen Regelungen nicht berührt. Die Vertragspartner verpflichten sich, eine unwirksame Regelung durch eine solche wirksame Regelung zu ersetzen, die in ihrem Regelungsgehalt dem wirtschaftlich gewollten Sinn und Zweck der unwirksamen Regelung möglichst nahe kommt. Das gilt entsprechen bei Vertragslücken. 10.4 Erfüllungsort ist der Sitz von AUSBILDUNGSINSTITUT. 10.5 Gerichtsstand ist, soweit gesetzlich zulässig, der Sitz von AUSBILDUNGSINSTITUT. 10.6 Es gilt das deutsche Recht unter Ausschluss des Internationalen Privatrechts und des ins deutsche Recht übernommenen UN-Kaufrechts. Stand: Januar 2010

Muster — Coachingvertrag

Vertrag über Coachingdienste Zwischen Name Anschrift nachstehend „Auftraggeber” genannt, und Name Anschrift nachstehend „Coach” genannt, wird folgender Vertrag geschlossen: Präambel 1. Coaching ist eine persönliche Entwicklungsbegleitung im Sinne von Hilfe zur Selbsthilfe. Coaching ist ein freier, aktiver und selbstverantwortlicher Prozess, wobei bestimmte Erfolge nicht garantiert werden können. 180

2.

3.

4.

5.

6.

§1 (1.)



• • (2.)

Folgende vier Werte sind Grundlagen im Coaching: (1) Freiheit bzgl. der selbst festgelegten nachhaltigen Selbstlernkonzeption, (2) Freiwilligkeit bzgl. der eigenen entschiedenen Veränderungsthematik und des Veränderungszeitpunktes, (3) Ressourcenverfügung bzgl. des selbstständigen Zugriffs auf die eigenen vorhandenen Ressourcen für die nachhaltige Selbstlernkonzeption und (4) Selbststeuerung bzgl. des Selbsterkennens und der Selbstrealisierung von Veränderungsanforderungen. Diese manifestieren sich in der Differenzierung der Prozessverantwortung für den Coach sowie die Lösungsfindungs- und Ergebnisverantwortung für den Coachee. Coaching verfolgt unter Beachtung der vier Werte folgende drei Anliegen: (1) Erweiterung der Selbstwahrnehmung, (2) Entwicklung von Handlungsmöglichkeiten auslösen und (3) Entscheidungsfähigkeit ermöglichen. Diese manifestieren sich in der Differenzierung der Prozessverantwortung für den Coach sowie die Lösungsfindungs- und Ergebnisverantwortung für den Coachee. Der Coach steht dem Coachee als Prozessbegleiter und Reflexionsanbieter für vom Coach selbst ausgelöste Veränderungen zur Verfügung — die eigentliche Veränderungsarbeit wird vom Coachee geleistet. Der Coachee sollte bereit und offen sein, seine Werte selbstkritisch zu hinterfragen, sich mit seiner eigenen Person und Situation objektiv auseinander zusetzen, eigenes Verhalten zu ändern und den Coach und seine Arbeit zu akzeptieren. Coaching ist keine Beratung, kein Training, weder Führungsstil noch Supervision auch nicht Psychotherapie, das heißt, es werden keine krankhaften Zustände der Seele der betroffenen Person aus der Vergangenheit bis zur Gegenwart festgestellt, bearbeitet, geheilt oder gelindert. Das Coaching erfolgt auf der Grundlage der zwischen den Parteien geführten vorbereitenden Gespräche. Es dient des Kennenlernens und der Auftragsklärung, wobei der Anlass und das Ziel des Coaching und die gegenseitigen Erwartungen erörtert werden. Gegenstand des Dienstes Der Coach führt für den Auftraggeber Coachingprozesse durch. Die Person des Coachee legt der Auftraggeber fest, da dieser bei ihm angestellt ist. Die Personendaten werden vor jedem Coaching auf einem gesonderten Formular fixiert und werden Bestandteil dieses Vertrages. Das Coaching enthält insbesondere: die Erfassung, Aufarbeitung und Optimierung der gegenwärtigen beruflichen oder persönlichen Situation des Coach unter Berücksichtigung aller Aspekte (systemisches Coaching im Management); Kontakt von Coachee mit Coach, Thema- und Zielklärung, Identifikation der Ressourcen, Entwicklung und Auswahl von Verhaltensmöglichkeiten, Controlling und Abschluss des Coachings; Erweiterung der Selbstwahrnehmung des Coachee, Ermöglichung der Entwicklung von Handlungsmöglichkeiten des Coachee sowie das Auslösen von Entscheidungsfähigkeit des Coachee. Der Coach wird in den Geschäftsräumen des Auftraggebers

Ort

die Coachingdienste persönlich erbringen. Die Angaben über Größe und Ausstattung des Raumes seitens des Coach soll der Auftraggeber ermöglichen. §2 (1.)

Coach, Rechte und Pflichten Das Coaching wird durch den Coach persönlich erbracht. 181

(2.)

(3.)

(4.)

(5.) (6.)

§3 (1.) (2.) (3.)

§4 (1.)

Der Coach gewährt dem Auftraggeber auf Wunsch vorab Einsicht in seinen Coachingansatz sowie die im Coaching verwendeten Modelle, Methoden, Theorien mit ggf. Wirksamkeitserwartungen. Der Coach wird die von ihm angewandten Methoden, ihre Funktionsweisen und Zwecke sowie die Risiken und die möglichen Ergebnisse in jeder Phase des Coachings dem Coachee offen legen. Der Coach nimmt die Prozessverantwortung wahr, indem er vor allem den Coachingablauf einhält, die vier Grundwerte von Coaching beachtet, sowie das Coaching unterbricht, wenn der Coachee eine Pause benötigt bzw. andere Hilfe benötigt. Der Coach arbeitet ehrlich, fair, konstruktiv, authentisch, diszipliniert und wertschätzend für Menschen und Unternehmen insbesondere Coachee und Auftraggeber. Der Coach verpflichtet sich, ausschließlich die Interessen des Auftraggebers und des Coachee zu wahren und keine persönlichen, religiösen, weltanschaulichen oder politischen Ziele während oder nach dem Coaching zu verfolgen oder Werbung dafür zu betreiben. Insbesondere distanziert sich der Coach in jeglicher Weise von den Lehren Ron L. Hubbards. Coachee, Rechte und Pflichten Der Coachee ist während des gesamten Coachingprozesses für seine Gesundheit, sowohl körperlich als auch geistig, selbst verantwortlich. Der Coachee hat die Lösungsfindungs- und Ergebnisverantwortung und billigt dem Coach die Prozessverantwortung zu. Der Coachee erstellt sich ein Fotoprotokoll und schreibt seine Gedanken/Reflexionen auf für seine nachhaltige Selbstlernkonzeption auf. Vergütung Höhe Die Vergütung beträgt € Die Vergütung beträgt €

pro Coachingstunde zuzüglich gesetzlicher Umsatzsteuer. pro Tag zuzüglich gesetzlicher Umsatzsteuer, wobei ein Tag

Zeitstunden enthält. Daneben erhält der Coach für seine Fahrtkosten mit seinem privaten PKW über 30 km von seinem Dienstort/Wohnsitz eine Kostenpauschale von € 0,30/km. Falls die An- und Abreise mit anderen Fortbewegungsmöglichkeiten wie Bahn/Flugzeug nur erfolgen kann, werden die tatsächlich anfallenden Kosten für ersetzt. Weiter Aufwendungen können nach gesonderter schriftlicher Zustimmung mit dem Auftraggeber ersetzt werden. (2.)

182

Fälligkeit Der Coach wird seine Rechnung erstmals nach vier Wochen und dann zum Ende eines jeden Monats nach Leistungserbringung gegenüber dem Auftraggeber stellen; wenn das Coaching zum Jahresende stattfindet, innerhalb seines laufenden Geschäftsjahres. Die Vergütung ist erst nach erbrachter Leistung/ggf. Teilleistung und mit Empfang der Rechnung fällig. Eine Vorauszahlung erfolgt nicht.

(3.)

Zahlung Der Auftraggeber zahlt alle Beträge und Kosten des Coachings.

§5

Haftung Der Coach haftet nur für Schäden, die aufgrund einer fahrlässigen Pflichtverletzung beruhen.

§6

Auskunftsrechte Der Auftraggeber ist berechtigt, Auskunft über die erbrachte Coachleistung zu verlangen. Der Coach erwähnt keine Details und keine Ergebnisse, sondern nur konkrete Interventionen im Coaching. Das Persönlichkeitsrecht des Coachee wird gewahrt, so dass keine intimen Informationen weiter gereicht werden.

§7 (1.) (2.)

Verschwiegenheit und Datenschutz Der Coach unterliegt der Schweigepflicht. Der Coach wird die ihm überlassenen oder bekannt werdenden Informationen über den Geschäftsbetrieb, Geschäftsunterlagen und Kunden des Auftraggebers streng vertraulich behandeln. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass alle Informationen im Zusammenhang mit dem Coaching gespeichert werden können. Für das Coaching erstellte oder zu erstellende Unterlagen gehen nach Beendigung in das Eigentum des Coachee über, wobei der Coach auf Verlangen eine Ablichtung zu seinen Zwecken behalten darf. Gespeicherte Daten werden lediglich zur Rechnungsstellung und zur Qualitätssicherung verwendet. Eine Weitergabe ist nur mit entsprechender Zustimmung erlaubt.

(3.)

§8 (1.) (2.) (3.)

(4.)

§9 (1.)

Vertragsdauer und -beendigung Der Coachvertrag wird auf unbestimmte Zeit geschlossen. Beide Parteien haben das Recht zur schriftlichen Kündigung. Bis zur Beendigung kann der Coach seine anteilige Vergütung verlangen. Der Auftraggeber kann ein angesetztes Coaching bis zu vierzehn Tage vor Beginn des Coachingtermins kostenfrei absagen. Danach erhält der Coach seinen entgangenen Gewinn in Höhe von 50% der vereinbarten Vergütung, es sei denn der Auftraggeber ist entschuldigt und ein neuer Termin wird vereinbart. Der Auftraggeber hat das Recht zur fristlosen Kündigung, wenn schwerwiegende Gründe in der Person des Coach, der Art der Durchführung oder des Inhaltes der Maßnahme auftreten. In diesem Fall wird das Honorar nur zeitanteilig gezahlt.

(2.)

Schlussbestimmungen Der Vertragstext gibt die vollständige Vereinbarung wieder. Mündliche Nebenabreden sind nicht geschlossen. Änderungen und Ergänzungen dieses Vertrages bedürfen der Schriftform, was auch beim Abweichen von der Schriftform gilt. Gerichtsstand ist

(3.)

Es gilt ausschließlich das Recht der Bundesrepublik Deutschland.

183

(4.)

Sollten einzelne oder mehrere Bestimmungen dieses Vertrages nichtig sein, so bleiben die übrigen Bestimmungen hiervon unberührt. Dies gilt auch im Falle von Vertragslücken. Die Vertragsparteien verpflichten sich, diese Bestimmungen und/oder Vertragslücken durch eine ihrer rechtlichen und wirtschaftlichen Zielsetzung am nächsten kommende Regelung schriftlich ersetzen.

Datum, Unterschrift Auftraggeber, Vertreter

Datum, Unterschrift Coach

Hinweise zu den Mustern Diese Muster dienen der Orientierung und dürfen nicht ohne weiteres übernommen werden. Für sämtliche rechtlichen Fragen sowie Vertragsgestaltungen bitten wir um Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes bzw. eines Unternehmensjuristen. Die Darstellung des Vertrages ist jeder Partei überlassen, dennoch haben sich bestimmte Formalien eingebürgert. Am Anfang stehen stets die essentiali negotii und sodann die accidentalia negotii mit einer Schlussbestimmung. Die Präambel ist etymologisch auf das lateinische Wort praeambulare zurückzuführen und bedeutet, vorangehen bzw. die Einleitung. Die Präambel wird meist in gehobener Sprache am Anfang einer Urkunde, einer Verfassung oder eines völkerrechtlichen Vertrages gesetzt. Moderne Präambeln stellen die Motive und Zwecke der Urheber dar, so dass ein Grundkonsens ersichtlich wird. Die salvatorische Klausel ist etymologisch auf das lateinische Wort salvatorius zurückzuführen und bedeutet bewahren/erhalten. Diese Rechtsbestimmung bezeichnet, welche Rechtsfolgen eintreten sollen, wenn sich einerseits einzelne Vertragsbestandteile als unwirksam oder undurchführbar erweisen/ erweisen werden und andererseits zu regelnde Aspekte nicht geregelt wurden. Um die Rechtsfolge des § 139 BGB zu umgehen, § 139 BGB Teilnichtigkeit Ist ein Teil eines Rechtsgeschäfts nichtig, so ist das ganze Rechtsgeschäft nichtig, wenn nicht anzunehmen ist, dass es auch ohne den nichtigen Teil vorgenommen sein würde. dass der gesamte Vertrag sowohl als Coachingvertrag als auch als Coachausbildungsvertrag im Zweifel unwirksam wird, sollte eine salvatorische Klausel benutzt werden. Denn eine Teilnichtigkeit führt im Einzelfall zur Nichtigkeit des gesamten Vertrages. Die salvatorische Klausel kann entweder als Erhaltungsklausel oder als Ersetzungsklausel formuliert werden. Erhaltungsklauseln bewirken, dass der Vertrag im Übrigen gültig bleibt. Ersetzungsklauseln bestimmen, dass eine nichtige oder eine unwirksame Klausel durch eine andere Klausel ersetzt wird, die entweder erneut konkret ausgehandelt werden muss oder konkludent dem Gewollten auf zulässige Art und Weise am nächsten kommt. Allerdings gilt für Allgemeine Geschäftsbedingungen nicht § 139 BGB sondern § 306 Abs. 2 BGB, sodass per Gesetz eine Weitergeltung des Restvertrages vorgesehen ist. Dann treten an die Stelle der unwirksamen Regelungen die gesetzlichen Bestimmungen. Dennoch können Erhaltungsklauseln ebenfalls in AGB wirksam vereinbart werden. Unzulässig sind die Ergänzungsregelungen in AGB, da diese gegen das Transparenzgebot gem. § 307 Abs. 1 S. 2 BGB verstoßen (Siehe BGH, Urteil vom 24.09.2002 — Az. KZR 10/01). 184

Beide Muster weisen eine qualifizierte Schriftformklausel auf, so dass Streit über weitere Abreden vermieden werden soll. Sowohl mündliche Regelungen als auch mündliche Absprachen über das Außerkraftsetzen des Schriftformerfordernisses dürfen Parteien im Privatrecht vereinbaren. Seit der Schuldrechtsmodernisierung vom 01.01.2002 dürfen in arbeitsvertraglichen Verträgen (meist AGB) keine qualifizierten Schriftformklauseln fixiert sein, da der Arbeitnehmer und angestellter Coach unangemessen benachteiligt wird. Sämtliche Vereinbarungen nach Abschluss des Arbeitsvertrages dürfen mündlich geschlossen werden, da ansonsten kein Vertrauen mehr zum ausführenden Personal besteht und eine betriebliche Übung nicht mehr stattfinden kann. Dies führte das BAG mit Urteil vom 20.05.2008 (Az.: 9 AZR 382/07) aus und bestätigte das LAG Düsseldorf in seinem Urteil vom 13.04.2007 (Az.: 9 Sa 143/07). 8.1.3 Internetrecht Literatur — DIRK-M. BARTON, Multimedia-Strafrecht — Ein Handbuch für die Praxis, 1. Auflage 1999; STEPHAN BLEISTEINER, Rechtliche Verantwortlichkeit im Internet unter besonderer Berücksichtigung des Teledienstgesetzes und des Mediendienste-Staatsvertrages, 1. Auflage 1999; CLAUDIA BOSSMANNS, Urheberrechtsverletzungen im Online-Bereich und strafrechtliche Verantwortung der InternetProvider, Dissertation Universität Gießen 2003; THOMAS HOEREN, Grundzüge des Internetrechts: E-Commerce, Domains, Urheberrecht, 2. Auflage 2002; ders., Recht der Access Provider, 1. Auflage 2004; ROBERT JOFER, Strafverfolgung im Internet: Phänomenologie und Bekämpfung kriminellen Verhaltens in internationalen Computernetzen, Dissertation Universität München 1998; CLEMENS KESSLER, Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Zugangsprovidern in Deutschland und der Umsetzung der E-Commerce-Richtlinie in Europa, Dissertation Universität Würzburg 2003; MARKUS KÖHLER/ HANS-WOLFGANG ARNDT/THOMAS FETZER, Recht des Internet, 5. Auflage 2006; KLAUS MALEK, Strafsachen im Internet, 1. Auflage 2005; MARIAN PASCHKE, WOLFGANG BERLIT, CLAUS MEYER, Hamburger Kommentar Gesamtes Medienrecht, 1. Auflage 2008; ULRICH SIEBER, Verantwortlichkeit im Internet — Technische Kontrollmöglichkeiten und multimediarechtliche Regelungen, 1. Auflage 1999; THOMAS STADLER, Haftung für Informationen im Internet, 2. Auflage 2005. Das Internetrecht (auch Online-Recht genannt) befasst sich mit den rechtlichen Problemen, die mit der Verwendung des Internets einhergehen. Es stellt weder ein eigenes Rechtsgebiet noch einen rechtsleeren Raum dar, sondern ist die Schnittstelle aller Rechtsgebiete im Bereich des Internets. Wichtigste rechtliche Aspekte sind ... •



• •



das allgemeine und besondere Zivilrecht, welches Auswirkungen insbesondere auf den Vertragsschluss, den Handel und e-Commerce, allgemeine Haftungsgrundsätze und Informationspflichten bei geschäftsmäßigen Telemedien hat; das Urheberrecht, welches Auswirkungen vor allem auf den Schutz des Urhebers, dessen Nutzungs- und Verwertungsrechte und die Rechteübertragung sowie der legale und illegale Gebrauch hat; das Wettbewerbsrecht, welches vor allem Auswirkungen auf Werbung und Akquisition hat, mit der Folge von wettbewerbsrechtlichen Abmahnung; das Namens- und Markenrecht, welches Auswirkungen auf die Domainregistrierung, die Domainnutzung sowie den Schutz und Lizenzierung von Wortmarken, Bildmarken und Wortbildmarken hat, mit der Folge von namensrechtlichen und markenrechtlichen Abmahnungen; das Datenschutzrecht, welches Auswirkungen auf den e-Commerce, den Datenschutzbeauftragten, die Informations- und Belehrungspflichten sowie die Vorratsdatenspeicherung usw. hat;

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• •

das Strafrecht, welches Auswirkungen auf Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, Cracker, Pornographie, Volksverhetzung oder Betrug hat; das Medienrecht, welches vor allem die Sorgfaltspflichten von journalistisch-redaktionellen Inhalten regelt sowie den Schutz von Kindern und Jugendlichen fokussiert.

Das Domainrecht befasst sich mit der Zuteilung der Domainnamen über die Denic eG. Grundsätzlich gilt hier das Prioritätsprinzip: Wer sich als erster einen Domainnamen sichert, darf diesen auch nutzen und behalten. Eine Ausnahme bilden Fälle, bei denen der Name eine „weit überragende Bekanntheit“ genießt wie zum Beispiel www.shell.de. Des Weiteren kann jeder Namensträger nach § 12 BGB seinen Namen vor der rechtswidrigen Nutzung durch Dritte schützen. So ähnlich liegt der Fall, wenn es sich um notorisch bekannte oder eingetragene Marken im Sinne des Markengesetzes beim Deutschen Marken und Patentamt handelt. Sowohl der Namens- als auch der Markeninhaber haben Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche gegen die rechtswidrige Benutzung von Namen, weil das Image verletzt oder das gute Image für eigene Zwecke benutzt wird. Hieran knüpft das Recht zur Bekämpfung unlauterer Wettbewerbshandlungen (sog. klassisches Wettbewerbsrecht) sowie das Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen (sog. Kartellrecht) an. Zur Regulierung des Wettbewerbs zwischen den Marktteilnehmern und dem Zweck des freien Leistungswettbewerbs wird die Lauterkeit über das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb geregelt. Das OLG Köln entschied mit Urteil vom 09.09.2009 (Az. 6 U 48/09) (OLG Köln, Urteil vom 09.09.2009 abrufbar unter www.aufrecht.de/index.php?id=6168) über eine unzulässige Meinungsäußerung in einem Newsletter über einen Coachkonkurrenten. Folgende Leitsätze sind formuliert: 1. Die Parteien sind Wettbewerber auf dem Gebiet des Coachings. Der Versand eines Newsletters stellt in der Regel eine geschäftliche Handlung bzw. Wettbewerbshandlung nach dem neuen und alten Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb dar. 2. Der im Wettbewerb stehende Versender eines Newsletters, der sich hierin über seine Konkurrenz herabsetzend äußert, kann sich nicht auf die Pressefreiheit berufen. 3. Diskreditierende Äußerungen über einen Wettbewerber sind auch dann unzulässig, wenn dessen Person oder Unternehmen erst über eine Verlinkung zu einer anderen Internetseite identifizierbar wird. Im vorliegenden Rechtsfall unternahm der Geschäftsführer der Beklagten eine unzulässige geschäftliche Handlung aus wettbewerbsrechtlicher Sicht, weil er einen Beitrag über Scharlatanerie im Coachingmarkt über seinen Newsletter von der betriebenen (werblichen) Homepage www.coaching-...de veröffentlichte. Er stellt die mangelnde Qualität und Seriosität von Coachs dar, nannte eine Gesamtzahl von etwa 35.000 Coachs in Deutschland wovon etwa 3.500 Coachs seriös wären und die restlichen 31.500 Coachs gerade nicht. Der Beklagte benannte die Klägerin allein mit Namen, sodass diese eindeutig identifiziert wurde, was unbestritten ist. Als Negativbeispiel hob der Beklagte Arbeit mit Kabballa und Ähnlichem sowie Psychogruppen und Scientology-Methoden. Grundsätzlich wird nach der Legaldefinition des § 3 Abs. 1 UWG eine geschäftliche Handlung als unzulässig angesehen, wenn diese geeignet ist, die Interessen von (Mitbewerbern, Verbrauchern oder sonstigen) Marktteilnehmern spürbar zu beeinträchtigen. Konkrete Beispiele sind in §§ 4 und 5 UWG aufgelistet. Unter § 4 Nr. 7 UWG fällt die Verunglimpfung per Newsletter. Denn eine unlautere geschäftliche Handlung liegt vor allem dann vor, wenn Kennzeichen/Waren/Dienstleistungen/Tätigkeiten oder persönliche/geschäftliche Verhältnisse eines Mitbewerbers herabgesetzt werden. Im Endeffekt wird der Achtungsanspruch jeder Person geschützt.

186

Insofern sollte jede Marketingstrategie sorgfältig überdacht und sich der Folgen bewusst werden, wenn mit falschen Tatsachen geworben wird. Hauptbeispiel ist die Benutzung des Superlativen und des Komparativs als Alleinstellungsmerkmal. Des Weiteren ist die Kaltakquise bzw. das Opt-out-Prinzip in der Vermarktung verboten, da grundsätzlich niemand unaufgefordert mit Anrufen, Mailings und Werbebroschüren „überschüttet“ werden möchte. Diese Belästigung kann ebenfalls verfolgt werden. Bitte erkundigen Sie sich bei einem Rechtsanwalt nach legitimer Werbung. Für die Verantwortlichkeit im Internet wird zwischen fremden und eigenen Inhalten differenziert, was in §§ 7-10 TMG ihre Rechtsgrundlage findet. Der Anbieter (sog. Provider) eines Teledienstes kann gem. § 2 Nr. 1 TMG jede natürliche oder juristische Person sein, der eigene oder fremde Inhalte zur Nutzung bereithält oder den Zugang zur Nutzung vermittelt. Daher werden mit zivilrechtlichen Vorgaben von Unternehmen etc. ebenfalls Teledienste angeboten (vgl. BLEISTEINER, Internet, S.161). Der Provider wird in der Praxis in ... • • •

den Anbieter von Zugängen (sog. Access-Provider), dem Anbieter von Diensten (sog. Service-Provider) und dem Anbieter von Inhalten (sog. Content-Provider) (BARTON, MM-Str, Rn.77-81; BLEISTEINER, Internet, S.149ff.; HOEREN, InternetR, S.275; MALEK, Internet, Rn.46; Park, GA 2001, 23 (30); STADLER, Internet, Rn.8 ff), unterteilt.

1.

Der Access-Provider stellt den technischen Zugang zum Internet zur Verfügung. Unter dem weiten rechtlichen Verständnis liegt konsequent nicht nur der teledienstliche sondern auch der telekommunikative Zugang i.S.d. TKG vor. Die Vermittlung erfolgt über lokale Einwahlknoten den sog. Points of Presence (POP’s). Diese Einwahlknoten verbinden über die drahtgebunden Leitungen (sog. Standleitungen), oder drahtlosen Leitungen wie Wireless-LAN, Wireless-Broadband oder Worldwide Interoperability for Microwave Access (WiMax) und Bluetooth (Funk) die einzelnen Rechner (BOßMANNS, Internet-Provider, S.32; HOEREN, Access Provider, S. 59; KESSLER, Zugangsprovidern, S.42, 61). Beispielhaft sind T-Online und AOL zu nennen. Weiterhin etablierten sich Alice, Arcor, 1und1, freenet, o2, tele 2, versatel und vodafone sowie Kabel Deutschland (BARTON, MM-Str, Rn.318; BLEISTEINER, Internet, S.164 ff.; Bundestag: BT-Drs. 13/7385, S.20; Bundesrat: BT-Drs. 13/7385, S.51; http://www.dsl-flatrate-angebote.de/?gclid= COjcpd6WjpcCFQhuMAod5mmP9A vom 24.11.2008).

2.

Generell kann der Service-Provider zwischen dem Network-Provider und dem Host-Provider unterschieden werden: • Der Provider eines Networks (Netzbetreiber) stellt die Leitungen zur Verfügung. Er ist mittels technischer Infrastruktur aus den Datenleitungen samt Routern der reine Datenübermittler der TCP/IP-Datenpakete nach dem ISO-OSI-Schichtenmodell zwischen dem Access-Provider und dem Host-Provider, sodass keine unmittelbare Beziehung zum Nutzer (Endkunden) besteht (u.a. BARTON, MM-Str, Rn.78; STADLER, Internet, Rn.12). Insofern vermittelt er den Zugang zu den Informationen oft via Routing und Browsing wie z.B. Microsoft Internet Explorer, Netscape Communicator, Shareware aus dem Internet oder AOL, T-Online usw. (HOEREN, InternetR, S.11 ff.; JOFER, Internet, S.15). Daher besteht keine klare Grenze zwischen dem Access- und Network-Provider. • Der Provider eines Hosts stellt die technische Infrastruktur für Daten bzw. Speicherkapazität zur Verfügung. Dabei hilft ihm der Network-Provider zur Übermittlung der TCP/IP-Daten (BARTON, MM-Str, Rn.78; http://www.itwissen.info/definition/lexikon/Internet-presence-provider-IPP.html vom 24.11.2008). Diese Speicherkapazitäten bzw. Daten können in Form von 187

Programmen und Software erfolgen. Daher gehören Dienste wie e-Mail, e-News, Datenbanken, Blogs, Gästebücher, Newsgroups, HTTP und FTP sowie ein Proxy-Cache-Server hierzu (BARTON, MM-Str, Rn.80; vgl. BREUTZ in HHKo, MedienR, Kap 39 Rn.197; SIEBER, Internet, Rn.22; Stadler, Internet, Rn.10). Ergo kann hier ebenfalls die User-Generation gefunden werden. 3.

Der Anbieter eines Contents stellt originär Informationen zur Verfügung. Im Gegensatz zum Dienstanbieter steht der Klient und bedeutet Kunde bzw. Gast. Er bezeichnet einerseits ein Computerprogramm, das Verbindung mit einem Server aufnimmt um Nachrichten/ Daten auszutauschen (BARTON, MM-Str, Rn.53; BLEISTEINER, Internet, S.159; STADLER, Internet, Rn.13). Andererseits wird unter dem Klient ein Nutzer von Telemedien verstanden. Nach § 2 Nr. 3 TMG wird jede natürliche oder juristische Person verstanden, die Teledienste oder Mediendienste in Anspruch nimmt. Vorzugswürdig werden die angebotenen Dateien auf dem eigenen Computer/Rechner aufgerufen, diese Dateien zur Kenntnis genommen und je nach Fall gespeichert (MALEK, Internet, Rn.51). Aber ein User speichert nicht nur, sondern stellt Informationen zum Download zur Verfügung und stellt eigene Informationen wie Download, e-Mail, Newsgroups usw. zur Verfügung, sog. User-Generated-Content. Ergo muss die Verantwortlichkeit für den Provider-Generated-Content als auch den User-Generated-Content im Internet anhand der Betätigung und nicht anhand der Person festgestellt werden. Der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit/die Verantwortung im Internet knüpft nach § 7 Abs.1 TMG an die Bereithaltung der eigenen Inhalte zur Nutzung an. Der Dienstanbieter ist stets für eigene Informationen verantwortlich, so dass § 7 Abs. 1 TMG eine selbstverständliche Klarstellung ist. Sinn und Zweck ist die Gleichbehandlung von online und offline bzw. Pressepflichten, sodass auch keine Unterscheidung zwischen privaten und kommerziellen Anbietern oder Speicherung auf eigenem oder fremden „Rechner“ erfolgt (BARTON, MM-Str, Rn.296, 297; BLANKE, Internet-Providers, S.103; 7; STADLER, Internet, Rn.70; MALEK, Internet, Rn.73). Die Informationen sind dann eigen, wenn der Provider die Informationen entweder selbst erstellte oder sich durch bewusste Übernahme zu eigen machte. Grundsätzlich wird auf die Eigenschaft als Hersteller bzw. Urheber abgestellt. Grundsätzlich stellt der Content-Provider eigene Inhalte i.S.d. § 7 Abs.1 TMG zur Verfügung und Acces- sowie Service-Provider sind nach §§ 7 Abs.2, 8-10 TMG zu privilegieren. Für die einzelnen Fallgestaltungen bitten wir um die Einholung von Rechtsberatung.

8.1.4 Geheimhaltung und Verschwiegenheit Literatur — CARSTEN J., Due Diligence beim Unternehmenskauf, 1. Auflage 2002; HANS PETER BULL, Informationelle Selbstbestimmung — Vision oder Illusion?, 1. Auflage 2009; MICHAEL ESCHENBACHER, Datenerhebung im arbeitsrechtlichen Vertragsanbahnungsverhältnis, Dissertation Universität Köln 2008; HELMUT KÖHLER/JOACHIM BORNKAMM, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb UWG 28. Auflage 2010; Thomas Kehl, Die Bedeutung der Einwilligung für das Aufnehmen und Abhören des nichtöffentlich gesprochenen Wortes eines anderen, Dissertation Universität Halle 1999; ANIKA DORTHE LUCH, Das Medienpersönlichkeitsrecht, Dissertation Universität Kiel 2008; MEINCKE, Geheimhaltungspflichten im Wirtschaftsrecht, WM 1998, S.741; REIMANN, Einige Überlegungen zur Offenkundigkeit im Rahmen von §§ 17 ff. UWG und von § 3 PatG, GRUR 1998, S.298; MICHAEL SCHMEDING, Wettbewerbsrechtliche Grenzen der Abwerbung von Arbeitskräften: zugleich ein Beitrag zum Stand des Schutzes von Unternehmensgeheimnissen beim Arbeitsplatzwechsel, Dissertation Uni188

versität Osnabrück 2006; SIEMS, Die Logik des Schutzes von Betriebsgeheimnissen, WRP 2007, S. 1146; SPIROS SIMITIS/JOHANN BIZER, Bundesdatenschutzgesetz, 7. Auflage 2010; WESTERMANN, Der BGH baut den Know-how-Schutz aus, GRUR 2007, S.116; WÜTERICH/BREUCKER, Wettbewerbsrechtlicher Schutz von Werbe- und Kommunikationskonzepten, GRUR 2004, S.389; ZENTEK, Präsentationsschutz, WRP 2007, S.507. Gegenstand eines Coachings sind die individuellen Entwicklungen einer Person. Dadurch können sensible Daten zur Person sowie geheimhaltungsbedürftige Informationen des Berufes sowie des angehörigen Unternehmens angesprochen werden. Die vier Werte sind Grundpfeiler von Grundrechten als objektive Wertordnung. Der Schutz der Individualität sowie der Geheimhaltung bestimmter Information und einer respektvollen und wertschätzenden Arbeit beruht auf verschiedenen Grundrechten unseres Grundgesetzes und kann einfachgesetzlich konkret zur Regelung bestimmter Kontexte wieder gefunden werden. Grundsätzlich ist eine Nachricht oder Information vertraulich, wenn diese nur für einen bestimmten Empfängerkreis vorgesehen ist. Diese Vertraulichkeit wird entsprechend rechtlich geschützt: Das nichtöffentlich gesprochene Wort wird besonders durch das Recht am eigenen Wort als Fall des innominalen Freiheitsrechts des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG sowie als Telefongespräch über das Fernmeldegeheimnis aus Art. 10 GG geschützt. Das vertrauliche Wort darf nicht ohne Erlaubnis des Sprechers aufgezeichnet werden und wird strafrechtlich durch den Straftatbestand der Vertraulichkeit des Wortes gem. § 201 StGB sowie der Verletzung des Fernmeldegeheimnisses aus § 206 StGB sowie zivilrechtlich durch den Deliktsanspruch aus § 823 BGB geschützt. Verschlossene Nachrichten wie Postsendungen und Pakete werden durch das Freiheitsrecht des Briefgeheimnisses aus Art. 10 GG geschützt. Diese Nachrichten sind nur für den Empfänger bestimmt und dürfen nicht ohne Erlaubnis abgefangen und geöffnet werden, sodass sie strafrechtlich durch den Tatbestand der Verletzung des Briefgeheimnisses gem. § 202 StGB sowie zivilrechtlich durch den Deliktsanspruch aus § 823 BGB geschützt werden. Als Pendant werden Telefongespräche und digitale Nachrichten über das Fernmeldegeheimnis aus Art. 10 GG geschützt sowie als Nachricht beim Empfänger über den Fall der informationellen Selbstbestimmung des innominalen Freiheitsrechts des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützt. Sämtliche Inhalte werden neben dem Ehrschutz als Fall des innominalen allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG über den Ehrschutz sowohl strafrechtlich aus §§ 185 ff. StGB als auch zivilrechtlich geschützt. Hierzu zählen sowohl sämtliche Beleidigungen und Diffamierungen im Coaching als auch gegenüber dem Auftraggeber, anderen Klienten oder Coachkollegen. Gleichzeitig werden Informationen, die die Person persönlich betrifft über den Datenschutz i.S.d. BDSG geschützt. So dürfen intime Informationen wie Krankheiten, sexuelle Vorlieben oder Schwächen das Coaching nicht verlassen. Das Weitererzählen von Nachrichten unterliegt derzeit bei bestimmten Berufsgruppen einer besonderen Schweigepflicht, wie der ärztlichen Verschwiegenheit zwischen Arzt und Patient, dem Beichtgeheimnis zwischen Geistlichem und dem Beichtenden sowie der Verschwiegenheit von Rechtsanwälten ihren Mandanten gegenüber oder Journalisten und Bankern. 189

Die Dispositionsmaxime der Vertragsfreiheit im Zivilrecht lässt den Personen die Möglichkeit, weitere Vereinbarungen über die Vertraulichkeit bestimmter Informationen zu treffen bereit. Wer die Vereinbarungen verletzt wird schadensersatzpflichtig sowie zur Unterlassung und ggf. Richtigstellung von getätigten Äußerungen rechtlich herangezogen. In der Praxis werden Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse gesondert vertraulich behandelt, damit die Konkurrenz keinen Vorteil erhält und das eigene Unternehmen sowohl keinen Imageschaden als auch keine Umsatzeinbuße erfahren muss.

8.2 PAS 1093 (DIN Deutsches Institut für Normung e.V., 10. Juli 2009) Die PAS 1093 ist eine öffentlich verfügbare Spezifikation (PAS=Publicly Available Specification) des DIN Deutsches Institut für Normung e. V. und stellt einen Referenzrahmen für die Erstellung sowie den strukturellen Vergleich und die Evaluation von Kompetenzmodellierung in der Personalentwicklung zur Verfügung. Die Spezifikation bezieht sich auf alle Prozesse in der Personalentwicklung einschließlich der Prozesse in der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Konformität mit der PAS 1093 ist dann erreicht, wenn ein Kompetenzmodell mit der vorliegenden Spezifikation und dem Referenzrahmen für die Kompetenzmodellierung, die Anforderungen aus den Abschnitten 8 und 9 komplett erfüllt, d. h. ein Kompetenzmodell muss vollständig entwickelt, angewandt und optimiert werden. Dies schließt die Ausarbeitung einer eigenen Kompetenzstrategie, eines eigenen Kompetenzkatalogs sowie die Beschreibung der drei Dimensionen Struktur, Niveau und Erfassung, die gemäß den Anforderungen ausführlich definiert, beschrieben, dokumentiert, umgesetzt und kontinuierlich evaluiert werden müssen, mit ein. Aus- und Weiterbildung versteht die PAS 1093 als „Alle Formen der Nutzung von Bildungsangeboten durch Lerner, um eigene Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kompetenzen zu steigern und zu verbessern.“ Die PAS 1093 betrachtet in ihrem Grundsatz 1 Kompetenz wie folgt: „Kompetenzen sind immer ein Konstrukt. Kompetenzen können nicht absolut und objektiv definiert werden, sondern sind immer ein Konstrukt. Damit beinhalten Kompetenzen auch immer eine normative Setzung, die individuell von Personen oder Organisationen vorgenommen wird, aber nicht beliebig erfolgen sollte.“ Grundsatz 5 formuliert: „Kompetenzen können situationsunabhängig konstruiert werden, zeigen sich aber immer situationsabhängig. Kompetenzen können nicht ohne einen Bezug auf eine Situation definiert werden. Eine Beschreibung und Definition von Kompetenzen muss deshalb immer im Kontext definierter Situationen, Aufgaben und Zielsetzungen erfolgen.“ Im Sinne der PAS gibt es im Coaching keine definierte Situation. Die Situation (der Kontext) Coaching wird durch den Coach und den Coachee (die Gruppe/das Team) gebildet und beinhaltet die Werte Freiheit, Freiwilligkeit, Selbststeuerung und Ressourcenverfügung als einzige normative Setzung. Aufgrund der Sichtweise von Coaching als ein wertegedeuteter Kontext würde eine Kompetenzstrategie, wie sie die PAS vorsieht, nicht möglich. Die Situation Coaching ist nicht statisch und folgt einer funktionalen betrieblichen Organisation. Der Coachee (die Gruppe/das Team) selbst definiert seine Situation, in der er bestimmte Aufgaben und Zielsetzungen verwirklichen will. Insofern konstruiert er auch seine Kompetenz selbst. Die PAS kann also als Strukturangebot auf den Coachee (die Gruppe/das Team) angewandt werden, jedoch nur eingeschränkt auf die Ausbildung von Coachs. Ein Coach handelt in ständig wechselnden Kontexten, deren einzige Gemeinsamkeit die normative Setzung der Werte Freiheit, Freiwilligkeit, Selbststeuerung und Ressourcenverfügung ist. Innerhalb dieser Kontexte hat er die Aufgabe der Prozessverantwortung und verfolgt das Ziel einer nachhaltigen 190

Selbstlernkonzeption seines Coachee. Kompetenzentwicklung als Bezug auf eine konkrete Situation ist nicht möglich, wohl aber als Bezug auf die Werte des Kontextes Coaching. Die drei Dimensionen Struktur, Niveau und Erfassung sind aufgrund wechselnder Kontexte für die Kompetenzentwicklung eines Coach nur eingeschränkt nutzbar — wohl aber als Reflexionsangebot für den Coachee. Für die curriculare Entwicklung von Kompetenz eines Coach ist es bedeutend, dass der Coach, orientiert an den Werten und dem Sinn von Coaching, in unterschiedlichsten Kontexten situativ erfolgreich ist. Die notwendige systemisch-konstruktivistische Sichtweise im Coaching beinhaltet auch einen ebensolchen Blick auf die Situation. Definiert werden kann nur, was in allen Situationen gleichermaßen vorkommt. Möglich ist die Anwendung der PAS 1093 im Bereich der fachlich-methodischen Kompetenz (HHS), da für diese Kompetenz Mindestanforderungen formulierbar sind, die in allen Kontexten gelten. Die Merkmale Struktur, Niveau, Erfassung können hier angewandt werden. Unser Verständnis von Kompetenzentwicklung, dargestellt im Kompetenzentwicklungsmodell, besteht im Unterschied zur PAS 1093 darin, dass Kompetenzentwicklung immer in Bezug auf einen thematischen Kontext gesehen wird und sich innerhalb dessen vollzieht. Der Kontext selber wird im Fokus des Kompetenzmodells betrachtet. Insofern werden grundsätzlich alle Bereiche dieses Modells bearbeitet.

8.3 Marketingkonzeption und ihre Merkmale Die Vermarktung einer Coachausbildung geschieht nicht aus einer Monopolstellung heraus. Über 300 Anbieter von Coachausbildungen werben um den Kunden. Was macht Ihre Coachausbildung interessant für den potenziellen Kunden? Marktgerechtes Verhalten beginnt mit der Erstellung und Umsetzung einer Marketingkonzeption. Nicht zu verwechseln mit einer Werbestrategie oder Verkaufsförde191

rungsmaßnahme. Die wesentlichen Merkmale bzw. Begriffe zur Erstellung einer Marketingkonzeption sind nachfolgend aufgelistet. Eine Marketingkonzeption und ein Businessplan haben in Teilbereichen überschneidene Überlegungen und Aussagen.

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35

Angebot Bedürfnisse Botschaftsgestaltung (Vision, Thema, Idee, USP, Motivansprache, Argumentationsreihenfolge, Ausdrucksstärke, Glaubwürdigkeit) Dauerhafte Befriedigung des Kundenbedürfnisses Differenzierungsstrategie Distribution Innovation Integrierter Ansatz Internes Marketing Ist-Analyse Kaufverhalten (Privatpersonen, Firmen, öffentliche Hand) Kunde (Kundengruppen) Kundenbindung Kundenbeziehung Kundenzufriedenheit Marke (Markenkern, Markenname, Markenzeichen) Markenführung Markenpolitik Marketinganalyse (Analyse von Wertchancen) Marketingbudget (Höhe, Mix, Dauer ) Marketingplanung Marketingverständnis (Marketing ist die Führung des Unternehmens vom Markt her) Markt (regional, national, international) Marketingmix (Produktpolitik, Preispolitik, Kommunikationspolitik, Distributionspolitik) Marketingumfeld (Größe, Struktur, Wachstum) Mitarbeiter (Qualität, Schulung, Führung, Motivationssteuerung) Persönliche Nutzenerwartung des Kunden Preis (Preisstrategie, Präferenzstrategie, Niedrigpreisstrategie, Preisaktionen, Rabatte, Preisdifferenzierung) Produkt (Merkmale, Qualitätsniveau, Zyklus, Varianten, Verpackung) Positionierung Segmentierung Stakeholder Verkaufsförderung (Dauer, Inhalt, Form, Einbindung Vertrieb) Werbung (Inhalt, Form, Medienwahl) Wettbewerb Zielmärkte

8.4 Der Businessplan und seine Merkmale Ein Businessplan ist eine Darstellung auf wenigen Seiten, die ein kaufmännisches oder unternehmerischen Vorhaben nach strukturellen Überlegungen beschreibt. Er vereinigt Ziele, Kompetenzen und Nutzendarstellung — nicht trocken und intellektuell aufgezählt, sondern im Stil einer „begeisternden Geschichte” erzählt.

192

In der Regel wird ein Businessplan erstellt, um bei Banken oder anderen Kapitalgebern um die Freigabe von Kapital zu werben (Vertrauenswürdigkeit von Personen und der Geschäftsidee). Aber auch bei Mitarbeitern und strategischen Geschäftspartnern wirbt der Businessplan um Vertrauen und Zustimmung. Ein Businessplan und eine Marketingkonzeption haben in Teilbereichen überschneidene Überlegungen und Aussagen. Der Businessplan soll das Geschäftsgebaren des „Ehrbaren Kaufmanns” widerspiegeln. Struktur und Hauptelemente des Businessplans „Executiv Summary” (oder Kurzfassung für Entscheider) Name des Unternehmens Beschreibung des Produkts oder der Dienstleistung Vision der Geschäftsidee Aussagen zum USP des Produkts oder der Dienstleistung Kompetenzprofil(e) des/der Unternehmer beschreiben Zielkunden und Zielmärkte festlegen Marktanalyse darstellen und Wettbewerber identifizieren Struktur des Marketings und Vertriebsvorhaben darstellen Preisstrategien für Märkte Rechtskonstruktion, Organisations- und Mitarbeiterstruktur begründen Realisierungsfahrplan für 1 bis 3 Jahre erläutern SWOT-Analyse (Chancen und Risiken) aufstellen Investitionsplanung, Ertragsvorschau darstellen und Finanzierung (Liquiditätsbedarf) begründen Cash-flow-Planung für die Unternehmesentwicklung Aufwand- und Ertragsschätzung für 1 bis 3 Jahre auflisten Bedingungen des Marktausstiegs (Geschäftsaufgabe) festlegen Merkmale des Businessplans Klarheit Sachlichkeit Priorisierung Verständlichkeit Plausibilität „Aus einem Guss” Optik Authentizität, Persönlichkeit und Charisma des Unternehmers Motive und Interessen (Bedürfnisse) Werte und Normen Ressourcen (know-how und Kapital) Sichtweisen/Perspektiven Rhetorische Kompetenz

193

9 Mentale Vorbereitung und Durchführung eines Coaching Die grundsätzliche, mentale Vorbereitung orientiert sich an den vier Werten (Freiheit, Freiwilligkeit, Ressourcenverfügung, Selbststeuerung) und den drei Anliegen (Wahrnehmungserweiterung, Handlungsalternativen, Entscheidungsfähigkeit) von Coaching. Hinzu kommt, dass der Umgang mit dem Coachingsprozess, fokussiert über das Kompetenzmodell, reflektiert werden soll, um dem Coach die Haltung des Dienstleisters und sicheren Handwerkers zu ermöglichen.

9.1 Das Modell der kritischen Erfolgsfaktoren im Coaching Das Modell der kritischen Erfolgsfaktoren im Coaching bildet alle relevanten Merkmale ab, die es im Coaching — insbesondere im Kontextmanagement Coaching — zu beachten und professionell zu bearbeiten gilt.

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9.2 Zentrale Werte und Normen des Managementcoaching Aus den vier Werten und den drei Anliegen des Coaching lassen sich nachfolgende Werte und Normen für die einzelnen Coachingphasen und Coachingtätigkeiten ableiten.

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9.3 Denken in Kontexten — das MVWK-Modell Ein wichtiger Baustein der mentalen Vorbereitung des Coach besteht in der Vergegenwärtigung, dass Verhalten sich in Kontexten vollzieht. Im Coaching sind in der Regel thematisch verschiedene Kontexte vorhanden, ebenso Motive und Werte innerhalb dieser Kontexte, die verschiedenes Verhalten auslösen. 195

MVWK-Modell Motiv-Verhalten-Wert-Kontext

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9.4 Coachingdokumentation — Thema „Freiraum” Coach Datum Thema

Oliver Pittig (redaktionelle Mitarbeit: Nina Meier) 10. Mai 2009, 10:45 Uhr bis 16:00 Uhr „Ich möchte meinen Kindern mehr Freiraum geben.“

Diese Dokumentation eines realen Coaching ist der Versuch das Coachingverständnis wider zu spiegelns. Deshalb kann die Dokumentation im Sinne eines Coaching auch nicht idealtypisch und/oder perfekt sein. Vorbereitung Sinn und Zweck dieser Phase ist die mentale und organisatorische Vorbereitung auf ein zukünftiges Coaching. Mithilfe einer bewussten Reflexion ... • • • •



überprüfe ich ständig meine Kompetenz als Coach anhand des Kompetenzmodells; repetiere ich den fünfphasigen Coachingablauf mit seinen Wirksamkeitserwartungen und den jeweiligen Strukturmerkmalen; analysiere ich für ein dissoziiertes Verhalten meine eigenen Gefühle, meine Motive, meine Bedürfnisse und eigenen Werte im Kontext Coaching; wiederhole ich die Axiomatik der Hamburger Schule, sowie die vier Werte (Freiheit, Freiwilligkeit, Ressourcenverfügung und Selbststeuerung) und die drei Anliegen von Coaching (Erweiterung der Selbstwahrnehmung, Förderung der Entscheidungsfähigkeit und Auslösung von Verhaltensalternativen) im Coaching; teste ich mich mittels der kritischen Erfolgsfaktoren, ob ich an alle thematischen Eventualitäten gedacht habe.

Organisatorisch benötigt der Arbeitsplatz zum Coachen folgende Rahmenbedingungen: • • • • • • • •

Auswahl der Räumlichkeit (Größe 25-30 qm; Tageslicht; Outdoor-Option) Ein Tisch für die visuelle Aufstellung, Größe mindestens 4 qm Drei Stühle Mindestens ein Flipchart (Papiercheck) Zwei Moderationswände mit Pinnnadeln Moderationskoffer mit verschiedenen, hauptsächlich runden, Moderationskarten (Größe, Form und Farbe), verschiedene funktionstüchtige Filztifte Klebeband Meine Coachinglaminate

9.4.1 Kontakt und Kontrakt Sinn und Zweck dieser Phase ist es sich gegenseitig kennen zu lernen, die gegenseitigen Erwartungen von Coach und Coachee auszutauschen, die jeweilige Verantwortung festzulegen und bei Übereinstimmung einen Coachingvertrag zu schließen. 197

Vorstellung und Erwartung Zunächst stellt sich meine potenzielle Coachee mir vor und erzählt was sie bewegt. Zur Klärung, ob sich meine potenzielle Coachee beraten, trainieren oder coachen lassen möchte, frage ich sie nach ihren Erwartungen an mich. Sie erklärt, sie möchte Hilfestellung durch Coaching erhalten, wie sie sich zukünftig ändern könne. Thema und Veränderungswunsch skizzieren Ich bitte Sie ihr Thema (als Veränderungswunsch) — möglichst in ein oder zwei Worten — zu skizzieren. Sie meint sie störe ihr eigenes Verhalten ihren Kindern gegenüber. Zwar liebe sie ihre Kinder und möchte nur das Allerbeste für sie und ihr Erwachsenwerden, dennoch habe sie ständig Sorge und Angst um sie. Meine Hypothesenbildung basiert auf diesen Worten:„besorgte Mutter“ und ich verbinde sie mit ... 1. den Ich-Zuständen der Transaktionsanalyse, 2. der persönlichen Kompetenz und ihren Motiven, Werten und Bedürfnissen, 3. der sozio-kommunikativen Kompetenz, 4. Konfliktlösungsmuster, 5. der fachlich-methodischen Kompetenz, 6. den acht Grundeinsichten der Führung sowie 7. den vierzehn Führungsaufgaben. Ich komme zu der Überzeugung, dass keine Anzeichen für einen Therapiefall vorliegen. Coachingablauf und Verantwortungsbereiche (Vertrag) im Coaching klären Zur Unterstützung stelle ich mich und meine berufliche Tätigkeit als Coach vor. Nun erkläre ich meiner potenziellen Coachee das Coaching nach der Hamburger Schule. Es gibt einen fünfphasigen Coachingablauf, wobei vier Werte und drei Anliegen zu berücksichtigen sind. Dies erreichen wir beide, wenn meine potenzielle Coachee die Lösungsfindungs- und Ergebnisverantwortung trägt und ich die Prozessverantwortung ausübe. Es findet keine „Beratung“ statt. Innerhalb des Coaching bietet der Coach auf Basis der Axiome der Hamburger Schule sowie wissenschaftlich überprüfbarer Modelle und Theorien, Angebote zur Selbstreflexion an. Die Wirkungserwartung ist der Aufbau einer nachhaltigen Selbstlernkonzeption durch den Coachee, welche ihr zukünftig, in vergleichbaren thematischen Kontexten, ein individuell erfolgreiches Verhalten ermöglichen soll. Für die nachhaltige Selbstlernkonzeption soll meine Coachee sämtliche Schritte und Ergebnisse dokumentieren und fotografieren. Auf die Frage, ob ich damit ihre Erwartung und Wünsche erfülle, bejaht sie dieses. Wir handeln Ort, Datum und Preis aus. Auf Wunsch bestätige ich diesen mündlich geschlossenen Vertrag per Email und werde nach dem Coaching meine Rechnung stellen. 9.4.2 Thema- und Zielklärung Sinn und Zweck dieser Phase ist die Analyse des Ist- und des Sollzustandes für eine kognitiv und emotional erschließbare Zielformulierung des Coachee. Für die Selbstreflexion einer nachhaltigen Selbst198

lernkonzeption werden messbare Kriterien für jeden relevanten Kontextteil kognitiv und emotional fixiert. Ist-Zustand Zunächst frage ich, ob sich das Thema geändert hat und bitte, es kurz mündlich zu wiederholen. Meine Hypothesen bestätigen sich. Nach Aufforderung schreibt meine Coachee ihr Thema an ein Flipchart. Als Formulierungshilfe biete ich meiner Coachee an das Thema wie einen kurzen, prägnanten Buchtitel durch ein Wort (maximal zwei Wörter) zu formulieren. Ich erläutere, dass eine schriftliche Darstellung und fotografische Dokumentation eine Unterstützung für eine nachhaltige Selbstlernkonzeption darstelle.

Mein Thema Ich möchte meinen Kindern mehr Freiraum geben

Aufgrund der individuellen Deutung (Konstruktivismus) hinterfrage ich, was „Freiraum” und was „meine Kinder” bedeutet. Meine Hypothesen bestätigen sich und sichern somit Axiom 1 ab. Nun bitte ich meine Coachee ihr Thema in der Komplexität der Strukturelemente anhand von runden Moderationskarten zu visualisieren. Sie hat dabei die Wahl zwischen verschiedenen Farben und Größen sowie verschiedenen Stiftarten und kann sich auf dem großen Tisch ausbreiten. Meine Hypothese ist, dass die Lösung im Coachee liegt (Axiom 6) und Coaching der Komplexität der Lebens- und Erfahrungswelt des Coachee gerecht werden muss (Axiom 2). Als keine weiteren Aspekte erzählt wurden und keine neuen Karten durch meine Coachee beschrieben wurden, gab ich ihr ein Reflexionsangebot. Für eine systemische Analyse biete ich sprachlich angepasst sämtliche 22 Merkmale des neuen St. Galler Managementmodells an. Meine Hypothese ist, dass über das Reflexionsangebot eine Erweiterung der Wahrnehmung erreicht wird und verschiedene Elemente und Einflussgrößen bewusst werden (JoHaRi). Ergebnis der visuellen Aufstellung:

Carina

Ich

Alex

Angst

Verlust Corinna

Wilfried

glücklich

zufrieden

Besorgnis Fürsorge

sicher

199

Abschließend initiiere ich einen Perspektivwechsel und lasse meine Coachee von einem anderen Blickwinkel auf ihre visuelle Aufstellung schauen. Auf meine Frage, ob sie Zusammenhänge erkennt, erklärt sie Kausalitäten und Kontexte. Des Weiteren frage ich, ob noch irgendwas oder irgendwer fehle. Nun gebe ich eine Möglichkeit der Verbindung vom Thema — ich möchte meinen Kindern mehr Freiräume geben — und visueller Aufstellung des Themas und frage, ob beides zusammen passt. Meine Hypothese ist, dass die Lösung im Coachee liege (Axiom 6) und das Coaching den Coachee von linearem zu vernetztem Denken und Handeln (Axiom 3) führe. Da keine weiteren Ergänzungen und Befremdlichkeiten aufkeimen, kann ich diese Strukturhilfe (visuelle Aufstellung) der Phase 2.1 verlassen. Soll-Zustand Direkt frage ich offen, ob meine Coachee bereits ein Ziel formulieren kann. Sie wird gebeten ihren Wunschzustand zu beschreiben, das Ergebnis zu erklären und ihre emotionale Lage darzulegen. Sofort bitte ich sie die Antwort als Zielformulierung auf ein Flipchartpapier zu schreiben. 1. Versuch Mein Ziel Ich bin glücklich, dass ich am 10.6.2009 sagen kann, dass ich angstfrei zu Hause bin, wenn meine Kinder außer Haus sind.

Meine Hypothese ist, dass eine positive Formulierung fehlt und eine schlichte Abwendungsmotivation vorliegt. Da meine Coachee intelligent ist und kombinieren kann, konfrontiere ich sie mit den emotionalen (subjektiven) und kognitiven (objektiven) Komponenten einer Zielformulierung und lege ihr mein Ziellaminat vor. Mein Ziel Ich werde ab dem 10.6.2009 meinen Kindern die Möglichkeit geben, eigene Erfahrungen zu sammeln und nicht mehr so behüten

2. Versuch Meine Hypothese bleibt bestehen. Nach einer wiederholten Intervention durch mich, lautet die finale Zielformulierung: Mein Ziel Ich werde ab dem 10.6.2009 für immer angstfrei in der Lage sein, meinen Kindern die Möglichkeit zu geben, sich so zu entwickeln, dass sie zu selbstbewussten und selbstsicheren Personen aufwachsen.

Abschließend benötigt meine Coachee messbare Kriterien, wann sie ihr Ziel erreicht haben wird. Dafür soll meine Coachee Teilkontexte oder Kontextmerkmale in der visuellen Aufstellung deuten und 200

hervorheben. Eine Clusterung aufgrund weniger Karten ist hier nicht notwendig. Die Ausgangsfrage lautet für differenzierte Merkmale der Zielerreichung stets: „Woran erkennt Element „X“, dass Sie Ihr Ziel erreicht haben?“ Für sich selbst und ihren Partner formuliert meine Coachee folgende Zielerreichungsmerkmale: Erreichungsmerkmale meines Zieles 1. Ich werde Wünsche meiner Kinder nicht sofort im Vorfeld verneinen. 2. Ich werde nicht ständig mit ihnen telefonieren. 3. Ich werde mich nicht in Freundschaften einmischen. 4. Ich akzeptiere Erfahrungen und werde nicht versuchen, sie vor diesen zu schützen. 5. Ich hätte mehr Zeit für Dinge, die ich vernachlässige. 6. Ich hätte Zeit, um mehr Tennis zu spielen. Wilfried erkennt an den folgenden Merkmalen, dass ich mein Ziel erreicht habe: • • • •

Für die Tochter Carina:

Telefonrechnung Die Kinder wären glücklich Mehr Zeit Ich wäre zufrieden Carina erkennt an folgenden Dingen, dass ich mein Ziel erreicht habe: • nicht so viele persönliche Fragen • keine ständigen Telefonate • ich nicht mit Angst zu Hause warte • keine Kontrollen • bei Verabschiedungen nicht meine Bedenken äußern, sondern sie fröhlich verabschieden • nicht so viele Verbote   Akohol abends Kino • Kinobesuche auch später • mit dem Fahrrad zu MC • mit dem Bus nach Lippstadt • mal ein Bronx mit uns trinken • ich würde mich nicht in Freundschaften einmischen

Für den Sohn Alexander: Alexander erkennt an folgenden Dingen, dass ich mein Ziel erreicht habe: • • • • •

er darf mit seinem Fahrrad wegfahren ich würde mich nicht mehr um seine Hausaufgaben in dem bisherigen Maße kümmern dass ich nicht mit Angst zu Hause warte ich würde nicht bei Verabschiedungen meine Bedenken äußern, sondern ihn fröhlich fahren lassen dass ich ihm nicht den Umgang mit einigen Jungs verbiete

Die Freundin von Tochter Carina — Corinna — wird die Erreichung des Zielzustandes ebenfalls bemerken: 201

Corinna würde merken, dass ich Carina mehr erlaube

Zum Abgleich der Merkmale mit der Zielformulierung soll die Coachee erneut Kausalitäten und Stimmigkeit erkennen, sodass ich erneut frage: „Nach Betrachtung der Zielerreichungsmerkmale, ist Ihre bisherige Zielformulierung noch stimmig oder möchten Sie sie überarbeiten?“ Im Beispielfall formuliert meine Coachee daraufhin ihr Ziel wie folgt um: Mein Ziel Ich werde ab dem 10.6.2009 für immer angstfrei in der Lage sein, den Kindern die Möglichkeit zu geben, sich so zu entwickeln, dass Sie zu selbstbewussten und selbstsicheren Personen aufwachsen.

Meine Hypothese ist, dass ihr emotionale und motivationale Zustand nicht eindeutig ist, da erneut das Wort „angstfrei” hinzugefügt wurde. Um dem Coachee eine weitere Reflexionsmöglichkeit zu bieten und eine Klärung der Bedeutung des Zieles durchzuführen, moderiere ich einen sogenannten Systemcheck bzw. Motivcheck um die Wirksamkeitserwartung der Zielformulierung emotional überprüfen zu lassen. Hierzu konfrontierte ich meine Coachee mit den folgenden Fragen: „Stellen Sie sich vor, Sie hätten Ihr Ziel erreicht, welche Vorteile würde das mit sich bringen?“ System-Check — „Ziel erreicht” Vorteile • ich werde sehr stolz auf mich sein • meinen Kindern gebe ich das Gefühl von Vertrauen • es wird sich eine noch freundschaftlichere Beziehung zu den Kindern ergeben • ich habe nicht mehr den Zwang alles zu kontrollieren, • das gesamte Familienleben wird harmonischer, da die Kinder sich nicht immer mit mir auseinandersetzen müssen • Wilfried wird sich sehr freuen

„Stellen Sie sich vor, Sie hätten Ihr Ziel erreicht, welche Nachteile würde das mit sich bringen?” System-Check — „Ziel erreicht” Nachteile • • • • •

202

ich werde vermissen, meine gewohnten Kontrollen durchzuführen ich habe nicht mehr die Personen, die mir wichtig sind, ständig bei mir ich weiß vielleicht nicht mehr alles, was die Kinder machen ich kann nicht mehr so viel in das Leben der Kinder eingreifen die Kinder werden selbstständig

„Stellen Sie sich vor, Sie hätten Ihr Ziel nicht erreicht, welche Vorteile würde das mit sich bringen?“

System-Check — „Ziel nicht erreicht” Vorteile • • • •

ich brauche nichts zu verändern ich habe weiterhin alles in meiner Hand ich treffe weiterhin die Entscheidungen für die Kinder ich kontrolliere weitgehend alle Handlungen der Kinder

„Stellen Sie sich vor, Sie hätten Ihr Ziel nicht erreicht, welche Nachteile würde das mit sich bringen?” System-Check — „Ziel nicht erreicht” Nachteile • • • • • • •

Im Anschluss fordere ich via skalierender Fragen meine Coachee auf, den Gesamtinhalt jedes Quadranten zu bewerten und benutze folgende Frage: „Wie bedeutsam/wichtig sind Ihnen die aufgeführten Aspekte auf einer Skala von 1 (= unbedeutend) bis 10 (= sehr bedeutend)?“ Die Bewertung notiert die Coachee als umkreiste Ziffer unter die Aspekte des Flipcharts. Im Anschluss werden die Flipcharts durch den Coachee wie folgt visualisiert: Durch eine diagonale Addition der eingekreisten Ziffern, wird der Coachee bewusst, wie bedeutsam die Zielerreichung und deren Folgen für sie sind (Wert 20). Ein Zustand der ZielNichterreichung ist deutlich weniger attraktiv (Wert 12). Meine Hypothese ist via JoHaRi eine Selbstreflexion auszulösen und erste Erkenntnisse für die eigene Motivation zu bewirken.

203

enttäuscht es wird Streit mit den Kindern und Wilfried geben ich nehme den Kindern jegliche Möglichkeiten sich frei zu entwickeln ich laufe Gefahr meine Kinder zu verlieren möglicherweise werden meine Kinder als zukünftige Eltern durch mein Verhalten vorbelastet sein meine Kinder könnten mich nicht mehr ernst nehmen ich selbst leide unter der Situation

9.4.3 Identifikation der Ressourcen Sinn und Zweck der Phase ist eine Ist-Analyse der vorhandenen und der Suche nach benötigten Ressourcen zur Zielerreichung durch die Coachee, strukturiert nach dem Kompetenzmodell vorzunehmen, wobei verschiedene und differenzierte Interventionen durch mich getätigt werden. Die bereits gesammelten Hypothesen werden jetzt durch Reflexionsangebote wie Modelle, Methoden, Theorien und Axiome der Coachee transparent gemacht, um ihre Wahrnehmung für das identifizieren und Finden von Ressourcen zu erweitern. Motive, Bedürfnisse, Werte, Gefühle im Kontext ermitteln Anhand meiner bis jetzt gebildeten Hypothesen beginne ich aufgrund des Axioms 10 (Menschen orientieren sich innerhalb individuell definierter und gedeuteter Kontexte an Werten) mit der persönlichen Kompetenz meiner Coachee und werde die Motive und die persönlichkeitsbeeinflussenden Ausprägungen erfragen. Ich erläuterte wegen meiner Prozessverantwortung und des Axioms 13 meiner Coachee den Zusammenhang zwischen Motiv, Verhalten, Wert und Kontext anhand des MVWK-Modells und seinen Erläuterungen (Laminate). Hierbei erkläre ich jedes einzelne Motiv und dessen unterschiedliche Ausprägungen.

204

intellektuell

pragmatisch

Freude am „Denken” an sich, Wissen sammeln, Intellektualität, „Neu”gierig sein, Dingen „auf den Grund gehen”

„Praktisch sein”, Anwendungsorientierung, zeitnahes „Jetzt-Machen”, nutzenorientiert denken und handeln

Wissen

Wissen

Mit der MotivStrukturAnalyse (MSA) erfolgt nun eine Analyse der zeitstabilen Motive als Ressource. Nun sollen aus den 18 Motiven die fünf wichtigsten Ausprägungen herausgenommen werden, die für den Kontext des Themas/Zieles relevant sind.

Prinzipientreue

geführt

Einfluss ausüben, Führung und Verantwortung übernehmen, Leistung bringen, Kontrolle über Andere und Anderes haben wollen, Richtung bestimmen

Keine Macht ausüben, übernimmt ungern Verantwortung für Andere, Führung akzeptieren, kann gut ein- und unterordnen, dienstleistungsorientiert

Erfolg anstreben, „sich abheben” z.B. durch Reichtum oder Titel, öffentliche Aufmerksamkeit und Ansehen suchen, Orientierung an Marken und Trends, fühlt sich der Elite zugehörig

strukturiert

flexibel

Wünscht sich Stabilität, Klarheit und Detailgenauigkeit bei Abläufen und Strukturen, hält definierte Prozesse ein, Konstanz wahren,Tendenz zur Pedanterie, pflegt Rituale

Spontanität schätzen, Regeln vermeiden oder umgehen, versucht aus Strukturen auszubrechen, Freiräume suchen und zulassen Kreativität, kann Unordnung ertragen

großzügig Kann sich leichter von Dingen trennen oder diese verleihen, wenig Interesse an Sammeln oder Sparen, hängt wenig an materiellen Dingen, Tendenz zur Verschwendung

materielle Sicherheit

festhaltend Sammelt Güter und häuft Besitz/ Eigentum an, Materielles bewahren und erhalten, Geld zusammenhalten und sparen

Ordnung

materielle Sicherheit

bodenständig Auf Gleichheit bedacht, wenig Interesse an öffentlicher Wahrnehmung, legt wenig Wert auf Titel und den Besitz von Statussymbolen

Status

Ordnung

elitär

Macht

führend

Macht

Zielorientierung, Loyalität nicht als Selbstzweck, situative Flexibilität wichtiger als Prinzipien

Status

zweckorientiert

Prinzipientreue

prinzipienorientiert Kodexorientierung, Loyalität, moralische Integrität, Tradition, Werte und Normen schätzen und wahren

Beziehung

Bindungen, Gemeinsamkeiten, sucht und schätzt emotionale Abhängigkeit und Unterstützung von Anderen

kontaktfreudig

distanziert

Sehr kommunikativ, Freundschaften suchen und pflegen, Freude, Humor, Geselligkeit schätzen

Zurückgezogen, eher introvertiert, braucht Abstand, grenzt sich gerne ab, ernsthaft

eigennützig Konzentration auf sich selbst und auf eigene Aufgaben und Ziele, eigene Bedürfnisse stehen im Vordergrund, verlässt sich am liebsten auf sich selbst

Hilfe Fürsorge

fürsorglich Anderen Menschen helfen und auf deren Gefühle und Befindlichkeiten achten, Andere bei ihren Tätigkeiten unterstützen, vorherrschende freundliche und wohlwollende Haltung

Beziehung

Hilfe Fürsorge

Selbstgenügsamkeit, emotionale Selbstbestimmung, Autarkie, sucht Unabhängigkeit

Freiheit

Freiheit

teamorientiert eigenständig

205

Familie Idealismus Anerkennung Wettkampf

selbstsicher Kann Kritik aushalten, ist selbstbewusst, motiviert sich selbst, das heißt, unabhängig vom Feedback Anderer

kämpferisch

ausgleichend

Konkurrenz suchen, wettkampforientiert, will kämpfen und gewinnen, sucht Vergeltung, will sich messen

Konflikte vermeiden, Harmonie anstreben, Streit schlichten, sucht den Konsens

risikofreudig

risikobewusst

Belastbar, schätzt Herausforderungen, Mut zur Veränderung, Freude an Neuem, Risikobereitschaft

Will Fehler und Veränderungen vermeiden, sucht Stabilität und Verlässlichkeit, liebt und pflegt die eigene Komfortzone

genügsam „Essen” als Nahrungsaufnahme, wenig genussorientiert, Essen, um Hunger zu stillen

bequem Meidet körperliche Betätigung, Bewegungsmuffel, wenig körperorientiert

nüchtern Betrachtet Sinnlichkeit nicht als Lebenselexier, schätzt Nüchternheit und Purismus

Sinnlichkeit

sinnlich Genießt lustvolles Leben und Sexualität, Freude an Schönheit, Design, Kunst und Ästhetik

körperliche Aktivität

bewegungsfreudig Bewegt sich oft und gerne, hält sich gerne fit, betätigt sich oft sportlich

Essen

genießerisch Isst gern und viel und/oder gut, beschäftigt sich gerne mit „Essen”, Denken und Handeln ist oft auf Essen ausgerichtet

Risiko

Risiko

sensibel Sucht soziale Akzeptanz und Bestätigung durch Andere, Lob als Treibstoff, reagiert eher sensibel auf Kritik und empfindlich auf Widerspruch

Wettkampf

Essen

realistisch Jeder ist für sich verantwortlich, akzeptiert Gegebenheiten, akzeptiert, dass er nicht alleine die Welt verbessern kann, persönliche Nutzenoptimierung

Anerkennung

körperliche Aktivität

idealistisch Soziale Gerechtigkeit und Fairness, zum Wohl Anderer handeln ohne eigenen Nutzen, sich für andere Interessengruppen einsetzen

Idealismus

Sinnlichkeit

selbstbezogen Eher sachorientiert, will nicht so stark von Kindern oder der eigenen Familie abhängig sein, will nicht für alles und jeden Verantwortung übernehmen

Familie

206

familienorientiert Aktives Familienleben schätzen, Wunsch nach eigener Familie bzw. Kindern, intensive Nähe und Zuwendung geben und annehmen können

Spiritualität

rational Konzentration auf das „Hier und Jetzt”, Orientierung an rational erklärbaren Denkmodellen, Wirksamkeit

Spiritualität

sinnsuchend Suche und Frage nach dem - tieferen Sinn des Lebens, Offenheit für die Existenz einer höheren göttlichen - Instanz, Glaube an die geistige Welt

Im Anschluss hieran bittet der Coach die Coachee, mit Hilfe eines vorbereiteten Einschätzungsbogens, seine persönliche Motivstruktur selbst einzuschätzen. Hierbei wird jeweils die „grüne“ Strebung der 18 Motive unter Zugrundelegung einer 10er-Skalierung (1 wenig — 10 stark ausgeprägt) vom Coachee eingeschätzt. Diese Einschätzung führt zu folgendem Ergebnis: MotivStrukturAnalyse (MSA) nach www.motivberater.de wenig 1

stark 2

3

Streben nach Wissen, Freude an Intellektualität, Suche von logischen Zusammenhängen = Motiv „Wissen/Neugier”

4

5

6

7

8

9

10

X

Aufstellung und Einhaltung eines Moralkodex, Identifikation mit Prinzipien = Motiv „Prinzipientreue”

X

Streben nach Einfluss und Kontrolle, Übernahme von Verantwortung = Motiv „Macht”

X X

Streben nach Aufmerksamkeit, Prestige und Reputation = Motiv „Status” Streben, Dinge zu organisieren, planen und kategorisieren = Motiv „Ordnung”

X

Streben, Dinge zu sammeln und aufzuheben = Motiv „materielle Sicherheit/Sparen” Streben nach Autarkie und Selbstbestimmung = Motiv „Freiheit”

X

X

X

Streben ach Interaktion, Nähe und Freundschaft = Motiv „Beziehung”

X

Streben, Andere zu unterstützen und selbstlos zu helfen = Motiv „Hilfe/Fürsorge” Streben nach einer eigenen Familie und Nähe zu Familienmitgliedern = Motiv „Familie”

X

Streben nach sozialer Gerechtigkeit und Fairness = Motiv „Idealismus”

X

Streben nach positivem Selbstwert aufgrund der Rückmeldung des Umfeldes = Motiv „Anerkennung”

X

Streben, mit anderen in Wettbewerb/Konkurrenz zu treten = Motiv „Wettkampf” Streben nach emotionaler Anspannung und einem risikofreudigen Leben = Motiv „Risiko”

X X 207

wenig 1

stark 2

3

4

Streben nach Nahrungsaufnahme und dem Genuss von Essen = Motiv „Essen”

5

6

7

8

9

10

X

Streben nach Bewegen und Einsatz des Körpers = Motiv „Körperliche Aktivität” Streben nach Ästhetik, Sinnlichkeit und Erotik = Motiv „Sinnlichkeit” Streben nach Einbindung in einem größeren Zusammenhang = Motiv „Spiritualität”

X

X

X

Um das Ergebnis der MSA zu visualisieren, wurde durch überlappendes Verschieben der Laminate die Stärke der jeweiligen Ausprägung symbolisiert. Je stärker die eingeschätzte Ausprägung desto größer die Überlappung. Dieses Verfahren führte zu folgender Visualisierung:

Wissen

Familie

Hilfe/Fürsorge

Hilfe/Fürsorge

Prinzipientreue

Idealismus

Status

Status

Macht

Anerkennung

Essen

Essen

Ordnung

Wettkampf

Sinnlichkeit

Sinnlichkeit

materielle Sicherheit

Risiko

Freiheit

körperliche Aktivität

Beziehung

Spiritualität

Im Anschluss bitte ich meine Coachee die nun qualifizierten Motive nach „hilfreichen“ und „hinderlichen“ Motiven für den Kontext des Themas und des persönlichen Zieles zu sortieren. Diese Zuordnung führt zu folgendem Ergebnis:

208

hinderliche Motive

hilfreiche Motive

Hilfe/Fürsorge

Macht

Wettkampf

körperliche Aktivität

Spiritualität

Idealismus

Prinzipientreue

Familie

Ordnung

Beziehung

Freiheit

Nachfolgend werden weitere Ressourcen meiner Coachee analysiert. Hierbei fordere ich die Coachee auf aus einem Stapel von Laminaten die jeweils für ihre Person generell gültigen Ressourcen (kontextunabhängig) herauszusuchen. Hieran anschließend forderte ich meine Coachee auf, die für den speziellen Kontext des Themas gültigen Ressourcen auszuwählen. Die Coachee wird darauf hingewiesen, dass sie relevante Ressourcen, die sie in der Auswahl möglicherweise nicht finden wird, handschriftlich hinzufügen kann. Ebenfalls wird die Coachee aufgefordert sich bei der finalen Auswahl auf maximal sieben relevante Ressourcen zu beschränken und die aus Sicht der Coachee stärkste Ressource für ihre Zielerreichung zu exponieren. Dieses Verfahren wird für alle nachfolgend aufgeführten Ressourcenarten angewendet und führt zu folgenden Ergebnissen:

209

209

meine Werte Disziplin

meine Gefühle

weitere Ressourcen

pflichterfüllt

Liebe

Ausgeglichenheit

Selbstsicherheit

ängstlich

glücklich

Erziehung

Motive

Ehrlichkeit

Selbstbewusstsein

zufrieden

hoffnungsvoll

Gefühle

Partnerschaft

Verantwortung

Familienleben

verantwortlich

freundschaftlich

Werte

Bisheriges Analyse- und Lösungsverhalten im thematischen Kontext identifizieren und Fachwissen, Branchenwissen, Funktionswissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten ermitteln Um weitere Ressourcen in dieser Prozessphase für einen systemisch-konstruktivistischen Kontext zu eruieren, stelle ich die folgende Frage: „Welche bis jetzt Lösungsversuche hat es bisher gegeben bzw. was haben Sie bereits unternommen, um Ihren Zielzustand zu erreichen?“ Antwort meiner Coachee:

„Ich habe bisher nicht versucht mein Verhalten zugunsten der Zielerreichung zu verändern.” — „Ich hielt es bisher für unmöglich mein Verhalten zu verändern.” Meine Hypothese ist, dass sie aufgrund mangelnder Selbstreflexion über ihre eigenen Kompetenzen keine kreativen und erfolgreichen Ideen entwickeln konnte und denke an JoHaRi sowie das Axiom 9 (Motivgeleitete Interessen und Erkenntnis bilden einen Zusammenhang). 9.4.4 Entwicklung und Auswahl von Verhaltensmöglichkeiten Sinn und Zweck dieser Phase ist die kreative Verbindung der vorhandenen und gefundenen Ressourcen, um Handlungsalternativen entwickeln zu können, sowie eine nachhaltige Selbstlernkonzeption zu bilden. Die Analyse potenzieller Probleme dient dazu festzustellen, ob „Widrigkeiten” bei der Umsetzung der Handlungsalternativen zu erwarten oder zu vermuten sind. Initialisierung der Selbstlernkonzeption Diese Phase des Coaching eröffne ich mit der folgenden Frage: „Nachdem Sie neue Erkenntnisse bezüglich Ihrer Ressourcen gewonnen haben, können Sie sich bereits neue Verhaltensweisen vorstellen, die Sie in die Richtung Ihres Zieles bringen könnten?“

210

Antwort der Coachee (schriftlich): Neue Verhaltensmöglichkeiten • • • • • •

Ich muss mehr Vertrauen in das Handeln meiner Kinder haben Ich traue meinen Kindern viel zu wenig zu und übertrage ihnen damit keine Verantwortung Ich werde bei Problemen nicht vorzeitig eingreifen Ich werde mehr Loben Ich werde nicht mehr so unbeugsam sein Ich werde mehr auf Wilfrieds Ratschläge hören

Ich fasse im Sinne meiner Prozessverantwortung nach: „Wie könnten denn bereits erste konkrete Handlungen/Verhaltensänderungen aussehen? Daraufhin formuliert die Coachee ihre Gedanken und schreibt diese auf ein Flipchart: Erste konkrete Veränderungen •

Alex darf mit dem Fahrrad einkaufen oder zu seinem Freund fahren Carina darf zu einer Party auch länger als 11.00 Uhr Alexander ist für seine Hausaufgaben selbst zuständig

• •

Ich stelle hiernach der Coachee das JoHaRi-Modell vor, wobei ich die vier Bereiche des JoHaRi und deren Veränderung durch Feedback bzw. eine offene Kommunikationskultur erkläre. Meine Hypothese ist, dass eine mangelnde Selbstreflexion durch ein Selbst- und Fremdbild die eigene Wahrnehmung erweitern könne und Handlungsoptionen initiieren könnte. Dabei denke ich an das Axiom 3, sodass Coaching der Coachee vom linearen zum vernetzten Denken und Handeln führt (sowie Axiome 12, 13). Ich frage meine Coachee: „Könnte dieses Modell und dessen Folgerungen einen Bezug zu ihrer Zielerreichung haben?“ Ergebnis:

Die Coachee formuliert eine „Sofortmaßnahme“, mit der sie am selben Abend ihren persönlichen Verhaltensänderungsprozess starten möchte: •

Familienrat



vom heutigen Tag erzählen



 

eigene festgestellte Merkmale meiner Persönlichkeit



von meinen Zielen erzählen



um Geduld bitten



sollte ich etwas nicht einhalten sollen sie es mir sagen



Liebe

Abschließend zu dieser Phase des Coaching stelle ich meiner Coachee folgende Frage: „Besteht die Gefahr, dass potenzielle Probleme bei der Umsetzung der Maßnahmen entstehen und den Veränderungsprozess gefährden?“ Die Coachee verneint diese Frage. 211

9.4.5 Controlling und Abschluss Sinn und Zweck dieser Phase ist die Kontrolle der gefundenen und kreierten Selbstlernkonzeption bezüglich ihre Nachhaltigkeit. Aufgrund von einer persönlichen und zeitlichen Entwicklung können Umstände die gewählte Lösung bestätigen oder es müssen neue Optionen aufgrund der kreativen, logischen und sinnvollen Zusammenstellung der eigenen Ressourcen durch den Coachee gefunden werden. Bisherige Erkenntnisse des Coachee und weitere Vorgehensweise Meine Hypothese ist, dass die Lösung im Coachee liegt. Axiom 6 sowie Axiom 5. Coaching definiert sich über eine wertegeleitete Arbeitshaltung und operationalisierbares Handwerk, so dass ich nach den Erkenntnissen im Sinne des Axiom 1 frage. Ich stelle im Rahmen meiner Prozessverantwortung meiner Coachee folgende Frage: „Sind Sie durch dieses Coaching zu neuen Erkenntnissen gelangt?“ Die Coachee antwortet wie folgt: „Ja, meinen Erkenntnisse aus diesem Coaching sind: • Ich bin ein Egoist und handele zum eigenen Vorteil; bislang dachte ich, ich handele nur zugunsten meiner Kinder. • Falls ich mein Verhalten nicht ändere, füge ich meinen Kindern/meiner Familie großen Schaden zu. • Am Morgen dachte ich noch: ein unerreichbares Ziel/Jetzt dagegen: Ich kann es schaffen! • Ich verfüge über Ressourcen, die mir diese Veränderung ermöglichen werden. • Zusammenleben mit mir ist schwierig! Controlling des Coaching Abschließend werden zur Transfersicherung folgende weitere Schritte zwischen mir und meiner Coachee vereinbart: 1. 2. 3.

Die Coachee erstellt eine persönliche Dokumentation ihres Coaching und dessen Inhalte. Diese Ressource soll die Coachee bei ihrem Veränderungsprozess unterstützen. Feedback der Coachee an den Coach durch ein persönliches Gespräch zwei Tage nach dem Coaching. Hierbei wird der Coachee die Dokumentation übergeben. Feedback der Coachee an den Coach durch ein weiteres, bereits jetzt terminiertes, persönliches Gespräch.

Wir verabschieden uns freundlich und entspannt. Meine Coachee verlässt zwar, aufgrund der geistigen Arbeit, leicht erschöpft, dennoch motiviert das Coaching.

212

9.5 Coachingdokumentation — Thema „Führungskraft in turbulenten Strukturen” Coachingdurchführung und Dokumentation von Rolf Meier

In der nachfolgenden Dokumentation beschreibe ich ein real von mir durchgeführtes Coaching mit einer Führungskraft. Im Coaching habe ich versucht, mich als Coach an alle die Themen, Inhalte und Strukturen des selbstorganisierten Coaching zu halten, die Sie im ersten Teil des Buches gelesen haben. Der Nachteil solcher Dokumentationen wie diese ist, dass die Atmosphäre, der wortwörtliche Dialog, die Stimmlage, Sprechgeschwindigkeit und Körperhaltung des Coachee aber auch des Coach nicht darstellbar ist. Aber wie Sie trotzdem lernen können, ist Anspruch (ein Coaching an theoretisch idealen Strukturen) und Wirklichkeit (das situativ Mögliche zu ermöglichen) nicht immer identisch. Ich habe die Fotografien so erstellt, wie der Arbeitsraum sich darstellte. Um dem Bedürfnis nach Anonymisierung nachzukommen, sind einige Beschriftungen geschwärzt oder synonymhaft ersetzt. Diese Veränderungen führen nicht zu einem anderen Verständnis des Coaching durch den Leser. 1. Phase „Kontakt und Kontrakt“ Mittelbarer Kontakt mit dem Coachee Der Personalleiter eines Kundenunternehmens hat den Kontakt zum Coachee hergestellt. Der Coachee ist männlich, Anfang 40, verheiratet, mehrere Kinder. Er hat Ingenieur-Wissenschaften studiert und arbeitet in seinem Unternehmen seit seinem Studienabschluss. Er hat mehrere betriebliche Funktionen als Sachbearbeiter und Führungskraft kennengelernt. Sein Unternehmen beschäftigt ca. 2.500 Mitarbeiter und ist Teilbetrieb eines Konzerns. Das Unternehmen ist technologiegetrieben. Es hat überwiegend technisch ausgebildete, operative Mitarbeiter und Führungskräfte mit naturwissenschaftlichem Studienhintergrund. Es sind erkennbar mehr Männer als Frauen im Betrieb tätig. Das Unternehmen ist mir bekannt, da ich schon des öfteren Teamcoachings im Unternehmen durchführen konnte, Führungskräfte coachte ich und einige Mitarbeiter waren bei mir in der Ausbildung „Systemischer Management Coach (SMC)®”. Der Personalleiter hat in Absprache mit dem Coachee und dessen Vorgesetzten mich als Coach empfohlen. Die Intention der Firma, der Führungskraft einen Coach zur Seite zu stellen, ist: Der Coachee sollte in Unabhängigkeit die Chance erhalten, über sein Führungsverständnis und Führungsverhalten zu reflektieren. Aus der Zusammenarbeit mit dem Unternehmen hat sich folgende Vorgehensweise ergeben: Der Coachee erhält meine persönliche Homepage (www.drmeier-coaching.de), aus der eher Persönliches zu meiner Person zu entnehmen ist, und die Homepage, aus der mein grundsätzliches Coachingverständnis ersichtlich wird (www.hamburger-schule.net). Auf dieser Informationsgrundlage nahm der Coachee mit mir telefonischen Kontakt auf. Dieser telefonische Kontakt führte dazu, dass ein persönliches Treffen nicht nötig wurde, damit der Coachee entscheiden konnte, ob ich als Coach für ihn infrage komme. Im Gespräch haben der Coachee und ich die Verantwortlichkeiten im Coaching definiert und vereinbart. Die Lösungsentwicklungs- und Ergebnisverantwortung liegt bei dem Coachee und die Prozessverantwortung bei mir, dem Coach. Selbstverständlich sind die Inhalte des Coaching vertraulich. Besonders bitte ich den Coachee, im Coaching offen und ehrlich zu sich und dem Thema zu sein, da er sich dann, nach aller Erfahrung, den besten Boden für seine Erkenntnisse bereitet.

213

Hypothesenbildung von Anfang an Die Hypothesenbildung erfolgt in Verbindung und auf der Basis von Modellen, Theorien und Axiomen. Dazu zählen standardmäßig: • die Bedürfnispyramide nach MASLOW, • die Zwei-Faktoren-Theorie nach HERZBERG, • das Rubikon-Modell von HECKHAUSEN mit den Erweiterungen von GOLLWITZER, • die 18 Motive aus der MotivStrukturAnalyse, • das Kompetenzmodell, • die acht Grundeinsichten der Führung, • die 14 Führungsaufgaben, • die 20 Axiome der Hamburger Schule, • das JoHaRi-Fenster, • das Nähe-Distanzmodell nach RIEMAN-THOMANN, • die Entwicklungsebenen, • die drei Ich-Zustände der TA, • die Konfliktlösungsmuster, • die inneren Antreiber, • die Teamrollen nach BELBIN, • die Teamphasen, • die Strukturressourcen und • die Marketingstruktur. 1. Kontakt und Kontrakt Die Wirkungserwartung dieser Phase im Coaching besteht darin, dass potenzieller Coachee und Coach auf transparente Art und Weise eine Entscheidung treffen können, ob sie beide ein gemeinsames Coaching realisieren wollen. So wie ein potenzieller Coachee sich gegen den Coach entscheiden kann, ist es dem Coach unbenommen, sich auch gegen einen Coachee zu entscheiden. Die Phase Kontakt und Kontrakt verläuft nicht nach einem festgelegten organisatorischen Zeremoniell. Auch hier gilt schon, was für das ganze Coaching gilt: in den Grundsätzen fest — in der Situation flexibel. Wobei die situative Flexibilität (Durchführung des Coaching) nicht gegen die Grundsätze (Einhalten der Prozesssystematik, der vier Werte und der drei Anliegen im Coaching) verstoßen darf. Coaching ist Handwerk und Haltung. Unmittelbarer Kontakt mit dem Coachee Auf der Informationsgrundlage durch den Personalleiter nahm der Coachee mit mir telefonischen Kontakt auf. Dieser telefonische Kontakt führte dazu, dass ein persönliches Treffen nicht nötig war, damit der Coachee entscheiden konnte, ob ich als Coach für ihn infrage komme. In diesem Gespräch habe ich ihm die Struktur meines Coaching erklärt. Dazu habe ich ihn auch animiert, sich parallel zu meinen Erklärungen die Homepage www.hamburger-schule.net anzusehen. Hier konnte er sozusagen veröffentlicht dokumentiert meinen Coachingansatz mitlesen. Wir verabredeten uns zu einem konkreten ganztägigen Coaching in der zweiten Oktoberwoche 2010. Ich bat ihn, sich mit dieser Seite noch weiterhin intensiv zu beschäftigen, damit er sich auf die wertegeleitete Haltung des Coach, das Anliegen von Coaching und der methodischen Prozedur sowie die Verantwortlichkeiten im Coaching einstellen kann. 214

Hypothesenbildung im telefonischen Erstkontakt Während des Erstkontaktes am Telefon habe ich genau darauf geachtet, mit welchen Begriffen bzw. Formulierungen der Coachee sich und sein Coachingthema sprachlich darstellt. Aufgrund der verwendeten Worte sind folgende Modelle, Theorien oder Axiome zur Hypothesenbildung von mir herangezogen worden: • Bedürfnispyramide von MASLOW, • Marketing und Markenmanagement, • Kompetenzmodell. Vorbereitung des Coachee auf sein Coaching Im Telefonat habe ich festgestellt, dass der Coachee kein abrufbares Wissen über Führung hat. Deshalb habe ich ihm eine strukturelle Ressource per Mail übermittelt mit der Bitte, diese bis zum Treffen durchzulesen. Der übermittelte Text entspricht dem Artikel Führungswissen für den Führungsalltag in diesem Buch. Zudem habe ich ihm angekündigt, dass ich ihm einen Onlinezugang zur MotivStrukturAnalyse (www.motivberater.de) übermittele, mit der Bitte, den Test vor unserem Treffen zu machen und sich mit den Testinterpretationen auseinanderzusetzen. Ich bitte ihn, seine Digitalkamera mitzubringen, damit er von seinem Coaching ein Verlaufsprotokoll fotografieren kann. Als Abschluss seiner Vorbereitung bat ich ihn, zum Coaching mit dem prioritären Thema zu kommen, das er auch als Veränderungsthema im Coaching bearbeiten will. Organisatorische Vorbereitung des Coaching Da der Coachee aus einer norddeutschen Stadt nach Hamburg kommt, habe ich in einem mir bekannten Hotel einen Raum gebucht: 30 qm groß, mit Tageslicht und zu öffnenden Fenstern, gut sortiertem Moderationskoffer, einem Flipchart, zwei Pinnwänden, einem Overheadprojektor und einem Tisch, ca. 2 x 2 m, mit zwei Stühlen. Außer Erfrischungen und einem Ablagetisch sollte nichts weiter im Raum sein, da sowohl der Tisch als auch der Boden für visuelle Aufstellungen benötigt wird. Die freien Wände nutze ich, um daran beschriebene Flipcharts als „Erkenntnislandschaft” zu befestigen.

Dingliche Vorbereitung des Coach auf das Coaching Meine dingliche Vorbereitung bezieht sich auf die Ordnung meiner Laminate, die ich als abstrakte Reflexionsangebote verwenden könnte, dem Motivationsstrukturtest des Coachee und verschiedene Seiten, aus denen der Coachee den Coachingprozess, die Werte sowie verschiedene Begriffsdefinitionen und faktisch richtige Ressourcen ableiten kann für sein selbstorganisiertes Coaching nach dem eigentlichen Coaching. Zudem nahm ich das Buch „CoachAusbildung — ein strategisches Curriculum” mit. In dem Buch vermute ich verschiedene strukturelle Ressourcen, die für den Coachee interessant sein könnten. 215

Mentale Vorbereitung des Coach auf das Coaching Meine mentale Vorbereitung bezieht sich auf den Zeitpunkt unmittelbar vor Beginn des Coaching. Hier geht es insbesondere darum, mich noch einmal selbst zu reflektieren zu den Themen: vier Werte im Coaching, die meine Arbeitshaltung beeinflussen sollen — drei Anliegen im Coaching, die meine Fokussierung im Prozess aktuell halten sollen — die einzelnen Phasen des Coaching und ihre jeweilige Wirkungserwartung, um effektiv, effizient und dissoziiert den Prozess zu ermöglichen. Konkretes Coaching Das Coaching beginnt um 9.30 Uhr. •

Vorstellung und Erwartung Da Coachee und Coach sich bisher nur aus einem kurzen Telefonat kennen, beginne ich mich vorzustellen. Der Coachee hat dazu Fragen. Danach stellt sich der Coachee vor. Er benutzt meine „Vorstellungsstruktur”. Dazu zählen Aussagen über Alter, Schule und Ausbildung, berufliche Stationen mit den inhaltlichen Arbeitsschwerpunkten, verbunden mit den hierarchischen Titeln. Dann erläutere ich Anlass und Begründung für meine freiberufliche Tätigkeit, danach Informationen zum Familienstand, Hobbys und wichtigen Werten, die meine Persönlichkeit beschreiben. Der Vorstellungsabgleich ergibt eine Reihe von Gemeinsamkeiten: Wir haben beide in Berlin und Aachen gelebt. Jeder von uns ist Vater von Zwillingen. Zudem sind die Werte Pünktlichkeit und Familie uns beiden offensichtlich sehr wichtig. Daraus ergeben sich kleine „Smalltalks”, die schnell eine entspannte Kommunikation „auf Augenhöhe” ermöglichen. Meine Hypothesenbildung (in diesem Abschnitt) in Verbindung mit ... — dem Kompetenzmodell (insbesondere hier die persönliche Kompetenz), — MASLOW (hier insbesondere das Thema Sicherheit), — 18 Motive aus der MotivStrukturAnalyse. Dauer dieser Phase: ca. 25 Minuten. Wir machen eine 10minütige Pause.



Coachingablauf, Verantwortungsbereiche und Kommunikationskontext vereinbaren Zu diesen Aktivitäten innerhalb des Coaching gehört, dass ich den Coachee über alle Phasen im Coaching noch einmal informiere. Ich begründe die Wirkungserwartungen und deren (wissen-

216

schaftliche) Legitimierung. Dazu gehört auch ein Laminat, das den Ablauf visuell darstellt. Dieses Laminat erhält der Coachee zur Eigenkontrolle meines methodischen Tuns. Zudem ermuntere ich den Coachee, so offen wie möglich zu sein, da dies die beste Grundlage für sein Erkennen und sein Verändern ist. Das Stilmittel der Konfrontation als besondere Form der Intervention im Coaching wird besonders hervorgehoben. Ansonsten möge der Coachee mir sofort die „gelbe” oder „rote” Karte zeigen, wenn ich etwas gegen die Interessen des Coachee initiiere. Damit ist der mündlich geschlossene Vertrag über das Coaching aus dem ersten Telefongespräch wiederholt, präzisiert und in der Situation bewusst geschlossen worden. Dies gibt mir als Coach auch dann die legitime Berechtigung im Coachingprozess, das Vorgehen der Beteiligten „anzumahnen bzw. durchzusetzen”. Zum Schluss frage ich den Coachee, ob er in therapeutischer Behandlung ist oder in therapeutische Behandlung gehen wird. Er verneint die Fragen. Einen Coachee, der in therapeutischer Behandlung ist oder fest beabsichtigt, sich therapeutisch behandeln zu lassen, coache ich nicht, allein aus dem Grund der möglichen thematischen Doppelbearbeitung. Dauer dieser beiden Phasen: zusammen ca. 35 Minuten. 2. Phase „Thema- und Zielklärung“ Erläuterungen für den Coachee zur Wirkungsweise dieser Phase. Ich erkläre dem Coachee noch einmal den Sinn des Coaching, der in der (möglichen) Verhaltensänderung des Coachee liegt und nicht in Personen oder Organisationsstrukturen, die nicht im Raum sind. Damit in späteren Phasen des Coaching möglichst alle Handlungsalternativen denkbar und entwickelbar werden, bitte ich den Coachee bei der Nennung seines Themas, möglichst nur einen Begriff zu verwenden. Damit wird eine starke Fokussierung möglich, die keine direkten oder indirekten Lösungshinweise beinhalten ( Beispiel: Essen — gesundes Essen). Das Coaching, das der Coachee erlebt, ist ein Coaching auf systemisch-konstruktivistischer Basis. Die Begriffe systemisch und konstruktivistisch werden anhand folgenden Beispiels erklärt: Erinnern Sie sich bitte an einen Kreisel, in dem mehrere Zufahrtsstraßen münden. Der Verkehrskreisel wird nicht nur von Einheimischen, sondern auch sehr unterschiedlichen Touristen genutzt. An diesem Bild kann systemisch und konstruktivistisch schnell nachvollziehbar erklärt werden. Die möglicherweise angestrebte Verhaltensänderung des Coachee sollte in einer Art und Weise beschrieben werden, die weder kognitiv noch emotional durch den Coachee infrage gestellt werden kann. Diese unumkehrbare Willenserklärung, eingehüllt in ein stark spürbares psycho-biologisches Wohlbefinden durch den Coach, ist dann der eingetretene Veränderungszustand zu einem bestimmten Zukunftszeitpunkt. Diese Zukunft wird in einem strukturierten Ziel beschrieben (grammatikalisch in Futur II). •

Thema und Veränderungswunsch skizzieren Ich bitte den Coachee, aus seiner Sicht vorzutragen, weshalb er mit mir als Coach zusammenkommt und wie das Zusammenkommen zustande kam. Die sehr ausführlichen Informationen über seine berufliche Entwicklung in seinem Konzern werden vom Coachee in einer ruhigen, aber hörbar/erkennbar distanzierten Tonlage vorgetragen. Eigeninitiativen zur eigenen beruflichen Entwicklung führten eher zum Erfolg als unkritisch eingeräumte Abhängigkeit zu anderen Personen (hohe Hierarchien), die Einfluss auf seine berufliche Karriere nehmen durften. Fakt ist, dass durch verschiedene Strategiewechsel und damit einhergehende Organisationsveränderungen in seinem Unternehmen, seine inhaltlichen Bearbeitungsthemen wechselten. Durch personelle Neubesetzung im obersten Führungskreis ist es auch zu Rotationen der Führungsverantwortungen in den darunter liegenden Führungspositionen gekommen.

217

Dies betrifft den Coachee, da er im Zuge dieser Veränderungen seine Aufgaben in einer neuen nachgeordneten Führungsposition erfüllen soll. Ein ehemaliger, gleichgestellter Kollege ist im Zuge der Veränderungen sein Chef geworden. Er zeigt sich von diesen Veränderungen ge- und betroffen. Auf meine Frage, wie er diese Entwicklung aus seiner Sicht bewertet, antwortet er: Die personellen und strukturellen Bedingungen haben ihn in den letzten drei Jahren nicht akzeptiert arbeiten lassen. An der Situation konnte er nichts machen. Er fühlt sich durch die jetzt eingetretene Entwicklung in seinem Arbeitsverständnis und gezeigten Arbeitseinsatz nicht gewertschätzt und anerkannt. Meine Hypothesenbildung (in diesem Abschnitt) in Verbindung mit ... — 8 Grundeinsichten der Führung, — 14 Führungsaufgaben, — JoHaRi-Fenster, — MASLOW (hier insbesondere das Thema Anerkennung), — 18 Motive aus der MotivStrukturAnalyse, — Teamphasen und — Rubikon-Modell. •

„Ist-Zustand aufnehmen/Thema schriftlich fixieren und visuell systemisch aufstellen“ Thema benennen Die Frage nach seinem Veränderungsthema beschäftigt den Coachee sehr intensiv. Er überlegt für sich, aber auch für mich akustisch gut vernehmbar — dabei schaut er mich an. Da ich sein Anschauen nicht als Aufforderung für eine Handlung interpretiere, antworte ich nicht. Die Suche nach seinem Veränderungsthema benötigt ca. zehn Minuten. Der Coachee entscheidet sich dann für sein Veränderungsthema „Entscheidungsfindung”. Ich bitte ihn, den Begriff auf das Flipchart zu schreiben. Da die Suche nach seinem Thema relativ lange dauerte, der Coachee beim Aussprechen und beim Hinschreiben des Themas keinen engagierten Eindruck machte, bitte ich ihn, die Bedeutung seines Anliegens zu skalieren — zusätzlich auch deshalb, weil er sein Veränderungsthema sehr intensiv und differenziert mir als seinem Coach erklären wollte. Die Skalierung ergab den Wert 7-8. Ich fragte ihn dann, welches Thema auf dem Flipchart stehen müsste, dem er als bedeutsam in der Skalierung den Wert 10 vergeben würde. Diese Frage irritierte den Coachee. Ich musste ihm mehrmals den Sinn dieses Vorgehens einer Skalierung erklären. Daraufhin nannte er als sein Thema „Persönliche Zufriedenheit”. Ohne Aufforderung vergab er den Wert 10 für „Bedeutung”. Ich bat ihn — unter Erklärung des Sinns — nur einen Begriff hinzuschreiben. Nach einiger Zeit des Nachdenkens schrieb er den Begriff „Zufriedenheit” und den Bedeutungswert 10 auf das Flipchart. Auf Nachfragen meinerseits bestätigte er, dass dies nun sein Thema sei. Die Bedeutung von Zufriedenheit besteht nach Aussagen des Coachee in einer beruflichen Position, die ihn „erfüllt”. Meine Hypothesenbildung (in diesem Abschnitt) in Verbindung mit ...

218

— Kompetenzmodell (hier insbesondere die persönliche Kompetenz), — 8 Grundeinsichten der Führung, — JoHaRi-Fenster.

Visuell aufstellen Diese Teilphase des Coachingprozesses untergliedert sich in drei Abschnitte. 1. Abschnitt Zunächst bitte ich den Coachee darüber zu reflektieren, was alles mit seinem Thema in einem Zusammenhang steht. Gemeint sind hier alle Teilthemen, Situationen, Personen und dgl. Ich bitte ihn, die zur Verfügung gestellten Kreiskarten zu nutzen. Er möge bestimmen, warum er welches Thema auf welche Kreiskartengröße bzw. -farbe schreibt. Sonne

Geld Freunde

Anna Zufriedenheit Anerkennung Erinnerungen

Erfolg Spaß Kinder Erlebnisse

Dauerprobleme

Wohnen

Während der Coachee über die Aufgabe nachdenkt und erste Themen visualisiert, frage ich nach der Bedeutung der visualisierten Begriffe. Hierbei wird dem Coachee deutlich, dass das Thema auch aus differenzierten und für sein Themenverständnis diversen Teilthemen besteht. Ist dies der Fall und der Coachee hat dies verbalisiert, bitte ich den Coachee diese Teilthemen auch auf eine entsprechende Kreiskarte zu schreiben. 219

Janette Inka

André

Carsten Theresia Sonne

Geld

Thorsten

Micha

Respekt

Anna

Freunde

Frauke

Arnim

Zufriedenheit Anerkennung Erinnerungen

Erfolg Spaß

Dauerprobleme

Kinder Erlebnisse Wohnen

Rückmeldung

Interaktion

Der Coachee hat 24 Kreiskarten beschrieben. Weiteres Nachfragen meinerseits, ob es noch Zusammenhänge gibt, die er kennt, werden nicht von ihm genannt. Ich ergreife jetzt eine Konfrontation, die ich dem Coachee grundsätzlich erkläre. Daraufhin lege ich eine Kreiskarte mit der Aufschrift „Beruf” zu seiner visuellen Aufstellung, verbunden mit der Frage an ihn, welche Reflexion bei ihm dadurch ausgelöst wird. Seine Antwort sinngemäß: „Ja, ja, die Karte gehört auch dazu”.

220

Janette Inka

André

Carsten Beruf

Theresia Sonne

Geld

Thorsten

Micha

Respekt

Anna

Freunde

Frauke

Arnim

Zufriedenheit Anerkennung Erinnerungen

Erfolg Spaß

Dauerprobleme

Kinder Erlebnisse Wohnen

Rückmeldung

Interaktion

Ich gebe mich mit der Antwort nicht zufrieden. Ich bitte den Coachee zu überlegen, welche Beiträge Beruf und Privat zur Zufriedenheit liefern, um die Bedeutungsanteile zu klären.

IST 5.10.10

Zufriedenheit

90  PRIVAT

 10 Beruf

Meine Hypothesenbildung (in diesem Abschnitt) in Verbindung mit ... — Kompetenzmodell (hier insbesondere das Thema fachlich-methodische Kompetenz), — 14 Führungsaufgaben, — 18 Motive aus der MotivStrukturAnalyse, — JoHaRi-Fenster. 2. Abschnitt Im zweiten Abschnitt der Visualisierung wird mittels einer abstrakten Ressource versucht, die Wahrnehmung des Coachee zu erweitern. Dazu stehen mir als Coach drei Modelle zur Verfügung, deren Einsatz abhängig vom Thema und dem thematischen Kontext ist.

221

Das St. Galler Management-Modell mit 22 Teilthemen eignet sich besonders gut bei Themen, die eine unternehmerische Relevanz haben. D as

St. Galler Management Mo dell neue Gesellschaft

Natur Technologie Wirtschaft

Kapitalgeber

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Staat

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Öffentlichkeit NGO‘‘s St. Galler Managementmodell (SGMM)

Das TZI-Modell, das sich mit seinen fünf Elementen: Thema — Ich — Wir — Interaktionen und Globe besonders gut eignet für das Grundthema „Konflikt”.

Das TZI-Dreieck im Globe Der Globe, in dem das Thema Wirklichkeit werden soll

Glo ök be om

Thema

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Möglichkeiten und Grenzen, die die Gruppe mir bietet

Ich

Meine Möglichkeiten und Grenzen, die ich der Gruppe bieten kann

Unser gemeinsamer Globe

Mein persönlicher Globe Verhalten und Persönlichkeit des Gruppenmitgliedes

222

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Das Modell der psycho-biologischen Befindlichkeit, das insbesondere bei World-Life-BalanceThemen von guter Wirkung ist.

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In diesem konkreten Fall entschließe ich mich, das Modell der psycho-biologischen Befindlichkeit zu nutzen, indem ich nacheinander die zehn Merkmale des Modells dem Coachee anbiete mit den Fragen: — Hat Ihr Thema „Zufriedenheit” etwas mit „Emotionen” zu tun? — Hat Ihr Thema „Zufriedenheit” etwas mit „Körperlicher Zustand” zu tun? — Hat Ihr Thema „Zufriedenheit” etwas mit „Soziales Netz und Kommunikation” zu tun? — Hat Ihr Thema „Zufriedenheit” etwas mit „Materielle Sicherheit” zu tun? — Hat Ihr Thema „Zufriedenheit” etwas mit „Zeit und Zukunft” zu tun?” — Hat Ihr Thema „Zufriedenheit” etwas mit „Sinnhaftigkeit und Orientierung” zu tun? — Hat Ihr Thema „Zufriedenheit” etwas mit „Umwelt” zu tun? — Hat Ihr Thema „Zufriedenheit” etwas mit „Arbeitszufriedenheit und Leistungsbereitschaft” zu tun? — Hat Ihr Thema „Zufriedenheit” etwas mit „Kontext” zu tun? — Hat Ihr Thema „Zufriedenheit” etwas mit „Erfahrung” zu tun? Die Reihenfolge der Begriffsangebote als Reflexion für den Coachee unterliegt keiner festgelegten Priorisierung. Wichtig ist nur, dass alle Elemente des Modells als Reflexionsmöglichkeit durch den Coach angeboten werden. Würde ich als Coach nur einen Teil der zehn Felder dem Coachee zur Reflexion anbieten, wäre ich autoritär, da ich als Coach bestimmen würde, was für den Coachee zur Reflexion geeignet ist. Autonomes Coaching bedeutet, dass ich als Coach dem Coachee nur insgesamt ein Modell mit allen seinen Strukturmerkmalen anbieten darf. Er entscheidet dann, welche Teile im Zusammenhang mit seinem Thema stehen. Ich garantiere als Coach mit dieser deduktiven Vorgehensweise, dass die vier Werte und die drei Anliegen von Coaching konsequent angewandt und umgesetzt werden. Immer wenn der Coachee Begriffe als 223

Antwort zu der einzelnen Frage nennt, bitte ich ihn, dies separat auf eine Kreiskarte aufzuschreiben. Durch diese Vorgehensweise erreiche ich, dass ich dissoziiert dem Coachee Reflexionsangebote machen kann, deren inhaltliche Bearbeitungsdeutung allein bei ihm liegt. Ich kann mit dieser Vorgehensweise sowohl dem obwaltenden Konstruktivismus beim Coachee als auch den vier Werten und den drei Anliegen im Coaching gerecht werden. Das Reflexionsangebot wurde vom Coachee sehr zögerlich angenommen. Es entstanden im Sinne der Wahrnehmungserweiterung keine wesentliche Mengen an Erkenntnissen beim Coachee. Hätte ich als Coach in dieser Phase für TZI oder das St. Galler Management-Modell entschieden, müsste ich vergleichbar vorgehen.

Janette Inka Beruf Sonne

Theresia

Geld

Thorsten Respekt

Gesundheit

Anna

Frauke Freiheit

Anerkennung Rückmeldung

Glück

Erfolg

Zukunft Dauerprobleme

Spaß ICH

Erlebnisse Orientierung

Kinder Zeit

Sinnhaftigkeit

Wohnen

Lernen

Meine Hypothesenbildung (in diesem Abschnitt) in Verbindung mit ... — 8 Grundeinsichten der Führung, — 14 Führungsaufgaben, — JoHaRi-Fenster, — Nähe-Distanzmodell nach RIEMAN-THOMANN. 224

Micha

Freunde

Harmonie

Zufriedenheit

Erinnerungen

André

Carsten

Interaktion

Arnim

3. Abschnitt Der folgende Arbeitsschritt dient der „erkennenden Struktur” und ihren Teilbereichen zum Thema Zufriedenheit. Ich bitte den Coachee, alle Kreiskarten nach Bedeutung und Zusammenhang zu bewerten und dann zu clustern. Die einzelnen Cluster werden nach Aufforderung durch den Coach mit dem Coachee sinnvoll erscheinenden Oberbegriffen gekennzeichnet. Die mehr als 30 Kreiskarten werden durch den Coachee in fünf Teilbereiche mit den Oberbegriffen gegliedert: — Familie, — Werte, — Wohlbefinden, — Bedürfnisse und — Beruf.

Beruf

Janette

Wohlbefinden

Geld

Beruf

Gesundheit

Glück

Erfolg

Werte

Interaktion

Freunde

Lernen

Rückmeldung Bedürfnisse

Harmonie Zeit

Micha

Frauke

Erlebnisse Spaß Kinder

Sinnhaftigkeit

Thorsten

Familie

Anna Dauerprobleme

André

Arnim

Freiheit

Zufriedenheit

Anerkennung

Theresia

Sonne Respekt

Inka

Carsten

Wohnen

Erinnerungen

Zukunft

ICH Orientierung

Ich bitte den Coachee, nun seine fünf Themenkontexte nach Bedeutung für ihn und zum Thema Zufriedenheit zu skalieren.

225

Beruf

Wohlbefinden

Geld

Beruf

8

Glück Sonne

Erfolg

Respekt

Werte

Interaktion

Anerkennung

Freunde

Freiheit

Rückmeldung

Zeit

Theresia

Familie

Erlebnisse

Spaß Anna Dauerprobleme

8

Kinder Sinnhaftigkeit

Wohnen

André

Thorsten

Micha

Frauke

6

Bedürfnisse

Harmonie

Inka

Carsten

10

Zufriedenheit Lernen

Janette

Gesundheit

Arnim

10

Erinnerungen

Zukunft

ICH Orientierung

Die Wertigkeit und Bedeutung des einzelnen Kontextes für den Coachee in Bezug auf sein Thema Zufriedenheit wird durch die Skalierung deutlich: — Wohlbefinden mit zehn Punkten, — Familie mit zehn Punkten, — Bedürfnisse mit acht Punkten, — Beruf mit acht Punkten, — Werte mit sechs Punkten. Der Coachee hat sich für seine Reihenfolge bei Punktgleichheit entschieden. Meine Hypothesenbildung (in diesem Abschnitt) in Verbindung mit ... — 8 Grundeinsichten der Führung, — 14 Führungsaufgaben, — JoHaRi-Fenster und — Nähe-Distanzmodell nach RIEMAN-THOMANN. Wir machen eine 10-minütige Pause. 226



Zielformulierung und systemische Zielerreichungsmerkmale schriftlich fixieren Das Veränderungsziel Wie bei jeder neuen (Teil-)Phase im Coachingprozess, erkläre ich (erneut) die Bedeutung und Wirkungserwartung der nun anstehenden Phasenbearbeitung. Die unmittelbare Frage nach dem Veränderungsziel ist für den Coachee schwierig zu beantworten. Da ich als Coach nie spekuliere, warum es so ist, sondern immer nur mit den Tatsachen arbeite, beginne ich den Coachee langsam an das Thema Zielformulierung heranzuführen: Welches Thema soll von Ihnen bearbeitet werden? Wann ist die Bearbeitung durch Sie beendet? Was sind Gütemerkmale dieses eingetretenen Zustandes? Gibt es auch Mengenangaben in der Beschreibung des eingetretenen Zustandes durch Ihre Bearbeitung des Themas? In welchem Kontext ist diese Veränderung wirksam? Der Coachee beantwortet die Fragen einzeln und schreibt sie auch auf den Flipchart. Ich bitte den Coachee aus den Einzelteilen einen kurzen, prägnanten Satz zu formulieren — in Futur II. Die Beschreibung eines Ziels (abgeschlossen eingetretener Zustand in der Zukunft) in Futur II ist in der Regel erklärungsbedürftig. Hier hilft es dem Coachee, den Zusammenhang mit dem Rubikon-Modell nach HECKHAUSEN zu erklären. Der Coachee entwirft sein Ziel. Am 5. Oktober 2011 werde ich eine neue Aufgabe, die mir längerfristige Entwicklungsmöglichkeiten bietet und die für mich sinnhaftig und zufriedenheitsstiftend ist, innerhalb der ... übernommen haben.

ZIEL

10

Einige Begriffe und Satzteile hinterfrage ich nach Bedeutung, Zusammenhang und Wertigkeit. Nach einer längeren Phase des Reflektierens entscheidet sich der Coachee für folgende endgültige Zielformulierung:

Am 5. Oktober 2011 werde ich eine neue Aufgabe, die für mich Erfolg versprechend und zufriedenheitsstiftend ist, innerhalb der ... übernommen haben

ZIEL

10

Meine Hypothesenbildung (in diesem Abschnitt) in Verbindung mit ... — Nähe-Distanzmodell nach RIEMAN-THOMANN, — 8 Grundeinsichten der Führung, — JoHaRi-Fenster. 227

Die systemischen Zielerreichungsmerkmale (ZEM) Meine Erläuterungen für den Coachee über diese anstehende Arbeitsphase: Im systemischen Coaching gehen wir davon aus, dass Veränderung durch die eigene Person (Coachee) aber auch durch die Umwelt des Coachee initiiert sein kann. Veränderungen wirken sich dementsprechend beim Coachee als auch auf die Umwelt des Coachee aus. In der visuellen Aufstellung am Anfang des Coaching sind alle Einflussfaktoren auf das Veränderungsthema eruiert und zu Kontexten mit entsprechenden Oberbegriffen zusammengestellt worden. Die einzelnen Kontexte haben „Erwartungen” an die differenzierte Bearbeitung des Themas als auch „Einschätzungen und Empfindungen” über die sie betreffenden Veränderungen. Diese Merkmale beeinflussen nicht nur die Veränderungsabsicht des Coachee, sondern nehmen auch Einfluss auf das zukünftige veränderungsabgeleitete Handeln aus dem Ziel. Zielerreichungsmerkmale wollen konkret verändertes Verhalten beim Coachee erkennen und wollen diese Veränderung aus ihrer Sicht deuten und bewerten im Sinne einer Bedeutung(-sfolge) für sie. Damit dies möglich wird, gibt es sehr spezifische Fragen. Das Sehen oder Erkennen konkret veränderten Verhaltens soll durch die generelle Frage „Woran erkennt das (Zielerreichungs-)Merkmal, dass Sie Ihr Ziel erreicht haben?” Spezifische Frage in diesem konkreten Coaching: „Woran erkennt die Familie, dass Sie Ihr Ziel („Am 5.10.2010 werde ich ...”) erreicht haben?” Das Zielerreichungsmerkmal antwortet: „Ich berichte von der Aufgabe”. Der Sinn dieser Frageformulierung besteht im Animieren einer Antwort, die eine erkennbare „Aktion” oder „Zustand” des Coachee aufzeigt. Antworten, die keine Aktion oder keinen Zustand aufzeigen, dürfen im Sinne der Prozessverantwortung vom Coach nicht akzeptiert werden. Frage zur Bedeutung(-sfolge): Welche Bedeutung hat dieses Handeln („Ich berichte von der Aufgabe”) für das Zielerrreichungsmerkmal? Antwort: „Ein möglicher Ortswechsel”. Damit soll, wie in der vorangegangen Frage, ein Wahrnehmungswechsel beim Coachee erreicht werden. In den nachfolgenden Bildern sind die konkreten Bearbeitungen der Zielerreichungsmerkmale erkennbar. Der auf den Bildern erkennbare Abstand zwischen den Zielerreichungsmerkmalen soll für die später im Coachingprozess erarbeiteten Handlungsalternativen je Zielerreichungsmerkmal zur Beschreibung genutzt werden.

ZEM Familie: Ich berichte von der Aufgabe möglicherweise Ortswechsel Wohlbefinden: Ich berichte häufiger von der Arbeit Zufriedenheit 228

Bedürfnisse: Die Aufgabe ist der Gestalt, dass Lernen, Interaktion und Anerkennung Bestandteil sind Sind befriedigt Beruf: Ich strahle innere Überzeugung für die Aufgabe aus Erfolg

Werte: Ich habe mich bewusst und selbst dafür entschieden Einhaltung

Meine Hypothesenbildung (in diesem Abschnitt) in Verbindung mit ... — Nähe-Distanzmodell nach RIEMAN-THOMANN, — 8 Grundeinsichten der Führung, — JoHaRi-Fenster, — 18 Motive aus der MotivStrukturAnalyse. Am Ende dieser Phase 2 im Coaching endet die Hypothesenbildung. Als Coach verschaffe ich mir einen Überblick, welche konkreten Hypothesen wie oft gebildet wurden. Wir machen ein 10-minütige Pause. 3. Phase „Ressourcenidentifikation” Hier nun wieder die gewohnte Erklärung des Coach für den Coachee über die anstehende Coachingphase und die damit verbundene Wirkungserwartung. Diese Phase der Ressourcenidentifikation ähnelt in manchen Teilen der visuellen Aufstellung. Die Suche nach den Ressourcen (Mittel, Kenntnisse, Fähigkeiten, Erfahrungen, Intelligenzen, Emotionen und gescheiterte Lösungen), die in einem bewussten oder gefühlten Zusammenhang stehen mit dem Erreichen des Veränderungsziels. Bildlich erkläre ich diese Phase auch gern als „Schatzsuche nach erfolgsversprechenden Zutaten von zukünftigen Erfolgen”. Wie in der visuellen Aufstellung hat diese „Schatzsuche” drei Abschnitte: — Der Coachee findet ohne fremde Hilfe eigene Ressourcen. — Der Coachee wird durch strukturelle Angebote des Coach (Modelle, Theorien und Axiome) aus der Hypothesenbildung zur systematischen Ressourcensuche unterstützt. — Der Coachee listet erfolgreiche Lösungsstrategien aus ähnlichen Themenkontexten und listet misserfolgreiche Lösungsstrategien aus ähnlichen thematischen Kontexten auf. Teilphasenverzicht Nach der Systematik der Phase 3 „Ressourcenidentifikation”, sollte nun der erste Abschnitt nach der Schatzsuche allein durch den Coachee bestritten werden. Da der Coachee aber bisher auf eindeutig systematische Fragen eher verstört reagiert hat, entschließe ich mich (assoziiertes, autoritäres Vorgehen) auf diese Teilphase zu verzichten. Ich entschließe mich in dieser Situation, gleich mit strukturellen Reflexionsangeboten zu arbeiten. •

Hypothesengeleitetes Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten im Kontext ermitteln Brennglas Kompetenzmodell Unbeschadet vieler Möglichkeiten sich als Coachee auf die Schatzsuche zu begeben, ist das Kompetenzmodell mit seinen fünf Bereichen quasi eine Art Brennglas der thematischen Suche. Keine andere Vorgehensweise fokussiert den Coachee mehr auf seine bewusste Suche nach Ressourcen als das Kompetenzmodell. Ich stelle dem Coachee das Kompetenzmodell vor. Dabei übergebe ich ihm ein DIN-A4-Blatt, aus dem die Definitionen der einzelnen Kompetenzbereiche ablesbar sind.

229

persönliche Kompetenz fachlich-methodische Kompetenz Handlungskompetenz sozio-kommunikative Kompetenz Feldkompetenz



Motive, Bedürfnisse, Werte, Gefühle im Kontext ermitteln (persönliche Kompetenz) Als Coach weiß ich, dass zur Entscheidungsbildung und Entscheidungrealisation nicht nur Konkretes im Sinne von Zahlen, Daten und Fakten gehören. Insbesondere Emotionen, bestehend aus Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen und Werten, sind nicht wegzudiskutierende Einflussgrößen. Im Business oder im Management sind Führungskräfte eher erfahren im Umgang mit Zahlen, Daten und Fakten, aber eher nicht so bewandert und geübt im Erkennen von Emotionen und deren Bedeutung im Kontext Entscheidung. Ja, selbst die Wahrnehmung, Deutung und Verbalisierung eigener Emotionen ist für Führungskräfte eher ungewohnt. Mein Coachee vermittelt mir auch diesen Eindruck, da er eher eine faktische und logische Sprache benutzt. Vom Allgemeinen zum Speziellen Bei Coachees, die einen eingeschränkten Zugriff auf ihre Emotionen vermuten lassen, versuche ich durch folgende Vorgehensweise den eigenen Kontakt zu den Emotionen zu ermöglichen: Es handelt sich um Motive, Werte und Gefühle. In jedem einzelnen Thema erhält der Coachee eine strukturelle Ressource (eine Menge alternativer Auswahlmöglichkeiten zum Thema), die er analysieren, deuten und bewerten soll. Dies betrifft Motive mit dem strukturellem Angebot der 18 Motive mit ihren jeweils zwei Ausprägungen, 84 Werte, die aus den 18 Motiven abgeleitet sind, und 9 Grundgefühle. Im ersten Schritt bitte ich den Coachee, anhand von zweiseitig beschriebenen Motivkarten, seine von im kontextfrei wahrgenommene Motivausprägung zu bestimmen und in eine Reihenfolge der Wichtigkeit (wieder in Bezug „kontextfrei”) zu gliedern. Da jeder Coachee im Vorwege den Motivationsstrukturtest der 18 Motive absolviert hat, kann er sich überprüfen, wie stabil sein Empfinden und Bewusstsein für seine Motive ist, indem er einen Abgleich erstellt und ihn reflektiert. Motive, die kontextlos wahrgenommen werden:

230

risikobewusst Will Fehler und Veränderungen vermeiden, sucht Stabilität und Verlässlichkeit, liebt und pflegt die eigene Komfortzone

festhaltend

8.

Sammelt Güter und häuft Besitz/ Eigentum an, Materielles bewahren und erhalten, Geld zusammenhalten und sparen

Prinzipientreue Sinnlichkeit Idealismus Essen Spiritualität

Ordnung körperliche Aktivität

rational

geführt Keine Macht ausüben, übernimmt ungern Verantwortung für andere, Führung akzeptieren, kann gut ein- und unterordnen, dienstleistungsorientiert

Macht

familienorientiert Aktives Familienleben schätzen, Wunsch nach eigener Familie bzw. Kindern, intensive Nähe und Zuwendung geben und annehmen können

Familie

Bewegt sich oft und gerne, hält sich gerne fit, betätigt sich oft sportlich

genießerisch

Konzentration auf das „Hier und Jetzt”, Orientierung an rational erklärbaren Denkmodellen, Wirksamkeit

Risiko

bewegungsfreudig

Jeder ist für sich verantwortlich, akzeptiert Gegebenheiten, akzeptiert, dass er nicht alleine die Welt verbessern kann, persönliche Nutzenoptimierung

Isst gern und viel und/oder gut, beschäftigt sich gerne mit „Essen”, Denken und Handeln ist oft auf Essen ausgerichtet

materielle Sicherheit

strukturiert Wünscht sich Stabilität, Klarheit und Detailgenauigkeit bei Abläufen und Strukturen, hält definierte Prozesse ein, Konstanz wahren,Tendenz zur Pedanterie, pflegt Rituale

nüchtern Betrachtet Sinnlichkeit nicht als Lebenselexier, schätzt Nüchternheit und Purismus

realistisch

Wissen

intellektuell Freude am „Denken” an sich, Wissen sammeln, Intellektualität, „neu”gierig sein, Dingen „auf den Grund gehen”

Zielorientierung, Loyalität nicht als Selbstzweck, situative Flexibilität wichtiger als Prinzipien

eigennützig

Hilfe Fürsorge

selbstsicher Kann Kritik aushalten, ist selbstbewusst, motiviert sich selbst, das heißt unabhängig vom Feedback anderer

zweckorientiert

Konzentration auf sich selbst und auf eigene Aufgaben und Ziele, eigene Bedürfnisse stehen im Vordergrund, verlässt sich am liebsten auf sich selbst

ausgleichend Konflikte vermeiden, Harmonie anstreben, Streit schlichten, sucht den Konsens

Wettkampf

Selbstgenügsamkeit, emotionale Selbstbestimmung, Autarkie, sucht Unabhängigkeit

Freiheit

eigenständig

Anerkennung

1.

231

Wissen

distanziert Zurückgezogen, eher introvertiert, braucht Abstand, grenzt sich gerne ab, ernsthaft

intellektuell

45 % — 55 %

pragmatisch

prinzipienorientiert

23 % — 77 %

zweckorientiert

Macht

führend

18 % — 82 %

geführt

Status

elitär

51 % — 49 %

bodenständig

Ordnung

strukturiert

23 % — 77 %

flexibel

Materielle Sicherheit

festhaltend

23 % — 77 %

großzügig

eigenständig

32 % — 68 %

teamorientiert

kontaktfreudig

45 % — 55 %

distanziert

fürsorglich

20 % — 80%

eigennützig

familienorientiert

62 % — 38 %

selbstbezogen

idealistisch

16 % — 84 %

realistisch

sensibel

48 % — 52 %

selbstsicher

Wettkampf

kämpferisch

13 % — 87 %

ausgleichend

Risiko

risikofreudig

52 % — 48 %

risikobewusst

Essen

genießerisch

66 % — 34 %

genügsam

bewegungsfreudig

52 % — 48 %

bequem

Sinnlichkeit

sinnlich

17 % — 83 %

sachlich

Spiritualität

sinnsuchend

19 % — 81 %

rational

Prinzipientreue

Freiheit Beziehung Hilfe/Fürsorge Familie Idealismus Anerkennung

Körperliche Aktivität

Beziehung

Status

bodenständig Auf Gleichheit bedacht, wenig Interesse an öffentlicher Wahrnehmung, legt wenig Wert auf Titel und den Besitz von Statussymbolen

18.

Aus der Gegenüberstellung ist erkennbar, dass der Coachee 14 von 18 Motiven im Test und im Selbsttest vergleichbar identifiziert — aber die prioritäre Gewichtung sehr erheblich voneinander abweicht. Ich bitte den Coachee zu reflektieren, was diese überwiegende Gleichheit einerseits und die überwiegende Ungleichheit andererseits im Sinne von „erkenne Dich selbst” bedeutet. Obwohl der Coachee offensichtlich darüber nachenkt, kann er keine Antwort geben. Deduktives Vorgehen — Erklärungen für den Coachee Da Coaching in letzter Konsequenz immer die Entscheidungsfähigkeit des Coachee initiieren will, ist es ratsam, im Coachingprozess das Thema Entscheidung und Entscheidungsfähigkeit dem Coachee immer wieder durch erlebbare Situationen vor Augen zu führen. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass jeder Mensch sich in unterschiedlichen Kontexten anders verhält — wie minimal oder maximal dies auch zu erkennen ist. Jeder Mensch ist zunächst eine individuell „komplett” ausgestattete Persönlichkeit. In der Ist-Situation des Coaching sind bestimmte Ressourcen vorhanden. Betrachtet der Coachee seine Identität unter dem Aspekt der unvoreingenommenen Attributzuweisung durch sich selbst, ergibt sich idealtypisch sein Eigenbild, frei von sozial erwünschten Beschreibungen. Oder praktisch formuliert: Wenn ich nur könnte, was ich möchte, dann ... Im Alttag findet der Mensch aber auch oder eher die Situation vor: Ich handle nach Einsicht oder Zwang der Gegebenheiten ... Das MVWK-Model mit seiner Erkenntnis, dass Verhalten in einem Kontext von Werten und Motiven aller Beteiligten abhängig ist, muss deshalb immer zu den Fragen führen: Welche konkreten Motive (Handlungsantriebe) und welche Werte (handlungsleitende Beeinflussungen) 232

sind im thematischen Kontext von Bedeutung? Zusätzlich ist es ratsam, Gefühle und Bedürfnisse ebenfalls in die Reflexion eines MVWK-Modells einzubeziehen. MVWK-Modell Motiv-Verhalten-Wert-Kontext

W W tex

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M

W

W M

Motiv

W

Wert Wechselwirkung

W

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W ©2007, Dr. Rolf Meier, Axel Janßen

eigennützig Konzentration auf sich selbst und auf eigene Aufgaben und Ziele, eigene Bedürfnisse stehen im Vordergrund, verlässt sich am liebsten auf sich selbst

selbstsicher Kann Kritik aushalten, ist selbstbewusst, motiviert sich selbst, das heißt unabhängig vom Feedback anderer

rational Konzentration auf das „Hier und Jetzt”, Orientierung an rational erklärbaren Denkmodellen, Wirksamkeit

Hilfe Fürsorge

Zielorientierung, Loyalität nicht als Selbstzweck, situative Flexibilität wichtiger als Prinzipien

Anerkennung

zweckorientiert

Spiritualität

Motive, die das Ziel unterstützen

Prinzipientreue

Jegliche Verhaltensänderung bezieht sich auf einen Kontext und vollzieht sich in einem Kontext. Das faktische Kennen und das bedeutungsorientierte Erkennen aller im Kontext wirkenden Ressourcen ist im Sinne einer erfolgreichen Entscheidung durch den Coachee von prioritärer Wichtigkeit. Dies gilt insbesondere für Motive und Werte, da sie in der Regel den Ausschlag für eine spezifische Entscheidung beanspruchen. Die Entscheidung soll psycho-biologisches Wohlbefinden auslösen. Dies kann nur erfolgen, wenn die Gefühle und die Bedürfnisse adäquat einbezogen sind. Insofern soll der Coachingprozess den Coachee befähigen, seine „generelle Ausstattung” von Ressourcen von der „spezifischen Ausstattung” mit Ressourcen für eine thematische Kontextbewältigung zu unterscheiden und bewusst zu nutzen.

233

Werte allgemein

Nutzen

Genuss

Ausgeglichenheit

Realismus

Risikobereitschaft

Lust

Unabhängigkeit

Fairness

Struktur

Familienleben

Sachorientierung

Authenzität

Ernsthaftigkeit

Freiraum

Fitness

Akzeptanz

Ästhetik

Bequemlichkeit

Wahrheit

Bewegung

Spontanität

Zweck

Toleranz

Flexibilität

Vernunft

Selbstgenügsamkeit

Purismus

Rationalität

Verantwortung

Zusammenhänge Erklärbarkeit

Werte, die das Ziel unterstützen Vernunft Authenzität Lust Familienleben Nutzen Fairness Ernsthaftigkeit Struktur

Angesicht der Tatsache, dass der Coachee sich nicht „leicht tat” mit der Eruierung und Bewertung von Motiven und Werten, habe ich in dem Suchfeld „persönliche Kompetenz” auf die Auseinandersetzung mit dem Thema „Gefühle” zum jetzigen Zeitpunkt verzichtet. Die nachfolgenden Bilder zeigen die Antworten auf die Fragen: 234

Welche methodisch-fachlichen Kompetenzen haben Sie im Zusammenhang mit einer möglichen Zielrealisierung? techn. Verständnis

Konzepterstellung

Projektführung

Prozessoptimierung

Fertigungsverfahren

EDV-Systeme Workshopmoderation

Welche sozio-kommunikative Kompetenzen haben Sie im Zusammenhang mit einer möglichen Zielrealisierung? Präsentation halten

Gesprächsführung

Kontextressourcen, die nicht zum Erfolg beitragen?

kein Kommunikationstalent

Welche Feldkompetenzen haben Sie im Zusammenhang mit einer möglichen Zielrealisierung?

Produktionskenntnisse

Logistikkenntnisse

Planungs+ Strategie Erfahrungen 235

Zunehmende Verstörung des Coachee Die Auseinandersetzung mit Motiven, Werten aber auch Gefühlen im Allgemeinen (mit seiner „kontextlosen” Person) aber auch in konkreten thematischen Kontexten, hat den Coachee erkennbar irritiert (verstört). Es war für ihn ungewohnt, darüber systematisch zu reflektieren, zumal er sich einen komplexen Einfluss auf sein (Entscheidungs-)Verhalten sowohl von Motiven aber auch von Werten bisher nicht vor Augen geführt hatte. Die bewusste und gefühlte Unterscheidung von Motiven und Werten, war genauso „neu” wie die enorme Vielzahl von verhaltensbeeinflussenden Werten und der nicht stabilen Motivstruktur in konkreten thematischen Kontexten. Es gipfelte in der erkennenden Aussage des Coachee: Ich habe keine Grundlage, keinen Standpunkt ... Ressourcen aus anderen Kontexten Der Coachee konnte keine Ressourcen aus anderen Kontexten benennen. Bisheriges Analyse- und Lösungsverhalten im thematischen Kontext identifizieren Die Beantwortung der Frage fiel dem Coachee offenbar äußerst schwer, da er eigene Ressourcen nicht nennen konnte. Er erkannte vielmehr, dass bisherige Positionen nicht von ihm initiiert waren, sondern von Personen aus der jeweiligen thematischen Umwelt. Bewertung der Ressourcen im Kontext Diese Aufgabe konnte der Coachee nicht lösen. Strukturelle Ressourcen aktualisieren Aufgrund des Coachingverlaufs habe ich auf diese Phase verzichtet, da ich den Coachee nicht weiter verunsichern wollte (assoziiertes, autoritäres Vorgehen). Strategische Konfrontation Im Sinne einer Konfrontation stellte ich hier als Coach die Frage: „Woher wissen Sie/legitimieren Sie, dass die von Ihnen bezeichneten Ressourcen ausreichend und richtig sind für die anschließende Entwicklung von Handlungsalternativen?” Der Coachee antwortet darauf: „Vermutung und Bauchgefühl.” Ich bitte den Coachee, seine Antwort auf meine Frage im Sinne des Coachingsziels zu reflektieren. Er entwickelt daraufhin Kontexte, in denen er sein Ziel realisieren könnte. Relevante Kontexte für die Zielrealisierung: relevante Kontexte im Konzern Produktionsbereiche

Einkaufsbereiche

Diese Phase dauerte bis ca. 16.30 Uhr. Anschließend machen eine 10-minütige Pause. 236

Vertrieb und Kundendienst

Stabsaufgaben

4. Phase „Entwicklung von Handlungsalternativen” Hier nun wieder die gewohnte Erklärung des Coach für den Coachee über die anstehende Coachingphase und die damit verbundene Wirkungserwartung. Eine angemessene Selbststeuerung in thematischen Situationen wird dem Coachee zum eigenen psycho-biologischen Wohlbefinden wohl dann gut gelingen, wenn er auf eigene, von ihm als wertvoll eingestufte, Ressourcen zurückgreifen kann. In den Handlungen sind die Ressourcen enthalten, teilweise direkt spür- und erkennbar, teilweise aber auch transformiert. Hier bringe ich gerne das Bild des Kuchenbackens. Unbeschadet eines speziellen Kuchens (z.B. Apfelkuchen oder Schwarzwälder Kirsch usw.) benötigt der Kuchenbäcker Formen, Hitze, Zeit, grundsätzlich Materialien und mindestens Erfahrungen mit dem Backen von Kuchen. Die Auswahl und Bedeutung der Ressourcen (z.B. Geschmacksintensitäten von Gewürzen, unterschiedliche Mehlsorten oder unterschiedliche Hitzegrade in unterschiedlichen Backzeiten usw.). Alle Zutaten sind vor dem Backvorgang einzeln zu identifizieren — nach dem Backvorgang gilt dies für viele Zutaten nicht mehr. Der Backvorgang ist eine Transformation. Beim Entstehen und Fällen von Entscheidungen geschieht Vergleichbares. Die vom Coachee ermittelten und visuell aufgestellten Ressourcen in der Phase 3 sind nun bei der Entwicklung konkreter Handlungsalternativen zu benennen. Die Auswahl der förderlichen Ressourcen kann nach objektiven Maßstäben, aber auch nach subjektiven Maßstäben, erfolgen. Die Auswahl nach objektiven Maßstäben ist relativ leicht, da der Maßstab den Coachee zur Entscheidungsfindung „führt” (Beispiele: Bedienungsanleitungen, Rezepturen oder Instandhaltungsmerkmale usw.). Bei der Auswahl von Ressourcen nach subjektiven Maßstäben ist der Coachee „gezwungen”, aus sich heraus den Maßstab zu definieren (autoritäres Entscheidungsverhalten). Diese autoritären Maßstäbe unterliegen alle der Richtschnur nach psycho-biologischem Wohlbefinden und antizipierter Erfolgswahrscheinlichkeit beim Einsatz der Ressourcen. Der Coachee entscheidet sich für eine Ressource ausschließlich an diesen Merkmalen — unbeschadet davon, dass er nach dem emotionalen Fällen der Entscheidung eine kognitive Überprüfung und damit Modifizierung dieser Entscheidung vornehmen kann. Entwickeln konkreter Handlungsalternativen durch den Coachee Das Identifizieren von Ressourcen, deren Bündelung für die Entwicklung einer spezifischen Handlungsalternative für ein konkretes Zielerreichungsmerkmal konnte vom Coachee nicht geleistet werden. Ständig suchte der Coachee einen Abgleich und Zusammenhang zwischen Ressourcen, seinem Ziel, den entwickelten potenziellen Zielkontexten und aufgeschriebenen Zielerreichungsmerkmalen. Nach etlichen Versuchen stellte der Coachee für sich fest, dass er das falsche Thema und damit das falsche Ziel hat. Damit und mit den aufgelisteten Ressourcen könne er keine Handlungsalternativen entwickeln. Reflexionsgespräch mit dem Coachee Ich bat den Coachee eine „Pause” zu nutzen, um darüber nachzudenken, was passiert ist. Dazu empfahl ich dem Coachee, noch einmal Revue passieren zu lassen, was der Anlass des Coaching ist, wer es aus welchen Gründen empfohlen und angenommen hat. Was sein eigentliches Thema ist, was im Sinne einer Erkenntnis und möglicherweise einer Veränderung durch das Coaching ausgelöst werden soll.

237

Rückkehr des Coachee Der Coachee kam nach einer guten Viertelstunde von seiner Pause zurück. Er war im Sprechtempo, in der Lautstärke und im Tonfall sehr nachdenklich. Seine Erkenntnisse sind: Sein eigentliches Thema ist „Entscheidung”. Seine visuelle Aufstellung wolle er noch einmal überprüfen auf berufliche Kontexte, denn sein Ziel wolle er beibehalten. Insgesamt geht es dem Coachee darum, in dem Coaching herauszufinden, was er an sich verändern muss, um wieder in eine hierarchisch vergleichbar Position in seinem Konzern zu kommen. Siehe die Zielformulierung: „Am 5. Oktober 2011 werde ich eine neue Aufgabe, die mir längerfristige Entwicklungsmöglichkeiten bietet und für mich sinnhaftig und zufriedenstellend ist, innerhalb der ... übernommen haben.” Ich fragte ihn, wie es ihm „jetzt gehe”. Seine Antwort war eine Mischung aus erschrocken, verwirrt, nachdenklich, aber auch irgendwie gut. „Im Grunde geht es um die Marketingkonzeption. Durch sie will ich der Umwelt beweisen, dass ich für weiterführende Führungsaufgaben geeignet bin.” Grundsätzlich hat die Marketingkonzeption damit Strategiewert im Kontext des Gesamtcoaching, da der Coachee durch die erfolgreiche Konzeption sich wieder bei den Personalentscheidern attraktiv positionieren will. In der konkreten Bearbeitung im Coaching bekommt die Marketingkonzeptionen dann in einer eigenständigen Teilphase innerhalb des Gesamtcoaching „Themenwert” und damit im Sinne des Coaching auch einen „Zielwert”. Vereinbarung Wir verabredeten uns für einen weiteren Coachingtag in der kommenden Woche. Was nicht getan wurde an diesem Tag • • • • • • • •

Initialisierung der Selbstlernkonzeption Handlungsplan Analyse potenzieller Probleme Ressourcen- und Planaktualisierung Selbstlernkonzeption des Coachee sichern Phase „Controlling und Abschluss“ Motive und Werte zielgerecht bewerten Verhaltensnachhaltigkeit feststellen

Wenn Sie als Leser den Coachingprozess auf Anspruch und Wirklichkeit vergleichen, werden Sie feststellen, dass der Prozess abgebrochen bzw. unterbrochen wurde. Aus meiner Coachsicht war der Tag erfolgreich, da der Prozess (Methode) den Coachee zu sich geführt hat. Er war entscheidungsfähig, weil er durch Wahrnehmungserweiterung und Bewertung von Ressourcen sein Verhalten besser zu verstehen beginnt. Die Aufgabe zwischen den Coachings Ich bat den Coachee, alle seine von ihm beschriebenen Unterlagen mit nach Hause zu nehmen und über den Verlauf des Tages zu reflektieren. Wir vereinbarten, dass er mich bei Fragen gerne anrufen kann. Mir gestattete er Gleiches.

238

Unterbrechung des Coaching (1. Tag) Das Coaching endete an diesem Tag um 17.35 Uhr. Der Tag danach und seine Grundidee Aus dem Verkauf kennen wir den Begriff „Kaufreue”. Damit ist eine bewusste oder emotionale Sinneswandlung gemeint. Die Sinneswandlung betrifft die Kaufentscheidung als „Akt” oder „emotionale Bewertung” (psycho-biologische Befindlichkeit) der Entscheidungsbedeutung. Kaufreue entsteht „am Tag danach” oder bei der konkreten Handhabung der Entscheidung. Dieses Phänomen ist im Coaching auch zu bemerken. Nicht jede Entscheidung im Coaching durch den Coachee hat Bestand in diesem Sinne des „Danach”. Aus dieser Erfahrung heraus versuche ich einen, maximal zwei Tage später mit dem Coachee zu telefonieren. Im Kern frage ich: „Wie geht es Ihnen emotional mit dem gestrigen Tag?” — und — „Was hätte nach einer Nacht Schlaf im Coaching anders bearbeitet werden müssen?” Die entsprechenden Antworten der Coachees sind ein wichtiger Indikator für Akzeptanz oder noch zu treffende Veränderungsmaßnahmen. Coaching wirkt. Ja, sicher. Aber in welche Richtung und mit welcher stabilen Akzeptanz, kann nur der Coachee nach „emotionaler Verdauung” und reflexibler Eigenarbeit beantworten. „Der Tag danach” meines Coachee Der Coachee berichtet in einem Telefonat am nächsten Tag Folgendes: 1. Ihn hat überrascht, mit welcher Konsequenz ich als sein Coach keine Lösungen auf seine Fragen gegeben habe. Im Nachhinein ist er mir deshalb dankbar, weil er selber auf Lösungen kommen musste. Durch die selbst (gezwungenermaßen) gewonnenen Lösungen fühlt er sich nicht nur wohl, sondern wie befreit. 2. Ihm ist nun klar geworden, warum er eher entscheidungsunlustig und dadurch initiativlos ist. Durch die Vielzahl seiner gleichwertigen Motive und gleichbedeutsamen Werte, die er in dieser Wirkungsbedeutung bisher nicht erkannt hat, sieht er Begründungen für sein bisheriges Verhalten. 3. Völlig neu als Erkenntnis aus dem Coachingtag ist das Verhalten in Kontexten. Diese bewusste Fokussierung des eigenen reflektierten Verhaltens hat er bisher nicht gekannt. 4. Ihm ist jetzt klar, warum der erste Tag aus seiner Sicht für ihn so irritierend und verstörend verlaufen ist. Vorbereitung auf den 2. Tag (Folgecoaching) Im Telefonat „am Tag danach” bekräftigte der Coachee, dass er sein Coaching wie vereinbart weiterführen will. Im Mittelpunkt soll die Erstellung einer Marketingkonzeption durch ihn stehen. Ich bitte ihn, den Text „Marketing und Markenmanagement” durchzulesen (Text des Abstracts in diesem Buch). Zudem bitte ich ihn, alle Unterlagen zum aktuellen Thema der Marketingkonzeption (Ressourcen) mitzubringen, die er zur Verfügung hat. Außerdem bitte ich ihn, Unterlagen früherer von ihm erstellter Marketingkonzeptionen mitzubringen, ebenfalls die in seinem Besitz befindlichen Bücher, Seminarunterlagen und Präsentationen zum Thema. Drei Tage vor unserem nächsten Coachingtermin sende ich meinem Coachee folgende E-Mail: Unser Treffen am Donnerstag, 14.10.2010, 9.00 Uhr im Queens-Hotel, Hamburg. 239

Hier — Vorbereitung Guten Tag Herr ..., in Vorbereitung auf unser Treffen, habe ich folgende Bitten an Sie: 1. Bitte fassen Sie Ihre Erkenntnisse aus dem ersten Coachingtag vom 5.10.2010 zusammen. 2. Welches Thema genau wollen Sie am Donnerstag bearbeiten? 3. Warum machen Sie das Coaching (thematischer Kontext)? 4. Welche Fragen sollten aus Ihrer Sicht vor dem Coaching am Donnerstag geklärt sein? Ich bin Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir die Antworten bis Mittwoch gegen Mittag zu kommen lassen. Ich freue mich auf Donnerstag. Mit freundlichen Grüßen Dr. Rolf Meier Die Antwort des Coachee am Mittwochabend vor dem Coaching mit folgendem Inhalt: Lieber Herr Meier, 1. Bitte fassen Sie Ihre Erkenntnisse aus dem ersten Coachingtag vom 5.10.2010 zusammen. Die wesentliche Erkenntnis für mich ist, dass ich Schwierigkeiten bei der Entscheidungsfindung habe. Das zeigte sich mir im Nachhinein am prägnantesten an der Situation der zahlreich ausgewählten Werte-Karten. Ein weiterer Punkt, den ich mitgenommen habe, ist, dass ich viele Dinge nicht an mich heranlasse, um sie emotional oder intellektuell zu bearbeiten. Ich entscheide mich dabei tendenziell dazu, Dinge nicht zu tun als umgekehrt. Oder ich erkenne nicht, dass eine Entscheidung dafür getroffenen werden muss. 2. Welches Thema genau wollen Sie am Donnerstag bearbeiten? Ich würde gerne das Thema „Marketingkonzept” besprechen. Konkret möchte ich am Abend mit einem Konzept nach Hause fahren, das anschließend mit Daten gefüllt werden kann. Wichtig wäre mir dabei, von Ihnen Rückmeldung zu erhalten, wie Sie mich bei der Entscheidungsfindung wahrnehmen. 3. Warum machen Sie das Coaching (thematischer Kontext)? Ich strebe an, innerhalb des ... eine neue Aufgabe zu übernehmen. Ich möchte herausfinden, welcher Kontext für mich dabei am besten wäre, und ob ich eine Führungsrolle möchte oder nicht. Ich glaube heute, dass ich in der Lage bin, eine Führungsaufgabe zu übernehmen und dies auch möchte. Um eine solche Aufgabe übertragen zu bekommen, muss ich andere durch meine Handlungen und Verhaltensweisen davon überzeugen, dass ich Themen voranbringen kann. Ich erhoffe mir, durch einen Spiegel von außen Impulse zu erhalten, die mir helfen, mein Verhalten zu verändern. 4. Welche Fragen sollten aus Ihrer Sicht vor dem Coaching am Donnerstag geklärt sein? Ich habe derzeit keine Frage, die vor dem Coaching geklärt sein müsste. Jedoch würde ich gerne konkreter über mein Verhalten im privaten Kontext sprechen, und welche Parallelen es dazu im beruflichen gibt. (Beispiel: Es gibt ein „Dauerproblem” im Privaten, das ich mit sturer Vehemenz vermeide). Ich freue mich auf morgen. Gruß Der 2. Coachingtag Wir waren im selben Raum des Hotels und er war vergleichbar ausgestattet wie beim ersten Treffen. Meine Unterlagen waren identisch. 240

Coaching wirkt, wie sich an den Reaktionen des Coachee gezeigt hat. Hier insbesondere durch die konsequente Handhabung des Prozesses und der vier Werte und drei Anliegen im Coaching durch mich als Coach. Konsequent keine Beratung oder sonstige direkten oder indirekten Lösungshinweise zu geben, ist für den Reflexionsprozess des Coachee sehr bedeutsam, zumal er „gezwungen” wird, sich zu entscheiden, egal welches Ergebnis als Entscheidung entsteht. Für den Coachee ist es aber von Bedeutung, sich selber Einblick zu verschaffen, wie seine Entscheidungen zustande kommen. Quasi mit der Fragestellung: „Gibt es typische Muster der Entscheidungsfindung im Generellen oder sind die Muster abhängig von thematischen Kontexten?” Ich bin rechtzeitig im Raum, um Flipcharts zu erstellen. Es sind Fragen an den Coachee, die sich aus seiner E-Mail vom Vorabend ergeben. Dieses Vorgehen entspricht der Phase 3 „Ressourcenidentifikation” im Coaching. In dieser Phase werden die Ressourcen gefunden, aber auch in ihrer Entstehung, Interaktion und Wirksamkeit im Gesamtthema und Kontext gedeutet.

Was sagt Ihr Bauchgefühl? Prioritätensetzung 1 - 4

Damit Sie den Coach nicht benötigen:

• • • •

Woran erkennen Sie, dass Sie entscheiden?

Marketingkonzeption Arbeitskontext finden Führungsaufgabe? Dauerproblem im Privaten

Seit wann spüren Sie, dass Sie „Dinge‟ nicht an sich emotional/intellektuell an sich heranlassen? Welche „Dinge‟ sind das konkret?

Kontakt und Kontrakt Da wir uns eine gute Woche nicht gesehen und persönlich gesprochen haben, gilt es wieder einen guten Kommunikationskontakt herzustellen. Ich benutze Gleiches und Ähnliches zwischen Coachee und Coach. Dazu zählen die Fragen nach den Zwillingen und, was denn seine Frau zum Coaching sagt — meine Frau würde mich auch immer fragen, als Ausdruck der Anteilnahme. Da es seinen Zwillingen gut geht und die Gespräche mit seiner Frau über das Coaching mit mir sehr konstruktiv waren, hatten wir schnell wieder einen vertrauten „Ton”. Ich erkläre ihm noch einmal den Coachingprozess in aller Kürze. Das konkrete Coaching beginnt anders Ich biete dem Coachee an, sein Entscheidungsverhalten anhand konkreter, ihn berührender Arbeitsinhalte zu erkennen. Ich fordere ihn auf, alle Inhalte der Charts zu lesen, um sich dann zu entscheiden, mit welchem Chart er beginnen wolle, um es zu bearbeiten. Er entscheidet sich für eine bestimmte Abfolge der Bearbeitung. Daraufhin verwickele ich ihn in ein klassisches Reflexionsgespräch. In diesem Gespräch erkennt er, dass seine Entscheidungen maßgeblich von Motiven (Anerkennung und Sicher241

heit), Gefühlen, kontextbezogenen Bedürfnissen (Anerkennung von speziellen Personen) und seinen Werten (... so was tut man nicht) geprägt sind. Der Coachee entwickelt durch das Reflexionsgespräch eine für ihn hilfreiche „Feedbacksystematik” zur Entscheidungsentstehung in folgenden Schritten ...

Bedingungen für mein Bauchgefühl Sicherheitsbedürfnis über Rückmeldung von außen bestätigen dazu klare Kommunikation, was ich benötige (vor allem emotional)

Bedingungen für mein Entscheidungsverhalten Sicherheitsbedürfnis über Rückmeldung von außen bestätigen dazu klare Kommunikation, was ich benötige (vor allem emotional) bewusste aktive Veranwortungsübernahme

Was sagt Ihr Bauchgefühl? Prioritätensetzung 1 - 4 • Marketingkonzeption 1 • Arbeitskontext finden 2 • Führungsaufgabe? 4 • Dauerproblem im Privaten 3

Bedingungen für mein Entscheidungsverhalten Sicherheitsbedürfnis über Rückmeldung von außen bestätigen dazu klare Kommunikation, was ich benötige (vor allem emotional) bewusste aktive Veranwortungsübernahme • für ein Thema und ein Ereignis • die Struktur zur Bearbeitung • die Befähigung der Beteiligten • Betrachtung der Kontextbeteiligten politisch denken/systemisch handen

Damit Sie den Coach nicht benötigen Woran erkennen Sie, dass Sie entscheiden? Bedingungen für mein Entscheidungsverhalten Sicherheitsbedürfnis über Rückmeldung von außen bestätigen dazu klare Kommunikation, was ich benötige (vor allem emotional) bewusste aktive Verantwortungsübernahme • für ein Thema und ein Ereignis • die Struktur zur Bearbeitung • die Befähigung der Beteiligten • Betrachtung der Kontextbeteiligten politisch denken/ systemisch handen

Dabei hat der Coachee die Ausgangscharts während des Reflexionsgesprächs mit Inhalten gefüllt. Was sagt Ihr Bauchgefühl? Prioritätensetzung 1 - 4 • Marketingkonzeption 1 • Arbeitskontext finden 2 • Führungsaufgabe? 4 • Dauerproblem im Privaten 3

Seit wann spüren Sie, dass Sie „Dinge‟ nicht an sich emotional/intellektuell an sich heranlassen? seitdem ich meine Frau kenne in meiner Familie nicht üblich Welche „Dinge‟ sind das konkret? Konflikte wie Frau/Schwiegermutter in Situationen, bei denen ich mich mit mir selbst beschäftigt bin Ausgang unsicher

Ich habe dann den Coachee konfrontiert mit der Frage, ob er sich mit den jetzigen Erkenntnissen aus seinem Entscheidungsverhalten „seinen Misserfolg” als Führungskraft in der zurückliegenden Berufsphase erklären und begründen kann. Der Coachee erkennt, dass er seine Entscheidungen, die sich im Grunde auch auf andere auswirken sollen, nur auf der Basis seiner Interessen entwickelt und gefällt hat. Zudem erkennt er, dass er während der Entscheidungsfindung wenig mit den Beteiligen kommu-

242

niziert hat. Ebenso hat er nach Fällen der Entscheidung darüber gar nicht oder wenig mit anderen kommuniziert. Im Sinne der Grundeinsicht acht des Führungsverständnisses „politisch denken — systemisch handeln” hat der Coachee nach nunmehr eigener Erkenntnis nicht gehandelt. Zu seiner Überraschung verhält er sich im Privaten vergleichbar. Dauer dieser Phase: ca. 95 Minuten. Der Wunsch des Coachee war, dass ich ihm Rückmeldung zu seinem Entscheidungsverhalten geben sollte — was ich nicht tat. Dafür haben wir vereinbart, dass ich immer unterbreche, wenn er offensichtlich eine Entscheidung getroffen hat, mit der Bitte, sein Entscheidungsverhalten anhand der selbst kreierten Feedbacksystematik zu controllen. Ich habe den Coachee während des Coaching oft unterbrochen, um ihm die Möglichkeit zu geben, über die Entscheidungsentstehung zu reflektieren. Wir machen eine 10-minütige Pause. Die Methodik des Coachingprozesses beginnt wieder neu Dann sind wir zu dem eigentlichen Thema des Coaching gekommen. Ich habe dem Coachee erklärt, dass jedes Coaching — im Sinne der Erkenntnisgewinnung und des Kreierens von Handlungsalternativen — der gleichen Prozedur unterworfen ist. Zudem bat ich ihn, genau auf den Prozess zu achten, damit er sich bei vergleichbaren Themen in der Zukunft selber coachen kann. Ich habe dem Coachee wieder ein Laminat zur Selbstkontrolle überlassen, um die einzelnen detaillierten Coachingschritte im Blick zu behalten. Das Coaching verlief im Gegensatz zum ersten Tag sehr strukturiert und organisiert. Offensichtlich hatte der Coachee inzwischen für sich eine Orientierung für seine Verhaltensänderungen gefunden. Am Ende des Tages hat der Coachee meine Vermutung bestätigt. Visuelle Aufstellung des Themas

Es erfolgte nun die erste Phase der visuellen Aufstellung.

Wettbewerber Kunden Marketingkonzeption

Vertriebsmitarbeiter Personaler Vorstand

Produkte Fachabteilung bei ...

Budget

Vorgesetzter

243

Die in dieser visuellen Aufstellung gelegten Begriffe hinterfrage ich nach Bedeutung und Differenzierung. Hier kommen insbesondere offene aber auch hypothetische Fragen zum Zuge.

Mitarbeiter am Thema MA

Wettbewerber regionale Kunden Zielgruppen 150 Entpotenz. scheider Abnehmer

MA

MA MA

MA Vertriebsmitarbeiter

bekannt

Marketingkonzeption Personaler

Services Aftersales ?

Produkte Leistungskatalog akt.

Kosten TAT Marktpreise

Vorstand

Fachabteilung bei ... Abstimmung

Vorgesetzter

Budget Durchführung

In der zweiten Phase der visuellen Aufstellung habe ich als strukturierte Basis der Wahrnehmungserweiterung das St. Galler Management-Modell genommen. Es hat 22 Merkmale, die alle zum Einsatz kamen mit der typischen Fragestellung in dieser Situation: „Hat Ihr Thema Marketingkonzeption etwas mit ... zu tun?” Die 22 Merkmale können der Grafik weiter oben entnommen werden.

244

Gesellschaft Umweltschutz

Behörden

Kunden der Kunden

bekannt

Mitarbeiter am Thema

Wettbewerber

MA MA

regionale Zielgruppen

MA Anliegen und Interessen

Erneuerung MA

150 potenzielle Abnehmer Entscheider Kultur Normen und Werte

Marketingkonzeption Unterstützungsprozess Marketing

Personaler

Strategie

Vorstand

Services Produkte Aftersales ?

interne Lieferanten

Leistungsneue katalog Produkte aktuell Technologie

LeistungsopKosten timierung

TAT

MA

Vertriebsmitarbeiter

Kunden

Vorgesetzter

Fachabteilung bei ...

Umsetzungsstruktur parallele Abteilungen

Abstimmung

Budget Durchführung

interne Konkurrenz

Budgetoptimierung

Marktpreise

Daraufhin bitte ich den Coachee gemäß Anforderung des dritten Abschnittes der visuellen Aufstellung, seine 45 beschriebenen Karten zu Bedeutungskontexten zusammenzufassen und jeden einzelnen Kontext mit einem Oberbegriff zu versehen.

245

Umweltschutz

Behörden

Wettbewerber

Gesellschaft Kunden der Kunden

bekannt Kunden regionale EntscheiZielgruppen 150 der potenzielle Abnehmer

Vertriebsprozesse

Rahmenbedingungen pot. Unterstützer

Kultur Normen und Werte

Anliegen und Interessen

Leistungskatalog aktuell

Aftersales ?

Leistungsop- Kosten timierung

Mitarbeiter am Thema

Marketingkonzeption

Produkte Services

Erneuerung

interne Lieferanten

Unterstützungsprozess Marketing

Strategie

Personaler

neue Produkte

Markt- Technologie preise

Vorgesetzter Vertriebsmitarbeiter

Meinungsbildner Fachabteilung bei ...

Abstimmung

MA

Budget Durchführung

interne Konkurrenz

Budgetoptimierung

Es entstanden folgende acht Bedeutungskontexte: • Produkte • Kunden • Kunden der Kunden • Wettbewerber • Meinungsbildner • Potenzielle Unterstützer • Rahmenbedeutung • Entscheider für persönliches Fortkommen 246

Vorstand

Entscheider f.persönl. Fortkommen MA

MA

Umsetzungsstruktur parallele Abteilungen

MA MA

Die Zielformulierung Die Zielformulierung erfolgte vom Coach sehr leicht und schnell. Ziel: Heute Abend werde ich ein Gerüst eines Marketingkonzeptes erstellt haben, das in Folge mit Daten befüllt werden kann und aus dem ein roter Faden ersichtlich ist „für den Bereich Externe Einzelteil-Reparatur”.

Die Fragen „Können Sie das Ziel selbst erreichen? Ist das Ziel herausfordernd? Ist das Ziel für Sie Sinn stiftend?” beantwortete der Coachee alle mit fester Stimme: „Ja!” Mittagspause von 12.30 bis 13.30 Uhr Entwicklung von Zielerreichungsmerkmalen Der Coachee kannte vom ersten Coachingtag die Prozedur mit den Zielerreichungsmerkmalen, die er nach kurzer Erklärung sehr selbstständig ausgeführt hat.

Wettbewerber festgelegt Ich habe mir überlegt, welche Kennzahlen Merkmale ich erfassen möchte mit und wie ich sie darstellen möchte -> klares Bild der Wettbewerber Kunden Merkmale Kennzahlen überlegt + Darstellung festgelegt Kunde ist deutlich dargestellt

Produkte Ich habe festgelegt wie ich zu einem übersichtlichen Produktkatalog komme sind vollständig dargestellt

Potenzielle Unterstützer Die Konzeption berücksichtigt die Interessen der potenziellen Unterstützer finden das Thema unterstützenswert

Kunden d.Kunden die Interessen/Bedürfnisse sind berücksichtigt Produkte/Leistungen der Kunden sind attraktiver

Meinungsbilder Die Konzeption berücksichtigt eine Rücksprache inhaltliche Mitwirkung mit den Meinungsbildern fühlen sich wertgeschätzt und unterstützt

Entscheider für Fortkommen Die Meinungsbildner und andere Beteiligte finden das Konzept gut positiver Eindruck ...

Rahmenbedingungen Interessen/Einflussgrößen der Rahmenbedingungen sind im Konzept berücksichtigt die Umsetzbarkeit wird gefördert

Ressourcenidentifikation Für diese Arbeitsphase habe ich mich als Coach für das Kompetenzmodell als strukturelle Ressource entschieden. Ich erkläre dem Coachee das Modell und seine Handhabung in dieser Phase des Coachingprozesses. Am ersten Tag hatte der Coachee schon einige Ressourcen mittels des Kompetenzmodells gefunden. Er entscheidet sich auf diese Ressourcen zurückzugreifen, da er sie im Zusammenhang mit dem aktuellen Thema identifiziert. In Vorbereitung auf das Coaching habe ich drei strukturelle Ressourcen für das Coaching identifiziert und mitgebracht: 247

• •

Artikel Marketing und Markenmanagement (wie hier im Buch gedruckt), eine DIN-A4-Seite, beschrieben mit wichtigen Marketingbegriffen von Seminarteilnehmern, die Marketingseminare besucht hatten, • 14 Folien zum Thema Marketing eines professionellen Marketingberaters. Dieses drei strukturellen Ressourcen biete ich ihm an, mit der Bitte, diejenigen zu identifizieren, die nach seiner Meinung mit seinem Thema Marketingkonzeption im Zusammenhang stehen.

Diese Phase ist gegen 15.30 Uhr abgeschlossen. Wir machen eine 10-minütige Pause. Entwicklung von Handlungsalternativen Am ersten Coachingtag ist der Coachee nicht in diese Phase gekommen. Deshalb habe ich ihm die Wirkungserwartung und das Vorgehen erklärt, damit er handlungsfähig wird. Das Entwickeln von Handlungsalternativen (H) für jedes Zeilerreichungsmerkmal aus speziellen Ressourcen ist dem Coachee sehr leicht gefallen.

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Wettbewerber festgelegt Ich habe mir überlegt, welche Merkmale ich erfassen möchte mit und wie ich sie darstellen möchte -> klares Bild der Wettbewerber Liste aller Wettbewerber erstellen mit Kriterien • Produktportfolio H • Marketingmix > Preisstrategie • Distribution Benchmark festlegen Kunden Merkmale Kennzahlen überlegt + Darstellung festgelegt Kunde ist deutlich dargestellt • Liste potenzieller Kunden, pers.Kontakte bei Kunden • Segmentierung der Kunden H • Bedürfnisse der Kundensegmente beschreiben • Einflussgrößen zum Kaufverhalten ermitteln

Produkte Ich habe festgelegt wie ich zu einem übersichtlichen Produktkatalog komme sind vollständig dargestellt 2)vorhandene Datenbasis sichten, Lücken feststellen 1)Zielformat festlegen inkl.Kriterien, die darH gestellt werden sollen 3)Arbeitsumfang ermitteln, der notwendig ist, um Lücken zu füllen

Potenzielle Unterstützer Die Konzeption berücksichtigt die Interessen der potenziellen Unterstützer finden das Thema unterstützenswert Termin vereinbaren, Themen zu erläutern H und um Mitwirkung zu werben

Entscheider f.Fortkommen Die Meinungsbildner und andere Beteiligte finden das Konzept gut positiver Eindruck ... Meinungsbilder Dafür Sorge tragen, Die Konzeption berückdass Beteiligte den Entsichtigt eine Rücksprache H scheidern positiv berichinhaltliche Mitwirkung ten mit den Meinungsbildern fühlen sich wertgeschätzt und unterstützen Termin vereinbaren, um Meinungsbildnern die H Aufgabe zu erläutern & Interesse

Kunden d.Kunden die Interessen/Bedürfnisse sind berücksichtigt Produkte/Leistungen der Kunden sind attraktiver Liste pot. Kunden d. erstellen, in H Kunden Kunden hineinversetzen und Interessen ermitteln Rahmenbedingungen Interessen/Einflussgrößen der Rahmenbedingungen sind im Konzept berücksichtigt die Umsetzbarkeit wird gefördert Rahmenbedingungen detaillieren (mit „InterH nen”) und als Checkliste abhaken

Nach den Phasen im Cochingprozesses gilt es nun, durch den Coach den Handlungsplan nach der Priorität der Arbeitsschritte zu bestimmen. Dafür habe ich alle vier Charts mit den Zielerreichungsmerkmalen nebeneinander aufgereiht.

Der Coachee kommt zu folgendem Ergebnis: Handlungsplan-Abfolge 1

Meinungsbildner

5

Produkte

2

pot. Unterstützer

6

Rahmenbedingungen

3

Kunden

7

Kunden d. Kunden

4

Wettbewerber

8

Entscheider

249

Analyse potenzieller Probleme Die Analyse potenzieller Probleme ergibt aus der Vermutung des Coachee folgendes Bild (mit den möglichen Alternativhandlungen): Analyse potenzieller Probleme • • •

weitere Aufgaben kommen hinzu -> Rückmeldung geben, dass weitere Aufgabe erst später erledigt werden kann Detailfragen von Meinungsbildnern erneuten Termin nach Fortschritt vereinbaren Datenermittlung könnte sich als schwierig erweisen Mehraufwand mit pot. Entscheidern abgleichen

Gerüst der Marketingkonzeption Da der Coach ein Gerüst des Marketingkonzeptes am Ende des Coaching haben wollte, gilt es nun so ein Gerüst zu kreieren. Ich bitte den Coachee, seine Ressourcen zu identifizieren. Er kommt selber auf den Begriff „Summary”, wie in er Bewertungskonzepten verwandt wird. Die Summary sollte maximal zehn Seiten umfassen im Sinne einer Präsentation. Die Hauptgliederung und einige sinnvolle Unterpunkte werden von dem Coachee wie folgt erstellt:

Einstieg Wann?

Ausgangssituation Markt

Ziel Vertriebsplan Kunden

Weg zum Ziel MarketingMix

Umsätze

Produkt

Kunden Kundengruppen Wettbewerber

Kernprozesse

Produktionsprozess

Price

Promotion

Vertriebsprozess

Regionen Produkte (eigene Prod.)

People

Kundenbetreuungsproz.

Prozess Physical evidence

250

Logistik

Controlling Anpassung

Kennzahlen festlegen

Das Coaching war damit zu Ende, da der Coachee sein Ziel erreicht hat. Er war sehr froh gelaunt. Wir beendeten das Coaching mit: „Meine wichtigsten Erkenntnisse des Tages.” Meine wichtigsten Erkenntnisse des Tages: Ich verfalle bei Entscheidungen in gewohnte Muster, die für eine Situation nicht ideal sind. Regelmäßig Entscheidungen hinterfragen und erneut anhand Entscheidungsbedingungen treffen Erinnerungsmechanismen einrichten Outlook Auto Frau Post-it

Controlling Der Coachee will alle Erkenntnisse bei sich zu Hause dokumentieren und in eine präsentable Struktur bringen. Diese Unterlage will er mir verabredungsgemäß zusenden. Ansonsten will er keine weitere Unterstützung, da ihm nun alles klar ist. Das Coaching ist beendet. Wir verabreden, dass der Coachee sich wegen weiterer Termine bei mir melden würde. Es stehen ja noch die Themen „Geeignete Führungsposition” und „Will ich Führungskraft sein?” zur weiteren Bearbeitung an. Verabschiedung Bei der Verabschiedung frage ich den Coachee, mit welchem Wert er auf einer Skala von 1 (wenig Bedeutung) bis 10 (höchste Bedeutung) sein psycho-biologisches Wohlbefinden nach diesem Coachingtag einschätzt. Er antwortete lächelnd: 10,6. Ende gegen 17.30 Uhr.

251

10 Ausbildungsbezogenes Wörterbuch Das nachfolgende, ausbildungsbezogene Wörterbuch, in dem Personen, Begriffe, Modelle, Theorien, Axiome und Werkzeuge schlagwortartig vorgestellt werden, ist beispielhaft für eine existierende Coachausbildung entworfen worden. Die Teilnehmer haben dadurch die Möglichkeit, die in der Ausbildung teilweise verwendeten Begriffe nachzulesen. Unser Tipp ... für jede Coachausbildung ein eigenes themenbezogenes Wörterbuch zu erstellen. So ein Begriffsregister wird nicht vollständig sein oder jedem individuellen Anspruch und Geschmack genügen. Ein Register mit „Mindestcharakter“ erleichtert in der Ausbildung die wissensbasierte Kommunikation zwischen Ausbildern und Teilnehmern, aber auch zwischen den Teilnehmern untereinander. Sie erleichtert und stabilisiert die Identifikation mit der Ausbildung. A Absicht, die das Bedürfnis, etwas zu verwirklichen. Abstraktion, die ein induktiver Prozess des Weglassens von Einzelheiten und des Überführens in das Generelle der Einzelteile. affektive Lernziel, das beschreibt Lernvorgänge in Bereichen der Identifikation, Bewertung, Veränderung und Stabilisierung von Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen und Werten. Alternative, die lateinisch alternare = abwechselnd, wechselweise; bedeutet die Wahlmöglichkeit zwischen zwei sich ausschließenden Optionen, z.B. links oder rechts, ja oder nein, an oder aus usw.; nicht zu verwechseln mit Möglichkeiten und Varianten. Analyse, die allgemeiner Begriff für eine systematische Untersuchung, bei der das zu untersuchende Objekt/ Subjekt in seine Bestandteile zerlegt wird, um anschließend geordnet, untersucht und ausgewertet zu werden. analytisch bedeutet zergliedernd oder logisch, systematisch; Gegenwort = synthetisch. analytische Denken, das entspricht im Coaching dem vernetzten bzw. systemischen Denken, das heißt, dem Denken in geordneten Zusammenhängen. Andragogik, die Kunstwort aus den griechischen Bestandteilen aner = Mensch bzw. andros = Mann und agein = führen bzw. agoge = Führung und steht für Menschenführung. Der Begriff wird für die Erwachsenenpädagogik/Erwachsenenbildung benutzt und bezeichnet ein differenziertes Wissenschaftsund Praxisfeld. Angebot, das rechtlicher Begriff für die Willenserklärung auf Schließung eines Vertrages; muss den Inhalt und den Gegenstand bestimmen, sodass der Andere nur noch mit Ja zu antworten braucht. Näheres ist in §§ 145 ff. BGB geregelt.

252

Annahme, die zivilrechtlicher Begriff für jede ausdrückliche oder konkludente positive Reaktion auf das Angebot. Man spricht von einer konkludenten Willenserklärung, wenn sie ohne ausdrückliche Erklärung durch schlüssiges Verhalten abgegeben wird. Die Willenserklärung wird aus den Handlungen des Erklärenden abgeleitet. Anspruch, der 1. Umgangssprachlicher Begriff für alle Bedürfnisse, Wertvorstellungen und Erwartungen eines Menschen im Kontext, z.B. eine anspruchsvolle Tätigkeit bezieht sich auf die Herausforderung oder die anspruchsvolle Kunst bezieht sich auf das Wissen und das Verständnis. 2. Rechtlicher Begriff für den Anspruch einer Person auf ein Tun oder ein Unterlassen von einer anderen Person. Dabei muss der konkrete Sachverhalt sich auf mindestens eine Anspruchsgrundlage stützen. Antithese, die griechisch anti = gegen und thesis = Behauptung, Leitsatz; allgemeiner Begriff für den Gegensatz, die Opposition bzw. die Gegenbehauptung zu einer Ausgangsbehauptung (sog. These). Arbeitsvertrag, der schuldrechtlicher Begriff für einen Vertrag zur Begründung eines privatrechtlichen Schuldverhältnisses über die entgeltliche Erbringung einer Dienstleistung. Der Arbeitsvertrag ist eine Unterart des in §§ 611 ff. BGB geregelten Dienstvertrages. Im Unterschied zum freien Dienstverhältnis ist das durch den Arbeitsvertrag begründete Arbeitsverhältnis von der persönlichen Abhängigkeit des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber gekennzeichnet. Der Arbeitnehmer kann im Wesentlichen nicht selbst seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen. Vielmehr ist er in die Arbeitsorganisation des Arbeitgebers eingegliedert und unterliegt typischerweise den Weisungen des Arbeitgebers über Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit. Aristoteles 384-322 v.Chr. — einflussreichster Philosoph, da er zahlreiche Disziplinen entweder selbst begründet oder maßgeblich beeinflusst hat wie ... 1. Biologie (Methodologie als Trennung von Fakten und Ursachen), 2. Dichtungstheorie (sog. Poetik), 3. Ethik (Glück als das Ziel des guten Lebens, Tugenden, Lebensformen und Lust), 4. Logik (Bedeutungstheorie, Prädikate und Eigenschaften, Deduktion und Induktion, Dialektik als Theorie der Argumentation, Rhetorik als Theorie der Überzeugung, syllogistische Logik), 5. Physik (Ontologie und Theologie), 6. Psychologie (Theorie des Lebendesign), 7. Staatslehre (als politische Philosophie, Bestandteile des Staates, Bürger und Verfassung eines Staates), 8. Wissenschaftstheorie (Wissen und Wissenschaft). Assoziation, die französisch association = Vereinigung; allgemeiner Begriff für die Vereinigung, den Zusammenschluss; psychologischer Begriff für die Verknüpfung von Vorstellungen, von denen die eine die andere hervorgerufen hat; sprachwissenschaftlicher Begriff für die klangliche, inhaltliche, formale assoziative Beziehung zwischen sprachlichen Zeichen, sodass auch die Assoziation von Gegenwörtern (sog. Antonyme) dazu gehören; nach den auf ARISTOTELES zurückgehenden primären Assoziationsgesetzen hängt die Assoziationsstärke zweier Reize von ... 1. ihrer räumlichen Nähe, 2. ihrer zeitlichen Nähe und 3. ihrer Gegensätzlichkeit ab. 253

Nach den von THOMAS BROWN ergänzenden sekundären Assoziationsgesetzen ist die Verbindungsstärke zweier Reize abhängig von ... 1. ihrer jeweiligen Intensität, 2. der Häufigkeit ihres gemeinsamen Auftretens, 3. der Zeit, die seit dem letzten gemeinsame Auftreten vergangen ist und 4. der Anzahl mit dieser Verknüpfung konkurrierender Verknüpfung. Gegenwort: Dissoziation. assoziiert lateinisch associare = vereinigen, verbinden, verknüpfen; Begriff aus der Teilbarkeitslehre der Mathematik: zwei Elemente sind assoziiert, wenn sie wechselseitig teilbar sind; Begriff aus der Psychologie: eine bewusste oder unbewusste Verknüpfung von Gedanken. Gegenwort = dissoziiert. Im Coaching bedeutet assoziiert, emotional mit seinen eigenen Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen in Kontakt zu stehen mit der Folge, Sachzusammenhänge aus der eigenen Person heraus zu deuten und aufgrund der emotionalen Spannung keinen ausreichenden Zugriff auf seine Ressourcen zu haben. Autonomie Möglichkeit, sich ohne gewollten Einfluss von außen selbst organisieren zu können. autoritär aus der Deutung der eigenen Person heraus. Attribut, das lateinisch attribuere = zuteilen, zuordnen; grammatikalischer Begriff für eine Beifügung zur näheren Bestimmung eines Substantivs; philosophischer Begriff für wesentliche und notwendige Eigenschaften von Gegenständen; logischer Begriff zur Entscheidungsfindung. Auftrag, der schuldrechtlicher Begriff für ein Rechtsgeschäft, das den Beauftragten verpflichtet, unentgeltlich das übertragene Geschäft zu besorgen; Unentgeltlichkeit bedeutet, dass keine Vergütung gezahlt wird; jedoch kann der Beauftragte Ersatz für seine Aufwendungen nach § 670 BGB verlangen; dafür ist er zur Herausgabe des durch den Auftrag/der Geschäftsbesorgung Erlangten nach § 667 BGB verpflichtet. Näheres regeln die §§ 662 — 674 BGB. In der öffentlichen Verwaltung ist das Synonym für Auftrag die Weisung. Autopoiesis, die altgriechisch auto = selbst und poisies = schaffen, bauen; neurobiologischer Begriff von HUMBERTO MATURANA in den Konstruktivismus eingeführt und bezeichnet den Prozess der Selbsterschaffung und Selbsterhaltung eines Systems; die Umwelt hat auf autopoietische Systeme (außer deren Zerstörung) keinen direkten Einfluss, da autopoietische Systeme in sich (operativ) geschlossen sind. Folgende Organisationsmerkmale sind charakteristisch: 1. Rekursivität (Produkt/Ergebnis stammt aus der eigenen Organisation) 2. Erkennbare Grenzen 3. Konstitutive Elemente/Komponenten 4. Mechanistisch (Relationen zwischen Komponenten bestimmen die Eigenschaften des Gesamtsystems) 5. Grenzkomponente sind Folge der Relationen und Interaktionen der Komponenten Autopoiesis ist ein Schlüsselbegriff der „Soziologischen Systemtheorie” von NIKLAS LUHMANN; die Hamburger Schule bedient sich dieser Erkenntnisse für die Erklärungssystematik der „Theorie vom Selbstorganisierten Coaching“. 254

autoritär aus der Deutung der eigenen Person heraus. Axiom, das griechisch axioma = als wahr angenommener Grundsatz; wissenschaftlicher Begriff für einen unbeweisbaren, aber in sich einsichtigen Grundsatz, der als Ausgangspunkt einer Theorie dient; folgende drei Grundbedeutungen werden verwendet: 1. Ein unmittelbar einleuchtender Grundsatz (klassischer Axiombegriff) 2. Ein vielfach bestätigtes allgemeines Naturgesetz (naturwissenschaftlicher/physikalischer Axiombegriff) 3. Ein zu Grunde gelegter, nicht abgeleiteter Ausgangssatz (moderner Axiombegriff) Die Hamburger Schule stellt für das Coaching 20 und für das Lernen 10 Axiome auf. Axiome (Coaching) der Hamburger Schule, die 1. Coaching vollzieht sich unter den verschiedensten Rahmenbedingungen; entscheidend ist die Beachtung folgender Werte: • Freiheit — durch den Coachee, die Gruppe oder das Team selbst festgelegte nachhaltige Selbstlernkonzeption • Freiwilligkeit — der Coachee, die Gruppe oder das Team entscheiden ihre Veränderungsthematik und den Zeitpunkt • Ressourcenverfügung — der Coachee, die Gruppe oder das Team haben selbstständigen Zugriff auf die Ressourcen, die zur Selbstorganisation und Veränderungsrealisierung benötigt werden • Selbststeuerung — der Coachee, die Gruppe oder das Team sind in der Lage Veränderungsanforderungen selbst zu erkennen und selbst zu realisieren 2. Coaching muss der Komplexität der Lebens- und Erfahrungswelt des Coachee, der Gruppe oder des Teams gerecht werden. In diesem Sinne ist Coaching immer „systemisch”. 3. Coaching führt den Coachee, die Gruppe oder das Team vom linearen zum vernetzten Denken und Handeln. Es geht darum, Freiheitsgrade für eigenes Verhalten innerhalb eines „Bezugskontextes” zu identifizieren und zu „Vergleichbarem” zu erweitern. 4. Coaching basiert auf Modellen wissenschaftlicher Erkenntnis. 5. Coaching definiert sich über eine wertegeleitete Arbeitshaltung und operationalisierbares Handwerk (Einhalten der Prozessstruktur). 6. Die Lösung liegt im Coachee, in der Gruppe oder im Team. 7. Erfahrungen bilden die Grundlage jeder individuellen und kollektiven Wirklichkeitskonstruktion. 8. Systemisches Denken und konstruktivistisches Denken und Handeln sind nicht identisch, ergänzen sich aber. 9. Motivgeleitete Interessen und Erkenntnisse bilden einen Zusammenhang. 10.Menschen orientieren sich innerhalb individuell definierter und gedeuteter Kontexte an Werten. 11.Ein Kontext (Konstrukt oder auch Handlungssystem) ist dem Individuum, der Gruppe oder dem Team dann bewusst, wenn er/sie ihn kognitiv erschließen kann/können. 12.Körper, Gehirn, Geist und Emotionen bilden eine unzertrennbare Einheit. 13.Entscheidungen für ein Verhalten/eine Handlung werden durch Motive/Bedürfnisse von innerhalb durch Werte gedeuteten Kontexten beeinflusst. 14.Menschen handeln, da sie für sich einen persönlichen Vorteil im Sinne der Erfüllung von Motiven, Bedürfnissen und Werten erwarten. Dies gilt auch für Gruppen und Teams. 255

15.Werte entstehen durch wiederholtes, individuell erfolgreiches Handeln/Verhalten in einem spezifischen Kontext. 16.Grundsätzliche Verhaltensmuster ergeben sich aus Werten, die für das Individuum, die Gruppe oder das Team kontextübergreifend gelten. 17.Werte, die handlungsleitend sind, aber hinsichtlich ihrer Bedeutung nicht reflektiert werden, führen zu Glaubenssätzen. Glaube ist ein Wertekontext, der nicht hinterfragt wird. 18.Leitwerte sind Werte, die für das Individuum, die Gruppe oder das Team in allen konstruierten Kontexten gelten. Sie bilden die Schnittmenge aller Werte innerhalb dieser Kontexte. 19.Werte bilden die Grundlage für Entscheidungen. Der Beginn einer Entscheidung ist die gefühlsmäßige Wahrnehmung eines Wertes. Der Abschluss einer Entscheidung begründet einen Wert (subjektiv) rational. 20.Wahrnehmung basiert auf der Wahrnehmung von Unterschieden. Axiome (Lernen) der Hamburger Schule, die • Bewusste und unbewusste Erfahrungen von Ausbilder und Lernenden sind systemisch-konstruktivistische Rahmenbedingungen für das Lernen. • Lernen ist ein systemisch-konstruktivistischer Prozess, der vom Lernenden bewusst gesteuert werden kann. • Lernen erfolgt in Abhängigkeit von individuellen Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen, Werten, Intellekt und Selbstwirksamkeitserwartungen innerhalb systemisch-konstruktivistisch gedeuteter Kontexte. • Lernen ist im Ergebnis individuell pragmatisch und unvorhersehbar. • Lernen löst Bewusstsein und Motivation für routinierte Lösungsstrategien innerhalb bekannter Kontexte aus. • Lernen löst kreative und gewollte Lösungsstrategien für unbekannte Verhaltenskontexte aus. • Ausbilder sind Organisatoren individuell authentischer, komplexer Lehr-, Lern- und Anwendungskontexte. • Lernen erfordert Rückmeldungen über Unterschiede und Übungen aus dem Lehr-/Lernkontext zur individuellen Orientierung. • Faktenwissen und Faktendeutungen von Ausbildern und Lernenden sind untereinander vernetzt und individuell in unterschiedliche Anwendungskontexte transferfähig. • Lerner sind in der Regel kompetenter in ihren Anwendungskontexten als Ausbilder. Axiomatik, die wissenschaftlicher Begriff für die Gesamtheit der als wahr angenommenen Grundsätze/Axiome. B Bedürfnis, das 1. allgemeiner Begriff für den Wunsch, einem empfundenen oder einem tatsächlichen Mangel Abhilfe zu schaffen; 2. psychologischer Begriff für einen spezifischen Beweggrund für ein Verhalten. Beeinflussung, die allgemeiner Begriff für eine wertneutrale Technik, die gezielt und verdeckt auf Personen/Sachen/Prozesse einwirkt; die Hamburger Schule versteht unter Beeinflussung die Aufgabe des Coach, den Coachingablauf zu organisieren und ist dafür verantwortlich, in dem er Interventionen setzt; nach der Hamburger Schule darf Beeinflussung nicht mit Manipulation verwechselt werden.

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Begabung, die ist eine themenspezifische individuelle Ressource, die sich in einem konkreten Kontext als vorteilhaft unterscheiden lässt. Behaviorismus, der abgeleitet vom englischen Wort behavior = Verhalten; bezeichnet einen wissenschaftstheoretischen Standpunkt, dass das Verhalten von Tier und Mensch mit den Methoden der Naturwissenschaft untersucht werden kann. Die dem beobachtbaren Verhalten zugrunde liegenden physiologischen Vorgänge gelten dem Behavioristen als uninteressant, denn er konzentriert sich auf die Prozesse, welche sich zwischen Organismus und der Umwelt abspielen. Der Organismus wird als Black-Box bezeichnet. Die Nutzenanwendung des Behaviorismus kommt z.B. bei systematischer Desensibilisierung von Patienten mit einer Phobie/Behandlung von frühkindlichem Autismus oder z.B. das programmierte Lernen, die Sprachlabore sowie die Software zum Selbststudium am Computer zur Anwendung. Beratung, die umgangssprachlicher Begriff für einen kommunikativen Austausch von (Fach-)Wissen zur Lösung eines Problems mit der Hauptintervention des Ratschlages, des Vorschlages oder des Hinweises. Wichtige Beratungsformen sind zu unterscheiden: 1. Berufsberatung, 2. Bildungsberatung, 3. Ernährungsberatung, 4. Erziehungsberatung, 5. psychologische Beratung (nach der Zulassung als psychologischer Arzt/Psychotherapeut/ psychologischer Psychotherapeut), 6. Rechtsberatung (nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz), 7. soziologische Beratung usw. Nach der Hamburger Schule ist im Coaching von Beratung grundsätzlich abzugrenzen. Berufsfreiheit, die rechtlicher Begriff für ein Grundrecht aus Art. 12 GG; ist lex specialis zur allgemeinen Handlungsfreiheit und konkurriert mit anderen speziellen Grundrechten; dient dem Schutz der Berufswahl und der Berufsausübung; Beruf bedeutet jede Tätigkeit, die in ideeller (immaterieller) wie in materieller Hinsicht der Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage dient und muss auf Dauer angelegt sein (nachhaltig); im Umkehrschluss sind die kostendeckende Tätigkeit und das Hobby nicht erfasst. Beispielhaft ist jede selbstständige und unselbstständige, hauptberufliche und nebenberufliche Tätigkeit geschützt; der Schutz der Berufsfreiheit erfährt seine Begrenzung (sog. Schranke) nach der Stufenlehre aus dem Apotheken-Urteil (BVerfGE 25, 1). 1. Ausübungsregelungen 2. Subjektive Zulassungsregeln 3. Objektive Zulassungsregelungen Die Schranke muss selbst auch rechtsstaatlichen Grundsätzen genügen (sog. Schranken-Schranke) wie dem Bestimmtheitsgebot und dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Betrieb, der organisatorischer Begriff für eine systemunabhängige Wirtschaftseinheit zur Fremdbedarfsdeckung. Im Arbeitsrecht existiert keine einheitliche Definition: nach dem BetrVG wird unter Betrieb eine organisatorische Einheit, innerhalb derer der Arbeitgeber alleine oder mit seinen Arbeitnehmern mit Hilfe von technischen und immateriellen Mitteln bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt, die sich nicht nur in der Befriedigung von Eigenbedarf erschöpfen, verstanden. 257

C Coach, der die Coachs pl., des Coach; Person, die die Dienstleistung Coaching anbietet. Coachee, der die Coachees pl., des Coachee (genitiv); Person, die die Dienstleistung Coaching in Anspruch nimmt. Coaching, das Coaching ist der durch die Werte Freiheit, Freiwilligkeit, Ressourcenverfügung und Selbststeuerung gebildete Kontext, in dem mit Hilfe des strukturierten Coachingprozesses, in Bezug auf ein Thema die Wahrnehmung erweitert, die Entscheidungsfähigkeit gefördert und Verhaltensalternativen ausgelöst werden, um eine emotional gewollte und nachhaltige Selbstlernkonzeption des Coachee, der Gruppe oder des Teams zu erreichen. Coachingabgrenzung, die nach der Hamburger Schule ist Coaching eine eigenständige Dienstleistung, die sich von ... 1. Therapie, 2. Training, 3. Beratung, 4. Supervision, 5. Mediation usw. abgrenzt. Coachingablauf, der Synonym für Coachingprozess Coachingansatz, der meint die Wirkungserwartung an das Coaching aus der sich die Verwendung des Prozesses von Werten, Modellen, Methoden und Werkzeugen ableitet. Coachingdefinition nach der Hamburger Schule, die Coaching ist der durch die Werte Freiheit, Freiwilligkeit, Ressourcenverfügung und Selbststeuerung gebildete Kontext, in dem mit Hilfe des strukturierten Coachingprozesses, in Bezug auf ein Thema, die Wahrnehmung erweitert, die Entscheidungsfähigkeit gefördert und Verhaltensalternativen ausgelöst werden, um eine emotional gewollte und nachhaltige Selbstlernkonzeption des Coachee, der Gruppe oder des Teams zu erreichen. Coachingfragen, die Begriff für Fragen, die in ihrer Absicht die Wirkungserwartung von Coaching unterstützen. Allgemein unterteilbar in ... 1. geschlossene Fragen, 2. offene Fragen, 3. zirkuläre Fragen, 4. skalierende Fragen, 5. hypothetische Fragen. Coachkompetenz, die Synonym für die Handlungskompetenz eines Coach, die sich darin ausdrückt, dass ein Coach den Sinn des Kontextes Coaching, sowie Unterschiede zu anderen Kontexten erkannt hat und im Coaching die Koordination aller persönlichen Ressourcen selbstgesteuert in einem situativindividuellen Handeln realisiert (siehe Kompetenzmodell).

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Coachingprozess, der im Coaching die feste Ablaufstruktur (Methode), die mit Hilfe von Reflexionsangeboten auf Abstraktionsebene die nachhaltige Selbstlernkonzeption auslösen will. Coachingziel, das im Coaching das eigentliche Ziel der Veränderung des Coachee; nach folgenden Merkmalen formuliert, um anspruchsvoll, realistisch erreichbar, sinnstiftend zu sein: 1. Adressat (Ich-Form), 2. Zeit (ab wann genau) 3. Quantität (Menge), 4. Qualität (Güte), 5. Kontextueller Bezug. Folgendes darf nicht enthalten sein: • negative Formulierungen, • Strategien, • Maßnahmen. Das Ziel wird in Futur II formuliert. Beispiel — „Ich werde am/ab dem 31.03.2010 ein erfolgreicher systemischer Management Coach für Führungskräfte von Unternehmen geworden sein.“ Cohn, Ruth Charlotte 27.08.1912-30.1.2010 — Psychologin deutsch-jüdischer Abstammung; ist eine bekannte und einflussreiche Vertreterin der humanistischen und psychodynamischen Psychologie; entwickelte 1955 „die Themenzentrierte Interaktion (TZI)”. Controlling, das und Abschluss, der eine von fünf Phasen des Coachingablaufs nach der Hamburger Schule; nach dem eigentlichen Coaching werden ... 1. die Motive und Werte zielgerecht bewertet; 2. die Nachhaltigkeit des Verhaltens festgestellt. D Datenschutz, der 1. Grundsätze und Bestimmungen, die unberechtigtes Erheben, Speichern, Übermitteln oder Nutzen personenbezogener Daten verhindern sollen. Rechtsgrundlage sind das Bundesdatenschutzgesetz (BDSG), das Landesdatenschutzgesetz des jeweiligen Bundeslandes, die §§ 95 ff. TKG für die Telekommunikationsdienstunternehmen, das Telemediengesetz (TMG) für Anbieter von Telediensten und Telemedien (Provider). 2. Nach der Hamburger Schule ist der Schutz der Informationen eines Coaching bzw. Coachingsprozesses vertraulich, da es den ethischen Grundhaltungen, den Kompetenzen des Coach sowie den zentralen Werten von Coaching entspricht. deduktiv aus abstrakten Strukturen ableitend. Definition, die lateinisch definitio, substantiviert aus dem Verb definire = abgrenzen; bedeutet die wissenschaftliche Bestimmung bzw. eindeutige Festlegung eines Ausdrucks/Begriffs. Die Definition ist dann allgemein gültig, da sie eine konkrete Bedeutung erhalten hat; Definitionen dienen einer erleichterten und verständlicheren Formulierung und Kommunikation. 259

Didaktik, die griechisch didáskein = lehren; geisteswissenschaftlicher Begriff für die Theorie der Lehrinhalte. Didaktik der Hamburger Schule, die die Hamburger Schule verwendet Erkenntnisse verschiedener Wissenschafts- und Erfahrungsdisziplinen, wie ... 1. Kommunikation, 2. Neurowissenschaften, 3. Mathematik, 4. Erziehungswissenschaften, 5. Philosophie, 6. Psychologie, 7 Rechtswissenschaft und 8. Soziologie aus rein pragmatischen Gründen. In diesem Sinne vermittelt sie keinen wissenschaftlichen Lernprozess oder Disput über die Entstehung und Lehre dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse. Dienstleistung, die rechtlicher Begriff für die geschuldete Pflicht der Erbringung einer Leistung. Damit wird gerade nicht der Erfolg geschuldet (sog. Werkvertrag nach § 631 ff. BGB). Die Hamburger Schule legt Coaching mit klar festgelegten Verantwortungsbereichen des Coach und des Coachee als Dienstleistung fest. Dienstvertrag, der rechtlich geregelt in §§ 611 ff. BGB. Der Dienstleister ist verpflichtet, die zugesagte Leistung zu erbringen (sog. Dienstleistung). Der Dienstleistungsempfänger ist verpflichtet, die vereinbarte Vergütung zu gewähren. diskursiv lateinisch discursivus = fortschreitend erörternd; Synonym für logisch folgernd; Gegenwort = intuitiv. dissoziiert 1. lateinisch dioassociare = trennen; 2. medizinsicher/psychologischer Begriff für den teilweisen oder den völligen Verlust der normalen Integration von Erinnerungen an die Vergangenheit; soziologischer Begriff für die Trennung bestimmter Werte und Normen der beteiligten Gruppen. Gegensatz assoziiert; 3. im Coaching: nicht aus der eigenen Person heraus deutend und bewertend. E Einwilligung, die zivilrechtlicher Begriff für die vorherige Zustimmung zu einem Rechtsgeschäft, grundsätzlich geregelt in § 183 BGB; strafrechtlicher Begriff für die vorherige Zustimmung z.B. eine Körperverletzung (z.B. ärztlicher Heileingriff usw.), sodass die Tat gerechtfertigt ist. Einstellung, die ist die konstruktivistische Wertdeutung eines Kontextes. Emergenz, die lateinisch emergere = auftauchen, hervorkommen, sich zeigen; allgemeiner Begriff für die spontane Herausbildung von Phänomenen oder Strukturen auf der Makroebene eines Systems auf der Grundlage des Zusammenspiels seiner Elemente; nach dem systemischen Konstruktivismus entstehen ... 260

• Verständnis, • Sinn und • Bedeutung nur innerhalb kognitiver Netzwerke und nicht extern (von außen vermittelt), denn durch neue „Verknüpfungen“ kommt es zu „Aha-Erlebnissen“ bzw. Ideen (Kreativität); nach der Hamburger Schule entsteht die Selbstlernkonzeption des Coachee nur emergent aufgrund seiner Reflexion, seiner Ressourcen usw. Emotion, die lateinisch emovere = erschüttern, aufwühlen und Partizip motus = Motor und bedeutet starke innere Bewegung, Gemütsbewegung; ein psychologischer Prozess mit subjektivem Gefühls-erleben und Änderung der Verhaltensbereitschaft. emotionale Intelligenz, die 1. allgemeiner Begriff für Eigenschaften und Fähigkeiten der Persönlichkeit, die den Umgang mit den eigenen und den fremden Gefühlen/Emotionen betreffen; 2. nach dem Professor für Erziehungswissenschaften und Psychologie HOWARD GARDNER und seiner Theorie der „Multiplen Intelligenzen” schließt die Einbeziehung der emotionalen Intelligenz eine Lücke in der klassischen Intelligenzforschung; den Begriff der emotionalen Intelligenz führte der US-amerikanische Psychologe DANIEL GOLEMAN ein und hebt fünf Aspekte hervor: • Selbstbewusstheit (die Fähigkeit eines Menschen, seine Stimmungen, Gefühle und Bedürfnisse zu akzeptieren und zu verstehen und die Fähigkeit, deren Wirkung auf Andere einzuschätzen), • Selbstmotivation (Begeisterungsfähigkeit), • Selbststeuerung (planvolles Handeln in Bezug auf Zeit und Ressourcen), • Empathie (Fähigkeit, emotionale Befindlichkeiten anderer Menschen zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren), • soziale Kompetenz (Fähigkeit, Kontakte zu knüpfen und tragfähige Beziehungen aufzubauen); 3. Im Gegensatz zu GOLEMAN haben SALOVEY und MAYER die emotionale Intelligenz 1990 in vier Bereiche gegliedert: • Wahrnehmung von Emotionen (Fähigkeit Emotionen in Mimik, Gestik, Körperhaltung und Stimme anderer Personen wahrzunehmen), • Verwendung von Emotionen zur Unterstützung des Denkens (Wissen über die Zusammenhänge zwischen Emotionen und Gedanken), • Verstehen von Emotionen (Fähigkeit die Emotionen zu analysieren, die Veränderbarkeit von Emotionen einzuschätzen und die Konsequenzen zu verstehen) und • Umgang mit Emotionen (Fähigkeit die Ziele des Selbstbildes und das soziale Bewusstsein des Individuums zu bewerten, zu korrigieren, also sich zu verhalten). Nach der Hamburger Schule wird die emotionale Intelligenz stark von den Werten, Lebensmotiven und Bedürfnissen der individuellen Person beeinflusst. Entscheiden, das nominalisiertes Verb; gehört zur Entscheidungstheorie der betriebswirtschaftlichen Wahrscheinlichkeit und ist eine von 14 Führungsaufgaben; allgemeiner Begriff für die bewusste Wahl zwischen Alternativen mehrerer unterschiedlicher Möglichkeiten anhand bestimmter subjektiver oder objektiver Aspekte; man kann emotional (spontan) oder rational entscheiden; beeinflussende Faktoren sind die Lebensmotive, die Werte und die Bedürfnisse; das Entscheiden kommt nach dem Planen und vor der Handlung; die Hamburger Schule weist daraufhin, dass der Coachee im Coaching alle Entscheidungen zur Lösung/zum Ergebnis selbst trifft. 261

Entwicklung und Auswahl von Verhaltensmöglichkeiten, die eine von fünf Phasen des Coachingablaufs nach der Hamburger Schule; als Teil des eigentlichen Coaching werden ... 1. die Selbstlernkonzeption initiiert und der Handlungsplan durch den Coachee erstellt, 2. potenzielle Probleme analysiert („Plan B“), 3. die Selbstlernkonzeption des Coachee motivationell gesichert. Erfolg, der 1. allgemeiner Begriff für positive Folgen, Konsequenzen oder Effekte eines Handelns; 2. psychologischer Begriff für ein positives Ergebnis einer persönlichen Handlung; 3. betriebswirtschaftlicher und handelsrechtlicher Begriff für das Ergebnis der wirtschaftlichen Tätigkeit eines Unternehmens, das entweder positiv (Gewinn) oder negativ (Verlust) ausfallen kann; 4. strafrechtlicher Begriff für den eingetretenen Schaden des betroffenen Rechtsguts; 5. benannter Wert nach dem Verständnis der Hamburger Schule. erweiterte kognitive Modell, das Modell nach HEINZ HECKHAUSEN bedeutet die Reflexion über das Negative „weg von“ der wahrgenommenen Situation, den möglichen Handlungen, dem Ergebnis der Handlung und die erwünschte Folge zum Positiven „hin zu“; wichtiges Angebot zur Reflexion im Coaching. Ethik, die griech. éthiké = das sittliche (Verständnis), êthos = Gewinheit, Sitte, Brauch verstanden als Moralphilosophie, versucht als philosophische Disziplin die Frage zu beantworten, wie man handeln soll; sie erarbeitet Kriterien des richtigen, gerechten, tugendhaften, nützlichen und guten Handelns und gelingenden und beglückenden Lebens (in einem Kontext). Evaluation, die lateinisch valere = stark sein; bedeutet die fachgerechte Bewertung aufgrund eines definierten Maßstabes; pädagogischer Begriff für die Auswertung und Bewertung von Unterrichts- und Lernstrukturen; Synonyme sind die Bewertung und die Auswertung. Evaluation von Coaching nach der Hamburger Schule, die nach der Hamburger Schule ist Coaching messbar, da der Coachingerfolg vom Coachee anhand seines Veränderungsziels und seiner Erreichungsmerkmale freiwillig erarbeitet und festgelegt wird. Die zentralen Werte von Coaching nach der Hamburger Schule (Freiheit, Freiwilligkeit, Ressourcenverfügung, Selbststeuerung) bilden den Maßstab. Daher ist die Evaluation von Coaching immer eine Selbstevaluation. extrinsische Motivation, die allgemeiner Begriff für von außen her (angeregt); äußere Einflüsse beeinflussen/steuern die Motivation, wie beispielsweise Anerkennung (Lob und Tadel), Entlohnung und Notenspiegel, Sanktionen; Gegenteil ist intrinsische Motivation. F fachlich-methodische Kompetenz, die 1. Interagierender Bereich des Kompetenzmodells. Nach der Hamburger Schule umfasst die fachlich-methodische Kompetenz die Verfügung über fachliche Kenntnisse und Fertigkeiten in einem Kontext sowie die ergebnisorientierte Organisation von Arbeitsabläufen. 2. Fähigkeiten, die zur fachlich-methodischen Kompetenz eines Coach zählen, sind: • Hypothesenbildung auf Abstraktionsebene • Angebote zur Reflexion auf Abstraktionsebene 262

• Klärung von Bedeutungen und Bedeutungszusammenhängen • Fragen • Perspektivwechsel auslösen • Prozess führen Fähigkeiten, die 1. Synonym für das Vermögen und definiert den Zustand zu etwas fähig, in der Lage zu sein; Fähigkeiten sind angeboren oder können durch äußere Umstände bestimmt sein und können durch Training verbessert werden; Gegenwörter sind die Unfähigkeit und die Fertigkeit; nach ARISTOTELES ist das Vermögen/die Fähigkeit die aktive Potenz etwas hervorzubringen, im Gegensatz zur passiven Empfängnismöglichkeit; nach IMMANUEL KANT kann das Vermögen auf die Fähigkeit ohne Ausnahme auf ... • das Erkenntnisvermögen, • das Gefühl der Lust und der Unlust sowie • das Begehrungsvermögen zurückgeführt werden. 2. Die Hamburger Schule verweist auf das Kompetenzmodell sowie das Kompetenzentwicklungsmodell. 3. Von fünf logischen Ebenen nach ROBERT DILTS bzw. den sechs Entwicklungsebenen der Hamburger Schule ist die Ausgangsfrage: „Was weiß ich und was kann ich?“ wichtig für die Reflexion der eigenen Ressourcen im Hinblick auf die eigenen Kompetenzen. Fälligkeit, die schuldrechtlicher Begriff für den Zeitpunkt, ab dem der Gläubiger die Leistung seiner Forderung verlangen kann. Fahrlässigkeit, die rechtlicher Begriff für die Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (§ 276 Abs. 2 BGB), wobei es auf die Voraussehbarkeit und die Vermeidbarkeit ankommt. Feedback, das englisch feed = füttern, nähren und back = zurück; die zeitnahe Rückmeldung einer Wahrnehmung oder die Beurteilung von etwas nach einem allen Beteiligten verfügbaren Maßstab. Rückmeldungen sind Voraussetzung für die Entwicklung von Kompetenz. Aus dem Vergleich der Rückmeldung mit der Selbstwahrnehmung des eigenen Verhaltens werden Veränderungen im eigenen Verhalten abgeleitet. Feedbacksystematik, die Gesamtheit der zur Rückmeldung nutzbaren kontextbezogenen Instanzen. Feldkompetenz, die Nach der Hamburger Schule umfasst die Feldkompetenz die Verfügbarkeit, Verfügung über reflektierte branchen-, themenspezifische und kulturelle Erfahrungen in einem Kontext zu verfügen. Fertigkeiten, die allgemeiner Begriff für ein antrainierbares, erlerntes Verhaltens wie ... 1. das Lesen, 2. das Schreiben, 3. das Sprechen, 4. das Rechnen, 5. das Tanzen und Musizieren, 6. das Laufen und das Turnen usw. 263

Firma, die lateinisch firmare = beglaubigen, befestigen; umgangssprachlicher Begriff für das Unternehmen; rechtlicher Begriff für den Namen, unter dem ein Kaufmann seine Geschäfte betreibt, seine Unterschriften leistet und unter dem er klagen und verklagt werden kann (vgl. § 17 ff. HGB). freiberuflich Freiberufliche Tätigkeiten im steuerrechtlichen Sinne werden nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG in Katalogberufe, also beispielsweise den Arzt oder Rechtsanwalt und den Katalogberufen ähnliche Berufe differenziert. Der ähnliche Beruf muss dem Katalogberuf in allen Punkten entsprechen, das heißt er muss alle Wesensmerkmale eines konkreten Katalogberufes zumindest nahezu vollständig enthalten. So müssen Ausbildungen als Voraussetzungen für die jeweilige Berufsausübung vergleichbar sein. freie Entfaltung der Persönlichkeit, die allgemeiner Begriff für das höchste Ziel des menschlichen Lebens; rechtlich geschützt durch die Grundrechte der allgemeinen Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gem. Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG; dient der Hamburger Schule als rechtliche Grundlage seiner Erklärungssystematik. Freiheit, die bezeichnet die Befähigung und die Verpflichtung aus Alternativen nach bestimmten individuellen Selektionskriterien zu wählen. Freiwilligkeit, die bedeutet absichtliches und/oder spontanes Handeln. Führung, die absichtsvolles autoritäres oder kooperatives Beeinflussen von menschlichem Verhalten oder Organisationsstrukturen. Führungsaufgabe(n), die von ROLF MEIER aus den fünf dispositiven Faktoren der Betriebswirtschaftslehre weiterentwickelt, auch bekannt als Initiativpflichten: 1. Auseinandersetzen mit der Zukunft, 2. Motivation auslösen, 3. Arbeitsabläufe planen, 4. Führen mit Zielen, 5. Entscheiden, 6. Delegieren, 7. Koordinieren, 8. Organisieren und Verbinden, 9. Informieren und Kommunizieren, 10.Fördern und Entwickeln, 11.Mitarbeiterauswahl und -einsatz, 12.Mitarbeiterschutz, 13.Selbstentwicklung, 14.Messen und Bewerten. Führungsbetrachtungen, die beziehen sich auf Beeinflussungen der eigenen Person (Selbstführung), einer Gruppe durch sich (Eigenführung) und das Beeinflussen einer anderen Person (Fremdführung).

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Führungseinsicht(en), die intersdisziplinärer Ansatz für Führung von ROLF MEIER entwickelt: 1. Wer führt wen?, 2. Führung als Überlaufsystem, 3. Führung und Zeit, 4. Führung und Situation, 5. Führung und Zusammenhalt, 6. Führung und BWL, 7. Denk- und Handlungsstrategien einer Führungskraft, 8. Politisch denken und systemisch handeln. Führungsstil, der unter Führungsstil wird ein wiederkehrendes Verhaltensmuster in unterschiedlichen thematischen Kontexten verstanden. Führungsverhalten, das Führungsverhalten ist ein (konkret) situatives, wertegeleitetes Verhalten in einem thematischen Kontext. Funktion, die lateinisch functio = Verrichtung; allgemeiner Begriff für den Zweck, den jemand/etwas in einem System erfüllt; organisatorischer Begriff für den abgegrenzten Aufgabenbereich einer Person innerhalb einer Organisationsstruktur (Organigramm); auch bekannt als Tätigkeits- oder Stellenbeschreibung. Funktionsbeschreibung, die organisatorischer/arbeitsrechtlicher Begriff für die Beschreibung der Aufgaben und des Verantwortungsbereiches einer Person (personenbezogene Beschreibung); Gegensatz ist die Stellenbeschreibung (nicht personenbezogene Beschreibung). Futur I Handlung liegt in der Zukunft und bezeichnet einen Verlauf. Beispiel — Ich werde am Montag vom 10m Turm springen. Futur II Handlung wird in der Zukunft schon abgeschlossen sein, das heißt, ist zu dem Zeitpunkt in der Zukunft schon Vergangenheit. Man nennt das auch „vollendete Zukunft”. Beispiel — Ich werde am Montag vom 10m Turm gesprungen sein. G Gedächtnis, das biologischer Begriff für die Fähigkeit des Nervensystems von Lebewesen, aufgenommene Informationen zu behalten, zu ordnen und wieder abzurufen; gespeicherte Informationen sind das Ergebnis von bewussten oder unbewussten Lernprozessen; je nach Dauer der Speicherung der Information wird zwischen ... 1. dem sensorischen Gedächtnis, 2. dem Kurzzeitgedächtnis und 3. dem Langzeitgedächtnis, wie ... • dem deklarativen Langzeitgedächtnis und • dem prozeduralen Langzeitgedächtnis, unterschieden.

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Gefühl, das eine körperlich empfundene Bewertung einer Wahrnehmung. Genehmigung, die rechtlicher Begriff; die nachträgliche Zustimmung zu einem Rechtsgeschäft gem. § 184 BGB. Gegenteil ist die vorherige Zustimmung (sog. Einwilligung). Geschäftsfähigkeit, die rechtlicher Begriff für die Fähigkeit, rechtlich bindende Willenserklärungen abzugeben. Grundsätzlich werden so Rechtsgeschäfte selbstständig und mit voller Wirksamkeit vorgenommen. Unterteilt wird die Geschäftsfähigkeit in Geschäftsunfähigkeit gem. § 104 BGB und beschränkte Geschäftsfähigkeit § 106 BGB. Geschäftsführer, der rechtlicher Begriff für die bevollmächtigte Person, die in einem Unternehmen oder einem anderen Personenzusammenschluss (etwa einem größeren Verein oder auch einer Parlamentsfraktion) die Geschäfte leitet. Er vertritt die Gesellschaft gerichtlich und außergerichtlich. Gegenüber Dritten (also im Außenverhältnis) ist seine Vertretungsmacht unbeschränkt (gegebenenfalls gemeinsam mit einem weiteren Geschäftsführer, die Alleinvertretungsbefugnis ist ein Sonderfall). Er hat aber im Innenverhältnis den Entscheidungen der Gesellschafterversammlung zu folgen. Die Verpflichtung der Gesellschaft, ihm für seine Dienste ein Gehalt zu zahlen, folgt aus dem zwischen der Gesellschaft und dem Geschäftsführer abgeschlossenen Geschäftsführervertrag. Geschäftsordnung, die rechtlicher Begriff für die Zusammenfassung aller Verfahrensregelungen eines Gremiums, nach denen Sitzungen und Versammlungen dieses Gremiums abzulaufen haben. Sie kann Bestandteil einer Satzung sein, meist allerdings wird sie im Zuge der Gründung durch Beschluss der Berechtigten festgestellt. Nicht immer existiert eine geschriebene Geschäftsordnung, vielmehr werden meist bestimmte Verfahrensweisen schon seit langer Zeit als Gewohnheitsrecht praktiziert und sind als geltende Richtlinien allgemein anerkannt. Geschäftsunfähigkeit, die rechtlicher Begriff für die fehlende Macht, Willenserklärungen abzugeben oder selbstständig Rechtsgeschäfte zu tätigen, wie Verträge zu schließen oder Verträge zu kündigen. Der Geschäftsunfähige benötigt einen gesetzlichen Vertreter. Geschäftsunfähige sind ... 1. Minderjährige, die das 7. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (§ 104 Nr.1 BGB), 2. Menschen mit psychischer Beeinträchtigung wie geistige Behinderungen (Minderbegabung), Demenz, Schizophrenie, schwere Suchterkrankungen (Missbrauch von Alkohol, Drogen, Medikamenten) (§ 104 Nr.2 BGB). geschlossene Frage, die Art einer Frage mit der Absicht, eine Entscheidung auszulösen. Gesellschaft, die soziologischer Begriff für die in einer größeren Gruppe zusammenlebenden Menschen; rechtlicher Begriff für einen Zusammenschluss von Personen zu einem gemeinsamen Zweck. Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR), die rechtlicher Begriff (Rechtsinstitut) für eine Vereinigung von (natürlichen oder juristischen) Personen, die sich durch einen Gesellschaftsvertrag gegenseitig verpflichten die Erreichung eines gemeinsamen Zwecks in der durch den Vertrag bestimmten Weise zu fördern, insbesondere die vereinbarten Beiträge zu leisten. Sie wird auch BGB-Gesellschaft oder GbR genannt und wird insbesondere in den §§ 731 ff. BGB geregelt.

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Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH), die gesellschaftsrechtlicher Begriff für eine juristische Person des Privatrechts, an der sich andere juristische oder natürliche Personen mit einer Kapitaleinlage beteiligen. Die GmbH verfügt über selbstständige Rechte und Pflichten. Sie kann ... 1. Eigentum erwerben, 2. Verträge abschließen, 3. vor Gericht klagen und verklagt werden. Außerdem haftet die GmbH für Verbindlichkeiten gegenüber den Gläubigern nur mit dem eigenen Vermögen der Gesellschaft und nicht mit dem (Privat-)Vermögen der Gesellschafter. Gewerbe, das 1. Allgemeiner Begriff für die grundsätzliche wirtschaftliche Tätigkeit, die auf eigene Rechnung, eigene Verantwortung und auf Dauer mit der Absicht zur Gewinnerzielung betrieben wird. Im engeren Sinne versteht man unter Gewerbe die produzierenden und verarbeitenden Gewerbe: Industrie und Handwerk. 2. In der Rechtsprechung hat sich folgende Definition durchgesetzt: Gewerbe ist jede erlaubte, auf Gewinnerzielung gerichtete, selbstständige Tätigkeit, die fortgesetzt und nicht nur gelegentlich ausgeführt wird, mit Ausnahme der Urproduktion, Verwaltung eigenen Vermögens, wissenschaftlicher, künstlerischer und schriftstellerischer Berufe sowie Dienstleistungen höherer Art. In Deutschland unterliegt die Ausübung eines Gewerbes der Gewerbeordnung. Danach muss jede gewerbliche Tätigkeit bei der zuständigen Gemeinde an- und abgemeldet werden; umgangssprachlich spricht man vom Gewerbeschein. Gewinn, der betriebswirtschaftlicher Begriff für die Erträge abzüglich der Aufwendungen. Der handelsrechtliche Gewinn wird über die Gewinn- und Verlustrechnung nach § 242 HGB durch Gegenüberstellung der Aufwände und Erträge des Geschäftsjahres ermittelt. Die Gewinnermittlung dient dem Schutz der Gläubiger, der Information der Anteilseigner, zur Ermittlung des ausschüttungsfähigen Jahresüberschusses sowie der steuerrechtlichen Bemessungsgrundlage. Glasersfeld, Ernst von 08.03.1917-dato — österreichisch-amerikanischer Philosoph, Kommunikationswissenschaftler und Begründer des radikalen Konstruktivismus, da er von einem kognitiven Subjektivismus ausgeht (Wissen, Erfahrung, Kognitionen existieren nur in den eigenen Köpfen); seine Erkenntnistheorie ist eine Theorie des Wissens, da ... 1. Wissen nur aktiv vom denkenden Subjekt aufgenommen wird, 2. Kognition von adaptiver Art ist und auf Viabilität abzielt und 3. Kognition dient der Organisation der Erfahrungswelt des Subjekts. Gläubiger, der 1. italienisch creditore bzw. credere = glauben; ein Gläubiger glaubt demnach seinem Schuldner, dass dieser die Schuld erbringen kann; 2. schuldrechtlicher Begriff für die Person, die gegen eine andere Person einen Anspruch hat. Glossar, das Glossare pl.; lateinisch glossarium = Wörterbuch; ist entweder die Sammlung von Glossen oder das Wörterverzeichnis mit Erklärungen; bis ins 18. Jahrhundert die Bezeichnung eines Wörterbuchs, mittlerweile Wörterliste als Anhang eines Buches; Gegenwort ist Lexikon. GmbH & Co. KG, die gesellschaftsrechtlicher Begriff für eine Kommanditgesellschaft (§ 161 Abs. 1 HGB), deren Komplementär (persönlich haftender geschäftsführender Gesellschafter) eine Gesellschaft mit 267

beschränkter Haftung ist. So lässt sich die Haftung des Komplementärs praktisch beschränken, ohne die Rechtsform der Kommanditgesellschaft aufgeben zu müssen. An sich haftet der Komplementär in der KG unbeschränkt. Grundrechte, die rechtlicher Begriff für die wesentlichen Rechte der Mitglieder einer Gesellschaft; werden in der Verfassung (Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23.05.1949 und vereinzelt in den Landesverfassungen der Bundesländer) geregelt; nach der Grundrechtstheorie — auf GUSTAV RADBRUCH zurückzuführen — haben Grundrechte folgende Aufgaben: 1. Subjektive Rechte gegenüber dem Staat (Exekutive, Legislative und Judikative) und ergibt sich aus Art. 1 Abs. 3 GG wie ... • status negativus (Abwehrrecht gegenüber dem Staat und setzt Handeln Grenzen), • status positivus (Leistungs-, Teilhabe- und Schutzrecht gegenüber dem Staat; setzt Verpflichtungen zum Handeln), • status activus (Teilnahme- und Gestaltungsrecht gegenüber dem Staat). 2. Objektive Wertordnung da ... • die Grundrechte am Anfang der Verfassung stehen und • die Grundrechte seit dem LÜTH-Urteil des Bundesverfassungsgericht vom 15.01.1958 mittelbar zwischen Privaten über die unbestimmten Rechtsbegriffe des einfachen Rechts gelten. Folgender Katalog der Grundrechte existiert: 1. Schutz der Menschenwürde gem. Art. 1 Abs. 1 GG, 2. Allgemeine Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG, 3. Recht auf Leben gem. Art. 2 Abs. 2 GG, 4. Recht auf körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 GG, 5. Allgemeines Persönlichkeitsrecht gem. Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG, 6. Allgemeiner Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG, 7. Glaubens- und Gewissensfreiheit gem. Art. 4 GG, 8. Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 HS 1 GG, 9. Informationsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 S.1 HS 2 GG, 10.Pressefreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 S.2 GG, 11.Kunstfreiheit gem. Art. 5 Abs. 3 GG, 12.Wissenschaftsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 3 GG, 13.Schutz von Ehe und Familie gem. Art. 6 Abs. 1 GG, 14.Recht auf Schulwahl, auf Erteilung und Teilnahme am Religionsunterricht gem. Art. 7 Abs. 2 GG, 15.Recht zur Errichtung von Privatschulen gem. Art. 7 Abs. 4 GG, 16.Versammlungsfreiheit gem. Art. 8 GG, 17.Vereinigungsfreiheit gem. Art. 9 GG, 18.Brief- und Postgeheimnis gem. Art. 10 GG, 19.Freizügigkeit im Bundesgebiet gem. Art. 11 GG, 20.Berufsfreiheit gem. Art. 12 GG, 21.Unverletzlichkeit der Wohnung gem. Art. 13 GG, 22.Eigentumsfreiheit gem. Art. 14 GG, 23.Vergesellschaftung und Gemeineigentum gem. Art. 15 GG, 24.Verbot von Ausbürgerung und Auslieferung gem. Art. 16 GG, 268

25.Asylrecht gem. Art. 16a GG, 26.Petitionsrecht gem. Art. 17 GG, 27.Einschränkungen und Rechtsweggarantie gem. Art. 19 Abs. 4 GG, 28.Widerstandsrecht gem. Art. 20 Abs. 4 GG, 29.Staatsbürgerliche Rechte und Pflichten bzw. gleicher Zugang zu öffentlichen Ämtern gem. Art. 33 GG, 30.Wahlrecht gem. Art. 38 GG, 31.Verbot von Ausnahmegerichten (sog. Justizgrundrecht) gem. Art. 101 Abs. 1 S.1 GG, 32.Recht auf einen gesetzlichen Richter (sog. Justizgrundrecht) gem. Art. 101 Abs. 1 S.2 GG, 33.Anspruch auf rechtliches Gehör (sog. Justizgrundrecht) gem. Art. 103 Abs. 1 GG, 34.Nulla poene sine lege (sog. Justizgrundrecht) gem. Art. 103 Abs. 2 GG, 35.Ne bis in idem (Verbot der Doppelbestrafung) (sog. Justizgrundrecht) gem. Art. 103 Abs. 3 GG, 36.Nemo tenetur se ipsum accusare (Verbot der Selbstbelastung) (sog. Justizgrundrecht) gem. Art. 103 Abs. 3 GG analog, 37.Rechtsgarantien bei Freiheitsentzug (sog. Justizgrundrecht) gem. Art. 104 GG. Gruppe, die 1. allgemeiner Begriff für die Zusammenkunft von mehreren Personen; 2. rechtlicher Begriff der Ansammlung und bedeutet eine Menschenmenge, die sich auf einer öffentlichen Straße ansammelt; 3. arbeitsrechtlicher Begriff der Arbeitsgruppe und bedeutet Menschen, die gemeinsam in einem Betrieb/in einer Abteilung eine Arbeit ausführt; zu unterscheiden ist die Versammlung; Gegensatz ist das Team. H Hamburger Schule die die „Hamburger Schule“ ist von ROLF MEIER und AXEL JANßEN 2005 als Erklärungssystematik für Coaching und als eigenständiger, didaktisch-methodischer Ansatz zur Kompetenzentwicklung von Coachs gegründet worden. 2009 wurde die Hamburger Schule zur Theorie vom Selbstorganisiertem Coaching erweitert. Handlungsalternativen, die sind unterschiedliche, vom menschlichen Willen gesteuerte Verhalten. Handlungskompetenz, die bedeutet, den Sinn eines Kontextes sowie Unterschiede zu anderen Kontexten zu erkennen und die Koordination aller persönlichen Ressourcen selbstgesteuert in einem situativ-individuellen Handeln zu realisieren. Handlungsplan Abfolge von Handlungen zur Zielerreichung. Handlungsvollmacht, die ist in Deutschland jede von einem Kaufmann für sein Handelsgeschäft erteilte Vollmacht, die nicht Prokura ist. Nach § 54 HGB erstreckt sie sich auf alle Tätigkeiten, die im täglichen Geschäftsverkehr anfallen. Im Gegensatz zur Prokura kann die Handlungsvollmacht auch konkludent erteilt werden. Die Handlungsvollmacht kann und muss nicht in das Handelsregister eingetragen werden. Sie kann vom Geschäftsinhaber oder seinem Prokuristen erteilt werden. Handlungsbevollmächtigte können selbst beschränkte Untervollmachten erteilen. Ein Geschäftspartner kann davon ausgehen, dass der Handlungsbevollmächtigte berechtigt ist alle Rechtsgeschäfte, die der von 269

ihm vertretene Geschäftskreis mit sich bringt, tätigen kann. Das Gesetz schränkt die Vertretungsmacht allerdings dahingehend ein, dass z.B. die Belastung von Grundstücken, die Aufnahme von Darlehen oder die Führung von Prozessen dem Handlungsbevollmächtigten nur durch Erweiterungen der Vollmacht auf diese Bereiche möglich ist (siehe. § 54 Abs. 2 HGB). Eine Handlungsvollmacht erlischt durch Widerruf, mit Ende des Geschäftsbetriebes oder mit Auflösung des Arbeitsverhältnisses (siehe §§ 167, 168 BGB). Beim Tod des Inhabers eines Einzelunternehmens erlischt die allgemeine Handlungsvollmacht nicht, wenn sie wesentlicher Bestandteil des Arbeitsvertrages ist. Folgende Arten der Handlungsvollmacht sind möglich: 1. Generalhandlungsvollmacht (auch allgemeine Handlungsvollmacht genannt), beinhaltet branchentypische Geschäfte, die zum gewöhnlichen Betrieb gehören. Kann als „kleine Schwester“ der Prokura bezeichnet werden. Nicht dazu gehören Privatangelegenheiten sowie Prinzipalgeschäfte (Prokuraerteilung, Bilanzunterzeichnung usw.). 2. Gattungshandlungsvollmacht (auch Artvollmacht genannt) bzw. Arthandlungsvollmacht, erlaubt die Vornahme von spezifisch eingeschränkten Arten/Gattungen von speziellen Rechtsgeschäften. 3. Spezialhandlungsvollmacht (auch Einzelvollmacht genannt), ermöglicht die Vornahme einzelner Geschäfte. Sie erlischt nach Beendigung des einzelnen Rechtsgeschäfts. Wenn ein Handlungsbevollmächtigter in Vertretung handelt, ist es notwendig einen Zusatz in Form von i.V. (in Vollmacht) anzufügen. Davon zu unterscheiden ist der Zusatz i.A. (in Auftrag). Ein Handlungsbevollmächtigter darf ... 1. keine Grundstücke veräußern oder belasten, 2. keine Darlehen aufnehmen, 3. keine Prozesse im Namen des Unternehmens führen und 4. das nicht, was ein Prokurist nicht darf. (Hand-)Werkzeug, das funktionale Einzelmaßnahme der Methode. Heckhausen, Heinz 1926-30.10.1988 — war ein deutscher Psychologe, war neben FRANZ EMANUEL WEINERT Gründer des Max-Planck-Instituts für Psychologische Forschung in München und ab 1982 dessen Leiter; forschte über Prozesse der Handlungsmotivation sowie über Leistungsmotivation und entwickelte das erweiterte kognitive Motivationsmodell für die Anwendung in der Schule und in der Arbeitswelt sowie das Rubikon-Modell der Handlungsphasen vom Wechsel der Motivation zur Volition. Herzberg, Frederick Irving 18.04.1923-19.01.2000 — war ein US-amerikanischer Professor der Arbeitswissenschaft und der klinischen Psychologie; stellte 1959 die „Zwei-Faktoren-Theorie” der menschlichen Bedürfnisse auf, auch genannt „Motivator-Hygiene-Theorie”, Hygienefaktoren nach HERZBERG, „Herzberg-Theorie”, welche den Zusammenhang der Bedürfnisbefriedigung am Arbeitsplatz und der Arbeitszufriedenheit aufzeigt. Hypothese, die griechisch hypothesis = Unterstellung, Vermutung; allgemeiner Begriff für eine unbewiesene (wissenschaftliche) Annahme, die wahrscheinlich ist, aber noch eines Beweises bedarf. Hypothesenbildung im (selbstorganisiertem) Coaching, die Im autonomen (selbstorganisiertem) Coaching verwendet der Coach zur Hypothesenbildung nur wissenschaftlich überprüfbare Modelle, Theorien und Axiome. Der Coach bildet die Hypothese 270

indem er ein ausgesprochenes Wort durch den Coachee mit dem identischen (nicht durch den Coach gedeuteten) Wort in einer Theorie, Modell oder Axiom verbindet. Die gesamte Theorie oder das gesamte Modell oder entsprechende Axiome werden dem Coachee in der Phase der Ressourcenidentifikation als strukturelle Ressource zur Reflexion angeboten. Beispiel — Der Coachee formuliert: „Durch die Reorganisation im Betrieb bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich allen fachlichen Ansprüchen in der neuen Position gerecht werde.” Der Coach identifiziert das Wort „sicher” und kann es mit der Bedürfnispyramide von MASLOW in Verbindung bringen. Daraus entsteht die Formulierung der Hypothese: „Kann es sein, dass Ihr (Veränderungs-)Thema mit den Inhalten der Bedürfnispyramide von Maslow im Zusammenhang steht?” Gemeint ist hier das Wort „sicher” zu dem Sicherheitsbedürfnis in der Pyramide. Eine andere Hypothese wäre denkbar: „Hat Ihr (Veränderungs-)Thema mit dem Kompetenzmodell zu tun?” Das in der Hypothese angesprochene Modell, die Theorie oder das Axiom muss immer in Gänze zur Reflexion angeboten werden, damit der Coachee die Freiheit hat aus Alternativen (bei Maslow sind es fünf, beim Kompetenzmodell auch fünf) auszuwählen. Dann kann er aus eigenen Vermögen „deduktiv” auf die Suche nach seinen Ressourcen gehen. hypothetische Frage, die Frageart mit der Absicht den Befragten in den Zustand einer Annahme zu bringen und unter dieser Prämisse etwas zu bewerten. Perspektivwechsel mittels einer hypothetischen Frage ist im Coaching nur möglich, wenn als Hypothese ein Zeitpunkt in der Zukunft gewählt wird. I ICD Abkürzung für International Classification of Diseases bzw. Internationale Klassifikation der Krankheiten; wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als international gültiges Klassifikationssystem der medizinischen Diagnose anerkannt und eingesetzt; beruht auf dem internationalen Todesursachenverzeichnis der sog. BERTILLON-Klassifikation von JACQUES BERTILLON und wurde stets weiterentwickelt; die deutsche Version heißt ICD-10-GM (german modification) und wird vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) gepflegt und herausgegeben. Identität, die lateinisch identitãs = Wesenseinheit; bezeichnet die kennzeichnenden und von anderen Individuen/Menschen unterscheidende Eigentümlichkeit seines Wesens. Soziologischer und psychologischer Begriff für die Summe aller Merkmale, die ein Individuum ausmachen. individuellen Werte (Modell), die Modell nach der Hamburger Schule zur abstrakten Beschreibung, wie individuelle Werte entstehen. Primär dient es dem Coach, um „Werteentstehung“ zu verstehen, sodass er geeignete Reflexionsangebote ableiten kann. induktiv aus dem Konkreten auf das Abstrakte schließend. Intelligenz, die lateinisch intelligentia = Einsicht, Erkenntnisvermögen bzw. intellegere = verstehen; allgemeiner Begriff für die geistige Fähigkeit zum Erkennen von Zusammenhängen und Finden von Problemlösungen; psychologischer Begriff für die kognitiven Fähigkeiten eines Menschen, also die Fähigkeit ... 1. zu verstehen, 271

2. zu abstrahieren, 3. Probleme zu lösen, 4. Wissen anzuwenden, 5. Sprache zu verwenden. Intention, die lateinisch intentio = die Spannung oder Gespanntsein; 1. handlungstheoretischer Begriff für die Motivation oder den Beweggrund des Handelns; 2. literarischer Begriff für die Beweggründe des Autors für seine Tätigkeit (intentio auctoris) oder davon losgelöst der Gehalt des Textes (intentio operis); 3. psychologischer Begriff für das Motiv oder den Beweggrund des Handelns; 4. rechtlicher Begriff für die stärkste Form des Vorsatzes, primär im Strafrecht zu finden. Intentionalität, die kognitionswissenschaftlicher Begriff im Rahmen des Konstruktivismus von FRANCISCO VARELA; wurde wieder eingeführt für das zielgerichtete Handeln eines Menschen. Interaktion, die lateinisch inter = innen, zwischen und actio = Handlung; bezeichnet das sich aufeinander beziehende soziale Handeln von wenigstens zwei sozialen Einheiten (Individuum/natürliche Person oder Organisation/juristische Person), mit dem Zweck Werte zu vergleichen, abzustimmen und Handeln/Verhalten auszulösen. Die Hamburger Schule setzt für eine erfolgreiche Interaktion die angemessene Interpretation der Motive, Bedürfnisse und Werte des Gegenübers im gegenwärtigen Kontext voraus. Interesse, das lateinisch inter = zwischen, inmitten und esse = sein und bedeutet die kognitive Anteilnahme/ Aufmerksamkeit, die eine Person an einer Sache oder einer Person nimmt; Gegenteil ist Desinteresse. Interpretation, die nach KLAUS M. BERNSAU: der Prozess, der Zeichen eine Bedeutung zuweist. Dies kann aufgrund expliziter Codes, persönlicher Erfahrungen und Gewohnheiten oder durch Schlussfolgerungen geschehen. Dabei ist das Ergebnis keinesfalls immer ein bewusster, intellektueller und gar sprachlicher Inhalt. Vielmehr können Interpretationen auch in Gefühlen, Bildern, Handlungen oder physiologischen Reaktionen wie z.B. Angst ihren Niederschlag finden. Intervention, die lateinisch intervenire = dazwischentreten, sich einschalten; Begriff aus der Pädagogik und bedeutet den direkten Eingriff in das Geschehen, um ein unerwünschtes Phänomen zu vermeiden oder zu beseitigen. intrinsische Motivation, die allgemeiner Begriff für von innen her (angeregt); medizinisch/psychologischer Begriff dafür, dass innere Einflüsse die Motivation beeinflussen/steuern, da der Mensch sich beispielsweise durch den Selbstzweck/die Selbststeuerung und bezogen auf seine Ressourcen/Motive/Werte und Bedürfnisse reguliert; Gegenteil ist extrinsische Motivation. intuitiv lateinisch intueri = genau hinsehen; Fähigkeit impulsiv und unbewusst zu entscheiden und zu handeln. intuitive Kreativitätsmethode, die Technik bzw. Methode der Kreativität; liefert in kurzer Zeit von etwa 30 Minuten viele Ideen (100-400 Ideen); Prozess der Ideenfindung ist assoziiert und auf die Aktivierung des Unbewuss272

ten ausgelegt, um auch aus bisherigen Denkmustern austreten zu können; beispielsweise sind zu nennen: 1. Brainstorming von ALEX OSBORN, 2. Brainwriting, 3. Kartenabfrage, 4. Kreatives Schreiben, 5. Mind Mapping usw. Investition, die wirtschaftswissenschaftlicher Begriff für die Verwendung finanzieller Mittel; betriebswirtschaftlicher Begriff für den Zahlungsstrom, der mit einer Auszahlung beginnt und von Einzahlungen gefolgt wird. Insofern ist die Investition eine Anschaffung von langfristigen Produktionsmitteln. Irrtum, der allgemeiner Begriff für das unbewusste Auseinanderfallen von Wille und Erklärung; bezeichnet eine falsche Annahme, Behauptung, Meinung oder falschen Glauben, wobei der Behauptende, Meinende oder Glaubende jeweils von der Wahrheit seiner Aussage(n) überzeugt ist. J Jahresabschluss, der betriebswirtschaftlicher Begriff für den rechnerischen Abschluss eines kaufmännischen Geschäftsjahres. Hauptbestandteile sind die Bilanz und die Gewinn- und Verlustrechnung; muss ggf. durch den Anhang und den Lagebericht ergänzt werden. Handelsrechtliche Grundlagen folgen aus dem Handelsgesetzbuch, insbesondere nach §§ 242 ff. HGB. JoHaRi-Fenster, das psychologischer Begriff für ein Modell, entwickelt von den US-amerikanischen Sozialpsychologen JOSEPH LUFT und HARRY INGHAM; dient der Erkenntnis über die Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung: 1. die Arena bzw. Bereich des freien Handelns (mir und anderen bekannt), 2. die Unkenntnis bzw. Bereich des blinden Flecks (mir unbekannt aber anderen bekannt), 3. mein Geheimnis bzw. Bereich des Verborgenen (nur mir bekannt), 4. mein unbewusstes Wissen bzw. Bereich des Unbewussten (niemandem bekannt). Im Coaching erhält das JoHaRi-Fenster seine besondere Bedeutung, da die Arena des freien Handelns als Synonym für eine Wahrnehmungserweiterung gesehen werden kann. In der reduzierten Form drückt sich das JoHaRi-Fenster in den Fragen „Was wissen Sie über den Kontext?“ und „Was weiß der Kontext über Sie?“ aus.

K Kaufmann, der spezieller rechtlicher Begriff für einen Unternehmer. Jemand der ein Handelsgewerbe von solcher Bedeutung betreibt, dass man davon ausgehen kann, dass er sich mit den Gepflogenheiten des Handels auskennt, weshalb man ihn den Besonderheiten des Handelsrechts unterwirft. Kaufvertrag, der der Verkäufer wird verpflichtet die Sache an den Käufer zu übergeben und ihm das Eigentum zu verschaffen. Der Käufer wird verpflichtet die Sache abzunehmen und den vereinbarten Kaufpreis zu bezahlen. Näheres regeln §§ 433 ff. BGB. 273

Kepner-Tregoe-Methode, die Methode von CHARLES KEPNER und BENJAMIN TREGOE, 1958 aufgestellt und dient der Rationalisierung von Denkprozessen und ist Basis der Arbeitsmethodik; besteht aus folgenden vier Bearbeitungsfeldern: 1. Problemanalyse (in der komplexe Situationen zergliedert und Prioritäten festgelegt werden), 2. Situations-/Ursachenanalyse (in der die wahre Ursache eines Problems zu finden ist), 3. Entscheidungsanalyse (in der Alternativlösungen entwickelt und bewertet werden), 4. Analyse potenzieller Probleme (in der potenzielle Probleme erkannt und Gegen- bzw. Ersatzmaßnahmen festgelegt werden). kognitiv lateinisch cognoscere = erkennen, erfahren, kennen lernen; medizinischer/psychologischer Begriff für die gedankliche bzw. wissentliche/willentliche Wahrnehmung (erkennen, denken). kognitive Lernziel, das beschreibt Lernvorgänge in Bereichen von Kenntnissen, Denken, Problemlösung, Transfer und der Bildung von Abstraktionen. Kognitivismus, der theoretischer Ansatz der Psychologie in Abgrenzung zum Behaviorismus. Der Begriff umfasst Prozesse des Wahrnehmens, Erkennens, Begreifens, Urteilens und Schließens. Die kognitive Psychologie erforscht, wie Menschen ihre Erfahrungen strukturieren, ihnen Sinn beimessen und wie sie ihre gegenwärtigen Erfahrungen zu vergangenen, im Gedächtnis gespeicherten Erfahrungen in Beziehung setzen. Das Lernen wird durch Prozesse und Zustände beeinflusst, welche zwischen Reiz und Reaktion liegen (sog. kognitivistische Lerntheorien). Kommanditgesellschaft (KG), die gesellschaftsrechtlicher Begriff für eine Personenhandelsgesellschaft, in der sich zwei oder mehrere natürliche Personen und/oder juristische Personen zusammengeschlossen haben, um unter einer gemeinsamen Firma ein Handelsgewerbe zu betreiben. Von der OHG (Offene Handelsgesellschaft) unterscheidet sich eine KG dadurch, dass bei einem oder mehreren Gesellschaftern die Haftung gegenüber den Gesellschaftsgläubigern auf den Betrag einer bestimmten Vermögenseinlage beschränkt ist (Kommanditist, Kommanditisten), während mindestens ein anderer Gesellschafter persönlich haftet (Komplementär). Kommunikation, die lateinisch communicare = teilen, mitteilen, teilnehmen lassen, gemeinsam machen; allgemeiner Begriff für den Austausch von Informationen, welcher untereinander koordiniert werden soll. Die Koordination erfolgt via Zeichen und deren interpretative Bedeutung/Sinn schaffend und unterscheidet sich von der Interaktion. Die Kommunikation bedarf stets eines Senders und eines Empfängers (sog. „Sender-Empfänger-Modell” aus der mathematischen Informationstheorie) für die gemeinsame Verständigung (Kommunikationsziel); zu unterteilen in nonverbale und verbale Kommunikation. Kommunikationskontext, der vereinbart den Rahmen für Kommunikation, der die Interessen aller Beteiligten berücksichtigt. Er ist Ergebnis der selbstgesteuerten Auseinandersetzung mit Gefühlen, Motiven, Bedürfnissen und Werten der eigenen Person und anderer Personen, sowie der Auseinandersetzung mit Unterschieden zu anderen Kontexten. Kompetenz, die lateinisch competere = zusammentreffen, zu etwas fähig sein. Beschreibt abstrakt die Fähigkeiten und Fertigkeiten, die ein Mensch in einem bestimmten Kontext entwickelt haben muss, um in diesem Kontext situativ erfolgreich zu sein. 274

Kompetenzentwicklungsmodell, das basiert auf dem Gedanken, dass die Grundlage für jede Veränderung Motive und Ressourcen sind. Jeder Mensch hat Motive und verfügt im Sinne von Coaching über Ressourcen. Die Motivstruktur und die Art der vorhandenen Ressourcen entfalten sich grundsätzlich in einem Kontext. Erst mit der Überlegung (und emotionalen Bewertung) „in welchem Kontext will ich meine Motive entfalten und wie nutze ich meine Ressourcen” trifft ein Mensch eine Entscheidung für sein Verhalten. Ist sein Verhalten erfolgreich, werden Werte gebildet und/oder anerkannt. Wird die erfolgreiche Wert-Orientierung in andere Kontexte übertragen (Transfer) und reflektiert ein Mensch dann erfolgreich über diese Entwicklung, sodass er diese „Entwicklungserfahrung” bewusst nutzen kann, dann hat er Kompetenz erlangt. Kompetenzmodell, das 1. Das Kompetenzmodell der Hamburger Schule ist in erster Linie ein allgemein gültiges Modell. Ein Modell ist die komplexitätsreduzierende, abstrakte Darstellung von Wirklichkeit. Es beschreibt abstrakt die Fähigkeiten und Fertigkeiten, die ein Mensch in einem bestimmten Kontext entwickelt haben muss, um in diesem Kontext situativ erfolgreich zu sein. 2. Das Kompetenzmodell, das auch für den Kontext „Coaching“ gilt, besteht aus fünf einzeln zu betrachtenden, aber in der Situation interagierenden, thematischen Bereichen: • persönliche Kompetenz, • fachlich-methodische Kompetenz, • sozio-kommunikative Kompetenz, • Feldkompetenz und • Handlungskompetenz. Kompromiss, der die Übereinstimmung von Menschen hinsichtlich einer gewissen Thematik mit minimalen Abstrichen von den Idealvorstellungen auf beiden Seiten; gehört zu den Konfliktmustern. Konflikt, der entsteht in einer Situation, in der voneinander abhängige Parteien versuchen unvereinbare Ziele zu erreichen oder Handlungspläne zu verwirklichen. Kennzeichen ist eine emotionale Spannung. Konfliktlösungsmuster, die (pl.) von ROLF MEIER und AXEL JANßEN entwickeltes Modell zur Reflexion eigenen Verhaltens. Biologische Konfliktlösungsmuster: 1. Anpassen, 2. Erstarren, 3. Flucht, 4. Kampf, 5. Unterordnung und 6. Verstecken. Kulturelle Konfliktlösungsmuster: 1. Delegation an Andere, 2. Kompromiss und 3. Konsens. Konfliktsystem, das GERHARD SCHWARZ stellt acht Arten der Beziehungen in einem Konflikt fest, die als absteigende Stufen dargestellt werden: 275

1. Missstimmung, 2. Debatte, 3. Misstrauen, 4. Koalition, 5. Entgleisung, 6. Drohung, 7. Gewalt und 8. Vernichtung. Konsens, der lateinisch consentire = übereinstimmen; die Übereinstimmung von Menschen hinsichtlich einer Thematik ohne verdeckten oder offenen Widerspruch. Konsequenz, die lateinisch consequi = folgen, erreichen; eine oft zwingende aber auch mögliche Folge eines Anfangssachverhaltes bzw. die Konzeption mit ihren sinnvollen Anpassungen durch das situative Konzept. Konstruktion, die lateinisch con = zusammen und struere = bauen; allgemeiner Begriff für das Ausbauen, Errichten oder Herstellen eines materiellen oder immateriellen Gebildes. 1. mathematischer Begriff für die exakte zeichnerische Darstellung eines Körpers (Figur) aus gegebenen Größen; 2. technischer Begriff für ein komplexes starres oder elastisches Gebilde zur Übertragung von Kräften und Momenten als Ergebnis eines Konstruktionsprozesses; 3. philosophischer Begriff für das Entwerfen eines Gedankensystems, das die Fülle der Gegebenheiten ordnen soll oder aus dem sich die Fülle der jeweiligen Gegebenheiten ableiten lässt (sog. Konstruktivismus); 4. soziologischer Begriff für das Schaffen von Realitäten durch gesellschaftliche Prozesse. Konstruktivismus, der ein Begriff in verschiedenen (wissenschaftlichen) Fachbereichen und Disziplinen. Grundsätzlich ist er Ausdruck für eine wissenschaftliche Denk- und Erkenntnishaltung, die davon ausgeht, dass Wissen, Erkenntnisse, Vorstellungen und andere Inhalte nicht naturgegeben sind, sondern vom Menschen als erkennendes Subjekt konstruiert werden. Diese Erkenntnis ist philosophischer Natur, geprägt durch SOKRATES, IMMANUEL KANT und eroberte die Psychologie durch JEAN PIAGET, ERNST VON GLASERSFELD, die Naturwissenschaften wie durch HUMBERTO MATURANA, die Neurowissenschaft durch GERHARD ROTH, die Sprache durch PAUL WATZLAWICK oder die „Systemtheorie” von NIKLAS LUHMANN, in der Pädagogik/Andragogik durch HORST SIEBERT (usw.). konstruktiv Adjektiv von Konstruktion und meint aufbauend, unterstützend; Synonym für produktiv, ordnend, fördernd; Gegenwort ist destruktiv. konstruktivistisch Adjektiv von Konstruktivismus und meint die individuelle Deutung (Konstruktion) eines Menschen über einen Sachverhalt. konstruktivistische Taxonomiestufe, die nach MEIER/JANßEN sind dies vier Stufen: Faktisch richtiges Wissen, kontextbezogenes Anwenden von Wissen, Reflexion systemischen Agierens und konstruktivistischer Kontexttransfer.

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Kontakt, der lateinisch contactus = Berührung bzw. contingere = berühren; allgemeiner Begriff für das InVerbindung-Treten; die menschliche aktive oder passive Berührung des eigenen oder fremden Körpers; gehört nach der Hamburger Schule zur Kommunikation. Kontakt und Kontrakt, der eine von fünf Phasen des Coachingablaufs nach der Hamburger Schule; vor dem eigentlichen Coaching werden ... 1. die Vorstellungen und die Erwartungen skizziert; 2. das Thema und der Veränderungswunsch des Coachee skizziert; 3. der Coachingablauf, die Verantwortungsbereiche der Kommunikationskontext vereinbart und 4. Formalien und der Coachingvertrag vereinbart. Kontext, der die Kontexte pl.; lateinisch contexere = zusammensetzen bzw. contextus = verflochten, fortlaufend; soziologischer Begriff für einen individuell definierten und gedeuteten Bezugsrahmen für das eigene Verhalten; kein Kontext ist das offene System mangels Bezügen. Der Begriff Kontext im Coaching steht für eine komplexitätsreduzierte Bezugswahrnehmung des Coachee, der Gruppe oder des Teams und bezieht sich grundsätzlich auf ein Thema. Konzept, das die Konzepte pl.; die konkrete Anforderungsbeschreibung an das Ziel-Strategie-System eines Themas in seinem Kontext mit festem Absichtscharakter zum Handeln; vergleichbar mit Aktionsplan oder Rezept. Konzeption, die ist die umfassende Beschreibung eines Ziel-, Struktur- und Handlungssystems eines Themas in seinem Kontext als flexibel gehaltenes Realisierungsvorhaben (grundsätzliche Bearbeitungsstruktur mit erlaubten Freiheitsgraden in den konkreten Handlungssituationen). Konzern, der betriebswirtschaftlicher Begriff für einen Zusammenschluss mehrerer rechtlich selbstständiger Unternehmen zu einer wirtschaftlichen Einheit unter einer einheitlichen Leitung. Die dabei verbundenen Unternehmen nennt man Konzernunternehmen. Das Aktiengesetz definiert in § 18 AktG den Konzern wie folgt: „Sind ein herrschendes und ein oder mehrere abhängige Unternehmen unter der einheitlichen Leitung des herrschenden Unternehmens zusammengefasst, so bilden sie einen Konzern; die einzelnen Unternehmen sind Konzernunternehmen”. Das zentrale Wesensmerkmal des Konzerns ist die Zusammenfassung rechtlich selbstständiger Unternehmen unter einheitlicher Leitung. Die einheitliche Leitung ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, bei dem der Gesetzgeber bewusst auf eine Konkretisierung verzichtet hat. Nach herrschender Meinung liegt die einheitliche Leitung dann vor, wenn ein Unternehmen ein anderes Unternehmen tatsächlich beherrscht. Nach der Stellung der Konzernunternehmen unterscheidet das Gesetz weiter in Gleichordnungskonzerne und Unterordnungskonzerne. kreativ lateinisch creare = etwas erschaffen oder creato = das Erschaffen; allgemeiner Begriff für Neues schaffen bzw. die Möglichkeit zu haben Neues zu schaffen. kreative Prozess, der ist einer von vier P's der Kreativität, welches auf dem Vier-Phasen-Modell (Phasen-Theorie) von GRAHAM WALLAS aus dem Jahr 1926 gründet, hat folgende fünf Phasen: 277

1. Vorbereitungsphase, 2. Inkubations-/Reifungsphase, 3. Einsicht oder das Aha-Erlebnis, 4. Bewertung und 5. Ausarbeitung. Nach der Hamburger Schule werden die Phasen: 1. Vorbereitung, 2. Inkubation, 3. Illumination, 4. Realisation und 5. Verifikation genannt. Kreativität, die allgemeiner Begriff für ein schöpferisches Vermögen, das sich im menschlichen Verhalten und Denken verwirklicht; sie ist das schöpferische Potenzial des Menschen, die Fähigkeit von gewohnten Denkschemata (analytisches Denken) abzuweichen, aus der Norm fallende Ideen (kognitiver Faktor) zu entwickeln und Werke zu gestalten; der britische Mediziner und Psychologe EDWARD DE BONO entwickelte eine Vielzahl von Kreativitätstechniken und prägte das Wort des „Querdenkers“; der US-amerikanischer Wissenschaftler MEL RHODES stellte in den 1960er Jahren die vier P's der Kreativität fest, 1. die kreative Person, 2. den kreativen Prozess, 3. das kreative Produkt und 4. das kreative Umfeld. Nach der Hamburger Schule kann Kreativität angeregt und gefördert werden. Gegensatz ist das analytische Denken. Kreativitätstechnik, die ist der Oberbegriff für Methoden zur Förderung von Kreativität und dem gezieltem Erzeugen neuer Ideen, um Visionen zu entwickeln oder Probleme zu lösen (sog. Ideengenerierung); diese Ideengenerierung steht im Gegensatz zum spontanen und eher zufälligen Geistesblitz. Kritik, die griechisch kritikē und abgeleitet von krínein = (unter)scheiden, trennen; allgemeiner Begriff für die prüfende Beurteilung nach begründetem Maßstab, die mit einer Abwägung von Wert und Unwert einhergeht. Folgende Arten existieren: 1. Positive Kritik (Lob und Anerkennung), 2. Negative Kritik (Tadel), 3. Konstruktive Kritik (zur Verbesserung des Gegenübers), 4. Destruktive Kritik (zur Vernichtung des Gegners), 5. Selbstkritik (differenzierte Überprüfung des eigenen Verhaltens oder eigener Anschauungen bzgl. bestimmter Kriterien). Nach der Hamburger Schule darf die Kritik im Coaching nicht eingesetzt werden. kritisch altgriechisch krínein = entscheiden, unterschieden; Synonym von abenteuerlich, ablehnend, angespannt, argwöhnisch, bedenklich, bedrohlich, besorgniserregend, brenzlig, brisant, delikat, differenziert, diffizil, drängend, dunkel, ernst, explosiv, folgenschwer, gefahrvoll, gefährlich, gespannt, heikel, hochaktuell, prekär, problematisch, prüfend, risikoreich, riskant, schwierig, skeptisch, urteilsfähig, urteilssicher, wachsam, wählerisch, zweifelnd, zweischneidig. 278

kritischen Erfolgsfaktoren (Modell), die entwickelt von ROLF MEIER nach den Gedanken der Hamburger Schule und stellt die Merkmale einer Arbeitsanforderung oder die Art der Themenbearbeitung in den Vordergrund, welche zwingend im Coaching beachtet werden müssen. Es kann sowohl als Vorbereitung auf ein Coaching als auch als Evaluationsmaßstab für ein stattgefundenes Coaching genutzt werden. Kündigung, die zivilrechtlicher Begriff für die einseitige, in die Zukunft wirkende Beendigung eines Dauerschuldverhältnisses. Die Kündigung ist ein einseitiges Rechtsgeschäft, das aus einer empfangsbedürftigen Willenserklärung (Kündigungserklärung) besteht. Sie wird daher erst mit Zugang beim Vertragspartner wirksam und ist grundsätzlich bedingungsfeindlich. Voraussetzung der wirksamen Kündigung ist, dass dem Kündigenden auch ein entsprechendes Kündigungsrecht (Gestaltungsrecht) zusteht. Gegebenfalls müssen auch Form und Frist beachtet werden. Im Arbeitsrecht ist es das Pendant zur Entlassung. Arten von Kündigungen sind die ... • ordentlichen (fristgerechten unter Berücksichtigung der Fristen aus § 622 BGB) oder • außerordentlichen (fristlosen i.S.d. § 626 BGB).

L Lehren, das etymologische Herkunft von lernen. Bezeichnung für die Tätigkeit jemand anderen anzuleiten, um entweder eine Tätigkeit auszuführen oder ihm Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln. Lehrziel, das beschreibt das Lernziel, das ein Ausbilder durch geeignete Lernbeeinflussung bei einem Lerner in einem thematischen Kontext erreichen will. Leitbild, das hat vier Funktionen: 1. Orientierungsfunktion (Werte, Normen), 2. Integrationsfunktion (Wir-Gefühl, sog. Corporate Identity), 3. Entscheidungsfunktion (Riskmanagement), 4. Koodinierungsfunktion (von Mitarbeitern, Führungskräften, Öffentlichkeitsarbeit); hat folgendes Ziel: Vereinheitlichung und Überprüfbarkeit des Verhaltens der Personen im Unternehmen (sog. Corporate Behaviour). Lernen, das etymologisch Wort mit lehren und liste verwandt, was ursprünglich einer Spur nachgehen bedeutet. Aus lernpsychologischer Sicht wird Lernen als Prozess, der relativ stabilen Veränderungen des Verhaltens, des Denkens und/oder des Fühlens aufgrund von Erfahrungen oder neu gewonnenen Einsichten sowie des Verständnisses, aufgefasst. Lernen wird in intentionales (absichtliches) Lernen und inzidentielles/implizites (beiläufiges) Lernen differenziert. Lernziel, das beschreibt den Zustand am Ende eines Lernprozesses eines Lerners in einem konkreten thematischen Kontext. Linguistik, die ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, die die menschliche Sprache auf verschiedene Art und Weise erforscht.

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Lösungsfindungs- und Ergebnisverantwortung des Coachee, die nach der Hamburger Schule ist der Coachee selbst und alleine für die Lösungsentwicklung und das Ergebnis des Coaching verantwortlich. Dies beruht auf der Definition von Coaching, den drei Anliegen von Coaching sowie den vier Werten des Coaching nach der Hamburger Schule. Logik, die griechisch logiké = der Verstand betreffend; bedeutet die Folgerichtigkeit des Denkens; mathematischer Begriff für die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Axiomen und Sätzen mathematischer Theorien; betrifft die Fähigkeit richtig zu denken; wissenschaftlicher Begriff für die Lehre von den formalen Beziehungen zwischen Begriffen und Aussagen, insbesondere ihrer widerspruchsfreien Verknüpfung. Die Hamburger Schule begreift Coaching in seiner praktischen Ausprägung, in ihrem Coachingverständnis, im Coachingprozess und in der Evaluation des Coaching als begründbar und nachvollziehbar. Daher ist eine Logik im Coaching gegeben und notwendig. Da Logik als die Lehre von formalen Beziehungen oder Denkinhalten gilt, ist deren Beachtung im tatsächlichen Denkvorgang und seiner Erklärung „logisch“ erfahrbar. Das Curriculum einer Coachausbildung basiert auf Logik.

M Mahnung, die 1. umgangssprachlich für die Zahlungserinnerung; 2. rechtlicher Begriff für die bestimmte und eindeutige an den Schuldner gerichtete Aufforderung des Gläubigers, die geschuldete Leistung unverzüglich zu bewirken (§ 286 Abs. 1 BGB) Management, das englisch to manage = führen bzw. lateinisch manum agere = an der Hand führen; wird in folgenden Bereichen verwendet: 1. Managementlehre (Wissenschaft des Managements), 2. Managementprozess (Steuerung der Prozesse zur Erreichung der Managementziele). Manipulation, die lateinisch manipulare = Handgriff, Kunstgriff; psychologischer Begriff der gezielten und verdeckten Einflussnahme auf Personen, Sachen und Prozesse; diente in der Medizin ursprünglich dem Lösen einer Blockierung; Merkmale des Manipulierens ist die ... 1. Fremdführung von Menschen, 2. Ausnutzung von mangelndem Selbstvertrauen, 3. Schädigung von Personen. Die Hamburger Schule lehnt in jedem Kontext von Coaching, Coachausbildungen, Coachkompetenzen die Manipulation strikt ab (Verbot), da dies dem Verständnis von Coaching, den Werten von Coaching widerspricht. Marketing, das englisch marketing = auf den Markt bringen; betriebswirtschaftlicher Begriff nach ERICH GUTENBERG für den Prozess im Wirtschafts- und Sozialgefüge durch den Einzelpersonen und Gruppen ihre Bedürfnisse und Wünsche befriedigen, in dem sie Produkte und andere Dinge von Wert erzeugen und miteinander austauschen; unterteilbar in ... 1. das strategische Marketing und 2. das operative Marketing. Schlüsselbegriffe des Marketing sind ... 280

1. Bedürfnisse, Wünsche und Nachfrage, 2. Produkte, 3. Nutzen, Kosten und Zufriedenstellung, 4. Austauschprozesse, Transaktionen und Beziehungen sowie 5. Marketingmix. Marketingkonzept, das gilt als Unternehmensphilosophie bzw. Aspekt der Corporate Identity; es besagt, dass der Schlüssel zur Erreichung unternehmerischer Ziele darin liegt, die Bedürfnisse und Wünsche des Zielmarktes zu ermitteln und diese dann wirksamer und wirtschaftlicher zufrieden zu stellen als die Wettbewerber. Maslow, Abraham 01.04.1908-08.06.1970 — amerikanischer Psychologe, Gründervater der Humanistischen Psychologie, welche die seelische Gesundheit anstrebt und die menschliche Selbstverwirklichung untersucht. Kreierte 1943 die Pyramide der Bedürfnisse. Maturana, Humberto 14.09.1928-dato — chilenischer Biologe und Philosoph; gilt neben FRANCISCO J. VARELA und ERNST VON GLASERSFELD als Begründer des radikalen Konstruktivismus, da er die Beziehung zwischen der Biologie und der Erkenntnistheorie feststellte; entwickelte 1972 die Autopoiesis. Maßnahme, die aktive Umsetzung der langfristig geplanten Anstrebung der eigenen Bedürfnisbefriedigung; handeln; Frage: Womit genau? Mediation, die lateinisch mediare = vermitteln; ist ein strukturiertes freiwilliges Verfahren zur konstruktiven Beilegung oder Vermeidung eines Konfliktes zwischen mindestens zwei Parteien; die Konfliktparteien (sog. Medianten) wollen mit Unterstützung einer unparteiischen Person (sog. Mediator) zu einer einvernehmlichen Vereinbarung gelangen, die ihren Bedürfnissen und Interessen entspricht. Meinungsfreiheit, die rechtlicher Begriff für ein Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 S.1 HS 1 GG; ist lex specialis zur allgemeinen Handlungsfreiheit, da jeder frei sagen kann, was er denkt, auch wenn er keine nachprüfbaren Gründe angibt/angeben kann; die Meinung umfasst sowohl ... 1. das Werturteil (subjektive Beziehung des sich Äußernden zum Inhalt seiner Aussage) als auch 2. die Tatsachenbehauptung (objektive Beziehung zwischen der Äußerung und der Wirklichkeit). Die Unterscheidung liegt im objektiven Sinn der Äußerung, sodass ... 1. die Thematik, 2. rational und 3. emotional begründet sowie 4. werthaltig irrelevant ist. Der Schutz der Meinungsfreiheit erfährt seine Begrenzung (sog. Schranke) in ... 1. den allgemeinen Gesetzen sowie 2. im Jugend- und Ehrenschutz. Diese Schranken müssen selbst auch rechtsstaatlichen Grundsätzen genügen (sog. SchrankenSchranke), wie dem Bestimmtheitsgebot und dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit; im Umkehrschluss sind unwahre Tatsachenbehauptungen und Schmähkritik bzw. Beleidigungen nicht schützenswert. 281

Menschenbild, das ist ein in der philosophischen Anthropologie gebräuchlicher Begriff für die Vorstellung/das Bild, das jemand vom Wesen des Menschen hat. Insofern der Mensch Teil der Welt ist, ist das Menschenbild auch Teil des Weltbildes. Menschenbild wie Weltbild sind immer in eine bestimmte Überzeugung oder Lehre eingebunden, die jemand vertritt. Methode, die griechisch methodos bzw. aus meta = hinterher usw. und hodos = Weg, Gang. Ein Lösungsmuster, was ein „richtiges“ Ablaufverfahren im Kontext definiert; konkretisierender Ablaufüberblick. Methodik, die bezeichnet die Gesamtheit wissenschaftlicher Methoden; den Gegensatz bildet intuitives und spontanes Handeln; pädagogischer Begriff für die Methoden des Lehrens und Lernens. Mission, die beschreibt Werte und Normen, die das Verhalten Einzelner und Gruppen in einem spezifischen Themenkontext leiten und verlangen. Mission von Coaching nach der Hamburger Schule, die Coaching beachtet bei der Entwicklung von nachhaltigen Selbstlernkonzeptionen die folgenden Werte: Freiheit, Freiwilligkeit, Ressourcenverfügung, Selbststeuerung, Wahrnehmungserweiterung, Entscheidungsfähigkeit, Handlungsalternativen, Konstruktivismus, systemisches Denken und Handeln, Handlungslernen; Coaching entsteht mit seelisch Gesunden. Mitbestimmung, die ist die Gewährung von Entscheidungsbefugnissen. Personen sind grundsätzlich von den Ergebnissen der Entscheidungen betroffen, haben aber zunächst keinen Einfluss auf den Entscheidungsprozess. Die fehlende Einflussmöglichkeit beruht auf formalen Rechts- oder Besitzverhältnissen. Häufig bezieht sich Mitbestimmung auf den Zugewinn von Einflussmöglichkeit von Arbeitnehmern auf (im weitesten Sinne) wirtschaftliche Entscheidungen. Siehe Mitbestimmung des Betriebsrates bzw. Personalrates. Modell, das italienisch modello bzw. lateinisch modulus = das Maß; wurde in der Renaissance als Maßstab der Architektur verwendet; Ein Modell ist die komplexreduzierende und abstrakte Darstellung von Wirklichkeit; generalisierender Überblick. Modelle der Hamburger Schule, die Die Hamburger Schule hat eigene Modelle entwickelt und findet folgende wichtig: 1. Kompetenzentwicklungsmodell, 2. Kompetenzmodell, 3. Kritische Erfolgsfaktoren im Coaching, 4. Zentrale Werte im Coaching, 5. Coachingprozess, 6. MVWK-Modell mit vier Kontextvarianten, 7. Individuelle Werteentwicklung, 8. Psycho-biologische Befindlichkeit. Moral, die lateinisch mos = Sitte; bezeichnet die Gesamtheit normativer Regeln, Werte, Tugenden, Ziele und Zwecke, die für ein Individuum, eine soziale Gruppe oder Gemeinschaft oder die Menschheit überhaupt faktisch gelten oder gelten sollen. Motiv, das die Motive pl.; ein unspezifischer Beweggrund für ein Verhalten. 282

Motivation, die lateinisch motus = Bewegung, aber auch Bereitstellung von Energie; humanwissenschaftlicher Begriff für den Zustand, der die Richtung des Verhaltens beeinflusst bzw. nach CORELL die innere Bereitschaft zur Aktivität (sog. Verhaltensbereitschaft); wichtig für ... 1. die allgemeine Psychologie der Lebensmotive nach den Motivberatern, 2. die humanistische Psychologie der Bedürfnisse nach ABRAHAM MASLOW, 3. die Arbeitspsychologie der „Zwei-Faktoren-Theorie” nach FREDERICK HERZBERG, 4. das erweiterte „kognitive Motivationsmodell” nach HEINZ HECKHAUSEN, 5. die Führungsaufgabe „Motivation auslösen“, 6. die Aufteilung in extrinsische und intrinsische Motivation. MVWK-Modell, das entwickelt von ROLF MEIER und AXEL JANßEN nach den Grundsätzen und den Gedanken der Hamburger Schule. Das Modell beschreibt den Zusammenhang zwischen Motiven, Werten und deren Einfluss auf das Verhalten in einem Kontext bzw. in Kontexten. Es kann sowohl zur Analyse, zum Verständnis als auch zur Ableitung von Reflexionsangeboten genutzt werden. N Nachhaltigkeit, die 1. ursprünglicher Begriff aus der Forstwirtschaft für die Bewirtschaftung und die sinnvolle Nutzung/Abrodung der natürlichen Ressourcen von z.B. Wäldern und Auen; 2. Nachhaltigkeit meint, dass der Coachee aus sich heraus vergleichbare, zukünftige thematische Situationen in unterschiedlichen Kontexten erfolgreich gestaltet. Nach der Hamburger Schule kann der Coachee durch den Coachingprozess in Kongruenz zu seinem Veränderungsziel selbstständig seine Veränderungen initiieren und sein Verhalten durch seine Selbstreflexion auch in sich wandelnden aber thematisch vergleichbaren Kontexten in der Zukunft stabilisieren. Neurolinguistische Programmieren (NLP), das psychologischer Begriff für ein Verfahren der Kurzzeittherapie, welches anfangs der 1970er Jahre von den US-amerikanischen Professoren für Psychologie RICHARD BANDLER und dem Linguisten JOHN GRINDER entwickelt wurde; diese definieren NLP als das Studium der Struktur subjektiver Erfahrung und den Folgerungen daraus; Gestalttherapeut ROBERT DILTS ist ursprünglicher NLP-Entwickler und unterschiedet drei Ebenen des Modells NLP: 1. Epistemologie (wie bilden Menschen ihre subjektive Welt), 2. Methodologie (Methode zur Nachbildung der Modelle, auf denen exzellentes Tun anderer Menschen beruht), 3. Technologie (spezifische Verfahrensweisen der Veränderung subjektiven Erlebens), bzw. übertragen auf NLP: 1. neurologische Komponente; bezieht sich auf die neurologischen und biochemischen Regelkreise, auf die Verarbeitung und Repräsentation von Informationen durch die Sinnessysteme und andere Auswirkungen auf die Befindlichkeit, 2. linguistische Komponente; bezieht sich auf den Ausdruck der subjektiven Erfahrung in den Prozessen von Sprache/Denken/Imagination/Logik und nutzt ... • Generalisierung, • Tilgung, • Verzerrung; 283

3. Komponente des Programmierens; bezieht sich auf die wechselseitige (beeinflussende) Beziehung zwischen Neurologie und Sprache. Nach der Hamburger Schule darf das Programmieren/Modelling im Coaching nicht verwendet werden, da es der Theorie vom Selbstorganisierten Coaching widerspricht. nonverbal lateinisch verbalis bzw. verbum = Äußerung, Sprache, Sprechen und non = nicht; nicht mit Hilfe der Sprache sprechend; Synchronisation von Gestik und Mimik, Angleichung von Atemsequenz und -rhythmik.

O Objektivität, die lateinisch objectum = das dem Verstand vorgesetzte; erkenntnistheoretischer Begriff für die überindividuelle, unabhängig vom Einzelnen bestehende Wahrheit eines bestimmten Gegenstandes (Objekts), Sachverhalts (Kontextes) oder einer Aussage; auch die Eigenschaft der Unabhängigkeit von individuellen Umständen, historischen Zufällen oder beteiligten Personen; wissenschaftlicher Begriff für ein verbindliches Kriterium für die intersubjektive Geltung von Aussagen und Verfahren und kann allgemein überprüft werden; Gegenbegriff ist die Subjektivität. offene Frage, die Art einer Frage mit der Absicht dem Befragten die Freiheit zu geben seine Antwort selbst zu entscheiden. operative Management, das betriebswirtschaftlicher Begriff für eine von drei Ebenen des Managements nach KNUT BLEICHER; befasst sich mit Prozessen der Mitarbeiterführung, der finanziellen Führung und des Qualitätsmanagements; ist kurzfristig angelegt und verfolgt konkrete Ziele. Option, die bedeutet eine Auswahlmöglichkeit; benutzbar bei Alternativen, mehreren Möglichkeiten und Varianten. Organigramm, das Begriff für eine grafische Darstellung der Aufbauorganisation (sog. Organisationsplan, Organisationsschaubild); dient ... 1. der Verteilung betrieblicher Aufgaben auf Stellen und Abteilungen; 2. der hierarchischen Struktur der Aufbau- bzw. Leitungsorganisation und der Weisungsbeziehungen; 3. der Einordnung von Leitungshilfestellen; 4. der personellen Besetzung (Stäbe, Stellen, Abteilungen) und stellt die „Landkarte des Unternehmens“ dar; Symbolerklärung: Quadrat = Ausführungsstelle/Leitungsstelle, Kreis = Leitungshilfestelle, Linie = Über- bzw. Unterordnung mit Vollkompetenzen, gestrichelte Linie = Über- bzw. Unterordnung mit Fachkompetenzen; darstellbar als ... • horizontales Organigramm, • vertikales Organigramm, • Mischform. Orientierung, die Bestandsaufnahme der Bedürfnisse.

P Pädagogik, die griechisch paideia = Erziehung und agein = führen; wissenschaftlicher Begriff für die Lehre von der Erziehung; unterteilt in die... 284

1. theoretische Erziehungswissenschaft für die philosophischen Grundlagen, dem Sinn und Ziel der Erziehung sog. Didaktik und 2. praktische Pädagogik für die Untersuchung der bestmöglichen Methoden der geistigen und körperlichen Erziehung/sog. Methodik); typische Begriffe sind Bildung und Erziehung, Lehren und Lernen, Sozialisation, Verhalten und Handlung. Die Hamburger Schule verwendet für Ihre Didaktik und Methodik Erkenntnisse von Wissenschaft und Erfahrungen der Pädagogik. Partnerschaftsgesellschaft, die gesellschaftsrechtlicher Begriff für eine Gesellschaft, in der sich Angehörige freier Berufe zur Ausübung ihrer Berufe zusammenschließen und wird nach dem PartGG bzw. §§ 705-740 BGB geregelt. Die Partnerschaftsgesellschaft übt kein Handelsgewerbe aus und kann nur von natürlichen Personen gegründet werden. Eine bloße Kapitalbeteiligung ist nicht zulässig. persönliche Kompetenz, die bedeutet in einem Kontext eigene Gefühle, Motive, Bedürfnisse, Werte und Begabungen identifiziert zu haben und sich selbst in seinem Verhalten einschätzen zu können. Personengesellschaft, die gesellschaftsrechtlicher Begriff für den Zusammenschluss von mindestens zwei natürlichen Personen und/oder juristischer Personen zur Erreichung eines gemeinsamen Zweckes. Eine Personengesellschaft ist keine juristische Person und hat eine eingeschränkte Rechtsfähigkeit. Der Gegenbegriff innerhalb der Gesellschaftsformen sind die sog. Kapitalgesellschaften. Perspektive, die lateinisch perspicere = hindurchsehen, durchblicken; allgemeiner Begriff für die Sichtweise, den Standpunkt, den Blickwinkel; zeitliches Moment für die Zukunftsaussicht, die Entwicklungsmöglichkeit; Bestandteil vieler Interventionen zur Veränderung der Wahrnehmung wie beispielsweise ... 1. JoHaRi-Fenster, 2. Wahrnehmungspositionen wechseln, 3. Coachingfragen usw. Perspektivwechsel, der Einnahme einer anderen Sichtweise — Synonym zu Umdeutung bzw. engl. „Reframing”. Perturbation, die lateinisch perturbare = durcheinander wirbeln; konstruktivistischer Begriff von HUMBERTO MATURANA für die Systemtheorie; eingeführter Fachbegriff um darauf hinzuweisen, dass Störungen auch positive Auswirkungen auf Systeme haben können; die Hamburger Schule verfolgt in ihrer Erklärungssystematik neben dem systemischen Ansatz auch den konstruktivistischen Ansatz. Philosophie, die griechisch philosophia = Liebe zur Weisheit; wissenschaftlicher Begriff für die Lehre vom Wissen und ihren Grundlagen bzw. des Seins, des Geschehens und des Erkennens; untersucht die Möglichkeiten ... 1. des Wissens, 2. der Grundbegriffe, 3. von Gesetzen und Formen des Denkens und 4. der Erkenntnis, die Formen des Bewusstseins und der Sprache. Teilbar in folgende Disziplinen: 1. Ästhetik, 2. Erkenntnistheorie, 285

3. Ethik, 4. Geschichtsphilosophie, 5. Gesellschaftsphilosophie, 6. Kulturphilosophie, 7. Logik, 8. Metaphysik, 9. Moralphilosophie, 10.Naturphilosophie, 11.Rechtsphilosophie, 12.Religionsphilosophie und 13.Sprachphilosophie. Die Hamburger Schule verwendet für Ihre Didaktik Erkenntnisse von Wissenschaft und Erfahrungen der Philosophie. Planen, das allgemeiner Begriff für die gedankliche Vorwegnahme von Handlungen/Maßnahmen, die zur Erreichung eines Ziels notwendig scheinen; das abstrakte Planen ist eine kognitive Fähigkeit und zählt in der Psychologie zur Rationalität und zur Intelligenz; die konkrete Planung benötigt externe Informationen und Erfahrungsquellen. Wichtige Merkmale sind: 1. Zukunftsbezogenheit, wegen der Zielsetzung und Zielerreichung, 2. Prozesscharakter, wegen der aufeinander abgestimmten Maßnahmen, 3. Gestaltungscharakter, wegen der aktiven Mitgestaltung der Zukunft, 4. Informationscharakter, wegen der Einholung und Bearbeitung von internen und externen Informationen. Wichtige Funktionen sind: 1. Frühwarnfunktion, wegen der Strukturierung der Thematik, 2. Orientierungsfunktion, wegen der Analyse des Ist- und Soll-Zustandes, 3. Koordinierungsfunktion, wegen der Berücksichtigung von Abhängigkeiten, 4. Moderationsfunktion, wegen der Auflösung von Interessenkonflikten. Nach der Hamburger Schule ist das Planen als eine von vierzehn Führungsaufgaben wichtiger Bestandteil der Analyse eigenen Tuns. Position, die lateinisch positio = das Setzen/Stellen, die Lage/Stellung und wird in verschiedenen Zusammenhängen gebraucht. Die Position ist stets eine örtliche oder räumliche Information. Potenzial, das ist die Wirkungsmöglichkeit eigener Ressourcen, um in thematischen Kontextbereichen Handlungskompetenz zu entwickeln. pragmatisch griechisch pragma = Sache; man eignet sich nur so viel Wissen an, wie zur Realisierung und Umsetzung benötigt wird. Problem, das lateinisch problema = eine zum Lösen vorgelegte, unentschiedene, zweifelhafte Aufgabe, eine Streitfrage; Abweichung vom Zustand des Optimums; oft ein subjektives/objektives oder internes/externes Hindernis; Gegenwort ist Lösung. Nach der Hamburger Schule ist das ... 1. Coaching nicht problem- sondern lösungsorientiert, 2. Veränderungsthema systemisch und systematisch zu analysieren (Ist-Zustand) — vgl. Coachingablauf. 286

Prozess, der mittelhochdeutsch process = behördliche Anordnung, amtliche Verfügung, gerichtliche bzw. lateinisch processus = Fortschreiten, Fortgang, Verlauf; ist im Coaching die festgelegte Ablaufstruktur, die mit Hilfe von Reflexionsangeboten auf Abstraktionsebene die nachhaltige Selbstlernkonzeption auslösen will. Prozessverantwortlichkeit des Coach, die Rechenschaftspflicht gegenüber der Einhaltung der vereinbarten Ablaufstruktur im Coaching. Psychologie, die griechisch von Lebenslehre; wissenschaftlicher Begriff für die Lehre vom Verhalten und der seelisch-geistigen Voraussetzungen; steht mit ihren Ausformungen zwischen der Geisteswissenschaft und der Naturwissenschaft; Spezialgebiete wie ... 1. allgemeine Psychologie, 2. Arbeitspsychologie, 3. biologische Psychologie, 4. differenzielle und Persönlichkeitspsychologie, 5. Entwicklungspsychologie, 6. klinische Psychologie, 7. pädagogische Psychologie, 8. Sozialpsychologie und umfasst alles von Selbstbeobachtung bis zur Auswertung von Experimenten. Die Hamburger Schule verwendet für Ihre Didaktik Erkenntnisse von Wissenschaft und Erfahrungen der Psychologie. psychomotorische Lernziel, das beschreibt Lernvorgänge in den Bereichen Einsatz und Koordination von körperlichen Aktivitäten. Psychosomatik, die altgriechisch psyché = Atem, Hauch, Seele und soma = Körper, Leib, Leben; medizinisch-psychologischer Begriff für die Lehre, die psychischen Prozessen bei der Entstehung körperlicher Leiden wesentliche Bedeutung beimisst. psychosomatisch Adjektiv von Psychosomatik; auf psychisch-körperlichen Wechselwirkungen beruhend.

R Rat/Ratschlag, der Aufforderung/Angebot zu einem/für ein Verhalten, das der betreffenden Person Hilfe verspricht. Recht, das rechtswissenschaftlicher Oberbegriff für objektives und subjektives Recht; Aphorismus bzgl. des inhaltlichen Verständnisses steht am Beginn der Digesten „Ius est ars boni et aequi.“ = „Recht ist die Kunst des Guten und des Gerechten“. 1. Das objektive Recht bezeichnet die Rechtsordnungen mit gesetzgebender Institution. Es besteht insgesamt aus einer unüberschaubar großen Zahl von Normen, die nach ihrem nationalen oder internationalen Geltungsbereich in Rechtssysteme und das global geltende Völkerrecht eingeteilt sind. Die Rechtswissenschaft, besonders die Rechtstheorie, unterteilt die Rechtssysteme wiederum in Rechtsgebiete, nämlich öffentliches Recht, Privatrecht und Strafrecht, die nach sachlichen oder inhaltlichen Gesichtspunkten in Methoden übergreifende 287

Rechtsgebiete, wie etwa das Verkehrsrecht, das Wirtschaftsrecht oder das Baurecht, gegliedert werden. 2. Das subjektive Recht ergibt sich aus den Normen des objektiven Rechts für den Normadressaten im Einzelfall eine Berechtigung, wie etwa das Recht auf freie Meinungsäußerung, das Eigentumsrecht oder einen Anspruch. Recht und Moral sind voneinander abzugrenzen, da sich das Recht primär auf das äußere Verhalten des Menschen bezieht und sich die Moral an die Gesinnung des Menschen wendet (vgl. Rechtsphilosophie). Die Rechtsphilosophie beschäftigt sich mit der inneren Rechtfertigung der gesetzlichen Gebote und Verbote. Recht und Werte sind miteinander verwoben, da jeder Rechtsordnung eine bestimmte Wertordnung zu Grunde liegt. Z.B. sind die Grundrechte des Grundgesetztes eine objektive Wertordnung für das gesamte deutsche Recht. Diesem Sinn und Zweck samt der rechtsgeschichtlichen Wertung folgt die Hamburger Schule. Reflexion, die lateinisch reflexio = das Zurückbeugen, das Zurückbiegen, das Zurückkrümmen; philosophischer Begriff für ein prüfendes und vergleichendes Nachdenken; pädagogischer Begriff für das Nachdenken über eine vergangene pädagogische Situation; physikalischer Begriff für das Zurückwerfen von Wellen/Strahlung. Im Coaching ist die Reflexion ein Synonym für die Ableitung von Erkenntnissen aus einem sprachlich-visuellen Angebot. Reframing, das englisch reframing = Umdeutung, Neurahmung; psychologischer Begriff für eine Technik in der systemischen Familientherapie begründet von VIRGINIA SATIR; Begriff aus dem NLP; ein bestimmter Kontext oder eine Bedeutung wird durch den NLP-Coach umgedeutet, reframed; dadurch entsteht ein neuer Blickwinkel/Perspektivwechsel zur Reflexion über die eigenen Ressourcen; vgl. Metapher: „Ein neuer Rahmen wird gesetzt!“ Im Coaching kann aufgrund der Werteorientierung nur der Coachee selbst einen Kontext oder eine Bedeutung umdeuten. Reiss, Steven US-amerikanischer Testanalytiker und Motivationsforscher, emeritierter Professor für Psychologie und Psychiatrie an der Ohio State University (USA). Als er 1997 lebensbedrohlich erkrankte, stellte er sich die Frage „War ich glücklich in meinem Leben?“ und fand eine Lücke in der Motivationsforschung. Zur Beantwortung seiner Frage führte er menschliches Verhalten auf 16 relevante Lebensmotive zurück. Religion, die lateinisch religio = Gottesfurcht, Frömmigkeit, Heiligkeit; allgemeiner Begriff für die spirituelle bzw. ethnische Weltanschauung; es existiert kein einheitlich wissenschaftlicher Begriff;, bezeichnet eine Vielzahl unterschiedlicher kultureller Phänomene, die menschliches Verhalten, Handeln und Denken prägen und Wertvorstellungen normativ beeinflussen; unterteilbar in ... 1. Theismus (Glaube an ein höheres Wesen) teilbar in ... • Monotheismus (Glaube an einen einzigen höchsten Gott — ohne zwingende Annahme der Nichtexistenz anderer Götter), • Polytheismus (Glaube an die Existenz mehrerer Götter und ihnen eine Bedeutung für bzw. einen Einfluss auf ihr Leben zugestehen), • Pantheismus (Glaube an die Identität von dem Göttlichen bzw. Gott mit der Gesamtheit der Welt), 2. Atheismus (Glaube an die Nichtexistenz eines göttlichen Wesen), 288

3. Agnostizismus (Weltanschauung über die grundsätzlich nicht zu klärenden Fragen der Existenz als auch der Nichtexistenz eines höheren Wesen). Die weltweit größten Religionen sind nach der Anhängerzahl: 1. Christentum, 2. Islam, 3. Hinduismus, 4. Buddhismus, 5. Daoismus, 6. Sikhismus, 7. Judentum, 8. Bahai, 9. Konfuzianismus, 10. Shinto. Ressource, die französisch ressource = Mittel, Quelle; bedeutet natürliche Vorkommnisse und Mittel wie ... 1. ökologisch die Luft/der Wind, das Wasser, die Erde, das Feuer, das Leben oder alle Rohstoffe, 2. ökonomisch die Arbeit, der Boden, die Umwelt, das Kapital, 3. psychologisch Fähigkeiten, Charaktereigenschaften usw., 4. soziologisch die Bildung, die Gesundheit, das Prestige usw. Ressourcenidentifikation, die eine von fünf Phasen des Coachingablaufs nach der Hamburger Schule. Dient dazu vorhandene, kontextbezogene Ressourcen zu sammeln, um daraus in der folgenden Phase Verhaltensalternativen zu entwickeln. Ressourcenverfügung, die Orientierungswert im Coaching. Das Axiom „die Lösung liegt im Coachee“ bedingt das Vorhandensein dieses Wertes. Rubikon, der 49 v.Chr. überschritt GAIUS IULIUS CAESAR das Flüsschen Rubikon in Italien, das damals die natürliche Grenze zwischen Italien und der Provinz Gallia Cisalpina bildete; die Überquerung dessen verursachte einen Bürgerkrieg. „Den Rubikon überschreiten“ ist Ausdruck für eine unwiderrufliche Einlassung auf eine riskante Handlung; Namensgeber für „Rubikon-Modell” der Handlungsphasen von HEINZ HECKHAUSEN. Rubikon-Modell der Handlungsphasen, das motivationspsychologisches Modell von HEINZ HECKHAUSEN bestehend aus vier Phasen: 1. Phase des Abwägens, 2. Phase des Planens, 3. Phase des Handelns und 4. Phase des Bewertens. Zu 1. In der Abwägungsphase werden aus den vielen Wünschen die derzeit wichtigsten Wünsche extrahiert, bestimmt durch die Ressourcen Zeit und Kontext, die sog. gezielte Suche nach Informationen. Sinn und Zweck der Phase ist die Intentionsbildung bzw. Bestimmung eines Ziels oder einer Zwecksetzung. Das festgelegte Ziel kommt auf mehr oder weniger gründlichen Erwägungen durch möglicherweise „Kurzentschlossenheit“ via Entscheidung auf ein bestimmtes Ziel zustande, was nach HECKHAUSEN „Schritt über den Rubikon“ heißt. 289

Zu 2. In der Planungsphase liegt der Fokus auf dem Wie der Zielerreichung und dem Was (Ziel) der Abwägungsphase. Die Motivation wird zur Volition verschoben, weil es um die willentliche und wissentliche Umsetzung/Realisierung der Zielintention geht. Die Planung umfasst nähere Spezifizierungen und Umstände der möglichen Umsetzung des Ziels via Implementierungsintention. Wenn mehrere Ziele miteinander konkurrieren setzt sich das dominanteste wegen verschiedener Faktoren durch. Zu 3. In der Handlungsphase liegt der Fokus auf der Aktion bzw. Handlungsinitiierung. Die eigene Handlung wir ausdauernd auf das Ziel ausgerichtet, wobei Ablenkungen unterbunden werden und Flexibilität im Handlungsverlauf bei auftretenden Schwierigkeiten erforderlich ist. Entscheidend für die Wahrscheinlichkeit und Geschwindigkeit der Realisierung ist die Volitionsstärke. Zu 4. In der Bewertungsphase liegt der Fokus auf der Bewertung der Zielerreichung. Die Intention wird deaktiviert, sodass beurteilt wird, ob die Handlung ein Erfolg war (oder nicht) und ob ggf. Nachbesserungen erforderlich sind (oder nicht) bzw. das Ziel verändert werden muss (oder nicht), sog. Soll-Ist-Vergleich. Gleichzeitig wird der Zusammenhang von Erfolg und Misserfolg, basierend auf dem Vergleich von motivationalen und volitionalen Aspekten beurteilt, sog. Kausalattribution. Die Abfolge der Handlungsphasen ist eine idealtypische Vorstellung und existiert in der Realität sehr selten, da viele Handlungen ohne Abwägen und Planen erfolgen (sog. Gewohnheitshandlungen), oder die geistigen Tätigkeiten erfolgen gleichzeitig aufgrund paralleler Zielerreichung usw. oder man verfällt von einer späteren Phase in eine frühere Phase. Rücktritt, der rechtlicher Begriff für das Gestaltungsrecht ein Rechtsgeschäft via einseitiger, empfangsbedürftiger Willenserklärung ab sofort unwirksam zu machen, sodass sich das Schuldverhältnis in ein Rückabwicklungsverhältnis gem. §§ 346 ff. BGB verwandelt.

S Selbstachtung, die auch der Eigenwert, der Selbstwert, das Selbstwertgefühl, das Selbstkonzept; psychologischer Begriff für den Eindruck oder die Bewertung, die man von sich selbst hat. Der Eindruck bezieht sich auf das äußere und das innere Bild mitsamt seiner Kompetenzen in jedem Kontext; Gegensatz ist die Fremdachtung. Selbstbewertung, die Fähigkeit einen verfügbaren Maßstab zu nutzen und daraus selbstgesteuert Verhaltensänderungen abzuleiten. Selbstlernkonzeption, die das Erstellen einer Selbstlernkonzeption bedeutet die Fähigkeit ein Ziel-, Struktur- und Handlungssystem in einem thematischen Kontext in Bezug auf eigenes Lernen zu erstellen und zu realisieren. Selbststeuerung, die meint, dass der Coachee in der Lage ist Veränderungsanforderungen selbst zu erkennen und selbst zu realisieren. Semantik, die befasst sich mit dem Sinn und der Bedeutung von Informationen und ist eine Teildisziplin der Linguistik. Situation, die lateinisch situs = Stelle, Lage, Sitz; geografischer Begriff für die geografische Lage, die Gegend, den Lageplan; wissenschaftlich bedeutet Situation, den Menschen in der Welt; benutzbar 290

für die Perspektivität des Wahrnehmens; allgemein bedeutet Situation die allgemeine Befindlichkeit in einer Umgebung/in einem Zusammenhang/in einer Abhängigkeit. Nicht zu verwechseln mit Kontext. Sitte und Sittlichkeit, die die Sitten pl.; die auf geschichtlicher Tradition, Brauch und Gewohnheit beruhenden, für eine kulturelle oder soziale Gemeinschaft faktisch als normativ verbindlich geltenden Normen und Regeln, Werte und Tugenden, Ziele und Zwecke. skalierende Frage, die Frageart mit der Absicht Unterschiede wahrnehmbar zu machen. sozio-kommunikative Kompetenz, die nach der Hamburger Schule bedeutet es, sich selbst gesteuert in einer Situation mit den Gefühlen, den Bedürfnissen, den Motiven, den Werten der eigenen und anderen Personen auseinanderzusetzen. Aufgrund der erkannten Unterschiede und Gemeinsamkeiten wird ein sozialer Kontext vereinbart, der die Interessen aller Beteiligten berücksichtigt. Sprache, die das Vermögen die allgemeine Fähigkeit zu sprechen, sich zu verständigen; der Informationsträger mündlicher oder schriftlicher Kommunikation. Stakeholder, die englisch stake = (Wett-)Einsatz, Beteiligung und holder = Eigentümer, Halter; bezeichnet eine natürliche/juristische Person, die ein Interesse am Verlauf eines Prozesses von einem Projekt/ Unternehmen hat. Betriebswirtschaftlicher Begriff für die Anspruchsgruppen eines Unternehmens. St. Galler Managementmodell, das Modell der systemorientierten Managementlehre, entwickelt in den 1960er Jahren an der Universität St. Gallen und von HANS ULRICH/WALTER KRIEG und ist im deutschsprachigen Raum 1972 erstmals publiziert worden; daraus sind 1991 von KNUT BLEICHER drei Ebenen der Unternehmensführung hervorgehoben worden: 1. Normatives Management, 2. Strategisches Management, 3. Operatives Management. Strategie, die griechisch strategos = Bezeichnung eines Amtes (die zehn Strategen); beschreibt eine optimale grundsätzliche Vorgehensweise in einem thematischen Wertekontext zur Zielerreichung. Strategische Management, das betriebswirtschaftlicher Begriff für eine von drei Ebenen des Managements nach KNUT BLEICHER; befasst sich mit der Entwicklung von Strategien, um die im normativen Management gefassten Unternehmensvisionen und Ziele umzusetzen, damit das operative Management konkrete Maßnahmen ergreifen kann; ist langfristig angelegt. strukturelle Ressource, die abstraktes, wissenschaftlich legitimierbares Angebot von gleichwertigen Zusammenhängen in Form von Modellen, Theorien oder Axiomen aus denen Erkenntnisse in Bezug auf ein Thema abgeleitet werden können. Subjektivität, die erkenntnistheoretischer Begriff für die individuelle Wahrnehmung eines Individuums; nach der Hamburger Schule steht der Coachee als Subjekt mit seinem Veränderungsthema im Coachingfokus, da er seine persönlichen Gefühle äußert, seine Werte/Lebensmotive und essenziellen Be291

dürfnisse kennen lernt, damit ihm seine Kompetenzen bewusst werden und seine Ressourcen mobilisieren kann; Gegenbegriff ist die Objektivität. Synthese, die lateinisch synthesis oder griechisch synthesis = die Zusammensetzung, die Zusammenfassung, die Verknüpfung; chemischer Begriff für den Aufbau einer komplizierten chemischen Verbindung aus einfachen Bestandteilen; sprachwissenschaftlicher Begriff für die Verbindung zweier gegensätzlicher Begriffe/Aussagen (These und Antithese) zu einer höheren Einheit. System, das lateinisch systema = aus mehreren Teilen zusammengesetztes Ganzes; physikalisches System bezeichnet alle in einem Modell enthaltenen Objekte und Eigenschaften. Die Systeme des Coachee sind komplexitätsreduzierte Erklärungen seiner Bezugswahrnehmung (Kontext). systemisch Adjektiv von System systemische Coaching, das berücksichtigt die komplexe Lebenswelt des Coachee in der Analyse des konkreten Kontextes durch den Coachee und zur qualitativ hochwertigeren Erreichung seines Ziels des Coaching. Systemisches Coaching hat als Betrachtungs- und Deutungsbezug immer die Einzelfallsituation des Coachee, seiner Person und seiner Veränderungsthematik im Fokus. Daher akzeptiert und bearbeitet systemisches Coaching grundsätzlich individuelle Anforderungen und Deutungen der thematischen Bezüge eines Menschen unter dem Aspekt des Konstruktivismus (gefühlte Objektivität des Subjekts). systemische Frage, die Sammelbegriff für Fragen, die die Selbstreflexion fördern; ursprünglich aus der Familientherapie. Im Coaching angelehnt an den Begriff systemisches Coaching. Unterteilbar in ... 1. hypothetisch-zirkuläre Fragen, 2. zirkuläre Fragen, 3. skalierende Fragen. systemische Management Coaching, das Ausdruck für systemische Feldkompetenz und den fachlich-methodischen Anteil der Kompetenz im Management eines Coach.

T Täuschung, die rechtlicher Begriff für das bewusste Erregen oder Aufrechterhalten eines Irrtums durch Vorspiegeln falscher oder Unterdrückung wahrer Tatsachen, um den Getäuschten zur Abgabe einer Willenserklärung zu veranlassen. Taxonomie, die im Lehr-Lernprozess geben Taxonomien den Erreichungsgrad eines Lernziels an. Taxonomiestufen, die sind traditionell in der Regel mit dem Namen BENJAMIN BLOOM verbunden. BLOOM hat für kognitive, affektive und psychomotorische Lernziele eigene Ausprägungen/Stufungen (Taxonomien) entwickelt. Zusammen ergeben sie 16 Stufungen. In der pädagogischen Praxis haben sie sich als unpraktisch erwiesen. Für alle drei Lernzielbereiche werden in der Praxis in der Regel nur zwischen drei und fünf Taxonomiestufen verwendet. Nach den von MEIER/JANßEN formulierten konstruktivistischen Taxonomiestufen sind dies vier Stufungen: faktisch richtiges Wissen, kontextbezogenes Anwenden von Wissen, Reflexion systemischen Agierens und konstruktivistischer Kontexttransfer. 292

Team, das altenglisch team = Familie, Gespann, Nachkommenschaft; bezeichnet einen Zusammenschluss von mehreren untereinander abhängigen Personen durch Arbeitsteilung/Arbeitsprozess zur Erreichung eines bestimmten und gemeinsamen Ergebnisses. Thema, das Themen pl. und Themata pl.; griechisch théma = Behauptung, Ausspruch; allgemeiner Begriff für den gedanklichen Mittelpunkt; musikalischer Begriff für den Hauptteil, dessen Ideen der Harmoniefolgen in Improvisationen oder weiteren Teilen ausgearbeitet, paraphrasiert oder imitiert werden; literarischer Begriff für den Gegenstand oder den Grundgedanken einer schriftlichen Arbeit; grammatikalischer Begriff für die Ausgangsinformation eines Satzes (oft das Subjekt); nach der Hamburger Schule bringt der Coachee ein ihn betreffendes Thema zum Coaching mit (sog. Coachingthema bzw. Veränderungsthema). Thema- und Zielklärung, die eine von fünf Phasen des Coachingablaufs nach der Hamburger Schule; als Beginn des eigentlichen Coaching werden ... 1. der Ist-Zustand anhand der schriftlichen Fixierung des Themas und seiner visuell systemischen Aufstellung, 2. der Soll-Zustand anhand einer Zielformulierung und seinen systemischen Zielerreichungsmerkmalen schriftlich fixiert. Theorie, die Gedankenmodell zum Erklären von Erscheinungen oder zur Konstruktion neuer Welten. Therapie, die medizinischer Begriff für die Maßnahmen zur Behandlung von Krankheiten und Verletzungen; dient ... 1. sowohl der Heilung als auch der Beseitigung oder Linderung von Symptomen und 2. der Wiederherstellung der physischen/psychischen Funktionen des Patienten. Therapieren darf nur eine approbierte Person des Heilberufes wie ... 1. akademischer Heilberuf wie ... • Arzt nach der Approbationsordnung für Ärzte (ÄAppO), • Zahnarzt nach der Approbationsordnung für Zahnärzte, • Psychotherapeut nach dem Psychotherapeutengesetz, • Veterinär nach der Verordnung zur Approbation von Tierärztinnen und Tierärzten, • Pharmazeut nach der Approbationsordnung für Apotheker (AAppO) aber auch 2. andere psychotherapeutische Heilberufe wie ... • psychologischer Psychotherapeut nach dem Psychotherapeutengesetz, • Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut nach dem Psychotherapeutengesetz, • Heilpraktiker nach dem Heilpraktikergesetz und 3. Personen der Heilhilfsberufe, die dem „Arzt“ untergeordnet sind. Die speziellen Fachrichtung können in der deutschen (Muster-)Weiterbildungsordnung der Bundesärztekammer nachgelesen werden; daher muss Coaching nach der Hamburger Schule von der Therapie unbedingt abgegrenzt werden. These, die griechisch thésis = Platz, Stelle, Lage bzw. Vorschlag, Behauptung; allgemeiner Begriff für einen Gedanken oder Satz, dessen Wahrheitsinhalt eines Beweises bedarf; bildet in der Sprachwissenschaft mit der Antithese und der Synthese den dialektischen „Dreischritt“ zur Argumentation; Voraussetzungen einer These ... 293

1. sind ein klares und genau definiertes Urteil, 2. Falsifizierbarkeit, 3. müssen während ihrer Darstellung identisch bleiben, 4. dürfen keiner anderen akzeptierten These widersprechen, 5. dürfen keine andere akzeptierte These einschränken, 6. dürfen keinen logischen Widerspruch enthalten, 7. müssen durch nachprüfbare Tatsachen belegt sein und 8. kein evidentes Urteil sein. Traum, der allgemeiner Begriff für ein entweder im Schlaf erlebtes Geschehen oder etwas Ersehntes, etwas Unwirkliches oder Ästhetisches; die Wahrnehmung findet weder in der körperlichen Sinneswahrnehmung noch nach kognitiven Fähigkeiten (wie begriffliches Denken und kausal-logisches Erinnern) statt. Transaktionsanalyse, die Theorie aus der Psychoanalyse, begründet von ERIC BERNE, stellt sowohl eine Theorie der menschlichen Persönlichkeit als auch zur Entwicklung der Persönlichkeit dar. Sie dient zur Reflexion über die eigene Kommunikation und das Verhalten in Konflikten. Training, das allgemeiner Begriff für alle Prozesse, die eine verändernde Entwicklung hervorrufen; Fokus ist das Erlernen von Wissen und Kompetenzen als langfristige Anpassungserscheinung; dabei gibt der Trainer sowohl das Trainingsziel als auch den Trainingsablauf vor, was der Trainee erlernen und umsetzen soll (sozial erwünschtes Verhalten); in bestimmten Bereichen werden Trainings angeboten: 1. Pädagogik (Erziehung von Kindern und Jugendlichen), 2. Andragogik (Erwachsenenbildung), 3. Psychotherapie (autogenes Training, progressive Muskelentspannung usw.). Nach der Hamburger Schule muss Coaching von Training abgegrenzt werden. Transfer, der Was ist Transfer? Mit dem Begriff Transfer kann man viele Phänomene in der Pädagogik beschreiben. Eigentlich müsste er eine zentrale Rolle spielen. Übersetzt man Transfer mit „übertragen“ (lat. transferre) von etwas, dann ist Lehren und Unterrichten im Wesentlichen nichts anderes als „übertragen“ von vorhandenen Erkenntnissen durch ein Medium (Lehrer) auf Lernende (Schüler), also von Wissenden auf Nichtwissende, mit dem Ziel, den Zustand der Nichtwissenden in Wissende zu überführen. In der pädagogischen Literatur wird dieser Vorgang häufig undifferenziert als Lehr-/ Lernprozess bezeichnet. Es ist ein Verdienst der Kybernetischen Pädagogik diese Vorgänge strikt zu trennen, denn Lernen folgt eigenen Gesetzen. Wie die Praxis zeigt, wird nicht alles Gelehrte auch gelernt oder nicht so gelernt wie gelehrt. Nur im Idealfall wird das Ergebnis identisch sein. In der Pädagogik werden mit dem Begriff Transfer „nur” jene Phänomene bezeichnet, die beim Lehren und Lernen eines Inhalts A auch Einfluss auf den Inhalt B haben. Es muss also eine Beziehung zwischen beiden Lehrinhalten bestehen. Sie müssen entweder identisch (oder teilweise identisch) oder ähnlich sein. Überwiegend wird unter Transfer der Einfluss eines vorher gelehrten bzw. gelernten Inhalts auf den nachfolgenden Inhalt verstanden. Die Richtung des Transfers spielt eine wichtige Rolle, weil sachlogisch die Inhalte nicht einfach vertauscht gelehrt und gelernt (also B vor A) werden können. 294

In der Wirkung des Transfers wird vor allem zwischen einem positiven (förderlichen, erleichternden) und einem negativen (störenden, hemmenden, erschwerenden) Einfluss unterschieden. Für die Pädagogik macht es vor allem Sinn, sich mit dem positiven Transfer, also das Lehren und Lernen befördernden Einfluss, auseinanderzusetzen. Welche Transfertheorien gibt es? In der Transferforschung hat es nicht an Versuchen gefehlt, das Transferphänomen theoretisch zu beschreiben und zu erklären und die Wirkungen zu prognostizieren. Wichtige Transfertheorien sind u.a. die „Formalbildungstheorie”, „Theorie der identischen Elemente” (THORNDIKE et al. 1901), die „Generalisierungstheorie” (JUDD, 1908) und die „kybernetisch-pädagogische Transfertheorie” (FRANK, 1980; WELTNER, 1970). Die „Formalbildungstheorie war bis zur Jahrhundertwende „das Kleinod der Schulpädagogik” (FLAMMER, 1970). Man nahm an, dass „die Übung jeder geistigen Fähigkeit sich auf alle anderen auswirkt” (DORSCH, TRAXEL, 1963). Unterstellt wird dabei die Existenz eines „allgemeinen (und meistens sehr hohen) Transfers” (FLAMMER, 1970) und die Förderung globaler Fähigkeiten wie z.B. logisches Denken oder die „Ausbildung des Gedächtnisses und des Willens” (Lexikon der Psychologie, 1972) und „Die Mathematik und das Latein stehen vorzugsweise in dem Rufe” (ZIETZ, 1959), besonders formalbildend zu sein. Diese Argumentation wird noch heute in den Schulen verwendet, obwohl derartige Wirkungen empirisch nicht bestätigt werden konnten. Dies widerlegte THORNDIKE (1901) und entwickelte eine „Theorie der identischen Elemente” (THORNDIKE, WOODWORTH, 1901). Demnach findet Transfer nur dann statt, wenn in beiden Inhalten gemeinsame, genau identische Wahrnehmungs- und Verhaltenselemente vorhanden sind. Die Theorie wurde von CHARLES E. OSGOOD (1949) weiterentwickelt, der Transfereffekte vom Grad der Ähnlichkeit der Elemente in zwei Lernsituationen abhängig machte. Wie viele Kritiker sah auch THORNDIKE selbst seine Theorie nicht als alleinige Erklärung für Transfereffekte an, zumal er auch den Begriff „identische Elemente” sehr großzügig interpretierte. Zu diesen Kritikern gehört u.a JUDD (1908), der in seiner „Generalisierungstheorie” erklärt, dass es erst zu Transfereffekten kommt, wenn es einer Persönlichkeit gelingt, durch Verallgemeinerung spezifische Erfahrungen auch für verschiedene Situationen nutzbar zu machen. Im Gegensatz zu diesen behavioristisch orientierten Erklärungsversuchen nutzt die „kybernetisch-pädagogische Transfertheorie” den informationspsychologischen Modellansatz von HELMAR FRANK (1959), der Transfereffekte über informationstheoretische Größen interpretiert und definiert. Der positive Transfer eines Lehrstoffe A auf den Lehrstoff B, kann sich auswirken auf eine höhere Kompetenz zu einem bestimmten Zeitpunkt beim Lernen des Lehrstoffs B, oder auf eine verringerte Lernzeit bei festgelegter Kompetenz. Positive Transferformen sind der manifeste Transfer, der zu Lernerleichterungen durch Vorinformation von Inhalten führt und der latente Transfer, der solche Erleichterungen aufgrund von Vorinformation über das Funktionieren von Strukturen bewirkt. Diese Theorie ermöglicht über das Informationsmaß auch quantitative Aussagen über Transferwirkungen zu machen. Praktischer Nutzen für das Lehren und Lernen? Den behavioristisch orientierten Theorien ist es nur bedingt gelungen, die Transferwirkungen in einer allgemeinen Theorie zu beschreiben und zu erklären. Dies liegt an der Vielzahl von Einflussfaktoren beim Lehren und Lernen, sodass es selten oder nur ansatzweise gelingt, eindeutig die Effekte empirisch den Ursachen zuzuordnen. Außerdem bewirkt eine objektive Ähnlichkeit von Lehrinhalten nicht immer ein solches Erkennen beim Lerner. Trotzdem sind in der Praxis solche Wirkungen festzustellen. Nicht immer sind sie so eindeutig wie der Einfluss von mathematischen Inhalten auf Inhalte der Physik oder Chemie. Selbst beim Lernen der verwandten europäischen Sprachen bieten sich viele Transfermöglichkeiten.

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Grundsätzlich kann Transfer bei vielen Lehrinhalten unterschiedlicher Komplexität eine Rolle spielen, die bei den Fakten beginnen und bei Regeln, Methoden, Verfahren und Verhaltensweisen enden. Es fehlt bisher eine Analyse und Beschreibung solcher Effekte, die im praktischen Einsatz eine sinnvolle Erleichterung des Lehrens und Lernens bewirken können. Eine allgemeingültige Aussage und Beschreibung von Transfereffekten ist deshalb so schwierig, weil eine praktikable Definition der Ähnlichkeit von Inhalten fehlt und das Erkennen dieser Ähnlichkeiten auch noch vom internen Zustand des Lerners abhängt (zusammengestellt von DR. GÜNTER LOBIN, Universität Paderborn). Tugend, die ist etymologisch abgeleitet vom Begriff der Tauglichkeit. Unter Tugend wird traditionell eine Charaktereigenschaft, eine habituelle Disposition verstanden, welche den Tugendhaften dazu disponiert, in tauglicher Weise wahrzunehmen, zu denken, zu fühlen und sich besonders zu verhalten und zu handeln, um ein bestimmtes normatives Ziel zu erreichen bzw. einen normativen Zweck zu erfüllen.

U Unternehmer, der 1. allgemein-schuldrechtlicher Begriff für eine natürliche oder juristische Person oder eine rechtsfähige Personengesellschaft, die bei Abschluss eines Rechtsgeschäftes in Ausübung ihrer gewerblichen oder selbstständigen beruflichen Tätigkeit handelt (§ 14 BGB); Gegensatz ist der Verbraucher. 2. umsatzsteuerrechtlicher Begriff für eine Person, die eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbstständig ausübt; gewerblich/beruflich meint jede nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen, auch wenn eine Gewinnerzielungsabsicht fehlt (§ 2 Abs. 1 S.1 und S.3 UStG. Urheberrecht, das rechtliches Teilgebiet für das ausschließliche Recht eines Urhebers an seinem Werk und ist im Urheberrechtsgesetz (UrhG) geregelt. Werk bedeutet nach § 2 Abs. 2 UrhG jede persönliche geistige Schöpfung. Beispiele sind ... 1. literarische und wissenschaftliche Texte, 2. musikalische Kompositionen, 3. Tonaufnahmen, 4. Gemälde, Fotografien, Theater-Inszenierungen, 5. Filme, Rundfunksendungen, 6. Gebäude und Skulpturen, 7. Computerprogramme und 8. Datenbanken. Der Urheber kann sein Werk selbst verwerten und kann (vertraglich) Anderen Nutzungsrechte einräumen ... 1. zur Vervielfältigung, 2. zur Verbreitung, 3. zur Ausstellung, 4. zum Vortrags- Aufführungs- und Vorführungsrecht, 5. zur öffentlichen Zugänglichmachung, 6. zum Senderecht, 7. zur europäischen Satellitensendung, 8. zur Kabelweitersendung, 296

9. zum Wiedergaberecht durch Ton- und Bildtträger, 10.zum Wiedergaberecht von Funksendungen und öffentlicher Zugänglichmachung. Urteil, das 1. allgemeiner Begriff für eine wertende Entscheidung über einen bestimmten Sachverhalt oder einen bestimmten Erkenntnisgegenstand; 2. prozessrechtlicher Begriff für eine instanzerledigende Entscheidung über den Streitgegenstand; Urteil wird rechtskräftig, wenn keine Rechtsmittel eingelegt worden sind; unterschieden wird ... • Prozessurteil (Klage wird als unzulässig zurückgewiesen) und • Sachurteil (inhaltliche Entscheidung über den Prozessgegenstand).

V Varela, Francisco 07.09.1946-28.05.2001 — chilenischer Biologe, Philosoph und Neurowissenschaftler; gilt neben HUMBERTO MATURANA und ERNST VON GLASERSFELD als Begründer des radikalen Konstruktivismus; führte mit HUMBERTO MATURANA die Autopoiesis in die Systemtheorie und den Konstruktivismus ein. Variante, die französisch variante = die Abweichung, die Abwandlung; bedeutet eine abweichende Ausführung; eine von mindestens zwei bis unendlich vielen Möglichkeiten; nicht zu verwechseln mit Alternative. Veränderung, die Veränderung ist der (Über-)Lebenswille und/oder das Bedürfnis nach dem Besseren. Verb, das sprachwissenschaftlicher Begriff (Grammatik) für eine Wortart, die eine Tätigkeit, ein Geschehen oder einen Zustand ausdrückt (anders: Tätigkeitswort); z.B. denken. verbal lateinisch verbalis zu verbum = die Äußerung, die Sprache, das Sprechen, das Verb, das Wort; Adjektiv für die Verwendung ähnlicher Wörter und Redewendungen, Anpassung der Sprechgeschwindigkeit und Tonlage in angepasster Sprachlautstärke; Gegensatz ist nonverbal. Verhalten, das 1. biologischer Begriff für alle körperlichen Aktionen und Reaktionen, die sich beobachten/ messen lassen; 2. soziologischer Begriff für eine Handlung (Tun, Dulden bzw. Unterlassen), die einerseits subjektiv sinnhaft für den Handelnden ist und andererseits sich am Verhalten Dritter (einzelner Mensch bzw. Gruppe) orientiert; 3. rechtlicher Begriff für ein Handeln, wobei eine Willenserklärung nicht ausdrücklich genannt wird, sondern Verhalten schlüssig zurückzuführen ist; 4. pädagogischer Begriff für eine Fähigkeit, die Mimik/die Gestik/die Sprache und die Handlung abhängig von der Erwartung anderer einzusetzen. Verschulden, das zivilrechtlicher Begriff für die Verantwortlichkeit des Schuldners auf vorsätzliches oder fahrlässiges Verhalten; Vorsatz ist das Wissen und Wollen der Verwirklichung der Handlung; Fahrlässigkeit ist nach § 276 Abs. 2 BGB die Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt.

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Vertrag, der zivilrechtlicher Begriff für den Hauptfall des mehrseitigen Rechtsgeschäfts; bestehend aus zwei aufeinander bezogenen Willenserklärungen, nämlich Angebot und Annahme. Vertretung, die rechtlicher Begriff (Stellvertretung) für das rechtsgeschäftliche Handeln einer Person (Stellvertreter) für eine andere Person (Vertretener), welche die rechtlichen Folgen dieses Handelns treffen. Die Vertretung kann vom Vertretenen gewollt oder vom Gesetzgeber zu seinem Schutz angeordnet sein. Das Recht der Stellvertretung ist in Deutschland im Wesentlichen in den §§ 164 ff. BGB geregelt. Das Bedürfnis einer Person andere für sie selbst rechtsgeschäftlich handeln zu lassen, kann verschiedenen Motiven entspringen. Zum Einen ist vor dem Hintergrund ständig ansteigender Spezialisierung und Komplexität der Arbeitsabläufe in der Wirtschaft die Notwendigkeit der Arbeitsteilung zu sehen. Dies gilt nicht nur für rein tatsächliche Verrichtungen, sondern auch für Rechtshandlungen. So ist etwa der Abschluss eines Vertrages durch einen Stellvertreter mit einem Dritten dann wünschenswert, wenn der Geschäftsherr (Vertretener) selbst nicht vor Ort sein kann oder das Geschäft rechtlich kompliziert ist und dieser deshalb lieber auf eine erfahrene Person vertraut. Zum Anderen ist die Stellvertretung dann vonnöten, wenn eine Person aus bestimmten Gründen selbst nicht oder nicht voll geschäftsfähig ist, denn sie ist gleichwohl rechtsfähig, tritt also rechtlich in Erscheinung und muss folglich vor den Risiken des Rechtsverkehrs geschützt werden, da sie selbst dazu tatsächlich, aber jedenfalls rechtlich nicht in der Lage ist. So wird beispielsweise der Minderjährige regelmäßig von seinen Eltern rechtlich vertreten (gesetzliche Stellvertretung). Vision, die lateinisch visio = das Sehen, der Anblick, die Erscheinung; Begriff für Erwartung einer maximalen Befriedigung der eigenen Bedürfnisse in einer unbestimmten Zukunft. Typische Visionsthemen — Unternehmen mit eher BWL-strukturierten Themen. Diese Visionen wollen in der Regel die „Führerschaft” — auf jeden Fall aber die Priorisierung. Die Visionen eines Unternehmens sind auf Wettbewerb und Operationalisierbarkeit ausgerichtet. Sie gelten für alle Unternehmensteilnehmer. Beispiele: • Kostenführerschaft • Qualitätsführerschaft • Serviceführerschaft • Prozessführerschaft • Imageführerschaft • Segmentführerschaft • Innovationsführerschaft • usw. Einzel-Personen entwickeln Visionen, die ihre (thematische) Identität ermöglichen. Sie sind deshalb nicht auf Wettbewerb mit Anderen aus. Zudem sind sie in der Regel nicht quantifizierbar sondern beschreibbar. Beispiele: • Glücklich leben • Befriedigende Karriere • Anerkannter Wissenschaftler • Eine Erkenntnis finden 298

Vision von Coaching nach der Hamburger Schule, die Coaching bietet den besten Kontext zur Entwicklung von einer nachhaltigen Selbstlernkonzeption des Menschen. visuell lateinisch videre = sehen; medizinsicher/psychologischer Begriff für visuelle Wahrnehmung (Sehen); einer von fünf Kanälen der menschlichen Kommunikation. visuelle Aufstellung, die durch ROLF MEIER und AXEL JANßEN geprägter Begriff für die Visualisierung aller Zusammenhänge (des Systems) in Bezug auf das Veränderungsthema des Coachee, der Gruppe oder des Teams. Durch das zusätzliche Anbieten einer Abstraktionsebene, z.B. der TZI oder des St. Galler Managementmodells, wird eine wissenschaftlich legitimierte, umfassende Abbildung des Systems erreicht, die die Wahrnehmungserweiterung fördert und den Coachee in Bezug auf die Formulierung seines Ziels entscheidungsfähig macht. Zentrales Medium sind Moderationskarten in verschiedenen Farben und Größen, die vom Coachee beschriftet werden. Visualisierung, die Nominalisierung von visualisieren mit dem Suffixung; die Veranschaulichung abstrakter Daten und Zusammenhänge in einer visuell erfassbare Form; nutzbar sind alle Möglichkeiten von Flipcharts über Metaplankarten, Laminate und digitale Möglichkeiten. Volition, die 1. psychologischer Prozess der Willensbildung, wobei der Fokus auf der Umsetzung der Ziele und Motiven, (über Handlungen) in Resultate erfolgt. Bereits 1926 bezeichnete KURT LEWIN das Streben nach Zielen als Volition und wurde in den 1980er Jahren von den Vertretern der Volitionspsychologie wie HEINZ HECKHAUSEN, PETER M. GOLLWITZER, JULIUS KUHL und HILARION PETZOLD übernommen. Sie forschten an der Frage der Handlungskontrolle und der Selbststeuerung basierend auf der kybernetischen Systemtheorie. 2. Prozess der Willensbildung und -durchsetzung in der Managementwissenschaft in sich selbst steuernden Systemen (auch Unternehmen). Abstrakte Erklärung, dient der Erklärung des Konsumentenverhaltens im Marketing, der Führung von Mitarbeitern (Ergebnisorientierung), den unternehmerischen Entscheidungen sowie der Behandlung von Verhaltensstörungen in der Psychologie. Am Anfang eines Handlungsablaufs steht die Auswahl und Festlegung von Zielen, folgend von der Planung einschließlich der Auswahl geeigneter Mittel zur Zielerreichung, folgend der Durchführung der geplanten Aktionen (Prozess oder Organisation), um abschließend eine Erfolgskontrolle durchzuführen; bei Soll-Ist-Abweichungen sind korrigierende Maßnahmen notwendig; damit der Prozess autonom (selbstgesteuert) abläuft, ist in jeder Phase die willentliche Entscheidung erforderlich. Vollmacht, die rechtlicher Begriff für die durch einseitiges Rechtsgeschäft erteilte Vertretungsmacht. Sie betrifft nur das Außenverhältnis zwischen Vertreter und einem Dritten. Man unterscheidet etwa: 1. Spezialvollmacht, zum Abschluss eines konkreten Rechtsgeschäftes und Generalvollmacht zum Abschluss aller Rechtsgeschäfte, bei welchen Vertretung zulässig ist, 2. Gattungsvollmacht, zum Abschluss sämtlicher Rechtsgeschäfte einer bestimmten Gattung oder Art und 3. Vollmachten mit gesetzlich typisiertem Inhalt wie Prokura und Handlungsvollmacht. In Deutschland, nicht aber in der Schweiz, unterscheidet man auch zwischen Innenvollmacht (gegenüber dem Vertreter erklärte Vollmacht) und Außenvollmacht (gegenüber dem Dritten, dem gegenüber die Vertretung stattfinden soll, erklärte Vollmacht). Überschreitet der Vertreter seine Vertretungsbefugnis, so handelt er als falsus procurator ohne Vollmacht und es entsteht kein Erfüllungsanspruch des Dritten gegenüber dem Vollmachtgeber, 299

es sei denn, dass die Voraussetzungen der sogenannten Anscheinsvollmacht erfüllt sind oder dass der Vertretene das Geschäft nachträglich genehmigt. Der Vollmachtgeber kann die Vollmacht jederzeit widerrufen, unabhängig davon, ob das Grundgeschäft bzw. das Grundverhältnis weiter besteht. Außerdem erlischt die Vollmacht mit dem Tod oder dem Eintritt der Handlungsunfähigkeit des Vollmachtgebers, es sei denn, die Vollmacht sei ausdrücklich auch für einen solchen Fall erteilt worden. Vorsatz, der ist das Bedürfnis, einen Handlungsplan zu verwirklichen. Vorstand, der allgemeiner Begriff für die operative Leitung einer Organisation, beispielsweise eines Unternehmens (AG) oder eines Vereins. Die meisten Organisationen sind in der Gestaltung des Vorstandes frei; in den meisten größeren Unternehmen finden sich im Vorstand jedoch ein Vorsitzender und mehrere Mitglieder, beispielsweise die Leiter verschiedener Produktionsbereiche/Divisionen oder verschiedener Aufgabenbereiche.

W Wahrnehmung, die Deutung aufgenommener Reize. Werkvertrag, der schuldrechtlicher Begriff für einen Vertrag gem. § 631 ff. BGB, wobei der Unternehmer verpflichtet wird, das Werk herzustellen. Der Besteller wird verpflichtet, die vereinbarte Vergütung zu entrichten. Werkzeug, das ist eine funktionale Einzelmaßnahme. Wert, der Orientierung für attraktives Verhalten. Wertebezug im Coaching (Modell), der Modell nach der Hamburger Schule, veranschaulicht die relevanten Wertebezüge für Coaching, den Coachee, den Coach und das Thema. Werte von Coaching der Hamburger Schule, die 1. Freiheit, 2. Freiwilligkeit, 3. Ressourcenverfügung, 4. Selbststeuerung. Wertverständnis der Hamburger Schule, das basiert auf einer positiven Bewertung des Ergebnisses einer Handlung und/oder Bevorzugung einer Handlung vor einer anderen. Widerruf, der rechtlicher Begriff für die Rücknahme einer Willenserklärung in besonderen Situationen wie: 1. Widerruf eines Verwaltungsaktes, 2. Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung und 3. Widerruf im Verbraucherrecht wie Verbraucherdarlehen, Haustürgeschäfte und Fernabsatzverträge. Wird einem Verbraucher durch das Gesetz ein Widerrufsrecht nach § 355 Abs. 1 BGB eingeräumt, so ist der Verbraucher an seine auf den Abschluss des Vertrags gerichtete Willenserklä300

rung nicht mehr gebunden, wenn er sie fristgerecht widerrufen hat. Der Widerruf muss keine Begründung enthalten und ist in Textform oder durch Rücksendung der Sache innerhalb von zwei Wochen gegenüber dem Unternehmer zu erklären; zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung. Die Widerrufsfrist beginnt mit dem Zeitpunkt, zu dem dem Verbraucher eine deutlich gestaltete Belehrung über sein Widerrufsrecht — entsprechend den Erfordernissen des jeweils eingesetzten Kommunikationsmittels — in Textform mitgeteilt worden ist, die auch Namen und Anschrift desjenigen, gegenüber dem der Widerruf zu erklären ist, und insbesondere einen Hinweis auf den Fristbeginn enthält. Wird eine Widerrufsbelehrung erst nach Vertragsschluss mitgeteilt, verlängert sich die Widerrufsfrist um einen Monat. Ist der Vertrag schriftlich abzuschließen, so beginnt diese Frist nicht zu laufen, bevor dem Verbraucher auch eine Vertragsurkunde, den schriftlichen Antrag des Verbrauchers oder eine Abschrift der Vertragsurkunde oder den Antrag zur Verfügung gestellt werden. Ist der Fristbeginn streitig, so trifft die Beweislast den Unternehmer. Das Widerrufsrecht erlischt spätestens sechs Monate nach Vertragsschluss. Bei der Lieferung von Waren beginnt die Frist nicht vor dem Tag ihres Eingangs beim Empfänger. Wichtig: Das Widerrufsrecht erlischt nicht, wenn der Verbraucher nicht ordnungsgemäß über sein Widerrufsrecht belehrt worden ist, bei Fernabsatzverträgen über Finanzdienstleistungen und wenn der Unternehmer seine Mitteilungspflichten gemäß § 312c Abs. 2 Nr. 1 BGB nicht ordnungsgemäß erfüllt hat. Wille, der ist das unverhandelbare Bedürfnis einen Handlungsplan zu verwirklichen. Willenserklärung, die rechtlicher Begriff für eine Willensäußerung, die auf Herbeiführung eines Rechtserfolges gerichtet ist, und die den Erfolg gewollt und von der Rechtsordnung anerkannt auch herbeiführt. Wirkungserwartung, die das erhoffte Ergebnis eines Tuns oder einer Beeinflussung. Wissenschaftstheorie, die Teilgebiet der Philosophie; beschäftigte sich sowohl mit den Voraussetzungen, Methoden und Zielen von Wissenschaft, als auch mit der Erkenntnisgewinnung der Wissenschaft. Deduktion und Induktion sowie Theorie und Empirie bilden zentrale Wörter.

Z Ziel, das bewusst angestrebte Befriedigung der eigenen Bedürfnisse zu einem bestimmten Zeitpunkt. Zielerreichungsmerkmale, die lösen über Perspektivwechsel eine systemische Reflexion in Bezug auf das Ziel aus, die die Wahrnehmungserweiterung und die Entscheidungsfähigkeit fördert. Gleichzeitig schafft ein Erreichungsmerkmal eine konkrete Orientierung für den Coachee zur späteren Selbstorganisation seiner Ressourcen. Erreichungsmerkmale erfassen alle Bestandteile des in der visuellen Aufstellung dargestellten Systems des Coachee. zirkuläre Frage, die Frageart mit der Absicht, einen Perspektivwechsel auszulösen. Zustimmung, die rechtlicher Begriff für ein einseitiges und empfangsbedürftiges Rechtsgeschäft; von ihr hängt die Wirksamkeit eines Rechtsgeschäftes ab. Vorherige Zustimmung ist die Einwilligung, nachträgliche Zustimmung ist die Genehmigung. 301

Zwei-Faktoren-Theorie, die Theorie von FREDERICK IRVING HERZBERG, welche in einer Studie 1959 den Zusammenhang von Arbeitszufriedenheit und Arbeitsmotivation aufweist. Zufriedenheit/Unzufriedenheit repräsentieren die Bereiche der Hygienefaktoren sowie der Motivatoren. 1. Hygienefaktoren verhindern bei positiver Ausprägung die Unzufriedenheit, tragen jedoch nicht zur Zufriedenheit bei, da sie entweder nicht bemerkt werden oder als selbstverständlich angesehen werden. Hierzu zählen insbesondere Entlohnung und Gehalt, Personalpolitik, zwischenmenschliche Beziehungen zu Mitarbeitern und Vorgesetzten, Führungsstil, Arbeitsbedingungen, Sicherheit der Arbeitsstelle sowie Einfluss auf das Privatleben. Die Faktoren der Unzufriedenheit sollen aus der Umwelt des Menschen entfernt werden (vgl. Entfernung von Gesundheitsrisiken in der medizinischen Hygiene zur Verhinderung von Krankheiten). Die Hygienefaktoren sind extrinsische Aspekte. 2. Motivatoren beeinflussen bei positiver Ausprägung die Zufriedenheit, tragen jedoch nicht zur Unzufriedenheit bei, da das bewusste Streben nach Wachstum und Selbstzufriedenheit im Mittelpunkt stehen. Hierzu zählen insbesondere Leistung und Erfolg, Anerkennung, Arbeitsinhalte, Verantwortung, Aufstieg und Beförderung sowie Wachstum. Die Motivatoren sind intrinsische Aspekte und stammen aus dem Arbeitsinhalt. 3. Das Zusammenspiel von Hygienefaktoren und Motivatoren erzeugt vier Möglichkeiten: • hohe Hygiene und hohe Motivation als Idealzustand, • hohe Hygiene und geringe Motivation als Söldnermentalität, • geringe Hygiene und hohe Motivation für einen aufregenden und herausfordernden Job mit vielen Beschwerden, • geringe Hygiene und geringe Motivation als schlechter Zustand.

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11 Coachingrelevante Wissensgebiete

Nachfolgend finden Sie 38 thematische Abhandlungen, von denen wir überzeugt sind, dass sie für das Verständnis von Coaching und damit auch von Coachausbildungen von hoher Relevanz sind. Sicherlich wird der eine oder andere ein Thema aus seiner Sicht vermissen und für andere Leser mögen diese vielen Themen unübersichtlich oder teilweise redundant sein. Mit diesen „Abstracts” wollen wir die Möglichkeit des Zugangs zu fachlichen Inhalten erleichtern. Am Ende der Abstracts finden Sie eine Aufstellung der Autoren mit ihren Kontaktadressen.

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11.1 Andragogik von Walter Schoger

Mit Andragogik, Erwachsenenpädagogik, Erwachsenenbildung, Weiterbildung wird in Deutschland ein differenziertes Wissenschafts- und Praxisfeld bezeichnet. Im politischen, wissenschaftlichen und praktischen Diskurs sind „Erwachsenenbildung“ und „Weiterbildung“ am bekanntesten und gebräuchlichsten. Daher ist die Verwendung des in der deutschen Fachdiskussion eher randständig gebliebenen Begriffs „Andragogik“ begründungsbedürftig. Andragogik ist ein Kunstwort aus den griechischen Wortbestandteilen aner/andros (Mensch/Mann) und agein/agoge (führen/Führung). Dieser Begriff weist eine analoge Konstruktion zu dem griechischen paidagogos (Knabenführung) auf und wurde in der deutschsprachigen Literatur erstmals 1833 von ALEXANDER KAPP mit Verweis auf PLATON verwendet. Neben seiner wohl bis in die griechische Antike zurückreichenden Tradition sowie seiner im internationalen Vergleich beeindruckenden Verbreitung gibt es gute Gründe, die für die Verwendung dieses Terminus sprechen. Eine Besonderheit des Begriffs und Konzepts Andragogik liegt in seiner wissenschaftssystematischen Einbettung: TEN HAVE gliedert entlang des Lebenslaufs in Päd-, Andr- und Geront-Agogik. In vertikaler Hinsicht unterscheidet er Andragogie (= Praxishandeln), Andragogik (= Praxistheorie), Andragologie (empirisch-wissenschaftliche Forschung) und Agologie (Grundlagentheorie einer allgemeinen Handlungswissenschaft). Spezialgebiete wie etwa Management- oder Landandragogik lassen sich in horizontaler Hinsicht untergliedern, in sogenannte Bindestrich-Andragogiken. Ferner weist dieser Begriff, zumindest laut seiner etymologischen Wurzel, ein natürliches Verhältnis zu „führen“ und „Führung“ auf. Dieses Phänomen wird innerhalb der Disziplin vor allem aufgrund der Erwachsenenbildung im Nationalsozialismus oft nur mit großer Distanz und/oder äußerster Vorsicht thematisiert, obgleich Führung in vielen Arbeitsfeldern der Erwachsenen- und Weiterbildungspraxis ein vitaler und unverzichtbarer Bestandteil ist. Das Attribut andragogisch wird in der Fachdiskussion häufiger verwendet, doch meist nicht explizit erklärt oder nur unzureichend theoretisch begründet. REISCHMANN beschreibt Andragogik als „Wissenschaft von der Bildung Erwachsener“. Ihr Auftrag sei das Verstehen und Gestalten von der lebenslangen und lebensbreiten Bildung. Insofern wende sie sich allen Lebensaltern (auch dem höheren und höchsten), Lebensphasen, Entwicklungsaufgaben und Themenfeldern genauso zu wie allen Formen des Lernens und der Bildung innerhalb und außerhalb traditioneller Institutionen der Erwachsenenbildung und Weiterbildung: von verschulter Weiterbildung bis hin zum Lernen en passant. Im Anschluss wird für die Bezeichnung des Gegenstands bzw. das Feld Erwachsenenbildung und Weiterbildung (EB/WB) und für die Wissenschaft bzw. die wissenschaftliche Reflexion Andragogik bzw. andragogisch verwendet.

11.1.1 Anfänge, Ursprünge und Quellen Die vorhandenen Perspektiven auf die Geschichte zeigen insgesamt eine ausgeprägte Vielfalt an Quellen (religiöse wie die katholische Soziallehre, emanzipatorische, humanistische und utilitaristisch-pragmatische), Inhalten (moralische, wissenschaftliche und berufliche Bildung und Erziehung), an Formen (Bücher, Vorträge, Arbeitsgemeinschaften) sowie Organisations- und Institutionalformen (Vereine, Gesellschaften, Schulen). Die Anfänge werden unterschiedlich datiert, da die historischen Betrachtungen in ihrem Zugang und Ergebnis mit dem Begriffsverständnis, der Perspektive und dem Erkenntnisinteres304

se der Betrachter variieren. Meist fokussiert der Rückblick in die Geschichte (institutionalisierte) Formen der Bildung Erwachsener. Bedeutende Anfangspunkte lassen sich indes anhand leitender Ideen, der (institutionalisierten) Praxis, (wissenschaftlicher) Praxisreflexionen sowie der akademischen Institutionalisierung bestimmen. Aus ideengeschichtlicher Perspektive wurden erste Wurzeln zur Erwachsenenbildung bereits im ersten Buch MOSE (Gottesebenbildlichkeit), bei den Propheten des Alten Testaments und im antiken Bildungsdenken gefunden. Ideen, die die Volks-, Erwachsenen- und Weiterbildung seit ihren Anfängen geleitet haben, waren Aufklärung, Mündigkeit und Emanzipation, moralische Werte, Humanismus, Menschenwürde und allgemeine Menschlichkeit, klassische Bildungsideale und (humanistische) Bildung(-stheorie), Bildung des Volkes und völkische Einheit, Industrialisierung, technisch-ökonomische Entwicklungen, allgemeiner Wohlstand, die soziale Frage, Demokratie und Demokratisierung. Meist wird der Beginn der deutschen Erwachsenenbildung mit dem Beginn der Aufklärung und dem Aufkommen einer bürgerlichen Kultur verbunden. Der Wunsch der Menschen, sich selbst zu bestimmen und die gesellschaftlichen Bedingungen (politische Demokratisierungsbestrebungen) mitzugestalten und am durch den industriellen Modernisierungsschub ausgelösten Wohlstand zu partizipieren, war ein zentrales Motiv für das Entstehen der Volksbildung. Insofern war die Aufklärung die geistige Grundlage und sie wurde zum Motor für das Gestalten von Geschichte durch die „Erziehung des Menschengeschlechts“. Aus dieser Perspektive betrachtet, beginnt die institutionalisierte Praxis (der Volksbildung) in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit dem Gründen von Lesegesellschaften, der bedeutendsten Bildungseinrichtung des 18. Jahrhunderts. Hier las und diskutierte das mittlere und gehobene Bürgertum vor allem Bücher zur Erweiterung des Horizonts, befasste sich mit sozialen und moralischen Fragen zum Zweck der Selbst- und Weltverbesserung — und zum Verbessern seiner sozialen Stellung. Für lesefähige untere soziale Schichten wurden Leihbibliotheken und später Lesekabinette und Bücherhallen eingerichtet. Diese waren eher mit Unterhaltungs- und Ratgeberliteratur bestückt. Exkurs — Volks-, Erwachsenen- und Weiterbildung und ihre theoretische Reflexion sind seit ihren Anfängen mit den geistigen Strömungen ihrer Zeit und aufs Engste mit den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Fragen und Bedingungen sowie dem gesellschaftlichen Wandel verbunden. Mit sich verändernden ökonomisch-technischen und politischen Verhältnissen änderten sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen. Diese wurden von der Volks- und Erwachsenenbildung thematisiert und zum Teil kritisch reflektiert. An diese passte Erwachsenenbildung sich an, gegen diese leistete sie Widerstand und auf sie bereitet sie heute, vor allem als Weiterbildung, gezielt vor. Mittlerweile erfüllt die Weiterbildung als quartärer Sektor des Bildungssystems eine wichtige Funktion in der modernen Gesellschaft. Doch ihre Entstehung verdankt die Erwachsenenbildung nicht etwa dem Staat, der Wirtschaft oder den Kirchen, sondern der Initiative Einzelner und Gruppen. Daher war sie in ihren Anfängen meist vereinsmäßig organisiert, in Handwerker(bildungs-)-, Arbeiterbildungs- und Gesellenvereinen. Die Akademisierung und Etablierung als wissenschaftliche Disziplin baut auf vielfältige Praxiserfahrungen und zum Teil wissenschaftliche Reflexionen zur Volks- und Erwachsenenbildung auf. Die frühe Phase fachlicher Konturierung der Erwachsenenbildung begann im ausgehenden 19. Jahrhundert, die Forschungsgeschichte zu Fragen der Erwachsenenbildung um 1910. Gefördert wurde die frühe Fachentwicklung durch die Pädagogik, durch praktische Reformer verschiedener Richtungen sowie durch Vertreter unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen, vor allem der Staats- und Sozialwissenschaften. Doch auch in der Weimarer Zeit waren die Theorien eher politisch, religiös oder ideologisch motiviert als pädagogisch. 305

Die akademische Institutionalisierung begann 1958, mit dem Einrichten der ersten Professur für Erwachsenenbildung für FRITZ BORINSKI an der FU Berlin. 1965 folgte JOACHIM KNOLL in Bochum und 1970 HORST SIEBERT in Hannover, der im gleichen Jahr die erste Habilitation in der Erwachsenenbildung vorlegte. Seit 1969 kann Erwachsenenbildung erstmals im Rahmen des Erziehungswissenschaft-Studiums als Schwerpunkt studiert und abgeschlossen werden.

11.1.2 Entwicklung und bedeutende Richtungen der Andragogik Für ihre kurze akademische Geschichte kann die Andragogik im Hinblick auf ihre Publikationen wie das im Feld beschäftigte Personal und die diesem Zweck zugeordneten Institutionen Beachtliches vorweisen: seit den 1970er-Jahren eine beinahe exponentielle Entwicklung des wissenschaftlichen Wissens- und Literaturbestandes, der durch Übersetzungen in andere Sprachen in vielen Staaten rezipiert und anerkannt wird. Aufgrund der „Jugend“ der Disziplin (und vieler Vertreter des Fachs) kann indes zum derzeitigen Zeitpunkt noch nicht von ausgeprägten Richtungen oder gar einer Schulenbildung gesprochen werden. Die andragogische Theorienlandschaft ist vielseitig, vielschichtig und sehr dynamisch. Daher blieben die bisherigen Versuche unbefriedigend, sie umfassend zu ordnen. Unterscheidbar werden Theorien anhand ihres Fokusses bzw. des Ausgangspunkts ihrer Argumentation (Person, Individuum, Wirtschaft, Gesellschaft) sowie ihrer wissenschaftlichen Perspektiven bzw. disziplinären Herkunft (geisteswissenschaftlich-hermeneutisch; sozialwissenschaftlich-kulturtheoretisch, Systemtheorie, Sozialökologie, Konstruktivismus). Ein weiteres Unterscheidungskriterium ist die Zielrichtung bzw. (implizite) Leitvorstellung (Politökonomie, Sozialökologie und Modernisierung; reformerisch, neomarxistisch, sozialistisch und postmodern) sowie vor allem die für das (Geworden-Sein) und den Veränderungsprozess Erwachsener herangezogenen Kernkategorien (Lernen, Bildung, Sozialisation, Lebenslauf, Lebenswelt). Da die meisten Fachvertreter sich in mehreren Feldern und Bereichen betätigen, sich Schwerpunktsetzungen im Laufe der Zeit änderten und noch ändern werden, wäre der Versuch, sie durch eine eindeutige Zuordnung zu etikettieren, kritikwürdig. Schon der Versuch, einzelne Fachvertreter auf der höchsten Abstraktionsebene, den derzeit gebräuchlichsten Wissenschafts- und Feldbezeichnungen wie „Andragogik“, „Erwachsenenpädagogik“ sowie „Erwachsenenbildung“ und „Weiterbildung“ zuzuordnen, scheitert, da diese Etikette schwankend und terminologisch unscharf gebraucht werden. Auf der Zeitachse lassen sich Hauptlinien in der Entwicklung andragogischen Denkens und Handelns anhand dreier Selbstetikettierungen gut skizzieren: der „Volksbildung“, der „Erwachsenenbildung“ und der „Weiterbildung“. In den Anfängen war „Volksbildung“ die gebräuchliche Bezeichnung. Angesichts gravierender gesellschaftlicher Umbrüche im Zuge der Industrialisierung, dem Auseinanderklaffen der Lebensverhältnisse von Industriellen und dem erstarkten Bürgertum sowie Arbeitern und Handwerksgesellen, wurde die soziale Frage für die Einheit des Volkes zunehmend brisanter und bedrohlicher. Politisch motiviert und vom Geist der Aufklärung inspiriert, diente die Volksbildung der Volk-Bildung. Durch die extensive Verbreitung von Wissen und Belehrungen, analog der englischen Universitätsausdehnungsbewegung, sollte ein allgemeines Anheben der geistigen und sittlichen Gemeinschaft erreicht werden. „Erwachsenenbildung“ und „Weiterbildung“ tauchen als Begriffe gegen Ende des 19. Jahrhunderts erstmals auf. „Erwachsenenbildung“ etablierte sich vor allem in der Weimarer Zeit als Gegenkonzept und als Abkehr von der sich extensiv verbreitenden Volksbildung. In Abhebung von der „alten“ Richtung (der Volksbildung) konzentrierte sich die „neue“ Richtung auf intensiv erarbeitende Bildungsar306

beit. Der Ausgangs- und Zielpunkt dieses von pädagogischem Optimismus getragenen und anthropologisch fundierten Bildungsansatzes war der Erwachsene und seine Bildung als ganzer Mensch. Statt eines extensiven Vortragswesens wurden in den Anfängen der Erwachsenenbildung Kenntnisse in der Gemeinschaft intensiv verarbeitet, vor allem durch das Gespräch und in der Arbeitsgemeinschaft. Diesem stark von dem dänischen Heimvolkshochschulgedanken inspirierten Konzept verdankt sich beispielsweise die Entstehung der heutigen Volkshochschule. „Weiterbildung“ wurde seit Mitte der 1960er-Jahre extensiv verwendet. Doch seinen Durchbruch hatte dieser Begriff in den 1970er-Jahren. Weiterbildung orientiert sich an Wirtschaft, Gesellschaft und Technik und dient dem gesellschaftlichen und technologischen Wandel. Als quartärer Sektor wurde sie ins Bildungssystem integriert, durch Weiterbildungsgesetze reglementiert und durch Förderrichtlinien unterstützt. Vor allem im beruflichen und betrieblichen Bereich, dem mittlerweile größten Segment der EB/WB, findet „Weiterbildung“ große Akzeptanz. Weiterbildung wird in Form unterschiedlichster Lern- und Qualifizierungsangebote angeboten: Anpassungs- und Aufstiegsweiterbildungen, Einarbeitungen und Umschulungen sowie zahlreiche Fortbildungen, Lehrgänge und Kurse.

11.1.3 Typische Fragestellungen der Andragogik Hinsichtlich des Selbstverständnisses der Fachdisziplin besteht Minimalkonsens darin, dass sie eine Handlungswissenschaft ist, die Lernen und Bildung innerhalb bestimmter raum-zeitlicher Konstellationen analysiert, reflektiert und (mit-)gestaltet. Ihren Standort und ihren Auftrag bestimmt und justiert sie, indem sie ihr Gewordensein diachron im Laufe der Zeit (Historiographie, Bildungs-Geschichte) untersucht und aus synchroner Perspektive im europäischen und internationalen Kontext vergleicht (Theorien, Bildungskonzepte, -empfehlungen und -politiken, Institutionalformen) und im Rahmen von internationalen Tagungen, Projekten, Programmen und akademischen Netzwerken transnational kooperiert. Die aktuelle Situation wird durch globale, nationale, bereichs- und trägerspezifische (Erwachsenen-)Bildungsforschung und (Weiter-)Bildungsstatistiken erfasst, als Grundlage für Standortbestimmungen und Prognosen. Dieses „Ist“ wird in der andragogischen Theoriearbeit mit dem „Sollen“, dem (Selbst-)Anspruch, den Leitvorstellungen, den Zielen und der Tradition sowie mit den Aufgaben, dem Auftrag, der Leistungsfähigkeit und der Funktion der Erwachsenenbildung und Weiterbildung abgeglichen. Auf dieser Grundlage werden theoretische Positionen erarbeitet, die mit Blick auf die Praxis in wissenschaftliche Stellungnahmen einmünden und die in Kooperation mit der Praxis in didaktische Strategien und Konzepte transformiert werden können. Eine Kernfrage kreist um die Grundbedingungen und Grundbestimmungen des Erwachsenseins wie das Werden und Sich-Verändern Erwachsener. Die Andragogik fragt nach Herausforderungen, Entwicklungsaufgaben und Entwicklungsmöglichkeiten Erwachsener in unterschiedlichen Erlebens- und Handlungsräumen wie Lebenswelt und Beruf, Habitus und soziale Milieus, in bestimmten Lebensphasen oder in der biographischen Gewordenheit. Anhand von Erkenntnissen aus der Lern- und Bildungstheorie, der Sozialisations-, Qualifikations- und Verhaltensforschung, der Neurobiologie, der Systemtheorie oder etwa der Machttheorie versucht sie Strukturen und Möglichkeiten in der Erfahrung, dem Denken und Handeln der erwachsenen Person zu identifizieren, zu verstehen und auf die Bildungsarbeit zu beziehen. Ein zweites Gravitationszentrum andragogischer Reflexion sind systembedingte Einflüsse, Anforderungen und Rahmenbedingungen aus Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. In diesem Kontext werden Gesellschafts- und Modernisierungstheorien rezipiert und etwa soziologische Zeitdiagnosen und demographische Entwicklungen registriert. Hinzu kommen Rahmenbedingungen in Wirtschaft und Politik, die unmittelbar den Gestaltungsraum der EB/WB beeinflussen oder limitieren: 307

Rechtsgrundlagen, Bildungspläne, -gutachten und -politik, die (allgemeine) Wirtschaftslage und vor allem auch die Finanzierung, Förderung und Bezuschussung der EB/WB. Ein weiterer Fragenkomplex betrifft die Praxis der Bildung Erwachsener, die unterschiedliche Bereiche der EB/WB (allgemeine, berufliche, politische, kulturelle, soziale) in einer pluralen Institutionen- und Trägerlandschaft (Volkshochschulen, Betriebe, Kammern, Gewerkschaften, Kirchen, Stiftungen, Bibliotheken, Museen …) abdeckt. Mit ihren Angeboten, Zielen und Images spricht sie unterschiedliche Adressaten und Zielgruppen an. Seit Mitte der 1970er Jahre wurden grundlegenden Beiträge zur Zielgruppenarbeit vorgelegt und zunehmend mehr Zielgruppen der EB/WB identifiziert und untersucht. Beispiele hierfür sind Männer und Frauen, Arbeitslose und Führungskräfte, Arbeiter, Alte, Migranten und Strafgefangene. Der in den Anfängen noch recht enge Fokus auf die institutionalisierten Formen der EB/WB wurde in den letzten Jahren enorm erweitert, sodass nunmehr auch Formen des selbstorganisierten Lernens oder des Lernens en passant berücksichtigt werden. Dass sich die Disziplin als Handlungswissenschaft versteht, impliziert eine hohe Bedeutung didaktischer Fragen, das Untersuchen der Bedingungen und Strukturen didaktischen Handelns. Der didaktische Raum wird vertikal in unterschiedliche, interdependente Handlungsebenen gegliedert, von Mikrodidaktik (dem unmittelbaren Kontakt von Lernenden mit Lehrenden oder Gegenständen) bis hin zur Megadidaktik (dem Handlungsraum von Bildungspolitikern). In horizontaler Perspektive lassen sich didaktische Handlungen von der didaktischen Analyse (Lebenswelt- und Interaktionsanalyse, Lernstandortbestimmung) bis zu Evaluation und Transfer beschreiben und analysieren. Zu den Anforderungen und Aufgaben in den einzelnen Handlungsebenen liegen zum Teil differenzierte Beschreibungen und Empfehlungen vor, beispielsweise auf der Makro- und Mesoebene zu Management und Marketing, Verwaltung und Organisation. Beispiele aus der Mikrodidaktik sind Ziele und Veranstaltungsformen, Planung, Organisation und Vorbereitung des Lehren und Lernens, Lern- und Interaktionsweisen, Methoden und Medien. Für die Lehr-Lernsituation werden didaktische Prinzipien begründet wie etwa Mündigkeit, andragogischer Takt und Humor. Und für etliche Lernfelder wie Kultur, Politik, Ökologie … liegen mittlerweile spezielle Didaktiken vor. Ein weiterer, eng mit der didaktischen Frage verbundener Schwerpunkt ist die Beschäftigung mit der Profession, der Professionalität und der Professionalisierung von Akteuren in der EB/WB und der Personalentwicklung. Die Qualifikation und Qualifizierung des Personals soll sicherstellen, dass die oben genannten Kerndimensionen im gegenwärtigen und zukünftigen Berufshandeln angemessen und ausgewogen berücksichtigt und bedient werden.

11.1.4 Typische Grundannahmen, Axiome und Theoreme Typische Grundannahmen in der theoretischen Diskussion und didaktischen Reflexion sind die Mündigkeit und Unverfügbarkeit des Subjekts, die Lernfähigkeit und die Bildsamkeit Erwachsener: Erwachsene sind daher „lernfähig, aber unbelehrbar“ (SIEBERT). Mit Blick auf die Mündigkeit des Erwachsenen wird im Lehr-Lerngeschehen grundsätzlich eine partnerschaftliche Beziehung „auf Augenhöhe“ postuliert. Ebenso wird grundsätzlich von einer Freiwilligkeit der Teilnahme Erwachsener an Veranstaltungen der EB/WB ausgegangen, der Strukturmerkmale wie Eigenständigkeit, Pluralität und Wettbewerb zugeschrieben werden. Obwohl oder gerade weil einige der bisher genannten Grundannahmen de facto verletzt werden, werden sie als Leitprinzipien und als Gütekriterien für die EB/WB verstanden. Die EB/ WB steht aufgrund ihrer zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Einbettung und Bedingtheit in enger Wechselwirkung mit gesellschaftlichen, politischen und vor allem technisch-ökonomischen Entwicklungen. Folglich sind die Ziele, Aufgaben und Funktionen der EB/WB raum- und zeitgebunden. 308

Sie werden von den jeweils dominanten geistigen und gesellschaftlichen Strömungen und Dynamiken — und zunehmend mehr von dem „Leitsystem“ Wirtschaft beeinflusst — und (heraus-)gefordert. Der Gegenstand der andragogischen Theoriebildung ist komplex und dynamisch. Daher und aufgrund vielseitiger Interdependenz-, Abhängigkeits- und Spannungsverhältnisse (Erwachsener — Gesellschaft; Theorie — Praxis; Andragogik — Nachbardisziplinen) sind andragogische Theorien stets deutungs- und interpretationsbedürftig, relativ und perspektivisch. Diese Relativität und Perspektivität zeigt sich in Form unterschiedlicher Adressaten (Wirtschaft, Demokratie, Subjekt), Zielrichtungen (Anpassung an Veränderungen, Lebenshilfe, persönliches Wachstum fördern, Klassenbewusstsein bilden), weltanschaulicher Positionen (liberal, christlich, sozialdemokratisch, marxistisch), Wissenschaftsverständnisse (Handlungs-/Reflexionswissenschaft), Argumentationsstrukturen (idealistisch/materialistisch, anthropologisch/wirtschafts- und gesellschaftspolitisch), des präferierten disziplinären Fokusses (philosophisch, politologisch, ökonomisch) oder etwa der gewählten didaktischen Strategie. Andragogische Theorien sollen Praxis theoretisch reflektieren und in sich widerspruchsfreie Gedankengebäude über Ziele und Aufgaben der EB/WB entwickeln. Ferner müssen sie dem Anspruch „Anwendungsorientierung“ genügen. Eine andragogische Theorie sollte ... 1. 2. 3.

ihre (Vor-)Annahmen umfassend und klar darstellen, als Theorie präzise dargestellt und begründet werden und Aussagen über den Zweck dieser Theorie folgen.

Insofern prüfen Theorien, die diesem Schema folgen, nicht nur die gesellschaftlichen, anthropologischen oder weltanschaulichen Einflüsse und Bedingungen. Sie reflektieren auch ihre Legitimationsund Begründungsmuster für die Notwendigkeit einer theoretischen Reflexion, leiten Ziele und Aufgaben für die EB/WB ab, erarbeiten didaktische Strategien sowie bildungspolitische Folgerungen und Forderungen, und sie prüfen die Umsetzbarkeit und Umsetzung der entwickelten Sollenssätze in (institutionalisierte) Bildungszusammenhänge. Dies erfordert eine starke strukturelle (Rück-)Koppelung von Theorie und Praxis, zumal wissenschaftliche Theorien aufgrund der Strukturunterschiede zwischen wissenschaftlichem Wissen und Handlungswissen nicht unmittelbar in Praxis(an)leitung transferierbar sind. Zur Vermeidung von Fehlinterpretationen und Konflikten müssen andragogische Theorien und didaktische Handlungsaufforderungen in der Praxis reflektiert, interpretiert und für konkrete Praxisanwendung transformiert werden.

11.1.5 Typische Deutungsmuster, Analyse- und Lösungsstrategien in der Andragogik Die Andragogik ist eine allgemeine, komparative, politische, systematische, normative und empirische Disziplin. Ihr Forschungsengagement lässt sich darüber hinaus anhand didaktischer Handlungsdimensionen wie ... 1. 2. 3. 4.

gesellschaftliche und institutionelle Bedingungen sowie Didaktik und Kommunikation in Lehr-Lernsituationen grundlegend ordnen.

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Innerhalb dieser Ebenen wird praxisorientiert, entwicklungsorientiert und theoriegeleitet geforscht, qualitativ wie quantitativ. Die Andragogik hat eine fakultäts- und disziplinübergreifende Such- und Grundstruktur. Eine erprobte Lösungsstrategie sind vielseitige Wissens-, Theorie- und vermehrt auch Personalimporte aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Vor allem die Human-, Kultur- und Sozialwissenschaften, wie etwa Pädagogik und/oder Erziehungswissenschaft, Soziologie, (Lern-)Psychologie oder Philosophie bieten die Steinbrüche, aus denen regelmäßig als relevant erachtete Erkenntnisse eingeführt werden. Die Andragogik ist eine anwendungsorientierte Integrationswissenschaft. Damit ist ein doppelter Anspruch verbunden: 1. 2.

Wissensbausteine und Erkenntnisse aus anderen Disziplinen mit vorhandenen andragogischen Erkenntnissen in relativ homogene eigene Theorien zu überführen, die Akteuren im Feld helfen, ihre Situation besser zu verstehen und handelnd zu bewältigen.

Angesichts der zum Teil erheblichen Unterschiede im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse, den Entstehungskontext und Geltungsanspruch solcher Theorieimporte sowie der plural-vielschichtigen Handlungsfelder und -situationen und der darin enthaltenen Deutungs- und Handlungsoptionen in der Praxis, ein ambitionierter Anspruch. Die Fachdisziplin weist ein enormes Maß an Außen-Orientierung, Plastizität und Dynamik auf. Sie ist am Puls der Zeit, im Dienst für Gesellschaft, Wirtschaft und Staat, den Bürger, das Subjekt, für Qualifizierung, Lernen und Bildung, und sie durchlebt in relativ schneller Abfolge Konjunkturen und Moden. Sie trägt permanent grundlegende Erkenntnisse und Entwicklungen (Konstruktivismus und Lerntheorie, Demographie und Bildungsstatistik) aus unterschiedlichen Quellen (Wissenschaft, Gesellschaft, Arbeitswelt,) und Perspektiven (Adressaten und Teilnehmer, Institutionen) zusammen, bewertet diese und leitet daraus zeitnah Anforderungen und Aufgaben ab. Sie entwickelt andragogische Theorien und Didaktiken, Positionen und Empfehlungen sowie Professionalisierungskonzepte. Das Risiko dieser Kombination aus Außen-Orientierung und Tempo ist, dass Theorien zum Teil fragmentarisch bleiben und dass sich die Disziplin selbst entfremdet. Dieser Problematik begegnen einzelne Fachvertreter, indem sie von außen herangetragene Aufgaben und Funktionszuschreibungen durch den Abgleich und die kritische Reflexion mit Kernkategorien wie etwa „Bildung“, „Mündigkeit“ und „gesellschaftliche Verantwortung“ prüfen. Meist geschieht dies, indem Spannungsfelder aufgezeigt und diskutiert werden, wie etwa zwischen Anpassung oder Widerstand, Qualifizierung oder Aufklärung, Anspruch und Wirklichkeit, Wissenschaft/Theorie und (Lebens-)Praxis, Person/Subjekt und/oder Organisation/Gesellschaft, Bildung und/oder Lernen. Diese Diskussionen, der Abgleich mit der Geschichte sowie wissenschaftstheoretische Standortbestimmungen liefern wichtige Beiträge zu einer Entschleunigung der Theoriediskussion sowie der Selbstvergewisserung und „Erdung“ der Disziplin. Sie berühren die Andragogik in ihrer (disziplinären) Grundstruktur, werfen Grundfragen auf, überprüfen Grundlagen und Grundprinzipien. Zugleich fundieren sie (erforderliche) Positionskorrekturen und sie prüfen aus kritischer Distanz, ob und inwieweit Funktionszuschreibungen an die EB/WB gerechtfertigt sind. Andragogische Didaktik ist eine verbindende Kommunikations- und eine zielführenden Handlungs- und Entscheidungstheorie. Didaktische Situationen sind durch Vor-Informationen, Analysen und Planungsentwürfe vorstrukturierbar, aber nicht voraussagbar. Allein aufgrund der Unverfügbarkeit des Subjekts sind Strukturmerkmale wie Multidimensionalität von Ursachen und Wirkungen, Kontingenz, Ungewissheit und Entwicklungsoffenheit unvermeidlich und alltäglich. Darauf reagiert didaktisches Denken und 310

Handeln durch Multiperspektivität in der Deutung, durch Multioptionalität bei den Handlung(sentwürf)en, und durch Zirkularität und Reversibilität sowie Kommunikation und Feedback im Handlungsverlauf. Dies bedingt eine Grundhaltung des „Sowohl-als-auch“ sowie des fortwährenden Dialogs mit den an Bildungsprozessen Beteiligten, ferner die Fähigkeit, sich flexibel, didaktisch fundiert und mit Takt auf andragogische Begegnungen einzulassen, um diese situationsorientiert ausbalancieren und professionell begleiten zu können. Gerade aufgrund der Fülle von Variablen in didaktischen Situationen ist die Vorbereitung des Planbaren unerlässlich. Denn sie schafft Kapazitäten für das Unplanbare und Unerwartete. Hierfür sind vor allem teilnehmerorientierte Kommunikation, Feedback oder Moderationsmethoden unentbehrliche Basiskompetenzen.

11.1.6 Typische Anwendungsfelder für andragogische Erkenntnisse Die gesellschaftliche Aufwertung der Weiterbildung und die stabile Nachfrage vor allem im Bereich der beruflichen Weiterbildung haben zu einer Diversifizierung der Einsatzbereiche für akademisch ausgebildete Diplom-Pädagogen mit dem Studienschwerpunkt Erwachsenenbildung, Weiterbildung oder Andragogik geführt. Als Bildungsmanager leiten sie Abteilungen, Bereiche und Einrichtungen der EB/WB, planen, organisieren und koordinieren das Bildungsangebot ihres Verantwortungsbereichs, entwickeln Marketingstrategien und repräsentieren ihre Einrichtung nach außen durch PR und Öffentlichkeitsarbeit. Entsprechend ihrem Auftrag entwickeln, planen und organisieren sie Programme, Lehrgänge, Zertifikatskurse und Prüfungen sowie kunden- und zielgruppenspezifische Angebote, didaktische Konzepte, Materialien und Medien. Sie wählen (nebenberufliche und freie) Dozenten und Trainer aus. Diese leiten sie an und unterstützen sie durch Reflexionsgespräche, Fortbildungen mit andragogisch-didaktischem Schwerpunkt oder etwa durch Weiterbildungscoaching. Sie lehren selbst und bieten ihren Teilnehmern Bildungs- und Lernberatung an. Ihre Zielrichtung prüfen sie anhand von Bedarfserhebungen, Marktanalysen, Adressaten- und Zielgruppenforschung sowie Lernstandortbestimmungen. Ihren Zielerreichungsgrad messen und stabilisieren sie durch Evaluationen und Maßnahmen der Transfersicherung. Nach wie vor werden Diplompädagogen als (hauptamtliche) pädagogische Mitarbeiter und Leiter öffentlich geförderter Bildungseinrichtungen und Träger, als Bildungsreferenten bei Verbänden oder als Wissenschaftliche Mitarbeiter in Forschung und Lehre beschäftigt. Zunehmend stärker haben sich Diplom-Pädagogen in der beruflichen und betrieblichen Weiterbildung etabliert, als Trainer, Personal- und Organisationsentwickler oder etwa als Bereichsleiter Weiterbildung. Auch die Selbstständigkeit als freiberufliche Dozenten, Trainer, Moderatoren und (Bildungs-)Berater in der Weiterbildung, der allgemeinen Erwachsenenbildung sowie in den Bereichen Kultur, Gesundheit oder Freizeit findet wachsenden Zuspruch. Eine Schlüsselkompetenz für diese Aufgaben ist andragogisch-didaktisches Denken und Handeln, von der Analyse bis zur Transfersicherung. Neben dem Wissen und der Kenntnis zu Zielen, Themen, Aufgaben, Zielgruppen, Lehr-Lernformen, … für unterschiedliche Bereiche und Institutionen der EB/WB, scheint ein weiteres Merkmal die andragogische Professionalität zu kennzeichnen: die Kompetenz, in komplexen und kontingenten Handlungssituationen handlungsfähig zu bleiben und zu werden. Das heißt, didaktische Herausforderungen und Situationen als solche zu erkennen, sie aus unterschiedlichen Perspektiven zu analysieren, zu bewerten und zu strukturieren — und in professionelle andragogischdidaktische Strategien, Konzepte und Handlungen zu überführen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Andragogen eher Generalisten sind, die sich auf unterschiedliche Realitäten und Perspektiven einstellen, diese deutend interpretieren und durch didaktische und kommunikative Handlungen strukturieren und mitgestalten. 311

11.1.7 (Typische) Kritik an der Wissenschaftsdisziplin Zu viel Masse statt Klasse? Seit ihren Anfängen hat die Disziplin ein enormes quantitatives Wachstum und eine fortschreitende Zerfaserung zu verzeichnen. Die vergleichsweise imposante Wissensanhäufung entstand in großem Umfang durch extensive Importe aus Bezugs- und Nachbarwissenschaften. Dies brachte ihr die Kritik ein, ein Sammelsurium aus beliebigen anderen Wissenschaften zu sein. So entstand in kurzer Zeit eine relativ große Oberfläche des disziplinären Wissens. Die Disziplin blähte sich hinsichtlich der Quantität enorm auf, entgrenzte sich zunehmend und verlor an Kontur, vor allem durch den schwer bestimmbaren Einfluss, den einzelne Diskutanten aufgrund ihrer fachlichen Couleur in die Fachdiskussion einbringen. Soziologen, Psychologen und andere Disziplinen haben ihr Interesse an der Erwachsenenbildung entdeckt und publizieren ihre Erkenntnisse (aus dem in ihrer akademischen Sozialisation erworbenen Fokus). Von gezielten und hinsichtlich ihrer Brauchbarkeit reflektierten Importen kann zunehmend weniger die Rede sein. Die Disziplin ist längst interdisziplinär und zeigt zunehmend multidisziplinäre Züge. Dadurch wurde das dringend klärungsbedürftige, mittlerweile undurchsichtige Verhältnis zwischen Bezugs- und Nachbarwissenschaften immer mehr auch zur internen Frage. Die Diskussion oszilliert zwischen unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und disziplinären Foki, zwischen wissenschaftlichem Anspruch und Praxis(an)leitung, sie folgt Moden und Trends … und offenbart, dass ihr im Kern wichtige Halte- bzw. Gravitationspunkte fehlen. Keine hinreichend geklärte und konturierte eigenständige Frage? Der Fachdisziplin wird selbstkritisch bescheinigt, dass sie sich ihrer Grenzen und ihrer fachlichen Identität noch nicht ganz gewiss sei. Ein Indikator hierfür ist der schwankende Gebrauch der Fachbezeichnungen (Andragogik, Erwachsenenbildung …?). Obgleich die gebräuchlichen Bezeichnungen viele Gemeinsamkeiten aufweisen, gibt es auch Besonderheiten, die im Diskurs untergehen oder erodieren. Kritisiert wird auch, dass das Fach keine Wissenschaftsdisziplin sei, die klare Eigengesetzlichkeiten wissenschaftlich-disziplinären Denkens aufweist, das den Paradigmen eines eigenen Fachs folgt. Als Beleg hierfür wird angeführt, dass es noch zu viele „Überzeugungstäter“ und solche gäbe, die einem Praxisbereich eklektizistisch zuarbeiten. Daher wird gefordert, die Theorien der Praktiker (Handlungs- und Erfahrungswissen; siehe oben Andragogie) von jenen der Theoretiker (Theorien über Ziele und Aufgaben, die das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Praxis reflektieren; oben Andragogik) besser zu unterscheiden. Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass die nächste Abstraktionsebene Theorien über Theorien wären, in der Theorien ohne ideologische Filter untersucht, sachlich hinsichtlich ihrer Bedingungen und Wirkungen analysiert und in Denksysteme kategorisiert werden (= Andragologie). Durch das Nebeneinander von Wissenschaftlern und Praktikern in der Wissensproduktion und/oder Vermarktung verschwimmt die Grenze zwischen diesen Abstraktionsebenen, was Außenstehenden die Beurteilung der Qualität einer Publikation erheblich erschwert. Praxisberater oder Wissenschaftler? Die Positionierung der Fachdisziplin zwischen Theorie und Praxis ist unbestimmt und nach wie vor klärungsbedürftig. Sind Andragogen Wissenschaftler, die wissenschaftliches Wissen generieren? Sollen sie Handlungsforschung betreiben oder besser anwendungsorientiert bestimmten Feldern oder Bereichen zuarbeiten? Oder sollen sie gar aktiv mitgestalten? Je nach Betrachterperspektive ist die Andragogik in der Fremdbeurteilung entweder zu praxisorientiert und dadurch (vielleicht) nicht wissenschaftlich genug oder zu praxisfern, weil zu sehr wissenschaftlicher Terminologie und Theorie verhaftet. Die enge strukturelle (Rück-)Koppelung von Theorie und Praxis hat eine lange und fruchtbare Tradition, die sich für die Andragogik im Zuge ihrer Etablierung als akademischer Disziplin als hinderlich erwies. Im Verlauf ihrer wissenschaftlichen Karriere hat sich die Disziplin zunehmend von ihrer Praxis entfernt und sich ihr zum Teil entfremdet. In Teilen kann sie bereits als „rein“ empirisch-theoretische Wissenschaft im Sinne einer Agologie verstanden werden. Dies hat

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zur Folge, dass originäre andragogische Fragestellungen ins Hintertreffen geraten, wie beispielsweise die Institutionenforschung. Das Kern-Problem? In den letzten drei Jahrzehnten sind die zentrifugalen und die zentripetalen Kräfte innerhalb der Disziplin aus dem Gleichgewicht geraten. Da die zentrifugalen Kräfte deutlich überwogen, sind die Gravitationszentren der Disziplin schwer auszumachen. Daher ist eine Kontraktionsphase überfällig, in der der vorhandene Wissensbestand sortiert, bewertet und in eine Ordnung überführt wird, als Plateau für weitere wissenschaftliche Aktivitäten. So kann die mittlerweile zur Wärmemetapher verkommene stets wiederkehrende Selbstdiagnose eines Anfangsstadiums überwunden werden. Vorhandene Individualisierungstendenzen und Kooperationsprobleme können noch konsequenter und konstruktiver angegangen und die erfrischend produktive Jugend der Fachdisziplin mit etwas wissenschaftstheoretischer Reife versehen werden.

11.1.8 Typische Begriffe und deren Deutung Angesichts der Fülle sowie des Bedeutungsumfangs und des Differenzierungsgrades einzelner Begriffe und Termini kann eine Deutung einzelner Begriffe an dieser Stelle nicht erfolgen. Allein mit „Bildung“ (Bildungsideal, -theorie, -arbeit, -fähigkeit) lassen sich Bücherregale füllen, zu Recht! Stattdessen wird einen Auswahl zentraler Begriffe kurz systematisiert. Zentrale Kategorien, anhand derer das Werden und der Prozess des Sich-Veränderns von Personen gefasst wird, sind Biographie und Lebenslauf, Lernen (exemplarisches, organisiertes, selbstgesteuertes …) und Sozialisation, Qualifikation, Schlüsselqualifikation und Bildung. Das Subjekt und Objekt der Andragogik ist die Person, das Subjekt, der Teilnehmer, Zielgruppen und Adressaten. Die Relation von Subjekt-Subjekt bzw. Subjekt-Objekt wird anhand von Begriffen gefasst wie Interaktion, Kommunikation, Begegnung, Dialog, Wissen, Erfahrung, Handlung, Kompetenz, Potenzial, Lebensereignisse, Deutungsmuster, Alltag, Lebenswelt, Habitus, Lebensstil, Individualisierung. Zentrale (Um-)Welt-Bedingungen und Strukturen werden beschrieben durch Gesellschaft, Ökonomie, Ökologie, Bildungspolitik, Weiterbildungsgesetze, System, (Arbeits-)Markt, Postmoderne, Lebenslage, soziale Lage, Milieu. Für die normative Ausrichtung stehen Humanität, Menschlichkeit, Menschenwürde, Selbstbestimmung, Selbststeuerung, Partizipation, Demokratisierung, Prävention, Integration, Selbsthilfe. Praxisfelder und Praxisbereiche werden beschrieben mit Erwachsenenbildung (allgemeine, politische), Weiterbildung (betriebliche, berufliche), Personal- und Organisationsentwicklung, Wissensmanagement, Fortbildung, Umschulung, Zielgruppenarbeit, Beratung. Für Interne (Organisations-)Strukturen der EB/ WB stehen Institution, Institutionalisierung, Organisation, Träger, Einrichtung, Programm, Veranstaltung, Angebot. Verbreitung im Feld didaktisches Handeln finden Didaktik, Bedarfsermittlung, Lehrund Lernziele, Lerntypen, Methodik, Medien, Planung, Organisation, Evaluation, Transfer, Veranstaltung(sformen), Unterricht, (Lern-)Beratung, (Weiterbildungs-)Coaching, Situation, Lernkultur, Management, Marketing, Öffentlichkeitsarbeit, didaktische Prinzipien (Subjektorientierung, Teilnehmerorientierung), Intervention und Professionalisierung.

11.1.9

Bedeutung der Andragogik für das Coaching

Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass andragogische Erkenntnisse und Perspektiven das Coaching vielseitig bereichern und in Kernbereichen fundieren können. Insofern könnten an dieser Stelle etliche 313

der bislang angerissenen Fragestellungen und didaktischen Lösungsstrategien sowie Begrifflichkeiten wiederholt werden. Stattdessen werden zwei davon exemplarisch herausgestellt. Der andragogische Blick sensibilisiert respektvoll für den ganzen Erwachsenen, seine Denk- und Deutungsmuster, seine Einbettung in Lebenswelt und Beruf, seinen Lebenslauf und seine Lebenspläne, seine Lernprojekte, -strategien und -barrieren. Er öffnet und er weitet den Fokus für die Bildung der ganzen Person und für deren Lern- und Bildungsprozesse. Die Andragogik bietet unterschiedliche Deutungsund Interpretationshilfen an (Deutungsmusteransatz, Lebensweltansatz, Habitus, Sozialkonstruktivismus) sowie ganz konkrete Methoden zum besseren Verstehen, Ermöglichen und Begleiten von Denkund Lernprozessen, etwa die Metakognition, das Feedback oder die Lernstandortbestimmung. Die Lernstandortbestimmung beispielsweise ist eine erprobte Methode, um Ist und Soll im Reflexions- und Lernprozess systematisch (und regelmäßig) abzugleichen. Entscheidende Impulse für das Coaching dürften auch von der andragogischen Didaktik, vor allem der Mikrodidaktik, aber auch der handlungsorientierten Didaktik zu erwarten sein. Die Mikrodidaktik fokussiert den Bildungs- und Lehr-Lernprozess im unmittelbaren Kontakt von Lehrenden und Lernenden. Sie strukturiert den Lehr-Lernraum multidimensional (Teilnehmer und Gruppe, Ziele und Nutzen, Inhalte und Methoden, Situations- und Rahmenbedingungen) und multiperspektivisch (Problemanalyse, Zieldefinition, Methodenwahl …; Information, Planung, Entscheidung …; forming, storming …). Durch die Fokussierung von als zentral erachteten Dimensionen und Perspektiven sowie deren Wechselwirkung entstehen mehr oder minder wahrscheinliche (multimodale) didaktische Szenarien. Aus diesen können multilineare Handlungspläne und in der Folge eine Fülle denkbarer Handlungsoptionen abgeleitet werden. So wird systematisch Komplexität reduziert. Zugleich wird damit, aber auch durch den Wechsel von Perspektiven oder Situationskonstellationen, Flexibilität in der Wahrnehmung und im Handeln trainiert. Die Systematik dieser „Gedankenspiele“ und deren Logik dürfte sich als hilfreich für die Analyse von komplexen Problemen und Fragestellungen und für die Entwicklung von Deutungs- und Handlungsoptionen mit Coachees erweisen. Die Andragogik bietet die Grundhaltung, entscheidende Grundlagen und hilfreiche Methoden zu einem fundierten und authentischen „Sowohl-als-auch“. Einerseits reagiert sie systematisch, multidimensional, multiperspektivisch und multimodal, andererseits zielgerichtet fokussierend und zugleich defokussierend, interessiert und offen für das Unerwartete und für Begegnungen mit der/dem Lernenden. Dies ist zweifellos eine „gute“ Grundlage für eine zielführende, personzentrierte, ökologische und lernförderliche (Lern-)Prozessbegleitung.

11.1.10 Basisliteratur GRUNDLAGEN DER WEITERBILDUNG E.V. (Hrsg.): Grundlagen der Weiterbildung — Praxishilfen. LoseBlatt- Sammlung. Neuwied u.a., Luchterhand SCHOGER, WALTER (2004): Andragogik? Zur Begründung einer Disziplin von der Erwachsenenbildung/ Weiterbildung. Hohengehren, Schneider TIPPELT, RUDOLF (Hrsg.) (2009): Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung. Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften/GWV

314

11.2 Axiomatik von Gerd Walther

11.2.1 Axiomatische Rekonstruktion als Programm? Weshalb enthält ein Buch zu Coaching einen Beitrag zum Stichwort Axiomatik, welches auf den ersten Blick vor allem der Mathematik und den Naturwissenschaften zuzurechnen ist? In der Tat liegen die Wurzeln der Axiomatik in der Mathematik und beginnen mit EUKLIDS (ca. 360280 v.Chr.) berühmtem Werk „Die Elemente“ (Stoicheia), das eine Axiomatik der ebenen und räumlichen Geometrie enthält. „Die Elemente“ hatten — nicht zuletzt als das Lehrbuch für Mathematik — einen eminenten Einfluss. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts zählten „Die Elemente“ nach der Bibel zu den meistverbreiteten Werken der Weltliteratur. Bis heute gilt die axiomatische Methode, die in der Mathematik mit EUKLID begann und durch HILBERT an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert noch einmal eine grandiose Verallgemeinerung erfahren hat, auch für Wissenschaften außerhalb der Mathematik als Vorbild („more geometrico“). In der Entwicklung von Wissenschaften werden immer wieder Phasen erreicht, in denen die gewonnenen Wissensbestände reflexiven Aktivitäten unterzogen werden. Dabei werden im Kleinen wie im Großen Fragen nach den Grundlagen und Grundprinzipien, Begründungszusammenhängen, nach Begrifflichkeit, Konsistenz, Systematisierung etc. gestellt. Für die Mathematik machte sich beispielsweise Mitte der 1930er-Jahre eine international besetzte Gruppe von Mathematikern unter dem Pseudonym „Bourbaki“ daran, große Teile der Disziplin in einem stringenten, an der Hilbertschen Axiomatik orientierten, Zusammenhang zu restrukturieren. Ähnliche Aktivitäten, auch außerhalb der Mathematik, können zumindest im Ansatz durchaus in die mit EUKLID beginnende Tradition der Axiomatisierung gestellt werden. Im Bereich der Geisteswissenschaften versuchte KARL BÜHLER 1933 eine Axiomatik der Sprachwissenschaften zu entwickeln. JERZY BANCZEROWSKI beschrieb vor Kurzem „The axiomatic method in 20th-century European linguistics”. Aus der Kommunikationstheorie sind die fünf Axiome von WATZLAWICK, BEAVIN und JACKSON zur menschlichen Kommunikation bekannt. EBERHARD ROGGE beschäftigte sich mit einer „Axiomatik allen möglichen Philosophierens“. VOLLRATH rekonstruierte SPINOZAS Metaphysik „… im Stil von HILBERTS Grundlagen der Geometrie“. In der Ökonomie beschäftigten sich beispielsweise TUTIC und HÜTTNER 2009 mit Axiomatischen Theorien mit begrenzter Rationalität. STEINER axiomatisierte politische Abstimmungssysteme, etwa der UNO. Möglicherweise entspringt das Interesse an Axiomatik auch in der Disziplin Coaching einem solchen reflexiven, rekonstruierenden Bedürfnis. Um einen — zumindest skizzenhaften — Eindruck von der axiomatischen Methode zu vermitteln, werfen wir im folgenden Abschnitt zunächst einen kurzen Blick auf die klassische Axiomatik bei EUKLID und streifen anschließend mit einem Beispiel den mit HILBERT in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eingeleiteten Übergang zur modernen Axiomatik.

315

11.2.2 Die Axiomatische Methode bei Euklid — eine Skizze In diesem Abschnitt werden erheblich verkürzend einige Kernpunkte der Axiomatischen Methode bei EUKLID skizziert. EUKLIDS Werk, „Die Elemente“ (Stoicheia) fasst wohl erstmalig wesentliche Bestände des zur damaligen Zeit vorhandenen mathematischen Wissens zu Geometrie und Arithmetik in einer besonderen systematisierenden Weise zusammen. Das Besondere dieser Darstellung von mathematischem Wissen ist die Art der Wissensorganisation bzw. Wissensdarstellung und der Wissensbegründung. Mathematische Sachverhalte, die in EUKLIDS Elementen berichtet werden, stehen nicht beziehungslos nebeneinander, sondern sind durch inhaltliche und logische Beziehungen verknüpft. Stellen wir uns in einem Gedankenexperiment vor, EUKLID habe wesentliche Teile des zu seiner Zeit bekannten mathematischen Wissens „überschaut“. Dann könnte er festgestellt haben, dass zum einen die Definition eines verwendeten Begriffes oder einer Beziehung wiederum andere Begriffe und Beziehungen enthält und dass die Begründung einer mathematischen Aussage andere Aussagen verwendet. Wie kann über ein solches Begriffs-, Beziehungs- und Aussagengeflecht noch die Kontrolle behalten werden, um nicht irgendwann in einem circulus vitiosus zu landen? EUKLIDS Methode ist bekannt. Wenn wir Beziehungen (Relationen) zu den Begriffen zählen, so führt EUKLID zunächst Grundbegriffe oder so genannte primitive Terme ein, sodann eine Reihe von grundlegenden Aussagen über die Grundbegriffe, die Axiome. Die Wahrheit, Gültigkeit der Axiome ist nach Euklids klassischem, „materialem“ Standpunkt evident (vgl. unten). Die Zahl der Grundbegriffe und Axiome soll aus Gründen der Übersichtlichkeit möglichst klein sein. Alle weiteren Begriffe werden mit Hilfe der Grundbegriffe und der Axiome definiert. Außerdem wird das dargestellte mathematische Wissen in besonderer Weise bewiesen. Nicht etwa empirisch durch Ausmessen von Streckenlängen und Winkelgrößen, sondern durch logische Begründung/ Herleitung der mathematischen Aussagen, man spricht auch von „Sätzen“, aus den Axiomen und bereits bewiesenen Sätzen, unter Verwendung der definierten Begriffe. In EUKLIDS Axiomatik der Geometrie folgt die Wahrheit der bewiesenen Sätze, bei korrektem, logischem Schließen, aus der Wahrheit der Axiome. Die Wahrheit der Axiome wiederum beruht auf der unmittelbaren Anschaulichkeit der darin beschriebenen einfachen, ideal gedachten geometrischen Konfigurationen wie Punkte, Geraden, Kreise. Eines der Axiome aus den Elementen besagt: Für jeden Punkt P und jeden von P verschiedenen Punkt Q gibt es genau eine Strecke, die P und Q verbindet. Ein anderes Axiom besagt: Für jeden Punkt M und jeden von M verschiedenen Punkt P gibt es einen Kreis mit Mittelpunkt M und Radius MP. Bei Punkten und Strecken in unserer körperlichen Realität, etwa an der Tafel, sind Punkte ausgedehnte Kreidehaufen und Strecken mehr oder weniger breite und gerade Streifen. Hier könnte es durchaus mehr als eine Strecke zwischen zwei verschiedenen Punkten geben.

P 316

Q

Diese ontologische Bindung an existierende, gedachte ideelle geometrische Objekte wird in der modernen Axiomatik seit DAVID HILBERTS bahnbrechendem Werk „Grundlagen der Geometrie“ (1899) aufgegeben, und Geometrie, wie andere axiomatische mathematische Theorien, als formal-deduktives System entwickelt. Wie bereits oben erwähnt, war vieles von dem mathematischen Wissen bekannt, das in den Elementen in einem Gesamtzusammenhang systematisch dargestellt und bewiesen wird, z.B. der Satz des THALES (THALES VON MILET, etwa 300 Jahre vor EUKLID): Jedes Dreieck ABC, dessen Ecke C auf einem Halbkreis über der Strecke AB liegt hat in C einen rechten Winkel. Neu ist, dass dieser Satz letztlich allein mit logischen Mitteln aus den Axiomen und Postulaten bewiesen/deduziert wird. Die in EUKLIDS „Elementen” realisierte Idee der Axiomatisierung eines Wissensbereiches wurde im Laufe der Zeit zum Kriterium für „exakte“ Wissenschaft überhaupt. Über welch große Zeitspannen hinweg diese Idee wirkte, zeigt die im 17. und 18. Jahrhundert vorherrschende Forderung, jede das Prädikat „exakt“ beanspruchende Wissenschaft müsse „more geometrico“, also nach dem Vorbild von EUKLIDS axiomatischer Methode in der Geometrie betrieben werden. Dies läuft, kurz gesagt, darauf hinaus, in der betreffenden Theorie eine Menge von Axiomen (Basisaussagen, Grundgleichungen) auszuzeichnen, sodass hieraus, sowie aus bereits bewiesenen Aussagen und korrekt gebildeten Definitionen, mit logischen oder mathematischen Mitteln alle weiteren Aussagen der Theorie abgeleitet werden können.

11.2.3 Lösung der ontologischen Bindung: HILBERT EUKLIDS Axiomatisierung der Geometrie stellte sich im Laufe der Zeit als lückenhaft heraus. Außerdem stellten sich Wissenschaftler der Neuzeit immer wieder die Frage, ob EUKLIDS Parallelenaxiom nicht bereits aus den übrigen Axiomen beweisbar und dann kein „Axiom“ im ursprünglichen Sinne mehr wäre. Die Entdeckung von sogenannten nicht euklidischen Geometrien, in denen das Parallelenaxiom nicht gilt, mag zur Aufgabe der ontologischen Bindung beigetragen haben, die bis dahin „per Evidenz“ die Wahrheit der Axiome garantiert hatte. Wenn nach HILBERTS Vorstellungen die Grundbegriffe keine ontologische Referenz mehr aufweisen, so könne man, wie HILBERT einmal gesagt haben soll, statt „Punkte, Geraden und Ebenen“ jederzeit auch „Tische, Stühle und Bierseidel“ sagen. Es kommt nicht auf die „Bedeutung“ der Grundbegriffe an, sondern auf das System der in den Axiomen festgeschriebenen Beziehungen zwischen den primitiven Termen (implizite Definition). An die Stelle der durch Evidenz via ontologische Bindung gesicherten, beziehungsweise als gesichert angenommene Wahrheit der Axiome bei EUKLID muss nunmehr in der modernen Axiomatik ein anderes Kriterium treten. Der Ersatz ist für jedes Axiomensystem ist die Forderung der Widerspruchsfreiheit (Konsistenz): aus den Axiomen darf nicht Widersprüchliches, also eine Aussage und ihre Negation, ableitbar sein. Dann wären nämlich, entsprechend dem ex contradictione sequitur quodlibet, in dieser axiomatischen Theorie beliebige Aussagen ableitbar. Da die Axiomatisierung eines Wissensgebietes auch seine übersichtliche, „ökonomische“ Darstellung bezweckt, wird man außerdem darauf achten, in das Axiomensystem nicht Axiome aufzunehmen, die 317

aus anderen Axiomen abgeleitet werden können. Dies ist die Forderung der Unabhängigkeit. Allerdings mag es aus didaktischen Gründen gelegentlich angebracht sein, mehr Axiome als nötig (beziehungsweise „stärkere” Axiome) in ein Axiomensystem eines Wissensgebietes aufzunehmen, um bequemer und schneller zu „interessanten“ Aussagen und ihren Beweisen zu kommen. Auf die dritte Forderung, die sogenannte Vollständigkeit, kann hier nicht eingegangen werden. Um eine Vorstellung von der modernen Axiomatik zu vermitteln, geben wir einen kurzen Einblick in die ersten Schritte einer geometrischen Minitheorie, nämlich Affine Ebenen. Zunächst werden unter Verwendung der Mengensprache die Grundbegriffe (primitiven Terme) definiert. Sei P eine nichtleere Menge und sei G eine nichtleere Menge von Teilmengen von P. Die Elemente A, B, …, P, Q, R von P nennen wir Punkte, die Elemente g, h , k, … von G nennen wir Geraden. Wichtig ist hier, dass P und G zunächst irgendwelche (!) Mengen sind, die jeweils mindestens ein Element enthalten. Ihre Elemente sind nicht notwendig Punkte bzw. Geraden im EUKLIDSCHEN Sinn, wir nennen sie nur so (vgl. HILBERTS Sprechweise von Bierseideln, Bänken, Stühlen). Die bei EUKLID noch vorhandene ontologische Bindung ist hier aufgelöst. Ist Pg, so sagt man, P liegt auf g oder g geht durch P, ist Pg, so sagt man, P liegt nicht auf g. Ein Punkt P heißt Schnittpunkt der Geraden g, h usw., wenn P auf g und h usw. liegt. Drei Punkte P, Q, R heißen in allgemeiner Lage, wenn sie nicht auf einer Geraden liegen. Geraden g, h heißen parallel oder Parallelen (man schreibt g||h), wenn sie entweder gleich sind oder keinen Schnittpunkt haben. Das Paar (P, G) heißt affine Ebene, wenn folgende Axiome gelten: A1 A2 A3 A4

Auf jeder Geraden liegen mindestens zwei Punkte. Zu verschiedenen Punkten P, Q gibt es genau eine Gerade g durch P und Q (man nennt g die Verbindungsgerade von P und Q, und schreibt g = PQ). Zu jeder Geraden g und jedem Punkt P gibt es genau eine Gerade h mit g||h (ParallelenAxiom). Es gibt drei Punkte in allgemeiner Lage.

Wenn wir uns vor dem Hintergrund unseres Schulwissens zur Geometrie die Elemente von P und G als die üblichen idealisierten Punkte bzw. Geraden unserer gewöhnlichen Zeichenebene vorstellen, so ist sofort klar, dass diese eine affine Ebene ist. Bemerkenswert ist allerdings, dass es mathematische Strukturen gibt, die ebenfalls affine Ebenen sind (technisch gesprochen: Modelle affiner Ebenen), aber kaum etwas mit unserer geometrischen Vorstellung etwa von Geraden zu tun haben. Eine affine Ebene E = (P, G) wird folgendermaßen definiert: Die Menge P enthält vier Elemente P = {P,Q,R,S}, die Menge G enthält die zweielementigen Teilmengen von P als Elemente G = { {P,Q}, {P,R}, {P,S}, {Q, R}, {Q, S}, {R, S} }. 318

Über das „Wesen“ der Elemente von P und G, also der primitiven Terme von (P, G) wird im Sinne von HILBERTS Axiomatik nichts ausgesagt. Man kann sich die Situation in folgender Weise veranschaulichen: die Elemente aus P sind als schwarze „Punkte“ der Zeichenebene dargestellt. Die Geraden aus G haben jedoch nichts mit den gezeichneten Verbindungslinien zwischen den Punkten zu tun. Geraden sind einzig und allein die in G angegebenen zweielementigen Teilmengen.

S

R P

Q

Man sieht sofort ein, dass in der so definierten Struktur die Axiome A1, A2, A4 erfüllt sind. Die Überprüfung des Parallelenaxioms A3 ist etwas aufwendiger. Wir begnügen uns mit der exemplarischen Erörterung eines Falles, das Weitere wird analog durchgeführt. Wir wählen etwa den Punkt P und eine Gerade gG. Liegt P auf g, so wähle man h = g. Nach obiger Definition ist dann g||h. Liegt P nicht auf g, dann ist g eine der Geraden {Q, R}, {Q, S}, {R, S}. Ist etwa g = {Q, R}, so wähle man für h eine Gerade, auf der P liegt, die aber keinen Schnittpunkt mit h hat. Es zeigt sich, dass es genau eine solche Gerade gibt, nämlich h = {P, S}. Da bei dem nun eingenommenen abstrakten Standpunkt, anders als in der Axiomatik bei EUKLID, die Anschauung offensichtlich nicht mehr als Stütze für Beweise von geometrischen Sätzen benutzt werden kann, müssen in einer solchermaßen axiomatisierten Theorie selbst „einfachste“ Sätze auf Grundlage der Definitionen und Axiome bewiesen werden. Zur Verdeutlichung zwei Beispiele: Satz 1 — Zwei verschiedene Geraden einer affinen Ebene (P, G) haben höchstens einen Punkt gemeinsam. Beweis — Aus dem Axiom A2 folgt unmittelbar: Gehen zwei Geraden nämlich durch wenigstens zwei verschiedenen Punkte, so sind sie gleich. Der nächste Satz sagt etwas aus über die Mindestzahl an Geraden in einer affinen Ebene. Satz 2 —Jede affine Ebene (P, G) enthält mindestens drei paarweise verschiedene Geraden. Beweis —Nach Axiom A4 gibt es in P drei Punkte P, Q, R, die nicht auf einer Geraden liegen. Die Geraden g = PQ, h = PR und k = QR sind dann paarweise verschieden. Wäre nämlich etwa g = h, so läge R auch auf der Geraden g. Dies wäre ein Widerspruch dazu, dass die Punkte P, Q, R nicht auf einer Geraden liegen.

319

11.2.4 Rückblick In den Wissenschaften hat die reflexive Tätigkeit des Axiomatisierens in der Tradition von EUKLID und HILBERT das Ziel, kumulierte Wissensbestände zu ordnen, zu systematisieren, indem Grundbegriffe und Grundprinzipien identifiziert und Begründungszusammenhänge hergestellt werden. Solche Aktivitäten dienen dazu, in einem Wissensbereich Transparenz zu schaffen, Grundpositionen in ihrer Bedeutung als solche offen zu legen, den Diskurs darüber zu erleichtern, Verständnis — und Verständigungsgrundlagen — zu zeigen, Möglichkeiten auch für andere Grundlegungen zu eröffnen. Die Beantwortung der eingangs gestellten Frage „Axiomatische Rekonstruktion als Programm?“ für eine Wissensdomäne kann nur aus der diesbezüglichen Bedürfnislage und dem Erkenntnisinteresse innerhalb dieser Disziplin erfolgen — dies gilt auch für den Bereich des Coaching.

11.2.5 Basisliteratur BÜHLER, KARL (1933): Die Axiomatik der Sprachwissenschaften. In: Kant-Studien, Band 38, Heft 1-2, p. 19-90 BAŃCZEROWSKI, JERZY (2006): The axiomatic method in 20th-century European linguistics. In: Sylvain Auroux et al. (Hrsg.): Ein internationales Handbuch zur Entwicklung der Sprachforschung von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin, New York, Walter de Gruyter, p. 2007-2026 MOLLER, HERBERT (1952): Die Axiomatik alles möglichen Philosophierens. Zum 10-jährigen Todestag Eberhard Rogges. In: Zeitschr. f. philosophische Forschung VI/2, p.267-276 ROGGE, EBERHARD (1950): Axiomatik alles möglichen Philosophierens: das grundsätzliche Sprechen der Logistik, der Sprach-Kritik und der Lebens-Metaphysik. Meisenheim, Westkulturverlag STEINER, HANS-GEORG (1966): Mathematisierung und Axiomatisierung einer politischen Struktur. In: Der Mathematikunterricht 12, Heft 3, p. 66-86 TUTIC, ANDREAS/HÜTTNER, FRANK (2009): Axiomatische Theorien begrenzter Rationalität. (http:// www.uni-leipzig.de/~micro/bounded_rationality.pdf), 12 Seiten VOLLRATH, HANS-JOACHIM (2004): Spinozas Metaphysik im Stil von Hilberts Grundlagen der Geometrie. In: Studia Spinozana, Vol 14, p. 179-194 WATZLAWICK, PAUL et al. (1969): Menschliche Kommunikation — Formen, Störungen, Paradoxien. Bern, Huber

320

11.3 Betriebswirtschaft von Christina Wargitsch

Die Lehre der Betriebswirtschaft ist eine Teildisziplin der Wirtschaftswissenschaften und befasst sich im Gegensatz zur Schwesterdisziplin der Volkswirtschaftslehre, die das ökonomische Zusammenspiel von Wirtschaftssubjekten thematisiert, mit der Institution „Unternehmung”. Aus wissenschaftstheoretischer Perspektive wird die Betriebswirtschaft in der Regel als anwendungsorientierte Wissenschaft bezeichnet und unterscheidet sich von den Grundlagenwissenschaften und der betrieblichen Praxis.

11.3.1 Anfänge und Entwicklung der Betriebswirtschaft Die Ursprünge der Betriebswirtschaftslehre lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. So werden erste kaufmännische Ansätze um 3000 v.Chr. anhand eines archäologischen Fundes belegt (Buchhaltungsbeleg mit kaufmännischen Daten auf einer Tontafel orientalischen Ursprungs). Um 430-354 v.Chr. verfasst XENOPHON eine landwirtschaftliche Betriebslehre (oikonomikos), ebenso setzt ARISTOTELES um 350 v.Chr. einen wissenschaftlichen Grundstein durch seine verfasste Lehre vom Wirtschaftsbetrieb. Als entscheidende Triebfeder für die Entwicklung der Betriebswirtschaft wird die Einführung der doppelten Buchführung im Jahr 1494 (LUCA PACIOLI, Lehrbuch der Mathematik, Venedig) betrachtet. Die ersten Entwicklungsschritte der Betriebswirtschaft werden in der Vorläuferwissenschaft der Handlungswissenschaften gesehen, welche im Rahmen der Kameralwissenschaft (Volkswirtschafts- und Finanzpolitik und Handlungswissenschaft) gelehrt werden. Im 18. Jahrhundert verselbstständigt sich die Volkswirtschaftslehre und erlebt einen Aufschwung. Parallel dazu geht der Niedergang der Handlungswissenschaft (Profitlehre) einher. Durch die Gründung von Handelshochschulen und entsprechenden Lehrstühlen in Leipzig (1898), St. Gallen (1898), Aachen (1898), Wien (1898), Frankfurt a. M. (1901), Köln (1901), Berlin (1906) und Mannheim (1907) etabliert sich die moderne Betriebswirtschaft im deutschsprachigen Raum als eigenständige Wissenschaftsdisziplin. Ausgehend von den Anfängen des 20. Jahrhunderts entwickelt sich ihr Charakter zunächst von einer rein deskriptiven hin zu einer praktisch-normativen Ausrichtung.

11.3.2 Bedeutende Richtungen der Betriebswirtschaft und deren Vertreter Aus den Erkenntniszielen der Betriebswirtschaftslehre (BWL) lassen sich drei aufeinander aufbauende Strömungen ableiten. Während sich die deskriptive BWL auf die Beschreibung und Erklärung von Unternehmen und dem unternehmerischen Handeln beschränkt, geht die praktisch-normative (entscheidungsorientierte) BWL einen Schritt weiter und postuliert zusätzlich Erkenntnisse zur Gestaltung von Unternehmen und unternehmerischem Handeln. Die umfassendsten Erkenntnisziele verfolgt die ethisch-normative BWL, welche überdies Ziele (z.B. Gewinnmaximierung) diskutiert. Prägend für die Betriebswirtschaft im deutschsprachigen Raum waren und sind EUGEN SCHMALENBACH (1873-1955, Namenspatron der Betriebswirtschaftslehre), ERICH GUTENBERG (1897-1984, Begründer 321

der faktororientierten BWL), EDMUND HEINEN (1919-1996, Begründer der entscheidungsorientierten BWL), HORST ALBACH (*1931, Vertreter der managementorientierten BWL).

11.3.3 Typische Fragestellungen der Betriebswirtschaft Mithilfe des idealtypischen strategischen Managementprozesses werden beispielhaft typische Fragestellungen der BWL illustriert: 1.

2.

3.

4.

322

Vision des Unternehmens • Wo wollen wir in Zukunft mit unserer Unternehmung stehen? • Welche Perspektiven hat unsere Unternehmung? • Was wollen wir langfristig erreichen? Zielsetzung des Unternehmens • Welche finanziellen Ziele verfolgen wir? • Welche nicht-finanziellen Ziele verfolgen wir? Analyse der gegenwärtigen Situation • In welcher Branche befinden wir uns? — Wie grenzen wir die Branche ab? — Ist die Branche attraktiv? — Wer sind unsere Mitbewerber? • Wie wollen wir in der Branche konkurrieren? — Welche Produkte/Dienstleistungen wollen wir anbieten? — Welche Preispolitik wollen wir verfolgen? — Wie sollen die Produkte vertrieben und beworben werden? — Sollen wir die Produkte selbst produzieren oder fremdbeziehen? • Worin liegen unsere Stärken und Schwächen? — Welche Kernkompetenzen und organisationalen Fähigkeiten haben wir? — Wie ist unsere finanzielle Situation? — Sind unsere Mitarbeiter motiviert und kompetent? — Bieten wir an, was Kunden wünschen? — Welche Stakeholder haben wir und wie gehen wir mit ihnen um? — Sind wir innovativ? — Unterstützen unsere Systeme, Strukturen und Prozesse unsere Ziele? — Investieren wir optimal? — Ist unsere Finanzierung optimal? Strategieentwicklung • Wie sollen wir auf Organisationsebene handeln? — Sollen wir strategische Allianzen bilden, Partnerschaften eingehen, Outsourcing betreiben? — Sollen wir in neue Branchen einsteigen? — Sollen wir uns vertikal integrieren oder diversifizieren? • Wie sollen wir in der Branche auftreten? — Verfolgen wir Kostenführerschaft, eine Differenzierungs- oder Nischenstrategie? — Treten wir gegenüber unseren Konkurrenten aggressiv oder defensiv auf?

5.

6.

Strategieumsetzung • Passen unsere Strukturen und Prozesse zu unseren Strategien? • Welche Systeme benötigen wir zur Umsetzung der Strategie? • Welche Fähigkeiten benötigen wir zur Umsetzung der Strategie? • Sind unsere Mitarbeiter motiviert und kompetent, die Strategie umzusetzen? • Passt unsere Unternehmenskultur zur Strategie? • Welches Selbstverständnis haben wir? • Welche Budgets müssen verabschiedet werden, um die Strategie adäquat umzusetzen? Strategische Kontrolle • Haben wir unsere Ziele erreicht? • Greifen unsere Strategien wie geplant? • Falls nicht, welche korrektiven Maßnahmen müssen wir ergreifen? • Was lernen wir daraus und was können wir in Zukunft besser machen?

11.3.4 Typische Axiome der Betriebswirtschaft Formalziele leiten im Optimum betriebswirtschaftliche Entscheidungen. Begründet wird dies durch die Ressourcenknappheit bzw. der damit einhergehenden Forderung nach einer optimalen Ressourcenallokation. Dementsprechend leiten sich drei grundlegende Prinzipien ab: Das ökonomische Prinzip wird durch folgende Axiome konkretisiert: Maximumprinzip Erwirtschafte maximalen Ertrag mit gegebenem Aufwand an Gütern Minimumprinzip Erwirtschafte erwünschten Ertrag mit minimalem Aufwand an Gütern Allgemeines Extremumprinzip Erwirtschafte einen Ertrag mit einem Aufwand an Gütern, sodass Ertrag und Aufwand in einem möglichst günstigen Verhältnis stehen Als weitere Erfolgsziele werden auf Grund der hohen Relevanz für die Praxis häufig die Produktivität und die Rentabilität genannt: Ausbringungsmenge der Faktorkombination

Produktivität

=

Rentabilität

=

Einsatzmenge an Produktionsfaktoren Gewinn Ø eingesetztes Kapital

x 100

11.3.5 Analyse- und Lösungsstrategien in der Betriebswirtschaft Die Betriebswirtschaftslehre als anwendungsorientierte Wissenschaftsdisziplin orientiert sich interdisziplinär zumeist an einem formalen Problemlösungsschema, das in mehrere Phasen unterteilt ist: 323

1.

2.

3.

4.

5. 6.

Analyse der Ausgangslage Diese Phase umfasst die Problemerkennung, -beschreibung und -analyse, sowie deren Beurteilung. Ziele Im Rahmen der Zielsetzung oder Zielformulierung können Zielkonflikte auftreten, die gelöst werden müssen. Maßnahmen Ziele können zumeist über mehrere Pfade erreicht werden. Mögliche Maßnahmen, die zur Zielerreichung beitragen, müssen gegeneinander abgewogen werden und ein Maßnahmenpaket muss verabschiedet werden. Ressourcenallokation Zur Durchführung der Maßnahmen müssen Mittel (finanzielle und nicht-finanzielle) bereitgestellt werden. Implementierung In dieser Phase müssen die geplanten Maßnahmen realisiert werden. Evaluierung der Resultate Erzielte Ergebnisse müssen beurteilt werden, im Bedarfsfall müssen korrektive Maßnahmen eingeleitet werden.

Der gesamte Prozess verläuft im Optimum iterativ. Verbreitete Modelle und Lösungsansätze interdisziplinärer betriebswirtschaftlicher Fragestellungen sind z.B. • • •

St. Galler Management-Modell1 Six Sigma Ansatz2 Balanced Scorecard3

11.3.6 Typische Anwendungsfelder in der Betriebswirtschaft Organisationen mit sowohl privatem als auch öffentlichem Charakter profitieren von den Erkenntnissen der Betriebswirtschaftslehre: Die Organisation als Gegenstand der Betriebswirtschaft stellt ein soziales und offenes System dar, welches durch die Kombination von Produktionsfaktoren produktive Leistungen erstellt und absetzt. Dies gilt für private Unternehmen, ebenso wie für Nonprofit-Organisationen und öffentliche Institutionen (unternehmensnahe Institutionen mit analogen Prozessen und Funktionen). Differenziert nach dem Abstraktionsgrad und der Funktionalität verzweigt sich die Betriebswirtschaftslehre folgendermaßen: Allgemeine Betriebswirtschaft Das Anwendungsspektrum der allgemeinen Betriebswirtschaft umfasst branchen- und funktionsübergreifende Problemstellungen, u.a.

1

Vgl. Schwaninger (1994): Managementsysteme. Das St. Galler Management-Konzept, Frankfurt a.M.

2

Vgl. Töpfer (2007): Six Sigma: Konzeption und Erfolgsbeispiele für praktizierte Null-Fehler-Qualität, 4. Auflage, Berlin, Springer Vgl. Kaplan/Norton (1992): The Balanced Scorecard - Measures That Drive Performance. In: Harvard Business Review, Jan-Feb 1992.

3

324

• Management- und Führungsaufgaben • Planungs- und Organisationsaufgaben Spezielle Betriebswirtschaftslehre Die spezielle Betriebswirtschaft widmet sich hingegen ausgewählten Unternehmensfunktionen und/oder Unternehmensbereichen und/oder bestimmten Industrien. Das Lehr- und Forschungsfeld der speziellen Betriebswirtschaft kann daher wiederum in institutionelle (branchenbezogene) und funktionale Teilgebiete untergliedert werden. • Institutionelle Betriebswirtschaft umfasst z.B. die Bankbetriebslehre, Immobilienwirtschaft, Industriebetriebslehre, Versicherungsbetriebslehre, Betriebswirtschaft für Nonprofit-Organisationen und öffentliche Hand, Betriebswirtschaft für KMU und Familienunternehmen. • Beispielhafte Bereiche funktionaler Betriebswirtschaft sind Produktion und Fertigung, Materialwirtschaft und Logistik, Absatz und Marketing, Investition und Finanzierung, Rechnungswesen und Controlling, Unternehmensführung. Betriebstechniken Betriebstechniken bezeichnen die branchen- und funktionenübergreifende Methodologie, mit der Fragestellungen in der Organisation aufgegriffen und behandelt werden, so z.B. Statistik, Operations Research, Buchhaltung, Finanzmathematik, Informations- und Kommunikationstechnologie usw.

11.3.7 Typische Kritik an der Betriebswirtschaft Klassische und neoklassische Wirtschaftstheorien unterstellen Individuen, die in Institutionen agieren, häufig das Menschenbild des Homo oeconomicus: Der Akteur handelt eigennutzorientiert, rational, maximiert seinen Nutzen, ist vollständig informiert und reagiert auf Restriktionen. Die Neue Institutionenökonomik versucht, dieses Menschenbild realitätsnaher zu beschreiben, indem sie begrenzte Rationalität, asymmetrische Information und opportunistisches Verhalten zu Grunde legt. Genau dieses Menschenbild und die daraus resultierenden Theorieannahmen stehen oftmals in der Kritik, zu simplifizieren, ein Humanitätsdefizit aufzuweisen, der Komplexität menschlicher Natur in der Interaktion mit anderen Individuen nicht im Ansatz gerecht zu werden. Diese Kritik lässt sich jedoch unter der fundamentalen Kritik an Modellen subsumieren. Jedes Modell zielt darauf, eine zu untersuchende Realität abzubilden. Aufgrund der inhärenten Realitätskomplexität ist eine Reduktion und Abstraktion der Zusammenhänge konstituierende Bedingung eines Modells.

11.3.8 Typische Begriffe und deren Deutung in der Betriebswirtschaft Absatz Abschreibung Balanced Scorecard Bilanz Deckungsbeitrag Eigenkapital

Verkaufte Menge eines Produktes oder einer Leistung in Mengeneinheiten bewertet Wertminderung von Anlagegütern, die in der Gewinn- und Verlustrechnung verbucht wird Instrument zur Umsetzung von Strategien aus vier Perspektiven (Finanzen, Kunden, Prozesse, Potenziale) Gegenüberstellung von Vermögen und Kapital zu einem bestimmten Zeitpunkt Erlös abzüglich variabler Kosten Jenes Kapital, das dem Unternehmen bzw. den Gesellschaftern gehört 325

Finanzierung Fremdkapital Gewinn Investition Jahresabschluss Kosten Marketing Rendite Shareholder Value Stakeholder Strategie Umsatz

Zahlungsstrom, der mit einer Einzahlung beginnt, gefolgt von Auszahlungen Schulden eines Unternehmens Erträge abzüglich Aufwendungen Zahlungsstrom, der mit einer Auszahlung beginnt, gefolgt von Einzahlungen Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung In Geldeinheiten bewerteter Verzehr von Gütern oder Leistungen Gesamtheit der Aktivitäten zur Vermarktung eines Produktes oder einer Leistung Verzinsung des in eine bestimmte Veranlagungsform investierten Kapitals Marktwert des Eigenkapitals eines Unternehmens Anspruchsgruppen eines Unternehmens Geplantes Maßnahmenbündel zur Erreichung eines Ziels Verkaufte Menge eines Produktes oder einer Leistung in Geldeinheiten bewertet

11.3.9 Bedeutung der Betriebswirtschaft für das Coaching Betriebswirtschaftliche Fragestellungen und Prozesse stellen häufig hohe Anforderungen an die Leistungsträger einer Organisation, sprich Mitarbeiter und Führungskräfte. Jedes Individuum geht auf unterschiedliche Art und Weise mit diesen Anforderungen um bzw. hat unterschiedliche Fähigkeiten und Kompetenzen, den gestellten Anforderungen gerecht zu werden. Coaching setzt an dieser Schnittstelle an und unterstützt die Weiterentwicklung der Coachees in diesem Problembereich. Die Betriebswirtschaft weist in mehreren Gebieten eine Interdependenz mit dem Coaching auf: Führung Neben operativen, also z.B. planerischen und organisatorischen Führungsaufgaben ist die individuelle Mitarbeiterführung ebenso Bestandteil einer Führungskraft. Delegation erfordert Vertrauen in die Fach- und Sozialkompetenz der Geführten, nicht-finanzielle Anreize wie Lob, Feedback, konstruktive Kritik etc. fördern die Motivation und Weiterentwicklung der Geführten. Potenziale bei Geführten zu erkennen, Empathie im sozialen Dialog, Konfliktfähigkeit sowie richtungsweisende Handlungen bilden u.a. die Grundlage für einen erfolgreichen Führungsstil. Diese Eigenschaften können effektiv im Coaching entwickelt werden. Change Management Ein sich rapide veränderndes Unternehmensumfeld, Branchenstrukturbrüche, Branchenkonsolidierungen, neue Informations- und Kommunikationstechnologien, Deregulierung der Märkte und die fortschreitende Globalisierung, um nur einige Faktoren zu benennen, sorgen dafür, dass Unternehmen dazu gezwungen sind, sich fortwährend zu verändern. Je nach Veränderungswillen und -notwendigkeit, werden Change-Management-Prozesse eingeleitet, die nicht nur Strukturen und Systeme verändern, sondern auch die betroffenen Mitarbeiter und Führungskräfte vor veränderte Anforderungen stellen. Unsicherheiten über eine neue Rollenverteilung, Zukunftsängste und innerer Veränderungswiderstand als Folgeerscheinung sind keine Seltenheit. Hier kann gezieltes Coaching ansetzen. Innovationsmanagement Innovation gilt als einer der Treiber, die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens nachhaltig zu sichern, neue Märkte zu durchdringen und First-Mover-Vorteile zu erzielen. Der Nährboden 326

für innovatives Unternehmensverhalten ist, die Kreativität und intrinsische Motivation der Mitarbeiter zu fördern und eine Unternehmenskultur zu etablieren, welche Risikobereitschaft fördert und die Freiheit, Fehler zu machen, zulässt. Führungskräfte sind gefordert, die richtigen Anreize zu setzen, um intrinsische Motivation und Kreativität nicht zu zerstören (Gefahr des Crowding-out-Effekts), organisationales Lernen in der Organisation zu fördern und Potenziale zu erkennen. Dies stellt wiederum Anforderungen an die Führungskräfte, die nicht bei jedem gleichermaßen ausgeprägt sind. Ein Ansatzpunkt für Coaching. Strategisches und vernetztes Denken Mitarbeiter von Unternehmen werden häufig mit komplexen Situationen konfrontiert, die nicht mit dem Wissen basierend auf Routine und geläufigen Methoden bewältigt werden können. Ambiguität von Zielvorgaben, Zeitdruck, Interdependenz von Teilproblemen, Intransparenz der Zusammenhänge und unbekannte Handlungsoptionen erfordern vernetztes Denken, einen ausgeprägten Handlungswillen und insbesondere eine Kommunikationskompetenz, um in einer stärker teambasierten Kooperationsstruktur schnell und eindeutig miteinander kommunizieren zu können. Diese Fähigkeiten können im Coaching gezielt unterstützt und weiterentwickelt werden.

11.3.10 Basisliteratur LECHNER, K., EGGER, A., SCHAUER, R. (2008): Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre. 23. Auflage, Wien, Linde Verlag THOMMEN, J.-P., ACHLEITNER, A.-K. (2009): Allgemeine Betriebswirtschaftslehre: Umfassende Einführung aus managementorientierter Sicht. 6. Auflage, Wiesbaden, Gabler Verlag WÖHE, G., DÖRING, U. (2008): Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre. 23. Auflage, München, Vahlen Verlag

327

11.4 Curriculum von Bernd Meier und Viktor Jakupec

11.4.1 Anfänge/Ursprünge/Quellen Der Begriff „Curriculum“ kommt aus dem Lateinischen (lat.: Lauf, Verlauf, im Sinne: Ablauf des Jahres) und ist im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch die typische Bezeichnung für einen Lehrplan, der die in institutionellen Bildungseinrichtungen zu vermittelnden Ziele und Inhalte bestimmt. Der Begriff „Curriculum“ hat eine lange Geschichte. Bereits in der Antike wurde mit Curriculum der Plan einer systematischen Unterweisung bezeichnet. Konzepte zur stufenweisen Vermittlung spezieller Kenntnisse sind aus allen klassischen Bildungssystemen überliefert: Der Lehrplan zu den Zeiten PLATONS sah zunächst die Unterweisung in Gymnastik, Tanz und Gesang sowie der Dichtkunst vor. Auf den nächsthöheren Stufen folgten Mathematik, die Anleitung zum vernünftigen Denken und schließlich die Philosophie. Diese sieben freien Künste dienten in den späteren Jahrhunderten als Grundgerüst europäischer Curricula. Auf der ersten Stufe (dem Trivium) wurden Grammatik, Rhetorik und Dialektik gelehrt, für das darauf folgende Quadrivium sah das Curriculum Unterricht in Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik vor. Lehrpläne als die nach Stufen oder Klassen zeitlich geordnete Zusammenfassung von Lehrinhalten finden wir in Deutschland erstmals in den Schulordnungen der Vor- und Frühreformation. Das abendländische Curriculum des 19. Jahrhunderts gliederte sich in drei Stufen: die Grundstufe, die Sekundarstufe und die höhere Bildung. Die Grundschule konzentrierte sich auf die Vermittlung der wesentlichen Kulturtechniken Lesen und Schreiben. Außerdem wurden erste Kenntnisse in der Arithmetik, Geschichte, Geographie sowie der religiösen Überlieferung vermittelt. Dieses Konzept für die Grund- oder Elementarschulen hat sich im Wesentlichen bis heute erhalten. Für die weiterführenden Schulen haben sich die Lehrpläne den unterschiedlichen Bildungszwecken entsprechend ausdifferenziert. Um das allgemeine Ziel einer höheren Schulbildung gab es immer wieder heftige Auseinandersetzungen, die insbesondere um die Frage kreisten, ob den humanistischen (geisteswissenschaftlichen) oder den rationalistischen (naturwissenschaftlichen) Fächern der Vorrang einzuräumen sei. Während der Begriff Curriculum im englischen Sprachraum erhalten blieb, sprach man in Deutschland zumindest bis Ende der 1960er-Jahre eher einheitlich von einem Lehrplan. In Verbindung mit einer umfangreichen Revision traditioneller Lehrpläne im Rahmen von Reformbewegungen in der BRD — ausgelöst durch SAUL B. ROBINSOHN — wurde der Begriff aus den USA (re-)importiert. Dieser Reimport brachte aber weitgehende konzeptionelle Änderungen mit sich. Curriculum wurde vorerst als eine bildungspolitische Aussage und zweitens als ein Indikator der Realisierung der erwünschten Bildungspolitik angesehen. In der Praxis aber wurde der Begriff „Curriculum“ noch weitgehender über die bildungspolitischen Ziele hinweg in verschiedensten Formen durch Programmaktionen der Bildungssysteme angewandt. Im Zusatz zu den bestehenden liberalen und humanistischen Bildungsgrundlagen führte der Reimport auch zu einer Verberuflichung der Allgemeinbildung. Somit erhielt das Curriculum auch politisch-ökonomische Bildungsziele. 328

Die Komplexität des Begriffs Curriculum verdeutlichen auch die in der Praxis erzielten Folgen und vielfältigen Erscheinungsformen. Hier handelt es sich um Curriculum als ein Dokument zur Erreichung der Bildungsziele: • • • • •

Formales und informales Curriculum, Offenkundiges Curriculum, Verborgenes Curriculum, Null Curriculum, Rhetorisches Curriculum etc.

Somit wurde „Curriculum“ ein sehr unscharfer Begriff. Heute werden oft auch die Begriffe Lehrplan und Curriculum synonym verwendet.

11.4.2 Entwicklung und bedeutende Richtungen der Wissenschaftsdisziplin Mit dem Rückgriff auf den Begriff „Curriculum“ sollte im Zuge der Bildungsreformen in den sechziger und siebziger Jahren der Anspruch auf eine breitere Sichtweise verdeutlicht werden. Im Unterschied zu einem traditionellen Lehrplan, der letztlich nur eine Auswahl und Anordnung von Lerninhalten zu einem bestimmten Zweck festlegt, hat ein Curriculum den gesamten Lernprozess einschließlich seiner Organisation — also auch Ziele, didaktische Konzepte, Methoden mit ihrer inneren und äußeren Seite, Medien, Rollenbilder, Evaluationsverfahren usw. — im Blick. Die nachstehende Übersicht soll die neue Qualität von Curricula im Vergleich von Lehrplänen kennzeichnen. Übersicht 1 Lehrplan •

• • • •

Festgeschriebenes Ergebnis einer Phase im Prozess der Planung von Lehr- bzw. Lernvorgängen Funktion Vereinheitlichung von Bildung in seinem jeweiligen Gültigkeitsbereich Aussagen über verbindliche Lernziele und -inhalte Ausgangspunkt aller systematischen Unterrichtsplanung Kompromissartiger Konsens gesellschaftlicher Interessengruppen bei Vermittlerrolle des Staates

Curriculum • •





Gerichtet auf gesamten Planungsprozess von der Legitimation bis zur Evaluation Bezogen auf sämtliche Dimensionen von Lernprozessen, auf Lernziele, Lerninhalte, Lernverfahren, Lernmittel und institutionelle Lernorganisation Legt den Prozess der Legitimierung und Bestimmung von Zielsetzungen von Lernvorgängen offen Bezeichnet einen permanenten Prozess mit dem Zwang zu ständiger Revision

Somit ist in der wissenschaftlichen Forschung zum Curriculum der Übergang vom Stoffplan zum Bildungsplan eine Entwicklungslinie, die auch heute noch unter dem Label „Kompetenzorientierung“ weitergeführt wird. Bezüglich der Curriculumkonzepte sind zwei grundlegende Herangehensweisen zu unterscheiden: ein eher disziplinorientierter Ansatz einerseits und ein situativer Ansatz andererseits. Der disziplinorientierte Ansatz hat ein wissenschaftlich fundiertes Curriculum zum Ziel. Dazu soll das Schulfach ent329

sprechend der Systematik der Bezugswissenschaft(en) strukturiert werden. Die Inhaltsauswahl folgt einer dominant fachwissenschaftlichen Orientierung. Der situative Ansatz geht von der pädagogischen Kategorie „Betroffenheit der SchülerInnen” aus und fordert einen an Lebenssituationen anknüpfenden, problemorientierten Ansatz, unabhängig von fachwissenschaftlichen Grenzen. Der Deutsche Bildungsrat begründete 1970 den Vorrang des Prinzips der Wissenschaftsorientierung für die Lehrpläne aller Schularten und Schulstufen, für die Unterrichtsorganisation und die Methoden des Lehrens und Lernens wie folgt: „Die Bedingungen des Lebens in der modernen Gesellschaft erfordern (DEUTSCHER BILDUNGSRAT, S.6), dass die Lehr- und Lernprozesse wissenschaftsorientiert sind. Das bedeutet nicht, dass der Unterricht auf wissenschaftliche Tätigkeit oder gar auf Forschung abzielen sollte; es bedeutet auch nicht, dass die Schule unmittelbar die Wissenschaften vermitteln sollte ... Wissenschaftsorientierung der Bildung bedeutet, dass die Bildungsgegenstände, gleich ob sie dem Bereich der Natur, der Technik, der Sprache, der Politik, der Religion, der Kunst oder der Wirtschaft angehören, in ihrer Bedingtheit und Bestimmtheit durch die Wissenschaften erkannt und entsprechend vermittelt werden. Der Lernende soll in abgestuften Graden in die Lage versetzt werden, sich eben diese Wissenschaftsbestimmtheit bewusst zu machen und sie kritisch in den eigenen Lebensvollzug aufzunehmen. — Die Wissenschaftsorientiertheit von Lerngegenstand und Lernmethode gilt für den Unterricht auf jeder Altersstufe.” (zit. nach KLAFKI, S.163) Wird Wissenschaftsorientierung als „Abbildung der Bezugsdisziplin in der Schule” missverstanden, greift dies aus verschiedenen Gründen zu kurz: • • •

Fachwissenschaftliche Theorien und Modelle sind häufig zu abstrakt für Schülerinnen und Schüler. Fachwissenschaftliche Systematik berücksichtigt nicht die Komplexität von realen Lebenssituationen. Unterricht muss stets auch den Lernenden in seiner konkreten Lebenssituation in den Blick nehmen und Bezüge zu seiner Lebenswelt aufzeigen, um Interesse und Motivation zu wecken und „Lernen fürs Leben” zu ermöglichen.

SAUL B. ROBINSOHN akzentuierte die Idee der Lebensvorbereitung der Jugendlichen durch die Schule. Die Relevanz von Bildungsgegenständen kann sich auch aus „Analysen von spezifischen gesellschaftlichen, auch beruflichen Verwendungssituationen und Bedürfnissen” ergeben (ROBINSOHN, S.48). Der Autor ging davon aus, „dass in der Erziehung Ausstattung zur Bewältigung von Lebenssituationen geleistet wird; dass diese Ausstattung geschieht, indem gewisse Qualifikationen und eine gewisse Disponibilität durch die Aneignung von Kenntnissen, Einsichten, Haltungen und Fertigkeiten erworben werden; und dass eben die Curricula — und im engeren Sinne — ausgewählte Bildungsinhalte zur Vermittlung derartiger Qualifikationen bestimmt sind” (ROBINSOHN, S.45). Curriculumforschung hat daher die Aufgabe, zukünftige Situationen und in ihnen geforderte Funktionen, die zu ihrer Bewältigung notwendigen Qualifikationen und die Bildungsinhalte und Gegenstände, durch welche diese Qualifikationen bewirkt werden soll, zu identifizieren. Für die Auswahl von Bildungsinhalten schlägt der Autor folgende Kriterien vor:

330

1. 2. 3.

Die „Bedeutung eines Gegenstandes im Gefüge der Wissenschaft”, die „Leistung eines Gegenstandes für Weltverstehen, das heißt, für die Orientierung innerhalb einer Kultur und für die Interpretation ihrer Phänomene” und „die Funktion eines Gegenstandes in spezifischen Verwendungssituationen des privaten und öffentlichen Lebens” (ROBINSOHN, S.47).

Curriculumentwickler, die vom situativen Ansatz ausgehen, begründen dies mit dem Vorrang des Prinzips der Lernendenorientierung. Sie gehen von aktuellen und zukünftigen Lebenssituationen der Lernenden aus und bestimmen die Gegenstände und Inhalte des Unterrichts auf der Basis von Kriterien wie subjektive Betroffenheit, Problemgehalt, Gegenwartsbedeutung, Zugänglichkeit. Dabei nutzen sie das Prinzip der Exemplarität, um der Vielfalt und dem raschen Wandel von Lebenssituationen zu entsprechen. Mit dem exemplarischen Vorgehen wird die Erwartung verbunden, dass die Lernenden Transferfähigkeiten entwickeln und so in der Lage sind, ihr Wissen und Können auf ähnliche Sachverhalte anzuwenden. Kritisiert wird an solchen Konzepten: • Das Ausgehen von der Lebenswelt führt für die Lernenden zu einer unüberschaubaren Komplexität. Der Ansatz steht in der Gefahr des Subjektivismus und der Simplifizierung komplexer Zusammenhänge. • Die Analyse von Lebenssituationen ist ohne Rückgriff auf Fachwissenschaften nicht möglich: Die Fachwissenschaften liefern Analysemethoden und Erklärungsmuster. • Die Prognose zukünftiger Lebenssituationen und ihrer Anforderungen an die Lernenden ist problematisch und ohne Rückgriff auf die Forschungen der Fachwissenschaften noch spekulativer. Wenngleich beide Ansätze immer wieder gegenübergestellt werden, haben die Arbeiten des bildungstheoretischen Didaktikers WOLFGANG KLAFKI Grundpositionen herausgestellt: Es geht bei beiden Ansätzen nicht um entweder/oder, sondern um Verbindung von Wissenschafts- und Schülerorientierung: „Die didaktisch-zentrale Frage lautet dann für den Unterricht: Inwiefern sind wissenschaftliche Erkenntnisse notwendig, um diese Lebenswelt durchschaubar, verstehbar und den sich entwickelnden Menschen in ihr urteilsfähig, kritikfähig, handlungsfähig werden zu lassen? ... Lehrer müssen sich ... als Vertreter einer eigenständigen, nämlich didaktisch akzentuierten Aufgabe verstehen: Sie sollen nicht Einzelwissenschaften vereinfacht in die Schule übersetzen, sondern Wissenschaft unter didaktischen Fragestellungen nach ihrem Leistungspotenzial für Lebensprobleme und nach ihren Grenzen befragen (KLAFKI, S.168)”. Abgesehen von den oben dargelegten allgemeinen Ansätzen der Entwicklung und bedeutenden Richtungen der Wissenschaftsdisziplin, ist es relevant, auch die bestehenden Entwicklungen außerhalb der Schulbildung darzustellen. Damit sind post-graduierte Studien und Professional Development gemeint. In diesem Kontext ist Action Research als Entwicklung und bedeutende Richtungen der Wissenschaftsdisziplin Curriculum nennenswert. In vielen englischsprachigen Ländern wie Australien, Kanada, Singapur, USA und andere, wurde weitgehend Action Research als Methode zur Entwicklung des Curriculums in einer Anzahl von Bildungsinitiativen in der Industrie, Gesundheitswesen, Kommerz und Ökonomie, sowie in anderen soziale Fachrichtungen, angewandt. (cf. MCKERMAN, J., 1991). Im Kontext von Curriculumentwicklung und deren Richtungen ermöglicht Action Research Methodologie eine systematische Anwendung von Innovationen in der Curriculumentwicklung und damit des Lehrens und Lernens. Verschiedene Formen von Action Research wurden über Jahre hinweg entwi331

ckelt. Aber alle diese Formen adoptierten einen iterativen Ansatz: Problemidentifikation, Handlungsplanung, Realisierung, Evaluation und Reflexion. Die Einsichten vom ersten Zyklus führen zur Planung des zweiten Zyklus, wobei der erste Aktionsplan modifiziert und der Vorgang wiederholt wird.

11.4.3 Fragestellungen der Curriculumforschung Gehen wir davon aus, dass die Curriculum- oder auch Lehrplanforschung all jene Untersuchungen umfasst, welche die Konstruktion und Optimierung von Lehrplänen vorbereiten, so stehen zunächst Fragen nach der Auswahl und zeitlichen Anordnung von Unterrichtsinhalten im Mittelpunkt des Interesses. Ein derartiges Verständnis greift jedoch zu kurz und würde den Lehrplan auf einen isolierten Stoffplan (syllabus) reduzieren. Die Grundfrage jeglicher Curriculumarbeit beginnt beim Verständnis über den Begriff der Bildung. Bildung ist somit die zentrale Kategorie der Curriculumforschung. Im Mittelpunkt steht die Frage, womit sich junge Menschen auseinandersetzen müssen, um sich zu bilden und mündig zu werden, und die Frage nach der Zugänglichkeit aus Sicht der Schüler und der Sachstruktur der Inhalte des Unterrichts. Zugleich ist die Funktion von Bildung zu bestimmen: Inwieweit geht es um Bildung des Menschen im Ganzen und inwieweit soll Bildung auf spezielle und nützliche Fähigkeiten und Eigenschaften (Qualifikationen/Kompetenzen) ausgerichtet sein? Daraus ergibt sich ein didaktischer Widerspruch, da einerseits der pädagogische Aspekt im Vordergrund steht, mit dem Recht der Jugend auf Freiheit und Spontanität des Individuums, und andererseits die gesellschaftlichen Ansprüche erfüllt werden müssen. Eng damit verwoben ist die Frage nach dem Prozess der Curriculumentwicklung: Inwieweit sind Lehrpläne die Resultante aus einer Fülle von gesellschaftlichen Ansprüchen oder sind sie eher das Ergebnis einer transparenten Auseinandersetzung über die Gestaltung von Unterrichtsprozessen? Grundsätzlich sind diese Fragen nicht exakt wissenschaftlich zu entscheiden. Staatliche Lehrpläne oder auch Curricula haben stets auch Konsens zwischen den einzelnen Akteuren als unabdingbare Voraussetzung. Zugleich ist Curriculumforschung nicht nur auf der Metaebene anzulegen. Berücksichtigung finden müssen die verschiedenen Wissensdomänen, also abgegrenzte Wissens- oder Lernbereiche oder Fachgebiete, in denen Expertenwissen bzw. Expertenkompetenz erworben werden kann. Folglich geht es in der Curriculumforschung zugleich um fachdidaktische Fragestellungen. Auch auf theoretischer und praktischer Ebene ist die Fragestellung der Curriculumforschung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts verzweigt. In den 1970er und 1980er Jahren gab es zwei Curriculumrichtungen mit eigenen Fragestellungen. Einerseits gab es die behavioristische Bewegung (TABA, 1962; BRUNER, 1966; TAYLOR und WILLIAMS, 1966; SKINNER, 1971 und BLOOM, 1956). Die Fragestellungen sind: Kontrolle und Vorhersage des Lernens. Andererseits gab es die sozial-kritisch und radikale Bewegung (YOUNG, 1971; FREIRE, 1972; ARANOWITZ, 1973; ILLICH, 1973; BOURDIEU, 1977 und APPLE, 1979). Hier stand die Fragestellung im Kontext der Emanzipation. In den 1990er Jahren kam die post-moderne Bewegung. Die Fragestellungen hier richteten sich gegen alle bestehenden Konzepte der Curriculumtheorie und Praxis. Die Begründung war, Didaktik kann 332

nicht einfach als ein Transfer von Informationen oder Kompetenzen angesehen werden. Die post-moderne Bewegung richtet sich gegen humanistische, liberale, behavioristische und emanzipatorische Curricula (SLATTERY, 2006; BURNETT, 1999; LYOTARD, 1989; JAMESON, 1981). Die Fragestellung bezieht sich nun auf intersubjektive Kommunikation, autobiographische Erfahrungen, Dekonstruktion der Sprache und des Wissens.

11.4.4 Aktuelle Tendenzen der Curriculumentwicklung Übereinstimmend wird in entwickelten Ländern und demokratisch verfassten Gesellschaften davon ausgegangen, dass Curricula dazu dienen, Stabilität und Kontinuität von Aneignungsprozessen zu sichern, Lehr-Lernprozesse zu steuern und gleichzeitig auch Freiräume zu schaffen. Darüber hinaus sollen sie hinreichende Systematik und Ordnung gewährleisten und dabei aber auch Möglichkeiten des fächerübergreifenden Lernens bieten. Weiterhin geht es darum, die Evaluation zu erleichtern, um Erfolge bzw. Misserfolge zu ermitteln und die Vergleichbarkeit zu ermöglichen. Die Wege zur Verwirklichung dieser Ziele sind überaus vielfältig. Generalisierend lassen sich unseres Erachtens folgende Ansätze herausstellen: 1.

Curricula gehen zunehmend stärker vom Kompetenzansatz aus, um so die allseitige Persönlichkeitsentwicklung zu akzentuieren. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass der Kompetenzbegriff überaus vielfältig gebraucht wird. Generalisierend kann jedoch davon ausgegangen werden, dass Kompetenzen als allgemeine Dispositionen von Menschen zur Bewältigung bestimmter lebensweltlicher Anforderungen verstanden werden können. Kompetenz ist „Bewältigungskönnen“, sind die Fähigkeiten und die Bereitschaft eines Menschen zum eigenverantwortlichen Handeln, um sein berufliches, persönliches und auch gesellschaftliches Leben verantwortlich zu führen und seine Umwelt mitzugestalten. Hohe Akzeptanz findet vor allem auch in der deutschen bildungspolitischen Diskussion die Definition von FRANZ WEINERT, der Kompetenzen charakterisiert als „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernten kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (WEINERT, S.27f). Die Differenzierung von verschiedenen Kompetenzbereichen ist international überaus vielfältig. Ausgehend von der beruflichen Bildung und Wirtschaftspädagogik hat sich die Unterscheidung in Sach-, Methoden-, Sozial- und Personalkompetenz weit verbreitet.

2.

In enger Beziehung zum Kompetenzansatz steht der Übergang zu einem weiten Lernbegriff in der Curriculumentwicklung. Bereits in den siebziger Jahren war der Übergang zu einem weiten Stoffbegriff zu verzeichnen, Sachwissen wurde mehr und mehr durch Methoden- und Verfahrenswissen ergänzt. Hoch entwickelte Gesellschaften erfordern mehr. Die Informations- oder Wissensgesellschaft zu bewältigen, verlangt heute nach Teamfähigkeit und einer solide entwickelten Ich-Bildung. Deshalb umfasst der weite Lernbegriff folgende Elemente: • Inhaltlich-fachliches Lernen • Methodisch-strategisches Lernen • Sozial-kommunikatives Lernen • Selbsterfahrendes- und selbstbeurteilendes Lernen Dabei können die ersten beiden Elemente besonders gut fachspezifisch und die beiden letzten Elemente vor allem fächerübergreifend bestimmt werden. 333

3.

Vor allem die PISA-Studie hat die Aufmerksamkeit auf die realen Resultate von Lehr- und Lernprozessen gelenkt. Damit verbunden ist der Übergang von der „Inputsteuerung“ zur „Outputsteuerung“ von Schule. Die traditionell eher offen gehaltenen Lehrpläne unterbreiteten zwar auf Stoffeinheiten und Jahrgänge bezogene detaillierte Inhalts- bzw. Themenangebote, enthielten aber relativ wenig Aussagen über die zentralen Kompetenzen und Aufgaben der Fächer und vor allem zu wenig über die Leistungen der Schule, nämlich über die Qualität der erwarteten Ergebnisse. Im Unterschied dazu setzen outputorientierte Instrumente auf das qualitative Beschreiben von wesentlichen Leistungen der Schule, gewissermaßen auf die Resultate von Bildungsprozessen, das heißt, auf den erwarteten konkreten Lernerfolg. Der Staat setzt die grundlegenden Ziele in Form von Anforderungen mit der Option, deren Einhaltung und Umsetzung zu garantieren und dies auch zu überprüfen. Generell gehen die Überlegungen dahin, Standards für die anzustrebenden Resultate von Aneignungsprozessen eindeutiger zu definieren.

4.

In enger Beziehung zur Bestimmung von Mindeststandards für institutionalisierte Bildungsprozesse steht die Entwicklung von Kerncurricula. Diese Curricula sollen zur Konsolidierung fachbezogener Kernfachbereiche führen. Diese Kernfachbereiche beinhalten klar definierte Wissensstrukturen, kognitive Strategien, übertragbare Fertigkeiten (Schlüsselqualifikationen), Problemlösungsstrategien und klare Bezüge zur Anwendung erworbenen Wissens und Könnens. Kerncurricula stellen schließlich einen Weg dar, um die Balance zwischen offenen und geschlossenen Curricula zu erreichen. Derartige Curricula können Leistungsstandards und Methoden ihrer Bewertung verbindlich fixieren und so Notwendiges regeln. Andererseits schaffen sie Freiräume für regionale, institutionelle, personale Bedingungen. Problembeladen sind Kerncurricula insoweit, als sie davon ausgehen, dass ... • der Aneignungsgegenstand durch interdisziplinäre Einheiten integriert werden kann; • es einen allgemeinen Bestand an gesellschaftlichen Werten und demokratischen Prinzipien gibt; • eine strukturierte Abfolge von Lernerfahrungen festgelegt werden und die Inhalte einen persönlichen Bezug für den Lernenden haben.

5.

Ausgehend von den Empfehlungen des deutschen Bildungsrates und unter Berücksichtigung der internationalen Tendenzen der Curriculumentwicklung verstehen wir unter einem Curriculum ein System für die Gestaltung von Lehr-Lernprozessen. Dieses System beinhaltet ... • eine klare Beschreibung des Outputs von Aneignungsprozessen in Form von Kompetenzen und Standards; • Aneignungsgegenstände, die für das Erreichen der Kompetenzen relevant sind; • Methoden (Mittel und Wege, um die Ziele zu erreichen); • Situationen (Gruppierung von Inhalten und Methoden); • Strategien (Hinweise auf die Planung von Situationen); • Aussagen zur Evaluation (Diagnose der Ausgangslage sowie Messung des Lehr- und Lernerfolgs mit objektivierten Verfahren).

Die aktuellen Tendenzen zusammenfassend kann konstatiert werden: Wandel ist bedeutender Teil der Curriculum-Dynamik. Dieser muss untersucht und aktualisiert werden, um konkrete Lehr- und Lernziele zu erreichen. Um Änderungen gerecht zu werden, ist es notwendig, die neuen Probleme im Sinne der zeitgenössischen und pro-aktiven Konzeptionen der Problemlösungen durch lebenslanges Lernen, zukunftsweisendes Wissen und Aktualisierung der Verstehens der sozialen, politischen, ökonomischen, kulturellen und persönlichen Welt durch das Curriculum zu verwirklichen. Zunehmend wird 334

Curriculum-Entwicklung und das Curriculum selbst als ein Problemlösungsverfahren unter Bezugnahme auf Ressourcen und Bedürfnissen angesehen. Dadurch sind die kontemporären Curriculum Tendenzen eine Reflexion und ein Produkt der Gesellschaft.

11.4.5 Kritik an der Wissenschaftsdisziplin In der internationalen Arena bezieht sich die allgemeine Kritik der Wissensdisziplin „Curriculumentwicklung“ auf eine generelle Visionsbegrenzung, Wiederholung der schon bestehenden Tendenzen, Irrelevanz und Reduktionismus. In den letzten dreißig Jahren schwang das Curriculum-Pendel von Behaviorismus zu Kognitivismus, dann weiter zu Konstruktivismus und schließlich auch zu Strukturalismus und zu Post-Modernismus. Verbunden damit war auch ein Wandel vom „competency based curriculum“ zum „outcomes based curriculum“ und wieder zurück. Ob dadurch die Theorie oder Praxis des Curriculum weitergekommen ist, ist eine eher unbeantwortete Frage. Curriculum-Entwicklung in Deutschland und weitgehend auch in Europa war lange Zeit nicht empirisch abgesichert. Vielfach wurden somit Bildungsziele formuliert und Erwartungshaltungen aufgebaut, die als wirklichkeitsfremd eingeschätzt werden müssen. Erst nach dem Jahr 2000 wurde nach den ernüchternden Ergebnissen der internationalen Vergleichsuntersuchungen wie PISA eine „empirische Wende“ eingeleitet. Zugleich muss davon ausgegangen werden, dass die Hoffnungen, die mit der Revision von Curricula verbunden werden, vielfach überzogen sind. Schulische Innovationen bzw. Veränderungen können nicht allein vom Lehrplan her stimuliert werden, es sind immer die Wirkungsmöglichkeiten anderer Steuerungsinstrumente (z.B. Fortbildung, Schulentwicklung) sowie von weiteren Wirkungsfaktoren — (Lehrerausbildung, Fächertraditionen, Erwartungslagen von Lehrkräften) mit zu beachten. Permanente Lehrplanrevisionen, verbunden mit Übergang zu „an Outcomes“ orientierten Curricula führten zugleich zu Verunsicherungen in der Schulpraxis. Erneut bestätigt sich die Erkenntnis bei den Lehrkräften, dass die Qualität des Unterrichts nämlich nicht durch Präambeln in Rahmenlehrplänen und irgendwelchen Standards verbessert wird. Derartige Aussagen sind notwendigerweise sprachlich abstrakt gehalten. Das ist auch unumgänglich, wenn sie kurz und übersichtlich gefasst sein sollen. Damit die normativen Aussagen der Pläne auch die Klassenzimmer und den Unterricht wirkungsvoll erreichen, bedarf es anschaulicher Konkretisierungen. Aufgaben stellen solche Konkretisierungen dar. Lehrkräfte wissen, im Unterricht sind es die Aufgaben, die abhängig von ihrer Form und ihren Inhalten unter anderem ... • anregende Impulse für den Lernprozess geben; • helfen, das Grundwissen und -können bei Lernenden zu sichern, aber auch die personalen und sozialen Kompetenzen zu fördern; • Rückmeldungen geben, die zu einer Diagnose des Lernverhaltens und des Lernfortschrittes der einzelnen Schüler und Schülerinnen beitragen; • einen vergleichenden Blick über die Klassen- und Schulsituation hinaus ermöglichen.

335

11.4.6 Basisliteratur APPLE, M. (1979): Ideology and curriculum. New York ARANOWITZ, S. (1973): False Promises: The Shaping of American Working Class Consciousness. New York BARNETT, R. (1999): Realizing the university in an age of supercomplexity. Buckingham BLOOM, B.S. (1956): Taxonomy of Educational Objectives, Handbook I: The Cognitive Domain. New York BOURDIEU, P. (1977): Outline of a Theory of Practice. (Transl. by Richard Nice), Cambridge BRUNER, J.S. (1966): Toward a theory of instruction. Cambridge Mass: Harvard DEUTSCHER BILDUNGSRAT (1970): Empfehlungen der Bildungskommission. Strukturplan für das Bildungswesen. Bad Godesberg FREIRE, P. (1972): Pedagogy of the Oppressed. Harmondsworth ILLICH, I. (1973): Deschooling Society. Harmondsworth JAMESON, F. (1981): The Political Unconsciousness: Narrative as a Social Symbolic Act. Itthaca. New York KLAFKI, W. (1996): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. 5.Aufl. Weinheim/Basel LYOTARD, J.-F. (1989): The Lyotard Reader. Oxford MCKERMAN, J. (1991): Curriculum Action Research. A Handbook of Methods and Resources for the Reflective Practitioner. London ROBINSOHN, S.B. (1967): Bildungsreform als Revision des Curriculum. Neuwied, Berlin SLATTERY, P. (2006): Curriculum Development in the Postmodern Era. New York and London SKINNER, B.F. (1971): Beyond Freedom and Dignity. New York TABA, H. (1962): Curriculum development: theory and practice. New York TAYLOR, C. (1964): The Explanation of Behavior. New York WEINERT, F.E. (Hrsg.) (2001): Leistungsmessung in Schulen. Weinheim und Basel WILLIAMS, D.C. (1966): Principles of Empirical Realism. Springfield YOUNG, M.F.D. (ed) (1971): Knowledge and Control: New Directions for the Sociology of Education. London

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11.5 Entscheidungstheorie — ET von Beate Bergter und Andreea Hermann

11.5.1 Anfänge/Ursprünge/Vertreter/Quellen der Entscheidungstheorie Die Spieltheorie — ein Teilgebiet der Wahrscheinlichkeitstheorie — auch als Vorläufer der Entscheidungstheorie zu nennen, versucht unter anderem das rationale Entscheidungsverhalten in sozialen Konfliktsituationen abzuleiten. JOHN VON NEUMANN und OSKAR MORGENSTERN legten in das 1944 gemeinsam verfasste Buch „Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten“ die Anwendbarkeit der mathematischen Theorie in wirtschaftswissenschaftlichen Zusammenhängen dar. Die Entscheidungstheorie entspringt der analytischen Statistik, ebenso ein Teilgebiet der Wahrscheinlichkeitstheorie, ihre Ursprünge sind im Wesentlichen in der Betriebwirtschaftslehre zu finden. Sie bildet Modelle zur Beschreibung von Situationen, in denen ein oder mehrere Entscheidungsträger durch Anwendung einer rationalen Entscheidungsmaxime und eines Wertesystems sich zu einer bestimmten Handlung entschließen, die eine neue Situation erzeugt. Die ET umfasst Tests von Signifikanz oder das Testen von Hypothesen und Entscheidungsverfahren, wie beispielsweise die Nutzwertanalyse. Im Gegensatz zur Terminologie des Testens ist die der Entscheidung relativ jung (das heißt, seit ca. 60 Jahren im Gebrauch).

11.5.2 Entwicklung und bedeutende Richtungen der Entscheidungstheorie Der Aufgabenbereich dieser Disziplin besteht darin, Erkenntnisse über das menschliche Wahlverhalten zu gewinnen, entsprechend zu abstrahieren und formulieren, um sie für die Lösung konkreter Entscheidungsprobleme anwendbar zu machen. Die ET untersucht Aspekte, die zur bewussten und rationalen Findung einer von mehreren möglichen Handlungsalternativen beitragen sollen. Hierbei werden zwei Teilgebiete unterschieden: •



Die deskriptive (empirische) ET beschreibt das Zustandekommen von Entscheidungen durch Beobachtung, Befragung und Experimente. Ziel ist es, Gesetzmäßigkeiten zu finden, anhand derer das in der Realität anzutreffende Wahlverhalten erklärt wird. Die ET versucht Erfolg versprechende Verhaltensweisen (Muster) zu identifizieren, sodass unter der Annahme ihrer (zeitlich begrenzten) Konstanz, Aussagen (Prognosen) über die zu erwartenden Entscheidungen getroffen werden können. Die weitere Entwicklung der deskriptiven ET wird in den Sozialwissenschaften, insbesondere der Psychologie, vorangetrieben und enthält verhaltenswissenschaftliche Ansätze. Ihre Bedeutung ist im Bereich der Modellbildung zu sehen. Die präskriptive (normative) ET trifft, anhand entscheidungslogischer Analysen und Entscheidungsmodellen und unter der Annahme eines rationalen Verhaltens des Entscheidungsträgers, Aussagen für die logische Herleitung einer Entscheidung. Das bedeutet, das Ziel der präskriptiven ET ist, im Gegensatz zu dem der deskriptiven, Handlungsempfehlungen auszusprechen und damit aktiv in die Entscheidungsfindung einzuwirken. Durch die Auferlegung einer Handlungsweise, die unabhängig von subjektiven Einstellungen oder gesellschaftlichen Wertvorstellungen ist, wird dem Entscheidungsträger eine formale Rationalität zugesprochen. Die Erreichung seiner Ziele ist jedoch auch vom subjektiven Informationsstand abhängig, welcher ebenfalls Gegenstand der präskriptiven ET sein kann. 337

11.5.3 Typische Fragestellungen in der Entscheidungstheorie • • • • •

Was ist ein Entscheidungsproblem und wie kann es dargestellt werden? Wie lassen sich Lösungen für das Problem finden? Was kann über den Entscheidungsträger angenommen werden? Wie lässt sich die notwendige Information definieren und quantifizieren? Aus welchen Phasen setzen sich Entscheidungsprozesse zusammen?

11.5.4 Typische Annahmen/Axiome/Theoreme in dieser Entscheidungstheorie Die Modellierung eines entscheidungstheoretischen Problems basiert auf Annahmen, die unabhängig von den Besonderheiten Einzelner formuliert werden müssen. Ein klassisches Konzept der ET, welches diese Anforderungen in sich vereint, ist der Homo Oeconomicus (wurde bereits im 19. Jahrhundert durch BERNOULLI, BERTRAND, VON ZEUTHEN etc. vorangetrieben). In der modernen Auffassung stellt dieser einen eigeninteressierten, rationalen, seinen Nutzen maximierenden, vollständig informierten, einheitlichen Entscheidungstypen dar. Mit diesem Modell wird nicht das individuelle Verhalten dargestellt, sondern gesellschaftliche Makrophänomene, wie zum Beispiel ein Geschäftsmann, ein Kunde, ein ökonomisch handelnder Mensch unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen.

11.5.5 Typische Modelle und Deutungsmuster in der Entscheidungstheorie (Analyse- und Lösungsstrategien) Das Grundmodell der (präskriptiven) ET besteht aus Entscheidungsfeld und Zielsystem. Der Entscheidungsraum wird durch den Aktionsraum (die Menge der Handlungsweisen, Alternativen), den Zustandsraum (die Menge der Umwelt-, Natur-, Realitätszustände) und eine messbare Ergebnisfunktion beschrieben. Die Ergebnisfunktion muss jeder Kombination von Aktion und Zustand einen Wert des Zielsystems zuordnen. Entscheidungen werden unter Sicherheit getroffen (es gibt nur einen Zustand, den die Umwelt annehmen kann) oder — wie meistens in der Praxis — unter Unsicherheit (mehrere Zustände sind möglich). Hier wird weiterhin unterschieden: Sind die Eintrittswahrscheinlichkeiten der Umweltzustände bekannt, so werden Entscheidungen unter Risiko getroffen, sind sie unbekannt, so spricht man von Entscheidungen unter Unsicherheit. Eine typische Entscheidungssituation unter Risiko lässt sich quantitativ durch einen Entscheidungsbaum darstellen, ein häufig herangezogenes Modell. Eine solche Vorgehensweise ist im Falle einer endlichen Menge von Handlungsalternativen und bekannten Eintrittswahrscheinlichkeiten für die angestrebten Konsequenzen angebracht. Sind die Kriterien nicht quantifizierbar und die Alternativen nicht direkt miteinander vergleichbar, so ist die Nutzwertanalyse ein geeignetes Instrument, um diese entsprechend den Wertvorstellungen des Entscheidungsträgers zu ordnen. An dieser Stelle soll nun ein einfaches Beispiel erläutert werden (Das Ausflugsproblem von CHERNOFF und MOSES (1959)): Ein Wanderbegeisterter möchte am folgenden Tag eine Bergwanderung unternehmen, in einer Jahreszeit, in der man jederzeit mit schlechtem Wetter überrascht werden kann. Dies ist sein Ziel. Die Menge 338

seiner Handlungsmöglichkeiten, der Aktionsraum, ist {h1 = leichte Bekleidung mitnehmen, h2 = leichte Bekleidung und einen Regenschirm mitnehmen, h3 = wetterfeste, warme Bekleidung mitnehmen}. Die für den Ausflug relevante Fakten, die Menge der Zustände, sind {z1 = schönes Wetter am Ausflugstag, z2 = schlechtes Wetter am Ausflugstag}. Die Ergebnisfunktion wird anhand einer Nutzentafel dargestellt: Z1

Z2

h1

5

0

h2

3

1

h3

2

3

Wie der Tabelle zu entnehmen ist, wäre die optimale Lösung des Problems „leichte Bekleidung“ in Kombination mit „schönes Wetter am Ausflugstag“, da man jedoch keinen Einfluss auf den Wetterzustand hat, ist eine gute Lösung „wetterfeste, warme Bekleidung“ in Kombination mit „schlechtes Wetter am Ausflugstag“. Also handelt es sich hier um eine Entscheidung unter Unsicherheit. Hat unser Wanderer im Voraus die Möglichkeit sich mit Hilfe der Wettervorhersage über das wahrscheinliche morgige Wetter zu informieren, so ist es eine Entscheidung unter Risiko.

11.5.6 Typische Anwendungsfelder dieser Entscheidungstheorie Im Folgenden werden einige Wissenschaften aufgeführt, die in Entscheidungssituationen auf die ET zurückgreifen. Die Anwendung wird zum Teil anhand von konkreten Beispielen und zum Teil anhand von theoretischen Definitionen verdeutlicht. •

Die Probleme, zu denen die ET im Bereich der Betriebswirtschaftslehre hinzugezogen wird, sind meistens Maximierungsprobleme. Ein Beispiel: Ein Maschinenpark soll erneuert werden, Ziel ist die Umsatzmaximierung. — Die Zustandsmenge besteht aus {z1 = Rezession, z2 = Stagnation, z3 = langsames Wachstum, z4 = beschleunigtes Wachstum}. Jedem Zustand wird eine entsprechende Wahrscheinlichkeit zugewiesen {p1 = 0,1; p2 = 0,2; p3 = 0,5; p4 = 0,2}. — Die Handlungsmenge wiederum wird folgendermaßen definiert: {h1 = Ersatzinvestition, h2 = Erweiterungsinvestition, h3 = Rationalisierungsinvestition}. — Die Ergebnisfunktion wird, wie bereits im Anfangsbeispiel, als Ergebnistafel dargestellt: Z1

Z2

Z3

Z4

P1

P2

P3

P4

h1

2

2

7

3

h2

6

3

5

4

h3

4

8

7

5

Allgemein betrachtet, dominiert eine Handlungsalternative hk eine andere hi, falls sie für alle Situationen mindestens die gleichen Ergebnisse und für mindestens eine Situation echt größere Ergebnisse hervorbringt. Im vorliegenden Beispiel stellt sich die Alternative h3 als dominant gegenüber h1 heraus. Des Weiteren heißt eine Alternative effizient, wenn sie von keiner anderen 339

dominiert wird, sonst ineffizient. Im Beispiel ist die Handlungsweise h1 ineffizient und kann ohne Schaden gestrichen werden. •

In der Wirtschaftsinformatik wird die präskriptive ET verwendet, um einerseits die eigenen Zielvorstellungen in ein widerspruchsfreies Zielsystem zu überführen, und andererseits soll darauf basierend eine optimale Entscheidung getroffen werden. Für den ersten Schritt wird beispielsweise der Analytische Hierarchieprozess herangezogen. Dieser beruht auf vier Axiomen: — Reziprozität, das heißt, jedem Vergleich einer Handlungsalternative hi zu einer anderen hj kann ein Wert zugeordnet werden: wij bzw. umgekehrt wji. Die beiden Werte bedingen sich gegenseitig, sind reziprok zueinander: wij = 1/wji für alle hi, hj des Handlungsraums — Homogenität, das heißt, keine Handlungsalternative ist unendlich viel besser als die andere: wij ≠ ∞ für alle hi, hj des Handlungsraums — Hierarchisierung, das heißt, jede Ebene des Entscheidungsproblems beeinflusst nur eine höhere Ebene und wird nur durch die darunterliegende beeinflusst. — Vollständigkeit, das heißt, alle Kriterien und Alternativen, die Einfluss auf das Entscheidungsproblem haben, sind in der Hierarchie enthalten. Ist ein Entscheidungsproblem in eine solche Hierarchie überführt worden, so kann bezüglich der ausgesuchten Kriterien die favorisierte Entscheidung herausgelesen werden.



In der Politik, speziell der Außenpolitik, sind in der Regel mehrere Entscheidungsträger an einem Entscheidungsprozess beteiligt: einerseits die im Inland untereinander konkurrierenden Parteien und andererseits die im internationalen Staatensystem konkurrierenden Länder. Um zur bestmöglichen Lösung zu gelangen, bedient man sich in der Analyse aller vorliegenden und angenommenen Sachverhalte, welche Einfluss auf den Findungsprozess einer optimalen Handlungsweise haben können, auch der Entscheidungstheorie. Es lassen sich drei Modelle unterscheiden mit deren Hilfe Regierungshandeln erläutert wird: — Das Modell der rationalen Politik: Außenpolitische Ereignisse werden als bewusste Entscheidungen der Nationen bzw. nationaler Regierungen betrachtet und dienen allein der Maximierung staatlicher Macht und der Realisierung nationaler Interessen. Die Gesamtheit der von einer Regierung zu einem vorliegenden Problem getroffenen Entscheidungen wird gleichgesetzt mit der gewählten Lösung der ganzen Nation. — Das Modell des organisatorischen Prozesses: Der Entscheidungsträger innerhalb dieses Modells ist nicht eine Einheit (wie „Nation” oder „Regierung”), sondern es wird die Annahme getroffen, dass die Lösungsfindung innerhalb eines Systems von Organisationen stattfindet, an dessen Spitze die Regierung steht. Aufgrund von Erwartungen und Forderungen seitens anderer Organisationen und Bürger sowie zum Zwecke der Selbstlegitimation akzeptable Leistungen abzugeben, verläuft der Entscheidungsprozess gemäß der Routine der Organisationen. — Das Modell der bürokratischen Politik: Die Annahme hierbei ist, dass Entscheidungen und Handlungen einer Regierung nicht als Lösung für ein Problem, sondern als Resultat von Kompromissen, Koalitionen, Wettbewerb etc. gesehen wird. Sie sind politisch, weil sie das Ergebnis eines Verhandlungsprozesses darstellen.



In der Soziologie wird mit Hilfe der ET bzw. hier Verhaltenstheorie (Behaviorismus) der Standpunkt zugrunde gelegt, dass das Verhalten von Menschen und Tieren mit den Methoden der Naturwissenschaften untersucht werden kann. Das Ziel der Verhaltenstheorie ist die soziologische

340

Wissenschaft mit allen Teilbereichen und Einzelaspekten auf eine einheitliche Grundlage zu stellen. Dies ist möglich, so die allgemeine Annahme, da alles Sozialverhalten durch Lernen erworben und daher als Resultat bestimmter Konfigurationen sich verhaltender Individuen lerntheoretisch zu erklären ist. Da die Menschen auf den Verkehr mit anderen angewiesen sind, um deren Erfolgsaussichten ihres Strebens zu verbessern, ist ihr Wahlhandeln als kostenbewusst und nutzenmaximierend aufzufassen. Das Individuum befindet sich in einer konkurrierenden und/oder kooperativen Beziehung, abhängig vom jeweils eingebrachten Nutzen. Aufgrund der hier genannten Stichworte ist die Formulierung eines Entscheidungsproblems leicht vorstellbar. •

Die Anwendung der ET in der Psychologie kommt der in der Soziologie sehr nahe, sodass hier nur ein einfaches Modell skizziert wird, um einen Eindruck auch in dieser Wissenschaft zu vermitteln. Es handelt sich um ein Konzept von JANIS und MANN (1977) zur Ausbildungs- und Berufswahl und besteht aus fünf Schritten (auf detaillierte Erläuterungen wird verzichtet): 1. Einschätzung der Herausforderung 2. Suche und Sichtung von Möglichkeiten — Vorauswahl 3. Abwägen der Möglichkeiten — vertiefte Exploration 4. Entscheidung und Planung der Realisierung — Wahl 5. Festhalten an der Entscheidung

11.5.7 Typische Kritik an der Entscheidungstheorie Bereits in den 1970er Jahren wurde darauf hingewiesen, dass wirtschaftswissenschaftliche Entscheidungsmodelle lediglich einer formalen Rationalität folgen. Die sich widersprechenden Anforderungen an das Modell, ein zweckgerichtetes und vereinfachtes Abbild der Realität darzustellen, kennzeichnen den Konflikt, in welchem die Modellformulierung sich in der Praxis vollzieht.

11.5.8 Typische Begriffe und deren Deutung in der Entscheidungstheorie In einem üblichen Nutzwertanalyse-Verfahren werden die Präferenzen eines Entscheidungsträgers anhand einer Nutzenfunktion beschrieben, ebenfalls können Nebenbedingungen, wie z.B. individuelle oder finanzielle Einschränkungen, gelten. Ziel ist, eine Nutzenoptimierung zu erreichen durch die geeignete Definition der Nutzenfunktion. Häufig handelt es sich dabei um eine Maximierungs- bzw. Minimierungsaufgabe. Zwei Entscheidungsregeln werden zum Schluss noch erwähnt, benannt nach zwei bekannten Mathematikern: 1.

2.

Das Bayes Prinzip (oder Erwartungsprinzip) ist eine Entscheidungsregel für die Risikosituation. Hier wird zuerst für jede Handlungsalternative ein Erwartungswert berechnet und diejenige mit dem höchsten Erwartungswert wird gewählt. Diese Tatsache ist jedoch zugleich auch der Kritikpunkt, da in manchen Fällen die Nutzenwerte der Handlungsalternativen stark vom Mittelwert abweichen. Das Bernoulli Prinzip orientiert sich zwar auch am Nutzen der möglichen Handlungsalternativen, das heißt, es wird eine Nutzenfunktion definiert, die BERNOULLI Nutzenfunktion, in welche die Präferenzen für die Entscheidungsfindung einfließen und zusätzlich auch die subjektive Risikoneigung des Entscheiders. Somit können sich sowohl die Nutzenfunktionen als auch die da341

mit gefundenen Handlungsalternativen abhängig vom Entscheidungsträger unterscheiden. Eine Anleitung zur Konstruktion einer solchen Funktion gibt es jedoch nicht, was die Schwierigkeit dieses Verfahrens darstellt.

11.5.9 Bedeutung der Entscheidungstheorie für das Coaching Durch die Anwendbarkeit in beinahe allen für die Gesellschaft relevanten Bereichen (Politik, Ökonomie, Soziologie etc.) ist die Entscheidungstheorie ein geeignetes Werkzeug sowohl für die Lehrpraxis als auch für das zukünftige Handeln der Seminaristen in deren Tätigkeitsfeld.

11.5.10 Basisliteratur BAMBERG, G., COENENBERG, A. G., Betriebswirtschaftliche Entscheidungslehre. München GÄFGEN, G., Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung — Untersuchungen zur Logik und Bedeutung des rationalen Handelns. Tübingen LAUX, H., Entscheidungstheorie. Berlin, Heidelberg, NewYork SALIGER, E., Betriebswirtschaftliche Entscheidungstheorie. Einführung in die Logik individueller und kollektiver Entscheidungen. München

342

11.6 Führung von Gido Regel

11.6.1 Grundlagen, Historie und Begrifflichkeiten „Wer die Laterne trägt, stolpert leichter, als wer ihr folgt“ – JEAN PAUL Führung ist ein zeitloses und kulturübergreifendes Phänomen, welches die Menschheit seit nunmehr über vier Jahrtausenden beschäftigt. Der Begriff der Führung ist in seiner langen geschichtlichen Entwicklung mit gesellschaftsspezifischen Merkmalen verbunden und eng mit der Lenkung gesellschaftlicher Systeme sowie mit der Herausbildung arbeitsteiliger und koordinationsbedürftiger Prozesse verknüpft. Die Bedeutung von Führung erstreckt sich u.a. auf den militärischen, religiösen, politischen, administrativen und ökonomischen Bereich. Durch die breite einzel-, inter- sowie multidisziplinäre Behandlung des Themas seit Beginn des 20. Jahrhunderts existieren verschiedene theoretische Ansätze und Konzepte. Besonders im Bereich der inhaltlichen Bestimmung lässt sich eine Vielzahl an differenten Definitionsansätzen aufzeigen, die je nach Ausrichtung der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen unterschiedliche Deutungsmuster und Definitionsmerkmale enthalten. Infolgedessen wird Führung z.B. unter dem Aspekt von Machtbeziehungen, Persönlichkeitsdispositionen und spezifischen Verhaltensweisen untersucht. Weiterhin werden Interaktions- sowie Gruppenprozesse, Ergebnisse von Rollendifferenzierungen und zielgerichtete Versuche der Einflussnahme thematisiert. So betrachtet die verhaltenswissenschaftliche Betriebswirtschaftslehre die sachlich-instrumentelle Beeinflussung, also die Führung von Personal. Hingegen fokussiert die Organisationssoziologie die gesellschaftlich-strukturelle Beeinflussung, die in der Führung sozialer Aggregate zur Geltung kommt. Die Organisationspsychologie indes beschäftigt sich mit der inter-individuellen Beeinflussung im Rahmen der Führung von Individuen. (vgl. BASS 1990: S.11 f.; HENTZE/GRAF/KAMMEL/LINDERT 2005: S.1 f.) Zusammenfassend lässt sich Führung in einer weitläufigen Beschreibung als Prozess der zielbezogenen, interpersonellen sowie interaktionsbezogenen (sozialen) Verhaltensbeeinflussung und Steuerung von Personen definieren. Wobei das Vorhandensein einer Gruppe bzw. von Gruppenprozessen, die Erfüllung einer gemeinsamen Aufgabe und die Differenzierung von Verantwortung als minimale strukturelle Voraussetzungen für die Entstehung von Führung notwendig sind. (vgl. u.a. BASS 1990) Trotzdem bleibt Führung immer „ein umstrittenes Thema, dessen Diskussion kalte Kognition und heiße Emotionen oft unentwirrbar vermengt. Die Reaktionen schwanken zwischen Vergötterung und Heroisierung (Personenkult), Banalisierung und Trivialisierung (Bürokratisierung: Führung ist nichts als Lückenbüßer der Organisation und eine verdinglichende Technik), emotionale Verklärung und nüchterne Verwissenschaftlichung und schließlich Dämonisierung oder Diabolisierung (Verführung und Beherrschung der unschuldigen, unwissenden, widerstrebenden Massen“, NEUBERGER 2002: S.2).

11.6.2 Historische Entwicklung der Führung Erste „Dokumente“ zur Menschenführung stammen aus dem alten Ägypten. Ebenso finden sich in alten chinesischen Schriften Aussagen und Regeln im Zusammenhang mit der Lenkung von Staaten und dem damit verbunden Verhalten von Heerführern und Staatsmännern. Im antiken Griechenland und im Römischen Reich wurde die Führung von Sklaven in den Bereichen der privaten Hauswirtschaftsfüh343

rung (Oikonomia) sowie der Heeresführung bereits unter systematischeren Gesichtspunkten thematisiert und Prinzipien einer effizienten Führung, aber auch Eigenschaften eines Führers betrachtet. Der Römer COLUMELLA (ca. 70 n.Chr.) arbeitete erste Ansätze verschiedener Führungsarten sowie -elemente heraus. Im Rahmen dieser Arbeiten beschäftigte er sich mit Aspekten motivgesteuerter Anreize, mit der optimalen Gruppengröße, der Arbeitsorganisation sowie Möglichkeiten der Produktivitätssteigerung und verwies auf fachliche Fähigkeiten und Erfahrungen des Führers. Erst die Ausdifferenzierung der Produktionsformen, die im Mittelalter begann und bis zur Industrialisierung rasant zunahm, ließ die Bedeutung von Führung und Führungsproblemen wachsen. So umfasste Führung im Handwerk das Unterweisen und Anleiten durch den Meister. Der Führungsstil war patriarchalisch, folgte festen Regeln und war durch eine loyale Gefolgschaft sowie den Gehorsam zum Meister gekennzeichnet. Im Verlagswesen beschränkten sich aufgrund der Zentralisierung von Rohstoffbeschaffung und Vertrieb die Führungsanforderungen auf die Koordination von spezialisierten Handwerkern. Durch die zunehmende Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Arbeit sowie der daraus resultierenden Zunahme der Arbeitsteilung kam es in der Manufaktur zur Trennung von Produktions- und Leitungsfunktionen. Dies machte eine formale Führungsfunktion notwendig, welche die Kontrolle und Koordination des zentralisierten Produktionsprozesses umfasste. Mit dem Beginn der Industrialisierung erweiterte sich das qualitative und quantitative Spektrum von Führungsaufgaben enorm. Ursache war die rasant zunehmende Rationalisierung und Technisierung mit der einhergehenden Steigerung von Untergebenen und zu koordinierender Arbeitsprozesse. Hierdurch stieg die Anzahl an Führungskräften und Führungsproblematiken an. Durch die Begründung der wissenschaftlichen Betriebsführung („Scientific Management“) im Sinne einer pragmatischen struktur-funktionalistischen Perspektive zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch F.W. TAYLOR (1856-1915) und die damit verbundene Notwendigkeit der industriellen Verwaltung erfuhr die Entwicklung einen großen Bedeutungsauftrieb. Dies läutete den Ursprung einer wissenschaftlichen Führungslehre ein. (vgl. u.a. HENTZE et al. 2005: S.2; HILDEBRANDT 1995: S.1111 ff.; KALTENSTADLER 1995: S.1093 ff.) Bevor eine Darstellung ausgewählter klassischer und neuerer Führungsansätze erfolgt, werden im folgenden Abschnitt wesentliche Begrifflichkeiten rund um die Thematik Führung erläutert.

11.6.3 Ausgewählte Begrifflichkeiten Als Führer werden Personen bezeichnet, die aufgrund der hierarchischen Stellung oder der persönlichen Fähigkeiten und Eigenschaften bestimmte (Arbeits-)Prozesse koordinieren bzw. strukturieren. Dies charakterisiert in Verbindung mit der gezielten Verhaltensbeeinflussung sowie -kontrolle bestimmter Personen und Personengruppen (Geführte) die Funktion der Führung. Die Realisierung der Führungsfunktion erfolgt im Rahmen von Führungsprozessen und vollzieht sich innerhalb einer Führungssituation. Diese kann sowohl durch wechselnde Kontextbedingungen (z.B. soziale und kulturelle Rahmenbedingungen, Machtgrundlagen oder Aufgabenverteilungen) als auch durch spezifische Handlungssituationen (z.B. spezifische Lösung einer Aufgabe, aber auch ein Mitarbeitergespräch) beschrieben werden. Als Führungsstil wird ein mehr oder weniger konsistentes Verhaltensmuster des Führers gegenüber den Geführten (z.B. Mitarbeitern) unter relativ ähnlichen Bedingungen definiert. Das Führungsverhalten umfasst das im Führungsprozess realisierbare Spektrum möglicher Führungsstile und den damit verbundenen Verhaltensweisen. Unter dem Begriff der Führungsinstrumente werden alle verfügbaren 344

Führungswerkzeuge in Form von Gestaltungs- oder Handlungsempfehlungen zusammengefasst. Die Führungstechniken (z.B. Management by Techniken) beziehen sich auf die konkrete Verwendung einer Auswahl von Führungsinstrumenten, die unternehmensweit bei bestimmten Problemlösungen eingesetzt werden können und Verhaltensregeln im Interaktionsverhältnis zwischen Führer und Geführte vorgeben. Führungsgrundsätze (z.B. der Umgang mit Geführten, die Handhabung von Fehlern) umfassen im Gegensatz zu Führungsphilosophien klar umrissene normative Orientierungsmuster, die komplexe Führungskonzeptionen auf wenige vereinfachte Aussagen reduzieren. Häufig werden diese für die jeweiligen Führungsansprüche im Unternehmen schriftlich festgehalten und können dann für die Durchsetzung einheitlicher Verfahrensweisen herangezogen werden. Allgemeine bzw. grundlegende Annahmen zur Umsetzung bzw. Ausgestaltung von Führung und Führungsprozessen lassen sich in Führungsphilosophien als individuelle bzw. kollektive Orientierungsmuster (als Soll- oder auch als Ist-Vorstellungen) ableiten. Als Grundlage gelten die im Unternehmen vorherrschenden Unternehmens- und Menschenbilder, welche das Verhalten der Führungskräfte beeinflussen und den Inhalt von Führungsgrundsätzen, z.B. Fragen der Motivation und Kontrolle, aber auch die Wahl der Mittel sowie deren Implementierung, wesentlich beeinflussen. Die Erfüllung der Führungsfunktion im Führungsprozess wird in großem Maß durch Strukturmerkmale der Führung beeinflusst. Neben den aufgeführten Voraussetzungen zur Entstehung von Führung kann ebenfalls die Art der Aufgabe, die Beziehung zwischen Führer und Geführten sowie Konfliktsituationen zu den strukturellen Bedingungen gezählt werden. Neben den Strukturelementen sind personenbezogene Fähigkeiten und Fertigkeiten für den Führungsprozess bedeutend. So kann es vorkommen, dass eine Führungspersönlichkeit über ein gutes Fachwissen verfügt, aber nur gering ausgeprägte soziale Fähigkeiten mitbringt. Hierdurch kann es in Gruppen zur Herausbildung eines formellen und eines informellen Führers kommen. Vollzieht sich der Führungsprozess unter Einbezug sachlicher und personeller Aspekte über alle Organisationsbereiche hinweg, wird in der Regel von der Unternehmensführung gesprochen. Bezieht sich der Führungsprozess auf die direkte oder indirekte Verhaltensbeeinflussung von Personen bzw. Gruppen, wird von Personalführung gesprochen. Zudem kann Führung auf verschiedenen Führungsebenen verwirklicht werden. Auf der operativen Ebene werden die Interaktionsbeziehungen zwischen den Führern und den Geführten betrachtet. Ansätze auf der taktischen Ebene sind eher abstrakt und beschreiben generalisierbare sowie standardisierbare Führungstechniken, die keinen direkten Bezug mehr zum Geführten haben. Die strategische Ebene ist durch ein unternehmensspezifisches Führungskonzept gekennzeichnet. Führungskonzepte umfassen einen langfristigen, strategischen Konsens über unternehmenspolitische Führungsphilosophien, Ziele und Grundsätze zur Realisierung von Führungsaufgaben. Im Rahmen einer angewandten Wissenschaft zeigen Führungstheorien die Bedingungen auf, unter denen Führung hervorgeht. Diese sollten empirisch überprüfbar sein und operationalisierbare Aussagen für die Praxis liefern. Weiterhin steht der Gegenstandsbereich der Führung selbst im Blickpunkt der Betrachtung. So werden beispielsweise normative Aussagen getroffen, wie die Führungsperson die Geführten bezüglich einer erfolgreichen Aufgabenbewältigung beeinflussen kann oder wie bestimmte Verhaltensmuster und Merkmale die Führungseffizienz bzw. den -erfolg beeinflussen. (vgl. HENTZE et al. 2005: S.18-62)

11.6.4 Führungstheoretische Entwicklungen und Ansätze Durch die verschiedenen Herangehensweisen und Foki der jeweiligen Disziplinen hat sich in den letzten neun Jahrzehnten eine Vielzahl von führungstheoretischen Ansätzen herausgebildet. Dennoch las345

sen sich ab 1900 bis zur Mitte der 1970er Jahre drei grundlegende (klassische) Führungsansätze nachzeichnen. Ab den 1970er und 1980er Jahren nimmt die Vielfalt an führungstheoretischen Ansätzen deutlich zu. Neben der Weiterentwicklung klassischer Ansätze kam es gleichermaßen zu der Herausbildung neuerer Ansätze. Diese heben sich kritisch von den klassischen Ansätzen ab und greifen u.a. auf organisationstheoretische und sozialpsychologische Ansätze zurück.

11.6.5 Klassische Führungsansätze Der Eigenschaftsansatz der Führungstheorie beruht auf der grundlegenden Annahme, dass die Ursache für den Führungserfolg und somit für den Erfolg der Organisationen in der Person des Führers begründet ist („Great-Man-Theorie“). Für den Erfolg werden besondere Eigenschaften der Führungskraft verantwortlich gemacht. Führung wird dabei nur auf einen Faktor reduziert. Nach diesem Theorieansatz ist eine zukunftsgerichtete Aussage zum Erfolg einer bestimmten Führungsperson durch die Identifikation erfolgsrelevanter Eigenschaften gegeben („geborener Führer“). Allerdings ist bei diesem Ansatz kritisch anzumerken, dass die Forschung zwar im Laufe der Zeit eine Vielzahl von Führungseigenschaften herausgearbeitet hat, diese aber nur im geringen Ausmaß einer empirischen Überprüfung standhalten konnten. Weiterhin werden unterschiedliche situative und aufgabenbezogene Anforderungen sowie die Entwicklung und Wandlung von Eigenschaften während der Tätigkeit, aber auch Emotionen und Gruppenprozesse im Rahmen dieser Theorie nicht berücksichtigt. (vgl. NEUBERGER 2002: S.223 ff.; HENTZE et al. 2005: S.173 ff.) Die Verhaltensansätze stellen das Verhalten der Führungskraft — in Form eines (idealen) Führungsstils — als wichtigsten Einflussfaktor in den Mittelpunkt des Führungsprozesses. Ihren Ursprung haben die Verhaltensansätze in der Human-Relations-Bewegung. Beginnend mit den Studien von MAYO in den frühen 1930er Jahren wurde die Bedeutung von humanen Führungsstilen herausgestellt. Die Führungsstil-Typologie von LEWIN und seinen Kollegen, die gegen Ende der 1930er bis Anfang 1940er Jahre entwickelt wurde, setzte an dieser Sichtweise an und beeinflusste nachhaltig die weitere Führungsstilforschung. In Anlehnung an die Arbeiten von LEWIN et al. bildeten sich idealtypische Ansätze heraus, die eine interpretative Erfassung von Verhaltensunterschieden vollziehen. Das wohl bekannteste Modell stellt das Führungsstilkontinuum (autoritär, patriarchalisch, beratend, konsultativ, partizipativ, delegativ) von TANNENBAUM und SCHMIDT aus den späten 1950er Jahren dar. Weiterhin entwickelten sich zweidimensionale Modelle, die mittels empirischer Studien verschiedene Verhaltensdimensionen abbilden. Im Rahmen der Verhaltensanalysen der Ohio-State-Studien (Ende der 1940er Jahre) wurden zwei wesentliche, voneinander unabhängige Verhaltensdimensionen erarbeitet: aufgabenorientiertes und beziehungsorientiertes Verhalten. Als optimaler Führungsstil wurde eine Mischung zwischen beiden Verhaltensdimensionen herausgestellt. Eine ähnliche Vorgehensweise verfolgten etwa zur gleichen Zeit die Michigan-Studien, die im Ergebnis die Dimensionen Mitarbeiter- vs. Produktionsorientierung differenzieren. Auch hier wird ein idealer Führungsstil durch die sinnvolle Kombination beider Verhaltensmuster betont. Der Ansatz von BLAKE und MOUNTON („Managerial oder Leadership Grid“) aus dem Jahre 1964 stellt das wohl bis heute bekannteste Modell dar. Im Rahmen dieses Ansatzes wird das „Team-Management“, das sich durch eine von Vertrauen und Respekt geprägte Arbeitsumwelt auszeichnet, als idealer Führungsstil benannt. Unter diesen Bedingungen arbeiten die Mitarbeiter hoch motiviert und leistungsorientiert. Der Verhaltensansatz wird dahingehend kritisiert, das strukturelle Elemente, Einflüsse der Gruppe sowie der Geführten und der Situation nicht beachtet werden. Zudem werden informelle Führung, Interaktionseffekte sowie einflussnehmende Werte und Einstellungen vernachlässigt. (vgl. NEUBERGER 2002: S.493 f.; HENTZE et al. 2005: S.207 ff.) 346

Die situativen Ansätze setzen an den Schwachstellen der Verhaltensansätze an und versuchen den optimalen Führungsstil zu identifizieren, der in einer bestimmten Situation sowie unter spezifischen Bedingungen den größtmöglichen Führungserfolg sichert. Die Aufgabe des Führers besteht darin, den für die jeweilige Situation passenden Führungsstil auszuwählen und anzuwenden. Die Führungssituation in Verbindung mit dem situationsangepassten Führungsstil hat wiederum einen Einfluss auf das Führungsverhalten und letztendlich ebenso auf den Führungserfolg. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die situativen Ansätze zu einer Erweiterung des Verständnisses für Führungsprozesse beigetragen haben. Weiterhin erfolgte eine Konkretisierung des Zusammenhanges zwischen erfolgsversprechendem Führungsverhalten und situativen Bedingungen. (vgl. u.a. HENTZE et al. 2005: S.76 f. und S.287 ff.)

11.6.6 Neuere Führungsansätze Ende der 1970er- und zu Beginn der 1980er-Jahre bildeten sich Führungsansätze heraus, die Gruppenprozesse, kognitive Abläufe und Wahrnehmungen der handelnden Personen, eine kollektive und prozesshafte Konstruktion der Wirklichkeit oder die Interaktionen zwischen Führern und Geführten fokussieren. Innerhalb der klassischen Theorien liegt das Hauptaugenmerk auf dem Führer und seinem situativen Handeln, was zugleich ein passives, reaktives Verhalten der Geführten unterstellt. In den neueren Ansätzen wird indes von einer wechselseitigen Einflussnahme ausgegangen oder eine stärkere Betonung struktureller Faktoren vollzogen. Hierbei kristallisieren sich zentrale Fragestellungen heraus: Wie kann strategie-, team-, lern- und entwicklungs- sowie sinnorientiert geführt werden? Basis für die Entwicklung der neueren Ansätze waren die sich veränderten Herausforderungen in der Wirtschafts- und Arbeitswelt. Diese ergaben sich aus dem Strukturwandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft, der Entmaterialisierung wirtschaftlicher Prozesse und veränderten Marktmechanismen (z.B. für die Ressource „Wissen“) sowie neuen Arbeitszeit- und Arbeitsmodellen. Weiterhin mussten die sich im Zuge der Globalisierung und Internationalisierung wandelnden Marktanforderungen beachtet werden. Die attributionstheoretischen Ansätze gehen auf die Forscher KELLEY, GREEN und MITCHELL sowie CALDER zurück. Sie beschreiben Führung als einen Zuschreibungsprozess, bei denen die Prozesse der sozialen Wahrnehmung unter dem Aspekt der Ursachenzuschreibung (Kausalattribution) — also die Frage nach dem „Warum“ des Verhaltens — im Zentrum der Betrachtung stehen. Als Wahrnehmungsgrundlage dienen Beobachtungen von unterschiedlichen Arbeitsergebnissen oder Vorgehensweisen zum Lösen von Aufgaben, die im Rahmen des Führungsprozesses der Person (Führer/Geführte), dem Inhalt des Verhaltens (Aufgabe) oder den äußeren Umständen (Situation) zugeschrieben werden können. In Abhängigkeit von den gewonnen Beobachtungen wird im Führungsprozess die Ursache für ein bestimmtes Mitarbeiterhandeln entweder der Aufgabe, der Situation oder der Person zugeschrieben. Zentraler Kritikpunkt innerhalb dieses Theorieansatzes ist die Möglichkeit von Zuschreibungsfehlern, die während der Beobachtung und deren Interpretation auftreten können. (vgl. NEUBERGER 2002: S.545 ff.; HENTZE et al. 2005: S.200 ff.) Die charismatischen Führungstheorien haben ihren Ursprung in WEBERS Charisma-Konzept. In seiner Abhandlung von Herrschaftsordnungen in komplexen Gesellschaften beschreibt er Charisma als persönliche Begabung des Führers, um „außergewöhnliche Dinge“ zu vollbringen. Ende der 1970er Jahre 347

greift HOUSE dieses Konzept auf und baut es im Rahmen seines charismatischen Führungsmodells aus. Nach ihm ist Charisma an die Person des Führers und an die zu bewältigende Aufgabe gebunden. Charismatische Führer besitzen demnach besondere Eigenschaften, wie hohes Selbstvertrauen, Dominanz, Entschlossenheit, Überzeugungskraft, intensives Machtbedürfnis, die dann ein spezifisches Verhalten der Geführten zur Folge haben. Dieses wird von den Mitarbeitern wahrgenommen und führt zu entsprechendem Verhaltensweisen in Form von Akzeptanz, Gehorsam, Vertrauen und Loyalität sowie einer persönlichen Übernahme der vorgelebten Werte. Die Führungskraft wird zum nacheiferungswürdigen Vorbild. Aus der positiven Beeinflussung des Mitarbeiterverhaltens für die spezifische Aufgabe bzw. Situation generiert sich der Führungserfolg. CONGER und KANUNGO entwickeln im Jahre 1987 dieses Konzept weiter und konzentrieren sich auf den Aspekt der Zuschreibung von Charisma. Sie erweitern zudem die Liste der Charaktereigenschaften eines charismatischen Führers. So stellen der Aufbau und die Artikulationsfähigkeit von Visionen durch die Führungsperson solch eine Eigenschaft dar. Visionen lösen nach Ansicht der Forscher eine Begeisterung unter den Mitarbeitern aus und verursachen eine starke emotionale Bindung zur Führungsperson bzw. zum Unternehmen. Die Kombination einer „Vision der Zukunft“ mit emotionaler Bindung soll den Mitarbeiter im Rahmen des Führungsprozesses zu besonders hohen Leistungen motivieren. Neben dem Visionsaspekt werden ein außergewöhnlicher Führungsstil und die Sensibilität gegenüber den Möglichkeiten, die das Umfeld bietet, angeführt. Aktuellere Theorieansätze (z.B. die Selbstkonzept-Theorie von SHAMIR, HOUSE und ARTHUR aus dem Jahr 1993) setzen an den frühen Arbeiten von HOUSE an und konzentrieren sich im Wesentlichen auf den Einfluss und die Motive im Führungsprozess. Zentrale Kritikpunkte im Rahmen der charismatischen Führung kommen aus der Führungsforschung. Diese kritisiert die aus empirischen Untersuchungen nur ungenau ableitbaren Gestaltungshinweise für die Führer-Geführten-Beziehung. (vgl. NEUBERGER 2002: S.143 ff.; HENTZE et al. 2005: S.181 ff.) Der rationale Ansatz der transaktionalen Führung geht davon aus, dass die Führungsperson eine dynamische Austauschbeziehung zur Erfüllung der gegenseitigen Bedürfnisse und Anliegen mit den Geführten eingeht. Diese kann auf der wirtschaftlichen, der politischen oder der psychologischen Ebene stattfinden. Im Rahmen des Führungsprozesses gibt die Führungskraft klare Ziele vor, macht Kompensationen von der Leistung abhängig und erteilt Belohnungen, wenn die Ziele erreicht sind, greift aber ebenso ein, wenn Probleme auftreten. Gemäß den Vertretern dieses Ansatzes erkennen transaktionale Führer, was die Geführten brauchen und wünschen. Des Weiteren zeigen sie den Geführten, wie diese Wünsche und Bedürfnisse mittels erforderlicher Anstrengungen befriedigt werden können. Führungspersonen mit transaktionalem Führungsstil motivieren vor allem mit materiellen Werten in Form von Belohnung und Bestrafung. Sie stellen eine wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Rechnung auf: Der Führer befriedigt die materiellen und ideellen Bedürfnisse seiner Untergebenen im Austausch gegen die von ihnen zu leistenden, vertragsmäßig festgelegten Dienste. (vgl. u.a. HENTZE et al. 2005: S.334 ff.) Der emotionale Ansatz der transformationalen Führung setzt am Charisma-Konzept an, geht aber über die charismatischen Eigenschaften und den damit angenommenen Führungserfolg hinaus. So werden die emotionalen Aspekte der Führung und die Bedürfnisse der Mitarbeiter stärker in die Erklärung einbezogen. Der Führer vermittelt eine Vision sowie das Gefühl einer Mission und bringt den Untergebenen Stolz, Respekt und Vertrauen entgegen. Im Sinne einer motivierenden Inspiration kommuniziert er hohe Erwartungen und fokussiert Bemühungen sowie Prioritäten. Hierbei zeigt er über seiner Führungsposition auf, wo das Ziel dieser Vision liegt, fordert die Geführten aber auf, die Umsetzung oder Ausgestaltung dieser Vision aktiv mitzugestalten, ohne starre Vorgaben oder Denkmuster zu formulieren. Weiterhin fördert die Führungsperson ein intelligentes, rationales und sorgfältig überdachtes Problemlösen im Sinne dieser Vision, spendet individuelle Aufmerksamkeit, behandelt jeden Mitarbeiter als Individuum und ist gleichzeitig Coach und Leitungsinstanz in einer Person. Wird der Argumentation der Vertreter dieses Führungsansatzes gefolgt, ist transformationale Führung besonders in Situatio348

nen des ständigen Wandels und der Veränderung die (einzig) geeignete sowie erfolgreiche Führungsform. (vgl. u.a. HENTZE et al. 2005: S.341 ff.) Die systemischen und die symbolischen Ansätze der Führung nehmen in ihrem Erklärungsansatz eine Gegenposition zu den charismatischen oder transformationalen Ansätzen ein. Sie ersetzen die dominante Führerzentrierung und die hierarchischen Elemente durch eine Form der Orientierung, die von selbstständigen, anonymen und voneinander entfernten Einflusszentren ausgeht. Der systemische Führungsansatz knüpft an den Erkenntnissen der neueren Systemtheorie und hier vor allem an den Prozessen der Selbstorganisation an, die parallel zu den bewusst organisierten Ordnungsprozessen in Organisationen existieren und sich wechselseitig aufeinander beziehen. Durch die selbstorganisatorischen Prozesse werden der Einfluss und die Handlungsmöglichkeiten der Führer auf die Geführten eingeschränkt. Dies hat Auswirkungen auf den Führungsprozess. Denn beide Interaktionspartner unterliegen den gleichen Systemstrukturen und der gleichen Systemkultur sowie vorgefundenen bzw. geschaffenen Strukturen und deren Eigendynamik. Somit kann die Führungsperson niemals außerhalb der bestehenden Strukturen agieren und unterliegt den gleichen Einflüssen. Dies bedingt neben den Steuerungsgrenzen, ebenso die Grenzen des individuellen Handelns sowie die Beeinflussung von Organisationsprozessen und erschwert eine direkte Handlungssteuerung. Durch die Komplexität entzieht sich die Führung im systemischen Ansatz den klassischen Steuerungsvorstellungen und erfordert von den Führungspersonen die Akzeptanz sowie die Einsicht, dass nicht alles steuerbar und beeinflussbar ist. Ein erfolgsorientiertes Handeln ist nach der klassischen Auffassung von Ursache-Wirkungs-Beziehungen und ohne die gebotene Berücksichtigung der Bedeutung kultureller und struktureller Führung nicht möglich. Vielmehr müssen im Sinne des systemtheoretischen Verständnisses von sozialen Systemen bei Eingriffen in das System entsprechende Handlungsnetzwerke und Folgewirkungen mit mannigfaltigen Rückkopplungsschleifen sowie selbstverstärkende Mechanismen beachtet werden. Die Führungsperson muss deshalb das System, die Zustandsänderungen sowie die Kommunikation und die Partizipation aller Teilnehmer stets genau beobachten. Das heißt im Umkehrschluss, dass bei jedem notwendigen bzw. unterlassenen Eingriff in das bestehende System immer die Konsequenzen zu beachten sind — soweit dies infolge der Komplexität möglich ist. Kritik an diesem Ansatz wird meist an der begrenzten Übertragbarkeit zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen Ansätzen, der Kennzeichnung des Menschen als Systemelement und an der Ausblendung von Machtprozessen geübt. (vgl. u.a. HENTZE et al. 2005: S.519 ff.) Die symbolische Führung, die von NEUBERGER und ULRICH in den 1990er Jahren entwickelt wurde, greift in ihren Grundannahmen auf das soziologische Basis-Konzept des symbolischen Interaktionismus zurück. Sie geht davon aus, dass Menschen bei Interaktionsprozessen in einer für sie bedeutungshaltigen Welt handeln. Somit werden das soziale und das individuelle Handeln durch Bedeutungen in Form von Symbolen mitgesteuert. Dies beeinflusst die Interaktion. So haben im Sinne der symbolischen Führung Vorgesetzte durch den vorhandenen oder geschaffenen Sinngehalt von Symbolen sowie durch symbolisches Handeln im Führungsprozess einen Einfluss auf die Mitarbeiter und deren Handlungen. Um das gewünschte Mitarbeiterverhalten zu erreichen, werden Handlungen und Strukturen in Form von verbalen (Geschichten, Grundsätze, Sprachregeln etc.), interaktionellen (Zeremonien, Traditionen, Konferenzen, Vorstandsbesuche, Beförderung etc.) und artifiziellen (Logos, Abzeichen, Fahnen, Statussymbole, Kleidung, Arbeitsbedingungen etc.) Medien eingesetzt. Die Verhaltensbeeinflussung erfolgt hierbei eher passiv und wird ohne aktive Handlungssteuerung der Führungskraft allein durch die symbolisierten Handlungen sowie Medien realisiert. Im Zuge der aktiven Beeinflussung (von NEUBERGER als symbolisierende Führung bezeichnet) wird die Interpretation bzw. Reinterpretation mehrdeutiger, sinnhafter Fakten durch die Führungskraft vollzogen. Hierbei kann es zu einer Schaffung neuer symbolisierter Handlungen und Strukturen kommen. Diese werden dann als neue klare Ori349

entierungspunkte für gemeinsames soziales Handeln etabliert und stabilisiert. Die beiden Komponenten der symbolischen Führung (symbolisierte und symbolisierende Führung) werden hierbei als Kreisprozess angesehen, „der zwischen Verfestigung (... Entziffern des Sinns von Fakten) und Verflüssigung (... Schaffung neuer sinnhaltiger Fakten bzw. Deutungen) dialektisch oszilliert“ (NEUBERGER 2002: S.668). Es entsteht ein Rückkopplungseffekt, der direkt oder über die Strukturen und Systeme auf den Vorgesetzten und die Mitarbeiter einwirkt. Kritisiert werden am Ansatz der symbolischen Führung u.a. der Mangel an empirischen Studien zur Wirkung von Symbolen und die weitestgehende Fokussierung auf symbolisierte Handlungen und Strukturen im Führungsprozess. (vgl. NEUBERGER 2002: S.662 ff.; HENTZE et al. 2005: S.469 ff.) In diesem Abschnitt könnten noch eine Vielzahl weiterer Konzepte vorgestellt werden. Beispielhaft wäre der kooperative, der psychodynamische oder der mikropolitische Führungsansatz zu benennen. Zudem haben sich Führungsansätze in lernenden Organisationen oder im Zuge der Globalisierung interkulturelle Führungsansätze herausgebildet. Aktuelle Forschungsansätze beschäftigen sich mit Führung in Hochleistungssystemen. Auf die Darstellung dieser Ansätze muss in diesem Rahmen leider verzichtet werden. (vgl. u.a. HENTZE et al. 2005; PAWLOWSKY 2008)

11.6.7 Praktische Führungsansätze und Führungsprinzipien Praktische Führungsansätze haben den Anspruch, in der operativen Anwendung eine erste normative Hilfestellung bei der Gestaltung und Strukturierung von komplexen Führungsproblemen zu geben. Hierbei kommen Modelle zur Anwendung, die auf den Erkenntnissen der Führungsforschung basieren oder im Rahmen anwendungsorientierter Forschung entwickelt wurden. Das normative Entscheidungsmodell von VROOM und YETTON (1973) fokussiert Führung auf der individuellen und auf der Gruppenebene. Ausgangspunkt des Modells ist die unterstellte Fähigkeit der Führungskraft zu rationalen Entscheidungen und die Wahlmöglichkeit zwischen fünf Führungsstilen, bei denen jeweils der Grad der Entscheidungsbeteiligung der Mitarbeiter ansteigt. Ausgehend von der Problemformulierung erfolgt mittels einer Entscheidungsheuristik bzw. entlang eines Entscheidungsbaums über sieben Knotenpunkte mit den Verzweigungen „ja“ oder „nein“ die Empfehlung eines optimalen Führungsstils. Die Knotenpunkte sind jeweils durch spezifische Situations- bzw. Entscheidungsfaktoren (u.a. Qualität der Lösung, Informationsdichte, Konfliktwahrscheinlichkeit) gekennzeichnet. Sollten in bestimmten Situationen mehrere Stile infrage kommen, wird bei Entscheidungen mit einer hohen Bedeutung und großem Zeitdruck eher zu einem autoritären Führungsstil geraten. Ist hingegen die Akzeptanz wichtig, sollte in solchen Situationen partizipativen Stilen der Vorzug gegeben werden. Der Führungserfolg wird über Zielerreichung bzw. die Lösung des Problems definiert. Kritisiert werden an diesem Modell die Normativität, die Grundannahme der vollständigen Kontrollierbarkeit des Führungsverhaltens, die Negierung der Mehrdeutigkeit von Entscheidungssituationen und die begrenzte empirische Überprüfbarkeit. (vgl. HENTZE et al. 2005: S.275 ff.) Ausgangspunkt des Reifegradkonzepts von HERSEY UND BLANCHARD aus dem Jahre 1976 sind die Annahmen, dass erfolgreiche Führungspersönlichkeiten Flexibilität und diagnostische Kompetenzen für eine erfolgreiche Führung benötigen. Hierbei liegt der Führungsfokus auf dem Individuum und der Führungserfolg wird über die Zielerreichung sowie die Akzeptanz der Geführten definiert. Als Situationsparameter ist der Reifegrad der Mitarbeiter bezüglich der Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie des Maßes an Fachwissen und Erfahrungen, aber auch die Bereitschaft und die Motivation zur Aufgabenrealisierung ausschlaggebend. Der ableitbare Reifegrad sollte dann über die zwei unabhängigen Deter350

minanten „Aufgaben- und Personenorientierung“ eine mitarbeiterspezifische Variation des Führungsstils (Unterweisen/Anweisen, Verkaufen, Beteiligen, Delegieren) zur Folge haben. Bei einer großen Kompetenz und einer entsprechenden Motivation der Mitarbeiter wird die Wahl eines delegierenden Führungsstils und bei geringen Fähigkeiten und einer niedrigen Motivation hingegen die Wahl eines direktiven Unterweisungsstils als effizient empfohlen. Erledigen die Mitarbeiter ihre Aufgaben zufriedenstellend, soll für spätere, ähnliche Aufgaben ein Führungsstil gewählt werden, der mehr Freiräume und Partizipation am Entscheidungsprozess ermöglicht. Bei Misserfolgen oder unzureichenden Ergebnissen wird eine Rücknahme der Partizipation und eine stärkere Kontrolle sowie eine Unterweisung für sinnvoll erachtet. Um den jeweils effizienten Führungsstil entsprechend des Reifegrades der Mitarbeiter anzuwenden bzw. modifizieren zu können, werden von den Autoren des Ansatzes Trainings empfohlen. Kritikpunkte im Rahmen dieses Modellansatzes sind die fehlende theoretische Fundierung, die unterstellte Harmonie-These und die Verengung der Situationsbedingungen auf die Mitarbeiter. (vgl. HENTZE et al. 2005: S.292 ff.) Modelle, die im Rahmen der anwendungsorientierten Forschung entwickelt wurden, sind in erster Linie durch Erfahrungen sowie Erkenntnisse aus der Praxis gekennzeichnet. Auch sie folgen dem Anspruch, das Führungsgeschehen in der täglichen Praxis zu strukturieren und damit zu verbessern. Beispielhaft kann hier z.B. der Zürcher Ansatz oder das St. Galler Management Modell benannt werden. Partial- bzw. Teilmodelle streben die Beseitigung von einzelnen Schwachstellen im Führungsprozess an und behandeln lediglich bestimmte Teilaspekte der Führung. Zudem bilden sie konkrete Gestaltungsregeln und Instrumente ab, die Führungskräfte bei der Ausführung einer bestimmten Führungsaufgabe befolgen sollen. Der Grundgedanke des Führungsprinzips Management by Delegation (MbD) beinhaltet die möglichst weitgehende Übertragung von Aufgaben, Entscheidungen und Verantwortung auf untere Instanzen (Mitarbeiter). Dabei wird das Ziel verfolgt, die Vorgesetzten zu entlasten und die Initiative, die Leistungsmotivation und die Eigenverantwortung der Mitarbeiter zu fördern. Beim Management by Exception (MbE) erfolgt die Führung nur als Intervention im Ausnahmefall. Das heißt, ein Eingriff des Vorgesetzten geschieht nur in den Fällen, die außerhalb klarer Grenzen liegen. Die Mitarbeiter können in genau festgelegten Arbeitsgebieten so lange selbständig handeln, bis ein Ausnahmefall eintritt. Ziel des Prinzips ist in erster Linie die Entlastung des Vorgesetzten von Routineaufgaben und die eindeutige Regelung von Zuständigkeiten. Beim Management by Objectives (MbO) ist im Rahmen der Führung der Zielbildungsprozess im Unternehmen das zentrale Element. Anstatt vorzuschreiben, wie bestimmte Arbeiten und Aufgaben nach festgelegten Regeln und Methoden zu erledigen sind, werden grundsätzlich nur gemeinsam durch Vorgesetzte und Mitarbeiter erarbeitete Ziele vorgegeben. Ebenso wird den Mitarbeitern die Auswahl der notwendigen Mittel und Maßnahmen überlassen. Die Führungsaufgabe beschränkt sich im Allgemeinen auf die gemeinsame Zielvereinbarung und auf die Kontrolle der Zielerreichung. Beim Management by Motivation (MbM) stehen Leistungsanreize im Mittelpunkt der Betrachtung. Hierbei erfolgt eine Orientierung an der Individualität der Mitarbeiter und deren Bestreben, diese in das betriebliche Handeln mit einzubeziehen. Die Antriebskräfte der Mitarbeiter stellen demnach ein erhebliches Potential zur Leistungssteigerung dar, welches von den Führungskräften erkannt und genutzt werden sollte. Die Führung muss sich an den Bedürfnissen der Mitarbeiter ausrichten, um Unterneh-

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mensziele und zugleich individuelle Motivationsansprüche zu koordinieren und zu verwirklichen. (vgl. u.a. HENTZE et al. 2005: S.283 ff.)

11.6.8 Aktuelle und zukünftige Anforderungen an die Führungskraft Durch immer schneller wirkende Umweltveränderungen, z.B. im sozio-kulturellen, rechtlich-politischen, wirtschaftlichen sowie technischen Umfeld und den daraus abgeleiteten unternehmensinternen Einflussfaktoren (Organisationsdynamik) ergeben sich permanent neue Anforderungen für alle Organisationsmitglieder. Besonders die Führungskräfte müssen sich in ihrer Führungs-, Leitungs- und Vorbildfunktion mit dieser Dynamik auseinandersetzen, da sie für die Initiierung und die aktive Steuerung der Organisationsprozesse verantwortlich sind. Die zunehmende Interdependenz sowie die Komplexität der Aufgabenbewältigung erfordern mehr und mehr eine neue Form des interdisziplinären Denkens sowie Arbeitens und haben eine Bündelung von Arbeitsanforderungen zur Folge. Weiterhin ermöglichen neue Prozess- und Kommunikationstechnologien eine Zusammenarbeit in vielfältigen Gruppenkonstellationen und Arbeitsrollen, die sich mit wachsender Bedeutung über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg vollziehen (z.B. Virtuelle Arbeitsteams, Knowledge Workers etc.). Zwar bieten diese neuen Arbeitsformen der Organisation und der Führungskraft Chancen, erhöhen aber gleichzeitig die Anforderungen im Bereich der Fähigkeiten und Fertigkeiten von Führungskräften. Nicht zuletzt der stattgefundene Wertewandel, der durch das generell gestiegene Bildungsniveau beeinflusst wird, bedingt geeignete Partizipationswünsche bei den Mitarbeitern. Ebenso sind Führungskräfte gefordert, die Mitarbeiter in Entscheidungs- und Veränderungsprozesse einzubeziehen oder sie zum Wissensaustausch und zur -weitergabe (Stichworte: Wissensarbeiter, Wissensmanagement und lernende Organisation) zu animieren. Überdies hinaus werden in zunehmend turbulenten Umwelten die Überzeugungskraft des Vorgesetzten und das von ihm täglich vorgelebte Vorbild im Bereich der Führung immer wichtiger. Es steht nicht mehr nur die vorschriftsmäßige Aufgabenerledigung, sondern das kreative Problemlösen im Vordergrund. Dies bedeutet, Freiräume zuzulassen, um Neues auszuprobieren sowie Fehler zu machen und daraus zu lernen oder Risiken einzugehen. Reparatur-Management reicht nicht mehr aus, „Innovation wird zur Führungsaufgabe“ (von ROSENSTIEL 1999: S.55). Zusätzlich sollte die Führungskraft der Zukunft nicht nur Befehle erteilen. Vielmehr stellt sie eine Persönlichkeit dar, welche die Mitarbeiter durch kommunikative Kompetenz motiviert und begeistert. Sie ist dann nicht nur fachlicher Ansprechpartner, sondern auch für das Betriebsklima und die Arbeitsfreude der Mitarbeiter sowie für den interaktiven Kommunikationsprozess oder für die „Entstörung“ schwieriger Situationen verantwortlich. Fortlaufend ist die Führungsperson ebenso als „Konfliktmanager“ gefordert, dessen Hauptaufgabe darin besteht, Spannungen abzubauen, aber zugleich ein gesundes Maß an Konflikten und Spannungen zu schaffen, um Innovation und Veränderungen zu fördern. Die Führungskraft in modernen Unternehmen sollte Chef, Freund, Coach, Partner, Vorbild und Kollege in einer Person sein. Führungsaufgaben werden damit zur Balance zwischen den Extremen. Zusätzlich zu den „neuen“ Anforderungen bleiben klassische Kriterien wie analytisches Denkvermögen und rollenkonformes Verhalten, überdurchschnittliche Einsatzbereitschaft, Loyalität sowie Begeisterungsfähigkeit erhalten. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass neben die Fach- und Managementkompetenz immer mehr die Forderung nach sozialen Fähigkeiten (Kommunikations- und Teamfähigkeit etc.) und nach Selbstkontroll-Kompetenzen als Basisqualifikation für Fach- und Führungskräfte tritt. Diese Gemengelage aus Führungsanforderungen, Selbst- und Fremdbild, Selbstmanagement, Eigenmotivation sowie eigenen Zielstellungen und Organisationszielen erzeugen einen immer größeren Druck. Verschiedenartige Problemfelder sind die Folge. 352

Diese Entwicklung macht individuelle Schulungs- sowie Betreuungs- und Beratungsmaßnahmen in Themenbereichen der Kommunikation, der Selbstorganisation und der privaten sowie der beruflichen Problembewältigung notwendig. Um Nachwuchskräften (Protegés) zu helfen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und mit umweltbedingten Friktionen umzugehen, bietet sich u.a. das Mentoring durch erfahrene Führungskräfte (Mentoren) als Förderungs- und Betreuungsmethode an. Für die wachsenden Paradoxien und Dilemmata stellt das Coaching eine sinnvolle Unterstützungshilfe für die Führungskraft und für die Erfüllung des Führungsprozesses dar. Beim klassischen Einzelcoaching wird ein persönlicher, interaktiver Begleitprozess z.B. zur Stärkung der Selbst- und Fremdsteuerung, bzw. zur Bewältigung beruflicher und privater Anliegen zwischen der Führungskraft (Gecoachter) und einem qualifizierten, unabhängigen Trainer (externer Coach) vollzogen. Thematisiert werden hierbei u.a. die Hilfe zur Selbsthilfe und zur Selbstverantwortung/-regulationsfähigkeit sowie die neutrale Gabe von Feedback, die Entzerrung der eigenen (Selbst-)Wahrnehmung und die damit verbundene Aufdeckung so genannter „blinder Flecken“ (z.B. Betriebsblindheit). (vgl. u.a. NEUBERGER 2002; VON ROSENSTIEL 1999)

11.6.9 Verwendete Literatur Bass, B.M. (1990): Bass & Stogdill’s Handbook of Leadership. 3. Auflage, New York: The Free Press HENTZE, J./GRAF, A./KAMMEL, A./LINDERT K. (2005): Personalführungslehre. Grundlagen, Funktionen und Modelle der Führung. 4., neu bearbeitete Aufl. Bern; Stuttgart; Wien, Haupt Verlag HILDEBRANDT, R. (1995): Geschichte der Führung – Mittelalter und Frühe Neuzeit. In: Kieser, A./ Reber, G./Wunderer, R. (Hrsg.): Handwörterbuch Führung. Stuttgart, S.1111-1122, Schäffer-Poeschel KALTENSTADLER, W. (1995): Geschichte der Führung – Altertum. In: Kieser, A./Reber, G./Wunderer, R. (Hrsg.): Handwörterbuch Führung. Stuttgart: Schäffer-Poeschel, S.1093-1102 NEUBERGER, O. (2002): Führen und Führen lassen. Ansätze, Ergebnisse und Kritik der Führungsforschung. 6., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart, Lucius & Lucius PAWLOWSKY, P. (2008): Führung in Hochleistungssystemen. In: Sackmann, S. A. (Hrsg.): Mensch und Ökonomie. Wie sich Unternehmen das Innovationspotential dieses Wertespagats erschließen. Wiesbaden, Gabler, S.303-316 VON ROSENSTIEL, L. (1999). Führung von Mitarbeitern: Handbuch für erfolgreiches Personalmanagement. Stuttgart, Schäffer-Poeschel

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11.7 Führungswissen für den Führungsalltag von Rolf Meier

11.7.1 Die acht Grundeinsichten des Führens Wie vieler Personen bedarf es, damit Sie von Führung reden? Wenn ich in Diskussionen oder auch in Personalentwicklungsmaßnahmen diese Frage stelle, wird oftmals spontan die Antwort gegeben: zwei Menschen. Wenn wir zwei Personen haben, dann reden wir von Führung. Gemeint ist damit in aller Regel, die Führungskraft und der Mitarbeiter. Das mag richtig sein. Das Thema Führung müssen wir aber wesentlich erweitern aufgrund unseres Verständnisses zeitgemäßer Führung, aber auch aufgrund der Bedingungen in unseren Organisationen. Traditionell ist es sicherlich so, dass die Führungskraft und mindestens ein Mitarbeiter da sein muss, um von Führung zu sprechen. Diese Ausprägung nennen wir Fremdführung. Sie können den Begriff der Führung aber auch noch auf zwei andere Bereiche erweitern, indem Sie feststellen, Führung beginnt im Grunde bei einer Person, nämlich bei mir (bei Ihnen/Ihrer Person). Wenn Sie so Führung verstehen, dann handelt es sich um die Selbstführung. Im Zuge der Veränderungsprozesse in unseren Unternehmen aber auch im Verständnis von Führung, in dem Aufkommen von Projekten, Projektgruppen oder Teams, haben wir aber auch zunehmend die Situation, dass Führung möglich wird oder aber auch gewollt ist, indem mindestens zwei oder mehrere Personen, Menschen, Mitarbeiter über Inhalte zu entscheiden haben und die dann auch selbst realisieren. Wenn wir solche „teil-autonomen” Gruppen haben, dann reden wir von der Eigenführung. Führung als Überlaufsystem Ich denke, dass es relativ eindeutig und klar ist, dass Sie von einer Führungskraft nur dann sprechen können, wenn sie denn auch Mitarbeiter hat. Aber wie entsteht denn nun diese Führung im Allgemeinen und möglicherweise auch in der konkreten Situation? Am besten können Sie sich diese Thematik verdeutlichen, wenn wir uns einmal ein Unternehmen ansehen, das gegründet wird. In aller Regel ist das eine Person, weil diese eine Person eine Idee, eine Fertigkeit oder Fähigkeit — also eine Kompetenz — hat, die sie vermarkten, die sie anbieten will. Wenn so ein Mensch anfängt etwas zu unternehmen, dann kann er in die Situation kommen, wenn es alles ganz gut läuft, dass er mehr Kunden findet, als er vielleicht Zeit hat, sie zu bedienen. Oder: seine Zeit reicht nicht aus, um all' die Aktivitäten, die notwendig werden, um sein unternehmerisches Tun voranzutreiben, selbst zu realisieren. Also kommt er auf die ganz simple Idee, sich jemand zu suchen, der ihn unterstützt. Er braucht auf einmal auch einen Teil seiner Zeit, um nämlich diesen neuen Mitarbeiter, diesen Assistenten oder wie man ihn auch immer bezeichnen mag in so einer Gründersituation, zu betreuen, zu führen, anzuleiten, zu beeinflussen und dergleichen mehr. Führung entsteht als „Überlaufsystem”, weil meine Zeit nicht mehr ausreicht, um alles selber zu bewältigen. Nun kann man aber auch sagen, gut, man sucht sich jemand, der ihm hilft, weil er einfach nicht so viel Zeit aufwenden will. Entscheidend ist aber dabei, er braucht eine Vorstellung und eine Strategie, wie er diesen Mitarbeiter beeinflusst, behandelt, führt. Dieser Mitarbeiter soll ja dann durch sein Tun und sein Verhalten und seine Arbeit auch Arbeitsergebnisse hervorbringen. Diese Arbeitsergebnisse sollen im Prinzip vielleicht aber auch zu 100 % genau die gleiche Qualität haben, wie sie die 354

Führungskraft selber hervorbringen würde oder sich idealerweise vorstellt, wie sie hervorgebracht werden sollte. Damit fängt Führung im Grunde an und all' die Dinge, die wir über Führung wissen, wird derjenige mehr oder weniger gut, mehr oder weniger bewusst auch anwenden, einsetzen oder sich darüber Gedanken machen. Interessant ist jetzt eins: Je mehr solcher Mitarbeiter jetzt für diese Führungskraft da sind, desto größer wird der Arbeitsaufwand, der Zeitaufwand sein, den die Führungskraft diesen Mitarbeitern widmen muss, das heißt, er wird selber nicht mehr so viele Dinge realisieren können, sondern er wird sie veranlassen, verursachen, auslösen, dass seine Mitarbeiter diese Arbeitsergebnisse erbringen. Führung und Zeit Wenn wir über Führung nachdenken, dann gibt es eine ganz spannende Frage zu beantworten, nämlich die: „Haben Sie sich schon einmal überlegt, wie viel Prozent Ihrer Arbeitszeit der einzelne Mitarbeiter von Ihnen als Führungskraft partizipieren kann?” Um diese Frage zu beantworten, müssten Sie 'mal ehrlicherweise sagen und für sich offen legen, wie viele Stunden in der Woche arbeiten Sie denn eigentlich als Führungskraft? Es kann sein, dass Sie sagen: „Ich arbeite 50, 60 oder 30 Stunden”. Sie können auch sagen: „Wissen Sie, ich bin immer in Gedanken dabei, mich um meine Führungsaufgaben zu kümmern und wenn Sie denn gerne möchten, dann können Sie das auch auf 24 Stunden auf 7 Tage in der Woche erweitern.” Aber ein interessantes Ergebnis wird herauskommen: Sie werden feststellen, dass keiner Ihrer Mitarbeiter die Chance hat, 100 % Ihrer Zeit als Führungskraft in Anspruch zu nehmen, sondern der Anteil wird unter 5 % Ihrer Zeit liegen. Damit stellt sich aus Sicht der Führung eine ganz entscheidende Frage: „Was passiert eigentlich in der Zeit, wo Sie auf den Mitarbeiter nicht direkt einwirken können — was macht er da? Ist er tatsächlich selbstständig, ist er eigenverantwortlich, ist er initiativ, entwickelt er genau die Ideen und Aktivitäten, die sinnvoll und notwendig sind, um erfolgreich zu sein?” Das ist also das Spannende, wenn man über Führung redet. Ich kann, selbst wenn ich ein sehr stark kontrollorientierter Mensch bin, oder wenn ich ganz gerne sozusagen „rumfummeln” will, habe ich gar nicht die Chance, jeden einzelnen 100 %ig zu überwachen, zu kontrollieren, zu lenken, zu dirigieren, sondern ich muss mich einfach damit abfinden, dass der Mitarbeiter zu einem sehr großen Anteil seiner Arbeitszeit auf sich alleine angewiesen ist. Hier gilt aus Sicht von Führung die Frage zu beantworten: „Wie muss ich mich als Führungskraft einrichten, einstellen, verhalten? Was für ein Verständnis von Führung muss ich haben, dass dieser Mitarbeiter in der Zeit, wo er denn nicht von mir geführt wird, zum Erfolg durch Selbstführung kommt?” Führung und Situation Wenn Sie Führungskraft sind, haben Sie schon einmal nachgedacht, ob Ihre Mitarbeiter Sie eigentlich als Führungskraft haben wollten oder haben wollen? Durften Ihre Mitarbeiter darüber abstimmen, ob 355

Sie die Führungskraft werden? Sicherlich nicht! Normalerweise wird man als Führungskraft eingesetzt, das ist sozusagen ein Verordnungsvorgang, man könnte aber auch sagen, Führung entsteht aus einer Zwangssituation, jedenfalls aus Sicht der Mitarbeiter. Damit ergeben sich natürlich viele Fragen für Sie als Führungskraft: „Wie steht es eigentlich mit meiner Akzeptanz? Wie viel Vertrauen haben die Mitarbeiter zu mir? Wie viel Glaubwürdigkeit habe ich?” Führung und Führungsstruktur wird auch über Zwang realisiert. Im Gegensatz dazu gibt es aber auch Führung, die freiwillig entsteht. Freiwillige Führung wird immer dann entstehen, wenn Menschen zusammenkommen, die gleiche Interessenlagen haben. Diese Interessen wollen artikuliert, durchgesetzt und realisiert werden. Hier wird man bewusst oder unbewusst in Diskussionen herausfinden, wer von den Beteiligten einer Gruppe, die Interessen am besten durchsetzen kann, wer die Initiative ergreift. Nehmen Sie ein praktisches Beispiel aus dem Alltag: Sie sind auf der Straße und bedauerlicherweise knallts, das heißt, da ist ein Autounfall. Wenn sie der erste sind, der die Initiative ergreift und sagt: Ruft die Polizei an, ruft die Feuerwehr an oder sagt: alles absperren und andere sehen das genau so und beugen sich sozusagen dieser Initiative, dann haben Sie in dieser Situation eine Führungsrolle übernommen. Ihre Führungsrolle wird solange anerkannt bleiben, wie Ihre Aktivitäten auf Akzeptanz stoßen und Führung in dieser Situation gebraucht oder gebildet wird. Ihre Führungsrolle werden Sie abgeben, wenn die Situation bereinigt ist, wenn sie beendet ist: wenn Polizei oder Feuerwehr eingetroffen sind, möglicherweise, wenn alle Dinge registriert sind, vielleicht auch Verletzte versorgt sind und der Verkehr wieder freigegeben wird. Dann löst sich die Situation auf und Sie haben dann Ihre Führungsrolle abgegeben, weil Sie nur für diese Situation galt. Also Führung entsteht auch freiwillig und situativ. Wenn wir über Führung reden, ist dies schon eine sehr wichtige Erkenntnis auch für den Coaching-Prozess: inwieweit gelingt es, Akzeptanz auszulösen bei jemandem, den ich beeinflussen will oder der von mir beeinflusst werden will/sollte? Führung und Zusammenhalt Wenn Sie Führungskraft sind, haben Sie die Verantwortung für Mitarbeiter, also für Menschen. Mit diesen gemeinsam sollen und wollen Sie ja Erfolge erzielen, sollen Sie Arbeitsergebnisse erbringen, die gewollt und die auch akzeptiert sind. Insofern sind Sie Leiter einer Gruppe, egal ob Sie jetzt Vorstand, Geschäftsführer oder Abteilungsleiter sind. Es geht beim Führen in letzter Konsequenz immer darum, dass Sie mit einer Gruppe von Menschen, mit denen Sie zusammenarbeiten und damit also mitten unter ihnen sind, gemeinsam eine erfolgreiche Arbeit leisten wollen. Sie brauchen hier Qualifikationen, dass die Gruppe auch zusammenhält. Zwei wesentliche Merkmale sind es, die diesen Zusammenhalt gewährleisten. Erst wenn sowohl die Gesamtgruppe als auch die einzelnen Gruppenmitglieder eine Identifikation haben, sowohl mit den Arbeitsinhalten als auch mit den Arbeitsbedingungen und den Kollegen, den Menschen, mit der Führungskraft, mit denen sie zusammenarbeiten und wenn sie eine Zukunftshoffnung haben, dass heißt, wenn der Einzelne und auch die Gruppe insgesamt der Meinung ist, dass man zusammenhalten kann und muss und gemeinsam in der Zukunft Erfolge haben wird. Erst wenn das gewährleistet ist, dann wird diese Gruppe auch einen Zusammenhalt haben.

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Identität + Bewusstsein

Zukunftshoffnung + Vertrauen in ...

Als Führungskraft müssen Sie also dafür sorgen, dass diese Identifikation und Zukunftshoffnung sich immer wieder entwickelt, immer wieder stabilisiert, immer wieder neu auch weiterentwickelt wird, weil sich auch die Bedingungen des Arbeitens ändern. Diese Identifikation und Zukunftshoffnung wird im Grunde mit zwei wesentlich Strategien erreicht. Entweder Sie als Führungskraft initiieren diese Identifikation und Zukunftshoffnung, dass alle Gruppenmitglieder Kraft entwickeln, diesen Zusammenhalt zu wollen und auch zu leben — das wäre Ihre Priorität 1 — oder aber — und das wäre Ihre Priorität 2 — es wird durch einen so genannten äußeren Feind diese Zukunftshoffnung und Identifikation ausgelöst, weil man dann in dieser Gemeinschaft, diesen äußeren Feind, diese Bedrohung, vielleicht auch dieses Übel besser bewältigen kann. Führung und Betriebswirtschaft Haben Sie sich einmal gefragt — wenn Sie Führungskraft sind — was Sie eigentlich als Führungskraft auslösen sollen oder was man von Ihnen erwartet auszulösen? Vielleicht kann die Grafik das ganz gut verdeutlichen. Als Führungskraft initiieren Sie permanent etwas. Sie gehen auf den Mitarbeiter zu, Sie reden mit ihm, Sie beeinflussen ihn, Sie wollen was von ihm. Aber, das was Sie wollen, das was Sie initiieren, muss bei dem Mitarbeiter auf Akzeptanz stoßen, muss bei ihm Lernprozesse auslösen, sodass er sagt, das was meine Führungskraft von mir will ist richtig, ist wertvoll, ist hilfreich für mein Tun. Erst wenn es Ihnen gelingt, diese Akzeptanz in konkretes Wollen und Tun umzusetzen, dann wird beim Mitarbeiter auch ein Ergebnis erzielt, was er und Sie wollen. Gelingt Ihnen dieses nicht, dann betreiben Sie in Wahrheit Werteverzehr. Eine der wesentlichen Aufgaben als Führungskraft ist es, Wertschöpfung auszulösen. Das heißt, erst wenn Sie den Nachweis erbringen, dass der Aufwand, der in Sie gesteckt wird in Form von Gehalt und Personalnebenkosten — sich sozusagen rentiert — dann betreiben Sie Wertschöpfung. Ich möchte Sie jetzt bitten eine Übung zu machen, die ganz wertvoll ist zum eigenen Reflektieren der Thematik. Fragen Sie sich einmal, wenn Sie auf der Basis Ihres Bruttogehaltes plus Personalnebenkosten ausrechnen: „Wie teuer bin ich eigentlich pro Stunde als Führungskraft?” Dann fragen Sie sich: „Wie viel Wertschöpfung betreibe ich eigentlich, wenn ich mit einem Mitarbeiter oder mit einer Mitarbeiter-Gruppe ein Gespräch führe oder wenn ich vor mich hin denke.” Das heißt, Ihrem Arbeitgeber kosten Sie permanent Geld — bzw. wenn Sie selbständig sind, kosten SIE permanent Geld. Wie viel Wertschöpfung wird eigentlich durch Sie ausgelöst? Denn immer dann, wenn Sie der Meinung sind oder Sie dahinter kommen, dass Ihre Aktion nicht besonders erfolgreich war, dann haben Sie schlicht und einfach Wertverzehr betrieben. Das ist natürlich aus betriebswirtschaftlicher Überlegung nicht nur fragwürdig sondern auch sehr zu kritisieren.

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Wenn Sie mal Ihre Mitarbeiter betrachten oder Sie fragen sich einmal, wie Ihre Mitarbeiter über Sie denken, ob denn nun diese Besprechung hilfreich war, dann kommen Sie auch relativ schnell dahinter, ob Sie Wertverzehr oder Wertschöpfung betreiben. Wertschöpfung heißt immer, dass Sie einen Zuwachs an Qualität, an Nutzen auslösen. Sonst könnte man auch das gesamte Geld, das man in Sie investiert — also Bruttogehalt plus Personalnebenkosten — zur Bank bringen. Diese übliche Verzinsung müssten Sie ja mindestens selbst erreichen. Das wäre doch bestimmt einmal spannend, zu überlegen. Kompetenz und Verantwortung der Führungskraft für Wertschöpfung

Akzeptanz Verstehen, Wollen „lernen”

Wollen Können

Ergebnis

Ausbilder, Trainer, Coach

Mitarbeiter

Führungskraft

Kenntnisse/Einstellungen Erfahrungen

Dürfen

Führungsverhalten

Denk- und Handlungsstrategien der Führungskraft Wenn wir uns über Führung unterhalten und Sie sich damit auseinandersetzen, dann bedarf es einer gewissen Methodik des Denkens und Handelns, um als Führungskraft erfolgreich zu sein. Diese Denkund Handlungsmethodik orientiert sich an dem nachfolgenden Schaubild: aus der

Vision



entwickelt sich die

Mission



daraus leiten sich

Ziele



ab, die mit unterschiedlichen

Strategien



aber mit konkreten

Maßnahmen erreicht werden

Und das Ganze muss controlt werden. Ihr Autor versteht unter diesen Begriffen: Vision

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Leidenschaft für einen Zukunftsinhalt — Visionäre sind „Seher” die Traumbilder, Trugbilder, Eingebungen haben. Ein rundum emotionaler Zustand, durchdringend und beglükkend. Ein Rausch ohne Rauschgifte. Sie/Er berauscht sich daran.

Mission

Werte, Normen, Einstellungen — gibt Antworten auf Fragen wie: „Wie tun wir es? Woran kann man uns messen? Was zeichnet unser Handeln aus?” Die Mission eines Unternehmens wird oft in „Leitsätzen” oder „Grundsätzen” beschrieben. Ziel Ein konkret beschreib- und überprüfbarer Zustand ist an einem konkreten Termin eingetreten. Ziele sind Leistungsziele (Ergebnis). Ziele lassen die Vision konkret werden. Strategie „Viele Wegen führen nach Rom” sagt das Sprichwort. Strategien sind Wege — also grundsätzliche Richtungsentscheidungen des Handelns. Maßnahme Ist eine Einzelaktivität in einer spezifischen Situation. Maßnahmen sind wie Mosaiksteinchen. Viele Mosaiksteine (strukturiert, sinnvoll vernetzt) ergeben das Bild der Strategie. Politisch denken — systemisch handeln Jeder, der in einem Unternehmen beschäftigt ist, steht mit vielfältigen Arbeitspartnern direkt und indirekt in Verbindung. Egal ob Sie Geschäftsführer oder Gruppenleiter sind, haben Sie auf Grund Ihres Arbeitsauftrages (Aufgabenprofil) den Grundauftrag, einem Thema oder mehreren Themen zum Erfolg zu verhelfen. Dies werden Sie niemals alleine oder autonom realisieren können. Sie bedürfen der verschiedensten inner- und außerbetrieblichen Arbeitspartner, um Ihr Thema in den Erfolg zu bringen. Sie können dies nie gegen Ihre Umwelt sondern nur mit Ihrer Umwelt tun. Führung bedeutet in diesem Sinne politisch denken, also den Interessenausgleich ermöglichen. Systemisch handeln heißt, die vernetzten und konkurrierenden Geschäftsprozesse zu initiieren und zu versöhnen. Das nachfolgende Schaubild mag die Grundproblematik verdeutlichen.

Thema

Wer politisch denkt und systemisch handelt, braucht dafür folgende Grundsystematik: • • • • •

Gesamtsituation erkennen und wertschätzen Komplexität der Themenanalyse strukturieren Ressourcen identifizieren Die beste aus mehreren Handlungsoptionen wählen Welche Störungen können bei der Umsetzung entstehen und wie sind sie überwindbar? 359

11.7.2 Die 14 Initiativpflichten der Führung Nachfolgend erhalten Sie einen Text zum Lesen, zum Nachdenken und zum Reflektieren mit meiner Behauptung, dass Sie mit den 14 Führungsaufgaben, die hier beschrieben werden, Ihr Verständnis von Führung gut und erfolgreich im Arbeitsalltag realisieren können. 1. Auseinandersetzen mit der Zukunft (oder: es bleibt nicht wie es ist) Die Auseinandersetzung mit der Zukunft, nennen wir in der Alltagssprache oft „Probleme”. Positiv formuliert sollten Sie besser von Chancen oder Herausforderungen sprechen. Eine Herausforderung ist die Chance, den Unterschied vom Ist zum Soll auszugleichen. So gehen Sie erfolgreich in der Zukunftsbearbeitung vor (nach Kepner-Tregoe): Situationsanalyse — (sichern und erkennen) Problemanalyse — (Ursachen definieren) Entscheidungsanalysen — (Alternativen) Analyse potentieller Probleme — (Störungen erkennen) 2. Motivation auslösen (aus eigenem Antrieb etwas tun wollen) • Motivieren = Bestreben der Führungskraft, das freiwillige Engagement der Mitarbeiter für individuelle und/oder gemeinsame Ziele oder Aktivitäten zu gewinnen. • Mitarbeiter können sich motivieren, wenn die Zielerreichung oder Aktivität nicht nur den Interessen des Unternehmens, sondern auch ihren eigenen Interessen dient. • Motiv = Antrieb für ein Ergebnis (Ziel) • Motivation = Handlung zum Ergebnis (Energiefunktion) 3. Arbeitsabläufe planen (Geschäftsprozesse) Planung stellt eine gedankliche ... • Vorwegnahme von Handlungen • unter Unsicherheit • bei unvollkommener Information dar. Sie beruht ... • auf Prognosen über den zukünftigen Eintritt von Ereignissen und • dient der Ausrichtung aller Aktivitäten auf die Zielerreichung einer Organisation. Planung ist also immer eine Zeit-Abfolge von aufeinander aufbauenden und sich bedingenden Maßnahmen. 4. Führen mit Zielen (was soll in meiner konkreten Zukunft erreicht sein?) • Wer nicht weiß, wohin er will, darf sich nicht wundern, wenn er ganz woanders ankommt. • Wer das Ziel nicht kennt, findet auch nicht die Wege und Maßnahmen, um es zu erreichen. Merkmale eines Zieles: • Menge • Güte • Ressourcen • Zeit • Adressat Zielvorgabe — insbesondere aber Zielanweisung — steht im krassen Gegensatz zur Zielvereinbarung. Zielvereinbarung ist: Wechselseitige Abstimmung der Zielvorstellungen zwischen Führungskraft und Mitarbeiter. Zielvereinbarung führt ... 360

• zur Gemeinsamkeit der Zielvorstellung; • zur Integration der Ziele von Mitarbeiter, Führungskraft und Unternehmen; • zur Zielidentifikation aller Beteiligten. Ziele müssen so formuliert sein, dass ... • alle Beteiligten das Gleiche darunter verstehen, • die Zielerreichung gemessen werden kann. 5. Entscheiden (oder: das Erfolgreichste wählen) Aus realistischen Lösungsmöglichkeiten die beste auswählen. Unterscheiden Sie ... • Faktenentscheidungen und • Ermessensentscheidungen. 6. Delegieren (= übertragen) Was wird übertragen? 1. Jede Aufgabe, die Mitarbeiter (besser) wahrnehmen können. 2. Die zu dieser Aufgabe erforderliche Befugnisse/Kompetenzen, die benötigt werden, damit die Mitarbeiter die Aufgabe auch selbständig bewältigen können. 3. Die der Aufgabe und Kompetenz entsprechende Verantwortung (Ziehen Sie Konsequenzen!). 4. Unterscheiden Sie Aufgabenkompetenz und Verantwortungsdelegation! Warum wird delegiert? • Führungskräfte sollten keine Spezialisten (besser sein in jedem Bereich des Mitarbeiters), sondern eher Universalisten sein. • Sie sollten weitestgehend frei sein von Routine-, Detail- und Spezialistenaufgaben. • Soweit sinnvoll und möglich, sollte jeder Mitarbeiter sein eigenes, selbst zu verantwortendes Aufgabengebiet haben. Führungskräfte sind nicht gleichzusetzen mit Spezialisten im Sinne gewollter einseitig qualifizierter Mitarbeiter (Spezialfähigkeiten). Das in die Breite gehende fachliche Wissen der Führungskräfte ist ... • Grundsatzwissen und — Können • Erfahrungswissen und — Können • Methodenwissen und — Können über die Tätigkeiten der Mitarbeiter. Auf dieser Grundlage wird es der Führungskraft ermöglicht ... • ihre Mitarbeiter richtig einzusetzen, • sie koordinierend zu unterstützen/entwickeln, • ihre Leistungen zu messen und zu bewerten. 7. Koordinieren (zusammen bringen) Koordinieren steht in einem engen Zusammenhang mit Delegieren und Organisieren unter dem Aspekt der Erreichung des gemeinsamen Zieles. Koordinieren in diesem Zusammenhang bedeutet also ... • ein zielgerichtetes, • aufeinander abgestimmtes Regeln • von Sachprozessen und • menschlichen Beziehungen in einer konkreten Situation! = Zeitpunktbetrachtung. 8. Organisieren und verbinden (Mosaiksteine zum Bild entstehen lassen) Die zentrale Aufgabe einer Führungskraft im Sinne „organisieren” ist das Management von Strukturen. Sie besteht darin, die Organisationselemente ... 361

• Aufgaben, • Informationen, • Macht (formale Kompetenz) gedanklich, in einem Organisationsgefüge, auf ... • die Strukturträger Mensch und Arbeitsmittel zu verteilen (Differenzierung) und • deren zielentsprechende Koordination sicherzustellen (Integration). Im Zuge der Differenzierung sind folgende Aufgaben zu lösen: • die Verteilung von Aufgaben — Aufgabenstruktur • die Verteilung von Informationen — Kommunikationsstruktur • die Verteilung von Macht — Autoritätsstruktur • die Gestaltung von Strukturen — Aufbauorganisation • die Gestaltung von Prozessen — Ablauforganisation 9.Informieren und kommunizieren (Reden schafft Nähe und Verständnis) Ziel hierbei ist, den Mitarbeitern das Wissen und Können in Gesprächen, Ausbildungen, Beratungen usw. zu vermitteln, das notwendig ist, um die vereinbarten Ziele zu erreichen. Was müssen die Mitarbeiter wissen und können? • Informationen über die Arbeit selbst. • Über etwaige Zusammenhänge, die wichtig werden können, um die Aufgabe auch zielgerichtet erledigen zu können. • Information über das Arbeitsergebnis (die Qualität der Leistung). • Gedankliche und gefühlsmäßige Übungen, um die Aufgaben lösen zu können (Coaching). 10. Fördern und entwickeln (wer nichts kann, bleibt sitzen) Die Schwerpunktziele sind ... • regelmäßiges Gespräch zwischen Führungskraft und Mitarbeiter, um zu einem gemeinsamen effektiven und effizienten Arbeitsverständnis (Aufgaben- und Ergebnispotenzial) für die beiderseitigen Probleme zu gelangen und somit die Zusammenarbeit zu fördern; • sinnvolle Förderung des Mitarbeiters, wobei seine Interessen und die des Unternehmens zu berücksichtigen sind; • Bereitstellen von Nachwuchskräften; • der richtige Mann/die richtige Frau am entsprechenden Platz. 11. Mitarbeiter-Auswahl und Einsatz (nur aus Rohdiamanten können Sie was machen) • Qualifizierte Mitarbeiter (Fähigkeitsprofile) sind ausschlaggebend, wenn Ziele erfolgreich erreicht werden sollen. • Dabei ist es wichtig, dass die konkreten Anforderungen eines Tätigkeitsfeldes erfasst worden sind (Anforderungsprofil). Grundlagen dafür sind gut strukturierte Aufgabenprofile. 12. Mitarbeiter-Schutz (Vermeidung von körperlichen und psychischen Schäden = Fürsorgepflicht) • Mobbing erkennen und vermeiden • Arbeitsbedingungen und Arbeitsatmosphäre darf nicht zu körperlichen und seelischen Schäden (Krankheiten) führen • Zeitmanagement von mir und meinen Mitarbeitern • Haben ich und meine Mitarbeiter im Tageszeitplan sinnvolle Entspannungszeiten? • Ernährungs- und Essgewohnheiten? • Machen ich und meine Mitarbeiter ausreichend und richtig Urlaub? • Ist mein Privatleben wie ein sicherer Hafen? • Habe ich ein alternatives Hobby? 362

13. Selbstentwicklung (nur wer orientiert ist, kann Orientierung geben) • Tue ich das Richtige? — Effektivität • Tue ich das Richtige gut? — Effizienz • Bin ich aufgeschlossen? • Lerne ich? • Bin ich neugierig auf Veränderung? • Lasse ich mich „in Frage stellen”? • Reflektiere ich mein Handeln? • Kann ich mich „steuern”? 14. Messen und Bewerten (schaffen Sie Erfolgsnachweise) Es galt ... • kein Ziel ohne Ergebnismessung und es gilt • keine Ergebnismessung ohne Ziel. Jede Ergebnismessung der Arbeit des Mitarbeiters muss auf ... • einem (vereinbarten) Ziel, • Arbeitsanweisungen, • Arbeitsabläufen usw. beruhen. Was wird bewertet? 1. Wird der Mitarbeiter den Anforderungen gerecht, die seine Arbeit an ihn stellt? 2. Was leistet der Mitarbeiter qualitativ und quantitativ? 3. Wie arbeitet der Mitarbeiter mit Kollegen und Kunden zusammen? 4. Wie arbeitet der Mitarbeiter als Führungskraft mit seinen Mitarbeitern zusammen?

11.7.3 Basisliteratur MEIER, ROLF (2002): Führen mit Zielen. 2.Aufl. 2002, Regensburg, Walhalla Fachverlag

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11.8 Glaube von Björn Bergander

Mit einigen Begriffen versuche ich das Thema „Glauben“ einzugrenzen und in einen Rahmen zu bringen, ohne Glauben inhaltlich zu bestimmen oder festzulegen. Glaube und Religion, Glaube als Opium fürs Volk, Glaube gegen Verstand, Religion gegen Naturwissenschaft, Glaube und Aberglaube, Glaube und Ethik, Glaube in der Lebensgestaltung, Glaube und Tod, Glaube als Kulturträger ... Bei diesen Begriffen, die beliebig ergänzt werden können, merkt man schnell, dass das Thema „Glaube“ in sehr verschiedenen Ebenen des Lebens vorkommt. Folgende drei Ebenen bearbeite ich in kurzgefasster, und damit in plakativer Weise und trenne damit auch Bereiche, die eigentlich miteinander verwoben sind: • • •

Glaube in der Religion Glaube in der Auseinandersetzung mit dem modernen Wissenschaftsdenken Glaube und Glaubenssätze als Begründung für das Denken und das Handeln des Menschen

11.8.1 Glaube als religiöser Begriff Bei allen Ausgrabungen der frühesten Zeit wurden Gräber gefunden. In jeder Kulturform ist dabei festzustellen, dass es Grabbeigaben gab. Dies deutet darauf, dass die Menschen an ein Leben nach dem Diesseits glaubten. Dass Menschen überhaupt beerdigt wurden, zeigt, wie sehr die Menschen mit den Fragen nach Sinn und Zweck des Lebens beschäftigt waren. Es ist allerdings anzunehmen, dass es nicht nur die Fragen nach dem Jenseits waren, die Glaubensvorstellungen herbeiführten, sondern dass selbstverständlich auch Fragen nach der Lebensgestaltung im Diesseits Antworten erforderten. Dabei ist es egal, ob die Antworten animistische Denkstrukturen aufweisen oder ob es einen ganzen Götterhimmel gibt oder eine streng monotheistische Ausrichtung mit einem persönlichen Gott wie in den drei abendländischen Religionen oder gar an ein transpersonales Glaubenskonzept gedacht wird. Immer denkt der Mensch, dass es jenseits seiner eigenen Wirklichkeit und der Sphäre seiner eigenen Mächtigkeit ein ordnendes Prinzip gibt, das das Leben bestimmt, Leben gibt, Leben nimmt, Lebensumstände durch eingreifendes und oft unbegreifliches Handeln verändert, beflügelt, stärkt, segnet. Das führt die Menschen zu religiösen Riten, die sich gruppenintern entwickelten und sich zu Religionen mit ausgeprägter Theologie und Kultus verdichten. Die Wahrheit der jeweiligen Religion beweist sich in der Akzeptanz durch die Gruppe, den Stamm, das Volk und der einzelnen Person als vorläufige Wahrheit und gestaltende Lebenskraft … Das kann z.B. bedeuten, dass ich mich als katholischen Christ bezeichne, den dogmatischen Glaubensstand etwa der römisch-katholischen Kirche aber nur zum kleinen Teil übernehme. Dennoch entsteht hier so etwas wie eine stillschweigende Gruppenidentität, wobei eben nicht alle alles in gleicher Weise glauben werden, sondern sich nach Kaufhausmanier aus dem Regal der Angebote den ihnen passenden Glaubensinhalt heraussuchen und zu ihrem Glaubensstand machen. Ich meine: Menschen kreieren ihre Religion und begründen sie aus ihrem Erleben heraus auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und Sterbens. Diese kreierten Religionen — selbst wenn sie durch einen oder wenn sie einem charismatischen Führer geoffenbart werden — gewinnen Eigendynamik und prägen ihrerseits als Kulturträger das Denken und Fühlen der nachfolgenden Generationen im Gesamten und bei den Individuen, wobei diese ihrerseits wieder die religiösen Anschauungen, Riten und 364

Dogmatiken verändern und den Bedürfnissen und Erkenntnissen aus Wissenschaft, Medizin, Technik und sich veränderndem Menschenbild individualisieren und anpassen. Als These formuliere ich, dass je komplexer die Erlebniswelt wird, umso stärker wird der Mensch seine religiösen Glaubensvorstellungen individualisieren und abstrahieren. Immer sind aber mit diesen Glaubensvorstellungen auch Ethik und ethische Handlungsanweisungen verbunden, deren Nichteinhaltung durch Strafen und Konsequenzen geahndet wird. Dies kann z.B. durch irdisches Recht z.B. in Form gesellschaftlicher Ächtung, Bestrafung oder Tötung geschehen oder durch die Androhung von Konsequenzen im Jenseits. Die dazugehörigen Glaubensvorstellungen bilden die Negativfolie des religiösen weiterführenden Denkens. Nur wenn Du dies oder jenes einhältst und für wahr ansiehst, wirst du im Hier und Heute und vor allem im Jenseits belohnt und gesichert sein, andernfalls droht Tod und Hölle. In diesen dualistischen Wenn-Dann-Strukturen liegen die Machtmittel von Kirche, Sekten oder Gurus und die krankmachenden bzw. gesundmachenden Anteile des menschlichen Gewissens und Glaubens. Als Linie: je mehr sich die geistige Entwicklung individualisiert und zur Eigenverantwortlichkeit drängt, um so stärker individualisieren und abstrahieren sich auch die Glaubensvorstellungen. Aber es gilt auch, dass sich die Grundfragen nach Sein und Sinn, Leben und Sterben, Glück und Unglück, Tun und Gerechtigkeit in jeder Generation immer neu stellen und mit Glaubenssätzen, die sich aus dem Diskurs herausdestillieren, beantwortet werden. Das heißt, Religion und Glaubensvorstellungen sind schmetterlingsartig. Grundlegende Glaubensvorstellungen überdauern und verpuppen sich und entfalten sich in neuen Formen, um sich wieder zu verpuppen und erneut Form zu gewinnen und so wieder Lebenskraft für die Menschen zu entwickeln. Nun behaupten immer wieder Menschen atheistisch zu denken und zu leben. Ich kann mir hier kein Urteil anmaßen, ob man überhaupt nichtglauben kann. Allerdings bin ich der Meinung, dass selbst so eine Aussage, wie „Nach dem Tod ist alles aus!“ ebenso dem Glaubensbegriff, wie ich ihn oben skizziert habe, unterliegt. Zumindest ist auch diese Aussage ein Glaubensbekenntnis wie etwa „Es gibt keinen Gott!“ Damit habe ich den weitest möglichen Bogen gespannt und den Menschen definiert als ein Wesen, das immer auf transzendierenden Glauben ausgerichtet ist — selbst in der Negation. Auch wenn versucht wurde, den Menschen als unreligiös zu erziehen, gelang höchstens eine unkirchliche Erziehung, die Frage nach dem Sinn des Lebens und ob es jenseits des Todes eine Daseins- und Existenzform gebe, ist damit nicht wegerzogen worden. Ich definiere den Menschen im Unterschied zum Tier dadurch, dass er Glauben in eine wie auch immer definierte Wesenheit oder Kraft jenseits des menschlichen Lebens und Sterbens entwickelt und diesen Glauben dann nötigenfalls bis zur Selbstaufgabe leben kann. Im Übrigen verweise ich darauf, dass praktisch in allen „Hochreligionen“ Tausende von Theologinnen und Theologen, Philosophinnen und Philosophen Tausende von Büchern geschrieben haben, die sich intensiv mit dem Thema Glauben auseinandergesetzt haben. Wer da tiefer graben möchte, was religiöser Glauben heute bedeuten kann, wird bei D. BONHOEFFER fündig werden oder kann auch im PublikForum sich damit auseinandersetzen etwa unter dem Stichwort „populäre Religion“, wobei hier Glaube und seine rituelle Ausprägung als Religion gleichgesetzt wird.

11.8.2 Glaube in der Auseinandersetzung mit moderner Wissenschaft Auch hier könnten unendlich viele Bücher, ebenso viele Belegstellen und Diskussionsbeiträge angeführt werden. Jedoch reicht hier ein Verweis auf jede größere Enzyklopädie. Ich versuche eine subjektive Kurzdarstellung. 365

Fakt ist, dass Wissenschaft in heutiger Ausprägung zwei Wurzeln hat, die in allen Kulturen zur Ausformung von so etwas wie exakter Wissenschaft geführt hat. Zum einen das Handwerk. Diese Wurzel führte von einfachen Erfindungen, aus ganz pragmatischen Gründen und unter Einbeziehung des jeweiligen Beobachtbaren, zu immer stärkeren Abstraktionen und damit zur Beschäftigung mit dem Seienden an sich und zum Versuch, die Ursachen dahinter zu ergründen und zu systematisieren. In diesen Strang floss dann zum anderen die Theologie in ihrer philosophischen Ausprägung mit ein. Theologie ist hier, wie ich oben beschrieben habe, die Frage des Menschen nach dem Sinn und Ziel des Menschseins, nicht die theologia practica, die sich den Fragen des Kultus widmet. Und da diese Motive sich nicht widersprachen, war Wissenschaft ungeteilt und diente der Erforschung, Erklärung des Menschseins und der Weiterentwicklung des Zusammenlebens. Dass dabei die Interessensgebiete nicht nach unserem heutigen Muster sauber abgegrenzt waren, ist klar und verständlich. Die Mediziner waren Philosophen oder Theologen, die Philosophen konnten mathematische Interessen haben und gleichzeitig als Ingenieure Kriegsmaschinen bauen oder Bewässerungssysteme erfinden. Astronomen waren auch Astrologen. Weltbilder wurden nach dem jeweiligen Stand der Erkenntnisse gebildet. Schöpfungsmythen erklärten in der Rückschau nach neuestem Stand der Erkenntnis die Entstehung der Welt und des Menschen. Unterschiedliche Standpunkte konnten kontrovers ausdiskutiert und heftig umstritten sein, standen aber in lebhaftem Diskurs und Austausch. Dass z.B. an der großen Universität von Alexandria alles an Büchern und Wissen gesammelt wurde, was irgend erreichbar war, und dass dort alles gelehrt und gehört werden konnte, was von Menschen mit einiger Bedeutung gelehrt oder gedacht wurde, zeigt den damaligen Wissenschaftsbegriff. Problematisch wurde es mit der Freiheit der Wissenschaft, als die Buchreligionen entstanden, die für sich jeweils behaupteten, durch Real- oder Verbalinspiration direkt von Gott die letztgültige Wahrheit über das Menschsein und das Himmelreich erhalten zu haben. Mit der Ausprägung von Dogmatiken, die z.B. aus christlicher Sicht für das Abendland einen Rahmen des zu Denkenden und zu Glaubenden festlegte und wodurch die Führer der Religion durch das politische Herrschaftssystem die Macht bekamen, diese Denkbegrenzungen auch mit Gewaltmaßnahmen durchzusetzen, entstand ein neues System der Wissenschaft. Die im weitesten Sinne festgelegte und begrenzte Theologie wurde allen anderen Bereichen übergeordnet und legte diese ebenfalls fest und begrenzte sie. Dadurch wurde die Freiheit des Denkens und des Forschens so beschnitten, dass sie entweder in aller Heimlichkeit betrieben wurde, ohne jede Chance, sich im wissenschaftlichen Diskurs durchzusetzen, oder sie fand außerhalb des Bereiches der christlichen Kirchen statt, z.B. im Bereich des damals aufgeklärten Islam. Im christlichen Abendland fand diese Periode der Stagnation des Denkens erst im Zeitalter der Reformationen ihr Ende. Da, wo wieder unterschiedlich geglaubt werden konnte, wurde auch wieder frei geforscht. Dieses Zeitalter der Reformationen fand nach meinem Dafürhalten in der Aufklärung seinen Abschluss. Jetzt allerdings in der Betonung, dass nur noch das als Wissenschaft gesehen wurde, was klar, exakt, vernünftig und ohne jeden Bezug zu irgendeiner Philosophie oder Theologie gedacht und erklärt werden konnte. Theologie wurde universitär nur noch soweit geduldet, als sie wissenschaftlichen, rationalen Standards folgte. Damit wurde Theologie letztlich zwiegespalten in einen Bereich der universitären Theologie und den der kirchlichen Ausprägung. Im universitären Bereich wurde historische Forschung betrieben und die Bibel zum Forschungsgegenstand erklärt. Eindeutig entstand damit ein Primat der „exakten“ Wissenschaft über alles zu Denkende. Der kirchliche Gemeindebereich wurde so zum Asyl für alles zu Glaubende, für alles, das sich exakter Nachweisbarkeit entzog, zum Rückzugsgebiet der Mystik, der Selbsterfahrung in Trance und in der Ekstase. Aber es geschah auch, dass in einer Art praktischer Theologie Erkenntnisse der historisch-kritischen Methode und der uralten Glaubenstraditionen in Kultus umgesetzt wurden. Hier sind die Glaubenssätze, die wirklich von den Menschen geglaubt und gelebt werden, beheimatet und prägen das persönliche Leben. Wenn auf der einen Seite Wissenschaft wieder Freiheit erringen konnte, entstand 366

im kirchlichen Bereich eine immer stärker werdende Situation der Individualisierung. Das bedeutet bis heute: auch durch die immer stärker werdende Globalisierung und das Kennenlernen von anderen religiösen Überzeugungen, dass der Gläubige gefragt war und ist, seinen eigenen Glauben zu entwickeln und ihn selbst für sich in eine möglicherweise bruchstückhafte Form zu gießen, ohne ihn durch kirchliche Autoritäten noch sanktionieren lassen zu müssen. Die Bedeutung der christlichen Dogmatik als Denk- und Glaubensrahmen ist vorbei und wird gerade durch den Zerfall des strukturierten Christentums dokumentiert. Eine ähnliche Entwicklung wird übrigens auch für den Bereich des Islam bzw. aller anderen Religionen vorhergesagt. Auch wenn immer wieder restaurative Strömungen zu sehen sind — diese Entwicklung ist nicht zu stoppen. Stattdessen entstehen kleine Gruppen von Menschen, die sich nun auf ihre inneren Wurzeln besinnen und sich individuell auf die Suche nach tragfähigen Antworten auf ihre Fragen nach Sinn und Ursache des Lebens begeben. Individualisierung des Glaubens bedeutet nun aber auch, dass exakte Wissenschaft ihrerseits nur noch begrenzt wird durch die individuelle Ethik der Wissenschaftstreibenden und durch einen öffentlichen Diskurs, was durch Wissenschaft gemacht werden darf. Gerade die Fragen der Medizinethik zur Embryonenforschung, zur Sterbebegleitung oder im Bereich der Forschungen zur Energiegewinnung — also die Diskussion um Atomkraft — zeigen dies auf. Was und wie geforscht werden kann, hängt von den individuellen Glaubenssätzen und vom öffentlichen Willensentscheid und von den daraus rührenden rechtlichen Bestimmungen ab. Die verfassten Religionen sind hier dann nur noch eine Stimme unter vielen. Die Gefahr ist offensichtlich und erkannt. Wenn Wissenschaft in ihrem Primat weitgehend ungebremst und unbegrenzt ist, können Entwicklungen entstehen, die gefährlich und oft menschenverachtend sind. Machbares wird dann gemacht, das alles muss aber von und vor niemanden mehr verantwortet werden. Denker wie HANS KÜNG fordern und versuchen deshalb eine Weltethik zu installieren, in der auf das Gemeinsame, das Lebensfördernde hingearbeitet wird, sodass den Wissenschaftlern, den Politikern, den Wirtschaftslenkern und den Wählern wieder Werkzeuge zur Verfügung stehen, die Richtung und Wegweisung sein können. Wissenschaft und Glaube globalisieren sich suchend ein neues Miteinander, eine neue aufgeklärte Ethik, die jenseits der individuellen Glaubenssysteme eine Einheit der Menschheit oder der Erde postuliert.

11.8.3 Glauben und Glaubenssätze als Begründung für das Denken und das Handeln des Menschen Bisher war mit dem Begriff „Glauben“ immer der religiöse Aspekt von Glauben gemeint. Dies muss nun ausgeweitet werden. Denn Glaube ist viel mehr als ein Glaube an irgendeine Form von Göttlichkeit. Ich stelle die These auf, dass der überwiegende Teil unseres Lebens nicht von rationalen Begründungen geformt und entschieden wird, sondern von zumindest oft unbewussten individuellen Prägungen oder Glaubenssätzen. Glaubenssätze sind dabei alle aus Erziehung, Erfahrung und Überlegung seit frühester Jugend entstandenen Grundannahmen und Grundüberzeugungen, die jemand von sich, über sich, über die Menschen, über das Leben gewonnen hat und die zu einem unbewussten dogmatischen System der Selbst- und Weltsicht geworden sind. Und da sie unbewusst sind, können sie erst bearbeitet und verändert werden, wenn sie aus dem einen oder anderen Grund z.B. im Zuge einer inneren Auseinandersetzung bei sich widersprechenden Glaubenssätzen, bei einer nötigen Therapie oder eines Verhaltenstrainings an die Oberfläche kommen. Bis dahin entziehen sie sich dem logischen, rationalen Zugriff, sind aber dennoch die alles bestimmende Grundkraft der Lebensgestaltung.

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Da inzwischen als relativ sicher angenommen werden kann, dass nur ca. 7 % aller Entscheidungen eines Menschen aus dem Bewussten heraus gesteuert sind, die übrigen 93 % aber aus dem Unbewussten heraus, können wir annehmen, dass die Glaubenssätze neben den Instinkten die Grundlagen unserer Entscheidungen, die Ansichten zu Leben und unserer Weltsicht bilden. Bestimmte Auslöser oder Trigger lassen automatisch eine Kette von Handlungen und Reaktionen anlaufen, die rational so unter Umständen nicht getroffen worden wären. Diese Grundüberzeugungen oder Glaubenssätze helfen uns allerdings auch, die Millionen von täglichen Informationen zu bearbeiten und zu gewichten. Die Glaubenssätze erschließen uns die Gegenwart, gewichten aber auch die Erinnerung an das Vergangene und öffnen uns die Erwartungen für die Zukunft und steuern die nötigen Handlungen, die gewährleisten, dass diese Zukunftserwartungen dann auch so eintreffen und erlebt werden. Wer etwa einen Glaubenssatz „Ich komme immer zu kurz“ hat, wird in seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft immer nur die Bestätigung dieses Satzes erleben als eine Art von self-fullfilling prophecy. Denn alle anderen Deutungsformen widersprechen diesem Satz und können darum nicht zugelassen werden. Treten allerdings zwei oder mehr Glaubenssätze in Konkurrenz, kommt es zu inneren Konflikten, vor allem, wenn damit auch negative Urteile über die eigene Person verbunden sind. Solche einschränkende und konkurrierende Glaubenssätze können, da sie ja einmal entstanden sind, auch wieder verändert werden. Ich lerne das, was ich glaube. Oder auch: Ich kreiere meine Weltsicht immer wieder neu. BERTRAND RUSSEL und ALFRED NORTH-WHITEHEAD mit ihrem „Prinzipia Mathematica“, GREGORY BATESON mit seiner „Ökologie des Geistes“ und vor allem ROBERT DILTS mit seinen „Veränderungen von Glaubenssystemen“ haben hierfür das Modell der neurologischen Ebenen Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt und bereitgestellt. Dieses System erklärt, wie Glaubenssysteme entstehen und wie Veränderungen möglich sind. Anmerken möchte ich hierzu, dass diese Glaubenssysteme nicht nur als individualistische Lernsysteme betrachtet werden, sondern durchaus auch auf komplexe Systeme wie die einer Gruppe, einer Religion oder Ideologie angewendet werden können. Aus ALEXA MOHLS „Der große Zauberlehrling“ führe ich die Systematisierung von S.773 mit meinen Erläuterungen an: 1.

2.

3.

4.

5.

Äußere Einflüsse (Umgebung) entscheiden darüber, mit welchen äußeren Möglichkeiten oder Hindernissen ein Mensch sich auseinandersetzen muss. Steht in Beziehung zum Wo und Wann des Lernens. Verhaltensweisen sind die spezifischen Aktionen oder Reaktionen eines Menschen in der äußeren Situation. Steht in Beziehung zum Was des Lernens. Fähigkeiten leiten Verhaltensweisen mit Hilfe einer mentalen Landkarte, eines Plans oder einer Strategie und geben dem Verhalten eine Orientierung. Steht im Zusammenhang mit dem Wie des Lernens. Glaubenssätze und Werte liefern die Verstärkung (Motivation und Erlaubnis), die Fähigkeiten unterstützen und behindern. Steht in Beziehung zum Warum des Lebens. Identität beinhaltet die Rolle, die Mission und/oder den Selbst-Sinn (Selbstgefühl) eines Menschen. Steht in Beziehung zum Wer des Lernens.

Nach DILTS und Anderen erwerben oder erlernen wir alle in unseren je eigenen Kulturkreisen unsere internen Glaubenssätze, die von einfachen Verhaltensweisen bis zur Sinnfrage alle Ebenen des Seins umfassen. Dies bedeutet: 368

In meiner Umwelt und in der Auseinandersetzung mit ihr mache ich als Person die ersten prägenden Erfahrungen. Eltern, Geschwister, Freunde vermitteln ganz konkret bestimmte Einsichten und Erkenntnisse und bringen mich als Person dazu, bestimmte Verhaltensmuster zu lernen und anzunehmen. Sie vermitteln mir einen ersten Blick auf mein Sein. Meine Umwelt nimmt mit ihren eigenen Glaubenssystemen dauerhaft Einfluss auf mein Denken und Handeln. Damit sind Ort, Zeit und Inhalt des Lernens bzw. vieler meiner Glaubenssätze definiert. Natürlich bringt mir jede neue Umgebung, jeder neue Freundeskreis, jeder neue Kulturkreis, in den ich eintauche, neue Inputs. In der Auseinandersetzung mit meiner Umwelt und den daraus gelernten Verhaltensweisen entwickeln wir unsere angeborenen Fähigkeiten weiter oder lassen sie verkümmern oder brach liegen. Durch Veränderungsarbeit an der mentalen Landkarte können verkümmerte Fähigkeiten neu gelernt und als Verhaltensweisen wieder lebendig werden, während andere unwichtiger werden. Dies erklärt, warum jemand so ist, wie er ist und handelt, wie er gewohnt ist zu handeln. Daraus entstehen sowohl die bewussten wie die unbewussten Glaubenssätze, die zugleich den Wertekanon des Einzelnen bilden und sogar seine Identität definieren. „Wer bin ich?“ kann damit beantwortet werden. „Ich bin Alkoholiker, also handele ich so wie ein Alkoholiker, ohne Alkohol kann ich nicht leben. Und schon meine Eltern waren so.“ Aber auch: „Ich bin ein Mensch, der anderen gerne hilft, das habe ich von meinen Eltern gelernt und der Sinn meines Lebens besteht daraus, Anderen zu helfen, nötigenfalls bis zur Selbstaufopferung!“

11.8.4 Fazit Glaube bestimmt in allen Lebensbereichen, ob bewusst oder unbewusst, ob intern oder nach außen auf eine Gottheit gerichtet, unsere Lebensgestaltung, unsere Identität und unser Sein. Glaube ist hier weder positiv noch negativ bestimmt und erfährt keine Wertung an sich. Fördert er mich oder schadet er mir, fördert er die Gruppe, in der ich lebe, oder hindert er sie. Die Frage nach der Wahrheit des Glaubens stellt sich nicht, da Glaube und Glaubenssätze immer individuell im Einzelnen entstehen als Reaktion auf die Lebensfragen. Menschen können diese Glaubenssätze als Aktion verändern, wenn sie entweder die Umwelt wechseln, neue Verhaltensformen erlernen, oder gar eine Art innerer Neugeburt erleben, die ihnen den Sinn ihres Lebens anders als bisher erschließen. Mein Glaube ist meine Wahrheit und ich schaffe und verändere meinen Glauben und damit meine Lebenswahrheiten.

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11.9 Handlungslernen von Barbara Becker

Lernen als bewusste Handlung: Lernen wird als ein bewusster Prozess betrachtet, der vom Lernenden gesteuert wird. Auf der Grundlage von Informationen und Ressourcen (wie Erfahrung, Werte) legt der Lernende sich ein Konzept für das kommende Tun zurecht. Dieses Konzept schließt die Analyse der Ausgangssituation, das Handlungsziel sowie die verfügbaren Mittel ein. In einer nachfolgenden Orientierungsphase prüft er, ob das Konzept für ihn subjektiv ausreichend war. Ist dies nicht der Fall, werden weitere Informationen abgefragt und das Handlungskonzept überarbeitet. Hinsichtlich des ursprünglichen Handlungskonzeptes und der gesetzten Ziele wird die Realisierung des Tuns überprüft. Daraufhin erfolgt die Speicherung der Handlung im Gedächtnis. Diese Erfahrungen stehen dann als Ressourcen zur Bearbeitung künftiger und ähnlicher Aufgaben zur Verfügung. Der Lernende verfügt über Handlungsalternativen (Wie gehe ich vor? Welche Informationen benötige ich? Welche Hilfsmittel setze ich ein?), er entscheidet sich aufgrund eigener Zielsetzungen. Der Wissenserwerb erfolgt durch die bewusst ausgeübte Handlung. Handeln ist dabei nicht unbedingt sicht- und beobachtbar, sondern kann sich auch durch eine Entscheidung des Individuums zum Nicht-Tun ausdrücken. Lernen als — bildende — Aneignung: Handlungslernen meint Wissensaneignung, vom Lernenden aus gedacht. „Lernen ist ein Prozess der Aneignung von Wissen und Fertigkeiten, Einstellungen und Haltungen in aktiver Auseinandersetzung mit der eigenen Erfahrung: Weder übernimmt man Gedanken von außen, verleibt sie sich einfach ein, noch passt sich ein Individuum einfach an die äußeren Verhältnisse an. Lernen ist nicht einmal nur der wechselseitige Prozess von Übernahme und Anpassung, sondern ein aktives Neuproduzieren von Erarbeitungsmustern und Ergebnis. Lernen verändert nicht nur das Individuum, sondern auch seine Umwelt, indem es aktiv in sie eingreift“ (SCHEILKE nach MEUELER 1998, S.119). Dadurch verändert sich auch der Blickwinkel der Gesamtdisziplin Pädagogik bzw. Andragogik: Lernen ist nicht mehr eine Frage der optimalen Vermittlung. Stattdessen treten Überlegungen wie: Welche Hilfen oder Anregungen können das eigenständige Lernen, die Wissensaneignung des Subjekts unterstützen? Handlungsorientierte Didaktik: Eine Reihe von (Schul-)PädagogInnen hat diese Erkenntnisse zum Anlass genommen, nach Wegen zu suchen, theoretisches Lernen auf der Grundlage eigenen Handelns zu ermöglichen und Lernen durch praktische Arbeit anzuleiten bzw. Gelerntes durch praktische Erfahrungen zu fundieren und abzusichern. Auf diese Weise entstanden neben dem originären Begriff „Handlungslernen” für die pädagogische Literatur Folgebegriffe wie „Handlungsorientierung“, „handlungsorientiertes Lernen”, „Handlungsorientierte Didaktik“, „handlungsorientierter Unterricht”. Diese Ansätze konzentrieren sich auf Handlungslernen als einen beobachtbaren Vorgang.

11.9.1 Anfänge, Ursprünge und Quellen der Wissenschaftsdisziplin In der didaktischen Diskussion ist der Fokus auf menschliches Handeln nicht neu, sondern reicht von COMENIUS über PESTALOZZI, DILTHEY, KERSCHENSTEINER und LITT bis in die Gegenwart. Im Vordergrund der Kritik an bestehenden Lerntheorien und Lehrsystemen steht die sachlich und lernpsychologisch nicht gerechtfertigte Trennung von „Theorie” und „Praxis”. „Deshalb müssen Dinge, nicht die Schatten von Dingen, der Jugend zum Kennenlernen geboten werden: Dinge sage ich, dauerhafte, wahre, nützliche Dinge, die auf Sinne und Vorstellungsvermögen stark einwirken. Dies tun sie aber, 370

wenn man sie so nahe bringt, dass sie wirklich erfasst werden” (COMENIUS). Implizit wurde also menschliches Handeln als Medium zur Aneignung von Wirklichkeit und als wesentlicher Erfolgsfaktor für menschliches Lernen angenommen. Den Ursprung für selbstgesteuertes, handlungsorientiertes Lernen findet man in Ansätzen der Humanistischen Pädagogik. Solche Ansätze sind unter anderem von HUGO GAUDIG (die Selbsttätigkeit des Schülers), MARIA MONTESSORI (selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter), FREINET (genossenschaftliche Klassenführung), CARL ROGERS (ganzheitliches Menschenbild basierend auf selbstgesteuertem Lernen), ALEXANDER SUTHERLAND, NEILL UND PAULO FREIRE (Einfluss auf selbstgesteuertes Lernen durch alternative pädagogische Lernformen) geprägt worden. Seit den 1960er-Jahren wird in den neueren Geistes- und Sozialwissenschaften das menschliche Handeln als zentrale Kategorie im Verhältnis von Mensch und Umwelt herausgehoben. Damit verbundene Forderungen an die Pädagogik legen eine Handlungsorientierung des Lernens und Lehrens nahe. Unterstützt wurde dieser Prozess spätestens Mitte der Achtzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts durch tief greifende gesellschaftliche und technologische Veränderungen, die auch eine Veränderung der erwachsenenbildnerischen Didaktik notwendig machten. Die zunehmende Verbreitung medialer Vermittlung von Ereignissen und Situationen etwa sorgte für den Verlust von originären Erfahrungen der Lernenden. Für HERBERT GUDJONS ist handlungsorientiertes Lernen der Versuch, auf diesen Wandel eine pädagogische Antwort zu finden, indem — statt Sekundärerfahrungen — unmittelbare Erfahrungen ermöglicht werden. Zusätzlich sorgt die rasche technologische Entwicklung für immer kürzere Verfallzeiten beruflicher Kenntnisse. Die Forderungen an das Aus- und Weiterbildungssystem lautete daher: mehr Anleitung zum selbständigen Lernen, mehr Handlungsorientierung. Ein Grund für die Aktualität des selbstorganisierten bzw. selbstgesteuerten Lernens liegt im Wechsel der wissenschaftlichen Perspektive, weg vom Modell des behavioristischen und kognitivistischen Lernens hin zu konstruktivistischen und subjektorientierten Modellen, die die aktive Rolle der Lernenden betonen.

11.9.2 Entwicklung und bedeutende Richtungen der Wissenschaftsdisziplin und ihre VertreterInnen Die Unzufriedenheit zahlreicher Pädagogen mit der aus ihrer Sicht veralteten und nur bedingt wirksamen Realität in Lehr-Lern-Prozessen führte zu Überlegungen, die mit Handlungsorientierung im weiteren Sinne umschrieben werden können. Behavioristische Lerntheorien zum Beispiel von I. PAWLOW und B. SKINNER sehen Handeln als eine Reaktion auf äußere Reize, auf eine äußere Bedingung bzw. einen Bedingungszusammenhang und lassen die inneren Prozesse eines Menschen außer Acht. Kognitionstheoretische Lerntheorien versuchten, die Lücken des Behaviorismus zu füllen und beschäftigen sich damit, wie sich das Lernen im Individuum abspielt. Das Interesse gilt, beispielsweise bei WOLFGANG KÖHLER und JEAN PIAGET, vorrangig den Fragen, wie Informationen aufgenommen, wie sie verarbeitet und strukturiert werden, wie Gedächtnis funktioniert und wie Problemlösungsstrategien entwickelt werden. Der aktiv handelnde Mensch ist eingebunden in soziale Bezüge und verfolgt vor dem Hintergrund seiner (auch körperlichen) Existenz Lebensinteressen.

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Auf der Ebene der erwachsenenbildnerischen Theoriebildung beginnt sich seit Ende der 1970er Jahre ein durch den Konstruktivismus geprägter Diskurs durchzusetzen. Mit ihm rückt ein Thema in das Zentrum erwachsenenbildnerischer Programmatik, das meist unter dem Begriff „subjektorientiertes”, „selbstgesteuertes”, „selbstorganisiertes Lernen” firmiert. Erst lerntheoretische Konzepte auf der theoretischen Basis des gemäßigten Konstruktivismus stellen den Menschen und seine jeweils subjektiven Konstruktionen in den Mittelpunkt des Geschehens. Die Gewichtung der Aneignungsperspektive und die Wertschätzung des Individuums und die Ablehnung einer Herstellungsperspektive machen deutlich: Bildung ist nicht herstellbar. Im deutschen Sprachraum ist die interaktionistisch-konstruktivistische Lerntheorie neben der Schule vor allem in der Erwachsenenbildung und Weiterbildung breit entwickelt. Einschlägige Einführungen finden sich bei KERSTEN REICH, ROLF ARNOLD und HORST SIEBERT. In der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie haben Pädagogen wie KLAUS HOLZKAMP und PETER FAULSTICH eine weitere Wende vollzogen: Sie reden über Lernen nicht als Bedingtheit, die durch äußere Reize verursacht wird, auf die Menschen lediglich passiv reagieren. Holzkamp ersetzt diesen Bedingtheitsdiskurs durch einen Begründungsdiskurs. Er fragt: „Was sind eigentlich die Gründe, warum Menschen lernen? Warum wollen Menschen lernen?”

11.9.3 Typische Fragestellungen der Wissenschaftsdisziplin Auf der Ebene der Bildungstheorie ist die Diskussion über Subjektorientierung und konstruktivistische Ansätze noch in vollem Gange. Leitend sind Fragestellungen wie: Wie lernen Menschen und wie laufen Lernprozesse ab? Was motiviert Menschen zum Lernen? Wie lassen sich die inneren Prozesse des Lernens abbilden und erklären? Auf didaktischer Ebene kristallisieren sich folgende Fragen heraus: Wenn Lernen nicht mehr bedeutet, einen Stoff aufzunehmen, sondern selbstständig und in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlich verteiltem Wissen neue Wissensstrukturen aufzubauen: Wie kann dieser Anspruch methodisch umgesetzt werden? Unabhängig vom theoretischen Hintergrund der Idee des Handlungslernens ist die klassische Fragestellung, wie Lehr-Lern-Prozesse bestmöglich gestaltet und unterstützt werden können. Wie müssen didaktische Konzepte aussehen, wenn vom handelnden, selbstständigen, konstruierenden Subjekt ausgegangen wird? Wie kann die Rolle der Lehrenden neu definiert werden, um dem Handlungslernen gerecht zu werden und Lernprozesse entsprechend zu unterstützen? Wie kann expansives Lernen ermöglicht oder gar provoziert werden? Wie können Lehrende und Lernende mit Lernwiderständen umgehen?

11.9.4 Typische Grundannahmen, Axiome und Theoreme des Handlungslernens Lernen wird nicht mehr vorrangig als ein von außen kontrollierter und steuerbarer Prozess verstanden. Der Lernprozess wird vielmehr als eine vom Lernsubjekt getragene Aktivität gesehen, wobei die Person eine Vielzahl individueller Voraussetzungen in die Situation einbringt und in Interaktion mit der jeweiligen Umwelt ihre Gedächtnisstruktur weiterentwickelt. In der konstruktivistischen Theorie über Handlungslernen wird davon ausgegangen, dass Lernende, wenn sie Informationen im Gehirn verarbeiten, dabei Veränderungen in den gespeicherten Strukturen erzeugen. Diese Veränderungen werden als Lernen bezeichnet, unabhängig davon, ob sie bewusst oder unbewusst erfolgen. Beim entdecken372

den Lernen werden die zu speichernden Informationen sogar auf der Grundlage des Vorwissens selbst erzeugt. Jede Handlung ist in sich geschlossen und zielgerichtet. Bewusstes Lernen wird dadurch motiviert, dass wir uns im Geiste bereits vorstellen, zu welchen Aktionen uns das neue Wissen befähigen wird, wie z.B. die Aneignung neuer Fertigkeiten oder die Lösung bestimmter Problemstellungen. Lernen als aktiver Prozess greift auf individuell vorhandenes Wissen und Können zurück. Die Lernenden regulieren und halten ihr Lernen selbst in Gang. Die Lernbereiche müssen sich an Vorerfahrungen und Interessen der Lernenden ausrichten, da Lerninhalte am herausforderndsten sind, wenn sie sich auf den realen Erfahrungsschatz der Lernenden beziehen. Neben kognitiven Aspekten des Lernens sind Emotionen sowie die persönliche Identifikation mit dem Lerngegenstand bedeutsam. Das innere kognitive System steht dabei in Wechselwirkung mit den Informationen von außen. Der schrittweise Aufbau von Kognition erfolgt über die aktive Auseinandersetzung des Subjektes mit seiner Umwelt. Der Lernende verarbeitet diese Informationen unter Einbeziehung bereits vorhandener Informationen. Neue Informationen werden in ein organisiertes Netz vorhandenen Wissens eingepasst. Ein Lernen, das ohne konkrete Handlungsvollzüge im geistigen Handeln verbleibt, ist handlungsfern und um wichtige Rückkoppelungsprozesse verarmt. Kognitions- und handlungstheoretische Grundannahmen formulieren, dass zwischen dem Tun und Denken, zwischen Handlungen und Begriffen ein Kontinuum besteht. In subjektorientierten Ansätzen wird betont, dass Lernprozesse für den Lernenden dadurch gekennzeichnet sind, frei über die eigenen Zwecke und Absichten entscheiden zu können und nicht Objekt, bloßes Mittel fremder Absichten oder gesellschaftlicher Umstände zu sein: Absichten, Pläne, Vorsätze sind inhaltliche Stellungnahmen und Handlungsentwürfe vom Standpunkt der Lebensinteressen der Lernenden. Handeln unterstellt also Intention. Zum Handlungssubjekt-Sein gehört außerdem, dass man die zur Verfolgung dieser Zwecke erforderlichen Handlungen selbst ausführen kann oder sie ausführen lassen kann. Das betrifft die Aneignung bzw. den Besitz von entsprechenden Fähigkeiten oder die Verfügungsmacht über Personen, die diese beherrschen. Und es umfasst die Verfügung über die erforderlichen Mittel. Können bezieht sich aber auch auf die äußeren „Ermöglichungsbedingungen“, die Zugelassenheit von Handlungen. Handeln unterstellt also Können. Eine entscheidende Voraussetzung für Intention und Können ist das Wissen, über das eine Person verfügt und die Urteilskraft über die möglichen Entscheidungs- und Handlungsalternativen. Z.B.: Kenntnisse über die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen, die Existenz und Beschaffung von Mitteln, die geplanten Wirkungen bzw. Nebenwirkungen, die Reichweite vorhandenen Wissens bzw. Könnens und Bedarf von neuem Wissen. Intention und Können unterstellen folglich Wissen. Wille, Können, Wissen und Handlung sind untereinander abhängig und bedingen sich gegenseitig. Lernbegründungen, und im Gegensatz dazu Lernwiderstände, lassen sich also rückbeziehen auf Lebensinteressen der Person. Menschen lernen dann, wenn sie mit dem zu Lernenden eigene Interessen verbinden. HOLZKAMP betrachtet diesen Ausschnitt des Gesamtprozesses: Intentionales Lernen wird ausgelöst, wenn Menschen in Problemsituationen kommen, wenn das, was sie in ihrer Routine machen, nicht mehr erfolgreich ist. Denn solange Routinen greifen, haben Menschen keinen Anlass zu lernen, sondern handeln in bewährter Weise. Erst wenn die Routine zerbricht, entsteht eine Handlungs373

problematik. Die Diskrepanz zwischen „können” und „können wollen” will überwunden werden. Eine Lernschleife wird eingelegt. Der Lernende zieht sich aus dem unmittelbaren Handlungszwang zurück, versucht, Kompetenzen zu erwerben, die es ihm nach dem Lernen ermöglicht, die überfordernde oder herausfordernde Situation besser zu bewältigen. HERMANN FORNECK fasst zusammen, dass die „Didaktik des selbstsorgenden Lernens” nicht mehr davon ausgeht, dass Lernen das Aufnehmen von Informationen ist, sondern unter Lernen vielmehr Prozesse versteht, in denen Lernende aufgrund einer eigenen Motivation, etwas wissen zu wollen, sich mit Phänomenen, Ereignissen und Problemen auseinandersetzen und dabei ihre eigenen Denkstrukturen verändern, erweitern, vielleicht auch grundsätzlich in Frage stellen.

11.9.5 Typische Deutungsmuster, Analyse- und Lösungsstrategien des Handlungslernens In den Auswirkungen zeigt sich, dass die verschiedenen wissenschaftstheoretischen Ansätze des Handlungslernens schließlich häufig zu vergleichbaren Analyse- und Lösungsstrategien finden: Beim Handlungslernen wirkt der subjektive Eigenanteil der Lernenden mit der sozial-kulturellen Lernumgebung zusammen. Lernen ist dann am effektivsten, wenn die Lernenden ihren Lernprozess umfassend selbst steuern können. Jede/r weiß nach dieser Theorie selbst am besten, wie er/sie effektiv lernen kann. Allerdings setzt dieses Wissen eine Methodenkompetenz voraus, die erst in längeren Lernprozessen erworben werden muss. Selbst gesteuertes Lernen muss oft selbst noch gelernt werden. Daraus leiten sich vor allem für die konstruktivistisch orientierten BildungstheoretikerInnen grundlegende Aspekte für die Gestaltung von Lernumgebungen ab. Diese müssen mit realistischen Problemen, situiert in authentischen Umgebungen, einen Rahmen und Anwendungskontext für den Wissenserwerb bereitstellen. Ein soziales Lernumfeld soll kooperatives und gruppenorientiertes Lernen und Arbeiten fördern. Neue Lerninhalte dürfen nicht als fertiges Erkenntnissystem präsentiert werden. Sie erfordern vielmehr tatsächliche Freiheitsgrade, um eigene Wissenskonstruktionen, Interpretationen und Erfahrungen zuzulassen. Die geforderten Freiheitsgrade müssen vom Lernenden erkannt werden können. Die subjektorientierte Lerntheorie betont den Zusammenhang von Handeln und Lernen: Erforderliches Wissen muss angeeignet, die für das praktische Handeln notwendigen Fähigkeiten müssen erworben bzw. trainiert werden. Da Lernen auch mentale Prozesse beinhaltet, kann pädagogischer Erfolg an der Veränderung des Handelns oder Verhaltens nicht immer gemessen werden. Die Erweiterung der eigenen Orientierungs- und Entscheidungsgrundlage kann, muss aber nicht automatisch zum Handeln führen. Entscheidend sind die Handlungsgründe und -möglichkeiten des Subjekts. Dabei unterscheidet z.B. KLAUS HOLZKAMP expansives und defensives Lernen. Diese Unterscheidung zwischen expansivem und defensivem Lernen ist für die Interpretation von Lernwiderständen bedeutsam. Defensives Lernen bedeutet: Lernen unter Zwang, aus einer Abwehrhaltung heraus. Expansives Lernen hingegen impliziert, dass die Lernenden von ihren eigenen Lebensinteressen ausgehen und lernen, um eine Erweiterung ihrer Handlungskompetenz zu erwerben. Expansives Lernen kann also nicht erzwungen oder hergestellt werden. Lehrende können jedoch versuchen, Bedingungen herzustellen, unter denen mit größerer Wahrscheinlichkeit expansiv gelernt wird.

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Ausgehend von diesem Verständnis von Handlungslernen verändert sich die Rolle der Lehrenden ganz erheblich. Lernen zu ermöglichen, erfordert gegenüber dem traditionellen Verständnis der Rolle der Lehrenden eine neue, veränderte Rolle hin zum Berater und Initiator von Lernvorgängen mit hohen Freiheitsgraden. Der Lehrende wird zum Lernprozessberater. Die Lehrenden sollen sich eher im Hintergrund halten, Lernangebote schaffen, Wissensquellen bereitstellen, den Lernprozess beobachten und Möglichkeiten der Reflexion anbieten. Handlungslernen müsste also insbesondere dann verwirklicht werden können, wenn die folgenden didaktischen Prinzipien und Anforderungen an Lernende und Lehrende erfüllt sind (die Prinzipien sind dabei nicht als eine aufeinander folgende Reihe von Ereignissen, sondern als eine Auflistung zu verstehen): Didaktisches Prinzip

Anforderungen an die Lernenden

Anforderungen an die Lehrenden

Orientierung auf die Lernenden



Eigene Herausforderungen benennen wollen und können Akzeptieren, dass „Musterlösungen” bzw. statische Fachsystematiken nicht automatisch zu individuellem Lernerfolg führen



In jedem Prozessschritt AkteurIn sein Aufgrund des ureigensten Interesses entscheiden



Selbstständiges Lernen



• •

• •



Herausforderungen und Probleme der Lernenden herausarbeiten können (diagnostische Kompetenz) Verständigung über das Lernziel, den zu erreichenden Zielzustand herstellen können Nicht nach einer bestimmten Fachsystematik agieren, sondern die spezielle Herausforderung des Lernenden zum Anlass nehmen, den Lernprozess zu gestalten Entscheidungsmöglichkeiten anbieten und Entscheidungen forcieren können Sensibel sein, wenn der Lernende die Verantwortung dem Coach übertragen will

Soziales Lernen



Bereit sein, in Interaktion mit anderen zu gehen (Lerngruppe, Coach o.Ä.)



Methodenrepertoire haben, soziales Lernen zu gestalten (kontaktvermittelnde Kompetenz)

Ganzheitliches Lernen



Offenheit für Lernformen wie praktische Übungen, Experimente, Rollenspiele, Reflexionsmethoden ...



Kopf, Herz und Hand einbeziehen können (arrangierende Kompetenz) Wissen und Erfahrung im Umgang mit Lernblockaden (analytische Kompetenz)

Verantwortung für den Lernprozess tragen, Rückmeldung geben über Zufriedenheit mit dem Lernprozess und Lernerfolg



Die sukzessive Entwicklung des Lernprozesses „aushalten”



Exemplarisches Lernen

Problemorientiertes Lernen











Einzelne Settings als beispielhaft für das Lernziel auswählen können (selektierende Kompetenz) Auswahl der Beispiele transparent und flexibel gestalten) Lernschleifen mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden organisieren können Dem Lernenden helfen, persönliche und motivationale Probleme zu lösen (beratende Kompetenz)

11.9.6 Typische Anwendungsfelder des Handlungslernens und der handlungsorientierten Didaktik Besonders in der Diskussion über schulische Bildung und Schuldidaktik haben Grundannahmen über Handlungslernen und die dahinter stehenden Konzepte der konstruktivistischen Pädagogik und der Subjektorientierung Eingang gefunden. Hierbei wird insbesondere versucht, die Rolle der Lehrkräfte hin zum Prozessberater zu modifizieren. Findet einerseits die bildungstheoretische Diskussion noch 375

lange kein Ende, kursieren bereits Konzepte von konstruktivistischem handlungsorientiertem Unterricht oder handlungsorientierter Didaktik. Mit Konzepten des selbstgesteuerten Lernens versucht die Branche der beruflichen Fort- und Weiterbildung, die Erkenntnisse über Handlungslernen aufzunehmen und auf die aktuellen Entwicklungen (Lern- und Aneignungskompetenz als zentrale Schlüsselkompetenz, immer schnellerer Verfall aktuellen Wissens) zu reagieren. Feststellungen der Theorie über Handlungslernen haben sehr schnell Eingang in die Alltagspraxis von beruflicher Bildung und Personalentwicklung genommen. Beispielsweise finden sich die Grundannahmen des subjektorientierten Ansatzes (Handeln unterstellt Intention, Können und Wissen) in den von PersonalentwicklerInnen formulierten Voraussetzungen für Leistung und personale Entwicklung wieder. Handlungsorientiertes Lernen drückt sich ebenso in der verstärkten Adaption von handlungsorientierten Methoden wie Lernen durch Lehren, Outdoortraining, Management by Nature, Lernprojekte, (Hoch-)Seilgärten in der beruflichen Bildung aus.

11.9.7 Typische Kritik an Handlungslernen und handlungsorientierten Ansätzen Der Konstruktivismusdiskurs hat die andragogische Diskussion mit einem terminologischen Instrumentarium durchdrungen, dass dieser mittelfristig nicht mehr wegzudenken ist. Konzepte des selbstgesteuerten Lernens und Handlungslernens erscheinen auf den ersten Blick als Ausfluss einer spezifischen Rezeption des Konstruktivismus durch die Erwachsenenbildung. Kritisiert wird daran beispielsweise, dass der Konstruktionsbegriff selbst kaum mehr problematisiert wird, sondern lediglich als probates Instrument zur Problematisierung anderer Begriffe eingesetzt wird. Das entscheidende Problem liegt nicht bei der theoretischen Grundlage einer „konstruktivistischen Erwachsenenbildung”, sondern bei einer erwachsenenpädagogischen Rezeption, in der einmal die logisch nicht zu überbrückenden Differenzen zwischen Sein und Sollen eingeebnet werden. Bekannte reformpädagogische Topoi werden in die erwachsenenpädagogischen Felder gespült und dort von der Profession breit und eher unkritisch rezipiert. Die schnelle Aufnahme der Ideen und vor allem Begrifflichkeiten des Handlungs- und Selbstlernens führe zu einer neuen Dominanz von Chiffren, Worthülsen und vollmundigen Versprechungen auf dem Weiterbildungsmarkt. Vielfach habe man den Eindruck, die Propagierung neuer Ideen sei schon deren Realisierung. Doch dazwischen klaffe kritisch betrachtet eine immense Lücke. Kritisch betrachtet wird, dass „selbstgesteuertes Lernen” mit Hilfe eines veränderten Freiheitsbegriffs das Subjekt nicht im institutionalisierten Bildungsbereich, sondern als diesem gegenüberstehend, als „das Andere” dieses Bereichs verortet. Mit Konzepten des selbstgesteuerten Lernens gehe außerdem eine Entprofessionalisierungsstrategie, eine Veränderung der Organisationsformen und der erwachsenenpädagogischen Handlungslogik und -struktur einher.

11.9.8 Typische Begriffe und deren Deutung im Handlungslernen Um die Idee des Handlungslernens nachvollziehen zu können, ist das Verständnis folgender Begriffe und deren Deutung hilfreich: Behaviorismus Die dem beobachtbaren Verhalten zugrunde liegenden physiologischen Vorgänge gelten dem Behavioristen als uninteressant; aus seiner Sicht gehören sie zum Aufgabengebiet der Physiolo376

gen. Der Behaviorismus konzentriert sich auf Prozesse, die sich zwischen Organismus und Umwelt abspielen. Der Organismus selbst wird vom klassischen Behavioristen als Black-Box betrachtet. Kognitivismus Der Kognitivismus hat sich in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt (kognitive Wende). Der Begriff Kognition umfasst Prozesse des Wahrnehmens, Erkennens, Begreifens, Urteilens und Schließens. Die kognitive Psychologie beschäftigt sich mit der Frage, wie Menschen ihre Erfahrungen strukturieren, ihnen Sinn beimessen und wie sie ihre gegenwärtigen Erfahrungen zu vergangenen, im Gedächtnis gespeicherten, Erfahrungen in Beziehung setzen. Konstruktivismus Eine übergreifende Theorie mit psychologisch-philosophischen Grundlagen ist der Konstruktivismus. Der Konstruktivismus ist eine Theorie der Entstehung des Wissens von den Dingen, also eine Art Erkenntnistheorie, in welcher der aktive Prozess der Wissensentstehung betont wird. Die kognitive Entwicklungstheorie JEAN PIAGETS beschreibt das Lernen als dynamischen, intrapersonellen Konstruktionsprozess des selbsttätigen Individuums. Handlung vs. Verhalten Im Unterschied zum Beobachterbegriff des Verhaltens, der auf Mensch, Tier und Materie angewandt werden kann, beinhaltet jede Handlung eine Intention, eine (mehr oder weniger) bewusste Entscheidung, einen Grund für eine Tätigkeit oder eben Nicht-Tätigkeit. Handlungen sind Ereignisse, über die ein Subjekt versucht, auf die Welt Einfluss zu nehmen und in ihr intendierte Wirkungen auszulösen. Lernen In konstruktivistischen Ansätzen wird Lernen als das Konstruieren von neuen Wissenszusammenhängen definiert. In der Subjektorientierung meint Lernen das „wissend werden“ des Subjekts aufgrund einer bestimmten Motivation. Dieses Wissend-Werden stellt für das Subjekt eine Orientierungs- und Entscheidungsgrundlage dar.

11.9.9 Die Bedeutung des Handlungslernens für das Coaching Handlungslernen wie oben beschrieben lenkt den Blick grundsätzlich weg von einer wie auch immer gearteten normativen Ausrichtung gestalteter Lehr-Lern-Prozesse. Das lernende Subjekt, dessen innere Welten in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt, dessen Motivationen und Interessen stehen im Vordergrund. Was „gut“ und „richtig“ ist, entscheiden nicht diejenigen, die Lehr-Lern-Prozesse begleiten, sondern die Lernenden selbst. Die Rolle der Lehrenden ändert sich hin zur Lernbegleitung und -ermöglichung, die Lehrenden haben bzw. brauchen die Kompetenz, die Lernenden ihre eigenen Motivationen entdecken zu lassen und Vorschläge für die Gestaltung des Lern- also Aneignungsprozesses zu machen. Gleichzeitig warnt die Kritik an handlungsorientierten Ansätzen vor einer Beliebigkeit der Ziele und Inhalte, einer Entprofessionalisierung bei der Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen und einer unreflektierten Übernahme konstruktivistischer Positionen. Theoretische Einlassungen über Handlungslernen liefern also zahlreiche Anregungen für Coaching, den Umgang mit und die Haltung zu Coachees und die Zielstellung des Prozesses sowie natürlich die Selbstreflexion des Coaches. Die nachfolgende Grafik gibt die idealtypischen Phasen von Lehr-Lern-Situationen wieder, die theoretisch aufeinander folgen. In der Realität können diese Phasen sich überschneiden, einzelne Phasen können übersprungen werden oder zwischen den Phasen kann hin und her gependelt werden.

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Aufbau der Beziehung im Lehr-Lern-Prozess Einstieg gestalten Kennenlernen Angenehme Arbeitsatmosphäre schaffen Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit festlegen Anlass der Lernsituation erfragen Erwartungen klären Anliegen konkretisieren Schlüsselbegriffe aufgreifen Auswahl treffen lassen Hypothesen bilden Anliegen klären und formulieren Vertragsschluss Lösungsmöglichkeiten erarbeiten Blickwinkel erweitern Neue Perspektiven anbieten Kreativ Lösungsoptionen spinnen Lösungsmöglichkeit auswählen lassen Impulse für Handlungsoptionen geben Ressourcen der Lernenden einbeziehen Vorerfahrungen nutzen Lerninhalte anbieten Entwickeln eines Handlungsplans anleiten Handeln anregen Möglichkeiten für Handlungen anbieten Exemplarisches Tun/Üben Reflexion der Handlung Feedback/Controlling-Schleifen Rückkopplung zu Lernziel/Vertrag Lern- und Umsetzungserfolge erheben Gegenläufige Sanktionen identifizieren Gegenläufige Sanktionen abbauen Impulse für Transfer geben Handlungsplan entwerfen Vorsätze fassen lassen Umsetzung visualiseren Weitergehende Informationen anbieten Abschluss der Lernsituation Zusammenfassung Ausblick geben Evaluation

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11.9.10 Basisliteratur BENDER, WALTER (2004): Das handelnde Subjekt und seine Bildung. In: (ders. u.a.) (Hrsg.): Lernen und Handeln. Eine Grundfrage der Erwachsenenbildung. Schwalbach/Ts., S. 38-49 MÜLLER, HANS-JOACHIM (1996): Die Förderung von Selbsterschließungskompetenz durch handlungsund erfahrungsorientierte Modelle in der betrieblichen Bildungsarbeit. In: Arnold, Rolf (Hrsg.): Lebendiges Lernen. Baltmannsweiler: Schneider, S.229-254 SIEBERT, HORST (1996): Didaktisches Handeln in der Erwachsenenbildung. Didaktik aus konstruktivistischer Sicht. (Grundlagen der Weiterbildung). Neuwied u.a.: Luchterhand HOLZKAMP, KLAUS (1993): Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt am Main

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11.10 Kommunikation von Klaus M. Bernsau

11.10.1 Anfänge, Ursprünge, Quellen der Wissenschaftsdisziplin Das Nachdenken über Kommunikation ist vielleicht so alt wie das Nachdenken über den Menschen an sich. Die Frage, wie erschließe ich mir und anderen die Welt, beschäftigt Philosophen seit der Antike. Aber auch in nicht-westlichen Kulturkreisen sind diese Themen von Anbeginn an zentral für religiöse und weltliche Erkenntnis. Das Höhlengleichnis (die Welt teilt sich uns nur als Schatten ihrer selbst mit) und die Rhetorik (kann ich die Worte so formen, dass sie beim Zuhörer die von mir gewünschte Wirkung erzielen, oder gibt es darüber hinaus universale logische oder ethische Kriterien?) sind zeitlose Anker, um sich dem Kommunikationsbegriff kritisch zu nähern. Viele Denker der Geschichte von AUGUSTINUS über LEIBNIZ und LOCKE bis zu HEGEL und NIETZSCHE haben sich mit Kommunikation beschäftigt, auch wenn sie dabei andere Begriffe wie Argumentieren, Sprechen, Erkennen, Verstehen oder Vorstellen benutzt haben. Aber es wäre vermessen, all diese Denker mit dem Label Kommunikationswissenschaftler versehen zu wollen. Es ist ja eine Tücke des heute allgegenwärtigen Begriffs Kommunikation, dass er viel, alles oder gar nichts bedeuten kann. Weist „Kommunikation” doch alle Eigenschaften der Wortklasse auf, die UWE PÖRKENSEN so treffend Plastikwörter genannt hat. Der Anfang einer Kommunikationswissenschaft im heutigen Sinne datiert auf den Wechsel vom 19. zum 20. Jahrhundert. Verschiedene wissenschaftliche Strömungen begannen damals, das, was wir heute Kommunikation nennen, als Erkenntnisgegenstand herauszuarbeiten. Sie versetzten uns so erst in die Lage, uns damit auseinanderzusetzen, wie Kommunikation funktioniert und was sie bewirkt. Da sind die deutschen Sprachkritiker wie PHILIP WEGENER (1848-1916) oder FRITZ MAUTHNER (18491923) zu nennen, ebenso wie der Stammvater des strukturalistischen Denkens und Begründer der modernen Sprachwissenschaft FERDINAND DE SAUSSURE (1857-1913). LUDWIG WITTGENSTEIN (18891951) steht für den communicational turn in der Philosophie, ist aber auch nur Ausdruck einer Zeit, die begonnen hat, die Grenzen des Sprachspiels auszuloten und die Wirkungen von Kommunikation von der Naturwissenschaft über die Gesellschaft bis zum (unbewussten) Befinden eines jeden Einzelnen zu ergründen. Einen letzten großen Schub hat die Kommunikationswissenschaft mit einem einfach ingenieurs-wissenschaftlichen Werk, der „Mathematical Theory of Communication“ von CLAUDE SHANNON und WARREN WEAVER, bekommen. In den Zeitgeist der wachsenden Technisierung und Computerisierung der 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts platzierten sie die Metapher von Kommunikation als SenderEmpfänger-Regelkreis, die Kommunikation ebenso in die schulischen und universitären Lehrpläne getrieben hat wie in das Vokabular von Politikern und Managern. Interessanterweise haben sich sogar die gesellschaftskritischen und sozialen Bewegungen der 60er-, 70er- und 80er-Jahre dieses zumindest menschenfreien, wenn nicht sogar menschenverachtenden Kommunikationsmodells bedient. So dass Kommunikation heute ein generischer Begriff für allzu viele menschliche, mediale, symbolische und technische Phänomene ist. Der Begriff Kommunikation wird dabei oft auf einen einseitigen SignalÜbertragungsakt reduziert, was keinesfalls dem Wesen von Kommunikation entspricht. Kommunikation ist vielmehr der Versuch von mindestens zwei Individuen, Bewusstseinsinhalte und Handlungen mit Hilfe von Sprache und Zeichen zu harmonisieren. Dieser soziale Aspekt von Kommunikation steckt auch schon im lateinischen Wortstamm „communico”, der vereinigen und gemeinsam machen und dann auch teilen, teilnehmen lassen, mitteilen bedeutet und sich wiederum von „con moenia” herleitet, was mit „zusammen in einer Mauer” übersetzt werden kann und die Ursprungsform vom sozia380

len Gemeinschaften beschreibt. Die heute allgemein als konstituierende Eigenschaft von Kommunikation angesehene Eigenschaft des Einsatzes von Zeichen ist zwar bei SHANNON/WEAVER wesentlicher Bestandteil des Begriffs, war aber scheinbar bei den Römern noch kein relevanter Aspekt. Gerade das Handeln mit Zeichen, die wiederum selber soziale Artefakte sind, grenzt Kommunikation eindeutig von der bloßen Interaktion ab. Kommunikation ist der Schlüsselprozess zur Vermittlung zwischen individueller Psyche und sozialer Gemeinschaft, ihren Strukturen und Wirkweisen.

11.10.2 Entwicklung und bedeutende Richtungen der Wissenschaftsdisziplin und deren Vertreter Entsprechend der großen Popularität des Kommunikationsbegriffs haben sich verschiedene Wissenschaftsdisziplinen oder -fächer der Kommunikation angenommen bzw. bedient. So ergeben sich heute fünf Richtungen der Kommunikationswissenschaft. Wobei die Grenzen in den letzten Jahren nicht mehr ganz so klar und scharf zu ziehen sind und eine langsame Konvergenz zu erkennen ist. •

Die publizistische Kommunikationswissenschaft, die in der Tradition der Zeitungswissenschaft (Publizistik) steht. Sie hat ihre Ursprünge in der Betrachtung von Funktionsweisen und Eigenschaften der klassischen Medien Zeitung und Buch. Mit der Popularität des Kommunikationsbegriffs und der Explosion der verfügbaren Medien haben sich diese Institute und ihre Vertreter zu Medien- und Kommunikationswissenschaftlern gewandelt. Dass dieser Schritt gerade von den Zeitungswissenschaftler auf breiter Front vollzogen wurde, ist vor dem Hintergrund der heutigen Medienvielfalt gar nicht so selbstverständlich und konsequent, wie es meist dargestellt wird, hätten doch andere Medienwissenschaften, wie Theater-, Bild- oder Literaturwissenschaften bereitgestanden. So wird unter Kommunikation meist immer noch ein nachrichtenorientiertes Medien-Produkt bzw. Produktionssystem verstanden und nicht die Auseinandersetzung mit Welt, Gesellschaft und Mit-Mensch, wie sie der oben aufgezeigten Traditionslinie entsprechen würde. Die Vernetzung mit anderen Denkpositionen hält Einzug durch die stärkere Medialisierung unseres Lebens, die (Einzel-)Mensch und Medium näher zusammenbringt, und durch das Denken in Bedeutungs- und Symbol-Mustern, wie sie eine strukturalistische Textwissenschaft oder eine Semiotik propagiert. Als typischer Vertreter kann z.B. das Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München gelten.



Die managementorientierte Kommunikationswissenschaft, die sich nach amerikanischem Vorbild der Public Relation, der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und der Unternehmenskommunikation verschrieben hat. Hier werden Teile der publizistischen Kommunikationswissenschaft mit Elementen der Markt- und Meinungsforschung kombiniert und recht pragmatisch auf die Interessen und Anforderungen von Unternehmen, Agenturen, Politik und Medien angewendet. Dabei entstehen empirische und theoretische Werkzeuge, die hohe Reputation und Relevanz bei den Praktikern besitzen. Sie unterliegt jedoch der Gefahr aller Management-Lehren, dass sich Theorien und Methoden vom Erkenntnisgegenstand lösen und sich unabhängig vom Erkenntniswert und -gehalt verselbstständigen. So orientieren sich immer noch viele Kommunikationsmanager an der sog. AIDA-Formel (Attraction — Interest — Desire — Action), ohne dass sie eine allgemeine Beschreibung von Wahrnehmungsprozessen liefert, die einer wissenschaftlichen Überprüfung standhalten würde. Aber als Faustformel besticht sie durch Einfachheit und Praktikabilität. Die PR-Wissenschaft hat eine historische Nähe zur Publizistik. Die Öffnung zu anthropologischen, linguistischen oder philosophischen Herangehensweisen an den Gegenstand passiert immer dort, wo die Komplexität und neue Phänomene zu Grundlagenarbeit zwingen. Hier 381

ist zum einen die interkulturelle Kommunikation als Anlass zu nennen und wie bei der Publizistik die neuen Medien des Web 2.0, die zu subjektivistischen und individualistischen Theorien zwingen. Beispielhaft für diese Richtung ist sicher das Institut für Kommunikationsmanagement und Public Relations der Universität Leipzig zu nennen. •

Die soziologische Kommunikationswissenschaft, die sich der Kommunikation als elementarem, konstituierendem, soziologischem Phänomen widmet. Kommunikation wird hier als Funktion innerhalb eines größeren, sozialen Zwecks untersucht und beschrieben. Dabei finden verschiedene soziologische Großtheorien wie die Systemtheorie oder der (radikale) Konstruktivismus Anwendung. Aus diesem Blickwinkel gelingt es, sehr weitgehende Beschreibungen von Kommunikationssystemen bzw. -gemeinschaften zu geben, seien es nun Medien, Milieus, Fachgemeinschaften oder Mikrogemeinschaften wie Paare, Familien oder Arbeitsteams. Diese Betrachtungsweise, die sowohl Dynamik als auch wechselseitige Einflussnahme zugrunde legt, erlaubt dabei wesentlich besser als die Objekt- oder Aktionsbetrachtung der beiden ersten Ansätze Untersuchungen zur Interaktion zwischen Mensch und Medien. Allerdings entwickelt diese Kommunikationswissenschaft durch ihre Einbettung in eine soziologische Gesamttheorie kaum originär kommunikationswissenschaftliche Theorien und Modelle. Vielmehr liefert sie empirische und theoretische Ausarbeitungen ihrer Theorien am Gegenstand Kommunikation. Diese Kommunikationssoziologie ergänzt die PR-Wissenschaft, da sie dieser eine stärkere wissenschaftliche Reflektionsebene bieten kann und von dieser wiederum zu praktischen kommunikationsspezifischen Ergebnissen gezwungen wird. Kommunikation ist durch die technologische Revolution und die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen wahrscheinlich das sich mit am schnellsten ändernde Gesellschaftssystem (im allgemeinen, nicht strengen LUHMANNSCHEN Sinne), sodass die Kommunikationssoziologie möglicherweise zur treibenden Kraft in der Soziologie werden und so zu eigenen Modellen gelangen kann. Dabei muss sie sich aber noch stärker sprachwissenschaftlichen, philosophischen und kulturwissenschaftlichen Methoden öffnen. Der technische und der naturwissenschaftliche Impetus ist über Systemtheorie und Konstruktivismus traditionsgemäß schon stark, dieser Einfluss wird über die wachsenden Fragestellungen zur Mensch-Maschine-(Mensch-)Kommunikation noch wachsen. Prototypisch für diesen Ansatz gilt z.B. das Institut für Kommunikationswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.



Die anthropologische Kommunikationswissenschaft, die sich dem Einzel-Phänomen Kommunikationsprozess, wie er im einfachsten Fall im direkten, persönlichen Dialog zweier Menschen stattfindet, verschrieben hat. Die Sozialitäten der Kommunikationssoziologie sieht sie eher als Umwelt oder Kontext denn als direkten Gegenstand. Diese Kommunikationswissenschaft nimmt folgerichtig starke Anleihen in der Linguistik, Psychologie und anderen „Mensch-Wissenschaften” wie Human-Biologie, Anthropologie und Ethnologie. Sie spiegelt deren Erkenntnisse aber auch an grundlegenden Fragen der Erkenntnistheorie, des Strukturalismus, des Konstruktivismus oder der Semiotik. Sie kommt somit — vielleicht als einzige der fünf Richtungen — zu einem eigenen und originären wissenschaftlichen Verständnis eines klar umrissenen Gegenstands Kommunikation. Natürlich leidet dieser Gegenstand unter der Einmaligkeit seiner Phänomene, und die große Herausforderung der anthropologischen Kommunikationswissenschaft ist die Reproduzierbarkeit und Generalisierbarkeit ihrer Erkenntnisse gerade im Hinblick auf Fragen, die Unternehmen, Gesellschaft oder Politik an sie herantragen, zur Bewältigung aktueller Herausforderungen wie Technikfolgenabschätzung, globale Völkerverständigung, Gestaltung zukünftiger Wissens- und Bildungssysteme. Allerdings bringt gerade die Technisierung und Globalisierung Phänomene zu Tage, die nur mit Individualisierung und Subjektivierung beschrieben werden können und bei denen die drei zuerst genannten Ansätze an ihre Grenzen sto-

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ßen. So verhalten sich virtuelle Nomaden im Netz tatsächlich wieder wie Nomaden an ihrem Lagerfeuer, sodass hier eine Kommunikationswissenschaft, die ihren Ursprung in der Untersuchung des Entstehens und des Austauschs von individuellen Weltbildern sowie der gegenseitigen Steuerung von Verhalten und Verstehen hat, immer relevanter wird. Mit der Integration dieses Ansatzes in die Fragestellungen der drei anderen Sichtweisen könnte der Kommunikationswissenschaft noch ein gewaltiger Sprung in der Relevanz für unsere Gesellschaft gelingen. Beispielhaft für diese Art von Kommunikationswissenschaft sei das Fachgebiet Kommunikationswissenschaft der Universität Duisburg-Essen genannt. •

Darüber hinaus gibt es natürlich noch wichtige kommunikationswissenschaftliche Forschung in den Bereichen der Ingenieurs- und Naturwissenschaften. So ist ja der Begriff Kommunikation in der Tradition SHANNON/WEAVERS nachrichten- und übertragungstechnisch belegt. Die viel beschworenen Informations- und Kommunikationstechniken werden in computerwissenschaftlichen, elektrotechnischen und physikalischen Fakultäten vorangetrieben. Hier geht es nicht nur um Netz-, Rechner- und Speicher-Kapazitäten, sondern auch um die so genannte Mensch-Maschine-Schnittstelle, das heißt, um Fragen der Usability, Kompatibilität und Simulation von menschlichem Kommunikationsverhalten. Ihr Pendant findet diese technische Kommunikationswissenschaft — die aber hierzulande nicht unbedingt auch so benannt wird — in einer biologisch-neurologischen Kommunikationswissenschaft. Hier wird die „Wet-Ware” des menschlichen Gehirns im wahrsten Sinne des Wortes durchleuchtet, um den Funktionsweisen des Verstehens und Verständigens auf die Spur zu kommen. Große Aufmerksamkeit erlangte dieser Aspekt der Kommunikationswissenschaft durch die inzwischen wieder erlahmte Diskussion über den Freien Willen. Diese beiden Disziplinen sind hier nicht nur der Vollständigkeit halber erwähnt, sondern weil sie hohe Anteile der Forschungsgelder im Bereich Kommunikation auf sich vereinen können. Aber ohne einen fruchtbaren Dialog mit einer soziologischen und anthropologischen Kommunikationswissenschaft werden hier viel Blindleistung produziert und Forschungsgelder verbrannt. Mangelnde Einsparungseffekte, misslingende Transferleistungen in die Praxis (Stichwort Neuro-Marketing) gerade der neurologischen Kommunikationswissenschaft, Akzeptanzprobleme bei der Einführung neuer Kommunikationstechnologien, unverstandene soziale Auswirkungen von mobiler Kommunikation und virtuellen Welten, aber auch das Platzen der primär auf I+K-Technologien beruhenden Neue-Markt-Aktienblase sind deutliche Anzeichen für die Notwendigkeit dieser Integration. Beispielhaft für diese beiden Herangehensweisen seien die Informatik der Universität Saarbrücken und das Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main herausgegriffen.

11.10.3 Typische Fragestellungen in der Wissenschaftsdisziplin Wenn der Interessenskern der Kommunikationswissenschaft — gerade im Hinblick auf das Coaching — in der Beschreibung des Entstehens von individuellen Welt-Verstehenssystemen und der Gestaltung dieser Systeme im Austausch mit sozialen Gruppen und deren (anderen) Individuen liegt, ergeben sich folgende typische Fragestellungen: • •

Wie entstehen im einzelnen Kommunikationsakt, z.B. dem Gespräch, und im Lebenslauf eines Individuums Wissen, Einstellungen und Verhaltensmuster? Wie lassen sich Wissen, Einstellungen und Verhaltensmuster durch Kommunikationsakte und Kommunikationssysteme technischer und sozialer Art beeinflussen? 383

• •

Welche Einflüsse haben bestimmte soziale Formen und Technologien (auch Medien genannt) auf den Verlauf und die Ergebnisse von Kommunikation? In welchem Wechselverhältnis stehen subjektives Kommunikationsverhalten und Kommunikationsinhalte mit intersubjektiven, sozialen Prozessen, Strukturen und Inhalten?

Letztlich folgt daraus: •



Welche Aussagen können aus Sicht eines jeden Einzelnen und aus Sicht einer sozialen Gemeinschaft über die Verlässlichkeit, Steuerbarkeit und Stabilität von Kommunikation gemacht werden? Und kann Kommunikation im Sinne subjektiver Werte und Bedürfnisse sowie sozialer Werte und Bedürfnisse entwickelt und gestaltet werden?

Dabei können physiologische, ethische, funktionale, ästhetische, ökonomische und viele andere Maßstäbe herangezogen werden.

11.10.4 Typische Axiome bzw. Theoreme in dieser Wissenschaftsdisziplin Die folgenden Theoreme stellen die Essenz von Kommunikation dar: Du kannst nicht nicht-kommunizieren Das populärste aller Kommunikationsaxiome. In letzter Konsequenz allerdings falsch, da Kommunikation einen wechselseitigen und absichtsvollen Prozess darstellt. Richtig ist vielmehr, dass man sich nicht dagegen wehren kann, von anderen (auch falsch) interpretiert zu werden, selbst wenn man nichts ausdrücken wollte. Trotzdem zeigt das Axiom, wie wichtig die permanente, Verständnis sichernde Auseinandersetzung mit relevanten Mitmenschen ist. Kommunikation ist ein Prozess Man muss die zeitliche Dauer im Auge behalten. Die Reduzierung auf einzelne Akte oder gar einzelne Medien, wie z.B. den Wortlaut des gesagten Satzes, blendet wesentliche Aspekte wie die nachfolgende Interpretation oder begleitende Aktivitäten wie Gestik und Mimik aus. Kommunikation ist intentional Alles was nicht-intentional ist, ist etwas anderes. In der Beschäftigung mit Kommunikation liegt somit kein Allheilmittel für alle Formen möglicherweise störungsanfälligen Sozialverhaltens. Es liegt aber auch ein Vorteil darin, nicht jedes Verhalten als Kommunikation auf sich selbst beziehen zu müssen. An Kommunikation sind (mindestens) zwei Individuen beteiligt Allerdings wird über den Punkt, ob die Individuen Menschen sein müssen oder auch Tiere und Maschinen sein können, viel gestritten. Und die Beteiligung kann durchaus indirekt (über Entfernungen und Zeiten) sein. Jeder kommunikativen Äußerung, auch indirekten, wohnt aber eine Vorstellung über den Anderen, sein aktuelles und sein zukünftiges Denken und Verhalten inne. Kommunikation kann scheitern — bemerkt und unbemerkt Es ist zentral, dies zu wissen und entsprechende Vorsichts- und Kontrollmaßnahmen in sein kommunikatives Tun einzubauen.

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Kommunikation ist Arbeit Wesentliche Teile der Arbeit werden nicht für die inhaltlichen Elemente, sondern für die Aufrechterhaltung und die Gestaltung der Rahmenbedingungen (z.B. physische Wahrnehmbarkeit, subjektive Sympathie, soziale Hierarchie) aufgewendet — und müssen dies auch. Kommunikation verbraucht daher Energie und ist im beruflichen und privaten Umfeld ein knappes und nicht beliebig reproduzierbares oder gar multiplizierbares Gut. Die Subjektivität jedes Einzelnen ist unhintergehbar Wir müssen damit leben, dass wir unseren Mitmenschen nicht in die Köpfe schauen können. Selbst das unentwegte Wiederholen von Aussagen oder das lange Schleifen an Formulierungen ändern nichts an der Freiheit des Einzelnen und an der Unsicherheit über die Interpretation des anderen. Wir können uns dabei auch selber nicht unserer eigenen Subjektivität erwehren — Objektivität ist keine Willenssache. Kommunikation objektiviert sich (nur) außerhalb der Kommunikatoren Objektiv sind nur Äußerungen, Medien und Handlungen. Diese entfalten auch intersubjektive Wirkung und schränken die subjektiven Freiheitsgrade der Interpretation und des Handeln ein, ohne aber die Subjektivität ausschalten zu können. Ein gesagter Satz verändert die Situation zwischen zwei Personen, ohne dass sich genau festlegen lässt wie. Aber durch eine Kette von Äußerungen, Medien und Handlungen — durch Diskurs — erreichen Individuen und Gemeinschaften eine gewisse, lebensnotwendige Stabilität in ihren Interpretationen. Kommunikation ist ein gemeinschaftlicher Gestaltungsprozess Gestaltet werden zwei subjektive Welttheorien und ein intersubjektives Medium. Erst Gestaltung formt aus den beiden, Kommunikation zwangsläufig begleitenden, Prozessen Interaktion und Wahrnehmung den Sinn, der Kommunikation lebensnotwendig macht. Im Medium und in Handlungen manifestiert sich dabei intersubjektiv Gemeinschaft, die auf diese und zukünftige Kommunikation zurückwirken kann. Alles ist Zeichen Nicht alles ist nur Zeichen. Alles Belebte und Unbelebte kann durch Interpretation eine Bedeutung erlangen. Nur als Zeichen können wir uns diese Bedeutungen aneignen. Die Bedeutung eines Zeichens bestimmt sich — wie WITTGENSTEIN so treffend gesagt hat — nur im Gebrauch. Es gibt aber Qualitäten, die über eine zeichenhafte Bedeutung hinausgehen, selbst wenn sie uns wiederum nur als Zeichen vermittelt werden. Z.B. das Gewicht eines Steins, gegen den ich mit meinem Fuß stoße. Medien sind nicht neutral ... in Bezug auf Kommunikationsverlauf, -inhalt und -ergebnis. Das heißt, wie und worin Kommunikationsabsichten und -inhalte geäußert werden, ist wichtig für Kommunikationserfolg oder -misserfolg. Derselbe Wortlaut im persönlichen Gespräch, in einer Mitarbeiterversammlung, im Intranet oder in der Bildzeitung können grundlegend andere Wirkungen, das heißt Interpretationen, hervorrufen.

11.10.5 Typische Deutungsmuster in der Wissenschaftsdisziplin (Analyse- und Lösungsstrategien) Zentral sind in der Kommunikationswissenschaft der Gestaltungsaspekt und die Möglichkeit des Scheiterns von Kommunikation. Kommunikationswissenschaft ist bemüht, die relevanten Faktoren innerhalb eines Kommunikationsprozesses zu identifizieren. In der Gestaltung der Faktoren wird Potenzial vermutet, um das Scheitern von Kommunikation in ähnlichen/gleichartigen Kommunikationspro385

zessen, z.B. von derselben Kommunikationsgattung oder unter denselben Kommunikationsbedingungen unwahrscheinlicher zu machen. Des Weiteren geht es der Kommunikationswissenschaft um die Vermittlung persönlicher Kommunikationskompetenz. Kommunikation bedarf (individueller) Kommunikationstheorien, die den Prozess selbst und die Interpretation seiner Ergebnisse steuern. In der Vermittlung von Wissen über den Kommunikationsprozess und im Training von Kommunikationssituationen kann eine Verbesserung der Kommunikationserfolgschancen erreicht werden. Diese Verbesserung ist allerdings nicht objektiv und wertneutral, sondern wiederum, wie der Kommunikationsprozess, intentional. Drittes zentrales Deutungsmuster ist die Manifestation von Kommunikationsprozessen in Medien. Medien stellen zum einen eine Objektivierung von Kommunikation (Form und Inhalt) dar, zum anderen sind sie physikalisch-technische und soziale Verdinglichungen des Gestaltungs- und des Kompetenzaspektes mit positiven und negativen möglichen Folgen für die soziale und individuelle Kommunikationsfähigkeit. Dabei steht ein breites Methodenspektrum der quantitativen und qualitativen Sozialwissenschaften zur Verfügung, ergänzt um interpretative und erzählende Techniken der Geisteswissenschaften und idealistische Denkweisen aus Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie sowie allgemeiner Philosophie. Abgerundet werden diese Methoden durch naturwissenschaftliche aus dem Bereich der Neurologie und Biologie.

11.10.6 Typische Anwendungsfelder dieser Wissenschaftsdisziplin Klassisch ist die breite empirische Untersuchung von Kommunikationsgattungen, z.B. dem KneipenGespräch, dem Small-Talk am Gartenzaun, dem Arzt-Patienten-Dialog, der Auseinandersetzung zwischen Chef und Mitarbeiter, aber auch der TV-Casting-Show. Dabei geht es um die Identifikation dieser Gattungen sowie um die Entdeckung spezifischer Muster je Gattung — wiederum zu deren Optimierung. Kommunikationswissenschaft untersucht auch die Entstehung komplexer Symbol-Systeme durch andauernde Kommunikation. Dabei kann es sich um das Entstehen von Wissen bei Individuen oder Gruppen handeln, aber auch um Bedeutungen, die politischen Begriffen oder kommerziellen Marken zugewiesen werden. Kommunikationswissenschaft analysiert den Einfluss, den Medien auf Kommunikationsprozesse haben können, dadurch, dass sie z.B. bestimmte Sinne mehr stimulieren als andere oder bestimmte technische oder inhaltliche Transformationen notwendig machen. Kommunikationswissenschaft arbeitet an den elementaren Bedingungen und Wesenheiten von Kommunikation, wie z.B. der Prozesshaftigkeit, der Intentionalität, der Verknüpfung von Inhalt und Form, vor dem Hintergrund, dass viele Kommunikationsvorgänge gerade im professionellen Zusammenhang diese Aspekte ignorieren und so unbemerkt defizitäre Kommunikationsprozesse gestalten oder gar Situationen schaffen, in denen Kommunikation gar nicht stattfindet. So macht es durchaus Sinn, Kommunikation von Zeichenprozess, Ritual, Interaktion und reinem Verhalten zu unterscheiden, gerade wenn oberflächlich kommunikative Elemente wie Medien, Sprache, Zeichen, sozialer und physischer Kontakt vorhanden sind. Dies ist vor allem dann wichtig, wenn Kommunikationsprozesse in technischen Systemen wie Computern simuliert oder modelliert werden sollen, sei es bei Anrufbeantwortern, Sprachsteuerung, semantischen Suchen oder beim Data-Mining.

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11.10.7 Typische Begriffe und deren Deutung in der Wissenschaftsdisziplin Kommunikation der Prozess mindestens zweier Individuen mit dem Ziel, ihre Handlungen und/oder ihre Bewusstseinsinhalte zu koordinieren. Diese Koordination geschieht immer unter Zuhilfenahme von Zeichen. Das interpretative Bedeutung bzw. Sinn schaffende Wesen von Kommunikation unterscheidet diese von Interaktion — dem Handeln zwei Individuen miteinander — oder einfachen instrumentellen Akten — z.B. dem Bearbeiten von Materie. Zeichen entstehen aus materiellen Objekten (flüchtigen oder nicht flüchtigen), die durch Interpretation eine Bedeutung erlangen. Diese Bedeutung entsteht entweder aufgrund sozial bzw. historisch codifizierter und gelernter Bedeutungen oder durch subjektive Schlussfolgerungen. Zeichen können als einzelne Entitäten oder als sehr komplexe Zeichensysteme, z.B. Sprachen, in Erscheinung treten. Sprache ein mehrgliedriges Zeichensystem. Das Grundprinzip natürlicher Sprachen, aus der Kombination kleiner Einheiten, z.B. Laute, größere Bedeutungseinheiten, z.B. Worte, bilden zu können, findet sich auch in anderen kulturell gewachsenen (z.B. Bildsprache der Malerei) oder technisch konstruierten (z.B. Programmier-Sprachen) Sprachen wieder. Medium ursprünglich lediglich physische Träger oder Speicher für Zeichen, z.B. die gesprochenen Äußerungen oder die Pergamentrolle. Inzwischen zu so komplexen Strukturen technischer und sozialer Arten, Medien wie Fernsehen oder Internet, herangewachsen, dass als Forschungsgegenstand zum Teil die Kommunikation überlagern. Gerade beim Begriff multimedial wird oft fälschlicherweise impliziert, dass elektronische Rechnerleistung immer am Medium beteiligt sein muss. Gemeinsam ist allen Medien, dass sie Einfluss auf den Einsatz von Zeichen und die Interaktion der Individuen in der Kommunikation haben und so den Verlauf des Kommunikationsprozesses beeinflussen. Code angenommene Regel, um Kommunikationsinhalten bzw. Zeichen eine Bedeutung zuzuweisen. Wobei die übliche Unterstellung, dass für jede Kommunikationssituation und -gattung den Kommunikationsteilnehmern ein Code in identischer und reproduzierbarer Form zur Verfügung steht, ein Irrtum ist. Meist ist ein sogenannter Code eine (wissenschaftliche) Verallgemeinerung zur nachträglichen Deutung von Zeichenverständnis und Kommunikationsverlauf. Nur bei einer Minderheit von Kommunikationsformen besteht ein expliziter Code, technischer (z.B. Morse) oder sozialer (z.B. Verkehrsschilder) Art, auf den die Kommunikatoren bewusst zurückgreifen. Verstehen im Ideal das Ergebnis eines Kommunikationsprozesses. Beschreibt eine inhaltliche Komponente, das heißt, Übereinstimmung in Bewusstseinsinhalten und/oder Handlungen, im Gegensatz zur Verständigung, die nur die gelungene Abwicklung des Prozesses, das heißt z.B. wechselseitige optische oder akustische Wahrnehmung, umfasst. Allerdings ist Verstehen kein objektiver Zustand, vielmehr ist es ein subjektives Gefühl des Verstehens (und des Verstandenwerdens) der Kommunikatoren oder das Urteil eines Dritten, eines Beobachters. Dieses Urteil kann ebenfalls rein subjektiv sein („die Kinder verstehen sich aber gut“), oder intersubjektiv nachvollziehbar sein, z.B. anhand der wissenschaftlichen Kriterien einer ethnologischen Studie. Interpretation der Prozess, der Zeichen eine Bedeutung zuweist. Diese kann aufgrund expliziter Codes, persönlicher Erfahrungen und Gewohnheiten oder durch Schlussfolgerungen geschehen. Dabei ist 387

das Ergebnis keinesfalls immer ein bewusster, intellektueller und gar sprachlicher Inhalt. Vielmehr können sich Interpretationen auch in Gefühlen, Bildern, Handlungen oder physiologischen Reaktionen, wie Angst, ihren Niederschlag finden. Inhalt und Form beschreiben in verschiedenen Traditionen von Rhetorik bis Strukturalismus zwei klar unterschiedene Seiten eines Zeichens oder von Kommunikation. Aber nicht erst seit der Aussage „Das Medium ist die Botschaft“ sollte klar sein, dass durch den interpretativen Charakter von Kommunikation etwas, was der eine für eine Formalie hält, für den anderen eine schwerwiegende inhaltliche Bedeutung haben kann. Von daher ist dieses Begriffspaar, das gerade in ästhetischen Ausführungen über Kommunikation noch sehr präsent ist, immer mit Vorsicht zu genießen. Bedeutung ist einer der schwierigsten Begriffe der Kommunikationswissenschaft überhaupt. Zahlreiche Autoren haben versucht, ihn zu präzisieren und gegen immer wieder andere Begriffe abzugrenzen. Am ehesten lassen sich drei Aspekte von Bedeutung beschreiben: 1. das aktuelle, flüchtige Ergebnis eines Zeichen- oder Kommunikationsprozesses. Z.B. ruft die Farbe Grün plötzlich die Erinnerung an den Lieblings-Fußballverein meiner Kindheit wach. 2. eine intersubjektiv codifizierte Bedeutung, wie sie sich in Wörterbüchern findet. Z.B. bedeutet das englische Wort „green“ auf Deutsch mit allen Einschränkungen „grün“. Oder die Farbe Grün kann für die Hoffnung oder für freie Fahrt stehen. Diese Bedeutungen sind jedoch niemals völlig stabil und universell anwendbar, sie bleiben abhängig von einem Umfeld. 3. Bedeutung als höheres Motiv oder idealistischer Antrieb, z.B. in der Formulierung „Meine Karriere hat eine große Bedeutung für mich, aber Geld bedeutet mir nichts“. Im Deutschen ist dies eng verwandt mit dem Begriff Sinn. Grün kann in diesem Zusammenhang vielleicht das Streben nach Natur in uns ansprechen und von großer Bedeutung sein. Wissen ist in der allgemeinsten Form die Summe der individuellen Bewusstseinsinhalte. Wobei dieses Wissen, wie Interpretation, sprachliche, bildliche, emotionale oder motorische Ausprägungen haben kann. Teile des Wissens können in Kommunikation veräußerlicht werden und sind dann — mit den Einschränkungen jeder Kommunikation — für andere zugänglich. Für dieses sozialisierte Wissen gibt es wiederum soziale, technische Strukturen (Medien) wie Bibliotheken, Schulen oder Datenbanken. Information ist ein sehr populärer Begriff, der seinen Ursprung im nachrichten-technischen Kommunikationsmodell von SHANNON/WEAVER hat. Hier bezeichnet er den Wert eines zu übertragenden Signals. Im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet Information eine Einheit an Neuigkeit für einen Nachrichtenempfänger. Nur ist der gesamte Informationsbegriff irreführend, da er nahelegt, dass durch Kommunikation Bedeutungs-Einheiten übergeben werden, was nicht der Fall ist. Zudem suggeriert er, dass die sogenannte Information objektiv eine Wissensbereicherung für einen Kommunikator darstellt. Dies ist jedoch in aller Regel weder für den Kommunikator noch für einen Außenstehenden so feststellbar. Letztlich bleibt von Information nichts übrig, als dass sie eine weitere mögliche Paraphrase verschiedener Begriffe wie Botschaft, Nachricht, Inhalt etc. ist, die versuchen, den Gegenstand einer Kommunikation zu fassen. Kommunikationserfolg ist nie ein absoluter Erfolg. Kommunikation ist stets mit einem Kommunikationsziel verbunden und anhand der Erreichung dieses Ziels bemisst sich der Kommunikationserfolg. Dabei können verschiedene Anspruchsniveaus verwendet werden. Manchmal reichen bloße Signale der Verständigung, manchmal reicht das Ausführen einer Handlung aus („Machst Du bitte die Tür 388

zu!“). Manchmal stellt sich das Gefühl des Kommunikationserfolgs trotz aktiver Bestätigung des Gegenübers („Ja, ja, ich habe verstanden!“) nicht ein. Wesentliche Aspekte unserer Kommunikationskompetenz sind bewährte Mechanismen zur Sicherstellung des Kommunikationserfolges, wobei durch sich ändernde Kommunikationsbedingungen, -gegenstände oder Medien vertraute Mechanismen ihre Zuverlässigkeit verlieren können. In der Untersuchung dieser subjektiven und intersubjektiven Kontrollmechanismen und deren Veränderung liegt eine wichtige Aufgabe der Kommunikationswissenschaft.

11.10.8 Typische Kritik an der Wissenschaftsdisziplin Die stärkste Kritik richtet sich gegen die vermeintliche Trivialität der Kommunikationswissenschaft, da sie Phänomene und Tätigkeiten problematisiert, die wir alle tagtäglich kompetent und ohne Schwierigkeiten auszuführen scheinen. Entsprechend werden dann auch Modelle zur Lösung erkannter Probleme oft als anwendungsfern und zu komplex bezeichnet, wenn sie nicht die Einfachheit alltagsweltlicher Kommunikationstheorien haben. Dies erklärt auch die Hartnäckigkeit der irreführenden SenderEmpfänger-Metapher. Zweiter zentraler Kritikpunkt ist die Flüchtigkeit des Gegenstands Kommunikation, der so eigentlich nicht dokumentierbar und reproduzierbar ist. Damit sind Erkenntnisse zu einzelnen Kommunikationsvorfällen zu kleinteilig und für Anwender aus Unternehmen, Medienorganisationen, Bildung oder Politik erstmal irrelevant. Das mündet in der Forderung, das Hauptaugenmerk nicht auf den einzelnen Prozess, sondern auf stabile und übergeordnete Strukturen und Systeme zu lenken, bis hin zu der These, dass Kommunikation gar kein eigenständiger Erkenntnisgegenstand ist, da sich ihre Funktion und ihre Bedeutung nur aus den übergeordneten sozialen, technischen Handlungs- oder Sinnzusammenhängen ergeben. Ein letzter wichtiger Kritikpunkt zielt auf die beschriebene Heterogenität der Kommunikationswissenschaften, wie sie hier beschrieben wurde, die dazu führt, dass es keinen übergreifenden Konsens zu zentralen Begriffen und Methoden gibt, der dann anderen Fächern und Disziplinen als Anschluss angeboten werden kann. Dies macht dann Kommunikationswissenschaft auch zum leichten Opfer benachbarter größerer Fächer wie Soziologie, Ökonomie, Germanistik oder der neuen Sammelbewegung der Kulturwissenschaften.

11.10.9 Bedeutung der Wissenschaftsdisziplin für das Coaching Kommunikationswissenschaft ist zweifach für das Coaching relevant. Zum einen ist die Arbeit, die Coach und Coachee miteinander leisten, im Wesentlichen Kommunikationsarbeit. Das heißt, ohne genaue Kenntnisse gerade der anthropologischen Kommunikationswissenschaft kann kein kompetenter Einblick in das eigene Handeln und die eigenen Möglichkeiten als Coach erfolgen. Auch der Einsatz von Medien und Projektionsflächen wie zum Beispiel der freien kreativen Arbeit ist ein elementarer kommunikativer Zeichenprozess, dessen volles Potenzial sich erst in der kommunikationswissenschaftlichen Reflexion erschließt. Hier kann die Kommunikationswissenschaft sicher mit einem breiten Strauß an Ergebnissen z.B. zu Lehrer-Schüler-, Arzt-Patienten- oder Therapie-Gesprächen aufwarten.

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Zum zweiten sind die allermeisten Herausforderungen, denen sich der Coachee ausgesetzt sieht, kommunikativer Natur. Ob Mobbing, eigene Ziel- und Wunschvorstellungen, Unternehmenskultur oder Stressoren, viele dieser Faktoren entstehen in Kommunikationssituationen oder sind in großen Teilen Ergebnisse einer individuellen Interpretation. Damit der Coach dem Coachee Reflexionsangebote machen kann, wie dieser Interpretationsmuster ändern oder Interventionsmöglichkeiten entwickeln kann, muss er/sie über die elementaren Prozesse der Kommunikation und ihre Nahtstellen zu sozialen Gruppen und unternehmerischen Rahmenbedingungen Bescheid wissen. Dieses Wissen kann die Kommunikationswissenschaft dem einzelnen Coach direkt bereitstellen. Oder dieses Wissen kann in die Coaching-Aus- und Fortbildung einfließen und das Coaching generell kritisch konstruktiv begleiten.

11.10.10 Basisliteratur PAUL WATZLAWICK, JANET H. BEAVIN, DON D. JACKSON: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern 2007: Huber; 11., unveränderte Auflage PETER L. BERGER, THOMAS LUCKMANN (1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. Main, Fischer; 22. Auflage HANS HÖRMANN (1994): Meinen und Verstehen. Grundzüge einer psychologischen Semantik; Frankfurt a. Main, Suhrkamp; 4. Auflage Hierbei handelt es sich um drei aktuell erhältliche Bücher, die wesentliche Aspekte von Kommunikationswissenschaft ganzheitlich — mit einem Schwer- oder Ausgangspunkt in der anthropologischen Kommunikationswissenschaft — beschreiben, ohne dabei in wissenschaftliche Detaildiskussionen zu verfallen, und die dabei auch für Nicht-Kommunikationswissenschaftler gut und spannend zu lesen sind.

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11.11 Konsequenzen aus der psychologischen Lernforschung von Rosemarie Mielke

Ich beschränke mich in diesem Beitrag auf die grundlegenden Erkenntnisse der Psychologie zur Erklärung von Lernprozessen. Die Psychologie hat als Wissenschaft vom Erleben und Verhalten entscheidend dazu beigetragen, dass wir besser verstehen, wie Verhaltensänderungen stattfinden, also gelernt wird, und wie es kommt, dass bestimmte Verhaltensweisen ausgeführt werden. Dabei spielt es eine wichtige Rolle, wie wir Situationen erleben, wie wir uns dabei fühlen und welche Konsequenzen wir daraus — bewusst oder unbewusst — ziehen.

11.11.1 Ursprünge der Psychologie Die Psychologie hat sich Ende des 19. Jahrhundert als wissenschaftliche Disziplin etabliert, um die philosophischen Fragen danach, wie Menschen die Realität wahrnehmen und wie das Bewusstsein beschaffen ist, mit empirischen Methoden wissenschaftlich zu erforschen. Mit diesen und ähnlichen Fragen haben sich schon die griechischen Philosophen beschäftigt: Wie funktioniert der menschliche Geist? Was ist das Wesen von Bewusstsein und Wille? Betrachtet man die Gründungsväter der Psychologie, so stellt man fest, dass sich viele von ihnen zunächst mit der Funktionsweise des menschlichen Körpers befasst hatten. Darüber hinaus entwickelten sie weiteres Interesse an den psychischen Grundlagen menschlichen Verhaltens. Das gilt für WILHELM WUNDT, der zu Ende des 19. Jahrhunderts (1879) das erste Institut für experimentelle Psychologie in Leipzig gegründet hat. Das gilt aber ebenso für IWANOWITSCH PAWLOW, der 1902 den Nobelpreis für Physiologie bekam und kurze Zeit später die „höhere Nerventätigkeit“ bei seinen Laborhunden entdeckte. Er stieß auf Phänomene, die sich nicht mehr rein physiologisch erklären ließen, nämlich dass physiologische Reaktionen bereits auftreten, bevor der dazu gehörige Reiz verabreicht wird. Da musste etwas ganz anderes im Spiel sein als das, was sich allein physiologisch erklären lässt. Biologische Organismen sind lernfähig und können von ihren Erfahrungen profitieren. Auslöser von Reaktionen können auf weitere Reize in der Umgebung übertragen werden. Modern ausgedrückt würde man sagen, dass biologische Organismen dazu in der Lage sind, das Auftreten bestimmter Reize zu antizipieren. Damit war eine grundlegende Erklärung dafür geschaffen, dass wir im Verlaufe unserer Erfahrungen lernen. Wir wissen nach solchen Erfahrungen, welche Reize in der Umgebung auf welche Ereignisse hinweisen. Denken Sie z.B. an die Menükarte im Restaurant, die Sie sorgfältig studieren, weil Sie wissen, dass Sie kurze Zeit später ein wunderbares Essen aufgetischt bekommen werden. Die Ursprünge der Psychologie lassen sich also auf die Philosophie und die Physiologie zurückführen. Ziel der Gründung der sog. “modernen“ Psychologie war es, entsprechend dem Zeitgeist, eine eigene Wissenschaftsdisziplin zu gründen, die an den Kriterien und methodischen Vorgehensweisen der naturwissenschaftlichen Forschung ausgerichtet ist, um grundsätzliche Fragen der Philosophie zu erforschen. Zeitgleich entwickelte sich eine Debatte zwischen den sog. Strukturalisten und den Funktionalisten. Die laborexperimentelle Forschung betonte die exakte Messung und die statistische Analyse. Exakt erfasst werden konnten nur einfache Reaktionen. TITCHENER (ein Schüler WILHELM WUNDTS in den USA) führte die Idee des Strukturalismus ein. Ihm ging es darum, mit wissenschaftlichen Methoden 391

systematisch das „Was“, also mentale Inhalte, zu erforschen. Mit Hilfe der Methode der „Introspektion“ wurden Gedanken und Gefühle im Hinblick auf ihre spezifischen Wahrnehmungs- und Empfindungserlebnisse untersucht. Ihm ging es dabei um die Untersuchung der „Struktur“ des Geistes und des Verhaltens. Ausgangspunkt war die Überlegung, dass jede menschliche Erfahrung als Kombination einfacher Elemente oder Ereignisse verstanden werden kann und daraus zusammengesetzt ihre spezifischen erlebten Eigenarten erfährt. Schon bald gab es Widerspruch gegen eine solche Verengung auf einzelne Reize und einzelne Reaktionen. Der Vorwurf des allzu reduktionistischen, elementaristischen und mentalistischen Vorgehens stand im Raum. Es gab Widerstand aus den Reihen der deutschsprachigen Psychologie. Angeführt durch MAX WERTHEIMER traten die Gestaltpsychologen auf den Plan. Mit ihrem Diktum, dass das Ganze mehr sei als die Summe seiner Teile, öffneten sie den Blick auf eine ganzheitliche Sicht auf das menschliche Erleben und Verhalten. Der Funktionalismus in der Psychologie geht auf den Philosophen JOHN DEWEY zurück. Zentrale Idee war, dass es vor allem wichtig sei herauszufinden, welche Funktion oder auch welchen Zweck ein Verhalten hat. Besonderes Interesse galt der Frage, wie sich Gewohnheiten entwickeln, die den Menschen in die Lage versetzen, sich an seine Umwelt anzupassen und optimal zu funktionieren. Dabei spielt das Zusammenwirken von Organismus und Umwelt eine wichtige Rolle. Psychologen untersuchen heute sowohl die Struktur als auch die Funktion menschlichen Erlebens und Verhaltens.

11.11.2 Bedeutende Richtungen der Psychologie Behaviorismus Verhalten und Veränderung von Verhalten (Lernen) wird von WATSON, SKINNER und PAWLOW aus forschungspragmatischen Gründen ausschließlich mit äußerlich beobachtbaren Ereignissen (dem Verhalten vorausgehenden und nachfolgenden Ereignissen bzw. Reizen der Umwelt) erklärt. Lernen erfolgt durch Effekte, die der Organismus in der Umwelt hervorruft. Verhalten ist daher operant zu erklären, nämlich durch seine Abhängigkeit von den Auswirkungen auf die Umwelt. Innere Prozesse gelten als Ereignisse, die der wissenschaftlichen Analyse nicht zugänglich sind. Inhalte des Gedächtnisses wurden z.B. als kinästhetische Reize verstanden, die sich mit Fortschreiten der methodischen Entwicklung der Physiologie eines Tages auch wissenschaftlich erforschen lassen; Denken galt als innerer sensumotorischer Vorgang, der einer wissenschaftlichen Analyse erst in Zukunft zugänglich sein würde. Diese Richtung der Psychologie hat neben einer grundlegenden Theorie des Lernens u.a. entscheidend zur Psychotherapie, einschließlich der Funktionsweise der Selbststeuerung von Verhaltensänderungen beigetragen. Die Prinzipien des operanten Lernens wurden auf die selbst initiierte Veränderung von Verhalten übertragen. Was der Verhaltenstherapeut bewirken kann, ist dem Menschen dank seiner gedanklichen Kontrollmöglichkeiten seines Verhaltens auch selber möglich. Sozialkognitiver Ansatz Bereits 1954 hat ROTTER den Begriff der Erwartung eingeführt, der dann von BANDURA in seiner sozial-kognitiven Lerntheorie aufgegriffen und 1977 erweitert wurde. Das Forschungsinteresse galt nun wieder stärker den inneren Reizen, die im Kopf entstehen und neben den äußeren Reizen das Verhalten determinieren. Dies führte auch zur Weiterentwicklung der Erklärungsansätze für assoziative Verbindungen zwischen Reizen und Reaktionen, zwischen denen sich eine Beziehung herstellt, die sich in Form von Erwartungen — also inneren gedanklichen Prozessen — zeigt. BANDURA griff einerseits den Erwartungsbegriff auf, erweiterte ihn und führte andererseits das Modelllernen ein. Zentrale Idee des Modelllernens ist, dass wir durch die Beobachtung des Verhaltens und der Verhaltensänderungen anderer Personen auch selbst lernen können. Diese 392

Lernart lässt sich auch auf das Lernen aus Medien (Bücher, Filme) oder verbalen Mitteilungen (Gespräche, Unterweisungen, Erzählungen, Theater) ausweiten. BANDURA konnte zeigen, dass wir Erfahrungen anderer direkt oder auch vermittelt durch Medien aufnehmen und verarbeiten. Wir ziehen daraus Schlussfolgerungen für unser eigenes Verhalten und bauen Erwartungen in Bezug auf die Erfolgswahrscheinlichkeit unseres Verhaltens in ähnlichen Situationen auf. Kognitive Psychologie In der kognitiven Psychologie (z.B. ANDERSON, 2001) ist die Überlegung zentral, dass unsere Gedanken nicht nur auf unseren Verhaltenserfahrungen beruhen, sondern dass unsere Gedanken auch Ursache für Verhalten sein können. Wir können uns Verhaltensoptionen vorstellen, Überlegungen anstellen, was wir tun möchten und zukünftige Folgen des Verhaltens antizipieren. Diese Möglichkeit erlaubt es, dass zukünftige Ereignisse bereits aktuell zu Verhaltensursachen werden können. Wir reagieren also nicht nur auf aktuelle Umstände, sondern haben die Möglichkeit, uns in der Zukunft zu bewegen und über die aktuellen Umstände als Ursachen unseres Verhaltens hinaus zu denken. Der Mensch reagiert nicht nur auf die Realität, sondern auch darauf, wie sich in der subjektiven Realität seiner Gedanken und Vorstellungen die Zusammenhänge darstellen und wie sie seinen Vorstellungen nach zu erwarten sind. Nachdem deutlich wurde, dass das kognitive System weder rein physiologisch erklärbar ist (bzw. darauf noch lange zu warten ist) und kognitive Prozesse auch nicht bewusstseinspsychologisch vollständig zu erklären sind, hat es in den 70er Jahren eine Hinwendung zum informationstheoretischen Ansatz gegeben. Klar war nämlich, dass die Arbeitsweise des kognitiven Systems nicht durchschaubar wird, wenn man sich allein auf die Prozesse konzentriert, die bewusst ablaufen oder zumindest dem Bewusstsein zugänglich sind. Entscheidend war hier die Erkenntnis, dass unsere Erfahrungsbildung überwiegend abläuft, ohne dass wir es merken. Oder merken Sie immer, wie sich Ihr kognitives System verändert, wenn Sie neue Informationen aufnehmen und wie Sie sie verarbeiten? Also musste man der Arbeitsweise unseres Gehirns auf andere Weise auf die Schliche kommen. Man hat unterschiedliche Arten von Reizvorlagen gezeigt und nachgeschaut, wie viel davon in welcher Geschwindigkeit reproduziert werden kann, und daraus Schlüsse auf die Verarbeitungsweise ziehen können. Entscheidende Beiträge hat dazu ANDERSON geliefert, aber auch BADDELEY (in ANDERSON, 2001, MIELKE, 2001), von dem heute noch wichtige Impulse zur Funktionsweise des Arbeitsgedächtnisses ausgehen. Nach wie vor steht das Verhalten des Menschen im Mittelpunkt der Psychologie. Dies gilt es zu erklären. WOLFGANG PRINZ hat in seiner Forschung immer wieder betont, dass Informationsverarbeitung nicht an sich zu betrachten ist, sondern immer im Zusammenhang mit bestimmten Situationen und darin zu generierendem Verhalten steht. Die Fortschritte der Neuropsychologie haben in jüngster Zeit viel dazu beigetragen zu erklären, wie unser kognitives System funktioniert. Auch in diesem Bereich werden sowohl Strukturen als auch Prozesse untersucht. Verschiedene Modelle des kognitiven Systems sind entworfen worden, um sich die architektonische Struktur verdeutlichen zu können. Zur Zeit scheint es eine gewisse Einigung auf sog. Netzwerkmodelle zu geben, mit deren Hilfe sich vieles veranschaulichen lässt, was in Übereinstimmung mit den empirischen Evidenzen bisheriger psychologischer und neurowissenschaftlicher Forschung steht. Was die Funktionsweise betrifft, gibt es mittlerweile die Auffassung, dass wir sowohl kontrolliert als auch automatisiert Informationen verarbeiten und auch die Entscheidungen für bestimmte Verhaltensschemata willentlich bewusst, aber wohl in den meisten Fällen unbewusst intuitiv ablaufen (vgl. sog. Zwei-Prozess-Modelle). Die Forschung zeigt, dass sich automatisiert ablaufende Prozesse nur durch Aufwendung zusätzlicher psychischer Kapazität unterbrechen lassen und dass es kognitiver Anstrengung bedarf, wenn wir kontrolliert — also zielgerichtet — denken und uns an unseren Zielen orientiert verhalten.

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11.11.3 Fragestellungen der Psychologie Die zentrale Fragestellung der Psychologie ist, wie sich menschliches Verhalten und Erleben erklären lässt. Dabei werden innere (psychische) und äußere (situative) Bedingungen analysiert. Weitere wichtige Fragestellungen betreffen die Diagnose von menschlichen Merkmalen. Zu den Persönlichkeitsmerkmalen, die es festzustellen gilt, gehören Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie Leistungen genauso wie z.B. Extraversion, Schüchternheit, Ängstlichkeit oder auch Gewissenhaftigkeit. Die Entwicklungsund Änderungsbedingungen solcher persönlichkeitsspezifischer Merkmale und auch persönlich bevorzugter Werte und Normen gehören ebenso in den Forschungsbereich der Psychologie wie die Untersuchung der dadurch entstehenden Unterschiede im Verhalten und Lernen.

11.11.4 Grundannahmen der Psychologie Wie u.a. BANDURA (in MIELKE, 2001) postuliert hat, gibt es eine triadische Interaktion zwischen Umwelt, Person und Verhalten. Die psychischen Grundlagen des Verhaltens sind Kognition und Motivation (Emotion). Weiterhin gilt, dass aktuelle Erlebens- und Verhaltensweisen (states) zu persönlichkeitsspezifischen Dispositionen (traits) werden können. Solche Dispositionen werden situationsspezifisch mehr oder weniger stark aktualisiert. Dispositionen sind relativ stabil, aber auch veränderbar. Der Mensch ist nicht auf bestimmte Verhaltensschemata festgelegt. Dennoch gibt es unterschiedliche Dispositionen, die mehr oder weniger schnell veränderbar sind. Insbesondere in neuen und undurchschaubaren Situationen verhalten wir uns häufig aufgrund unserer Dispositionen. Der Anteil situativer Einflüsse auf das Verhalten ist nicht zu unterschätzen.

11.11.5 Erklärungen in der Psychologie Theorien bieten Erklärungsmuster für das menschliche Verhalten und Erleben. In Theorien werden Wahrscheinlichkeitsaussagen für Wirkmechanismen formuliert, die Allgemeingültigkeitsanspruch haben. Aufgrund theoretischer Erklärungen sind Bedingungsanalysen des Verhaltens und Vorhersagen möglich. Umfassende psychologische Theorien beziehen heutzutage kognitive, motivationale und immer stärker auch neuronale Prozesse ein.

11.11.6 Typische Anwendungsfelder der Psychologie Das Hauptanwendungsfeld der Psychologie ist immer noch die Klinische Psychologie und hier insbesondere die Psychotherapie einschließlich der Diagnose und Beratung. Ein weiteres Anwendungsfeld stellen Lehr- und Lernprozesse in Erziehung und Unterricht dar. Wie wird Wissen konstruiert und wie entwickeln sich Kompetenzen? Wie lassen sich Kompetenzen feststellen und wo müssen lernunterstützende Maßnahmen ansetzen? Angesichts der Beschleunigung der Verfallszeit von Wissen werden die Erklärung und das Verständnis von selbstgesteuertem Lernen immer wichtiger. Auch die Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie ist ein bedeutsames Anwendungsfeld der Psychologie. Hier werden insbesondere die Ergebnisse der Stressforschung und der sozialpsychologischen Forschung von Interaktions-, Kommunikations- sowie Intra- und Intergruppenprozessen für die Praxis umgesetzt.

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11.11.7 Kritik an der Psychologie Der Psychologie wird häufig vorgeworfen, dass sie reduktionistisch vorgehe und nicht den Menschen als Ganzen wissenschaftlich in den Blick nehme. Die Reduktion auf die wissenschaftliche Erforschung einzelner Prozesse und Strukturen ist selbstgewählt und entspricht einem Wissenschaftsverständnis, bei dem die objektive, zuverlässige und gültige Überprüfung psychischen Erlebens und menschlichen Verhaltens und der wissenschaftlich haltbare Nachweis durch empirische Evidenzen für unabdingbar gehalten werden. Außenstehende erwarten von der Psychologie häufig, dass sie zu Fragen der Natur des Menschen Aussagen macht, und unterstellen, in der Beschränkung auf Strukturen, Prozesse und Funktionen und der Art sie zu erforschen, ein mechanistisches Menschenbild. Richtig ist, dass die Psychologie keine Aussagen zum Menschenbild macht — das ist Gegenstand der Philosophie. Da es in der Psychologie darum geht, Verhalten und Erleben zu erklären und vorherzusagen, ergeben sich daraus auch immer Anhaltspunkte für die Möglichkeiten der Veränderung von Verhalten und Erleben. Das wird häufig als technologische Ausrichtung kritisiert.

11.11.8 Zentrale Begriffe der Psychologie Verhalten und Erleben In der Psychologie geht es um die Erklärung von Verhalten und Erleben. Dabei wird der Begriff „Verhalten“ sehr umfassend verwendet. Er schließt sowohl einzelne Reaktionen als auch Reaktionsmuster ein. Der Einfluss der humanistischen Psychologie hat dazu geführt, dass anstelle von „Verhalten“ auch der Begriff „Handeln“ verwendet wird. Damit wird betont, dass es um typisches menschliches Verhalten geht, das willensgesteuert, freiwillig und selbstverantwortlich ist. Der Begriff des Erlebens bezieht sich auf jegliche Art psychischen Erlebens. Das schließt interne Repräsentationen rein deskriptiver Art ebenso ein wie affektive Bewertungen und Verhaltenstendenzen. Man nimmt eine Situation auf spezifische Art wahr, man kann sie gut oder schlecht, angenehm oder unangenehm finden und man kann erleben, dass man auf eine bestimmte Art und Weise darauf zu reagieren bereit ist. Kognition Der Begriff der Kognition umfasst sowohl kognitive Prozesse als auch kognitive Inhalte. Er umfasst also sowohl das, was wir als Nachdenken bezeichnen, als auch die Inhalte, an die wir grade denken, an die wir uns erinnern und die wir antizipieren. Als Kognition werden also auch die Prozesse bezeichnet, die in unserem kognitiven System ablaufen. Wir können kognitive Inhalte speichern, abrufen und damit intern arbeiten. Dabei verändert sich das kognitive System fortlaufend mit jeder Inanspruchnahme (Informationsverarbeitung). Wir speichern z.B. Begriffe, aber auch Geschehnisse (deklaratives Gedächtnis). Wir speichern darüber hinaus die Art und Weise, wie etwas zu tun oder zu denken ist (prozedurales Wissen). Schließlich automatisieren wir den Abruf und die Umsetzung dieser Fertigkeiten, sodass wir quasi intuitiv auf bestimmte, geläufige Situationen reagieren können. Dieser Prozess erleichtert unser Leben und spart psychische Energie, die wir nutzen können, um uns flexibel an die Situation anpassen zu können, wenn Schwierigkeiten auftauchen oder wir ganz bestimmte Ziele erreichen wollen. Motivation Mit Motivation ist in der Psychologie die jeweilige Kraft gemeint, die unserem Verhalten aktuell Energie und Richtung verschafft. Der Begriff ist in der Psychologie sehr genau gefasst und wird alltagssprachlich häufig mit Motiven verwechselt. Wenn auch ab und an selbst innerhalb der Psychologie von Motivationen gesprochen wird, gibt es Motivation streng genommen nur im Singular. Es sind die unterschiedlichen Motive oder Anreize in einer Situation, die gemeint sind, 395

wenn beispielsweise intrinsische und extrinsische Motivation unterschieden wird. Liegen die Anreize, ein Verhalten auszuführen in der Person oder der Sache selbst, wird gern von intrinsischer Motivation gesprochen. Dabei ist damit nur eine Verkürzung in der Ausdrucksweise vorgenommen worden. Richtig müsste es „intrinsisch bedingte“ Motivation heißen. Motivation ist eines der ersten psychologischen Konstrukte, mit dem die Interaktion von Umwelt und Person theoretisch gefasst wurde und erklärt wird, wie Merkmale der Umwelt und der Person zusammenkommen, um einen bestimmten Zustand der Person hervorzurufen. Es müssen Anreize in der Situation und passende Motive der Person zusammenkommen, um Motivation auszulösen. Fehlt eines von beidem, kann keine Motivation entstehen und damit kein Verhalten. Wenn eine Situation nicht die Gelegenheit bietet, einem bestimmten Motiv oder Bedürfnis der Person nachzukommen, passiert nichts. Wenn man gern zeigen möchte, was man kann (Leistungsmotiv), in der Situation aber gar keine Anforderungen erkennbar werden, die einem die Möglichkeit geben, zu zeigen, was man kann, wird sich auch keine entsprechende Motivation und damit kein Leistungsverhalten einstellen.

11.11.9 Wie können Lernprozesse aus Sicht der Psychologie angeregt werden? Der Gang durch die Psychologie als Wissenschaft vom Verhalten und Erleben hat gezeigt, dass menschliches Handeln von äußeren und inneren Bedingungen abhängig ist. Zu den inneren Bedingungen gehören unsere Wünsche und Ziele, die sich auf Gegenwart und Zukunft richten können. Grundlegend für all unsere Wünsche und Ziele scheinen drei menschliche Bedürfnisse zu sein, die DECI und RYAN zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Forschung gemacht haben. Die Überlegungen, die damit zusammenhängen, lassen sich in vielen Bereichen der psychologischen Forschung wiederfinden. Zunächst gehen sie davon aus, dass der Mensch das Bedürfnis hat, sich kompetent zu fühlen und seine Kompetenzen zu erweitern. Das scheint ein sehr zentrales Bedürfnis zu sein. Auch DIETRICH DÖRNER hat ähnliche Überlegungen angestellt. Er nimmt an, dass das Bedürfnis nach Kontrolle, in einem sehr allgemeinen Sinn, allen anderen Bedürfnissen zugrunde liegt. Wo ein Bedürfnis wach wird oder ein Motiv angeregt wird, erleben wir einen Spannungszustand. Dieser Spannungszustand macht sich in Erleichterung bemerkbar, wenn er gelöst ist. So ist es z.B. auch, wenn wir Ereignisse nicht erklären können. Es entsteht eine innere Unruhe. Wir erleben es als Neugier oder auch Interesse. Sobald wir uns das Ereignis erklärt haben, löst sich die Spannung und wir erleben Erleichterung oder auch Zufriedenheit und Genugtuung, manchmal gar Stolz. Auch in der Selbstkonzeptforschung ist ein ähnliches Motiv untersucht worden, das in Konkurrenz zu unserem allgegenwärtigen Bedürfnis nach einer möglichst hohen Selbstwertschätzung steht. Um unser Selbstwertgefühl nicht zu beeinträchtigen, müssten wir eigentlich stets Vergleiche mit solchen Menschen vermeiden, die uns überlegen sind. Dennoch setzen wir uns solchen Vergleichen aus. Dabei spielt offensichtlich das Bedürfnis nach Selbsterweiterung, danach, die eigenen Möglichkeiten zu verbessern, eine wichtige Rolle. Ein weiteres wichtiges Grundbedürfnis des Menschen ist das Bedürfnis nach Selbstbestimmung oder auch Autonomie. Wir möchten gern selbst Verursacher unseres Verhaltens sein und, soweit es geht, selbst darüber bestimmen, was mit uns geschieht. Dabei gehen DECI und RYAN davon aus, dass unsere Zufriedenheit zunimmt, je stärker die Regulation unseres Verhaltens von einer äußeren in eine innere übergeht. Wenn wir beispielsweise neue Regeln befolgen sollen, tun wir das vielleicht zunächst, weil es uns Vorteile verschafft oder wir der Person, die sie aufgestellt hat, zutrauen, dass die Regeln in Ordnung sind und/oder wir diese Person nicht enttäuschen wollen. Wir können diese Regeln aber auch in unser eigenes Wertesystem einordnen, sie zu unseren eigenen Regeln machen und dadurch das Gefühl 396

der Selbstbestimmtheit zurückgewinnen. Den Prozess der Internalisierung von Werten im Verlaufe der Sozialisation kann man sich ebenfalls so vorstellen. Aus der Sozialpsychologie weiß man, dass die Verpflichtung, Regeln einzuhalten, dann höher ist, wenn man selbst an der Aufstellung dieser Regeln mitgewirkt hat. Ein guter Lehrer setzt das in der Schule bereits um, wenn er mit den Schülern und Schülerinnen gemeinsam Ordnungsregeln des Zusammenlebens entwickelt. Schließlich gibt es ein drittes Grundbedürfnis des Menschen. Wir streben alle nach sozialer Zugehörigkeit. Das macht sich darin bemerkbar, dass wir von anderen akzeptiert werden möchten. Wir fühlen uns unwohl, wenn wir nicht dazugehören. Die Anerkennung anderer Menschen ist uns besonders wichtig. So gern wir auch unsere Kompetenzen unter Beweis stellen, wenn es andere nicht bemerken, ist es nur halb so viel wert. Werden diese drei Motive angeregt, besteht also Gelegenheit, sich kompetent zu zeigen, hat man die Möglichkeit, sein Handeln selbst zu bestimmen, und bietet die Situation auch noch die Möglichkeit, dass das selbstbestimmte und kompetente Verhalten durch andere wahrgenommen und anerkannt wird, verlaufen Lernprozesse deutlich günstiger. Für schulisches Lernen werden diese Ideen derzeit im Konzept des selbstgesteuerten Lernens verstärkt umgesetzt. Die empirisch überprüften Unterrichtsversuche zeigen durchgängig, dass die Investition in die Selbstlernkräfte von Schülern und Schülerinnen das fachliche Lernen kurzfristig nicht beeinträchtigt und langfristig befördert. Das heißt, dass bei gleicher Unterrichtszeit diejenigen Schüler und Schülerinnen, die lernen, ihren Lernprozess selbst zu steuern, zu beobachten und ggfs. nachzuregulieren, genauso viel lernen wie Schüler und Schülerinnen, die die gesamte Lernzeit mit dem Unterrichtsstoff verbracht haben. Bei neuen Unterrichtsinhalten sind dann die Schüler und Schülerinnen, die selbstgesteuert lernen, deutlich besser. Was bedeutet es für das Lernen, wenn der Lernprozess in die Verantwortung des Lernenden selbst übergeht? Der Lernende ist mit der Aufgabe konfrontiert, sein Verhalten so zu steuern, dass er seinen selbstgesetzten Zielen näher kommt. Wenn also sowohl der Lernprozess autonom gesteuert werden soll und auch die Zielsetzung autonom ist, sieht das zunächst nach einem Befreiungsschlag aus. Das kann sich aber auch als zusätzliche Schwierigkeit erweisen, da Ziele und Wünsche an die eigenen, aber auch die Möglichkeiten der Situation zur Zielrealisierung angepasst werden müssen. Die Theorie der Zielrealisierung von GABRIELE OETTINGEN (in HECKHAUSEN und HECKHAUSEN, 2006) zeigt deutlich, dass es nicht hilft, wenn man sich allein die mit den Zielen verbundenen rosigen Zukunftsaussichten vor Augen führt. Auch das Grübeln über die gegenwärtigen Hindernisse hilft nicht weiter. In vielen empirischen Studien in den unterschiedlichsten Lebenszusammenhängen konnte sie zeigen, dass es einer Kontrastierung von gegenwärtigen Hindernissen und zukünftigen Folgen der zu erreichenden Ziele bedarf. Auf diese Weise entsteht eine erhöhte Zielbindung und auch die Realisierung von Zielen wird dadurch deutlich befördert. Soweit zu den Möglichkeiten, die sich aus der menschlichen Fähigkeit zum Durchdenken von Gegenwart und Zukunft ergeben. Die Selbstkontrollfähigkeiten des Menschen gehen aber durchaus darüber hinaus. Wir können die Kontrolle unseres Verhaltens an die Umgebung abgeben — ohne Kontrollverlust zu erleben. Wenn man bedenkt, dass das menschliche Verhalten durch situative Bedingungen und durch eigene Gedanken gesteuert wird, können wir uns diese Tatsache zunutze machen und beides miteinander verknüpfen. Dieser Gedanke wird in der Vorsatztheorie von PETER GOLLWITZER (in HECKHAUSEN und HECKHAUSEN, 2006) umgesetzt. Wenn wir uns etwas vornehmen, um dann in der Situation auch in bestimmter Weise reagieren zu können, nutzt das häufig nicht viel, weil wir von allen möglichen Dingen davon abgehalten werden. Warum sollte man die Kontrolle seines Verhaltens nicht an die Umgebung abgeben? Dann wäre man entlastet und könnte sich noch den vielen anderen Dingen zuwenden, die situativ erforderlich sind. Genau das ist die Idee der Vorsatztheorie. Wir koppeln unser Verhalten an das Auf397

treten eines bestimmten Ereignisses und reagieren dann wie geplant. Stellen Sie sich vor, Sie haben sich vorgenommen, eine Stellenbesetzung ausschließlich nach fachlicher Eignung vorzunehmen. Sie wollen sich nicht von Geschlecht oder Alter beeinflussen lassen. Was muss passieren? Sie müssen sich vornehmen, zunächst die Akte ohne die persönlichen Daten zu lesen und sich dann ein Urteil zu bilden. Der Vorsatz lautet also: „Wenn ich die Akte eines Bewerbers in die Hand nehme, dann ignoriere ich die persönlichen Angaben“ — oder noch schärfer „… dann lege ich das Blatt mit den persönlichen Angaben zunächst zur Seite“. Es sind solche „Wenn, dann“ Pläne, die uns helfen, unsere Vorsätze auch einzuhalten. Automatisierungen, die ohne unser Zutun passieren, werden unterbrochen und durch eigene selbst initiierte Automatisierungen ersetzt.

11.11.10 Bedeutung der Psychologie für das Coaching Psychologische Erklärungen zielen darauf ab, zu verdeutlichen, wie der Mensch funktioniert — wie er Erfahrungen verarbeitet, was er dabei erlebt und wie sich das auf sein zukünftiges Verhalten auswirkt. Der Behaviorismus hat gezeigt, wie unser Verhalten von äußeren Reizen abhängig ist. Die Kognitionspsychologie hat dazu beigetragen zu erklären, wie sich unsere Überlegungen und Gedanken auf unser Erleben und Verhalten auswirken. Die neuropsychologische Forschung hilft uns zu erklären, wo die biologischen Grenzen und Möglichkeiten unserer Lernfähigkeit sind. Die Forschung im Überschneidungsbereich von Kognitions- und Motivationspsychologie zeigt gegenwärtig, wo die Grenzen willentlich geplanten Verhaltens liegen und welche Möglichkeiten wir haben, die Kontrolle über erwünschte Verhaltensänderungen an die Umwelt abzugeben (z.B. die Vorsatztheorie von GOLLWITZER, in HECKHAUSEN und HECKHAUSEN, 2006). Für die Förderung von Lernprozessen scheint es zunehmend wichtiger zu werden, dass der Prozess der Aneignung von Wissen als ein Prozess verstanden wird, der entscheidend vom Lernenden selbst ausgeht. Dies beginnt mit der Feststellung eigener Lernmöglichkeiten — welche Kenntnisse und Fähigkeiten sind bereits vorhanden, welche Potenziale liegen vor und welche Kenntnisse und Fähigkeiten zum Lernen selbst lassen sich nutzen? Diesen Erkenntnissen entsprechend, aber auch in Abhängigkeit von den eigenen Wünschen und Erwartungen, sind die Lernziele und die passenden Lernaufgaben festzulegen. Schließlich kommt der Kontrolle und Bewertung der erreichten Lernergebnisse eine entscheidende Rolle zu. Für nachhaltiges Lernen ist es dabei von entscheidender Bedeutung, dass der Lernende die erreichten Ergebnisse sich selbst und seinen Bemühungen zuschreiben kann und die Ergebnisse in Übereinstimmung mit den Vorstellungen von der eigenen Person und den eigenen Werten und Überzeugungen stehen.

11.11.11 Basisliteratur ANDERSON, J.E. ( 2001): Kognitive Psychologie (3. Aufl.). Heidelberg, Spektrum Verlag HECKHAUSEN, J./HECKHAUSEN, H. (Hrsg.) (2006): Motivation und Handeln (3. Aufl.). Berlin, Springer MIELKE, R. (2001): Psychologie des Lernens. Eine Einführung. Stuttgart, Kohlhammer WILD, E./MÖLLER, J. (Hrsg.) (2009): Pädagogische Psychologie. Berlin, Springer

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11.12 Konstruktivismus/pädagogischer Konstruktivismus von Olaf Albers

11.12.1 Begriffsklärung In der Kunst steht der Begriff des Konstruktivismus für einen Ansatz, der Gegenstände und Inhalte aus einfachen Grundformen zusammensetzt. In anderen Disziplinen, und davon soll hier die Rede sein, ist der Konstruktivismus Ausdruck für eine wissenschaftliche Denk- und Erkenntnishaltung, die davon ausgeht, dass Wissen, Erkenntnisse, Vorstellungen und andere Inhalte nicht naturgegeben sind, sondern vom Menschen als erkennendes Subjekt erst konstruiert werden.

11.12.2 Quellen, Entwicklungen und Vertreter Die Ursprünge einer konstruktivistisch geprägten Geisteshaltung reichen wissenschaftsgeschichtlich weit zurück. So ist beispielsweise die bei SOKRATES (einem Anhänger des Skeptizismus) anzutreffende besondere Gesprächstechnik der „Hebammenkunst”, die einhergeht mit der Vorstellung, dass der Mensch prinzipiell die Welt nicht vollständig durchdringen und begreifen kann („Ich weiß, dass ich nichts weiß!”), durchaus als ein früher Hinweis auf eine Erkenntnismethode zu werten, die dem Konstruktivismus sehr nahe ist. Ähnliches gilt für die von IMMANUEL KANT in der „Kritik der reinen Vernunft” formulierte Behauptung, dass das Erkennen nicht in der Abbildung der Außenwelt besteht, sondern in der Erzeugung (Konstruktion) von Wirklichkeiten. Denn die Vernunft kann nur das an der Natur erkennen, was sie vorher in sie hineindenkt. Je nach persönlichem Anschauungsvermögen werden die Gegenstände sinnlicher Wahrnehmung ausgewählt und der weiteren Verarbeitung durch Geist und Vernunft zugänglich gemacht. Die Welt an sich entzieht sich damit menschlichen Erkenntnisbemühungen und zugleich wird die Trennung zwischen dem erkennenden Subjekt und dem zu erkennenden Objekt aufgehoben. Auch für ARTHUR SCHOPENHAUER ist es dem Menschen nicht gegeben, die Welt so zu erkennen, wie sie tatsächlich ist. Stattdessen begegnet er ihr über all seine Sinne und formt so seine Vorstellungen von seiner Lebenswelt. Bezug auf KANT nimmt auch JEAN PIAGET. Seine Erkenntnistheorie bezeichnet er explizit als Konstruktivismus. Auch für ihn gibt es keine wahre, absolut gültige Erkenntnis. Interessanter sind für ihn aber vor allem die kognitiven Strukturen und Schemata, die dem Prozess des Erkennens zugrunde liegen. Und im Gegensatz zu KANT korrespondieren subjektive Erkenntnis und äußere Realität durchaus miteinander. Diese Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt strebt nach einem Gleichgewicht, das PIAGET Homöostase nennt: eine geistige und organische Fähigkeit, um mit sich selbst und der äußeren Welt in Einklang zu stehen. Eine Fähigkeit, die sich im Zuge der kognitiven Entwicklung stetig verbessert und durch die Fähigkeit zur Selbstregulierung und -organisation maßgeblich gefördert wird. ERNST VON GLASERSFELD, ein Schüler PIAGETS, verknüpft als Erster die Erkenntnistheorie PIAGETS mit dem Begriff des „Radikalen” und erweitert den Ansatz von PIAGET in bedeutsamer Weise. Auf einer Tagung im Jahre 1978 zum Thema „Konstruktion von Wirklichkeiten”, organisiert von FRANCISCO VARELA und HEINZ VON FORSTER, wird deutlich, dass der Konstruktivismus die bisherigen wissenschaftsund erkenntnistheoretischen Vorgehensweisen auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen (Naturwissenschaften, Sprachen, Politikwissenschaft, Soziologie, Psychologie ...) in Frage stellt. Für eine rasante Zunahme der Popularität des „Radikalen Konstruktivismus” sorgen in der Folge die Veröffentli399

chungen von PAUL WATZLAWICK, einem Kommunikationstheoretiker und Therapeuten. Im deutschsprachigen Raum ist es aktuell vor allem HORST SIEBERT, der dem Konstruktivismus im Bereich des Lehrens und Lernens Verbreitung und Geltung verschafft. Neben dem Radikalen Konstruktivismus sind als weitere Strömungen und Ausformungen zu nennen: • • • • •

HUMBERTO MATURANA, der mit seinem „Baum der Erkenntnis” den Versuch unternimmt, biologische Erkenntnisse mit konstruktivistischen Kategorien zu verbinden; GERHARD ROTH und sein Blick auf den Konstruktivismus aus neurowissenschaftlicher Sicht; KENNETH GERGEN und sein soziokultureller Konstruktivismus; NIKLAS LUHMANN und die Verbindung von Systemtheorie und Konstruktivismus sowie SIEGFRIED SCHMIDTS philosophischer Konstruktivismus.

Als eigenständiger und nicht dem Radikalen Konstruktivismus zuzurechnender Ansatz ist noch der Erlanger Konstruktivismus zu nennen, der vor allem durch WILHELM KAMLAH und PAUL LORENZEN geprägt wurde.

11.12.3 Fragestellungen und Theoreme Zentrales Anliegen des Radikalen Konstruktivismus ist die Beantwortung der Frage, wie der Mensch zu gesichertem Wissen und nachprüfbaren Erkenntnissen über die Beschaffenheit der Welt gelangen kann. Als Wissenschafts- und Erkenntniskritik wendet sich der Konstruktivismus vor allem gegen die Methoden des Empirismus. Es wird grundsätzlich bezweifelt, dass die Objekte der Erkenntnisbemühungen ihre wahre Natur schon preisgeben, wenn man sie nur auf die „richtige” Weise beobachtet und diese Beobachtungen anschließend mit geeigneten (statistischen) Verfahren auswertet. Erkenntnisvorgänge müssen vielmehr als reflexive Prozesse gedeutet werden, in die die erkennenden Subjekte immer schon mit ihrer Sicht der Dinge, ihren Erfahrungen und ihrer Sprache hinein wirken und so das Entstehen von Erkenntnissen mitbedingen. Doch was ist, wenn dem so ist, dann noch Wirklichkeit und, um es mit WATZLAWICK zu formulieren: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Für WATZLAWICK ist die Unterscheidung in eine Wirklichkeit erster und zweiter Ordnung sinnvoll. Die erste steht für die materielle, über die Sinne wahrnehmbare Welt; die zweite resultiert aus den Bedeutungen, die den Wahrnehmungen zugeschrieben werden. Wirklichkeit als das Ergebnis von Wahrnehmung ist damit etwas, was erst durch den Menschen erzeugt, subjektiv konstruiert wird. Zugleich entzieht sich dieser Wirklichkeitsbegriff statischen Festschreibungen. Entscheidendes Kriterium für das, was sich für den einzelnen als Wirklichkeit ergibt, ist das individuell Sinnvolle. Die Sinnkategorie wiederum verweist auf die Existenz eines reflexiven Bewusstseins, das in Verbindung mit der Fähigkeit zur Kommunikation erst die Voraussetzung schafft für einen Austausch über Wirklichkeiten. In die Wirklichkeitskonstruktion per Wahrnehmung fließen alle sensorischen Transformationsvorgänge, das Denken und die Sprache, die Emotionen sowie das Handeln, mit ein. Das Ganze geschieht nur teilweise bewusst und kann sich sowohl auf die materielle Umwelt als auch nicht-materielle Dinge beziehen. Zentrale Schalt- und Verarbeitungszentrale ist das Gehirn. Im Rahmen der Wahrnehmungsprozesse arbeitet das Gehirn dabei selbstreferentiell, das heißt, es entscheidet selbst über den Grad der Sinnhaftigkeit der Wahrnehmungen. Als rekursives System bezieht es alles Wahrgenommene auf frühere Erfahrungen, stellt Verbindungen zu den bestehenden neuronalen Netzen her. Der nur indirekte 400

Kontakt zur Außenwelt per Sinneswahrnehmung sorgt gleichzeitig für einen hilfreichen Umgang mit der Komplexität der Realität, indem das Gehirn sich „seine” Welt der Dinge erschafft — untergliedert in materielle Umwelt, eigene Körperwelt und Gedankenwelt. Eine Wirklichkeit, die die menschliche Existenz ausmacht und die sich permanent ändern kann. Diese konstruktivistische Sichtweise des Menschen als individualistisches, geschlossenes, selbstreferentielles System bedarf der Erweiterung, da der Mensch zugleich als soziales Wesen agiert und gezwungen ist, seine Weltsicht mit anderen zu teilen. Der damit verbundene Austausch- und Verständigungsprozess führt zwangsläufig zu einer Vielzahl von Missverständnissen. Das Herstellen konsensfähiger Wirklichkeitskonstruktionen per Kommunikation wird zu einer schier unlösbaren Aufgabe. Aus konstruktivistischer Sicht ist es daher geboten anzuerkennen, dass andere Menschen die Welt anders konstruieren und dass jederzeit abweichende Wirklichkeitskonstruktionen nicht nur möglich sind, sondern auch sinnvoll sein können. Sprache ist nicht nur zentrales Medium für Verständigungs- und Austauschprozesse. Sprache ist zugleich das bedeutsamste Mittel für die Konstruktion von Wirklichkeiten. Der Gebrauch der Worte in Verbindung mit Syntax und Grammatik ermöglicht einerseits hochgradige Abstraktionsleistungen durch das Bilden von Generalisierungen; andererseits ist Sprache das Mittel der Wahl, wenn es darum geht, sowohl das sensorisch Konkrete als auch die Welt des Nicht-Wahrnehmbaren abzubilden. Unabhängig davon, um welche Art von Abbildungsprozessen und Wirklichkeitskonstruktionen es sich handelt, ist Sprache immer auch durch einen Bedeutungsüberschuss gekennzeichnet, der sich in alltagssprachlichen Situationen kaum bemerkbar macht, der aber immer dann, wenn es um die präzise Darstellung von Sachverhalten geht, die Kommunizierenden zwingt, ihre eigenen Worte und die dahinter liegenden Bedeutungen jeweils transparent zu machen. Erst durch diesen Vorgang wird die Voraussetzung dafür geschaffen, dass Wirklichkeitskonstruktionen über das Individuum hinaus verstanden werden und zu einem gemeinsamen Verständnis von Welt führen. Das, was sich aus diesem Dialog ergibt, mündet in einen Wahrheitsbegriff, der nicht mehr das objektiv Wahre zum Ziel hat (z.B. bei Erkenntnisprozessen), sondern der zugesteht, dass das Wahre dieser Welt sich jeweils nur dialogdefinit zwischen den Gesprächspartnern erfassen lässt.

11.12.4 Deutungsmuster und Anwendungsfelder des Konstruktivismus Die skizzierten Grundideen des Radikalen Konstruktivismus verweisen zunächst auf seine Bedeutung als eine eigenständige Wissenschafts- und Erkenntnistheorie. Als solche betont sie, dass das Auffinden allgemein gültiger Gesetzmäßigkeiten per se nicht möglich ist. Und dabei spielt es keine Rolle, ob es sich z.B. um naturwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche oder wirtschaftswissenschaftliche Gegenstände handelt. Erkenntnisse resultieren stattdessen aus Wirklichkeitskonstruktionen, die den oben genannten Bedingungen unterliegen. Eine inhaltliche, auf Klärung abzielende Auseinandersetzung mit anderen wissenschaftstheoretischen Richtungen ist dabei müßig, da jede Richtung für sich und in sich als geschlossenes System agiert und, um es mit THOMAS KUHN zu sagen, ein bestimmtes Paradigma repräsentiert. Innerhalb dieses Systems fungieren die Vertreter und Anhänger quasi als Glaubensgemeinschaft, indem sie auf den hohen Grad an Plausibilität und logischer Geschlossenheit der Methoden der Erkenntnisgewinnung rekurrieren. Für einen Vergleich mit einer beliebigen anderen wissenschaftstheoretischen Position existiert kein gemeinsames Maß — die Sätze und Grundannahmen des einen Paradigmas können mit denen eines anderen Paradigmas nicht sinnvoll verglichen werden. Von „Wahrheit”, als das Ergebnis von Erkenntnisbemühungen, kann daher immer nur unter Bezugnahme auf ein bestimmtes Paradigma gesprochen werden. 401

Ein zentrales Anwendungsfeld des radikalen Konstruktivismus ist der Bereich der Kommunikation — auf die Verdienste WATZLAWICKS ist oben bereits hingewiesen worden. Ein weiteres bedeutsames Anwendungsfeld betrifft das Lehren und Lernen. Auf diesen Punkt wird gesondert unter dem Punkt „Pädagogischer Konstruktivismus” eingegangen. Der konstruktivistische Ansatz wendet sich gegen die schlichte Vorstellung, dass in Kommunikationsprozessen Informationen vom Sender zum Empfänger übertragen und verstanden werden. Die Mehrdeutigkeit von Sprache führt auf beiden Seiten stattdessen regelmäßig zu einer Verkomplizierung des inhaltlichen Austausches. Jedes Individuum sagt, was es sagt, und hört, was es hört, im Kontext der jeweils eigenen Wirklichkeitskonstruktionen. Und dass etwas gesagt wird, beinhaltet nicht automatisch, dass es auch vom Gegenüber gehört und verstanden wird. Kommunikation hängt damit nicht mehr allein davon ab, was vermittelt wird, sondern davon, was die übertragenen Inhalte beim Empfänger auslösen. Diese Fokusverlagerung hin zum Empfänger und das Beschäftigen mit seinen Bedingungen des Verstehens können als besondere Leistung des Konstruktivismus gedeutet werden.

11.12.5 Bedeutung des Konstruktivismus für das Coaching Die besondere Bedeutung des Konstruktivismus für das Coaching erhellt sich, wenn man sich den Coachingprozess selbst noch einmal genauer anschaut. Im Rahmen einer ressourcen- und lösungsorientierten Beratung wird der Klient als Experte für seine Probleme und Lösungen betrachtet. Der Coach ist dabei der Experte für den Coachingprozess zum Finden dieser Lösungen durch den Coachee. Das heißt, der Coach hilft dem Klienten dabei, seine individuell passende Problemlösung selbst zu finden, ohne dabei selbst Lösungsvorschläge einzubringen. Die dabei eingesetzten Interventionstechniken orientieren sich an Zielen, die vorab mit dem Klienten gemeinsam aufgestellt wurden — und anhand derer nachträglich eine Evaluierung des Coachingprozesses möglich ist. Erfolgt der Einsatz dieser Interventionstechniken — Reflexionsangebote — aus einer konstruktivistischen Grundhaltung heraus, dann ergeben sich daraus folgende Konsequenzen: Der Klient wird als Mensch gesehen, der die Dinge und Ereignisse in seiner Welt interpretiert und bewertet. Er konstruiert sich daraus seine besondere Weltsicht, die wiederum sein Verhalten maßgeblich beeinflusst. Probleme werden in diesem Kontext als gescheiterte Versuche gedeutet, innerhalb einer nicht adäquaten Wirklichkeitsinterpretation die eigenen Wünsche und Bedürfnisse angemessen zu erfüllen. Im Coachingprozess ist es dabei wichtig, eben diese Wirklichkeitskonstruktionen des Klienten zunächst einmal zu verstehen und vorbehaltlos anzuerkennen, um dann anschließend gemeinsam mit dem Klienten nützlichere Perspektiven zu entwickeln, innerhalb derer sich das Problem möglichst auflöst. Der durch die Interventionen ausgelöste Perspektivwechsel verändert zugleich die Weltsicht des Klienten. Eine konstruktivistische Grundhaltung bewahrt den Coach ferner davor, die im Rahmen des Coachingprozesses erarbeiteten Lösungsalternativen mit den für den Klienten ungeeigneten Kategorien „richtig” bzw. „falsch” zu überziehen. Diese unterliegen einem Wahrheitsbegriff, der, wie oben gezeigt wurde, sich nicht im Einklang mit konstruktivistischen Grundannahmen befindet. Beachtenswert erscheint ebenso, dass der konstruktivistisch agierende Coach seine in der Regel sprachgestützten Interventionstechniken äußerst behutsam einsetzt. Zum einen aus Respekt vor der Sprache als mächtiges und wirkungsvolles Steuerungsinstrument; zum anderen, weil die oben aufgezeigte Mehrdeutigkeit von Sprache einen intensiven kommunikativen Austausch mit dem Klienten geradezu notwendig macht — nur so kann es ihm gelingen, ein Stück weiter hinter die Weltsicht seines Klienten zu gelangen.

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11.12.6 Exkurs: Pädagogischer Konstruktivismus Im deutschsprachigen Raum hat sich vor allem HORST SIEBERT sehr erfolgreich darum bemüht, die Bedeutung des Konstruktivismus für das Lehren und Lernen in der Schule, Hochschule und Erwachsenenbildung deutlich zu machen. Soll konstruktivistisch gelehrt und gelernt werden, hat das nach SIEBERT zur Folge, dass man sich zumindest mit drei zentralen Themen auseinandersetzen muss: 1. 2. 3.

Mit dem Wirklichkeitsbegriff des Konstruktivismus Mit dem Lernen als eine konstruktive, selbstgesteuerte Tätigkeit Mit dem Lehren als Gestaltung lernerorientierter Lernsituationen

Im Hinblick auf den ersten Punkt beinhaltet dieses unter anderem, sich zu vergegenwärtigen, dass das Gehirn die Wirklichkeit nicht einfach abbildet, sondern seine eigene viable Welt der Dinge und Ereignisse konstruiert. Dabei geht es auch um Erinnerungen, Zukunftsvisionen, Deutungsmuster, Emotionen usw. Ferner ist es gut zu wissen, wie das Gehirn funktioniert, wenn es lernt. Unrealistisch wäre es allerdings, von der Gehirnforschung so etwas wie eine spezielle Neurodidaktik zu erwarten. Notwendig ist auch ein Blick auf die Sinnesorgane, mit deren Hilfe die Konstruktion von Wirklichkeiten erst ermöglicht wird. Für Lernprozesse heißt dieses auch, dass diese um so intensiver ablaufen, je mehr Sinne beteiligt sind. Eine weitere Grundlage für die Wirklichkeitskonstruktionen bilden die Erfahrungen. Für einen konstruktivistisch geprägten Begriff des Lernens heißt das: frühere Erfahrungen reinterpretieren, für neue Erfahrungen offen sein, sich für die Erfahrungen anderer Menschen interessieren. Eine spezielle Form der Aufmerksamkeit und Beschäftigung erfordert ebenso die Sprache als das zentrale Konstruktionsmedium subjektiver, sozialer und kultureller Wirklichkeiten. Verschärfend tritt hier hinzu, dass Sprache durchaus handlungsrelevant ist. Das, was ich sage, bestimmt zugleich maßgeblich mein Handeln — im positiven wie auch negativen Sinne. Für die Punkte zwei und drei empfiehlt Siebert die Auseinandersetzung mit einer Reihe von Handlungsfeldern. Für das Handlungsfeld „Lehre” wird hier betont, dass die Wissensvermittlung zwar nicht wirkungslos, aber doch zumindest als wirkungsunsicher einzuschätzen ist. Dadurch wird sie nicht überflüssig, bekommt aber neue Funktionen zugewiesen: So hat Lehre beispielsweise vorrangig anregende Lernsituationen zu arrangieren. Und die Lehrpersonen müssen ihre überfachlichen Kompetenzen erweitern, indem sie etwa mehr Gelassenheit aufbringen gegenüber den Perspektiven und Deutungen der Lernenden, ihre Motiviertheit für Themen deutlicher nach Außen tragen, mehr reflexive Beobachtung der Lernenden und der eigenen Person durchführen. Im Handlungsfeld „Lernen” ist unter anderem zu beachten und zu bedenken, dass ... • • • •

Lernen möglichst zu differenzierendem statt dualisierendem („schwarz-weiß”) Denken hinführt; Lernen dann als sinnvoll erlebt wird, wenn es gelingt, Zusammenhänge herzustellen; Lernen immer auch eine starke soziale Komponente beinhaltet, indem mit und von anderen gelernt wird; Lernen dazu befähigt, die eigenen Stärken und Schwächen zu erkennen, das eigene Nichtwissen zu akzeptieren; 403



Lernen nicht nur eine kognitive, sondern auch eine emotionale Komponente hat, die das Lernen als positives Lebensgefühl erleben lässt.

In Anlehnung an die konstruktivistische Erkenntnistheorie ergeben sich für das Handlungsfeld „Didaktik” je nach Standpunkt verschiedene Schlussfolgerungen. In der radikaleren Variante wird jedes Lernen als selbstgesteuertes Lernen interpretiert, für das die Didaktik bestenfalls unterstützende Rahmenbedingungen schaffen kann. In einer moderateren Sicht wird dagegen auf eine befruchtende Wechselwirkung zwischen Lehrendem und Lernendem gesetzt. Das vorhandene Sachwissen wird als Angebot offeriert, von dem der Lernende Gebrauch machen kann oder auch nicht. Das Wissen wird nicht in die Köpfe der Lernenden transportiert, sondern es entsteht ein Vermittlungsprozess zwischen dem eigenen Sachwissen und dem Erfahrungswissen der Lernenden. Die in Lehrplänen, Curricula, Seminarangeboten, Lehrbüchern formulierten Lerninhalte existieren nur der Form halber. Was am Ende genau zum Lerninhalt wird, bestimmt letztlich der Lernende individuell. Letzteres lässt sich in begrenzter Form durch die Wahl der Lehrmethoden beeinflussen, was Gegenstand der Betrachtungen im Handlungsfeld „Methodik” ist. Dort wird dafür plädiert, die bisher dominierenden Vermittlungsmethoden durch lernerzentrierte Konstruktionsmethoden zu ersetzen bzw. zu ergänzen. Kennzeichen für diese Methoden ist die aktive Aneignung der Wirklichkeit, bei der die Lernenden durch die Reflexion ihrer Wirklichkeitskonstruktionen ihr Selbst- und Weltverständnis erweitern. Zugleich erwerben sie damit Techniken des selbstgesteuerten Lernens und verbessern so ihre eigene Lernfähigkeit. Neben biografischen Methoden sind dies vor allem Methoden, die auf Visualisierung setzen, die einen Perspektivwechsel initiieren oder zu intensiver Reflexion des Lehr-Lern-Prozesses auffordern. Ihr Einsatz sollte sowohl teilnehmer- als auch situationsorientiert erfolgen. Im Handlungsfeld „Gruppendynamik” wird dagegen die Lerngruppe selbst zum Gegenstand der Betrachtungen und Analysen. Das Handlungsfeld „Beratung” wendet sich der Frage zu, wie einzelne Lernende in ihrem Lernprozess optimal begleitet werden können. Soll der Fokus stattdessen mehr auf dem Lehrenden liegen, dann ist das Handlungsfeld „Supervision” einzubeziehen. Als weitere Handlungsfelder werden von SIEBERT noch beschrieben: Wissensmanagement, Interkulturalität, Motivation und Biografie.

11.12.7 Bedeutung des Pädagogischen Konstruktivismus für das Coaching Eine Auseinandersetzung mit den oben angedeuteten Inhalten des Pädagogischen Konstruktivismus kann für einen Coach hilfreich sein, wenn es darum geht, das eigene Rollenverständnis und, mehr noch, das eigene Verständnis vom Lehren und Lernen zu klären. Die oben bereits beschriebene konstruktivistische Grundhaltung erfährt damit zugleich eine sinnvolle Erweiterung. Ein mögliches Ergebnis dieses Klärungsprozesses mag dies verdeutlichen und zugleich zusammenfassen. So könnten für einen Coach am Ende folgende Leitgedanken für seine Arbeit als maßgeblich gelten: • • •

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Klienten lassen sich in der Regel nicht belehren oder aufklären. Klienten haben ihren „eigenen Kopf”, sie denken (im positiven Sinne) eigenwillig und eigensinnig. Klienten lernen nicht, was ihnen gesagt wird, sondern, was als relevant, bedeutsam, integrierbar erlebt wird.



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Als Coach verfüge ich nicht über die „Wahrheiten”, sondern ich vermittle lediglich meine eigenen Konstrukte und Ansichten über die Dinge — wenn überhaupt. Über die Bedeutsamkeit und Verwertbarkeit (Viabilität) meiner Informationen entscheidet allein der Klient. Als Coach bin ich in erster Linie Moderator, Begleiter und Unterstützer von Lernprozessen meiner Klienten. Im Sinne einer „Ermöglichungsdidaktik” stehen Prozesse der selbstständigen und selbsttätigen Lösungsfindung des Klienten im Vordergrund. Der Klient ist aufgefordert, sich nicht „konsumorientiert”, sondern aktiv im Coachingprozess zu verhalten. Das aktive Mitgestalten und die Verantwortungsübernahme des Klienten sind Voraussetzung dafür, dass am Ende ein erfolgreiches Ergebnis erzielt wird.

Darüber hinaus erscheint es auch sinnvoll und angemessen, die Ausbildung zum Coach per Seminarangebot an den Prämissen einer konstruktivistisch orientierten Erwachsenenbildung auszurichten.

11.12.8 Basisliteratur GLASERSFELD, ERNST (1997): Radikaler Konstruktivismus. Frankfurt MATURANA, HUMBERTO/VARELA, FRANCISCO (1987): Der Baum der Erkenntnis. Bern SIEBERT, HORST (2005): Die Wirklichkeit als Konstruktion. Frankfurt am Main SIEBERT, HORST (2005): Pädagogischer Konstruktivismus. Weinheim SIEBERT, HORST (2008): Konstruktivistisch lehren und lernen. Augsburg VON

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11.13 Kreativität von Stephan Sonnenburg

Maler — Künstler — Bilder — Kinder — Farben — Architekt — Designer — Phantasie Kunst — Musik — Werbeagentur — Plastik — Basteln — Zeichnung — Vernissage — Bunt Fotografieren — Pinsel — Sticken — Handarbeit — CARLO PETRI4 Diese Aufzählung zum Begriff „kreativ“ stammt aus einer von CARLO PETRI erstellten Ideenbank, die aus einer umfangreichen Assoziationsbefragung hervorging. Dabei scheint eines ganz deutlich zu sein: Menschen assoziieren mit kreativ und Kreativität überwiegend das Künstlerische und Berufe, die sich in diesem Umfeld befinden. Soll es nicht bei einer spontanen Annäherung an den Begriff stehen bleiben, so wertvoll sie auch sein mag, ist festzuhalten, dass Kreativität mehr ist als eine Möglichkeitsbedingung des Künstlerischen. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Phänomen „Kreativität“ zu einem bedeutenden Thema entwickelt, ja noch mehr: Kreativität ist zu einer entscheidenden wirtschaftlichen Ressource geworden und könnte sich nach der Agrikulturisierung, der Industrialisierung sowie der Dienstleistungs- und Informationsausrichtung zu Beginn des 21. Jahrhunderts als ein neues gesellschaftliches Paradigma etablieren.

11.13.1 Anfänge und Entwicklung der Kreativitätsforschung Der wissenschaftliche Diskurs zum Phänomen „Kreativität“ setzte in den 1950er Jahren ein. Mit JOY P. GUILFORD begann im Jahr 1950 eine neue Zeitrechnung in der systematischen Auseinandersetzung mit Kreativität als Forschungsgegenstand. Seine Pionierleistung bewirkte eine stärkere Alltagsfokussierung und eine analytische Eigenständigkeit, aus der sich die moderne psychologische Kreativitätsforschung entwickelte. Infolge des in den USA ausgelösten „Schocks“ durch den ersten russischen Sputnik-Start am 4. Oktober 1957 wurde Kreativität zu einem gesamtgesellschaftlichen Thema. Man zog in den USA plötzlich die technische Überlegenheit im Vergleich zur Sowjetunion in Zweifel. Des Weiteren spielten in dieser Zeit ablaufende gesellschaftliche Veränderungen eine wichtige Rolle: 1. 2. 3.

der Bedarf an kreativen Leistungen bzw. Produkten nach dem zweiten Weltkrieg, ein Wandel innerhalb der Erziehungsideale mit Interesse an selbstbewussten, konfliktfähigen und emanzipierten Menschen sowie ein Bildungsoptimismus, der zu Programmen der Kreativitätsförderung führte.

Dies hatte zur Folge, dass amerikanische Forschungseinrichtungen gegründet wurden, die sich mit Kreativität beschäftigen. Bis heute bleibt die Auseinandersetzung mit Kreativität in der Psychologie allerdings eine Randerscheinung. Ein Hauptgrund mag darin liegen, dass sich Kreativität als facettenreiches Phänomen keiner einzelnen psychologischen Disziplin, wie Entwicklungs- oder Sozialpsychologie, unterordnen lässt und deshalb kaum thematisiert wird. Jedoch ist Kreativität in den letzten fünfzig Jahren in weiteren 4

Carlo Petri, Kreativität auf Knopfdruck, 1995, S.233 ff.

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Wissenschaftsdisziplinen, u.a. Soziologie, Biologie, Wirtschaftswissenschaften, Kulturwissenschaften, Philosophie und Pädagogik, zu einem relevanten Forschungsgegenstand geworden. Die Psychologie bleibt die Leitwissenschaft. LENK (Kreative Aufstiege, 2000, S.76) geht sogar soweit, dass er die Kreativitätsforschung mit der Psychologie der Kreativität gleichsetzt. Der Status quo der Forschung macht aber deutlich, dass seit den 1980er-Jahren vielversprechende und richtungsweisende komplexe Ansätze entwickelt worden sind. Eine allgemein akzeptierte theoretische Grundlage oder gar eine umfassende Kreativitätstheorie innerhalb der involvierten Wissenschaften fehlt bis heute und wird kaum zu leisten sein. Denn jede Disziplin hat bereits mehrere spezifische Sichtweisen hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes entwickelt, was ein ganzheitliches Annähern an Kreativität erschwert.

11.13.2 Definition von Kreativität Analysiert man die Wissenschaft und Praxis der Kreativität, kann man feststellen, dass sich Kreativität leichter beobachten als definieren lässt und somit ein nur schwer greifbares Phänomen darstellt. Seinen etymologischen Ursprung hat das Wort in der lateinischen Sprache. Es leitet sich von „creare“ ab, was „schaffen“, „erschaffen“, „erzeugen“ oder „ins Leben rufen“ bedeutet. In der Alltagssprache wird Kreativität vorwiegend subjektiv und intuitiv verwendet. Es ist bemerkenswert, dass der Begriff einerseits nicht exakt beschrieben werden kann, andererseits aber in großer zwischenmenschlicher Übereinstimmung benutzt wird. Es scheint eine Art unbewusste Übereinkunft darüber zu geben, was Kreativität bedeutet. Neben dieser alltagssprachlichen Auffassung hat sich in der Wissenschaft ein breit gefächertes Begriffsverständnis herausgebildet. Die zum Teil konfuse definitorische Ausgangssituation lässt sich vor allem dadurch erklären, dass Kreativität ein multidisziplinäres Konstrukt darstellt und auf verschiedene Gegenstandsbereiche bezogen wird. Die meisten Auffassungen lassen sich einer von drei Kategorien zuordnen. Im Mittelpunkt des jeweiligen Begriffsverständnisses steht entweder das Individuum mit seinen kreativitätsrelevanten Fähigkeiten oder der ideengenerierende Prozess bzw. das kreative Produkt. Obwohl die Ausgangslage äußerst vielfältig ist, lässt sich eine Gemeinsamkeit in den meisten Definitionen wiederfinden: Kreativität ist, in welcher Form auch immer, durch das Neue charakterisiert. Allerdings geht es nicht um das Neue um jeden Preis, sondern dem Neuen muss eine Sinnhaftigkeit innewohnen. Es muss einen persönlichen oder gesellschaftlichen Sinn erfüllen. Dabei ist Sinnhaftigkeit weit gefasst zu verstehen. Sie umschließt u.a. die Nützlichkeit, Werthaltigkeit, Bedeutsamkeit und Qualität, die das Neue auszeichnen muss. Basierend auf diesen Annahmen bietet sich folgende Definition von Kreativität an, wobei sie weniger als ein Finitum, sondern vielmehr als eine Beschreibung zu verstehen ist. Denn ein Beschreiben wird eher dem Umstand gerecht, dass Kreativität leichter zu lokalisieren als zu definieren ist bzw. dass sie eher im Sinne einer Metapher begriffen werden sollte: Kreativität ist das menschliche Potenzial für sinnvolle Neuartigkeit, das sich im situativen Tun entfaltet.

11.13.3 Typische Fragestellungen in Bezug auf Kreativität Die Multiperspektivität auf Kreativität birgt in sich Risiko und Chance: auf der einen Seite das zwischen den Wissenschaftsdisziplinen Nichtverstehenkönnen, auf der anderen Seite das Fördern von neuen Ideen und weiterentwickelten Konzepten für das Phänomen „Kreativität“. Die verschiedenen Perspektiven spiegeln sich in typischen Leitfragen wider, deren unterschiedliche Beantwortung die Studienvielfalt über Kreativität verdeutlicht: 407

• • • • •



Wofür steht Kreativität: ein psychisches oder ein soziales, ein allgemeines oder ein außergewöhnliches Phänomen? Wo liegen die Anwendungsfelder: Kreativitätsförderung im Alltag oder in unterschiedlichen Domänen wie Kunst, Wissenschaft oder Wirtschaft? Was ist die Analyseeinheit: Individuum, Team, Gruppe, Organisation oder das soziokulturelle Umfeld? Was sind die Ziele der Untersuchung: Entwicklung von Theorien und Messinstrumenten oder die Kreativitätsförderung? Wo liegt der Forschungsfokus: personale und kognitive Merkmale, Aspekte des Problemlösungsprozesses, Leistungen bzw. Produktmerkmale, situative Bedingungen oder soziale Akzeptanz? Mit welcher grundlegenden Methode wird Kreativität analysiert: quantitativ oder qualitativ?

11.13.4 Typische Deutungsmuster in der Kreativitätsforschung Die Analyse- und Lösungsoptionen für den Untersuchungsgegenstand „Kreativität“ können in drei wesentliche Diagnosebereiche eingeteilt werden: psychometrische, experimentelle und biografische Verfahren. Die seit GUILFORD am häufigsten verwendeten Methoden zur Erforschung von Kreativität sind psychometrische Testverfahren. Sie dienen zur Erfassung kreativer Individuen mit ihren kognitiven Fähigkeiten, vor allem den divergenten Denkfähigkeiten. Damit wird das Können umschrieben, möglichst viele unterschiedliche Lösungen bzw. Verwendungen für eine vorgegebene Aufgabenstellung zu entwickeln. Das Ziel liegt darin, Individuen auf einer standardisierten Kreativitätsskala vergleichen zu können. Psychometrische Methoden stellen den ersten Versuch dar, Kreativität als etwas Alltägliches zu erfassen und sich von der Vorstellung zu lösen, dass sie ein außergewöhnliches und nur Genies vorbehaltenes Phänomen darstellt. Kritisch zu bewerten ist die Trivialität vieler Tests und nach dem heutigen Forschungsstand die Unmöglichkeit, einem komplexen Konstrukt ausschließlich über Standardbefragung in Laborsituationen gerecht werden zu können. Experimentelle Verfahren fokussieren die kognitiven Prozesse, die letztendlich zu einem kreativen Produkt führen. Wie die psychometrischen Methoden zeichnen sich experimentelle durch Tests in Laborsituation aus. Sie versuchen, die Vielschichtigkeit von Kreativität zu erfassen, indem sie die verschiedenartigen Einflüsse auf den Problemlösungsprozess und die entstehenden Ausdrucksformen beobachten und analysieren. Ihre Stärke zeigt sich gerade darin, über die kausalen Zusammenhänge und Abhängigkeiten von Variablen valide Aussagen treffen zu können. Dies ist jedoch zugleich auch die Schwäche der experimentellen Verfahren, denn infolge der Laborsituation können kaum Generalisierungen auf Alltagssituationen vorgenommen werden. Biografische Verfahren beschäftigen sich mit der Untersuchung kreativer Persönlichkeiten und ihrer Lebensgeschichten. Diese Methoden verlassen die Laborsituation und setzen sich mit Personen auseinander, die in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen konsensual als kreativ eingestuft werden. Es ist ein wesentliches Ziel der biografischen Methoden, im Vergleich der kreativen Individuen personale, kognitive, aber auch soziale Parallelen festzustellen. Ihre große Stärke liegt in den detaillierten Untersuchungen von kreativen Personen, ihrem Vorgehen und ihren überragenden Leistungen. 408

Da sich diese Methoden ausschließlich mit wenigen historisch bedeutenden Individuen beschäftigen, mangelt es den Ergebnissen gezwungenermaßen an Repräsentativität und Überprüfbarkeit. Um sich Kreativität und ihren Dimensionen umfassend zu nähern, ist verstärkt auf eine Kombination der unterschiedlichen Methoden zu setzen. Gerade in der multimethodalen Diagnostik ist ein fruchtbarer Weg zu sehen, den Stillstand in den Untersuchungsmethoden zu überwinden.

11.13.5 Axiome, Theorieansätze und Vertreter der Kreativitätsforschung Im Mittelpunkt steht bis heute der Mensch als schöpferisches Einzelwesen bzw. als Kreator. Vier Forschungsschwerpunkte auf die individuale Kreativität haben sich herausgebildet: das kreative Individuum, der kreative Schaffensprozess, das kreative Produkt sowie der Kontext bzw. die Umwelt des Kreators. In den letzten Jahren kristallisieren sich neue Sichtweisen heraus, wobei vor allem die Gruppenund Teamkreativität sowie die Kreativität in Organisationen zu nennen sind. Das wissenschaftliche Hauptinteresse in Bezug auf das kreative Individuum liegt in der Bestimmung der charakteristischen Variablen. Bei der Analyse konzentriert sich der eine Teil der Forscher auf die Kreativität von Genies bzw. herausragenden Persönlichkeiten in bestimmten gesellschaftlichen Domänen und konzeptioniert Kreativität als eine Sonderbegabung. Der andere Teil untersucht die grundlegenden Eigenschaften von Kreativität und begreift sie somit als eine Basisausstattung des Menschen. Deshalb ist es bis heute innerhalb der Forschung umstritten, ob sich Unterschiede in der kreativen Leistungsfähigkeit zwischen Menschen auf Schwankungen hinsichtlich der Grundmerkmale zurückführen lassen oder ob sie sich aus der Spezifik der jeweiligen Domäne und der Einmaligkeit von Individuen ergeben. Die wichtigen und empirisch häufiger bestätigten Merkmale des Individuums, die für die kreative Leistungsfähigkeit als relevant angesehen werden, lassen sich in drei Cluster einteilen: Kognitionsfähigkeiten, Persönlichkeitseigenschaften und Motivationsfaktoren. Der kreative Prozess wird vorwiegend als psychisch-kognitives Problemlösen unter der Prämisse, dass der Prozess bei allen Menschen ähnlich abläuft, untersucht. Neben seiner psychischen Betrachtungsweise gewinnt die soziokulturelle und situative Perspektive an Bedeutung, was gerade für das Coaching sehr wichtig ist. Obwohl durchaus Unterschiede bei kreativen Prozessen festzustellen sind, werden sie im Grunde genommen als unwesentlich eingestuft. Um den kreativen Prozess zu visualisieren und somit für Studien oder die Kreativitätsförderung handhabbar zu machen, haben sich Phasenmodelle durchgesetzt. In der Forschung berufen sich Autoren immer wieder auf das Modell von GRAHAM WALLAS, das sich in seiner Grundform in vier Phasen einteilen lässt: Präparation Nachdem sich das Problem herauskristallisiert hat, werden relevante Informationen gesammelt. Eine breit gefächerte Wissensbasis wirkt einer vorschnellen Kategorisierung und Verallgemeinerung im Verlauf des Prozesses entgegen. Inkubation Diese in der Forschung kritisch diskutierte Phase macht vermutlich den Unterschied zwischen „normalem“ und kreativem Problemlösen aus. Sie wird als schöpferische Pause beschrieben, in der eine zumeist unbewusste Weiterverarbeitung des Problems erfolgt. Illumination Sie ergibt sich direkt aus der Inkubation durch die Synthese der im Prozess sich herauskristallisierenden Wissenselemente. Die Illumination kann als plötzlicher und vom Menschen als er409

leichternd aufgefasster Einfall bzw. Aha-Effekt charakterisiert werden. Sie gilt als der bedeutendste Aspekt des kreativen Problemlösens. Verifikation Nicht jeder Einfall ist nach Selbstreflexion als wertvoll einzustufen. Nach einer Bewertung in Hinblick auf den Neuartigkeitsgehalt und die Anwendbarkeit wird die Lösung verworfen oder als gut befunden. Bei Bedarf wird das Ergebnis so lange verändert oder angepasst, bis das finale Produkt entwickelt ist. In vielen Fällen werden die möglichen Reaktionen der Umwelt bei der Überprüfung berücksichtigt. Das Grundmodell von WALLAS ist Ausgangspunkt für Weiterentwicklungen des kreativen Prozesses. Die erste Modifikation in Form einer Phasenerweiterung betrifft den Beginn, in dem die Problemstellung als eine eigenständige Phase konzipiert wird. Es gibt zwei idealtypische Problemarten, die prinzipiell abweichende Auswirkungen auf den weiteren Ablauf des kreativen Prozesses haben: vorformulierte und selbst entdeckte Probleme. Der wesentliche Unterschied liegt in der Dauer des Problemlösungsprozesses. Vorgegebene Aufgabenstellungen führen tendenziell zu kürzeren Prozessen, da „nur“ noch die Lösung erarbeitet werden muss. Falls sich die Problemstellung innerhalb des Prozesses ergibt, benötigt man eindeutig mehr Zeit, nicht nur am Anfang, sondern auch während des weiteren Prozessverlaufs. Auf dem Weg zur Illumination begreifen einige Wissenschaftler die Frustration als eine weitere ergänzende Phase. Frust entsteht, wenn der nach einer Lösung suchende Mensch an seine Grenzen stößt. In der Forschung ist bis heute umstritten, wie sich ein kreatives Problemlösen von einem „normalen“ bzw. nicht-kreativen Problemlösen unterscheidet. Das Spannungsfeld an Hypothesen reicht von qualitativ verschiedenen Phasenabläufen (genial-kreatives, normal-kreatives oder unkreatives Problemlösen) bis zu einer Konformität der beiden Prozessarten, deren kreativer Unterschied lediglich durch Variationen bzw. verschiedene Intensitätsgrade von Faktoren, z.B. Zeitaufwand oder eingebrachtes Wissen, bewirkt wird. Aus Sicht des kreativen Prozesses sind als typische Unterschiede zu nennen: (1) eine offenere und komplexere Aufgabenstellung, (2) eine eher heuristische Vorgehensweise, bei der Lösungswege für ein Problem erst entwickelt werden müssen, (3) intensivere unbewusste Vorgänge, (4) eine längere Inkubationszeit sowie (5) die Relevanz einer höheren Qualität der Ergebnisse. Als dritter Forschungsschwerpunkt hat sich das kreative Produkt als das Ergebnis eines Problemlösungsprozesses etabliert. Produkt kann als ein Oberbegriff verstanden werden, der sich von Ideen über Theorien, Handlungen, Leistungen bis zu Produkten im engeren Sinne spannt. Im Gegensatz zu den individualen Merkmalen und den psychischen Prozessen kann man kreative Produkte, soweit sie als Artefakte von Gedanken zum Ausdruck gebracht worden sind, beobachten und beschreiben. Sie bilden das notwendige Bindeglied zwischen dem kreativen Individuum und der „Außenwelt“. Immer wieder werden zwei grundlegende Kriterien genannt, die kreative Produkte auszeichnen: Neuartigkeit und Sinnhaftigkeit (siehe hierzu noch einmal die Definition). Innerhalb der Forschung wird kontrovers diskutiert, wie eine Bewertung der Neuartigkeit und Sinnhaftigkeit erfolgen soll. Dabei hat sich folgender Minimalkonsens herausgebildet: Steht ein kreatives Produkt im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses, ist eine gesellschaftliche Akzeptanz zwingend, weil persönlich für kreativ gehaltene Produkte in keinem beobachtbaren öffentlichen Kontext stehen. Kreativität entsteht nicht im Vakuum, sondern hängt von kontextualen Bedingungen ab. Der Mehrwert dieser Betrachtung besteht in der Erweiterung des allgemeinen Kreativitätsverständnisses, indem man sich von der Fokussierung auf das Individuum löst. Der Begriff „Kontext“ ist komplex und wissen410

schaftlich schwer zu fassen. Denn aus der Perspektive des Individuums ist alles Umwelt, was nicht zu seiner Physis und Psyche zählt, angefangen von der Makroumwelt (z.B. Gesellschaft und Natur) über die Mesoumwelt (z.B. Domänen und Organisationen) bis hin zur Mikroumwelt (z.B. Familie und Freunde). Daraus folgt zwangsläufig, dass Kreativitätsstudien kaum normativ und umfassend sein können. Sie beziehen sich vielmehr auf Einzelfälle, sind eher fragmentarisch und setzen sich bis zu einem gewissen Grad der Spekulation aus.

kooperativ

individual

Trägerschaft

Relevanz

Um die unterschiedlichen Auffassungen idealtypisch verorten und gegenüberstellen zu können, wird im Folgenden eine Vier-Feld-Typologie der verschiedenen Kreativitätsarten vorgestellt. In der Regel kann man mit ihrer Hilfe den begrifflichen und methodischen Ausgangspunkt einordnen. Die Abbildung (entnommen aus SONNENBURG, Kooperative Kreativität, 2007, S. 68) visualisiert diese Typologie mit acht Theorieansätzen von bedeutenden Kreativitätsforschern, die innerhalb der Forschung hohe Resonanz erzeugt haben. Die beiden bestimmenden Dimensionen stellen „Trägerschaft“ — entweder einzeln oder kooperativ — und „Relevanz“ — entweder für sich oder für einen öffentlichen Kontext — dar. Daraus lassen sich die folgenden Kreativitätsarten ableiten: 1. individual-privat, 2. individual-publik, 3. kooperativ-privat und 4. kooperativ-publik.

privat

publik

Komponentenmodell AMIBLE

systemischer Ansatz CSIKSZENTMIHALYI

interaktionales Modell WOODMAN und SCHOENFELDT

ökologischer Ansatz HARRINGTON

Beiträgekombinationsmodell NIJSTAD und PAULUS

Ansatz des kreativen Feldes BUROW

psychoökonomischer Ansatz RUBENSON und RUNCO

mikrointeraktionales Modell SAWYER

Dem individual-privaten Feld lässt sich die Forschungsrichtung zuordnen, welche Kreativität als einen psychischen Merkmalenkomplex betrachtet, der einem (mehr oder weniger stark ausgeprägten) Wesensbestandteil jedes Menschen entspricht. Die entscheidenden Methoden sind psychometrische und experimentelle Testverfahren. Für die Untersuchung der kooperativ-privaten Kreativitätsart werden ähnliche Vorgehensweisen wie bei der individual-privaten angewandt, jedoch stehen im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses Gruppen, Teams oder Organisationen. Kreativitätsforscher, die sich für gesellschaftsverändernde Kreativität bedeutender Einzelpersonen interessieren, können dem individualpubliken Feld zugewiesen werden. In erster Linie werden als Analyseinstrumente biografische Verfahren eingesetzt. Entsprechende methodische Gemeinsamkeiten gibt es zwischen der individualpubliken und der kooperativpubliken Kreativitätsart, wobei der Untersuchungsgegenstand soziale Systeme sind. 411

11.13.6 Kreativitätsförderung durch Techniken In allen Phasen eines kreativen Prozesses können Kreativitätstechniken förderlich sein und prozesssteuernd eingesetzt werden, wobei ihre Relevanz zwischen Inkubation und Illumination besonders groß ist. Sie stellen strukturierte Verfahren dar, um die Ideengenerierung zu stimulieren. Dabei berücksichtigen sie sowohl kommunikativ als auch psychisch anwendbare Heuristiken, wie z.B. wechselseitiges Assoziieren, Analogieschließen, Kombinieren, Variieren, Abstrahieren oder Zerlegen. Die Anzahl der publizierten und in der Praxis angewandten Kreativitätstechniken ist unüberschaubar, jedoch lassen sich die meisten Verfahren auf bestimmte Grundtypen zurückführen. Gerade das Brainstorming hat in der Praxis hohe Popularität erreicht und ist die mit Abstand am häufigsten verwendete Technik. Innerhalb der Kreativitätsforschung wird sie deshalb am meisten diskutiert und als einzige intensiv empirisch untersucht. Bezüglich seiner inhaltlichen Ausgestaltung setzt das Brainstorming verstärkt auf die Verknüpfung von Heuristiken, vor allem zwischen dem wechselseitigen Assoziieren und dem Variieren sowie Kombinieren von Beiträgen. Aus dem Brainstorming haben sich die meisten Variationen entwickelt wie Brainwriting, Brainsketching oder elektronisches Brainstorming. Vier Regeln bestimmen den Ablauf einer Session: (1) keine Kritik an den mitgeteilten Ideen äußern, (2) die Ideen der anderen weiterentwickeln, (3) der Phantasie freien Lauf lassen und (4) möglichst viele Ideen produzieren. Häufig wird die letzte Regel variiert, indem das Ziel nicht Quantität, sondern Qualität der Ideen ist. Im kreativen Prozess und auch beim Coaching muss situativ entschieden werden, welche Kreativitätstechnik erfolgsversprechend ist. Die Teilnehmer sollten eine positive Einstellung gegenüber der Methode haben, damit sie sich günstig auf die Kreativitätsentfaltung auswirkt. Von den verschiedenen Verfahren sind normalerweise nicht sofort werthaltige Ergebnisse zu erwarten, da sie Erfahrung durch (regelmäßiges) Üben voraussetzen. Es ist von Vorteil, wenn der Coach die grundlegenden Techniken beherrscht, sodass der Coachee von seinem Wissen im Prozessverlauf profitieren kann.

11.13.7 Kritik an der Kreativitätsforschung Mit einem provokativen Zitat macht HARTMUT VON HENTIG (Kreativität, 1998, S.27) deutlich, dass unabhängig von der Fachausrichtung die Beschäftigung mit Kreativität bis heute Systematik und wissenschaftliche Fundiertheit vermissen lässt: „Wer sagt, Kreativität sei eine Chance, muss a) wissen, was Kreativität ist, und b) eine Vorstellung haben, wie man sie erlangt oder bei anderen fördert. Beides ist in den Wissenschaften nur ganz unzureichend der Fall. Ihre Grundannahmen sind schlicht, ihre Instrumente ganz und gar von diesen bestimmt, ihre Ergebnisse trivial.“ Seine Aussage erklärt sich weitgehend dadurch, dass es innerhalb der Kreativitätsforschung eine große Anzahl an populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen gibt, welche eine intensive theoretische Beschäftigung mit der Thematik vermeiden und sich auf das Vermitteln von einfachen Rezepten zur Kreativitätssteigerung konzentrieren.

11.13.8 Typische Begriffe und deren Deutung in der Kreativitätsforschung Kreativität steht in engem Bezug zu Innovation. Die Meinungen über deren Verhältnis weichen stark voneinander ab — von der Synonymität über Berührungspunkte und Schnittmengen bis zu einer Hierarchisierung. Beide Begriffe haben ihren etymologischen Ursprung in der lateinischen Sprache. Krea412

tivität leitet sich von „creare“ ab (siehe weiter oben), Innovation lässt sich auf „innovare“ zurückführen und bedeutet „erneuern“ oder „verändern“. Aus der Herkunft lassen sich erste kennzeichnende inhaltliche Unterschiede ableiten. Mit Kreativität konnotiert man das Entstehen oder die Entwicklung des Neuartigen, wohingegen Innovation eher für das stetige Verbessern und die Weiterentwicklung des Vorhandenen bzw. für ein Ergebnis oder einen spezifischen Produkttyp steht.

11.13.9 Bedeutung von Kreativität für das Coaching Zwischen Kreativität und Coaching gibt es vielfältige Beziehungen. Einerseits kann Coaching helfen, die Kreativität von Individuen oder Gruppen zu fördern. Dabei fokussiert das kreative Coaching die individuale oder gruppale Produktivität, den Prozess der Kreativitätsentfaltung sowie die situative Selbstgestaltung, damit die Coachees ihre persönlichen Ziele verwirklichen können. Andererseits ist Kreativität eine Kernkompetenz des Coach in der Beratung des Coachees. Die kreative Kompetenz spannt sich von den eigenen kognitiven Fähigkeiten, wie divergentes Denken, bis zu den „Rules & Tools“, den passenden Methoden und Techniken der Kreativitätssteigerung. Des Weiteren kann man Kreativität als ein Basiskonstrukt des Coachings betrachten, in dem Sinne, dass der kreative bzw. schöpferische Mensch den anzustrebenden Grundtypus der Beratung verkörpert. Denn jede CoachingSituation ist ein kreativer Akt der Selbstwirksamkeit.

11.13.10 Basisliteratur BOOS, EVELYN (2007): Das große Buch der Kreativitätstechniken. München HOLM-HADULLA, RAINER M. (2007): Kreativität: Konzept und Lebensstil. Göttingen KAUFMAN, JAMES C. (2009): Creativity 101. New York LENK, HANS (2000): Kreative Aufstiege: Zur Philosophie und Psychologie der Kreativität. Frankfurt am Main RUNCO, MARK A. (2007): Creativity: Theories and Themes: Research, Development, and Practice. San Diego SONNENBURG, STEPHAN (2007): Kooperative Kreativität: Theoretische Basisentwürfe und organisationale Erfolgsfaktoren. Wiesbaden

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11.14 Lehren und Lernen von Enke Spänkuch

11.14.1 Sprachlehr- und -lernforschung (Lehren und Lernen fremder Sprachen) Die Wissenschaftsdisziplin der Sprachlehr- und -lernforschung (üblicherweise verkürzt zu Sprachlehrforschung) fragt danach, auf welche Weise Fremdsprachen erworben und/oder gelernt werden und welche empirisch begründeten Empfehlungen für die Fremdsprachenvermittlung daraus abgeleitet werden können. Das Forschungsinteresse richtet sich sowohl auf den durch Unterricht gesteuerten als auch außerhalb des Unterrichts ablaufenden Fremdsprachenerwerb, wie z.B. das selbstgesteuerte Lernen in authentischer, auch virtueller Kommunikation und das Lernen im Tandem.

11.14.2 Ursprünge der Sprachlehrforschung Ursprünge systematischer Erforschung des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen gehen zurück bis an das Ende des 19. Jahrhunderts, als man erstmals in bewusster Abgrenzung von der Didaktik alter Sprachen, also des Lateinischen oder Altgriechischen, von der „Didaktik der neueren Sprachen“ oder des „neusprachlichen Unterrichts“ sprach. In dieser Zeit orientierte sich diese stark an der Entwicklung der Sprachwissenschaft und der Pädagogik. Bis zum zweiten Weltkrieg galt das Interesse noch dem Fremdsprachenunterricht in den Gymnasien und Realschulen, in den folgenden Jahrzehnten dehnte sich das Arbeitsfeld der Fremdsprachendidaktik auf alle andere Schulformen aus. Kennzeichnend für diese Zeit sind Studien, die z.B. die Überlegenheit einer der beiden „großen“ Vermittlungsmethoden der damaligen Zeit — der Grammatik-Übersetzungsmethode und der audio-lingualen Methode — beweisen sollten. Mit den 70er-Jahren begann eine Ausweitung des Arbeitsfeldes über den Bereich der Schule hinaus: Zum einen wuchs der Fremdsprachenunterricht in der Weiterbildung (z.B. in den Volkshochschulen) in allen deutschsprachigen Ländern stark an, zum anderen ist diese Periode gekennzeichnet durch breite Expansionsbestrebungen an den Hochschulen. Mit der Gründung von universitären Sprachlehrinstituten bzw. Sprachenzentren sollte der Status des Fremdsprachenunterrichts an Hochschulen über die bloße Sprachpraxis hinausgehen. Denn an diesen Sprachenzentren wurde die Vermittlung von Fremdsprachen auch wissenschaftlich begleitet. Aus bildungspolitischer Sicht war dies ein wichtiger Grund zur Entwicklung der Wissenschaftsdisziplin der Sprachlehrforschung. Aber auch die Erkenntnis, dass als Basis für den eigenständigen Wirklichkeitsbereich „Lehren und Lernen fremder Sprachen“ weder die Neuphilologien, noch die Literaturwissenschaft oder die Linguistik fungieren konnten, führte in einer wissenschaftsmethodisch und teilweise sehr kontrovers geführten Abgrenzungsdebatte zur Gründung der Sprachlehrforschung. Hatte die Fremdsprachendidaktik bis dahin in ihren Forschungsaktivitäten vornehmlich Lehrmethoden und lehrerseitiges Handeln fokussiert, kennzeichnet die Sprachlehrforschung die konsequente Lernerorientierung. 1976 wurde an der Ruhr-Universität Bochum das Seminar für Sprachlehrforschung gegründet, an dem auch der erste Studiengang Sprachlehrforschung in der Bundesrepublik eingerichtet wurde.

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11.14.3 Entwicklung der Sprachlehrforschung Die Darstellung der Entwicklung der Sprachlehrforschung und affinen Disziplinen kann hier nur in Grundzügen skizziert werden und vernachlässigt wichtige Einzelergebnisse der vergangenen 20 Jahre. Die Suche nach der idealen Fremdsprachenvermittlungsmethode bildete vor allem in den 60er- und 70er-Jahren den Schwerpunkt in der fremdsprachendidaktischen Forschung. Unter dem Stichwort „Paradigmenwechsel“ wurde in enger Abhängigkeit von gängigen linguistischen Modellen und lerntheoretischen Annahmen eine Lehrmethode als jeweils modern propagiert. Allerdings erbrachten die groß angelegten vergleichenden Studien zur Wirksamkeit von Unterrichtsmethoden keine eindeutigen Belege für die Überlegenheit einer einzigen Methode. Diese globale Methodendiskussion wird daher — wenn überhaupt — allenfalls aus historischen Gründen verfolgt. Ähnlich global erfolgte auch die Diskussion über „den“ Spracherwerb. Neben den klassischen Lerntheorien (Behaviorismus, Kognitivismus, Nativismus usw.) haben sich in der Geschichte der Fremdsprachenerwerbsforschung auch unterschiedliche, teilweise sich ergänzende, teilweise aber auch sich widersprechende, spezifische Hypothesen zum Erwerb fremder Sprachen entwickelt. Diesen Erklärungsansätzen ist eigen, dass sie den einen oder anderen Faktor des Lernprozesses als besonders relevant herausstellen. So wird z.B. der Rolle der Muttersprache, dem Grad von Bewusstheit — also dem Anteil unbewusster oder bewusster Prozesse beim Erwerb einer Fremdsprache, dem Einfluss des sozialen Kontextes jeweils ein besonderer Stellenwert eingeräumt. Die sogenannten Erwerbshypothesen (z.B. Kontrastiv-, Identitäts-, Interlanguage-, Interaktions-, Output-, Noticinghypothese) sind Reflexe unterschiedlicher Entwicklungen in der Fremdsprachenforschung zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Die Entwicklung „großer“ Spracherwerbshypothesen steht heute allerdings nicht mehr im Mittelpunkt der Forschung. Denn die Erforschung von fremdsprachlichen Lernprozessen orientierte sich zunehmend am Lerner als Individuum mit seinen persönlichen Lernvoraussetzungen und Lernstrategien. Zunächst verfolgte man noch das Konzept des „good language learner“, das heißt, man wollte den Idealtypus des erfolgreichen Fremdsprachenlerners bestimmen. Bald schon verstärkte sich jedoch die Einsicht, dass individuelle Lerner auf sehr unterschiedlichen Wegen zum Erfolg gelangen können. Eine große Anzahl von individuellen Faktoren, wie Alter, Geschlecht, Lernstrategien, Persönlichkeit, Motivation, Gedächtnis usw. wurde näher untersucht. Neuere Erkenntnisse favorisieren daher nicht mehr eine bestimmte Methode; vielmehr wird das übergreifende Prinzip der Kompetenzorientierung anhand der folgenden (nur skizzenhaft aufgeführten) didaktisch-methodischen Leitprinzipien umgesetzt: Lernerorientierung Fremdsprachenvermittlung knüpft an den Sprachbiographien und den Lern- und Kommunikationserfahrungen der Lerner an. Da diese individuell unterschiedlich geprägt sind, muss in einem konsequent lernerorientierten Ansatz durch differenzierende Maßnahmen den Lernern die Möglichkeit angeboten werden, Fremdsprachen auf individuellen Wegen zu erwerben und zu lernen. Handlungsorientierung Mit dem Erwerb von fremdsprachlichen Kompetenzen werden Lerner in erster Linie handlungsfähig, das heißt, sie „wissen“ nicht nur etwas, sondern „können“ in für sie relevanten Kommunikationssituationen angemessen handeln. Alle Aktivitäten im Unterricht dienen also dazu, dass die Lerner in der Fremdsprache handlungsfähig werden. Der Unterricht wird dabei einerseits selbst als Handlungssituation angelegt, er bereitet andererseits die Lerner auf mögliche außerinstitutionelle Handlungsbedürfnisse vor.

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Kommunikationsorientierung Übergeordnetes Ziel der Fremdsprachenvermittlung ist das Gelingen kommunikativen Handelns in konkreten Situationen. Erst in zweiter Linie geht es um die Sicherung formaler normorientierter Korrektheit. Eng verbunden ist damit die Themen- und Inhaltsorientierung, da der Erwerb einer Fremdsprache auch immer die Fähigkeit impliziert, sich in dieser Sprache neue Erfahrungen und Erkenntnisse zu erschließen. Im Unterricht werden daher insbesondere solche Themen und Inhalte und solche Lernbereiche berücksichtigt, die für die jeweiligen Lerner bedeutsam und ergiebig sind. Interkulturelle Orientierung Sprachliches Handeln ist grundsätzlich in kulturell geprägte Kontexte eingebunden. Der Unterricht schafft daher Anlässe für die Lerner, die Spezifik kulturell geprägter kommunikativer Verhaltensweisen wahrzunehmen, Gemeinsamkeiten und Differenzen zu den eigenen Verhaltensweisen zu reflektieren und für das eigene Handeln in der Fremdsprache nutzbar zu machen. Zur interkulturellen Orientierung gehört auch, dass Lerner Kenntnisse, Fähigkeiten und Methoden erwerben, um in der Lebenswirklichkeit des zielsprachigen Raumes kompetent handeln zu können. Ein mittlerweile gut erforschtes Konzept ist die Aufgabenorientierung (Task based learning and teaching). Unter task versteht man in diesem Zusammenhang ein Lernarrangement, das auf die Bearbeitung eines Themas ausgerichtet ist und dabei echte Mitteilungsabsichten und -bedürfnisse hervorruft. Der Unterricht ist also so zu gestalten, dass über konkrete lebensbedeutsame Aufgabenstellungen die Komplexität sprachlichen Handelns von den Lernern bereits im Lernprozess erfahren wird. Man interessiert sich für Aufgaben unter dem Gesichtspunkt, welche mentalen Prozesse verschiedene Aufgabentypen auslösen, soziokulturell orientierte Forschung nimmt auch den Kontext und die Interaktion (z.B. zwischen Lehrenden und Lernern) in den Blick. Aufgabenorientiertes Lernen schließt ein lineares Vermittlungskonzept mit der Sequenz Präsentation — Übung — Anwendung weitgehend aus und etabliert sich aktuell auch in der Testforschung zu einem zentralen Thema. Ein weiteres Forschungsgebiet betrifft den bilingualen Sachfachunterricht. Bilingualer Sachfachunterricht heißt, dass ein Sachfach, etwa Geographie, Geschichte, Biologie oder auch Sport in der fremden Sprache, in der Regel in Englisch oder Französisch, unterrichtet wird. Die komplexen Fragen, die diese Unterrichtsform aufwirft, werden von einer Anzahl von Forschern in Angriff genommen. Schließlich wurden Untersuchungen von subjektiven Theorien und Einstellungen von praktizierenden Fremdsprachenlehrenden, also den Vorstellungen darüber, wie Lehren und Lernen „funktionieren“, durchgeführt. Sie zeigten: Subjektive Theorien sind recht stabil und sie werden durch die traditionelle Lehrerbildung nicht grundsätzlich verändert. In vielen Bereichen besteht eine beträchtlicher Unterschied zwischen den „mitgebrachten“ subjektiven Theorien, die von einem stark traditionellen Fremdsprachenunterricht geprägt sind, und dem, was Konsens der wissenschaftlichen Gemeinschaft ist. Dies betrifft vor allem die Einschätzung der Bedeutung des expliziten Lernens und die Hochschätzung der Rolle der Grammatik in den subjektiven Lehrertheorien, die Wirksamkeit von Fehlerkorrekturen sowie den möglichst weitgehenden Ausschluss der Muttersprache aus dem Unterricht bzw. die verhaltene Einstellung gegenüber dem Potenzial von Zwei- oder Mehrsprachigkeit, Sprachmischung usw. Weitere neue Forschungsgebiete betreffen Formen autonomen Lernens, z.B. das Lernen im Tandem. In einem Tandem arbeiten zwei Personen mit unterschiedlichen Muttersprachen miteinander, um voneinander ihre Sprachen zu lernen: Wer z.B. Spanisch lernen möchte und Deutsch als Muttersprache spricht, arbeitet mit einem Tandem-Partner zusammen, dessen Muttersprache Spanisch ist und der 416

Deutsch lernen möchte. In diesem Kontext sind auch die bislang wenigen Studien zur Wirksamkeit von Sprachlernberatung5 anzusiedeln. Eine wachsende Anzahl von Studien beschäftigt sich mit dem multifunktionalen Einsatz der Informationstechnologie als Lern- und Unterrichtshilfe. Hier interessiert man sich vor allem für E-Mail-Projekte, die Lernwirksamkeit internetbasierter Sprachlernaufgaben (z.B. WebQuests) und für begegnungsorientiertes, interkulturelles Lernen.

11.14.4 Typische Fragestellungen in der Sprachlehrforschung Angesichts der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes „Lehren und Lernen fremder Sprache“ kann hier nur (in fast unzulässiger Weise reduziert) auf „Highlights“ hingewiesen werden. Zu typischen Fragestellungen gehören u.a.: •



• • • • •

• • • •

5

Wie erklären sich die individuellen Unterschiede beim Lernen? Welche Faktoren scheinen verantwortlich zu sein für konkrete Bedingungen der Sprachaufnahme, Sprachverarbeitung und Sprachproduktion? Welche Rolle spielen dabei affektive Faktoren, also z.B. Teile der Motivation, Einstellungen, Emotionen, Ängste? Wie stark beeinflussen Persönlichkeitsfaktoren (z.B. Extra-/, Intraversion, Ambiguitätstoleranz, Risikobereitschaft) oder die Lernstile (z.B. Feldunabhängigkeit/Feldabhängigkeit; analytischer/globaler Lernstil, Bevorzugung eines bestimmten Wahrnehmungskanals) den Lernprozess? Wie ausschlaggebend sind soziale Faktoren des Umfeldes (z.B. sozioökonomische Stellung), Kontaktqualität, Kontaktausmaß, Distanz zu den Sprechern der Zielsprache, zur Sprache, der Unterricht (z.B. Lehrer, Lerngruppe)? Worin unterscheiden sich Lernprozesse auf unterschiedlichen Altersstufen? Lernen Frauen anders als Männer? Wie groß ist der Einfluss der Muttersprache oder vorher erlernter Zweit-/Fremdsprachen auf den Erwerb einer Zweit-/Fremdsprache? Wie z.B. merkt sich ein Lerner etwas? Hat er für sich selbst bewusste Verfahren entwickelt, wie er am besten lernt? Welche Fehler kommen immer wieder und aus welchen Gründen vor? Wie beeinflussbar ist die lernersprachige Entwicklung? Wie muss Unterricht aussehen, um Erwerbsprozesse zu ermöglichen? Was legitimiert das Unterrichtsprinzip der Einsprachigkeit? Welche Rolle spielt explizite Grammatikvermittlung beim Fremdsprachenerwerb? Wie geht ein Lehrer in seinem Unterricht vor? Welche Auswirkungen hat sein Verhalten auf die Lerner? Wie beeinflussen Medien und neue Technologien Lernprozesse? Was kann man im Fremdsprachenunterricht und beim selbstgesteuerten Lernen beobachten? Welche Konsequenzen für die Fremdsprachenvermittlung und für die Unterstützung selbstgesteuerten Fremdsprachenlernens kann man aus Untersuchungsergebnissen ziehen?

Der Begriff „Sprachlernberatung“ hat sich in der Sprachlehrforschung vor ca. 20 Jahren im Kontext des Tandemlernens etabliert. Beratung zielte im damaligen Verständnis vordergründig auf eine fachliche Unterweisung und Betreuung ab. Das Beratungskonzept ist in den letzten 20 Jahren jedoch erheblich weiterentwickelt worden (vgl. auch Ausführungen unter Punkt 9) und wäre heute terminologisch eher in die Nähe des Coachings zu verorten, nämlich als unterstützende Maßnahme zur Entwicklung der Selbstlernkompetenz des Lerners. Die konzeptuelle Weiterentwicklung der Sprachlernberatung dauert noch an; im fachlichen Diskurs wird daher derzeit noch der Beratungsbegriff benutzt. In der Bochumer Ausrichtung der Sprachlernberatung zeichnet sich aktuell der Begriff „Sprachlerncoaching“ ab. 417

11.14.5 Grundannahmen der Sprachlehrforschung In diesem Abschnitt werden Annahmen über Lernen und Lehren fremder Sprachen aufgeführt, die in der Forschungsgemeinschaft mittlerweile als konsensfähig bezeichnet werden können. Lernen Das was gelehrt wird (Input) — wird nicht notwendigerweise gelernt (Intake). Das Angebot von sprachlichem Material wird erst durch die Wirkung individueller Lernervariablen zum sprachlichen Besitzstand. Lernprozesse vollziehen sich individuell unterschiedlich, zum Teil sogar in verschiedenen Sprachen unterschiedlich; es existieren jedoch auch Gemeinsamkeiten in einer Gruppe. Der Lerner entwickelt eine eigene Hypothese darüber, wie etwas in der zu erlernenden Fremdsprache funktioniert. Auf der Grundlage von Input (aktuellen fremdsprachlichen Daten) einerseits und von vorhandenem Wissen (Fremdsprache, Muttersprache, zuvor gelernte Fremdsprachen, allgemeine Sprachlernerfahrungen) andererseits sucht der Lerner rezeptiv nach Input, der die Hypothese bestätigt oder widerlegt. Er interpretiert produktiv Rückmeldungen auf die eigene Sprachproduktion oder die von Mitlernern und greift metasprachlich auf „sichere“ Informationsquellen (Lehrer, Muttersprachler, Grammatik, Wörterbuch usw.) zurück, um seine Hypothese zu testen. In diesem Verständnis ist Lernen ein Prozess des permanenten Hypothesenbildens und des Hypothesentestens. Lernen bzw. Erwerben vollzieht sich dabei über ... Imitation (z.B. von fertigen, relativ komplexen Sprachbausteinen wie „Es tut mir leid“, „Ich hätte gern …“, „Meiner Meinung nach …“), Assoziation, also über die interne Verknüpfung von Inhalten oder Einheiten; eine neue Information wird nicht punktuell gespeichert, sondern wird in einem möglicherweise sehr dichten assoziativen Netzwerk abgelegt (z.B. das mentale Konzept „Rose“ kann sich aus mehreren Merkmalen zusammensetzen: „Ist rot“, „duftet“, „bildet mit -n die Mehrzahl“, „wird oft mit dem Wort pflücken gebraucht, „steht im Garten“ usw. Je mehr und je vielfältiger Merkmale mit dem Konzept „Rose“ assoziativ verbunden sind, um so schneller und durch um so unterschiedlichere Auslöser kann das Konzept „Rose“ aktiviert werden.), Übertragungen aus anderen Sprachen (z.B. Ich vermisste den Zug. Aus dem Englischen: I missed the train.; Je m’intéresse beaucoup pour la musique. Aus dem Deutschen: Ich interessiere mich sehr für Musik.), Übergeneralisierungen innerhalb der Zielsprache (z.B. die Frau — die Frauen, das Problem — die Probleme), unter Einsatz von Kommunikationsstrategien, die ein Lerner zielgerichtet einsetzt, wenn er etwas verbalisieren möchte, aber nicht über die dafür notwendigen Redemittel verfügt (z.B. Paraphrasierung, Themenvermeidung, Themenwechsel, Sprachwechsel, Mimik und Gestik, Bitte um Hilfe), unter Einsatz von

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Lernstrategien, • die sich auf die unmittelbare Informationsverarbeitung richten (z.B. mentale Bezüge herstellen, „intelligentes“ Raten, Wiederholen zum besseren Einprägen, Bilder verwenden, Sprachen miteinander vergleichen), • die sich auf das Überwachen des Lernprozesses richten (z.B. eigene Lernziele bestimmen, Arbeitsschritte festlegen, das Erreichen der Lernziele kontrollieren) • und die auf die Kooperation mit anderen Personen ausgerichtet sind (z.B. um Korrektur bitten, bei kompetenten Muttersprachlern Hilfe suchen). Lernen ist kein linearer Prozess. In der Entwicklung der Zielsprache bilden sich Zwischensprachen, die so genannte Interlanguage oder Lernersprache heraus. Die Lernersprache befindet sich in permanenter Veränderung und folgt eigenen Gesetzmäßigkeiten. Sie entwickelt sich zudem nicht kontinuierlich, sondern von einem „Plateau“ zum nächsten, sie ist aber auch durch Rückschritte oder Stillstände gekennzeichnet. Die Entwicklung der Lernersprache ist nur bedingt von außen beeinflussbar. Fehlerhafte Lerneräußerungen sind Indikatoren für Prozesse des Hypothesentestens und der Konstruktion von Wissen. Sie können ein Indiz für Lernfortschritt sein, der dazu führt, dass ein neues Plateau erreicht wird und sich die Lernersprache stabilisiert. Wer sich in extremer Weise um Fehlervermeidung bemüht, hindert sich selbst am Weiterlernen. Eine konsequent lernerzentrierte und konstruktivistische Sichtweise bedeutet: Lernen ist nicht das Ergebnis der Instruktion durch den Lehrenden, sondern Lernen ist das Ergebnis der Konstruktion durch den Lerner. Lernen ist demnach immer selbstgesteuertes Lernen. Selbstgesteuertes Lernen bedeutet, dass der Lerner Verantwortung über seinen Lernprozess übernimmt. Lehrende sind in dieser Denktradition Helfende. Lehren Eine Sprache kann man zwar nicht lehren, aber es gibt Verfahren, die das Lernen unterstützen. Das Ziel von Unterricht ist also die Schaffung von möglichst günstigen Bedingungen für das Lernen. Ein Fremdsprachenunterricht dient ganz allgemein dazu, die Qualität und die Quantität des Kontakts mit der Fremdsprache für den Lerner sicherzustellen. Eine entscheidende Voraussetzung für den Spracherwerb ist, einem reichen Sprachangebot ausgesetzt zu sein (Input), der idealerweise im Schwierigkeitsgrad leicht oberhalb des aktuellen Kompetenzniveaus des Lerners ansetzt (i+1). Es reicht aber nicht, möglichst viel Input zu bieten, er muss qualitativ hochwertig sein; das heißt, die sprachlichen Formen und Merkmale müssen für den Lerner auffällig und gut wahrnehmbar sein, subjektiv bewusstes Bemerken (noticing) muss ermöglicht werden. Guter Unterricht hilft dabei, Bezüge zu vorhandenem Wissen aufzubauen, Motivation zu wecken und Sicherheit zu geben für die eigene Sprachproduktion (Output). Lehren besteht ebenso in der fördernden Rückmeldung auf Lernergebnisse, in kommunikativem Feedback und in der Anregung zur Selbstkorrektur. Schließlich gehören zum Lehren Verfahren zu leichteren Aufnahme und Verarbeitung sprachlichen Inputs in Form von Visualisierungen, expliziter Regelformulierungen und auch gezielter Verwendung der Muttersprache. Diese Verfahren dienen der Vereindeutigung und können den Hypothesenbildungsprozess der Lerner positiv beeinflussen bzw. beschleunigen. Ein weiterer Vorteil gegenüber außerunterrichtlichen Lernsituationen ist die Bewusstmachung 419

und Vermittlung von Lern- und Kommunikationsstrategien. Diese befähigen die Lerner zu Spracherwerb auch außerhalb von Unterricht. Lehren bedeutet auch eine gewisse Fehlertoleranz. Fehlertoleranz bedeutet nicht, Fehler zu ignorieren. Korrektives Feedback allein führt nicht notwendigerweise zu Lernen, sondern nur dann, wenn es auch Anlass bietet, über das eigene Lernen zu reflektieren. Es gibt nicht den einzig sinnvollen Weg, weder für eine gesamte Lerngruppe noch für eine Person. Die Förderung von Lernerautonomie bietet die Möglichkeit, das eigene Lernen seinem Bedarf, seinen Voraussetzungen, Bedürfnissen und Bedingungen gemäß zu steuern. Das gilt auch für das gemeinschaftliche Lernen in Kursen. Eine unterstützende Maßnahme scheint die begleitende Lernberatung zu sein. In diesem Verständnis ist Lehren weniger instruktionistisches Verhalten als vielmehr eine Unterstützung von Lernern bei ihrem Konstruktionsprozess von Wissen.

11.14.6 Typische Anwendungsfelder der Sprachlehrforschung Fragestellungen der Sprachlehrforschung weisen einen deutlichen Bezug auf zu Forschungsrichtungen, wie z.B. der Mehrsprachigkeitsforschung, Forschung zum fremdsprachlichen Frühbeginn, Bilingualismusforschung, Testmethodik, Verstehensdidaktik u.a. Entsprechend breit erweist sich das potenzielle Wirkungsfeld für Sprachlehrforscher. Das Wissen über Sprache, Spracherwerb, Lernprozesse und über unterstützende Maßnahmen für Lerner gehört zum notwendigen Hintergrundwissen von Fremdsprachenlehrenden in allen Formen institutionellen Lernens im In- und Ausland. Muttersprachliche Kompetenz allein reicht nicht aus, um eine Sprache unterrichten zu können. Nur eine gezielte Ausbildung, die Wissen und Können in Bezug auf die genannten Bereiche umfasst, bereitet auf eine professionalisierte Tätigkeit vor. Auch Sprachlernberater können Lerner nur dann effektiv unterstützen, wenn sie u.a. über lerntheoretisches Expertenwissen verfügen. Kompetenzen im Bereich fremdsprachenbezogener Test-, Prüfungs- und Evaluationsverfahren, sowie fremdsprachenspezifischer Diagnoseverfahren qualifizieren Sprachlehrforscher zu einer Tätigkeit im Bereich der Testentwicklung. Zu weiteren Wirkungsbereichen von Sprachlehrforschern gehört z.B. die Curriculumentwicklung auf der Basis von Wissen über Bildungsstandards, die Entwicklung und Evaluation von Lehr- und Lernmaterialien, z.B. Lehrwerke, Begleitmaterial, computergestützte Lernmaterialien usw. Die Begleitforschung zu sprachenpolitisch ausgerichteten Projekten gehört ebenfalls zu potenziellen Aufgabenfeldern der Sprachlehrforschung.

11.14.7 Typische Kritik an der Sprachlehrforschung Die Eigenständigkeit der Wissenschaftsdisziplin Sprachlehrforschung ist immer noch weitgehend unbekannt. Dies hängt u.a. damit zusammen, dass sich mittlerweile der Terminus „Fremdsprachenforschung“ als Hutbegriff durchzusetzen scheint für eine Reihe von Bezugs- und Nachbarwissenschaften, wie der Fremdsprachendidaktik und der Zweitsprachenerwerbsforschung. Viele der Annahmen und Konstrukte in der Sprachlehrforschung sind keiner direkten Beobachtung zugänglich. Einsicht in innere Vorgänge und ein zuverlässiges Rückschließen auf kognitive und strategische Prozesse von Lernern bedingen neue Operationalisierungen und Formen von Performanzdaten.

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11.14.8 Typische Begriffe und deren Deutung in der Sprachlehrforschung Zentrale Begriffe sind Lernen/Erwerben: Beiden Begriffen liegen Konzepte von Sprachaneignung zugrunde. „Erwerb“ liegt dann vor, wenn der Vorgang der Aneignung einer fremden Sprache außerunterrichtlich, natürlich und ungesteuert vonstatten geht. Unter „Lernen“ versteht man hingegen die unterrichtlich gesteuerte, sozusagen „unnatürliche“ Aneignung. Die Abgrenzung zwischen gesteuertem Lernen in Institutionen auf der einen Seite und ungesteuertem Erwerb auf der anderen Seite erweist sich generell als problematisch angesichts der vielen Mischformen und innovativen Sprachlernformen wie Tandem-Lernen, autonomes Lernen, Lernen mit Medien oder Lernen in Immersionssituationen. Mittlerweile ist diese Dichotomie nicht mehr aufrechtzuerhalten. In der Fremdsprachenforschung setzt sich „Erwerb“ als Oberbegriff immer mehr durch; Lernen bezeichnet eine stilistische Variante. Ein weiteres zentrales Begriffspaar bilden die Termini Fremdsprache/Zweitsprache: Die Unterscheidung Zweit- vs. Fremdsprache bezieht sich gemeinhin auf den Umstand, ob eine neue Sprache im Zielland oder außerhalb des Ziellandes erworben bzw. gelernt wird: Von Zweitsprache und Zweitsprachenerwerb spricht man, wenn der Erwerb innerhalb der Zielkultur stattfindet, von Fremdsprache und Fremdsprachenerwerb, wenn der Erwerb im Kontext der Ausgangskultur geschieht. Die Unterscheidung zwischen Fremd- und Zweitsprache und zwischen den unterschiedlichen Lern- und Erwerbskontexten ist immer nur für den Einzelfall annähernd zu bestimmen. Im wissenschaftlichen Diskurs wird in der Regel von „L1“ gesprochen, wenn es um die Muttersprache oder Erstsprache geht, und „L2“ benutzt, wenn damit die Zweit- oder Fremdsprache gemeint ist. Die zu erlernende Sprache wird als Zielsprache bezeichnet. Da in der Sprachlehrforschung vor allem Lernersprachen untersucht werden, soll der Terminus Interlanguage dargestellt werden. Der Lerner schafft sich, basierend auf dem sprachlichen Input, ein eigenes separates sprachliches Regelsystem, welches seine Lernersprache bestimmt. Dieses System ist ständigen Veränderungen unterworfen. Diese Veränderungen sind auf verschiedene Einflussgrößen zurückzuführen: Von außen wirkt der zielsprachliche Input auf die Lernersprache ein und bedingt Veränderungen. Quasi von innen heraus wirken u.a. die Muttersprache und die bereits vorhandene zielsprachliche Kompetenz. Das heißt, Lerner ändern ihr Regelsystem von Zeit zu Zeit, verwerfen Regeln, fügen neue Regeln hinzu und restrukturieren permanent ihr gesamtes zugrunde liegendes Regelsystem. Ein Lerner des Deutschen, der die Form „er gehte“ verwendet, hat eine Regel internalisiert, nach der die Präteritumsform eines Verbs gebildet wird aus Verbstamm + t + Personalendung. Er wendet diese Regel auf alle Verben an (Übergeneralisierung), obwohl sie laut Grammatik des Deutschen nur auf regelmäßige Verben anwendbar ist. Wenn er nach einer gewissen Zeit und nach einem entsprechenden Input die Form „er ging“ verwendet, dann ist dies ein Indiz dafür, dass der Lerner seine Regel mit Bezug auf „gehen“ verworfen hat und stattdessen eine andere anwendet. Das heißt, der Lerner hat sein Regelsystem zur Präteritumsbildung komplett restrukturiert.

11.14.9 Bedeutung der Sprachlehrforschung für das Coaching Sprachlehrforschung und Coaching treffen sich in dem grundsätzlichen Erkenntnisinteresse: Durch welche Interventionen von außen (Lehren) kann eine Verhaltensänderung (Lernen) positiv beeinflusst werden? Aus den oben genannten Konstituenten für erfolgreiches Sprachenlernen lassen sich mindestens folgende Punkte benennen, die für das Coaching möglicherweise relevant werden: 421

Die Rolle der Sprache Sie wurde z.T. auch in der Sprachlehrforschung (vor allem jedoch in der Linguistik) untersucht hinsichtlich ihrer Funktion sowohl als Medium als auch als Ziel von Interaktion. Auch im Coaching ist Sprache ein zentrales Element und übernimmt jeweils unterschiedliche Funktionen in unterschiedlichen Kommunikationssystemen, nämlich u.a. ... • in der allgemeinsprachlichen Kommunikation zwischen Coach und Coachee; hier ist Sprache in erster Linie das Mittel der Gesprächsführung; • in der fachsprachlichen Kommunikation zwischen Coach und Coachee; hier transportiert Sprache über Fachbegriffe und Terminologie die Fachbezogenheit der Inhalte (z.B. des Faches Marketing, Unternehmensführung, Recht usw.) und dient der Eindeutigkeit, Präzision, expressiven Neutralität der Äußerungen; • in der fachlichen Kommunikation zwischen Coaches; hier dient Sprache dem fachlichen Austausch unter Kollegen. Allerdings ist es denkbar, dass unter Abstufung des Fachlichkeitsgrades diese Sprache Eingang findet in die Kommunikation mit dem Coachee (z.B. im Sinne der Transparenz bei der Vorgehensweise, der Methoden, bei der Formulierung des Vertrages usw.). Alle genannten Ebenen sind interdependent. Kommunikation ist — auf welcher Ebene auch immer — (kooperatives) Handeln. In der Kommunikation geht es zumeist darum, über Interaktion Verständigung zu erreichen. In engem Zusammenhang damit steht also: Die Rolle der Interaktion Je umfassender interaktionelle Aktivitäten der am Lernprozess Beteiligten ausfallen, desto erfolgreicher findet Erwerb statt. Mit der Möglichkeit zum Aushandeln von Bedeutungen (negotiating of meaning) und über interaktive Mittel, wie klärende Nachfragen, Bestätigungen, Bitte um Wiederholung, Korrekturen, Präzisierungen, Paraphrasen kann Verständigung gewährleistet werden. Coaching ist Interaktion par excellence. Dabei ist das Gespräch zwischen dem Coach und dem Coachee — wie mündliche Sprache generell — markiert durch sprachliche Verhaltensweisen, (unbewusste) Regeln und Automatismen, durch den Status und durch die Rollen der Gesprächsteilnehmer, durch äußere Bedingungen, wie Ort, Zeit usw. Da Kommunikation beim Coaching auf Kooperation zielt, sind alle interaktionellen Aktivitäten daraufhin ausgerichtet, positive Effekte auf die Verhaltensänderung des Coachees auszulösen. Die zentrale Fragestellung mit Blick auf „Sprache“ und „Sprachgebrauch“ ist also: Wie wirkt sich welcher Sprachgebrauch unter welchen Bedingungen positiv aus? Ebenso interessant sind auch Fragen, die einem möglichen Zusammenhang zwischen dem veränderten Sprachgebrauch und dem veränderten Verhalten des Coachees nachgehen. Die Rolle der interkulturellen (Handlungs)Kompetenz Das Lernen von Fremdsprachen ist auch immer eine interkulturelle Auseinandersetzung. Auch Coaching findet in der modernen globalisierten Welt zunehmend über eine kulturspezifisch geprägte Kommunikation statt. Das Wissen um und die Sensibilisierung für die eigenen kulturspezifischen Mitteilungsstrukturen, Stile der Fachkommunikation und Verhaltensweisen und die des Kommunikationspartners avancieren insofern möglicherweise zu Kernkompetenzen eines Coaches. Die Rolle der Bewusstmachung von Strategien Die Reflexion über planvolles Vorgehen mit der Absicht, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, wird auch im Coaching verfolgt. So ist es sinnvoll, in Abhängigkeit von konkreten Anliegen allgemeine Arbeits-, Organisations- und Übungsstrategien, Strategien zur besseren Memorisierung, Strategien, sich selbst zu motivieren usw. zu thematisieren (kognitive, metakognitive und sozialaffektive Strategien).

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Aber auch vice versa: In den letzten Jahren hat die Sprachlehrforschung aus der Erkenntnis, dass nicht globale Erwerbstheorien oder Lehrmethoden, sondern individuelle Variablen den Fremdsprachenerwerb maßgeblich beeinflussen, ein enormes Interesse entwickelt an Ansätzen im Coaching und der Beratung. Vor allem im Zusammenhang mit Studien zum Faktor Angst (language learning anxiety) oder dem Konstrukt Motivation wird die Nähe zu Erklärungszusammenhängen aus der Psychologie und/ oder dem Coaching deutlich. Insofern zeichnet sich derzeit ab, dass Coaching — zumindest Kernelemente — zu einem genuinen Bereich der Sprachlehrforschung wird. Auch im Rahmen der Diskussion zu Konzepten der Lernerautonomie erkennt man das Potenzial der individuellen Sprachlernberatung als notwendige Unterstützung bei der Befähigung zu selbstgesteuertem Lernen. Wenngleich ein kohärentes theoretisches Gerüst für die Sprachlernberatung noch aussteht, lässt sich auf dem augenblicklichen Stand der Diskussion konsensuell feststellen, dass die Sprachlernberatung ein Konzept ist, das ... •





von der grundsätzlichen Fähigkeit der Lerner ausgeht, Entscheidungen bezüglich ihrer Lernziele, -wege, -inhalte und -progression selbst zu treffen und ihre Lernergebnisse zu evaluieren. Sprachlernberatung fördert die Autonomie der Lerner, indem sie ihnen hilft, Verantwortung über das eigene Lernen zu übernehmen; von der Annahme ausgeht, dass individuelle Lernerfaktoren den Lernprozess beeinflussen. Jeder Lerner bringt andere Voraussetzungen mit und unterscheidet sich hinsichtlich seiner Lernziele, Motivation, Strategien sowie seiner selbstreflexiven Kompetenz. Es gibt nicht den einzig richtigen Lernweg, die einzig richtigen Lernstrategien für alle. Individuelle Sprachlernberatung regt Reflexionen über das eigene Lernen an und berücksichtigt die individuellen Bedürfnisse der Lerner; eine nicht-direktive Beratung im Sinne eines partnerzentrierten Ansatzes darstellt. Die beratende Person hilft und unterstützt den Lerner, sein eigenes Potenzial zu entdecken und gewinnbringend zu nutzen. Sie begegnet ihm mit positiver Wertschätzung und Akzeptanz und verfügt über die Fähigkeiten wie Empathie, Echtheit und Transparenz. Da der Lerner selbst entscheidet, welchen Lernweg er geht, und sich mit diesem Weg identifizieren muss, ist die Beeinflussung durch Überzeugungen des Beraters in diesem Konzept von Sprachlernberatung unangemessen.

Sprachlernberater arbeiten in der Regel — wie in vielen anderen Beratungssituationen auch — mit Gesprächstechniken aus der Kommunikationspsychologie. Sie dienen als Reflexionsanstöße und Gesprächsimpulse. Dazu gehören z.B. offene Fragen, aktives Zuhören, Spiegeln durch Beschreiben und Zusammenfassen, Mitteilen von Beobachtungen, vorsichtiges Interpretieren anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse, Herstellen von Verbindungen zwischen genannten Faktoren, Akzentuieren, Erweitern und Konkretisieren von Lerneraussagen, vorsichtiges Zuschreiben von Ursachen, Initiieren und Anbieten von möglichen Schlussfolgerungen, Konfrontieren mit anderen Möglichkeiten und evaluierendes Feedback. Im Dialog mit dem Berater soll der Lerner so zu Erkenntnissen über sein eigenes Sprachenlernen kommen.

11.14.10 Basisliteratur BAUSCH, K.-R./CHRIST, H./KRUMM H.-J. (Hrsg.) (2003): Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen/Basel, Francke EDMONDSON, W./HOUSE, J. (2000): Einführung in die Sprachlehrforschung. Tübingen/Basel, Francke. HELBIG, G./GÖTZE, L./HENRICI, G./KRUMM, H.-J. (Hrsg.) (2001): Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch. Berlin/New York, Walter de Gruyter 423

11.15 Lernen von Jens Fleischer und Christian Spoden

Lernen bezeichnet allgemein einen Prozess, der zu einer relativ überdauernden Veränderung im Wissen oder Verhaltenspotenzial eines Organismus auf Grund von Erfahrung führt. Damit sind Ergebnisse von Reifungsprozessen (z.B. Wachstum, Pubertät etc.) oder vorübergehende Veränderungen, beispielsweise hervorgerufen durch Krankheit oder Drogenkonsum, ausgeschlossen. Lernen setzt immer Erfahrung voraus. Mit Erfahrung ist hierbei sowohl direkte persönliche Erfahrung als auch indirekte verbal oder schriftlich vermittelte Erfahrung gemeint. Für eine Betrachtung des Lernens muss zwischen dem Prozess des Lernens und dem Produkt des Lernens unterschieden werden. Ferner kann aufseiten des Lernprodukts zwischen Lernergebnis, dem was gelernt wurde, und Lernleistung (Performance), jenem was sich in beobachtbarem Verhalten äußert, unterschieden werden. Die Güte der Lernleistung hängt sowohl von der Qualität des Lernprozesses als auch von den konkreten Gegebenheiten der Situation sowie der Motivation, den Zielen und Wertvorstellungen eines Lernenden ab. Eng verbunden mit dem Begriff des Lernens ist der Begriff des Gedächtnisses, als der Instanz, welche die Ergebnisse des Lernprozesses dauerhaft speichert. Während diese grundlegenden Auffassungen von Lernen als allgemein anerkannt gelten können, betonen einige Ansätze der Lernforschung primär Veränderungen des Wissens, während für andere Veränderungen des Verhaltens im Vordergrund stehen.

11.15.1 Anfänge/Ursprünge/Quellen des Lernbegriffs Die Ursprünge des Lernbegriffs lassen sich bis in die griechische Antike zurückverfolgen. Eines der Grundprinzipien, nach dem Lernen generell auf Erfahrung basiert, wurde bereits von ARISTOTELES (384-322 v.Chr.) formuliert und später von den Vertretern des Empirismus J. LOCKE (1632-1704) und D. HUME (1711-1776) aufgegriffen, die davon ausgingen, dass der menschliche Geist als „tabula rasa“ geboren und erst durch Lernen ausgeformt wird. Lernen im Sinne des Empirismus lässt sich auf das Prinzip der Verbindung von Ereignissen (assoziatives Lernen) zurückführen, wenn diese a) ähnlich sind, b) im Kontrast zueinander stehen oder c) in räumlicher oder zeitlicher Verbindung auftreten. Letzteres bezeichnet das Prinzip der Kontiguität, wonach beispielsweise im Anschluss an die Assoziation eines Geräusches mit einer unangenehmen Folge (z.B. Zahnbohrer — Schmerzen), dass alleinige Auftreten des Geräusches die Erwartung dieser Folge auslösen kann. Die Überlegungen der Empiristen zum assoziativen Lernen wurden über 100 Jahre später von H. EBBINGHAUS (1850-1909) erneut aufgegriffen. EBBINGHAUS untersuchte in experimentellen Gedächtnisstudien an sinnfreien Silben, bedeutungslosen Wörtern aus jeweils drei Buchstaben, wie z.B. „bap“, die Fähigkeit zur Assoziationsbildung unter verschiedenen Bedingungen. Die Lernkurve, welche den Lernerfolg über die Zeit hinweg beschreibt, sowie die Vergessenskurve, die verdeutlicht, wie viel neu gelernter Stoff nach einer gewissen Zeit noch erinnert wird, gehen auf EBBINGHAUS zurück. Großen Einfluss auf die spätere Lernforschung nahm ebenfalls die Philosophie R. DESCARTES’ (15961650). Vor DESCARTES war die Annahme vorherrschend, dass Verhalten allein durch den freien Willen geprägt sei, was einen Einfluss von externen Reizen ausschloss. DESCARTES' Philosophie ergänzte die Annahme eines freien Willen durch unfreiwilliges Verhalten, Reflexe, von denen er annahm, dass sie ebenfalls Verhalten bestimmen und bei Tieren sogar die einzige Grundlage von Verhalten darstellen. 424

Seine Überlegungen zu Reflexen mündeten in späteren experimentellen Arbeiten an Tieren, u.a. in I. P. PAWLOWS (1849-1936) Arbeiten zum Reflex des Speichelflusses von Hunden, die heute weithin als Ursprung der Lernforschung im engeren Sinne gelten. PAWLOWS Arbeiten gingen unmittelbar Erkenntnisse eines anderen russischen Physiologen, I. M. SECHENOV (1829-1905), voraus, der argumentierte, dass Reize nicht nur direkt Reflexe auslösen, sondern auch die Inhibition (Hemmung) eines Reflexes aufheben können. Eine wichtige Schlussfolgerung daraus war, dass die Intensität eines Reizes und die Stärke des Reflexes nicht zusammenhängen müssen. Selbst komplexe Verhaltensketten wären somit durch schwache auslösende Reize zu erklären. SECHENOVS Forschung gab in der Folgezeit der Untersuchung von Reflexen als Grundlage von Lernen und Verhalten Auftrieb. Einfluss auf die spätere Lernforschung nahmen auch frühe Überlegungen zu kognitiven Prozessen beim Lernen von Tieren. Wegbereiter dieser Arbeiten war C. DARWIN (1809-1882), der DESCARTES vor dem Hintergrund seiner eigenen Beobachtungen kritisierte und die Frage aufwarf, ob Tiere ebenfalls zu intelligentem Verhalten fähig sind. G. ROMANES (1848-1894) schlug in diesem Kontext eine Definition für intelligentes Verhalten vor, die dieses geradezu mit Lernen gleichsetzt und damit weiteren Forschungsarbeiten, wie etwa denen von E. L. THORNDIKE (1878-1949) zum Versuch-Irrtum-Lernen, prägend vorausging.

11.15.2 Entwicklung des Lernbegriffs und bedeutende Richtungen der Lernforschung und deren Vertreter Im geschichtlichen Verlauf der Lernforschung kann grundlegend zwischen behavioralen und kognitiven Lerntheorien unterschieden werden. Die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere in der amerikanischen Lernforschung, dominierende Richtung des Behaviorismus verfolgte das Ziel der Kontrolle und Vorhersage von Verhalten. Damit stand Lernen im Sinne von Verhaltensänderung im Fokus des Interesses. Vertreter des klassischen Behaviorismus wie J. B. WATSON und B. F. SKINNER verstanden Lernen als Aufbau von Reiz-Reaktionsverbindungen und waren der Meinung, dass Lernen sowohl bei Tieren als auch bei Menschen den gleichen grundlegenden Gesetzmäßigkeiten unterliege. Eine basale Form assoziativen Lernens ist das klassische Konditionieren. Der erste wissenschaftliche Beweis, dass Assoziationen gelernt werden können, gelang PAWLOW. In seinen klassischen Experimenten gab er Hunden Futter (unkonditionierter Reiz), die daraufhin mit Speichelfluss (unkonditionierte Reaktion) reagierten. In weiteren Versuchen schlug er während der Futtergabe eine Stimmgabel (neutraler Reiz) und konnte schließlich zeigen, dass nach einigen Durchläufen bereits der Stimmgabeln ohne Futtergabe beim Hund Speichelfluss auslöste. Der Hund hatte gelernt den Ton, der damit zum konditionierten Reiz wird, mit der Vergabe von Futter zu koppeln und mit der nun konditionierten Reaktion Speichelfluss zu reagieren. In etwa zur gleichen Zeit wie PAWLOW formulierte THRONTE, basierend auf seinen Untersuchungen zum Versuch-Irrtum-Lernen bei Katzen, ein fundamentales Lerngesetz, das Gesetz des Effekts, welches die Stärkung oder Schwächung von Reiz-Reaktionsverbindungen als Folge von Verhaltenskonsequenzen beschreibt. Demnach erhöht sich die Auftretenswahrscheinlichkeit einer Reaktion, wenn auf diese Reaktion eine befriedigende Konsequenz folgt. Folgt hingegen eine nicht zufriedenstellende Konsequenz, so vermindert sich die Auftretenswahrscheinlichkeit der Reaktion. Diese Auffassung, wonach Lernen primär von den Konsequenzen eines Verhaltens abhängt, wurde in der Folge von SKINNER in seinen Untersuchungen zum operanten Konditionieren wieder aufgriffen. Das operandi Konditionieren beschreibt im Gegensatz zum klassischen Konditionieren nicht, wie bestehende Verhaltens425

weisen mit neuen Reizen verknüpft werden, sondern wie neue Verhaltensweisen erlernt werden. In enger Übereinstimmung mit THORNDIKE führte SKINNER hierzu das Prinzip der Verstärkungskontingenz ein, wonach ein gezeigtes Verhalten durch einen unmittelbar resultierenden angenehmen Reiz in seiner Auftretenswahrscheinlichkeit erhöht (verstärkt) wird. Zwischen dem Verhalten und dem verstärkenden Reiz be-steht damit eine Verstärkungskontingenz. Als Verstärker kann alles dienen, was geeignet ist, die Auftretenswahrscheinlichkeit einer vorherigen Reaktion zu erhöhen (positive Verstärkung: z.B. materielle Belohnung, Lob, Aufmerksamkeit). Auch das Verhindern oder Abschwächen eines aversiven Reizes kann damit als Verstärker dienen (negative Verstärkung: z.B. Nachlassen von Schmerz oder Angst). In typischen Experimenten aus der Tierforschung werden beispielsweise Ratten in einer Box einem aversiven Reiz (Stromstoß, lautes Geräusch etc.) ausgesetzt. Die Ratten sind in der Lage durch die Betätigung eines Hebels bzw. dem Sprung in eine andere Zone der Box dem aversiven Reiz zu entfliehen. Wird ein erwünschtes Verhalten bei jedem Auftreten verstärkt, spricht man von kontinuierlicher Ver-stärkung. Mitunter erfolgreicher, insbesondere wenn es um das Aufrechterhalten eines bereits gelernten Verhaltens geht, ist die interessierende Verstärkung, bei der eine Verstärkung des gewünschten Verhaltens nur in unregelmäßigen Abständen erfolgt. Als weiteres zentrales Lernprinzip wurde in den 1960er Jahren das Beobachtungslernen (auch Modelllernen) von A. BANDURA eingeführt. BANDURA trug damit der Tatsache Rechnung, dass nicht alle Verhaltensweisen durch direkte Erfahrung positiver und negativer Konsequenzen erlernt werden müssen, sondern insbesondere der Mensch auch in der Lage ist, durch die Erfahrung und die Nachahmung anderer zu lernen. BANDURA untersuchte diese Art des Lernens am Beispiel aggressiven Verhaltens bei Kindern und konnte zeigen, dass Kinder, die zuvor mit einem aggressiven Modell (ein Erwachsener, der aggressives Verhalten zeigt) konfrontiert wurden, eher dazu tendieren, später selbst aggressives Verhalten zu zeigen. Das Beobachtungslernen ist eine im Vergleich zum Versuch-Irrtum-Lernen und operanten Konditionieren in vielen Fällen wesentlich ökonomischere Art des Lernens und gilt außerdem als wesentliche Voraussetzung für soziales Interaktionsverhalten. Besonders erfolgreich ist Beobachtungslernen dann, wenn das Modell der beobachteten Person ähnlich ist und von dieser akzeptiert und geschätzt wird und das Modell mit seinem Verhalten in der betreffenden Situation Erfolg hatte. Ebenso wie zum klassischen und operanten Konditionieren liegen auch zum Beobachtungslernen inzwischen auf neuronaler Ebene einige Erkenntnisse vor. Eine Schlüsselrolle könnten sogenannte „Spiegelneurone“ in motorischen Gehirnregionen spielen, die nicht nur aktiv sind, wenn eine eigene motorische Aktivität ausgeführt wird, sondern auch bei Beobachtung entsprechender Aktivitäten Anderer. BANDURA ging davon aus, dass menschliches Handeln und Lernen weniger von den tatsächlichen als vielmehr von den antizipierten Konsequenzen einer Handlung abhängen. Damit entfernte sich Bandura insbesondere in seinen späteren Arbeiten von den Vertretern des klassischen Behaviorismus. Weitere Ansätze, die ebenfalls eine vermittelnde Position zwischen behavioralen und kognitiven Lerntheorien einnehmen, da sie grundlegende Annahmen des Behaviorismus mit kognitiven und motivationalen Aspekten des Lernens verknüpfen, wurden von J. B. ROTTER, C. L. HULL und E. C. TOLMAN formuliert. Charakteristisch für diese Erwartung-Wert-Modelle, ist die Bedeutung persönlicher Bewertungen, über die Lernen (durch Verstärkung) vermittelt wird. ROTTER formulierte in diesem Zusammenhang eine Theorie, nach der die Wahrscheinlichkeit einer Handlung von der subjektiv eingeschätzten Wahrscheinlichkeit für eine Verstärkung und dem persönlichen Wert, welchen man dem Verstärker beimisst, abhängt. HULL ging unabhängig von ROTTER ebenfalls davon aus, dass Lernen eine Funktion der erwarteten Verstärkung ist. Darüber hinaus berücksichtigt seine Theorie neben früheren Erfahrungen (früheren Konditionierungen) die Anreizwirkung des Verstärkers und das Bedürfnis (oder den Trieb) des Lernenden nach dem Verstärker. TOLMAN postulierte, dass Verstärkung keine notwendige Bedingung für Lernen darstellt. So konnte er in experimentellen Untersuchungen zeigen, dass Lernvorgänge 426

stattfinden können, ohne dass das gelernte Verhalten unmittelbar gezeigt werden muss (latentes Lernen). Hinreichend ist vielmehr die Erwartung, dass bestimmte Verhaltensweisen zu entsprechenden Ergebnissen führen. Tolman war damit einer der ersten, der zwischen dem Prozess des Lernens und dem Lernergebnis bzw. der Lernleistung unterschied. Seit den 1960er Jahren gewannen kognitive Lerntheorien in Anlehnung an die Arbeiten der frühen Gedächtnispsychologie u.a. von EBBINGHAUS zunehmend an Bedeutung. Damit rückte Lernen im Sinne von Wissenserwerb sowie der Aufbau komplexer kognitiver Fähigkeiten in den Fokus des Interesses. Im Gegensatz zu den Vertretern des Behaviorismus gehen die Vertreter kognitiver Lerntheorien davon aus, dass mentale (kognitive) Prozesse des Verarbeitens, Verstehens und Erinnerns von Informationen eine zentrale Rolle beim Lernen spielen. Man spricht bei diesen Ansätzen daher auch von Informationsverarbeitungsmodellen. Eng verbunden mit der Auffassung von Lernen im Sinne der Veränderung von Wissensbeständen ist, wie zuvor bereits dargestellt, der Begriff des Gedächtnisses. Lernen und Gedächtnis lassen sich damit als Prozess und Produkt der Verarbeitung von Informationen verstehen. Eines der frühesten Informationsverarbeitungsmodelle stammt von R. C. ATKINSON und R. M. SHIFFRIN. Elemente dieses Modells finden sich auch in späteren Ansätzen z.B. bei A. D. BADDELEY. Demnach beruht Lernen auf der Verarbeitung von Informationen in drei Instanzen des Gedächtnisses: dem sensorischen Gedächtnis, in dem Sinneseindrücke (visuell, akustisch etc.) kurzzeitig gehalten werden und bereits erste Verarbeitungsschritte stattfinden, dem Kurzzeitgedächtnis (später Arbeitsgedächtnis), in dem Informationen unter Rückgriff auf Inhalte des Langzeitgedächtnisses gruppiert, bewertet und transformiert werden, und dem Langzeitgedächtnis, in dem die gelernten Informationen gespeichert werden. Während die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses begrenzt ist (man geht davon aus, dass ca. fünf bis neun Informationseinheiten simultan verarbeitet werden können), gilt die Kapazität des Langzeitgedächtnisses als unbegrenzt. Lernen findet in diesem Modell erst dann statt, wenn Informationen im Langzeitspeicher abgelegt wurden. Dieses Mehrkomponentenmodell der Informationsverarbeitung wurde in der Folge häufig modifiziert und teilweise um Instanzen erweitert. In jüngerer Zeit werden basierend auf den Arbeiten von F. I. M. CRAIK und R. S. LOCKHART zur Mehrebenenverarbeitung von Informationen und vor dem Hintergrund neurobiologischer Ansätze auch Einkomponentenmodelle diskutiert. In diesen Modellen werden nicht strukturell verschiedene Instanzen der Informationsverarbeitung diskutiert, sondern es wird funktional, nach der Tiefe der Informationsverarbeitung unterschieden. Eine tiefere Analyse und Verarbeitung von neuen Informationen wird generell mit besseren Lernleistungen in Zusammenhang gebracht, während eine oberflächliche Verarbeitung in der Regel zu einer nur unzureichenden Speicherung im Langzeitgedächtnis führt. Eine Variante kognitiver Lerntheorien stellen konstruktivistische Lerntheorien dar, die Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung gewannen. In der Tradition gestaltpsychologischer Arbeiten, beispielsweise von M. WERTHEIMER und W. KÖHLER, betonen Vertreter konstruktivistischer Lerntheorien wie H. AEBLI den Aspekt der aktiven Konstruktion individuellen Wissens. Die Ansicht, dass Menschen nicht nur auf Umweltreize reagieren, sondern aktiv ihre kognitiven Prozesse steuern, findet sich auch in kognitiven Lerntheorien. Konstruktivistische Lerntheorien stellen dies jedoch besonders heraus. Im Unterschied zu frühen informationstheoretischen Ansätzen, die ein besonderes Augenmerk auf die Frage richteten, wie Informationen im Gedächtnis gespeichert und repräsentiert werden, stehen bei konstruktivistischen Ansätzen die Prozesse des Wissenserwerbs im Vordergrund. Damit geht es vor allem um das Verstehen und weniger um das Behalten von Informationen. In diesem Zusammenhang spielen auch Theorien des situierten Lernens, wie sie beispielsweise von J. LAVE vertreten werden, eine Rolle, wonach Lernen immer situiert, das heißt, eingebettet in einen konkreten inhaltlichen und sozialen Kontext, stattfindet. Ausgangspunkt dieser Ansätze ist die Beobachtung, dass Lernende häufig nicht in der Lage sind, neuerworbenes Wissen konkret anzuwenden (träges Wissen) oder auf neue Situationen, die sich von denen unterscheiden, in denen das Wissen erworben wurde, zu übertragen 427

(mangelnder Transfer). Diesen Ansätzen zufolge sollte Lernen anhand bedeutungsvoller authentischer Aufgaben und Problemstellungen stattfinden und die Lernsituation sollte der späteren Anwendungssituation möglichst ähnlich sein.

11.15.3 Typische Fragestellungen der Lernforschung Während die Lernforschung Prinzipien erfolgreichen Lernens aus Sicht der Lernenden untersucht, befasst sich die Lehr-Lernforschung mit der Frage, wie diese Prinzipien instruktional genutzt werden können, um den Lernprozess zu unterstützen. Da beide Forschungsrichtungen eng miteinander verbunden sind, werden im Folgenden typische Fragestellungen beider Linien skizziert. In den frühen Jahren der Lernforschung, die vor allem von behavioristisch orientierter Grundlagenforschung geprägt waren, wurde nach Grundprinzipien des Lernens gesucht. Hierbei standen die Fragen, wie neues Verhalten gelernt und gelerntes Verhalten aufrecht erhalten werden kann, im Mittelpunkt des Interesses. Neben der Forschung zu neurobiologischen Grundlagen des Lernens stehen seit den 1960er und verstärkt seit den 1980er Jahren Fragen nach dem Aufbau und der Repräsentation von Wissen, der Rolle von Motivation und Metakognition (Wissen über die eigene Kognition bzw. das eigene Wissen) sowie der Bedeutung von sozialen und kulturellen Kontextbedingungen für den Lernprozess im Vordergrund. Hierbei geht es beispielsweise um die Fragen, wie sich Experten und Novizen in einem bestimmten Fachgebiet bei der Bearbeitung von Aufgaben unterscheiden und wie Informationen verarbeitet, in bestehende Wissensstrukturen integriert und im Langzeitgedächtnis repräsentiert werden. Im Kontext schulischen Lernens geht es vor allem um die Frage, wie Lehr-Lernsituationen optimal zu gestalten sind, um den Lernerfolg zu maximieren und Wissenstransfer zu ermöglichen. Hierzu gehören beispielsweise Studien, die sich mit dem Einfluss kognitiver und metakognitiver Lernstrategien auf den Lernerfolg befassen und der Frage nachgehen, wie der Einsatz von Lernstrategien gefördert werden kann. Als Lernstrategien werden Verhaltensweisen und Gedanken bezeichnet, die Aspekte des Lernprozesses beeinflussen und steuern, wie beispielsweise Notizenmachen, Anfertigen von Skizzen (kognitiv), Planen und Überwachen der eigenen Lerntätigkeit (metakognitiv) etc. Ebenfalls in diesem Zusammenhang sind Studien zu nennen, die sich mit der Frage der optimalen Gestaltung von Lernmaterialien, beispielsweise dem Einsatz von Lösungsbeispielen, dem Effekt unterschiedlicher Repräsentationsmodalitäten (Text vs. Graphik) sowie Möglichkeiten des Einsatzes neuer Medien zur Unterstützung des Lernprozesses befassen. Eine weitere typische Fragestellung der Lernforschung betrifft den Einfluss motivationaler und emotionaler Faktoren wie Leistungsmotivation, Interesse, Angst oder Stress auf Lernen. Ebenfalls von zentralem Interesse ist die Frage nach der Beeinflussbarkeit des Lernprozesses durch selbstbezogene Kognitionen, wie der Überzeugung eines Lernenden, in einem bestimmten Wissensbereich kompetent zu sein (Fähigkeitsselbstkonzept) oder der Überzeugung, spezifische Handlungen bezüglich eines bestimmten Wissensbereichs erfolgreich ausführen zu können (Selbstwirksamkeitserwartungen). Gerade in jüngerer Zeit wird vor dem Hintergrund internationaler Schulleistungsstudien wie dem „Programme for International Student Assessment“ (PISA) die Frage der Domänenspezifität des Lernens verstärkt diskutiert. Hierbei geht es um die Frage, ob der Lernprozess beispielsweise in mathematisch naturwissenschaftlichen Inhaltsbereichen in ähnlicher Art und Weise abläuft wie im Bereich des sprachlichen Lernens. Im Zuge einer immer stärker von Wissenschaft- und Hochtechnologie geprägten Welt, in der die Halbwertzeit von nutzbarem Wissen deutlich abnimmt, werden in der Lernforschung auch Aspekte des lebenslangen Lernens untersucht. Hierbei geht es z.B. um die Fragen, wie Lernen vor dem Hintergrund nachlassender kognitiver Leistungsfähigkeit über die Lebensspanne hinweg bei Erwachsenen abläuft und welche Rolle hierbei Vorwissen und Erfahrung spielen. 428

11.15.4 Typische Grundannahmen, Axiome und Theoreme der Lernforschung Bereits in der obigen Darstellung der historischen Entwicklung ist deutlich geworden, dass die Lernforschung von unterschiedlichen Strömungen durchzogen ist, deren Konzepte zwar nicht inkompatibel sind, die es jedoch schwierig machen, grundlegende Axiome zu postulieren. Die Erkenntnisse der Lernforschung sind darüber hinaus von der Allgemeingültigkeit naturwissenschaftlicher Prinzipien deutlich entfernt. Dennoch lassen sich Grundannahmen formulieren, die durch empirische Untersuchungen hinreichend belegt werden konnten. So kann die prinzipielle Bedeutung der oben beschriebenen Grundformen des Lernens, wie klassische und operante Konditionierung, insbesondere wenn es um das Verständnis basaler Formen des Lernens im Sinne von Verhaltensänderung geht, als weitestgehend anerkannt gelten. Auch die Bedeutung des Beobachtungslernens für das Erlernen kultureller Traditionen, gesellschaftlicher Normen sowie komplexer Fertigkeiten, beispielsweise im sprachlichen Bereich, gilt als unumstritten. Hinsichtlich des Lernens im Sinne des Aufbaus und der Veränderung von Wissensbeständen ist die empirische Befundlage der Lernforschung jedoch uneinheitlich und die gewonnenen Erkenntnisse besitzen nicht selten nur unter bestimmten Bedingungen Gültigkeit. Bezüglich der Frage nach den Bedingungen erfolgreichen Lernens lassen sich vier weitestgehend anerkannte Grundannahmen formulieren: Demnach muss der Lernende erstens seine Aufmerksamkeit hinreichend auf den Lernstoff fokussieren, zweitens müssen die Lerninhalte in einem gewissen Maße geübt bzw. wiederholt werden, drittens müssen die neu gewonnenen Informationen mit dem bisherigen Wissen abgeglichen werden und viertens müssen die gelernten Inhalte im Gedächtnis gespeichert (konsolidiert) werden. In der psychologisch orientierten Lernforschung werden häufig individuelle Voraussetzungen erfolgreichen Lernens in den Fokus gerückt. In Bezug auf die Frage, wie sich erfolgreiche Lerner von weniger erfolgreichen unterscheiden, konnten in empirischen Untersuchungen Unterschiede u.a. hinsichtlich der Intelligenz, des bereichsspezifischen Vorwissens, der adäquaten Anwendung von Lernstrategien sowie motivationaler Faktoren nachgewiesen werden. Diese Faktoren können jedoch nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. So verfügen Lernende mit höherer Intelligenz häufig ebenfalls über effizientere Lernstrategien und wissen, in welchen Situationen diese effektiv eingesetzt werden können. Der Effekt der Intelligenz auf die Qualität von Lernergebnissen scheint teilweise über das bereichsspezifische Vorwissen vermittelt zu sein. Auf der anderen Seite kann hohes Vorwissen einen Mangel an Intelligenz bis zu einem gewissen Grad sogar kompensieren. So kann Vorwissen dem Lernenden helfen, seine Aufmerksamkeit auf zentrale Punkte des Lernstoffs zu konzentriert. Neue Informationen können besser mit bereits Bekanntem verbunden werden, sodass größere Informationsmengen zu Wissenseinheiten („chunks“) zusammengefasst und verarbeitet werden. Dadurch wird es dem Lernenden ermöglicht, mehr Informationen simultan im Arbeitsgedächtnis zu verarbeiten und diese strukturiert zu memorieren. Darüber hinaus kann Vorwissen das Interesse am Lernstoff fördern und somit die Motivation zur Auseinandersetzung mit den zu lernenden Inhalten erhöhen.

11.15.5 Typische Deutungsmuster, Analyse- und Lösungsstrategien der Lernforschung Die moderne Lernforschung, vornehmlich als Themengebiet der Psychologie, ist eine empirische, überwiegend quantitativ ausgerichtete Forschungsdisziplin. Der methodische Schwerpunkt der frühen 429

behavioristisch orientierten Lernforschung lag auf experimentellen Laboruntersuchungen, die häufig an Tieren durchgeführt wurden. Während Untersuchungen an Tieren heutzutage fast ausschließlich in der neurobiologischen Forschung zum Lernen eine Rolle spielen, stellen experimentelle Untersuchungen nach wie vor einen wichtigen methodischen Zugang der neueren Lernforschung dar. Sie haben den Vorteil, durch die Eliminierung von Störvariablen Kausalaussagen über den Einfluss einer experimentell manipulierten, unabhängigen Variable auf eine abhängige Variable zu ermöglichen (hohe interne Validität), jedoch ist die Übertragbarkeit ihrer Ergebnisse auf andere Personen und Lernsituationen mitunter eingeschränkt und eine Generalisierbarkeit somit nicht immer gegeben (geringe externe bzw. ökologische Validität). In vielen Bereichen vor allem des schulischen Lernens sind streng kontrollierte experimentelle Untersuchungen meist nur schwer durchzuführen. Einen weiteren methodischen Zugang stellen daher quasiexperimentelle Untersuchungen sowohl im Querschnitt als auch im Längsschnitt dar, bei denen potenzielle Störvariablen nicht ausgeschaltet, sondern erfasst und anschließend statistisch kontrolliert werden. Quasi-experimentelle Studien ermöglichen die Untersuchung von Lernen in verschiedenartigen realitätsnahen Kontexten und bieten somit eine höhere ökologische Validität. Besondere Aufmerksamkeit in der deutschen Öffentlichkeit haben in den letzten Jahren breit angelegte Schulleistungsstudien wie etwa PISA gewonnen, die ausschließlich die Ergebnisse von Lernprozessen und deren Bedingungsfaktoren erfassen. Hierbei handelt es sich um nicht-experimentelle quantitative Untersuchungen, die mehrheitlich querschnittlich angelegt sind. Die Vorteile dieser Untersuchungen liegen aufgrund der Ziehung repräsentativer Stichproben u.a. in einer hohen ökologischen Validität. Kausale Interpretationen verbieten sich hingegen weitestgehend und auch Lernprozessforschung ist im Rahmen eines solchen Forschungsansatzes in aller Regel nicht möglich, was allerdings auch nicht ihren Zielsetzungen entspricht. Erwähnt sei, dass jenseits einer empirischen, vornehmlich in der Psychologie beheimateten Lernforschung, Lernen auch normativ diskutiert wird. Diese Richtung hat ihre Wurzeln in bildungstheoretischen Ansätzen der Pädagogik und ordnet sich selbst typischerweise auch dieser und eben nicht der Lernforschung zu.

11.15.6 Typische Anwendungsfelder der Lernforschung Das wohl größte Anwendungsfeld der Lernforschung und damit auch der Lehr-Lernforschung sind Schulen sowie universitäre Einrichtungen und Fachhochschulen. In der Schule wird Lernen vor allem als Aufbau und Veränderung von Wissensbeständen von Schülerinnen und Schülern verstanden. Schulische Lehr-Lernprozesse sollen jedoch nicht nur inhaltsspezifisches Wissen der verschiedenen Fachdomänen (Mathematik, Deutsch etc.) vermitteln, sondern die Lernenden auch in die Lage versetzen, früher Gelerntes auf neue Lern- und Problemsituationen zu transferieren. Hierbei spielen auch die Vermittlung von Lernstrategien, die motivationale Unterstützung der Schülerinnen und Schüler sowie die Gestaltung von Lernmaterialien eine wichtige Rolle. Lernsituationen im Rahmen eines Studiums an Universitäten und Fachhochschulen sind gegenüber schulischen Lernsituationen in der Regel durch eine höhere Komplexität und eine geringere Strukturierung der Inhalte gekennzeichnet. Damit stehen neben der Vermittlung von Fachwissen insbesondere Aspekte der Selbstorganisation und Selbstregulation des Lernprozesses aufseiten der Studierenden im Vordergrund. Abseits des staatlichen Bildungssystems bieten Lehrveranstaltungen nichtstaatlicher Institutionen — wie z.B. Volkshochschulen, Handwerk und Industrie sowie Gewerkschaften — hauptsächlich im Rahmen der Erwachsenenbildung ein weiteres Anwendungsfeld der Lernforschung. Lernen in der Erwach430

senenbildung ist stark durch konstruktivistische Ansätze geprägt. Die Fokussierung auf Problemlöseprozesse und Transferleistungen stimmt mit modernen Ansätzen in Schule und Hochschule überein; stärker als dort wird in der Erwachsenenbildung jedoch die Einnahme multipler Perspektiven auf Einzelfälle realisiert. Als charakteristisch gelten außerdem die Betonung von Lernen als selbstgesteuertem und vor allem selbstbestimmtem Prozess sowie die Orientierung an den Vorerfahrungen der Lernenden. Ein ebenfalls klassisches Anwendungsfeld der Lernforschung ist die Verhaltenstherapie, welche psychoanalytische Ansätze als wichtigste Behandlungsmethode psychischer Störungen verdrängt hat. Sie formuliert den Bezug auf gesicherte Ergebnisse der Lernforschung explizit als eine Stärke ihres Ansatzes. Ein typisches Beispiel verhaltenstherapeutischer Behandlung ist die Intervention bei der Vermeidung angstbesetzter Reize, wie etwa Spinnen oder Schlangen. Nicht zufällig haben sich in jüngerer Zeit auch in der verhaltenstherapeutischen Anwendung behavioristisch geprägte Ansätze mit kognitiven Theorien vermengt, sodass heute fast ausschließlich von einer kognitiven Verhaltenstherapie gesprochen werden kann.

11.15.7 Typische Kritik an der Lernforschung Eine typische Kritik an der Lernforschung betrifft das Fehlen einer einheitlichen und allgemein gültigen Theorie des Lernens. So lassen sich aus den Erkenntnissen der Lernforschung nur selten Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien ableiten, die über unterschiedliche Personengruppen, unterschiedliche Lerninhalte und -ziele sowie unterschiedliche Lernsituationen hinweg generalisierbar wären. Diese Kritik schmälert jedoch die Bedeutung der Lernforschung keineswegs per se, da sie auf einem seit langer Zeit überwundenen, vor allem von Seiten der Behavioristen vertretenen Verständnis von Lernen als einem gänzlich bereichsunabhängigen Prozess basiert. Lernen ist jedoch vielmehr ein komplexer Prozess, der von unterschiedlichsten Faktoren abhängt. Das Fehlen einer allgemein gültigen Theorie des Lernens spiegelt genau diese Tatsache wider und deutet somit auf die Notwendigkeit der Berücksichtigung von bereichs- oder domänenspezifischen Aspekten des Lernens hin. Eine weitere Kritik an der Lernforschung betrifft den mitunter geringen prognostischen Wert ihrer Erkenntnisse zur Vorhersage von Lernerfolg im Einzelfall. Diese Kritik spricht das Spannungsverhältnis zwischen nomothetischer (auf allgemein gültige Gesetzmäßigkeiten abzielender) und idiographischer (auf den Einzelfall bezogener) Forschung an, in dem sich die Lernforschung befindet. Die psychologische Lernforschung ist eine überwiegend quantitativ ausgerichtete Forschungsdisziplin, die ihre Erkenntnisse häufig durch Untersuchungen an Gruppen von Personen gewinnt. Die so gewonnenen Erkenntnisse haben den Vorteil, dass sie bis zu einem gewissen Grad verallgemeinerbar sind. Gleichzeitig sind diese Erkenntnisse jedoch nicht ohne Weiteres auf den Einzelfall übertragbar, was bei der Vorhersage des individuellen Lernerfolgs häufig übersehen wird. Die Lernforschung formuliert darüber hinaus ihre Gesetzmäßigkeiten und Theorien in der Regel in Form probabilistischer Aussagen (Wahrscheinlichkeitsaussagen). Demnach führt beispielsweise eine bestimmte Bedingungskonstellation verschiedener lernförderlicher Variablen nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu einem bestimmten Lernergebnis bzw. einer bestimmten Lernleistung. Somit sind Prognosen insbesondere des individuellen Lernerfolgs stets mit Unsicherheit behaftet.

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11.15.8 Typische Begriffe und deren Deutung in der Lernforschung Gedächtnis Eine zentrale Stellung in der Lernforschung nimmt der Begriff des Gedächtnisses ein. Neben dem Langzeitgedächtnis, in dem Ergebnisse des Lernprozesses dauerhaft gespeichert werden, stellt insbesondere das Arbeitsgedächtnis, als der Ort in dem Informationen unter Rückgriff auf Inhalte des Langzeitgedächtnisses verarbeitet und zueinander in Beziehung gesetzt werden, eine zentrale Instanz dar. Den einflussreichen Arbeiten von BADDELEY zufolge, besteht das Arbeitsgedächtnis aus vier Komponenten: der zentralen Exekutive, der phonologischen Schleife, dem visuell-räumlichen Notizblock sowie dem episodischen Puffer. Die zentrale Exekutive lenkt die Aufmerksamkeit, entwirft Pläne und überwacht deren Umsetzung. Hierfür steuert sie die anderen Komponenten des Arbeitsgedächtnisses und aktiviert Informationen aus dem Langzeitgedächtnis. Die phonologische Schleife dient der Verarbeitung sprachlicher und akustischer Informationen, zeichnet sich jedoch durch eine sehr geringe Haltedauer dieser Informationen aus (1,5 bis 2 Sek.). Der visuell-räumliche Notizblock dient der Verarbeitung visuell-räumlicher Informationen und hat, wie die phonologische Schleife, ebenfalls eine sehr geringe Haltedauer. Der episodische Puffer stellt eine Art Verbindungssystem zwischen den verschiedenen Komponenten des Arbeitsgedächtnisses und des Langzeitgedächtnisses dar und dient der Erhöhung der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses, indem er Informationen der verschiedenen Komponenten und des Langzeitgedächtnisses integriert. Wissen Wissen als eines der zentralen Produkte des Lernens wird in der Lernforschung sehr unterschiedlich konzeptualisiert. In Anlehnung an eine Unterscheidung von G.RYLE zwischen „knowing that“ und „knowing how“, welche im Wesentlichen der alltagssprachlichen Unterscheidung zwischen Wissen und Können entspricht, wird in der Lernforschung vielfach zwischen deklarativem („knowing that“) und prozeduralem Wissen („knowing how“) unterschieden. Deklaratives Wissen bezeichnet Wissen über Fakten, Sachverhalte und Definitionen. Prozedurales Wissen bezeichnet Wissen über kognitive Operationen bzw. darüber, wie eine Handlung angemessen auszuführen ist. Eine weitere Unterscheidung betrifft die zwischen implizitem und explizitem Wissen. Explizites Wissen bezeichnet Wissensbestände, die verbalisiert werden können. Implizites Wissen ist hingegen in der Regel nicht verbalisierbar. So ist beispielsweise das Wissen über den korrekten Gebrauch einer Sprache bei Muttersprachlern in weiten Teilen nur implizit vorhanden. Kompetenz In vor allem in jüngerer Zeit häufig verwendeter Begriff im Zusammenhang mit den Produkten erfolgreichen Lernens ist der Kompetenzbegriff. In Anlehnung an F. E. WEINERT beschreiben Kompetenzen kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten, die es einer Person ermöglichen, konkrete Anforderungssituationen eines bestimmten Typs zu bewältigen. Kompetenzen äußern sich in Performanz, also in erbrachten Leistungen. Der kognitive Aspekt von Kompetenzen wird mitunter erweitert um die damit verbundenen motivationalen, volitionalen (absichts- und willensbezogenen) und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, die erbrachten Leistungen in unterschiedlichen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können. Lernmotivation In Anlehnung an J. E. BROPHY bezeichnet der Begriff Lernmotivation das wertschätzende Erleben intellektueller Betätigung. Unter Lernmotivation lassen sich verschiedene Aspekte zusammenfassen: Leistungsmotivation bezieht sich auf die Bereitschaft zur Selbstbewertung in der Auseinandersetzung mit einem Gütemaßstab; Interesse führt zur Auseinandersetzung mit einem Gegenstand aufgrund dessen Wertschätzung; Attribution bezeichnet die Ursachenzuschreibung 432

für Lern- und Leistungserfahrungen. Positive Effekte auf Lernleistungen zeigen sich beispielsweise für selbstwertdienliche Attributionen, insbesondere die Attribution von Erfolg auf die eigene Fähigkeit. Typischerweise wird außerdem zwischen intrinsischer und extrinsischer Motivation unterschieden. Intrinsisch motiviert ist eine Auseinandersetzung mit einem Gegenstand aufgrund des Gegenstandes an sich. Beispielsweise mag ein Schüler im Fach Biologie lernen, weil er die Anatomie von Tieren verstehen möchte. Extrinsische Motivation hingegen resultiert aus der Erwartung, positive Handlungsfolgen maximieren bzw. negative Handlungsfolgen minimieren zu können. So könnte Lernen im Fach Biologie auch aus der Zielsetzung heraus geschehen, eine gute Abiturnote zu erreichen, um zum Medizinstudium zugelassen zu werden. Lernstrategien Als Lernstrategien werden, wie bereits ausgeführt, Verhaltensweisen und Gedanken bezeichnet, die Aspekte des Lernprozesses beeinflussen und steuern. Man unterscheidet zwischen kognitiven und metakognitiven Lernstrategien. Kognitive Lernstrategien lassen sich nach ihrer Funktion in Wiederholungs-, Organisations- und Elaborationsstrategien unterteilen. Wiederholungsstrategien dienen dazu, neue Informationen im Arbeitsgedächtnis zu halten, um eine bessere Verknüpfung mit Vorwissensbeständen aus dem Langzeitgedächtnis zu ermöglichen. Hierzu gehören beispielsweise das wiederholte Lesen von zu lernenden Texten oder das einfache Wiederholen von Informationen, z.B. beim Auswendiglernen von Vokabeln. Organisationsstrategien dienen dazu, Informationen zu selegieren, zu strukturieren und Verbindungen zwischen verschiedenen Teilen des Lernstoffs herzustellen. Hierunter fallen beispielsweise die Kategorisierung von Begriffen nach bestimmten Kriterien oder das Anfertigen von Skizzen zur Verdeutlichung von Zusammenhängen. Elaborationsstrategien dienen dazu, Verbindungen zwischen Vorwissen und neuen Informationen herzustellen, und damit ein tieferes Verständnis zu erreichen. Hierzu zählen beispielsweise das Finden eigener Anwendungsbeispiele oder das Herstellen von Analogien. Metakognitive Lernstrategien bezeichnen übergeordnete Strategien, die darauf abzielen, den eigenen Lernprozess und damit den Einsatz von kognitiven Lernstrategien zu kontrollieren und zu steuern. Man unterscheidet hierbei zwischen Strategien der Planung, Überwachung, Bewertung und Regulation. Zur Planung gehören das Setzen konkreter Ziele sowie die Festlegung von Arbeitsschritten zur Erreichung dieser Ziele. Überwachung und Bewertung bedeuten, den eigenen Lernfortschritt zu beobachten und zu überprüfen, ob das Lernziel erreicht wurde, um im Falle von Abweichungen regulativ eingreifen zu können und den Lernprozess zu modifizieren.

11.15.9 Bedeutung des Lernens für das Coaching Für jede Disziplin, die sich im weitesten Sinne mit der Veränderung von Fähigkeiten und Fertigkeiten von Menschen beschäftigt, sei es Beratung, Training, Therapie oder Coaching, ist der Lernbegriff von zentraler Bedeutung. Ein Ziel des Coaching ist der Aufbau bzw. die Entwicklung von Kompetenzen aufseiten der Coachees. Dies setzt immer Lernprozesse voraus. Für erfolgreiches Coaching ist somit sowohl aufseiten des Coach als auch aufseiten des Coachee ein grundlegendes Verständnis der Prinzipien menschlichen Lernens unabdingbar. Für den Coachee geht es darum zu erkennen, welche Kompetenzen er zur Erlangung seiner Ziele benötigt und wie er diese erwerben kann. Damit werden insbesondere Aspekte des selbstregulierten Lernens, wie z.B. die oben beschriebenen metakognitiven Lernstrategien Planung, Überwachung, Bewertung und Regulation sowie die kognitiven Lernstrategien Wiederholung, Organisation und Elaboration angesprochen. Für den Coach steht im Vordergrund, den Prozess des Coaching verantwortlich zu steuern und zu begleiten. Hierzu muss er über die dafür notwendigen Kompetenzen verfügen. Dazu gehören auch grundlegende Kenntnisse der Theorien und empirischen Erkenntnisse der Lernforschung, die zur optimalen Gestaltung des Coachingprozesses ge433

nutzt werden können. Die Tatsache, dass der Coach nicht die Funktion einer Lehrperson übernimmt und der Coachingprozess somit nicht mit einer (klassischen) Lehr-Lernsituation gleichzusetzen ist, erhöht die Anforderungen an die Lernexpertise des Coach. Dieser muss in der Lage sein, den Lernprozess des Coachee auf dessen Erfahrungsschatz aufzubauen und an den spezifischen Problemstellungen des Coachee auszurichten. Von besonderem Interesse für das Coaching scheinen insbesondere Ansätze der kognitiv-konstruktivistischen Lernforschung zu sein, wie sie im Rahmen des situierten Lernens, des problembasierten Lernens und, wie bereits angesprochen, auch des selbstregulierten Lernens beschrieben werden.

11.15.10 Basisliteratur HASSELHORN und GOLD (2009) liefern eine Darstellung der modernen Lehr-Lernforschung mit Schwerpunkt auf kognitiven Aspekten des Lernens. Eine Darstellung des Lernbegriffs sowohl unter behavioraler als auch kognitiver Perspektive findet sich bei MIELKE (2001). Das Herausgeberwerk von RENKL (2008) umfasst Beiträge, die sich vertiefend unterschiedlichen Bereichen der Lehr-Lernforschung (z.B. Motivation, Lernen im Erwachsenenalter etc.) widmen. HASSELHORN, M./GOLD, A. (2009): Pädagogische Psychologie — Erfolgreiches Lernen und Lehren (2., durchgesehene Auflage). Stuttgart, Kohlhammer MIELKE, R. (2001): Psychologie des Lernens — Eine Einführung. Stuttgart, Kohlhammer RENKL, A. (Hrsg) (2008): Lehrbuch Pädagogische Psychologie. Bern, Huber

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11.16 Linguistik von Anita Steube

11.16.1 Wurzeln der Wissenschaftsdisziplin Die Sprachwissenschaft (oder neuer: Linguistik) entstand als selbstständige Disziplin erst im 19. Jahrhundert. Aber die Wurzeln der Disziplin reichen bis weit vor Christus zurück. Die Grammatik, die im „Cours de linguistique générale“ von FERDINAND DE SAUSSURE zum Kern der Linguistik erklärt wurde, war auch ihre wesentliche Wurzel: Die antiken Grammatiken verkörperten die Kenntnis der geschriebenen Zeichen, aus denen sich die Schriftsprache zusammensetzt. Sie verfolgten den Zweck, diese Schriftsprachen im Sprachgebrauch korrekt herauszubilden und zu interpretieren. Nicht zur grammatischen Kunst gehörten die philologischen Künste: Rhetorik, Poetik, Logik, Stilistik. Viele sprachtheoretische Vorklärungen für die Moderne wurden aber von den griechischen und römischen Philosophen geliefert, die sich in starkem Maße auch mit Sprachphilosophie befassten. An den mittelalterlichen Universitäten Europas war die Grammatik mit den philologischen Teilbereichen in den Artistenfakultäten (aus heutiger Sicht eine Art Vorstudienanstalten) zusammengefasst. Als selbstständige Fächer wurden nur Theologie, Jurisprudenz und Medizin studiert. Die Weiterentwicklung hin zu selbstständigen sprachwissenschaftlichen Disziplinen geschah durch Philosophen (vgl. WILHELM VON HUMBOLDT (1767-1835)), in Klöstern (vgl. die Abtei Port-Royal in Frankreich, wo die „Allgemeine und rationale Grammatik“ — erschienen 1660 — entwickelt wurde) oder durch Philologen, die die neueren Sprachen kodifizierten (vgl. JOHANN CHR. GOTTSCHED (1700-1766) für das Deutsche). Erstes selbstständiges Studienfach unter den Philologien („Philologie“ jetzt als Name für eine Sprache/einen Sprachzweig zusammen mit der Kultur der Sprachträger) wurde die Klassische Philologie, und zwar in Deutschland zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Unter den Neuphilologien etablierten sich in Deutschland in geringem zeitlichem Abstand danach erst die Nationalphilologie und dann die Fremdsprachenphilologien. In den einzelnen Philologien lehrte man anfangs Literatur- und Sprachgeschichte, später auch Kulturgeschichte; die Gegenwartssprache bzw. die jüngere und die Gegenwartsliteratur und -kultur wurden in Deutschland in den einzelnen Fächern durchgängig erst nach dem zweiten Weltkrieg als Studiengegenstände präferiert. Etwa seit der Mitte des 20. Jahrhunderts waren die Disziplinen so weit entwickelt, dass auch die Professoren — wenigstens in der Forschung — nur noch entweder Sprach- oder Literaturwissenschaftler waren. Heute sind Sprachwissenschaft/Linguistik, Literaturwissenschaft und oft auch Kulturwissenschaft in den Philologien eigene Berufungsgebiete. An vielen Universitäten gibt es neben den philologischen Instituten auch rein linguistische Institute, die sich ausschließlich mit den linguistischen Kern- und Spezialbereichen (in der sog. Allgemeinen Sprachwissenschaft oder Linguistik), mit ihren Theorien und Methoden ohne ausdrücklichen Bezug auf konkrete Einzelsprachen befassen.

11.16.2 Entwicklung der Grammatiktheorie Die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft Als die Philologien zu selbstständigen Fächern wurden, war es die Zeit der Romantik, getragen von der Ansicht, dass sich die Sprache und die Seele eines Volkes, seine Entwicklung und Kultur durch435

dringen, dass sich die letzteren durch das Studium der Sprache erhellen lassen. Dazu kam für die Europäer die Entdeckung des Sanskrit (Literatur- und Gelehrtensprache des Altindischen) und die Feststellung der genetischen Verwandtschaft der indo-europäischen Sprachen. Auf die romantisch verklärte Anfangsphase des historischen Sprachvergleichs folgte eine darwinistisch beeinflusste Phase, danach die junggrammatische Periode. Beide wollten mit ihren Methoden die Sprachwissenschaft zu einer exakten Wissenschaft machen. Kritik innerhalb und an der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft Die Junggrammatiker stellten fest, dass man die indo-europäische Ursprache — das Wissenschaftsziel ihrer Vorgänger — aus den Quellentexten nicht rekonstruieren kann. Sie wollten die Sprachentwicklung ausschließlich durch zeitlich und räumlich begrenzte Lautveränderungen (sog. Lautgesetze) erklären, was wiederum kritisiert wurde, weil die von außerhalb der Sprache kommenden Anstöße zu Sprachveränderungen dabei unberücksichtigt blieben. Den Junggrammatikern wurde auch vorgeworfen, dass für sie die Gegenwartssprache zwar theoretischer, aber nicht praktischer Untersuchungsgegenstand war. Ferdinand de Saussure Wenn man von einem Paradigmenwechsel in der Sprachwissenschaft sprechen will, dann kann man die Ergebnisse, die FERDINAND DE SAUSSURE (1857-1913) vorgelegt hat, als einen solchen ansehen: SAUSSURE war der erste Sprachtheoretiker. Fragestellungen/Gegenstand SAUSSURE verstand die Sprache (langue) als Zeichensystem, arbeitete die einzelnen formalen Ebenen des Sprachsystems (Phonologie, Morphologie, Lexik — aber noch nicht die Syntax) in ihrem hierarchischen Aufbau und in deren Zuordnung zu den Bedeutungsanteilen heraus und stellte die von der gesamten Sprachgemeinschaft getragene langue dem individuellen Sprechen (parole) gegenüber. Da er das Sprachsystem (langue) aber am besten in den statischen Phasen der Sprachentwicklung fand, weniger in der Veränderung, legte er sein Schwergewicht auf die synchrone Beschreibung und ging weg von der Sprachgeschichte. Aus dem gleichen Grund präferierte er die Grammatik als nur von Sprachwissenschaftlern zu verantwortenden „Kernbereich” der Sprachwissenschaft gegenüber den sprachwissenschaftlichen „Randbereichen”, deren Beschreibung sich der Hilfe anderer Fachkollegen versichern muss. Die erstmalige Aufdeckung der Strukturzusammenhänge in der Sprache haben seinen „Cours de linguistique générale“ (1916 postum erschienen) zum Fanal des Strukturalismus gemacht. Kritik Die Sprachwissenschaft nach DE SAUSSURE ist gegen die strikte Trennung von synchronem und diachronem Vorgehen mit Bezug auf denselben Untersuchungsgegenstand. Schon ROMAN JAKOBSON (s.u.) begriff Sprachwandel als Systemwandel. Prager Linguistenkreis Der von FERDINAND DE SAUSSURE wie vom Russischen Formalismus beeinflusste Prager Linguistenkreis hatte einen tschechischen und einen russischen Flügel. Fragestellungen/Gegenstand Die Prager untersuchten alle Ebenen der Grammatik (und zwar synchron und diachron) und auch viele der linguistischen Randbereiche SAUSSURES: Typologie, Dialektologie, Sprachpla436

nung und Standardisierung, die poetische Sprache, Funktionalstilistik, Zeichentheorie, Vorarbeiten für die sprachwissenschaftliche Sprechakttheorie. Auf die Entwicklung der grammatischen Disziplinen hatten die Arbeiten von NIKOLAI TRUBETZKOY (1890-1938) und ROMAN JAKOBSON (1896-1982) zur Phonologie und Morphologie sehr starken Einfluss. Die in den Buchstabenäquivalenten der Antike und in der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft schon angelegten Phoneme wurden nun als abstrakte Einheiten von den Lauten getrennt, durch ein universelles Alphabet binärer phonologischer Merkmale charakterisiert, als Phonemsystemene vieler Einzelsprachen realisiert, in deren linearen Verknüpfungen zu Morphemen ebenso wie in der Flexion und Wortbildung die systematischen Veränderung der Morpheme (vgl. PANINI) festgestellt wurden. ROMAN JAKOBSON hat die binäre Merkmalsklassifikation — da mit semantischer Deutung — auch auf die Morphologie übertragen. Daraus hat sich in den 60er-Jahren die Merkmalssemantik entwickelt. Ebenso wurde von den Pragern — entgegen F. DE SAUSSURE — die Syntax in die langue eingeordnet. Die tschechischen Beiträge zur Erforschung der variablen Wortfolge in der Syntax (bei VILÉM MATHESIUS „aktuelle Gliederung“ genannt) waren der Grundstein für die Weiterentwicklung als „Thema-Rhema-Gliederung“ oder heute „Informationsstruktur“, ein Forschungsgegenstand, der im Zusammenwirken von Syntax, Intonation und Semantik der Sätze deren pragmatische Zusatzaufgaben im Text erforscht. Kritik Als kritischen Einwand gegen die Prager kann man ansehen, dass die Formulierung „Poetische Sprache“ später im Sinne eines Funktionalstils gebraucht wurde, dessen Regelbildungen außerlinguistische Disziplinen wie Psychologie, Ästhetik, etc. beeinflussen. Amerikanischer Deskriptivismus Infolge der Verfolgung von jüdischen und nicht konformen Wissenschaftlern durch den Nationalsozialismus und infolge des 2. Weltkrieges mit seinen Auswirkungen hat Europa seine Vorreiterrolle in der Linguistik verloren. In den USA kam die saussuresche Systemauffassung in den 30er- bis 50er-Jahren unter den Einfluss der behavioristischen Psychologie, die in Orientierung an der Naturwissenschaft der Zeit nur objektiv beobachtbare Reaktionen auf Umwelteinflüsse als Forschungsgegenstand anerkannte. Fragestellungen/Gegenstand Das Erlernen der Sprache wurde durch Nachahmung erklärt und der Sprachgebrauch allein anhand von Reiz-Reaktions-Schemata. Das Auffinden der grammatischen Kategorien aus TextKorpora geschah nach mechanistisch vorgegebenen, übereinzelsprachlichen Segmentierungsund Klassifizierungsstrategien. Die sprachtheoretischen Vorarbeiten dazu hat LEONARD BLOOMFIELD (1887-1949) geliefert. Der Deskriptivismus entwickelte eine Vielzahl von grammatischen Analysemodellen, die die Hierarchie des Sprachsystems gut abbildeten. Darüber hinaus ist für das beginnende 20. Jahrhundert in den USA aber noch die sprachtypologische Erfassung fast aller Sprachtypen/Sprachen durch FRANZ BOAS (1858-1942) und EDWARD SAPIR (1884-1939) wichtig. Praktische Anwendung Deskriptiv aufgebaute Grammatiken und Übungsbücher fanden im und nach dem 2. Weltkrieg ein breites Anwendungsfeld in der Sprachvermittlung. Kritik Zur grundlegenden Auseinandersetzung mit dem Deskriptivismus kam es Ende der 50er-Jahre durch die Entwicklung der generativen Grammatik von NOAM CHOMSKY (geb. 1929): Deskripti437

ve Grammatiken werden von ihm als datenkategorisierende Systeme charakterisiert, die Methoden dafür als taxonomisch. Es wird kritisiert, dass die Grammatik aus dem Sprachgebrauch abgeleitet und ihr Gegenstück in der Sprachfähigkeit des Menschen nicht gesehen wird. Sie wird auch von Sprachproduktion und Rezeption isoliert, und der Spracherwerb wird als Konditionierungsprozess angesehen, der viele Seiten des prinzipiell gleich gestuften Erwerbs beliebiger Sprachen unbeantwortet lässt. Die generative Grammatik Die erste grammatische Beschreibung von NOAM CHOMSKY, „Syntactic Structures“, erschien 1957. Bis heute hat die Generative Grammatik viele Entwicklungsstufen durchlaufen. Fragestellungen/Gegenstand Der Generativen Grammatik geht es um die Modellierung der Sprachkompetenz. Die Grammatik wird als arteigenes Modul in einem umfassenderen kognitiven Mechanismus angesehen, das aber an seinen Schnittstellen (von der Phonologie hin zur Artikulation und Perzeption und von der Semantik hin zum Intentionalen und zum Konzeptuellen System) entsprechend ergänzt wird. In der Generativen Grammatik wurde auch bereits früh über die universellen sprachlichen Eigenschaften, Kategorisierungen und Prinzipien nachgedacht. Man ist der Meinung, dass sich die einzelsprachliche Grammatik in den ersten Lebensjahren aus angeborenen Grundfertigkeiten in geordneter Schrittfolge aufbaut und zwar in der Spezifizierung, die die jeweilige Muttersprache hat. Die Grammatik soll die Regeln aufstellen, nach denen die grammatisch korrekten Sätze gebildet werden, und soll ihnen korrekte Strukturbeschreibungen zuweisen. Eine Grammatik stellt aus endlichen Mittel (auf allen Ebenen des Sprachsystems) unendliche viele Sätze her und ist sowohl sprecher- wie hörerseitig einsetzbar. Allen in 50 Jahren entstandenen Chomsky-Grammatiken war eigen, dass die Syntax die Sätze generiert, die dann phonologisch und semantisch interpretiert werden. Syntax und Phonologie sind von NOAM CHOMSKY anfangs mit den gleichen Regeltypen, Phrasenstruktur- und Transformationsregeln beschrieben worden. In der Syntax sind diese mehrfach den Regeln vorgeordneten Prinzipien unterworfen und dadurch generalisiert worden. In der Syntax kommen die Regeltypen seit dem Eintritt in die Entwicklungsphase des Minimalismus (etwa 1995) sowieso nicht mehr nacheinander, sondern ineinandergreifend zum Einsatz. Kritik Dieses Grammatikmodell wurde erfolgreich auf die unterschiedlichsten einzelsprachlichen Beschreibungen angewandt, die Typologen werfen der generativen Grammatik jedoch noch die Verkennung der großen Unterschiede zwischen den Einzelsprachen vor. Die Entwicklung zur modernen Phonologie Die generative Phonologie (vgl. NOAM CHOMSKY und MORRIS HALLE (1968)) heißt auch Lineare Phonologie. In die syntaktischen Satzstrukturen werden die Wörter in systematisch phonologischer Form eingesetzt. Phonologische Regeln führen zur Ausgabe der Sätze in der Form phonetischer Sequenzen. In den 70er-/80er-Jahren kam die Forschung zu der Erkenntnis, dass die nicht segmental darstellbaren Phänomene wie Intonation, Akzent oder die Silbenstruktur eine andere Repräsentationsweise brauchen, die zu mehreren Spielarten der Nicht-Linearen Phonologie geführt hat.

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Die Entwicklung zur modernen Semantik In den letzten 50 Jahren hat auch die Semantik eine rasante Entwicklung durchlaufen, von der Merkmalssemantik zur semantischen Dekomposition, die schon mit einer aus der Formalen Logik gewonnenen Verknüpfung der Wortbedeutungen zu Sätzen ausgestattet war. Mehrere Modelle haben syntaktische und semantische Strukturen direkt aufeinander bezogen, RICHARD MONTAGUE (1973) z.B. durch isomorphe Abbildung beider Strukturen aufeinander und IRENE HEIM, MONIKA KRATZER (1998) durch das Operieren der semantischen Verknüpfungen auf den syntaktischen Oberflächenstrukturen oder auf den Logischen Formen der Sätze. Des Weiteren hat die Semantik Diskursrepräsentationsmodelle für die Interpretation fortlaufender Textsequenzen entwickelt, in denen die wahrheitsfunktionalen zusammen mit den diskurspragmatischen Eigenschaften der Textsätze dargestellt werden können. Damit ist die Grammatikschreibung auf dem guten Wege, die grammatischen Strukturen modular — mit dem Beitrag aller Ebenen der Grammatik — aufzubauen bzw. interpretieren zu können.

11.16.3 Methodengeschichte Die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft und die Amerikanischen Deskriptivisten leiteten ihre Ergebnisse aus der Textinspektion ab. In der generativen Grammatik war die Übereinstimmung der gewonnenen grammatischen Strukturen mit der Intuition der muttersprachlichen Sprecher über die Richtigkeit der so repräsentierten Sätze ausreichend. Seit etwa zwanzig Jahren aber wird die Überprüfung der Daten durch psycholinguistische Experimente oder mit Hilfe von Corpusdaten gefordert, insbesondere wenn sich die untersuchten Phänomene der unmittelbaren Beurteilung durch Einzelsprecher entziehen, z.B. im Textbereich oder in der Intonation von Kontextsätzen.

11.16.4 Linguistische Spezialbereiche Von den sog. linguistischen Randbereichen DE SAUSSURES, für die mindestens eine außerlinguistische Disziplin mit verantwortlich zeichnen muss, gibt es eine große Menge. Wenn sie zum Teil auch eine lange Vorgeschichte haben, so sind sie doch erst in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zu Disziplinen ausgebaut worden. Wir können hier nur einige nennen (Computerlinguistik, Konversationsanalyse, Korpuslinguistik, Psycholinguistik, Soziolinguistik, Sprachdidaktik, Sprechakttheorie, Stilistik, Texttheorie, Typologie) und nur auf diejenigen eingehen, die für das Coaching neben der Grammatik in größerem Maße relevant sind. Sprachdidaktik Aufgabe der Sprachdidaktik ist die Entwicklung von Methoden und deren Anwendung für die Vermittlung oder Verbesserung der Sprachkompetenz. Die jeweiligen Ziele hängen vom Stand der sprachwissenschaftlichen Entwicklung wie von den gesellschaftlichen Bedürfnissen ab: Ausprägung der grammatischen und orthographischen Richtigkeit des geschriebenen Standards und Erhöhung der grammatischen Urteilsfähigkeit waren bis in die 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts die dominierenden Ziele, dann ist die Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit in unterschiedlichen Funktionalstilen geschriebener und gesprochener Sprache dazugekommen. Beides gilt für die Ausbildung der Muttersprache wie von Fremdsprachen. 439

Sprechakt- oder Sprachhandlungstheorie Die Disziplin hat ihre Wurzeln in der Philosophie: Vgl. die Gebrauchstheorie der Bedeutung von LUDWIG WITTGENSTEIN (1953); die Theorie des sprachlichen Handelns von J.L. AUSTIN (1962) und ihre Weiterentwicklung in der Sprechakttheorie von J. R. SEARLE (1969). Fragestellungen/Gegenstand Äußerungen als Grundlage sprachlichen Handelns werden von den Philosophen in drei simultane Teilakte zerlegt: den propositionalen Akt (Grammatik), den illokutiven Akt (Sprecherabsicht) und den perlokutiven Akt (Hörerreaktion). Die Sprechakttheorie hat die Sprechakte klassifiziert und sich vorwiegend mit deren Illokution befasst. Eine besondere Herausforderung waren die sog. indirekten Sprechakte, in denen das wörtlich Gesagte nicht mit der Sprecherabsicht übereinstimmt. Erst die Sprachwissenschaftler konnten dieses Problem durch eine Ausweitung der Bedeutungstheorie lösen: Die Ausdrucksbedeutung, die schon den grammatischen Kontext (Angaben zu Sprecher, Hörer, Ort und Zeit der Handlung) braucht, um als Äußerungsbedeutung interpretiert werden zu können, braucht auch noch den Interaktionskontext (Welt- und Situationswissen), mit dessen Hilfe das Gemeinte (Illokutionsbedeutung) aus dem Gesagten erschlossen wird (vgl. MANFRED BIERWISCH (1970)). Die Sprechakttheorie baute die Sprechakte zu Sprechaktsequenzen aus und fügte diese zu (Teil-)Texten zusammen. Sie bestanden aus mehreren subordinierenden Sprechakten eines dominierenden Sprechakts (Handlungsziel). So kam man zu den Textmustern der vorher kaum untersuchten Gebrauchstexte (vgl. D. VIEHWEGER, G. SPIES (1987)). Die Sprachhandlungstheorie ist sowohl zu einer methodologischen Herangehensweise an die Theorie monologischer Texte als auch zum Bestandteil der Konversationsanalyse geworden. Texttheorie Texttheorie wird hier als Theorie geschriebener monologischer Texte verstanden. Ihre Wurzeln gehen in Europa auf Rhetorik und Poetik der mediterranen Antike zurück, auf die Entwicklung der Stilistik und ab den 50er-Jahren des 19. Jahrhunderts auf die Funktionalstilistik, auf Grammatikmodelle, die Sprachhandlungstheorie und auf die kognitive Psychologie. Fragestellungen/Gegenstand Wenn wir die belletristischen Texte ausklammern, bleiben für eine Grobgliederung die (meist gesprochenen) Alltagstexte und die geschriebene Sachprosa, die sich in wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Texte gliedert, wobei letztere wiederum in amtliche Texte und Zeitungstexte zerfallen. Jede Gattung gliedert sich weiter auf in die spezifischen Textarten mit ihren sprachlichen Besonderheiten in Form z.B. der möglichen Inhalte, der jeweiligen Fachterminologie, des Fachstils, des Textmusters und der Besonderheiten, die das jeweilige Publikationsorgan auferlegt. Die Texttheorie hat dann beschrieben, wie Kohäsion (das ist der durch sprachliche Bindemittel geschaffene Textzusammenhang) und Kohärenz (das ist der vom Hörer/Leser erschlossene Sinnzusammenhang) = das Ergebnis kognitiver Prozesse der Benutzer entstehen. Die Vielzahl nacheinander entstandener Textmodelle erklärten die text-konstituierenden Strukturen in ihren Beschreibungen schrittweise erst mit formal grammatischen, dann mit semantischen und konzeptuellen wie auch mit Hilfe von Handlungsstrukturen (vgl. WOLFGANG HEINEMANN, DIETER VIEHWEGER (1991)). 440

Konversationsanalyse Die Analyse natürlicher Gesprächskommunikation im Alltag oder zwischen beruflichen Ratgebern und Klienten/Kunden, die sprachliche Handlungen vollziehen, hat drei Wurzeln, die auf die 60er-Jahre des 19. Jahrhunderts zurückgehen: die Beschreibung des gesprochenen Deutsch (vgl. die Forschungsstelle „Gesprochene Sprache“ in Freiburg unter H. STEGER), die die Besonderheiten der Gesprächsdaten offen gelegt hat; die empirische US-amerikanische ethnomethodologische Soziologie (vgl. H. GARFINKEL (1967)) und die sprachwissenschaftliche Sprechakt- oder Sprachhandlungstheorie. Fragestellungen/Gegenstand Die natürlichen Gespräche werden aufgenommen, verschriftlicht und auf verschiedenen Ebenen analysiert: • untere Ebene: Isolierung der Gesprächsschritte und Hörersignale, ihre Klassifikation und interaktive Bedingtheit sowie die Verknüpfung zu Gesprächssequenzen; • mittlere Ebene: Phasengliederung von Gesprächen in Eröffnungen, Kernphasen und Beendigungen mit ihrem interaktiv variablen Aufbau; • obere Ebene: Aufbau der einzelnen Gesprächstypen (z.B. Beratungsgespräche, Verkaufsgespräche, Interviews etc.) und Aufdeckung der für den Gesprächstyp typischen Gesprächsinteraktion bzw. des zielförderlichen/-abträglichen Verhaltens der Partner. Die Ebenen eins und zwei beruhen auf ethnomethodologischer Vorgehensweise (vgl. H. SACKS, E.A. SCHEGLOFF, G. JEFFERSON (1974); E.A. SCHEGLOFF, H. SACKS (1973)), während die Sprechakttheorie wesentlich zur Beschreibung der Gesprächssequenzen und -typen beigetragen hat (vgl. J. REHBEIN (1977)). Die Disziplin wurde durch eine ganze Reihe von Fächern weiter angereichert: Das sprachliche Wissen wurde durch das meta-kommunikative Wissen (Textsorten-, Gesprächstyp-Wissen, soziale Kompetenz, Partnerkenntnis etc.) erweitert, was das Verständnis vom Kontext, in dem sprachliche Bedeutungen zu interpretieren sind (s. 5.2, Interaktionskontext), wesentlich erweitert hat. Die Psychologen haben den Aufbau der Interaktion durch das Einbeziehen von Plänen, zielorientiertem Handeln und Musterwissen angereichert. Praktische Anwendung Konversationsanalytisches Wissen mit seinem Ausbau für einzelne Arten berufsmäßigen sprachlichen Handelns mit Klienten/Kunden/Ratsuchenden in staatlichen Institutionen, im Gesundheitswesen, im Rechtswesen, in der Seelsorge, bei Verkaufshandlungen und in allen Formen der Beratung ist unerlässlich.

11.16.5 Bedeutung der Linguistik für das Coaching Ein Coach sollte über eine geschulte Kompetenz der muttersprachlichen Standardsprache und ein gehobenes Maß an Sprachbeschreibungsfähigkeiten verfügen. Er sollte die soziale und regionale Differenzierung der Muttersprache kennen, um die Kursteilnehmer richtig zu verstehen und einschätzen zu können. Zu wissen, worin sich geschriebener und gesprochener Standard unterscheiden, ist ebenso wichtig für das Gelingen des Gesprächs wie das Wissen darum, dass die Hörer immer bestrebt sind, den Text für sich kohärent zu interpretieren. Das bedeutet aber auch, dass sich der Sprecher des weiten Kontextes bewusst sein muss, der in die Interpretation einfließt und dem evtl. vorzubeugen ist. Die Kenntnis von Sprechakttheorie, Konversationsanalyse und evtl. auch Texttheorie wird für die Tätigkeit des Coachens als besonders einschlägig eingeschätzt.

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11.16.6 Basisliteratur BUßMANN, HADUMOD (2002): Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart, Alfred Kröner Verlag HELBIG, GERHARD (1986): Geschichte der neueren Sprachwissenschaft. Leipzig, Bibliographisches Institut 2 HELBIG, GERHARD (1986): Entwicklung der Sprachwissenschaft seit 1970. Leipzig, Bibliographisches Institut W. HEINEMANN/D. VIEHWEGER (1991): Textlinguistik — eine Einführung. Tübingen, Niemeyer

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11.17 Logik von Beate Bergter und Andreea Hermann

11.17.1 Anfänge/Ursprünge/Vertreter/Quellen der Logik Als Begründer der abendländischen Logik gilt ARISTOTELES (384-322 v.u.Z.) In seinen Schriften (Organon) behandelt er Themen wie Begriff, Aussage, Definition, Beweis und Fehlschluss. ARISTOTELES entwickelt die Syllogistik, ein logisches System im modernen Sinne, in dem Beziehungen zwischen zwei Begriffen definiert werden. Beispielsweise ist „Kein Rechteck ist ein Kreis. Alle Quadrate sind Rechtecke. Also ist kein Quadrat ein Kreis“ ein gültiger Syllogismus. Im Mittelalter (ca. ab Mitte 13. Jahrhundert) werden neue Problemstellungen aus dem Grenzbereich zwischen Logik und Semantik entwickelt, fern von antiken Vorlagen. Später, in der Neuzeit, war IMMANUEL KANT (1724-1804) der Ansicht, dass mit ARISTOTELES logischem System die Wissenschaft bereits ausgeschöpft ist und es nichts mehr zu entdecken/entwickeln gibt. Diese Meinung war weit verbreitet, als Ausnahme sei hier GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ (1646-1716) genannt: „Unter der Logik oder Denkkunst verstehe ich die Kunst, den Verstand zu gebrauchen, also nicht allein, was fürgestellet zu beurteilen, sondern auch was verborgen zu erfinden.“ (Fragmente zur Logik). Erst Mitte des 19. Jahrhunderts belebt sich die Wissenschaft wieder unter anderem mit der Theorie von GEORGE BOOLE (1815-1864), Logik als mathematisches Kalkül basierend auf den Werten 1 und 0 (wahr und falsch) darzustellen. GOTTLOB FREGE (1884-1925), neben ARISTOTELES als der bedeutendste Logiker zu betrachten, stellt in seiner Begriffsschrift eine volle Prädikatenlogik vor und entwickelt die Idee einer formalen Sprache. Diese ist maßgeblich für die theoretische Grundlage der späteren Entwicklung der modernen Computertechnik und Informatik. Zuletzt sei noch KURT GÖDEL (1906-1978) mit dem Vollständigkeitssatz und dem Unvollständigkeitssatz genannt.

11.17.2 Entwicklung und bedeutende Richtungen der Logik Die Logik ist die Lehre des vernünftigen Schlussfolgerns. Sie untersucht die Gültigkeit von Argumenten hinsichtlich ihrer Struktur, unabhängig vom konkreten Inhalt der eigentlichen Aussagen. Die Logik befasste sich in der Antike und im Mittelalter zunächst mit natürlichsprachigen Argumenten. Der Grad der Abstraktion war nicht in dem heute verstandenen Sinne erreicht. Unter einer logischen Analyse wurde hauptsächlich eine Analyse begrifflicher Zusammenhänge verstanden. Erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts wird Logik in dem anfangs erläuterten Sinne verstanden. In der Umgangssprache werden heute ebenso Begriffe wie „Frauenlogik“, „Affektlogik“ und „Alltagslogik“ (gesunder Menschenverstand) verwendet. Logisch sind stichhaltige, präzise, überzeugende, zwingende Argumente. Die Hauptzweige der Logik sind: • •

die mathematische Logik (z.B.: Beweistheorie, Mengenlehre, Modelltheorie, Rekursionstheorie) die philosophische Logik (z.B. Modallogik („Es ist möglich, dass ...“), deontische Logik („Es ist erlaubt, dass …“), Konditionalsatzlogik („Wenn — dann“) etc.

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11.17.3 Typische Fragestellungen in der Logik Gegenstand der Logik sind Termini, Aussagen und logische Operatoren. • • •

Termini sind Worte oder Wortgruppen, die Gegenstände oder Merkmale bezeichnen, z.B.: „Stuhl“, „durch 2 teilbar“, „Mutter und Vater“, „ALBERT EINSTEIN“ usw. Aussagen sind Sätze einer beliebigen Sprache, die etwas behaupten oder negieren, z.B.: „4 ist durch 2 teilbar.“ „Die Erde ist eine Scheibe.“ „ALBERT EINSTEIN ist ein Schriftsteller.“ usw. Logische Operatoren sind Worte oder Wortgruppen, aber auch Satzzeichen oder grammatikalische Formen von Worten, die jedoch keine Gegenstände oder Merkmale bezeichnen, z.B.: „und“, „nicht“, „alle“, „die Tatsache, dass …“ usw.

Durch Verknüpfung von Termini und Aussagen anhand der logischen Operatoren ergeben sich neue Aussagen und Termini. Beispielweise sind „Vater“ und „Mutter“ zwei Termini; durch Verwendung des logischen Operators „und“ resultiert der zusammengesetzte Terminus „Vater und Mutter“. Aus den Termini „ein Proton“ und „positiv geladen“ entsteht durch Benutzung des logischen Operators „ist“ die Aussage „Ein Proton ist positiv geladen“. Ebenso wird durch die Verknüpfung zweier Aussagen eine zusammengesetzte Aussage entstehen. Termini, Aussagen und die darin enthaltenen logischen Operatoren sind immer Elemente von konkreten Sprachen (Deutsch, Englisch, Mathematik, Soziologie usw.). Gegenstand der Logik sind nicht die Besonderheiten dieser Sprachen, sondern die von den Sprachen unabhängigen Eigenschaften. So beschäftigt sich die Logik nicht mit konkreten Aussagen einer Sprache wie „Alle Menschen sind sterblich.“ „All dogs bark.“ oder „Alle Metalle leiten Strom.“, sondern mit deren Satzstruktur. Obwohl jede Aussage einer anderen Sprache angehört, erweist sich die Satzstruktur als gleichartig: (für alle S) (S gilt P) Setzt man S gleich „Menschen“, „dogs“ bzw. „Metalle“ und P gleich „sterblich“, „bark“ bzw. „leiten Strom“. Der logische Operand „alle“ oder „all“ wird durch für alle dargestellt und gilt repräsentiert „sind“ oder in den anderen beiden Sätzen die Reihenfolge und grammatikalische Form der Termini. Jede Aussage hat einen Wahrheitswert. Dieser kann „wahr“ oder „falsch“ sein, wie beispielsweise alle vorhin genannten Aussagen wahr sind und deren Negation falsch.

11.17.4 Typische Axiome/Theoreme in dieser Logik Seien A, B und C Aussagen und seien „und“, „oder“, „wenn — so“, „genau dann — wenn“ und „nicht“ die logischen Operatoren. Im Folgenden sollen nun die grundlegenden Aussagenformen genannt werden: •

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Die Negation wandelt den Wahrheitswert der Aussage A in sein Gegenteil um, das heißt, ist A wahr, so ist nicht A falsch und umgekehrt. Nicht A bedeutet „Es ist nicht der Fall, dass A gilt“. Beispiele: — wenn die Aussage „Die Sonne scheint.“ vorliegt so ist nicht A „Die Sonne scheint nicht.“, — Ist A „Logik ist ein schweres Fach.“ so gilt für nicht A „Logik ist kein schweres Fach.“, — Ist A „Die Politik kann die Wirtschaft steuern.“, die Negation von A ist dann „Die Politik kann die Wirtschaft nicht steuern.“.









Eine und-verknüpfte Aussage nennt man Konjunktion. Für die Aussagen A bzw. B ist A und B gleichbedeutend mit „A und B gelten“. A und B sind die Teilaussagen der Konjunktion, diese ist nur wahr, wenn A und B wahr sind. Beispiele: — Die Konjunktion „die Sonne scheint und die Vögel zwitschern“ enthält die beiden Teilaussagen „die Sonne scheint“ bzw. „die Vögel zwitschern“, sie ist wahr, wenn beide Aussagen zutreffen — Der Wahrheitswert der Konjunktion „Logik ist ein schweres Fach und Logik lernen macht Spaß“ hängt vom Wahrheitswert der Teilaussagen „Logik ist ein schweres Fach“ bzw. „Logik lernen macht Spaß“ ab. Jedoch kann man diesen nicht eindeutig bestimmen, da die Teilaussagen nicht für jeden wahr bzw. falsch sind, während man sich auf den Wahrheitsgehalt der ersten Teilaussage einigen kann, ist die zweite rein subjektiv. Im normalen Sprachgebrauch kommen Nichteindeutigkeiten oft vor, in der mathematischen Logik wiederum ist der Wahrheitswert einer Aussage eindeutig bestimmbar, — „Die Politik kann die Wirtschaft steuern und ist sehr erfolgreich in ihrem Tun“ ist falsch, denn obwohl die erste Teilaussage „die Politik kann die Wirtschaft steuern“ als wahr feststeht, gilt dies für die zweite Teilaussage „die Politik ist sehr erfolgreich in ihrem Tun“ nicht. Für die Disjunktion (Alternative) gelten zwei Fälle, da der Begriff oder in der deutschen Sprache zweideutig ist: 1) ausschließendes oder, was bedeutet entweder A oder B ist wahr aber nicht beide: — „Die Sonne scheint oder es ist Nacht“ ist eine ausschließende oder-Verknüpfung, da nur die erste oder die zweite Teilaussage gelten kann, — ebenso verhält es sich mit der Disjunktion „Die Politik kann die Wirtschaft steuern oder der Politik sind die Hände gebunden“. 2) nichtausschließendes oder, wo eine der beiden Teilaussagen gültig ist, aber auch beide gültig sein können: — die Teilaussagen der Disjunktion „Die Sonne scheint oder es regnet.“ sind selten zu gleicher Zeit wahr, jedoch schließen sich die Aussagen nicht aus, — „Logik ist ein schweres Fach oder Lernen macht Spaß.“ enthält ebenfalls Aussagen, die beide gültig sein können. Die Implikation ist eine Aussage der Form „wenn A dann B“, was bedeutet, dass immer wenn A (Prämisse), gilt auch B (Konklusion) gelten muss. Ist jedoch nicht A wahr, so kann nicht auf den Wahrheitswert von B geschlossen werden. A ist also eine hinreichende Bedingung für B. B ist wiederum eine notwendige Bedingung für A, denn seine Gültigkeit ist für den Wahrheitswert von A erforderlich, reicht aber nicht für den Rückschluss aus. Beispiele — „Wenn die Sonne scheint, dann ist es nicht dunkel“, aus A („die Sonne scheint“) folgt zwingend B („es ist nicht dunkel“), jedoch kann man aus B nicht A folgern, obwohl B notwendig gelten muss, damit A wahr ist, — ebenso gilt für die Implikation „Wenn die Politik erfolgreich ist in ihrem Tun (A), dann kann sie die Wirtschaft steuern (B)“ die Notwendigkeit von A für B, während B nur eine der vielen hinreichenden Bedingungen für A ist. Die Äquivalenz ist ebenfalls eine verknüpfte Aussage: „A genau dann, wenn B“. Die Aussage ist wahr, wenn entweder beide Teilaussagen gelten oder beide nicht gelten, also denselben Wahrheitswert haben. Hier bedingen sich A und B gegenseitig hinreichend und notwendig.

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Beispiele — „Die Sonne scheint genau dann, wenn es Mittag und nicht bewölkt ist“ stellt eine Äquivalenz dar, deren zweite Teilaussage selbst eine verknüpfte Aussage ist: „A genau dann, wenn (B und nicht C)“, — „Logik ist ein schweres Fach genau dann, wenn Mathematik kein Spaß macht“ ist eine Aussage (über deren Wahrheitswert gestritten werden kann), die falsch ist, wenn die beiden Teilaussagen nicht die gleiche Bewertung haben.

11.17.5 Typische Deutungsmuster in der Logik (Analyse- und Lösungsstrategien) •

Der Satz der Identität oder auch Tautologie genannt: „A = A“ oder „A ist A“, anders formuliert besagt der Satz der Identität: seien A und B Ausdrücke für Gegenstände, so bezeichnet A genau dann denselben Gegenstand wie B, wenn A durch B in allen Aussagen ersetzt werden kann, ohne den Wahrheitswert dieser Aussage zu verändern. Wenn man im Gespräch jedoch „Ein Bild ist ein Bild“ sagt, meint man höchstwahrscheinlich nicht die Aussage „A ist A“ sondern eher „Egal wie abstrakt, gewöhnlich oder unverständlich ein Bild ist, es bleibt ein Bild“.



Der Satz vom Widerspruch oder der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch ist in der Erkenntnistheorie und der traditionellen Logik eine der wichtigsten Aussagen: „A und (nicht A)“ ist immer falsch, was bedeutet, dass aus der Wahrheit der einen Aussage A die Falschheit der Aussage nicht A folgen muss oder dass zwei einander widersprechende Gegensätze nicht zugleich wahr sein können. Um ein bereits verwendetes Beispiel erneut aufzugreifen: Die Aussage „die Sonne scheint (A) und sie scheint nicht“ ist immer falsch, denn eine der Teilaussagen A und nicht A muss falsch sein.



Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten formuliert die Umkehrung des vorangehenden Satzes: „A oder (nicht A)“ ist immer wahr. Ist die Aussage des Satzes des ausgeschlossenen Widerspruchs immer falsch, so ist die hier angegebene Aussage immer wahr. Es sei hier erneut darauf hingewiesen, dass obwohl die Wahrheit der Aussage A oder (nicht A) gesichert ist, wir den Wahrheitswert von A oder nicht A selbst nicht wissen. Der Wahrheit des Satzes besagt lediglich, dass von zwei entgegengesetzten Behauptungen über einen Gegenstand nur eine richtig sein kann und keine dritte. So wie „Die Sonne scheinen kann oder auch nicht“.



Der Satz vom zureichenden Grund — ein weiteres Grundprinzip der traditionellen Logik — besagt, dass jede Aussage nur dann als bestehend bzw. wahr gelten kann, wenn dafür je ein ausreichender Grund vorliegt, ob man diesen Grund kennt oder nicht. „(...) nichts geschieht, ohne dass es eine Ursache [cause] oder wenigstens einen bestimmenden Grund [raison déterminante] gibt (...)“ (GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ). Auch wenn man die Ursache nicht kennt oder sich nicht einig ist, wieso „die Sonne scheint“, so weiß man um die Existenz eines Grundes: Die einen beziehen dabei Gott ein, andere belassen es bei physikalischen Begründungen.

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11.17.6 Typische Anwendungsfelder der Logik Folgend werden einige Wissenschaften aufgeführt, für welche die Logik einen hohen Stellenwert einnimmt: •

Bei einem der zentralen Probleme der Informatik — die Korrektheit von Programmen — wird anhand formaler Verifikationsprogramme mathematisch bewiesen, dass ein Programm tatsächlich das verlangte (Ein-/Ausgabe-)Verhalten hat, z.B. Anwendungen wie „Automatisches Beweisen“ oder „Logik-Programmierung“. Die mathematischen Grundlagen liefert die (mathematische) Logik.



Die moderne Logik hat sich in den letzten Jahrzehnten auf dem Gebiet der Linguistik als angemessene Methode in der Betrachtung natürlicher Sprachen erwiesen. Es wird zugrunde gelegt, dass sich diese als formale Sprache (wie eine Programmiersprache) beschreiben lässt. Dazu dienen Grammatikformalismen, die universelle Gemeinsamkeiten verschiedener natürlicher Sprachen widerspiegeln und zu überschaubaren und handhabbaren Regelsystemen führen. Es sei jedoch auch erwähnt, dass syntaktische Regelsysteme natürlicher Sprachen viel komplexer als Regelsysteme künstlicher (artifizieller) Sprachen sind.



Des Weiteren findet die Fuzzy-Logik (englisch: fuzzy = vage, unscharf) Anwendung in verschiedenen Gebieten wie Technik, Medizin, Wirtschaftswissenschaften, Physik usw. Die Grundidee der Fuzzy-Logik liegt in der Formalisierung menschlichen Problemwissens, das heißt, eine Modellierungstechnik, bei der die menschliche Fähigkeit als Grundlage genommen wird, um Handlungswissen nutzbar zu machen in Form eines Systems von z.B. Verhaltensregeln. Idealerweise kann durch ein solches System von Regeln die Leistungsfähigkeit der Person oder der Personengruppe erreicht werden, die das entsprechende Wissen zur Verfügung gestellt haben.

11.17.7 Typische Kritik an der Logik Es ist schwierig, Kritik an einer Wissenschaft zu verüben, die auf Basis weniger Axiome und Grundbegriffe, also auf einfache Weise Modelle definiert, die wiederum eigenständige Wissenschaften hervorbringen (wie die Mathematik). Jedoch ist möglicherweise genau in diesem Argument auch der Kritikpunkt enthalten: das hohe Abstraktionsniveau der Logik! Die Tatsache, dass in der Logik nicht der Inhalt der Aussage („die Sonne scheint“) sondern die Form und der Wahrheitswert dieser von Bedeutung sind („es gilt A“), gestaltet den Zugang unter Umständen beschwerlich.

11.17.8 Typische Begriffe und deren Deutung in der Logik Die bereits zu Beginn genannte Vollständigkeit (GÖDELSCHER Vollständigkeitssatz) ist eine Eigenschaft formaler Systeme. Man unterscheidet semantische Vollständigkeit („Alles, was wahr ist, ist beweisbar.“), klassische Vollständigkeit („Eine der zwei Aussagen A und nicht A ist stets beweisbar.“) und syntaktische Vollständigkeit („Wird eine nicht beweisbare Aussage als Axiom verwendet, so ist die Widerspruchsfreiheit verletzt, das heißt, alles wird beweisbar.“).

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11.17.9 Bedeutung der Logik für das Coaching ARISTOTELES hat die Logik als „Wissenschaft vom richtigen Schließen“ bezeichnet. Nicht nur in der Mathematik oder Philosophie, sondern auch im alltäglichen Leben findet dieser Grundsatz Anwendung. Insbesondere im Arbeitsleben ist es förderlich, Gespräche/Diskussionen argumentativ wohl strukturiert und nach den Regeln der Logik zu führen. In diesem Kontext sollte Coaching dem Anspruch um so mehr genügen, da die Herleitung von Problemlösungen und beratender Begleitung von Berufstätigen einer klaren unmissverständlichen objektiven Linie bedarf. So wird zum Beispiel der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch (man kann nicht eine Aussage und ihr Gegenteil behaupten) im täglichen Gespräch oft ins Gegenteil verkehrt (man kann wohl eine Aussage und gleichzeitig ihr Gegenteil behaupten).

11.17.10 Basisliteratur EBBINGHAUS, H.-D./FLUM, J./THOMAS, W. (1978): Einführung in die mathematische Logik. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft SHOENFIELD, JOSEPH R. (1973): Mathematical Logic. Addison Wesley Publishing Company OBERSCHELP, ARNOLD (1997): Logik für Philosophen. Stuttgart/Weimar, Metzler ZOGLAUER, THOMAS (2008): Einführung in die formale Logik für Philosophen. Vandenhoeck & Ruprecht

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11.18 Marketing und Markenmanagement von Horst Seider

11.18.1 Ursprung und Anfänge des Marketing Eine im Mittelalter beginnende Spezialisierung, bestimmte Produkte und Dienstleistungen besser produzieren zu können als andere Personen, förderte stark die Notwendigkeit, die erstellten Produkte/ Dienstleistungen untereinander auszutauschen. Der Austausch erfolgte i.a.R. mittels Geld. Der Anbieter verkaufte sein Produkt nur dann, wenn der erzielbare Preis einen für ihn höheren Nutzen hatte als das Produkt selbst. Das gleiche Prinzip galt für den Käufer, auch er wollte durch den Einkauf einen höheren persönlichen Nutzen erzielen als der herzugebende Geldbetrag = Preis für ihn hatte. Die aktive Suche des Anbieters nach einem potenziellen Nachfrager für sein Angebot kann als Beginn von Marketing verstanden werden. Marketing sollte also von Beginn an den angestrebten Austauschprozess zum eigenen Vorteil = Erreichung der eigenen Ziele fördern und ermöglichen.

11.18.2 Entwicklung von Marketing Waren es im Mittelalter zunächst noch Austauschprozesse zwischen Personen, die sich persönlich kannten, änderte sich mit Beginn der Industrialisierung der Charakter der Austauschbeziehungen. Produzenten von Massenartikeln, z.B. von Textilien, suchten jetzt viele anonyme Kunden für ihre Angebote. Generell bestanden die Angebote aus realen Produkten, Dienstleistungen spielten eine untergeordnete Rolle. Daher konzentrierte sich Marketing in dieser Phase auf die Produktion werthaltiger Produkte und deren Distribution zu den vielen Kunden. Kunden wurden primär über Produkte angesprochen = Dominanz der Produktion. Ziel war eine Transaktion „Produkt gegen Geld” zu fördern = Transaktionsmarketing. Es gab prinzipiell mehr Nachfrage als Produktangebote. Diese Marketingphase dauerte in der Bundesrepublik Deutschland ca. bis in die Mitte der 1960er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Danach gab es prinzipiell mehr Angebot als Nachfrage. Dienstleistungen wurden wichtiger. Als Reaktion hierauf begann mit der Konsumentenorientierung eine neue Entwicklung im Marketing. Marketing erhielt jetzt die Aufgabe, die Konsumentenbedürfnisse und die Konsumentenwünsche zu erforschen und durch eine Marketingplanung im eigenen Unternehmen dazu beizutragen, dass das eigene Produktangebot möglichst gut die Kundenbedürfnisse befriedigte und den Nutzenerwartungen der Kunden entsprach (KOTLER, PHILIP). Hierbei wurde zunehmend auf die dauerhafte Befriedigung der Kundenbedürfnisse abgestellt (MEFFERT, HERIBERT). Intern wurde Marketing als Unternehmensfunktion wichtiger. Mehr und mehr wurde nicht die Produktion, sondern die Vermarktung von Produkten bei zunehmenden Wettbewerb zum Engpassfaktor. Dieser Tatbestand führte dazu, dass ca. ab 1980 der Marketingansatz um den Wettbewerbsaspekt erweitert werden musste. Die Unternehmen konzentrierten sich verstärkt auf engere Zielmärkte. Die Be449

friedigung der Kundenbedürfnisse sollte mit spezielleren Produkten einschließlich produktbegleitender Diensleistungen und einem effektiveren Marketing erfolgen. Die Erreichung von Wettbewerbsvorteilen wurde ein weiterer Teil des Marketingzielbündels (KOTLER, PHILIP). Ab Mitte der Achtzigerjahre wurde der wettbewerbsorientierte Ansatz dahingehend erweitert, dass man Marketing als permanenten Prozess = Marketingmanagement = Management von Austauschbeziehungen auffasste, um so die Unternehmensziele besser erreichen zu können. Der zentrale Bereich dieses Marketingprozesses bestand zunächst in der Entwicklung und Führung von Marken. Marke ist ein in der Psyche verankertes unverwechselbares Vorstellungsbild von einem Produkt oder einer Dienstleistung (mehr hierzu siehe Markenstrategie im Absatz C). Ab Mitte der Neunzigerjahre bis heute wurde die Gestaltung von langfristigen Kundenbeziehungen und der Aufbau von Kundenbindung immer stärker betont und mit dem Markenmanagement verknüpft. Kundenbeziehungsmanagement = customer relationship management (CRM) rückte in den Mittelpunkt von Marketing. Gleichzeitig wurde es darüber hinaus zur Marketingaufgabe, die Unternehmensziele fördernden Beziehungen zu Lieferanten und weiteren stakeholdern (z.B. Banken, eigenen Mitarbeitern, gesellschaftlichen Anspruchsgruppen wie Politikern und Journalisten) aufzubauen und zu pflegen = Beziehungsmarketing. Customer relationship mangement blieb die zentrale Marketingaufgabe, wurde aber zunehmend eingeordnet gesehen in das externe Beziehungsmarketing. Ziel des externen Beziehungsmarketing ist es, ein Netzwerk zu allen Personen und Organisationen außerhalb des eigenen Unternehmens aufzubauen, die direkt oder indirekt Einfluss nehmen auf den Erfolg des Unternehmens. Beim internen Beziehungsmarketing geht es darum, dass alle Mitarbeiter und Abteilungen Marketing als die Leitphilosophie anerkennen und leben, also bei Aktivitäten, selbst wenn sie auf den ersten Blick kundenfern erscheinen, im Interesse der Kunden zu wirken und sie zufriedenzustellen. Zusammengefasst zeigt sich, dass sich Marketing kontinuierlich auf immer mehr Aspekte des Marktgeschehens und der Unternehmenspolitik erweitert hat. Dies spiegelt sich in den heute vorherrschenden Definitionen von Marketing wider. Marketing wird heute verstanden als ein umfassender Prozess im Wirtschafts- und Sozialgefüge, durch den Einzelpersonen und Gruppen ihre Bedürfnisse und Wünsche befriedigen, indem sie Produkte und andere Austauschobjekte von Wert erzeugen, anbieten und miteinander tauschen. In einem engeren Sinn gilt:A marketing concept: that is, that companies achieve their profit and other objectives by satisfying customers by doing better than the competition.

11.18.3 Wichtige Theoreme im Marketing Das Haupttheorem lautet: •

Unternehmensziele können dauerhaft nur erreicht werden, indem man besser als die Wettbewerber die Bedürfnisse seiner Kunden erfüllt.

Aus diesem Haupttheorem leiten sich speziellere Marketingtheoreme ab: •

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Kundenbedürfnisse sind stets subjektiv. Die Bedürfnisse des Einzelnen ergeben sich aus vielen Einflussfaktoren, die sowohl in der einzelnen Person angelegt sind als auch in einem erheblichen Ausmaß durch die Wertvorstellungen Dritter, wie Familienangehörige, Freunde, peer groups, sozialem Milieu, Gesellschaft als Ganzes, beeinflusst sind.

• •





Befriedigte Kundenbedürfnisse schaffen Kundenzufriedenheit, Kundenzufriedenheit schafft Kundenbindung. Kundenzufriedenheit muss stets erneut erarbeitet werden. Hierbei spielen Innovationen eine wichtige Rolle, um sich erfolgreich an sich im Zeitablauf ändernde Kundenbedürfnisse anzupassen. Kundenzufriedenheit kann nur durch einen integrierten Ansatz dauerhaft erzielt werden. Das heißt, alle Mitarbeiter des Unternehmens müssen Kundenzufriedenheit auch als ihre eigene Aufgabe ansehen, die nicht an die Marketingabteilung delegiert werden kann = internes Marketing (GRÖNROOS, GEORGE). Auf gesättigten Märkten ist Marketing die einzig erfolgversprechende Unternehmensphilosophie = marketing driven companies.

11.18.4 Fragestellungen und Strategien im Marketing Grob lassen sich Fragestellungen drei großen Bereichen zuordnen. Marketinganalyse = Analyse von Wertchancen Welche Chancen gibt es für mich, um nachhaltig Gewinne zu erzielen und so die Existenz des Unternehmens zu sichern? Im Einzelnen: • • • •

• •

Was sind meine Märkte unter geografischen Aspekten (regional, national, international)? Was sind die Charakteristika meines Marketingumfeldes (Marktgröße, Marktstruktur, Marktwachstum)? Welche volkswirtschaftlichen, technologischen und politisch-rechtlichen Aspekte sind für mein Unternehmen von Bedeutung? Wer sind meine Kunden und wie lässt sich ihr Kaufverhalten erfassen? Hierbei unterscheidet sich das Kaufverhalten von Privatpersonen (consumer), Firmen (business-to-business), Händlern und der öffentlichen Hand deutlich. Fragestellungen auf Konsumgütermärkten betreffen im Wesentlichen sozio-ökonomische Merkmale der Kunden, Kaufobjekte, Kaufprozesse und Kaufstättenwahl. Wer sind meine Hauptwettbewerber und welche Markenpolitik verfolgen sie?

Alle Fragen zur Marktanalyse sollten nicht nur die Gegenwart betreffen (= Ist-Analyse), sondern sich auch auf die erwartete Zukunft beziehen (= Prognose). Die Marktforschung liefert die erforderlichen Instrumente zur Marktanalyse. Fragestellungen zur Marketingstrategie • •

Zielt mein Angebot auf den Gesamtmarkt oder biete ich differenzierte Produkte in ausgewählten Marktsegmenten an? Differenzierungsstrategien sind heute der Normalfall. Wie wähle ich aus dem Gesamtmarkt die für mein Unternehmen Erfolg versprechenden Teilmärkte aus (= Segmentierung)? Hierbei ist das wichtigste Segmentierungskriterium die Kundengruppe. 451

• • •

Wie gestalte ich innerhalb des Marktsegmentes die Wahrnehmung meines Angebots durch die Zielgruppe (= Positionierung)? Wie grenze ich mich positiv gegen Wettbewerbsangebote ab (differential advantage)? Wähle ich eine Präferenz- oder eine Niedrigpreisstrategie?

Der heute dominierende Ansatz einer Präferenzstrategie ist die Markenstrategie. Wesentliche Merkmale einer Markenstrategie sind Langfristigkeit, Schaffung von Präferenzen über eine hohe Produkt- und Servicequalität, Innovationskraft, hoher Kommunikationsaufwand insbesondere durch Werbung, hoher Preis. • •

Was soll meine Marke unverwechselbar machen (engerer und weiterer Markenkern = Nutzenversprechen, Markenname, Markenzeichen)? Wie erhalte ich meinen Markenkern im Zeitablauf bei sich verändernden Märkten (= Markenführung)?

Fragestellungen zum operativen Marketingstrategie Das operative Marketing besteht aus einer Vielzahl von Aktivitäten/Maßnahmen, die so zu gestalten sind, dass die strategischen Marketingziele gefördert werden. Die folgenden Ausführungen beziehen sich zunächst auf das Konsumgütermarketing. Es lassen sich vier Bereiche des operativen Marketing unterscheiden. Diese vier Bereiche werden als Marketing-Mix bezeichnet, da die Marketingpolitik stets Entscheidungen aus allen vier Bereichen betrifft. Das Marketing-Mix besteht aus den so genannten vier Ps : product = Produktpolitik price = Preispolitik promotion = Kommunikationspolitik place = Distributionspolitik Wichtige Entscheidungen zu product: • Welche Produktmerkmale bei welchem Qualitätsniveau soll mein Produkt haben? • Wie lang soll der geplante Produktlebenszyklus sein/wann kommt das Nachfolgeprodukt? • Wie viele Produktvarianten soll es geben? • Wie soll die Verpackung gestaltet werden? • Wie viel Forschung- und Entwicklungsaufwand sind nötig? Markenprodukte haben i.a.R. eine hohe Qualität, sind stark differenziert = bieten verschiedene Zusatznutzen an, sind innovativ und benötigen einen hohen Kommunikationsaufwand. Wichtige Entscheidungen zu price: • Preishöhe, absolut und relativ zu den Preisen der Wettbewerber • Preisdifferenzierung nach Teilmärkten (= Kundengruppen, Regionen, international) • Preisaktionen/Rabatte, die nicht meine langfristige Preisposition aushöhlen • Durchsetzung meiner Preisforderung, insbesondere bei hoher Einkaufsmacht meiner Kunden (z.B. bei Lebensmittel- und Handelskonzernen) 452

Eine Niedrigpreisstrategie verlangt zusätzlich wichtige kostenrelevante Entscheidungen beim Einkauf (global sourcing) und der Produktion (outsourcing). Wichtige Entscheidungen zu promotion: • Höhe und Mix des Promotionbudgets (Werbung, Verkaufsförderung, Direktmarketing/Internet, Public Relations, Sponsoring, Event) • Gestaltungsentscheidungen zur Werbung (Inhalt, Form, Medienwahl) • Gestaltungsentscheidungen zur Verkaufsförderung (Dauer, Inhalt und Form, Einbindung des Vertriebs) • Entscheidungen zur Art und Form des sonstigen Promotion-Mix Wichtige Entscheidungen zu place: • Direkter Vertrieb/Internet und/oder Distribution über Absatzmittler, insbesondere Handelsunternehmen • intensive, selektive oder exklusive Distribution • Management des Distributionskanals (Auswahl der Distributionspartner, Informationssysteme innerhalb des Distributionskanals) • physische Distribution (eigene Logistikfunktion oder outsourcing an Spezialisten, Wahl der Transportmittel, Kostenminimierung, Einsatz von Informationssystemen) Auf Industriegütermärkten (= business-to-business) gilt ebenfalls das Marketing-Mix, jedoch ändert sich im Detail die Bedeutung der vier Ps: • Produktqualität und Innovation werden professionell beurteilt und gefordert, die Produkte sind kundenspezifischer und werden häufig in enger Kooperation mit den Kunden entwickelt • Die Preishöhe ist relativ weniger wichtig, im Anlagengeschäft sind Finanzierungsfragen häufig entscheidend (z.B. beim Export des deutschen Maschinen- und Anlagenbaus) • Persönliche Kommunikation/Vertrauen sind im Rahmen von Dauergeschäftsbeziehungen sehr wichtig • wenig Werbung und Verkaufsförderung mit Ausnahme von Industriemessen • große Bedeutung von einzuhaltenden Lieferfristen Dienstleistungen sind, anders als reale Produkte, immateriell, ihre Erstellung und Nutzung erfolgt häufig uno actu und die Beteiligung des Kunden am „Produktionsprozess” ist häufig ein wichtiger Erfolgsfaktor = Integravität (z.B. gegebene Information seitens des Kunden), sie unterliegen Qualitätsschwankungen und sind schwierig/gar nicht zu standardisieren. Daher wurde im Dienstleistungsmarketing das Marketing-Mix (vier Ps) um drei weitere Ps ergänzt: people Die meisten Dienstleistungen werden von Menschen erbracht. Die Qualität der Mitarbeiter entscheidet maßgeblich über die Qualität der Dienstleistung. Daher werden die Auswahl, Schulung und die Führung/Motivationssteuerung der Mitarbeiter zu wichtigen Marketinginstrumenten (= internes Marketing). physical evidence Durch physische Signale versucht man die Dienstleistungsqualität zu demonstrieren (z.B. im Hotel durch Ausstattung, Sauberkeit, Kleidung der Mitarbeiter).

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process Die Dienstleistung ist fast immer das Ergebnis von zu gestaltenden Prozessen. Sowohl intern, für den Kunden nicht sichtbare Prozesse, als auch von externen Prozessen zwischen Mitarbeiter und Kunde (= interaktives Marketing).

11.18.5 Anwendungsfelder von Marketing Marketingstrategie und Marketinginstrumente können überall dort angewendet werden, wo eine Leistung/Produkt Dritten = Kunden angeboten wird. Hierbei ist die Einsatzmöglichkeit universell gegeben, unabhängig von der Art des Angebotes (Produkt oder Dienstleistung), des Anbieters (Unternehmen, öffentliche oder private Institutionen ) und des Kundentyps (Konsumenten, Unternehmen, öffentliche Institutionen). Die Universalität der Einsatzmöglichkeiten von Marketing ist heute weitgehend anerkannt und wesenbestimmend für Marketing geworden.

11.18.6 Kritik an Marketing •

• • •

Der typische Marketingansatz, den Kunden und seine Bedürfnisse zur Basis aller Unternehmensaktivitäten zu machen, ist ideologisch geworden und geht zu Lasten anderer Unternehmensanforderungen wie z.B. Mitarbeiterinteressen zu berücksichtigen oder gesellschaftlicher Verantwortung gerecht zu werden = corporate social responsibilty. Durch die Konzentration auf die individuelle Bedürfnisbefriedigung werden gesellschaftliche Interessen der Kunden ausgeblendet/nicht bedient. Der Mensch ist mehr als ein Konsument. Der professionelle Einsatz von Marketing führt zu immer ähnlicheren Produkten/Angeboten und somit letztlich zu mehr Langeweile (z.B. beim Warenangebot in Innenstadtlagen). Bahnbrechende Innovationen können nicht aus der Analyse aktueller Kundenbedürfnisse kommen, sondern nur aus der Wissenschaft, insbesondere der Grundlagenforschung.

11.18.7 Marketing im Coaching Coaching als stark personenbezogene Dienstleistung ist aus den o.g. Gründen schwieriger zu vermarkten als Konsumgüter, bei denen mittels des Markenkonzeptes eine Markenidentität aufgebaut werden kann. Zwar gibt es auch starke Dienstleistungsmarken (z.B. Lufthansa, McKinsey, McDonnald's), der Aufbau einer Dienstleistungsmarke ist aber um so schwieriger und begrenzter, je weniger standardisierbar die Dienstleistung ist. Dies ist typisch für Coaching der Fall. Der Coach kann i.a.R. nicht seine Coachingleistungen als Marke etablieren, da sie zu einzelfallbezogen sind und für einzelne, unterschiedliche Personen erbracht werden. Der Coach kann aber versuchen, seine Person selbst als Marke aufzubauen. Konkret heißt dies, für sich als Person einen möglichst hohen Bekanntheitsgrad aufzubauen, z.B. durch regelmäßige Veröffentlichungen, als Referent und, falls möglich, durch persönliche Empfehlungen = word of mouth. Die erworbene Bekanntheit ist inhaltlich aufzuladen im Sinne eines Markenkerns. So kann man z.B. als Coach seine Integrität, seine Empathie und bei entsprechendem Alter seine große Berufs- und Lebenserfahrung als einzigartig herauszustellen versuchen. Hierbei ist wichtig, 454

dass der Markenkern wie im Konsumgütermarketing sich auf wenige wesentliche Inhalte/Aussagen beschränkt und über einen langen Zeitraum immer wieder kommuniziert wird.

11.18.8 Basisliteratur Als Standardliteratur seien die folgenden drei Bücher empfohlen, die jeweils in vielen Auflagen erschienen sind. Bitte auf die neueste Auflage achten. MEFFERT, HERIBERT. Marketing JOBBER, DAVID. Principles and Practice of Marketing KOTLER, PHILIP/KELLNER, KEVIN. Marketing-Management

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11.19 Motivationspsychologie — Motive und Motivation von Andreas Huber

11.19.1 Anfänge/Ursprünge/Quellen Die wohl erste — und heute noch einflussreiche — Motivationstheorie wurde in der Antike als Hedonismus geschaffen: So ging EPIKUR (340-270 v.Chr.) davon aus, dass alle Menschen danach streben, Glück zu erreichen und Leid oder Schmerz zu vermeiden. Antike Philosophen differenzierten zudem die für die moderne Motivationspsychologie essentiellen Ziele. So beschrieb schon PLATON drei Klassen von „Glückszielen” — das einfache Glück durch materielle/irdische Ziele (Nahrung, Kleidung, Wohnung), das höhere Glück durch engagiertes Handeln (Leistung, Hingabe, Einfluss, Status, Ehre) und das höchste, eudämonische Glück durch sinnschaffendes Tun (Wissen, Erkennen, Ideenschau/Philosophie, Spiritualität/Esoterik). Weitere Quellen liegen in den auf DARWIN zurückgehenden evolutionstheoretischen Trieb- oder Instinktlisten von WILLIAM JAMES (1890) und WILLIAM MCDOUGALL (1908; Motive als propensities, Neigungen) sowie dem elaborierten „Bedürfniskatalog” von HENRY MURRAY (1938, Motive als needs, Bedürfnisse) als frühe Motivklassifikationen — demnach wird unser Verhalten von weitreichenden instinktiven, angeborenen Tendenzen oder Kräften angetrieben oder motiviert. In diesen Instinktlisten von JAMES und MCDOUGALL finden sich etwa folgende „Ur-Motive”: „Exhibition” Familie Herde Jagen Ordnung Rache Schaffen Scham Schmerz Sex Sparen Spiel Wissbegierde

Antrieb nach Aufmerksamkeit Antrieb, Kinder groß zu ziehen Antrieb nach sozialem Kontakt Antrieb, Nahrungsmittel zu finden Antrieb nach Sauberkeit und Organisation Antrieb nach Aggression Konstruieren: Antrieb, zu bauen und etwas zu erreichen Antrieb, nicht ausgegrenzt zu werden Antrieb, das Gefühl der Ablehnung zu vermeiden Antrieb nach Fortpflanzung, Reproduktion Antrieb, zu horten und zu sammeln Antrieb nach Spaß Antrieb, zu erforschen und zu lernen

Diese Liste wurde vor allem von HENRY MURRAY erweitert — er präsentierte u.a. folgende Grundbedürfnisse: Flucht, Abwehr, Neugier, Selbsterhaltung (Sexualität), Leidvermeidung, Fürsorglichkeit, Selbstgerechtigkeit, Selbstdarstellung, Unterwerfung (Selbsterniedrigung), Ordnung, Zurückweisung, Erniedrigung, soziale Zugehörigkeit (Herdeninstinkt), Unabhängigkeit, Machtausübung/Dominanz, Spiel, Hilfesuche, Erwerben, Wissen, Zurückbehalten, Leistung, Aggression, Widerstandsfähigkeit, Verstehen, Aufbauen und Organisieren oder Geltung. Problematisch bei diesen evolutionär basierten Instinkt-, Antriebs- oder Bedürfnislisten war die mangelnde empirische Absicherung und das Phänomen des sogenannten „Zirkelschlusses”: Jedes singuläre 456

Verhalten wurde mit einem eigenen Trieb etikettiert — und somit „erklärt”. Die Literatur berichtet unterschiedliche Zahlen, immer gehen sie in die Tausende und belegen eine wahrhafte Sammelwut der damaligen Psychologen. Der deutsche Soziologe LANGER zählte in den 30er-Jahren etwa 14.000 (!) Instinkte — darunter auch den „Verhaltenstrieb, möglichst nicht in der eigenen Plantage zu essen” und viele ähnliche Absurditäten. Historisch waren damit die Listen solcher angeborenen „Basis -Motive” erledigt. Theoretisch wichtig blieben allerdings die von MCDOUGALL und MURRAY geschaffenen Grundlagen: MCDOUGALL verstand die motivierende Wirkung eines Instinktes dreifach: Ein emotionaler Instinktkern bestimmt die Wahrnehmung, die Bewertungen und liefert zielbezogene Handlungsimpulse — eine Steilvorlage für spätere kognitive Motiv- und Motivationskonzepte. „Die allgemeine Instinktdefinition MCDOUGALLS' analysiert die Psychologin ROSA PUCA, „wird heute — etwas abgewandelt — auch als Motivdefinition herangezogen.” MURRAY wiederum bezog sich direkt auf MCDOUGALL und suchte in umfangreichen empirischen Untersuchungen (Interviews, Beobachtungen, Tests, Tagebucheintragungen etc.) mit nur 50 (!) Versuchspersonen den situativen Einfluss der menschlichen Handlungen genauer zu bestimmen. Bei ihm wurde Motivation zu einem „Thema”: Einem Gesamtpaket aus personseitigen needs (Bedürfnissen) als angeborenen, stammesgeschichtlichen Grundmotiven plus situationsseitigen presses (Druck) als bedürfnisspezifische Verlockungen oder Bedrohungen in kulturellen Umweltsituationen — ein „press” ist also ein Objekt oder eine Situation, die ein Bedürfnis (need) aktivieren und so ein zielgerichtetes, motiviertes Handeln auslösen kann. MURRAY unterschied motivational zudem eine positiv aufsuchende Hoffnungs- von einer vermeidenden Furchttendenz — auch dies ein elementarer Bestandteil moderner Theorien. So besteht das Machtmotiv aus den Handlungskomponenten Hoffnung auf Erfolg plus Furcht vor Misserfolg, das Anschlussmotiv aus Hoffnung auf Zugehörigkeit und Furcht vor Zurückweisung. Die Forschungsergebnisse von MURRAY und seiner Forschungsgruppe waren in den 1930er- und 40erJahren zwar bezüglich aller 27 von MURRAY definierten needs als Grundbedürfnisse — oder „themes” als Grundmotivationen — „nicht immer von hinreichender Klarheit”, wie FALKO RHEINBERG kommentiert; das weitere Geschehen beschreibt der führende deutsche Motivationsforscher so: „Das überrascht insofern nicht, als sich diese Gruppe mit einer größeren Zahl von Bedürfnissen befasste, sodass nicht die Zeit blieb, um die einzelnen Bedürfnisse in gesonderten Untersuchungen bis zum letzten abzuklären. Hier wurden die entscheidenden Fortschritte gemacht, als eine Forschergruppe um MCCLELLAND und ATKINSON ihre ganze Kapazität auf wenige Bedürfnisse, insbesondere das „Leistungsmotiv konzentrierte” (RHEINBERG 2006, S. 58). MCDOUGALL und besonders MURRAY haben daher entscheidende Impulse gesetzt: In moderner Perspektive sind Motive Bewertungen von Zielen/Zielklassen und begründen in Abhängigkeit von situativen Anreizen/Gegebenheiten die Motivation, entsprechende Ziele aktiv handelnd anzustreben — oder sie aber zu vermeiden. So kann ein situativer Hinweisreiz (etwa ein Café) signalisieren, dass ein Ziel (Kontakt mit anderen Menschen) erreicht werden kann, was das dem Ziel entsprechende Motiv (Anschluss- oder Beziehungsmotiv) aktiviert und zielgerichtetes, motiviertes Verhalten auslöst. Motivation als Zusammenspiel zwischen personseitigen und situationsseitigen Komponenten zu verstehen, gehört zu den Essentials moderner Motivationskonzepte. Auch die personseitig historisch als Instinkt, Trieb, Bedürfnis und schließlich als Motiv bezeichneten Komponenten nähern sich heute wieder an: War das Motiv jahrzehntelang erlernt, stark umweltabhängig und vor allem kognitiv geprägt, versteht man es seit Mitte der 1990er-Jahre ganz im Sinne MCDOUGALLS und MURRAYS wieder zunehmend als elementar emotional und evolutionär. 457

Fazit — Nach dem Krieg gerieten ab den 1950er-Jahren 24 der 27 grundlegenden MURRAY´schen Bedürfnisse oder Motive in Vergessenheit — ohne dass deren Unangemessenheit oder Unsinnigkeit empirisch erforscht worden wäre — und man begnügte sich mit drei Motiven: Neben dem Leistungsmotiv beschäftigten sich DAVID MCCLELLAND und JACK ATKINSON als die eigentlichen Gründungsväter der modernen Motivationspsychologie noch mit dem Macht- und dem Anschlussmotiv. Vor allem MCCLELLAND reduzierte die menschliche Motivation ausdrücklich auf drei dominante Antriebe: das Bedürfnis nach Erfolg (N-Ach), Macht (NPow) und Zugehörigkeit (N-Affil). Die Schreibweise ist eine bewusste Übernahme — und Hommage an MURRAY: „N” steht für den MURRAY´schen Motiv- und Bedürfnisbegriff des need, „Ach” für achievement (Leistung), „Pow” für power (Macht) und „Affil” für affiliation (Anschluss), ausnahmslos Motive der MURRAY´schen Need-/Bedürfnisliste. Als randständige Ausnahmen gelten zudem das Neugier-, Aggressions- oder Hilfeverhaltensmotiv. Die jahrzehntelange Konzentration auf und Gewöhnung an diese Big Three der Motive — Leistung, Macht und Anschluss — hat das Grundproblem allerdings nicht gelöst: Die Frage, wie viele Grundmotive es gibt, ist bis heute offen und nicht beantwortet, was beispielsweise auch der weltweit renommierte Motivationsforscher HEINZ HECKHAUSEN Ende der 1980er-Jahre kritisierte. Theoretische und praxisnahe Antworten in diese Richtung liefern die in den letzten Jahren entwickelten Verfahren des US-amerikanischen REISS-Profile RP (16 fundamental needs) und die deutschsprachige MotivStrukturAnalyse MSA (18 Grundmotive).

11.19.2 Entwicklung und bedeutende Richtungen der Wissenschaftsdisziplin und deren Vertreter Eine eigenständige Motivationspsychologie begründen DAVID MCCLELLAND und JACK ATKINSON also erst in den 1950er-Jahren mit ihren theoretischen und empirischen Beiträgen zur Macht-, Anschlussund besonders Leistungsmotivationsforschung — fortan stehen diese drei Motive im Mittelpunkt. Seit Ende der 1960er-Jahre gewinnt auch die deutsche Motivationspsychologie unter der Führung von HEINZ HECKHAUSEN an weltweitem Einfluss — als kognitive Disziplin. Gegenüber den inhaltlichen Ansätzen — Leistung als motiviertes Handeln bezüglich eines Gütemaßstabes, machtmotiviertes Handeln, um Einfluss und Stärke auszuüben, sowie anschlussorientierte Motivationen, um Geselligkeit und Zugehörigkeit zu erfahren — gewinnen dabei allgemeine Prozessmodelle und -theorien an Bedeutung: Neben den so genannten „Erwartung mal Wert”-Ansätzen — der völlig rational Handelnde entscheidet sich dann zur motivierten Tat, wenn das Ziel und seine Folgen lohnenswert genug erscheinen („Wert”) und gleichzeitig die Erfolgswahrscheinlichkeit entsprechender Handlungen ausreichend hoch ist („Erwartung”) — vor allem die in Abschnitt 9 beschriebenen motivationspsychologischen Prozessmodelle des ... • •

erweiterten Kognitiven Motivationsmodells von FALKO RHEINBERG und HEINZ HECKHAUSEN sowie das Allgemeine Motivationsmodell der Handlungsphasen („Rubikon-Modell”) von HEINZ HECKHAUSEN und PETER GOLLWITZER.

In den letzten fünfzehn Jahren wurden dabei besonders die jahrzehntelang vernachlässigten Volitionsund Willensprozesse immer wichtiger: Im Vergleich mit der motivationalen Zielgebung tritt nun die 458

volitionale Zielrealisierung in den Vordergrund — alle Prozesse und Maßnahmen, um die motivierte Handlung gegenüber möglichen inneren und äußeren Problemen und Störungen abzuschirmen und auf Kurs zu halten. Diese Forschung wurde vor allen Dingen von den deutschen Psychologen JULIUS KUHL und PETER GOLLWITZER vorangetrieben. Prinzipiell ist die Motivationsforschung ein weites Feld und man kann Evolutions-, Trieb- und Instinkttheorien ebenso unterscheiden wie Eigenschafts-, Persönlichkeits-, Feld-, Rollen- oder Lerntheorien — um nur einige zu nennen. Im Folgenden ein Kompakt-Überblick über die einflussreichsten Ansätze und wichtige paradigmatische Strömungen (zu einem umfassenden historischen Detail-Überblick sei verwiesen auf die fachlich meisterliche Darstellung des Kapitels „Entwicklungslinien der Motivationspsychologie” von HEINZ HECKHAUSEN in seinem Lehrbuch Motivation und Handeln).

11.19.3 Tiefenpsychologische Strömungen Sigmund Freud In der Psychoanalyse SIGMUND FREUDs wird der Mensch ausschließlich von der Libido motiviert. Egal, was wir tun: Letztlich liegen unserem Handeln immer sexuelle Motive zugrunde, und zwar meist unbewusst. Diese Beweggründe des Es werden jedoch durch das Zusammenspiel der Psycho-Instanzen Ich und Über-Ich verdrängt, weil wir sie nur unter bedrohlichen, gefährlichen Angst- und Schuldgefühlen erleben könnten. Genauer konzeptualisierte FREUD zwei antagonistische Antriebe: den Eros als Lebenstrieb und den Todestrieb — der auch in der Psychoanalyse selbst bis heute umstritten ist. C. G. Jung und Alfred Adler Während JUNG davon ausging, dass der Lebenswille und archetypische Prägungen als fundamentale psychische Kraft die Individuation als menschlichen Lebensweg motivieren, erkannte ALFRED ADLER im Streben nach Macht, Einfluss und Herrschaft das grundlegende Lebensmotiv des Menschen. Erik Erikson Nach der psychoanalytisch orientierten Entwicklungstheorie von ERIK ERIKSON sind wir — unbewusst — angetrieben und motiviert, von Stufe I bis VIII zu reifen. ERIKSONS Modell kann man als tiefenpsychologisches Hintergrund- oder Metamotivationsmodell verstehen, deren unterschiedliche Ziele als übergeordnete Lebensaufgaben verstanden werden können. In seinem „epigenetischen Modell” unterscheidet Erikson acht aufeinanderfolgende, problematische Ziele oder Stufen, die der Mensch in seiner lebenslangen Entwicklung zu einer reifen Persönlichkeit erreichen oder bewältigen muss. Während sich die ersten vier emotionalen Entwicklungsphasen auf die Zeit der frühesten Kindheit (Phase I: Entwicklung von Urvertrauen) bis zur Pubertät (Phase IV: Entwicklung von Leistung und Selbstwertgefühl) erstrecken, beziehen sich Phase V (Entwicklung von Identität, IchStärke und Selbstbewusstsein) auf die Adoleszenz, Phase VI (Entwicklung von Intimität, Hingabe und Liebesfähigkeit) auf das frühe Erwachsenenalter, Phase VII auf die Fruchtbarkeit („Generativität”) des Erwachsenenalters, und die letzte Phase auf die „(Un-)Reife des Alters”. I. II. III. IV.

Urvertrauen Autonomie Initiative Leistung

vs vs vs vs

Misstrauen Scham Schuldgefühl Minderwertigkeitsgefühl 459

V. VI. VII. VIII.

Identität Intimität Generativität (zeugend) Ich-Integrität

vs vs vs vs

Rollenkonfusion Isolierung Stagnation Verzweiflung

11.19.4 Behavioristische Einflüsse Die unterschiedlichen Verhaltens- und Lerntheoretiker ignorierten „innere Motive”, Motivdispositionen oder gar Glück oder Zufriedenheit als „Privatsache” völlig und lösten stattdessen alles menschliche Verhalten in äußere Reiz-Reaktions-Ketten auf — nur dies sei wissenschaftlich und objektiv, hatte Gründervater B. F. SKINNER dogmatisch gelehrt. „Motivationstheoretisch” einen Namen machte sich bis in die 1960er-Jahre vor allem der Behaviorist C. L. HULL und prägte als wichtigsten Beitrag seiner vielen Rattenversuche die Formel „Verhaltenstendenz = Habit x Drive x Anreiz”, Verhaltenstendenz gleich aktueller Trieb mal erlernter Gewohnheit mal Belohnungswert der Bekräftigung. Unter motivationspsychologischen Vorzeichen haben die Beiträge der Behavioristen „mehr Schaden als Nutzen gestiftet”, analysiert beispielsweise NORBERT BISCHOF, und es sei zu begrüßen, die „rärationale Verhaltenssteuerung gnädig zu ignorieren”, wie es die kognitive Motivationspsychologie auch getan habe.

11.19.5 Humanistische Psychologie Carl Rogers Im Bereich der sogenannten Humanistischen Psychologie postulierte CARL ROGERS in den 60erJahren, dass der Mensch von zwei Motivkräften angetrieben wird: dem Streben nach Selbst-Akzeptanz und dem, was er „Selbst-Aktualisierung” oder Selbstverwirklichung nannte, das psychische Bedürfnis zu wachsen. ROGERS argumentierte sehr werteorientiert: Für ihn lag der Schlüssel zum Glück darin, dass der Mensch in Übereinstimmung mit seinen Werten lebe. Wenn er dies nicht tue, so seine Botschaft, verliere er den Respekt vor sich selbst, höre auf zu wachsen und werde unglücklich. Abraham Maslow Einen ähnlichen, aber auch jenseits der psychotherapeutischen Szene sehr einflussreichen Ansatz zur menschlichen Motivation formulierte ABRAHAM MASLOW schon in den 50er-Jahren in Form der sogenannten „Bedürfnispyramide”. Die fünf Stufen bedeuten: 1. Physiologische Bedürfnisse: Befriedigung organisch-biologisch grundlegender Notwendigkeiten wie Essen, Trinken, Kleidung und Wohnung 2. Sicherheitsbedürfnis: Vermeidung physiologischer Mangelzustände — also Schutz vor Krankheit, Unfall, Heimatlosigkeit, Hunger etc. 3. Liebes- oder soziale Bedürfnisse: Streben nach Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit, nach Aufbau sozialer Beziehungen 460

4. Selbstachtungs-/Wertschätzungsbedürfnisse: Streben nach Selbstvertrauen, Anerkennung und Achtung anderer, der Wille und das Bedürfnis, nützlich und notwendig zu sein 5. Selbstverwirklichungsbedürfnisse: Streben nach Selbstverwirklichung, Sinngebung und völliger Entfaltung der eigenen Persönlichkeit

Wachstumsbedürfnisse/ Defizitmotivation

Wachstumsbedürfnisse/ -motivation

Abb. 1 Bedürfnispyramide nach Maslow



Im Gegensatz zu den überbordenden Instinktlisten integrierte MASLOW verschiedene, auch biologische Motive in übergeordnete Kategorien. Dabei differenzierte er zwischen Mangelmotiven, den sogenannten D-Motiven, und den Seins- oder S-Motiven. Während die Motivklassen 1 bis 4 als D-Motive gelten, sind die hohen S-Motive der Stufe 5 vorbehalten — der Ebene, auf der für MASLOW alle Potenziale unserer Individualität voll entwickelt werden: Ganzheit, Vollkommenheit, Kreativität, Wahrheit, Schönheit etc. „Ein Mensch”, so MASLOW, „muss das werden, was er werden kann.” Ein Musiker beispielsweise muss Musik machen, ein Maler malen, ein Dichter schreiben. MASLOW formulierte zwei theoretische Prämissen: 1. Die Motive sind hierarchisch, ihre Bedeutung nimmt nach oben hin zu. MASLOW ordnete die Bedürfnisse in der Pyramide hierarchisch nach ihrer Dringlichkeit. Bevor der Mensch nach Selbstverwirklichung streben kann, muss er die grundlegenden und physiologischen Bedürfnisse, die Sicherheitsbedürfnisse, die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Liebe und die Bedürfnisse nach Achtung befriedigen. 2. Der Mensch strebt nach Selbstverwirklichung, indem er „von unten her” immer höhere Ziele verfolgt. MASLOWS Motivhierarchie beinhaltet zudem einen wichtigen entwicklungspsychologischen Ansatz: Erst mit dem Älterwerden kann man sich selbst verwirklichen — junge Menschen müssen (lange) persönlich wachsen, bis sie ihr gesamtes Glückspotenzial ausschöpfen können. 461

MASLOW hat immer noch viele Anhänger, allerdings sind die Kritiker heute in der Mehrzahl. Ihr wichtigstes Argument nach vielen Studien: Das Modell ist empirisch nicht verifizierbar, die Ergebnisse tendieren gegen eine „Zufalls-Null” — mitunter scheint es zu passen, dann wieder häufig nicht.

11.19.6 Positive Psychologie Die Positive Psychologie hat sich seit Ende der 1990er-Jahre zu einer mächtigen neuen Disziplin entwickelt. Von Angst und Aggression über Depression bis zu Zwängen — Psychologen beschäftigten sich im 20. Jahrhundert im Grunde genommen nur mit einer Frage: „Was stimmt mit den Menschen nicht?” Aber je mehr sie dabei über Verletzlichkeiten und die dunkle Seite der Psyche erfahren haben, desto klarer wurde, dass sie auch die andere, helle Seite erkennen und genauer erforschen müssen: Was macht Menschen glücklich, welche Grundlagen haben subjektives Wohlbefinden, Lebenszufriedenheit oder das wirklich gute Leben? Mit diesen existentiellen Fragen beschäftigt sich seit einem Jahrzehnt die von MARTIN SELIGMAN begründete Positive Psychologie — auch für den renommierten europäischen Humor- und Persönlichkeitsforscher WILLIBALD RUCH eine „aufregende Gezeitenwende” im Denken und Handeln der Psychologie. Positive Psychologie meint nicht einfach eine neue Art, „positiv” zu denken, sondern das individuell Positive ganzheitlich erforschen, fördern und fordern: Wie kann man seine Stärken und Fähigkeiten entdecken und so einsetzen, dass sie einem selbst und anderen das Leben erleichtern? Die Positive Psychologie möchte Stärken und Ressourcen von Menschen fördern und erforschen, welche Aspekte, Größen und Dimensionen das Leben wirklich lebenswert machen: Begeisterung, Beharrlichkeit und Wachstum, kommunikative Fertigkeiten und Kreativität, Mitgefühl, Altruismus und Solidarität, Resilienz, Hoffnung — oder Humor. Und: Glück. Als eine ganz besondere Glücksform gilt Positiven Psychologen dabei der sogenannte „Flow”. Flow ist eine vom Psychologen MIHALYI CSIKSZENTMIHALYI seit den 1990er-Jahren erforschte Glücksund Motivationsdimension, die er definierte als das „gänzliche Aufgehen in einer glattlaufenden Tätigkeit, die man trotz hoher Anforderungen unter Kontrolle hat”. Der Professor ungarischer Herkunft befragte zuerst Bergsteiger und Maler, weil er von deren Hingabe an ihre Arbeit besonders fasziniert war. Er fand eine Antwort, die sich bis heute nicht wesentlich verändert hat: Das höchste Glück ist der Zustand, wenn alles, was man tut, wie von Zauberhand geformt völlig reibungslos fließt, wenn man so in seine Tätigkeit versunken ist, dass man alles um sich herum ausblendet — wer im Flow aufgeht, vergisst gewissermaßen die Zeit und wird eins mit seinem Tun. Der Flow ist als ein von äußeren Anreizen unabhängiger Seins- und Glückszustand, genau dieser wunderbare Faustische Augenblick, in dem wir völlig in der Sache aufgehen, jedes Zeitgefühl verlieren, nur im Hier und Jetzt leben — und zudem ungeahnte Leistungen bringen können. Man wird „überflutet” von einer Hochstimmung und einem Glück, das uns ein Gefühl dafür gibt, wie das Leben eigentlich aussehen sollte. Eine beliebige Auswahl weiterer individueller Bezeichnungen aus den Flow-Protokollen: entrückt, wie ferngesteuert, schwerelos, schwebend, alles passt zusammen, völlige Hingabe, absolutes Wohlbehagen, in sich versunken, alles klappt. Manager kennen den besonderen Glückszustand auch als „the zone”, Mystiker sprechen von „Ekstase” und Künstler von der „ästhetischen Verzückung”. 462

Motivationspsychologisch erreichen dabei das individuelle Wollen — die Ziele des Handelns werden optimal von der individuellen Motivstruktur energetisiert und emotionalisiert —, das persönliche Können und das situative Dürfen einen optimalen Wert und verstärken sich gegenseitig: Im Flow erreicht selbstbestimmtes, intrinsisch motiviertes Handeln ein qualitatives Maximum. Die große Weisheit, wonach der Weg das eigentliche Ziel darstellt, erreicht im Flow-Handeln gewissermaßen einen motivations- und glücksfördernden Höhepunkt, wobei folgende sieben charakteristische Aspekte für das Glücksphänomen des Flow besonders charakteristisch sind: 1.

2. 3.

4.

5.

6.

7.

Herausforderungen Wir können Flow nur erleben, wenn wir einer Aufgabe gewachsen sind — dabei müssen wir oft an die Grenzen unseres Könnens gehen oder über uns hinauswachsen. Handeln und Bewusstsein sind eins Der Handlungsablauf wird als glatt erlebt — jeder Schritt geht „fließend” in den nächsten über. Klare Ziele und Rückmeldungen Anforderungen und das Handlungsfeedback werden eindeutig und interpretationsfrei erfahren. Ohne bewusst nachdenken zu müssen, weiß man immer, was zu tun ist. Sind Ziele und Rückmeldungen undeutlich oder missverständlich, wird Konzentration, Denken und Fühlen abgelenkt und der Flow gewissermaßen „gebrochen”. Kontrolle Man fühlt sich optimal beansprucht und hat auch bei hohen Anforderungen das sichere Gefühl, das Geschehen gestalten zu können. Konzentration Alle Gedanken werden ausgeblendet, die nicht unmittelbar auf die Ausführung gerichtet sind. Um in den Flow zu kommen, muss man sich sehr bewusst und ausschließlich seiner Sache widmen. Im Flow-Erleben aber ist keine willentliche Konzentration mehr nötig: sie kommt gleichsam wie die Atmung von selbst. Veränderung der Zeit Das Zeiterleben im Flow verändert sich gegenüber dem Alltag radikal — man vergisst die Zeit sprichwörtlich, Stunden vergehen wie Minuten. Selbstvergessenheit Man geht völlig in der Tätigkeit auf — das eigene Selbst und die Handlung verschmelzen, Reflexivität und Ich-Bewusstsein spielen keine Rolle mehr.

Flow ist also nur möglich, wenn folgende motivationalen Bedingungen erfüllt sind: • Konzentration und Aufmerksamkeit sind ungeteilt auf die Handlungssituation gerichtet. • Man bekommt ein unmittelbares, eindeutiges Feedback über die Handlungen. • Man fühlt sich kompetent, man ist kompetent und hat dauerhaft Kontrolle über die Situation. • Die Fähigkeiten werden den Anforderungen optimal gerecht — man ist weder unterfordert noch überfordert.

11.19.7 Typische Fragestellungen In allgemeiner motivationspsychologischer Bedeutung



Warum, insbesondere wozu handeln Menschen so? 463

Was sind ihre Beweg-Gründe? Was wollen sie erreichen? Das Leben des Menschen ist ein nicht abreißender Strom von Aktivitäten. Dazu zählen vielerlei Arten von Handlungen und Kommunikationen, Erlebnissen, geistiger Aktivität, Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühlen. Die Motivationspsychologie stellt dabei Fragen, die sich auf solche Aktivitäten beziehen, die ein angestrebtes Ziel erkennen lassen — und solche Aktivitätseinheiten im Hinblick auf ihr „Wozu” zu erklären: Zu welchem Zweck, mit welchem Ziel führt jemand eine Handlung aus? Es gibt vier Aspekte, die genauer nach diesem „Wozu” fragen. 1.

2.

3.

4.

Wie unterscheiden sich motivierte Individuen? Individuelle Unterschiede werden durch stabile personengebundene Eigenarten im Sinne von überdauernden, das Individuum charakterisierende Wertungs- und Bewertungsdispositionen erklärt — die eigentlichen Motive. Wodurch sind Motive bestimmbar? Jedes Motiv unterscheidet sich hinsichtlich einer ihm eigenen Inhaltsklasse von Handlungszielen — etwa Hilfeleistungs-, Aggressions- oder Machtziele. Es ist offen, ob Motive angeboren sind oder erworben/gelernt werden, mittlerweile scheint viel für eine evolutionäre Verankerung oder Basis zu sprechen. Gesichert ist, dass Motive entsprechend ihrer Ausprägung auch die Wahrnehmung, die Aufmerksamkeit und das Denken bestimmen. Insoweit sind sie mit den stabilen, die Persönlichkeit eines Menschen charakterisierenden Traits der Persönlichkeitspsychologie vergleichbar, einige Psychologen definieren Motive direkt als Traits. Welchen Einfluss hat die Situation? Alles, was in Situationen einem Menschen Positives oder auch Negatives verheißt, wird als „Anreiz” bezeichnet. Situationen haben dann eine hohe motivationspsychologische Bedeutung, wenn sie Motive anregen oder aktivieren. Man muss also immer beide Seiten beachten und bei jeder Motivation von einer Personen-Situations-Interaktion ausgehen. Wie kann eine motivierte Handlung genauer verstanden werden? Die Antwort liefert das Rubikonmodell. Es geht um alle Prozesse vor und nach der Intentionsoder Zielbildung und während der Handlung — einschließlich aller handlungsstützenden und -kontrollierenden, volitionalen, willensbezogenen Prozesse. Dabei werden motivierte Handlungen auch unterschieden und beschrieben hinsichtlich ihrer ... • Richtung und Zielorientierung; • Intensität und Dynamik; • Ausdauer und Beständigkeit.

Für die Arbeits- und Organisationspsychologie



Wie kann man die leistungsbezogene Motivation und das Commitment der Mitarbeiter stabilisieren oder erhöhen?

Es ist ein Essential der Motivationsforschung, dass die Motivation der Mitarbeiter praktisch immer ein entscheidender Faktor für die Produktivität eines Unternehmens oder Behörde darstellt — siehe dazu die sogenannte „Zweifaktorentheorie der Arbeitszufriedenheit” von HERZBERG.

464

11.19.8 Typische Axiome/Theoreme in dieser Wissenschaftsdisziplin • •







Alles motivierte Handeln ist zielbezogen — ob bewusst oder unbewusst. Motivation = Wollen (aktiviertes Motiv) x Können x Dürfen Wird einer dieser drei rechts stehenden Faktoren „praktisch Null”, ist kein motiviertes Handeln möglich. Alles zielbezogene motivierte Handeln ist nur möglich, wenn personseitig das zielbestimmende Motiv entwickelt ist und zusätzlich entsprechende Handlungsfähigkeiten/-kompetenzen (Können) und situationsseitig entsprechende Handlungsmöglichkeiten (Dürfen) gegeben sind. Motiv ist etwas anderes als Motivation. Motive sind überdauernde persönliche Dispositionen, die das Verhalten als „Wertungsneigung” bestimmen. Motive können bewusst oder unbewusst sein, sie beziehen sich immer auf bestimmte Handlungsziele oder Zielklassen. Motivation dagegen bezeichnet alle zielgerichteten Handlungsprozesse, die durch ein aktualisiertes oder „geladenes” Motiv ausgelöst werden. Motivation ist immer situationsbezogen. Während ein Motiv in der jeweiligen Person liegt, ist Motivation von der jeweiligen Situation abhängig, die als Anreiz oder „Motivanreger” wirkt: Situationen lösen in Wechselwirkung mit den personenspezifischen Motiven Prozesse der Motivation aus. Es gibt eine allgemeine und spezifische Motivation. Allgemeine Motivation bezeichnet den charakteristischen Energie- oder Antriebsüberschuss des Menschen — „Der Mensch will immer etwas”, könnte man in Anlehnung an das berühmte Man-kann-nicht-nicht-kommunizieren Axiom WATZLAWICKS formulieren, „auch wenn er nichts will”. Spezifische Motivation ist dagegen inhaltsbezogen, je nachdem, ob motiviertes Verhalten auf die Erreichung von Neugier-, Anschluss-, Hilfe(leistungs-)-, Aggressions-, Macht- oder Leistungszielen bezogen ist. Leistungsmotivation ist die am besten erforschte Teildisziplin der gesamten Motivationspsychologie.

Für die Arbeits- und Organisationspsychologie gilt:



Die Motivation der Mitarbeiter ist ein entscheidender Faktor für die Produktivität eines Unternehmens/oder Behörde.

11.19.9 Typische Deutungsmuster (Analyse- und Lösungsstrategien) Den prototypischen Kern motivationspsychologischer Deutungsmuster kann man anhand zweier elementarer, prozessorienter Ablauf-Analysen thematisieren — es sind die beiden eigentlichen „Juwelen” der akademisch-empirisch forschenden Motivationspsychologie: das erweiterte kognitive Motivationsmodell und das Rubikon-Modell. Speziell für die Arbeits- und Organisationspsychologie ist zudem das Motivatoren- oder Zweifaktorenmodell von HERZBERG sehr einflussreich. Das erweiterte kognitive Motivationsmodell In diesem allgemeinen handlungtheoretischen Modell fassten HEINZ HECKHAUSEN und FALKO RHEINBERG Ende der 1980er-Jahre die wesentlichen Aspekte einer motivierten Handlung — Situation, Handlung, Ergebnis, Folgen — zusammen.

465

Abb. 2 Das erweiterte kognitive Motivationsmodell nach RHEINBERG & HECKHAUSEN Situation

S-E

Handlung

H-E Ergebnis

S-E — Erwartung  Situations-Ergebniserwartung

E-F Folgen

H-E — Erwartung  Handlungs-Ergebniserwartung E-F

— Erwartung  Ergebnis-Folgenerwartung

Die Motivationpsychologen unterstellen dem motivierten Verhalten also eine streng rationale Struktur: Alles Handeln wird von diesen drei handlungsbezogenen Erwartungstypen und den Anreizwerten verschiedener Folgen, den Zielen, bestimmt. Damit man motiviert handelt, müssen also neben einem motivierenden Anreiz oder Ziel alle drei Erwartungs-Teilstrukturen — SE, H-E, E-F — „aktiviert” sein oder werden, wie es die sogenannte aussagenlogische Fassung wiedergibt: Abb. 3 Die Aussagenlogik des erweiterten Motivationsmodells nach RHEINBERG & HECKHAUSEN

S-E

Tu nichts!

Ergebnis durch Situation festgelegt? ja

H-E

Tu nichts!

Ergebnis mit Handeln verändert? nein

E-F

Tu nichts!

Bringt das Ergebnis gewünschte Folgen? nein

Anreiz

Tu nichts!

Folgen des Ergebnisses wichtig? nein

GO

So müsste sich beispielsweise ein Gymnasiast, der sich für die nächste Klassenarbeit in Mathematik motivieren will, vier Fragen stellen — und alle vier nach folgendem Diagnose-Muster aussagenlogisch positiv beantworten: Situations-Ergebniserwartung (S-E) Ist das Handlungsergebnis aufgrund der Situation überhaupt erreichbar? („Für den Lehrer steht eh schon fest, wie er mich benotet.”)  Ja, weiter zu Frage 2 (Nein: „Tu nichts!”) Handlungs-Ergebniserwartung (H-E) Ist das gewünschte Ergebnis überhaupt zu schaffen? („Kann ich die notwendige Zwei erreichen?”)  Ja, weiter zu Frage 3 (Nein: „Tu nichts!”) 466

Ergebnis-Folgenerwartung (E-F) Erreiche ich mit dem Ergebnis auch positive Folgen? („Die Zwei kommt sicher gut — vielleicht schaffe ich dann auch eine Zwei im Zeugnis”)  Ja, weiter zu Frage 4 (Nein: „Tu nichts!”) Anreiz Sind mir die Folgen der Handlung überhaupt wichtig? („Eine Zwei in der Arbeit bringt mir doch nur eine Drei im Zeugnis, was an meinem Schnitt auch nicht viel ändert.”) RHEINBERG hat in einer neueren Fassung eine entscheidende Schwäche dieses Modells beseitigt: in seiner Zielfixiertheit übergeht es die offenkundige Tatsache, dass auch die Tätigkeit selbst ein höchst verlockendes und glücksbringendes Ziel sein kann — wie der Flow dokumentiert und viele andere Aktivitäten bestätigen. Abbildung 4 zeigt die Integration dieser sogenannten tätigkeitsspezifischen Vollzugsanreize S-H in das Modell. Unser Gymnasiast müsste sich entsprechend am Anfang die Mutter aller intrinsischen Fragen stellen, ob denn die Handlung an sich — also die Vorbereitung auf die Arbeit und die Beschäftigung mit Mathematik — schon eine prima Sache ist. Wenn ja, dann gilt sofort: GO! Es komplettiert zudem die Lücke, dass auch die Ergebnisfolgen weitere motivierende Wirkungen Anreize haben Können — man kann von Folgen-Anreizen sprechen. Eine weitere, sechste Frage des Gymnasiasten wäre also, ob denn auch die Folgen noch erwünschte Auswirkungen und Anreize haben: „Eine Zwei in der Arbeit bringt mir wohl auch nur eine Drei im Zeugnis, was an meinem Schnitt auch nicht viel ändert. Andererseits kann ich dann stolz auf mich sein, weil ich gut gearbeitet habe und zudem meinen Eltern eine Freude machen kann — Anerkennung ist ja auch nicht schlecht”. Abb. 4 Das um Tätigkeits- und Folgenanreize komplettierte erweiterte kognitive Motivationsmodell nach RHEINBERG & HECKHAUSEN Tätigkeitsanreize

Situation

S-E

S-H: Flow Handlung

H-E Ergebnis

E-F Folgen

Folgenanreize

Das Rubikon-Modell An diesem erweiterten kognitiven Handlungsmodell wurde jedoch kritisiert, dass Menschen im Alltag vielfach innere und äußere Widerstände während motivierter Handlungen willentlich überwinden müssen, auch wenn sie von den Anreizen und Erwartungen ihres Tuns noch so überzeugt sind. „Willensprozesse” waren in diesem Modell allerdings nicht vorgesehen. Um diese berechtigte Kritik zu entkräften, formulierte HECKHAUSEN das übergreifende, allgemein gültige „Rubikon-Modell der allgemeinen Handlungsphasen”. Auf das „Gymnasiasten-Beispiel” übertragen: Auch wenn der Schüler noch so von seinen Fähigkeiten überzeugt ist, die für einen Dreier im Zeugnis notwendige Zwei zu schaffen, und ent467

sprechend motiviert ist, kann während des Lernens allerhand passieren. Seine Freundin kommt vorbei, im Fernsehen läuft sein Lieblingsfilm, das Wetter ist prima, weshalb es ihn eher nach draußen zieht usw. — alles Dinge, die motivational einen viel höheren Stellenwert als eine Drei im Zeugnis haben. Um solche motivationspsychologisch lange unbeachteten Willensprozesse integrieren zu können, unterscheidet HECKHAUSEN im Rubikon-Modell vier deutlich voneinander abgegrenzte Handlungsphasen: Die erste und letzte sind motivationale, die beiden mittleren willengestütze (volitionale) Phasen. • Die anfängliche „prädezisionale” Motivationsphase (vor der Entscheidung) charakterisiert HECKHAUSEN als Phase des Wünschens und Wägens — und Wählens: Da man nicht alle erlebten Wünsche realisieren kann oder mag, muss man genau abwägen, welche Wünsche überhaupt wichtig sind. Dies geschieht hinsichtlich der Erwartung (Realisierbarkeit: Sind Zeit, Mittel etc. vorhanden?) und dem Wert (Wünschbarkeit: Sind Folgen, Kosten und Mühen lohnenswert?). Da man nie alle Zusammenhänge überschauen kann, sorgt die „FazitTendenz” für eine Entscheidung. Sie beugt endlosen Abwägungen vor, indem sie etwas ab einem bestimmten Punkt als realisierbar und wünschenswert definiert: An diesem „Rubikon” sind die Würfel buchstäblich gefallen, man hat gewählt und für den Handelnden gibt es kein Zurück mehr. In dieser motivationalen Anfangsphase ist auch das erweiterte kognitive Motivationsmodell einzuordnen. (Mit dem Begriff „Rubikon-Modell” formulierte HECKHAUSEN in bewusster Anlehnung an JULIUS CÄSARS historisches Überschreiten des Rubikons im Jahre 49 v.Chr. einen der berühmtesten Begriffe der Motivationspsychologie.) Abb. 5 Das Rubikon-Modell der Handlungsphasen nach HECKHAUSEN & GOLLWITZER



• Die entscheidende Zielwahl ist gefallen, man ist motiviert, die handlungsaktivierende Zielbindung definiert. Nur kann man oft nicht sofort loslegen: Wann kann man handeln? Und wie? In der zweiten „präaktionalen” Phase (vor der Handlung) werden nun für die Zielerreichung wichtige und genaue Pläne und Vorsätze bestimmt: wie lange, wo, wann, unter welchen Anfangsbedingungen etc. gehandelt werden soll. Da es — ähnlich dem Abwägen — lange dauern kann, die „richtigen” Durchführungsvorsätze zu bilden, entscheidet die „Fiattendenz”, wann Vorsätze verbindlich sind. • An dieser Stelle beginnt mit der dritten „aktionalen” Phase die eigentliche Handlung: Nun will man sein Ziel „wirklich” aktiv handelnd erreichen. Wie sehr man sich dabei anstrengt, hängt direkt vom jeweiligen Willen und der volitionalen Intensität ab. Je größer die Volition, desto größer die Energie, mit der man sein Ziel verfolgt — wobei die aufgebrachte Voliti468

onsenergie von der motivationalen Stärke und Zielbindung abhängt. Diese Phase endet mit der Zielerreichung. • In der abschließenden „postaktionalen” oder Nachhandlungs-Phase werden das eigene Tun bewertet und Konsequenzen für zukünftige Vorhaben ermittelt. Die motivationalen Phasen 1 und 4 sind realitätsorientiert — die „Willensphasen” 2 und 3 realisierungsorientiert. Diese vier äußerlichen Handlungsphasen werden von unterschiedlichen internen Bewusstseinslagen begleitet — der Art und Weise, wie man Informationen aufnimmt und sein Handeln reflektiert. Diese vier Bewusstseinslagen werden von HECKHAUSEN und GOLLWITZER der Reihe nach als Abwägen, Planen, Handeln und Bewerten beschrieben: •







Beim Abwägen muss man sich für eines von mehreren Handlungszielen entscheiden. Dieses Bewusstsein ist nur in schwierigen Fällen besonders ausgeprägt: bei großer Ungewissheit etwa, welche Entscheidung man treffen soll, oder falls die negativen Folgen einer falschen Entscheidung unumkehrbar sind. Hier ist die Aufmerksamkeit offen, viele Informationen werden berücksichtigt. Am Ende fallen die motivationalen Würfel: den Rubikon überschreiten — oder nicht? Das Planen dominiert immer dann, wenn nach dem Rubikon nicht direkt mit der Handlung begonnen werden kann — beispielsweise dann, wenn man eine günstige Gelegenheit abwarten oder erst selbst schaffen muss. Zur Aufrechterhaltung der Motivation ist das Denken und die Aufmerksamkeit selektiv auf die Zielerreichung gerichtet. Beim Handeln geht es um eine ungestörte Zielverwirklichung. So werden dabei beispielsweise alle Informationen verdrängt oder abgewertet, die das Ziel negativ erscheinen lassen könnten — umgekehrt wird alles bevorzugt wahrgenommen, was es als positiv darstellt. In der abschließenden Bewertung wiederum werden alle für die Zieleinschätzung wichtigen Informationen besonders aufmerksam registriert und relativ offen und kritisch verarbeitet.

Auch hier sind die motivationalen Bewusstseinslagen des Abwägens und Bewertens realitätsorientiert, die volitionalen des Planens und Handelns realisierungsorientiert. Ähnlich der Aussagenlogik beim erweiterten kognitiven Motivationsmodell hat RHEINBERG jüngst vor dem Hintergrund des Rubikon-Modells ein komplettes motivationspsychologisches Diagnoseschema vorgelegt (s.Abb. 6). Durch die Berücksichtigung der tätigkeitsspezifischen Anreize wie Folgenanreize, der verschiedenen Erwartungen, motivationalen und volitonalen Phasen soll es ausdrücklich dazu dienen, jeweilige Motivationsprobleme genauer zu bestimmen und zu lösen. Die Zweifaktorentheorie der Arbeitszufriedenheit von HERZBERG Seit der Präsentation Ende der 50-Jahre hat sich dieses Motivationsmodell zu der wohl einflussreichsten Theorie der Arbeitsmotivation entwickelt und behauptet. HERZBERG unterscheidet Hygienebedürfnisse/-faktoren als Kontext-Variablen von Motivationsbedürfnissen/-faktoren als Inhalts-Variablen). Hygienefaktoren 1. Führungsstil 2. Unternehmungspolitik und -verwaltung 3. Arbeitsbedingungen 4. Beziehungen zu Gleichgestellten 5. Beziehungen zu Unterstellten 6. Beziehungen zu Vorgesetzten 7. Status 469

8. Arbeitssicherheit 9. Gehalt 10. Persönliche berufsbezogene Lebensbedingungen Abb. 6 Diagnoseschema zur Bestimmung verschiedener Motivationsformen und Motivationsprobleme nach RHEINBERG (2006) A: Aktivität — M: Motivation Fragen 1

 2

4

nein

vollständiges Motivationsdefizit

nein Anreizdefizit

nein

A beeinflusst Ergebnis direkt?

nein

Wirksamkeitsdefizit

nein

A abschreckend, fordert Verzicht?

 7

Fremdkontrollierte A

nein

 6

ja

Ergebnis mit guten Folgen?

 5

M-Problem

Selbstinitiative, spontane A

nein

A führt zu klarem Ergebnis?



ja

nein

A von anderen erwartet?

 3

M-Form

A an sich freudig, spaß-/lustvoll?

nein

selbstgesteuerte Zielaktivität

nein Volitionsdefizit

Genügend Selbstregulation? ja

selbstbeherrschte Zielaktivität

Entscheidend sind zwei Erkenntnisse: 1. Das Fehlen der Hygienefaktoren führt zur Arbeitsunzufriedenheit. 2. Die Erfüllung der Hygienefaktoren senkt zwar Unzufriedenheit, führt aber nicht zu Arbeitszufriedenheit: Hygienefaktoren sind notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für Arbeitszufriedenheit. Motivationsbedürfnisse und Expansionsmotivation Der Mensch ist für HERZBERG charakterisiert durch das Streben nach Wachstum durch Leistung und Aufgabenbewältigung — wobei diese „expansive Motivation” über folgende Motivatoren ermöglicht wird: 1. Leistung 2. Anerkennung der Leistung durch andere 3. Arbeit an sich 4. Verantwortung 5. soziale Aufstiegsperspektive 6. Möglichkeit zum persönlichen Wachstum

470

Diese Faktoren beziehen sich auf den Arbeitsinhalt selbst, betreffen daher die intrinsische Motivation und werden auch „Content-Variablen” genannt. Folgende Erkenntnisse über Motivatoren ... • wirken auf die Leistungsbereitschaft und führen zu verbesserter Zufriedenheit; • eine Verschlechterung senkt Zufriedenheit, ohne aber Unzufriedenheit hervorzurufen; • erhöhen Arbeitszufriedenheit — und werden deshalb auch als „Satisfaktoren” bezeichnet. Trotz einiger Kritik — HERZBERG habe beispielsweise unpräzise formuliert, methodisch sei nicht immer sauber und eindeutig geforscht worden oder aufgrund willkürlich erscheinender Zuordnung einzelner Kategorien zu den Motivatoren bzw. Hygiene-Faktoren, da Geld (für Leistung) ein HygieneFaktor sei, Anerkennung für Leistung dagegen Motivator — überwiegen weiterhin die positiven Auswirkungen für die Praxis und Arbeitsgestaltung. So gilt Anerkennung seit HERZBERG als ein wichtiges Führungsmittel, die Aufstiegsperspektive wurde verstärkt beachtet, die Bedeutung von Verantwortung und Delegation ebenso besser erkannt wie die Arbeit selbst: Arbeitsinhalte sollen als Motivatoren herausfordern, aber nicht überfordern.

11.19.10 Typische Anwendungsfelder Motivationspsychologische Analysen, Befunde und Interventionen spielen — unter anderem — in folgenden Bereichen eine wichtige oder zentrale Rolle: Arbeits- und Organisationspsychologie Motivieren gilt als wichtigste Führungskompetenz, Motivation der Mitarbeiter als zentraler Erfolgsfaktor. Pädagogische Psychologie Motivation von Schülern — und Lehrern — beeinflusst nachweislich den Schul- und Lernerfolg. Sportpsychologie Motivation von Sportlern fördert unmittelbar das athletische Leistungsvermögen. Konsumforschung Die Frage, auf welcher Basis Menschen Konsumentscheidungen treffen, ist eng mit der Frage nach Konsummotiven wie Statusziele oder Gruppenzugehörigkeiten verknüpft. Verkaufspsychologie Die Bedürfniserfassung und -befriedigung des Kunden kann nur motivationspsychologisch realisiert werden. Gesundheitspsychologie Motivationale Faktoren haben Einfluss auf präventives Gesundheitsverhalten und auf die Compliance.

11.19.11 Typische Kritik Bernard Weiner Noch Ende der 1980er-Jahre kritisierte der renommierte US-Psychologe ein fehlendes Gesamtkonzept/eine fehlende Gesamttheorie — gleichsam die „Grand Unifying Theory of Motivation”. 471

Die Kritik wurde allerdings durch das allgemeine Handlungsmodell der Motivation („RubikonModell”) der deutschen Psychologen HECKHAUSEN und GOLLWITZER und seine diversen Weiterentwicklungen/-interpretationen etwas entschärft. Reinhard Sprenger Bewusst populär geschriebene, aber fachlich-wissenschaftlich weitgehend fundierte Kritik am betrieblichen Motivations-Alltag: Alles Motivieren ist Demotivieren! lautet die Grundthese seines Bestsellers „Mythos Motivation” (1997). Im Grunde geht es um HERZBERGS Zweifaktoren-/ Hygiene-Theorie: Geld und Incentives jeglicher Couleur sind die großen Demotivatoren („VerFührer”) und „Fremdbestimmer”, individuelles Führen und Fördern persönlicher Antriebe und Leistungsfreude als elementare Motivatoren dagegen Mangelware. Im Grunde eine Forderung auch an die Motivationspsychologie, die Menschen und vor allem die Chefs in Sachen intrinsischer, selbstbestimmter Eigen- und Fremdmotivation im Arbeitsleben zu alphabetisieren und zu schulen. SPRENGER hat recht — so bestätigen die repräsentativen Gallup-Umfragen Jahr um Jahr, dass maximal ein Fünftel der deutschen — und internationalen — Arbeitnehmer wirklich motiviert und gut geführt durch ihren Arbeitsalltag kommen. Norbert Bischof Der Psychologe fordert eine „neue Motivationsarchitektur” — vor allem eine differenzierte und komplexitätsfähige Integration evolutionärer und emotionaler Aspekte. Falko Rheinberg Der führende deutschsprachige Motivationsforscher fordert eine weitere Entwicklung der Motivationsdiagnostik und motivationspsychologischer Messverfahren. Wolfgang Bilsky Der Motivations- und Wertforscher formuliert eine zweifache Kritik: • Das Ausklammern von Werten und Befunden der Wertepsychologie muss von der Motivationspsychologie überwunden werden: Motive und Werte haben sehr viel mehr gemeinsame als trennende Aspekte — so sind beide elementare Bewertungs- und Verhaltensdispositionen. Immer mehr Kollegen wie JÖRG ASENDORPF teilen diese Kritik. • „Beyond the Big Three” heißt ein programmatischer Artikel von BILSKY, seine zentrale These lautet: Die historische Beschränkung und Konzentration auf nur drei inhaltliche Motivklassen Anschluss/Bindung, Macht und Leistung ist überholt; auch andere Kollegen wie RAINER REISENZEIN fordern inhaltlich eine moderne multimotivationale Psychologie. Neuere Motivverfahren wie das US-amerikanische Reiss-Profile RP mit 16 Lebensmotiven und besonders die im deutschsprachigen Raum entwickelte MotivStrukturAnalyse MSA mit 18 Grundmotiven tragen dem Rechnung (www.msaprofile.de); Vorteil — eine hoch individualisierte Grundlage für persönliche Karriere- oder Kommunikationsberatung ebenso wie für eigenmotivierte Persönlichkeitsentwicklung oder Work-Life-Balancing.

11.19.12 Typische Begriffe und deren Deutung 1.

472

Laienpsychologisch Umgangssprachliche Formulierungen wie „ich will das machen”, „das geht wie von selbst”, „das mache ich wirklich gerne”, „ich musste das einfach tun” etc. — und Begriffe wie Antrieb, Drang, Ehrgeiz, Interesse, Neigung, Sehnsucht, Streben, Wollen etc. sind selbsterklärend.

2.

Wissenschaftlich Motiv, Motivation, Motivieren und sonstige Wortprägungen stammen vom lateinischen Wort movare — „eine Bewegung auslösen”. In der Forschung nach diesen „Beweg-Gründen” menschlichen Verhaltens unterscheiden Motivationspsychologen vor allem zwischen Motiv, Motivation und dem Einfluss der Situation.

Motiv Definition — zeitüberdauernde, persönlichkeitsprägende Bewertungsdisposition/Verhaltensbereitschaft bezüglich emotional positiv oder negativ besetzter Zielklassen — beispielsweise macht-/führungsbezogene Ziele (alles, was Einfluss und Stärke verspricht) oder soziale, interaktional-kommunikative Ziele (alles, was Beziehung/Gemeinsamkeit/Zugehörigkeit verspricht). Ein Motiv ist also ein individueller Beweggrund, bezieht sich als eine überdauernde persönliche Wertungsbereitschaft/Dispositionen immer auf bestimmte Handlungsziele oder Zielklassen, an denen sich das Verhalten ausrichtet. Neben der emotionalen Bewertung bestimmter Klassen von Zielzuständen orientieren Motive zudem auch die Aufmerksamkeit/Wahrnehmung unbewusst/unwillkürlich auf mögliche Zielzustände, organisieren das zielspezifische Denken und energetisieren das zielorientierte Handeln. Typischerweise lassen sich zwei voneinander unabhängige Motivkomponenten unterscheiden: Eine Hoffnungskomponente, die sich an der erfolgreichen Verwirklichung des Zielzustandes ausrichtet, und eine Furchtkomponente, die das Verfehlen des Motivziels thematisiert. Motivation Während ein Motiv in der jeweiligen Person liegt, ist Motivation von der jeweiligen Situation abhängig, die als Anreiz oder „Motivanreger” wirkt: Situationen lösen in Wechselwirkung mit den personenspezifischen Motiven Handlungsprozesse der Motivation aus. Definition: Ein durch äußere, situative (An-)Reize oder Ziele — oder innere eigengesetzte (An-)Reize — aktiviertes Motiv mobilisiert die Energie und Richtung für zielgerichtete Handlungen. Ohne Motivation gäbe es kein individuelles, zielgerichtetes Handeln, sondern nur zielloses oder erzwungenes Tun/Verhalten. Motivation ist also der psychologische Begriff für alle zielgerichteten Prozesse, die durch ein aktualisiertes oder „geladenes” Motiv ausgelöst werden. Intrinsische/extrinsische Motivation Intrinsische Motivation bezeichnet das eigen-/selbstbestimmte Handeln, um Ziele zu erreichen und Entwicklungen zu realisieren, die mit der eigenen Motiv- und Wertestruktur übereinstimmen. Ideal: Selbstverwirklichung als Ausschöpfen und Entwickeln aller psychischen Ressourcen des Individuums im Sinne des Humanistischen Psychologen CARL ROGERS. Gegenteil — Extrinsische Motivation durch äußere Zielvorgaben, meist durch irgendwelche Bestrafungen, Belohnungen oder sonstige Bestechungen „verstärkt”. Eine besondere Form der intrinsischen Motivation ist der Flow Eine vom Psychologen MIHALYI CSIKSZENTMIHALYI seit den 1990er-Jahren erforschte Glücksund Motivationsdimension, die er definierte als das „gänzliche Aufgehen in einer glatt laufenden Tätigkeit, die man trotz hoher Anforderungen unter Kontrolle hat”. Der Professor ungarischer Herkunft befragte zuerst Bergsteiger und Maler, weil er von deren Hingabe an ihre Arbeit besonders fasziniert war. Er fand eine Antwort, die sich bis heute nicht wesentlich verändert hat: Das höchste Glück ist der Zustand, wenn alles, was man tut, wie von Zauberhand geformt völlig reibungslos fließt, wenn man so in seine Tätigkeit versunken ist, dass man alles um sich herum ausblendet — wer im Flow aufgeht, vergisst gewissermaßen die Zeit und wird eins mit seinem Tun. 473

Der Flow ist als ein von äußeren Anreizen unabhängiger Seins- und Glückszustand genau dieser wunderbare Faustische Augenblick, in dem wir völlig in der Sache aufgehen, jedes Zeitgefühl verlieren, nur im Hier und Jetzt leben — und zudem ungeahnte Leistungen bringen können. Man wird „überflutet” von einer Hochstimmung und einem Glück, das uns ein Gefühl dafür gibt, wie das Leben eigentlich aussehen sollte. Eine beliebige Auswahl weiterer individueller Bezeichnungen aus den Flow-Protokollen: entrückt, wie ferngesteuert, schwerelos, schwebend, alles passt zusammen, völlige Hingabe, absolutes Wohlbehagen, in sich versunken, alles klappt. Manager kennen den besonderen Glückszustand auch als „the zone”, Mystiker sprechen von „Ekstase” und Künstler von der „ästhetischen Verzückung”. Motivationspsychologisch erreichen dabei das individuelle Wollen — die Ziele des Handelns werden optimal von der individuellen Motivstruktur energetisiert und emotionalisiert —, das persönliche Können und das situative Dürfen einen optimalen Wert und verstärken sich gegenseitig. Die große Weisheit, wonach der Weg das eigentliche Ziel darstellt, erreicht im Flow-Handeln gewissermaßen einen motivations- und glücksfördernden Höhepunkt, wobei folgende Aspekte besonders wichtig sind: — Konzentration und Aufmerksamkeit sind ungeteilt auf die Handlungssituation gerichtet. — Man bekommt ein unmittelbares, eindeutiges Feedback über die Handlungen. — Man fühlt sich kompetent, man ist kompetent und hat dauerhaft Kontrolle über die Situation. — Die Fähigkeiten werden den Anforderungen optimal gerecht — man ist weder unterfordert noch überfordert. (Eigen-/Selbst-)Motivation Alle psychologischen Vorgänge und Maßnahmen — bezüglich Denken, Fühlen und Kommunizieren —, einen anderen Menschen/Mitarbeiter oder sich selbst in eine positive, andauernde Motivation und Handlungsbereitschaft zu versetzen. Diese motivationale Kompetenz setzt allerdings die Kenntnis der eigenen und fremden Motivstruktur voraus; verlässliche Möglichkeiten dazu bieten die in den letzten Jahren entwickelten Verfahren des amerikanischen Reiss-Profiles RP oder der deutschsprachigen MotivStrukturAnalyse MSA. Volition Das Wollen — im Gegensatz zum motivierten Bestimmen oder Wählen eines Handlungszieles geht es um die Handlungsrealisierung: Das konsequente Verfolgen und Verwirklichen eines Zieles gegen alle inneren und äußeren Widerstände, im Rubikon-Modell handelt es sich um die Handlungsphasen II (Planen) und III (Handeln). Die Volitionsforschung hat in den letzten Jahren enorme theoretische wie praktische Fortschritte gemacht, vor allem bezüglich der von PETER GOLLWITZER und JULIUS KUHL erforschten Absichts-, Intentions- und Kontrollstrategien in Form unterschiedlicher Aufmerksamkeits-, Kognitions-, Emotions-, Motivations- oder Umweltkontrollen — so beschreibt KUHL etwa folgende Volitionsstragien: — Motivationskontrolle: Fokussierung auf attraktive Anreizelemente, wenn das Durchhaltevermögen nachlässt — Aufmerksamkeitskontrolle: Ausrichtung auf zielrelevantes und gedankliche Aufrechterhaltung des Ziels — Informationskontrolle: Abstimmung der Wahrnehmung (z.B. Wahrnehmungsfilter) auf zielrelevante Informationen — Emotionskontrolle: die Beeinflussung der eigenen Gefühlslage, falls gegenwärtige Gefühle die Zielerreichung erschweren 474

— Misserfolgsbewältigung und Aktivierungskontrolle: Ausschöpfung der Möglichkeiten zur Fehlerkorrektur nach Misserfolg und Mobilisierung zusätzlicher Anstrengung — Umweltkontrolle: Die Veränderung der eigenen Umgebung in einer Weise, die das Durchhalten der aktuellen Absicht fördert (Entfernen von Süßigkeiten aus der Wohnung bei einer Diät). (Für einen weiterführenden, detaillierten Überblick dieser Volitionsstrategien und der volitionalen Kompetenz sei verwiesen auf die kompetente, sehr praxisorientierte, benutzerfreundlich geschriebene und preisgünstige Handreichung „Besser Wollen” von MARKUS DEIMANN im Heidelberger Apertus-Verlag, 2009.

11.19.13 Bedeutung der Wissenschaftsdisziplin für das Coaching Es gilt die These: Kein sinnvolles und im besten Sinne erfolgreiches Coaching ohne qualitative Analyse, Deutung und Stärkung motivationaler Ressourcen der eigenen Persönlichkeit — einschließlich grundmotivationsorientierter Ziele- und Wertereflexion! Alle Grundfragen des Coaching, beispielsweise • • •

Was will ich wirklich wirklich? Welche Aktivitäten und Ziele sind mir wirklich sinn- und wertvoll? Wie kann ich ein bejahenswertes Leben führen?

sind ohne eine Erschließung und Entwicklung der eigenen Motivstruktur — und damit des eigenen emotionalen Grundcharakters — im Coachingprozess kaum professionell/umfassend zu beantworten und zu gestalten.

11.19.14 Basisliteratur Populärwissenschaftliche Publikationen FELSER, GEORG (2008): Motivationstechniken. Persönliche Erfolgsfaktoren ermitteln — Psychologie praktisch anwenden. Berlin, Cornelsen Trotz der betont einfachen Aufmachung — „Pocket Business” — ein fachlich fundierter Ratgeber über Grundlagen und Praxis; besonderes Plus: berücksichtigt auch Ziele sowie Werte und Identität. SPRENGER, REINHARD (2000): 30 Minuten für mehr Motivation. Offenbach, Cornelsen Sehr kompakter, essenzieller Leitfaden für gestärkte Eigenmotivation und klügere Führungsmotivationen Fachliche Grundlagenliteratur RHEINBERG, FALKO (2008): Motivation. 7., aktual. Auflage. Stuttgart, Kohlhammer Das Standardwerk für Psychologiestudenten: gut lesbarer Überblick über theoretische wie praktische Grundlagen und Geschichte der Motivationspsychologie. 475

und/oder BRANDSTÄTTER, VERONIKA/OTTO, JÜRGEN (Hrsg.) (2009): Handbuch der Allgemeinen Psychologie — Motivation und Emotion. Handbuch der Psychologie, Bd. 11., Göttingen, Hogrefe Aktueller, sehr umfassender und gut lesbarer Überblick über alle Facetten, Konzepte, Potenziale der Motivations- und komplettierenden Emotionspsychologie. Wissenschaftliche Vertiefungslektüre HECKHAUSEN, JUTTA/HECKHAUSEN, HEINz (2006): Motivation und Handeln. 3. Auflage. Heidelberg, Springer Das wohl wissenschaftlichste deutschsprachige Fachbuch zum Thema VOLLMEYER, REGINA/BRUNSTEIN, JOACHIM (Hrsg.) (2005): Motivationspsychologie und ihre Anwendung. Stuttgart, Kohlhammer Sammlung praxisorientierter Fachbeiträge In eigener Sache FUCHS, HELMUT/HUBER, ANDREAS (2010): Motivationale Intelligenz. Schlüsselkompetenz für individuelle Leistungsfreude und Lebenszufriedenheit. Freiburg, Kreuz-Verlag

476

MotivStrukturAnalyse (MSA) — nach www.motivberater.de —

Wissen Prinzipientreue

intellektuell prinzipienorientiert

Macht

führend

Status

elitär

pragmatisch zweckorientiert geführt bodenständig

Ordnung

strukturiert

flexibel

Materielle Sicherheit

festhaltend

großzügig

Freiheit Beziehung Hilfe/Fürsorge Familie Idealismus Anerkennung

eigenständig kontaktfreudig fürsorglich familienorientiert idealistisch sensibel

teamorientiert distanziert eigennützig selbstbezogen realistisch selbstsicher

Wettkampf

kämpferisch

ausgleichend

Risiko

risikofreudig

risikobewusst

Essen

genießerisch

Körperliche Aktivität

genügsam

bewegungsfreudig

bequem

Sinnlichkeit

sinnlich

sachlich

Spiritualität

sinnsuchend

rational

477

11.20 Naturheilkunde von Ute Prügner

11.20.1 Eine Medizin mit jahrtausendealter Tradition Die chinesische Medizin ist eines der ältesten Gesundheitssysteme, das wir kennen. Ihre Ursprünge reichen über 4000 Jahre zurück. Sie gründen auf der Theorie des Yin und Yang, die im Buch der Wandlungen I GING beschrieben wird. Aber erst Ende des 3. Jahrtausend (vor unserer Zeitrechnung) wurde der INNERE KLASSIKER DES GELBEN FÜRSTEN verfasst, der die grundlegenden Prinzipien der chinesischen Medizin dokumentierte. Daraus entfaltete sich über Jahrhunderte ein geschlossenes leistungsfähiges Medizinsystem. Bereits im 15. Jahrhundert kam es auch in China zu einem Einbruch in der Medizin. Und im 19. Jahrhundert wurde durch den Einfluss der westlichen Therapieformen eine der schwersten Krisen auf diesem Gebiet ausgelöst. Erst durch MAO ZEDONG wurden in den großen Städten Akademien gegründet, die die Lehre der Traditionellen Chinesischen Medizin TCM wieder aufnahmen und zum Teil 800 Jahre alte Texte, die nicht mehr zur Verfügung standen, neu auflegten. Wobei allerdings zu erwähnen ist, dass MAO viele dieser alten Texte zensierte und erst in den letzten Jahrzehnten Bemühungen bestehen, die alte Medizin wahrheitsgetreu in die neue zu integrieren. Es würde hier zu weit führen, im Einzelnen auf die Geschichte der chinesischen Medizin einzugehen, doch ein Detail ist interessant zu erwähnen: Der Begriff Akupunktur ist erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts eingeführt worden, und zwar von Europäern: Er wurde gebildet aus dem lateinischen Wort acus = die Nadel — und pungere = stechen. China-Reisende der damaligen Zeit beschrieben damit ihre Beobachtungen. Tatsächlich kennt die chinesische Medizin überhaupt kein Verfahren, das sich allein auf die Akupunktur beschränkt. Die Akupunktur ist vielmehr ein Teil von Zenjiu — was übersetzt bedeutet: mit Nadeln und Moxen. Und auch dies stellt wiederum nur ein Teilgebiet dar. Die Akupunktur- und Moxa-Therapie ist in der chinesischen Medizin die zweitwichtigste Behandlungsmethode und bildet gewissermaßen die äußere Therapie. Die weitaus wichtigere und weitest verbreitete Methode ist hingegen die Arzneimittel-Verabreichung, die sogenannte innere Therapie. Hinzu kommen noch die chinesische Ernährungslehre, die Tuina-Massage sowie das weit entwickelte Qi-Gong-System mit seinen Atem- und Bewegungstechniken. Die Akupunktur wirkt energetisch von außen über Akupunkturpunkte auf bestimmte Funktionskreise, während die Arzneien vom Körperinneren her ihre Wirkung entfalten. Doch zunächst und vor allem ist es erforderlich, eine präzise Diagnose zu stellen. Der chinesische Arzt ermittelt sie unter anderem durch Beurteilung des Pulses und Betrachtung der Zunge. Diese Form der Diagnose unterscheidet sich völlig von der Diagnose in der westlichen Medizin. „Westliche” Ärzte aber stechen ihre Nadeln in der Regel nach einer „westlichen” Diagnose und verfälschen somit das ganzheitliche Bild der alten chinesischen Medizin.

11.20.2 Der Unterschied zwischen West und Ost Um zu verstehen, was chinesische Medizin wirklich ist, müssen zunächst einige Grundbegriffe geklärt und verinnerlicht werden. Unsere westliche Medizin basiert auf reiner Kausalanalyse. Das heißt: Wirkt 478

ein krankheitserregender Faktor auf ein Organ, so entwickelt sich eine Krankheit. Zum Beispiel: Trinke ich viel Alkohol, so entwickele ich eine Fettleber, die in eine Leberzirrhose übergehen kann. Dabei ist in der westlichen Medizin meine Leber genauso wie deine Leber. Die des einen unterscheidet sich nicht von der eines anderen, sie werden als gleich angesehen. Ganz anders in der chinesischen Medizin Sie ist eine funktionale und system-induktive Wissenschaft. Das heißt: In jedem Augenblick wirkt ein ganzes Bündel von Faktoren, die miteinander in Wechselwirkung stehen. Klimatische Bedingungen, soziale Einflüsse, konstitutionelle Einstellungen, psychische Haltungen, Stimmungen — jeder dieser Faktoren beeinflusst uns, der eine mehr, der andere weniger. Leber ist also durchaus nicht gleich Leber — um bei dem Beispiel von eben zu bleiben. Das bedeutet: Die Erkenntnisse der altchinesischen Medizin beruhen einerseits auf hervorragender Beobachtungsgabe damaliger Wissenschaftler und Ärzte — und andererseits auf der Taoistischen Denkweise: Alles wird immer im Ganzen betrachtet. Die übergeordneten Prinzipien des Yin und Yang spiegeln sich bis ins Kleinste zu erfassende Detail wider. Jeder Mensch reagiert anders Die Fähigkeit eines Organismus, auf die Gesamtheit aller Lebensäußerungen harmonisch und ausgeglichen zu reagieren, wird Orthopathie genannt. Ist der Körper nicht mehr in der Lage, orthopatisch, sprich: harmonisch zu reagieren, so entsteht eine Schrägläufigkeit, und Krankheit kann sich entwickeln. Unter Gesundheit verstehen Chinesen den ungehinderten Fluss der Lebensenergie im Körper — und diese Lebensenergie nennen sie Qi In der deutschen Sprache gibt es kein Wort, das die Vieldeutigkeit des Qi ausdrücken könnte. Denn Qi bedeutet nicht nur Lebensenergie, sondern auch Hauch, Dampf, Atem. Qi ist unsichtbar, durchdringt aber wie ein Äther den gesamten Kosmos. Es ähnelt gleichsam der drahtlosen Kommunikation. Für uns westlich geschulte Ohren mag das fremd klingen, im Osten ist es eine Selbstverständlichkeit.

11.20.3 Die Gegenpole Yin und Yang In einem gesunden System harmonisieren die Kräfte von Yin und Yang Jeder von uns kennt wohl inzwischen diese Begriffe. Es gibt in der chinesischen Gesundheitsphilosphie kein Ereignis auf der Welt, das nicht einen Yin- und einen Yang-Aspekt hat. In dem Medizin-Klassiker des gelben Fürsten steht geschrieben: „Das YIN-YANG ist das Tao von Himmel und Erde und die Richtschnur von Zehntausend Wesen, Vater und Mutter von Veränderung und Umgestaltung, Wurzel und Anfang von Entstehung und Vernichtung, die Aula der sich manifestierenden Kraft.” Yin und Yang stehen immer in Relation zueinander. Das Yin ohne das Yang gibt es nicht und auch nicht das Yang ohne das Yin. Das Yin und Yang ist Ausdruck der Polarität. Das eine ist nichts ohne das andere. Es gibt kein entweder/oder wie in der westlichen Welt. Es gibt den Tag nicht ohne die Nacht, das Einatmen nicht ohne das Ausatmen. Da ist das eine das Gegenteil vom anderen, und das eine bewirkt das andere. Auf die Nacht folgt der Tag und umgekehrt. Das ist ein Naturgesetz. Alles vollzieht sich in diesem Ordnungsprinzip. Das Überwiegen oder Fehlen des einen oder anderen führt zu pathologischen Erscheinungen, sprich: Krankheiten, die nach Yin- und Yang-Vektoren unterschieden werden können. Typische Yin-Aspekte sind: die Nacht, das Innen, die Weiblichkeit, die Passivität, das Kalte und Dunkle, der Winter, die Stofflichkeit, 479

das Feste und so weiter. Gegenpol sind die Yang-Aspekte: der Tag, das Außen, die Männlichkeit, die Aktivität, das Warme, der Sommer, das Feinstoffliche, die Bewegung und so fort. Sie entstehen aus dem Dao. Das Urprinzip Die Einheit jenseits der Polarität lässt sich nicht mit Worten auszudrücken — Worte entspringen der Dualität, der Abhängigkeit von Raum und Zeit. Aus dem Yin und dem Yang ist das System der Wandlungsphasen abgeleitet: Holz, Feuer, Erde, Metall, Wasser. Wandlungsphasen sind Teile eines zyklischen Ablaufes.

11.20.4 Das System der Wandlungsphasen Des besseren Verständnisses wegen sei das Prinzip anhand eines gewöhnlichen Regelkreises beschrieben: In einen Wasserbehälter, in dem eine Menge x an Wasser ist, wird ein Heizstab getaucht. Die Wassertemperatur soll auf einen Wert y erhitzt werden. Bei Absinken der Temperatur springt der Heizstab an, bei Erreichen des Sollwertes schaltet er ab. Daraus resultiert eine Sinuskurve. Das Wasser steht für das Yin, der Heizstab für das Yang. Diese Kurve kann nun in Wandlungsphasen unterteilt werden: 1. 2. 3. 4. 5.

Holz ist der aufsteigende Vektor, die Bereitstellung von Energie. Feuer versinnbildlicht den Verbrauch der bereitgestellten Energie. Das Erreichen des Ziels in diesem Ablauf entspricht der Erde. Das Absinken des energetischen Potenzials nach der Wende steht für das Metall. Die Regeneration des Potentials zum Neubeginn dieses Ablaufs entspricht dem Wasser.

Ziehen wir nun um diese Kurve einen Kreis, so bekommen wir das typische FouChi-Zeichen. Diese fünf Elemente stehen in einem Gleichgewicht zueinander. Hat man dieses Prinzip verstanden, so ist man der chinesischen Medizin schon sehr nahe gekommen. Jedem Element werden nun bestimmte Entsprechungen zugeschrieben: ein Funktionsbereich, ein komplementärer Yang-Bereich, Himmelsrichtung, Geruch, Klima, Jahreszeit, Tageszeit, Charakter — um nur ein paar Beispiele zu nennen.

11.20.5 Die Organfunktionsbereiche Nach diesen grundsätzlichen Erläuterungen möchte ich nun den interessantesten Komplex der Traditionellen Chinesischen Medizin herausnehmen, die Organfunktionsbereiche, und eine kurze Beschreibung ihrer Vielfältigkeit geben. Ich hoffe, dass dadurch Ihr Verständnis der TCM vertieft wird. Die Lunge Der Funktionsbereich der Lunge wird durch die Wandlungsphase Metall qualifiziert. Sie ist das aufnehmende junge Yin. Wenn die Klassiker von der Aufnahme des himmlischen Qi reden, so meinen sie alle Reize, die auf vielfältige Weise von außen auf den Menschen wirken. Nach unserem westlichen naturwissenschaftlichen Weltbild ist die Lunge für die Aufnahme von Sauerstoff zuständig. In der chinesischen Medizin hat sie hingegen ein viel breiteres Aufgabenspektrum: Da ist die Lunge für die Aufnahme aller Einflüsse da, die auf den Menschen zukommen, also: soziale Einflüsse, zwischenmenschliche Beziehungen, Aufnahme von Sonnenenergie, auch 480

Sauerstoff, aber eben nicht nur. All diese Einflüsse bündelt die chinesische Medizin zum sogenannten himmlischen Qi. Die Lunge ist somit des Menschen erste Konktaktfläche mit der Außenwelt. Deshalb gehört auch die Haut zu diesem Funktionskreis, und nicht nur die äußere Haut, sondern ebenso die gesamten Schleimhäute. Die Lunge bildet zugleich das Abwehr-Qi. Besteht die Gefahr, dass Krankheit durch die Körperoberfläche eindringt, so baut die Lunge sofort eine Wehrenergie auf, um das Eindringen von pathogenen Faktoren, zum Beispiel einer Infektion, zu verhindern. Eine Analogie in unserer westlichen Medizin wäre das Immunsystem. Die Lunge wird aber auch als Ordnungshalter beschrieben. In den Medizinklassikern wird dieser als der „Minister” unter den Funktionsbereichen benannt. Er ist die Instanz, von der die Ordnung, der Rhythmus ausgeht. Er bildet die Grundlage für alle Rhythmen. Durch die Lunge wird das himmlische Qi aufgenommen und mit dem Qi der Mitte, der Milz, im Körper verteilt. Sollten wir den Lungenfunktionsbereich in einem Satz erklären, so würde er lauten: Repräsentanz der Oberfläche und Instanz der individuellen Rhythmen. Seine äußere Entfaltung ist die Haut, sein Sinnesorgan die Nase. Der Lungenfunktionsbereich verabscheut die Kälte. Seine zugehörigen Emotionen sind die Trauer und der Kummer, das Auf-sich-zurückziehen. Seine Farbe entspricht dem Weiß, sein Geschmack ist die Schärfe. Wie bereits erwähnt, gibt es zu jedem Funktionskreis viele Zuschreibungen. Es würde zu weit führen, hier im Einzelnen darauf einzugehen. Erwähnt sei nur, dass viele Hauterkrankungen auf einen geschädigten Lungenfunktionsbereich zurückgehen. Die Erde Alle Impulse treffen auf die Mitte, die als Wandlungsphase der Erde qualifiziert wird. Der Schnittpunkt der Wandlungsphasen. Der Ort der Integration. Hier findet die Klärung statt. Das gilt für jegliche Reize, die auf ein Individuum treffen. Ob sie nun klimatischer, sozialer, emotionaler oder psychischer Art sind: Alle gelangen über den Funktionskreis der Lunge in die Mitte, ins Zentrum. Die Chinesen sagen, dass hier der Ort ist, wo Klares vom Trüben geschieden wird. Alles Brauchbare, Günstige wird aufgenommen — alles Unbrauchbare, Belastende wird vom Körper ausgeschieden. Damit ist nicht nur die Nahrungsaufnahme gemeint, die durch den Magen und den Dünndarm erfolgt, sondern auch alle mentalen, emotionalen und intellektuellen Informationen müssen verarbeitet werden. Ein übermäßiges Konsumieren von Nahrung beeinträchtigt die Mitte. Aber auch die Überhäufung von Informationen und intellektuellen Anforderungen schädigen die Mitte. Wenn die Kraft der Integration ständig überfordert ist, bricht die Mitte zusammen. Dann ist auch klares Denken nicht mehr möglich. Der Mensch fängt an zu grübeln und kann keine klaren Zusammenhänge mehr erkennen. Alltägliche Anforderungen können nicht mehr bewältigt werden, Entscheidungen werden nicht mehr gefällt. Eine solche Überforderung der Mitte ist heutzutage ein häufiges Erscheinungsbild: Wie viele Menschen grübeln den ganzen Tag, wachen morgens mit Gedanken auf und schlafen nachts damit wieder ein. Rein äußerlich stellt sich die Mitte in der Form des Körpers dar. Ausgewogenheit sorgt für einen wohlgeformten Körper. Ein zu dicker oder zu dünner Körper lässt auf eine Fehlbelastung der Mitte schließen. Ihre Funktion besteht unter anderem darin, die Säfte zu verteilen. Ihre Geschmackzuordung ist das Süße: Es befeuchtet und nährt den Mittenfunktionskreis — zum Beispiel Schokolade. Können wir keine Entscheidungen treffen, so kompensiert dies der Körper mit einer übersteigerten Nahrungsaufnahme. Das lässt die Mitte auf Dauer einbrechen. Die Erkrankungen der Mitte sind das typische Zeichen unsere Konsumgesellschaft: Verdauungsstörungen, Colitis — sprich: Darmentzündungen, Konzentrationsstörungen, um nur ein paar der häufigsten Auswirkungen zu nennen. Das Herz Verlassen wir die Mitte und wenden uns dem Großen Yang zu, dem Herzfunktionskreis. Bis jetzt haben wir von der Aufnahme und der Verarbeitung von Informationen gesprochen. Leben zeigt sich aber im Ausdruck der Persönlichkeit — und dafür ist das Herz zuständig. 481

Die Darstellung der Persönlichkeit, die Fähigkeit, sein Leben zu koordinieren und handlungsfähig zu sein, das sind Aufgaben des Herzfunktionsbereichs. Es ist das Ausleben seiner Kräfte. Das Herz wird durch die Wandlungsphase Feuer qualifiziert. Das Große Yang — in den klassischen Texten wird es als Der Kaiser oder Der Fürst bezeichnet. Und die ihm innewohnende Kraft ist das Shen. Man kann sie auch als die Geisteskraft benennen. Die Leistung der Koordination und des gerichteten Handelns gehen von ihr aus. Lust und Freude sind ihr Ausdruck, positives Denken und Lachen. Ist die Herzenskraft gestört, dann zerfällt die Persönlichkeit des Menschen. Sinnvolles und verständliches Handeln ist nicht mehr zu erkennen. Die häufigsten Störungen der Yang-Kräfte sind diejenigen, die sich in Schlafstörugnen und in übersteigerter Aktivität ausdrücken. Das dem Großen Yang zugeordnete Sinnesorgan ist die Zunge. Das ist durchaus begreiflich, denn wir drücken uns überwiegend durch die Sprache aus. Sein Ausdruck ist im Glanz der Augen zu sehen, der ihm zugehörige Geschmack ist das Bittere — um nur zwei der vielfältigen Analogien zu nennen, die diesem Funktionsbereich zugeordnet sind. Und um ein paar Beispiele zu geben, in welchem Maße in den westlichen Ländern dieser Funktionsbereich gestört ist: Menschen von heiterer Gelassenheit sind hier selten geworden, psychische Erkrankungen sind deutlich zunehmend. Tonnen von Psychopharmaka werden von westlichen Ärzten Jahr für Jahr verschrieben, und die psychotherapeutischen Praxen sind überfüllt mit Menschen, die ihr Selbstwertgefühl und ihren Selbstrespekt verloren haben. Es ist daher von großer Wichtigkeit, den Herzfunktionsbereich zu stützen. Ist er stark, so reduzieren sich automatisch auch die zwischenmenschlichen Schwierigkeiten, da Mitgefühl und Toleranz Resultate eines intakten Herzfunktionsbereiches sind. Mit anderen Worten: Ist der Mensch in seiner Mitte und in seinem Herzen, so ist er auch in der Lage, Selbstverantwortung zu übernehmen. Ist er es nicht, dann entstehen unnötige Verwicklungen und Schuldzuweisungen. Die Niere Wir haben bis hierher den Menschen als Transformator der Qi-Kräfte beschrieben: Einfüsse und Kräfte, die von außen kommen, werden von der Lunge hereingelassen, im Bereich der Mitte verarbeitet und dem Körper zugänglich gemacht und durch das Herz schließlich in einer individuellen Prägung wieder nach außen gegeben. Das setzt ein Fundament voraus, auf dem sich alles vollzieht. Es wird in der chinesischen Medizin das Große Yin genannt: die tiefste Schicht beim Menschen — die Ahnenreihe. In unserer Sprache ist es das genetische Erbgut, die DNS, die angeborene Konstitution. Es wird dem Nierenfunktionsbereich zugeschrieben: In ihm ruht die potenzielle Kraft. Die festen Gewebe, Knochen, Zähne, Nervengewebe sind Ausdruck dieser Schicht. Alle persönlichen Anlagen sind hier gespeichert: Talente, Begabungen, Willenskraft, Ausdauer und das Durchhaltevermögen. Auch die Lernfähigkeit liegt als angeborene Konstitution in der Niere. Die dem Funktionsbereich zugehörigen Emotionen sind die Angst, der Schreck. Sie dringen ganz tief in den Menschen ein — wir kennen den Ausspruch: Der Schreck ist ihm in die Glieder gefahren. Wenn der Funktionskreis der Niere schwach ausgeprägt ist, bedeutet das schnelle Erschöpfbarkeit, große Labilität und Willenlosigkeit. Ist der Nierenfunktionsbereich stark, spricht das für ein tiefes Urvertrauen und innere Festigkeit, die sich durch Willenskraft ausdrückt. Im Funktionsbereich der Niere liegt das Struktivpotenzial, die Essenz: Durch die Aktivität des Yang renale, das Lebensfeuer, wird das Yin renale gebildet, das dem Körper zur Verfügung gestellt wird. Dieses Struktivpotenzial wird als Jing bezeichnet. Es bildet mit Qi und Xue (dem Blut) und Jin (den allgemeinen Körpersäften) die wichtigsten energetischen Kräfte. Die Niere beherrscht die Wasserverteilung, sie versorgt die Mitte mit der Kraft des Yang renale. Die zugehörigen Sinnesorgane sind die Ohren. Seine Entfaltung liegt in den Haaren. Die Nieren verabscheuen Trockenheit. Der zugehörige Geschmack ist das Salzige: Salz konserviert, löst aber zugleich auf, erweicht. Die der Niere zugeordnete Farbe entspricht dem Schwarz.

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Die Leber Wir haben bereits in Zusammenhang mit den Wandlungsphasen über die Bereitstellung des Potenzials gesprochen. Sie wird in dem Kleinen Yang, sprich: Holz, wiedergegeben, das dem Leberfunktionsbereich zugeordnet ist. Man muss sich das so vorstellen: In der Niere ruht die angeborene Konstitution, die Potenz der Begabung. Um diese Kräfte nach außen zu richten, bedarf es der Bereitstellung. Nur aktive Kräfte aber können das ruhende Potenzial befreien, oder wie es in den alten Texten heißt: „den Schrank mit den verborgenen Schätzen der Vergangenheit öffnen”. Holz hat dafür zu sorgen, dass die Saat aufgeht und das Leben erwacht. Aber erst durch Eigenschaften wie Entschlusskraft, Initiative, Phantasie kann das ruhende Potenzial dem Herzfunktionsbereich zugänglich gemacht werden. Die Leber wird als Feldherr bezeichnet. Er steht für Bewegung, innere Anspannung, große Reizbarkeit. Eine Übersteigerung führt zu Zorn und Wut. Alle Bewegung steckt in diesem Funktionskreis. Er muss das Qi verteilen. Er speichert das Xue, das grob übersetzt Blut bedeutet. Er ist das Mare des Xue, das Meer der Säfte. Fließt die Lebensenergie nicht harmonisch, kommt es zu einer Stagnation des Qi, was sich nicht nur durch Wut ausdrückt, sondern auch durch Frustration, Depression oder körperliche Symptome wie abdominelle Verspannungen, Kopfschmerzen und vieles mehr. Dem Leberfunktionsbereich zugeordnet sind die Muskeln und Sehnen. Alle Erkrankungen, die mit dem Muskel- und Sehnenapparat zusammenhängen, werden in der chinesischen Medizin der Leber zugeordnet. Die zugehörigen Sinnesorgane sind die Augen. Ein ungetrübter Blick, wache Augen sprechen für einen stabilen Leberfunktionsbereich. Aus dem Yin und dem Yang ist das System der Wandlungsphasen abgeleitet: Holz, Feuer, Erde, Metall, Wasser. Wandlungsphasen sind Teile eines zyklischen Ablaufes.

11.20.6 Kann eine alte Medizin eine junge Krankheit heilen? Lassen wir es hier mit der Darstellung der Funktionskreise bewenden. Es war nur ein kurzer Überblick, aber er hat sicher einen ersten Eindruck vermittelt, wie komplex und vielfältig dieses System ist. Unsere Organe sind eben nicht nur eine Ansammlung von Zellen, sondern ein kleines Universum, wo jede Zelle mit jeder anderen in Kontakt steht. Auch die Traditionelle Chinesische Medizin ist nur ein Deutungsversuch, um unseren Körper mit all seinen Funktionen zu verstehen. Aber die über die Jahrtausende währende Heilkunst der Chinesen hat uns gezeigt, wie wirkungsvoll ihre Anwendung sein kann. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation sind offiziell 30 000 Krankeiten registiert. Trotz intensiver Bemühungen, ihnen entgegenzuwirken, werden die Krankheiten nicht weniger — ganz im Gegenteil: Ihre Anzahl steigt. Sieht man genauer hin, so stellt man fest, dass es sich bei den neuen Erkrankungen zum Teil um neue Formen lang bekannter Krankheiten handelt, sie tragen nur unterschiedliche Gesichter. Nun mag man fragen: Wie kann die alte Medizin überhaupt helfen, wenn es in früheren Zeiten, als die Grundlagen für diese Medizin gelegt wurden, viele der heutigen Krankheiten noch gar nicht gab? Hat man jedoch das Prinzip der Wandlungsphasen verstanden, so kann damit jede erdenkliche Erkrankung gedeutet werden. Krank sein heißt, dass immer ein Kräfte-Ungleichgewicht besteht — und das kann durch die Anwendung der Naturgesetze wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Es liegt ein unendliches Potenzial an heilender Kraft in unserem Körper, die nur mit geeigneten Methoden geweckt werden muss. Wobei sich gerade bei der Prävention die besondere Kraft der Traditionellen Chinesischen 483

Medizin zeigt, da sie durch die präzise Diagnosik schon kleine Abweichungen in der körperlich-seelichen Dynamik zu erkennen vermag. Werden die Warnhinweise jedoch nicht beachtet, so kann die Krankheit tief in den Körper eindringen und die natürlichen Regelmechanismen für immer schädigen.

11.20.7 Wie entsteht überhaupt Krankheit? Wie die westliche Medizin geht auch die chinesische Medizin von der Annahme aus, dass alle Funktionen des Körpers reguliert werden. Dementsprechend wird die Entstehung jedes Krankheitssymptoms als Problem ungenügender regulativer Kräfte verstanden. Dabei geht die chinesische Medizin von vier regulierenden Systemen aus: • •

• •

Die erste Regulationsebene ist die der Fülle und Leere. Wobei es, genau gesagt, um die Fülle oder Leere von Qi geht. Die zweite Regulationsebene ist die der Hitze und Kälte. Dabei geht es um die Wirkung der sich bewegenden Körperflüssigkeit Xue. Hitzeerkrankungen sind zum Beispiel alle Entzündungen im Körper. Die dritte Regulationsebene ist die Stadien- und Schichtenlehre. Hier geht es primär um die Stadien viraler Infektionen. Die vierte Regulationsebene ist der Regelmechanismus nach Extima und Intima. Damit wird das Eindringen der Krankheit von außen oder von innen bezeichnet.

Nach diesen Kriterien wird jedes Symptom beurteilt. Des Weiteren stellen die pathogenen Faktoren eine Beurteilungsgröße in der Diagnosestellung dar. Damit sind die äußeren Agenzien gemeint: Wind, Kälte, Hitze, Feuchtigkeit, Trockenkeit und Glut. Die inneren Agenzien, die insbesondere in westlichen Ländern eine zentrale Rolle spielen, sind die Gruppe der Sieben Emotionen: voluptas, die Lust; ira, der Zorn; sollicitudo, die Sorge, das Nachdenken; maeror, die Trauer; timor, die Furcht; pavor, der Schock. Die Emotionen entstehen von innen heraus und beeinflussen unmittelbar den gesamten Körper. Kommt es zu keiner oder nur unzureichender Verarbeitung der Emotionen, so werden die Funktionsbereiche in ihren harmonischen Abläufen gestört. Als Beispiel: Eine permanente Zornesbereitschaft führt zur Schädigung des gesamten Bereiches der Leber, sodass das Leber-Qi stagniert. Dies führt zu Spannungen im Bauchraum, zu Kopfschmerzen, Migräne, Blutdruckerhöhung, Tinnitus und vielem mehr. Schließlich sind da noch die neutralen Agenzien. Dazu zählen zum Beispiel Diätfehler, körperliche Überanstrengung. Wir wissen inzwischen sehr genau, was für Folgen eine Fehlernährung haben kann. Für die chinesische Medizin sind, im Gegensatz zum westlichen Denken, solche Zusammenhänge nicht nur Binsenweisheiten, weil sie im Gesamtkontext der medizinischen Lehre stehen und damit wissenschaftlich abgesichert sind. Zusammen mit den Leitkriterien, die bereits beschrieben wurden, Leere/Fülle, Hitze/Kälte und so weiter, erlangt der Arzt brauchbare Informationen, die später in das Therapiekonzept einfließen. Ein Symptom, das ist das Prinzip der chinesischen Medizin, wird nie einzeln oder isoliert betrachtet. Als Beispiel: Sie leiden unter schrecklicher Flugangst. Gehen Sie zu einem westlichen Mediziner, so wird er Sie möglicherweise an einen Pyschotherapeuten überweisen oder Ihnen Sedativa, Beruhigungsmittel, verschreiben. In der chinesischen Medizin, wo es keine Trennung von Körper und Geist gibt, wird der geschulte Arzt eine ganzheitliche Diagnose einleiten: Übermäßige Furcht deutet auf eine Nierenfunktionsstörung hin — diese lässt beispielsweise wegen anhaltender Erschöpfung auf Leere 484

schließen — es kann aber auch eine Leberbelastung sein, die auf den Nierenfunktionsbereich übergegangen ist. Viele Möglichkeiten sind denkbar. Eine genaue Diagnose ist nur durch eine exakte Beurteilung von Puls und Zunge zu stellen. Nehmen wir, zur Verdeutlichung, noch ein anderes Beispiel aus dem Bereich Emotionen: Die voluptas, die Freude, gehört, wie wir gesehen haben, zum Funktionskreis des Herzen — das Große Yang. Sie beflügelt die Phantasie, die Begierde, das Verlangen, etwas erreichen zu wollen und so weiter. Wenn sie jedoch ungezügelt ausgelebt wird, führt das zu einer Erschöpfung, zur Leere des Funktionskreises Herz, und die konstellierenden Kräfte, sprich: die innewohnende Kraft, das Shen, das die Persönlichkeit zusammenhält, verfallen. Symptome wie Schlafstörungen, permanenter Rededrang, bis hin zur unkoordinierten Rede, können die Folge sein. Verordnet man jedoch sogleich Arzneien, die das Yin des Herzens stützen, und akupunktiert über das Shen harmonisierende Punkte, verabreicht dazu eine entsprechende Herzdiät und stützt über Atemtechniken den Funktionskeis der Lunge, der für die Rhythmik der Lebensäußerungen zuständig ist — dann kommt es rasch zu einer Genesung im Funktionskeis des Herzens.

11.20.8 Die Puls- und Zungen-Diagnostik Wenden wir uns nun einem anderen sehr interessanten Thema zu: der Puls- und Zungen-Diagnostik. Ich sagte vorhin schon, dass beidem in der chinesischen Medizin für die Erstellung einer Diagnose große Wichtigkeit zukommt. Zunächst zur Pulstastung Sie ist schwer zu erlernen. Es gibt im Westen nur wenige Ärzte, die sie so präzise beherrschen wie die Altmeister in China. Eine gut durchgeführte Erhebung des Pulsstatus ist richtungsweisend für die Wahl der Therapie. Lassen Sie mich kurz erläutern, warum das so ist. Die Pulsdiagnose entwickelte sich aus der Erfahrung heraus, die chinesische Ärzte über viele Generationen hinweg beobachtet hatten, dass bestimmte Pulsformen im Zusammenhang mit bestimmten klinischen Bildern immer wiederkehren. Die klassische Pulstastung erfolgt immer an den Radialispulsen jeder Hand. Es werden 32 verschiedene Pulsqualitäten gezählt. An jeder Hand gibt es drei verschiedene Lokalisationen, die wiederum in drei Ebenen beurteilt werden. An der rechten Hand erkennt man den Zustand der Funktionskreise der Lunge, der Mitte und der Niere, am linken Radialispuls werden das Herz, die Leber und ebenfalls die Nieren betrachtet. Der Puls reflektiert im Wesentlichen den Zustand der Lebensenergie in den verschiedenen energetischen Ebenen, sodass pathologische Zustände, das heißt: die nicht harmonisch fließende Lebensenergie, getastet werden kann. Der normale Puls sollte über drei Qualitäten verfügen: Magen-Qi, Geist-Shen und Wurzel. Man sagt von einem Puls, dass er Magen-Qi hat, wenn er sich sanft, ruhig und langsam, vier Schläge pro Atemzyklus, anfühlt. Der Magen ist das Meer der Nahrung, der Ursprung von Qi und Blut. Aus diesem Grund gibt er dem Puls seinen Körper. Im Kapitel der einen Fragen steht geschrieben: „Der Magen ist die Wurzel der fünf Yin-Organe; wenn der Puls weich ist, so zeigt er an, dass der Magen Qi hat und die Prognose gut ist.” Man sagt weiter, dass der Puls Geist-Shen hat, wenn er weich, aber stark ist, weder groß noch klein und regelmäßig. Ein Puls mit dieser Qualität steht für ein gesundes Herz-Qi und Blut. Man spricht von einer Wurzel des Pulses, wenn er auf der tiefen und hinteren Ebene gut palpierbar, sprich: tastbar ist. Eine Wurzel zu haben, deutet auf eine starke Nierenfunktionslage hin. Zeigt der Puls solche Qualität, so erfreut sich der Mensch guter Gesundheit. Kommt es zu Veränderungen in der Dynamik und Ausbreitung, kann ein geschulter Arzt daran die geschädigten Funktionsbereiche erkennen. 485

Alsdann zur Zungendiagnose Die Betrachtung der Zunge ist eine weitere Säule der Diagnose, weil auch die Zunge deutlich sichtbare Hinweise auf Disharmonien des Patienten liefert. Es werden immer vier Hauptkriterien betrachtet: Die Farbe des Zungenkörpers und die Form, der Zungenbelag und der Grad der Feuchtigkeit. Die Farbe der Zunge zeigt den Zustand von Blut, des Nähr-Qi und von den YinOrganen an. Sie ist bei gesunder Konstitution ein blasses Rot. Ist die Zunge blass, so liegt ein Yang- oder Blutmangel vor. Ist sie rot, so deutet dies auf Hitze. Eine rote Zungenspitze spricht für Herz-Feuer, rote Ränder sprechen für Leber- oder Gallenblasen-Hitze. In schweren Fällen können die Zungenränder geschwollen sein und rote Pünktchen haben. Ein rotes Zentrum findet sich bei Magen-Hitze. Ist die Grundfarbe der Zunge purpur oder violett, so spricht das immer für eine Blut-Stase, was meint: Stau. Ist sie eher bläulich, weist dies auf innere Kälte hin, die zu Blut-Stase führen kann. Was die Form des Zungenkörpers angeht, so achtet man darauf, ob er dünn oder geschwollen, steif oder schlaff, lang oder kurz oder rissig ist. So spricht zum Beispiel eine dünne Zunge bei gleichzeitiger Blässe für Blutmangel, bei gleichzeitiger Röte und Fehlen eines Belages für einen Yin-Mangel. Eine lange Zunge deutet auf eine Neigung zu Hitze des Herzens hin. Eine kurze und gleichzeitig blasse und feuchte Zunge kommt bei innerer Kälte vor, eine kurze und rote sowie belaglose Zunge bei extremem Yin-Mangel. Der Zungenbelag repräsentiert den Zustand der Yang-Organe. Eine normale Zunge hat einen dünnen, durchsichtigen, weißen Belag. Ein dicker Belag zeigt sich immer dann, wenn ein pathogener Faktor vorhanden ist: Je dicker der Belag, desto mächtiger ist der pathogene Einfluss. Ein weißer Belag kommt bei Kälte-Mustern vor, ein gelber Belag spricht für Fülle/Hitze-Muster. Schließlich wird noch der Feuchtigkeitszustand der Zunge beurteilt: Er spiegelt den Zustand der Körperflüssigkeiten wider. Eine normale Zunge sollte immer ein wenig feucht sein. Ist sie zu feucht, weist dies darauf hin, dass das Yang-Qi die Flüssigkeit nicht transformiert und weiterbewegt und diese sich in Form von Nässe ansammelt. Ist die Zunge trocken, so deutet dies auf eine Fülle-Hitze oder Leere-Hitze hin, die die Körpersäfte verbraucht.

11.20.9 Übungen, die Körper und Geist stärken Soweit zum theoretischen Teil der chinesischen Medizin. Zum Abschluss möchte ich Ihnen noch ein paar praktische Übungen mit auf den Weg geben, die Ihnen helfen können, Ihren Körper und Geist zu stärken. Zu den wichtigsten Übungen für ein gesundes Leben zählen Ruheübungen. Beginnen Sie damit den Tag: Nach dem Aufstehen trinken Sie als Erstes zwei, drei Glas Wasser — Wasser hat einen reinigenden, befeuchtenden und lösenden Charakter. Dann, bevor Sie frühstücken, setzen Sie sich eine Weile an einen ruhigen Ort, an dem Sie Atemübungen und Meditation praktizieren können. Eine der grundlegenden Atemübungen ist das Ruhige Verweilen im Atmen, Shine genannt: Sie atmen ganz ruhig und tief in den Bauch, ein und aus, und beobachten, was kommt, ohne es zu benennen und zu bewerten. Zählen Sie Ihren Atem, von 1 bis 21, und beginnen Sie wieder von vorn, auch wenn Sie sich verzählt haben oder sonst aus dem Rhythmus gekommen sind. Und ebenso, wenn Gedanken Sie zu sehr ablenken sollten — folgen Sie immer wieder Ihrem Atem. Bleiben Sie zehn Minuten so sitzen. Erst dann waschen Sie sich und frühstücken in Ruhe.

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11.20.10 Gesundheit verlangt Selbstverantwortung Gesundheit ist kein andauernder Zustand, sondern ein dynamischer Prozess, der immer wieder wachgerufen werden muss, ins Bewusstsein gebracht werden muss. Man kann sich guter Gesundheit nur erfreuen, wenn man sich kontinuierlich um sie kümmert, wenn man Verantwortung für sich selbst übernimmt und sie nicht anderen überlässt. Welches sind die wichtigsten Schritte, die zu mehr Wohlbefinden und Gesundheit führen? Gesundheit — damit meine ich Gesundheit für Körper und Geist. Es sind sechs Bereiche, auf die wir uns konzentrieren sollten, wenn es um unsere Gesundheit geht: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Wir achten auf unsere Ernährung. Wir finden Gefallen an sportlichen Aktivitäten. Wir entwickeln eine positive Einstellung zum Leben. Wir lieben unsere Tätigkeiten. Wir helfen anderen. Wir lernen, ruhig zu werden.

Zu 1 Vermeiden Sie zu viel anregende Speisen. Vermeiden Sie Kaffee, schwarzen Tee, Zucker, Alkohol — essen Sie vollwertige Nahrung, die Ihren Säure- und Basen-Haushalt ausgleicht. Lassen Sie auch Dosen- oder Industrienahrung sein. Wir wissen heute, dass ein Großteil unserer Erkrankungen durch falsche Ernährung bedingt sind — Alkoholismus, Diabetes, erhöhter Blutdruck, Herz-Kreislauferkrankungen und andere mehr. Viele Erkrankungen können verhindert oder zumindest verzögert werden, wenn wir uns gesund ernähren. Es gibt heute eine ganze Reihe von guten Büchern, die sich mit gesunder Ernährung beschäftigen. Beschäftigen auch Sie sich damit. Vermeiden Sie weitgehend, wie schon angeklungen, Säurebildner: Fleisch, Eier, Milchprodukte, Zucker, Pfeffer, industriell verarbeitete Nahrungsmittel. Bevorzugen Sie Basenbildner: Gemüse, Obst, Naturreis und so weiter. Zu 2 Sport ist nicht nur gut für das Herz-Kreislaufsystem. Sportliche Betätigung beruhigt auch die Nerven, verleiht innere Ruhe, verhilft zu besserem Schlaf. Finden Sie Gefallen daran, wenn es Ihr gesundheitlicher Zustand erlaubt. Zu 3 Entwickeln Sie eine positive Einstellung zum Leben. Wir wissen doch alle, dass es wenig Sinn macht, nur zu klagen und alles negativ zu sehen. Stärken Sie Ihre Achtsamkeit und konzentrieren Sie sich auf den jetzigen Moment. Optimismus stärkt das Immunsystem. Wenn Sie die erfahrensten Immunologen fragen, was das Beste gegen Krebs sei, so antworten die meisten: gute Ernährung und eine positive Einstellung zum Leben. Zu 4 Lieben Sie Ihre Tätigkeiten. Um das zu erreichen, müssen Sie nur eine ganz einfache Technik anwenden: Bleiben Sie voll und ganz in der Gegenwart, immer und was Sie auch tun: ob Sie arbeiten, essen, gehen oder sitzen, lesen oder spielen. Egal, was Sie gerade tun, der Schlüssel ist die völlige Hingabe an die jeweilige Tätigkeit. Ignorieren Sie sämtliche äußeren Reize, wie Radio oder auch Unterhaltung, und schon bald wird Ihre ganze Aufmerksamkeit von Ihrer Tätigkeit in Anspruch genommen werden — im Einklang mit ihr, in Ruhe und Frieden. Zu 5 In dieser Welt des Hilf-dir-doch-selbst bleibt uns oft nichts anderes übrig, als uns voll auf unsere eigenen Bedürfnisse zu konzentrieren. Dabei vergessen wir leicht, dass wir alle unsere Rolle in einem größeren Ganzen spielen. Für alle bedeutenden Persönlichkeiten, denen ich begegnet bin, galt die Tugend der Freigiebigkeit: Sie gaben, was sie konnten, um anderen zu helfen. Nehmen Sie sich dies als Beispiel: Öffnen Sie Ihr Herz für andere — wir sind doch alle miteinander verbunden.

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Zu 6 Eine seit alters her bewährte Methode, zu innerer Ruhe und zu sich selbst zu finden, ist die Meditation: das ruhige Verweilen im Atem und in der eigenen wahren Natur. Lassen Sie mich mit einem Zitat enden, das gewissermaßen eine Quintessenz des obigen Sechs-Punkte-Programms darstellt: Wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken, dann werden Sie feststellen, dass die Momente, in denen Sie wirklich gelebt haben, diejenigen sind, in denen Sie etwas voller Liebe getan haben. Lieben bedeutet viel mehr, als unsere übliche sentimentale Definition es meint. Liebe ist eine heilende, beruhigende, eine positive Energie. Wir erinnern uns doch noch an den Spruch aus dem Poesiealbum: Liebe ist das Einzige, was sich vermehrt, wenn man es verschenkt.

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11.21 Neuro-Linguistisches Programmieren — NLP von Rupprecht Weerth

Dieses Kapitel beschreibt das Neuro-Linguistische Programmieren (NLP) mit dem Schwerpunkt seiner coaching-relevanten Elemente. Einer der Begründer des NLP (RICHARD BANDLER) schrieb 1985 in seinem Buch „Using Your Brain — for a Change“: „Neuro-Linguistisches Programmieren ist ein Begriff, den ich erfunden hatte, um zu vermeiden, dass ich mich auf diesem oder jenem Gebiet spezialisieren müsste.“ Mit anderen Worten: Es existiert keine einheitliche und schon gar keine wirklich sinnvolle Definition des Namens „NLP“. Im deutschsprachigen Raum empfinden viele Menschen den Namen zudem oftmals als abstoßend, weckt er doch rasch Manipulations-Assoziationen. Einige Vertreter, so auch ich selbst, sprechen daher lieber von Neuro-Linguistischer Prozessbegleitung, was dem im Coaching sinnvoll vertretbaren Einsatz von NLP deutlich näherkommt. Im gleichen Buch schreibt BANDLER: „Obwohl viele Psychologen und Sozialarbeiter NLP verwenden, um das zu tun, was sie „Therapie” nennen, denke ich, dass es angemessener ist, NLP als lernpädagogischen Prozess zu bezeichnen. Im Grunde genommen entwickeln wir Methoden, um Menschen beizubringen, wie sie ihr eigenes Gehirn nutzen können.“ Neben diesem Schwerpunkt, der vor allem von BANDLER forcierten Richtung des NLP, beinhaltet es auf Basis eines konstruktivistisch-humanistischen Weltbildes eine Fülle von Möglichkeiten für die lösungsorientierte Prozessbegleitung und die Kommunikations- und Beziehungsgestaltung zwischen Coach und Coachee.

11.21.1 Anfänge/Ursprünge/Quellen Die Entwicklung des NLP begann Anfang der 70er-Jahre in den USA. Der damalige Mathematik-Student RICHARD BANDLER und der junge Linguistik-Dozent JOHN GRINDER wollten herausfinden, was besonders erfolgreiche Therapeuten (unterschiedlicher therapeutischer Schulen) anders und besser machten als die weniger erfolgreichen. Sehr genau beobachteten und analysierten sie hierzu zunächst das therapeutische Vorgehen von vier damals wie heute sehr bekannten Psychotherapeuten und Forschern: • • • •

VIRGINIA SATIR, Begründerin der system- und entwicklungsorientierten Familientherapie MILTON ERICKSON, Begründer der modernen Hypnotherapie FRITZ PERLS, Begründer der Gestalttherapie GREGORY BATESON, Anthropologe, Systemtheoretiker und Systemtherapeut

Dabei entdeckten sie zahlreiche, zum Teil sehr subtile Verhaltensmuster und Besonderheiten dieser Therapeuten, die diesen selbst gar nicht bewusst waren und von daher auch in keinem ihrer Lehrbücher geschrieben standen. Neben dem Inhalt der von den Therapeuten gesprochenen Sätze und Fragen spielten vor allem auch die Art, wann und wie sie es sagten (also mit welchem Tonfall, mit welchem Körperausdruck, mit welcher Mimik und Gestik, in welchem räumlichen Abstand und Winkel zum Klienten etc.) eine große Rolle. Anders als die meisten Forscher, die sich mit dem bloßen Erforschen begnügen, anderen dann aber die Praxis überlassen, probierten Bandler und Grinder alles gerade Entdeckte sofort im studentischen Umfeld selbst aus. Das, was davon erfolgreich war, entwickelten sie weiter und brachten es auch anderen 489

professionellen Helfern bei. Rasch bildete sich um BANDLER und GRINDER ein Netzwerk von begabten Schülern. Einzeln und zusammen beobachteten und analysierten sie weitere Therapeuten, aber auch andere besonders begabte Menschen ihres jeweiligen Fachgebietes: u.a. Künstler, Lehrer und Manager, aber auch Privatpersonen, denen irgendetwas besonders gut gelungen war, die z.B. eine schwere Krankheit oder eine Phobie erfolgreich überwunden hatten. Das hierfür angewandten Forschungs-, Erprobungs- und Weiterentwicklungsverfahren nannten sie „Modelling“ — eine sehr präzise, bewusst-reflektierende Form des sonst eher unbewusst stattfindenden Modell-Lernens, das ALBERT BANDURA bereits ab 1960 definiert hatte. Ein Modelling im Sinne des NLP verläuft in mehren Phasen: • • • •

• •

Bestimmung der Fähigkeit, die modelliert werden soll. Auswahl von wenigstens drei (vom Typ her möglichst unterschiedlichen) Modell-Personen, die alle über die gewünschte Fähigkeit verfügen. Genaue systematische Beobachtung und Befragung der Modellpersonen im Hinblick auf die gewünschte Fähigkeit. Ableitung grundlegender Regeln, Verhaltens- und Kognitionsmuster, die die gewünschte Fähigkeit ermöglichen. Dies geschieht auf Basis dessen, was bei allen drei Modellpersonen gleich oder ähnlich ist, im Kontrast zu Menschen, die über diese Fähigkeit nicht verfügen. Überprüfung der Wirksamkeit der Modellingergebnisse durch eigenes Ausprobieren der herausgearbeiteten Verhaltens- und Kognitionsmuster. Ist so die gewünschte Fähigkeit noch nicht reproduzierbar, wird in verfeinerter Form, ggf. auch mit zusätzlichen Modell-Personen weiter modelliert.

Mit der Theoriebildung nahmen es BANDLER und GRINDER beim NLP nicht sehr genau. Aufgrund seines subjektivistisch-pragmatischen Ansatzes erscheint dieses einerseits auch folgerichtig, andererseits führte es aber auch dazu, dass NLP im universitären Rahmen bis heute nur sehr eingeschränkt Anerkennung gefunden hat. Sinngemäß sagen BANDLER und GRINDER immer wieder: „Wir wollen herausfinden, was nützlich und hilfreich ist — das Warum interessiert uns nicht wirklich, weil wir eh davon ausgehen, dass es keine objektiv gültigen Wirkzusammenhänge und Erklärungsansätze gibt.“ Nichtsdestotrotz werden in der NLP-Literatur immer wieder auch Wissenschaftsrichtungen erwähnt, auf die sich seine Ideen und seine Praxis stützen. Die folgende Auflistung kursiert auf diversen Internetseiten in jeweils nur leicht abgewandelter Form (ohne dass ich den genauen Autor ausfindig hätte machen können): • • • • •

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Die auf WILLIAM JAMES zurückgehende Theorie der sinnesspezifischen Repräsentationssysteme als Grundbausteine der kognitiven Informationsverarbeitung und des subjektiven Erlebens. Die Klassische Konditionierung PAWLOWS, im NLP in präzisierter Form Ankern genannt. Die Kybernetik der Theorie des Geistes von GREGORY BATESON und der Unified Field Theory als NLP-Weiterentwicklung von ROBERT DILTS. Das Modell einer grundsätzlichen Zielorientierung menschlichen Handelns von MILLER, GALANTER und PRIBRAM. Die Transformationsgrammatik von NOAM CHOMSKY und das darauf aufbauende und unter dem Einfluss der Postulate von ALFRED KORZYBSKI („Die Landkarte ist nicht das Territorium, das sie abbildet.“) durch BANDLER und GRINDER weiterentwickelte sog. Meta-Modell der Sprache.

• •

Die sozial-kognitive Lerntheorie des Modell-Lernens von ALBERT BANDURA mit dem von BANDLER und GRINDER weiterentwickelten Modelling-Ansatz. Der Konstruktivismus von ERNST VON GLASERFELD mit der Grundidee, dass Wissen, Erkenntnisse und Zusammenhänge für den Menschen nur als subjektives Konstrukt existieren.

11.21.2 Entwicklung und bedeutende Richtungen des NLP und seiner Vertreter RICHARD BANDLER und JOHN GRINDER veröffentlichen zwischen 1975 und 1982 acht gemeinsame Bücher, in denen sie die Grundlagen des NLP ausführlich (aber auch recht unsystematisch, zum Teil in Form von Workshoptransskripten) in lebendiger, humorvoller und provokativer Weise darstellten. Zu den wichtigsten Co- und Weiterentwicklern des NLP zählen vor allem die folgenden Schüler von BANDLER und GRINDER. Alle haben eigene Veröffentlichungen: • • • • • •

ROBERT DILTS — Aufdecken und Beeinflussen kognitiver Strategien sowie Arbeit mit einschränkenden Glaubenssätzen JUDITH DELOZIER — Arbeit mit mentalen Wahrnehmungspositionen LESLIE CAMERON-BANDLER — Struktur und Beeinflussung von Emotionen DAVID GORDON — Konstruktion und Einsatz von Metaphern STEPHEN GILLIGAN — Trance und Hypnose STEVE UND CONNIRAE ANDREAS — Emotionsbeeinflussender Einsatz von visuellen und auditiven Feinunterscheidungen (Submodalitäten genannt) innerhalb kognitiver Strategien

Anfang der 80er-Jahre trennten sich die Wege von BANDLER und GRINDER aufgrund von Meinungsverschiedenheiten. Diese Zeit gilt gleichzeitig bereits als Ende der kreativsten Entwicklungsphase des NLP. BANDLER entwickelte nach der Trennung vor allem das NLP originäre Submodalitäten-Konzept (und mehrere unter anderen Namen mit Copyright geschützte Varianten): Unter Submodalitäten werden die formal-qualitativen Feinunterscheidungen innerhalb jeder Sinnesmodalität verstanden (z.B. heller oder dunkler, größer oder kleiner in der visuellen, lauter oder leiser in der auditiven Modalität). Dabei wird u.a. postuliert, dass durch die bewusste Veränderung visueller und/oder auditiver Submodalitäten von Vorstellungen, die ihrerseits über Synästhesien mit emotionalen Zuständen verknüpft sind, solche Zustände abgeschwächt, verstärkt und/oder gänzlich verändert werden können, selbst wenn der Inhalt der Vorstellung (beispielsweise eine unangenehme Erinnerung) konstant beibehalten wird. Mindestens ebenso emotionsrelevant wie die Inhalte einer mentalen Vorstellung gelten demnach ihre Submodalitäten. Mithilfe gezielter submodaler Veränderungen sollen (oftmals innerhalb kürzester Zeit) u.a. Rechtschreibschwierigkeiten behoben, Unsicherheiten, Ängste und Phobien effektiv behandelt, Zwänge aufgelöst, neue gewünschte Verhaltensweisen dauerhaft eingeübt und sogar Überzeugungen verändert werden können. Bandler und seine zahlreichen heutigen Schüler und Anhänger verstehen sich dabei weitgehend als Veränderungsmeister oder sogar Veränderungsmagier, die ohne großes Hinterfragen der Sinnhaftigkeit angestrebter Veränderungen ein rundum glückliches und erfolgreiches Leben innerhalb kürzester Zeit verheißen. Ihr Ansatz erscheint narzistisch, egozentrisch, kontrollierend, größenwahnsinnig, wie das folgende Beispiel zeigen soll: 491

Im Ausbildungshandbuch „Practitioner für Neuro-Linguistisches Programmieren 2008“ des in Deutschland populären NLP-Trainers CHRIS MULZER heißen Übungen für den ersten und zweiten Ausbildungstag beispielsweise „Dein Recht, in dieser Welt alles zu bekommen“ und „Design und Installation einer automatischen Positivdenkmaschine“. Am dritten Tag ist dann bereits „Lerne coachen mit dem Metamodell“ das Thema. Am siebten Tag stehen „Fortgeschrittene Hypnosetechniken“ auf dem Programm. Und am zehnten und letzten Tag geht es um nichts weniger als um „Techniken zur generativen Lebensbeschleunigung“. Dabei haben an der besagten Ausbildung (bei der es meines Wissens keinerlei Vorbildung als Teilnahme-Voraussetzung gab) wohl weit über 100 Menschen teilgenommen. So wird man quasi in zehn Tagen zum erfolgreichen Lebenskünstler, der sein Leben beliebig gestalten und beschleunigen kann, und zusätzlich noch zum Coach und Hypnotiseur ausgebildet. (Neben Mulzer gibt es etliche andere Anbieter mit ähnlichen Curricula; dass ich ihn hier rausgreife, bitte ich nicht persönlich zu verstehen, es liegt vielmehr daran, dass ich sein Ausbildungsmanual hier vor mir liegen habe, was mir ein korrektes Zitieren ermöglicht.) Diese machtorientierte Richtung des NLPs, die in Deutschland schätzungsweise etwa ein Drittel der NLP-Anwender vertreten, ist meines Erachtens für ein auch nur halbwegs seriöses Coaching nicht zu gebrauchen und soll daher auch nicht weiter besprochen werden. Vertreter dieser Richtung berufen sich meistens auf RICHARD BANDLER persönlich und werben mit Zertifikaten der „Society of NeuroLinguistic Programming“. Der teilweise schlechte Ruf des NLPs erklärt sich durch diese Richtung von selbst. Dieses Abdriften in verführerisches Allmachtsgehabe soll auch ein wesentlicher Grund für die Trennung von Bandler und Grinder gewesen sein. Dabei ist das Submodalitäten-Konzept durchaus interessant und wurde vor allem auch von den Psychtoherapeuten STEVE UND CONNIRAE ANDREAS in deutlich seriöserer Form eingesetzt und weiterentwickelt. GRINDER hat sich nach der Trennung längere Zeit aus dem Bereich des NLP zurückgezogen, um dann 1987 zusammen mit seiner damaligen Frau JUDITH DELOZIER ein neues Buch („Turtles All the Way Down“) zu veröffentlichen. Hierin skizzieren sie in sehr metaphorischer Art und Weise, leider wenig präzise, den sogenannten „New Code of NLP“. Dabei wird viel auf native, vor allem afrikanische Kulturen, genauso aber auch auf CARLOS CASTANEDA Bezug genommen. Der New Code, den ich selbst bis heute nicht wirklich verstanden habe, hat im deutschsprachigen Raum wenig bis keine Anhänger gefunden, sodass ich auch auf diesen Ansatz hier nicht weiter eingehen werde. Erwähnt sei aber, dass GRINDER und DELOZIER im Gegensatz zu BANDLER einen durchaus seriösen Ruf haben, und auch die beiden NLP-Pioniere des deutschsprachigen Raumes, GUNDL KUTSCHERA und THIES STAHL, maßgeblich in NLP ausgebildet haben. ROBERT DILTS gilt im deutschsprachigen Raum als wichtigster und seriösester Weiterentwickler des NLPs. Er war einer der ersten Schüler von BANDLER und GRINDER. Seine Arbeit hat er in über 15 Büchern dokumentiert und zusammen mit JUDITH DELOZIER die „Encyclopedia of Systemic Neuro-Linguistic Programming and NLP New Coding“ im Umfang von über 1500 eng beschriebenen Seiten herausgegeben. Seine Richtung nennt er „Systemisches NLP“. DILTS sieht den NLP-Anwender als Prozessbegleiter, der seinen Klienten (ohne sich inhaltlich und wertend einzumischen) dabei unterstützt, eigene Lösungen zu finden.

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In Deutschland haben vor allem THIES STAHL, GUNDL KUTSCHERA und BERND ISERT zur Verbreitung und Etablierung des NLPs beigetragen. Dabei hält THIES STAHL die Lehre im Sinne von GRINDER und DILTS am reinsten, während KUTSCHERA und ISERT immer wieder auch in esoterischer Nähe zu finden sind. Alle drei haben eigene Weiterentwicklungen geleistet. Als Vertreter der zweiten deutschen NLP-Generation möchte ich exemplarisch MARTINA SCHMIDTTANGER und mich selbst nennen. SCHMIDT-TANGER hat (teilweise zusammen mit STAHL) mehrere, inhaltlich weiterführende Bücher über NLP im Coaching geschrieben. Ich selbst habe 1992 eine umfangreiche Dissertation „NLP & Imagination — Grundannahmen, Methoden, Möglichkeiten und Grenzen“ veröffentlicht, in der ich u.a. das gesamte verstreute NLP-Material zusammengetragen, eingeordnet und wissenschaftlich bewertet habe. In Österreich haben vor allem PETER SCHÜTZ und HELMUT JELEM mehrere umfangreiche, staatlich anerkannte NLP-Studiengänge mit universitätsnahem Charakter etabliert: zum einen für Coaching (sowie Lebens- und Sozialberatung, ein in Österreich eigenständiger Beruf), zum anderen für NLP-Psychotherapie (die in Österreich im Gegensatz zu Deutschland bereits staatlich anerkannt ist). Der „Deutsche Verband für Neuro-Linguistisches Programmieren e.V.“ (DVNLP) wurde 1996 u.a. von THIES STAHL und GUNDL KUTSCHERA gegründet und hat heute über 1500 Mitglieder. Die Ausbildungsrichtlinien des DVNLP orientieren sich weitgehend an denen von ROBERT DILTS, übertreffen dessen Standards teilweise noch. Eine Ausbildung bis zum Coach DVNLP muss folgenden Mindestkriterien genügen: 390 Zeitstunden Fortbildung (verteilt auf mindestens zweieinhalb Jahre); dazu kommen 30 Stunden Supervision, intensive Peergruppenarbeit, zwei schriftliche Tests, eine Hausarbeit (vor allem mit der Darstellung eines eigenen Coachingkonzeptes), zwei praktische Prüfungen sowie mindestens drei eigene supervidierte und durch die Ausbilder beurteilte Coaching-Fälle. Ich denke, bis hierher konnte ich deutlich machen, dass es das einheitliche NLP nicht gibt. In der folgenden Darstellung einzelner fürs Coaching relevanter Facetten des NLP werde ich daher das u.a. von ROBERT DILTS, THIES STAHL und mir selbst geprägte Verständnis eines prozessbegleitenden systemischen NLPs zugrunde legen.

11.21.3 Typische Fragestellungen Die elementaren Fragestellungen im NLP für den Coachingbereich sind dieselben Fragen, die auch ein NLP-Coach seinem Coachee stellt: • •

• • • •

Was ist Dein Ziel? Wofür ist es gut und wichtig, dieses Ziel zu erreichen? Welche positven Auswirkungen hat das Erreichen des Ziel auf Dein soziales Umfeld? Welche Deiner Werte werden bei der Zielerreichung erfüllt? Woran wirst Du erkennen, dass Du dieses Ziel erreicht hast? Was kannst Du selbst dafür tun, um dieses Ziel zu erreichen? Welches sind die ersten notwendigen Schritte dahin? Welche Nachteile könnten für Dich selbst und/oder Dein soziales Umfeld entstehen, wenn Du dieses Ziel erreichst? 493

• • • • •



Welche Vorteile könnten für Dich selbst und/oder Dein soziales Umfeld darin liegen, dieses Ziel nicht zu erreichen? Wie kannst Du etwaigen Nachteilen vorbeugen, bzw. wie musst Du das Ziel hierfür verändern oder verfeinern? Was hindert Dich bisher noch daran, dieses Ziel zu erreichen, bzw. die ersten notwendigen Schritte in seine Richtung zu unternehmen? Wie kannst Du etwaige Behinderungen überwinden? Welche Ressourcen brauchst Du, um die notwendigen Schritte zur Zielerreichung gehen zu können? Was musst Du dafür tun und wie genau? Welche Gedanken unterstützen Dich dabei? Welche Emotionen brauchst Du? Und wie kannst Du Dir diese Emotionen zugänglich machen? Wer könnte Dich dabei noch unterstützen und in welcher Form? Willst Du, jetzt wo Du nach all meinen Fragen viel mehr über Dein Ziel und den Weg dahin weißt, es auch wirklich noch erreichen? (Falls „nein“: Was willst Du stattdessen, was ist also ein für Dich sinnvolleres Ziel?)

Der NLP-Coach orientiert sein eigenes Handeln u.a. an folgenden Fragen, die er sich selbst stellt: • • • • • •

Wie gut ist der Kontakt (im NLP Rapport genannt) zu meinem Coachee? Was kann ich ggf. tun, um den Rapport zu verbessern? Habe ich das passende Tempo und die passende Sprache (z.B. eher abstrakt oder weniger abstrakt, metaphorisch oder sachlich) für ihn? Erscheinen mir die Antworten des Coachee kongruent und stimmig zu sein? Was kann ich tun, wenn mir etwas nicht kogruent vorkommt? Was kann ich meinem Coachee anbieten, damit er Zugang zu den von ihm gewünschten Ressourcen bekommt? (Das gilt vor allem für die vorher vom Coachee benannten, zur Zielerreichung notwendigen emotionalen Ressourcen, falls ihm der Zugang schwerfällt.)

11.21.4 Typische Axiome/Theoreme Zum besseren Verständnis der Methoden des NLP möchte ich hier zunächst sein kognitivistisch-konstruktivistisches Menschen- und Weltbild und einige damit zusammenhängende Grundannahmen vorstellen: INNENWELT Modellbildungsprozess

AUßENWELT

Filter objektive Wirklichkeit

1

Glaubenssätze Werte Erinnerungen

3 1 4

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Generalisieren Tilgen Verzerren

2 Modelle subjektive Repräsentation

1.

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3.

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6.

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8.

Die Wirklichkeit und die Welt als solche ist für uns Menschen nicht objektiv erkennbar. Zwar empfangen wir über unsere fünf Sinne laufend Informationen aus der Außenwelt (s. (1) in der Grafik), diese werden aber im Gehirn zu internen subjektiven Repräsentationen (mehr oder weniger genauen Abbildungen, so genannten Modellen oder „Landkarten“ der Wirklichkeit) weiterverarbeitet (s. (2) in der Grafik). Was auf dem Weg zwischen Wahrnehmung und dem fertigen Modell geschieht, wird Modellbildungsprozess genannt. Der Modellbildungsprozess unterliegt zwangsläufig Tilgungs-, Verzerrungs- und Generalisierungsmechanismen. Was und wie getilgt, verzerrt und generalisiert wird, hängt einerseits von den grundsätzlichen, organisch-biologisch bedingten Möglichkeiten (und Einschränkungen) der Wahrnehmungsorgane und des Gehirns ab, andererseits von den individuellen Fähigkeiten, Erinnerungen, Werten und Glaubenssätzen (Überzeugungen) des einzelnen Menschen. Der gesamte Modellbildungsprozess kann vom Menschen nur zu einem kleinen Teil bewusst verfolgt werden, dass meiste vollzieht sich unbewusst. Unser Verhalten — sowohl das nach innen gerichtete (z.B. Fühlen und Denken, s. (3) in der Grafik), als auch das nach außen gerichtete (z.B. Bewegen und Sprechen, s. (4) in der Grafik) — ergibt sich stets aus den Modellen in unseren Köpfen, nicht etwa aufgrund dessen, was um uns herum tatsächlich passiert! Da in ein und derselben Situation jeder Mensch sein eigenes Modell entwickelt (wobei die Modelle sich bestenfalls ähneln), wird auch verständlich, warum Menschen trotz gleicher aktueller Situation häufig so unterschiedlich reagieren. Die Qualität eines Modells kann nicht danach beurteilt werden, wie nahe es der objektiven Wirklichkeit kommt, da diese per definitionem unbekannt bleibt. („Die Landkarte ist nicht das Territorium, das sie abbildet.“) Seine Qualität bestimmt sich vielmehr nach dem Grad der Brauchbarkeit: wie gut oder schlecht der Mensch im jeweiligen Kontext mit seinem Modell zurechtkommt (wie gut oder schlecht er den Weg zum gesuchten Ziel mit Hilfe der Karte findet). Mit wechselnden Zielen, in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen, zu verschiedenen Zeiten kann die Brauchbarkeit ein und desselben Modells von sehr nützlich bis absolut unbrauchbar schwanken. Nur durch eine Veränderung seiner kognitiven Modelle kann ein Mensch sein Verhalten in einer gewünschten Richtung verändern und so Einfluss auf sein Verhalten und die Welt nehmen. (Die Frage ist dabei lediglich, ob er die notwendige kognitive Veränderung bewusst oder unbewusst durchführt.) Jeder Mensch besitzt, da er über die grundlegenden Fähigkeiten der Modellbildung verfügt, bereits alles, was er braucht (alle Ressourcen), um seine Probleme zu lösen. Die Problemlösung besteht in der zielgerichteten Umorganisierung und Veränderung der jeweils relevanten (das Problem aufrechterhaltenden) Modelle. Dies ist möglich, sinnvoll und legitim, da Modelle ja ohnehin weder wahr noch falsch sind (s.o.). Menschen treffen zu jedem Zeitpunkt und in jedem Fall die beste Entscheidung, die ihnen aufgrund ihrer Modelle möglich ist — auch wenn das oftmals weder ihnen noch anderen deutlich wird. Die Absicht hinter jedem Verhalten eines Menschen ist positiv, ganz unabhängig davon, ob aus dem Verhalten (nach eigener oder fremder subjektiver Bewertung) Positives oder Negatives resultiert. Nicht diese positive Absicht aber ist das Entscheidende, sondern das Resultat des Verhaltens. Deshalb ist es sinnvoll, wenn positive Absicht und Resultat nicht oder nicht mehr ausreichend übereinstimmen, so lange sein Verhalten zu verändern, bis sie wieder hinreichend übereinstimmen. Bei Veränderungen ist zu beachten, dass sie ökologisch sind. Damit ist gemeint, dass darauf geachtet werden muss, was die gewünschte Veränderung möglicherweise auch für negative Auswirkungen (entweder auf die Person selbst oder auf andere Menschen in ihrem sozialen Umfeld) 495

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haben könnte. Werden solche entdeckt, muss überlegt werden, wie das Veränderungsziel so erweitert und/oder variiert werden kann, dass die negativen Konsequenzen nicht mehr oder nur noch in sehr geringem Maße auftreten. Der Mensch kann als ein psycho-physisches System mit einer unendlichen Anzahl von Systemkomponenten (im NLP Teile genannt), die sich alle gegenseitig beeinflussen, verstanden werden. Außerdem ist er als Teil in ein größeres System, seine Umwelt im weitesten Sinne, eingebunden, mit der er und alle seine Systemkomponenten ebenfalls in Wechselwirkung stehen. Um gewünschte Veränderungen zu erreichen, muss dieses Gesamtsystem (alle relevanten Systemkomponenten und die relevante Umwelt) weitestmöglich berücksichtigt werden. Für ein erfolgreiches Coaching ist eine wertschätzende, vertrauensvolle Beziehung, der sogenannte gute Rapport, zwischen Coach und Coachee eine absolute Grundvoraussetzung. Wenn Menschen sich mit Hilfe der Methoden des NLP verändern, dann soll ihnen niemals etwas weggezaubert oder wegprogrammiert werden, vielmehr soll ihnen dabei geholfen werden, mit mehr Wahlmöglichkeiten und Optionen das Leben zu meistern. Es soll also gerade nicht programmiert werden, vielmehr sollen alte, starre Programme erkannt und auf Wunsch aufgelockert werden. Wenn eine bestimmte der obigen Grundannahmen sich nicht (mehr) als hilfreich erweist, ist es an der Zeit, sie zu hinterfragen, zu erweitern oder auch gänzlich zu verwerfen und durch eine sinnvollere zu ersetzen.

Im Folgenden möchte ich auf zwei elementare Bereiche, die in den Grundannahmen des NLP enthalten sind, ausführlicher eingehen: zum einen auf die Repräsentationssysteme als die bewussten und damit auch selbst beeinflussbaren Bausteine kognitiver Modelle und auf das Thema Rapport und Beziehung: Repräsentationssysteme Da die kognitiven Modelle des Menschen seine Wirklichkeit repräsentieren, werden die bewusst wahrnehmbaren Bestandteile eines Modells im NLP Repräsentationssysteme genannt. Unterschieden werden zwei verschiedene, aber miteinander in Beziehung stehende Repräsentationsarten: • Fünf analoge (sensorisch-nonverbale) Repräsentationssysteme, die den fünf Modalitäten der Sinneswahrnehmung entsprechen und von denen jedes durch feine Unterscheidungen, die Submodalitäten, weiter differenziert werden kann • ein digitales (sprachlich-verbales) Repräsentationssystem Die fünf analogen Repräsentationssysteme Mit den fünf analogen (sensorischen) Repräsentationssystemen werden Ereignisse als Informationen wahrgenommen, kodiert, gespeichert und, teilweise im Zusammenwirken mit dem digitalen (sprachlichen) Repräsentationssystem, zu Modellen weiterverarbeitet. Die drei im NLP wichtigsten Repräsentationssysteme sind ... • das visuelle — Sehen, • das auditive — Hören, • das kinästhetische — Fühlen (taktil, motorisch und gefühlsmäßig). In allen drei Fällen unterscheidet man ... • externe Informationen, die sich auf die Wahrnehmung sogenannter realer Umweltereignisse beziehen, und • interne Informationen, die sich auf Vorstellungen beziehen; bei diesen ist es oft zweckmäßig, zwischen einer erinnerten und einer konstruierten Vorstellung zu unterscheiden (erinnerte Vorstellungen bilden die externe Wirklichkeit i.a.R. genauer ab als konstruierte). 496

Submodalitäten Unter Submodalitäten versteht man Feinunterscheidungen, die innerhalb jedes analogen Repräsentationssystems gemacht werden können, beispielsweise: • im visuellen Bereich: dunkel oder hell, groß oder klein, scharf oder verschwommen • im auditiven Bereich: hoch oder tief, laut oder leise • im kinästhetischen Bereich: stark oder schwach, warm oder kalt Mit Hilfe von Submodalitäten lassen sich Repräsentationen und kognitive Prozesse genauer beschreiben, analysieren und oftmals leichter zielgerichtet beeinflussen als unter bloßer Berücksichtigung der Repräsentationssysteme. Ihre Bedeutung wird an folgendem Beispiel klar: Wer sich eine Spinne, die auf dem Boden herumläuft, innerlich groß und schnell auf sich zu bewegend vorstellt, wird vermutlich weitaus mehr Angst bekommen, als jemand, der sie sich klein und langsam in irgendeiner Ecke vorstellt. Das digitale Repräsentationssystem Das digitale (sprachliche) Repräsentationssystem bietet die Möglichkeit, Erfahrungen aus jedem sensorischen Repräsentationssystem (in Form eines inneren Dialoges) für sich selbst in einem einheitlichen System darzustellen, sie miteinander zu verknüpfen, zu bewerten, zu einer umfassenden individuellen „Landkarte“ der Wirklichkeit zusammenzufassen und darüber (ganz oder zum Teil) mit anderen Menschen zu kommunizieren. Es ist also in gewissem Sinne universal und den analogen Repräsentationssystemen übergeordnet. Da es sich hierbei aber um eine Sekundär-Repräsentation der ursprünglichen analogen Informationen (die nur noch im Kopf stattfindet) handelt, bringt das digitale Repräsentationssytem einen weiteren Realitätsverlust mit sich — so kann ein Vorstellungsbild z.B. niemals vollständig mit Sprache wiedergegeben werden. Das primäre Repräsentationssystem Die meisten Menschen entscheiden sich schon früh und meist unbewusst, ein bestimmtes Repräsentationssystem zu bevorzugen, in dem sie dann komplexere Erfahrungen machen, feinere Unterscheidungen treffen und lebendigere Vorstellungen erzeugen können als in den übrigen; dieses wird im NLP primäres Repräsentationssystem genannt. Wer allerdings nicht imstande ist, auch andere Repräsentationssysteme zu benutzen und das der jeweiligen Situation sinnvollste zu aktivieren, ist in seiner Welterfahrung und seinen Verhaltenswahlmöglichkeiten erheblich eingeschränkt. NLP kann hier helfen, auch die wenig entwickelten Repräsentationssysteme zu schulen. Ein Beispiel für die unangemessene Verwendung eines Repräsentationssystems ist der Versuch, ausschließlich mit Hilfe auditiver Erinnerung Worte richtig zu schreiben („Meistens klingt doch ganz gut — oder?“). Eine NLP-Intervention kann in diesem Fall darin bestehen, die visuelle Erinnerungsfähigkeit zu trainieren. Rapport und Beziehung Unter einem guten Rapport versteht man im NLP einen besonders guten, vertrauensvollen Kontakt zwischen zwei oder mehr Menschen. Ein guter Rapport ist die wichtigste Vorausssetzung für eine Erfolg versprechende Arbeitsbeziehung zwischen Coach und Coachee. Wenn in einem Coaching ein guter Rapport besteht, bedeutet das nicht automatisch, dass er für immer und ewig gut bleibt. Er muss also vom Coach stets im Auge behalten werden. Schwankungen in der Qualität des Rapports sind normal. Der NLP-Coach fühlt sich für die Güte des Rapports verantwortlich. Ein guter Rapport kommt durch zwei ineinandergreifende Prozesse zustande: Pacing und Leading, die ich hier nacheinander beschreiben möchte. Pacing kommt vom amerikanischen Wort „pace“: Schritt halten. Pacing meint eine über kürzer oder länger aufrechterhaltene, behutsame Nachahmung verbaler und/oder nonverbaler Verhaltenswei497

sen des Gegenübers — ein sich in einigen Bereichen Ähnlich (aber keineswegs möglichst Gleich!) machen. Gewissermaßen lässt sich der Coach von seinem Coachee eine Zeit lang führen. Diese Form des Pacings führt (häufig sehr rasch, manchmal erst nach einer Weile) dazu, dass sich der Coachee angenommen und verstanden fühlt. Dabei basiert dieses Phänomen nicht etwa auf einer Illusion auf Seiten des Coachee, vielmehr kann derjenige, der das Pacing ausübt, ihn tatsächlich besser verstehen, da er durch das Ähnlichmachen sowohl kognitiv als vor allem auch emotional viel über ihn erfährt; er wird ihm also tatsächlich ein Stück weit ähnlich. Pacing dient damit also in sehr effizienter Weise sowohl dem Rapportaufbau als auch der Informationssammlung im Hinblick auf die Persönlichkeit des Coachee (jenseits der Faktenlage). Einige der vielen Pacing-Möglichkeiten sollen hier genannt werden. • Sich mit der eigenen Sprache der des Coachee angleichen: Das geht über eine ähnliche Wortwahl, über die Verwendung desselben primären Repräsentationssystems, über eine ähnliche Lautstärke und ein ähnliches Sprechtempo. Nicht gemeint ist damit das einfache inhaltliche „Nachbeten“ dessen, was der Coachee sagt. • Die eigene Körpersprache der des Coachee angleichen: ähnliche, möglicherweise direkt gespiegelte Bewegungen machen, im selben Rhythmus atmen usw. • Etwaige Sorgen und Nöte des Coachee als berechtigt ansehen und ihm gegenüber würdigen. Während jedes guten Gespräches findet Pacing auf natürliche (unbewusste) Weise ganz von alleine statt; bewusst sollte es nur dort eingesetzt werden, wo die Kommunikation schwierig erscheint. Äußerst wichtig ist dabei, dass das Pacing nicht wie von einigen NLP-Anwendern und auch NLP-Kritikern als künstlich aufgesetzte, eher mechanische Technik missverstanden und eingesetzt wird. Sinnvollerweise sollte sich also nur so weit ähnlich gemacht werden, wie es nicht im Widerspruch zum Wohlergehen des „Pacers“ steht, und wie es in den natürlichen Gesprächsfluss passt. Alles andere dürfte eher gegenteilige Wirkung haben. Leading kommt vom amerikanischen Wort „lead“: führen. Ein Führen und Anleiten des Coachee in neue Richtungen ist erst sinnvoll möglich, wenn ein guter Rapport vorhanden ist. Dabei wird unter Leading im Coaching ausschließlich die Prozessbegleitung (z.B. Ziel und Ressourcen fördernde Fragen) im Hinblick auf die Ziele des Coachee gemeint, nicht aber etwa ein Führen geleitet durch die ratschlaggebenden, inhaltlichen Lösungsideen oder schlimmer noch eigenen Interessen des Coaches! Um zu prüfen, ob durch (bewusstes oder unbewusstes) Pacing wirklich Rapport erreicht werden konnte oder ob ein bereits vorhandener Rapport womöglich wieder verloren gegangen ist, kann das eigene Verhalten auf subtile Weise verändert werden: z.B. kann statt eines bis dahin nachgeahmten auditiven Aussagemusters jetzt ein visuelles benutzt werden oder bewusst eine andere Körperhaltung als die des Coachee eingenommen werden. Folgt („paced“) jetzt der Coachee seinerseits dem Coach mit gleicher oder ähnlicher Veränderung, ist ausreichend Rapport vorhanden, um den Coachee im oben genannten Sinne zu führen. Folgt der Coachee nicht, ist ein erfolgreiches Führen seitens des Coaches noch nicht möglich — es muss dann weiter versucht werden, durch Pacing (in variierter Form) oder durch Ansprechen der vermuteten Rapportstörung den Rapport weiter zu verbessern. Zusammenfassend lässt sich sagen: Während der Pacing-Phasen wird Rapport aufgebaut; gleichzeitig lernt der Coach seinen Coachee dabei sehr facettenreich, gewissermaßen von innen heraus kennen. In den Leading-Phasen kann dann unter Einbeziehung von NLP-Methoden das eigentliche prozessorientierte Coaching stattfinden.

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11.21.5 Typische Deutungsmuster (Analyse- und Lösungsstrategien) Bis zur Entwicklung einer erfolgreichen Lösungsstrategie verläuft ein idealtypischer NLP-Coachingprozess in sieben Phasen: 1. Auftragsklärung und Absprache der Rahmenbedingungen Hier gibt es keine NLP-eigenen Besonderheiten. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Klarheit und Stimmigkeit der Absprachen. 2. Problemanalyse Neben den üblichen Fragen im Bezug auf die äußeren Aspekte des Problems, also, was genau das Problem ist, wann und wo es aufgetreten ist, wer oder was es ausgelöst hat, wer alles beteiligt ist, welche Konsequenzen sich ergeben, wenn es nicht gelöst wird, etc., wird im NLP oftmals eine genaue Analyse der mit dem Problem verbundenen kognitiven Prozesse beim Coachee gemacht. Die Idee dahinter (die sich aus den NLP-Grundannahmen ergibt) ist, dass oftmals nicht die externen Faktoren das eigentliche, bislang lösungsverhindernde Problem darstellen, sondern dessen bisherige mentale Verarbeitung. Hierbei sind dann zum einen sinnesspezifische Fragen hilfreich, die die genauen kognitiven Vorgänge innerhalb der einzelnen Repräsentationssysteme und Submodalitäten herausarbeiten helfen, z.B.: • Was geht in Dir vor, wenn Du an das Problem bzw. einzelne seiner Teilaspekte denkst? • Was siehst Du, was hörst Du, was spürst und fühlst Du dabei? • Ist das, was Du siehst, eher groß oder klein, hell oder dunkel ...? • Ist das, was Du hörst, eher laut oder leise, in oder außerhalb von Dir ...? • Wie klingt Deine innere Stimme, wenn Du mit Dir selbst über das Problem sprichst? Zum anderen werden die begleitenden sprachlich inhaltlichen Kognitionen des mehr oder weniger bewussten, das Problem begleitenden oder auch manifestierenden, inneren Dialoges herausgearbeitet, z.B.: • Was sagst Du zu Dir selbst im Bezug auf das Problem? • Was glaubst Du im Bezug auf das Problem? • Was glaubst Du über Dich selbst im Bezug auf Deine Problemlösefähigkeit? • Mit welchen Deiner Werte ist das Problem verknüpft? • Was bedeutet dieses Problem für Deine Identität? Insgesamt kann die Problemanalyse auf jeder Stufe der von ROBERT DILTS entwickelten „Logischen Ebenen der Veränderung“ stattfinden. Diese sich wechselseitig beeinflussenden Ebenen sind: Umwelt, Verhalten, Fähigkeiten, Werte und Überzeugungen (im NLP Glaubenssätze genannt), Identität und als oberste Stufe „Spiritualität“ (gemeint ist die Ebene, die Antwort auf die Frage gibt, was noch wichtiger und bedeutsamer als das eigene Ich ist). Perspektivwechsel im Sinne des bereits von PAUL WATZLAWICK beschriebenen Reframings spielen eine weitere wichtige Rolle, um ein vollständigeres Verständnis vom Problem zu entwickeln. Eine typische Frage hierfür ist: • Welche Chance liegt darin, dass Du dieses Problem hast? • Was wäre ohne dieses Problem niemals möglich geworden? Neben all diesen, hier grob skizzierten, vom Coach stellbaren Fragen kann es zur weiteren Informationsgewinnung für den Coachee sehr sinnvoll sein, sich bestmöglich (sinnenhaft, nicht bloß rational) in die Gedanken- und Gefühlswelt anderer, relevant-beteiligter Personen im Be499

zug auf das Problem hineinzuversetzen. Diese intensive Art des Hineinversetzen, wird im NLP „Assoziation“ in die zweite Wahrnehmungsposition genannt. Neben dieser mentalen Wahrnehmungsposition sind noch zwei weitere definiert, die je nach Problemlage alternativ oder zusätzlich empfohlen werden. In der dritten Wahrnehmungsposition versucht der Coachee in einer Art „Dissoziation“ (= Abstandsposition) das Problem mit den Augen, den Gedanken und Gefühlen eines eher unbeteiligten, neutralen, aber wohlgesonnenen Beobachters wahrzunehmen. Diese Position schafft vor allem emotionalen Abstand zum Problem, darüber hinaus oftmals zusätzliche Informationen und manchmal auch bereits spontan entdeckte Lösungsansätze. In der ersten Wahrnehmungsposition ist der Coachee ganz in sich selbst assoziiert und erlebt die Problematik mit allen seinen Sinnen, vor allem auch in seiner vollen Emotionalität. Diese Position kann hilfreich sein, wenn ein Coachee stark zu Rationalisierungen neigt, um die volle Tragweite und damit auch erst die Lösungsnotwendigkeit eines Problems zu erfassen. Um seinen Coachee darin zu unterstützen, die verschiedenen Wahrnehmungspositionen einnehmen und auch wechseln zu können, hat der NLP-Coach ein großes Repertoire an verbalen und nonverbalen Möglichkeiten; u.a. kommen real angeleitete, räumliche Positionswechsel und Trancesprachmuster zum Einsatz. Auch hier gibt der Coach keinerlei eigene Inhalte vor, begleitet sprachlich lediglich den mentalen „Wanderungs-Prozess“ seines Coachee. Ob und welche Wahrnehmungspositionen er einnehmen will, entscheidet ausschließlich der Coachee selbst. Der Coach erklärt ihm allerdings an geeigneter Stelle die Bedeutung und die Möglichkeiten dieser Positionen. 3. Zieldefinition und Zielkonkretisierung In manchen Fällen entsteht während einer gründlichen Problemanalyse im Coachee bereits ein derart geeigneter „Lösungsraum“, das sich eine weitere intensive Ziel-Beschäftigung mit Unterstützung des Coaches erübrigt. In diesem Fall kann je nach Wunsch des Klienten das Coaching bereits beendet werden, bzw. erst bei eventuell später auftretenden Schwierigkeiten fortgesetzt werden oder aber nach kurzer Nennung des Ziels mitsamt der bereits vorhandenen Umsetzungsideen mit dem nächsten Punkt fortgefahren werden. In den meisten Fällen erscheint aber eine genaue Zieldefinition und Zielkonkretisierung sinnvoll. Ein Ziel ist hier zunächst definiert als die Antwort auf die Frage: Was willst Du statt des Problems? Damit ein Ziel eine realistische Chance hat erreicht zu werden, erscheinen im NLP folgende sog. Wohlgeformtheitskriterien als relevant: a) positiv formuliert (also ohne direkte oder versteckte Negation, damit das kognitive System vom Coachee weiß, in welche Richtung es sich tatsächlich orientieren soll und nicht bloß Informationen darüber erhält, wovon es sich entfernen soll) b) potenziell selbst erreichbar (also nicht ausschließlich von anderen abhängig) c) die ersten Schritte in kurzer Zeit erreichbar d) sinnesspezifisch konkret formuliert und kontextualisiert (vor allem im Bezug auf die ersten Schritte) e) mit sinnesbezogener, eindeutiger Zielerkennung Die wichtigsten während der Zieldefinition und Zielkonkretisierung eingesetzten Fragen, die dem Coachee dabei helfen, sein Ziel wohlgeformt zu definieren, habe ich bereits im Abschnitt unter „Typische Fragestellungen“ (s.o) aufgeführt. Insgesamt gilt: Je gründlicher und sinnenhafter die Zieldefinition gemacht wird, desto größer sind die Chancen einer erfolgreichen Problem-Lösung bzw. Zielerreichung. Während des Zielkonkretisierungsprozesses entwickelt sich die kognitive „Landkarte“ des Coachee allmählich immer weiter weg von den Problem aufrechterhaltenden Inhalten hin zu einem Art mentalen „Regiebuch“, das alle notwendigen Schritte zur Zielerreichung enthält. Ein derartiger Zielfindungsprozess kann auch bei vermeintlich kleineren Problemen locker eine Stunde in Anspruch nehmen. 500

4. Überprüfung der Ökologie Um die Ökologie des gewünschten Ziels, also die zunächst nicht bedachten, eventuell auch negativen Nebenwirkungen (entweder auf die Person selbst oder auf andere Menschen in ihrem sozialen Umfeld) bei der Zielerreichung zu überprüfen, werden typischerweise folgende Fragen gestellt: • Welche Vorteile hat es, Dein Ziel nicht zu erreichen? • Welche Nachteile hat es, Dein Ziel zu erreichen? Neben der gründlichen rationalen Beantwortung dieser Fragen wird im NLP viel Wert darauf gelegt, sie ebenso gründlich auch emotional zu beantworten. So soll verhindert werden, dass zu einem späteren Zeitpunkt auf emotionaler Ebene ungewollte und unvorhergesehene Zielverhinderungsmechanismen zu wirken beginnen. Eine der hierbei hilfreichen Frage sei hier exemplarisch erwähnt: Wenn Du dir die Zielerreichung und auch all die anderen Beteiligten in diesem Zusammenhang ganz genau vorstellst, wie fühlt sich das für Dich an? Spürst Du noch irgendwo oder irgendwie einen Einwand oder Bedenken, selbst wenn Du gar nicht genau weißt, wieso? Bei der Überprüfung der Ökologie kann es genauso wie bei der Problemanalyse hilfreich sein, sich nacheinander in die drei verschiedenen Wahrnehmungspositionen zu begeben, um die angedachte Zielerreichung (= Problemlösung) aus den unterschiedlichsten Perspektiven, vor allem auch aus den Perspektiven aller relevant beteiligter Personen zu erleben. Ergeben sich beim Ökologie-Test Bedenken, was meistens der Fall ist, so gilt es, mit ihnen zurück in den Zielfkonkretisierungsprozess zu gehen, um das Ziel so lange weiter zu verfeinern oder auch zu modifizieren, bis beim erneuten Ökologie-Test keine bedeutsamen Bedenken mehr vorhanden sind. Auch ein gründlicher Ökologie-Test kann gut und gerne eine Stunde dauern. 5. Ressourcenanalyse Nach einer gelungenen Zielkonkretisierung, bei der auch die etwaigen ökologischen Bedenken berücksichtigt wurden, ist für den Coachee der „Lösungsraum“ in vielen Fällen so gut vorbereitet, dass auf die weiteren Schritte verzichtet werden und das Coaching zumindest vorerst beendet werden kann. Wieder entscheidet der Coachee. Wenn die Lösung für ihn noch nicht greifbar genug erscheint, unterstützt ihn der Coach mit Fragen, die die noch fehlenden Ressourcen ermitteln helfen. Standardfragen hierzu lauten: • Was brauchst Du alles noch, um Dein Ziel erreichen zu können? • Welche Informationen? • Welche Art von Ideen? • Welche unterstützenden Emotionen? • Welche unterstützenden Glaubenssätze? 6. Ressourcenaktivierung Bei der Ressourcenaktivierung geht es dann weiter mit der Frage, wie der Coachee an die, im vorausgegangenen Schritt definierten Ressourcen gelangen bzw. wie er sie aktivieren kann. Wieder kann der Coach seinen Coachee zunächst mit entsprechenden Fragen unterstützen. Zusätzlich kann er, falls dem Coachee selbst keine adäquaten Möglichkeiten einfallen, aus dem breiten NLP-Methodenkoffer Ressourcen aktivierende Methoden und Techniken anbieten. Diese Methoden greifen vor allem, wenn es darum geht, unterstützende Emotionen zu aktivieren, zu denen der Coachee aus sich heraus keinen Zugang findet. Oder wenn, noch vor den ersten Schritten zur Zielerreichung, ein innerer Konflikt auf Werteebene gelöst werden muss. Oder wenn der Coachee zuvor noch einschränkende Glaubenssätze auflösen und unterstützende neue Glaubenssätze wirklicher werden lassen möchte. Hier kann nun der Coach seinem Coachee für einen begrenzten Zeitraum im Sinne BANDLERS beibringen (also zum Lehrer bzw. Trainer werden), wie er sein eigenes Gehirn für gewünschte Veränderungsprozesse sinnvoll nutzen kann. Den Inhalt bestimmt dabei der Coachee komplett selbst. Der Coach nutzt die im NLP teilweise 501

von anderen modellierten und teilweise selbst entwickelten Möglichkeiten von Trance-Sprache, Submodalitätsveränderungen, Wechsel der Wahrnehmungspositionen, Ankern, Kreativitätstechniken etc., um seinen Coachee beim Zugänglichmachen der gewünschte Ressourcen bestmöglich zu unterstützen. Die ausführlichere Darstellung auch nur einiger der hierfür vorhandenen Möglichkeiten des NLP würde leider den Rahmen dieses Aufsatzes bei Weitem sprengen. Wichtig ist mir aber noch anzumerken, dass keine dieser Techniken dem Coachee eine fertige, kochrezeptartige Lösung vorgibt, vielmehr sind sie so strukturiert, dass der Coachee letztlich seine eigene individuelle Zugangsweise zu den gewünschten Ressourcen findet. In manchen Fällen kann es alternativ oder im Anschluss auch sinnvoll sein, einem Coachee in der Methodik des Modelling zu unterrichten, damit er sich selbst geeignete Modelle suchen und von ihnen lernen kann. 7. Mentale Erprobung der Lösungsstrategie Zum Abschluss eines Coachings leitet der Coach seinen Coachee noch dazu an, sich die einzelnen Schritte zur Zielerreichung wie in einer Art Mentaltraining ausführlich mit allen Sinnen vorzustellen. Diese Vorgehen, dass im NLP auch als „Future Pacing“ bezeichnet wird, unterstützt der Coach häufig durch ausschließlich prozessbegleitende Trancesprachmuster. Das Future Pacing erfüllt dabei einen doppelten Zweck: Zum einen werden die einzelnen Lösungsschritte bis zur Zielerreichung mental trainiert, was eine erfolgreiche Umsetzung wahrscheinlicher macht. (Das mentale „Regiebuch“ wird gewissermaßen deutlicher und besser lesbar.) Zum anderen können so bereits im Vorfeld etwaige „Stolpersteine“ auf dem Weg zur Zielerreichung erkannt werden. Für diese Stolpersteine kann dann ggf. noch eine weitere Zielverfeinerung samt Ressourcenaktivierung gemacht werden.

11.21.6 Typische Anwendungsfelder Typische Anwendungsfelder für das NLP im Coaching gibt es nicht wirklich, da es sich ja als eigenständiges und vollständiges Coaching-Verfahren versteht. Besondere Stärken des NLP sehe ich vor allem in vier Bereichen: 1. 2. 3. 4.

Die weit elaborierten und trainierten Fähigkeiten, mit sehr unterschiedlichen Coachees einen guten Rapport aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Die Möglichkeiten der erweiterten Warnehmungsperspektive durch das intensive Einnehmen der verschiedenen mentalen Wahrnehmungspositionen bei der Problemanalyse. Die umfassende Berücksichtigung der Ökologie bei der Zieldefinition. Die hervorragenden Möglichkeiten, emotionale Ressourcen aktivieren und innere Konflikte lösen zu helfen.

Insgesamt erscheint mir das NLP als eigenständiges Coaching-Verfahren ebenso sinnvoll und wertvoll zu sein wie als Ergänzungsverfahren zur Einbettung in andere Coachingkonzepte, soweit sie mit den konstruktivistischen Grundannahmen des NLP kompatibel sind, und zwar vor allem für Fälle, in denen Emotionen (sei es nun einschränkende oder zu fördernde) eine größere Rolle spielen.

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11.21.7 Typische Kritik Die Kritik am NLP richtet auch heute noch vor allem auf drei Punkte, die ich in meiner Dissertation bereits 1992 wie folgt zusammengefasst hatte: 1.

2.

3.

Die NLP-Theorie ist lückenhaft und z.T. wissenschaftlich nicht haltbar; sie stützt sich auf frühere Theorien, die ihrerseits teilweise überholt bzw. korrekturbedürftig sind, und verwendet deren Elemente nicht durchweg in adäquater Weise. Die NLP-Techniken sind zum großen Teil anderen Therapie-Methoden entnommen und in der angewendeten Form z.T. anfechtbar; die behauptete durchgreifende Wirkung ist nicht genügend belegt. Das NLP-Modell weist Widersprüche auf und beinhaltet Gefahren.

In meiner Dissertation habe ich mich ausführlich mit den genannten Kritikpunkten auseinandergesetzt, wobei ich den Kritikern in etlichen Punkten zustimmte, aber auch vieles wiederlegen konnte. Für den Bereich NLP im Coaching gibt es meines Wissens bislang keine nennenswerte Forschung. Für den Bereich Therapie und NLP im Allgemeinen hat sich in den 18 Jahren seit der Veröffentlichung meiner Dissertation aber vieles, u.a. Folgendes getan: • • •

ROBERT DILTS und JUDITH DELOZIER haben die „Encyclopedia of Systemic Neuro-Linguistic Programming and NLP New Coding“ herausgebracht. Zahlreiche Forschungsarbeiten haben die Wirksamkeit von einzelnen Elementen des NLP bestätigt. In Österreich hat die Neuro-Linguistische Psychotherapie auf Basis eines stimmigen theoretischen Konzeptes und nachgewiesener Wirksamkeit ihre staatliche Anerkennung bekommen.

Mit zwei meiner Kritikpunkte aus heutiger Sicht möchte ich abschließen: •



NLP versteht sich als sehr weltoffenes, sich ständig weiterentwickelndes Modell, immer auf der Suche nach allem, was Menschen darin unterstützen kann, ihre Ziele in guter Form zu erreichen. Hierin liegt sicherlich auch eine der erfrischenden Stärken des NLP. Da hierdurch aber auch kaum eine klar definierte Abgrenzung zu anderen Methoden stattgefunden hat und längst nicht jeder NLP-Vertreter sich ausführlich mit dessen Grundlagen beschäftigt hat, ist der Weg in eine gewisse Beliebigkeit des NLP offen. Manche NLP-Vertreter, gerade auch im deutschsprachigen Raum, definieren NLP dann auch sehr simpel und wie ich finde arrogant mit „NLP ist alles, was hilft, und alles, was hilft, ist NLP!“ oder gehen dann in der Praxis noch weiter im Sinne eines „Alles, was helfen könnte, oder alles, was mir gefällt ist NLP!“ Mir ist keine andere Disziplin bekannt, in der so extrem unterschiedliche Verständnisse sich des gleichen Namens bedienen wie das im NLP der Fall ist. Das macht die NLP-Szene ebenso bunt und vielseitig wie schwer durchschaubar und letztendlich auch nicht wirklich einschätzbar — übrigens nicht einmal für die etablierten NLP-Anwender selbst. Noch immer können auch seitens des Deutschen Verbandes für Neuro-Linguistisches Programmieren NLP-Ausbildungen in 18-tägigen Crashkursen (am Stück) abgehalten werden. Ein derartiger Kurs kann vielleicht für manche Menschen ein positiver Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung sein, mit Sicherheit aber keine seriöse Ausbildung, die die Grundlage dafür bildet, hinterher professionell und verantwortungsvoll mit und für andere Menschen zu arbeiten. (Wer NLP dagegen lediglich als Ergänzungverfahren zu einem anderen gründlich erlernten Hauptver503

fahren nutzen möchte, kann sicherlich auch an einem derartigen Crashkurs auf seine Kosten kommen.) Trotz der verschiedenen, von mir hier und zu Beginn meines Aufsatzes aufgezeigten Kritikpunkte am NLP und manch seiner Vertreter halte ich das NLP, so wie ich es hier skizziert habe, für ein sehr differenziertes, ausgereiftes, erfolgreiches und ethisch anständiges Coachingverfahren, dem ich eine weite Verbreitung wünsche.

11.21.8 Typische Begriffe und deren Deutung Anker Beliebiger Stimulus (Reiz), der bei wiederholtem Auftreten stets dieselbe Reaktion hervorruft; im NLP gezielt zur Beeinflussung kognitiver Prozesse und emotionaler Zustände eingesetzt; ähnlich wie bei der klassischen Konditionierung. Assoziation Generelle Wahrnehmungsposition, bei der alles aus der Perspektive der eigenen Person erlebt wird; die Person sieht sich selbst in der Vorstellung nicht von außen, erlebt vielmehr alles emotional von innen heraus; das Gegenteil ist Dissoziation. Augenbewegungsmuster Bestimmte Augenbewegungen zeigen das bei Denkprozessen jeweils bevorzugte Sinnessystem (Repräsentationssystem) an. Dissoziation Generelle Wahrnehmungsposition, bei der alles aus der Perspektive einer anderen Person erlebt wird; die Person sieht sich in der Vorstellung selbst von außen und hat so eine gewisse emotionale Distanz zum Erleben; das Gegenteil ist Assoziation. Future Pacing (Überbrückung in die Zukunft) Mentales Erproben von gewünschten Verhaltensweisen im Ziel-Kontext; durch diese vorweggenommene Übertragung auf den Alltag des Coachee soll der Coachingerfolg gefestigt werden. Generalisierung Kognitiver Verallgemeinerungsprozess; einer von drei Prozessmechanismen, die im NLP für jede menschliche Modellbildung angenommen werden; weitere sind Tilgung und Verzerrung. Interner Zustand Augenblicklicher kognitiv-emotional-physiologischer Gesamtzustand, der das aktuelle Verhalten einer Person bestimmt. Kongruenz Wenn alle Strategien und Verhaltensweisen einer Person sich in voller Übereinstimmung befinden und auf das Erreichen eines gewünschten Ziels abgestimmt sind, meist durch eine symmetrische Körperhaltung und gleichmäßige Atmung angezeigt. Leading (Führen) Führungsprozess in Coachingsituationen, der möglich wird, wenn durch Pacing zuvor ein guter Rapport hergestellt wurde. Logische Ebenen der Veränderung Hierarchisch gegliederte Ebenen des Denkens und Seins, die sich wechselseitig beeinflussen: Umwelt, Verhalten, Fähigkeiten, Glaubenssätze/Werte, Identität; sie basieren auf den „logischen Ebenen des Lernens” von G. BATESON. 504

Meta-Modell der Sprache Differenzierte Kategorisierung der Sprache; Fragetechniken, mit deren Hilfe sehr genaue, sinnesspezifische Informationen über kognitive Prozesse eingeholt werden können; Generalisierungen, Tilgungen und Verzerrungen sowie kognitive Strategien werden hinterfragt bzw. erfragt. Meta-Programme Etwa 20 Persönlichkeitsmerkmale; z.B. introvertiert versus extravertiert, vergangenheitsorientiert versus zukunftsorientiert. Modellbildung Hierbei wird die objektive Wirklichkeit mit Hilfe von Generalisierungs-, Tilgungs- und Verzerrungs-Mechanismen zu subjektiven kognitiven Repräsentationen (Modellen) der Wirklichkeit verarbeitet; diese Modelle haben eine sensorische Grundlage und organisieren das Verhalten des Menschen. Ökologie Die systemische Gesamtheit eines in seine Umwelt eingebundenen Individuums; im Beratungsprozess des NLP werden die Auswirkungen einzelner Interventionen stets im Hinblick auf die Ökologie der Person überprüft. Dies wird auch Öko-Check genannt. Pacing („Mitgehen”) Bewusstes Angleichen der Verhaltensweisen des Beraters an die seines Coachees; soll für einen guten Rapport sorgen und anschließendes Leading möglich machen. Physiologie Der von einem außenstehenden Beobachter wahrnehmbare nonverbale Anteil eines internen Zustandes; z.B. Bewegungen, Durchblutung, Geruch, Klang der Stimme, Augenbewegungen. Primäres Repräsentationssystem Das individuell dominanteste, also am stärksten ausgeprägte Repräsentationssystem. Prozesssprache („Fluff”) Kunstvoll vage Sprachmuster, die es dem Coachee ermöglichen sollen, die seitens des Beraters angebotenen „Worthülsen” mit eigenem Inhalt zu füllen; z.B. „Wenn Sie mögen, können Sie sich irgendwie wohl fühlen und auf die Art und Weise entspannen, wie es Ihnen heute am besten gefällt.” Rapport Die Qualität des emotionalen Kontaktes zwischen zwei oder mehr Menschen; ein guter Rapport gilt als Voraussetzung für jede veränderungswirksame Arbeit mit Coachees; Pacing seitens des Beraters soll einen solchen begünstigen. Reframing (Umdeuten) Umdeutungsprozess, der dem Coachee helfen soll, die positiven Seiten (Absichten) eines bislang als problematisch erlebten Sachverhalts zu sehen; so könnten z.B. die sekundären Gewinne einer Krankheit darin liegen, endlich einmal zum Ausruhen und Nachdenken zu kommen. Repräsentationssysteme Fünf nonverbale Sinnesmodalitäten (visuell, auditiv, kinästhetisch, olfaktorisch, gustatorisch), die der Mensch zur externen Wahrnehmung und zur internen Weiterverarbeitung der Wirklichkeit zu Modellen verwendet; zusätzlich zu den fünf nonverbalen wird als sechstes Repräsentationssystem ein verbales angenommen, das ebenfalls der internen Weiterverarbeitung dient. Ressource Hilfsmittel zur Erreichung von Wunschzielen; im NLP wird — wie auch in den anderen humanistischen Therapieverfahren — davon ausgegangen, dass ein Coachee bereits über sämtliche zur Veränderung notwendigen Ressourcen verfügt; der Beratungsprozess zielt auf das Bewusstmachen und/oder Nutzbarmachen dieser Ressourcen ab. 505

Strategie Eine Abfolge von internen verbalen und nonverbalen Repräsentationen, die unser Verhalten in eine gezielte Richtung lenkt. Submodalitäten Formal-qualitative Feinunterscheidungen innerhalb jeder Sinnesmodalität (Repräsentationssystem) — z.B. heller oder dunkler, größer oder kleiner, lauter oder leiser, weicher oder härter. Tilgung Kognitiver Prozess, mit dessen Hilfe Menschen aus der Fülle möglicher sensorischer Eindrücke eine individuelle Auswahl treffen; einer von drei Prozessmechanismen, die im NLP für jede menschliche Modellbildung angenommen werden; weitere sind Generalisierung und Verzerrung. Verhalten Zum Verhalten rechnet NLP die sensorische Aufnahme einer externen oder internen Information ebenso wie deren interne kognitive Weiterverarbeitung und eine möglicherweise daraus resultierende externe oder interne Verhaltensweise; eine reale Skiabfahrt ebenso wie eine nur in der Vorstellung stattfindende. Verzerrung Kognitiver Prozess, mit dessen Hilfe sensorische Eindrücke individuell verändert werden; einer von drei Prozessmechanismen, die im NLP für jede menschliche Modellbildung angenommen werden; weitere sind Generalisierung und Tilgung. Wahrnehmungsposition Generelle Wahrnehmungspositionen: Assoziation und Dissoziation; mentale Wahrnehmungspositionen: die sogenannte erste (ganz assoziiert mit sich selbst), zweite (ganz assoziiert mit einer anderen Person, von sich selbst also dissoziiert) und dritte (neutral gegenüber dem aktuellen Geschehen) Wahrnehmungsposition.

11.21.9 Bedeutung für das Coaching NLP ist im Coaching weit verbreitet. Neben den NLP-originären Coachingausbildungen sind einzelne NLP-Elemente auch in vielen anderen Coachingausbildungen fester Bestandteil des Ausbildungscurriculums.

11.21.10 Basisliteratur DILTS, ROBERT (2005): Professionelles Coaching mit NLP. Paderborn, Junfermann Verlag O'CONNOR, JOSEPH/LAGES, ANDREA (2008): Coaching-Erfolg mit NLP. Freiburg, VAK-Verlag SCHMIDT-TANGER, MARTINA (1998): Veränderungscoaching: Kompetent verändern. NLP im Changemanagement, im Einzel- und Teamcoaching. Paderborn, Junfermann Verlag SCHMIDT-TANGER, MARTINA (2004): Gekonnt coachen: Präzision und Provokation im Coaching. Paderborn, Junfermann Verlag STAHL, THIES (2000): NLP Kompakt. active-books. Junfermann Verlag, Paderborn (z.Z. kostenloser Download unter www.active-books.de) WEERTH, RUPPRECHT (1992): NLP & Imagination. Grundannahmen, Methoden, Möglichkeiten und Grenzen. Paderborn, Junfermann Verlag 506

11.22 Neurowissenschaftliches Wissen für Veränderungen und Lernen von Maja Storch und Frank Krause

11.22.1 Das Gehirn ist ein selbstorganisierender Erfahrungsspeicher Wesentliche Komponenten dieses aktuellen neurowissenschaftlichen Wissens sind ... • • • •

die Erkenntnis, dass das Gehirn als selbstorganisierender Erfahrungsspeicher arbeitet; Wissen darüber, wie Gedächtnis auf neuronaler Ebene entsteht; Kenntnisse über die Rolle von Gefühlen und körperlichen Signalen bei Bewertungs- und Entscheidungsprozessen und die Tatsache, dass das menschliche Gehirn zeitlebens lernfähig ist.

Das menschliche Gehirn wird in den Neurowissenschaften heutzutage als ein dynamisches, selbstorganisierendes System verstanden. Das Nervensystem, so ist man sich weitgehend einig, besitzt grundsätzlich kein „oberstes Wahrnehmungs- und Verhaltenssteuerungszentrum” (ROTH, 1996, S.151). Auch die Vorstellung, dass einzelne Kompetenzen von isoliert arbeitenden Zentren gesteuert werden, ist in dieser Form nicht mehr haltbar. „Heute können wir mit Gewissheit sagen, dass keine einzelnen Zentren für Sehen oder Sprache oder auch Vernunft und Sozialverhalten existieren. Vielmehr gibt es Systeme, die aus mehreren untereinander verbundenen Gehirnabschnitten bestehen”, sagt der Neurowissenschaftler DAMASIO (1994, S.40). An anderer Stelle entwirft DAMASIO die eindrückliche Vorstellung von Gehirn als einem „Supersystem von Systemen” (ebd., S.59). Auch eine Metapher benutzt DAMASIO, um zu erläutern, wie das Gehirn aufgrund selbstorganisierender Prozesse Verhalten erzeugt: „Stellen Sie sich das Verhalten eines Organismus als die Darbietung eines Orchesterstückes vor, dessen Partitur während der Aufführung erfunden wird.” (2001, S.110). Nach welchen Regeln vollzieht sich die Selbstorganisation des Gehirns? Es geht, vereinfacht gesagt, darum, dass der Organismus, dem das Gehirn gehört, im Rahmen der gegebenen Verhältnisse gut überlebt. KOUKKOU und LEHMANN formulieren: „Das primäre organisierende und motivierende Prinzip und das primäre Ziel der dynamischen Beteiligung des Individuums an seinen Realitäten ist das Erhalten und/oder die Wiederherstellung der psychobiologischen Gesundheit (des psychobiologischen Wohlbefindens) innerhalb dieser Realitäten” (1998b, S.298). Wie gelingt es dem Gehirn, dafür zu sorgen, dass sein Besitzer oder seine Besitzerin möglichst viel psychobiologisches Wohlbefinden erleben kann? Auch dies lässt sich in einigen Worten ausdrücken. Dies gelingt, indem das Gehirn dafür sorgt, dass die Dinge, die dem Individuum widerfahren, bewertet werden im Hinblick darauf, ob sie dem Wohlbefinden zuträglich oder abträglich waren, indem es dieses Wissen speichert, um es dann — je nach Situation — entweder ad hoc oder zur Handlungsplanung einzusetzen. „Jedes Lebewesen, auch ein einfaches, benötigt in seinem Nervensystem dafür eine Instanz, welche dasjenige, was der Organismus tut, nach seinen Konsequenzen für den Organismus bewertet. Das Resultat dieser Bewertung wird dann im Gedächtnis festgehalten und für das weitere Verhalten benutzt” (ROTH, 1996, S.198). Grundlage für die selbstorganisierenden Prozesse des Gehirns sind, mit anderen Worten, Erfahrungen. Zum Glück muss nicht jedes menschliche Gehirn alle Erfahrungen selbst von Neuem machen, das 507

menschliche Gehirn hat auch schon einige wichtige Erfahrungen gespeichert, die von unseren Vorfahren gemacht wurden. Auf diesen Ahnenschatz können wir aufbauen und ihn um unsere eigenen Erfahrungen ergänzen. „Manche dieser Erfahrungen sind so allgemeiner Natur, dass sie bereits im Laufe unserer stammesgeschichtlichen Entwicklung in Form bestimmter genetischer Programme ausgelesen wurden, die die Herausformung ganz bestimmter Verschaltungsmuster in unserem Gehirn lenken. Andere Erfahrungen werden erst dadurch, dass wir sie selbst im Laufe unseres eigenen Lebens machen, in unserem Gehirn verankert” (HÜTHER, 2001, S.112). Neben dem Ahnenschatz greift das Gehirn also auch auf selbst Erlebtes zurück, wenn es darum geht, Wohlbefinden zu sichern. KOUKKOU und LEHMANN sprechen davon, dass das „Supersystem” Gehirn „sich selbst und sein Verhalten auf der Basis der eigenen Biografie organisiert” (1998b, S.169). Das Wissen, welches sich das Individuum in der Begegnung mit seiner Umwelt erwirbt, wird im Gehirn „mittels chemischer, elektrischer oder struktureller Veränderungen kodiert und dann dynamisch, adaptiv und individuell-spezifisch zur Kreierung des Verhaltens benutzt” (ebd., S.171). Im Rahmen dieser Sichtweise ist es folgerichtig, die menschliche Psyche letztendlich als eine Art umfassendes und reichhaltiges Gedächtnis von gemachten Erfahrungen zu bezeichnen. KOUKKOU und LEHMANN, beide neurowissenschaftlich und psychoanalytisch ausgebildet, schlagen dies auch vor. „Die Interaktion des wachsenden Individuums mit den eigenen externen und internen Realitäten produziert eigenes Wissen (das Gedächtnis, die Biografie) oder, in der Sprache der Psychoanalyse, den psychischen Apparat” (KOUKKOU und LEHMANN, 1998b, S.175). Ein Teil unseres Wissens stammt aus dem Ahnenschatz, einen anderen Teil erwerben wir im Laufe des Aufwachsens. Von entscheidender Bedeutung sind bei diesem Lernprozess die frühen Jahre. „Wie alle lernfähigen Gehirne ist auch das menschliche Gehirn am tiefsten und nachhaltigsten während der Phase der Hirnentwicklung programmierbar” (HÜTHER, 2001, S.23). Das Gehirn eines kleinen Organismus, der zum Beispiel in der Kindheit viel Angst und Stress erlebt, speichert von Anfang an die Erfahrungen im Umgang mit diesen Zuständen und nutzt diese Erfahrungen bis auf Weiteres, um das Wohlbefinden zu sichern, so gut es geht. „Je früher sich diese prägenden Erfahrungen im Umgang mit der Angst in das Gehirn eingraben können, je verformbarer die Verschaltungen des Gehirns also zu dem Zeitpunkt sind, zu dem diese Erfahrungen gemacht werden, desto besser sitzen sie für den Rest des Lebens. Sie sehen dann aus wie angeborene Instinkte, lassen sich auslösen wie angeborene Instinkte, sind aber keine angeborenen Instinkte, sondern in das Gehirn eingegrabene, während der frühen Kindheit gemachten Erfahrungen bei der Bewältigung von Angst und Stress” (HÜTHER, 2001, S.51). Genau so bleibend können natürlich auch positive Erfahrungen im Gehirn gespeichert werden. Dieser Umstand zeigt interessante Parallelen zu dem psychoanalytischen Konzept des „Urvertrauens”. Aus dieser neurowissenschaftlichen Sicht, die den psychischen Apparat als einen Wissensspeicher von Erfahrungen begreift, ergibt sich auch eine präzise Vorstellung davon, was psychische Krankheit und was psychische Gesundheit ausmacht. Wenn der psychische Apparat aus Wissen besteht, das zur Verhaltenssteuerung des Individuums eingesetzt wird, um dessen Wohlbefinden zu sichern, dann beruht neurotisches Verhalten letztendlich auf einer Wissensstruktur, die dem Gehirn für diese Aufgabe keine optimalen Grundlagen liefert. KOUKKOU und LEHMANN sehen diese neurowissenschaftliche Sichtweise als Alternative zum psychoanalytischen Konfliktmodell. „Die Pathogenese der Neurose wird nicht durch Konflikte zwischen Trieben und Sozialisation erklärt, sondern durch die Qualität des Wissens, welches das Individuum aus seinen Interaktionen mit alterswichtigen sozialen Realitäten erwirbt und kreiert, mit anderen Worten: durch die allgemeine Adaptabilität der Hirnmechanismen” (1998a, S.287).

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Die neurowissenschaftliche Sichtweise ist für die Psychotherapie deswegen von großem Interesse, weil sie neurotisches Verhalten sehr pragmatisch erklärt. Nach dieser Auffassung muss nicht länger nach geheimnisvollen inneren Instanzen geforscht werden, über deren Vorhandensein und genaue Beschaffenheit nur ExpertInnen Bescheid wissen und über die verschiedene psychotherapeutische Schulen sich zerstreiten müssen. Wenn ein Mensch sich auf eine Art und Weise verhält, die seinem psychobiologischen Wohlbefinden abträglich ist, dann hat er ungeeignetes Wissen darüber, wie man diesen erwünschten Zustand herstellen kann. „Psychische Störungen ... sind Produkte (Gedanken und/oder Emotionen und/oder Handlungen und/oder Phantasien, Träume, Entscheidungen, Funktionszustände verschiedener Organe) der wissens- und kontextgesteuerten informationsverarbeitenden Hirnprozesse, denen maladaptives Wissen zur Verfügung steht” (ebd., S.176). Mit dem Begriff maladaptives Wissen bezeichnen KOUKKOU und LEHMANN Erfahrungen, die ein Individuum über den Umgang mit bestimmten Situationen gesammelt hat, dann, wenn sie für die Sicherung des psychobiologischen Wohlbefindens des Individuums nicht nützlich sind. In dieser Sichtweise gibt es kein krank und kein gesund, es gibt nur unnützes (maladaptives) und nützliches (wohladaptives) Wissen. Die Brauchbarkeit der Erfahrungen, die ein Individuum gesammelt hat, wird im Konzept von KOUKKOU und LEHMANN ausschließlich daran gemessen, ob dieses Wissen in einer aktuellen Situation zum Erhalt des psychobiologischen Wohlbefindens eines Individuums beitragen kann, oder nicht. Neben ihrer integrativen theoretischen Potenz kann eine solche Sichtweise zusätzlich dabei helfen, PatientInnen vom Stigma der psychischen Krankheit zu entlasten, denn mit diesem Stigma müssen sie sich bei der Sprachregelung, die im Moment in der klinischen Psychologie verwendet wird, zusätzlich zum Leiden an ihren Symptomen auch noch auseinandersetzen.

11.22.2 Wie Erfahrungen im Gehirn gespeichert werden Nachdem nun klar geworden ist, wie wichtig die Erfahrungen, die ein Mensch im Laufe seines Aufwachsens macht, für das psychobiologische Wohlbefinden sein können, erhebt sich die Frage, wie denn diese Erfahrungen in das Gehirn eingespeichert werden. Mit anderen Worten: Wie entsteht Gedächtnis auf der Ebene der Nervenzellen? Das heute allgemein anerkannte Modell dafür ist das Modell der „Hebbschen Plastizität”. HEBBS (1949) Modell ist einfach und elegant. Das Phänomen der Hebbschen Plastizität entsteht, wenn zwei oder mehr Nervenzellen gleichzeitig feuern. Als Standardregel kann man sich den Merksatz einprägen: „cells that fire together, wire together.” Die Übersetzung könnte lauten: Zellen, die gleichzeitig feuern, verdrahten sich. HEBB legte das Konzept der plastischen Synapsen vor, die ihre Übertragungsbereitschaft desto mehr verstärken, je öfter sie benutzt werden. Eine Synapse ist der Punkt, an dem zwei Nervenzellen durch chemische Botenstoffe, die Transmitter, in Verbindung treten und Signale austauschen können. Durch jede gemeinsame Erregung wird synaptische Verbindung zwischen Nervenzellen verstärkt, und damit wird die Informationsübertragung verbessert. Man kann sich die Vorgänge im Gehirn vorstellen wie die Vorgänge in der Muskulatur, wenn bestimmte Muskeln im Fitness-Studio trainiert werden. Der Aufbau von einem Waschbrettbauch funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip. Wenn Muskeln oft beansprucht werden, erhöhen sie ihre Leistung. Umgekehrt gilt: Muskelgruppen, die selten beansprucht werden, verringern ihre Leistungsfähigkeit. Im Fall der Nervenzellen zeigt sich die erhöhte beziehungsweise verminderte Leistungsfähigkeit in der leichteren beziehungsweise schlechteren Aktivierbarkeit. Wenn die synaptische Verbindung zwischen Nervenzellen durch häufige Benutzung verstärkt wurde, spricht man in den Neurowissenschaften von „Bahnung”. HÜTHER (1997) verwendet für den Vorgang der Bahnung das Bild eines Weges, der durch unwegsames Gelände gebahnt wird. Der Weg wird desto 509

breiter, je häufiger er benutzt wird. Nach vielen Jahren der Benutzung findet man dann eine breite, gut begehbare Straße vor. Wege, die selten oder gar nicht mehr benutzt werden, verschwinden wieder von der Erdoberfläche. Sie verwildern und wachsen zu. In HÜTHERS Bild kann man sich im Gehirn die gut gebahnten Verbindungen zwischen einzelnen Nervenzellen als gut ausgebaute breite Wege vorstellen. Verbindungen zwischen Nervenzellen, die nicht benutzt werden, verschwinden wieder aus der Gehirnlandschaft, indem sich ihre leichte Aktivierbarkeit und ihre verbesserte Übertragungsleistung zurückbilden. Damit ist die Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach der neuronalen Grundlage von Gedächtnis geklärt. „Das Einspeichern eines Gedächtnisinhaltes beruht auf der Leistungssteigerung synaptischer Übertragungsmechanismen” (ROTH, 2001, S.161). Alle Gedächtnisleistungen haben eines gemeinsam: „Sie beruhen auf Veränderungen in unserem Gehirn, die erfahrungsabhängig sind und die Grundlage von Lernen bilden” (ROTH, 2001, S.150). Statt von Gedächtnisprozessen können wir also auch von Lernen sprechen. Das Einspeichern eines Inhaltes ins Gedächtnis ist ein Lernvorgang, auch wenn mit dem Begriff Lernen im Alltagsgebrauch eher Assoziationen wie knirschende Kreide auf Schiefertafeln, muffige Klassenzimmer und öde Nachmittage über Schulbüchern einhergehen. Auf neurowissenschaftlicher Ebene jedenfalls findet durch die Hebbschen plastischen Veränderungen ein Lernvorgang statt, sodass der Neurowissenschaftler LEDOUX (2001) schreiben kann: „Lernen besteht in der Verstärkung synaptischer Verbindung zwischen Neuronen” (S.229). Jeder Lernvorgang, den ein Mensch tätigt, beruht auf diesem Mechanismus, gleichgültig, ob es sich darum handelt, Französischvokabeln zu büffeln, Schwarzwälderkirschtorte zu backen oder Salsa zu tanzen. Wir werden später noch ausführlich darauf eingehen, wie fruchtbar es für die Psychotherapie sein kann, auch die Thematik der Persönlichkeitsentwicklung unter der Perspektive des Lernens zu sehen. Zur Erinnerung: Lernen in neurowissenschaftlichem Sinn bedeutet „häufige gemeinsame Benutzung von Nervenzellen”.

11.22.3 Gedächtnis beruht auf neuronalen Netzen Bisher haben wir immer nur zwei Nervenzellen angeschaut, um das Prinzip der Hebbschen Plastizität zu verstehen. Durch plastische Veränderungen im Gehirn werden jedoch nicht nur zwei Nervenzellen miteinander verbunden, sondern auch ganze Gruppen. Man schätzt die Zahl der Nervenzellen im menschlichen Gehirn auf ca. 100 Milliarden. Die einzelnen Nervenzellen sind via Synapsen und Dendriten untereinander verbunden. Auf der Ebene der Nervenzellen kann man sich das Wissen, das unsere Gedächtnisinhalte ausmacht, als Bereitschaften zur Aktivierung ganz bestimmter neuronaler Erregungsmuster in diesem riesigen neuronalen Netzwerk vorstellen. Diese Erregungsmuster sind in sogenannten neuronalen Netzen organisiert, der englische Begriff dafür heißt cell assemblies. Sie sind die Bausteine unseres Gedächtnisvermögens. Ohne cell assemblies würden wir in einem Meer von Sinnesdaten untergehen; wir wären nicht in der Lage, die ungeheure Menge von Informationen, die jede Sekunde auf uns einströmt, sinnvoll zu ordnen und abzurufen. Neuronale Netze entstehen dadurch, dass als Reaktion auf einen Reiz bestimmte Muster gemeinsam ausgelöst werden. Geschieht dies wiederholt, stärkt sich dieser gesamte Nervenkomplex und wird in Zukunft immer leichter aktivierbar. EDELMAN (1987) hat diesen Vorgang in seinem Konzept des reentrant mapping beschrieben. RATEY (2001) veranschaulicht den Vorgang des reentrant mapping am Beispiel der Entstehung des neuronalen Netzes zum Thema Großmutter. EDELMANS Theorie zufolge „beruht die Wahrnehmung eines Stuhls oder der eigenen Großmutter auf wiedereintretenden Signalen, 510

die die Tätigkeit mehrerer Karten von Hirnregionen kombinieren ... Jede Hirnregion trägt zum Wiedererkennen eines Stuhls oder der Großmutter bei, und das erklärt, warum Wiedererkennen durch eine Vielzahl unterschiedlicher Sinneseindrücke ausgelöst werden kann: durch den Geruch von Mottenkugeln, den Geschmack von Paprika, eine grauhaarige Frau, eine häkelnd im Schaukelstuhl sitzende Gestalt, eine alternde weibliche Stimme” (S.173f). In der Fachsprache sagt man, wenn man darüber sprechen will, dass in einem neuronalen Netz Informationen aus den verschiedensten Hirnregionen zu Einheiten verbunden sind: Neuronale Netze sind multicodiert. KOUKKOU und LEHRMANN (1998a) schreiben: „Die mnemonischen Repräsentationen (Gedächtnisinhalte) sind in den individuell erworbenen Symbolen der Sprache, den anderen nicht-verbalen Repräsentationen wie Formen, Farben etc. sowie in dem individuell erworbenen emotionalen Wissen kodiert” (S.352). Es gibt zum Thema Multicodierung jedoch noch andere interessante Standpunkte. RATEY und KOUKKOU und LEHMANN verweisen in ihren Definitionen der Multicodierung auf Sinneseindrücke (sensorische Signale), sprachlich-kognitive Aspekte und emotionale Aspekte. DAMASIO fügt den Aufzählungen von RATEY und KOUKKOU und LEHMANN noch einen weiteren Aspekt hinzu, der zur Multicodierung eines neuronalen Netzes beiträgt. Er weist nachdrücklich auf den körperlichen Aspekt hin, den neuronale Netze außer sensorischer, kognitiver und emotionaler Information beinhalten. DAMASIO schreibt: „Zu diesen ... Erinnerungen an ein Objekt, das einmal real wahrgenommen wurde, gehören nicht nur Aufzeichnungen der sensorischen Aspekte wie Farbe, Form oder Klang, sondern auch Aufzeichnungen der Anpassungsreaktion, welche die Sammlung der sensorischen Signale notwendig begleiten. Ferner enthalten die Erinnerungen auch Aufzeichnungen der unvermeidlichen emotionalen Reaktionen auf das Objekt. Wenn wir uns nun an ein Objekt erinnern ..., dann rufen wir also nicht nur sensorische Daten ab, sondern auch die begleitenden motorischen und emotionalen Daten. Wenn wir uns an ein Objekt erinnern, rufen wir nicht nur die sensorischen Besonderheiten eines realen Objektes ab, sondern auch die früheren Reaktionen des Organismus auf das Objekt” (2001, S.195). Neuronale Netze kodieren also auch Informationen auf Körperebene. Am Beispiel von RATEYS Großmutter würde dies bedeuten, dass sich bei der Erinnerung an die Oma auf emotionaler Ebene zum Beispiel ein Geborgenheitsgefühl einstellt und sich auf körperlicher Ebene z.B. auch eine wohlige Empfindung im Bauch breitmacht. Auch für Gruppen von Nervenzellen gilt die Hebbsche Plastizität. Ist ein bestimmtes Erregungsmuster durch häufige Wiederholung gut gebahnt worden und damit zu einer cell assembly verbunden, wird diese Gruppe von Nervenzellen immer leichter aktivierbar. Für die Psychologie interessant ist hierbei eine bestimmte Eigenschaft des Gehirns: die Fähigkeit zur Komplettierung, die auch schon von der Gestaltpsychologie unter dem Stichwort Musterergänzung beschrieben wurde (TSCHACHER, 1997). Mit fortschreitender Bahnung des neuronalen Netzes kann das Erregungsmuster immer einfacher von ganz verschiedenen Stellen aus und mit immer weniger Anhaltspunkten aktiviert werden. Aus dem Alltag ist uns allen dieser Vorgang in seiner freudvollen Ausprägung bekannt, wenn man das Lied wieder hört, zu dem man den ersten Kuss erlebt hat, und alle zu dieser Situation gehörigen schönen Gefühle und Erinnerungen schlagartig auftauchen. In seiner unangenehmen Ausprägung kennen viele dieses Phänomen, wenn sie den „typischen Krankenhausgeruch” riechen und bei sich selbst sofort eine große Anzahl unangenehmer Assoziationen beobachten können. ROTH (1996) schreibt: „Es genügen zum Teil nur Bruchstücke von aktuellen Sinnesdaten, um in uns ein vollständiges Wahrnehmungsbild zu erzeugen, das dann gar nicht von den Sinnesorganen, sondern aus dem Gedächtnis stammt” (S.267). Bei GRAWE (1998) liest sich das so: „Der einzelne Gedächtnisinhalt ist durch ein bestimmtes neuronales Erregungsmuster repräsentiert, für das aufgrund vorangegangener Bahnung eine erhöhte Bereitschaft in Form synaptischer Verbindungsgewichte vorliegt, so wie HEBB es in seinem Konzept der cell assemblies beschrieben hat. Wenn wir uns an et511

was erinnern, wird ein früherer neuronaler Erregungszustand unter dem Einfluss aktueller Kontextbedingungen reinstantiiert” (S.230).

11.22.4 Neuronale Netze gestalten psychisches Geschehen Bis jetzt haben wir uns damit befasst, wie Gedächtnis entsteht und wie auf neuronaler Ebene die Bausteine des Gedächtnisses miteinander verschaltet sind. Nun wird es Zeit, die Verbindung zur Psychologie herzustellen. Erinnern wir uns: Aus neurowissenschaftlicher Sicht entstehen „alle Aspekte des psychischen normalen wie auch des neurotischen Verhaltens ... aus den normal funktionierenden mnemonischen (gedächtnisbezogenen) Funktionen des menschlichen Gehirns” (KOUKKOU und LEHMANN, 1998a, S.294). Außerdem gilt: „Der ... Organisator der Genese, Koordination und Kontrolle der Qualität aller Dimensionen des menschlichen Verhaltens, in allen Alters- und Bewusstseinslagen, ist die Menge und die Qualität des im Gehirn des Individuums erworbenen und kreierten Wissens” (ebd., S.301). Dem Gedächtnis und dem darin gespeicherten Wissen kommt eine entscheidende Bedeutung zu, sowohl, was die menschliche Psyche betrifft, als auch, was die Verhaltenssteuerung angeht. In der Psychologie gibt es einen Begriff, der das Verbundphänomen beschreibt, das gemeinsame Auftreten vieler Komponenten in einer Einheit, das in neurowissenschaftlicher Terminologie mit dem Begriff der neuronalen Netze erfasst wird: Dies ist der Begriff Schema. GRAWE (1998) schreibt: „Die cell assemblies von HEBB, die neuronalen Gruppen im Sinne von EDELMANN, das heißt vorgebahnte neuronale Erregungsbereitschaften, wären das, was von PIAGET (1976), BARTLETT (1932) oder NEISSER (1974, 1976), als Schema bezeichnet wurde” (S.213). In der Psychologie, so GRAWE, wird der Schemabegriff im Sinne einer Bereitschaft eines neuronalen Netzes, aktiv zu werden, in mindestens vier verschiedenen Zusammenhängen benutzt: Im Sinne einer Wahrnehmungsbereitschaft, einer Handlungsbereitschaft, einer Emotionsbereitschaft und einer motivationalen Bereitschaft. Den Einfluss, den ein Schema auf die Wahrnehmung nimmt, kann man sich so vorstellen: „Die Wahrnehmung wird aufgrund des als Gedächtnisinhalt bereitliegenden Erregungsmusters konstruiert, wobei die tatsächlichen Umgebungsbedingungen gemeinsam mit den vorgebahnten Erregungsmustern auf die tatsächlich entstehende Wahrnehmung Einfluss nehmen” (GRAWE, 1998, S.213). Zur Verdeutlichung dieser Konzeption wenden wir das Wissen über die schemagesteuerte Konstruktion von Wahrnehmung auf RATEYS Großmutter an. RATEYS Großmutter roch offenbar nach Mottenkugeln, kochte irgendein Paprikagericht, das auf den kleinen RATEY einen nachhaltigen Eindruck hinterließ (ob er es besonders gerne gemocht hat oder damit immer wieder tyrannisiert wurde, können wir nicht wissen, weil RATEY uns die emotionale Bewertung seiner Erinnerung nicht mitgeteilt hat). Sie saß häkelnd im Schaukelstuhl und hatte die Stimme einer alten Frau. Ferner ist sie auf kognitiver Ebene sprachlich vercodet als Großmutter, außerdem hat RATEY auf emotionaler Ebene diverse Gefühle gespeichert, z.B. die schon erwähnte Gemütlichkeit, und auf somatischer Ebene diverse Körpersensationen, die zum Thema Großmutter gehören (die wohlige Empfindung im Bauch). Weil der kleine RATEY seine Großmutter oft gesehen hat, wurden alle diese verschiedenen Sinneseindrücke, die in unterschiedlichen Hirnregionen wahrgenommen werden, durch reentrant mapping zu einem neuronalen Großmutternetz verbunden. In der Sprache der Psychologie würden wir von einem Großmutterschema sprechen, das kognitiv-emotional-somatisch multicodiert ist. KOUKKOU und LEHMANN (1998a) stellen im Rahmen einer solchen wahrnehmungstheoretischen Konzeption den aus der Psychoanalyse stammenden Begriff der Übertragung auf eine neurowissenschaftliche Grundlage (S.362f). Das Gehirn hat, so haben wir gesehen, die Fähigkeit zur Komplettierung. Nur 512

ein Element eines neuronalen Netzes kann, wenn das Netz gut gebahnt ist, ausreichen, um das gesamte Netz zu aktivieren. Wenn zum Beispiel Herr RATEY in Analyse kommt und ein oder zwei Elemente bei seiner Analytikerin zu verzeichnen sind, die sein neuronales Großmutternetz aktivieren (z.B. die Stimme einer alten Frau oder die grauen Haare), wird seine Wahrnehmung durch die Großmutterbrille bestimmt. Damit gehen dann entsprechende Handlungsbereitschaften, passende emotionale Bereitschaften, sowie motivationale Bereitschaften einher. In der psychoanalytischen Terminologie würde man in dieser Situation dann von einer Großmutterübertragung sprechen. GRAWE geht davon aus, dass neuronale Netze, sprich Schemata, sowohl hierarchisch als auch parallel arbeiten können. Ein sehr umfassendes Schema eher an der Spitze der Hierarchie angesiedelt, könnte zum Beispiel eine Intention sein. Die feste Absicht, etwas zu tun, z.B. der Vorsatz „Ich will gesund leben!” kann vielfältigen Einfluss auf Wahrnehmung und Handeln ausüben, weil dieses übergeordnete Schema mehrere untergeordnete Schemata mit sich verbindet. Im Falle des gesunden Lebens könnten untergeordnete Schemata z.B. sein: „heroisch an der Konditorei vorbeigehen”, „Sonnenschein zum Joggen und nicht zum Faulenzen benutzen” oder „aufrechte Sitzhaltung im Bürostuhl einnehmen”. GRAWE schlägt sogar vor, auch den Begriff des Selbst in diesem Sinne schematheoretisch zu fassen: „Wenn wir uns Schemata hierarchisch organisiert vorstellen, ... müssen wir an der Spitze der Hierarchie schließlich so etwas wie ein übergreifendes Selbstschema konzipieren, dass die psychische Aktivität des Individuums maßgeblich bestimmt” (1998, S. 226). Auf jeden Fall können wir festhalten, dass die neuronalen Prozesse, welche die Schemata erzeugen, immer die gleichen sind, egal, welche Position in der handlungssteuernden Hierarchie ein Schema hat. Auch GRAWE ist der Ansicht, „... dass allen unseren psychischen Prozessen und Inhalten, auch unseren Gedächtnisinhalten, ganz bestimmte neuronale Erregungsmuster zugrunde liegen. Die Anzahl und Variabilität der möglichen Erregungsmuster ist praktisch unbegrenzt. Ein einzelnes Wort kann genau so durch ein bestimmtes Erregungsmuster repräsentiert werden wie das Verfolgen einer komplexen Intention” (ebd., S.229). Und neben hierarchisch eher übergeordneten Schemata, die imstande sind, langfristige und umfassende Handlungsabfolgen zu dirigieren, wie sie z.B. mit der Intention verbunden sind „Dieses Semester will ich gute Noten bekommen!”, müssen wir davon ausgehen, dass Schemata auch parallel aktiv sein müssen, wenn wir unseren ganz normalen Alltag bewältigen wollen. Wenn die Studentin, die dieses Semester gute Noten bekommen will, morgens aufsteht, aktiviert sie parallel z.B. die neuronalen Netze für „Kaffeewasser aufsetzen”, „Körper recken und strecken”, „Freund küssen” und wenn das übergreifende Schema „gute Noten” aktiv ist, auch wieder „sich schweren Herzens vom warmen, kuscheligen Freund losreißen und ins Bad gehen”. Wir können also davon ausgehen, dass im Gehirn gleichzeitig hierarchische und parallele Prozesse ablaufen. „Es leuchtet auch unmittelbar ein, dass es so etwas wie ein Prinzip der hierarchischen Organisation geben muss, in dem übergeordnete und übergreifende Erregungsmuster auf umschriebenen aufbauen und sie gleichzeitig in ein übergeordnetes Muster einbinden. Außerdem ist von vornherein klar, dass viele Erregungsmuster gleichzeitig aktiviert sein müssen, um erklären zu können, wie wir zum Beispiel gleichzeitig unsere Körperhaltung und unsere Bewegungen koordinieren, uns etwas vorstellen, darüber reden und die Reaktion darauf beobachten können” (GRAWE, ebd., S. 229).

11.22.5 Das Gedächtnis hat ein emotionales Bewertungssystem Nachdem wir uns nun damit befasst haben, wie Lernen und Gedächtnis auf neuronaler Ebene funktionieren, können wir uns jetzt darum kümmern, wie die Informationen, die in Form von neuronalen Netzen im Gedächtnis gespeichert sind, vom Organismus ausgewertet werden. Erinnern wir uns: Informa513

tionen beziehungsweise Erfahrungen werden gespeichert, um dem Individuum zu ermöglichen, sich so zu verhalten, dass es ein möglichst großes Ausmaß an psychobiologischem Wohlbefinden erreichen kann. Die Erfahrungen werden also unmittelbar verhaltensrelevant. „Gedächtnis ist die Fähigkeit des Menschen, Informationen über sich und die Umwelt zu behalten, das heißt zu lernen und das Gelernte dynamisch, adaptiv und individuell spezifisch für die Organisation des Verhaltens zu benutzen” (KOUKKOU und LEHMANN, 1998a, S.315). Um die gespeicherten Informationen zur Organisation des Verhaltens nutzen zu können, bedarf es zusätzlich zur Speicherung der Informationen auch einer Art Bewertungssystem. Die Erfahrungen, die das Individuum macht, müssen bewertet werden. DAMASIO (2001) geht davon aus, dass dieses Bewertungssystem keineswegs nur beim Menschen, sondern bei allen lebenden Organismen vorzufinden ist. Da es das Anliegen des Gehirns ist, für ein größtmögliches Ausmaß an psychobiologischem Wohlbefinden zu sorgen, liegt es nahe, die Bewertung der Erfahrungen danach vorzunehmen, ob die Erfahrungen dem psychobiologischen Wohlbefinden zu- oder abträglich waren. Darum geht DAMASIO davon aus, dass das Bewertungssystem in seiner ursprünglichen Form nur zwei Kategorien kennt: „gut” oder „schlecht”. DAMASIO nennt dieses Phänomen „Dualität”. Er schreibt: „Diese fundamentale Dualität offenbart sich schon bei einem so einfachen und vermutlich unbewussten Lebewesen wie einer Seeanemone. Ihr Organismus, der kein Gehirn besitzt und nur über ein einfaches Nervensystem verfügt, ist kaum mehr als ein Darmkanal mit zwei Öffnungen und zwei Muskelsystemen, das eine kreisförmig, das andere in Längsrichtung angeordnet. Die Umstände, denen die Seeanemone ausgesetzt ist, bestimmen, was der gesamte Organismus tut: ob er sich der Welt öffnet wie eine blühende Blume — damit Wasser und Nährstoffe in ihren Körper eindringen und ihn mit Energie versorgen können — oder ob er sich zu einer kompakten flachen Form verschließt, fast unerkennbar für andere. Das Prinzip von Freude und Trauer, Annäherung und Vermeidung, Verwundbarkeit und Sicherheit ist in dieser schlichten Dichotomie von hirnlosem Verhalten ebenso sichtbar wie in dem lebhaften emotionalen Wechsel eines spielenden Kindes” (DAMASIO, 2001, S.101). Erfahrungen werden, so DAMASIO, nach einem ganz einfachen Prinzip ausgewertet. Das Prinzip heißt: „Gut für mich/schlecht für mich”. „Annähern/Vermeiden”. „Plus/Minus”. Auf der Basis dieser einfachen Dualität kann die Seeanemone ihr Verhalten regulieren, beim Menschen ergibt sich aus der Ordnung „Plus/Minus” die ganze Bandbreite einer differenzierten Skala von Gefühlen. ROTH (1996) fasst das duale Prinzip des Bewertungssystems in folgende Worte: „Die Bewertung einer Erfahrung als schädlich oder angenehm kann von primärer Unlust und Lust bis hin zu subtilem Ärger und Vergnügen reichen” (S.212). Ausgeführt wird dieser Bewertungsvorgang vom limbischen System. Der Begriff limbisches System wird benutzt, um eine Anzahl evolutionär ältere Strukturen des Gehirns zu bezeichnen, die das gesamte Gehirn durchziehen. ROTH (1996) schreibt: „Die allgemeine Funktion des limbischen Systems besteht in der Bewertung dessen, was das Gehirn tut (S.209) ... Das Wirken des limbischen Systems erleben wir als begleitende Gefühle, die uns entweder vor bestimmten Handlungen warnen oder unsere Handlungsplanung in bestimmte Richtungen lenken. Gefühle sind somit konzentrierte Erfahrungen; ohne sie ist vernünftiges Handeln unmöglich. Wer nicht fühlt, kann auch nicht vernünftig entscheiden oder handeln” (S.212). In den Neurowissenschaften wird derzeit darüber debattiert, ob der Begriff limbisches System eine sinnvolle Sammelbezeichnung darstellt oder nicht (LEDOUX, 2001, S.100f; ROTH, 2001, S.232). Für unsere psychologischen Belange ist diese Debatte nebensächlich. Wichtig für die Psychologie ist die Aussage der Neurowissenschaften, dass die Bewertung von Handlungsergebnissen nicht ausschließlich von der Vernunft und über rationales Denken gesteuert wird, sondern dass bei diesem Vorgang Gefühle eine entscheidende Rolle spielen. 514

LEDOUX (2001) konnte am Beispiel der Furchtkonditionierung zeigen, dass es ein emotionales Erfahrungsgedächtnis gibt, mit dessen Hilfe sich Organismen blitzschnell und unterhalb der Bewusstseinsschwelle gefühlsmäßig orientieren können. Die höheren kognitiven Funktionen arbeiten deutlich langsamer. LEDOUX beschreibt dies am Beispiel der Schreckreaktion. Er bringt das Beispiel der unwillkürlichen Schreckreaktion auf eine Schlange, die sich beim genauen Hinsehen später als ein entsprechend geformter Stock herausstellt. In diesem Fall reagiert der Organismus zunächst mit einem sogenannten primären Affekt. Dieser wird hervorgebracht von einem angeborenen und automatisch ablaufenden Wahrnehmungs- und Reaktionssystem, das auf Schlüsselreize in Sekundenschnelle mit einer emotionalen Reaktion und daran anschließendem Verhalten reagiert. Die primären Affekte stellen den Ahnenschatz der Erfahrungen dar, von dem wir eingangs gesprochen haben. Um in einem nächsten Schritt die Schlange als Stock zu identifizieren, muss die eingegangene Information erst noch in anderen Gehirnstrukturen verarbeitet werden. Dieser Verarbeitungsprozess, der dem entspricht, was wir in der Psychologie Vernunft nennen, braucht jedoch mehr Zeit als die emotionale Reaktion. LEDOUX erklärt sehr einleuchtend, wieso die Evolution solche gefühlsgesteuerten Automatismen hervorgebracht hat. Er schreibt unter der Kapitalüberschrift „Die Schnellen und die Toten”: „Langfristig ist es vorteilhafter, einen Stock irrtümlich für eine Schlange zu halten, als eine Schlange für einen Stock zu halten” (2001, S. 178). Die Abbildung 1 verdeutlicht die beiden unterschiedlichen Verarbeitungswege eines Reizes am Beispiel der Furchtreaktion, für deren Verarbeitung die Amygdala eine entscheidende Rolle spielt. Neben den angeborenen primären Affekten aus dem Ahnenschatz verfügen Menschen auch noch über das System der sekundären Gefühle. DAMASIO (1994, S.187) bezeichnet damit alle gefühlsmäßigen Reaktionen, die wir im Laufe unseres Lebens selbst erworben haben, sie sind im eigentlichen Sinne gelernt. Sie treten auf, sobald wir systematische Verknüpfungen zwischen Kategorien von Objekten und Situationen auf der einen und primären Affekten auf der anderen Seite herstellen. Um noch einmal Herrn RATEYS Großmutter zu bemühen: Wenn Herr RATEY auf eine grünlich-verschimmelte Speise mit Ekel reagiert, würde man diese Reaktion unter die primären Affekte einordnen, während das Ekelgefühl, das zum Beispiel aus der Erinnerung an die erzwungenen glitschig-feuchten Küsse seiner Großmutter resultiert, zu den sekundären Gefühlen gezählt würde. Für die Psychologie interessant ist die Tatsache, dass primäre Affekte und sekundäre Gefühle zwar verschiedenen Ursprungs sind, dass sie jedoch in gleicher Weise funktionieren und dass sie beide auf das Verhalten des Organismus Einfluss nehmen. Egal ob primäre Affekte oder sekundäre Gefühle, die Neurowissenschaften gehen davon aus, dass in evolutionär älteren Gehirnstrukturen, über das emotionale System, fortwährend Reaktionsselektionen stattfinden, „deren sich der Organismus nicht bewusst ist und die infolgedessen auch nicht willentlich vorgenommen werden” (DAMASIO, 1994, S.178).

11.22.6 Das emotionale Bewertungssystem und die somatischen Marker Das Bewertungssystem des Gedächtnisses ist an Emotionen gekoppelt, die auf das Verhalten des Organismus Einfluss nehmen, indem sie aufgrund angeborener Schaltkreise oder aufgrund von Erfahrungen aus allen Reaktions- und Verhaltensweisen, die dem Organismus zur Verfügung stehen, eine Auswahl treffen. Auf welche Weise signalisiert das emotionale System dem Organismus dieses Verhaltensauswahl? Verhalten hat mit Aktion zu tun. Um Aktionen auszuführen, brauchen wir unseren Körper. Darum liegt es nahe, für dieses Signalsystem eine enge Kopplung von emotionaler Bewertung und körperlichen Reaktionen zu vermuten. Die Neurowissenschaften bestätigen dies. DAMASIO formuliert als eine wesentliche Prämisse seiner Überlegungen: „Das menschliche Gehirn und der restliche Körper 515

Abb. 1 Der hohe und der niedere Weg der Informationsverarbeitung Sensorischer Cortex hoher Weg kortikale Bahn

niederer Weg direkte Bahn Sensorischer Thalamus

Amygdala

Emotionaler Reiz

Emotionale Reaktion

bilden einen unauflöslichen Organismus, integriert durch wechselseitig aufeinander einwirkende biochemische und neuronale Regelkreise, zu denen unter anderem das Hormon-, das Immun- und das autonome Nervensystem gehören” (1994, S.18). Auch für die Signale des emotionalen Systems spielt der Körper eine wichtige Rolle, dies gilt für primäre Affekte und für sekundäre Gefühle gleichermaßen. DAMASIO schreibt: „Da die Natur, wie ein passionierter Bastler, immer auf die Wiederverwertung des vorhandenen Materials bedacht ist, hat sie keine unabhängigen Mechanismen zur Äußerung der primären und der sekundären Gefühle gewählt. Sie lässt die sekundären Gefühle über den gleichen Kanal zum Ausdruck kommen, den sie für die Manifestation der primären Gefühle angelegt hat” (1994, S.192). Der Kanal, über den sich Affekte genauso wie Gefühle äußern, ist der Körper. DAMASIO bringt den Zusammenhang von Emotion und Körpererleben folgendermaßen auf den Punkt: „Nach meiner Ansicht liegt das Wesen des Gefühls in zahlreichen Veränderungen von Körperzuständen, die in unzähligen Organen durch Nervenendigungen hervorgerufen werden” (1994, S.192). An anderer Stelle formuliert er diesen Sachverhalt ein wenig poetischer: „Die Seele atmet durch den Körper und Leiden findet im Fleisch statt, egal ob es in der Haut oder in der Vorstellung beginnt” (1994, S.19). Er nennt den Körper auch „die Bühne der Gefühle” (1994, S.213). DAMASIO beschreibt genau, wie man sich diesen Zusammenhang im Einzelnen vorzustellen hat: „Bei einer typischen Emotion senden ... bestimmte Gehirnregionen, die zu einem weitgehend vorprogrammierten System gehören, nicht nur Befehle an andere Hirngebiete, sondern an fast jeden Ort des übrigen Körpers. Die Befehle werden auf zwei Wegen übertragen. Der eine ist die Blutbahn, wo die Übertragung durch chemische Moleküle erfolgt, die auf die Rezeptoren von Zellen in Körpergeweben einwirken. Den anderen Weg bilden Nervenzellbahnen, und die Befehle auf dieser Route nehmen die Gestalt elektrochemischer Signale an, die auf andere Neuronen, Muskelfasern oder Organe (etwa die Nebenniere) einwirken, die ihrerseits chemische Stoffe in die Blutbahn abgeben können. Das Ergebnis dieser konzentrierten chemischen und neuronalen Kommandos ist eine globale Veränderung im Zustand des Organismus” (2001, S.87). Die enge Vernetzung von Emotionen, Körperempfindungen und Reaktionsselektion wurde von DAMASIO durch seine Forschungen bestätigt. Er hat sie in seiner Theorie der somatischen Marker zusammengefasst. DAMASIO geht davon aus, dass aufgrund von Konditionierungsprozessen „praktisch jedes Objekt” und jede Situation unserer Erfahrung mit Emotionen und den begleitenden Körperzuständen verknüpft werden (2001, S.77). Wenden wir das Konzept der somatischen Marker auf das an, was wir 516

über das Entstehen von neuronalen Netzen gelernt haben. Wenn ein Organismus einem Objekt oder einer Situation ausgesetzt ist, werden nicht nur die entsprechenden Informationen über das entsprechende Objekt oder die Situation in einem neuronalen Netz gespeichert, sondern auch die Emotionen und die Körperempfindungen, die sich aus der Begegnung mit diesem Objekt oder dieser Situation ergeben haben. Erinnern wir uns, dass das Bewertungssystem in seiner ursprünglichen Art dual angelegt ist. Im Hinblick auf das primäre Ziel, das psychobiologische Wohlbefinden, können Begegnungen gut oder schlecht für den Organismus sein. Entsprechend einfach (und darum bestechend elegant) konzipiert DAMASIO auch das System der somatischen Marker. Jedes Objekt oder jede Situation, mit denen ein Organismus Erfahrungen gesammelt hat, hinterlassen einen somatischen Marker, der eine Bewertung dieser Begegnung speichert. Die Bewertung findet statt nach dem System „Gut gewesen, wieder aufsuchen” oder „Schlecht gewesen, das nächste Mal lieber meiden”. Wenn der Organismus sich dann wieder in einer entsprechenden Situation befindet, oder sich in einem vorausschauenden Planungsprozess darüber Gedanken machen muss, wie er mit einer bestimmten Situation umgehen soll, erfährt er über somatische Marker blitzschnell, was zu dieser Thematik bisher an Erfahrungen gesammelt wurde. Natürlich ist die Vernunft bei einem Entscheidungsprozess immer auch beteiligt, aber sie kommt erst zum Einsatz, nachdem die somatischen Marker schon lange tätig waren. Lassen wir DAMASIO (1994) selber sprechen, um eine genauere Vorstellung davon zu bekommen, wie das System der somatischen Marker arbeitet. In einer Entscheidungssituation „reagiert das Gehirn eines normalen, intelligenten und gebildeten Erwachsenen, indem es rasch Szenarien denkbarer Reaktionsmöglichkeiten und der entsprechenden Ergebnisse heraufbeschwört. Für unser Bewusstsein bestehen die Szenarien aus vielfältigen Vorstellungsszenen, die keinen zusammenhängenden Film bilden, sondern nur Schlüsselbilder dieser Szenen aufblitzen lassen, jähe Schnitte, die in raschem Nebeneinander von einem Bild zum anderen springen” (S.234). „Die Schlüsselelemente entfalten sich in unserer Vorstellung sofort, in großen Umrissen und praktisch gleichzeitig, viel zu schnell, um die Einzelheiten klar herauszuarbeiten ... Bevor Sie die Prämissen einer Kosten-Nutzen-Analyse unterziehen und bevor Sie logische Überlegungen zur Lösung des Problems anstellen, geschieht etwas sehr Wichtiges: Wenn das unerwünschte Ergebnis, das mit einer gegebenen Reaktionsmöglichkeit verknüpft ist, in Ihrer Vorstellung auftaucht, haben Sie, und wenn auch nur ganz kurz, eine unangenehme Empfindung im Bauch ... da die Empfindung den Körper betrifft, habe ich dem Phänomen den Terminus somatischer Zustand gegeben (soma ist das griechische Wort für Körper); und da sie ein Vorstellungsbild kennzeichnet oder markiert, bezeichne ich sie als Marker ... Was bewirkt der somatische Marker? Er lenkt die Aufmerksamkeit auf das negative Ergebnis, das eine bestimmte Handlungsweise nach sich ziehen kann” (S.237) ... „Das automatische Signal schützt Sie ohne weitere Umstände vor künftigen Verlusten und gestattet Ihnen dann, unter weniger Alternativen zu wählen. Sie haben immer noch Gelegenheit, eine Kosten-Nutzen-Analyse durchzuführen und saubere Schlussfolgerungen zu ziehen, aber erst nachdem der automatische Schritt die Zahl der Wahlmöglichkeiten erheblich vermindert hat” (S.238). DAMASIOS Beispiel bezieht sich auf den Fall, dass Verhaltensweisen, die aufgrund der Erfahrungen, die ein Organismus gesammelt hat, unerwünschte Ergebnisse nach sich ziehen würden, mit Hilfe von negativen somatischen Markern aus der Palette der Walhlmöglichkeiten ausgeschieden werden. Für die Psychologie sind aber natürlich auch die positiven somatischen Marker von höchstem Interesse. In den mit positiven somatischen Markern verbundenen emotionalen Reaktionen plus den begleitenden Körperreaktionen (der guten Empfindung im Bauch) vermutet man die neurobiologische Basis des Motivationssystems. „Emotionen greifen in die Verhaltensplanung und -steuerung ein, indem sie bei der Handlungsauswahl mitwirken und bestimmte Verhaltensweisen befördern. Als Wille energetisieren sie die Handlungen bei ihrer Ausführung und unterdrücken als Furcht oder Abneigung andere” (ROTH, 517

2001, S.7). Aus eigener Erfahrung können Sie diese Erkenntnis sicher bestätigen. Wenn Sie sich an eine Situation erinnern, in der Sie bewusst den starken Willen verspürt haben, etwas zu tun, dann war dieser Willensakt mit Sicherheit von einem starken Gefühl und/oder von einer Körperempfindung begleitet. Planungsvorgänge ohne körperliche und gefühlsmäßige Begleiterscheiungen bleiben intellektuelles Geplänkel im Kopf, das typischerweise nicht zum Vollzug einer Handlung führt. Für die Psychologie heißt dies, dass vor allem in der Phase der Motivationsarbeit den positiven somatischen Markern eine entscheidende Stellung zukommt. Diese neurowissenschaftliche Perspektive auf das Phänomen der Motivation erlaubt es, die entsprechenden Vorgänge in der menschlichen Psyche unter neuen Aspekten zu operationalisieren. Somatische Marker müssen nicht bewusst wahrgenommen werden, um zu wirken. In einem Experiment mit Spielkarten hat DAMASIO dies belegt (1994, S. 285f). Die Spielkarten waren in mehreren Stapeln verschieden gemischt, einmal zugunsten der Probanden, einmal zuungunsten der Probanden. Nach einiger Zeit, in denen sie Erfahrungen mit den Kartenstapeln sammelten, entschieden die Probanden „mit dem Bauch”, mit welchen Karten sie spielten. Noch lange bevor ihnen ihre Entscheidung für oder gegen einen bestimmten Kartenstapel bewusst wurde, hatten ihre somatischen Marker ihnen mitgeteilt, was gut und was schlecht für sie war. Die körperlichen Begleiterscheinungen der somatischen Marker wurden von DAMASIO mittels eines physiologischen Maßes, des Hauptwiderstandes, ermittelt. Alle Menschen verfügen über dieses System der somatischen Marker und würden in DAMASIOS Experiment Veränderungen des Hauptwiderstandes zeigen, aber nicht alle verfügen über eine Körperwahrnehmung, die genügend trainiert ist, um die körperlichen Signale auch bewusst wahrzunehmen. Für die Wirksamkeit der Selektionsleistung dieses Bewertungssystems ist es jedoch unwesentlich, ob ihr Vorkommen bewusst wahrgenommen wird oder nicht. Die Bewusstmachung von somatischen Markern kann aber für die Psychologie immer dann wichtig werden, wenn Menschen dabei unterstützt werden sollen, ihre guten Entscheidungen bewusst zu treffen, damit sie auch argumentativ vertreten werden können. Wesentlich für die Psychologie ist auch ein weiteres Faktum zum Thema somatische Marker: Somatische Marker können nicht nur in real stattfindenden Situationen, wie in DAMASIOS Kartenexperiment, ausgelöst werden, sondern auch durch Vorstellungen, wie sie bei Menschen in Phasen des bewussten Abwägens und Planens stattfinden. DAMASIO nennt diesen Vorgang die „Als-ob-Schleife” (1994, S.238). „In bestimmten Situationen ist es möglich, sich vorzustellen, wie eine körperliche Rückmeldung sich anfühlen würde, wenn sie einträte” (LeDoux, 2001, S.318). Dies ist natürlich nur möglich, wenn das Gehirn schon etliche reale Rückmeldungen erlebt hat, sodass die Art und Weise, wie eine Rückmeldung sich anfühlt, imaginiert werden kann, weil das Gehirn auf entsprechendes Wissen zurückgreifen kann. Die „Als-ob-Schleife” ist für die Psychologie und die Arbeit mit KlientInnen besonders interessant. Aufgrund dieses Phänomens können wir in der Psychologie auch dann, wenn wir mit KlientInnen im virtuellen Erfahrungsraum des psychologischen Gesprächs Verhaltensalternativen gegeneinander abwägen, damit rechnen, dass das System der somatischen Marker aktiviert wird. Dabei können wir davon ausgehen, dass somatische Marker hochindividuell angelegt sind, denn sie entstehen durch Erfahrung. DAMASIO schreibt: „Die entscheidenden prägenden Reize für die somatische Paarung werden zweifellos in Kindheit und Jugend erworben. Doch die Akkumulation der somatisch markierten Reize endet erst mit dem Ende des Lebens, und deshalb darf man diesen Zuwachs wohl als einen Prozess des fortwährenden Lernens beschreiben” (1994, S.246). Somatische Marker alleine reichen natürlich für die meisten menschlichen Entscheidungsprozesse nicht aus. Im Anschluss an die Vorauswahl, welche von diesem „biologischen Bewertungssystem” getroffen wird, finden in vielen, wenn auch nicht in allen Fällen, noch logische Denkprozesse und eine abschließende Selektion statt. Es gelang DAMASIO je518

doch nachzuweisen, dass Patienten mit Läsionen im präfrontalen Cortex, dem Verarbeitungsort der somatischen Marker, nicht in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen. Sie bleiben in einem nicht endenden Prozess im rationalen Abwägen von Für und Wider stecken und kommen zu keinem Entschluss. DAMASIO hat mit seinen Untersuchungen gezeigt, dass Emotionen und die entsprechenden körperlichen Begleiterscheinungen ein integraler Anteil von Entscheidungsprozessen und damit unentbehrlich für rationales Verhalten sind. Die Erkenntnis, dass Körperempfindungen und Emotion rationale Entscheidungen nicht nur unterstützen, sondern dieselben erst ermöglichen, ist schon spannend genug. Die Ergebnisse von DAMASIO haben jedoch noch weitere Konsequenzen, die für die Psychologie von höchstem Interesse sind. Denn DAMASIOS Überlegungen passen auffallend gut zu den Funktionen, die das Selbstsystem aus persönlichkeitspsychologischer Sicht innehat. Der Motivations- und Persönlichkeitspsychologe KUHL verweist darum bei seinen Überlegungen zur Funktionsweise des Selbstsystems ebenfalls auf DAMASIOS Konzepte. Nach KUHL (2001, 2006) soll das Selbstsystem „die persönliche Relevanz von Handlungsfolgen (z.B. ihr Bedürfnisbefriedigungspotenzial) registrieren und bei zukünftigen Gelegenheiten in die Handlungssteuerung einspeisen. Dazu müssen nicht nur die bei früheren Gelegenheiten ausgeführten Handlungen und ihre Ergebnisse, sondern auch die emotionalen Begleiterscheinungen der Handlungsergebnisse in integrierter Form repräsentiert werden. Ohne diese emotionalen Begleiterscheinungen muss es schwer sein, sich bei einer Wiederkehr ähnlicher Situationen für eine der verschiedenen Reaktionen, die man bei früheren Gelegenheiten schon einmal ausprobiert hat, zu entscheiden” (S.153). Hierbei gehören Körperempfindungen „offensichtlich zu den Signalen, die dem Selbstsystem dabei helfen, sich zwischen den vielen, früher schon einmal ausprobierten Handlungsoptionen zu entscheiden” (ebd., S.153). In der Sprache der Psychologie formuliert, kann man davon ausgehen, dass das emotionale System nicht nur generell eine Unterstützung bei Entscheidungsprozessen bietet, dass es nicht nur dabei hilft, durch positive somatische Marker Motivation und Willensakte auszulösen, sondern dass es auch direkte Spiegelungen dessen ist, was tiefstes Selbsterleben ausmacht. Das heißt als Konsequenz: Das Auftauchen von positiven somatischen Markern ist ein direkter Wegweiser zu den Themen, Inhalten, Absichten und Plänen, die von dem Selbstsystem unserer KlientInnen unterstützt werden. Somatische Marker können in diesem Zusammenhang also als diagnostisches Leitsystem für Selbstkongruenz eingesetzt werden. Sie zeigen an, wann ein Mensch eine Entscheidung gefällt hat, die er als zu sich selbst passend erlebt. Der große Vorteil für die Psychologie, wenn sie mit somatischen Markern als diagnostischem Leitsystem arbeitet, ist der, dass somatische Marker auf Körperzuständen beruhen. Das heißt, sie sind relativ einfach beobachtbar, messbar und damit objektivierbar. Der schwer operationalisierbare Begriff des Selbst könnte durch das Leitsystem der somatischen Marker wissenschaftlicher Forschung und therapeutischer Praxis besser zugänglich werden.

11.22.7 Wer entscheidet — Gefühl oder Verstand? Bis zu diesem Punkt haben wir uns mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass Emotionen über das körperliche Signalsystem der somatischen Marker bei der Bewertung von Erfahrungen und bei der Entscheidungsfindung eine wesentliche Rolle spielen. Als nächster Schritt wäre zu klären, welche Rolle denn der Vernunft aus neurowissenschaftlicher Sicht überhaupt noch zukommt. ROTH (2001) spitzt diese Frage in einer Kapitalüberschrift folgendermaßen zu: „Verstand und Gefühle — wer beherrscht wen?” (S.318).

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Um diese Frage zu beantworten, ziehen wir eine Systematik von ROTH (2001) heran, die das Zusammenspiel von Vernunft und Emotion einleuchtend erklärt. Wir wissen, dass bei der Erzeugung von Emotionen das limbische System eine entscheidende Rolle spielt. ROTH unterscheidet zwei Ebenen des limbischen Systems: die kortikale Ebene und die subkortikale Ebene. Auf der kortikalen Ebene finden bewusste und bewusstseinsfähige Lern- und Bewertungsvorgänge statt, die dem entsprechen, was wir in der Alltagssprache mit dem Begriff Vernunft bezeichnen. Hier finden sich bewusste und detaillierte Wahrnehmungen sowie autobiographische Gedächtnisinhalte, die „durch Erziehung stark beeinflusst werden und in der Regel in gesellschaftliche Normen und Moralvorstellungen einmünden” (ROTH, 2001, S.320). Die Vorgänge auf der subkortikalen Ebene verlaufen unbewusst. Die subkortikale Ebene des limbischen Systems umfasst nach ROTH zwei Elemente: Zum einen sind dies die primären Affekte, die Zustände wie z.B. Wut, Furcht, Lust, reaktive Aggression zur Verteidigung oder Flucht hervorbringen. Diese unterste Ebene des limbischen Systems ist durch bewusste Einflussnahme nicht einfach zu erreichen. ROTH schreibt: „Diese Ebene ist nur sehr schwer bewusst zu steuern, und die in ihr ablaufenden Prozesse stellen zu einem guten Teil das dar, war wir Persönlichkeit nennen” (2001, S.318). Zum anderen finden sich auf der subkortikalen Ebene des limbischen Systems die sekundären Gefühle, die ROTH das „emotionale Erfahrungsgedächtnis” nennt. Das emotionale Erfahrungsgedächtnis beruht auf Konditionierungsprozessen und beginnt seine Arbeit „bereits im Mutterleib, also weit vor dem Einsatz des bewussten Denkens” (Roth, 2001, S.320). Es bewertet „alles, was der Körper tut, nach den positiven und negativen Konsequenzen dieses Tuns” (ebd.) und speichert diese Bewertungen ab. Auch auf diese Ebene hat das Bewusstsein nur beschränkte Einflussmöglichkeiten. Wenn es nun darum geht, zu beschreiben, wie das Zusammenspiel von kortikaler und subkortikaler Ebene funktioniert, kann man generell davon ausgehen, dass „die Wirkungen von unten nach oben stärker sind als die in umgekehrter Richtung” (ROTH, 2001, S.321). RATEY (2001) schreibt: „Es gibt sehr viel mehr Verbindungen von dem kleinen, für Emotionen zuständigen limbischen Zentrum zu den großen, für logisches und rationales Denken zuständigen Zentren der Hirnrinde als umgekehrt” (S.273). ROTH erläutert die Folgen dieses Unterschiedes an einem einleuchtenden Beispiel: „Ein konstitutionell oder aufgrund frühkindlicher Konditionierung ängstlicher Mensch kann sich nur wenig damit beruhigen, dass er sich sagt, von der anstehenden Prüfung hänge eigentlich gar nichts ab; angstfrei wird er durch diese Erkenntnis bestimmt nicht” (2001, S.320). ROTH bringt diese Erkenntnis der Neurowissenschaften in Zusammenhang mit FREUDS Vorstellungen von der Wirkungsweise des Unbewussten und schreibt: „Das unbewusste, limbische Erfahrungsgedächtnis lenkt — hierin ist FREUD zweifellos zuzustimmen — unser Handeln stärker als unser bewusstes Ich; es äußert sich als Motive, Zu- und Abneigungen, Stimmungen, Antriebe, Wünsche und Pläne, die als relativ diffus und detailarm empfunden werden” (2001, S.373). Abbildung 2 zeigt mit dicken und dünnen Pfeilen, wie ROTH sich die Stärke der Einwirkung, die die kortikale und die subkortikale Ebene wechselseitig vornehmen können, vorstellt. Auch dem Verstand — der kortikalen Ebene — kommt eine wichtige Rolle bei der Verhaltenssteuerung zu. Der Verstand wird immer dann benötigt, „wenn sich das Gehirn mit Problemen konfrontiert sieht, für die das emotionale Gedächtnis noch keine Vorgaben machen kann ... In einer solchen Situation muss uns dann neben den Versatzstücken vergangener Erfahrungen das Nachdenken über möglicherweise eintretende Ereignisse und Verhaltensweisen helfen. Ebenso wichtig ist der Verstand, wenn es um langfristige Planungen geht, in denen viele verschiedene Gesichtspunkte und Erfahrungen miteinander kombiniert werden müssen” (ROTH, 2001, S.321). Wie wir von den Überlegungen DAMASIOS wissen, sind jedoch auch diese bewussten Verstandesprozesse wiederum auf die mit dem emotionalen 520

Abb. 2 Das Zusammenspiel von kortikaler und subkortikaler Ebene Schnelles, explizites Lernen und Umlernen Kortikale Ebene

Dorsolateraler, orbitofrontaler PFC, cingulärer, parietaler und temporaler Cortex

Episodisch — autobiografisches Gedächtnis, nicht emotional

Detailliert

Subkortikale Ebene

Bewusste kognitive, emotionale und exekutive Zustände

Langsames, implizites, nachhaltiges Lernen und Umlernen

Cortex — Hippocampus

Emotionales Erfahrungsgedächtnis Basolaterale Amygdala, mesolimbisches System, limbische thalamische Kerne, Insel

Angeborene Affektzustände

Diffus

Autonomes NS, Hypothalamus, retikuläre Formation, PAG, mesolimbisches System, zentrale Amygdala

Erfahrungsgedächtnis gekoppelten somatischen Marker als Bezugssystem angewiesen, um nach einer Phase des Abwägens letztendlich zu einem Entschluss zu kommen. Darum hat ROTH das Zusammenspiel zwischen kortikaler und subkortikaler Ebene in seiner grafischen Darstellung auch als zirkuläre Verläufe abgebildet. Kortikale und subkortikale Prozesse bilden bei der Verhaltenssteuerung eine Einheit, wenn auch mit unterschiedlichen Wirkungsstärken der Einflussnahme. DENEKE (2001) bringt diesen Zusammenhang mit deutlichen Worten auf den Punkt und äußert sich damit auch zu einer Debatte, die in der Psychologie eine lange Tradition hat: „In der kognitiven Psychologie hat man sich die Frage gestellt (vgl. GOLLER, 1992), ob primär die Gedanken die Gefühle anstoßen oder umgekehrt. Diese sogenannte Kognitions-Emotions-Debatte scheint mir überflüssig wie ein Kropf zu sein, wenn man auf neurophysiologischer Ebene die Komplexität und den Wechselwirkungscharakter der Teilprozesse betrachtet, die uns fühlen lassen” (S.109). Weil Emotionen, wie wir schon gesehen haben, immer mit Körperprozessen einhergehen, müssen wir davon ausgehen, dass die Kognitions-Emotions-Debatte, die DENEKE erwähnt, sowieso zu kurz greift, denn in diese Überlegungen muss auch die körperliche Ebene mit einbezogen werden. Folgerichtig entwickeln KOUKKOU und LEHMANN einen ganzheitlichen Ansatz (1998a): „Emotionen setzen vegetativ-hormonelle Veränderungen oder Kognitionen ... weder voraus noch sind sie die Folge davon, da sie untrennbare Teile der Synthese sind, die all diese Aspekte beeinhaltet” (S.335). Auch wenn wir uns diesen Entwürfen anschließen und davon ausgehen, dass die verschiedenen Ebenen von Kognition, Emotion und körperlichen Prozessen in einem großartigen wechselseitigen Zusammenspiel funktionieren, bleibt doch für die Psychologie die Frage der Steuerungsmöglichkeiten von größtem Interesse. Wenn der von ROTH zitierte Mensch mit Prüfungsangst zu uns in die Praxis kommt, 521

erwartet er, dass die Psychologie eine Vorgehensweise anzubieten hat, mit der sein subkortikales System beeinflusst werden kann, sodass er seine Angst in den Griff bekommt. Einen lapidaren Hinweis darauf, dass nun mal leider die Einflussnahme der subkortikalen Systeme auf den Organismus größer sei als der Einfluss bewusster Überlegungen würde unser Klient vermutlich nicht als die erhoffte Hilfe akzeptieren. Wir wollen uns darum im Folgenden damit befassen, welche Zugriffsmöglichkeiten auf das subkorikale System bekannt sind. Denn hier müssen wir, so die Erkenntnis aus den Ergebnissen der Neurowissenschaften, ansetzen, wenn wir Wahrnehmungs- und Reaktionsbereitschaften und damit letztendlich Verhalten nachhaltig ändern wollen.

11.22.8 Psychische Entwicklung aus neurowissenschaftlicher Sicht Wir haben uns am Anfang damit befasst, dass das psychische System als Gedächtnis aufgefasst werden kann, das durch Lernen bestimmte Inhalte erwirbt, die dann zur Verhaltenssteuerung eingesetzt werden. Bleibt man in diesem Modell von Psyche, so kann man psychische Entwicklung als Erweiterung von Gedächtnisinhalten und damit als Lernen beschreiben. Folgerichtig schlägt GRAWE (1998) vor, Psychotherapie „als das Verändern von Gedächtnisinhalten” (S.269) zu betrachten. An anderer Stelle schreibt er: „Jede Psychotherapie richtet sich zu einem wesentlichen Teil auf die dauerhafte Veränderung willkürlich steuerbaren Verhaltens aus. Solche Veränderungen müssen als ein komplexer Lernprozess betrachtet werden. Deshalb brauchen wir in der Psychotherapie Modelle, die diesem komplexen ... Lernprozess gerecht werden” (S.276). Nach GRAWE ist das Ziel von Psychotherapie, willkürlich steuerbares Verhalten zu beeinflussen. Wie wir am Beispiel des Menschen mit Prüfungsangst gesehen haben, ist dies aufgrund der Funktionsweise unseres Gehirns jedoch nicht immer so einfach. Wie sollen wir den Anteil willkürlich steuerbaren Verhaltens erhöhen, wenn unbewusst arbeitende Systeme des Gehirns einen so mächtigen Einfluss auf das Verhalten nehmen? Um diese Frage zu beantworten, ist es sinnvoll, zunächst zwei Begriffe einzuführen, die in der entsprechenden Literatur zum Thema Gedächtnis weit verbreitet sind. Hierzu lassen wir wieder ROTH (2001) zu Wort kommen: „Nach Jahrzehnten intensiver Erforschung des Gedächtnisses des Menschen und anderer Primaten herrscht derzeit überraschende Einigkeit über die Klassifikation von Gedächtnisleistungen. Zwei Grundtypen werden dabei unterschieden. Der amerikanische Psychologe LARRY SQUIRE (1987) prägte in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts das Gegensatzpaar deklaratives versus prozedurales Gedächtnis, sein Kollege DANIEL SCHACTER (1987) stellte explizites und implizites Gedächtnis gegenüber; andere Gegensatzpaare sind kontrolliert versus automatisiert. Gemeinsam ist allen ersteren Begriffen, dass sie sich auf Gedächtnisinhalte beziehen, die von Bewusstsein begleitet sein und sprachlich berichtet werden können, während dies für die letzteren Begriffe nicht oder nicht notwendig gilt” (S.152). Die Funktionsweise der beiden Gedächtnisarten ist verschieden, sie beruht auch hirnanatomisch auf verschiedenen Strukturen (LEDOUX, 2003), die ihrerseits nach unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten arbeiten (MISCHEL, 2003). Explizite Prozesse benötigen Zeit und Aufmerksamkeit, implizite Prozesse können automatisiert in Sekundenschnelle abgerufen werden. Explizite Prozesse sind störungsanfällig, implizite Prozesse laufen, wenn sie einmal ausgelöst wurden, mit hoher Zuverlässigkeit ab. Da explizite Prozesse energetisch-stoffwechselphysiologisch sehr viel teurer sind als implizite Prozesse, bezeichnet ROTH (2001) sie als ein besonderes Werkzeug des Gehirns (S.231). Bewusstsein ist aus der Sicht des Organismus ein Zustand, „der tunlichst vermieden und nur im Notfall einzusetzen ist” (ROTH, 2001, S.231). Explizite, mit Bewusstsein verbundene Prozesse werden vom Gehirn nur dann aufgerufen, wenn in einem unterhalb der Bewusstseinsschwelle verlaufenden Prozess, der in den Neurowis522

senschaften präattentive Wahrnehmung genannt wird, ein Objekt oder eine Situation als neu und/oder als wichtig eingestuft wurde. Wenn die präattentive Wahrnehmung einen Sachverhalt als bekannt und/ oder unwichtig einstuft, wird der implizite Verarbeitungsmodus eingeschaltet. Das Gehirn ist darauf aus, auch Inhalte, für deren Bearbeitung zunächst viel Aufmerksamkeit und teure Bewusstheit nötig war, so bald als möglich ins implizite Gedächtnis zu überführen. Dies geschieht durch Wiederholung und Übung. In dem Maße, in dem Leistungen wiederholt werden, sich einüben und schließlich mehr oder weniger automatisiert und damit müheloser werden, schwindet auch der Aufwand an Bewusstheit und Aufmerksamkeit, bis am Ende — wenn überhaupt — nur ein begleitendes Bewusstsein übrig bleibt (WILSON, 2007). Wenn Sie den Unterschied von Ihrer ersten Fahrstunde zu der Art und Weise, wie Sie heute Auto fahren, bedenken, wird Ihnen der Unterschied zwischen expliziten und impliziten Prozessen vermutlich ohne Weiteres deutlich. Grundsätzlich ist die Fähigkeit des Gehirns, viele Dinge im impliziten Modus automatisiert abzuwickeln, meistens von Vorteil. Für psychologische Prozesse allerdings kann diese Fähigkeit manchmal zum Problem werden. Bleiben wir beim Beispiel des Menschen mit Prüfungsangst, dem wir gerne helfen wollen. In welchem der beiden Gedächtnissysteme ist seine Prüfungsangst gespeichert? Wo haben wir uns den Sitz des emotionalen Erfahrungsgedächtnisses vorzustellen? Die Antwort der Neurowissenschaften ist eindeutig: Für das emotionale Erfahrungsgedächtnis gilt, dass emotionales Lernen in seinen wesentlichen Teilen implizit verläuft. Das emotionale Erfahrungsgedächtnis ist also ein Teil des impliziten Gedächtnissystems. Dies ist aus der Sicht des Gehirns auch gut so, denn, wie ROTH schreibt: „unsere konditionierten Gefühle sind ja nichts anderes als konzentrierte Lebenserfahrung” (S.321). Der Organismus tut darum gut daran, diese konzentrierte Lebenserfahrung in dem schnell abrufbaren und mit höchster Zuverlässigkeit arbeitenden impliziten Modus zur Verfügung zu stellen. An dieser Stelle sei noch einmal der Spruch von LEDOUX „Die Schnellen und die Toten” in Erinnerung gerufen. In die Quere kommt uns dieser an sich sinnvolle Vorgang nur dann, wenn im emotionalen Erfahrungsgedächtnis etwas gespeichert ist, das automatisch und damit sehr schnell und zuverlässig abläuft, das aber nicht zum psychobiologischen Wohlbefinden des Organismus beiträgt. In diesen Fällen muss die Psychologie daran arbeiten, den unwillkommenen Automatismus durch einen neuen, im Sinne des psychobiologischen Wohlbefindens nützlichen Automatismus zu ersetzen. Wie sieht dieser Vorgang auf neuronaler Ebene aus? Die Gedächtnisinhalte sind, das haben wir schon gesehen, auf neuronaler Ebene in Form von neuronalen Netzen und entsprechenden Erregungsmustern gespeichert. Diese Tatsache gilt für das explizite und für das implizite Gedächtnis gleichermaßen. Auch psychisches Geschehen kann in dieser Terminologie gefasst werden. GRAWE (1998) geht davon aus, dass „allen Eigenarten des psychischen Geschehens bestimmte neuronale Erregunsmuster (S.265)” zugrunde liegen. „Die Bereitschaften zu diesen Erregungsmustern sind in verschiedenen Gedächtnisarten gespeichert” (ebd.). Außerdem wissen wir, dass bei Erregungsmustern, die stark gebahnt sind, die Aktivierung eines Teils „wegen der starken Vorbahnung zur Aktivierung des ganzen Zellverbandes” (ebd.) führt. Eine beabsichtigte Reaktionsoder Verhaltensänderung wäre in diesem Sinne ein neues neuronales Netz, das so stark gebahnt werden muss, dass es als neuer Automatismus den alten, unerwünschten Automatismus ersetzt. Das erwünschte neuronale Erregungsmuster muss aus dem expliziten Modus in den impliziten Modus überführt werden, wo es zuverlässig und störungsfrei ablaufen kann (ROTH, 2003). Dies ist vom Prinzip her wiederum sehr einfach und elegant zu beschreiben, darum ist die neurowissenschaftliche Sichtweise auch so hilfsreich als Orientierungshilfe für die Psychologie. Von der Umsetzung her ist das Erlernen und Automatisieren eines neuen neuronalen Erregungsmusters natürlich mit all den Schwierigkeiten und Mühen verbunden, die für Lernen allgemein gelten: Zeit, Geduld und Ausdauer werden benötigt. Autofahren lernt man schließlich auch nicht an einem Tag. GRAWE schreibt 523

hierzu: „Solange solche neu entstandenen Erregungsmuster noch nicht eingespielt sind, benötigen sie bewusste Verarbeitungskapazität. Durch häufige Wiederholungen werden die neu entstandenen Verbindungen aber immer besser gebahnt. Sie sind immer leichter aktivierbar und gewinnen so immer leichter Einfluss auf die psychische Aktivität, ohne dass dies mit Bewusstsein verbunden ist.” (1998, S.266).

11.22.9 Basisliteratur BARTLETT, F.C. (1932): Remembering: A Study in Experimental and Social Psychology. Cambridge, Cambridge University Press DAMASIO, A. (1994): Descartes' Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München, List DAMASIO, A. (2001): Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstsein. München, List DENEKE, F.-W. (2001): Psychische Struktur und Gehirn. Die Gestaltung subjektiver Wirklichkeiten. Stuttgart, Schattauer EDELMAN, G.M. (1987): Neural Darwinism. The Theory of Neuronal Group Selection. New York, Basic Books GOLLER, H. (1992): Emotionspsychologie und Leib-Seele-Problem. Stuttgart. Kohlhammer GRAWE, K. (1998): Psychologische Psychotherapie. Göttingen, Hogrefe HEBB, D. (1949): The Organisation of Behavier. New York, Wiley HÜTHER, G. (1997): Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht HÜTHER, G. (2001): Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht KOUKKOU, M./LEHMANN, D. (1998a): Ein systemtheoretisch orientiertes Modell der Funktionen des menschlichen Gehirns und die Ontogenese des Verhaltens. In M. Leuzinger-Bohleber, W. Mertens und M. Koukkou (Hrsg.) Erinnerungen von Wirklichkeiten. Psychanalyse und Neurowissenschaften im Dialog (Band 1, S.287-415). Stuttgart, Verlag Internationale Psychoanalyse KOUKKOU, M./LEHRMANN, D. (1998b): Die Pathogenese der Neurose und der Wirkungsweg der psychoanalytischen Behandlung aus der Sicht des Zustandswechsel-Modells der Hirnfunktionen. In M. Leuzinger-Bohleber, W. Mertens und M. Koukkou (Hrsg.). Erinnerungen von Wirklichkeiten. Psychoanalyse und Neurowissenschaften im Dialog (Band 2, 162-195). Stuttgart, Verlag Internationale Psychoanalyse KUHL, J. (2001): Motivation und Persönlichkeit. Interaktionen psychischer Systeme. Göttingen, Hogrefe KUHL, J. (2006): Individuelle Unterschiede in der Selbststeuerung. In J. Heckhausen und H. Heckhausen (Hrsg.) Motivation und Handeln, 3. Auflg. (S.303-330). Heidelberg, Springer LEDOUX, J. (2001): Das Netz der Gefühle. Wie Emotionen entstehen. München, Deutscher Taschenbuchverlag LEDOUX, J. (2003): Das Netz der Persönlichkeit. Wie unser Selbst entsteht. Düsseldorf, Walter MISCHEL, W./MORF, C.C. (2003): The self as a psycho-social dynamic processingsystem: A meta perspective on a century of the self in psychologiy. In M. Leary und J.P. Tangney (Eds.), Handbook of Self an Identity (S.15-43). NEISSER, U. (1974): Kognitive Psychologie. Stuttgart, Klett NEISSER, U. (1976): Cognition and Reality. Principles and Implications of Cognitive Psychology. San Francisco, Freeman 524

PIAGET, J. (1976): Die Aquilibration der kongnitiven Strukturen. Stuttgart, Klett RATEY, J.J. (2001): Das menschliche Gehirn. Eine Gebrauchsanweisung. Düsseldorf, Walter ROTH, G. (1996): Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt am Main, Suhrkamp ROTH, G. (2001): Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Frankfurt am Main, Suhrkamp ROTH, D. (2003): Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn. Neuronale Plastizität als Grundlage einer biopsychosozialen Medizin. Stuttgart, Schattauer SCHACTER, D.L. (1987): Critical review: Implicit memory, history and current status. Journal of Experimental Psychologie: Leraning, Memora, and Cognition, 13, 501-518 TASCHACHER, W. (1997): Prozessgestalten. Göttingen, Hogrefe SQUIRE, L.R. (1987): Memory and Brain. Oxford, Oxford University Press WILSON, T.D. (2007): Gestatten, mein Name ist Ich. Das adaptive Unbewusste — eine psychologische Entdeckungsreise. Zürich, Pendo

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11.23 Pädagogik von Lars Kilian

11.23.1 Einleitung „Der Versuch, anderen Menschen (Studierenden, Eltern oder Schülern) eine Einführung in die Pädagogik angedeihen zu lassen, und sie in wissenschaftlich fundierte Formen des pädagogischen Denkens einzuführen, … (stellt) nur auf den ersten Blick als leichtes Unterfangen dar, verfügen wir doch alle selbst über reichhaltige Erfahrungen mit Pädagogen und der Pädagogik.“ (ARNOLD 2004, S.1). Dennoch soll in diesem Beitrag der Versuch unternommen werden, eine kurze Einführung in die Wissenschaftsdisziplin Pädagogik zu geben.

11.23.2 Ursprünge und Quellen der Wissenschaftsdisziplin Auch wenn der Begriff „Pädagogik“ dem griechischen paidagogos (dem Knabenführer) entstammt, ist die Pädagogik als Wissenschaftsdisziplin eher jung. Bis vor ca. 200 Jahren wurde sie von der Theologie oder Philosophie „mitverwaltet“ (KRON 1996, S.23). Erst im 19. Jh., mit der Herausbildung der Sozialwissenschaften (Soziologie und Psychologie), emanzipieren sich die Gegenstandsbereiche, das Reflexionsniveau und die Methoden der Pädagogik als Wissenschaft von denen der Philosophie und Theologie (ebd. S.25). Grundsätzlich beschäftigt sich Pädagogik mit den Fragen nach Bildung und Erziehung des Menschen. Vor diesem Hintergrund versteht sie sich auch als transformative Wissenschaft, das heißt, sie geht von einer Fortentwicklung und Gestaltbarkeit von Bildung und Erziehung aus, welche sie auf Basis eines Dreischritts — Analyse, Kritik und Handlung — entwirft (vgl. ARNOLD 2008, S.56). Darüber hinaus ist sie als kritisch-konstruktive Handlungswissenschaft mit anderen gesellschaftlichen Teilsystemen wie dem ökonomischen, dem politisch-sozialen und dem soziokulturellen System fest verankert (ARNOLD und PÄTZOLD 2002, S.141) und kann ohne diese kaum gedacht werden. Das kritisch-konstruktive Moment kann dadurch begründet werden, dass die Pädagogik Gegebenes analysiert und kritisch hinterfragt, um daraus konstruktive Handlungsmöglichkeiten zu generieren. „Und in dieser Dreidimensionalität unterscheidet sie sich von anderen Wissenschaften“ (ARNOLD 2008, S.56). Durch die Verquickung mit anderen Teilsystemen wird es schwierig, „Praxisfelder, Wirklichkeitsbereiche und Wissenschaften systematisch zu ordnen“ (BENNER 2001, S.15). Dies gilt nicht nur für das „Verhältnis der Pädagogik zu anderen Praxisformen und Wissenschaften, sondern auch innerhalb der Pädagogik selbst (…) Pädagogik und Erziehungswissenschaft haben sich inzwischen in eine Vielzahl von Handlungsfeldern und Einzeldisziplinen ausdifferenziert. Diese sind untereinander kaum noch durch eine übergreifende Fragestellung verbunden und werden oft nur mehr durch das lockere Band eines gemeinsamen Namens verbunden“ (ebd., S.14f). U.a. durch diese Verstrickungen ist die Pädagogik ständig im Ringen um Autonomie und Eigenständigkeit als Wissenschaft und kann als „Grundzug der Wissenschaftsentwicklung der Pädagogik angesehen werden. Es ist aber auch der Pädagogik als einer Wissenschaft, die sich wertmäßig 526

als „Anwalt” des Menschen, seiner Bildung und Aufhebung von Verhinderungen hierzu versteht, sozusagen wesensimmanent“ (KRON 1996, S.26).

11.23.3 Entwicklung und bedeutende Richtungen der Wissenschaftsdisziplin und deren Vertreter Zur Zeit der Entstehung einer Wissenschaftsdisziplin Pädagogik, war diese inhaltlich noch stark den damaligen Fragestellungen verhaftet und beschäftigte sich mit Themen wie der Disziplin, Wartung oder Unterweisung der „Zöglinge“ durch den Pädagogen. Einen maßgeblichen Schub für die Bedeutung der Pädagogik lieferte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Herbartianismus, benannt nach dem Pädagogen JOHANN FRIEDRICH HERBART (1776-1841). Einer seiner Schüler, TUISCON ZILLER (1817-1882) verhalf den Gedanken HERBARTS zu Popularität, u.a. als Gründungsvorsitzender des „Vereins für wissenschaftliche Pädagogik“ 1868. Hervorzuhebende Leistungen dieser Strömung waren neben der Verbreitung einer wissenschaftlichen Pädagogik die (Fort-)Entwicklung der Didaktik und der Lehrerausbildung. Zentrale Elemente des Herbartianismus waren die Methodisierung des Unterrichts, die Planbarkeit von Erziehungsprozessen und die Begründung der Pädagogik durch eine christliche Individualethik (RAITHEL; DOLLINGER u.a. 2005, S.156f). Die Erziehung war durch feststehende ethische Ideale normiert. Gründe für den Untergang der Herbartianer können z.B. in der damals zunehmend fehlenden Beziehung zu naturwissenschaftlichen Strömungen sowie nicht ausgeprägten (jedoch selbst postulierten) fundierten wissenschaftlichen Grundlagen oder im Ausbau alternativer Lehrerbildungssysteme gesehen werden (ZEDLER; KÖNIG u.a. 1989, S.90ff). Weiterhin wurde ihnen der fehlende Bezug zum Kind durch eine eher statische Didaktik des Unterrichts vorgeworfen, den spätere reformpädagogische Ansätze einzulösen versuchten. Eine Emanzipation von den Disziplinen Theologie und Philosophie bezüglich der Methodik und des Gegenstandsbereichs kann im 19. Jahrhundert durch die Ausrichtung an den neu aufkommenden Sozialwissenschaften und die „Abhebung zu Strömungen der Humanwissenschaften, die das damalige naturwissenschaftliche Weltverständnis allzu naiv auf die Wissenschaften vom Menschen übertragen haben“ (KRON 1996, S.25), nachgezeichnet werden. DILTHEY (1833-1911), der Begründer der modernen Pädagogik, hier der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, führte die Methode des Verstehens ein und erweitert diese zur Hermeneutik als Theorie der verstehenden Auslegung menschlichen Handelns. Damit grenzt er die Geisteswissenschaften von den erklärenden Methoden der Naturwissenschaften (aber auch der Anthropologie und Psychologie) ab (ebd., S.25). Anders als beim Herbartianismus ging die geisteswissenschaftliche Pädagogik von einer Gesamtheit der Erziehungswirklichkeit aus, welche geschichtlich zu verstehen und auszulegen ist. Damit ist der (zu entwickelnden) Theorie eine (zu verstehende) Praxis — die Erziehungswirklichkeit — vorgegeben. Diese Erziehungswirklichkeit hat für den zu Erziehenden eine Bedeutung und ist geschichtlich verankert. Somit ist das Verstehen der „Biografie“ des zu Erziehenden grundlegend für das pädagogische Wirken. Die geisteswissenschaftliche Pädagogik rückt also die Subjektivität des zu Erziehenden in den Mittelpunkt des Handelns, ohne dabei die kulturelle Integration des Subjekts zu ignorieren (vgl. RAITHEL; DOLLINGER u.a. 2005, S.166ff). Insgesamt herrschte diese pädagogische Strömung von ca. 1920 bis 1970 vor, bevor sie von der empirischen Erziehungswissenschaft in der sogenannten „realistischen Wende“, die ein „gänzlich anderes Modell der Er527

ziehungswirklichkeit, der Forschungsmethoden und auch ein spezifisches Modell von Wissenschaft insgesamt für verbindlich erklärte“ (ebd., S.174). Hat die Pädagogik zu Beginn der Entwicklung versucht, sich von den Methoden der Naturwissenschaften abzugrenzen, entwickelt sich nun ein gegenläufiger Strang. Neben die Hermeneutik treten wieder empirische, dialektische oder phänomenologische Denkansätze als Methoden der Geisteswissenschaften; quantitative Methoden wie bspw. Experiment und Test stehen neben qualitativen Verfahren wie z.B. Interview und Textanalyse. Begründet werden kann diese „Öffnung“, „um einen dem sozialen Forschungsgegenstand angemessenen humanen wissenschaftlichen Zugang und Zugriff zu ermöglichen“ (Kron 1996, S.26f), um die Erziehungswirklichkeit zu erklären. Auch die einst notwendige Abgrenzung von anderen Wissenschaften zugunsten der Emanzipation des Eigenen wurde „überholt“. So steht die Pädagogik heute in enger Kooperation mit z.B. Soziologie, Psychologie, Philosophie, Anthropologie, der Medizin (in jüngster Zeit gewinnen auch die Neurowissenschaften zunehmende Beachtung (vgl. hierzu exemplarisch SPITZER 2009) oder der Informatik (Stichwort: E-Learning). Die empirische Erziehungswissenschaft ist keine einheitliche Theorie, vielmehr ist „diesen Ansätzen (…) der Versuch gemeinsam, empirisch-analytische Denkweisen zum zentralen Bestandteil der Erziehungswissenschaft zu machen“ (RAITHEL; DOLLINGER u.a. 2005, S.177). Nach RAITHEL u.a. (2005, S.178ff) lassen sich zwei erkenntnistheoretische Programme empirischer Erziehungswissenschaft unterscheiden. Der Empirismus/Positivismus/Neopositivismus und der kritische Rationalismus. Für Empirismus und Positivismus ist die wahrnehmbare Welt das Fundament der Erkenntnis. Während der Empirismus aus Sinneserfahrungen die Erkenntnisse ableitet, lehnt der Positivismus jedes spekulative Zu-Ende-Denken von Erfahrungen ab. Der Neopositivismus berücksichtigt darüber hinaus auch das erkennende Subjekt, welches den Forschungsgegenstand und -prozess mit beeinflusst. Dadurch ergibt sich die Anforderung, dass Theorien im Neopositivismus logisch, allgemeingültig, wertfrei und nachprüfbar sein müssen. Während die erstgenannten Strömungen versuchen, die Theorien über die Welt durch Wahrnehmung aufzustellen und diese so zu erklären, geht der kritische Rationalismus den umgekehrten Weg: am Anfang jeder Wissenschaft, so die Ansicht des kritischen Rationalismus, steht eine Theorie, welche als Grundlage der Beobachtung dient. Die Theorie hat so lange Gültigkeit, bis sie widerlegt (falsifiziert) ist, die Überprüfung von Hypothesen steht im Zentrum der Forschungstätigkeit. Somit sind Theorien Systeme von widerspruchslosen, allgemeingültigen, widerlegbaren, wertfreien und nachprüfbaren Sätzen. Einer der bekanntesten Vertreter dieser Strömung ist KARL RAIMUND POPPER (19021994). Als letzte hier vorgestellte Strömung, welche für die Pädagogik von Bedeutung ist, soll die kritische Erziehungswissenschaft, welche auf die kritische Theorie (MAX HORKHEIMER) aufbaut, genannt werden. Diese kritisiert traditionelle Wissenschaftsauffassungen als „glühende Tatsachenverehrung und dadurch notwendigerweise auch eine „Reproduktion von Bestehenden“ (RAITHEL; DOLLINGER u.a. 2005, S.184f.) und die Tatsache, dass Wissenschaft ungeachtet der zukünftigen Verwendungsmöglichkeiten Wissen produziert. Aus Perspektive der kritischen Theorie muss Wissenschaft der Befreiung und Selbstaufklärung der Menschen und Gesellschaft dienen. Damit zielt sie auf die kritische Analyse gesellschaftlicher Bedingungen mit dem Zweck, eine vernünftige Gesellschaft mit mündigen und emanzipierten Bürgern zu errichten. Mündigkeit ist dabei die Selbstreflexion des Menschen. Dieses Ziel, die Ausbildung kritischer, mündiger und emanzipierter Subjekte hat sich die kritische Erziehungswissenschaft zu eigen gemacht. Jedoch reichte eine Orientierung an diesen Maßstäben für pädagogisches Handeln nicht aus, da es an, für die Umsetzung des Ziels notwendigen pädagogischen, Kriterien fehlte. MOLLENHAUER, ein Vertreter und 528

Begründer der kritischen Erziehungswissenschaft, stellt rückblickend fest: „Der Begriff der Emanzipation wurde (...) kaum — wenn ich nicht irre — wirklich und ausdrücklich pädagogisch expliziert. Er blieb eine Art „Lehnwort”, ein Ausdruck zur (relativ unbestimmten) Bezeichnung einer geschichtspraktisch-politischen Perspektive in Richtung auf „freiere”, „gerechtere”, „brüderlichere” Bedingungen des Zusammenlebens“ (MOLLENHAUER 1982, S.256). Seit ca. 1975 entwickelt sich ein zunehmender Theorienpluralismus, der Strömungen wie bspw. die historisch-materialistische Pädagogik, die psychoanalytische Pädagogik, die systemtheoretische Pädagogik, die ökologische Pädagogik oder die feministische Pädagogik, um nur einige zu nennen, hervorbrachte. Vertiefend sei auf die Literatur von ARNOLD und PÄTZOLD (2002, S.17) oder RAITHEL u.a. (2005, S.191ff) verwiesen.

11.23.4 Typische Fragestellungen in der Wissenschaftsdisziplin Der knappe Abriss der Geschichte der pädagogischen Entwicklung zeigt bereits ansatzweise, dass die Pädagogik als Wissenschaft ein breites Feld an Fragestellungen bearbeitet. Insgesamt lassen sich vier Ebenen herausarbeiten, auf denen Fragestellungen der Pädagogik als Theorie und Praxis zu verorten wären (vgl. ARNOLD 2004, S.13ff). Dies sind im Einzelnen: Makro-Ebene (Gesellschaft) Hier beschäftigt sich Pädagogik u.a. mit Fragen, wie Bildung gesellschaftlich organisiert ist; welchen Interessen das Bildungswesen dient; wie es sich weiterentwickeln muss, um zukunftsorientiert zu agieren etc. Meso-Ebene I (Institution) Auf dieser Ebene beschäftigt sich die Wissenschaft z.B. mit Fragen nach der Gestaltung von Bildungsinstitutionen; in welchen Institutionen kann pädagogisch gewirkt werden; welche Rolle spielen Institutionen beim Erreichen von Bildungszielen uvm. Meso-Ebene II (Interaktion) Die Meso-Ebene II beschäftigt sich mit der Interaktion im Bildungs- und Erziehungsprozess. Dazu zählen nicht nur das Gespräch zwischen Lehrer und Schüler, auch der Aufbau des Unterrichts (z.B. die Wahl der Methode) sind hier von Interesse. Dieser Bereich ist stark von der Unterrichtsforschung geprägt. Mikro-Ebene (Individuum) Auf der Mikro-Ebene beschäftigt sich Pädagogik mit dem Lernprozess des Menschen, anthropogenen und soziokulturellen Faktoren und deren Bedeutung für das Lernen usw., um mit diesen Erkenntnissen Lernen effektiv und effizient zu gestalten.

11.23.5 Typische Axiome/Theoreme in dieser Wissenschaftsdisziplin Die Pädagogik als Wissenschaft und Praxis der Bildung und Erziehung des Menschen geht grundsätzlich davon aus, dass es möglich und auch notwendig(!) ist, dass der Mensch erziehbar ist. Als Argumentationsgrundlage können hier anthropologische Grundlagen hinzugezogen werden. Zum einen wäre hier der Mensch, im Vergleich zum Tier, als physiologische Frühgeburt, ARNOLD GEHLEN bezeichnete den Menschen als Mängelwesen (GEHLEN 1940), zu nennen. Diese „Unfertigkeit“ macht ihn lern- und erziehungsbedürftig, um sein Überleben zu sichern, indem Mängel ausgeglichen und seine Potentiale gefördert werden können. Dies ist aber nicht nur ein 529

Nachteil, sondern auch ein Vorteil, denn somit ist der Mensch auch erziehungsfähig! Erst hierdurch ist er prägbar und das ermöglicht bspw. erst die Entwicklung einer Zivilisation. Aus dieser Doppelseitigkeit ergibt sich zugleich eine Erziehungspflicht. Diese dient dazu, sowohl den biologischen als auch den gesellschaftlichen und kulturellen Fortbestand der Spezies zu sichern. Diese Aufgabe macht sich u.a. die Pädagogik als Praxis zu eigen und untersucht demgegenüber als Wissenschaft, wie Erziehung ermöglicht wird und welche Werte, Normen etc. in die Bildung und Erziehung einfließen. Dieser Prozess ist einem ständigen Wandel unterworfen.

11.23.6 Typische Deutungsmuster in der Wissenschaftsdisziplin (Analyse- und Lösungsstrategien) Wie bereits eingangs erwähnt, ist die Pädagogik eine kritische Handlungswissenschaft. Sie gewann im Laufe ihrer Genese eine Vielzahl von Werkzeugen, um als Wissenschaft zu wirken. Die drei zentralen wären ... • • •

das aus der Hermeneutik „entliehene“ Verstehen, das Erklären, welches auf Basis empirischer Befunde stattfindet, sowie die Kritik, verstanden als kritische Betrachtung gegebener Verhältnisse (z.B. gesellschaftliche Entwicklungen), also auch Selbstkritik

Für die Untermauerung und/oder Fortentwicklung pädagogischer Theorien und deren Überführung in die pädagogische Praxis steht ein umfangreiches Repertoire qualitativer und quantitativer Methoden zur Verfügung. Aufgrund der Fülle soll an dieser Stelle nur auf die Methodenbücher empirischer Sozialforschung verwiesen werden, die eine Vielzahl von Werkzeugen beinhalten. Die Kooperation mit anderen Wissenschaftsbereichen erlaubt es darüber hinaus, den eigenen Gegenstandsbereich neu zu fokussieren und synergetische Lösungen zu generieren.

11.23.7 Typische Anwendungsfelder dieser Wissenschaftsdisziplin Die Praxisnähe, Ausdifferenzierung und der theoretische Pluralismus der Pädagogik eröffnet ihr vielfältige Anwendungsfelder und beschränkt sich nicht mehr nur auf den Lehrer in der Institution Schule. Allein die Lehreinrichtungen haben sich vervielfacht. Berufsschule, Fachhochschule und Universität, die Volkshochschule oder der Betrieb sind nur einige Einrichtungen, in denen pädagogisch gehandelt wird. Inwieweit die dort Tätigen über ein theoretisch-erziehungswissenschaftliches Wissen, ein berufspraktisches Alltagswissen oder ein laienpädagogisches Wissen verfügen, kann hier nicht geklärt werden. Allerdings macht diese Dreiteilung der pädagogischen Wissensform (ARNOLD und PÄTZOLD 2002, S.11) deutlich, dass auch die Anwendungsfelder weit gezeichnet werden können. Durch unsere pädagogische Vorbildung — jeder kennt zumindest die Lehrer aus der eigenen Schulzeit — Gespräche mit Bekannten und eigenes Erleben als zu erziehendes Wesen besitzt jeder laienpädagogisches Wissen, das z.B. dann wirksam wird, wenn es um die Erziehung der eigenen Kinder geht. Dieses Wissen reicht oft nicht aus und so zeichnen sich weitere pädagogische Anwendungsfelder ab, wie die der pädagogischen Beratung für Familien, Freizeit- oder Sozialpädagogen und Streetworker. Die Palette lässt sich beliebig erweitern. Diese unsystematischen Betrachtungen wirken vielleicht irritierend, jedoch zeigt sich darin die Mannigfaltigkeit pädagogischer Anwendungsfelder. Vor dem Hintergrund der in Kapitel 9.23.4 vorge530

stellten Ebenen für pädagogische Fragestellungen wird deutlich, dass diese Wissenschaftsdisziplin tatsächlich alle Bereiche des Lebens und der Gesellschaft berührt bzw. berühren kann.

11.23.8 Typische Kritik an der Wissenschaftsdisziplin Ebenso wie die Vielfalt der Anwendungsfelder ist natürlich die Kritik an der Pädagogik. Immer, wenn gehandelt wird, ist Kritik am Handeln möglich. Dies drückt sich in jüngster Zeit in Diskussionen um die Ergebnisse der PISA-Studien in Deutschland aus. Aber schon zu früherer Zeit wurde die Pädagogik in die Kritik genommen (vgl. z.B. PICHT 1965). Da die Pädagogik einen kritisch-konstruktive Handlungswissenschaft ist, unterzieht sie sich auch einer reflexiven Selbstkritik. Nur mit dieser Haltung ist es ihr als Wissenschaft möglich, auf sich ändernde gesellschaftliche Veränderungen oder auch wissenschaftliche Erkenntnisse adäquat zu reagieren. Dies meint nicht (nur) die Anpassung an diese Entwicklung, sondern darüber hinaus auch das Hinterfragen des eigenen Handelns und der Ausrichtung der Handlungsziele. Dies belegt auch die in Kapitel 3 skizzierte Abhandlung über die Entwicklung der Pädagogik.

11.23.9 Typische Begriffe und deren Deutung in der Wissenschaftsdisziplin Wesentliche Begriffe der Pädagogik sind die der Bildung und Erziehung, aber auch Enkulturation, Sozialisation, Lernen, Verhalten und Handlung. Im Folgenden möchte ich auf die zwei zentralen, Bildung und Erziehung, eingehen und für die anderen auf die Lektüre von KRON verweisen (KRON 1996, S.47-79) Eine allgemein gültige Definition dieser Begriffe ist nicht möglich. Nach HUMBOLDT ist unter Bildung (übrigens ein Begriff, der nur im deutschsprachigen Raum vorherrscht) nicht die einfache Wissensaneignung zu verstehen, sie zielt vielmehr auf die Entfaltung der dem Menschen innenwohnenden Kräfte. In der Pädagogik haben sich im Lauf der Geschichte verschiedene Bildungstheorien entwickelt, deren Hauptrichtungen hier kurz umrissen werden sollen. Materiale Bildungstheorien zielen auf eine möglichst umfassende Kenntnis der Bildungsgüter, kategoriale Bildungstheorien hingegen streben die Vermittlung und Aneignung von Kategorien an, welche von grundsätzlicher Bedeutung zum Weltverstehen für den Menschen sind. Schließlich können noch die formalen Bildungstheorien genannt werden, die auf eine umfassende Entfaltung der Persönlichkeit abzielen. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der Erziehung. Der Reformpädagoge BERNFELD beschreibt Erziehung als „die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache“ (BERNFELD 1973, S.51). In einer verknappten Darstellung lassen sich drei Erziehungskonzepte umreißen (vgl. ARNOLD und PÄTZOLD 2002 S.60f.). Der interventionistische Erziehungsbegriff sieht in der Erziehung die Erzeugung eines erwünschten Verhaltens. Dies soll mit Erziehungsmitteln wie Lob oder Strafe erreicht werden. Das reformpädagogische Erziehungskonzept hingegen geht von einer absichtsvollen Ermöglichung von Wachstum und persönlicher Reifung aus. Dabei wird auf ein Arrangement von Erfahrungsmöglichkeiten zurückgegriffen, um die Erziehung zu fördern. Hingegen meint der antipädagogische Erziehungsbegriff, dass Erziehung kinder-/menschenfeindlich ist und verwehrt sich dagegen durch Nichterziehen oder einen laissezfaire-Ansatz im Handeln. 531

11.23.10 Bedeutung der Wissenschaftsdisziplin für das Coaching Welche Rolle spielt die Pädagogik für das Coaching? Coaching soll hier verstanden werden als „ein strukturiertes und methodisch geleitetes Vorgehen, das die zu einem Problem führenden Zusammenhänge sichtbar macht und prozessbegleitend individuelle, lösungsorientierte Handlungsoptionen eröffnet. Ein Coach begleitet Veränderungsprozesse“ (Deutscher Verband für Coaching und Training e.V. 2006). Vergleicht man diese Definition mit den Ansinnen der pädagogischen Wissenschaft und Praxis, fallen deutliche Parallelen, jedoch auch einige Unterschiede auf. So beschreibt HUBNER (2007) „Coaching als Aufgabe der Erwachsenenbildung“ (HUBNER 2007), und die Rolle des Lehrers wandelt sich vom Lehrenden zum Lernbegleiter und Lerncoach (ESCHELMÜLLER 2008). Deutlich wird dabei, dass in diesem Fall die Pädagogik Elemente des Coaching für das Erreichen der eigenen Ziele einsetzt. Coaching gewinnt an Bedeutung, gerade wenn es um die Anerkennung des Lerners als selbstgesteuertes und -organisiertes Subjekt geht. Spätestens jedoch an dieser Stelle kann auch das Coaching von der Pädagogik profitieren. Da die Pädagogik einen Schwerpunkt in der (unterrichtlichen) Aufbereitung von Lerngegenständen und bei der Unterstützung der Konstruktion von Wissen bei den Lernenden setzt, entwickelt sie über die Zeit eine Vielzahl von Methoden und Verfahren, um beispielsweise Problemlöseprozesse anzuregen oder auch Interaktionen zwischen Lehrenden und Lernenden sowie Lernenden untereinander zu gestalten. Diese Methoden und Verfahren können für Coachingprozesse aus der pädagogischen Praxis übertragen und angepasst werden. Jedoch auch die Rezeption der pädagogischen Theorie kann für Coachingprozesse hilfreich sein. So stellt sich gerade in der jüngeren pädagogischen Forschung vor dem Hintergrund neuer Erkenntnistheorien die Frage, wie Lernen, definiert als Prozess „der zu relativ stabilen Veränderungen im Verhalten oder im Verhaltenspotential führt und auf Erfahrung aufbaut“ (ZIMBARDO 1992, S.227), überhaupt funktionieren kann, wenn wir konstruktivistischen oder systemtheoretischen Grundannahmen folgen, die davon ausgehen, dass Lernen, verkürzt und zusammenfassend ausgedrückt, ein selbstgesteuerter Konstruktionsprozess des Individuums ist, welches darüber hinaus aufgrund seiner Geschlossenheit nur schwer von außen erreicht werden kann (ARNOLD und SIEBERT 2006; A RNOLD 2007; 2008).

11.23.11 Basisliteratur ARNOLD, R. (2004): Zugänge zur Pädagogik. Pädagogische Materialien. Heft Nr.9, Kaiserslautern ARNOLD, R. (2007): Ich lerne, also bin ich: eine systemisch-konstruktivistische Didaktik. Heidelberg, Auer ARNOLD, R. (2008): Führen mit Gefühl: eine Anleitung zum Selbstcoaching Mit einem Methoden-ABC. Springer eBook Collection Business and Economics (Dig. Serial). Wiesbaden, Gabler Verlag/Wiesbaden, GWV Fachverlage GmbH ARNOLD, R. (2008): Neue Zugänge zur Pädagogik. Pädagogische Materialien der TU Kaiserslautern. Nr.32, Kaiserslautern ARNOLD, R./PÄTZOLD, H. (2002): Schulpädagogik kompakt: Prüfungswissen auf den Punkt gebracht. Berlin, Cornelsen Scriptor 532

ARNOLD, R./SIEBERT, H. (2006): Konstruktivistische Erwachsenenbildung: von der Deutung zur Konstruktion von Wirklichkeit. Baltmannsweiler, Schneider-Verl. Hohengehren BENNER, D. (2001): Allgemeine Pädagogik: eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. Weinheim (u.a.), JuventaVerlag BERNFELD, S. (1973): Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt am Main, Suhrkamp DEUTSCHER VERBAND FÜR COACHING UND TRAINING E.V. (2006): Defintion Coaching. Retrieved 7.11., 2009, from http://www.dvct.de/Definition.28.0.html ESCHELMÜLLER, M. (2008): Lerncoaching: vom Wissensvermittler zum Lernbegleiter; Grundlagen und Praxishilfen. Mülheim an der Ruhr, Verlag an der Ruhr GEHLEN, A. (1940): Der Mensch: seine Natur und seine Stellung in der Welt. Berlin, Junker und Dünnhaupt HUBNER, M. (2007): Coaching als Aufgabe der Erwachsenenbildung. Münster, Lit. KRON, F. W. (1996): Grundwissen Pädagogik. München (u.a.), Reinhardt Mollenhauer, K. (1982): Marginalien zur Lage der Erziehungswissenschaft. Erziehungswissenschaftliche Forschung: Positionen, Perspektiven, Probleme. König, E. &Zedler, P. Paderborn (u.a.), Schöningh (u.a.): 252-265 PICHT, G. (1965): Die deutsche Bildungskatastrophe. München, Dt. Taschenbuch-Verl. RAITHEL, J.; DOLLINGER, B. u.a. (2005): Einführung Pädagogik : Begriffe, Strömungen, Klassiker, Fachrichtungen. Wiesbaden, VS, Verl. für Sozialwiss. SPITZER, M. (2009): Lernen: Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Berlin (u.a.), Spektrum, Akad. Verl. ZEDLER, P.; KÖNIG, E. u.a. (1989): Rekonstruktionen pädagogischer Wissenschaftsgeschichte : Fallstudien, Ansätze, Perspektiven. Weinheim, Dt. Studien-Verl., IV, 445 S. ZIMBARDO, P. G. (1992): Psychologie. Berlin (u.a.), Springer

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11.24 Philosophie von Hilma Schmiedl-Neuburg

Der Begriff „Philosophie“ (griech.: φιλοσοφία) bezeichnet wörtlich die „Liebe zur Weisheit“. Da die Frage, was Philosophie ist, selbst eine zutiefst philosophische Frage darstellt, entzieht sich die Philosophie als Disziplin wie als Tätigkeit einer einfachen Definition. Grundkennzeichen der Philosophie wie des Philosophierens sind allerdings ihr Vertrauen auf die Vernunft, den λóγος als Fundament und ihr Bemühen um eine rationale und kritische Selbstprüfung des Denkens und Wissens. Der Philosophie geht es um ein radikales, kritisches, konzeptuell-begriffliches und systematisches, auf rationalen, vernünftigen Argumenten beruhendes Nachdenken über die grundlegendsten Fragen des Menschen. Philosophie ist nach PLATON das Streben nach dem Guten, dem Wahren und dem Schönen, die Suche nach Weisheit und Erkenntnis. Gegenstände des philosophischen Denkens sind der Mensch und die menschliche Existenz, die Welt, das Sein und das Bewusstsein, die Erkenntnis, die Wahrheit und die Wissenschaft, die Sprache, das Gute und das Gerechte, das Schöne und das Heilige sowie das Denken und die Philosophie selbst. Die Philosophie forscht mithin nach den obersten Prinzipien und tiefsten Gründen des Seins, nach dem Absoluten, nach der letzten Wirklichkeit. Sie befasst sich mit den fundamentalsten und allgemeinsten Begriffen, Kategorien, Gründen, Ursachen, Voraussetzungen und Prinzipien der Welt wie unseres Denkens. Ihr Gegenstand sind die tiefsten und letzten Fragen des Menschen nach der Welt und sich selbst. Das Streben der Philosophie nach Weisheit lässt sich nach vier Richtungen hin betrachten. Philosophie ist zum einen die Wissenschaft der Wissenschaften, historisch als Mutter der Wissenschaften, aus der heraus die anderen Wissenschaftsdisziplinen entstanden, und systematisch als Grundlagenwissenschaft der Wissenschaft, welche als wissenschaftstheoretische Metadisziplin die oft unausgesprochenen fundamentalen Ziele, Fragen, Grundprobleme, Aufgaben, Grundlagen, Bedingungen der Möglichkeit, Grundbegriffe, Theorien, Argumente, Methoden, interdisziplinären Verhältnisse und Grenzen der Einzelwissenschaften analysiert und reflektiert. Zum Zweiten ordnet und organisiert die Philosophie systematisch das Ganze unseres natur-, geistesund kulturwissenschaftlichen Wissens von der Welt und uns selbst, stellt diesem andere Weisen des Weltwissens, wie die der Kunst und Literatur, der Religion oder der Alltäglichkeit zur Seite. Als eine solche, das Ganze umfassende, Universalwissenschaft ermöglicht die Philosophie es so dem Menschen, sich ein begründetes und reflektiertes, komplexes und, soweit möglich, kohärentes und umfassendes Weltbild zu schaffen, in welchem er sich selbst angemessen verorten kann. Philosophie ist zum Dritten das Fragen und Streben nach vernunftgegründeter Glückseligkeit, nach einem glückenden, sinnvollen, gelingenden, guten Leben, nach Lebensweisheit und Weltweisheit, nach charakterlicher Reife, Bildung und Humanität, nach gerechtem, tugendhaftem und gutem Handeln gegenüber sich selbst, der Welt und dem Anderen. Der rechte Umgang mit der conditio humana, mit den existentiellen Fragen nach Leben, Geworfenheit und Tod, nach Sinn und Sinnlosigkeit, nach Freiheit und Verantwortung, Tugend und Vernunft, nach Glück und dem Guten, Freundschaft und Liebe, nach Leiden und Vergänglichkeit, nach Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit steht hier im Mittelpunkt des Denkens, sowohl im Abstrakt-Allgemeinen als auch bezogen auf den einzelnen konkreten Menschen selbst. Selbsterkenntnis, menschliche Vervollkommnung, Bildung des Menschen zum Menschen sind Hauptmotive dieser Richtung. 534

Philosophie ist zum Vierten auch Philosophie ihrer selbst. Sie ist in hohem Maße eine Reflexion ihrer selbst, ein Diskurs zweiter Ordnung. Sie legt sich selbst Rechenschaft ab über ihre eigenen Ziele, Selbstverständnisse, Theorien, Konzepte, Begriffe und Methoden, um sich selbst besser, tiefer und klarer zu verstehen. Die Philosophie ist so stets auch ein selbstreferenzieller und rekursiver Dialog mit sich selbst, Philosophie der Philosophie. Eine zentrale Eigenart des Philosophierens als Tätigkeit ist das beständige Suchen und Fragen, das stete Infragestellen und Bezweifeln des scheinbar Selbstverständlichen, einschließlich des Infragestellens der eigenen Fragen. Im Philosophieren bemüht sich der Philosoph zum Zwecke eines tieferen Verstehens mittels Begriffsanalyse, Reflexion und rationaler Argumentation um eine vernunftbasierte Infragestellung, Klärung und Kritik unserer Meinungen, Theorien, Begriffe, Annahmen und Argumente, um ihre rationale Korrektur, aber auch um ihre argumentative Rechtfertigung und Begründung, ebenso wie um die Klärung unserer Fragen und Probleme und um die Suche nach möglichen Antworten und Lösungen.

11.24.1 Anfänge, Ursprünge und Quellen der Philosophie Die Geschichte der westlichen Philosophie beginnt im antiken Griechenland mit dem Denken der Vorsokratiker. Diese Naturphilosophen versuchten, die Welt und die Natur mit den Mitteln der Vernunft und des Denkens, statt des Mythos und der Religion zu erklären. Die Sophisten hingegen rückten im 5. Jahrhundert v.u.Z. den Menschen und seine ethische und politische Existenz in den Mittelpunkt des Denkens. SOKRATES, der große Ahnherr der Philosophie, führte in seinen aporetischen Dialogen die Menschen in die Erkenntnis der Widersprüchlichkeit ihrer Meinungen und ihres eigenen Nichtwissens. PLATON und ARISTOTELES legten in ihrem umfangreichen Werk im 4. Jahrhundert v.u.Z. die systematischen, inhaltlichen und methodischen Grundlagen der Philosophie mit ihren Analysen von Mensch, Gesellschaft und Staat, Glück und Gutem, Tugend und Schönheit, Sein und Welt, Wahrheit und Erkenntnis, Logik und Sprache, Natur und Kultur. Die hellenistischen Philosophien der Stoa, des Epikureismus und der Skepsis konzentrierten sich seit dem 3. Jahrhundert v.u.Z. bis zur Spätantike weitgehend auf Fragen der Tugend, der Bildung zur humanitas und des vernünftigen, glückenden, gelingenden Lebens. Ergänzend ist zu erwähnen, dass die großen Zivilisationen Indiens und Chinas im Kontext des Buddhismus, des Hinduismus, des Konfuzianismus und des Daoismus wichtige Beiträge zur Philosophie geleistet haben, die allerdings bisher nur vergleichsweise wenig Einfluss auf die westliche Philosophie ausüben konnten.

11.24.2 Entwicklung und bedeutende Richtungen der Philosophie und ihre Vertreter Die Geschichte und weitere Entwicklung der Philosophie unterscheidet sich von anderen Disziplinen in erster Linie darin, dass sie einen Fortschritt im eigentlichen Sinne nicht kennt, sondern nur eine weitere Zunahme ihrer Komplexität und ihres Umfanges, denn alte Ideen, Begriffe und Theorien werden durch neue ergänzt und vertieft, aber meist nicht ersetzt. So wurde im christlichen Mittelalter die Philosophie der Antike, insbesondere die Werke PLATONS und ARISTOTELES weiter diskutiert und kommentiert, nun allerdings mit christlichen Gedanken verwoben. THOMAS VON AQUIN führte antike Philosophie und Christentum zu einer umfassenden Synthese. Ver535

gleichbare, die antike Philosophie und die eigene Religion synthetisierende Entwicklungen fanden sich in dieser Zeit auch im Islam und im Judentum. Mit der Renaissance und dem Humanismus trennt sich die Philosophie wieder von der Theologie und knüpft erneut „ad fontes” an die Antike an, während die neuen Naturwissenschaften sich ihrerseits von der Philosophie zu emanzipieren beginnen. Im 17. und 18. Jahrhundert orientiert sich die Philosophie methodisch besonders an der Mathematik und den neuen experimentellen Naturwissenschaften. RENÉ DESCARTES’ Werk ist von radikalem Zweifel gekennzeichnet, BARUCH SPINOZA und GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ entwerfen umfassende rationalistische metaphysische Systeme, während THOMAS HOBBES, JOHN LOCKE und DAVID HUME weniger auf die reine Vernunft vertrauen, sondern Erkenntnis empiristisch in der sinnlichen Wahrnehmung fundieren. In der Aufklärung wird die Vernunft im Gegensatz zum Glauben zur Grundlage aller Erkenntnis und aller Normen. Denker wie JOHN LOCKE, JEAN-JACQUES ROUSSEAU, IMMANUEL KANT und VOLTAIRE entwickeln Ideen von politischer Freiheit und Liberalismus, Individualismus und Menschenrechten, Säkularität und Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Gewaltenteilung. IMMANUEL KANT erforscht die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis und untersucht wie unser Verstand und unsere Vernunft unsere Erkenntnis formen. Im 19. Jahrhundert entwerfen JOHANN GOTTLIEB FICHTE, FRIEDRICH WILHELM SCHELLING und G.W.F. HEGEL idealistische Systeme des Geistes, der Welt und des Selbst. Der Positivismus, von AUGUSTE COMTE begründet, vertritt hingegen eine rein (natur-)wissenschaftliche Weltsicht, KARL MARX leistet große Beiträge zur Geschichts- und Sozialphilosophie und JEREMY BENTHAM sowie JOHN-STUART MILL begründen die Kosten-Nutzen-Ethik des Utilitarismus. ARTHUR SCHOPENHAUER, FRIEDRICH NIETZSCHE, SØREN KIERKEGAARD und die Lebensphilosophie wenden sich gegen die lebensferne akademische Philosophie und erarbeiten viele Grundlagen des späteren existenzphilosophischen und postmodernen Denkens. Nachdem sich im 19. Jahrhundert auch die geisteswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Fächer von der Philosophie emanzipiert hatten, konzentrierte sich die Philosophie im 20. Jahrhundert auf die wissenschaftstheoretische Reflexion der Einzelwissenschaften und ihrer philosophischen Grundlagen. Der neopositivistische logische Empirismus RUDOLF CARNAPS, der kritische Rationalismus KARL POPPERS, der die Wichtigkeit der Falsifikation von Forschungshypothesen für den Wissenschaftsfortschritt betont und der wissenschaftstheoretische historische Relativismus THOMAS KUHNS zeigten hier die stärkste Wirkung. Auch der Sprache kommt seit Beginn des 20. Jahrhunderts in der Philosophie methodisch wie thematisch eine außerordentliche große Bedeutung zu. Die analytische Philosophie, vertreten durch RUDOLF CARNAP, LUDWIG WITTGENSTEIN, GILBERT RYLE, W.V.O. QUINE, DONALD DAVIDSON, NELSON GOODMAN oder JOHN SEARLE, versucht, mittels exakter Sprachanalyse das Verhältnis von Sprache zu Welt, Erkenntnis, Wahrheit, Bewusstsein und Handeln zu klären. Auch in der das Verstehen betonenden Hermeneutik HANS-GEORG GADAMERS, der Theorie des kommunikativen Handelns JÜRGEN HABERMAS’ und in den Philosophien des Strukturalismus und des Poststrukturalismus eines JACQUES DERRIDA, MICHEL FOUCAULT und JEAN-FRANÇOIS LYOTARD spielt die Sprache eine zentrale Rolle. Gegenüber der Wissenschaftstheorie und analytischen Sprachphilosophie betont die Phänomenologie EDMUND HUSSERLS die Bedeutung der vorbegrifflichen Schau der Dinge für die Erkenntnis, die Existenzphilosophie untersucht die Eigenart der menschlichen Existenz und des menschlichen Daseins und MARTIN HEIDEGGER stellt hiervon ausgehend die Frage nach der Natur des Seins. Inspiriert von HEIDEGGER gründet JEAN-PAUL SARTRE den Existenzialismus, welcher die menschliche Freiheit und Selbstverantwortung betont. In der praktischen Philosophie belebt JOHN RAWLS mit seiner Gerechtigkeitstheorie die politische Philosophie, die Kritische Theorie der Frankfurter Schule eines MAX HORKHEIMER und eines THEODOR ADORNO entfaltet eine umfassende neomarxistische kultur-, geschichts- und sozialphilosophische Kritik der modernen Gesellschaft und wird in dieser Kritik der Mo536

derne noch durch den postmodernen Poststrukturalismus und Feminismus auf diskurs- und sprachphilosophischem sowie psychoanalytischem Wege überboten.

11.24.3 Typische Fragestellungen der Philosophie Die Philosophie verfügt über keinen klar eingegrenzten Gegenstandsbereich. Ihre Fragen und Probleme erstrecken sich vielmehr über ein weites Feld theoretischer und praktischer Themen. IMMANUEL KANT fasste die Problemstellungen der Philosophie in folgenden vier Fragen zusammen: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?” Darüber hinaus und diese Fragen erweiternd stellt die Philosophie Fragen nach dem Wesen der Erkenntnis und der Wahrheit, des Seins und der Zeit, des Menschen und der menschlichen Existenz, dem Sinn und Zweck des Lebens und des Todes, dem Wesen der Vernunft, des Handelns und der Tugend, der Gerechtigkeit, des Glücks und des Guten, der Freiheit, der Schönheit und der Kunst, des Heiligen und der Religion, des Bewusstseins und der Sprache, der Wissenschaften, der Natur, der Kultur und der Philosophie selbst. Philosophische Fragen und Probleme zeichnen sich meist dadurch aus, dass sie nur selten über eindeutige Lösungen verfügen und mithin im Laufe der Philosophiegeschichte eher mehr und mehr verfeinert und in ihrer Komplexität und Tiefe verstanden denn gelöst werden.

11.24.4 Typische Grundannahmen, Axiome und Theoreme in der Philosophie Aufgrund ihres stets fragenden und zweifelnden Charakters verfügt die Philosophie über keinen Kanon an Grundannahmen, Axiomen oder Theoremen. Jedoch gibt es verschiedene Grundhaltungen und Grundsichten der Philosophie, aus denen heraus philosophiert werden kann. Einig sind sich diese Grundsichten der Philosophie in der Bedeutung der rationalen begrifflichen Reflexion für alle Philosophie. Insbesondere zwei Grundverständnisse der Philosophie sind zu unterscheiden. Zum einen tritt die Philosophie als Wissenschaft und akademische Disziplin auf. Als eine solche wird die Philosophie heute zumeist an Universitäten betrieben und konzentriert sich in ihrer Forschung auf die systematische Analyse von philosophischen Problemen und Fragen, Begriffen und Theorien, auf die historische und systematisch-argumentative Rekonstruktion, Kritik und den Vergleich der Gedanken der großen Philosophen, auf die Klärung und Unterscheidung von Begriffen, die Rekonstruktion, Prüfung und Kritik von Argumenten und auf den Entwurf eigener philosophischer Problemstellungen, Argumente, Thesen und Theorien. Ziel dieser Form der Philosophie ist meist die philosophische Erkenntnis um ihrer selbst willen. Zum anderen findet sich die Philosophie als Lebensweise. In diesem Philosophieverständnis ist Philosophie eine Art zu leben, eine Lebensform. In der Antike und im Humanismus war und in der östlichen Philosophie ist bis heute im Gegensatz zur abendländischen Moderne dieses Philosophieverständnis vorherrschend. Es geht um die Bildung des Menschen zum Menschen. Kennzeichnend für diese Konzeption von Philosophie ist die Bedeutung der Einheit von Denken und Tun, des Einklangs von philosophischer Einsicht und theoretischer Reflexion und praktischem Handeln und Leben. In diesem Philosophieverständnis geht es um den Erwerb von Weltweisheit und Lebensweisheit. Im Streben nach Weltweisheit geht es daran, sich selbst, den anderen Menschen und die Welt besser und tiefer zu verstehen, Sinn und Bedeutung, Orientierung, Übersicht und Ordnung in der Welt zu gewinnen und das eigene Weltbild und Denken wie das eigene individuelle und gesellschaftliche Handeln auf ein wohlbegründetes Fundament zu stellen, wohl erkennend, dass alles Verstehen, alle Gründe und alles Wissen 537

nicht für die Ewigkeit geschaffen sind. Im Streben nach Lebensweisheit bemüht sich der Philosoph im eigenen Nachdenken um das Verstehen seiner selbst als Menschen und des eigenen Lebens, im abstrakt-allgemeinen, ebenso wie im konkret-einzelnen. Er sucht allein und im Dialog mit anderen nach Antworten auf die Fragen nach dem glückenden, guten, gelingenden Leben und dem Sinn des Daseins, den allgemeinen Eigenarten der conditio humana, der menschlichen Existenz wie auch nach der Geschichtlichkeit, Gesellschaftlichkeit und Kulturalität des Menschen, nach der menschlichen Freiheit, Vernunft und Leiblichkeit, nach der Seelenruhe, der Tugend und dem rechten Handeln. Ein selbstbestimmtes, glückendes, durch die eigene Vernunft geprüftes, sinnvolles Leben zu führen, ist ein zentraler Aspekt dieses Philosophieverständnisses. Da ein sinnvolles individuelles Leben vielfältig auch von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängt, ist dieses Verständnis der Philosophie als Lebensweise oft erweitert um das kritische Nachdenken über sinnvolle, gute und humane, freie und gerechte, gesellschaftliche, politische und ökonomische Ordnungen.

11.24.5 Typische Deutungsmuster in der Philosophie (Analyse- und Lösungsstrategien) Methodisch geht die Philosophie von einer staunenden, fragenden und zweifelnden, rationalen und reflexiven Grundhaltung aus. Das stete Erstaunen und skeptische Zweifeln angesichts des scheinbar Selbstverständlichen wie auch das immerwährende suchende Fragen und Befragen der großen und letzten Menschheitsfragen gehören methodisch ebenso zur Philosophie wie das auf Vernunft bauende Nachdenken, Klären, Argumentieren und Nachsinnen und das Reflektieren des Philosophierens auf sich selbst. Charakteristisch für die Philosophie ist methodisch ihre Kultivierung der rationalen Argumentation zum Zwecke der Klärung, Begründung, Rechtfertigung und Kritik. Philosophische Argumentation zeichnet sich in der Regel durch ihre Rationalität und logische Folgerichtigkeit, ihre klare Struktur und geschärfte Begrifflichkeit, ihre Systematizität und Ordnung, ihre Reflexivität, ihren disziplinenübergreifenden Anspruch und ihre kritische Kompetenz aus. Philosophen formulieren Fragen und Probleme, entwerfen Theorien, Begriffe und Erklärungen, welche sie argumentativ-rational begründen und rechtfertigen, während andere Philosophen im steten Dialog und Austausch mit ihnen ihre Argumente klären, analysieren, überprüfen und mittels vernünftiger Gegenargumente kritisieren, ergänzen und korrigieren. Philosophische Begriffsexplikation und -interpretation, Begriffsanalyse und Begriffskritik, Diskursanalyse, Sprachkritik und Sprachanalyse der Semantik, Syntax und Pragmatik des philosophischen Sprechens leisten in diesem Zusammenhang einen großen klärenden, methodischen Beitrag. Die sprachlich-begriffliche Analyse, das deutende, interpretierende Verstehen und die dekonstruierende Kritik von Begriffen, sprachlichen Strukturen, Texten und Diskursen bildet ein wichtiges Arbeitsgebiet der drei, untereinander recht verschiedenen philosophischen Strömungen der analytischen Philosophie, der Hermeneutik und des Poststrukturalismus. Das analysierende, interpretierende und verstehende Arbeiten mit Begriffen, Argumenten, Texten und Sprache bildet das Zentrum philosophischen Arbeitens. Allerdings haben sich in der Philosophie auch andere nicht an Begriffen und mit Begriffen arbeitende methodische Ansätze zum Zwecke eines tieferen philosophischen Verstehens entwickelt. So verwendet die Phänomenologie einen Ansatz des vorbegrifflichen Schauens der Wirklichkeit, der eher auf den Topos des Bildes statt des Begriffes verweist und an die kontemplative Schau, die θεωρία der griechischen Philosophie, erinnert, welche insbeson538

dere durch den Neuplatonismus gepflegt wurde. In der östlichen Philosophie wurden neben der verstehenden Begriffsarbeit insbesondere nichtbegriffliche Formen der kontemplativen, gegenstandsbezogenen, philosophischen Schau und der meist gegenstandsfreien Meditation entwickelt. Daneben finden sich auch Formen des Philosophierens, etwa in der Existenzphilosophie, die eher auf das Instrument des Arbeitens mit literarischen Mitteln, wie der erzählenden Narration, also der Geschichte, dem Gleichnis und der Metapher, dem Dialog und dem Drama oder dem Gedicht und dem Aphorismus, und weniger der begrifflichen rationalen Argumentation vertrauen. In der akademischen Philosophie unterscheidet man gemeinhin zwischen zwei sich ergänzenden und grundlegenden methodischen Forschungsstrategien, der historischen und der systematischen. Bei der historischen Vorgehensweise rekonstruiert und ordnet, interpretiert und deutet, kritisiert und vergleicht der Philosoph die Fragen und Probleme, Theorien, Thesen, Begriffe und Argumentationen der großen Denker und Schulen der Philosophie. Eine eingehende Kenntnis der Philosophiegeschichte ist hier von großer Bedeutung. Die systematische Vorgehensweise fokussiert weniger auf einzelne historische Denker, sondern stattdessen auf systematische Grundfragen und Grundprobleme, sowie Grundbegriffe und Grundansätze der Philosophie und versucht diese argumentativ zu klären, systematisch zu analysieren und zu interpretieren, sie zu verstehen, zu beantworten und zu lösen. Die systematische Vorgehensweise hat einen großen Beitrag zu der Ausdifferenzierung der Philosophie in einzelne systematische und thematische Teildisziplinen wie Metaphysik, Logik oder Ethik geleistet. Neben diesen methodischen Grundhaltungen und prinzipiellen Forschungsstrategien und -programmen gibt es eine Vielzahl konkreter philosophischer Einzelmethoden, von denen exemplarisch hier einige genannt seien. Die Philosophie arbeitet zum einen häufig textgebunden. Methoden der eingehenden Textanalyse und Textinterpretation zum Zwecke des Verstehens, Deutens, Auslegen, Interpretierens und Rekonstruierens eines Textes sind daher von zentraler Bedeutung. Insbesondere der Verstehensansatz der Hermeneutik, aber auch das sprach- und begriffsanalytische Vorgehen der analytischen Philosophie und die Dekonstruktion des Poststrukturalismus sind hier von ebensolcher Wichtigkeit wie ein eher schulenungebundenes, eingehendes Close Reading des jeweiligen Textes. Bei den textungebundenen Methoden wären zum anderen neben der philosophischen Diskussion und Disputation, also dem philosophischen Streitgespräch u.a. der Sokratische Dialog und das Gedankenexperiment zu nennen. Im Sokratischen Dialog versucht der Philosoph, das eigene Nichtwissen betonend, seinen Gesprächspartner mittels Fragen zum eigenen Philosophieren, zur selbstständigen Erkenntnis eigener Widersprüche und Unbegründetheiten in den eigenen Meinungen und schließlich zur Selbsterkenntnis zu führen. Im Gedankenexperiment entwirft der Philosoph kontrafaktische Annahmen und Szenarien, um an diesen speziellen Testfällen Theorien, Thesen, Begriffe, Argumente, Lösungsansätze und vermeintliche Erkenntnisse und Einsichten hinsichtlich ihrer Konsistenz und Leistungsfähigkeit zu überprüfen.

11.24.6 Typische Anwendungsfelder der Philosophie Die Philosophie gliedert sich hinsichtlich ihrer Anwendungsfelder und Teildisziplinen in die Disziplinen der theoretischen Philosophie, welche die allgemeinen und fundamentalen Strukturen des Seins, der Wahrheit und der Wirklichkeit, die Art, Strukturen und Grenzen unserer Erkenntnis, unserer Sprache und unseres Bewusstseins untersuchen, und die der praktischen Philosophie, die sich mit dem 539

Menschen, seinem Wesen, seiner ethischen, politischen, sozialen, religiösen, geschichtlichen und kulturellen Existenz befassen. Zur theoretischen Philosophie zählen u.a. folgende Disziplinen: Die Metaphysik und die Ontologie befassen sich mit dem Wesen des Seins und des Seienden. Sie fragen danach, was existiert und wie es existiert. Die allgemeinsten und fundamentalsten Strukturen, Prinzipien, Ordnungen und Modalitäten des Seins und Werdens, der Wirklichkeit und der Welt stehen ebenso wie ihr Sinn und Zweck im Mittelpunkt der Untersuchung. Die Erkenntnistheorie oder Epistemologie untersucht die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis, die Rahmenbedingungen und Voraussetzungen, die Reichweite, Gültigkeit und Grenzen menschlichen Erkennens und Wissens. Sie legt die Verhältnisse von Erkenntnis, Wirklichkeit, Wahrheit, Sprache und Denken frei. Wissenschaftstheorie und Methodologie erarbeiten, an die Erkenntnistheorie anknüpfend, die theoretischen und begrifflichen, ontologischen, erkenntnistheoretischen und methodischen Grundlagen, Rahmenbedingungen und Wissensordnungen der Naturwissenschaften ebenso wie der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Die Naturphilosophie untersucht die Natur der Natur und durchleuchtet das ästhetische, religiöse wie das wissenschaftliche Naturverständnis des Menschen. Die Logik beschäftigt sich mit den formalen Prinzipien und Gesetzen des folgerichtigen Denkens und Schlussfolgerns. Eng mit der Logik verbunden ist die Philosophie der Mathematik, welche die ontologischen und erkenntnistheoretischen Grundannahmen der Mathematik und deren wissenschaftliches Selbstverständnis beleuchtet. Die Sprachphilosophie fragt nach dem Wesen der Sprache, nach der Definition, dem Sinn und der Bedeutung von Sinn und Bedeutung, nach dem Verhältnis von Sprache zu Wahrheit, zu Welt und Wirklichkeit, zu Bewusstsein und Denken, zum Handeln und zur Kommunikation ebenso wie nach den philosophischen Grundlagen der Linguistik. Die Bewusstseinsphilosophie konzentriert sich auf die Definition und die Charakteristika von Bewusstsein und Selbstbewusstsein, das Verhältnis von Geist und Leib ebenso wie auf Fragen der Willensfreiheit oder der künstlichen Intelligenz und erarbeitet die wissenschaftstheoretischen und ontologischen Grundlagen der Psychologie. Die Ästhetik und die Religionsphilosophie nehmen meist eine Zwischenstellung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie ein. Die Ästhetik betrachtet die Sinnlichkeit des wahrnehmenden Menschen insbesondere im Kontext der Kunst. Traditionell sind Schönheit und Bildlichkeit (im Gegensatz zur Sprachlichkeit) zentrale Gegenstände der Ästhetik. Eng verknüpft mit der Ästhetik ist die Kunstphilosophie, welche das Wesen von Kunst, Kunstwerk, künstlerischem Wert und Kunstwissenschaft betrachtet. Die Literaturphilosophie oder Literaturtheorie steht zwischen Ästhetik, Kulturphilosophie, Literaturwissenschaft und Sprachphilosophie und analysiert das Wesen der Literatur.

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Die Religionsphilosophie befasst sich mit dem Wesen des Heiligen und Numinosen, der Definition von Religion und dem Wesen der Theologie, dem Verhältnis von religiöser Erfahrung zu religiöser Sprache und Begrifflichkeit sowie mit der Frage nach dem Wesen und der Existenz eines Göttlichen und des Menschen Beziehung zu diesem. Die praktische Philosophie gliedert sich u.a. in diese Arbeitsgebiete: Die philosophische Anthropologie untersucht das Wesen des Menschen. Die Natur des Menschen, die menschliche Existenz, die conditio humana, das Leben des Menschen stehen im Zentrum dieser Disziplin. Sie stellt Fragen nach dem Sinn und den Eigenarten des menschlichen Daseins, nach der Freiheit, der Sinnorientierung, dem Glück und dem Leiden, der Leiblichkeit, der Bedürftigkeit und den Fähigkeiten, nach der Sprachlichkeit, Vernünftigkeit und der Sozialität, der Zeitlichkeit und Endlichkeit des Menschen, nach seinem Verhältnis zu Natur, Kultur, Geist, Gott und Welt, zu dem anderen Menschen und zu sich selbst. Insbesondere das reflexive Selbstverhältnis des Menschen zu sich zieht große Aufmerksamkeit auf sich. Die Ethik oder Moralphilosophie versucht die Frage zu beantworten, wie man handeln soll. Sie erarbeitet Kriterien richtigen, gerechten, tugendhaften, nützlichen und guten Handelns und gelingenden und glückenden Lebens. Sie versucht als normative Ethik allgemeine ethische Normen, Werte und Ziele zu begründen und zu rechtfertigen, ebenso wie als deskriptive Ethik und Metaethik existente Moralvorstellungen zu analysieren und zu explizieren und den ethischen Sprachgebrauch zu untersuchen. Die politische Philosophie und die Wirtschafts- und Sozialphilosophie stellen Fragen nach dem idealen Staat und der besten Verfassung, nach legitimer Herrschaft, nach der Natur der Macht und dem Verhältnis von Bürger und Staat, nach einer gerechten Gesellschaft und Wirtschaft und nach der politischen und sozialen Natur des Menschen. Aber auch Grundlagenprobleme der Politikwissenschaft wie der Soziologie und der Ökonomie kommen zum Tragen. Die Rechtsphilosophie fragt nach der Natur des Rechtes, dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit, nach dem Wesen der Menschenrechte und fungiert als Wissenschaftstheorie und Methodologie der Rechtswissenschaft. In der Geschichtsphilosophie geht es neben der wissenschaftstheoretischen Grundlegung der Geschichtswissenschaft und ihrer Methoden um Fragen nach dem Wesen der Geschichte und der Geschichtlichkeit wie des Geschichtsverlaufes. Die Kulturphilosophie befasst sich mit dem Menschen als Kulturwesen, den Definitionen von Kultur, dem Verhältnis von Natur und Kultur sowie der Beziehung der allgemeinen menschlichen Kultur zu den verschiedenen Einzelkulturen, der Relation von Kultur und Sprache, den Grundlagen der Kulturanthropologie und dem Wesen und den Zielen der Kulturwissenschaft.

11.24.7 Typische Kritik an der Philosophie Oft vorgebrachte Kritiken an der Philosophie werfen ihr gesellschaftliche Nutzlosigkeit, theoretische Praxisferne und schwierige Abstraktheit vor. Der Philosoph würde auf diese Kritiken antworten, indem 541

er darauf verweist, dass es wohl kaum etwas Nützlicheres für den einzelnen Menschen gibt, als Antworten auf die Fragen nach einem guten, gelingenden und glückenden Leben für sich zu suchen und vielleicht auch zu finden, für die Gesellschaft als Ganzes sich über die Bedingungen für eine gute, humane und gerechte Verfasstheit ihrer selbst klar zu werden und für die Wissenschaft über die wirkliche Reichweite, Begründetheit und Verlässlichkeit ihrer Annahmen, Theorien und Methoden und damit auch ihrer Erkenntnisse und Ergebnisse nachzudenken. Hinsichtlich der theoretischen Praxisferne mag ein Philosoph darauf hinweisen, dass ein Nachdenken über Glück, Sinn, Leben, Gutes und Gerechtigkeit offensichtlich alltagsrelevanter ist als die Gedanken mancher anderer Disziplinen. Bezüglich der schwierigen Abstraktheit würde der Philosoph diese häufig zugeben, allerdings zu Bedenken geben, dass auch andere Disziplinen wie die Mathematik und die theoretische Physik diese Eigenschaft aufweisen, ohne dass diese ihnen zum Vorwurf gemacht würde.

11.24.8 Typische Begriffe und deren Deutung in der Philosophie Die Philosophie verfügt über eine Vielzahl von Grundbegriffen wie Sein, Erkenntnis, Wissen, Wahrheit, Vernunft/Rationalität, Idee, Geist, Bewusstsein, Mensch, Sinn, Glück, Freiheit, Sprache, Wissenschaft, Schönheit, das Gute, Tugend, Gerechtigkeit und Recht, Leben, Zeit, Welt, Gott, etc. All diese Begriffe zeichnen sich durch ihre Komplexität und Differenziertheit, Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit, wechselseitige Verflechtung und Abhängigkeit aus. Entsprechend bemüht sich die Philosophie stets um eine immer weitergehende Klärung, ein immer tieferes Verstehen und ein jeweils kontextangemessenes Interpretieren und Deuten dieser Begriffe.

11.24.9 Die Bedeutung der Philosophie für das Coaching Da die akademische Philosophie traditionell zumeist ein Verständnis von Philosophie als Wissenschaft pflegt, entwickelte sich seit den 1980er Jahren begründet durch GERD ACHENBACH eine neue Form meist außeruniversitärer Philosophie, die Philosophische Praxis. Die philosophischen Praxen orientieren sich eher am Konzept der Philosophie als Lebensweise, als Streben nach Welt- und Lebensweisheit, und bieten im Rahmen philosophischer Gespräche philosophische Lebensberatung. In ihren philosophischen Gesprächen mit ihren Klienten sind die Philosophischen Praktiker nicht an bestimmte Philosophien gebunden, sondern schöpfen aus dem Reichtum der philosophischen Tradition und üben sich mit dem Klienten im eigenständigen und dialogischen Philosophieren als Tätigkeit. Die philosophischen Gespräche in der Philosophischen Praxis haben die Themen, Fragen, Probleme und Anliegen des Klienten zum Thema. Es geht um Klärung von Gedanken und um Selbsterkenntnis, um die rationale Prüfung der eigenen Ideen, Weltbilder, Meinungen, Lebensentwürfe, Normen und Werte, um Wert- und Sinnfindung, um Lebenskunst, Charakterentwicklung und Bildung, Lebensführung und Entscheidungsfindung, um den Umgang mit ethischen Dilemmata, um die Schulung des Denkens und Argumentierens. Es geht darum, diese Themen zwar durchaus auch allgemein philosophisch zu beleuchten, sie aber stets auf den konkreten, einzelnen und ganzen, das heißt, geistig-emotional-leiblichen Menschen in seiner Subjektivität und seiner besonderen Situation zu beziehen. Methodisch wird in der philosophischen Praxis u.a. mit Sokratischen Dialogen und Begriffsexplikationen, Lehrgesprächen, Argumentenanalysen, Gedankenexperimenten, Metaphern, Bildern und Lehrgeschichten, Kontemplationen, Textanalysen und -interpretationen gearbeitet. 542

Die philosophische Praxis weist vor diesem Hintergrund viele Ähnlichkeiten mit Psychotherapie, Coaching und Seelsorge auf, doch unterscheidet sie sich auch in vielem von jedem dieser drei anderen Ansätze. Unbeschadet dieser Unterschiede oder gerade ihretwegen vermögen alle diese vier Ansätze sich wechselseitig zu ergänzen und zu bereichern.

11.24.10 Basisliteratur HADOT, PIERRE (2005): Philosophie als Lebensform. Frankfurt am Main, Fischer PIEPER, ANNEMARIE (1998) (Hrsg.): Philosophische Disziplinen. Leipzig, Reclam STÖRIG, HANS JOACHIM (2006): Kleine Weltgeschichte der Philosophie. Frankfurt am Main, Fischer

543

11.25 Psychologie von Marc Solga und Melanie Dura

Psychologie ist die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten des Menschen. Ihre Aufgabe besteht darin, menschliches Denken, Fühlen und Verhalten systematisch zu beschreiben, zu erklären und kontrollierbar zu machen. Letzteres — kontrollierbar machen — mag befremdlich klingen; gemeint ist damit aber, dass Psychologie auch Handlungsempfehlungen geben will, wie menschliches Erleben und Verhalten durch Interventionen (Beratung, Coaching, Training, Therapie etc.) beeinflusst werden kann. Darüber hinaus ist die Psychologie durch ein naturwissenschaftliches Grundverständnis gekennzeichnet. Sie untersucht ihren Gegenstand mithilfe empirisch-quantitativer Forschungsmethoden und mittels hypothesenprüfender Statistik (BORTZ, 1999; BORTZ und DÖRING, 2001). Ihre Themen sind unerschöpflich. Innerhalb der eingangs skizzierten Grenzen gibt es nichts, was nicht Gegenstand psychologischer Forschung sein könnte: „Die Arbeit in der Psychologie ist vielfältiger Art; über Gefühle zu arbeiten, ist genauso möglich, wie über Denkprozesse zu forschen; auf elementar Erscheinendes einzugehen, ist so legitim wie der Zugriff zum Komplexen. Wer will, kann die Entwicklung des Kindes ebenso wie die des Greises untersuchen, kann die Menschen als Individuen oder als Gruppenmitglieder, die Unauffällig-Normalen oder die Gestört-Leidenden erforschen“ (SELG und DÖRNER, 2005, S. 37).

11.25.1 Anfänge/ Ursprünge der Wissenschaftsdisziplin 1908 schrieb HERMANN EBBINGHAUS, ein Pionier der experimentellen Gedächtnisforschung, dass die Psychologie zwar eine lange Vergangenheit, aber nur eine kurze Geschichte habe. Tatsächlich wurde sie als eigenständige akademische Disziplin und als eine mit empirischer Forschungsmethodik betriebene Wissenschaft erst im 19. Jahrhundert begründet. Das Jahr 1879 gilt vielen als ihr offizielles Gründungsjahr. Damals eröffneten WILHELM WUNDT und GUSTAV THEODOR FECHNER das weltweit erste psychologische Forschungslabor, das Institut für experimentelle Psychologie in Leipzig. Gleichwohl hat das Interesse, die menschliche Seele zu verstehen, bereits die Philosophen der Antike bewegt und eine spekulativ betriebene Seelenkunde sowie später eine akademische Philosophie des Geistes und eine philosophische Anthropologie hervorgebracht (SCHÖNPFLUG, 2004). Dazu gehören — um nur ein paar Beispiele zu nennen — die auf HIPPOKRATES zurückgehende Lehre von den vier Temperamenten ebenso wie RENÉ DESCARTES Überlegungen zum Leib-Seele-Problem oder KANTS Vorlesungen zur Anthropologie in pragmatischer Hinsicht von 1798. Sie sind gemeint, wenn von der langen Vergangenheit der Psychologie die Rede ist. Die Geschichte der Psychologie jedoch als einer streng empirischen Wissenschaft ist wenig mehr als einhundert Jahre alt.

11.25.2 Bedeutende Richtungen (Paradigmen) der Psychologie und ihre Vertreter In der Psychologie lässt sich heute nicht mehr sinnvoll von Schulen im Sinne geschlossener und miteinander unvereinbarer Denksysteme sprechen. Denn es gibt sie nicht mehr. Heute haben Psychologen 544

unterschiedliche Erkenntnis- oder Anwendungsinteressen. Sie beziehen sich jedoch auf gemeinsame psychologische Wissensgrundlagen und pflegen insgesamt einen eklektischen Umgang mit Theorien und Theoriebausteinen. Ein Blick in die Geschichte der Psychologie jedoch lässt drei große theoretische Paradigmen hervortreten: Kognitivismus, Behaviorismus und Tiefenpsychologie (ausführlich SCHÖNPFLUG und SCHÖNPFLUG, 1995). Sie haben die Psychologie intensiv geprägt und wirken bis heute. Tabelle 1 fasst die wichtigsten Aspekte zusammen.

11.25.3 Kognitivismus Für die Vetreter des Kognitivismus ist der Mensch ein vernunftbegabtes und zur Selbststeuerung fähiges Wesen. Erkenntnis bildet die Grundlage seines Handelns. Dabei meint Erkenntnis die Art und Weise, wie wir Informationen aufnehmen, interpretieren (Bedeutung zuschreiben) und zu Wissen verarbeiten. Erkenntnis in diesem Sinne ist ein aktiver Konstruktionsprozess. Er basiert auf der individuellen Vorerfahrung des Einzelnen. Zugleich erfolgt er nach beschreibbaren Regeln und Gesetzen. Diese Prinzipien menschlicher Informationsverarbeitung (des Wahrnehmens, Denkens und Entscheidens) sind der zentrale Forschungsgegenstand des Kognitivismus. Menschliches Verhalten ist zielgerichtet und zweckrational, das heißt, an Nutzen- und Erfolgserwartungen ausgerichtet. Der Mensch ist zur Selbsterkenntnis und zur Planung fähig sowie frei in seinen Entscheidungen. Das macht ihn zum (eigen-)verantwortlichen Gestalter seiner Persönlichkeit und seines Lebens. Es fällt schwer, einen hervorragenden Vertreter des Kognitivimus zu nennen, denn tatsächlich ist die gesamte Psychologie heute stark kognitiv geprägt. Von großer Bedeutung jedoch sind die Arbeiten ALBERT BANDURAS. Seine sozial-kognitive Theorie (1986) vereint die zentralen Konzepte des kognitiven Paradigmas.

11.25.4 Behaviorismus Im Gegensatz dazu betont der Behaviorismus den Einfluss von außen. Das Verhalten des Menschen wird durch Belohnung und Bestrafung geformt und durch Umweltreize gesteuert. Behavioristen konzentrieren sich auf Reiz-Reaktions- und Reiz-Folge-Beziehungen, um menschliches Verhalten zu erklären. Sie interessieren sich nicht für mentale Prozesse, weil diese nicht objektiv messbar sind. Der bekannteste Vertreter dieses Ansatzes ist BURRHUS FREDERIC SKINNER mit seiner Theorie der operanten Konditionierung: Positive Konsequenzen (sog. Verstärkung) sorgen dafür, dass ein Verhalten häufiger wird; negative Konsequenzen (Bestrafung) reduzieren die Verhaltenshäufigkeit. Ob ein bestimmtes Verhalten (eine Reaktion) in einer gegebenen Situation belohnt oder bestraft werden wird, signalisieren sog. diskriminative Reize. Das gesamte Verhaltensrepertoire eines Menschen ergibt sich aus dem Zusammenspiel von diskriminativen Reizen, menschlichen Reaktionen und positiven bzw. negativen Konsequenzen.

11.25.5 Tiefenpsychologie Zur Tiefenpsychologie zählen alle Ansätze, die sich mit unbewussten, durch frühkindliche Erfahrungen geprägten, seelischen Vorgängen beschäftigen. Sie schreibt diesen Vorgängen eine zentrale Rolle für das Erleben und Verhalten des Menschen zu. Das Wirken der frühkindlichen Erfahrungen (Triebkonflikte und Traumata; Beziehungsstile der Eltern) ist uns nicht bewusst; zugleich jedoch prägt es unser Wohlbefinden, unsere Persönlichkeit und die Art und Weise, wie wir zwischenmenschliche Bezie545

hungen gestalten. Zwei Aspekte grenzen das tiefenpsychologische Paradigma gegen die zuvor genannten Schulen ab: die Betonung des Unbewussten und die Hervorhebung der Bedeutung von Kindheitserfahrungen. Die wohl bekannteste dieser Strömungen ist die von SIGMUND FREUD geprägte Psychoanalyse. Sie ist jedoch — das wird von Laien oft übersehen — nur eine tiefenpsychologische Lehre von vielen. Die Ansätze von ALFRED ADLER, HEINZ KOHUT, DONALD WINNICOTT oder HARRY STACK SULLIVAN unterscheiden sich deutlich von FREUDS Theorie der verdrängten Triebimpulse. Sie stellen die kindliche Selbst- und Identitätsentwicklung sowie Beziehungsstile der Eltern in den Mittelpunkt der Überlegungen. Tabelle 1 Zusammenfassung der drei großen psychologischen Paradigmen

Paradigma

Untersuchungsschwerpunkt

Verhaltensursachen

Forschungsmethoden

Menschenbild

Kognitivismus

Bewusste, mentale Prozesse (Informationsverarbeitung); Sprache

Gesetzmäßigkeiten menschlicher Informationsverarbeitung; subjektive Bedeutungszuschreibungen, basierend auf individueller Vorerfahrung

Introspektion, lautes Denken, offene Befragung

Der Mensch besitzt Einsicht und Entscheidungsfreiheit; er trägt die Verantwortung für sein Handeln; er konstruiert seine Wirklichkeit

Behaviorismus

von außen beobachtbares Verhalten und seine Abhängigkeit von Umweltbedingungen

Umweltbedingungen (diskriminative Reize, positive und negative Konsequenzen)

Messung von Reizen und Reaktionen

Freiheit und Vernunft sind vorwissenschaftliche Begriffe; das Verhalten des Menschen wird durch die Umwelt bestimmt

Tiefenpsychologie

das unbewusste Wirken von Trieben, Konflikten, Beziehungsmustern im Kindheitsalter und die Art ihrer Verarbeitung

(unbewusste) Komplexe, Triebfixierungen, elterliche Beziehungsstile

Suche nach Symbolen des Unbewussten in der Sprache und im nonverbalen Ausdruck; Assoziationsmethode

Der Mensch ist ein Gefangener seiner Triebe sowie unbewusster Konflikte

11.25.6 Typische Fragestellungen und Anwendungsfelder der Psychologie Wie eingangs erwähnt, sind die Fragestellungen und Anwendungsfelder der Psychologie breit gefächert. Deshalb existieren viele Bindestrich- und Beiwort-Psychologien. Es folgt eine Übersicht zu den wichtigsten Bereichen der Psychologie, in der wir pragmatisch zwischen Grundlagen- und Anwendungsfächern unterscheiden. Grundlagenfächer • Die Allgemeine Psychologie fragt nach den basalen Prozessen menschlichen Erlebens und Verhaltens: Wahrnehmen, Denken und Problemlösen, Wissen und Gedächtnis, Wissenserwerb und Lernen, Sprechen, Emotion und Motivation. • Die Differentielle Psychologie betrachtet die Unterschiede zwischen den Menschen. Sie beschreibt die Merkmale der Persönlichkeit (z.B. Extraversion, Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, Offenheit, emotionale Stabilität) und der kognitiven Leistungsfähigkeit (z.B. allge546

meine Intelligenz, Konzentrationsfähigkeit, Kreativität), in denen wir uns voneinander unterscheiden. • Die Entwicklungspsychologie betrachtet die Entstehung und Veränderung der psychischen Funktionen von der Geburt bis ins hohe Alter (z.B. Entwicklung der Denkfähigkeit, des Selbstkonzepts, der moralischen Urteilskraft). • Die Sozialpsychologie beschäftigt sich mit dem Erleben und Verhalten des Individuums im zwischenmenschlichen Miteinander. Sie geht davon aus, dass unser Erleben und Verhalten durch soziale Beziehungen beeinflusst wird. Ihre Themen: Beurteilung von Menschen, Einstellungen und Vorurteile, Verhalten in Kleingruppen, Verhalten zwischen Gruppen, Aggression und Hilfeverhalten etc. • Die Biologische Psychologie untersucht den Einfluss biologischer Strukturen und Prozesse (Genetik, neuronale Prozesse, Sinnesphysiologie, Endokrinologie etc.) auf das Denken, Fühlen und Verhalten des Menschen. • Die Aufgabe der psychologischen Diagnostik besteht darin, wissenschaftlich und praktisch arbeitenden Psychologen valide Instrumente zur Datenerhebung an die Hand zu geben (Testverfahren, Verhaltensbeobachtungssysteme, Interviewtechniken). Anwendungsfächer In den Anwendungsfächern geht es darum, die Wissensgrundlagen der eben skizzierten Basisfächer auf praktische Fragestellungen anzuwenden. Tabelle 2 beschreibt die drei wichtigsten Anwendungsfächer. Tabelle 2 Zusammenfassung der drei großen psychologischen Paradigmen Fachgebiet

Gegenstandsbereich

Berufliche Anwendungsfelder

Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie

Erleben und Verhalten in der Arbeitstätigkeit, in (Wirtschafts-)Organisationen sowie auf Märkten

• • • • •

Personalauswahl und -entwicklung Change Management Marktforschung Werbung und Public Relations Berufsberatung

Klinische Psychologie und Gesundheitspsychologie

Psychische Störungen und Probleme; Prävention von und Umgang mit Stress sowie psychischen Aspekten körperlicher Probleme

• •

Psychologische Psychotherapie Gesundheitsberatung und Gesundheitsförderung Rehabilitation

Pädagogische Psychologie

Gestaltung von Lernumgebungen; Interaktionsprozesse im Kindergarten, in der Schule, in der Erwachsenenbildung





Beratung im schulpsychologischen Dienst

Darüber hinaus gibt es viele kleinere Anwendungsfächer: die Rechts- und Forensische Psychologie, die Verkehrspsychologie, die Umweltpsychologie, die Kunstpsychologie, die MenschTier-Psychologie, die Sportpsychologie etc.

11.25.7 Typische Theoreme und Deutungsmuster in der Psychologie Die zentralen Theoreme und Deutungsmuster der drei psychologischen Paradigmen — Kognitivismus, Behaviorismus und Tiefenpsychologie — sollten bereits deutlich geworden sein. Für die gegenwärtige Psychologie lässt sich angesichts der Fülle der Fragestellungen und Theorien nur schwer von typischen Theoremen und Deutungsmustern sprechen — man müsste schon sehr abstrakt werden. 547

Die meisten Psychologen würden sich aber sicherlich einer Perspektive anschließen, die nach ALBERT BANDURA als reziproker Determinismus bezeichnet wird. Sie besagt, dass sich die folgenden drei Größen stets wechselseitig beeinflussen (siehe Abbildung 1): 1. die Merkmale einer Person (ihr Temperament, ihre Einstellungen und Ziele, ihr Selbstbild, ihre biologische Ausstattung etc.), 2. die Aspekte ihrer Umwelt (die Anwesenheit eines Publikums, Vorbilder, Regeln, Leistungsanforderungen, Belohnung und Strafe etc.) und schließlich 3. das Verhalten dieser Person (dessen Richtung, Intensität und Persistenz) Abb. 1 Reziproker (wechselseitiger) Determinismus Person

Umwelt

Verhalten

11.25.8 Typische Kritik an der Psychologie Eine Kritik der Psychologie schlechthin lässt sich heute nicht mehr sinnvoll formulieren. Dafür ist das Fachgebiet zu groß und zu vielfältig. Kritik bezog sich in der Vergangenheit auf die bereits dargestellten Schulen, wenn ihre Lehren orthodox verfolgt wurden. Dabei wurde die schärfste Kritik naturgemäß von den Vertretern der jeweils anderen Schulen vorgetragen (und ihre Kritik fiel um so schärfer aus, je strenger der eigene Standpunkt durchgehalten wurde). So wurde den kognitiv orientierten Psychologen, die sich den inneren Vorgänge des Denkens und Entscheidens widmen wollten, vonseiten der Behavioristen vorgeworfen, dass ihr Gegenstandsbereich nur durch Introspektion und lautes Denken zu erfassen und mithin gar nicht objektiv messbar sei. Den othodoxen Vertretern des Behaviorismus ist — zu Recht — vorgeworfen worden, dass ihr Denken in simplen Reiz-Reaktions-Mechanismen der Komplexität menschlichen Erlebens und Verhaltens niemals gerecht werden könne. Die Sorge um wissenschaftliche Objektivität habe eine komplexe und realitätsgerechte Theorieentwicklung verhindert. Die Hauptkritik am tiefenpsychologischen Ansatz galt (und gilt bis heute) ihrem naiven Umgang mit wissenschaftlichen Standards; viele Grundannahmen seien empirisch gar nicht prüfbar oder basierten auf einer willkürlichen Interpretation weniger Einzelfälle. Weitere Kritikpunkte: die Überbetonung der Bedeutung von Kindheitserfahrungen sowie unbewusster Vorgänge für das menschliche Erleben und Verhalten. Ein Kritikpunkt gilt der akademischen Psychologie doch insgesamt (wenngleich die Vertreter dieser Sichtweise nicht mehr häufig zu hören sind). Er betrifft die quantitative, empirisch-naturwissenschaftliche Forschungsmethodik. Sie sei an sich affirmativ und trage zur Aufrechterhaltung der schlechten Verhältnisse bei, so die Vertreter der sog. kritischen Psychologie.

548

11.25.9 Bedeutung von Psychologie für das Coaching Für die Gestaltung von Coachingsprozessen sind die Erkenntnisse der Psychologie von sehr großer Bedeutung. Von den psychologischen Wissensgrundlagen profitieren Coaches auf mindestens drei Ebenen: 1. Beziehungsgestaltung, 2. Gestaltung von Lernprozessen, 3. theoriegeleitetes Verstehen der Anliegen eines Coachee. GREIF (2008) hat die Bedeutung von Psychologie für Coachingprozesse herausgearbeitet und entscheidende Aspekte zu einer psychologischen Coachingtheorie — Coaching als Aktivierung von Selbstreflexionsprozessen — verdichtet. Sein Buch sei dem interessierten Leser nachdrücklich empfohlen. Beziehungsgestaltung Die Klinische Psychologie weiß viel über die wirkungsvolle Gestaltung von Beratungsbeziehungen. Exemplarisch sei an dieser Stelle nur ein einziger, aber sehr zentraler Aspekte erwähnt. CARL ROGERS (1972), Begründer der nicht-direktiven Gesprächspsychotherapie, empfahl Beratern und Psychotherapeuten eine Haltung, die er mit den folgenden Schlagworten umschrieb: Kongruenz im Gespräch ganz da sowie offen und authentisch sein, Wertschätzung die Lebenswelt des Klienten bedingungslos wertschätzen, Empathie sich in die Lebenswelt des Klienten einfühlen, ihn verstehen und das Verstandene mitteilen. Das gehört heute zum therapeutischen Grundwissen. Aber nicht nur das Haltungskonzept der Gesprächspsychotherapie ist für die Gestaltung von Coachingsprozessen von großer Bedeutung. Coaching profitiert auch von den sog. bearbeitungsorientierten Interventionstechniken der Gesprächstherapie (Explizieren, Fokussieren, Konfrontieren, Fragen; REICHERTS, 2005). Gestaltung von Lernprozessen Die Pädagogische Psychologie und ferner die Arbeits- und Organisationspsychologie — letztere insbesondere dort, wo es um berufliche Weiterbildungsprozesse geht — thematisieren die wirkungsvolle Gestaltung von Lernumgebungen und sind deshalb für Coaching instruktiv. Auch hier sei beispielhaft auf einen einzelnen Aspekt eingegangen: die Gestaltung leistungsbezogenen Feedbacks. KLUGER und DENISI (1996) konnten zeigen, dass mehr als ein Drittel aller Feedbackprozesse negative Konsequenzen hat, nämlich Leistungseinbußen aufseiten des Feedbackempfängers. In ihrer Feedback-Interventions-Theorie (1996) spezifizieren sie deshalb die Erfolgsbedingungen. Die Theorie lässt sich — für praktische Zwecke stark vereinfacht — wie folgt zusammenfassen: Feedback erzeugt Ist-Soll-Vergleiche. Die Feedbackinformation veranlasst den Feedbackempfänger, ein realisiertes Ergebnis oder Verhalten (Ist) mit einer bestimmten Vorgabe, das heißt, einer Ergebnis- oder Verhaltenserwartung (Soll), zu vergleichen. Der spezifische Inhalt des Feedbacks legt fest, welche Größen in den Ist-Soll-Vergleich eingehen. KLUGER und DENISI unterscheiden drei Vergleichsebenen: Selbstbild-Ebene Auf dieser Ebene werden Informationen zum Selbstbild der Person (so bin ich) verglichen mit einer Idealvorstellung (so soll ich sein). Ergebnis-Ebene Auf dieser Ebene werden tatsächlich erzielte Ergebnisse (dieses Ergebnis habe ich erzielt) verglichen mit normativen Ergebniserwartungen (dieses Ergebnis hätte ich erzielen sollen). Prozess-Ebene Auf dieser Ebene werden konkrete Vorgehensweisen (so habe ich es gemacht) verglichen mit normativen Verhaltenserwartungen (so hätte ich es machen sollen). 549

Das kommunizierte Feedback lenkt die Aufmerksamkeit des Empfängers also auf dessen Selbstbild, auf die erzielten Ergebnisse oder aber auf das konkrete Verhalten, die Art und Weise seiner Aufgaben- oder Problembewältigung. Diese Steuerung des Aufmerksamkeitsfokus hat gravierende Auswirkungen auf das Verhalten eines Feedbackempfängers. Hier entscheidet sich, ob Feedback positive (leistungsförderliche) oder kontraproduktive (leistungsmindernde) Konsequenzen hat. Wird die Aufmerksamkeit durch negatives Feedback auf das Selbstbild der Person gerichtet, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sich Feedbackprozesse kontraproduktiv auswirken. Die Ursachen sind dabei folgende: • Die Auseinandersetzung mit negativen Aspekten des eigenen Selbstbilds verbraucht kognitive Ressourcen (z.B. für das Entwickeln von Rechtfertigungsargumenten), die nicht in die Bewältigung der eigentlichen Aufgabe investiert werden können. • Feedbackinformationen, die das positive Selbstbild der Person infrage stellen (etwa die Überzeugung, kompetent zu sein), erzeugen automatisch negative Gefühlsreaktionen (Enttäuschung, Scham, Ärger), die sich störend auf das Leistungsverhalten der Person auswirken. Wird die Aufmerksamkeit dagegen auf Ist-Soll-Diskrepanzen fokussiert, die das Handlungsergebnis bzw. die Handlungsausführung betreffen, so erhält der Feedbackempfänger wertvolle Hinweise, die eine bessere intellektuelle Durchdringung der fraglichen Aufgabe bewirken können und sich nutzen lassen, um zukünftig effektiver zu handeln. Auf diesen beiden Ebenen der Aufmerksamkeitsfokussierung — Ergebnis und Prozess — ist deshalb mit positiven Feedbackeffekten zu rechnen. Konsequenzen für die Coachingpraxis Feedback beeinflusst die Informationsverarbeitung des Feedbackempfängers; sie steuert seinen Aufmerksamkeitsfokus. Konstruktives Feedback sollte die Aufmerksamkeit auf konkrete Verhaltensweisen (Prozesse) und Verhaltenskonsequenzen (Ergebnisse), nicht aber auf personale Merkmale des Feedbackempfängers (Selbstbild) ausrichten — es sei denn, dies ist im Rahmen der Auftragsklärung explizit erbeten worden. Weitere Beiträge der Psychologie betreffen — um zwei andere Beispiele bloß zu nennen — die motivierende Vereinbarung von Zielen (hier ist die psychologische Zielsetzungstheorie instruktiv) sowie Bedeutung und Wege des Aufbaus von Selbstwirksamkeit (das heißt, von Vertrauen des Coachees in die eigene Tüchtigkeit, Aufgaben zu bewältigen und Gelerntes umsetzen bzw. anwenden zu können) im Zuge einer Coachingbeziehung. Theoriegeleitetes Verstehen der Anliegen eines Coachees Eine solide Kenntnis der arbeits- und organisationspsychologischen Theorien zu Führung, Emotion und Motivation im Arbeitsleben, Arbeitszufriedenheit, Stress, Kommunikation und Kooperation, Macht, Konflikt und Politik in Organisationen etc. kann im Businesscoaching dabei helfen, die Anliegen oder Probleme des Coachees theoriegeleitet zu verstehen. Das Lehrbuch von NERDINGER, BLICKLE und SCHAPER (2008) ist zur Einführung empfehlenswert.

11.25.10 Basisliteratur GREIF, S. (2008): Coaching und ergebnisorientierte Selbstreflexion: Theorie, Forschung und Praxis des Einzel- und Gruppencoachings. Göttingen, Hogrefe SCHÜTZ, A., SELG, H./LAUTENBACHER, S. (Hrsg.) (2005): Psychologie. Eine Einführung in ihre Grundlagen und Anwendungsfelder (3. Aufl.). Stuttgart, Kohlhammer ZIMBARDO, P. G./GERRIG, R. J. (2008): Psychologie (18. Aufl.). Berlin, Pearson BANDURA, A. (1986). Social foundations of thought and action: a social cognitive theory. Englewood Cliffs, N. J., Prentice-Hall 550

BORTZ, J. (1999): Statistik für Sozialwissenschaftler (5. Aufl.). Berlin, Springer Bortz, J./Döring, N. (2001): Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler. Berlin, Springer KLUGER, A. N./DENISI, A. S. (1996): The effects of feedback interventions on performance: A historical review, a meta-analysis, and a preliminary feedback intervention theory. Psychological Bulletin, 119, 254-284 NERDINGER, F. W., BLICKLE, G./SCHAPER, N. (2008): Arbeits- und Organisationspsychologie. Heidelberg, Springer Medizin REICHERTS, M. (2005): Gesprächstherapeutisch orientierte Psychotherapie. In M. Perrez/U. Baumann (Hrsg.), Lehrbuch Klinische Psychologie — Psychotherapie (S. 476-498). Bern, Huber ROGERS, C. R. (1972): Die nicht direktive Beratung (Originalausgabe 1942). München, Kindler SELG, H./DÖRNER, D. (2005): Psychologie als Wissenschaft — Aufgaben und Ziele. In A. Schütz, H. Selg/S. Lautenbacher, Psychologie: Eine Einführung in ihre Grundlagen und Anwendungsfelder (S. 22-39). Stuttgart, Kohlhammer SCHÖNPFLUG, W. (2004): Geschichte und Systematik der Psychologie: Ein Lehrbuch für das Grundstudium. Weinheim, Beltz SCHÖNPFLUG, W. & SCHÖNPFLUG, U. (1996): Psychologie: Allgemeine Psychologie und ihre Verzweigungen in die Entwicklungs-, Persönlichkeits- und Sozialpsychologie. Ein Lehrbuch für das Grundstudium. Weinheim, Beltz

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11.26 Psychologie der Entscheidung von Katharina Sachse

Welches Haus soll ich kaufen? Soll ich meinen Job aufgeben und mich selbstständig machen? Wo soll die neue Filiale unseres Geschäftes eröffnet werden? Wie soll ich mein Geld für die Altersvorsorge anlegen? Was koche ich zum Abendessen? Nehme ich heute den Regenschirm mit? So unterschiedlich schwierig und weitreichend diese Fragen sein mögen, sie haben alle etwas gemeinsam: Es handelt sich um Entscheidungssituationen. Entscheidungen finden statt, wenn sich eine Person zwischen verschiedenen Optionen präferenziell festlegt, also eine Option gegenüber einer oder mehreren anderen bevorzugt. Die Konsequenzen der Optionen können dabei mehr oder weniger sicher sein. Die Entscheidungspsychologie betrachtet jedoch nicht nur den Moment der Wahl, sondern den gesamten Prozess vom Erkennen der Entscheidungssituation über das Bewerten der verschiedenen Optionen bis hin zur eigentlichen Entscheidung und deren Umsetzung.

11.26.1 Ursprünge der Entscheidungsforschung Die Wurzeln der Entscheidungsforschung reichen weit zurück. Eine Quelle bilden philosophische und ökonomische Nutzentheorien. JEREMY BENTHAM (1748-1832) postulierte in seiner Theorie des Utilitarimus, dass eine Handlung dann (moralisch) gut ist, wenn sie den Nutzen der Allgemeinheit maximiert. ADAM SMITH (1723-1790) ging hingegen vom egoistisch Handelnden aus, der nach der Maximierung des persönlichen Nutzen strebt und gerade dadurch dem Wohl aller dient. Die zweite Quelle bilden mathematische Wahrscheinlichkeitstheorien, die von JAKOB BERNOULLI (1655-1705) und PIERRE-SIMON LAPLACE (1749-1827) aus Überlegungen zum Glücksspiel entwickelt wurden.

11.26.2 Entwicklung der Entscheidungsforschung Die Entscheidungsforschung entstand in der Mitte des 20. Jahrhunderts, indem Nutzen- und Wahrscheinlichkeitstheorien miteinander verknüpft wurden. Das prominenteste Modell der Entscheidungstheorie ist das Subjectively Expected Utility (SEU)-Modell von WARD EDWARDS (1954). Danach bewertet ein Entscheider den subjektiven Nutzen und die subjektive Wahrscheinlichkeit der Konsequenzen sämtlicher Optionen und wählt schließlich diejenige, für die die Kombination dieser Aspekte am günstigsten ist. Es hat sich jedoch gezeigt, dass reales Entscheidungsverhalten durch dieses Modell nur unzureichend beschrieben werden kann. In der Folge entwickelten sich Ansätze und Modelle, die basierend auf empirischen Untersuchungen tatsächliches menschliches Entscheidungsverhalten abzubilden versuchen. Die Ergebnisse dieser Forschungsrichtung können als deskriptive Entscheidungstheorien zusammengefasst werden. Als präskriptive Entscheidungstheorien gelten hingegen Ansätze, die beschreiben, wie unter der Voraussetzung bestimmter Prinzipien rationalen Handelns entschieden werden sollte. Vor allem in der Betriebswirtschaftslehre werden präskriptive Entscheidungsmodelle eingesetzt, um komplexe Entscheidungen zu strukturieren. Psychologische Entscheidungsforschung ist in der Regel deskriptiv. Oft werden je552

doch präskriptive Modelle herangezogen, um Forschungsfragen zu generieren und die aus ihnen resultierenden Ergebnisse, nämlich „reale“ Entscheidungen, mit denen „rationaler“ Entscheidungen zu kontrastieren.

11.26.3 Zentrale Annahmen und Modelle der deskriptiven Entscheidungstheorie Als Hauptgrund für die begrenzte Rationalität menschlicher Entscheidungen gilt die beschränkte Informationsverarbeitungskapazität des Menschen. Schon 1957 machte HERBERT A. SIMON darauf aufmerksam, dass entscheidungsrelevante Informationen nicht in dem Umfang aufgenommen und verarbeitet werden können, wie es das SEU-Modell postuliert. Sowohl bei der Bewertung des Nutzens als auch bei der Abschätzung der Wahrscheinlichkeiten sowie bei der Integration dieser Aspekte können Verzerrungen auftreten. In zahlreichen empirischen Studien wurde beobachtet, dass diese Abweichungen von der „Rationalität“ systematisch sind, woraus Schlussfolgerungen über die kognitiven Prozesse beim Entscheiden gezogen wurden.

11.26.4 Nutzenbewertung Nutzen wird nicht absolut bewertet. Wenn man 80 Euro für ein Menü ausgegeben hat, erscheinen acht Euro für einen Aperitif weniger teuer als nach einer Pizza für 10 Euro. Genauso freut die erste Million auf dem Konto mehr als die zweite. Der subjektive Wert eines Gutes (z.B. Geld) steigt nicht linear, sondern logarithmisch. In der Ökonomie wird dies als abnehmender Grenznutzen bezeichnet. Die logarithmische Nutzenfunktion ist ein zentrales Merkmal der von DANIEL KAHNEMAN und AMOS TVERSKY 1979 veröffentlichten Prospect-Theorie. Es wird angenommen, dass Ergebnisse von Entscheidungen nicht als absolute Größen, sondern abhängig von einem Referenzpunkt als Gewinne oder Verluste kodiert werden. Die Nutzenfunktion verläuft über Gewinne konkav (zusätzliche Gewinne freuen immer weniger) und über Verluste konvex (zusätzliche Verluste schmerzen immer weniger). Außerdem wird postuliert, dass die Nutzenfunktion für Verluste steiler ist als für Gewinne — Verluste einer bestimmten Höhe ärgern also mehr als Gewinne in gleicher Höhe erfreuen. Anhand der Nutzenfunktion der Prospect-Theorie können zahlreiche Phänomene erklärt werden, die bei der Beurteilung des Nutzens auftreten. Ein Phänomen ist der sog. Ausgabeneffekt: Die Bewertung eines Gutes hängt manchmal davon ab, wie viel Geld oder Zeit man bereits in dieses Gut investiert hat. Jemand, der bereits 1000 Euro in die Reparatur seines alten Autos investiert hat, ist wahrscheinlich eher bereit, noch mal 200 Euro zu investieren, um es vor dem Schrottplatz zu retten, als jemand, der mit einem gleichwertigen Auto noch nie in der Werkstatt war. Diesen Autobesitzer schmerzen die 200 Euro Verlust deutlich mehr als erstgenannten, der nach 1000 Euro Verlust „nur“ noch weitere 200 Euro verliert. Ein anderes Phänomen ist der Besitztumseffekt. So verlangen Besitzer eines Gutes oft einen höheren Preis, als potentielle Käufer zu zahlen bereit sind. Der Verkauf bedeutet Geldgewinn auf Seiten des Verkäufers und Geldverlust auf Seiten den Käufers. Durch die unterschiedliche Steilheit der Nutzenfunktion im Gewinn- und Verlustbereich resultieren bei einem identischen Geldbetrag also verschiedene subjektive Werte. Die Darstellung eines Sachverhaltes als Gewinn oder Verlust kann auch gezielt eingesetzt werden, um Menschen bestimmte Entscheidungen nahezulegen . Ein Arzt, der seinem Patienten droht „Wenn Sie nicht abnehmen, werden Sie früher sterben“ (Verlust) wird damit in der Regel eine größere Wirkung erzielen als der Arzt, der verspricht, „Wenn Sie abnehmen, werden Sie länger leben“ (Gewinn). Diese Art der unterschiedlichen Darstellung ein und desselben Sachverhaltes wird als Framing bezeichnet.

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Weitere Phänomene, die zu Verzerrungen bei der Nutzenbeurteilung führen können, sind ausführlich bei JUNGERMANN, PFISTER und FISCHER (2009) beschrieben.

11.26.5 Wahrscheinlichkeitsabschätzung Oft ist im Moment der Entscheidung nicht bekannt, ob die erhofften Konsequenzen eintreten und ob sie tatsächlich den erwarteten Nutzen haben. Jemand, der eine neue Herausforderung im Beruf sucht, weiß nicht, ob er diese bei den vorliegenden Angeboten wirklich findet und ob die neue Aufgabe ihm dann die erhoffte Zufriedenheit verschafft. Entscheidungen finden also unter Unsicherheit statt. In der Statistik ist die Wahrscheinlichkeit über das relative Auftreten eines Ereignisses definiert. In vielen Situationen müssen jedoch Entscheidungen getroffen werden, ohne dass Häufigkeitsdaten vorhanden sind. Die Entscheidungspsychologie hat untersucht, wie Menschen in solchen Situationen zu Wahrscheinlichkeitseinschätzungen gelangen und wie sie diese Einschätzungen an neue Informationen anpassen. KAHNEMAN und TVERSKY begründeten mit ihrem heuristics- and biases-Ansatz ein fruchtbares Forschungsfeld, das zur Entdeckung grundlegender Prinzipien intuitiver Wahrscheinlichkeitsschätzungen führte. Die Grundannahme dabei ist, dass Menschen kognitive Daumenregeln (Heuristiken) nutzen, die unter bestimmten Bedingungen zu systematischen Verzerrungen (Biases) im Wahrscheinlichkeitsurteil führen. Die bekanntesten Heuristiken werden kurz vorgestellt. 1.

2.

3.

Verfügbarkeit Ein Ereignis wird für um so wahrscheinlicher gehalten, je leichter oder schneller man in der Lage ist, sich Beispiele für dieses Ereignis vorzustellen. Hat man beispielsweise mehrere Bekannte, die sich erfolgreich selbstständig gemacht haben, so hält man die Wahrscheinlichkeit eines eigenen Erfolges für größer. Repräsentativität Ein Ereignis wird für um so wahrscheinlicher gehalten, je repräsentativer dieses Ereignis für die Population ist, aus der es kommt. Dabei wird oft die Basisrate des Ereignisses vernachlässigt, also wie wahrscheinlich dieses Ereignis überhaupt ist. Das bekannteste Beispiel ist das sog. Linda-Problem (TVERSKY und KAHNEMAN, 1982). Teilnehmer einer Untersuchung erhielten die Beschreibung der 31-jährigen Single-Frau Linda, die einen Magister in Philosophie hat, sich mit Diskriminierung befasste und an Anti-Atom-Demonstrationen teilnahm. Anschließend wurden die Teilnehmer gebeten einzuschätzen, welcher Tätigkeit Linda nachgeht. Vorgegeben wurde eine Liste mit verschiedenen Möglichkeiten, darunter (a) „Linda ist Bankangestellte“ und (b) „Linda ist Bankangestellte und in der Frauenbewegung aktiv“. Die Teilnehmer wiesen der zweiten Möglichkeit eine höhere subjektive Wahrscheinlichkeit zu als der ersten. Formal ist dies unmöglich, da (b) eine Teilmenge von (a) ist. Doch es ist schwer vorstellbar, dass Linda „nur“ eine Bankangestellte ist. Die Nutzung der Repräsentativitätsheuristik führte also in diesem Fall zu einer systematischen Verzerrung der Wahrscheinlichkeitsschätzung. Verankerung und Anpassung Eine gegebene Information wird als Anker für eine Vorhersage genutzt, die dann angepasst wird. Der ursprüngliche Anker kann dabei völlig belanglos sein. Der Verhaltensökonom DAN ARIELY hat dies eindrucksvoll nachgewiesen. Er bat seine Studierenden, die letzten beiden Ziffern ihrer Sozialversicherungsnummer zu notieren. Anschließend ließ er sie Gebote für verschiedene Genussmittel (Wein, Schokolade) abgeben. Die Studierenden mit hohen Endziffern boten dabei 60% bis 120% mehr als diejenigen mit niedrigen Endziffern.

Zwei weitere Phänomene treten oft bei der Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten auf. Zum einen wird oft die Güte des eigenen Wissens überschätzt (sog. Overconfidence), was beispielsweise dazu führen kann, dass zu mutig Geld in den Aktienmarkt investiert wird. Zum anderen wird re554

trospektiv die Wahrscheinlichkeit überschätzt, mit der das Eintreten eines Ereignisses erwartet wurde (sog. Rückschaufehler). So gab es nach dem Zusammenbruch des amerikanischen Hypothekenmarktes plötzlich viele, die meinten, sie hätten das schon kommen sehen. KAHNEMAN und TVERSKY postulieren im Rahmen ihrer Prospect-Theorie neben der Wertfunktion (s.o.) auch eine Wahrscheinlichkeitsgewichtungsfunktion (auch Entscheidungsgewichtungsfunktion), die abbildet, wie Wahrscheinlichkeiten für die Entscheidung berücksichtigt werden. Dabei werden kleine Wahrscheinlichkeiten übergewichtet, während mittlere und große Wahrscheinlichkeiten eher untergewichtet werden. Eine ausführliche Darstellung findet sich bei JUNGERMANN et al. (2009).

11.26.6 Entscheidungsmodelle Deskriptive Entscheidungsmodelle bilden Annahmen darüber ab, wie die verschiedenen Informationen in Entscheidungssituationen miteinander verknüpft werden, um zu einer Festlegung auf eine Option zu gelangen. Bei Entscheidungen unter Sicherheit, also in Situationen, in denen die Konsequenzen im Moment der Entscheidung bekannt sind, gibt es zwei verschiedene Arten von Entscheidungsregeln. Kompensatorische Modelle berücksichtigen alle Informationen und wägen diese gegeneinander ab. Ein Personalleiter kann beispielsweise entscheiden, dass die geringere formale Qualifikation eines Bewerbers durch dessen längere Berufserfahrung kompensiert werden kann. Bei non-kompensatorischen Modellen werden Optionen ausgeschlossen, die bestimmte Anforderungen nicht erfüllen, egal wie gut sie bei den anderen Anforderungen abschneiden. Hier würde der Personalleiter alle Bewerber ausschließen, die nicht mindestens Abitur haben. Dadurch wird die Menge der zu betrachtenden Optionen reduziert und der Aufwand minimiert, womit jedoch die Gefahr verbunden ist, dass Optionen ausgeschlossen werden, die bei den übrigen Eigenschaften hervorragend abschneiden. Die Wichtigkeit der verschiedenen Anforderungen sollte daher genau geprüft werden. Ein spezielles non-kompensatorisches Modell stellte HERBERT SIMON (1957) vor. Im Unterschied zu Modellen, die nach der bestmöglichen Lösung suchen (optimizing), postulierte er ein Befriedigungsmodell (satisficing), bei dem nacheinander so lange verschiedene Optionen geprüft werden, bis die erste das Anspruchsniveau erfüllt. Das beste Beispiel für eine solche Vorgehensweise ist die Partnerwahl. Für Entscheidungen unter Unsicherheit ist die Prospect-Theorie die einflussreichste Entscheidungstheorie der vergangenen Jahre. Mit Hilfe ihrer Funktionen (s.o.) können empirische Befunde erklärt werden, die vor allem in der Ökonomie als Anomalien oder Irrationalitäten gelten. Diese Leistung wurde 2003 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften gewürdigt.

11.26.7 Der Entscheidungsprozess Entscheidungssituationen entstehen, wenn ein gegebener Zustand von einem gewünschten Zustand abweicht, wenn also Ziele, die eine Person hat, aktuell nicht erfüllt sind. Entscheidungssituationen können aber auch entstehen, wenn eine aktuelle Situation nicht mehr beibehalten werden kann (z.B. durch Beendigung des Schule oder Verlust der Arbeitsstelle). In diesen Situationen muss sich der Entscheider zunächst erst einmal vergegenwärtigen, welche Ziele er hat. Ziele sind bestimmt von den Motiven und Werten des Entscheiders. Durch die Ziele werden die möglichen Optionen eingeschränkt, die der Entscheider in Betracht ziehen kann. Jemand, der in seinem Beruf anderen Menschen helfen möchte, wird andere Möglichkeiten des Studiums erwägen als jemand, der schnell viel Geld verdienen möchte. Die gegebenen Optionen werden daraufhin überprüft, inwiefern sie der Zielerreichung dienen. Dazu werden ihre möglichen Konsequenzen bewertet und die Wahrscheinlichkeiten ihres Eintretens abge555

schätzt. Dies geschieht mehr oder weniger explizit. Schließlich wird die Option gewählt, die am geeignetsten erscheint, die Ziele zu erfüllen. Bei einfachen Entscheidungen ist der Prozess damit in der Regel abgeschlossen. Bei schwierigen Entscheidungen mit langfristigen, bedeutsamen und/oder teuren Konsequenzen wird oft jedoch auch nach der Wahl über die Entscheidung nachgedacht. Häufig wird bei diesem Nachdenken die gewählte Option gestärkt, indem die nicht gewählten Optionen mental abgewertet werden. So kann beispielsweise betont werden, dass die neue Filiale des Geschäftes in einer wunderbaren Nachbarschaft liegt, während bei den nicht gewählten Standorten, die eine bessere Verkehrsanbindung haben, herausgestellt wird, dass dort der Lärm und die Luftverschmutzung groß sind. Ein solcher Prozess der nachträglichen Aufwertung der gewählten Option und Abwertung der nicht-gewählten Optionen kann dazu führen, dass an einer einmal getroffenen Entscheidung zu lange festgehalten wird, auch wenn sich herausstellt, dass diese die Ziele nicht vollständig erfüllen kann. Das Nachdenken über eine Entscheidung im Nachhinein kann aber auch dazu führen, dass Bedauern empfunden wird, sich nicht für eine der anderen Optionen entschieden zu haben. Dies geschieht vor allem in Situationen, in denen man mit der gewählten Option unzufrieden ist. Stellt sich beispielsweise beim neuen Job heraus, dass die Vorgesetzte unkooperativ ist und das Büro zu laut, kann es bedauert werden, sich nicht für ein alternatives Jobangebot entschieden zu haben, bei dem der Arbeitsweg weiter und die Bezahlung schlechter wäre. Dabei wird dann vernachlässigt, dass es bei der nicht gewählten Alternative eventuell ähnliche negative Aspekte geben könnte.

11.26.8 Kritik an der Entscheidungsforschung und neuere Entwicklungen Die meisten Befunde der Entscheidungspsychologie stammen aus experimentellen Untersuchungen, in denen die Teilnehmer mit stark eingegrenzten Entscheidungssituationen konfrontiert wurden, bei denen alle Informationen bekannt waren und keine realen Konsequenzen drohten. Manche Kritiker behaupten, diese Befunde seien auf reale, meist komplexe Entscheidungssituationen nicht zu übertragen. Dem kann jedoch entgegengehalten werden, dass Menschen im Labor die gleichen kognitiven Werkzeuge nutzen, die sie auch für tatsächliche Entscheidungen einsetzen. Die traditionellen Modelle erklären Entscheidungen ausschließlich über die antizipierten Konsequenzen. In den letzten 20 Jahren sind Modelle entstanden, die den Entscheidungskontext stärker in den Fokus rücken. Von GARY KLEIN (1993) wurde ein Modell für Entscheidungen unter Zeitdruck und Stress entwickelt, wodurch beispielsweise das Entscheidungsverhalten von Notärzten und Piloten erklärt werden soll. JAMES MARCH analysierte 1994 die Entscheidungen von Managern und fand, dass diese primär durch Rollenerwartungen der Organisation bestimmt sind. Andere Ansätze beschäftigen sich stärker mit dem Prozess des Entscheidens. Oft werden zwei Entscheidungsmodi unterschieden. In komplexen, neuen und/oder wichtigen Situationen werden Entscheidungen bewusst getroffen, das heißt, verschiedene Optionen werden betrachtet, ihre Konsequenzen bewertet, verglichen und schließlich kombiniert, um eine Wahl zu treffen. Die meisten Menschen werden so vorgehen, wenn sie ein neues Auto kaufen möchten. Dieser bewusste Entscheidungsmodus erfordert hohen kognitiven und zeitlichen Aufwand. Demgegenüber gibt es routinisierte bzw. automatische Entscheidungen. Diese werden manchmal auch als intuitive bzw. Bauchentscheidungen bezeichnet. Solche Entscheidungen werden in Situationen getroffen, die sehr bekannt sind, häufig wiederkehren oder unwichtig sind. Diese Entscheidungen können schnell und ohne großen kognitiven Aufwand getroffen werden, indem beispielsweise frühere Erfahrungen oder Heuristiken genutzt werden. Beim Lebensmitteleinkauf im Supermarkt werden die meisten Menschen nicht das gesamte Käseangebot analysieren, sondern sich für die Sorte entscheiden, die ihnen in der Vergangenheit gut geschmeckt hat. Solche Entscheidungen sind oft mit Affekten (Gefühlen) verknüpft. Optionen werden bevorzugt gewählt, wenn sie mit positiven Emotionen verknüpft sind. Beim Käsekauf beispielsweise kann positiver Affekt dadurch ausgelöst werden, dass ein bestimmter Käse in der Vergangenheit in einer besonders angenehmen Situation verzehrt wurde. Die Werbung versucht diesen Effekt gezielt zu steuern, indem sie versucht, ihre Produkte 556

mit positiven Emotionen zu koppeln. Die Rolle von Affekten bei Entscheidungen wurde in den letzten Jahren verstärkt berücksichtigt. Die Idee eines allgemeinen Modells, das Entscheidungen in verschiedensten Situationen erklären kann, wurde heute aufgegeben. Stattdessen werden je nach Situation oder Kontext unterschiedliche Modelle postuliert.

11.26.9 Anwendungsfelder der Entscheidungspsychologie Vor allem in der Wirtschaft werden Modelle der präskriptiven Entscheidungsforschung eingesetzt, um die vorhandenen Informationen zu strukturieren, diese nachvollziehbar zu bewerten und zu begründbaren Wahlen zu gelangen. Eine ausführliche Übersicht über die dabei eingesetzten Methoden und zahlreiche Beispiele bieten EISENFÜHR, WEBER und LANGER (2010) in ihrem Werk „Rationales Entscheiden“. Erkenntnisse der deskriptiven Entscheidungsforschung werden in der Verhaltensökonomie (Behavioral Finance) genutzt, um das Verhalten der Anleger zu erklären oder vorherzusagen. Sie liefern ebenfalls zentrale Annahmen für die Konsumentenpsychologie, die genutzt werden, um das Kaufverhalten zu erklären oder zu beeinflussen. Für Bereiche, in denen wiederholt wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen (z.B. bei Piloten), wurden spezielle Trainings entwickelt und technische Assistenzsysteme konstruiert, die das Entscheidungsverhalten optimieren sollen. Auch in der individuellen Beratung, beispielsweise zu finanziellen oder medizinischen Fragestellungen, ist der Einsatz entscheidungstheoretischer Modelle denkbar. Dies wird bisher jedoch kaum explizit angeboten.

11.26.10 Anwendungsfeld Coaching Menschen nutzen Coaching in Situationen, in denen sie nicht genau wissen, was sie möchten, in denen sie den Wunsch nach einer Veränderung haben und/oder unsicher sind, was die Zukunft bringen wird. Die Entscheidungspsychologie bietet Ansätze, die zur Klärung dieser Probleme beitragen können. Jede Entscheidung wird getroffen, um Ziele zu erreichen. So wurden Techniken erarbeitet, mit deren Hilfe man persönliche Ziele generieren und strukturieren kann. Dies ist die Voraussetzung, um den Nutzen möglicher Konsequenzen überhaupt bewerten zu können. Bei einem vorhandenen Wunsch nach Veränderung muss überlegt werden, welche Alternativen es zur aktuellen Situation gibt. Für die Generierung möglicher Optionen gibt es Methoden, mit deren Hilfe kognitive Fallstricke vermieden werden können. Die Unsicherheit der Zukunft ist eine Tatsache, die sich nicht ausräumen lässt. Menschen gelangen jedoch manchmal zu völlig verzerrten Einschätzungen der Wahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse. Die Entscheidungspsychologie liefert Erklärungen für diese Verzerrungen und damit Mittel, ihnen zu entgegnen. MATTHIAS NÖLLKE (2010) liefert einen kurzen, aber sehr guten Überblick über verschiedene Entscheidungshilfen und -techniken, die auch im Rahmen des Coaching angewendet werden können. Auch nachdem eine Entscheidung getroffen wurde, kann diese unterstützend begleitet werden. Zum einen bedeutet Entscheidung nicht gleich Umsetzung. Zögert ein Coachee bei der Umsetzung seiner Entscheidung, sollte hinterfragt werden, woran das liegt. Möglicherweise fehlt das Wissen um geeignete Maßnahmen zur Umsetzung. Dieses kann erarbeitet werden. Möglicherweise fehlt aber auch die Motivation oder die Entscheidung „fühlt“ sich nicht richtig an. Dann sollte kritisch geprüft werden, 557

wie die Wahl zustande gekommen ist. Vielleicht wurden nicht alle Ziele berücksichtigt? Vielleicht gab es außerhalb des Coachee liegende Gründe für die Wahl (z.B. Erwartungen des sozialen Umfeldes)? Vielleicht wurden nicht alle Aspekte der gebotenen Optionen berücksichtigt? Dann kann der Coachee ermuntert werden, einen Schritt zurückzugehen und seine Wahl eventuell zu revidieren. Aber auch wenn ein Coachee mit seiner Entscheidung zufrieden ist und keine Probleme bei der Umsetzung hat, kann seine Wahl aufschlussreiche Hinweise über seine (impliziten) Ziele und Motive liefern. Hat er sich „intuitiv“ für eine bestimmte Option entschieden, kann analysiert werden, welche Merkmale diese Option von den anderen gegebenen Wahlmöglichkeiten unterscheiden. Dies liefert Anhaltspunkte dafür, welchen Zielen die gewählte Alternative besonders gerecht wird. Mit dem Coachee kann so geprüft werden, ob er diese Ziele auch explizit als erstrebenswert erachtet. Der Coach kann Entscheidungen seines Coachee unterstützen, sie jedoch nicht für ihn treffen. Er kann den Entscheidungsprozess begleiten. Wurden wirklich alle Ziele berücksichtigt, wurde der Nutzen der Konsequenzen adäquat bewertet, wurden die Wichtigkeiten der einzelnen Aspekte angemessen geschätzt, gingen alle Informationen in die Entscheidung ein? So kann der Coach dazu beitragen, eine gute Entscheidung zu treffen. Die Güte bezieht sich dabei jedoch nur auf den Prozess. Sie kann nicht vom Ergebnis (den eingetretenen Konsequenzen) her bewertet werden. Denn dieses ist bei Entscheidungen unter Unsicherheit (und das sind die meisten wichtigen Entscheidungen) eben nicht vorhersagbar.

11.26.11 Basisliteratur ARIELY, DAN (2010): Denken hilft zwar, nützt aber nichts: Warum wir immer wieder unvernünftige Entscheidungen treffen. München, Knaur HAMMOND, JOHN S./KEENEY, RALPH L./RAIFFA, HOWARD (1999): Smart Choices. Die aktive Methode für bessere Entscheidungen. Regensburg, Walhalla Metropolitan JUNGERMANN, HELMUT/PFISTER, HANS-RÜDIGER/FISCHER, KATRIN (2009): Die Psychologie der Entscheidung. 3.Aufl., Heidelberg, Spektrum Akademischer Verlag NÖLLKE, MATTHIAS (2010): Entscheidungen treffen. 5. Aufl., Planegg, Haufe

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11.27 Psychotherapie von Dominique Schwarz

Im Unterschied zur Psychologie, die als die „wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Verhalten und den mentalen (inneren, subjektiven) Prozessen“6 definiert wird, versteht man unter Psychotherapie einen „bewussten und geplanten interaktionellen Prozess zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen mittels lehrbarer, auf einer Theorie des normalen und pathologischen (krankhaften) Verhaltens begründeter (…) Techniken“.7 Psychotherapie versteht sich also als eine Behandlungsmöglichkeit psychisch kranker, das heißt, abnorm erlebender, empfindender und/oder sich verhaltender Menschen, bei der Therapeut und Patient durch Gespräche resp. übende Verfahren zu einem gemeinsam definierten Ziel zu gelangen suchen. Voraussetzung hierfür ist eine tragfähige therapeutische Beziehung. Seitens des Therapeuten basiert diese Beziehung erstens auf dem uneingeschränkten Akzeptieren des Patienten, das heißt, er begegnet dem Patienten in unbedingter positiver Zuwendung in Achtung vor dessen Individualität, zweitens auf Echtheit, das heißt, der Therapeut verhält sich authentisch und transparent, und drittens auf Empathie, einfühlendem Verstehen, was bedeutet, den Patienten in seinem Erleben zu begreifen.

11.27.1 Anfänge/Ursprünge/Quellen der Psychotherapie Die Wurzeln psychotherapeutischer Praktiken gehen bis in die Ursprünge der Menschheit zurück. Der Mensch ist als soziales Wesen physisch und psychisch von Geburt an von anderen Menschen — zunächst den Eltern — abhängig. Die Psyche des Einzelnen ist sein subjektives, inneres Empfinden und Erleben, was sich auf sein Handeln und seine Reaktionen auswirkt. Die Einbindung in ein primär durch Erfahrung geprägtes, soziales Rollenmuster macht die Menschen sehr sensibel für „normgerechtes“ Verhalten und Empfinden des Einzelnen. Aus diesem Grund gab es schon immer Menschen, die elementare psychotherapeutische Praktiken vollzogen haben, indem sie andere, die einen Leidensdruck hatten, durch Worte oder Taten unterstützt haben. Solche Menschen können ganz allgemein Familienangehörige sein, die eine unterstützende Funktion im System wahrnehmen, es gab aber auch zu jeder Zeit und in jeder Kultur ganz unterschiedliche spezifische Rollenträger wie beispielsweise Schamanen, Medizinmänner oder Geistliche, deren Rolle die Milderung psychischer (das Erleben und Empfinden betreffender) oder somatischer (den Körper betreffender) Beeinträchtigungen war. Erste Beschreibungen von psychischen Störungen lieferte ca. 400 v.Chr. der griechische Arzt HIPPOKRATES. Er beschreibt u.a. Depression, Wahnvorstellung und Delirien mit einem Ungleichgewicht der Körperflüssigkeiten.8 Aus der Zeit der Antike nach HIPPOKRATES finden sich zahlreiche weitere Darstellungen von Krankheitsbildern. Neben körperlichen Behandlungsmethoden gaben die Römer den Kranken u.a. anspruchsvolle Texte zu lesen oder aktivierten sie durch Spiele.

6 7 8

Myers, David G. Psychologie, 2., erw. und aktual. Aufl., Heidelberg 2004, S. 3. Machleidt, Wielant/Bauer, Manfred u.a., Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, 7., aktual. Aufl., Stuttgart 2004, S. 151. Hippokrates, Sammtliche Werke (1897), übersetzt von Robert Fuchs, Kessinger Pub Co 2009. 559

Im Verlauf des Mittelalters ging das Wissen um psychische Erkrankungen fast ganz verloren. Im späten Mittelalter (15.-17. Jahrhundert) wurden Krankheiten ohne klare physische Ursache als Besessenheit, Wahnsinn oder Irrsinn deklariert, die Betroffenen eingesperrt, gemartert oder im Zuge der Inquisition verbrannt. Diese Haltung änderte sich erst in der Neuzeit des späteren 17. und 18. Jahrhunderts, als der Humanismus in das Weltbild der Menschen Einzug hielt. Der französische Psychiater PHILIPPE PINEL wandelte die Behandlung seelischer Krankheiten 1793, als er am Pariser Nervenkrankenhaus Hôpital Salpêtrière seine Behandlungen erstmals ohne Zwang und Festbinden der Patienten durchführte. Er legte damit den Grundstein zur modernen Psychiatrie, bei der heute Überschneidungen mit der Psychotherapie bestehen. Die Anfänge der als „modern“ bezeichneten Psychotherapie sind in Übereinstimmung mit den meisten Autoren auf das Ende des 19. Jahrhunderts zu datieren, namentlich mit den ersten Aufzeichnungen des Psychoanalytikers SIGMUND FREUD („Studien über Hysterie“, 1895).9 Sein therapeutischer Ansatz, die „Psychoanalyse“, die er gemeinsam mit dem Wiener Arzt JOSEF BREUER entwickelt hatte, wurde lange Zeit synonym für „Psychotherapie“ verwendet (vgl. Kriz 2007, S. 1).

11.27.2 Entwicklung und bedeutende Richtungen der Psychotherapie und deren Vertreter Die moderne Psychotherapie gliedert sich in vier Schulen: 1. Tiefenpsychologie 2. Verhaltenstherapie 3. Humanistische Therapien 4. Systemische Ansätze

11.27.2.1 Tiefenpsychologie Die Tiefenpsychologie ist die älteste Form der modernen Psychotherapierichtungen. Der von EUGEN BLEULER eingeführte Begriff geht auf die Psychoanalyse von SIGMUND FREUD zurück. Nach dessen Verständnis umfasst der Begriff der Psychoanalyse drei abgrenzbare Bereiche: 1. Eine allgemeine psychologische Theorie des menschlichen Erlebens und Handelns (…) 2. Eine Methode zur Erforschung psychischer Vorgänge (…) 3. Ein Verfahren zur Behandlung psychischer Störungen (…)10 In der Folgezeit entwickelten sich daraus weitere Richtungen, die zur Tiefenpsychologie gezählt werden: die Individualpsychologie nach ALFRED ADLER, die Analytische Psychologie nach CARL GUSTAV JUNG, die Vegetotherapie nach WILHELM REICH, die Bioenergetik nach ALEXANDER LOWEN und die Transaktionsanalyse nach ERIC BERNE (mehr dazu vgl. Kriz 2007, S.20 ff.). 9 10

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Freud, Sigmund, Gesammelte Werke, 7. Aufl., Frankfurt 2006. Kriz, Jürgen, Grundkonzepte der Psychotherapie, 6.vollst.überarb.Aufl., Weinheim, 2007, S.20

Alle tiefenpsychologischen Ansätze begründen das Verhalten und Erleben eines Menschen im Wesentlichen mit unbewussten seelischen Vorgängen. Wenngleich diese Vorstellung schon zu früheren Zeiten existierte, waren FREUD und seine Nachfolger die ersten, die diese Annahme systematisch untersuchten und weiterentwickelten. FREUD betrachtete die menschlichen Triebe zur Lebens-, Art- und Selbsterhaltung als die bestimmenden Kräfte der Psyche. So begründete er die Entstehung von Störungen vor allem mit unzureichender Triebregulation (unterdrückte Triebe äußern sich in körperlichen oder psychischen Störungen) und Konfliktverarbeitung (das gegensätzliche Wirken von widerstreitenden Impulsen und Instanzen führt zu Störungen). Die Tiefenpsychologie findet überall dort Anwendung, wo vermutet werden kann, dass frühkindliche Erlebnisse und Beziehungen ursächlich für eine Störung sind. Typische Vorgehensweise Psychoanalyse Der Patient liegt auf der klassischen Couch, der Therapeut sitzt dahinter. Der Patient redet in freier Assoziation (vgl. Typische Kritik an der Psychotherapie), erzählt also ungebremst, was ihm gerade durch den Kopf geht. Hintergrund dieser Methode: Indem der Therapeut für den Patienten unsichtbar hinter ihm sitzt, fühlt sich der Patient freier, den Gedanken, die aus seinem Unterbewusstsein fließen, ihren Lauf zu lassen. Ohne Unterscheidung zwischen wichtig und unwichtig sagt der Patient zunächst alles, was ihm einfällt. Der Therapeut greift minimal ordnend oder hinterfragend ein. Der Patient gelangt so auf einer sehr tiefen Ebene in Kontakt zu seinem Unterbewusstsein, weswegen die Psychoanalyse zu den aufdeckenden Therapien zählt. Typische Vorgehensweise in der Tiefenpsychologie Die Methodik ist der Psychoanalyse sehr verwandt, der Hauptunterschied liegt darin, dass der Therapeut hier seinem Patienten gegenübersitzt. Die Couch wird durch einen Sessel oder bequemen Stuhl ersetzt, der Patient kann den Therapeuten als ein in sein eigenes Inneres spiegelndes Gegenüber wahrnehmen. Der Therapeut stellt auch hier eine Projektionsfläche für den Patienten dar, das heißt, er kann als Stellvertreter für eine problematische Figur aus dem früheren Leben des Patienten fungieren, z.B. als Vater oder Mutter.

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Abb. 1 Freud und seine Nachfolger1

1

Ebd., S.15

11.27.2.2 Verhaltenstherapie Zu den Verhaltenstherapien zählen die lerntheoretische, die kognitive und die rational-emotive Therapie. Diese als „Gegenprogramm“ zur Psychoanalyse entwickelte Therapieform bezeichnet weniger einen einzelnen Ansatz, sondern vielmehr eine heterogene Gruppe von recht unterschiedlichen Ansätzen. Alle unter die Verhaltenstherapie zu fassenden Therapieformen haben allerdings eines gemeinsam: Das lerntheoretische Verständnis für den Ursprung und die Therapie von psychischen Störungen. Im Mittelpunkt der Behandlung mit Verhaltenstherapie steht die Veränderung des Verhaltens durch Prozesse wie Neulernen, Umlernen und Verlernen. In den Jahren 1953 bis 1959 wurde die Bezeichnung „Verhaltenstherapie“ von drei Forschungsgruppen unabhängig voneinander eingeführt. Die Gruppen wurden geleitet von B.F. SKINNER in Amerika, von JOSEPH WOLPE in Südafrika und von HANS-JÜRGEN EYSENCK in London. Frühe theoretische Ansätze für diese Therapieform lieferte IWAN PAWLOW bereits in den 1890er-Jahren mit seinen Beobachtungen zur klassischen Konditionierung von Hunden (Reiz-Reaktions-Schema, vgl. Kriz 2007, S.106 ff.). Mithilfe von Techniken, die in der Tradition der klassischen Konditionierung standen, entwickelten JOSEPH WOLPE in Südafrika sowie eine Londoner Gruppe um HANS-JÜRGEN EYSENCK unter dem Überbegriff „Lerntheoretische Verhaltenstherapie“ das Systematische Desensibilisierungsverfahren zum Abbau von Ängsten (vgl. Kriz 2007, S.117 ff.). B.F. SKINNER entwickelte im Rahmen des amerikanischen „Behaviorismus“ das Prinzip der „Operanten Konditionierung“ mit dem Ziel, durch positive Verstärkung erwünschtes Verhalten aufzubauen (vgl. Kriz 2007, S.113 ff.). 562

In den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts entstand als Gegenbewegung zur behavioristischen Therapie die kognitive Verhaltenstherapie. In ihrem Mittelpunkt stehen Kognitionen, das heißt, Gedanken, Einstellungen, Bewertungen, Überzeugungen. In der kognitiven Verhaltenstherapie wird mit dem reflexiven Bewusstsein des Menschen gearbeitet, seinem Verständnis von Bedeutungen und der Möglichkeit zur Einnahme von Fremdperspektiven. Methoden sind hierbei u.a. Modelllernen und andere Problemlösungstherapien zur Korrektur von irrationalen Einstellungen und anschließender Übertragung des veränderten Denkens und Fühlens in Verhalten und Reagieren. (vgl. Kriz 2007, S. 130 ff.) Die rational-emotive Therapie (RET) wurde in den 1950er-Jahren von ALBERT ELLIS entwickelt. Nach ELLIS ist das Denken Ursprung und Lösung bei psychischen Störungen. Er entwickelte das A-B-CSchema: Eine Person erlebt nach ... A „activating event“, also irgendeinem aktivierenden Ereignis; C „consequences“, nämlich emotionale oder verhaltensmäßige Konsequenzen; B steht nun für „belief system“, also den Gedanken der Person zu den Ereignissen. Demnach werden Verhalten und Fühlen eines Menschen nicht von den Ereignissen selbst, sondern durch das Denken maßgeblich beeinflusst (vgl. Kriz 2007, S.141 ff.). Durch gefühls- und erlebnisorientierte Methoden werden irrationale Überzeugungen bewusst gemacht und kritisch hinterfragt. Der Patient erkennt dysfunktionale, selbstschädigende kognitive Schemata und lernt, dass er seinen Gefühlen nicht hilflos ausgeliefert sein muss, sondern durch seine eigenen geistigen Kräfte lernen kann, Gefühle und Verhalten aktiv zu ändern. Verhaltenstherapie ist vor allem wirksam, wenn durch Verhaltensänderung eine Verbesserung des Gesamtzustands eines Patienten erreicht werden kann, ohne dabei auf die Ursache der Störung einzugehen. Das funktioniert besonders gut etwa bei Ängsten und Phobien. Typische Vorgehensweise in der Verhaltenstherapie Der Verhaltenstherapeut arbeitet primär mit der Modifikation des Verhaltens beim Patienten, so beginnt er mit einer Verhaltensanalyse. Ändert der Patient seine eingefahrenen Verhaltensmuster, wird sich durch neue Erfahrungen sein Denkmuster und schließlich seine Gefühlswelt verändern. Im Unterschied zu den Tiefenpsychologischen Richtungen, die das Unterbewusste im Fokus haben, betrachtet diese Therapieform vor allem die Funktionsweisen des menschlichen Gehirns. Der Verhaltenstherapeut macht also mit seinem Patienten Übungen in sensu (Gedankenübungen, z.B. zur Entspannung) und in vivo (z.B. Konfrontation mit Situationen oder Dingen). Er begleitet den Patienten dabei, die als dysfunktional identifizierten Verhaltensmuster zu durchbrechen und neue zu erlernen.

11.27.2.3 Humanistische Therapien Unter die humanistischen Ansätze zählen die Personenzentrierte (auch Klientenzentrierte oder Gesprächs-)Psychotherapie nach CARL ROGERS, die Gestalttherapie nach FRITZ PERLS, die Logotherapie nach VIKTOR FRANKL und das Psychodrama nach IACOV MORENO (vgl. Kriz 2007, S.163ff.). Diese Therapieformen haben ihre Wurzeln in der Existenzphilosophie (eine philosophische Richtung, die im Zentrum ihres Denkens die Existenz des Menschen hat), der Phänomenologie (eine gegenwärtige philosophische Strömung, die den Ursprung der Erkenntnisgewinnung in unmittelbar gegebenen Erscheinungen sieht) und im Humanismus. In Abgrenzung zur Psychoanalyse und zur Verhaltenstherapie ist den humanistischen Therapien eine holistische, also ganzheitliche Orientierung gemeinsam 563

(Holismus = Ganzheitslehre vs. Betrachtung der Einzelelemente). Die humanistische Psychologie lehrt, dass sich mit dem Ziel der Selbstverwirklichung eine gesunde und schöpferische Persönlichkeit entfaltet. So geht die von griech. logos = Sinn abgeleitete Logotherapie davon aus, dass der Mensch existenziell auf Sinn ausgerichtet ist und ein nicht sinnerfülltes Leben zu psychischen Krankheiten führen kann. Besonders starke psychologische Einflüsse liegen bei allen humanistischen Richtungen in der Gestaltpsychologie. Sie geht im Sinne des Holismus davon aus, dass die Bedeutung der Einzelteile erst durch die Gesamtheit einer Gestalt bestimmt wird. Die Gestalt ist demnach mehr als nur die Summe ihrer Teile. Die schulenübergreifenden Grundsätze von bedingungsloser positiver Wertschätzung des Patienten sowie Empathie und Kongruenz (Echtheit) seitens des Therapeuten gehen auf die Gesprächspsychotherapie von CARL ROGERS zurück. Die Hilfe suchende Person mit ihren Gefühlen, Wünschen, Wertvorstellungen und Zielen steht bei ROGERS im Mittelpunkt der therapeutischen Interaktion. Die Sichtweise des Therapeuten steht dabei im Hintergrund, Ratschläge und Bewertungen sind zu vermeiden (non-direktives Verhalten des Therapeuten). Mit dem Psychodrama, einer vom Stegreiftheater inspirierten Gruppentherapie, bereicherte MORENO die humanistischen Therapien um die Komponente der menschlichen Begegnung. Als eine Form von Rollenspiel stellte das Psychodrama die erste Form der Gruppentherapie dar, was in anderen humanistischen und systemischen Therapieformen aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Die humanistischen Therapieansätze können bei jeder Form von psychischer Störung oder Erkrankung hilfreich Anwendung finden. Typische Vorgehensweise in der Humanistischen Therapie Therapeut und Patient sitzen sich auf gleicher Augenhöhe gegenüber, weswegen man in dieser Therapierichtung auch verstärkt vom Klienten statt vom Patienten spricht. Der Therapeut spiegelt seinen Klienten, indem er die von diesem gesagten Dinge wertschätzend und empathisch annimmt und wiederholt, um sie so stärker ins Bewusstsein des Klienten zu holen. Dabei ist es ausdrücklich nicht das therapeutische Ziel, Rat zu erteilen oder Aufgaben zu geben, sondern der Klient soll sich durch die intensive Beschäftigung mit sich und der ständigen Spiegelung seines Selbst durch den Therapeuten selbst aktualisieren, also seine Potenziale ausschöpfen und entfalten.

11.27.2.4 Systemische Ansätze Systemische Psychotherapieansätze entwickelten sich — unter Beeinflussung durch unterschiedliche psychologische Ansätze — aus der seit den 50er-Jahren manifestierten Form der Familientherapie. Darunter ist ein breites Feld zu verstehen mit einer Vielzahl von verschiedenen, in den USA und in Europa entwickelten Modellen, die jedes für sich einen Beitrag zur Entwicklung moderner systemischer Therapien geleistet haben (vgl. VON SCHLIPPE/SCHWEITZER, S.23 ff.). Heute finden sich meist Mischformen dieser ursprünglichen Richtungen. Allen Ansätzen gemein ist, dass sie das System betrachten, in dem eine Person lebt, also ursprünglich die Zweierbeziehung oder die Familie. Systemische Methoden lassen sich aber auch z.B. auf ein 564

Team, ein berufliches oder soziales Umfeld anwenden. „Systemtherapeutische Techniken ergeben sich aus der Frage, wie in sozialen Systemen Menschen gemeinsam ihre Wirklichkeit erzeugen, welche Prämissen ihrem Denken und Erleben zugrunde liegen und welche Möglichkeiten es gibt, diese Prämissen zu hinterfragen und zu ‚verstören‘.“11 Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der Veränderung von Deutungen und Wirklichkeitsinterpretationen eines Menschen. So können z.B. auch Krankheiten oder Symptome im Kontext als nützlich und klärend anstatt als behindernd betrachtet werden. Ähnlich wie bei den humanistischen Therapien hat die Systemische Therapie auch überall dort ihre Daseinsberechtigung, wo ein Mensch seinen seelischen Problemen auf den Grund gehen will. Eine besondere Bedeutung spielt diese Richtung bei der Paar- und Familientherapie, oder wenn Grund zur Annahme besteht, dass die Ursache für eine Störung in der Familie oder bei den Vorfahren zu suchen ist. Typische Vorgehensweise in der Systemischen Therapie Das Verhältnis zwischen Therapeut und Patient ist bei den Systemikern von den humanistischen Grundsätzen wie Wertschätzung, Empathie und Kongruenz geprägt. Die Settings (Arrangement in der therapeutischen Sitzung) können in der Systemischen Therapie ganz unterschiedlich aussehen: Die klassische Situation Therapeut — Patient ist ebenso möglich wie die bei der Paartherapie beliebte Konstellation Ehepaar — männlicher Therapeut und weibliche Therapeutin. Bei der Familienaufstellung oder -skulptur gibt es Varianten von ein bis zwei leitenden Therapeuten bis hin zu einem ganzen Therapeuten-Team. Der stärkste inhaltliche Unterschied zu den zuvor beschriebenen Therapierichtungen liegt darin, dass die Systemiker nicht nur die aktuelle Familie, sondern auch Vorfahren und mitunter Vorvorfahren in die therapeutische Arbeit mit einbeziehen. Der Blick reicht hier sehr weit in die gegenwärtigen Kontakte wie auch in die biografischen Ahnenreihen, die bedeutsam für aktuelle Problematiken sein können. Gerade die Aufstellungsarbeit ist hier ein sehr wertvolles Instrument, um auch Verstorbene oder aus anderen Gründen nicht erreichbare Angehörige zu würdigen und belastende Ereignisse oder Verhältnisse aus der Vergangenheit für den Patienten aufzulösen.

11.27.2.5 Integrative Therapie In den 1960er-Jahren entstand als ein Konglomerat aus den verschiedenen Therapieschulen das Verfahren der Integrativen Therapie. Sie ist ein Psychotherapieverfahren, in dem unterschiedliche methodische Ansätze wie Psychodrama, Gestalttherapie, Psychoanalyse sowie Ansätze der Verhaltenstherapie u.a. integriert sind. Die integrative Therapie geht davon aus, dass die einmalige Individualität eines Menschen, seiner Biografie und seiner Lebenssituation es erfordern, dass man einen individuellen, maßgeschneiderten Therapieansatz für jeden Einzelfall entwickelt, der auch flexibel an den Therapiefortschritt angepasst und verändert wird. Der äußere Rahmen (Zeit, Mittel, Rahmenbedingungen) muss dabei ebenso berücksichtigt werden, wie der ganze Mensch mit Körper, Geist und Seele in seiner Umwelt. Das Verfahren hat somit den Vorteil, dass der Blick von der Methode flexibel auf den Patienten und dessen individuelle Bedürfnisse und Entwicklungsschritte gerichtet werden kann.

11

Von Schlippe, Arist/Schweitzer, Jochen, Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung, 10. Aufl., Göttingen 2007, S.17 565

Abb. 2 Stammbaum der Psychotherapie und ihrer Schulen1 Existenzielle Psychotherapie

Humanistische Psychologie

Tiefenpsychologie

Suggestive und TranceMethoden

Systemische Modelle

Verhaltenstherapeutische Ansätze

Hypnose

1900

Psychoanalyse 1910 Individualpsychologie 1920 Logotherapie + Existenzanalyse

Analytische Psychologie Autogenes Training Psychodrama

1930

Reichsche Körpertherapie 1940

Daseinsanalyse

Klientenzentrierte Psychotherapie

Gestalttherapie 1950 Dynamische Gruppentherapie 1960 Transaktionsanalyse

Integrative Therapie

Selbstpsychologie

1

Katathymes Bilderleben Hypnotherapie nach Erickson

Klassische Verhaltenstherapie

1970

Systemische (Familien-)Therapie

Neurolinguistisches Programmieren

Kognitive Verhaltenstheorie

1980

Stumm, Gerhard / Wirth, Beatrix, Psychotherapie, Schulen und Methoden, 3.Aufl., Wien, 2006

11.27.3 Typische Fragestellungen in der Psychologie In der modernen Psychologie wird Verhalten aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und hinterfragt. Der Schweizer Psychotherapieforscher KLAUS GRAWE nennt z.B. als allgemein wichtige Fragen „die Frage nach dem Verhältnis bewusster und unbewusster Prozesse, die Frage nach dem Selbst, Selbstwertgefühl, Identität, Fragen danach, wie Gefühle, Gedanken und Motive miteinander zusammenhängen (…).“12 So unterschiedlich nun die Ansätze bei den oben genannten Therapierichtungen sind, so unterschiedlich sind ihre Fragestellungen, wenn es darum geht, menschliches Verhalten und Empfinden zu erklären und zu verändern. Die folgende Tabelle zeigt einige Ansätze auf und demonstriert die Unterschiedlichkeit der Blickwinkel in den einzelnen Disziplinen. Der psychodynamische (auch tiefenpsychologische) Ansatz sowie der lerntheoretische und kognitive sind in der Tabelle genannt, ich ergänze noch die humanistischen und systemischen Ansätze. 12

566

Grawe, Klaus, Psychologische Therapie, 2.korr.Aufl., Göttingen, 2000, S.4

Tabelle 1 Aktuelle Ansätze in der Psychologie 1 Zentrale Fragestellung

Typische Fragen

Neurowissenschaftlicher Ansatz

Auf welche Weise werden durch den Körper und das Gehirn Emotionen, Erinnerungen und sensorische Erfahrungen überhaupt erst möglich?

Wie werden Informationen im Körper weitergeleitet? Welche Verbindung gibt es zwischen der chemischen Zusammensetzung des Blutes und der Stimmung bzw. des Antriebes?

Evolutionärer Ansatz

Wie fördert die natürliche Selektion von Merkmalen die Weitergabe der eigenen Gene?

Auf welche Weise beeinflusst die Evolution bestimmte Verhaltenstendenzen?

Verhaltensgenetischer Ansatz

Wie stark beeinflussen unsere Gene und unsere Umwelt unsere individuellen Unterschiede?

Wie stark sind psychologische Merkmale wie Intelligenz, Persönlichkeit, sexuelle Orientierung oder Depressionsanfälligkeit genetisch bestimmt? Wie stark werden sie durch die Umwelt geprägt?

Psychodynamischer Ansatz

Wie entwickelt sich Verhalten aus unbewussten Trieben und Konflikten?

Wie können wir die Persönlichkeitsmerkmale oder die Störung eines Menschen in Begriffen wie Sexual- oder Aggressionsantrieb oder als maskierten Ausdruck unerfüllter Wünsche und Kindheitstraumata erklären?

Lerntheoretischer Ansatz

Wie erlernen wir beobachtbare Reaktionen?

Wie lernen wir, vor bestimmten Objekten oder Situationen Angst zu haben? Welche wirksamen Methoden gibt es, unser Verhalten zu ändern, etwa abzunehmen oder nicht mehr zu rauchen?

Kognitiver Ansatz

Wie kodieren, verarbeiten und speichern wir Informationen, und wie rufen wir sie wieder ab?

Wie benutzen wir Informationen, wenn wir uns erinnern, argumentieren oder ein Problem lösen?

Soziokultureller Ansatz

Wie variiert Verhalten und Denken je nach Kultur und Situation?

Wir sind Afrikaner, Asiaten, Australier, Europäer oder Amerikaner. Worin gleichen wir uns als Mitglieder der einen menschlichen Familie? Worin unterscheiden wir uns voneinander als Angehörige verschiedener Umwelten?

Humanistischer Ansatz

Wie findet der Mensch seinen Lebenssinn?

„Wie ist der Mensch?” anstatt „Warum ist er so?” Wie kann sich der Mensch selbst verwirklichen?

Systemischer Ansatz

Was erhält ein Problem aufrecht? Wie konstruieren wir Lösungen?

Wofür ist ein Problem sinnvoll und hilfreich? Welche Lösungsmöglichkeit bietet es uns an? Für welches Problem im System ist ein Mensch Symptomträger?

1

Myers, S.12, Tab.1

Ergänzung

567

11.27.4 Typische Deutungsmuster in der Psychologie (Analyse- und Lösungsstrategien) Es gibt in der Psychologie lt. MYERS drei zentrale Analyseniveaus, welche das Verhalten und die mentalen Prozesse eines Menschen beeinflussen: Biologische Einflüsse (Genetische Prädispositionen und Mutationen, Anpassung, Umwelteinflüsse) Psychologische Einflüsse (Ängste, Erwartungen, Reaktionen, kognitive Verarbeitung und Interpretationen) Soziokulturelle Einflüsse (Anwesenheit anderer, Erwartungen der Umwelt, Einflüsse, Rollenmodelle) „Jeder wissenschaftliche Ansatz hat seine spezifischen Fragen und seine Begrenzungen.“ (…) Diese helfen dabei, „zu verstehen, warum Menschen so denken, fühlen und handeln, wie sie es tun.“13 Wir wollen uns hier auf die psychologischen Einflüsse beschränken, zur Veranschaulichung stellt MYERS die Frage, „wie sich die unterschiedlichen Sichtweisen der Psychologie (…) gegenseitig ergänzen können und wie sie (beispielsweise das Gefühl der) Wut in einem anderen Licht erscheinen lassen. (…)”. Ein Psychologe mit einem psychodynamischen (tiefenpsychologischen) Ansatz würde einen Wutausbruch als Ventil für eine unbewusste Feindseligkeit betrachten. Ein Psychologe mit einem verhaltenstheoretischen Ansatz würde den Gesichtsausdruck und die Körperhaltung untersuchen, die mit Wut einhergehen, oder er würde herauszufinden versuchen, welche äußeren Reize zu wütenden Reaktionen oder aggressiven Handlungen führen. Ein Psychologe mit einem kognitiven Ansatz würde untersuchen, wie unsere Interpretationen einer Situation unsere Wut beeinflusst und wie die Wut auf unser Denken wirkt.14 Auch hier will ich wieder die humanistische und die systemische Denkweise ergänzen: Ein Psychologe mit einem humanistischen Ansatz würde die Wut als Möglichkeit zur Selbstverwirklichung annehmen, wertschätzen und den Patienten zur Selbstexploration anregen. Ein Psychologe mit einem systemischen Ansatz würde die Wut als aktuelle Lösungsmöglichkeit für ein dahinter steckendes Problem betrachten und würde durch Fragetechniken versuchen herauszufinden, wo das eigentliche Problem liegt.

11.27.5 Typische Axiome und Theoreme der Psychotherapie Tiefenpsychologie Die Tiefenpsychologie hat diverse Prinzipien hervorgebracht: 13 14

568

Ebd., S.13 Ebd., S.12f

Das Prinzip des Unbewussten Die Annahme eines dem Bewusstsein vorgelagerten Bereichs, von dem der Mensch (ohne Aufklärung von Experten) keine Kenntnis hat. Das Ich-Prinzip Die Ich-Instanz beinhaltet die Funktionen des realistischen Erkennens und des vernunftgeleiteten Handelns. Das Libido-Prinzip Alle psychische Tätigkeit bedarf psychischer Energie aus der Libido (dem Triebhaften). Die Libido drängt auf Triebbefriedigung, die teilweise vom Ich verschafft werden kann und teilweise unbefriedigt zurückbleibt. Das Prinzip der Verdrängung Das Ich verdrängt nicht befriedigte Triebe ins Unbewusste, wenn es erkennen kann, dass eine spontane Triebbefriedung eine längerfristige Befriedigung verhindern könnte, z.B. Unterdrückung eines aggressiven Impulses um eine (befriedigende) Partnerschaft zu erhalten. Das Prinzip der Gegenverdrängung Verdrängte Triebe agieren im Unterbewusstsein weiter und tauchen z.B. als Symbole in Träumen auf oder verändern das rationale, realitätsgerechte Verhalten des Betroffenen in neurotisches, irrationales Verhalten. Das Prinzip der frühkindlichen Fixierung Durch die ersten schweren Konflikte während der frühkindlichen Sozialisation erfährt der Mensch schwere seelische Wunden und Traumata. Mit dem ersten Trauma beginnt die Verdrängungsgeschichte. Diese frühen Verdrängungen bilden den Kern des Unbewussten. Verhaltenstherapie Die Grundsätze der Verhaltenstherapie als ein Anwendungsbereich der Verhaltensforschung sind auch als Lerntheorien bekannt geworden. Man unterscheidet zwei Grundtypen der Konditionierung: 1. Die Klassische Konditionierung betrifft das ausgelöste Verhalten — der lernende Organismus hat keine Kontrolle über den Reiz oder seine Reaktion. 2. Die Operante Konditionierung hat das Ziel, ursprünglich spontanes Verhalten durch die Konsequenzen (Belohnung/Bestrafung) nachhaltig zu verändern. Zu erwähnen ist das Reiz-Reaktions-Modell (auch Stimulus-Response(S-R)-Modell). Das ist ein Modell der behavioristischen Psychologie, das Reiz und Reaktion kausal miteinander verknüpft. Der Begriff Reiz bezeichnet dabei nicht ein physikalisches Ereignis, sondern sämtliche inneren und äußeren Reize einer gegebenen Situation. Humanistische Therapien Die Humanistische Psychologie lehrt, dass sich eine gesunde und schöpferische Persönlichkeit mit dem Ziel der Selbstverwirklichung entfaltet. Grundlegende Annahme der Persönlichkeitstheorie von CARL ROGERS ist das Streben des Menschen nach Selbstverwirklichung und Selbstaktualisierung: Der Mensch erfährt im Kindes- und Jugendalter eine Auseinandersetzung mit seiner Umwelt, die hierbei erlebten Eindrücke, Erlebnisse und Wahrnehmungen beeinflussen die Entwicklung 569

seines Selbstkonzeptes. Das kann sowohl negativ als auch positiv sein. Das Selbstkonzept beinhaltet das Idealselbst (die Erwartungen der Gesellschaft an den Menschen, bzw. welche Eigenschaften und Fähigkeiten er gerne hätte) und das Realselbst (welche Eigenschaften/Fähigkeiten der Mensch tatsächlich hat) und ist Sitz der individuellen Realität. Die individuelle Realität bestimmt unser eigenes Erleben, Wahrnehmen und Verarbeiten von äußeren Reizen. Systemische Therapie Die Systemische Therapie basiert weniger auf Lehr- oder Grundsätzen als vielmehr auf Grundannahmen. Als Grundlage für Diagnose und Therapie dienen die systemischen Zusammenhänge in einer Gruppe. Der Ansatz betrachtet das familiäre oder organisatorische System, dem ein Mensch zugehörig ist, als Ressource, auf dem aufbauend der Einzelne seine Fähigkeiten und Stärken schöpft, aber auch Störungen entwickeln kann. Verhaltensauffälligkeiten eines Menschen als Mitglied einer Gruppe werden als Symptom für eine Störung in seinem Gesamtsystem betrachtet, er wird zum Symptomträger. Erst durch die Betrachtung der anderen Gruppenmitglieder kann sich eine Problemlösung eröffnen.

11.27.6 Typische Anwendungsfelder der Psychotherapie Im Unterschied zur Psychiatrie, die bei psychisch kranken Menschen medikamentös und/oder durch eine vorübergehende stationäre Unterbringung eingreift, dient die Psychotherapie zur supportiven, also unterstützenden Begleitung von Menschen, um deren subjektiven Leidensdruck — etwa bei psychosomatischen Krankheiten (körperliche Krankheiten, die auf seelische Belastungen zurückzuführen sind), Verhaltensstörungen oder sonstigen Leidenszuständen — zu lindern. Der subjektive Leidensdruck gilt dabei als Maßstab für den Erfolg jeder Therapie. Das heißt, erst wenn ein Mensch selbst unter einem Symptom leidet und unter Einsicht der psychischen Beteiligung daran aktiv an dessen Linderung oder Heilung arbeiten möchte, ist eine Therapie möglich. Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Therapie sind also die Eigenmotivation des Patienten, sein lösungsorientierter Wille zur Heilung und zur Selbstverwirklichung, was wiederum voraussetzt, das der Patient geistig und emotional imstande ist, diesen Willen bewusst zu erkennen und zu äußern. Das ist grundsätzlich bei jeder Form von psychischer Erkrankung, wie sie nach ICD-1015 oder DSMIV16 beschrieben werden, möglich und kann parallel zu einer ärztlichen, medikamentösen Behandlung stehen, gleichwohl arbeitet die Psychotherapie selbst ohne medikamentöse Mittel. Neben den psychischen Erkrankungen findet die Psychotherapie ein breites Anwendungsfeld bei allen anderen Formen seelischer Belastung, etwa bei privaten, familiären oder beruflichen Problemen, akuten Krisen oder im Krankheits- oder Trauerfall. Das kann in Form von Einzel-, Paar-, Gruppen- oder Familientherapie ebenso wie in Form einer psychologischen Beratung von Teams oder Unternehmen stattfinden. 15 16

570

Dilling, H./ Mombour, W./ Schmidt, M.H. (Hrsg.), Internationale Klassifikation Psychischer Störungen — ICD-10 Kapitel V (F), 5.durchges. und erg.Aufl., Bern, 2005 Saß, U./ Wittchen, H.-U. u.a. (Hrsg.), Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen — DSM-IV-TR, 1.Aufl., Göttingen, 2003

Die Entscheidung, ob und wann ein medikamentöses Eingreifen oder eine psychiatrische Unterbringung erforderlich wird und ob ein Patient aktuell therapiefähig ist, obliegt im Einzelfall dem Therapeuten, weshalb eine gute Ausbildung und ein hohes Maß an Erfahrung und Einfühlungsvermögen erforderlich ist.

11.27.7 Typische Kritik an der Psychotherapie Die Psychotherapie hat im Laufe des letzten Jahrhunderts zahlreiche Kritiker gefunden, wobei es weniger um die psychotherapeutische Arbeit im Allgemeinen als vielmehr um Kritik an den einzelnen Therapieformen im Speziellen geht. Ein namhafter Kritiker, der aus seiner eigenen Historie als Psychoanalytiker speziell diese auf SIGMUND FREUD zurückgehende Therapieform kritisiert, ist der Amerikaner JEFFREY M. MASSON. In seinem Buch „Die Abschaffung der Psychotherapie“17 stellt er die unter Psychoanalytikern verbreitete Ansicht in Frage, ihre Patienten emotional besser zu verstehen als diese selbst. Einer seiner größten Kritikpunkte ist, das die Therapeuten nach FREUD sich herausnahmen zu unterscheiden, was ihren Patienten tatsächlich im realen Leben widerfahren und was als Produkt von deren innerer Fantasiewelt entstanden war. Zwei weitere erwähnenswerte Autoren sind HILARION PETZOLD und MICHAEL MÄRTENS, die in ihrem Buch VertreterInnen der wichtigsten therapeutischen Richtungen zu „Therapieschäden: Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie“18 zu Wort kommen lassen. (Als Therapieschaden ist anzusehen, wenn ein Patient sich nach der Psychotherapie schlechter und/oder weniger funktionsfähig fühlt als vorher.) Aus der Tradition der Erforschung von Risiken und Nebenwirkungen bei Arzneimitteln entstand die Idee eines informativen Ratgebers, in dem verschiedene psychotherapeutische Methoden und Anwendungsbereiche aus theoretischer und empirischer Sicht beleuchtet werden. Letztlich bietet jede Therapieform für sich betrachtet Anlass zur Kritik: Bei der Psychoanalyse ist es die Allmachtsposition des Therapeuten. An der Verhaltenstherapie wird vor allem seitens der humanistischen Psychologen die Neigung zur Effizienz und die mechanische Dressur mit Belohnung und Strafe kritisiert (vgl. hierzu das o.g. Prinzip der „Operanten Konditionierung“ mit dem Ziel, durch positive Verstärkung erwünschtes Verhalten aufzubauen, Kriz 2007, S.113 ff.). Die Systemischen Familientherapeuten bekamen besonders zu Beginn ihrer Entwicklung scharfen Gegenwind aus der traditionellen tiefenpsychologischen Welt, da sie über keine Theorie der Psyche und auch weder über ein Psychopathologie-(psychisches Krankheits-)Konzept noch eine etablierte exakte Störungstheorie verfügen. HILARION PETZOLD war es denn auch, der in den 1960er-Jahren die „Integrative Therapie“ entwickelte, mit der viele moderne Psychotherapeuten arbeiten.

11.27.8 Typische Begriffe und deren Deutung in der Psychotherapie Auch bei der Frage um Begrifflichkeiten gilt wieder: Es gibt nicht die Psychotherapie mit einheitlichen und gleichwertig bedeutsamen Fachtermini. Jede Richtung hat für sich wichtige Begriffe entwickelt, mit denen sie sich zumeist gegen andere Richtungen abgrenzt. Hier ein Auszug der wichtigsten Begriffe: 17 18

Masson, Jeffrey M., Die Abschaffung der Psychotherapie - Ein Plädoyer, München 1991. Märtens, Michael/ Petzold, Hilarion (Hrsg.), Therapieschäden: Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie, Mainz 2002. 571

Wichtige Begriffe in der Tiefenpsychologie: Freie Assoziation Der Patient soll seinen Gedanken und Einfällen während der Therapiesitzung freien Lauf lassen. Übertragung und Gegenübertragung Der Therapeut reagiert mit seinen eigenen Gefühlen und Impulsen auf den Patienten. Traumdeutung Das Traumgeschehen wird als wichtige Informationsquelle für die unbewussten Erlebniswelten eines Menschen betrachtet. Das Unbewusste Die dem menschlichen Bewusstsein nicht zugänglichen Bereiche der Seele. Unterteilt in persönliches (individuelles) Unbewusste und kollektives Unbewusste, das sich aus dem Erlebten der Menschheitsgeschichte geprägt hat. Abwehrmechanismus Kompensation von miteinander in Konflikt stehenden menschlichen Tendenzen (Triebe, Wünsche, Werte, Motive). In der Verhaltenstherapie spielen u.a. folgende Begriffe eine Bedeutung: Kognition Verhaltensprobleme werden als Ergebnis falscher Annahmen, Schlüsse, Glaubenssätze betrachtet. Konditionierung Erlernen von (neuen) Reiz-Reaktionsmustern. Konfrontation Vor allem bei Angst- und Zwangsstörungen wirksames Verfahren zur Gegenkonditionierung. Problem- und Zielorientierung Therapeut und Patient arbeiten individuell an einem gemeinsam definierten Ziel. Prinzip der minimalen Intervention Der Patient soll mit minimaler Unterstützung maximale Hilfe zur Selbstkontrolle und Selbsthilfe erhalten. In der Humanistischen Psychotherapie sind vier Grundgedanken zum Menschenbild zentral: Autonomie Der Mensch strebt nach Unabhängigkeit von äußerer Kontrolle. Selbstverwirklichung Der Organismus strebt danach, seine schöpferischen Fähigkeiten zu entfalten. Ziel- und Sinnorientierung Handlungen sind sinnstrukturierend und zielorientiert und bilden so eine Brücke zwischen innerer und äußerer Realität. Ganzheit Der menschliche Organismus wird in seiner Ganzheitlichkeit von Gefühl und Vernunft, von Leib und Seele betrachtet. Zu den systemischen Techniken und Begrifflichkeiten gehören: Joining Gestaltung eines therapeutischen Arbeitsbündnisses zwischen Therapeut und Patient. 572

Neutralität und Allparteilichkeit Der Therapeut ist allen Anwesenden und Veränderungen gegenüber wertfrei und gleichermaßen zugewandt. Ressourcenorientierung Dem Patienten werden seine Stärken und Reserven klar gemacht. Familienanamnese und Genogramm Skizzieren wesentlicher Familienmitglieder mit ihren Eigenschaften, Symptomen und Schicksalen. Reframing Umdeutung negativer Wirklichkeitsbeschreibungen. Systemisches/zirkuläres Fragen Fragen nach Vermutungen, Wahrnehmungen, Deutungen bei anderen Familienmitgliedern. Lösungsorientiertes Fragen Das Verhalten wird als aktuelle Lösungsmöglichkeit einer Situation wertgeschätzt, durch Fragestellung wird der Blick auf einen anderen Fokus verlagert. Eine typische Frage wäre hier beispielsweise: „Wofür ist Ihr Symptom gut?“, wodurch der Blick auf das tatsächliche Problem gelenkt werden kann. Paradoxe Intervention „Symptomverschreibung“: Das problematische Verhalten wird in Form einer Hausaufgabe gefördert, wodurch es sich auflösen kann. Familienskulptur/Familienaufstellung Aus dem Psychodrama entwickelte Darstellung von Strukturen mittels im Raum aufgestellter Personen.

11.27.9 Bedeutung der Psychotherapie für das Coaching Coaching ist Hilfe zur Selbsthilfe. Wird in diesem Zusammenhang Coaching so verstanden, dass der „Coachee“, also der Klient, sein Thema selbst analysiert, seine Ressourcen identifiziert und sie zu einem Handlungsplan verbindet, können aus den verschiedenen Psychotherapie-Schulen unterschiedliche Theorien und Modelle genutzt werden, die es dem Coachee ermöglichen, selbst Erkenntnisse und, damit einhergehend, Ziel und Handlungen abzuleiten. Er bearbeitet sein Thema selbstorganisiert, wofür ihm der Coach Strukturen zur Verfügung stellt. Wird Coaching so verstanden, dass der Coach den Coachee analysiert und ihm auf einer Handlungsebene (beratend) Hilfe anbietet, so ist dieses Verständnis dem Verständnis von Psychotherapie sehr nahe. Der Unterschied liegt darin, dass der Coach keine psychischen Krankheiten diagnostizieren und im Sinne des deutschen Heilkundegesetzes heilen darf. Es sei denn, er verfügt über die entsprechende therapeutische Qualifikation. Ähnlich wie der Therapeut begleitet auch der Coach, basierend auf seiner Analyse, seine Klienten bei der Lösung eines Problems und fördert deren Selbstreflexion und die Veränderung von Wahrnehmen, Erleben und Verhalten. Das Paradoxon dieser Sichtweise liegt in der Analyse. Ein Coach, der therapienah arbeitet, wendet Diagnosemaßstäbe an, die das Erkennen von Abweichungen vom „Normalen“ ermöglichen — gleichzeitig will er die persönliche Entwicklung und Veränderung eines (gesunden) Menschen unterstützen.

573

Die Psychotherapie bietet dem Coaching eine Vielzahl von Strukturen, die es auch dem gesunden Menschen ermöglichen, sich selbst zu deuten und zu bewerten und daraus Rückschlüsse auf sein Verhalten in unterschiedlichen Situationen zu ziehen. Wo therapeutische Strukturen genutzt werden, um, basierend auf einer Analyse, die persönliche Entwicklung eines gesunden Menschen zu fördern, ist die Grenze zwischen Coaching und Psychotherapie fließend.

11.27.10 Basisliteraturangaben AROLT, VOLKER/REIMER, CHRISTIAN/DILLING, HORST (2006): Basiswissen Psychiatrie und Psychotherapie, Berlin KRIZ, JÜRGEN (2007): Grundkonzepte der Psychotherapie, Weinheim MACHLEIDT, WIELANT/BAUER, MANFRED u.a. (2004): Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Stuttgart MYERS, DAVID (2004): Psychologie, Heidelberg

574

11.28 Rechtswissenschaft von Nina Meier

Dieses Kapitel vermittelt einen akzentuierten Überblick über die Entwicklung und Bedeutung der Rechtswissenschaft als die Exegese und Nichtexegese der verbindlichen Lebensordnung einer Gemeinschaft. Insofern wird Recht in einem formalen Sinn und einem inhaltlichen Verständnis unterschieden.

11.28.1 Anfänge/Ursprünge/Quellen der Rechtswissenschaft Die Rechtswissenschaft fußt auf der philosophischen Rechtstheorie und behandelt die Fragen, was Recht sei, welches Verhältnis Gerechtigkeit und Recht zueinander haben, welchen Inhalt Recht haben solle oder was der Grund der Verbindlichkeit für Recht sei. ARISTOTELES (384-322 v.Chr.) ist die heute bekannte Quelle von Recht und der Gerechtigkeit, da er das Naturrecht begründete. Das Naturrecht ist mit den Moralvorstellungen des Menschen gleichzusetzen. ARISTOTELES unterschied zwischen erstens „justitia commutativa“ und zweitens „justitia distributiva“. 1.

2.

Die justitia commutativa stellt auf die Gleichordnung von Rechtssubjekten in Kontexten ab. Typisches Beispiel aus dem Privatrecht ist „pacta sunt servanda“ (Vertragsgerechtigkeit, sodass der Vertrag gegenseitig einzuhalten ist, die auszutauschenden Leistungen gleich sind oder der entstandene Schaden angemessen gleichberechtigt kompensiert wird). Die justitia distributiva stellt auf die Über- und Unterordnung in Kontexten ab. Typisches Beispiel aus dem öffentlichen Recht ist das abhängige Verhältnis zwischen Bürger und Staat für die Erbringung der Gefahrenabwehr, die Gewährung von Leistungen und die Abgabe von Abgaben und Gebühren.

Aus dieser Gerechtigkeitstheorie fasste der römische Jurist DOMITIUS ULPIANUS (170-220 n.Chr.) folgende Definition: „Iuris prudentia est divinarum atque humanarum rerum notitia, iusti atque inusti scientia“ = „Rechtswissenschaft ist die Kenntnis der menschlichen und göttlichen Dinge, die Wissenschaft vom Gerechten und Ungerechten”. Hieraus wird aus der Antike das inhaltliche Verständnis am Beginn der Digesten von JUSTINIAN „Ius est ars boni et equi“ als Aphorismus, dass Recht die Kunst des Guten und des Gerechten sei. Im Gegensatz dazu bezeichnet Recht formal die Summe der geltenden Rechtsnormen, welche die Regeln für das Verhalten einzelner oder mehrerer Menschen aufstellen, damit diese durch organisierten Zwang geordnet zusammenleben und Konflikte lösen können.

11.28.2 Entwicklung und bedeutende Richtungen der Rechtswissenschaft und deren Vertreter Das Verständnis von Recht teilte sich bereits bei ARISTOTELES in erstens Nichtexegese und zweitens Exegese bzw. geschichtlich entstandenen Rechtssysteme von erstens dem kodifizierten, abstrakt definierten Recht basierend auf dem römischen Recht und zweitens dem Fallrecht (Common Law) basierend auf dem angelsächsischen Recht.

575

Nichtexegese bedeutet ein grundlegendes Verständnis ... a) der Rechtsphilosophie, b) der Rechtsgeschichte und c) der Rechtssoziologie, damit eine Exegese vorgenommen werden kann. • Die Rechtsphilosophie basiert auf der naturrechtlichen Argumentation über das Wesen des Menschen. Dieses Menschenbild kann entweder optimistisch oder pessimistisch beschrieben werden. Ausgehend vom optimistischen Menschenbild befanden vor allem JOHN LOCKE (29.08.1632-28.10.1704) in „Two Treaties on Government = Zwei Abhandlungen über die Regierung“ oder JEAN-JACQUES ROUSSEAU (28.06.1712-02.07.1778) in „Du contrat social = Vom Gesellschaftsvertrag“, dass der Mensch frei geboren und natürlich frei leben darf. Dieser natürliche Zustand soll gefestigt und gesichert werden. Außerdem solle die Freiheit im Dienste des Gemeinwohls stehen und nicht der staatlichen Willkür ausgesetzt sein. Insofern ist die Abwendung von der absolutistischen Herrschaftsform eine konsequente Erscheinung. Andererseits kann das pessimistische Menschenbild nach THOMAS HOBBES (05.04.15880.12.1679) und CHARLES DE MONTESQUIEU (18.01.1689-10.02.1755) als feindselig angesehen werden, da der Mensch von Natur aus anderen Menschen Schaden zufügt. Deshalb muss der Mensch vor anderen Menschen geschützt werden, wobei Staat und Gesellschaft sowohl eine präventive als auch eine repressive Pflicht treffen. Obwohl dieses Denken paradox ist, stellt es die Grundform des konservativen Denkens dar. So forderte MONTESQUIEU die Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative. Aus dieser Argumentation des Naturrechts folgt für einige Vertreter des Rechts die Legitimation sowohl der staatlichen Gewalt als auch der Rechtssetzung durch die staatliche Gewalt. Philosophisch wird aus dem empirischen Sein ein normatives Sollen als Rechtsrealismus abgeleitet. Der Rechtsrealismus geht von einem pessimistischen Menschenbild aus, sodass NICCOLO MACHIAVELLI (03.05.1469-21.06.1527) in „Il Principe = Der Fürst“ und THOMAS HOBBES in „The Levithian = Der Levithian“ allein den bestimmten politischen Zweck verfolgen. Denn der absolutistische Staat müsse alle Macht in sich vereinen, um den Menschen in der Gemeinschaft vor sich selbst zu schützen, sodass „Auctoritas, non veritas facit legem“ (= „Autorität, nicht Wahrheit schafft das Recht“) im Mittelpunkt der Argumentation steht. Insofern müsse das Recht „listig und rücksichtslos sein, um die Macht des Fürsten“ zu sichern. Im Ergebnis kommt es nicht auf Recht und Gerechtigkeit an, sondern gezielt auf einen bestimmten erkenntnistheoretisch gesetzten Inhalt. Andererseits stellt IMMANUEL KANT (22.04.1724-12.02.1804) in „Metaphysik der Sitten“ den kategoralen Unterschied von Sein und Sollen fest, denn aus der empirischen Natur des Menschen (Sein) können keine rechtlichen oder moralischen Gebote (Sollen) gefolgert werden. IMMANUEL KANT sieht wie DAVID HUME (26.04.1711-25.08.1776) in „Humes Gesetz“, dass Recht aus der praktischen Vernunft heraus entstanden sei, sodass es ebenfalls keinen zufälligen oder politischen Inhalt habe. Aus dem Naturrecht und dem Rechtsrealismus entwickelte sich die absolute und relative Theorie der Strafe. Nach der absoluten Theorie der Strafe ist die Legitimation der Strafe allein aus dem Grund der Strafe zu ziehen und solle richterliche Willkür verhindern. Problematisch ist das Fehlen von Prävention und Resozialisierung. IMMANUEL KANT vertrat die Vergeltungstheorie, sodass das durch die Handlung des Täters geschaffene Unrecht durch die Strafe aufgewogen wird, damit die verletzte Rechtsordnung wiederhergestellt wird. So versteht GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL (27.08.1770-14.11.1831) die Strafe als „Negation der Negation“. Die veraltete Sühnetheorie setzt die Psychologie des Täters in den Mittelpunkt, damit er sich mit der „verletzten“ Rechtsordnung wieder versöhnen kann. Problematisch ist die Voraussetzung der Freiwilligkeit des „Täters“. Diese Aspekte beachtet die rela576

tive Straftheorie und orientiert sich einerseits an der Generalprävention und andererseits an der Spezialprävention. Die Generalprävention fokussiert die Gesellschaft, um einerseits positiv das Vertrauen der Gesellschaft in die Rechtsordnung zu stärken und andererseits die Gesellschaft von der Begehung von Taten abzuschrecken. Hierzu formulierte PAUL JOHANN ANSELM VON FEUERBACH 1801 im „Lehrbuch des gemeinen, in Deutschland geltenden peinlichen Rechts“ Argumente der Abschreckung. Hingegen zielt die Spezialprävention nach FRANZ VON LISZT (02.05.1851-21.06.1919) auf den Täter selbst ab. Positiv soll die Prävention auf die Besserung des Täters durch Sanktionen wie Lob, Belohnung und Auszeichnung wirken und zu seiner Resozialisierung führen. Negativ soll die Prävention auf den Schutz der Allgemeinheit vor dem Täter und zugleich den Täter durch Sanktionen wie Tadel, Anzeige, Schmerzensgeld, Sicherungsverwahrung usw. vor der Begehung einer Tat abschrecken. Diese Theorien vereinigt vor allem CLAUS ROXIN (15.05.1931-dato) als Vereinigungstheorie des geltenden Strafrechts. Dem Naturrecht steht der Rechtspositivismus diametral entgegen. Die Vertreter des Rechtspositivismus wie JEREMY BENTHAM (15.02.1748-06.06.1832), JOHN AUSTIN (03.03.179001.12.1859), HERBERT LIONEL ADOLPHUS HART (18.07.1907-19.12.1992) in „Concept of Law = Der Begriff des Rechts“ oder HANS KELSEN (11.10.1881-19.04.1973) in „Reine Rechtslehre“ zählen zum Recht alle positiv gesetzten Normen und gerade nicht das metaphysisch begründete Sollen. Daher gelten nur die von staatlichen Organen gesetzten Normen als Recht, sodass Rechtsnormen nur durch ein bestimmtes Verfahren entstehen können. Aus diesen Ansätzen des Naturrechts, des Rechtspositivismus und des Rechtsrealismus hat sich eine eigenständige interdisziplinäre Theorie des Rechts entwickelt. Wichtiger gemeinsamer Nenner ist die abstrakte Diskussion von Rechtsnormen, die unabhängig von gesellschaftlichen (soziologischen) Gegebenheiten und Rechtsetzungsverfahren existieren. Nach der Diskurstheorie des Rechts von JÜRGEN HABERMAS (18-06.1929-dato) in “Theorie des kommunikativen Handelns“ ist eine Situation ideal, wenn alle Beteiligten ausschließlich sachlich orientiert und gleichberechtigt miteinander kommunizieren, damit ein gemeinsames Ergebnis erarbeitet und umgesetzt werden kann. Der soziale Konsens ist nicht auf das Recht ohne Weiteres übertragbar, sondern der juristische Diskurs muss insbesondere nach ROBERT ALEXY (09.09.1945-dato) in „Theorie der juristischen Argumentation“ nicht auf einen Vergleich, hingegen auf eine sachlich zutreffende und juristisch begründete Entscheidung ausgelegt sein. Daher ist der rechtliche Diskurs stets pluralistisch bzw. systemisch. Nach der soziologischen Systemtheorie von NIKLAS LUHMANN (08.12.1927-06.11.1998) in „Das Recht der Gesellschaft“ kann Recht einerseits in Verbindung mit den Grundlagenfächern des Rechts stehen und andererseits binär in „rechtmäßig“ und „nicht rechtmäßig bzw. rechtswidrig“ unterteilt werden. Nach ihm ist „Recht“ ein autopoietisches System, welches einerseits einer subjektiven Wahrnehmung ausgesetzt ist und andererseits durch die Kommunikation geprägt ist und sich ständig durch sich selbst erneuern kann bzw. erneuert. Daher sind alle betroffenen Personen nur sekundär einzubeziehen. Dieses Ergebnis scheint mit der philosophischen Grundhaltung von Recht und Gerechtigkeit konform zu sein. • Rechtsgeschichtlich kann das kodifizierte Recht bei Kaiser JUSTINIAN (482-14.11.565 n.Chr.) seinen Ursprung finden, denn er stellte 533/534 als Erster das römische Recht im Corpus Iuris Civilis zusammen, benutzte die Werke des Juristen ULPINIAN und vereinheitlichte das Recht im gesamten Römischen Reich. Dieses klassisch-antike römische Recht wurde durch die Rezeption um 1500 zum ius commune (gemeines Recht). Damit ist das universitär entwickelte römische Recht gewohnheitsrechtlich in der Rechtspraxis anerkannt. Quelle des kodifizierten peinlichen Rechts (sog. Strafrechts) stellt die Bamberger Halsgerichtsordnung von 1507 durch JOHANN FREIHERR ZU SCHWARZENBERG (25.12.1463-21.10.1528), da es neben dem materiellen Strafrecht auch das Prozessrecht mit der „peinlichen Befragung zur Erlan577

gung von Geständnissen“ enthielt. Neben jener Rechtsromanistik entstand zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Rechtsgermanistik. Ziel war die Konstruktion eines geschlossenen und systematischen „deutschen Rechts“ neben dem bisher geltenden „römischen Recht“. Das germanistische Recht sucht seine Wurzeln vor der Rezeption als heimisches Recht, was nicht auf das deutsche Staatsgebiet beschränkt sein sollte. Das erste (bayrische) Strafrecht von 1813 erarbeitete PAUL JOHANN ANSELM VON FEUERBACH (14.11.1775-29.05.1833) und setzte den Fokus auf humanistisches Recht, da er die Folter abschaffte und bereits die Strafandrohung als Strafabschreckung ansah. Das römische Zivilrecht ist durch folgende große Kodifikationen abgelöst worden: der französische „Code Civil“ von 1804 durch NAPOLEON, das österreichische „Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch“ von 1812, das deutsche „Bürgerliche Gesetzbuch“ von 1900 und das schweizerische „Zivilgesetzbuch“ von 1912. Hierzu gab es 1945 nach Ende des Zweiten Weltkriegs erhebliche Kritik. Denn unter anderem machte GUSTAV RADBRUCH (21.11.1878-23.11.1949) den Rechtspositivismus für die Verbrechen der Nationalsozialisten verantwortlich. Die bisherigen Forschungsansätze des Rechts wurden infrage gestellt, man kehrte zum Rechtsnaturalismus zurück und verankerte in Art. 20 Abs. 3 GG, dass einerseits die Gesetzgebung (Legislative) an die verfassungsgemäße Ordnung und andererseits die vollziehende Gewalt (Exekutive) und die Rechtsprechung (Judikative) an Gesetz und Recht gebunden sind. • Des Weiteren befasst sich die Rechtssoziologie mit dem Phänomen der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit wird durch soziale Verhaltensmuster konstruiert und durch Macht- und Herrschaftsverhältnisse verändert bzw. stabilisiert. Die damals herrschende Begriffsjurisprudenz wurde besonders seit 1903 durch EUGEN EHRLICH (14.09.186202.05.1922) kritisiert und forderte ein Rechtssystem, welches der Wirklichkeit (mehr) entspricht. Hierzu werden die Definitionen von MAX WEBER (21.04.1864-14.06.1920) von „Macht“ und „Herrschaft“ sowie der Einteilung des moralischen Handelns in Gesinnungsund Verantwortungsethik benutzt. Die Verantwortung des Handelns oder Unterlassens wird rechtssoziologisch begründet und erklärt. Exegese ist die rechtliche Hermeneutik und bedeutet die rechtliche Interpretation von Texten und ihrer Anwendung. Diese juristische Methode basiert auf der Rechtsdogmatik. Die rechtliche Dogmatik entwickelte sich über den Aspekt der vorgenannten Nichtexegese. Zur Exegese gehören die bedeutenden Disziplinen von Zivilrecht, Strafrecht und Öffentlichem Recht, aber auch das religiöse Recht wie Kirchenrecht (christliches Recht) und kanonisches Recht (katholisches Recht). Ausgehend vom Rechtspositivismus und der analytischen Philosophie entwickelte sich eine eigenständige Theorie des Rechts, basierend auf der Diskurstheorie und der Systemtheorie bestimmt sie die Arbeit mit Normen und Mitteln der Auslegung. Insofern eröffnet die formale Logik die Erkenntnisse des Rechts. Die Exegese bedeutet daher, die Erforschung der logischen Struktur von Rechtsbegriffen und Rechtssätzen, ihrer axiomatischen Ableitbarkeit und deren systematischen Ordnung. Seit HANS KELSEN wird nach dem Rechtsgrundsatz „Da mihi factum, dabo tibi ius?“ (Gib mir die Fakten, dann werde ich dir das Recht geben.) unter der Rechtsnorm jede rechtliche Regelung verstanden, die eine Rechtsfolge mit einem Tatbestand verknüpft. Wenn der Tatbestand erstens über die Feststellung der quastio facti (Tatfrage) und zweitens die Feststellung der quastio juris (Rechtsfrage) positiv getroffen ist, kann erst der Inhalt der Rechtsfolge gelten. In bestimmten Rechtsgebieten wie Strafrecht und zivilrechtliches Deliktsrecht wird der Tatbestand in den actus reus (objektiver Tatbestand) und den mens rea (subjektiver Tatbestand) unterteilt. Die Deduktion des Rechts erfolgt über die Subsumtion. Rechtsnormen können nach BERND RÜTHERS (12.07.1930-dato) wie folgt unterteilt werden: 1. in Ge- und Verbote zur Auferlegung von Unterlassungs- oder Handlungspflichten, 578

2. verbindliche Feststellungen und 3. Gestaltungen wie Aufhebungen, Ernennungen, Entlassungen und Gestattungen. Bereits IMMANUEL KANT wies über regressus ad infinitum daraufhin, dass Regeln für die Anwendung von Regeln nicht formuliert werden können. Dies steht im Widerspruch zur Beantwortung des Sinns von Recht und Gerechtigkeit. Über die juristische Hermeneutik gründete FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY (21.02.1779-25.10.1861) die historische Rechtsschule. Seine Lehre der juristischen Methode basiert auf den vier canones (Auslegungsmitteln). Nach 1945 blendete KARL LARENZ (23.04.1903-24.01.1993) in „Methodenlehre der Rechtswissenschaft“ den herrschenden Rechtspositivismus mit seiner rechtspolitischen Funktion aus und machte die Exegese nach SAVIGNY wieder „salonfähig“, da die obersten Gerichte wie das Bundesverfassungsgericht, der Bundesgerichtshof, das Bundesarbeitsgericht und das Bundesverwaltungsgericht diese anwenden. Dies haben vor allem ROBERT ALEXY, HELMUT RÜßMANN (1943-dato) und FRIEDRICH MÜLLER (22.01.1938-dato) übernommen und sprach- bzw. moralphilosophisch erweitert.

11.28.3 Typische Fragestellungen in der Rechtswissenschaft Zivilrechtliche Kardinalfrage Strafrechtliche Kardinalfrage Öffentlichrechtliche Kardinalfrage

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Wer will was von wem woraus? Unrecht und Unrechtsbewusstsein? Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit?

11.28.4 Typische Axiome/ Theoreme in der Rechtswissenschaft Die ursprüngliche, unbeweisbare, aber feststehende Grundlage ist die Hermeneutik des Rechts. Hermeneutik ist die Lehre vom Verstehen, der Exegese und der Interpretation. Der philosophische Ursprung von Recht und der Gerechtigkeitstheorien ist die Erkenntnis über die Bedingungen der Möglichkeiten von Sinnverstehen. Heute liegt der Axiomsschwerpunkt auf der Erforschung von Modellen für die Vermeidung und die Lösung von gesellschaftlichen Konflikten. Hierzu bedient man sich der (philosophischen) Staatslehre und seiner Prinzipien von ... 1. 2.

Rechtsstaat und Demokratie.

Zu 1. Das Rechtsstaatsprinzip ist 1832 von ROBERT VON MOHL (17.08.1799-05.11.1875) als Gegenbegriff zum aristokratischen Polizeistaat eingeführt worden. Es lässt sich in folgende Kategorien einteilen: a) Gewaltenteilung, b) Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns, c) Grundrechte und d) Sicherungsmechanismen. • Die Gewaltenteilung basiert auf Art. 20 Abs. 2 GG: „Die Staatsgewalt wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Dabei wird die Exekutive in Bundeskanzler,

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Bundesregierung, Bundesverwaltung und Bundespräsident unterteilt; die Legislative von Bundesrat und Bundestag bzw. der Kompetenz zur Gesetzgebung nach Art. 30 GG i.V.m Art. 70 Abs. 1 GG bzw. Art. 7 Abs. 2 ff. GG ist über das Initiativrecht der Exekutive und der Ausfertigung durch den Bundespräsidenten eng miteinander verwoben. Zwar werden die Richter (Judikative) durch das Parlament gewählt und durch die Exekutive ernannt, sind jedoch über Art. 97 GG über die richterliche Unabhängigkeit in ihrer Arbeit geschützt. • Die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns wird durch aa. Gesetzmäßigkeit (Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes), bb. Rückwirkungsverbot (als Vertrauensschutz) und cc. Verhältnismäßigkeit geprägt. Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist staatliches Handeln an Gesetz und Recht gebunden, daraus folgt, dass erstens die Legislative nicht gegen die Verfassung handeln darf (sog. Vorrang der Verfassung), zweitens die Exekutive und Legislative nicht gegen ein Gesetz handeln dürfen (sog. Vorrang des Gesetzes), drittens die Exekutive und Judikative in vielen Fällen nicht ohne Gesetz handeln dürfen (sog. Vorbehalt des Gesetzes). Des Weiteren bezieht sich das Rückwirkungsverbot auf den Vertrauensschutz. Im Strafrecht stellt durch FEUERBACH nulla poene sine lege gem. Art. 103 Abs. 2 GG ein Verbot der gesetzlichen Rückwirkung von Normen sowie ein Analogieverbot zu Lasten des Beschuldigten dar. Im öffentlichen Recht stellt nullum tributum sine lege die Rückwirkung kritisch in Frage, sodass das Bundesverfassungsgericht zwischen echter und unechter Rückwirkung unterscheidet. Die echte Rückwirkung ist unzulässig, da sie an einen bereits abgeschlossenen Sachverhalt anknüpft. Hingegen bestehe kein Vertrauensschutz und keine Rechtssicherheit, wenn schlicht ein derzeitiger Kontext (neu) geregelt wird und Rechtsfolgen eintreten sollen/unechte Rückwirkung. Insofern hat das Verwaltungsrecht auch eine zeitliche Zäsur in der Rücknahme von rechtswidrigen Verwaltungsakten nach § 48 VwVfG (ex tunc) und dem Widerruf von rechtmäßigen Verwaltungsakten nach § 49 VwVfG (ex nunc). Des Weiteren stellt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit die Grenze der Beeinträchtigung von Rechten des Einzelnen dar. Eine staatliche Maßnahme ist nur dann rechtmäßig, wenn sie einen legitimen Zweck verfolgt und dabei erstens geeignet, zweitens erforderlich und drittens angemessen ist. Letzteres stellt gerade die ausgewogene Abwägung der widerstreitenden Interessen dar. Weiterhin muss das staatliche Handeln das Zitiergebot gem. Art. 19 Abs. 1 S.2 GG, das Verbot des Einzelfallgesetzes gem. Art. 19 Abs. 1 S.1 GG und den Bestimmtheitsgrundsatz einhalten. • Die Grundrechte sind unterteilbar in Freiheits- und Gleichheitsrechte, welche nicht nur primär Abwehrrechte des Einzelnen, sondern auch sekundär Leistungsrechte gegenüber dem Staat sind. Insofern binden die Grundrechte gem. Art. 1 Abs. 3 GG die Legislative, die Exekutive und die Judikative an das geltende Recht, sodass sie Mittelpunkt einer objektiven Wertordnung sind. Aus der objektiven Werteordnung werden einfache Gesetze zur Wahrung dieser Werte geschaffen. • Sicherungsmechanismen stellen sowohl die Justizgrundrechte als auch die Garantie des Rechtsweges gem. Art. 19 Abs. 4 GG („Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.“) dar. Folgende Justizgrundrechte sind essenziell: Unabhängigkeit der Richter gem. Art. 97 GG, Verbot von Ausnahmegerichten gem. Art. 101 Abs. 1 S.1 GG, Anspruch auf einen gesetzlichen Richter gem. Art. 101 Abs. 1 S.2 GG, Anspruch auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 Abs. 1 GG, Verbot der Mehrfachbestrafung gem. Art. 103 Abs. 3 GG und Garantien bei Freiheitsentziehungen gem. Art. 104 GG. Hierbei ist es wichtig, dass das Bundesverfassungsgericht zwar Hüterin der Verfassung ist, jedoch kein Exekutivgewalt hat, da die verfassungsgemäße Gewalt nur das Widerstandsrecht aus Art. 20 Abs. 4 GG ausüben kann, und gerade wie HANS-JÜRGEN PAPIER (06.07.1943- dato) in einem Vortrag 2008 betonte, kein Gerichtsvollzieher geschickt werden könne. 580

Zu 2. Das Demokratieprinzip ist in Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG festgelegt und fokussiert die Entscheidung nach dem Mehrheitsprinzip via Einbindung des Volkes und basiert auf der Freiheit des Naturrechts. Auf Grund der deutschen Geschichte unterliegt das Prinzip der Ewigkeitsklausel gem. Art. 79 Abs. 3 GG. Schon ARISTOTELES verlangt drei Bedingungen für „Freiheit“: a) Autonomia bzw. Autonomie oder Selbstgesetzgebung, b) Autochthonia bzw. alteingesessenes, bodenständiges und eingeborenes Volk, c) Autarkia bzw. Selbstversorgung. Heute wird darunter das aktive Wahlrecht gem. Art. 38 Abs. 1 GG sowie der näheren Regelung des Bundeswahlgesetzes und das passive Wahlrecht sowie die Informationsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S.1 HS 2 GG und Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S.1 HS 1 GG verstanden. In der Bundesrepublik Deutschland herrscht eine repräsentative Demokratie, da das Volk seine Vertretung von sowohl der Exekutiven — mit Ausnahme des Bundespräsidenten — als auch der Legislativen wählt. Die Hermeneutik und die Rechtsdogmatik verlangt von Recht, dass eine Norm sich sowohl aus einem Tatbestand als auch aus einer Rechtsfolge zusammensetzen muss.

11.28.5 Typische Deutungsmuster der Rechtswissenschaft (Analyse- und Lösungsstrategien) Die Exegese erfolgt über die vier Canones nach SAVIGNY. Diese klassischen Auslegungsmittel sind: 1. grammatisch, 2. logisch, 3. systematisch und 4. historisch, wobei der Zweck der Rechtsnorm die Basis bildet. 1. Die grammatische Auslegung will den Sinn einer Rechtsnorm möglichst an ihrem Wortsinn festsetzen. Maßgeblich ist meist nicht der allgemeine Sprachgebrauch, sondern die spezielle Fachsprache. Das Wort findet seine Grenze in der enumerativo ergo limitatio, sodass eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs unzulässig ist, als auch ein Analogieverbot wie im Strafrecht gem. Art. 103 Abs. 2 GG besteht. 2. Die historische Auslegung kann den Sinn der Rechtsnorm entweder an der dogmengeschichtlichen Auslegung wie die Betrachtung des Sinns der Vorläufernormen oder andere Normentexte usw. oder an der genetischen Auslegung wie die Hinzuziehung anderer Materialien wie amtliche Begründungen von Bundesrat und Bundestag usw. festlegen. Grundlage ist immer die Ermittlung des vom Gesetzgeber Gesagten und Gewollten. Die Normenentwicklung findet seine Grenze im Zeitpunkt des Inkrafttretens der anzuwendenden Norm. 3. Die systematische Auslegung will den Sinn einer Rechtsnorm an einem widerspruchsfreien Aufbau festlegen. Fokus wird auf das Konstrukt der Rechtsnorm, der Beziehung zur vorgesetzten oder nachgelagerten sowie dem gesamten Aufbau des Rechtstextes gelegt. Insofern ist es keine Interpretation, sondern schlichte Methode. 4. Die teleologische Auslegung bildet das Kernstück der Canones und will den Sinn der Rechtsnorm im zu regelnden Zweck festlegen. Entgegen der historischen Auslegung kommt es nicht auf den subjektiven Willen des Gesetzgebers an, sondern gerade auf das objektive Ziel der Regelung. Wichtig ist, dass sich ein Telos im Laufe der Zeit verändern kann. Problematisch ist eine vermeintlich willkürliche Festlegung von Sinn und Zweck durch den Gesetzesanwender, anstatt durch den Gesetzesgeber. 581

Neben diesen klassischen Auslegungsmitteln ergänzen a) die verfassungskonforme Auslegung, b) die gemeinschafts- oder richtlinienkonforme Auslegung oder c) die rechtsvergleichende Auslegung die vier Canones. Sollte eine Norm oder ein Gesetz eine Lücke aufweisen, kann eine Analogie gebildet werden. Voraussetzung ist a) eine Lücke im Gesetz, welche auf b) einer unbewussten Lücke im Gesetzgebungsverfahren durch den Gesetzgeber beruht und c) die Interessenlage des zu regelnden Sachverhaltes mit der vorhandenen Rechtsnorm zu schließen ist. Wichtig ist, dass die Grenze zwischen der Interpretation von Rechtsnormen und seiner Rechtsbegriffe mit einer Analogie bzw. Rechtsfortbildung schwer zu setzen ist. Wissenschaftliche Grenzen bilden intra legem als Interpretation/Auslegung im Rahmen des möglichen Wortsinns, praeter legem als gesetzesimmanente Rechtsfortbildung im Rahmen des gesetzlich Gewollten und contra legem als (unzulässige) gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung.

11.28.6 Typische Anwendungsfelder der Rechtswissenschaft Die Rechtswissenschaft ist in der Exegese in 1. Zivilrecht, 2. Öffentliches Recht und 3. Strafrecht klassisch getrennt. Dabei wird zwischen materiellem Recht und prozessualem Recht unterschieden. 1. Zum Zivilrecht gehört das allgemeine Zivilrecht wie der allgemeine Teil, das Schuldrecht, das Sachenrecht, das Familien- und Erbrecht, das Handels- und Gesellschaftsrecht, das Arbeitsrecht, der gewerbliche Rechtsschutz, das Wettbewerbsrecht. Mittlerweile bilden sich immer neue Rechtsgebiete und sind Disziplinen übergreifend wie das Medienrecht usw. 2. Zum Strafrecht zählen das Strafgesetzbuch und die strafrechtlichen Nebengesetze sowie die Strafprozessordnung und das Jugendgerichtsgesetz. 3. Zum Öffentlichen Recht gehören klassisch das Verfassungsrecht sowie das Verwaltungsrecht und das Sozialrecht nebst seiner Verfahrensrechte. Auf der Seite der Rechtsanwendung kann zwischen der rechtlichen Beratung, der rechtlichen Geltendmachung von Ansprüchen, der gerichtlichen Durchsetzung von Ansprüchen sowie der gerichtlichen Entscheidung, aber auch der präventiven und repressiven Tätigkeit polizeilicher und staatsanwaltschaftlicher Tätigkeit unterschieden werden. In allen Tätigkeitsfeldern muss eine bestimmte juristische Sprache geschrieben werden, nämlich einmal der Gutachtenstil und andererseits der Urteilsstil. In beiden Fällen muss der Sachverhalt unter das Recht subsumiert werden.

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582

Saß, U./ Wittchen, H.-U. u.a. (Hrsg.), Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen — DSM-IV-TR, 1.Aufl., Göttingen, 2003 Masson, Jeffrey M., Die Abschaffung der Psychotherapie - Ein Plädoyer, München 1991. Märtens, Michael/ Petzold, Hilarion (Hrsg.), Therapieschäden: Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie, Mainz 2002.

11.28.7 Typische Kritik an der Rechtswissenschaft Recht wird als autopoietisches System anerkannt, sodass es sich selbst weiterentwickelt, in dem Entscheidungen, Urteile, Beschlüsse, Verwaltungsakte getroffen werden oder Gesetze, Richtlinien, Satzungen und Verwaltungsvorschriften bzw. allgemein, Geschäftsbedingungen gesetzt werden aber auch Vergleiche geschlossen werden. Hierzu werden Erkenntnisse aus der Rechtswissenschaft selbst heraus benötigt, sodass jede beteiligte Person zur Auslegung von Texten über alle juristischen Kompetenzen verfügen muss, sodass es zu einem hermeneutischen Zirkel kommt (sog. menschliche Grenze der Erkenntnis). Ansonsten werden „Neuerungen“ fehlerträchtig.

11.28.8 Typische Begriffe und deren Deutung in der Rechtswissenschaft Typische Begriffe sind stets die Rechtsbegriffe für einen Tatbestand und seiner Rechtsfolge. Sie beruhen auf den Voraussetzungen und der Durchsetzbarkeit eines (zivilrechtlichen oder öffentlich-rechtlichen) Anspruchs.

11.28.9 Bedeutung der Wissenschaftsdisziplin für das Coaching Die Rechtswissenschaft hat nach dem systemischen und konstruktivistischen Verständnis von Coaching eine große und wertvolle Bedeutung. Sowohl die Nichtexegese als auch die Exegese bieten Erklärungen und Umsetzungen im und um das Coaching. Extrakte sind erstens rechtsgeschichtliche Aspekte, zweitens rechtsphilosophische Aspekte und drittens rechtsdogmatische Grundsätze. 1.

2.

3.

Rechtsgeschichtlich kann festgestellt werden, dass Coaching in der Rechtswissenschaft nicht existiert. Weder ist Coaching eine rechtswissenschaftliche Disziplin noch ein Rechtsbegriff einer Norm. Jedoch kann und muss das Recht auf Coaching angewendet/subsumiert werden und darf ein Formularvertrag zur Orientierung gegeben werden. Zukünftig kann eine Innovation nicht ausgeschlossen werden, dass Coaching rechtlich kommentiert wird und beispielsweise wie Medienrecht oder Sportrecht usw. anerkannt wird. Rechtsphilosophisch heben die vier zentralen Werte namens Freiwilligkeit, Freiheit, Ressourcenidentifikation und nachhaltige Selbstlernkonzeption der HAMBURGER SCHULE das positive Menschenbild hervor. Coaching dient als Unterstützung für die Entwicklung der eigenen Identität. Die Identität wird durch das Sein und das Sollen geprägt. Dazu bestimmen diese vier Werte die moralischen und ethischen Standards von Coaching bzw. den Coachkompetenzen und des Coachingablaufs. Andererseits soll das negative Menschenbild über Rechte und Pflichten gebändigt werden und Reflexion über das Selbst- und Fremdbild ausgelöst werden, zur Vermeidung von Schadensersatzansprüchen und strafrechtlichen Konsequenzen. Rechtsdogmatisch tangiert Coaching primär die zivilrechtlichen Hauptleistungspflichten und sekundär die zivilrechtlichen und strafrechtlichen Sanktionen. • Zunächst erhält der Coachee den Hauptleistungsanspruch auf Durchführung eines Coachings und der Coach den Anspruch auf Erhalt der Vergütung nach dienstrechtlichen Vorschriften gem. § 611 BGB. Die Hauptleistungspflicht des Coach wird sowohl über die Definition von Coaching als auch über die Coachkompetenzen und dem Coachingablauf festgelegt. Die HAMBURGER SCHULE bezweckt Vertrauen und Transparenz über die synallagmatischen 583

Pflichten namens Verantwortung über den Coachingprozess durch den Coach und Verantwortung über das Coachingergebnis durch den Coachee. Sodann bestimmen die vier Werte von Coaching auch die Nebenpflichten i.S.v. § 241 Abs. 2 BGB, im Coaching beruhend auf Treu und Glauben gem. § 242 BGB. Die Nebenpflicht besteht für beide Parteien, ob der Coach beim Coachee eine Selbstreflexion auslösen kann und die Grenzen wahrnehmen kann. Ist er stets gedanklich blockiert, existiert eine Vermutung für eine Krankheit, die durch einen Arzt/psychologischen Psychotherapeuten diagnostiziert und therapiert werden muss. Näheres regelt das SGB V und das Psychotherapeutengesetz. • Anhand der Coachkompetenzen bzw. der Haupt- und Nebenpflichten im Coaching formulieren die Werte von Coaching auch den Maßstab des Verschuldens. Diese culpa bestimmt die subjektive Vorwerfbarkeit eines Erfolges. Das Verschulden wird in zwei Formen namens Vorsatz und Fahrlässigkeit unterteilt und ist als Verschulden im zivilrechtlichen Deliktsrecht und als Schuld im Strafrecht zu finden, bzw. im sonstigen Zivilrecht als Vertretenmüssen klassifiziert. Das zivilrechtliche Vertretenmüssen umfasst, dass derjenige schuldhaft handelt, den erstens eine Rechtspflicht trifft, anders zu handeln als er handelte, und zweitens der entsprechend dieser ihm obliegenden Rechtspflicht handeln konnte, drittens dies jedoch kognitiv (wissentlich) und voluntativ (willentlich) (=Vorsatz) oder entgegen der im Rechtsverkehr gebotenen Sorgfalt (fahrlässig) nicht tat. Im zivilrechtlichen Coaching beruht der eingetretene Erfolg auf objektiven Kriterien, die allgemein kognitiv gesetzt werden. Insofern stellt die Legaldefinition der Fahrlässigkeit nach § 276 Abs. 2 BGB auf die im Verkehr erforderliche Sorgfalt ab. Jener Maßstab ist die objektiv erforderliche Sorgfalt und gerade nicht die übliche (eingeschlichene) Sorgfalt. Es gilt: „Wer am Rechtsverkehr teilnimmt, muss sich darauf verlassen können, dass der andere Teilnehmer mit der für seine Tätigkeit erforderlichen Sorgfalt agiert.“ Wer aus Gründen des Alters, der Krankheit oder des Wissensdefizits die erforderliche Sorgfalt nicht einhalten kann, verletzt die gebotene (aktive) Rücksicht. Im Coaching muss sowohl der Coach als auch der Coachee wissen, was wer zu tun oder zu unterlassen hat. Hierzu bedient man sich einerseits rechtlich der vertraglichen Pflichten, diese die HAMBURGER SCHULE klarer als Verantwortlichkeit des Coaches für den Prozess und als Verantwortlichkeit des Coachees für das Ergebnis kommuniziert, und andererseits des systemischen und konstruktivistischen Coachkompetenzmodells. Danach muss der Coach seine Kompetenzen, von fachlich-methodischer Kompetenz, persönlicher Kompetenz, sozio-kommunikativer Kompetenz, Handlungskompetenz und Feldkompetenz, nicht nur haben, sondern auch anwenden und reflektieren. Diese nachhaltige Selbstlernkonzeption über die eigenen Ressourcen stellt sicher, dass der Coach stets dissoziiert ist, Hypothesen für den Coachingprozess bildet und diese mit der situativ angemessenen (richtigen) Intervention überprüft (beweisbar macht). Nicht auszuschließen ist, dass sich der Coach exculpieren kann, wenn er seine nachhaltige Selbstlernkonzeption der Coachkompetenzen bewusst lebt und einsetzt oder sich sogar weiterbilden lässt. • Führt man die Rechte und Pflichten bzw. den Maßstab des Verschuldens bei Verletzung von Pflichten rechtsphilosophisch und rechtsdogmatisch zusammen, können die Werte der HAMBURGER SCHULE als objektive Werteordnung anerkannt werden. Diese Werteordnung findet wiederum ihre Wurzeln in den Grundrechten. Dabei spielen hauptsächlich a) das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, b) die Meinungsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 S.1 HS 1 GG, c) die Informationsfreiheit gem. Art 5 Abs. 1 S.1 HS 2 GG und d) das Berufsrecht gem. Art. 12 GG sowie e) die allgemeine Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG eine zentrale Rolle. 584

Diese Grundrechte gelten mittelbar zwischen den Privaten (beteiligten Personen), denn sie sind entweder in den einfachgesetzlichen Normen umgesetzt oder über die Blankettbegriffe einführbar. Ihre Bedeutung soll besonders für das Coaching hervorgehoben werden: — Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland vom 23.05.1949 regelt ausdrücklich zwei Freiheitsgrundrechte des (konkreten) Persönlichkeitsrechtes, hingegen kein Freiheitsgrundrecht namens allgemeines Persönlichkeitsrecht. Aus der Gesetzesbegründung geht hervor, dass die Menschenwürde sich auf Konflikte zwischen dem allgemeinen menschlichen Interesse und dem Interesse des Staates begrenzt und das Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG das individuelle und besondere Interesse des Menschen konkretisiert. Aus der Nichtexegese des Rechts geht hervor, dass die benannten Grundrechte und das Auffanggrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG die wachsende Bedrohung der menschlichen Persönlichkeit nach der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland vom 23.05.1949 nicht mehr ausreichend schützen konnten. Zur Exegese ist aus der Hermeneutik des Rechts die Ge- und Verbote zur Entwicklung eines erwachsenen Menschen als ausreichend erachtet worden. Damals waren die Gefahren und zukünftigen Situationen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht abschätzbar. Die fünf Jahre später vom BGH in seiner Schachtbrief-Entscheidung sowie die 1955 vom BVerfG geschaffene Grundfreiheit ist eine allgemein verselbstständigte Form des Persönlichkeitsrechtes. Sowohl 1954 der BGH in seiner Schachtbrief-Entscheidung als auch 1955 das BVerfG schloss die verfassungsrechtliche Lücke und soll die persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen gewährleisten. Aus den Ansätzen des BVerfG kategorisierte die Literatur das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach wissenschaftlichen Ansätzen der Auslegung. Daher werden aus den Elementen der „Persönlichkeit“ und der „freien Entfaltung“ folgende drei Arten kategorisiert: a) das Recht der Selbstbestimmung, b) das Recht Selbstbewahrung und c) das Recht der Selbstdarstellung. Die Kategorien stellen gerade den Aspekt der Freiwilligkeit basierend auf dem optimistischen Menschenbild des Naturrechts als eigenes wichtiges Autonomierecht, heraus. Geschützt ist vor allem das Recht am eigenen Bild, die informationelle Selbstbestimmung, die Ehre, das eigene Wort, der eigene Name sowie die Resozialisierung. Die persönliche Identität wird im Prinzip der Verhältnismäßigkeit unterteilt in die absolut geschützte Intimsphäre, die wenig schützenswerte Sozialsphäre und die relativ geschützte Privatsphäre, wobei vor allem bei Letzterem eine Abwägung der widerstreitenden Interessen im Einzelfall vorgenommen werden muss. Coaching stärkt die persönliche Kompetenz und Handlungskompetenz, um nachhaltiges Selbstbewusstsein zu schaffen und das Bewusstsein für die eigenen persönlichen angreifbaren Aspekte zu setzen. — Die Meinungsfreiheit ist das gewährleistete subjektive Recht auf freie Rede, Äußerung und (öffentliche) Verbreitung einer Meinung in Wort, Schrift und Bild sowie allen weiteren verfügbaren Übertragungsmitteln. Die Meinung findet ihre Grenze in a) den allgemeinen Gesetzen, b) den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und c) in dem Recht der persönlichen Ehre. Differenziert wird zwischen der Tatsachenbehauptung und dem Werturteil. Coaching vermittelt den sozialen und kommunikativen Umgang mit anderen Personen und das Bewusstsein, niemanden zu beleidigen und zu mobben. — Die Informationsfreiheit gewährt jedem, sich frei aus jeder Quelle zu unterrichten. Man darf sich über jeden Aspekt und über jede Person informieren. Jenes Recht hat seine 585

Grenze wie die Meinungsfreiheit. Insbesondere müssen geheime Daten, persönliche Informationen einer Person und über eine Person geheim gehalten werden. Daher ist der Datenschutz aus der informationellen Selbstbestimmung die wichtigste Begrenzung der Informationsfreiheit. Coaching vermittelt Vertrauen und Verschwiegenheit. — Die Berufsfreiheit schützt sowohl die Berufswahl als auch die Berufsausübung, den sogenannten Erwerb. Unter Beruf wird — seit dem Apothekenurteil des BVerfG vom 11.06.1958 — jede auf Dauer geplante, wirtschaftlich sinnvolle Tätigkeit verstanden, die einen Beitrag zur gesellschaftlichen Gesamtleistung bietet und die eigene Lebensgrundlage sichert. Aus der Wahl des Berufes ist die Ausübung aus der Natur der Sache ebenfalls mitgeschützt. Insbesondere fallen hier die Form, die Mittel und der Umfang, aber auch die schlichte Betätigung unter die tatsächliche Berufsausübung. Der Schutz findet seine Grenzen nach der Dreistufenlehre in a) Berufsausübungsregelungen, b) subjektive Berufswahlbeschränkungen und c) objektive Berufswahlbeschränkungen mit jeweils bestimmten angemessenen Schranken. Coachausbildung vermittelt die erforderlichen Kompetenzen zum Coach. — Laut Art. 2 Abs. 1 GG hat „Jeder (…) das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Der parlamentarische Rat wollte die allgemeine Handlungsfreiheit zuerst als „jeder kann tun und lassen, was er will“ bezeichnen, benutzte jedoch andere sprachliche Ausdrücke. Seit der Elfes-Entscheidung des BVerfG vom 16.01.1957 wird jede Person in ihrem Verhalten geschützt, sodass sie selbst entscheiden kann, was sie will/kann und realisiert. Im Ergebnis stellt die allgemeine Handlungsfreiheit ein Auffanggrundrecht als lex generalis dar, wenn andere Grundrechte als lege specialis nicht zur Anwendung kommen. Allerdings hat der Schutz seine Grenze in der verfassungsgemäßen Ordnung, die wiederum die Rechte anderer spezifiziert und das Sittengesetz enthält. Coaching achtet auf eine klare Transparenz und das Bewusstsein auf die Verantwortlichkeiten im Coaching sowie die Möglichkeit der vertraglichen Beziehungen. Über die Erklärung der objektiven Werteordnung wird ein hermeneutischer Zirkel für die Subsumtion des Rechts auf das Coaching gezogen.

11.28.10 Basisliteratur RÖHL, KLAUS F./RÖHL, HANS CHRISTIAN (2008): Allgemeine Rechtslehre. 3. Auflage, München MEDER, STEPHAN Rechtsgeschichte (2008): 3. Auflage, Köln Weimar Wien KUNZ, KARL-LUDWIG/MONA, MARTINO (2006): Rechtsphilosophie — Rechtstheorie — Rechtssoziologie 1. Auflage, Berlin Stuttgart Wien CANARIS, CLAUS-WILHELM/LARENZ, KARL (1999): Methodenlehre der Rechtswissenschaft 3. Auflage, Berlin ALEXY, ROBERT (2001): Theorie der juristischen Argumentation 3. Auflage, Nachdruck, Frankfurt am Main

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11.29 Semantik besser verstehen von Gernot Hausar

Kurz gesagt befasst sich Semantik mit Sinn und Bedeutung von Information. Dabei ist es unerheblich, ob diese Informationen Sprache und sprachliche Zeichen oder zu interpretierende elektronische Daten sind. Semantik ist ein interdisziplinärer Begriff, der von der Philosophie, Psychologie, der Linguistik oder der Informatik fachspezifisch angewandt wird. Daneben taucht der Begriff als „Modewort“ in den unterschiedlichsten Zusammenhängen auf. Diese grundlegende Einführung soll dabei helfen, sich im daraus entstandenen Gewirr etwas besser zurechtzufinden.

11.29.1 Die üblichen Verdächtigen Vorstellungskraft ist wichtiger als Wissen — ALBERT EINSTEIN Die Frage nach dem Ursprung und der Bedeutung von Zeichen ist sehr wichtig für das Verständnis unserer Umwelt. Sie berührt beispielsweise Konzepte, wie das Selbst, das Denken, die Idee, den Willen, die Sprache oder Wissen. Daher finden sich in der Philosophie schon sehr früh Erklärungsansätze. ARISTOTELES entlehnte den Begriff kategorein (gr. anklagen) für seinen Ansatz. Er argumentiert, dass alles Seiende durch Sprache repräsentiert werden kann. Die Dinge und Eigenschaften, auf die sich ein Satz bezieht, werden in zehn Kategorien unterteilt, je nachdem was sie bezeichnen (z.B. Substanz, Qualität, Quantität, Relation). Sie erlauben das Aufzeigen von Unterschieden der Bedeutung und das analytische Erfassen der Umwelt. Die Möglichkeiten und Probleme der Analyse und Bewertung der Umwelt finden wir unter anderen bei SPINOZA (Ordnung und Verbindung von Ideen), LEIBNITZ, DESCARTES, KANT (Konzepte und Urteile), HEGEL, HEIDEGGER oder ARENDT. Sie alle entlehnen Grundkonzepte von ARISTOTELES. KANTS Kritik des rein analytischen Ansatzes der Wissenschaft führt zu einer wesentlichen Wende in der Betrachtungsweise hin zur Erkenntnistheorie (Syn. Epistemologie), die ab diesem Zeitpunkt die philosophische Diskussion dominiert. Sie beschäftigt sich unter anderen mit der Frage, was Wahrheit, Erkenntnis und Wissen (nicht) ist und in welchem Zusammenhang z.B. Wissen und Erkenntnis stehen. Semantik spielt hier als Werkzeug eine wesentliche Rolle. Ohne diese Vorarbeiten wären auch naturwissenschaftliche Durchbrüche, z.B. die Relativitätstheorie oder Quantencomputer und die darauf aufbauenden Konzepte in der Informatik und Physik, nicht möglich, da die zugrunde liegenden Vorstellungen nicht erschlossen wären.

11.29.2 Semantische Weltsicht Geschichte hilft, sich selbst zu verstehen und auch die anderen — WERNER SCHÄFKE Semantische Ansätze finden sich in vielen Bereichen. Daher gibt es auch eine Reihe von theoretischen Ansätzen zur Untersuchung und Analyse von Bedeutungen. Durch genaue vergleichende Analyse der Eigenheiten kann man beispielsweise Rückschlüsse auf Zeit, Umfeld oder Realsituation ziehen. Wenn man verschiedene zeitliche Prozesse (z.B. Innovation) mit den Veränderungen der Semantik verknüpft, 587

so kann man Modelle unterschiedlicher Komplexität entwickeln. Dies wird von den unterschiedlichsten Disziplinen genutzt, so beispielsweise auch von der Soziologie (z.B. LUHMANN und sein „soziales Gedächtnis“) oder den Geschichtswissenschaften. Dabei werden semantische Ansätze an die Bedürfnisse der jeweiligen Fachdisziplin angepasst. So kann es leicht zu einer „babylonischen Sprachverwirrung” kommen, da ein und derselbe Begriff komplett unterschiedlich interpretiert wird. Durch den Diskurs innerhalb einer Fachdisziplin kann sich der Begriff zusätzlich verändern. Dabei ist es vielleicht gerade diese Vielfalt, die Semantik am besten beschreibt. Denn die Frage nach Inhalt, Sinn und Bedeutung von Zeichen stellt sich bei Sprache, Text, Code, Symbol, Bild, Ton und Geräusch, Strom oder Nicht-Strom, Geste, Bild oder Kunstwerk gleichermaßen. Damit wird deutlich, wie viele Fachgebiete sich mit Semantik auseinandersetzen müssen — sowohl Natur- als auch Geisteswissenschaften. Etwas vereinfacht kann man argumentieren, dass der Computertechniker ebenso probiert, die Sprache der Computer an jene der Menschen anzugleichen, wie es bei zwischenmenschlicher Kommunikation versucht wird. Dabei liegen die Anforderungen an die Kommunikation — und damit auch die wichtigsten Forschungsanliegen — in einem möglichst guten Verständnis der beiden Kommunikationsteilnehmer, egal ob diese Computer und Mensch oder Mensch und Mensch umfassen. Semantik kommt dabei eine grundlegende Aufgabe zu. Kommunikation soll möglichst selbstverständlich ablaufen, dabei aber ein Maximum an Information knapp und einfach übermitteln. Diese Anforderungen sind beim Design von Straßenschildern genauso wichtig wie bei einer Fernbedienung, einer Straßenkarte, einem Mobiltelefon oder einem persönlichen Gespräch. Dazu ist es nötig, dass man sich der gebräuchlichen Zeichen bewusst ist, weiß, für welche Empfänger man ein Zeichen sendet und wo es aufgrund beispielsweise kultureller oder sprachlicher Unterschiede zu Missverständnissen kommen kann.

11.29.3 Information und Wissen „Eliten” sind in der modernen Zeit diejenigen, die den Index zur Auffindung des vorhandenen Wissens besitzen — UMBERTO ECO (frei nach „Die Grenzen der Interpretation”) Wenn Wissen selbst Macht ist und man dem oft zitierten Sprichwort nach FRANCIS BACON glaubt, dann ist es besonders lohnend, die einzelnen Komponenten der Wissensproduktion unter die Lupe zu nehmen. Information ist eine wesentliche Voraussetzung zum individuellen Wissensgewinn. Wenn man Wissen als „persönliches verstehendes Aneignen“ frei nach KONRAD PAUL LIESSMANN19 begreift, kann man die Diskussion um den Modebegriff „Wissensmanagement“ und die zugrunde liegenden wissenschaftlichen Begrifflichkeiten (implizit/explizit etc.) elegant umgehen. Wissen kann nach der oben vorgestellten Definition nicht in Bibliotheken ausgelagert oder in Datenbanken gespeichert werden, bestenfalls kann man das Individuum managen, das etwas weiß. Information nach der Informationstheorie ist als Prozess zu verstehen, bei dem den aus Reizen bzw. Signalen generierten Daten ein spezifischer Informationswert zugewiesen wird, die dann um Codes zur formalen Ordnung (Syntax) und Bedeutung (Semantik) ergänzt werden. Dabei erfolgt der Vorgang aufgrund individueller Erfahrungen. Durch den Aufbau eines nach Bedeutung gebildeten Netzes aus Begriffen und ihren Beziehungen (Relationen) kann im Kontext der darauf 19

Liessmann, K. P. (2006). Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. Wien: Zsolnay.

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aufbauenden Handlungen des Individuums neues Wissen entstehen. „Semantische Netze“ sind ein darauf aufbauender Begriff, der heute zum Beispiel in der Linguistik oder Informatik (AI-Forschung) auch für die Repräsentation der (selbstständigen elektronischen) Informationsverknüpfung in Datenbanken genutzt wird.

11.29.4 Kommunikation Wer will, dass ihm die anderen sagen, was sie wissen, der muss ihnen sagen, was er selbst weiß. Das beste Mittel, Informationen zu erhalten, ist, Informationen zu geben — NICCOLÒ MACHIAVELLI Die eingangs erwähnten Zeichen und Codes als Kommunikationsmittel sind die Grundlagen unserer Verständigung mit der Umwelt. Der Mensch lernt das Erkennen und Interpretieren der Zeichen in der Gesellschaft oft unbewusst und übernimmt manchmal auch Codes von außen. Dabei gibt es ein weites Spektrum von zu interpretierenden Codes, beispielsweise in Schrift, Sprache, Mimik, Gestik, aber auch Kleidung, Kunst oder Architektur. Die Semiotik befasst sich mit Zeichen, Zeichensystemen und prozessen. Die Semantik als Spezialdisziplin untersucht die Bedeutung der Zeichen nach Inhalt und Relation zueinander. Das Individuum oder auch (elektronische) Expertensysteme wie Glossare und Datenbanken speichern diese Erkenntnisse in Codes, die den erkannten Zeichen beigefügt werden. Bei der Bedeutung sprachlicher und schriftlicher Zeichen unterscheidet die Linguistik weiter in Wort-, Satz- und Textsemantik (Wort- oder lexikalische Semantik). Von der kleinsten zu den größeren Einheiten ausgehend untersucht die Wortsemantik die Bedeutung einzelner Wörter separat, die Satzsemantik betrachtet die Bedeutung eines Worts im Kontext eines Satzes bzw. Satzverbundes und die Textsemantik befasst sich mit einer Gesamtbetrachtung des aus Wörtern und Sätzen gebildeten Textes und seinen Kontext auch über den Text selbst hinaus. Zur Veranschaulichung hier vielleicht ein kurzes Beispiel, ausgehend von dem Satz „Heute ist es heiß.“ Wortsemantisch werden die einzelnen Bausteine „Heute“, „ist“, „es“ und „heiß“ betrachtet, satzsemantisch endet die Betrachtung mit dem Verständnis des Satzes und erst textsemantisch wird der Kontext hinterfragt, in dem der Satz steht. Fällt der Satz in einem Gespräch zwischen zwei Personen A und B, so kann das Individuum A eine positive Reaktion darauf haben („Ich freue mich über den sonnigen Tag“), Individuum B hingegen eine negative („In der Hitze arbeite ich nicht gern“). A kann den Satz gesagt haben, weil er sich darüber freut oder auch, um B zu ärgern. All diese Details über Situation und Ziel werden erst bei dieser Betrachtung offenbar. Zentral ist beim Verständnis der semantischen Vorgänge auch die Sichtweise und persönliche Erlebenswelt des Individuums.

11.29.5 Ansichtssachen Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das von sich eine schlechte Meinung hat — GEORGE BERNARD SHAW Jedes Individuum hat eine eigene Art der Wahrnehmung von Ereigniswelten mit ihren Inhalten und Formen. Es neigt dazu, ähnliche Objekte zusammenzufassen und ihre Ähnlichkeit zu bewerten („Kognitive Semantik“). Dies erlaubt es, auch „fehlerhafte“ Vertreter eines bestimmten Objektes zu identifizieren. 589

Dabei sind die vom Individuum wahrgenommenen Zeichen nicht alle gleichgestellt. Es gibt Hierarchien, die Überbegriffe und Prototypen definieren. Diese Untergliederung erlaubt eine raschere Entscheidungsfindung, indem ähnliche Wahrnehmungen unter bekannte Muster subsumiert werden können. Ausgehend von der Kategorienlehre des ARISTOTELES, die von vielen Philosophen wie DESCARTES, LEIBNITZ, KANT, HEGEL oder HEIDEGGER aufgegriffen wurde, lieferte die Psychologin ELEANOR ROSCH (Cognition and categorization) durch Verknüpfung von psychologischen und linguistischen Elementen die Grundlage für die Prototypensemantik. Demnach gibt es für Objekttypen einen Prototypen (eindeutige Vertreter), der im Mittelpunkt eines Wortfeldes steht und als Oberbegriff dient. Andere Objekte werden mit diesem verglichen und je nach Konformität in präzisere („bessere“) und unpräzisere („schlechtere“) Untervertreter unterschieden. Dabei können sich Wortfelder überschneiden und jeder Untervertreter kann seinerseits wieder ein Prototyp für ein anderes Wortfeld sein. Als Beispiele erwähnt ROSCH z.B. den Prototyp „Vogel“. Die Amsel ist ein guter Vertreter, Strauß und Pinguin sind eher schlechte, da sie nicht fliegen können.

11.29.6 Semantik verstehen? Semantik berührt viele wissenschaftliche Felder und bleibt daher ein unzureichend definierter Begriff. Doch dies zeigt auch, bei wie vielen Vorgängen die Semantik eine entscheidende Rolle spielt. Dies in Ansätzen aufzuzeigen und bewusst zu machen, war das Ziel dieser Einführung. Dabei bleibt naturgemäß vieles unbehandelt. Was ist jetzt die konkrete Bedeutung der Semantik für das Coaching? Menschen nehmen die Umwelt mit allen Sinnen wahr. Die Summe der ausgewerteten Informationen ist die Grundlage für Aktion und Reaktion. Dies trifft in besonderer Weise auf Kommunikation zu. Dabei wird neben dem gesprochenen Wort auch die Mimik und die Körpersprache „ausgewertet”, daneben spielen manchmal auch Kleidung, Auftreten, soziales Umfeld oder persönliche Erfahrungen in ähnlichen Situationen eine Rolle bei der Verarbeitung der Kommunikation. Vieles davon läuft unbewusst ab, und kann so den Empfänger in seiner Wahrnehmung einschränken. Diese Vorgänge bewusst wahrzunehmen und darüber zu reflektieren, ist ein wichtiger Schritt bei der Verbesserung der persönlichen Wahrnehmung. Erst wenn man seine eigenen Stärken, Grenzen und Verhaltensmuster kennt, kann man Personen und Situationen präziser einschätzen. Dies ist beispielsweise bei der Umsetzung von Projekten oder der Lösung eines Problems von Vorteil. Durch die weitergehende Analyse kann man seine Ressourcen besser einsetzen und erfolgversprechende Strategien formulieren. Wie diese Einführung zeigt, spielt Semantik gemeinsam mit verwandten Forschungsfeldern dabei eine wichtige Rolle.

11.29.7 Basisliteratur Zitationsstil: APA 5th Edition. GIESECKE, M. (1998): Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft (2. Aufl.). Frankfurt am Main, Suhrkamp. LÖBNER, S. (2003): Semantik. Eine Einführung. Berlin, De Gruyter. KÜNNE, W. (2007): Abstrakte Gegenstände: Semantik und Ontologie. Frankfurt am Main, Klostermann. 590

11.30 Soziologie von Daniel Witte

11.30.1 Ursprünge, Quellen und Anfänge der Soziologie als eigenständiger Disziplin Die Soziologie als institutionalisierte Disziplin, in dieser Form entstanden gegen Ende des 19. Jahrhunderts, gehört zu den „jüngeren” Wissenschaften. Gleichwohl ist das Nachdenken über und die Beschäftigung mit zentralen gesellschaftlichen Fragen — Fragen nach dem Aufbau und der Struktur von Gesellschaft, nach den Grundlagen ihres Zusammenhaltes, nach Gründen und Richtungen des sozialen Wandels, oder auch nach „guten” und „gerechten” Formen menschlichen Zusammenlebens — keineswegs „neu”, sondern vielmehr in allen modernen Kulturen bekannt und für den Okzident etwa bis in die griechische Antike nachverfolg- und belegbar. Insbesondere die Klassiker der Politischen Theorie, von ARISTOTELES und PLATON bis hin zu LOCKE, MONTESQUIEU und ROUSSEAU, haben diesen Fragen besonderes Gewicht beigemessen und können in diesem Sinne als Vorläufer der heutigen Soziologie verstanden und gelesen werden. Das zentrale Grundproblem des soziologischen Denkens findet spätestens in der Formulierung des HOBBES’schen Naturzustandes und des daraus resultierenden Ordnungsproblems seinen paradigmatischen Zuschnitt. „Wie ist Gesellschaft (überhaupt) möglich?“ (oder etwas präziser: „Wie ist Sozialität, insbesondere friedliche Koexistenz, angesichts knapper Güter möglich?“) lautet dementsprechend die Grundfrage des soziologischen Denkens, das freilich bei diesem basalen Grundproblem ebenso wenig stehen geblieben ist wie bei HOBBES’ Lösungsvorschlag eines letztlich auf Angst und Gewaltmonopolisierung beruhenden staatlichen „Leviathans”. Der Kunstbegriff Soziologie (von lat. socius = der Gefährte, gemeinsam; und gr. lógos/-logie = die Lehre) wurde 1838 im Rahmen der Ausarbeitung einer mehrbändigen „Positivistischen Philosophie” durch den französischen Philosophen AUGUSTE COMTE geprägt. Neben dem Werk COMTES können vor allem auch die dem Evolutionismus und spätem Utilitarismus zuzurechnenden Arbeiten des Briten HERBERT SPENCER sowie diejenigen KARL MARX’ als Protosoziologien bezeichnet werden, mit denen sich bereits der Übergang zum ausdifferenzierten, spezifisch soziologischen Denken des 20. Jahrhunderts abzuzeichnen beginnt.

11.30.2 Entwicklungen, bedeutende Richtungen und Hauptvertreter der Soziologie Die Soziologie entwickelt sich, ausgehend vor allem von den genannten Autoren, gegen Ende des 19. Jahrhunderts primär als Krisen- und Reflexionswissenschaft: Industrialisierung und die rasante Entwicklung des Kapitalismus, rapide Urbanisierung sowie dramatische politische, kulturelle und sozialstrukturelle Umwälzungen infolge der Aufklärung führen die Gesellschaft des ausgehenden Jahrhunderts vor neue und ungeahnte Probleme, vor Krisensymptome und einen enormen Bedarf nach Beschreibung, Analyse und Interpretation der sich wandelnden Gesellschaft und ihrer neuen Herausforderungen. Die Soziologie, gespeist aus philosophischen, nationalökonomischen, juristischen und geschichtswissenschaftlichen Traditionen, etabliert sich um die Jahrhundertwende — nicht ohne Widerstände und Kämpfe — zwischen diesen angrenzenden Disziplinen sowie neben (und mitunter in expliziter Abgrenzung zu) einer im selben Zeitraum erstarkenden Psychologie. Es ist dies die Zeit der soziologischen Gründerväter, derjenigen Autoren, die ohne Zweifel zu den „Klassikern” des Faches 591

gezählt werden: Zu nennen sind vor allem MAX WEBER und GEORG SIMMEL, ferner auch FERDINAND TÖNNIES und WERNER SOMBART in Deutschland, EMILE DURKHEIM und später sein Neffe und Schüler MARCEL MAUSS in Frankreich, VILFREDO PARETO in Italien, sowie LESTER WARD und WILLIAM GRAHAM SUMNER in den USA, wobei insbesondere WEBER, SIMMEL und DURKHEIM die Soziologie in ihrer heutigen Gestalt maßgeblich geprägt haben. In einem etwas weiteren Sinne kann dieser Generation von Klassikern auch noch GEORGE HERBERT MEAD zugerechnet werden, der nicht nur als einer der Begründer der heutigen Sozialpsychologie, sondern zudem auch als Vater des „interaktionistischen” Denkens innerhalb der Soziologie betrachtet wird. Die angesprochenen Umwälzungen des Sozialen schlagen sich in den Titeln der Hauptwerke dieser klassischen Autoren nieder: So ist es vor allem die Dynamik der auf Kapitalismus und Arbeitsteilung beruhenden „neuen” Gesellschaftsform, die im Brennpunkt der frühen soziologischen Arbeiten steht: MARX’ „Kapital“ (1867), SIMMELS Arbeit „Über soziale Differenzierung“ (1890) und seine „Philosophie des Geldes“ (1900), DURKHEIMS „De la division du travail social“ (1893), WEBERS Studie „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1904/05) sowie sein posthum veröffentlichtes Kompendium „Wirtschaft und Gesellschaft“ (1921/22), aber auch TÖNNIES’ Arbeit über „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (1887/1912), stellten Versuche dar, die drängenden Veränderungen und Probleme ihrer Zeit verstehend zu deuten. Mit dem Erscheinen von TALCOTT PARSONS’ „The Structure Of Social Action“ (1937) betritt ein Autor die soziologische Bühne, der für etwa drei Jahrzehnte die Theorieentwicklung maßgeblich bestimmen wird. Während die deutsche Soziologie unter der Herrschaft des Nationalsozialismus mit Vereinnahmungsversuchen als einer „Hilfswissenschaft” des NS-Regimes und gezielten Versuchen der Politisierung und Ideologisierung (nicht immer erfolgreich) zu kämpfen hatte, bezog sich PARSONS explizit auf die europäischen Klassiker PARETO, WEBER und DURKHEIM, um einem neuen soziologischen Denken den Weg zu bahnen. Die von PARSONS entwickelte struktur-funktionale Theorie (später: Strukturfunktionalismus) fragt nach dem Zusammenhang von grundlegenden Strukturelementen sozialer Systeme und den elementaren Funktionen, die jedes Sozialsystem bedienen muss, um seinen Bestand längerfristig zu wahren. Weder vor noch nach PARSONS hat ein soziologischer Autor jemals eine derart dominante Stellung in der soziologischen Diskussion eingenommen; die intensive Auseinandersetzung mit seinem Œuvre hat jedoch auch vehemente und teils durchaus berechtigte Kritik laut werden lassen, die zur Mitte des 20. Jahrhunderts seinen Ansatz immer stärker in den Hintergrund treten ließ. Die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ist weniger durch eine vergleichbare Ausnahmefigur als durch eine Vielzahl von heterogenen, miteinander konkurrierenden Paradigmen gekennzeichnet: Hierzu zählen neben der an PARSONS anknüpfenden Systemtheorie NIKLAS LUHMANNS v. a. die Kritische Theorie der sog. Frankfurter Schule (ab den 1960er-Jahren insb. JÜRGEN HABERMAS), die an ökonomischen Grundannahmen orientierte Rational Choice-Theorie (prominent vertreten durch JAMES S. COLEMAN in den USA und HARTMUT ESSER in Deutschland), die Habitus-Feld-Theorie des französischen Soziologen PIERRE BOURDIEU, sowie eine Vielzahl von sich z. T. überschneidenden Ansätzen (Symbolischer Interaktionismus, Ethnomethodologie, soziologische Phänomenologie, Sozialkonstruktivismus, u.a.), die einem sogenannten Interpretativen Paradigma zugerechnet werden und letztlich auf die grundlegenden Überlegungen MEADS zurückgehen. Mit Blick auf die Entwicklungen der letzten Jahre sind vor allem der soziologische Zweig der sog. Neuen Institutionenökonomik, netzwerktheoretische Ansätze, diskursanalytische Theorien und Methoden (im Anschluss u.a. an MICHEL FOUCAULT) sowie eine verstärkte Hinwendung zu sog. Praxistheorien (practical turn) zu vermerken. Diese Vielfalt von Paradigmen und theoretischen Ansätzen stellt gleichermaßen kontinuierlich ein Merkmal der Soziologie wie auch einen der zentralen Kritikpunkte dar (vgl. dazu 9.29.4. und 9.29.6.). 592

11.30.3 Typische Fragestellungen und Anwendungsfelder der Soziologie Wie bereits angesprochen ist die Aufgabe der Soziologie zunächst einmal eine solche der Beschreibung: In was für einer Gesellschaft leben wir eigentlich? Da diese Beschreibung der Gesellschaft aus eben dieser Gesellschaft selbst heraus erfolgt, also Teil der Gesellschaft ist (und damit im Gegensatz zu anderen Disziplinen steht, die ihrem Objekt äußerlich sind und vice versa), lässt sich auch formulieren, die Soziologie sei zunächst primär Selbstbeschreibung und Reflexion der modernen Gesellschaft über sich selbst. Etwas griffiger lässt sich der Komplex von Kernfragen folgendermaßen auf den Punkt bringen: Die Soziologie beschreibt und untersucht das zusammenwirkende Handeln von Menschen, das zur Bildung spezifischer historischer Strukturen führt, die wiederum bestimmte Auswirkungen auf das soziale Handeln haben. Sie analysiert damit die Gesamtheit gesellschaftlicher Strukturen und Kulturen, ihr Zustandekommen, ihre Funktionsweisen und Folgen sowie ihre Dynamik und ihren Wandel. Ausgehend vom Begriff der Soziologie als einer „Menschenwissenschaft” (ELIAS) einerseits und ihrem vielleicht prominentesten Kernbegriff, der Gesellschaft andererseits, ließe sich der Zusammenhang von Handeln und Strukturen auch stärker am Subjekt orientiert fassen: Die Soziologie untersucht, wie, unter welchen Bedingungen und in welchen Formen aus dem Handeln von Menschen Gesellschaft wird; und sie untersucht, welche Auswirkungen gesellschaftliche Formen, Strukturen, Dynamiken und Veränderungen auf den bzw. die Menschen haben. So ist die „ärgerliche Tatsache der Gesellschaft“ (DAHRENDORF) gleich in zweifacher Hinsicht Ausgangspunkt des soziologischen Denkens: Auf der einen Seite als genuines Untersuchungsobjekt und auf der anderen als prägender und bedingender Faktor menschlicher Existenz, als Hindernis freier Entfaltung des Individuums wie zugleich als ermöglichende conditio menschlichen Lebens, kurz: als das janusköpfige Schicksal des Subjektes schlechthin. In materialer Hinsicht beschäftigt sich die Soziologie mit Fragen der Alltagsinteraktion, mit Kommunikationsprozessen und dem Auftreten bestimmter Handlungsformen ebenso wie mit Fragen, die auf die Beschreibung der Struktur von Gesamtgesellschaften abzielen. In der Form ausdifferenzierter Teilbereiche der Disziplin (sog. Bindestrich-Soziologien) finden sich zudem etwa Wirtschaftssoziologie, Rechtssoziologie und Religionssoziologie, Arbeits-, Industrie- und Berufssoziologie, Politische Soziologie und Mediensoziologie, Militärsoziologie und Kunstsoziologie, ebenso wie Biographie- und Sozialisationsforschung, Jugend- und Alterssoziologie, Geschlechter- und Migrationsforschung und viele weitere. Klar wird an dieser immer noch exemplarischen Aufzählung möglicherweise, dass die Soziologie in vielen Fällen mit Objektbereichen befasst ist, die auch Forschungsgegenstand eigenständiger Wissenschaften sind (Volkswirtschaftslehre, Jurisprudenz, Religionswissenschaften usw.). Die Soziologie kann also zugleich als die „allgemeinste” der Sozial- und Kulturwissenschaften beschrieben werden. Sie unterscheidet sich dabei aber von den jeweils spezialisierten Disziplinen durch ihre theoretischen Zugänge, ihre methodischen Vorgehensweisen und vor allem durch die Tatsache, dass sie dabei stets die Gesamtheit des sozialen Systems Gesellschaft in Sichtweite behält. Hinsichtlich ihres soziologischen Grundcharakters unterscheiden sich dabei Fragen etwa nach den Entwicklungsbedingungen des globalisierten Kapitalismus, nach ungleich verteilten Berufseinstiegschancen in unterschiedlichen Bildungsschichten oder nach politischen Präferenzen von AkademikerInnen im internationalen Vergleich nicht prinzipiell von Fragen beispielsweise nach den kultur- und schichtspezifischen Vorlieben von Kunstliebhabern, nach den gruppendynamischen Mechanismen innerhalb eines Fußball-Fanclubs oder auch der Analyse einer zunächst trivial erscheinenden (aber mitunter hochkomplexen) Alltagsinteraktion wie z.B. dem Restaurantbesuch. Um eine häufig angeführte Unterscheidung zu bemühen: Der Gegenstand der Soziologie ist gleichermaßen auf der Mikroebene des Sozialen zu suchen (soziales Handeln, Interaktion, etc.), wie auch auf einer Mesoebene (v.a. Organisationen) und einer davon zu unterscheidenden Makroebene (gesamtgesellschaftliche Kultur- und Stukturkomplexe), ohne dabei den jeweils anderen Teil des Sozialen ausblenden zu können. Wo immer 593

also Menschen handeln und dieses Handeln an anderen orientiert ist, wo immer Menschen interagieren, kommunizieren und wechselseitig aufeinander einwirken, hat man es mit einem genuin soziologischen Gegenstand zu tun.

11.30.4 Typische Axiome und Theoreme der Soziologie Als Grundaxiom einer Wissenschaft, die sich mit dem Handeln von Menschen beschäftigt, könnte man das zugrundeliegende Menschenbild bezeichnen. Bereits hier zeigen sich gravierende Differenzen, die aber letztlich nicht weiter verwunderlich sind: Während die am ökonomischen Denken orientierte Rational-Choice-Theorie eine (mehr oder weniger) „soziologisierte” Fassung des klassischen homo oeconomicus favorisiert, also eine Konzeption von (zugespitzt: egoistischen) Akteuren, die primär ihren Eigennutzen zu maximieren suchen, geht die klassische Rollentheorie vom Bild eines homo sociologicus (DAHRENDORF) aus, der in seinem Handeln vor allem von sozialen Erwartungen, also von Normen geleitet ist. Mindestens zwei weitere Akteursmodelle können hiervon abgegrenzt werden: Die Vorstellung vom Menschen als einem emotional man, der sein Handeln (auch) an Gefühlslagen und affektuellen Momenten, also an emotionalen Antrieben und Motiven ausrichtet. Schließlich betont das Modell des Menschen als eines Identitätsbehaupters die expressive, demonstrative, auf Identitätskonstruktion und -bewahrung abzielende Dimension des Handelns, wie sie in alltäglichen Praktiken der Selbstinszenierung und -stilisierung sichtbar wird (vgl. zu dieser möglicherweise unvollständigen, aber hilfreichen Typologie SCHIMANK 2000: S. 37-167). Neben der hier angeführten Differenzierung existieren freilich weitere Ansätze, die etwa die Kreativität des Handelns (JOAS) oder seinen primär „habituellen” Charakter (BOURDIEU) in den Vordergrund rücken und nicht ohne Verluste in der angeführten Systematik zu subsumieren sind. Quer zu diesen Unterscheidungen verläuft die gleichermaßen fundamentale Frage, ob soziale Phänomene und soziologische Tatbestände überhaupt „von unten”, das heißt ausgehend von den Individuen und ihren Handlungen zu deuten und zu analysieren sind, oder ob komplexe soziale Zusammenhänge aufgrund ihrer emergenten, nämlich ohnehin nicht auf Einzelakteure und -handlungen rückführbaren Qualitäten nicht adäquater „von oben”, das heißt aus der Vogelperspektive des System-Beobachters zu untersuchen sind. Paradigmatisch für die erste genannte Vorgehensweise steht der (sich hierbei auf WEBER berufende) methodologische Individualismus, wie er etwa besonders dezidiert von der Rational-Choice-Theorie vertreten wird: Hochkomplexe soziale Phänomene müssen aus dieser Perspektive immer auf die Handlungslogik der beteiligten Akteure „heruntergebrochen” werden, wobei auf „gesetzmäßige” Annahmen über das Handeln von Akteuren zurückgegriffen wird (hier: auf Unterformen des „Gesetzes” der Nutzenmaximierung), um zu einer Erklärung des fraglichen Phänomens zu gelangen. In einem ähnlichen Sinne — wenn auch auf der Grundlage völlig anderer Prämissen — fokussiert auch das sogenannten Interpretative Paradigma (im Anschluss v. a. an MEAD) die Handlungsebene: Es ist die Grundannahme dieser Theorieströmung, dass Akteure in Interaktionskontexten ihr Gegenüber und dessen Kommunikationen „interpretieren” müssen, gleichsam nicht auf der Grundlage „objektiver” Realitäten handelnd, sondern auf der Basis von „Interpretationen” dieser Realität, und damit ihre gemeinsame soziale Wirklichkeit erst konstruierend und „erschaffend”. Auch in diesem Fall ist also die (Mikro-)Ebene der Akteure, der Handlungen, der (symbolvermittelten) Interaktionen und Interpretationen Ausgangspunkt der Analyse — wobei eine zu starke generelle Fokussierung auf diese Ebene — und damit eine relative Blindheit für makrosoziologische Fragestellungen — einen klassischen Kritikpunkt gegenüber dem interpretativen Paradigma darstellt. Gleichwohl hat sich eine Vielzahl der 594

aus diesem Paradigma hervorgegangenen Einsichten im weithin geteilten Kanon soziologischer Grundannahmen etabliert — etwa die oben genannte Annahme, nach der Akteure ihr Handeln an ihrer Interpretation der Realität ausrichten (sog. THOMAS-Theorem). Gegenüber diesen „akteurzentrierten” Ansätzen verfahren der bereits angesprochene Strukturfunktionalismus PARSONS’ (s. o.) und LUHMANNs Theorie sozialer Systeme anders: Hier sind es Struktureigenschaften des Gesamtsystems angesichts invariabler funktionaler Erfordernisse (PARSONS) oder die Mechanismen der operativen Schließung von funktionalen Teilsystemen wie Wirtschaft oder Recht gegenüber ihrer systemeigenen Umwelt (LUHMANN), die den Ausgangspunkt soziologischer Beobachtung und Analyse bilden. Eine ganze Reihe von Autoren hat die hier nur angedeuteten Differenzen zwischen akteurtheoretischen Ansätzen und solchen, die stärker auf die System- oder Makroebene des Sozialen fokussieren, zum Anlass genommen, genau diese scheinbar fehlende Verbindung von Mikro und Makro zum Kern der eigenen Theoriebildung zu machen: Exemplarisch genannt werden müssen hier NORBERT ELIAS’ Figurationssoziologie, der bereits erwähnte Ansatz von BOURDIEU sowie die Theorie der Strukturierung von ANTHONY GIDDENS.

11.30.5 Typische Deutungsmuster in der Soziologie (Analyse- und Lösungsstrategien) Die Frage nach typischen Analyse- und „Lösungsstrategien” muss unweigerlich eine weitere methodologische Grundfrage aufnehmen, die in der Soziologie seit ihrer Entstehung und bis heute diskutiert wird. Angesiedelt im spannungsreichen Grenzterrain zwischen reinen Geisteswissenschaften einerseits und harten Naturwissenschaften im Sinne etwa der Physik andererseits, stellt sich diese Frage entlang der korrespondierenden Zugangsweisen zur empirischen sozialen Wirklichkeit: Können soziale Phänomene erklärt, das heißt, im Sinne der Naturwissenschaften auf Kausalitäten und damit auf allgemein gültige Gesetze zurückgeführt werden — oder muss schon die Konstitution des Gegenstandsbereiches zwangsläufig zur Absage an einen solch starken explanativen Ehrgeiz führen und an seine Stelle eine eher verstehende Methode setzen, die von der Annahme soziologischer „Gesetze” abrückt und soziale Tatbestände im weiteren Sinne „hermeneutisch” behandelt, nachvollziehend rekonstruiert und so zu einer Deutung gelangen kann? Äußerst verknappt lässt sich vielleicht Folgendes festhalten: Die Sozialwissenschaften im Allgemeinen und die Soziologie im Besonderen nennt mit handelnden Akteuren einen Gegenstand ihr eigen, der — im Unterschied zu den Objekten etwa der Physik — über einen Willen, Handlungsspielräume und Freiheitsgrade verfügt. Allein aus diesem Grunde scheint ein starkes Kausalitätsdenken im Sinne von universal gültigen Allaussagen den Kern der Disziplin zu verfehlen — denn soziologisches „Wissen” erreicht seinen Gegenstand, die Gesellschaft, häufig sehr schnell und verändert ihn hierdurch. Ein Akteur, der über eine vermeintliche Gesetzesaussage, die sich auf ihn bezieht, informiert ist, ist nicht mehr derselbe Akteur, auf den sich diese Aussage ursprünglich bezogen hat — er kann aufgrund dieses Wissens genau gegensätzlich handeln. Ganz allgemein treten an die Stelle von harten, kausal wirksamen Ursachefaktoren mit Blick auf das Handeln von Menschen Zwecke, Motive und Gründe, fluide Konzepte also, die historisch, kulturell und situationsabhängig wandelbar erscheinen. Während kausalistischen „Erklärungen” allein aus diesem Grunde offensichtliche Grenzen gesetzt sind, scheint eine „verstehende” Vorgehensweise und der Versuch, soziales Handeln und die aus ihm resultierenden Strukturen rekonstruktiv nachzuvollziehen, unumgänglich. Gleichwohl gibt es Regelmäßigkeiten im Handeln von Akteuren, etwa systematische 595

Unterschiede hinsichtlich der Auftretenswahrscheinlichkeit bestimmter Handlungen, und basale Zusammenhänge, die — wenn auch nicht immer, so doch zumindest relativ häufig — zu ähnlichen Effekten führen. Hier lässt sich dann durchaus fruchtbar an WEBERs klassisches Diktum anknüpfen, nach dem die Grenzstellung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften eben auch zu einer Kombination derjenigen Methodologien führen muss, die beiden Traditionen zugrunde liegen: Die Soziologie muss entsprechend ihre Gegenstände „deutend verstehen und dadurch (…) ursächlich erklären“. Doch wie geht eine „verstehende und dadurch erklärende” Soziologie bei der Untersuchung konkreter Fragestellungen vor? In der Diskussion um den Charakter soziologischer Analysen hat sich in weiten Teilen des Faches ein Modell als grundsätzlich tragfähig durchgesetzt, das (nach einem ihrer Väter) unter dem Namen der „COLEMAN’schen Badewanne” bekannt geworden ist: Jenseits der vielfältigen Differenzen im Bereich konkreter Theoriebildung ist die Grundidee dieses Modells so basal, dass an seiner Gültigkeit fundamentale Zweifel nur schwer angemeldet werden können. soziale Situation (A)

kollektives Explanandum (D)

1

3 Akteur (B)

Handlung (C)

2 Ausgangspunkt der Analyse ist ein kollektiver Erklärungsgegenstand (D), ein soziales Phänomen auf der Makroebene. Grundsätzlich muss jedem sozialen Zustand ein anderer sozialer Zustand (A) vorausgehen, aus dem er resultiert. Von diesem Ausgangszustand führt der Weg jedweder „Erklärung” jedoch unweigerlich in mehr oder weniger expliziter Form über die (Mikro-)Ebene der Akteure, die soziale Zustände durch ihr zusammenwirkendes Handeln überhaupt erst hervorbringen. Die hier ansetzenden Leitfragen lauten also: 1. Welchen Einfluss hat eine bestimmte Struktur, eine Situation, ein sozialer Zustand, auf die darin befindlichen Akteure? 2. Nach welcher Logik führt dies zu einer bestimmten Handlung, zu einer spezifischen Kommunikation, Praxis, o. ä.? Welche Handlung wird ausgeführt, und welche nicht? Welche Praxis zeigt sich in vergleichbaren Fällen regelmäßig und welche nicht? 3. Wie aggregieren sich die Einzelhandlungen vieler Akteure zu einem komplexen System, wie genau verdichten sie sich zu Strukturen, welcher neue Zustand wird so auf welche Weise hervorgebracht? Ein gar nicht so hypothetisches Beispiel mag hier zur Veranschaulichung dienen: In einer Organisation wird festgestellt, dass vor längerer Zeit beschlossene Maßnahmen nicht umgesetzt worden sind, etwa die Umstellung bestimmter Abläufe auf computergestützte Verfahren. Eine genauere soziologische Untersuchung könnte in diesem Fall etwa zeigen, dass diese Umstellung auf den unterschiedlichen Hierarchieebenen stark ungleich erfolgt und zunächst vor allem auf der Ebene von Abteilungsleitern ausgeblieben ist. Möglicherweise zeigt sich zudem, dass genau diese Akteure mit Blick auf die anvisierten Veränderungen besonders ressourcenschwach sind, das heißt, im Gegensatz zu ihren jüngeren Mitarbeitern über besonders geringe Computerkenntnisse verfügen. Eine entsprechende Interpretation könnte nun lauten, dass sich diese Akteure den geplanten Umstellungen verweigern, da sie zum einen den zusätzlichen Aufwand scheuen, der mit computerbezogener Weiterbildung verbunden wäre; zum anderen können sie möglicherweise auch ihre Machtposition als Abteilungsleiter gefährdet sehen, 596

wenn nun plötzlich völlig neue, bislang nicht geforderte Schlüsselqualifikationen von Bedeutung sind, über die sie gerade nicht verfügen, während von ihnen zukünftig aber gerade hier erwartet wird, die Rolle besonders kompetenter Vorreiter zu übernehmen. Die nicht erfolgende Umsetzung der anberaumten Maßnahmen durch einzelne Akteure auf mittleren Führungsebenen setzt sich nun möglicherweise längerfristig nicht nur innerhalb ganzer Abteilungen fort, sondern summiert sich auch rasch zu einer unzureichenden Umsetzung in der Organisation als ganzer auf — dem ursprünglichen Erklärungsgegenstand. Mit Blick auf das hier vorgestellte Modell sollte jedoch festgehalten werden, dass nur ein Teil der soziologischen Zunft (die dem sog. „methodologischen Individualismus” zuzurechnenden Autoren) ihm ohne größere Einschränkungen und explizit folgt. Gleichwohl führt an einer grundsätzlichen Annahme der darin angelegten Logik für die meisten Ansätze kein Weg vorbei. Paradigmatische Differenzen schlagen sich hier (wenn auch zum Teil mit weitreichenden Konsequenzen) eher in der Fokussierung unterschiedlicher Analyseschritte, in unterschiedlichen Hierarchisierungen und in im Wesentlichen impliziten Annahmen (etwa über die „Natur” von Akteuren und Handlungen) nieder. An der grundsätzlichen Einsicht in den basalen Zusammenhang zwischen Strukturen und Handlungen einerseits, Handlungen und Strukturen andererseits, ändert dies jedoch nur wenig. So schlicht das oben angeführte Beispiel darüber hinaus auch sein mag, so falsch ist es aller Wahrscheinlichkeit nach in empirischer Hinsicht. Komplexe Phänomene sind in aller Regel nicht derart mono-„kausal” verständlich und erklärbar zu machen, und die Logik der Aggregation folgt nur in seltenen Ausnahmefällen dem Modell der Additionsrechnung. An dieser Stelle wird Soziologie nun freilich kompliziert — allerdings auch nicht komplizierter als der Gegenstandsbereich, mit dem sie es zu tun hat! Deutlich wird an diesem übersimplifizierenden Beispiel jedoch auch noch ein zweiter Punkt: Die Soziologie ist wesentlich auch eine empirische Wissenschaft. Neben einer elaborierten Theoriediskussion stehen innerhalb des Faches hochspezialisierte Diskurse, die mit der Methodologie, den quantitativ-statistischen und den qualitativen Methoden empirischer Sozialforschung befasst sind — eigene Forschungsbereiche von mittlerweile enormer Komplexität. Nur aufgrund einer engen Verzahnung von Theorie- und Hypothesenbildung einerseits, empirischer Forschung, Erhebung, Analyse und Auswertung andererseits, sowie auf der Basis einer wechselseitigen Befruchtung beider Elemente, gelangt die Soziologie zu haltbaren Resultaten: Theoriebildung ohne empirische Bodenhaftung und Kontrolle ist „leer”, empirische Forschung ohne den Blick leitende, theoretische Annahmen ist „blind” (frei nach KANT). In diesem Sinne gehören eine gründliche Kenntnis der soziologischen Theorie und eine solide statistische und methodische Ausbildung gleichermaßen zum nötigen Handwerkszeug angehender SoziologInnen. Schließlich ist zu betonen, dass die Soziologie sich in dezidierter Abgrenzung etwa von den Geschichtswissenschaften oder der Psychologie der Typisierung von Situationen, Strukturen und Dynamiken bedient. Soziologisches Denken basiert in dieser Hinsicht grundsätzlich auf der Forderung nach verallgemeinerbaren Aussagen, die nicht lediglich auf Einzelpersonen, singuläre Situationen oder historische Einzelfälle abstellen. Ebenso gilt aber auch, dass die Soziologie komparativ verfährt, Kontexte herstellt und Äquivalenzen sowie Differenzen zu markieren sucht, um zentrale Strukturmerkmale herauszustellen. Die Soziologie verfährt also in diesem Sinne durchaus historisch, aber nicht historisierend, sie nimmt (sozial-)psychologisches Wissen zur Kenntnis ohne zu psychologisieren, sie betont kulturelle Varianzen ohne dabei in kulturalistische Fehlschlüsse zu verfallen.

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11.30.6 Typische Kritik an der Soziologie Nicht nur zum Zeitpunkt ihrer Entstehung, sondern kontinuierlich sieht sich die Soziologie bestimmten, wiederkehrenden Kritikpunkten ausgesetzt, die gleichermaßen von außen wie auch intern an sie gerichtet werden. Zunächst haben vielleicht schon die beiden letzten Abschnitte zur Genüge deutlich gemacht, dass die Soziologie nicht über einen einzigen, eindeutig benennbaren und universal anerkannten theoretischen Zugang zur sozialen Wirklichkeit verfügt, der als „das soziologische Paradigma” auszumachen und entsprechend kanonisiert wäre. Vielmehr steht dem eine Soziologie gegenüber, die über eine Vielzahl von Paradigmen und Ansätzen, Theorien und Theoremen verfügt, die unterschiedliche Perspektiven präsentieren, welche sich häufig komplementär, mitunter aber auch mehr oder weniger konträr zueinander verhalten. Dieser Zustand aber lässt sich selbst gleichfalls aus verschiedenen Blickwinkeln beobachten: Was dem einen als „vorparadigmatischer“ Zustand (KUHN) oder gar in pathologisierender Rhetorik als „multiple Paradigmatase“ (LUHMANN) erscheint, stellt für andere Beobachter gerade eine Stärke dar: Der daraus resultierende Perspektivenreichtum wird dann vielmehr als ein wesentlicher Vorteil begriffen, als Ergebnis einer nicht-dogmatischen Grundhaltung und als fruchtbarer Ansatzpunkt für zum Teil kontrovers geführte Diskussionen, die letztlich der Weiterentwicklung soziologischen Wissens dienlich sind. Auch an dieser Stelle greift also freilich der Vergleich mit den „paradigmatischen” Naturwissenschaften zu kurz und verkennt die Spezifik des Faches sowie seines Gegenstandes. Gleiches gilt für diejenige Kritik, derzufolge es der Soziologie an präzise benenn- und überprüfbaren „Gesetzen” fehle, und die entsprechend auch eine daraus resultierende „Prognoseschwäche” der Soziologie bemängelt. Auch in diesem Fall wird aber der Kern der Disziplin verkannt, wenn von ihr die Formulierung von kausalen Allaussagen gefordert wird; darüber hinaus ließen sich eine Vielzahl von soziologischen „Prognosen” anführen, die sich tatsächlich in dieser oder ähnlicher Form bewahrheitet haben (ein prominentes Beispiel liefert der schon sehr früh vorausgesagte Zusammenbruch sozialistischer Systeme um 1990). Zwei eher intern geäußerte, jedoch weitreichende Vorwürfe gegenüber der Soziologie beziehen sich auf bereits angesprochene Fragen: die Verknüpfung der Ebenen von „Handlungen” und „Strukturen” (bzw. die Vorwürfe von Theoretikern, die den Fokus eher auf die eine Seite legen gegenüber dem jeweils anderen Lager, demzufolge diese den „Kern” des Sozialen verkenne) sowie die ebenfalls bereits benannte Verzahnung von Theorie und Empirie. In beiden Streitfragen müssen offene Defizite eingestanden und Bedarf nach weiteren Bemühungen zur kritischen Reflexion des eigenen soziologischen Tuns angemeldet werden. Schließlich befindet sich die Soziologie als Wissenschaft von der Gesellschaft auf spannungsreichem Terrain, wenn es darum geht, zu ihrem möglichen Charakter als „kritischer Wissenschaft” Stellung zu nehmen. Interessanterweise wird der Soziologie hier nun beides vorgeworfen (wenn auch freilich nicht von den gleichen Kritikern), und die intern geführten Debatten spiegeln diese Ambivalenz wider: Es einerseits mit der „Werturteilsfreiheit” (WEBER) nicht genau genug zu nehmen, ideologisch verbrämt zu sein, unnötig zu moralisieren und zu schnell zu normativ geprägten Urteilen zu gelangen, andererseits das Potenzial einer kritischen Wissenschaft von der Gesellschaft nicht auszuschöpfen, bis hin zu dem Vorwurf, zur reinen Hilfsdisziplin im Dienste „herrschender Klassen” verkommen zu sein. Beide Argumente sind nun im Kern ebenso berechtigt wie einseitig und verkürzt. Die Soziologie bekennt sich in weiten Teilen mit gutem Grunde zum angesprochenen Werturteilsfreiheitspostulat innerhalb der Forschung; gleichwohl trägt sie eine gewisse Mitverantwortung für die Entwicklung von Gesellschaften, indem sie über ein spezifisches Wissen über die Dynamiken genau dieser Entwicklungen 598

verfügt. Die damit angesprochenen Debatten um „kritische” und „affirmative” Soziologie wurden in der Mitte des 20. Jahrhunderts deutlich intensiver geführt als heute, doch sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die zugrunde liegenden Streitfragen zum Teil schlicht aus dem wissenschaftlichen Alltagsdiskurs verdrängt worden sind — auch heute lassen sich an dieser Stelle noch implizitere aber ebenso fundamentale Differenzen und entsprechend „kritische” Urteile über die jeweils von der „Gegenseite” betriebene Soziologie feststellen.

11.30.7 Typische Begriffe und deren Deutung in der Soziologie „Die Soziologie beschreibt, was jeder weiß, mit Worten, die keiner versteht.“ Diesem Bonmot kann nicht einfach widersprochen werden — wenngleich es mehr (und soziologischere) „Wahrheit” enthält, als auf den ersten Blick ersichtlich. Natürlich ist der Gegenstand der Soziologie ein solcher, mit dem sich auch Nicht-Soziologen permanent auseinandersetzen müssen: ihr eigenes Handeln im Zusammenspiel mit anderen. Doch genau hier liegt eine der Hauptschwierigkeiten begründet, denn der soziologische Beobachter beobachtet anders als der Alltagsverstand, und genau deshalb ist es für das Fach zwingend notwendig, dem Umgangssprachgebrauch „seine” Begrifflichkeiten zu entwenden, sie möglichst von allen „Schlacken” zu befreien, die dem wissenschaftlichen Verständnis abträglich sind, und sie möglichst brauchbar und präzise „neu” zu definieren. So ist etwa die Grundkategorie des sozialen Handelns nach MAX WEBER eindeutig festgelegt als „sinnhaftes Sich-Verhalten”, das „orientiert” ist am „Verhalten anderer”. „Sozial” am „sozialen Handeln” ist also die Ausrichtung und Orientierung am anderen, und keineswegs eine wie auch immer geartete caritative Zielsetzung, wie sie etwa im alltäglichen Sprachgebrauch häufig als Konnotation mitschwingt: So handelt etwa der Konditoreiverkäufer im soziologischen Sinne „sozial”, wenn er die Interaktion mit dem Kunden zielsicher auf den Erwerb einer ganzen Sachertorte hinsteuert, aber nicht weniger der KZ-Wärter, der gezielt auf die Entindividualisierung der Gefangenen hinarbeitet. Ähnliche Sinnverschiebungen lassen sich für andere soziologische Grundbegriffe darlegen: So etwa für den Fall der sozialen Norm, die für Soziologen noch lange nicht bedeutet, dass das, was sie bezeichnet, „normal” sei und vice versa, sondern die vielmehr streng formalistisch als eine durch Sanktionen abgesicherte Erwartung an das Verhalten anderer verstanden wird. Und wenn die Rolle eines Akteurs — dort anknüpfend — als ein Bündel von normativen Erwartungen gefasst wird, das an eine spezifische Position gebunden ist, einschließlich der Möglichkeit „reziproker Rollen” und entsprechender „Erwartungserwartungen”, dann wird spätestens hier die Differenz zum Alltagsverständnis des Rollenhandelns und Rollenspielens deutlich. Eine weitere zentrale Kategorie des soziologischen Denkens ist das Konzept der Macht, verstanden als die Chance, auf das Handeln anderer im eigenen Sinne einzuwirken (begründet z.B. auf der ungleichen Verteilung von Ressourcen); in ihrer institutionalisierten Form sprechen Soziologen hier von Herrschaft. Dabei ist für die soziologische Perspektive konstitutiv, dass sich Machtverhältnisse eben nur so: als Verhältnisse, begreifen lassen, und nicht als „Einbahnstraßen”, was sie etwa vom reinen „Zwang” unterscheidet. Soziologisch deutlich gehaltvoller sind komplexe Netzwerkstrukturen und Figurationen der Macht, die eher durch vielfältige Verschränkungen und wechselseitige Abhängigkeiten geprägt sind als durch einseitige und absolute Dominanzpositionen. Soweit Soziologie sich gerade auch für den Wandel sozialer Strukturen interessiert, stellt sich vor allem die Frage nach dem Verhältnis von Stabilität, Statik und Integration sozialer Gefüge einerseits und deren Dynamiken, Prozesshaftigkeiten und ihrem Wandel andererseits — soziale Systeme verharren 599

zumeist nicht in einem Zustand absoluten Konsenses, sondern basieren vielmehr auch auf ihrer immanenten Konflikthaftigkeit. Dabei ist Konflikt keineswegs allein und eindeutig negativ zu verstehen — auch hier denkt also die Soziologie erkennbar „um die Ecke”! —, sondern er kann beispielsweise zur Produktivitätssteigerung beitragen (z.B. auf Märkten), Kollektive ihre eigene Identität erkennen oder konstruieren lassen, integrierende Kräfte entfalten, usw. Schließlich ist ein großer Teil sozialer Wandlungen nur vor dem Hintergrund von Konflikten verstehbar, denn absolute Konformität mit normativen Strukturen ist nicht nur logisch und empirisch unvorstellbar, sondern hieße eben auch genau dieses: absoluten Stillstand im Status quo. Doch so wie Gesellschaften Konflikt und Wandel benötigen, sind sie zwingend auch auf ein Mindestmaß an Stabilität, sind Akteure auf Regelmäßigkeiten und Erwartbarkeiten angewiesen, um überhaupt handlungsfähig zu sein. Normen und Rollen erzeugen einen Teil dieser Erwartbarkeit — einen anderen wichtigen Baustein bilden Rituale und Institutionen, nämlich regelmäßig wiederkehrende, mehr oder minder routinehafte Verhaltensweisen, die Sicherheiten und Halt (nicht nur) im Alltag geben: Vom Ritual des Brötchenkaufes bis hin zur Institution der Hochzeit oder der Vereidigung der Bundeskanzlerin festigen sie den Erwartungshorizont des Handelns und sorgen dafür, dass so manche unangenehme Überraschung eben doch nicht permanent einkalkuliert werden muss. „Institutionen” sind also vor allem auf Dauer gestellte Handlungsweisen, und nicht etwa Universitäten oder Banken, wie der Alltagssprachgebrauch mitunter suggeriert. Hier sprechen SoziologInnen eher von (formalen) Organisationen, welche etwa über ihre benennbare Zielsetzung, ihren Operationsmodus des „Entscheidens” oder über das grenzbildende Kriterium der „Mitgliedschaft” definiert werden können. Mit Blick auf das „große Ganze”, die „Gesamtgesellschaft” also, sind neben Fragen des sozialen Wandels vor allem Strukturfragen für die Soziologie von Interesse, insbesondere sozialstrukturelle Aspekte und die damit verbundene Kategorie sozialer Ungleichheit. In klarer Abgrenzung von sog. „natürlichen Ungleichheiten” einerseits und „Ungerechtigkeiten” andererseits verfügt diese Figur über die wohl längste Tradition im soziologischen Denken: Historisch ausgehend vom feudalistischen Ständestaat, über die MARX’sche Klassengesellschaft und die Schichtungsmodelle des 20. Jahrhunderts, hat sich der Blick mittlerweile vor allem auf sog. „horizontale” Ungleichheiten gerichtet: auf unterschiedliche Milieus, Lebensstile, Szenen usw. Last but not least ist hier eine Reihe von Begrifflichkeiten zu nennen, die nur unter großen Verlusten in der gebotenen Kürze und darüber hinaus nicht getrennt voneinander zu behandeln sind: Neben dem bereits angesprochenen Begriff der Kultur etwa der der Globalisierung, aber auch Prozesse der Modernisierung im Allgemeinen oder der funktionalen Differenzierung im Besonderen: Diese bezeichnet die primäre Differenzierung moderner Gesellschaften in funktional spezialisierte Teilsysteme wie Politik, Wissenschaft, Wirtschaft oder Recht (im Gegensatz etwa zu einem primär geschichteten Gesellschaftsmodell). Angesprochen ist damit aber zugleich auch jener Komplex von miteinander verschränkten Teilprozessen, die zur Entstehung eines „global village” (MCLUHAN) geführt haben, mit Konzepten wie Beschleunigung und der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen (BLOCH) markiert werden, die auf Phänomene wie Urbanisierung und Techn(olog)isierung verweisen, auf Rationalisierung und Ökonomisierung, auf anwachsende Kommunikationsströme und globale Öffentlichkeiten, ferner auf vielfältige Formen von Virtualisierung und Re-Lokalisierung, auf Glokalisierung (ROBERTSON) und die Revitalisierung lokaler Lebenswelten und viele andere mehr. Damit ist jedoch nur ein kleiner Teil desjenigen Bereiches der Soziologie anskizziert, den man als „Gesellschaftsdiagnose” bezeichnen kann, und der mittlerweile einen großen Teil der soziologischen Forschungs- und Publikationsarbeit umfasst.

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11.30.8 Bedeutung der Soziologie für das Coaching Die Bedeutung, die der Soziologie bzw. einer soziologischen Ausbildung für das Coaching zukommt, folgt aus den bisherigen Ausführungen. Zunächst ist auf einer sehr grundlegenden Ebene die Soziologie geeignet, fundamentale Prozesse der Interaktion, der Erwartungsbildung und auch Tücken der Interaktion freizulegen, zu analysieren und in ihrer Sinnhaftigkeit zu deuten. Missverständnisse und Nicht-Verstehen des anderen, Asymmetrien der Kommunikation und kommunikatives Scheitern, aber auch erfolgreiches Miteinander, verständigungsorientiertes Handeln, sowie positiv bewertete Ergebnisse wie Konsensbildung oder die Durchsetzung eigener Interessen sind nicht bloß willkürliche Zufallsereignisse, sondern solche, die verstehbaren Regelmäßigkeiten folgen. Hier setzt die Soziologie an und kann durch die (Selbst-)Reflexion typischer Situationen erheblich zum Verständnis und damit auch zur Verbesserung eigener kommunikativer Kompetenzen beitragen. Theorien und Methoden wie die sog. Ethnomethodologie oder die Konversationsanalyse liefern geeignete Instrumente, die die theoretische Durchdringung dieser keineswegs banalen Ebene von Sozialität ergänzen können. Aber auch die vielfältigen Strategien und Techniken des Selbstmanagements, der Eindrucksbildung und Selbstdarstellung im Alltag sind hinreichend von der Soziologie erforscht. Studien wie etwa diejenigen von GOFFMAN setzen genau an diesem Punkt von Identität und Darstellung an und entwickeln komplexe, aber leicht nachvollziehbare Modelle der Interaktion, die auch die Selbstdarstellung anderer ein Stück weit verständlicher machen. Interaktion und Kommunikation findet aber nicht im luftleeren Raum statt, und so ist eine fundierte Kenntnis etwa von Macht- und Organisationsstrukturen unumgänglich, um auch die eigene Kommunikation nicht an den durch Strukturmomente gesetzten Grenzen scheitern zu lassen. Dies gilt freilich für „offizielle” Hierarchien und Organisationsstrukturen, insbesondere aber auch für die subkutanen Dimensionen der Macht und „informelle” Organisationsstrukturen. Hinzu kommen Ansätze aus dem systemtheoretischen Bereich, die durch die Fokussierung auf die Differenz System/Umwelt eine Vielzahl von Mechanismen aufdecken, welche die Unwahrscheinlichkeit bestimmter, als erstrebenswert angenommener Kommunikationsanschlüsse plausibilisieren helfen. Schließlich kommt auch der interkulturellen Dimension im Alltag wie im Berufsleben eine immer größere Bedeutung zu, sodass das Wissen um den „Anderen” und den „richtigen” Umgang mit ihm, interkulturelle Kompetenz also, mittlerweile zum elementaren Handwerkszeug für erfolgreiche Kommunikation zu zählen ist. Hier ist die Soziologie wie keine andere Disziplin geeignet, die elementaren Hindernisse zu dechiffrieren, die gerade in einer globalisierten Welt das Miteinander nur allzu häufig und in vermeidbarer Weise erschweren. Kurz — Die Soziologie hilft, auch das eigene Handeln zu verstehen, da sie es nicht „immanent”, sondern vielmehr in seinen vielfältigen Einbettungen, seinen Bedingtheiten, seinen Abläufen und Wirkungen zu verstehen sucht. Erst dieses Verständnis ermöglicht es, auch systematische Fehlerquellen, strukturbedingte Dissonanzen und mögliche Stolpersteine zu erkennen und dadurch die Grundlage zu ihrer Überwindung zu liefern — eine bessere Hilfe zu gelungenerer Kommunikation ist kaum vorstellbar.

11.30.9 Basisliteratur ABELS, HEINZ (2007): Einführung in die Soziologie. 2 Bde. (Bd. 1: Der Blick auf die Gesellschaft; Bd. 2: Die Individuen in ihrer Gesellschaft). 3. Aufl., Wiesbaden, VS (2001) 601

NASSEHI, ARMIN (2008): Soziologie. Zehn einführende Vorlesungen. Wiesbaden, VS. SCHIMANK, UWE (2000): Handeln und Strukturen. Einführung in die akteurtheoretische Soziologie. Weinheim und München,: Juventa.

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11.31 Strategie — eine Begriffsklärung von Ella Jurowskaja

11.31.1 Strategieverständnis „So zeigt sich, dass Strategie eines jener Wörter ist, die wir gern auf eine bestimmte Weise definieren, jedoch auf eine andere Weise verwenden“ — MINTZBERG, 2007, S.23. Im Umfeld der Unternehmensführung werden heutzutage immer wieder Begriffe wie Strategie, strategisches Handeln, strategische Planung, strategische Unternehmensführung und strategisches Management verwendet. Der Begriff strategisch wird beinahe allen unternehmerischen Funktionen vorgestellt und soll die Bedeutung dieser Funktionen hervorheben. Der inflationäre und unreflektierte Gebrauch des Strategiebegriffs resultiert insbesondere aus einem Mangel an einer klaren Begriffsdefinition. Der Begriff Strategie findet seinen Ursprung im militärischen Bereich. Vor bereits mehr als zweitausend Jahren verwendete der chinesische General und Philosoph SUN TZU in seinem Werk „Kunst des Krieges“ diesen Begriff. Er schrieb: „Alle sehen die Taktik meiner Eroberungen, aber niemand erkennt die Strategie, aus der der Sieg erwächst“ (zitiert nach HENDERSON, 1993, S.23). Etymologisch ist Strategie auf die griechischen Begriffe stratos (Heer) und agein (führen) zurückzuführen (vgl. ABPLANALPH, LOMBRISER, 2000, S.8 f). Im deutschen Sprachraum etablierte CARL VON CLAUSEWITZ im 18. Jhd. diesen Terminus. CLAUSEWITZ stellt in seinem Werk „Vom Kriege“ die Begriffe Strategie und Taktik gegenüber und definiert Taktik als die Lehre vom Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht und Strategie als die Lehre vom Gebrauch der Gefechte zum Zweck des Krieges. Den Weg in die Wirtschaftswissenschaften fand der Strategiebegriff über die ökonomische Spieltheorie. Hierbei wird die Strategie als die Planung einer bestimmten Folge von Spielzügen verstanden (vgl. HUNGENBERG, 2008, S.5). Der Bereich Unternehmensstrategie wurde erst ab den 60er-Jahren intensiv in der Managementlehre erforscht. Hierbei ist insbesondere auf die Arbeiten von A. D. CHANDLER, H. I. ANSOFF, K. ANDREWS und M. E. PORTER zu verweisen. CHANDLER (1962) beschäftigt sich mit der Strategie in seinem Werk „Strategy and Structure“ und definiert die Strategie als: die Festsetzung langfristiger Unternehmensziele und die damit einhergehende Allokation der zur Zielerreichung notwendigen Ressourcen. ANSOFF (1965) legte mit seinem Buch „Corporate Strategy“ den Grundstein für das strategische Management. ANDREWS (1971), der als Begründer der Unternehmensstrategie (corporate strategy) gilt, betont in „The Concept of Corporate Strategy“ erstmalig die Bedeutung einer Stärken- und Schwächen-Analyse für die Genese einer Unternehmensstrategie. PORTER, einer der führenden Wirtschaftswissenschaftler im Bereich strategisches Management, prägte in seinen Werken „Competitive Strategy“ (1980) und „Competitive Advantage“ (1985) den Begriff der Wettbewerbsstrategie. In diesem Zusammenhang versteht Porter die Strategie als „... eine in sich stimmige Anordnung von Aktivitäten, die ein Unternehmen von seinen Konkurrenten unterscheidet ...“(PORTER, 1980, S.15). MINTZBERG, ein weiterer bedeutender Repräsentant der Strategielehre, definiert sehr umfassend den Terminus in seiner Schrift „Five P´s For Strategy“ aus der Perspektive der Unternehmenspraxis. Mit Strategie als Plan (strategy as plan) versteht MINTZBERG die Strategie als einen Plan für die Zukunft des Unternehmens, das heißt, einen angestrebten Sollzustand und den Weg dorthin. Strategie als Muster (strategie as pattern) beschreibt die Strategie als ein Bündel von Einzelentscheidungen, die erst bei einer ex post Betrachtung eine Strategie erkennen lassen. Die Strategie wird nachträglich als ein kon603

sistentes Muster in den Entscheidungen und Handlungen der Organisationsmitglieder verstanden. Weiterhin kann die Strategie als eine Position (strategy as position) am Markt betrachtet werden. Diese Dimension der Strategie bestimmt folglich die Position des Unternehmens in seiner Umwelt. Strategie als Perspektive (strategy as perspective) beschreibt die Strategie als eine übergeordnete Festlegung, die der gesamten Unternehmensentwicklung eine Perspektive bietet. Abschließend versteht MINTZBERG unter Strategie als List (strategy as ploy) die Strategie als ein Spiel bzw. eine Masche, mit der die Konkurrenz hinters Licht geführt werden kann (vgl. MINTZBERG, 1987, S.11 ff). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass eine Strategie die zukünftige Entwicklung des Unternehmens determiniert. Eine Strategie ist als Bündel von Maßnahmen zu verstehen, die entweder geplant und aufeinander abgestimmt werden oder als Muster des vergangenen Handelns interpretiert werden können. Die Unternehmensstrategie spiegelt sich in den langfristigen Zielen des Unternehmens wider, die über die Marktposition und die Ressourcenbasis des Unternehmens entscheiden. Die Strategie dient dem Unternehmen dazu, im Wettbewerb nachhaltig erfolgreich zu bestehen.

11.31.2 Strategieentwicklung als Aufgabe der Unternehmensführung Die Formulierung und die Umsetzung von Strategien sind Aufgaben der Unternehmensführung. Aus diesem Grund werden Führungskräfte als Strategen bezeichnet. So schreibt PORTER (1997): „Kernaufgabe des Topmanagements ist Strategie: Definieren der Position des Unternehmens, Treffen von Abwägungen und Abstimmen aller Aktivitäten.“ Dabei darf die Beschäftigung mit der Strategieformulierung jedoch nicht auf eine reine Analyse der optimalen Wettbewerbstaktik reduziert werden. Sie ist viel mehr das Schaffen von Unternehmenswerten und die Sicherung der Zukunft des Unternehmens. Grundsätzlich ist die Strategieformulierung als ein dynamischer Prozess der Unternehmensführung zu verstehen. Das resultiert aus der Tatsache, dass aufgrund dynamischer Rahmenbedingungen, wie z.B. wachsender Märkte, technologischen Fortschritts und kürzerer Produktlebenszyklen Strategien regelmäßig an ihre Umwelt angepasst werden müssen, um weiterhin ein erfolgreiches Bestehen des Unternehmens am Markt zu garantieren (vgl. MONTGOMERY, 2008, S.10). Generell zeichnen kompetente Führungskräfte ihre Persönlichkeitsstrukturen aus, wie bspw. eine sichere Intuition, langjährige Berufserfahrungen und ein unverkennbares Urteilsvermögen. Weiterhin verfügen sie über außerordentliche konzeptionelle und analytische Fähigkeiten. Die Gabe, Mitarbeiter zum eigenverantwortlichen, produktiven Handeln zu motivieren und zu inspirieren, komplettiert erfolgreiche Führungskräfte (vgl. KIRSCH, VAN AAKEN, 2008, S.21). MACCOBY (2000) konstatiert in diesem Zusammenhang: „Leaders get organizations and people to change. Leaders select talent, motivate, coach, and build trust.“ Zur Formulierung von Strategien existieren diverse Ansätze, die in einschlägiger Literatur kontrovers diskutiert werden (vgl. HUNGENBERG, 2006, S.14). Die wissenschaftlichen Prägungen unterscheiden sich insbesondere hinsichtlich des Strategieentwicklungsprozesses sowie der Determinanten, die in diesem Zusammenhang Berücksichtigung finden müssen. So verstehen einige Denkrichtungen die Strategie als das Resultat eines aufwendigen Analyse- oder Planungsverfahrens. Andere Richtungen betrachten die Strategie als das Produkt kreativen Denkens bzw. eines intuitiven Handelns. In ihrer Arbeit „Strategy Safari“ stellen MINTZBERG, AHLSTRAND und LAMPEL (2007) die populärsten zehn Strategieentwicklungsansätze bzw. Denkschulen vor. Die Autoren unterscheiden dabei zwischen Design-, Plan-, Positionierungs-, Unternehmer-, kognitive, Lern-, Macht-, Kultur-, Umwelt- und Konfigurationsschule. Die wesentlichen Elemente der genannten Denkschulen werden im Folgenden erörtert. 604

Designschule — Strategieentwicklung als konzeptioneller Prozess Die Designschule ist wohl die populärste Denkrichtung im Bereich der Strategieentwicklung und dient als Basis in der heutigen Wissenschaft und Praxis. Die Designschule basiert auf einem Strategieentwicklungsmodell, das mittels einer SWOT-Analyse eine Kongruenz der internen Fähigkeiten (Stärken = strengths, Schwächen = weaknesses) an externe Möglichkeiten (Chancen = opportunities, Risiken = threats) eines Unternehmens anstrebt. Die Strategie erwächst hierbei als ein kreativer Prozess der Unternehmensführung unter Berücksichtigung der Unternehmenssituation. Die Designschule versteht die Strategie als eine Perspektive der Unternehmensentwicklung bzw. das Konzept des Unternehmens, das unternehmensweit implementiert werden soll. Diese Denkschule geht insbesondere auf CHANDLER (1962) zurück. Planungsschule — Strategieentwicklung als formaler Prozess Als Begründer der Planungsschule gilt ANSOFF (1965). Im Rahmen der Planungsschule basiert der Strategiefindungsprozess auf einem formalisierbaren und analytischen Vorgehen. Das Ergebnis dieses Vorgehens ist ein strategischer Plan. Die Strategie wird demzufolge als ein expliziter Plan verstanden, der detailliert auf die einzelnen Unternehmensbereiche dekomponiert werden kann. Positionierungsschule — Strategieentwicklung als analytischer Prozess Einer der bedeutendsten Vertreter der Positionierungsschule ist PORTER (1980), der mit seinen Arbeiten sowohl die Forschung als auch die Praxis prägte. Konzepte wie die Wettbewerbs- und die Portfolioanalyse kennzeichnen diese Schule. Als wesentlichen Unterschied zu anderen Schulen wird im Rahmen der Positionierungsschule vorausgesetzt, dass es nicht beliebig viele Strategien gibt, die zum Erfolg des Unternehmens führen können, sondern nur wenige generische, die einen langfristigen Erfolg im Wettbewerb sichern. Generisch drückt hierbei aus, dass diese Strategien branchenunabhängig eingesetzt werden können. PORTER unterscheidet drei generische Strategien: Kostenführerschaft, Differenzierung und Fokussierung. Nach PORTER schließen sich die Strategien gegenseitig aus, sodass das Unternehmen gezwungen ist sich für eine Strategie zu entscheiden. Unternehmerschule — Strategieentwicklung als visionärer Prozess Als Begründer der Unternehmerschule wird SCHUMPETER (1954) dokumentiert. Die Unternehmerschule versteht Strategie als eine Vision von der Zukunft des Unternehmens. Der Erfolg einer Strategie hängt hauptsächlich von der Intuition, der Erfahrung, dem Urteilsvermögen und der Weisheit des Unternehmensleiters ab. Aus diesem Grund stehen insbesondere die Persönlichkeitsstrukturen des Unternehmers im Mittelpunkt der Forschung dieser Schule. Kognitive Schule — Strategieentwicklung als mentaler Prozess In der Betriebswirtschaftslehre geht die kognitive Schule auf MARCH und SIMON (1958) zurück. Strategien werden hierbei als mentale Konstrukte interpretiert. Für das Verständnis der Entstehung und Wirksamkeit einer Strategie müssen zunächst die Funktionsweisen des menschlichen Geistes untersucht werden. Dabei können zwei Richtungen der kognitiven Schule unterschieden werden. Der objektivistische Flügel, der geistige Strukturierungsprozesse als den Versuch, ein objektives Bild der Welt zu erlangen, und der subjektivistische Flügel, der Strategie als eine individuelle Interpretation der Welt versteht. Lernschule — Strategieentwicklung als sich herausbildender Prozess Die Lernschule basiert insbesondere auf den Arbeiten von LINDBLOM (1959). Die Lernschule setzt voraus, dass Strategien auf jeder hierarchischen Stufe im Unternehmen entstehen können, sodass der Unternehmensführung nicht die Aufgabe der Strategieformulierung zukommt, sondern das Managen von Lernprozessen innerhalb des Unternehmens. Die Unternehmensführung beobachtet im Zeitverlauf die einzelnen Unternehmensabläufe und etabliert die erfolgreichen im gesamten Unternehmen. Dieses Verständnis der Strategie kann jedoch langfristig zu einem vollkommenen Strategieverlust führen. 605

Machtschule — Strategieentwicklung als Verhandlungsprozess Die Machtschule versteht die Genese und Implementierung von Strategien als einen Machtprozess, das heißt, als einen Prozess gegenseitiger Einflussnahme, der durch individuelle und kollektive Interessen, Wünsche und Ziele geprägt ist. Die Machtprozesse können hierbei innerhalb der Organisation (Mikromacht) oder als Interdependenzen zwischen der Organisation und der Umwelt (Makromacht) entstehen. Die Machtschule beruht insbesondere auf der Arbeit von PFEFFER und SALANCIK (1978). Kulturschule — Strategieentwicklung als kollektiver Prozess Die Begründer der Kulturschule können nicht eindeutig festgelegt werden. Als relevante Autoren dieser Schule gelten insbesondere OUCHI (1981), PASCALE und ATHOS (1981) sowie PETERS und WATERMAN (1982). Die Kulturschule sieht die Strategie als ein Produkt der Unternehmenskultur und untersucht ihren Einfluss auf die Formulierung und Implementierung der Strategie. Die Strategieformulierung wird als ein kollektiver Prozess der verschiedenen Funktionen eines Unternehmens verstanden.20 Umweltschule — Strategieentwicklung als reaktiver Prozess Die Hauptvertreter der Umweltschule sind HANNAN und FREEMAN (1977). Im Rahmen der Umweltschule wird angenommen, dass die Umwelt des Unternehmens die Strategien, die zum Erfolg führen, vorgibt. Das Management kann somit kaum Entscheidungen treffen, sondern lediglich reagieren, indem es die Umweltzeichen richtig deutet und das Unternehmen bestmöglich an die Herausforderungen der Umwelt anpasst. Konfigurationsschule — Strategieentwicklung als Transformationsprozess Die Konfigurationsschule geht auf MILES und SNOW (1978) zurück. Die Konfigurationsschule nimmt eine Sonderposition ein, da sie die Möglichkeit bietet, Eigenschaften und Prozesse anderer Denkschulen zum richtigen Zeitpunkt so zu kombinieren, dass die Konfiguration optimal ist und so in das jeweilige Umfeld (Wettbewerb, Markt, etc.) passt. Die Konfigurationsschule versteht die Strategie als einen dynamischen Prozess, da in Unternehmen die Phasen von struktureller und strategischer Stabilität immer wieder durch Phasen der Transformation unterbrochen werden. Ausgehend von der Strategieentwicklung als einem Transformationsprozess, ist der Strategieentwicklungsprozess nach der Implementierung nie beendet. In einer umfassenden Betrachtung der vorgestellten Denkschulen verweisen MINTZBERG, AHLSTRAND und LAMPEL (1999) konsistent zu den Annahmen der Konfigurationsschule darauf, dass jede der Schulen nur einen Aspekt des Strategieentwicklungsprozesses erfasst, sodass ein individuell passender Ansatz erst durch eine Kombination einzelner Elemente der Denkschulen entstehen kann.

11.31.3 Strategie und strategisches Management Alle Prozesse, die sich der Strategie widmen, stehen im Zentrum der Disziplin strategisches Management. Mit dem Konstrukt strategisches Management beschäftigen sich Forscher seit Anfang der 70erJahre. Seitdem wurden zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten verfasst, die sich diesem Gegenstand widmen. Das inhaltliche und methodische Verständnis unterscheidet sich in den Arbeiten teilweise erheblich. Trotz unterschiedlicher Sichtweisen und kontroverser Diskussionen liegt den meisten Arbeiten dennoch ein ähnliches Grundverständnis des strategischen Managements zugrunde. Demzufolge erfüllt strategisches Management folgende Aufgaben: 20

Das Phänomen „Kultur“ hat insbesondere für die japanische Wirtschaft einen wichtigen Stellenwert. So gelang es japanischen Unternehmen, amerikanische Technologien zu kopieren und damit erfolgreicher als die amerikanischen Unternehmen zu werden. Dieser Erfolg wird ihren gemeinsamen Werten und Überzeugungen bzw. der gemeinsamen Kultur zugeschrieben.

606

• • • •

Bestimmung der grundsätzlichen Richtung der Unternehmensentwicklung, Sicherung des langfristigen Erfolges eines Unternehmens, Sicherung zukünftiger Erfolge durch Bestimmung externer und interner Ausrichtung des Unternehmens sowie Schaffung von Erfolgspotenzialen (vgl. HUNGENBERG, 2006, S.3 ff).

Das strategische Management ist als Teilaufgabe des Managements zu verstehen. Unter der Annahme, dass Managemententscheidungen hinsichtlich des Zeithorizontes, der Freiheitsgrade sowie der Bedeutung für den Unternehmenserfolg differenziert werden können, werden Managementaufgaben in die Kategorien normatives, strategisches und operatives Management unterteilt (vgl. HUNGENBERG, 2006, S.23). Diese Zusammenhänge werden in Abbildung 1 grafisch verdeutlicht. Im Rahmen des normativen Managements müssen die Entscheidungen nicht durch übergeordnete Unternehmensbestimmungen begründet werden, sondern werden normsetzend von der Unternehmensführung vorgegeben. Zu den Aufgaben des normativen Managements gehört die Festlegung der Vision, der Mission und der grundlegenden Ziele eines Unternehmens. Weiterhin sind die Unternehmensverfassung und -kultur Gegenstände des normativen Managements. Das strategische Management ist zwischen dem normativen und operativen Management einzuordnen. Es formuliert aus den normativen Vorgaben Strategien und Konzepte, um das normative Management realisieren zu können, und definiert somit den Handlungsrahmen des operativen Managements. Das operative Management sichert die Durchführung der normativen und strategischen Ziele in allen Arbeitsstrukturen und -prozessen eines Unternehmens, das heißt, es entscheidet über konkrete Handlungen am Markt oder im Unternehmen (vgl. HUNGENBERG, 2006, S.47 ff). Strategisches Management ist ein übergeordneter Begriff für Entscheidungsprozesse bezüglich der Unternehmensobjekte: Strategien, Strukturen und Systeme. Systeme und Strukturen dienen der Ausrichtung des unternehmerischen Handelns an den festgelegten Strategien. In diesem Zusammenhang prägte CHANDLER (1962) den Ausdruck „Structure follows Strategy“, das heißt, dass die Organisationsstruktur der verfolgten Unternehmensstrategie entsprechen muss. Entscheidungen bezüglich der Strukturen regeln grundsätzlich die Zusammenarbeit und die Arbeitsteilung der Unternehmensangehörigen. Als Systeme werden Instrumente zum Zwecke der Unternehmensführung verstanden. Dabei können Management-Informationssysteme und Management-Anreizsystemen differenziert werden. Erstere garantieren die Versorgung des Managements mit allen notwendigen Informationen. Management-Anreizsysteme dienen der Motivation und Beeinflussung von Mitarbeitern (vgl. Abbildung 1) (vgl. HUNGENBERG, 2006, S.8 f). Hinsichtlich der strategischen Entscheidungsprozesse lassen sowohl die Definition des Terminus Strategie als auch die vorgestellten Denkschulendarauf schließen, dass diese beabsichtigt und unbeabsichtigt ablaufen können. Idealtypisch wird strategisches Management als ein beabsichtigter Prozess verstanden. Die hierbei entwickelte und realisierte Strategie wird als bewusste Strategie (deliberate strategy) bezeichnet. Wird die bewusst geplante Strategie nicht umgesetzt, wird von der nicht realisierten Strategie (unrealized strategy) gesprochen. Als unbeabsichtigt werden Strategien bezeichnet (emergent strategy), die als ein in sich stimmiges Resultat, aus einer Reihe von Einzelentscheidungen, entstehen (vgl. MINTZBERG, 2000, S.23 ff).

607

Abb. 1 Managementmodell1 Normatives Management Unternehmensverfassung

Vision, Mission, Ziel

Unternehmenskultur

Strategisches Management

• Langfristige Geschäftsziele • Marktposition • Ressourcen

Strategien

• Organisation der Unternehmensangehörigen

• Führungssysteme Strukturen

Unternehmenskultur

Operatives Management Ziele

1

Maßnahmen

Hungenberg, 2006, S.8; S.2

Analog zu anderen Entscheidungsprozessen kann bewusstes strategisches Management als ein Phasenmodell dargestellt werden (vgl. Abbildung 2). Dieser Prozess beinhaltet die Phasen: strategische Analyse, Strategieformulierung und Auswahl einer Strategie sowie Strategieimplementierung. Im Rahmen der strategischen Analyse wird mittels einer Umwelt- und Unternehmensanalyse der Status quo des Unternehmens ermittelt, das heißt, seine Position am Markt sowie seine Wettbewerbsfähigkeit werden geprüft. Im nächsten Schritt werden Strategien formuliert, die das langfristige Bestehen des Unternehmens am Markt gewährleistet. Hierbei werden zumeist mehrere Strategien gleichzeitig generiert. Aus diesem Grund muss in der darauf folgenden Phase aus den Alternativen die bestmögliche Strategie ausgewählt werden. In der Phase der Strategieimplementierung wird die gewählte Strategie als konkrete Vorgabe für das operative Management operationalisiert und in die Unternehmenspraxis umgesetzt. In diesem Zusammenhang schreiben KAPLAN und NORTON (2008), dass eine Strategie ihre Bedeutung verliert, sobald Führungskräfte nicht in der Lage sind, aus der Strategie konkrete Pläne für das operative Management abzuleiten. Bezüglich des Prozesses im Allgemeinen darf das strategische MaAbb. 2 Prozess des Strategischen Managements1

Strategische Kontrolle

Strategische Analyse • •

1

Externe Analyse (Umweltanalyse) Interne Analyse (Unternehmensanalyse)

In Anlehnung an Hungenberg, 2006, S.10

608

• • •

Strategieformulierung und -auswahl

Strategieimplementierung

Entwicklung von Strategien • Entscheidung für eine Strategie • Beurteilung der Strategiealternativen •

Gestaltung von Strukturen und Systemen Operationalisierung von Strategien Information, Schulung und Motivation der Mitarbeiter

nagement nicht als ein einmaliger, linearer Prozess interpretiert werden. In der Unternehmenspraxis finden verschiedene Entscheidungsprozesse gleichzeitig statt, die eng miteinander verknüpft sind (vgl. HUNGENBERG, 2006, S.9 f). Nicht zuletzt ist im Rahmen des gesamten Prozesses des strategischen Managements Kontrolle ein entscheidender Erfolgsfaktor. Diese misst, ob die gewählte Strategiealternative zum geplanten Unternehmenserfolg geführt hat. Um mögliche Abweichungen rechtzeitig feststellen und auf diese reagieren zu können, ist Kontrolle in jeder Phase des strategischen Managements notwendig. Aus den Ergebnissen der strategischen Kontrolle können Aufschlüsse für zukünftiges Handeln des Unternehmens generiert werden. Nur so kann die Strategie zum Erfolg führen (vgl. ABPLANALP, LOMBRISER, 2000, S.161 ff).

11.31.4 Strategie im Unternehmen Die Aufgaben des strategischen Managements können sich auf allen Ebenen des Unternehmens wiederfinden. Grundsätzlich können im Unternehmen die Unternehmens-, die Geschäftsbereichs- und die Funktionsbereichsebene unterschieden werden. Unternehmen mit nur einem Produkt bzw. homogenen Produktgruppen sind in nur einem Geschäftsbereich tätig. In diesem Fall sind der Unternehmensführung unmittelbar die Funktionsbereiche unterstellt. Bei einem differenzierten Produktprogramm werden innerhalb des Unternehmens mehrere Geschäftsbereiche unterschieden. Ein Geschäftsbereich bezeichnet hierbei einen Markt oder Teilmarkt, in dem das Unternehmen agiert. Dieser Markt erfordert eigene Strategien, da er sich von den anderen Märkten auf Grund besonderer Rahmenbedingungen und spezieller Wettbewerbssituation unterscheidet (HUNGENBERG, 2006, S.397). In diesem Fall sind die Funktionsbereiche den Geschäftsbereichen unterstellt. Strategien, die auf der Unternehmens-, Geschäftsbereichs- oder Funktionsbereichsebene entstehen Abb. 3 Strategiearten1 Organisatorischer Geltungsbereich

Unternehmensstrategie

Strategiearten Wachstumsstrategie • Produkt-Markt-Strategie (ANSOFF): Marktdurchdringungs-, Marktentwicklungs, Produktentwicklungs- und Diversifikationsstrategie • Regionaler Geltungsbereich: Lokale, nationale, internationale und globale Strategie Stabilisierungsstrategie Desinvestitionsstrategie

Geschäftsbereichsstrategie

Funktionsbereichsstrategie

1

Generische Wettbewerbsstrategie • Ansatzpunkte für Wettbewerbsvorteile (PORTER). Kostenführer-, Produktdifferenzierung und Fokussierung Beschaffungsstrategie Produktionsstrategie F&E-Strategie/Technologiestrategie Absatz-/Marketingstrategie Finanzstrategie Personalstrategie

Brunner, 2006, S.40 609

können, werden in Tabelle 1 vorgestellt. So werden auf Unternehmensebene Strategien generiert, die zum Erfolg des Unternehmens als Ganzes führen. Hierzu zählen insbesondere die Wachstums-, die Desinvestitions- und die Stabilisierungsstrategien. Auf Geschäftsbereichsebene werden Strategien für ein erfolgreiches Handeln des Unternehmens in einem bestimmten Geschäftsbereich festgelegt. Im Rahmen der Funktionsbereichsstrategie werden die Ziele und Maßnahmen bestimmter Funktionsbereiche festgelegt. Funktionsbereichsstrategien müssen dabei an den Strategien des gesamten Unternehmens ausgerichtet werden. Hierbei können z.B. die Beschaffungs-, Fertigungs-, Absatz- und weitere Strategien unterschieden werden (vgl. ABPLANALP, LOMBRISER, 2000, S.12 ff). Grundsätzlich können diverse weitere Strategiearten bzw. -typologien unterschieden werden, die jedoch nicht Teil des vorliegenden Beitrags sind.

11.31.5 Fazit Abschließend bleibt festzuhalten, dass der Terminus Strategie bereits seit Jahrzehnten in zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten diskutiert wurde und voraussichtlich noch zahlreiche weitere Diskussionen entfachen wird. Im vorliegenden Beitrag — „Strategie — Eine Begriffsklärung“ — wurde der Versuch unternommen, die prominentesten Definitionen sowie Denkrichtungen rund um die Strategie vorzustellen, um zu verdeutlichen, dass trotz unterschiedlicher Sichtweisen und kontroverser Diskussionen den meisten Arbeiten ein ähnliches Grundverständnis des Strategiebegriffs zugrunde liegt oder zumindest, dass das moderne Strategieverständnis auf einer Verflechtung der unterschiedlichen wissenschaftlichen Prägungen basiert.

11.31.6 Basisliteratur ABPLANALP, P. A.; LOMBRISER, R. (2000): Unternehmensstrategie als kreativer Prozess. München ANDREWS, K. R. (1971): The concept of corporate strategy. Homewood ANSOFF, H. (1965): Corporate strategy. New York BRUNNER, M. (2006): Strategisches Nachhaltigkeits-Management in der Automobilindustrie: eine empirische Untersuchung. Wiesbaden. CHANDLER, A. (1962): Strategy and structure. Chapters in the history of the industrial enterprise. Cambridge CLAUSEWITZ C. V. (2008): Vom Kriege. Hamburg HANNAN, M./FREEMAN, J. (1977): The population ecology of organizations, in: American Journal of Sociology. Vol. 82, No. 5, S.929-964. HENDERSON, B. D. (1993): Das Konzept der Strategie, in: von Oetinger, B. (Hrsg.), Das Boston Consulting Group Strategie-Buch. Düsseldorf HUNGENBERG, H. (2006): Strategisches Management in Unternehmen. 4.,überarb.und erw.Aufl.,Wiesbaden KIRSCH, W./VAN AAKEN, D. (2008): Ansatzpunkte zur Weiterentwicklung der Theorie der strategischen Führung, in: Wrona, T. (Hrsg.), Strategische Managementforschung. Wiesbaden, S.16-38. LINDBLOM, C. (1959): The science of muddling through, in: Public Administration Public Administration Review. Vol. 19, No. 2, S.79-88 MACCOBY, M. (2000): Understanding the difference between management and leadership. in: Research Technology Management. Vol. 43, No. 1, S.57-59. 610

MARCH, J./SIMON, H. (1958): Organizations. New York MILES, R. E.; SNOW, C. C. (1978): Organizational strategy, structure, and process,. New York MINTZBERG, H. (1987): The Strategy Concept I: Five P´s for Strategy, in: California Management Review. Vol. 30, No. 1, S.11-24. MINTZBERG, H. (2000): The Rise and Fall of Stratigic Planning. Harlow MINTZBERG, H./AHLSTRAND, B./LAMPEL, J. (2007): Strategy Safari: eine Reise durch die Wildnis des strategischen Management. München MONTGOMERY, C. A. (2008): Die Rückkehr der strategischen Führung. in: Harvard Business-Manager, Vol. 30, No. 5, S.10-18. KAPLAN, R. S./NORTON, D. P. (2008): Management mit System. in: Harvard Business-Manager, Vol. 30, No. 5, S.28-49. OUCHI, W. (1981): Theory Z. How American business can meet the Japanese challenge. Reading PASCALE, R./ATHOS, A. (1981): The art of Japanese management. Applications for American management. New York PETERS, T./WATERMAN, R. (1982): In search of excellence. New York PFEFFER, J./SALANCIK, G.R. (1978): The external Control of Organizations — A Resource Dependence Perspective. New York PORTER, M. (1980): Competitive strategy: techniques for analyzing industries and competitors. New York PORTER, M. (1985): Competitive Advantage, New York PORTER, M. (1997): Im Brennpunkt: Nur Strategie sichert auf Dauer hohe Erträge. in: Harvard Business-Manager, Vol. 19, No. 3, S.42-60. SCHUMPETER, J. A. (1954): History of Economic Analysis, New York WRONA, T. (2008): Strategische Managementforschung. Wiesbaden

611

11.32 Supervision von Gisbert Stein und Marianne Stein

11.32.1 Anfänge, Ursprünge und Quellen Der Begriff „Supervision“ kommt aus dem Lateinischen und setzt sich aus den Wortstämmen „super“ („über“, „von oben“, „darüber“) und „visio“ („Anblick“, „Sehen“) zusammen und wird daher meist mit den Begriffen „Überblick“, „Übersicht“ oder auch „Kontrolle“ beschrieben (vgl. BELARDI 2005, S.14). SCHREYÖGG ordnet den Begriff in den administrativen bzw. ökonomischen Bereich ein, da er ursprünglich eine Vorgesetztenfunktion innerhalb von Unternehmen, Behörden und Verbänden beschrieb. Dem „Supervisor“ kam dabei als übergeordneter Instanz die Kontrolle der Arbeit der unterstellten Mitarbeiter sowie deren fachliche Anleitung zu (vgl. 2004, S.18). Auch MÖLLER weist in diesem Zusammenhang auf den amerikanischen Sprachgebrauch zur Beschreibung einer Person hin, welche die sachliche bzw. fachliche Kontrolle von Kollegen sowie die Leitung und Überwachung bestimmter Arbeitsprozesse innehatte (vgl. 2003, S.17). Bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Supervision muss festgestellt werden, dass eine allgemein gültige sowie konsensfähige Definition des Begriffs bisher nicht zu finden ist. Viel eher stehen zahlreiche Definitionen nebeneinander, die je nach Autor und dessen theoretischem Hintergrund und beruflichem Kontext deutlich variieren. Einigkeit besteht lediglich darüber, dass sich die Supervision immer mit Fragen der beruflichen Tätigkeit des Supervisanden beschäftigt. BELARDI beschreibt Supervision in einem weitgehenden Verständnis als Weiterbildungs-, Beratungs- sowie Reflexionsverfahren für berufliche Zusammenhänge mit dem allgemeinen Ziel, die Arbeit der Ratsuchenden im Hinblick auf Arbeitsergebnisse, Arbeitsbeziehungen zu Kollegen und Kunden sowie organisatorische Zusammenhänge zu verbessern (vgl. 2005, S.15). In der Definition MUTZECKS werden primär soziale Berufe als (ursprüngliche) Zielgruppe von Supervision angeführt und erste Aussagen zu Gegenstand, Inhalt und Methoden gemacht: „Supervision ist eine systematische Reflexion des beruflichen Handelns im Kontext institutioneller Situationen und Bedingungen vor dem Hintergrund des persönlichen und gesellschaftlichen Umfelds. Sie ist eine besondere Form von Beratung, die auf psychologischen sowie pädagogischen Ansätzen und Methoden basiert. Die Zielgruppe von Supervision, die Supervisanden, sind Personen, bei denen das professionelle Handeln auf zwischenmenschlichen Beziehungen bei beratenden, helfenden, pflegenden, lehrenden, menschenführenden Tätigkeiten gerichtet ist. Gegenstand von Supervision sind vor allem schwierige bzw. gestörte Interaktionsprozesse im Berufsalltag. Das Thema erwächst aus dem jeweiligen Berufsfeld und Arbeitsplatz der Supervisanden“ (2008, S.38). Die Deutsche Gesellschaft für Supervision definiert die berufsbezogene Beratungsform wie folgt: „Supervision beschäftigt sich mit einer Vielfalt von Arbeitsbereichen, Zielgruppen, Problemsituationen und Potenzialen. Sie dient als Beratungsinstrument für alle beruflich Tätigen im Spannungsfeld Person — Rolle — Organisation/Arbeitsfeld — Klienten/Kundensystem. Insbesondere dient Supervision der Steigerung von Professionalität durch Reflexion, als Bearbeitung und Lösung von aktuellen Konflikten, zur Entwicklung von Rollen-, Aufgaben- und Zielklarheit im Rahmen von beruflichen Sozia-lisations- und Veränderungsprozessen, zur Unterstützung von Projektarbeit und bei individuellen Veränderungen oder Veränderungsprozessen in Organisationen“ (2004, S.4).

612

Die Entstehung der Supervision ist stark mit der Entwicklung der Sozialarbeit in den USA und England verknüpft. Aufgrund der harten Arbeitsbedingungen im Zuge der Industrialisierung wuchs das soziale Elend in England gegen Mitte des 19. Jahrhunderts stark an und zog die Entstehung freiwilliger Wohlfahrtsangebote nach sich. Ein Pfarrerehepaar namens BARNETT, das seit 1873 in einem nahe London gelegenen Slum-Gebiet tätig war, kritisierte im Zuge dieser ersten sozialen Aktivitäten die mangelnden Unterstützungsmaßnahmen für bedürftige Menschen (vgl. BELARDI 2005, S.19). Ab 1883 wurden verstärkt Studenten und Jungakademiker zur ehrenamtlichen Arbeit eingesetzt und Pfarrer BARNETT bat diese wöchentlich in sein Arbeitszimmer, um in „Vier-Augen-Gesprächen” soziale und sozialpädagogische Fragen zu besprechen, in Konfliktfällen zu beraten und auf diese Weise Klärung und Entlastung zu schaffen. In der Literatur werden diese Gespräche als Vorläufer für jenen Prozess angesehen, der heute als Praxisberatung bzw. Supervision bezeichnet wird (vgl. BELARDI 1998, S.19). Dieser englische Vorgänger von Supervision im Sinne von persönlichen Gesprächen bei Fragen und Konflikten im Rahmen der ehrenamtlichen Arbeit wurde in den USA 1871 durch die Gründung der Wohlfahrtseinrichtung „Charity Organization Society“ (C.O.S.) im Staate New York institutionell weiterentwickelt, welche die Organisation von Aktivitäten der zahlreichen privaten Wohltätigkeitsvereine und -institutionen zur Aufgabe hatte. Die Anfänge einer Professionalisierung von Supervision sind auf MARY RICHMOND zurückzuführen, die die Arbeit der New Yorker C.O.S. reorganisierte, finanzielle Mittel verteilte und die Fortbildung der in der sozialen Arbeit engagierten Menschen deutlich vorantrieb (vgl. MÖLLER 2003, S.18). Dabei wies RICHMOND den vielen ehrenamtlich tätigen Kräften hauptberufliche Angestellte zu, deren Aufgabe es war, die freiwilligen Helfer zunächst anzuleiten und zu motivieren, gleichzeitig aber auch eine administrative Kontrolle über deren ausgeführten Tätigkeiten auszuüben. Im Jahre 1903 veröffentlichte BRACKETT ebenfalls in den USA das erste Buch über Supervision mit dem Titel „From Supervision and Education in Charity“ und bis 1945 wurden etwa 35 weitere Fachbeiträge zum Thema veröffentlicht (vgl. BELARDI 1994, S.335). Ein weiterer wichtiger Meilenstein für die Supervision stellte die methodische Erweiterung durch die Psychoanalyse seit den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts dar. Die Einführung sogenannter kontrollanalytischer Verfahren als wichtigem Element der psychoanalytischen Ausbildung umfasste eine supervisionsähnliche Reflexion der Behandlungsfälle wie auch persönlicher Lebensprobleme eines angehenden Psychoanalytikers mithilfe eines erfahrenen Kollegen. Dieses Verfahren lässt sich ebenfalls als Vorläufer der Supervision beschreiben, auch wenn der Begriff zu dieser Zeit nicht explizit gebraucht wurde (vgl. BELARDI 2005, S.20f.; PETZOLD/SCHIGL/FISCHER/HÖFNER 2003, S.98). Die Supervision in Deutschland entwickelte sich anders als in England und den USA und hat sich von den dargestellten Ursprüngen entfernt. Nach Einschätzung einiger Autoren sollen die amerikanischen Grundzüge der Supervision schon kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges zumindest einigen deutschen Fachleuten bekannt gewesen sein. Erste supervisionsähnliche Angebote seien dabei am 1923 gegründeten „Seminar für Jugendwohlfahrt“ in Berlin sowie 1925 an der „Freien Wohlfahrtsschule“ angeboten worden; nach BELARDI ist dies anhand eines Lehrplanes jedoch nicht eindeutig belegbar (vgl. 1994, S.336). Erstmals indirekt erwähnt wurde die Supervision in Deutschland 1950 in einem Buch der ehemaligen Leiterin des Kölner Wohlfahrtsamtes HERTHA KRAUS, die nach ihrer Emigration in die USA über 40 Fachbeiträge zur Sozialarbeit veröffentlichte, in welchen der englische Originalbegriff „supervisor“ jedoch durch „Praxislehrer“ bzw. „leitender Fürsorger“ übersetzt wurde (vgl. BELARDI 1998, S.25). Obwohl Supervision im Sinne einer Praxisreflexion zu dieser Zeit bereits bekannt war, setzte sich der Begriff in der Literatur erst viele Jahre später durch. In Deutschland lässt sich seit den 60er-Jahren ein verstärktes Aufkommen der berufsbegleitenden Supervision verzeichnen, seit den 70er-Jahren finden Ausbildungen zum Supervisor statt (vgl. PALLASCH 1991, S.22). Eng damit verknüpft ist die 1989 gegründete Deutsche Gesellschaft für Supervision e.V. 613

(DGSv), die inzwischen über 3600 Mitglieder verfügt und als Dachverband von über 40 Instituten, Akademien und Hochschulen fungiert, welche DGSv-zertifizierte, mehrjährige Supervisionsausbildungen anbieten. Im Laufe der Zeit hat sich die Supervision hierzulande von ihrem Ursprung in der Sozialarbeit gelöst und ist vermehrt zu einer allgemeinen Beratungsform für Praktiker aller Arbeitsfelder geworden (vgl. SCHREYÖGG 2004a, S.34). Nach BELARDI betonen alle grundlegenden neueren deutschsprachigen Arbeiten über Supervision eine deutliche Schwerpunktverlagerung von der psychotherapeutisch orientierten zur organisationsbezogenen sowie prozessorientierten Supervision. Eine ebenfalls wichtige Entwicklung sei dabei der Einzug von Supervision in den erwerbswirtschaftlichen Kontext, da die humanorientierten Supervisionsansätze den „unschätzbaren Vorteil der beziehungs- und prozessbezogenen Weiterbildung“ haben, der bei vielen Fortbildungsmaßnahmen im profitorientierten Sektor noch unterentwickelt ist (vgl. 1994, S.338).

11.32.2 Entwicklung und bedeutende Richtungen und deren Vertreter Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben sich in der Supervision aufgrund des fehlenden einheitlichen Theorieansatzes zahlreiche Schulen herausgebildet, die auf Grundlage ihres jeweiligen theoretischen Hintergrundes unterschiedliche Akzente setzen. Entsprechend vielfältig erscheinen folglich die methodischen Ansätze, welche nachfolgend in Anlehnung an PALLASCH aufgezählt werden (vgl. 1991, S.94ff.): 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

Psychoanalytisch orientierte Supervision Gruppendynamische Supervision Klientenzentrierte Supervision Psychodramatische Supervision Gestalttherapeutische Supervision Transaktionsanalytische Supervision Organisationstheoretische Supervision Systemtheoretische Supervision Verhaltenstherapeutische Supervision Unterrichtliche Supervision Psychodramatherapeutisch orientierte Supervision Balintgruppenarbeit

(Eine ausführliche inhaltliche Darstellung der einzelnen Ansätze findet sich bspw. bei PALLASCH/MUTZECK/REIMERS 1992, S.23ff.). Anhand dieser Auflistung wird deutlich, dass in der Supervision nicht ein Theorem vorherrscht, sondern viele verschiedene nebeneinander bestehen. PETZOLD et al. erklären dies damit, „dass es „die” Supervision nicht gibt, sondern dass man es auf internationaler Ebene, aber auch im deutschsprachigen Bereich, mit einer kaum überschaubaren Zahl von unterschiedlichen Supervisionsverständnissen, Ansätzen, Methoden, Schulen zu tun hat, für die bislang kein „gemeinsamer Nenner” in theoretischer oder methodischer Hinsicht gefunden werden konnte (...)“ (2003, S.68).

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11.32.3 Typische Fragestellungen Obwohl der Fokus von Supervision auf dem beruflichen Kontext des Supervisanden liegt, führt das Fehlen einer allgemein gültigen Definition dazu, dass hinsichtlich der typischen Fragestellungen und Inhalte von Supervision kaum Grenzen gesetzt sind. Gründe für Institutionen, Supervision als Beratungsform einzuführen sind bspw. eine verbesserte Reflexion und Weiterentwicklung der Kompetenzen der Mitarbeiterteams, Führungskräfte und Projektgruppen, die Entwicklung von Lösungsansätzen bei Führungsproblemen und Konflikten, die Unterstützung und Begleitung von Veränderungsprozessen, Zusammenlegungen von Organisationseinheiten und Teams, die Klärung von Rollen, Beziehungen und Aufgaben (im Team) sowie eine berufliche Standortbestimmung und Laufbahnentwicklung (vgl. VISVADER 2000, S.37). Insgesamt bedienen sich einzelne Personen, Gruppen, Teams sowie ganze Organisationen somit der Supervision, um die Effizienz ihrer Arbeit zu erhöhen, um Personal- und Teamentwicklung zu betreiben, um Organisationsstrukturen zu optimieren sowie die fachliche und persönliche Entwicklung jedes Einzelnen zu fördern (vgl. MÖLLER 2005, S.149). Weitere mögliche Ziele fasst PALLASCH in folgender Aufzählung zusammen (vgl. 1991, S.50): Allgemeine Verbesserung der (Praxis-)Arbeit, Erhöhung der beruflichen Kompetenz, Auseinandersetzung mit der beruflichen Rolle und den Zielen und Ansprüchen des Arbeitgebers, Auseinandersetzung mit der beruflichen Identität, der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns und beruflichen Perspektiven, Klärung von berufsethischen Fragen, Verbesserung der Kooperation mit den Mitarbeitern bzw. Vorgesetzten, Verminderung von persönlichen Problemen durch Psycho- und Sozialhygiene, Möglichkeit zur Regeneration, Auseinandersetzung mit Fragen der Loyalität, Überprüfung der eigenen Fachkompetenz, Auseinandersetzung mit Macht- und Interessenfragen, Klärung von Statusfragen sowie Hilfe zur Selbsthilfe. Supervision wird jedoch auch immer häufiger in Anspruch genommen, ohne dass ein akutes Problem oder ein Konflikt im beruflichen Kontext vorliegt, das heißt, Supervision wird auch präventiv eingesetzt, um mögliche Schwierigkeiten gar nicht erst entstehen zu lassen (vgl. BUCHINGER/ KLINKHAMMER 2007, S.24). Supervision soll einen Beitrag zur Qualitätsverbesserung beruflicher Arbeit leisten und unterstützt dabei die Entwicklung der beruflichen Identität sowie die Erweiterung von Handlungsstrategien. Weiterhin wird die Kompetenz des Supervisanden in persönlicher wie auch fachlicher Hinsicht erweitert, da Kommunikations- und Kooperationsfähigkeiten verbessert, Rollenfragen und Konflikte geklärt werden und sich die Möglichkeit zur emotionalen Entlastung bietet. Insgesamt kann Supervision somit die Effektivität der eigenen Arbeit verbessern und die Berufszufriedenheit erhöhen. In der praktischen Arbeit können sich seitens des Supervisanden zum Beispiel folgende Fragestellungen ergeben, die eine Inanspruchnahme von Supervision nach sich ziehen: Einzelsupervision „Wie soll ich mich in der konkreten Situation entscheiden?“, „Wie kann ich Veränderungen meines Klienten/Patienten optimal begleiten?“, „Wie kann ich/muss ich das Verhalten meiner Klientin/Patientin verstehen?“, „Wie kann ich meine Aufgabe optimal umsetzten?“, „Was kann ich im Konflikt mit einem Kollegen tun?“, „Wie kann ich mich besser gegenüber bestimmten Forderungen abgrenzen?“, „Wie unterstütze ich eine Schülerin, die zu Hause Schwierigkeiten hat?“, „Wie gehe ich mit der Aggression des Herrn A. besser um?“ Team- und Gruppensupervision „Wie können wir den Erfolg unserer Arbeit erkennen?“, „Worauf müssen wir achten, damit die Qualität unserer Kooperation erhalten bleibt?“, „Unser Team hat drei neue Kollegen bekommen, worauf sollten wir jetzt achten?“, „Wie können wir auf die neuen Anforderungen des Auftragge615

bers am besten reagieren?“, „Wie können wir die Kommunikation in unserem Team wieder in Fluss bringen?“, „Die Spannung im Team ist lähmend, wie können wir dies ändern?“, „Was sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede in unseren Arbeitssituationen und wie gehen wir damit um?“, „Mir ist in der Arbeit mit einer Patientin nicht klar, ob ich ihr Krankheitsbild wirklich verstanden habe, was meinen die anderen dazu?“, „Wie können wir die Beziehungen zu unseren KlientInnen/Kunden/Kooperationspartnern optimal gestalten?“

11.32.4 Deutungsmuster (Analyse- und Lösungsstrategien) Wie bereits erwähnt, gibt es keinen einheitlichen bzw. allgemein anerkannten Theorieansatz von Supervision, sondern vielmehr eine große Anzahl verschiedener Vorstellungen über den Gegenstand und die damit verbundenen Methoden. BUCHINGER merkt in diesem Zusammenhang an, dass die Supervision eine Besonderheit aufweise, die sie von anderen Formen professioneller Beratung unterscheide: „Zwar spielen die Methoden in der Supervision eine Rolle. Man muss sie beherrschen, um als Supervisor bzw. Supervisorin professionell tätig sein zu können. Aber sie reichen gerade dafür nicht aus. Denn die Methoden machen nicht die Eigenart der Supervision aus, sind auch nicht ihr Besitz. Sie wurden und werden weiterhin in anderen Formen der Beratung entwickelt und von der Supervision aus diesen entlehnt“ (1999, S.14). Insgesamt zeichnet sich die Supervision somit allein durch ihren Gegenstand — die berufliche Tätigkeit — aus und nicht durch die eingesetzten Methoden, da sich diese je nach Schulzugehörigkeit des Supervisors unterscheiden können: „Die Methodenfrage bzw. -präferenz ist stark abhängig von der durchlaufenen Schule des Supervisors. Jede Schule wiederum repräsentiert eine bestimmte Theorie bzw. favorisiert bestimmte theoretische Annahmen und legt damit das Paradigma des Handelns fest“ (PALLASCH 1991, S.94). Die Supervision verfügt folglich über keine speziell für die Beratung im beruflichen Kontext entwickelten Interventionen, sondern greift auf Methoden anderer Verfahren zurück. Nach FATZER werden dabei vor allem Interventionen wie aktives und interessiertes Zuhören, historische Konstruktionen, Aufmunterung zur Konkretisierung, Feedback sowie inhaltliche Vorschläge und Empfehlungen mit dem Ziel der Exploration, Diagnose und Konfrontation eingesetzt (2005, S.77f.). Weitere wichtige Methoden in der Supervision sind die Fallarbeit, die Institutionsanalyse sowie die Selbstthematisierung. Die Fallarbeit umfasst das Besprechen konkreter Situationen des Supervisanden, während in der Institutionsanalyse auch institutionelle Rahmenbedingungen (z.B. Ziele, Selbstverständnis und Kultur der Organisation) rekonstruiert werden, da diese ebenfalls Einfluss auf die eigene berufliche Rolle haben können. In der Selbstthematisierung geht es hingegen um die permanente Selbstreflexion des Supervisionsprozesses zur Lösung von Problemen, welche mittels der oben genannten Methoden nicht bearbeitet werden konnten (vgl. RAPPE-GIESECKE 1999, S.68f). In jedem Supervisionsprozess sollten zunächst die Besonderheiten des Supervionsverständnisses deutlich werden. Der Supervisor hilft dem Supervisanden lediglich, sein Problem zu erkennen, damit dieser es selbst lösen kann. Der Supervisor besitzt daher nur die professionelle Verantwortung für den Supervisionsprozess, nicht aber für die Schlussfolgerungen und Konsequenzen des Supervisanden. Es gibt somit — im Gegensatz zu den Anfängen von Supervision — keine Bewertung seitens des Supervisors in „richtig“ oder „falsch“. Zu Beginn des Supervisionsprozesses gilt es, den aktuellen Anlass der Supervision genau zu klären. Dies erfolgt meist in dem sog. Erstgespräch, von vielen auch oft als 616

„Probesupervision“ bezeichnet. Hier verschafft sich der Supervisor einen differenzierten Überblick über die konkrete Situation, die Fragestellung und die damit verbundene Vorgeschichte. Gleichzeitig bekommen die Supervisanden Informationen über die Person und Arbeitsweise des Supervisors. Am Ende des Erstgespräches erfolgt ein „Kontrakt“, in dem die Anzahl der Sitzungen, die Kommunikationsregeln, die Zusicherung von Anonymität und Konsequenzen bei Rahmenverletzungen festgehalten werden. Das in der Praxis häufig vorkommende Dreiecksverhältnis Supervisor, Team und Geschäftsleitung führt automatisch auch zu einem entsprechenden „Dreieckskontrakt“, da die Modalitäten der Finanzierung und die eng damit verbundenen Frage der Supervisionsfrequenz sind letztendlich mit der Geschäftsleitung zu klären. Die einzelnen Supervisionssitzungen erfolgen dann nach einer sich wiederholenden Struktur. Sie beginnen mit einer „Aushandlungsphase“, in der das Hauptthema der Sitzung erarbeitet wird. Die Sitzungen enden jeweils mit einer kurzen Rückmeldung der Teilnehmer über die eigene Befindlichkeit, einer Aussage zum Erkenntnisgewinn der Sitzung und einem Blick auf die kommende Sitzung. Der gesamte Supervisionsprozess endet verabredungsgemäß nach Ablauf des vereinbarten Zeitraumes oder der Anzahl der Sitzungen; wobei einige Stunden vor dem letzten Termin von dem Supervisor das absehbare Ende thematisiert wird und ggf. ein neuer Kontrakt geschlossen wird.

11.32.5 Typische Anwendungsfelder und Begriffe Die Geschichte der Supervision zeigt, dass sie seit Ende des letzten Jahrhunderts längst nicht mehr nur dem Bereich der Sozialarbeit zuzuordnen ist, sondern sich durch ihre jeweilige feldspezifische Anwendungsform zu einer berufsbezogenen Beratung für tendenziell alle Berufe entwickelt hat. Konkrete Arbeitsfelder sind heute vor allem Institutionen des Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesens (Sozialarbeit, Krankenhaus, Seelsorge, kirchliche Einrichtungen, Schulen, Altenhilfe, Psychiatrie etc.), öffentlichen Dienstes (Verwaltungen, Behörden, Ministerien, Polizei, Politik, Militär) wie auch Wirtschaftsunternehmen und Selbstständige aller Art (vgl. BELARDI 2005, S.42ff.). Eine wichtige Unterscheidung bei den verschiedenen Varianten von Supervision liegt in der organisatorischen Herkunft des Supervisors, wobei dem organisationsfremden, externen Supervisor der interne Supervisor gegenübersteht. Letztere Form der Herkunft lässt sich ebenfalls aufspalten in den Supervisor in einer Stabsfunktion sowie in den Vorgesetzten als Supervisor. Hierzulande dominiert, anders als in den USA oder England, die organisationsexterne Supervision (vgl. BELARDI 1998, S.36). Externe Supervision meint, „dass zum Zwecke einer berufsbezogenen Beratung/Supervision gegen ein Honorar ein fremder Fachmann für einen zeitlich begrenzten Auftrag in die Organisation hineingeholt wird“ (BERKER 1994, S.344). Bei dieser Variante handelt es sich um eine Supervisionsform, die von frei- oder nebenberuflich tätigen Supervisoren wahrgenommen wird, die selbst nicht Teil der Institution sind, in der ihre jeweiligen Supervisanden arbeiten (vgl. SCHREYÖGG 2004, S.32). Ein entscheidender Vorteil liegt somit darin, dass sie nicht in die Hierarchie der Institution eingebunden und daher weniger von der sogenannten „Betriebsblindheit” betroffen sind. Im Umkehrschluss ist der externe Supervisor hingegen weniger mit dem Innenleben der Institution vertraut, wodurch ihm wichtige Vorgänge zunächst verborgen bleiben können (vgl. BELARDI 1998, S.36). Da dem externen Berater eine neutrale sowie unparteiische Rolle zugeschrieben wird, verhalten sich die Supervisanden meist offener und unbefangener bei der Schilderung ihrer Anliegenn (vgl. BERKER 1994, S.351). Die Variante des organisationsinternen Supervisors knüpft an die amerikanische Praxis an und meint, „dass zum Zwecke berufsbezogener Beratung/Supervision ein spezialisierter Fachmann auf eine Planstelle in der Organisation gesetzt wird“ (BERKER, 1994, S.344). Bei der internen Supervision ist der 617

Berater selbst Mitarbeiter der Institution und verfügt daher über eine größere Feldkompetenz als der externe Supervisor. Ein Vorteil liegt darin, dass der interne Supervisor bereits über ein großes Wissen über die Institution und den darin arbeitenden Menschen verfügt und somit über innerbetriebliche Vorgänge, welche Thema der Supervision sein können, besser informiert ist. Dabei kann die Gefahr bestehen, dass die Vorbehalte und Widerstände gegenüber dem Berater deutlich größer sind und Konflikte innerhalb des Teams oder gar persönliche Verstrickungen weniger zur Sprache kommen, da die Supervisanden bei negativen Äußerungen mit beruflichen Nachteilen rechnen. Die eigene Zugehörigkeit des Supervisors zur Institution kann ebenfalls dazu führen, dass persönliche, berufliche sowie organisationale Grenzen nicht mehr eindeutig gegeben sind (vgl. BELARDI 1998, S.36f.). Einen weiteren Nachteil sieht BERKER in der fehlenden Rollendistanz als eigentlich wichtige Voraussetzung supervisorischen Handelns, welche dazu führen kann, dass eine Art „Betriebsblindheit” entsteht: „Der Supervisor erkennt die Probleme der Organisation nicht, da er selbst bereits ein Teil des Problems geworden ist“ (1994, S.348). Bei der organisationsinternen Supervision findet die weitere Differenzierung zwischen Supervisoren in Stabsfunktion und dem Vorgesetzten als Supervisor statt. Um die oben erläuterten Nachteile des Beratungsprozesses durch einen organisationsinternen Supervisor zu vermindern, haben viele Institutionen sogenannte „Stabsstellen“ für die Berater geschaffen, sodass diese nicht in einem Vorgesetztenverhältnis zu ihren Supervisanden stehen. Supervisoren in einer Stabsfunktion kennen folglich die Institution, die darin arbeitenden Personen und mögliche Arbeitsprobleme besser als externe Berater, haben es aufgrund ihrer Position jedoch leichter, das Vertrauen der Supervisanden zu erwerben, da diese bspw. bei Kritikäußerungen nicht mit negativen beruflichen Konsequenzen rechnen müssen (vgl. BELARDI 1998, S.37). Die Supervision in Vorgesetztenfunktion entspricht dem Verständnis der amerikanischen Tradition. In dieser Form übernimmt ein Vorgesetzter die Rolle des Beraters und nicht, wie bei der internen Supervision, ein eigens dafür spezialisierter und ausgewählter Fachmann innerhalb der Institution. Nach SCHREYÖGG ergibt sich daraus eine besondere Beziehungssituation, da sich die Supervision in diesem Rahmen meist allein auf die Fachberatung im Hinblick auf arbeitsplatzspezifisches Wissen reduziere. Auch wenn es zunächst sogar die Pflicht eines jeden Vorgesetzten sei, Mitarbeiter in ihrem beruflichen und organisationalen Kontext zu beraten und zu kontrollieren, so könne sich dies jedoch lediglich auf die sachliche Aufgabenerfüllung eines Mitarbeiters beziehen und nicht auf seine persönlichen Belange (vgl. 2004, S.30). Auch organisationverändernde Intentionen sind bei dieser Position des Supervisors nur schwer zu verfolgen, denn die „supervisorische Aufgabe eines Vorgesetzten bezieht sich, formal gesehen, darauf, dass der unterstellte Mitarbeiter möglichst gut „funktioniert“ (ebd.). Es herrscht daher das Verständnis vor, dass die Arbeit zwischen Supervisor und Supervisand auf freiwilliger Basis stattfindet und zudem keine hierarchische Beziehung zwischen ihnen bestehen sollte. Diese Form der Beratung durch einen Vorgesetzten findet in der Fachliteratur daher nur geringen Zuspruch. In Bezug auf die unterschiedlichen Arbeitsformen der Supervision wird außerdem zwischen Einzel-, Gruppen- und Teamsupervision differenziert. Die Einzelsupervision wird meist als klassische Form der Supervision verstanden. In diesem Setting ist lediglich ein Supervisand Arbeitspartner des Supervisors und erhält professionelle Begleitung, Klärung und Beratung für sein berufliches Handeln (vgl. MUTZECK 2008, S.42). Die Einzelsupervision wird von einigen Autoren deshalb als „dyadischer Dialog“ verstanden, „der als eine besonders intime und fachliche, aber eben sehr vertraute Auseinandersetzung begriffen wird“ (PALLASCH 1991, S.109). Bei dieser Form der Beratung besteht eher die Möglichkeit eines engen und vertrauensvollen Verhältnisses zwischen Supervisor und Supervisand als in der Gruppen- oder auch Teamsupervision. Die Beratung für Personen in Leitungsfunktionen wird speziell als „Rollen- und Leitungssupervision“ be618

zeichnet und verfolgt im Rahmen eines Zweier-Settings die Reflexion und Analyse von Entscheidungen, Maßnahmen und inhaltlichen Entwicklungen im Arbeitskontext sowie das Besprechen persönlicher Befindlichkeiten und der eigenen beruflichen Rolle (vgl. BIRGMEIER 2005, S.233). Durch die Einschränkung der Zielgruppe hat sie sich als spezielle Form der Supervision im Management-Bereich herausgebildet (vgl. BELARDI 1994, S.338; PÜHL 1994, S.86) und bildet daher eine weitgehende Überschneidung zum Coaching. Das Hauptmerkmal der Gruppensupervision als sehr häufig eingesetzte Form der Supervision ist, dass die Supervisanden alle in unterschiedlichen Institutionen arbeiten, daher kein organisatorisches System oder Teilsystem darstellen und ihre Beziehungen untereinander nicht formal geregelt sind (vgl. SCHREYÖGG, 2004, S.307). Im Rahmen dieses Settings werden folglich Personen supervidiert, die an verschiedenen Arbeitsplätzen sowie in unterschiedlichen Institutionen tätig sind, obwohl sie dennoch häufig über ähnliche bis gleiche formale Qualifikationen und ein gemeinsames berufliches Erfahrungsfeld verfügen (vgl. MUTZECK, 2008, S.42). FENGLER beschreibt dies wie folgt: „ Entscheidend ist nicht der gleiche Ausgangsberuf, sondern gemeinsame Merkmale der gegenwärtigen Berufstätigkeit, die dazu führen, dass die Supervisanden über einen gemeinsamen Erfahrungspool verfügen. Wenn dann einer von ihnen einen Fall vorträgt, so haben alle anderen schon ähnliche Situationen selbst erlebt oder voller Furcht erwartet und können aus eigener Erkenntnis etwas zur Supervision des Falles beitragen. Die Gruppen-Supervision entlastet den Supervisor davon, für jeden vorgetragenen Fall selbst den Hauptimpuls zur Klärung zu liefern“ (1992, S.177). Im Gegensatz zur Teamsupervision liegt der Vorteil der Gruppensupervision darin, dass die eigene Arbeit offen mit anderen Personen besprochen werden kann, diese aber selbst nicht Teil des eigenen Arbeitsplatzes sind und die persönlichen Ausführungen nicht durch eine Furcht vor möglichen Sanktionen behindert werden (vgl. RAPPE-GIESECKE 1999, S.72). Diese Artikulation eigener beruflicher Themen in einer Gruppe führt durch die vielen verschiedenen Supervisanden wiederum zu einer gewissen Vielfalt, wodurch sich für jeden Einzelnen neue Perspektiven eröffnen können. Gruppensupervision umfasst daher „die „draußen” stattfindende Arbeit eines der Gruppenmitglieder, die durch einen Bericht in irgendeiner Form nach „innen”, in die Gruppe gelangt und erst damit den anderen bekannt wird“ (RAGUSE 2005, S.249). Die Rückmeldungen der anderen Gruppenmitglieder in Bezug auf das eigene Verhalten in den geschilderten Fällen können wiederum eine Erhöhung der Selbsteinschätzung und Reflexion des persönlichen beruflichen Handelns begünstigen (vgl. Möller 2003, S.42). Spezielle Formen der Gruppensupervision sind die Balintgruppenarbeit sowie die Kollegiale Supervision. Die Teamsupervision lässt sich als eine Form der Gruppensupervision beschreiben, da sie ebenfalls in einem Mehrpersonen-Setting erfolgt. In diesem Setting werden jedoch berufshomogene, -heterogene oder -übergreifende Teams begleitet und bei der Bearbeitung meist teamspezifischer Anliegen, z.B. bei Problemen in der Zusammenarbeit, Kommunikation, Aufgabenverteilung und des Arbeitsklimas, unterstützt (vgl. MUTZECK 2008, S.42). Besondere Ziele der Teamsupervision sind daher die Förderung der Arbeitseffizienz, die Verbesserung der aktuellen Arbeitsfähigkeit, Kommunikation und Kooperation innerhalb des Teams und den übrigen Mitgliedern der Institution, die Befähigung des Teams den eigenen Konfliktlösungsprozess in Gang zu setzen, um Konflikte zukünftig selbst zu lösen, die klare Festlegung von Kompetenzverteilungen und Entscheidungsstrukturen, den Aufbau einer internen Aufgaben- und Rollenverteilung und die Bearbeitung von möglichen Machtkonflikten innerhalb des Teams sowie zwischen diesem und den übrigen Organisationsmitgliedern (vgl. FATZER 2005, S.258f.; KERSTING/KRAPOHL 1994, S.95; MÖLLER 2003, S.42). Im Unterschied zur Gruppensupervision ist in der Teamsupervision von Bedeutung, dass die Supervisanden in derselben Institution arbeiten und/ oder ein gemeinsames Aufgabengebiet aufweisen. Diese spezifische Zusammensetzung bringt jedoch den Nachteil mit sich, dass Vertrauen und Offenheit zwischen den Supervisanden nur schwer zu errei619

chen ist, da sich alle aus ihrer täglichen Berufspraxis kennen und auch nach Beendigung des Supervisionsprozesses zusammenarbeiten werden (vgl. KERSTING/KRAPOHL 1994, S.96). Die Angst vor Konsequenzen bei der Äußerung von Kritik sowie dem Eingestehen eigener mangelnder Kompetenzen, das damit verbundene niedrige Maß an Offenheit und Vertrauen und Faktoren wie Rivalität und Solidarität können sich weiterhin verstärken, wenn das Team nicht mehr statushomogen, sondern hierarchisch gegliedert ist (vgl. ebd.).

11.32.6 Kritik Nicht alle Anliegen eines Supervisanden sind mit Hilfe der Supervision zu bearbeiten bzw. zu lösen und somit unterliegt auch diese Form der Beratung gewissen Grenzen. BUCHINGER/KLINKHAMMER unterscheiden zwischen Grenzen im Gegenstand, einer Begrenzung durch die Methoden sowie Grenzen im Wirkungsbereich (2007, S.58). Die bedeutendste Grenze der Supervision liegt in der Definition ihres Gegenstandes, welcher nicht die (arbeitende) Person mit ihrer psychischen Dynamik, ein soziales System, ein Team, die Interaktion zwischen den Individuen oder die Organisation ist, sondern all dies nur im beruflichen Kontext thematisiert. Grenzt sich die Supervision nicht deutlich genug ab, so werden die Übergänge zu anderen Beratungsformen wie etwa zur Organisationsberatung, Teamentwicklung, zum Coaching fließend (vgl. ebd., S.86). Ein besonderes Spannungsfeld ergibt sich zwischen Supervision und Psychotherapie, da in der Supervision häufig psychotherapeutische Verfahren eingesetzt werden, welche ursprünglich zur Thematisierung und Aufarbeitung persönlicher, psychischer Probleme eingesetzt wurden, was jedoch nicht dem inhaltlichen Fokus der Supervision entspricht. Aus diesem Grund kann innerhalb des Supervisionsprozesses die Notwendigkeit einer Therapie des Supervisanden herausgearbeitet oder empfohlen werden, die Orientierung an der beruflichen Rolle bzw. den beruflichen Aufgaben muss jedoch stets im Mittelpunkt stehen (vgl. MÖLLER 2003, S.39). Es muss somit für alle Beteiligten unmissverständlich klar sein, dass Supervision keine Psychotherapie ist oder ersetzt. Eine weitere Grenze besteht darin, dass sich Supervision nicht durch eigene, spezifische Methoden bzw. Interventionen auszeichnet, sondern Methoden aus anderen Beratungsformen für sich beansprucht. BUCHINGER/KLINKHAMMER sprechen hierbei von einer „methodischen Abhängigkeit“, da die Supervision „limitiert durch den Stand der anderen Beratungsformen“ ist (2007, S.86). Daraus resultierend ergibt sich eine Begrenzung für den Supervisor selbst, da kein Berater das gesamte methodische Repertoire beherrschen kann, sondern viel mehr aus den verschiedenen Schulen geeignete Methoden gezielt auswählen muss (vgl. ebd., S.86f.). Häufig wird in diesem Zusammenhang der „supervisorischen Kompetenz“ gegenüber der „Feldkompetenz“ eine größere Bedeutung zugeordnet, wobei dies jedoch nicht durch empirische Ergebnisse belegt werden kann. Weiterhin übernimmt die Supervision nicht die Verantwortung für das professionelle Handeln des Supervisanden, sondern vermittelt Techniken der Selbstreflexion und Strategien der Problemlösung, welche die Supervisanden erlernen und daraufhin selbst anwenden sollen: „Die Fachleute für ihre Profession bleiben die SupervisandInnen“ (RAPPE-GIESECKE 1999, S.41f.). Darüber hinaus unterliegt die Supervision aufgrund ihres Gegenstandes sowie ihres Settings einer zeitlichen Begrenzung, die sich auf den beruflichen Kontext von Einzelpersonen, Gruppen oder Teams beschränkt. Oftmals wäre es für die Lösung eines Konfliktes von Vorteil, die supervisorische Arbeit in größeren Dimensionen oder Zusammenhängen innerhalb der Organisation anzulegen, um die zuvor gesteckten Ziele bestmöglich zu erreichen — doch auch in diesem Fall wäre ein anderes Setting der Beratung (möglicherweise der Organisationsberatung) zu bevorzugen, da die Supervision in einem solchen Rahmen an ihre Grenzen stößt (vgl. BUCHINGER/KLINKHAMMER 2007, S.87). Obwohl Supervision als ein wichtiges Mittel der Quali620

tätssicherung und Qualitätsentwicklung für die psycho-soziale und -therapeutische Arbeit angesehen werden muss, liegen bislang keine evidenzbasierten Ergebnisse über die tatsächliche Wirksamkeit vor. Auch eine Indikation für Supervisionsmethoden fehlt, da die unterschiedlichen Supervisionsschulen über keine evaluierte Methodik verfügen. Die Unterschiedlichkeit in den Supervisionsansätzen macht es unmöglich, übergreifende Wirkungen für alle Formen von Supervision zu benennen. Für die Mehrzahl der Supervionsansätze liegen daher keine empirisch abgesicherten Wirkungsnachweisen vor: „Für Psychotherapieverfahren werden Nachweise ihrer Wirksamkeit gesetzlich zwingend vorgeschrieben, für die Wirksamkeit von Supervision fehlen diese Nachweise“ (PETZOLD/SCHIGL/FISCHER/HÖFNER 2003, S.47). Für die weitere Professionalisierung der Supervision ist es daher um so wichtiger, diesen Missstand zu beheben, gilt doch der Grundsatz: „Wo Wirkungen sind, kann es auch zu Nebenwirkungen kommen“.

11.32.7 Supervision und deren Bedeutung für Coaching Aus der historischen Entwicklung ist Supervision im sog. Non-Profit-Bereich angesiedelt, Coaching dagegen im sog. Profit-Bereich. Entsprechend ihrer Entstehung und geschichtlichen Verortung (Supervision seit Ende des 19. Jahrhunderts, Coaching seit Beginn der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts) gibt es besonders im Hinblick auf die Zielgruppe unterschiedliche Schwerpunktsetzungen. In Inhalten und Methoden sind sich Supervision und Coaching in den letzten Jahren immer ähnlicher geworden und auch die Teilnehmerkonstellationen (Einzelperson oder Gruppe/Team) sowie das Rollenverständnis von Coaches und SupervisorInnen haben sich zunehmend angeglichen. Ziel der Supervision ist die Befähigung zur Selbstreflexion, um das eigene berufliche Handeln überprüfen und optimieren zu können, und im Zuge dessen eine Verbesserung der eigenen Handlungskompetenz und Erhöhung der Arbeitszufriedenheit (vgl. RAPPE-GIESECKE 1999, S.31; 2005, S.188). Aus diesem Grund ist die Inanspruchnahme von Supervision seitens des Coaches von Vorteil, um die eigene berufliche Rolle stets zu reflektieren und richtige Entscheidungen in Bezug auf den Coachingprozess zu treffen. Supervision wie Coaching sind jeweils Prozessbegleitungs- und Unterstützungskonzepte im beruflichen Kontext, mit deren Hilfe Einzelpersonen, Teams und Gruppen ihr Handeln und ihre Strukturen reflektieren und Problemlösungen entwickeln. Während Supervision als ursprüngliche Zielgruppe vorwiegend „Beziehungsarbeiter“ (Therapeuten, Lehrer, Ärzte, Sozialpädagogen, Erzieher usw.) hat und betriebswirtschaftliche Ziele und Inhalte eher eine untergeordnete Rolle spielen, sind Zielgruppe von Coaching häufig Personen mit Managementaufgaben, z.B. Führungskräfte, die ihren Führungsstil optimieren wollen. Nach SCHREYÖGG richtet sich Coaching an die Zielgruppe der Führungskräfte und Supervision an die der Geführten. Coaching strebt somit nach Veränderung von oben, während Supervision Veränderung von untern intendiert (vgl. 2003, S.217). Entsprechend benötigt ein Coach eine diesbezüglich deutlich andere Feldkompetenz.

11.32.8 Basis-Literaturangaben BELARDI, NANDO (2005): Supervision. Grundlagen, Techniken, Perspektiven. München, C.H.Beck. PÜHL, HARALD (2009): Handbuch der Supervision 3 — Modelle, Praxis, Perspektiven. Berlin, Leutner. 621

SCHREYÖGG, ASTRID (2004): Supervision. Ein Integratives Modell. Lehrbuch zu Theorie und Praxis. (4. überarbeitete Auflage). Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften. BELARDI, N. (1994): Zur geschichtlichen Entwicklung: Von der Supervision zur Organisationsberatung. In: Pühl, H. (Hrsg.): Handbuch der Supervision 2., Berlin, Edition Marhold, S.335343 BELARDI, N. (1998): Supervision: Eine Einführung für soziale Berufe. (2. Aufl.). Freiburg im Breisgau: Lambertus BELARDI, N. (2005): Supervision: Grundlagen, Techniken, Perspektiven. (2. Aufl.). München, Verlag C.H. Beck BERKER, P. (1994): Externe Supervision — Interne Supervision. In: Pühl, H. (Hrsg.) : Handbuch der Supervision 2., Berlin, Edition Marhold, S.344-352 BIRGMEIER, B. (2005): Coaching und Soziale Arbeit: Grundlagen einer Theorie sozialpädagogischen Coachings. Weinheim, Juventa-Verlag BUCHINGER, K. (1999): Die Zukunft der Supervision: Die Zukunft der Arbeit — Aspekte eines neuen „Berufs“. Heidelberg, Carl-Auer-Systeme BUCHINGER, K./KLINKHAMMER, M. (2007): Beratungskompetenz: Supervision, Coaching, Organisationsberatung. Stuttgart, Kohlhammer FATZER, G. (2005): Teamsupervision als Organisationsentwicklung. In: Fatzer, G. (Hrsg.): Supervision und Beratung: Ein Handbuch. (11. Aufl.). Köln, EHP, S.257-276 FENGLER, J. (1992): Wege zur Supervision. In: Pallasch, W./Mutzeck, W./Reimers, H. (Hrsg.): Beratung-Training-Supervision: Eine Bestandsaufnahme über Konzepte zum Erwerb von Handlungskompetenz in pädagogischen Arbeitsfeldern. Weinheim, Juventa-Verlag, S.173-187 KERSTING, H./KRAPOHL, L. (1994): Teamsupervision. In: Pühl, H. (Hrsg.) : Handbuch der Supervision 2. Berlin, Edition Marhold, S.95-111 MÖLLER, H. (2003): Was ist gute Supervision? Grundlagen — Merkmale — Methoden. (2. Aufl.) Stuttgart, Klett-Cotta MÖLLER, H. (2005): Gute und schlechte Supervision — Fehler in Supervision und Organisationsentwicklung. In: Fatzer, G.: Gute Beratung von Organisationen: auf dem Weg zu einer Beratungswissenschaft — Supervision und Beratung 2., Bergisch Gladbach, EHP. S.149-167 MUTZECK, W. (2008): Methodenbuch Kooperative Beratung: Supervision, Teamberatung, Coaching. Weinheim, Beltz PALLASCH, W. (1991). Supervision: Neue Formen beruflicher Praxisbegleitung in pädagogischen Arbeitsfeldern. Weinheim, Juventa-Verlag PETZOLD, H./SCHIGL, B./FISCHER, M./HÖFNER, C. (2003): Supervision auf dem Prüfstand: Wirksamkeit, Forschung, Anwendungsfelder, Innovation. Opladen, Leske und Budrich PÜHL, H. (1994): Einzel-Supervision. In: Pühl, H. (Hrsg.) : Handbuch der Supervision 2., Berlin, Edition Marhold, S.85-94 RAGUSE, H. (2005): Gruppensupervision. In: Fatzer, G. (Hrsg.): Supervision und Beratung: Ein Handbuch. (11. Aufl.). Köln, EHP, S.249-256 RAPPE-GIESECKE, K. (1999): Supervision: Veränderung durch soziale Selbstreflexion. In: Fatzer, G. (Hrsg.)/Rappe-Giesecke, K./Looss, W.: Qualität und Leistung von Beratung: Supervision, Coaching, Organisationsentwicklung, Köln, EHP, S.27-97 RAPPE-GIESECKE, K. (2005): Supervision — die Beratung von Professionals. In: Fatzer, G.: Gute Beratung von Organisationen: auf dem Weg zu einer Beratungswissenschaft — Supervision und Beratung 2., Bergisch Gladbach, EHP, S.169-202 SCHREYÖGG, A. (2004): Supervision — Ein integratives Modell: Lehrbuch zu Theorie und Praxis. (4. Aufl.) Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften VISVADER, P. (2000): Arbeit im Umbruch — Supervision im Wandel. In: Österreichische Vereinigung für Supervision/Heilinger, A./Peukert, M./Wustinger, R. (Hrsg.): Der Arbeit nach! Supervision im Zugzwang? Innsbruck, Studien-Verlag, S.36-41

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11.33 Systemtheorie von Lukas Scheiber

Mit der Verbreitung wissenschaftlicher Beobachtung psychischer, sozialer, technischer und natürlicher Tatbestände entlang der Unterscheidung von System und Umwelt und der Frage nach der systemeigenen Herstellung und Einheit dieser Unterscheidung erfährt ein wissenschaftliches Programm an Prominenz, welches in diesem kleinsten gemeinsamen Nenner als Systemtheorie bezeichnet wird. Aus dieser einleitenden Feststellung lassen sich zunächst zwei folgenreiche Ableitungen für die Konzeption von Systemtheorie treffen, welche im anschließenden Text vertieft dargestellt werden. Erstens baut Systemtheorie auf das Konzept der Differenz auf, an welches sich weitreichende Fragen anknüpfen lassen: Wie entsteht Ordnung durch Differenzierung? Wie erfolgt die Grenzziehung zwischen System und Umwelt? Welche Informationen werden im System und welche in der Umwelt prozessiert und wie hängen sie zusammen? Zweitens gibt es aufgrund der Unterschiedlichkeit der systemtheoretischen Erkenntnisobjekte und der Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Disziplinen nicht eine Systemtheorie, sondern viele, welche je nach dem welcher Wissenschaftsdisziplin sie entspringen, mit unterschiedlichen Annahmen und unterschiedlichen Erkenntnissen über Systeme arbeiten. Wenn also im Folgenden von der Systemtheorie gesprochen wird, geschieht dies nur deshalb, weil nur der hard core des systemtheoretischen Paradigmas als Überblick dargestellt werden soll.

11.33.1 Anfänge der Systemtheorie Die Anfänge des systemtheoretischen Denkens lassen sich glücklicherweise in einer Zeit finden, welche noch keine weitverzweigten Wissenschaftsdisziplinen kannte. Indem wir ALFRED NORTH WHITEHEAD (1929) folgen, ist es dank seiner Ausführungen möglich, den Kerngedanken der Systemtheorie bei PLATON und der daran anknüpfenden europäischen Philosophie zu heben. Diese Philosophie behandelt dabei (auch) die Frage, wie Organismus und Umwelt in Kontakt stehen. DIRK BAECKER (2005: S.10) schreibt hierzu, dass sich die Systemtheorie exakt an dieser Stelle die Frage stellt, „wie sich das, was etwas ist, von dem abgrenzen lässt, was es nicht ist, und fragt danach, wie Grenzen funktionieren können müssen, wenn sie auf diese Art und Weise undurchlässig und durchlässig zugleich sein müssen, um es einem Organismus zu ermöglichen, sich zu reproduzieren, ohne sich in seiner Umwelt zu verlieren.“ Wie kann also ein Magen seine Arbeit leisten, nämlich zu verdauen, ohne sich selbst zu verdauen?21 Oder wie kann ein Unternehmen über Personen entscheiden, ohne dass die Personen über das Unternehmen entscheiden? Der aufgezeigte Ursprungsgedanke als Anfang systemtheoretischen Denkens hat sich im Laufe der Zeit ausdifferenziert und wurde vor allem entlang der unterschiedlichen Erkenntnisobjekte von einer den Organismus betreffenden Fragestellung in technische, soziale und psychische Fragestellungen hinein übersetzt. Systemtheorie wird somit zu einem heterogenen Rahmen, welcher heute ohne große integrierende Wirkung in Disziplinen wie Biologie, Soziologie, den Ingenieurswissenschaften, der Betriebswirtschaftslehre und vielen weiteren zu finden ist. 21

Vielen herzlichen Dank an Dr. André Reichel für diesen hilfreichen Gedanken. 623

11.33.2 Entwicklung und bedeutende Richtungen der Systemtheorie und deren Vertreter Wie und wann kam es dazu, dass etwas als System in Form einer Beziehung zwischen System und Umwelt zu einer interessanten wissenschaftlichen Fragestellung wurde? Vor der wissenschaftlichen Wende durch Relativitätstheorie und Quantenmechanik, welche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann, galt vor allem das Weltbild der NEWTON‘schen Mechanik. In diesem Weltbild waren die Beziehungen zwischen Elementen und die daraus resultierenden Ordnungen von geringem wissenschaftlichen Interesse, da man davon ausging, dass diese eindeutig zu beschreiben und zudem Systemzustände linear-kausal determiniert sind. Spätestens mit der HEISENBERG’schen Unschärferelation wurde jedoch klar, dass komplexe Ordnungen nicht rein auf lineare Kausalität aufbauen und auch nicht aus deren Substanz heraus verstanden werden können. Zum Prinzip der Kausalität tritt nun die Einsicht, dass „Phänomene aller Art nicht nur als Relation von Ursache und Wirkung bestimmt, sondern auch als Relation von Unbestimmtheit und Bestimmtheit beschrieben“ (BAECKER 2005: S.12f) werden müssen. Für die weitere Entwicklung der Systemtheorie traten Anfang des 20. Jahrhunderts eine Reihe von praktischen Problemen wie z.B. Informationsübertragung und -verarbeitung sowie Steuerung und Regelung von Mensch-Maschine-Kopplungen auf, welche in die uns heute bekannten und sprachlich weit verbreiteten Konzepte der Selbstorganisation, Vernetzung, Komplexität gemündet sind. Namentlich war es die Arbeit des Biologen LUDWIG VON BERTALANFFY über die Theorie offener Systeme, welche die Einsicht verstärkt hat, dass die Ordnung biologischer und auch sozialer Systeme nicht über eine einfache Aufsummierung der Ordnungseigenschaften ihrer Elemente zu erklären ist. Vielmehr ist die Ordnung eines biologischen oder sozialen Systems dem Phänomen der Emergenz geschuldet, welches sich durch den ARISTOTELISCHEN Satz „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ beschreiben lässt. Die Konsequenz dieser Emergenz ist jedoch (und diese Einsicht kam erst später), dass das Ganze dann auch weniger als die Summe seiner Teile ist, da wir z.B. nicht mehr jeden Zahlungsvorgang kennen, wenn wir von der Wirtschaft als System sprechen (BAECKER 2008: S.8). Aus den Disziplinen der Mathematik und der theoretischen Physik sowie den Ingenieurswissenschaften kamen zur Zeit der Grundsteinlegung der heutigen Systemtheorie parallele Fragestellungen über die in Systemen ablaufenden Prozesse, welche namentlich durch die Begründer der Kybernetik, wie z.B. NORBERT WIENER und WILLIAM ROSS ASHBY, aufgeworfen und gelöst wurden. Die Kybernetik als entscheidender Nachbar der Systemtheorie stellt die Frage nach Erzeugung und Erhalt von Systemen in einer beständig rauschenden und somit immer Unordnung produzierenden Umwelt (Baecker 2008: S.4). Entscheidenden Fortschritt für die Weiterentwicklung der Systemtheorie brachten die sogenannten Macy Konferenzen von 1946 bis 1953, deren Titel Circular Causal and Feedback Mechanisms in Biological and Social Systems bestens über ihr Programm Auskunft gibt. Erklärtes Ziel war die Zusammenführung und Verschmelzung bis dahin disziplinären Wissens über die Funktionsweise und vor allem auch über die Kopplungen von Menschen, Gesellschaft, Umwelt und Maschine (CLERK 2009: S.8). Im Anschluss an die dort erarbeiteten Erkenntnisse haben die Neurobiologen HUMBERTO MATURANA und FRANCISCO VARELA das Konzept der Autopoiesis (VARELA et al. 1974) entwickelt, welches vor allem die rekursive Selbsterschaffung und Selbsterhaltung eines Systems erklärt. Hierbei wird davon ausgegangen, dass ein lebendes System „durch die Fähigkeit charakterisiert [ist], die Elemente, aus de624

nen es besteht, selbst zu produzieren und zu reproduzieren und dadurch seine Einheit zu definieren: Jede Zelle ist das Ergebnis des Netzwerks interner Operationen (…) des Systems, dessen Element sie ist — also nicht das Ergebnis eines externen Eingriffs“ (BARALDI et al. 1999: S.29). Zusätzlich gelingt es in dieser Zeit mit den Arbeiten von NIKLAS LUHMANN, die Systemtheorie auf soziale Systeme anzuwenden (LUHMANN 1984). Hierbei ist zu beachten, dass mit der Theorie sozialer Systeme nicht eine einfache Analogbildung zwischen biologischen und sozialen Systemen vollzogen wird. NIKLAS LUHMANN beobachtet soziale Systeme strikt als Kommunikationssysteme, für die alle Arten von Organismen, Maschinen und Psychen Umwelt darstellen. Element und Operation sozialer Systeme ist Kommunikation, denn genauso wenig, wie ich Ihre Gedanken lesen kann, obliegt es Ihnen, meine psychischen Prozesse zu beobachten. Die einzige Möglichkeit der Kopplung liegt in der Kommunikation und nur diese kommuniziert (LUHMANN 1990: S.31). Eine heutige Weiterentwicklung der Systemtheorie als Systemtheorie ist kaum mehr zu beobachten (BAECKER 2005: S.14). Vielmehr werden vereinzelt Erkenntnisse aus diesem interdisziplinären Forschungsprogramm herausgelöst und wieder in einem disziplinären Kontext nach Bedarf verankert. Zudem sind es vor allem die Kognitions- und Neurowissenschaften, welche heute z.B. in Form der Theorie komplexer adaptiver Systeme systemtheoretisches Gedankengut weiterführen und in ihren wissenschaftlichen Kontext versetzen (BAECKER 2005: S.17).

11.33.3 Typische Fragestellungen Die entscheidende und Systemtheorie im Ganzen verbindende Fragestellung leitet DIRK BAECKER aus den in der Entwicklung der Kybernetik ungelösten mathematisch formulierten Problemen über Zeitreihen, Oszillation und nicht-lineare Vorhersage ab und verdichtet sie auf folgende Figur: „Wie wird gezählt, wie wird getauscht und wie wird geordnet? Diese drei Fragen beschäftigen jede ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Systembegriff, auch wenn dies nur selten so auf den Punkt gebracht wird.“ (BAECKER 2008: S.3) Je nach Beschaffenheit des zu beobachtenden Systems können diese Fragen inhaltlich empirisch unterschiedlich belegt sein, jedoch weisen sie in ihrer Form ein Zusammenspiel auf, das für jedes System von insgesamter Relevanz ist: Für ein Unternehmen als System ist es entscheidend, was zählt. In der Regel sind dies in Unternehmen Entscheidungen an sich als die einzig gültige Kommunikationsform, obwohl alle wissen oder ahnen, dass diese mehr über ein „So tun, als ob“ zustande kommen. Die Frage des Tauschens wird immer genau an dieser Stelle brisant, da das System so tut, als ob es mit seiner Umwelt in Kontakt steht. Obwohl kein Unternehmen mit seinen Entscheidungen seine Grenze überschreitet (die Entscheidungen von Porsche entscheiden nichts bei Siemens), muss es doch seine Umwelt beobachten und in seine Entscheidungskalküle mit hineinrechnen. Ob nun in der Gesamtrechnung aus Zählen und Tauschen Ordnung entstanden ist, lässt sich nur beobachten, wenn die Funktion des Systems mit ins Spiel kommt (BAECKER 2008: S.16f). Es muss also beobachtet werden, ob das Zählen und Tauschen auch zur Lösung des systemspezifischen Problems beigetragen hat. Ob also eine unternehmerische Entscheidung Sinn gemacht hat, lässt sich nur feststellen, wenn wirtschaftliche Knappheit so erzeugt wurde, dass sie gewinnbringend beseitigt werden konnte. Interessanterweise gibt es offensichtlich auf die drei aus der Kybernetik abgeleiteten zentralen Fragen der Systemtheorie noch keine mathematische Antwort (BAECKER 2008: S.14). Dies zeigt, dass Systeme operieren, wie sie operieren, ohne dass sie vollständig über sich Bescheid wissen. 625

11.33.4 Typische Axiome/Theoreme Das basale Axiom der Systemtheorie ist die Annahme, dass es Systeme gibt, jedoch interessiert dabei im Weiteren nicht das System an und für sich: „Die Aussage ‚es gibt Systeme‘ besagt also nur, dass es Forschungsgegenstände gibt, die Merkmale aufweisen, die es rechtfertigen, den Systembegriff anzuwenden (…).“ (LUHMANN 1984: S.16) Der entscheidende Unterschied, welcher hier gemacht wird, liegt in der Unterscheidung von Modell und Wirklichkeit. Das eine sollte mit dem anderen nicht verwechselt werden, denn wenn wir an Schweine denken (also uns ein Modell von Schweinen zurechtlegen), haben wir (glücklicherweise) keine Schweine im Kopf. Und trotzdem können wir Schweine als System beobachten, welches sich als Organismus von seiner Umwelt abgrenzt. Der entscheidendste Begriff der Systemtheorie ist zwar der Begriff des Systems, aber eben nicht in seiner Beschreibung einer Sache an und für sich. Es geht also nicht darum festzustellen, was ein System ist, sondern vielmehr darum, welche Unterscheidung zwischen System und Umwelt durch das System getroffen werden. Folgendes Theorem bringt diesen Gedanken nochmals prägnant zum Ausdruck: „Kein System kann unabhängig von seiner Umwelt gegeben sein, denn es entsteht dann, wenn seine Operationen eine Grenze ziehen, die das System von dem unterscheidet, was als Umwelt ihm nicht angehört.“ (BARALDI et al. 1999: S.195) Jedoch zeigt dieses Theorem auch, dass die Grenze zwischen System und Umwelt immer zusätzlich zu den systemeigenen Operationen (welche die eigenen Elemente reproduzieren) auch durch einen Beobachter (re)konstruiert wird. Dies führt uns zu einem weiteren Theorem der Systemtheorie, welches MATURANA folgendermaßen formuliert hat: „Was immer gesagt wird, wird von einem Beobachter zu einem anderen Beobachter gesagt, der er selbst sein könnte.“ (MATURANA 2000: S.91) Die Einführung der Figur des Beobachters verweist auf die wissenschaftliche Grundhaltung der Systemtheorie und darauf, dass immer nur von einem Beobachter über systemeigene Operationen gesprochen werden kann. Beobachten heißt dabei nichts Weiteres, als Unterscheidungen zu treffen (Tisch/Stuhl), eine Seite der Unterscheidung zu bezeichnen (Tisch/Stuhl) und daraus Informationswert zu generieren. Computerprogramme unterscheiden z.B. 0 und 1 und gewinnen daraus Informationswert. Wirtschaft als soziales System unterscheidet nur entlang der Codierung zahlen oder nicht zahlen und gewinnt Informationen nur, wenn es mit dieser einen Unterscheidung anschließen kann. Ein weiteres zentrales Theorem der Systemtheorie, welches hier unmittelbar anknüpft und im Konzept der Autopoiesis verankert ist, ist das der doppelten Schließung. Es wurde erstmals von HEINZ VON FOERSTER prägnant formuliert (1981: S.304ff) und gibt über folgenden Sachverhalt Auskunft: Systeme ziehen durch ihre eigenen autopoietischen Operationen eine Grenze zu ihrer Umwelt und regulieren diese erste Schließung auf einer zweiten Ebene, die wir hier in Anlehnung an einen allgemeinen Sprachgebrauch als Reflexion bezeichnen wollen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass diese Reflexionen ihrerseits selbst aus nichts anderem als systemeigenen Operationen bestehen. DIRK BAECKER formuliert in einem Interview in Anlehnung an HEINZ VON FOERSTER folgendes Beispiel22: Das Bewusstsein tut nicht anderes als zu denken und reiht einen Gedanken an den anderen. Diese Operationen des Bewusstseins als erste Schließung unterliegen jedoch einer Regulation immer dann, wenn wir darüber nachdenken, worüber wir denken und über was wir als nächstes denken sollen. Entscheidend ist dabei, dass weder die Operationen noch die Regulationen von außen kontrolliert werden können. Jegliche Form einer direkten unmittelbaren Kontrolle autopoietischer Systeme ist bei einer Zusammenschau der aufgezeigten Axiome und Theoreme somit nicht möglich, so sehr wir uns dies auch manchmal wünschen mögen.

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http://tv.rebell.tv/x-organisationen/index.html

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11.33.5 Typische Deutungsmuster und Anwendungsfelder der Systemtheorie Die zentralen Fragen der Systemtheorie sowie der Kern der aufgezeigten Axiome und Theoreme lassen eine Einheit in ihren Analyse- und Lösungsstrategien nur dort erkennen, wo sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass zumindest für psychische und soziale Systeme keine direkte und unmittelbare Kontrolle möglich ist. Daher konzentriert sich systemtheoretische Forschung in diesem Bereich vor allem auf die Frage, wie in solchen Systemen Ordnung in einer immer rauschenden — also störenden — Umwelt entsteht, diese aufrechterhalten wird und sich im weiteren Verlauf an geänderte Umweltbedingungen anpassen kann. Im Bereich der Organisations- und Managementforschung lässt sich exemplarisch zeigen, dass Fragestellungen dieser Disziplin mit systemtheoretischen Hintergrundinformationen bearbeitet werden können. Wie WIMMER, MEISSNER und WOLF (2009) mit ihrem Buch Praktische Organisationswissenschaft darstellen, ist es durchaus möglich, systemtheoretische Erkenntnisse, welche auf hohem Abstraktionsniveau angesiedelt sind, in empirische und praktische Fragestellungen zu transformieren. Dabei werden Organisationen als Entscheidungssysteme angesehen, welche nicht „gemacht“ werden, sondern sich ausdifferenzieren und eine innere Ordnung herstellen. Des Weiteren stellen die Disziplinen System Dynamics und Multiagentensysteme zwei Vertreter der Anwendung der Theorie komplexer Systeme dar, welche selbst wiederum auf allgemeiner Systemtheorie fußen und die Erkenntnisse systemtheoretischer Organisationstheorie in Konzepten wie Selbstorganisation, Komplexitätsverarbeitung und Feedback meist unter Zuhilfenahme von Software modellieren. Vor allem die genannten Begriffe Selbstorganisation, Komplexität und Feedback sind zu einem Kanon nicht nur systemtheoretischer Deutung geworden und heute common sense der wissenschaftlichen Sprache und ihrer Anwendung. Sie alle verweisen immer auch auf die alte Unterscheidung von System und Umwelt sowie auf die autopoietische Herstellung von Ordnung in einer unbestimmten Welt.

11.33.6 Typische Unterschiede des systemischen und systemtheoretischen Beobachtens Mit der breiten Verwendung des Begriffes System, welcher sich heute nicht mehr nur auf die Wissenschaften und ihre Theorien beschränkt, hat der Begriff eine Vielzahl weiterer Anwendungsfelder hinzugewonnen und an Unschärfe zugelegt. Im Folgenden gilt es aus dieser Perspektive gezielt auf eine — weil häufig gemachte und daher unauffällige — Art der Unschärfe aufmerksam zu machen, ohne ihre Funktion in irgendeiner Weise infrage zu stellen. Diese Art der Unschärfe tritt immer dann auf wenn der Systembegriff aufgrund seines unerhörten Erfolges sowohl in einer systemtheoretischen als auch in einer systemischen Fassung genutzt und gleichzeitig verwechselt wird. Im Folgenden gilt es typische Unterschiede des systemischen und systemtheoretischen Beobachtens anhand des unterschiedlichen Zugriffs auf soziale Tatbestände darzustellen. Folgen wir als Einstieg den Ausführungen von HEINZ VON FOERSTER23 zur Begriffsgeschichte von Science und System so zeigt sich im Begriff Science das indogermanische Urwort ski bzw. skai24, welches 23 24

http://www.youtube.com/watch?v=3uMmQL04jV0&feature=related Köbler, G. (2006): , 3. Aufl., Gießen an der Lahn: Arbeiten-zur-Rechts-und-Sprachwiss.-Verl. 627

in weiteren Begriffen wie Schisma oder Schizophrenie Eingang gefunden hat und immer auf Trennen, Abspalten und Getrenntsehen abstellt. Als Theorie arbeitet Systemtheorie bei ihren Beobachtungen in bester wissenschaftlicher Tradition mit Trennungen und Abspaltungen in Form von Differenzen mit dem Zweck, ein höheres Auflösevermögen im Bezug auf ihr Erkenntnisobjekt herzustellen. Der entscheidende Unterschied, den Systemtheorie an dieser Stelle macht — und dieser darf nicht mit dem theoriegeleiteten Vorgehen des Differenzierens verwechselt werden — ist die Beobachtung ihres Erkenntnisobjektes als etwas, das selbst aus nichts anderem als aus Differenzen besteht. Und erst wenn diese systemkonstituierenden Differenzen gefunden sind, lassen sich Systeme als System-Umwelt-Differenzen beobachten und in Bezug auf System-Umwelt-Beziehungen untersuchen. Legen wir an dieser Stelle das Erkenntnisobjekt „Einkaufen“ auf unseren Untersuchungstisch und stellen unser Mikroskop auf „systemtheoretisch“, so können wir beobachten, dass Einkaufen im theoriegeleiteten Sinn kein System bildet. Vielmehr lassen sich Zugriffe sozialer Systeme in Form von Interaktion, Organisation und Wirtschaft beobachten, da Anwesende kommunizieren, der Supermarkt als Unternehmen funktioniert und an der Kasse mit Geld bezahlt wird. Die Funktion dieser Beobachtung liegt darin, wissenschaftliche Wahrheit und Falschheit darüber zu gewinnen, welche Probleme soziale Systeme erzeugen und lösen müssen, um Einkaufen zu ermöglichen, nötig zu machen oder zu verhindern. Folgen wir nun mit HEINZ VON FOERSTER der Begriffsgeschichte des Wortes System, so sehen wir das indogermanische Urwort sta bzw. sista25 welches immer auf Zusammenstellen und Zusammenstehen abzielt. Systemisches Beobachten versucht demnach, das zu Beobachtende als etwas zu betrachten, was als Ganzes in Form einer Einheit erscheint. Es spielt dabei in keinster Weise eine Rolle, ob aus systemtheoretischer Perspektive von einem System gesprochen werden kann oder nicht. Mit anderen Worten behandelt systemisches Beobachten das zu Beobachtende paradoxerweise zunächst so, wie es aus systemtheoretischer Perspektive nicht ist — nämlich als Ganzes. Sinn und Zweck dieser Zusammenschau ist die Vorstellung, dass lebensweltliche Probleme nur dann gelöst werden können, wenn hinreichend genug Wechselwirkungen, Abhängigkeiten und ableitbare Folgen in Form von Elementen und dynamischen Relationen des zu beobachtenden Tatbestandes bekannt sind. Meistens lässt sich systemisches Beobachten immer dann vorfinden, wenn Problemlagen im Bereich der Familie oder der Organisation auf Personen als Individuen zurückgerechnet werden, welche die markierten Problemlage mithilfe von externer Beratung in eine Lösung überführen sollen. Dabei gilt es zusätzlich, die Fähigkeit des systemischen Beobachtens und Lösens dauerhaft für die betroffene Person verfügbar zu machen. Systemisches Beobachten spielt sich demnach nicht in den Wissenschaften, sondern in Therapie, sozialer Arbeit, Beratung und Seelsorge ab, und unterliegt nicht dem Kriterium der Wahrheit oder Falschheit, sondern beschäftigt sich mit Inklusionschancen bzw. kommunikativen Anschlüssen von Personen. Prinzipiell orientiert sich systemisches Beobachten, wie es z.B. in einem Coachingprozess zum Einsatz kommt, an einer konstruktivistischen Grundhaltung, welche darauf abstellt, dass Wirklichkeit immer beobachterbezogen und kontingent prozessiert. Jedoch kommt diese Einsicht vor allem in Bezug auf eine problemlösende Neujustierung von Coachee und seiner/ihrer Wirklichkeit zum Einsatz. Und eben gerade nicht als Theorieinteresse, welches vorrangig danach fragen würde, welche wahrheitsorientieren Gesetzmäßigkeiten sich in solchen Coachingprozessen finden lassen. Sowohl ein systemischer als auch ein systemtheoretischer Ansatz gehen von einem selbstreferenziellen Beobachter aus. Der entscheidende Unterschied liegt demnach in den jeweiligen Referenzsystemen. Die Systemtheorie zielt als Theorie auf wahrheitsfähige Aussagen über die Operationsweise von Systemen. Systemische Ansätze zielen, wie im hier vorliegenden Band ausgeführt, auf einen praktischen Umgang mit Komplexität, welcher sich an selbstgewählten Werten wie Erfolg, Freiheit, Gleichheit und Nachhaltigkeit prüfen lassen muss.

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Köbler, G. (2006): , 3. Aufl., Gießen an der Lahn: Arbeiten-zur-Rechts-und-Sprachwiss.-Verl.

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Legen wir an dieser Stelle nochmals das Erkenntnisobjekt „Einkaufen“ auf unseren Untersuchungstisch und stellen unser Mikroskop nun auf „systemisch“, so können wir beobachten, dass wir Einkaufen, ohne Theorieprobleme zu bekommen, als System benennen können. Es besteht aus Elementen wie dem Einkäufer, dem Einkaufswagen, den Waren, dem Kassierer, dem Portemonnaie usw. Wenn wir lange genug durch unser Mikroskop sehen, stellt sich irgendwann aufgrund von Überforderung oder Endlichkeitsproblemen das Gefühl ein, dass wir Einkaufen als Ganzes sehen und fortan alle Zusammenhänge verstehen, um typische und überraschende Einkaufsprobleme wie die Schlange an der Kasse, unfreundliche Verkäufer und schlechte Qualität der Produkte vermeiden zu können. Die typischen Unterschiede des systemtheoretischen und systemischen Beobachtens lassen sich vor allem im Hinblick auf die Beheimatung der jeweiligen Beobachtungen und der daraus resultierenden unterschiedlichen Funktionen unterscheiden. Zusätzlich lässt sich jedoch mit folgendem Zitat von HEINZ VON FOERSTER ein weiterer Informationswert im Bezug auf die Unterscheidung von systemtheoretischer und systemischer Beobachtung gewinnen: „Ich zeige jemandem ein Bild und frage ihn, ob es obszön sei. Er sagt: ‚Ja.‘ Ich weiß jetzt etwas über ihn, aber nichts über das Bild.“ (VON FOERSTER 1992: S.85) Ebenso liefert uns die Einsicht, dass jemand mit einem systemtheoretischen oder systemischen Okular beobachtet, zuerst eine Information über den Beobachter und noch keine Information über das zu Beobachtende.

11.33.7 Typische Kritik an der Systemtheorie Die zentrale Kritik im Hinblick auf Systemtheorie liegt wohl vor allem an ihrer Absage an Einfachheit und der daraus resultierenden Eigenkomplexität der Theorie. Wenn wir ASHBY’S Law of Requisite Variety (ASHBY 1958) folgen, sehen wir jedoch recht schnell, dass komplexe Probleme, wie sie von der Systemtheorie bearbeitet werden, immer nur in einem selbst komplexen Lösungsraum thematisiert werden können. Weder lassen sich einfache Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge in sozialen Systemen finden, noch macht es Sinn, Wirkungszusammenhänge, welche nicht durch lineare Kausalität, sondern durch Unbestimmtheit festgelegt sind, durch Götter oder Geister zu erklären (BAECKER 2005: S.9). Die Systemtheorie hat sich dieser Problemstellung angenommen und Ordnungsprinzipien in psychischen, organischen, technischen und sozialen Systemen gesucht und gefunden, welche nicht immer intuitiv verstehbar sind. Und trotzdem zeigen die entstandenen Theorien, Begriffe und Metaphern eine Wirkung für die Weiterentwicklung sowohl technischer Phänomene, wie z.B. Computer und ihre Programme, als auch eine Wirkung für soziale Phänomene, wie z.B. Management oder Coaching.

11.33.8 Bedeutung der Wissenschaftsdisziplin für das Coaching Ein großer Teil der systemtheoretischen Theorien, Begriffe und Metaphern findet sowohl in anderen wissenschaftlichen Disziplinen als auch in lebensweltlichen Problemstellungen wie dem Coaching Verwendung. Einige Beispiele für diese begrifflichen Schnittmengen sind Komplexität, Vernetzung, Selbstorganisation und letztendlich auch der Begriff des Systems selbst, der auch immer dann Verwendung findet, wenn der Sprecher zum Ausdruck bringen will, dass es um etwas „Ganzes“ geht und alle „Teile“ und ihre Wechselwirkungen zu berücksichtigen sind. Jedoch sind die Schnittstellen zwischen Systemtheorie und Coaching — und dies liegt in der unterschiedlichen Beheimatung beider Systeme — eher als gering einzuschätzen. Systemtheorie findet in einem Wissenschaftssystem statt, dass sich 629

im Rahmen eines Theorieinteresses die Frage stellt, ob Aussagen über Systeme als ihr Erkenntnisobjekt wahr oder falsch sind. Coaching hingegen verfolgt die Lösung nicht-wissenschaftlicher Probleme, wie z.B. die Erweiterung der Selbstwahrnehmung eines Coachee, die Entwicklung seiner Handlungsalternativen sowie das Auslösen von Entscheidungsfähigkeit. Bei ihrem jeweiligen Tun treffen jedoch Systemtheorie und Coaching durchaus auf Tatbestände, die sich in ihrer Struktur und Bedeutung aus der jeweiligen Perspektive ähnlich sind. Einer dieser Tatbestände ist der Umgang mit Komplexität. Soziale Systeme gehen mit Komplexität in der Regel sehr selektiv um: Gerade indem ein soziales System, wie z.B. ein Unternehmen, eine Differenz zu seiner Umwelt aufbaut, errichtet es ein Komplexitätsgefälle, da im System nur ganz bestimmte Elemente und ganz bestimmte Beziehungen zwischen diesen Elementen zulässig sind. Jedoch muss ein soziales System fortwährend berechnen, ob das Komplexitätsgefälle auch klein genug ist, um Informationsgewinnungsmöglichkeiten über seine Umwelt, wie z.B. Märkte oder Konkurrenten, weiterführen und eigene Zustände auch erfolgreich ändern zu können. Aus dieser benötigten Eigenkomplexität, welche als „Denken in Alternativen“ prozessiert werden kann, resultieren weitreichende Folgeprobleme, die sich ebenfalls im Coaching sowohl für den Coach als auch für den Coachee widerspiegeln: „Komplexe Phänomene sind nicht einfach ‚schwierige‘ Phänomene, sondern sie sind wegen der Anzahl der beteiligten Elemente, wegen der Heterogenität dieser Elemente und wegen der Vielzahl sich auch noch laufend ändernder und natürlich ebenfalls heterogener Beziehungen zwischen diesen Elementen prinzipiell vom menschlichen Bewusstsein nicht zu erfassen, so sehr wir uns auch gegen diese Einsicht sträuben mögen.“ (BAECKER 2006: S.6) In dem wir DIRK BAECKER und seinen Ausführungen über die Umgangsmöglichkeiten des Coachings mit Komplexität folgen, lässt sich ableiten, dass Komplexität nur mit einer gewissen Gelassenheit zu begegnen ist. Demnach lehrt Coaching „den gelassenen Umgang mit Überraschungen, indem es diese als Gelegenheiten mindestens der Erkenntnis, wenn nicht des Handelns fasst“ (BAECKER 2006: S.1f.). Auf dieser Basis können weitere systemtheoretische Erkenntnisse fruchtbar werden. Eine dieser Erkenntnisse ist die von HEINZ VON FOERSTER formulierte Maxime: I want to act in such a way as to increase the possibilities of others.

11.33.9 Basisliteraturangaben VON BERTALANFFY, L. (1950): The Theory of Open Systems in Physics and Biology, in: Science Vol. 111, Issue 2872, pp. S.23-29. WIENER, N. (1948): Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine, New York, John Wiley. LUHMANN, N. (1984): Soziale Systeme — Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main, Suhrkamp. Literatur ASHBY, W. R. (1985): Requisite Variety and Its Implications for the Control of Complex Systems, in: Cybernetica 1, pp. 83-99 BAECKER, D. (Hrsg.) (2005): Schlüsselwerke der Systemtheorie, Wiesbaden, VS Verlag BAECKER, D. (2006): Coaching Complexity, auf den Seiten von Dirk Baecker: http:// www.dirkbaecker.com/Coaching.pdf, [26.05.2009]. BAECKER, D. (2008): Zählen, Tauschen, Ordnen: Die Problematik des Systembegriffs in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, auf den Seiten der Universität Duisburg: http:// 630

www.uni-due.de/imperia/md/content/dok forum/dirk_baecker_zaehlen_tauschen_ordnen.pdf, [26.05.2009]. BARALDI, C/CORSI, G./ESPOSITO, E. (1999): Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, 3.Aufl., Frankfurt am Main, Suhrkamp CLERC, I. (2009): Am Quellcode des Verhaltens: Die Macy-Konferenzen und die Kybernetisierung verhaltenswissenschaftlicher Theorien, Heidelberg, Carl Auer Systeme LUHMANN, N. (1984): Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main, Suhrkamp LUHMANN, N. (1990): Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main, Suhrkamp MATURANA, H.R. (2000): Kognition, in: Schmidt, S.J. (Hrsg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, 8.Aufl., Frankfurt am Main, Suhrkamp VARELA, F.J./MATURANA, H.R./URIBE, R. (1974): Autopoiesis: The Organization of Living Systems, its characterization and a model, Biosystems, Vol. 5, pp. S.187-196 VON FOERSTER, H. (1992): Entdecken oder Erfinden: Wie lässt sich Verstehen verstehen? In Gumin, H.; Meier, H. (Hrsg.): Einführung in den Konstruktivismus, München, Carl Friedrich Siemens Stiftung VON FOERSTER, H. (1981): Observing Systems, Seaside, Cal: Intersystems Publication WHITEHEAD, A. N. [1929]; Griffin, D. R.; Sherburne, D. W. (1985): Process and Reality: An Essay in Cosmology, New York, Free Press WIMMER, R./MEISSNER, J./WOLF, P. (Hrsg.) (2009): Praktische Organisationswissenschaft: Lehrbuch für Studium und Beruf, Heidelberg, Carl Auer Systeme

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11.34 Transaktionsanalyse — TA von Heinrich Hagehülsmann und Ute Hagehülsmann

Ihren Namen erhielt die von dem US-amerikanischen Psychiater ERIC BERNE (1910-1970) Mitte der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts begründete Transaktionsanalyse (TA) aus der Analyse des für unser Miteinander wichtigen interaktiven Austausches, den Transaktionen. „Wer redet (oder schweigt) wann, mit wem und auf welche Weise?“ bestimmt nicht nur den Austausch von inhaltlichen Informationen (Inhaltsebene), sondern kennzeichnet gleichzeitig auch die Art unserer Beziehungen (Beziehungsebene) und hat wesentlichen Einfluss auf unsere Vorhaben und Entscheidungen. Die Beobachtung und Analyse dieser Transaktionen und ihrer spezifischen Verläufe ermöglichen Rückschlüsse auf die Persönlichkeit, die Einstellungen und das Beziehungsverhalten von Menschen. Gleichzeitig symbolisiert der Name Transaktionsanalyse, dass ihre Theorien und Modelle aus der Praxis (der Psychiatrie) entstanden und ausdrücklich auf die Praxis ausgerichtet waren und sind.

11.34.1 Anfänge/Ursprünge/Quellen der Wissenschaftsdisziplin Die vergleichsweise junge Theorie wurde von ihrem Begründer, einem Psychiater mit psychoanalytischer Lehrtherapie bei PAUL FEDDERN und ERIK ERIKSON, als „Individual- und Sozialpsychiatrie“ konzipiert und von zahlreichen Mitarbeitern zu einem Theorie- und Praxismodell individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Handels entwickelt, das den Menschen als Du-bezogene Ganzheit aus Erleben, Denken, Hoffen und Verhalten begreift. Menschliches Sein ist diesem Modell gemäß von Natur aus mit Würde ausgestattet und beinhaltet das Recht auf eine eigenverantwortliche Entwicklung, die den einzelnen Menschen für sich alleine wie im Verbund mit anderen als autonomen Menschen leben lässt, fähig und willens zu Bewusstheit, Spontaneität und Intimität. Autonomie bzw. der autonome Mensch, sind gleichzeitig Leitbild und Zielvorstellung transaktionsanalytischen Handelns. Die Annahme, dass jeder Mensch über ein gewisses Ausmaß an Autonomie verfügt und es gleichzeitig ein Ziel ist, sie lebenslang weiterzuentwickeln, verbietet es, Personen von vornherein mittels Etikettierungen wie „krank“ oder „abnormal“ aus dem Prozess aller Menschen auszugliedern. Da BERNE Zeit seines Lebens damit beschäftigt war, weitere, für seine jeweiligen Fragestellungen interessante Wissensbereiche (wie z.B. Kybernetik, Semantik oder Systemtheorie) zu erobern, integriert TA verhaltenstheoretische, tiefenpsychologische und systemische Denkweisen so wie die Werte humanistischer Psychologien. Da ihre Konzepte leicht verständlich sind — ihr Begründer strebte eine Klarheit an, die z.B. ein achtjähriges Kind zum Verständnis für Lebenszusammenhänge braucht, — interessierten sich bereits zu Lebenszeiten BERNES auch Fachleute anderer Professionen, insbesondere aus den Bereichen Schule, Pädagogik und Organisation sowie Beratung, für die Anwendung in ihren Berufsfeldern. Damit fokussierte die TA nicht mehr nur auf die Anwendung in pathologischen Zusammenhängen (Psychotherapie), sondern es entstand ein weiterer Schwerpunkt für allgemeine Lebenszusammenhänge bzw. für die Möglichkeiten der Eroberung eines befriedigenden und gesunden Lebens.

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11.34.2 Entwicklung und bedeutende Richtungen der Wissenschaftsdisziplin und deren Vertreter Heute, rund 40 Jahre nach BERNES Tod, hat sich die TA in Theorie und Praxis zu einer verschiedene Personengruppen und Länder umspannenden Bewegung entwickelt, die sich unter dem Dach der Internationalen Gesellschaft für Transaktionsanalyse (ITAA) in mehrere überregionale Gesellschaften, wie z.B. die Europäische Gesellschaft für Transaktionsanalyse (EATA), und nationale Organisationen, wie z.B. die Deutsche Gesellschaft für Transaktionsanalyse (DGTA), untergliedert, um so Forschung und Lehre regional bezogen voranzutreiben. Parallel zur äußeren Entwicklung der TA als Organisation wurden auch ihre Theorie- und Praxiskonzepte verfeinert, vertieft und erweitert. Bei dieser Erweiterung wurden insbesondere die methodischen (handlungsleitenden) Konzepte der TA, aus berechtigter Kritik über die ursprünglich zu stark kognitiv ausgelegte Praxis, zunehmend mit anderen Theorien und Praktiken gekoppelt, um den ganzen Menschen mit seinem Fühlen, Denken und Verhalten einzubeziehen. So hat sich die TA, teilweise noch von BERNE selbst angeregt, zu einer, richtiger: zu einem Bündel neuer Ansichten über lebenswertes, menschliches Dasein entwickelt. Daher kann man heute nicht mehr von der TA sprechen, sondern muss von verschiedenen, sich gegenseitig befruchtenden Ansätzen, Richtungen oder Schulen mit unterschiedlichen Annahmen über menschliche Entwicklung, Wachstum und anwendungsrelevante Schwerpunkte reden, die aber alle gleiche Modelle (wie z.B. Ich-Zustände, Grundbedürfnisse, Grundeinstellungen, Skript) und Konzepte (wie z.B. Egogramme, Stimulation, Strokes, Struktur, Symbiosen) als Basis teilen. Im Hinblick auf die Schulenbildung unterscheidet man in der Regel zwischen der „Klassischen-“ oder „San-Francisco-Schule“, der „Neuentscheidungs-Schule“, der sogenannten „Cathexis- oder Schiff-Schule“ und der in neuerer Zeit sich herauskristallisierenden „Systemischen Transaktionsanalyse“ und sowie der Schule „Beziehungsorientierte Transaktionsanalyse“.

11.34.3 Typische Fragestellungen in der Wissenschaftsdisziplin Ihrer Leitidee „Autonomie“ folgend, reichen die Fragestellungen der TA von der Orientierung in Wachstums- und Entwicklungsprozessen bis zur Heilung psychischer Beeinträchtigungen (z.B. akut krisenhaften Reaktionen, Neurosen, Charakterstörungen oder Psychosen). Darüber hinaus hat sie sich als Beratungs- („Was ist richtig zu tun?“) und Interventionsmethode („Wie mache ich das Anvisierte/ Angeregte richtig?”) in jenen Berufsfeldern profiliert, in denen wesentliche Aspekte der angestrebten Leistung durch die Art der Kommunikation und Interaktion erbracht werden, wie z.B. Beratung und Seelsorge, Lehre und Erziehung, Rechtspflege, vor allem aber auch in Management und Organisation, Betriebsführung und Verwaltung. Hier wird sie erfolgreich für Team- und Organisationsentwicklungsprozesse und im Bereich Führung eingesetzt. Dabei orientieren sich alle Interventionen im Beratungsgeschehen direkt oder indirekt an der Zielvorstellung „Autonomie“ und steuern ein höheres Maß an Bewusstheit für das eigene Erleben, die Wahrnehmung anderer Personen und/oder den (organisationalen) Kontext an. Symbol des auf Autonomie orientierten Handelns ist der allen Beratungs- wie Behandlungsprozessen zugrundeliegende Vertrag zwischen Ratsuchendem/Klienten/Kunden und dem TA-Anwender des entsprechenden Anwendungsfeldes (von Behandlung spricht man streng genommen nur in der therapeutischen Anwendung). Verträge werden kurz, klar, präzise und positiv formuliert und beinhalten, welches Verhalten und/oder Erleben wann und wie in Richtung welchen Zieles erlernt, erworben oder verän633

dert werden sollen. Dabei lassen sich Verträge zur sachbezogenen Problemlösung und Verträge zur Optimierung der Eigenständigkeit (Autonomie) unterscheiden. Erstere beinhalten die Art und Weise, wie ein gegebenes Problem gelöst werden kann, z.B. „Ich höre auf, meine Mitarbeiter zu schonen und gebe ihnen klares Feedback“. Letztere beinhalten Operationalisierungen von Autonomie, z.B. „Ich entscheide selbst, mit wem ich ein näheres Verhältnis haben möchte“. Verträge sind nicht nur Ausdruck der gleichwertigen Beziehung zwischen Klient und Beratungsperson, sondern auch Ausdruck ihrer gemeinsamen Verantwortung für den Beratungsprozess. Das meint, dass nicht nur der Berater, sondern auch der Ratsuchende/Kunde für das Ergebnis der Beratung mit verantwortlich ist, wobei die Betonung dieser Partnerschaftlichkeit zum Beispiel schon am Beginn eines Coachings deutlich macht, dass dem Klienten Autonomie in ihrem Ausdruck von Verantwortlichkeit zugetraut, aber auch abgefordert wird. Das heißt, Verträge bestimmen das Beratungsziel und damit den weiteren Beratungsprozess. Gleichzeitig ist die Vertragsorientierung ein Mittel, die Beratungsarbeit daraufhin zu überprüfen, ob das Vertragsziel erreicht wird oder nicht. Bei Erfüllung des Vertrags wird dieser schließlich zur Quelle positiver Verstärkung.

11.34.4 Typische Axiome/Theoreme in dieser Wissenschaftsdisziplin Wie jede psychosoziale Theorie braucht auch die TA ein Wahrnehmungs- und Sprachsystem, mit dem sie (innerlich) erlebte und außen beobachtbare Wirklichkeit von Menschen beschreiben und kommunizieren kann. Dazu bedient sie sich des Modells der Ich-Zustände als jeweils zusammengehörige Denk-, Erlebens-, Glaubens- und Verhaltensmuster, mit deren Hilfe wir Realität definieren, Informationen über uns und andere gewinnen und auf die Umwelt reagieren. Mittels dieses Modells lassen sich die Individualität konkreter Personen einschließlich dem Verstehen ihrer inneren Prozesse und lebensgeschichtlichen Entwicklungen (Persönlichkeitskonzept) sowie Merkmale und Regeln sozialer Interaktionen (hier: Transaktionen) einschließlich ihrer Störungen analysieren (Transaktionsanalyse/ „Spiel“analyse). Zentraler Begriff ihrer Entwicklungspsychologie ist der in frühem Alter beschlossene und in der Regel vorbewusste individuelle Lebensplan (Skript) eines Menschen. Er entsteht ebenso aus frühen Erfahrungen hinsichtlich des Umgang mit eigenen Bedürfnissen wie durch alle Zuschreibungen, Gebote und Verbote der primären (und sekundären) Sozialisation, das heißt, in einer produktiven Auseinandersetzung mit seinen inneren und äußeren Lebensbedingungen und in Interaktion mit seiner sozialen Umwelt. Er umfasst sowohl konstruktiv fördernde als auch destruktive einschränkende Anteile, die zu einem System verflochten sind, das, in Reaktion auf bestimmte innere und/oder äußere Stimuli, die meisten wesentlichen Aspekte des Lebens beeinflusst, ohne dass das groß ins Bewusstsein des Einzelnen, der Gruppe oder der Organisation tritt. Denn auch Gruppen oder Organisationen entwickeln ein entsprechendes handlungsleitendes Selbstverständnis, das dem individuellen Lebensplan analog ist. Der Vorteil solcher Lebenspläne besteht in der quasi automatisierten Informationsverarbeitung, die die tägliche Orientierung in der Welt erleichtert. Der Nachteil offenbart sich dann, wenn die entsprechenden Reaktionen (gleich Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster) stereotyp statt realitätsbezogen ausfallen. Während der Ausformung dieses Lebensplans, der spätestens bis zum sechsten oder siebten Lebensjahr, meist sogar vorher „erstellt“ und in der Zeit des Heranwachsens und der gesamten Lebensspanne weiterentwickelt, ausdifferenziert und/oder ausgeschmückt wird, hat der Mensch bereits eine Entscheidung über seine (Lebens-)Grundposition getroffen. Damit ist eine grundlegende existenzielle Einschätzung gemeint, die eine Person von sich im Vergleich zu anderen Menschen und der Welt entwickelt. 634

Sie kann von „ich bin okay — du bist okay“ (+/+) über „ich bin okay — du bist nicht okay“ (+/-) und „ich bin nicht okay — du bist okay“ (-/+) bis hinzu „ich bin nicht okay — du bist nicht okay“ (-/ -), reichen. Dabei müssen die Kürzel „okay“ mit „wertvoll“, „wichtig“, „willkommen in diesem Leben“ und „wirksam in der Gestaltung der Welt“ und „nicht okay“ mit „nicht wertvoll“, „unwichtig“, „unwillkommen und unerwünscht in diesem Leben“ und „unwirksam in der Gestaltung der Welt“ übersetzt werden. Bei all dem handelt es sich um keine kurzfristigen Empfindungen im Hier und Jetzt, sondern um Grundeinstellungen, die unser Leben charakterisieren wie die Farbtönung einer Brille, durch die wir uns selbst und die Welt wahrnehmen. Als wesentliche Einflussgrößen auf die Wahl unserer Grundhaltungen wie auch unseres Skriptes können und müssen unsere (frühen) Erfahrungen im Umgang mit den uns angeborenen menschlichen Grundbedürfnissen nach Strokes, Stimulation und Struktur angesehen werden. Alle drei Bedürfnisarten müssen lebenslang befriedigt werden, wenn es nicht zu schweren Schäden hinsichtlich des Wohlergehens und der Gesundheit von Menschen und Organisationen kommen soll. Die vorhersehbare sichere oder tatsächlich erreichte Befriedigung unserer Grundbedürfnisse spendet Kraft, ihre Nichtbeachtung raubt Kraft, zumindest jedoch mindert sie Kraft, weil immer ein Teil von uns mit diesen „unerledigten Geschäften“ beschäftigt ist. Zudem lassen sich befriedigte Grundbedürfnisse als Quelle intrinsischer Motivation verstehen. Begleitet werden alle jene zuvor beschriebene Weisen des Mit- und Gegeneinanders vom Schatz unserer Gefühle, die als psycho-physiologische Reaktion auf die Befriedigung oder Nichtbefriedigung unserer Bedürfnisse zu verstehen sind. Im einzelnen sind unsere Gefühle als jeweils spezifische Körperempfindungen wahrnehmbar, die entsprechend gelernter Erfahrungen dann z.B. als Angst, Ärger, Trauer, Freude oder Schmerz interpretiert werden. Von diesen authentischen, weil angeborenen Ursprungsgefühlen, zu denen man noch Ekel, Scham und Schuld oder sogar Liebe zählen könnte, unterscheidet die TA die sogenannten Ersatzgefühle, die wir bereits als Kinder gelernt haben, weil unsere authentischen Gefühle nicht in das Erfahrungsmuster unserer Eltern passten oder bestimmten gesellschaftlichen Normen widersprachen (z.B. Mädchen sollen nicht aggressiv, Jungen nicht traurig oder ängstlich sein). Zwar können Personen, die Ersatzgefühle empfinden, diese genauso intensiv erleben wie authentische Gefühle. Da die unter den Ersatzgefühlen verborgenen ursprünglichen Gefühle und Bedürfnisse jedoch nicht befriedigt werden können, kommt es zu immer neuem Ausagieren der Ersatzgefühle, um wenigstens eine Art Ersatzbefriedigung erreichen zu können. In der Folge kommt es oft zu stereotypen Verhaltensmustern, die von den entsprechenden Personen, Gruppen oder Organisationen immer wieder „reinszeniert“ werden. Alle zuvor genannten Theorieelemente (genauer: deren Inhalte) sind als feste Bestandteile unseres Bezugsrahmens zu sehen, eines Ideengebildes, aus dem heraus der Mensch Erlebens- und Verhaltensweisen organisiert. Anders ausgedrückt: Der Bezugsrahmen eines Menschen liefert dem Individuum allgemeine und gut strukturierte Wahrnehmungs-, Denk-, Gefühls- und Verhaltensmechanismen, die quasi automatisiert als Reaktion auf äußere oder innere Reize so eingesetzt werden, dass ein — subjektiv gesehen — realitätsangemessener Umgang mit sich und anderen Menschen in der bestimmten Situation gegeben ist. Diese Mechanismen können aber auch ein Festhalten an alten Erfahrungen und entsprechend rigiden Reaktionsmustern bewirken, sodass diese immer wieder neu bestätigt werden und jene erstarrten Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster liefern, die das Gegenteil von Autonomie bedeuten. Das heißt, der Bezugsrahmen „liefert“ einen Filter, den wir im Umgang mit der äußeren wie auch der inneren Wirklichkeit eingebaut haben, um mit dem als Kind erlebten, oftmals auch erlittenen Erfahrungen mit uns selbst, den anderen und der (Um)Welt so umzugehen, das wir uns zwar nicht immer gut, vermeintlich jedoch sicher fühlen.

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11.34.5 Typische Deutungsmuster in der Wissenschaftsdisziplin (Analyse und Lösungsstrategien) Zur Unterstützung menschlichen Wachstums von Individuen, Gruppen und Organisationen sowie zur Veränderung von Beeinträchtigungen nutzt die TA z.B. die Struktur- und Funktions-Analyse zum Verstehen innerer Prozesse und lebensgeschichtlicher Entwicklungen, die Analyse der Transaktionen zum Erkennen von Kommunikationsproblemen, die „Spiel“analyse zum Verstehen und Verändern ineffektiven sozialen Verhaltens und die Skriptanalyse zur Veränderung individueller Lebenspläne. Darüber hinaus nutzt sie die Analyse des Bezugsrahmens einschließlich seiner internen und externen Mechanismen zum Erkennen vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Lebens- und Handlungsmuster, die Analyse der Grundpositionen zur Erhellung von grundlegenden Einstellungen (wie sie sich sowohl im gegenseitigen Umgang als auch z.B. im Lehrverhalten oder dem Führungsstil von Menschen bemerkbar machen) und die Analyse der Grundbedürfnisse und Gefühlsmuster (Spezifikum: Ersatzgefühle), um Quellen der Motivation sichtbar zu machen bzw. zu öffnen oder authentische Lebensbewältigung zu unterstützen. Wie schon angesprochen, lassen sich alle diese Analyse- und Deutungsmuster gleichermaßen für Individuen, Gruppen und Organisationen anwenden. Dabei beinhaltet jede Analyse, jedes Verstehen eines dysfunktionalen Grundmusters immer auch Hinweise auf dessen Veränderung und das damit wachsende Ausmaß von Autonomie. Oder anders ausgedrückt: Jede Analyse öffnet auch den Blick für die Ressourcen. Dabei ist der Vorteil der TA-Konzepte auch darin zu sehen, dass alle Konzepte gleicherweise zur Analyse und zum Erhellen von Ist-Zuständen wie zum Ableiten adäquater Veränderungsziele und -strategien geeignet sind.

11.34.6 Typische Anwendungsfelder dieser Wissenschaftsdisziplin Der durch die Grundkonzepte der TA abgesteckte Rahmen menschlicher und institutioneller Existenz ist breit gefächert. Aus ihm erwachsen ebenso breitgefächerte Zielvorstellungen beratenden Handelns, dessen Leitidee immer mehr oder weniger mit „Autonomie der Persönlichkeit“ oder „OrganisationsAutonomie“ zu tun hat. Entsprechend dem Grundsatz der Ganzheit bieten die Konzepte der TA zur Wiedererlangung oder Vervollständigung von Autonomie in der Regel für alle Ebenen einer Person, einer Gruppe oder einer Gesellschaft jeweils für sich gesehen und in ihrer wechselseitigen Vernetzung Verstehens- und Anwendungsmöglichkeiten: ihr Erscheinungsbild (Körperlichkeit, Außenauftritt oder Corporate Identity), ihr Verhalten (als beobachtbare Äußerung einer Personengruppe oder Organisation), ihre Strategien und Empfindungen (als vermittelte Äußerung) wie auch ihre Visionen und Leitbilder. Auf diesem Hintergrund lassen sich ebenso breitgefächerte Anwendungsbereiche erkennen: Sie reichen von einer punktgenauen, einmaligen Beratung bis zu Beratungen mit sehr komplexen Fragestellungen, die sich durch klar vereinbarte Ziele, eine gewisse Gründlichkeit, Dauer, Eindringlichkeit und den zumeist größeren Gegenstandsbereich (wie z.B. bei Organisationsentwicklungen) auszeichnen. Das wird um so deutlicher, wenn man die bisher nur am Rande erwähnten Anwendungsfelder der Supervision und des Coachings hinzunimmt, die immer mehr auch den Tätigkeitsbereich von Teams und Führungskräften erobern. Entsprechend der Vielfalt der Fragestellungen, die in einzelnen Menschen, Gruppen, Teams, Organisationen und Gesellschaften „nach Klärung“, Auseinandersetzung und Beratung verlangen, gibt es auch eine Vielzahl entsprechender Beratungsangebote. Dass es bei all diesen „Beratungen“ darauf an636

kommt, den Blick über die Feststellung von Defiziten und Verlusten hinaus auf die Stärken und Handlungspotenziale der Ratsuchenden zu lenken, soll abschließend ausdrücklich betont werden.

11.34.7 Typische Kritik an der Wissenschaftsdisziplin Da die Konzepte der Transaktionsanalyse leicht verständlich und griffig erscheinen, glauben Klienten/ Kunden wie auch interessierte Laien allzu leicht und zu schnell, die fast immer tiefenpsychologischfundierten Theorien und Konzepte vordergründig zu verstehen und „frohen Mutes“ anwenden zu können. Beide Vorteile, die Allgemeinverständlichkeit wie Griffigkeit der transaktions-analytischen Sprache und Konzepte, die es ermöglichen, mit Klienten aller Altersstufen und fast aller Begabungsgrade nach TA-Gesichtspunkten zu arbeiten, wie auch die Eignung ihrer Konzepte für eklektisches bzw. integratives Vorgehen bergen zugleich auch Gefahren: So kann gerade die leichte Verständlichkeit und gute Praktibilität der Konzepte dazu führen, die Theorien der TA nicht mehr als Modell zu sehen, mit dem Realität beschrieben wird, sondern das Modell für die Wirklichkeit selbst zu halten („Du bestehst ja nur noch aus kritischem Eltern-Ich“ statt „Du verhältst Dich im Augenblick wie ein kritischer Elternteil“). Die leicht verständlichen Begriffe der Alltagssprache, die in der TA verwandt werden, leisten dieser Gefahr dadurch Vorschub, dass ihre Weiterentwicklung und Präzisierung in den Termini selbst nicht zum Tragen kommen und folglich nicht berücksichtigt werden. Unkenntnis oder Missachtung dieser Gefahren führt oft zu Simplifizierungen menschlicher Komplexität, die sich u.a. in neuen Etikettierungen (z.B. „Du bist ein ganz armes Opfer“) oder neuerlichen Schuldzuschreibungen (wie z.B. „Dein sexuelles Unbefriedigtsein ist einzig Dein Problem“) niederschlagen können. Hinsichtlich der Integration anderer Methoden in TA-Konzepte besteht zudem die Gefahr darin, durch zu frühen oder zu wenig differenzierten Einsatz von beispielsweise erlebnisaktivierenden Methoden oder bioenergetische Übungen Prozesse in Gang zu setzen, die infolge mangelnder kognitiver Einbettung in den Bezugsrahmen der Klienten bzw. aus reiner Anpassungshaltung der Klienten gegenüber dem Berater/Coach zu sogenannten „harmful interventions“ werden, die die alten destruktiven Entscheidungen und Verhaltensmuster verstärken. Eine weitere Gefahr besteht in der Ontologisierung der genutzten Begriffe. Niemand hat Ich-Zustände! Dennoch offenbart die Alterssprache von Transaktionsanalytikern (z.B. mit Aussprüchen wie „Was sagt Dein inneres Kind dazu?“ oder „Und wie findet das Dein Eltern-Ich?“) anderes, nämlich die Ontologisierung (Vergegenständlichung) von Theorien und ihren Metaphern wie Kind-, Eltern-, Erwachsenen-Ich. Dabei ist die Zugkraft dieser Tendenz immens hoch und führt immer wieder zu modelltheoretisch ungenauen bzw. falschen Aussagen. Trotzdem gilt auch hier: Modelle kennzeichnen bestimmte Ausschnitte der Wirklichkeit von Menschen, sind aber keine erlebbare Wirklichkeit. Darüber hinaus stände es der Transaktionsanalyse „gut an“, ihre de facto gegebene Verständlichkeit, Wirksamkeit und Handhabbarkeit auch durch entsprechende empirische Untersuchungen zu unterlegen und zusätzlich z.B. empirischer Hinweise darüber zu sammeln, wie die von ihr auf Grund kasuistischer Erfahrungen herausgearbeiteten Denk-, Gefühl- und Handlungsmuster in der Bevölkerung bzw. in spezifischen Gruppen der Bevölkerung verteilt und verankert sind. Hier offenbart sich ein Mangel, der dringender Abhilfe bedarf.

11.34.8 Typische Begriffe und deren Deutung in der Wissenschaftsdisziplin Einige der für die Alltagssprache von Transaktionsanalytikern typischen Begriffe wie z.B. „Kind-Ich/ Eltern-Ich/Erwachsenen-Ich“ oder „Opfer/Täter/Retter“ oder „Streicheleinheiten“ sind bereits zuvor 637

unter dem Stichwort „Kritik“ benannt. Darüber hinaus ist erwähnenswert, dass diese und eine Vielzahl anderer Begriffe aus dem ursprünglich transaktionsanalytischen Modellvokabular inzwischen Eingang in unsere alltägliche deutsche Umgangssprache gefunden haben. Dazu gehören „Täter (statt Verfolger), Opfer und Retter“ aus dem „Spiel“-Konzept (als Kennzeichnung misslingender, programmatisch verlaufender Interaktionsfolgen), „Abwertung” aus der Theorie des Bezugsrahmens (als Kennzeichnung eines die kognitive Verarbeitung von Gegebenheiten einschränkenden Prozesses), „symbiotisches Verhalten”, ebenfalls aus der Theorie des Bezugsrahmens (als Kennzeichnung, bestimmter autonomieverhindernder Beziehungsmuster) oder auch „OKness/(+/+)“ aus dem Konzept der Grundhaltungen (als Kennzeichnung von existenziellen Lebenseinstellungen). — Dass diese „Eingemeindung“ nicht immer zum wirklichen Verstehen von TA-Konzepten beiträgt, dürfte verständlich sein.

11.34.9 Bedeutung der Wissenschaftsdisziplin für das Coaching TA kann durch ihre ethische wie methodische Kompetenz viel zu einem effektiven Coaching beitragen. Auch hier ist der Vertrag die Basis des professionellen Handelns, wobei dieser im Coaching in der Regel als mehrseitiger Vertrag zwischen dem Coaching-Auftraggeber, dem Coaching-Kunden und dem Coach zu schließen ist. Allseitige Offenheit über die Vertragsinhalte, das heißt, jeder kennt alle getroffenen Vereinbarungen, fördert sowohl die Effektivität als auch die Beziehungsqualität des Coachings. Insgesamt hat sich die Transaktionsanalyse hier als probate Strukturierungs- und Interventionsmethode gezeigt. Die Fragestellungen, denen sich ein transaktionsanalytisches Coaching zuwendet, reichen von der Optimierung der eigenen Leistung über die Erarbeitung von Steuerungsmechanismen in Veränderungsprozessen bis hin zu Themen der Organisationsentwicklung. In den gegenwärtigen schnellen Veränderungsprozessen hilft die Autonomiefokussierung der TA, eigene Standpunkte zu finden und zu vertreten und im Gestrüpp organisationaler Bedingungen einen Weg zu finden, der mit eigenen Werten vereinbar ist. Dabei erweist sich, vor allen Dingen, was die Unterstützung der Coaching-Inhalte betrifft, eine klare ethische Orientierung des Coaches als besonders hilfreich, vor allem dann, wenn sich diese nicht nur in seiner Sprache wiederfindet, sondern auch konkret gelebt und erlebt wird. Komponenten dieser ethischen Haltung sind: partnerschaftliche Haltung, Freiwilligkeit, Klarheit der Beziehungen und Rollen, Transparenz, Kunden-, Ziel- und Vertragsorientierung, Zeitbewusstheit sowie Wahren von Fähigkeit und sonstigen Grenzen. Dass diese Haltungen besonders wichtig und bei den meisten transaktionsanalytischen Coaches hoch entwickelt sind, basiert einerseits auf dem humanistischen Menschenbild der Transaktionsanalyse (mit ihrer Betonung vom existenziellen Wert des Menschen, seiner Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung, seiner Kooperationsbereitschaft, seiner Fähigkeit, selber verantwortlich entscheiden und seine Entscheidungen auch wiederum verändern zu können) und andererseits den seit Beginn der organisierten TA (im Jahre 1964) stets weiterentwickelten klaren ethischen Richtlinien für die Beziehung zwischen Klient und Therapeut bzw. Berater und Kunden. Diese ethischen Haltungen, basierend auf einer ganzheitlichen Coaching-Sicht (des Reflektierens, Konzipierens und Umsetzens wie auch Vertiefens), gekoppelt mit profundem Theorie- und Methodenwissen der TA sowie anderer kombinierbarer Verfahren (wie z.B. Gestalttherapie, Systemische Theorie, Familientherapie, Gesprächstherapie) bieten gute Chancen für ein allseitig befriedigendes und erfolgreiches Zusammenwirken von Coachee, Coach und Auftraggeber.

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11.34.10 Basisliteratur BARNES, G./CONTRIBUTORS (1979, 1980, 1981): Transactional Analysis after Eric Berne: Teaching an Practices of Three TA Schlools. New York: Harpers College Press 1977; dt.: Transaktionsanalyse seit Eric Berne. Band I-III. Hrsg. von G. kottwitz. Berlin, Institut für Kommunikationstherapie BERNE, E. (1975): What do you say after you say hello? New York: Bantam Books 1972; dt.: Was sagen Sie, nachdem Sie „Guten Tag“ gesagt haben? Psychologie des menschlichen Verhaltens. München, Kindler BERNE, E. (1979/1986): The Structure an Dynamics of Organisation and Groups. New York: Ballantine Books 1973, dt.: Struktur und Dynamik von Organisationen und Gruppen. München, Kindler CLARKSON, P. (1996): Transaktionsanalytische Psychotherapie: Grundlagen und Anwendung. Das Handbuch für die Praxis. Freiburg, Basel, Wien, Herder Erskine, R.G./MOURSUND, J.: Kontakt, Ich-Zustände HAGEHÜLSMANN, H. (Hrsg.) (2006): Beratung zu professionellem Wachstum: Die Kunst transaktionsanalytischer Beratung. Vielfalt in Theorie & Praxis. Band 1. Paderborn, Junfermann HAGEHÜLSMANN, U. (1992): Transaktionsanalyse — Wie geht denn das? Transaktionsanalyse in Aktion I. Paderborn, Junfermann HAGEHÜLSMANN, U./HAGEHÜLSMANN, H. (2001): Der Mensch im Spannungsfeld seiner Organisation: Transaktionsanalyse in Managementtraining, Coaching, Team- und Personalentwicklung. 2.Aufl. Paderborn, Junfermann HAGEHÜLSMANN, U./HAGEHÜLSMANN, H. 2006): Prozessberatung in Organisationen. In: Hagehülsmann, H. (Hrsg.): Beratung zu professionellem Wachstum: Die Kunst transaktionsanalytischer Beratung: Vielfalt in Theorie & Praxis. Band 1. Paderborn: Junfermann, S.229-250 HAGEHÜLSMANN, U./HAGEHÜLSMANN, H./WICKBORN, H. (2005): Verantwortliche Führung in Veränderungsprozessen. Zeitschrift für Transaktionsanalyse, 4, S.269-288 MOHR, G. (1999): „Führungskräftesupervision”. Zeitschrift für Transaktionsanalyse, 16, S.51-71 SCHLEGEL, L. (1993): Handwörterbuch der Transaktionsanalyse: Sämtliche Begriffe der TA praxisnah erklärt. Unter Mitwirkung von Fritz Wandel, Bernhard Schibalski und Helmut Harsch. Freiburg, Basel, Wien: Herder, erweitert und zugänglich im Internet unter www.dgta.de oder www.dsgta.ch SCHMID, B. (1994): Wo ist der Wind, wenn er nicht weht; Professionalität und Transaktionsanalyse aus systemischer Sicht. Paderborn, Junfermann VOGELAUER, W. (Hrsg.) (2005): Coaching-Praxis. 5.Aufl. Neuwied, Luchterhand VOGELAUER, W. (2005): Methoden-ABC im Coaching. Praktisches Werkzeug für den erfolgreichen Coach. 4.Aufl. München, Luchterhand VOGELAUER, W. (2006): Transaktionsanalyse im Coaching-Einsatz. In: Hagehülsmann, H. (Hrsg.): Beratung zu professionellem Wachstum: Die Kunst transaktionsanalytischer Beratung: Vielfalt in Theorie & Praxis. Band 1. Paderborn, Junfermann, S.251-280

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11.35 Visionen — woher und wofür? von Matthias zur Bonsen

11.35.1 Einstimmung26 In jedem Menschen, jedem Führungsteam und jedem Unternehmen gibt es eine Glut unter der Asche. Diese Glut ist der sehnliche Wunsch, eine erträumte Zukunft zu erschaffen, Teil eines größeren Ganzen und erfolgreich zu sein. Diese Glut ist unsere Vision, unsere Lebensenergie und unser Glaube daran, diese Vision verwirklichen zu können. Kurz: Die Glut ist unsere visionäre Kraft, die letzte und tiefste Ursache unseres Erfolgs. Diese Kraft ist immer da. Wir haben Visionen, wir haben Energie und wir haben Glauben. Und zwar genug, um die Wirklichkeit zu kreieren, die wir uns wünschen, selbst wenn uns die Lage im Moment vielleicht ausweglos erscheint. Das gilt nicht nur für uns als Individuen, sondern auch für Führungsteams und Unternehmen. Doch über der Glut liegt eben die Asche, mal mehr, mal weniger, doch meistens ganz schön dick. Diese Asche hat zur Folge, dass unsere Wirtschaft sich lange nicht so dynamisch nach vorne entwickelt, wie sie es eigentlich könnte. Zahllose Unternehmen stagnieren oder schrumpfen, die Wirtschaft als Ganzes bewegt sich träge nach oben und baut dabei Arbeitsplätze ab. Viele Topmanagementteams werden gelähmt durch auseinanderdriftende Ziele und innere Konflikte. Und in den Unternehmen, in denen die Führungsspitze Kraft hat, ist das Unternehmen in seiner Gesamtheit dennoch oft energielos. Seine Mitarbeiter arbeiten nicht kraftvoll auf einen gemeinsamen Traum hin. Dieser Beitrag handelt davon, wie wir die Asche beseitigen und die visionäre Kraft wieder freilegen können — bei uns selbst, in unserem Team und in unserer Organisation. Er will zeigen, was es heißt, mit Visionen zu führen. Dabei handelt es sich um eine noch junge Disziplin. Denn bis zur Mitte der Achtzigerjahre hat bei uns kaum jemand das Wort Vision gebraucht. Dem Begriff haftete damals das Odium des Irrealen und Traumtänzerischen an. Doch das änderte sich dann langsam (sicher nicht bei allen) und heute reden wir immer mehr von Visionen, sei es in der Wirtschaft, in der Werbung oder in der Politik. Doch Reden über Visionen ist das eine und Tun das andere. Und wir tun bislang im Wesentlichen dasselbe wie vorher. Wir haben unser Handeln bloß mit einem modischen Etikett versehen. Was früher Leitbilder waren, wird heute um ein paar langfristige Ziele à la „Die Nummer 1 im xy-Markt werden” ergänzt, als Vision bezeichnet, auf Hochglanzpapier gedruckt und im Unternehmen bekannt gemacht. Dann wundern wir uns, dass das echte Vertrauen in die Vision nicht entsteht, der Energieschub ausbleibt und die Vision nicht erreicht wird. Ich möchte Wege aufzeigen, wie man mit Visionen führen kann. Ich möchte darstellen, was ganz konkret getan werden kann, um eine Vision in sich, in einem Führungsteam und in den Mitarbeitern lebendig werden zu lassen. Und obwohl Vision kein Werkzeug ist, das man im herkömmlichen Sinne benutzt, gibt es in diesem Zusammenhang wirkungsvolle und bewährte Werkzeuge und Vorgehensweisen. Lassen Sie sich überraschen! Visionen werden zuweilen als Luxus für Schönwetterzeiten gesehen, doch in der Tat ist es eines der drängendsten Themen überhaupt. Denn unsere Unternehmen werden nicht einfach dadurch zu neuer 26

Führen mit Visionen, zur Bonsen, Matthias, Gabler Verlag, Wiesbaden 1994, S.7ff

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Vitalität finden, dass sie jedes Jahr eine neue Modewelle von der anderen Seite des Atlantiks oder Pazifiks übernehmen. In einem Jahr Lean Management, im nächsten Reengineering und im darauf folgenden wieder etwas anderes. Viel wichtiger ist aus meiner Sicht, dass wir uns auf die tieferliegenden Ursachen des Erfolgs besinnen: Vision, Glaube und Energie. Und dass wir vor allem in unseren Führungsteams diese drei Dinge, die zusammen die visionäre Kraft ausmachen, entwickeln. Dann werden wir eigene Wege erfinden, die uns unweigerlich zur Erfüllung unserer Träume und zu einer dynamischen Entwicklung führen werden. Visionen sind daher nicht eine Modewelle unter vielen, die nach zwei Jahren wieder abebbt. Vision ist die permanent vorhandene Glut, die wir dringend freilegen müssen.

11.35.2 Unsere persönliche Vision27 Wir alle haben eine Vision, unsere eigene und einzigartige Vision. Wir mögen sie kennen oder nicht oder nur zum Teil kennen. Sie mag eine starke Kraft in uns sein, die nicht mehr aufzuhalten ist, oder nur ein schwacher Impuls, der erst wachsen muss. Doch die Vision ist da. Sie ist unsere Lebensaufgabe, unsere Bestimmung. Sie ruht wie eine Larve in uns. Unsere Aufgabe ist es, diese Vision zu entdecken und in uns lebendig werden zu lassen. Dann flattert sie als Schmetterling in unseren Herzen herum. Wir haben den Schmetterling und den Garten, in dem er umherfliegt, zuerst schwach, dann immer stärker vor Augen. Schließlich werden wir selbst zum Schmetterling, und der Garten manifestiert sich als die äußeren Ergebnisse und Erfolge, die wir verwirklichen wollten. Unsere Vision ist unser inneres Bild von der Zukunft, die wir erschaffen wollen. Das wichtigste Wort in diesem Satz ist „wollen”. Denn eine Vision ist nicht einfach eine Idee, sondern ein sehnlicher Wunsch, eine Kraft in uns, eine Hoffnung und eine Verpflichtung zugleich. Unsere Vision ist ein Traum, aber nicht irgendein müßiger Traum à la „Es wäre doch schön, wenn ich nur noch am Strand unter Palmen liegen könnte”. In Träumen beginnt die Verantwortung und so müssen wir uns prüfen, was wir wirklich wollen. Dann entdecken wir schnell, dass „am Strand liegen” nicht unsere wahre Bestimmung ist und wenig Chancen für Abenteuer und Lernen bietet. Die Vorstellung von Sonne und Wärme ist zwar angenehm, aber sie mobilisiert keine starke Sehnsucht in uns. Es geht darum zu entdecken, welche Wünsche wirklich in uns sind, was wir also ernsthaft und dauerhaft wollen. Und das ist auch das, was wir sollen. Denn wir sollen etwas in diesem Leben, nämlich unsere Vision entdecken und verwirklichen. Unsere Vision ist immer etwas Wertvolles und etwas, dessen Erfüllung uns zutiefst befriedigt. Sie ist unser persönliches Paradies auf Erden, aber das heißt nicht, dass sie nur Annehmlichkeiten birgt. Es sind Herausforderungen, Verpflichtungen und Opfer mit ihr verbunden. Wir werden an Grenzen geführt, die wir überwinden müssen. Wir wählen einen Weg, und das bedeutet, dass wir den anderen Weg nicht mehr gehen können. Wer eine Familie gründet oder ein Unternehmen aufbaut, hat weniger Freizeit. Wer als Tramp durch die Welt reist, hat kein großes Einkommen. Wer ein Vermögen aufbaut, muss sich darum kümmern. In sehr seltenen Fällen führt unsere Vision uns sogar in einen frühen Tod. Und obwohl wir ihn ahnen, schlagen wir diesen Weg ein. JOHN F. KENNEDY ahnte seinen Tod, sein Lieblingsgedicht handelte davon. DIETRICH BONHOEFFER wurde aufgrund seines Einsatzes für die Bekennende Kirche, die sich früh gegen HITLER stellte, bereits Ende der Dreißigerjahre von der Gestapo verfolgt. Er konnte im Jahr 1939 einen kurzen Urlaub in New York machen und bekam dort sogar eine Anstellung angeboten — die Rettung für ihn. Doch BONHOEFFER lehnte ab und kehrte nach Deutschland zurück. Er wollte weiter im Widerstand arbeiten und am Kampf gegen das Nazi-Regime mitwir27

Führen mit Visionen, zur Bonsen, Matthias, Gabler Verlag, Wiesbaden 1994, S.15ff 641

ken. Das war seine Vision. Seinen Auftrag hatte er am 9. April 1945 endgültig erfüllt — im KZ Flossenbürg. Als Menschen sind wir visionserfüllende Wesen. Wir sollen und können unsere Vision realisieren, auch wenn wir uns die Aufgabe zunächst nicht zutrauen oder sie uns kaum machbar erscheint. Vielleicht meinen wir, dass wir die Fähigkeiten dazu nicht haben. Doch GOETHE sagt uns: „Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zu leisten im Stande sein werden.” Wünsche sind in uns nicht hineingelegt worden, damit wir sie dort verkümmern lassen. Sie sind da, damit wir sie entdecken, die echten von den eingebildeten trennen, zu den echten stehen, sie mit Energie aufladen und verwirklichen. Am Anfang sind sie vielleicht nur als schwächliche Larven in uns. Wenn wir sie in diesem Zustand belassen würden, wäre da immer das unterschwellige Gefühl, etwas Wichtiges versäumt und unser Potenzial nicht erreicht zu haben. Es ist wichtig zu wissen, dass wir das realisieren können, was wir uns wirklich wünschen und wollen. Zahllose Poeten, Weise, Mystiker und Philosophen haben uns das eindringlich gepredigt. Vielleicht besteht unser sehnlichster Wunsch darin, einen Pharao in Ägypten, den noch niemand gefunden hat, zu entdecken. Wir haben sechs Jahre gegraben, der Berg unserer Schulden ist so hoch wie der Berg des Grabungsabraums, und alle schütteln den Kopf über uns, denn wir haben noch nichts gefunden. Wir allein wissen jedoch, dass der Pharao noch da ist und dass wir ihn finden werden. Denn wenn wir in uns hineinhorchen, spüren wir, dass wir nicht einer fixen Idee erlegen sind, sondern weitermachen sollen. Unser Sehnen hat nicht nachgelassen. HOWARD CARTER suchte sechs Jahre vergeblich, im siebten (1922) fand er TUTANCHAMUN. Unsere Vision ist realisierbar, sonst wäre sie nicht in uns. Das heißt nicht, dass sie von alleine Wirklichkeit wird, sobald wir sie nur kennen. Im Gegenteil, wir müssen uns „bis zum Äußersten strecken”. Wir müssen innerlich wachsen, wir müssen Energie aufbauen, wir müssen Selbstdisziplin und Konzentration entwickeln, wir müssen Geduld lernen, wir müssen den vielköpfigen Drachen unserer Negativität besiegen, und wir müssen für die Vision arbeiten.

11.35.3 Eine Vision von Größe Eine Vision ist das Bild von der Zukunft, die wir erschaffen wollen, und diese Zukunft kann verschiedene Dimensionen betreffen: unser berufliches Leben, unser privates Leben, unsere finanzielle Situation, unsere Familie, das Umfeld und die Welt, in der wir leben und nicht zuletzt uns selbst. Das sind nicht verschiedene Visionen, sondern Facetten der einen ganzheitlichen Vision unseres Lebens. In diesen Dimensionen müssen wir herausfinden, was unsere tiefsten Wünsche sind. Und dabei sollten wir uns von einem Prinzip leiten lassen: nach dem Höchsten streben. Wenn wir aufmerksam in uns hineinhorchen, werden wir feststellen, dass wir nicht nur erfolgreich sein und bestimmte materielle Ziele erreichen wollen, sondern uns danach sehnen, etwas wahrhaft Großartiges, etwas Wertvolles zu erschaffen: eine großartige Firma, ein großartiges, neues Produkt, eine großartige Familie oder etwas anderes, mit dem wir der Unterschied in der Welt sein können und das der Größe unseres Geistes gerecht wird. Wir haben ein Ideal vor Augen. Wir wollen den Menschen etwas bringen. 642

„Nach dem Höchsten streben” heißt nun, dass wir in unserer Vision keine Kompromisse machen. Wir sagen uns nicht, es sei sowieso nicht möglich, ein vor Dynamik und Lebensfreude vibrierendes Unternehmen zu erschaffen oder unser Produkt um ein Mehrfaches haltbarer, wirksamer oder anderweitig nützlicher zu machen, sondern wir stehen zu dem, was wir uns wirklich wünschen. Wir zensieren uns nicht, wir lassen keine Wünsche weg, die uns eigentlich am Herzen liegen,wir geben uns nicht mit wenig zufrieden, wenn wir viel wollen, nur weil unser Verstand uns einflüstert, dass es nicht geht. Denn der hat immer eine Menge an Logik und Zweifeln parat. Wir halten vielmehr an unseren Idealen fest und stehen zu unserer Vision, auch wenn wir sehr, sehr lange brauchen, um sie zu realisieren. So wie die Möwe Jonathan trachten wir danach, noch höher, schöner und schneller zu fliegen. Unsere volle Energie kann nicht aktiviert werden, wenn wir unseren ersehnten Traum auf das vorgeblich Machbare — die Flughöhe von 50 Metern — beschränken. Wenn wir etwas wahrhaft Großartiges erschaffen wollen, werden wir früher oder später entdecken, dass dies nicht geht, solange wir selbst die gleichen bleiben. Wir müssen auch selbst großartig werden. Wir brauchen eine Vision von Größe und Meisterschaft von uns selbst (auch die ist schon in uns) und müssen sie in uns verwirklichen. Wir müssen uns von unseren Unsicherheiten, unseren Ängsten, unserer Unruhe, unseren Begierden, unserem Groll, unserer Verletzlichkeit oder was immer uns beeinträchtigt, trennen. Denn sonst haben die Disharmonien, die in unserem Denken und Fühlen verbleiben, zur Folge, dass sie sich auf unsere Familie und Firma oder Arbeitssituation übertragen und dort disharmonische Ergebnisse hervorrufen. Da unsere äußere Realität ein getreuer Spiegel unserer inneren Realität ist, sind disharmonische Ergebnisse ein untrügliches Zeichen dafür, dass wir etwas loslassen und uns selbst weiterentwickeln sollen. Vielleicht haben wir in zwanzig Jahren eine erfolgreiche Firma aufgebaut, doch wir schuften dafür immer noch Tag und Nacht. Möglicherweise, weil unsere Ängste und unser Misstrauen uns nicht erlauben, von der Arbeit loszulassen, unseren Mitarbeitern zu vertrauen und zu akzeptieren, dass sie die Dinge anders tun, als wir sie tun würden. Oder weil wir — auch aus Misstrauen — denken, dass unsere Mitarbeiter nur dann viel arbeiten, wenn wir ihnen noch mehr vorarbeiten. Vielleicht haben wir auch unbewusst nie wirklich starke Menschen, die uns auch einmal ein NEIN oder ANDERS entgegensetzen und denen wir uns anpassen müssen, um uns gewollt. Und nun stehen wir mit Leuten da, die uns tatsächlich nicht sehr entlasten können. Wir haben zwar Erfolg, oft enormen Erfolg, aber wir haben nichts so Großartiges erschaffen, wie wir es uns eigentlich wünschten, weil wir unsere inneren Disharmonien nicht analysiert und uns nicht davon gelöst haben. In gewissem Sinne hatten wir unsere Vision auf den Rumpf des Schmetterlings reduziert. Dieser Rumpf bestand vielleicht aus dem Wunsch nach einer eigenen Firma oder einer guten Position und einem hohen Einkommen, einem Haus und was es sonst noch so an äußeren, materiellen Zielen (die durchaus legitime Visionsfacetten sind) gibt. Den Rumpf haben wir verwirklicht, und nun entdecken wir, dass wir ohne Flügel nicht so froh und leicht umherflattern können wie der Schmetterling, der in uns immer noch auf seine Entfaltung wartet und drängt. Unsere Vision ist der ganze Schmetterling. Unsere materiellen Ziele und unsere Ideale. Die äußeren Ergebnisse und unser inneres Wachstum. Das, was wir für uns und unsere Familie erreichen wollen, und das, was wir der Menschheit geben wollen. Das Profane, Erreichbare und das Erhabene, Unerreichbare, dem wir uns mit der Zeit nur immer weiter annähern können. Um den Schmetterling und seinen Garten voll und ganz verwirklichen zu können, müssen wir selbst zum Schmetterling werden und unsere Vision verkörpern. Wir müssen das Ideal selbst leben. „Denn es ist die wunderbare Eigenschaft des Hauses, das du im Traum erbaust, dass es nicht dich selber, sondern ein verwandeltes Ich beherbergt”, schreibt ANTOINE DE SAINT-EXUPÉRY. 643

Wir können als Menschen wachsen und unser Ich „verwandeln”. Wir können viel energiereicher, liebender, optimistischer, harmonischer, positiver, gelassener, weiser und meist auch gesünder sein, als wir heute sind. Wir können die Disharmonien in unserem Denken und Fühlen, unsere Ängste, unser Misstrauen, unseren Groll oder was immer wir mitschleppen, hinter uns lassen. Das geht nicht von heute auf morgen, und wir müssen auch einiges dafür tun. Wir müssen uns auf den mühsamen Weg machen zu lernen, unsere Gedanken zu kontrollieren. Mit den Jahren und Jahrzehnten entwickeln wir uns deutlich weiter.

11.35.4 Reise ins Zentrum — Wie können wir unsere Vision entdecken? Wir sind nicht alle in der gleichen Situation. Manche stochern gerade im Nebel und suchen nach einer neuen Aufgabe. Oder sie fragen sich, ob sie bei ihrer Familie bleiben sollen. Andere sind in eine Aufgabe und Lebenssituation hineingestellt und wissen sicher, dass es so bleiben soll. Beide jedoch können sich noch klarer über ihre Vision werden. Sie können neue Facetten ihrer Vision entdecken. Sie können entdecken, was das wirklich Wertvolle ist, das sie erschaffen möchten, und zu ihren Idealen finden. Doch das eine ist das Erkennen der Vision, das andere ist, sie mit Energie aufzuladen, zu nähren und eine starke Intention aufzubauen. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Unsere Vision entdecken wir, ganz allgemein gesagt, durch alle Aktivitäten und Ereignisse, die uns selbst näherbringen. Im einfachsten Fall nehmen wir uns etwas Zeit und Ruhe und betrachten einmal sorgfältig alle Wünsche, die wir haben: Was wollen wir wirklich — beruflich, familiär, finanziell etc. — wo haben wir uns bisher zensiert, welche Wünsche haben wir verdrängt, weil wir ihre Erfüllung jenseits unserer Möglichkeiten sahen? Was sind die wirklich wesentlichen Wünsche, welche sind nur eingebildet oder nicht wichtig? Die zweiten legen wir endgültig ab, die ersten sind die Vision, die wir verwirklichen sollen. Um etwas tiefer zu gehen, versetzen wir uns in einen entspannten Zustand mittels autogenen Trainings oder einer ähnlichen Technik, die wir gelernt haben oder als angehende Visionäre — hoffentlich — noch lernen werden. Denn in diesem Zustand sind wir imaginativer (bildhafter) und offener für Intuitionen (plötzliche Eingebung). Wir gehen unsere Wünsche und die Wege durch, die wir einschlagen könnten, und stellen uns vor, wie es ist, wenn sie verwirklicht sind respektive wenn wir den einen oder anderen Weg beschreiten. Würden wir diese Zukunft tatsächlich nehmen, wenn wir sie bekämen? Löst sie bei uns ein gutes Gefühl aus? Stellen wir sie uns gerne vor? Können wir sie uns überhaupt vorstellen? Zieht sie uns an? Wollen wir sie unbedingt verwirklichen? Wenn ja, dann ist sie Teil unserer Vision. Zusätzlich sollten wir im entspannten Zustand einmal unserer Phantasie freien Lauf lassen und uns vorstellen, wie unser Leben und unsere Arbeit oder Firma einmal aussehen werden. Wir machen eine innere Reise in unsere Zukunft. Diese Reise wird uns wahrscheinlich latente Wünsche deutlich machen, die wir vorher nicht deutlich sahen oder nicht verbalisieren konnten. Wenn uns diese Reise in unseren Beruf führt, dann sehen wir uns vielleicht plötzlich mit vitaleren, unkompliziertere, optimistischeren und herzlicheren Menschen zusammenarbeiten, als sie heute um uns sind. Und das ist etwas, was uns möglicherweise vorher nicht so klar war. Die innere Reise durch die Zukunft macht uns deutlicher, was wir wirklich wollen. Wenn wir noch Fragen über unseren Weg haben und mehr Klarheit suchen, sollten wir uns, immer noch im entspannten, meditativen Zustand, eine Frage stellen: „Was ist meine Vision?” oder „Was sind meine Aufgaben?” Diese Frage sollte in uns einsickern und die tieferen und wissenderen Schichten unseres Bewusstseins erreichen. Wir stellen sie uns so bewusst, dass 644

wir die Frage nicht nur denken, sondern auch fühlen. Wir meditieren über diese Frage, das heißt, wir stellen sie uns einige Male innerlich bewusst und verbringen dabei und danach Zeit in Stille und Konzentration, die unseren Geist beruhigt und uns empfänglich für Eingebungen macht. Indem wir die Frage stellen, öffnen wir uns für die Antwort. Möglicherweise kommen uns dabei sofort Antworten in den Sinn. Vielleicht macht die Zeit der Stille uns deutlich, wo unsere eigentlichen Prioritäten liegen, wenn wir vor der Wahl zwischen Alternativen stehen. Oder wir erhalten die gewünschte Klarheit erst viel später, wenn wir unter der Dusche stehen oder spazieren gehen. Wenn wir eine noch intensivere Erfahrung suchen, können wir dem Rat von THOMAS CARLYLE, Goethes Freund in England, folgen: „Hüte deine Zunge für einen Tag! Am nächsten Tag sieh, wie viel klarer deine Ziele und Aufgaben sind. Was für ein Kehricht in dir ausgeräumt wurde.” Ein ganzer Tag Schweigen und Konzentration, das ist schon eine ordentliche Portion, die den meisten von uns unruhigen und kopflastigen Geistern viel abverlangen wird. Spätestens, wenn wir uns dem unterziehen, spüren wir deutlich, dass Visionssuche auch Heilung ist. Es ist ein Prozess, der uns in unsere Mitte führt und der uns Kraft und Energie gibt. Wir erfahren, dass wir mehr sein können, als wir heute sind. Wir entdecken also auch die Vision von dem, was wir als Mensch sein könnten. Noch intensivere Formen der Visionssuche wurden und werden seit Urzeiten von den Naturvölkern aller Kontinente in ähnlicher Form vollzogen, z.B. bei den Indianern Nordamerikas. Dabei begibt man sich für einige Tage und Nächte allein und ohne Essen in die Einsamkeit der Wildnis. Man stellt die Frage nach der Vision. Man wird still in der Stille der Natur. Wenn man schließlich zurückkommt, weiß man mehr als vorher. Man ist sich selbst nähergekommen. Und man ist voller Vitalität und erneuertem Vertrauen in sich selbst und das Leben. Die Visionssuche in der Wildnis mag uns aus der Sicht unserer Kultur sehr fremd vorkommen. Interessant ist jedoch, dass in den USA bereits einige Colleges und Universitäten „Visionsfasten in der Natur” in ihren Lehrplan aufgenommen haben. Und es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis die ersten unserer Großunternehmen Führungskräfte zur Visionsund Sinnsuche in die Einsamkeit der Wüsten Arizonas fliegen werden. Manchmal erleben wir Ereignisse, die uns unsere Vision zu Bewusstsein bringen und möglicherweise sogar unserem Leben eine Wende geben. Tragödien aller Art sind machtvolle Katalysatoren für das Bewusstwerden der Dinge, die wir in unserem Leben erschaffen wollen. Oder wir machen einfach eine Beobachtung, die uns tief bewegt. Jeden anderen lässt die gleiche Beobachtung vielleicht kalt, doch bei uns hinterlässt sie einen unauslöschlichen Eindruck in der Seele. KONOSUKE MATSUSHITA hat zwischen seinem dreißigsten und neunzigsten Lebensjahr ein Unternehmen mit 60 Milliarden Dollar Umsatz aufgebaut. Er selbst führt diese Leistung unter anderem auf das folgende Erlebnis zurück: „1932 beobachtete ich in Osaka einen Wanderer, der aus einer offenen Quelle trank. Mir kam plötzlich der Gedanke, dass es wundervoll wäre, wenn Konsumgüter so reichhaltig und billig verfügbar wären wie Wasser.” Dieses Erlebnis berührte ihn so tief, dass sie sich im Firmenlied von MATSUSHITA wiederfindet: „Wir senden unsere Produkte zu den Menschen der Welt, ewig und beständig wie Wasser, das sich aus einer Quelle ergießt.”

11.35.5 Basisliteratur ZUR

BONSEN, MATTHIAS (1994): Führen mit Visionen — der Weg zum ganzheitlichen Management. Wiesbaden, Verlag Dr. Th. Gabler GmbH 645

11.36 Werte — Lichtspiele von Bernd Friedrich Schon

Lichtspiele — trügerischer Schein oder Medien der Erleuchtung? Filmwissenschaft und Coaching Wie kann man sicherstellen, dass Massenmedien auch Werte übermitteln? — UMBERTO ECO Film ist die Wahrheit, 24-mal in der Sekunde — JEAN-LUC GODARD Immer wieder wurde das Kino mit der berühmten Grotte aus PLATONS Höhlengleichnis verglichen. Hierbei sollten die Zuschauer im Kinosessel Nachfahren der Höhlenbewohner sein, die an der Felswand tanzende Schattenbilder für Wirklichkeit halten, obwohl die Wahrheit doch außerhalb zu finden sei. Panzerkreuzer Potemkin (UdSSR 1925), der Klassiker des russischen Revolutionskinos, nur ein Potemkinsches Dorf? Die Wirklichkeitsillusion des bewegten Bildes ist seit dem Ursprung des Kinos das Faszinosum der filmischen Kunstform. Die Zuschauer des 50-sekündigen L’Arrivée d’un train à la Ciotat (1896) der Gebrüder LUMIÈRE sollen vor Schreck beinahe von ihren Stühlen gesprungen sein. Sie fürchteten, die herangleitende Dampflokomotive würde sie überrollen. Der Illusionskraft des Kinos haben über hundert Jahre Filmgeschichte kaum etwas anhaben können. Die Gefahr, die auf der Leinwand tanzenden Projektionen für wahr zu halten, besteht noch immer. Dem slowenischen Kulturkritiker SLAVOJ ŽIŽEK zufolge ist „das Kino der heutigen Zeit einer der wichtigsten Orte der Ideologievermittlung. Denn wir leben keineswegs in einem postideologischen Zeitalter, wie uns manche Leute glauben machen wollen.“ Heute verlange die Gesellschaft zwar nicht mehr „ein guter Soldat, ein guter Kommunist oder ein guter Christ zu sein. Die Botschaft ist ein vager, aufgeklärter Hedonismus: Versuche, wirklich du selbst zu sein! Erkenne deine Potenziale!“ Glauben wir ŽIŽEK, so lohnt sich eine profunde Analyse nicht allein des kräftig ideologisch eingefärbten Materials, wie etwa des russischen Revolutionskinos oder der NS-Propagandafilme LENI RIEFENSTAHLS, sondern auch eine Untersuchung der Pastellfarben von aktuellen filmischen Produktionen. Jeder Film bestätigt auf seine Weise Werte — seien es ethische, moralische oder ästhetische. Werte lassen sich als kulturell vorgeprägte, sinnstiftende Größen begreifen. Welche von ihnen im Laufe einer Filmhandlung triumphieren und die Akzentuierung dessen, was ein Film als erstrebenswert darstellt, lässt also auch Rückschlüsse auf den kulturellen Hintergrund des Films zu. Hollywoods Traumfabriken versorgen uns nach wie vor mit Filmen, die von der Freiheit des Individuums und seinem Streben nach Liebe, persönlichem Glück, Erfolg und Anerkennung erzählen und oftmals in ein Happy End münden. Hierzu werden möglichst universelle Themen verhandelt und häufig Strukturen von Märchen und Mythen verwendet, um auf einem globalen Markt Zuschauer zu finden. Beleg dafür ist The Writer’s Journey (1992), ein einflussreicher Leitfaden zum Drehbuchschreiben. Zur Konzeption seines Erzählmodells orientiert sich Hollywood-Dramaturg CHRISTOPHER VOGLER an den ethnologischen Forschungen JOSEPH CAMPBELLS. CAMPBELL hatte nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Erzählungen verschiedenster Völker geforscht. Aus zahllosen Mythen destillierte er das verbindende Grundmuster heraus: die Geschichte einer Heldenreise. Das mythische Schema gliedert sich in folgende Stationen:

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1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

Die gewohnte Welt Auftreten eines Mangels, der Ruf zum Abenteuer Weigerung des Helden Begegnung mit dem Mentor Überschreiten der ersten Schwelle Bewährungsproben, Begegnung mit Verbündeten und Feinden Vordringen in die tiefste Höhle Die entscheidende Prüfung Erringen des Elixiers, Belohnung des Helden Antritt des Rückwegs Tod und Auferstehung des Helden, Herausbilden seiner neuen Persönlichkeit Rückkehr mit dem Elixier

Es wird erkennbar, dass die Reise von der persönlichen Reifung eines Helden erzählt. Seine abenteuerliche Fahrt dient letztlich dem gesamten Kollektiv, aus dem er sich absondert, um ins Abenteuer aufzubrechen, und aus dem er verändert zurückkehrt. Der Ablauf seiner mythischen Expedition lässt sich als Analogie zu der „Reise“ lesen, auf die sich der Coachee begibt. Auch ihm stellt sich eine neue Herausforderung, die eine Entwicklung, eine Reifung von ihm verlangt, damit er — durch gezielte Problemanalyse und gesteigerte Kompetenzen — sein Ziel erreicht. Innerhalb der VOGLER’SCHEN Heldenreise beschreibt die Station „Begegnung mit dem Mentor” eine prototypische Lehrer-Schüler-Konstellation. Auch hierdurch wird sein Modell auch für das Coaching interessant. Laut VOGLER sei das Verhältnis des Helden zu einem Mentor eines der geläufigsten Themen des Films. Es stehe für die „starken Bande zwischen Eltern und Kind, Lehrer und Schüler, Arzt und Patient, Gottheit und Mensch.“ Die Begegnung mit dem Mentor bildet das Stadium der Reise des Helden, in dem der Protagonist Ausrüstung, Wissen und Selbstvertrauen gewinnt, ohne die er seine Furcht nicht überwinden, sich nicht auf das Abenteuer einlassen könnte. Der Mentor figuriert hierbei als Vorbild und Ratgeber, vermittelt dem Helden Kenntnisse und Fertigkeiten, stellt ihn auf die Probe und stattet ihn mit magischen Waffen oder Hilfsmitteln aus. Der Mentor kann vielerlei Gestalten annehmen: die des weisen alten Zauberers (Yoda in der Star-Wars-Reihe von GEORGE LUCAS), des hartgesottenen Ausbilders (Ein Offizier und ein Gentleman, 1982), eines Erfinders („Q“ in der James-Bond-Reihe) oder eines Kampfkunst-Meisters — ein Stereotyp, das im Hongkongkino etliche Male variiert wurde und in Kill Bill (2003, 2004) parodistisch zitiert wird. Selbstredend unterscheidet sich ein Mentor von einem Coach. Doch verwendet VOGLER den Begriff in einem sehr weiten Sinne, sodass sich durchaus Überschneidungen finden. Die Instanz des Mentors bringe die allgemeine Erfahrung zum Ausdruck, dass wir alle jemanden brauchen, von dem wir wichtige Lektionen über das Leben lernen können. Dennoch finde man alles, was man braucht, um eine Herausforderung in den Griff zu bekommen, in sich selbst. Dieser Ansatz ist dem eines Coach nicht unähnlich. Mentoren haben nach VOGLER die dramaturgische Funktion, Aufträge zu erteilen und die Geschichte in Gang zu bringen. Hier zeigt sich wieder ein Unterschied: Der Coach bietet Hilfe zur Steigerung der Selbstreflexion an, gibt aber niemals Lösungen vor. Im Gegensatz zum Coach, der ein Universalist ist, zeigt sich der Mentor in aller Regel versiert in einem spezifischen Fachgebiet. Der Schüler profitiert von seinen Kenntnissen und seiner Erfahrung. Der Mentor muss nicht eigens für seine Tätigkeit ausgebildet sein, sondern lediglich über einen Erfahrungs- oder Wissensvorsprung verfügen. VOGLER zufolge müsse er auch kein scharf umrissener Charakter sein. Möglich sei auch das Auftreten „innerer Mentoren“, etwa eines abstrakten Moralkodex. Die Begegnung mit dem Mentor birgt für den Helden oftmals Quellen der Weisheit. Mentoren treten als Bindeglieder zwischen den Menschen und höheren Mächten der Natur oder des Alls auf. Erinnert sei an die ungewöhnliche Gestalt des Orakels in The Matrix (1999): eine gemütliche, Plätzchen ba647

ckende Afroamerikanerin, die Einsicht in die Zukunft hat. Nur scheinbar enttäuscht sie den Helden, um ihn zu Größerem herauszufordern. Über dem Eingang zu ihrer Küche findet sich nicht zufällig die Aufschrift „Erkenne dich selbst.“ Ähnlich wie der Coach sieht sie es offenbar als ihre Aufgabe, ihren Coachee zu befähigen, Erkenntnisse über die eigenen Motive, Ziele, Fertigkeiten, Stärken, aber auch Grenzen zu gewinnen, ohne ihn durch vorgefertigte Lösungswege einzuschränken. Wir sprachen von der Gefahr der Täuschung, der manipulativen Kraft des Kinos. Das Auftreten wohlmeinender Mentoren im Kino belegt nicht, dass der Film uns wahrhaftig Weisheit lehrt oder dass er tatsächlich die wahren Werte vermittelt. Es wurde bereits angedeutet, dass das Kino oftmals zum Instrument zweifelhafter Interessen verkam. Einige Filmemacher verstehen sich als Aufklärer. Sie entlarven im Laufe der Handlung die dunklen Motive trügerischer Mentoren: von Verführern, Hochstaplern, Gestaltwandlern, Betrügern und Trickstern. In zahlreichen Thrillern treten wohlmeinende Helfer auf, entpuppen sich dann aber als Bösewichte. Der kultivierte Kannibale Hannibal Lecter hilft der FBIAgentin Starling in Das Schweigen der Lämmer (1991) zwar bei ihrer Jagd auf einen psychotischen Serienmörder, verkörpert aber auch die Abgründe der menschlichen Natur. Der Ausbilder in Full Metal Jacket (1987) bereitet seine Schützlinge völlig unzureichend auf ihren fragwürdigen Einsatz im Vietnamkrieg vor. Das Auftreten solcher Gestalten will uns lehren, nicht jedem Mentor blindlings zu vertrauen. Enttarnt wird teils sogar das manipulative Potenzial des filmischen Mediums selbst, etwa wenn der Protagonist Alex DeLarge in A Clockwork Orange (1971) eine gewaltsame Gehirnwäsche durchläuft — bei der er ausgerechnet zum Ansehen von Filmen gezwungen wird. PLATON wäre die Demaskierung übelwollender Mentoren ebenso wie filmimmanente Medienkritik wohl dennoch wie Heuchelei vorgekommen. Wie sollte es aufklärerische Momente ausgerechnet in einem Medium geben, das auf der Täuschung des Auges basiert? Die Filmwissenschaft kann dazu dienen, die filmische Illusion auf ihre subtile Einflussnahme und ihre klandestinen Wirkungsabsichten hin zu überprüfen. Die Disziplin taugt aber nicht allein als Schutzmantel, der gegen manipulative Attacken abschirmt. Filmwissenschaftler halten im Allgemeinen wohl weniger von der platonischen Skepsis als von der aristotelischen Antwort auf sie. PLATON wollte — nachzulesen in seiner Politeia — die Künstler aus seinem idealen Staat verbannen. Er fürchtete, sie könnten die kühle Vernunft durch das Aufwühlen der Emotionen trüben. ARISTOTELES sah demgegenüber in der Kunst ein Heilmittel und sprach ihr die Fähigkeit zur kathartischen Läuterung der Affekte zu. Er verstand die Tragödie als Gegengift, sah in ihr sogar ein Erkenntnis stiftendes Potential: das Drama kläre durch beispielhaftes Probehandeln auf, spiele Rollen- und Konfliktmodelle durch, verdichte Erfahrungen und lehre hierdurch Weisheit. Ob der Held scheitert oder triumphiert — und wie dies dargestellt wird —, hängt nicht zuletzt von den Wertesystemen ab, die in einem Film verhandelt werden. Die filmische Handlung entwirft eine Art heuristisches Modell, eine gleichnishafte Miniatur der Welt. Durch die Darstellung der Folgen, die das Erstreben dieses oder jenes Wertes zeitigt — und durch die Haltung, mit der die Kamera dem Scheitern oder der Apotheose des Protagonisten gegenübertritt, werden Sinngebungen bestätigt oder verworfen. Definiert man „Wert” als eine Größe, die bleibende Geltung für sich beanspruchen darf, lässt sich Filmgeschichte auch als Sinnstiftungs-Laboratorium begreifen: Filme experimentieren mit Sinngehalten, erproben mögliche Geltungsgrößen, lassen Werte im Wettstreit gegeneinander antreten. Und sie stellen dar, wie neue Sinngebungen alte Normsysteme ablösen. Betrachtet man das Geflecht der Kinematographien der Welt, so treten auch die unterschiedlichen Wertgewichtungen der verschiedenen Kulturen konturiert hervor. Der Widerstreit zwischen der skizzierten platonischen Skepsis und der aristotelischen Affirmation — Kunst als verwirrender Schein oder als Erkenntnis stiftendes Mittel zur Läuterung der Affekte — schreibt sich bis heute fort. Dies zeigt sich etwa bei der Diskussion von Gewaltdarstellungen im Film. Verwirrt der filmische Schein oder klärt er durch die Darstellung folgenreichen Handelns auf? Kann 648

ein Trugbild überhaupt sinnvoll etwas über die Wirklichkeit lehren? Ist Film triviale Unterhaltung oder gar Realitätsflucht? Welchen Nutzen hat die wissenschaftliche Beschäftigung mit Filmen für die eigene Persönlichkeitsentwicklung? Diese Fragen beschäftigen auch die Filmwissenschaft. Für sie ist aber das Erkenntnisinteresse zentral, das begreifen will, was uns ergreift. Typische Fragen der Disziplin richten sich daher auf einzelne Gestaltungselemente, auf den Kamerastil oder die Perspektive, Montagestrategien, Motive und Figurenkonstellationen, die räumliche Gestaltung, den Schauspielstil, die Lichtästhetik, den Umgang mit Farbe, dramaturgische Strategien und Rollenprofile. Sie untersucht Individual-, Epochen- und Gattungsstile sowie Genrekonventionen, erörtert weiterhin Fragen der Kanonbildung, konzipiert Theorie- und Analysemodelle. Darüber hinaus wird gefragt, wie bestimmte Theorien und Ideen, Weltanschauungen, Werte und Programmatiken in Filmen verhandelt werden, wie Kinematographie also gesellschaftliche Wirklichkeit ausdrückt und gestaltet. Filmwissenschaftliche Forschung gliedert sich in Filmgeschichte, Filmtheorie und Filmanalyse. Wie jede Kunstwissenschaft fördert sie eigene Fragestellungen und selbstständige Thesenbildung. Sie vermittelt Kompetenzen zur Analyse, zur Kritik und Reflexion sowie Recherchefähigkeiten, befähigt zur kritischen Informationsbewertung. Sie schärft die Sinne und forciert nicht zuletzt die kritische Selbstbefragung: Was will ich begreifen? Was empfinde ich als schön oder interessant — und warum? Sind meine Annahmen intersubjektiv gültig? Kritisiert wurde die filmwissenschaftliche Disziplin immer wieder mit dem Trivialitätsverdacht gegenüber ihrem Gegenstand, schon seit der Frühzeit des Kinos. Da der Film von den meisten Produzenten in erster Linie als kommerzielles Produkt verstanden wurde — und mindestens seine zumeist enormen Produktionskosten einspielen sollte — zeigten sie sich oftmals (werte)konservativ, vermieden Experimente und griffen immer wieder zu Altbewährtem. Warum aber sollte die Analyse eines Massenprodukts nicht lohnendes Ziel wissenschaftlicher Forschung sein? Vielmehr zeigt die Popularität des Gegenstands, dass er für eine große Gruppe von Menschen Bedeutung hat. Die trivialen Genres verraten am deutlichsten kollektive Ängste und Sehnsüchte, gerade sie lassen die Verfasstheit einer breiten Rezeptionsgemeinschaft erschließen. Versteht man Filme als Symptome einer gesellschaftlichen Stimmungslage, so ist vor allem der populäre Film ein lohnendes Forschungsobjekt. Und nicht nur das. Der Trivialitätsverdacht erwies sich immer wieder als unbegründet, denn das Publikum reagierte oftmals unberechenbar und zog das kühne Experiment dem Gewohnten und Gewöhnlichen vor. Ursprünge der Filmwissenschaft finden sich in Europa bereits ab den 1910er Jahren. Frühe Filmtheoretiker versuchten, dem noch jungen Film einen gleichwertigen Rang neben den etablierten Kunstformen — Malerei, Literatur, Musik und Theater — einzuräumen. Die frühen Filmtheorien gebärden sich intuitiv-tastend oder normativ-systematisch. RUDOLF ARNHEIM (1904-2007) postulierte — mit Rekurs auf die Gestaltpsychologie — den Film als Kunst (1932). BELA BALÁZS verstand das Kino einerseits als Geburtsstätte einer neuen visuellen Kultur (Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, 1924), andererseits als eine auf den Kleinbürger zugeschnittene Kunstform (Der Geist des Films, 1930). SIEGFRIED KRACAUER sah das Kino als Ort sozialromantischer Verklärung an. Er legte eine bedeutende sozialpsychologische Studie zum Kino vor (From Caligari to Hitler, 1947). In seiner Theorie des Films (1960) erhob er den realistischen Film zur ästhetischen Norm. Betrachtet man die frühen Filmtheorien, entdeckt man eine Kluft zwischen praktischer Filmarbeit und theoretischem Nachdenken über den Film. Der russische Regisseur SERGEJ EISENSTEIN (1898-1948) überbrückte den Graben, indem er sich der empirischen Erforschung filmischer Funktionsweisen widmete. Die klassische Frage der Filmtheorie lautet seither, wie Film funktioniert, aber auch, welche kognitiven und emotionalen Prozesse er im Betrachter auslöst. Für EISENSTEIN war das wichtigste filmstilistische Mittel die Montage, die er eingehend untersuchte. Die russischen Formalisten (EJCHENBAUM, TYNJANOV, Š KLOVSKIJ) fragten nach dem sprachlichen Status des Films und nach seinen kommunikativen Verfahren. 1948 649

wurde an der Pariser Sorbonne die École de Filmologie eingerichtet, die vornehmlich soziologische und psychologische Methoden auf die Filmanalyse übertrug. In Frankreich widmete sich zudem die Zeitschrift Cahiers du cinéma der Untersuchung von Filmgattungen, Filmgenres sowie besonderer ästhetischer Strategien. Das Magazin war maßgeblich an der Entwicklung der Auteur-Theorie beteiligt, die denjenigen Filmschaffenden favorisierte, der einen originären und wiedererkennbaren Individualstil entwickelt. Der Auteur-Theorie verdankt der Regisseur noch heute seine herausragende Stellung in der öffentlichen Wahrnehmung. In den 1960er-Jahren zerlegte UMBERTO ECO den Film in seine Einzelteile, um die Gesamtwirkung eines Films anhand der Kombination seiner Elemente nachzuvollziehen. Für ihn war die einzelne Kameraeinstellung, deren Komposition er eingehend untersuchte, die kleinste Baueinheit der filmischen Ausdrucksweise. Großes Interesse fand die von CHRISTIAN METZ vorgelegte Studie Semiologie des Films (1972), der Entwurf einer Grammatik der filmischen „Schreibweise“. ECO und METZ setzten das von den Formalisten begonnene Werk fort, indem sie aus der Linguistik entlehnte Methoden anwendeten, um filmische Verfahren exakt zu beschreiben. Es zeigte sich aber rasch, dass die Übertragung linguistischer Modelle auf den Film ihre Grenzen hat. Der Film „spricht“ simultan über mehrere — auditive und visuelle — Kanäle und erreicht die Sensibilität seiner Zuschauer auf unmittelbarere Weise als die Sprache. Seine „grammatische“ Struktur ist zudem weitaus loser als die der tradierten Sprachsysteme. Mit der sich entwickelnden Vormachtstellung Hollywoods wurde das Kino als mythenbildende Institution analysiert. Filme aus der „Traumfabrik” schienen Phantasietätigkeit lediglich als Mittel zu entlastendem Eskapismus und zur Sanktionierung systemkonformen Verhaltens zuzulassen. Der sich entwickelnde psychoanalytische Ansatz erkannte im Filmerlebnis eine regressiv-lustvolle Funktion und zog Parallelen zur Traumwahrnehmung. Folgerichtig nähert sich die Disziplin dem Film seither mit dem Instrumentarium der tiefenpsychologischen Traumforschung an. Die psychoanalytische Methode bereicherte die Filmwissenschaft um Konzepte zur Erklärung der Identifikations- und Aneignungsvorgänge der Zuschauer. Feministische Theoretikerinnen gaben der Freud’schen Psychoanalyse eine interessante Wendung: Sie gebrauchten sie als Mittel zur Kritik an den patriarchalen Strukturen des Hollywoodkinos. LAURA MULVEY ging von einer Einschreibung eines spezifisch männlichen Blicks in den Film aus, einhergehend mit einer Ausblendung weiblicher Wahrnehmungsstrukturen. Die Folge sei, dass auch Frauen erlernten, sich selbst mit dem körperlos gewordenen „männlichen Blick“ der Kamera zu betrachten. „Gender studies“ analysieren das Geschlecht als eine soziale Größe, die sich — so JUDITH BUTLER — in performativer Anpassung stetig aktualisiert und wandelt. Sie erforschen das Spannungsfeld zwischen biologischem Körper und sozial determinierten Rollenmodellen. Immer wichtiger wurde neben den älteren Konzepten (Film als Kunst, Film als Sprache) das Verstehen des Ineinanders von Filmherstellung, filmischer Technik, Verbreitung und Mitwirkung des Zuschauers beim Rezeptionsprozess. Hervorgegangen aus den Literaturwissenschaften, Kommunikationswissenschaften und der Publizistik entwickelt sich eine breiter aufgestellte Medienwissenschaft, die verstärkt das Fernsehen und andere Medien behandelt, sich zunehmend benachbarter Disziplinen bedient und die vielfältigen intermedialen Bezüge zwischen Film, Theater, Literatur, Musik, Tanz, den bildenden Künsten, aber auch der Populärkultur in den Blick nimmt. Der Neoformalismus, als Vertreter seien DAVID BORDWELL und KRISTIN THOMPSON genannt, knüpft an Ansätze der russischen Formalisten an und entwickelt eine kognitiv orientierte Filmtheorie mit rezeptionsästhetischen Anleihen. Entworfen wird hierbei eine Geschichte der filmischen Stile. Der interdisziplinäre Ansatz der Filmwissenschaft bezieht neuerdings auch die Neurowissenschaften zum umfassenderen Verständnis des Filmerlebens mit ein. Es wird ersichtlich, dass sich die filmwissenschaftliche Disziplin stetig wandelt. Dem Forschenden verleiht sie eine Reihe wichtiger Kompetenzen: Sie schult die Wahrnehmung, vermittelt ästhetischen 650

Sachverstand, fördert die Sensibilität und schärft den Blick für geschichtliche und gesellschaftliche Zusammenhänge. Anwendungsfelder der filmwissenschaftlichen Disziplin finden sich im musealen Bereich, der Filmkritik und dem Journalismus, der Filmpraxis, der Filmförderung sowie der Medienpädagogik. Dem Coach kann die Filmwissenschaft wichtige Impulse beim Verständnis von sozialen Rollen und Konflikten, habituellen Skripten und Deutungsrahmen, dem Anteil des Imaginären bei der Konstruktion von Wirklichkeit und darüber hinaus zahllose Anschauungsbeispiele liefern.

11.36.1 Basisliteratur FAULSTICH WERNER (1994): Einführung in die Filmanalyse. Tübingen HICKETHIER KNUT (2001): Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart MONACO, JAMES (1996): Film verstehen. Reinbek KOEBNER, THOMAS (Hrsg.) (2002): Filmklassiker. 4 Bände. Stuttgart ALBERSMEIER, FRANZ-JOSEF (Hrsg.) (2003): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart

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11.37 Wissenschaftstheorie von Maike Tesch

11.37.1 Anfänge/Ursprünge/Quellen der Wissenschaftsdisziplin Wissenschaftstheorie beschäftigt sich mit dem Wissenschaftsverständnis unseres Kulturkreises und ist inhaltlich eng verbunden mit Wissenschaftsgeschichte und Technikphilosophie. Was als Wissenschaft bezeichnet werden darf, und somit gemeinhin als besonders zuverlässig und anerkannt gilt, hat sich im Laufe der Jahrhunderte gewandelt und unterliegt auch heute unterschiedlichen kulturellen Verständnissen. Die Anfänge der Wissenschaftstheorie liegen letztendlich gleichzeitig mit den Anfängen der Wissenschaft. Die Reflexion der Erkenntnisprozesse war mit der Suche nach Erkenntnis untrennbar verbunden. Die Anfänge liegen also dort, wo wir nach unserem heutigen Verständnis „Wissenschaft“ erstmalig auffinden können: in der abendländischen Wissenschaftskultur der griechischen Antike. Abgesehen von den „Vorsokratikern“, werden SOKRATES (470-399 v.Chr.) und PLATON (427-347 v.Chr.) als die Väter abendländischer wissenschaftlicher Kultur genannt. Aus heutiger Sicht werden sie als Philosophen bezeichnet, doch eine derartige Unterteilung von Wissenschaften in Philosophie, Naturwissenschaften oder Religionswissenschaften, wie sie heute existiert, gab es in der Antike nicht. Unterschieden wurden epistéme (ἐπιστήµη) und téchne (τέχνη), also Wissen und technische Kunst. Die Suche nach Erkenntnis basierte bei SOKRATES, PLATON und ebenso PLATONS Schüler ARISTOTELES (384-322 v.Chr.) auf der metaphysischen Perspektive, also einer Ebene jenseits der Sinneswahrnehmungen. Besonders zum Ausdruck kommt dies in der Platonschen Ideenlehre. Astronomie und Mathematik der Antike werden im ersten Jahrtausend im arabischen Kulturkreis überliefert und weiterentwickelt. Diese Erkenntnisse werden in den mittelalterlichen Klöstern aufgenommen, in denen die Scholastik ihre Blütezeit hat. Eine aus wissenschaftstheoretischer Sicht bedeutsame Entwicklung ergibt sich nach 1500 n.Chr. mit der sogenannten Kopernikanischen Wende, welche durch die Arbeiten der Astronomen KOPERNIKUS (1473-1543), BRAHE (1546-1601), GALILEI (15641642) und KEPLER (1571-1630) geprägt ist. Heute wird in diesem Zusammenhang vor allem die Einführung der empirischen Methodik hervorgehoben, doch die Astronomen waren ebenso zuständig für die Erstellung von Horoskopen, ein aus heutiger Sicht nur schwer zu interpretierendes Faktum. Bekannt ist der Streit GALILEIS mit der Kirche um die Deutungsmacht der Geschehnisse am Himmel. Es zeigt sich hier, dass zwei Autoritäten — die Wissenschaft und die Kirche — um Machtansprüche ringen. Dabei wird von Seiten des Empirismus konstatiert, dass sich die Kirche auf Dogmen berufe, während die Wissenschaft anhand einer unvoreingenommenen Beobachtung Tatsachen hervorbringe, deren Wahrheitsanspruch nicht infrage gestellt werden könne. Der Empirismus schränkt die Wissenschaft auf die Sinneserfahrungen und logischen Schlussfolgerungen daraus ein. Es wird hierin ein Heilsversprechen gesehen, welches FRANCIS BACON (1561-1626) in der Utopie Neu-Atlantis formuliert hat. Er führt darin aus, wie die in seinem Werk Novum Organon beschriebene „neue“ Wissenschaft vorgeht und auf die Gesellschaft wirkt. Dennoch hat er eine zutiefst christliche Verwurzelung. Er vertritt zwar eine Wissenschaft, die den Dogmen der Kirche zuwiderläuft und ihre absolute Autorität relativiert, nicht jedoch den christlichen Glauben, die göttliche Autorität CHRISTI. So bleibt ein transzendentes Element erhalten, wird aber außerhalb der Wissenschaft gestellt. Weitreichende naturwissenschaftliche Erkenntnisse und technische Erfindungen lösen auf der gesellschaftlichen Ebene im 18. und 19. Jahrhundert die industrielle Revolution aus. Experimente und empi652

rische Untersuchungen spielen bei der Beschreibung der diesen Entwicklungen zugrunde liegenden empirischen Methode eine außerordentlich wichtige Rolle. Trotzdem bleibt fraglich, wie genau Erkenntnisse zustande kommen, welche Bezüge es zwischen theoretischen Überlegungen und Beobachtungen gibt und ob es eine transzendente Ebene gibt. Damit beschäftigt sich die moderne Disziplin Wissenschaftstheorie, welche zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufblüht. Zeitlich parallel kommt es zu bahnbrechenden Umwälzungen in der Quantenphysik und Relativitätstheorie, welche die Grundlagen der Erkenntnistheorie relativieren und vor neue Herausforderungen stellen.

11.37.2 Entwicklung und bedeutende Richtungen der Wissenschaftsdisziplin und deren Vertreter Der Empirismus, wie er im Wiener Kreis28 in den 1930er-Jahren diskutiert wurde, bietet eine auf der Logik basierende strukturelle Erklärung erfahrungsbasierter Forschung und wird in einer Variante auch als Positivismus bezeichnet. Dabei wird alles Metaphysische, das heißt, hier über direkte Sinneserfahrungen hinausgehende, zurückgewiesen, die Person des Forschenden ausgeklammert (objektiver Beobachter) und die Sinneswahrnehmung, bzw. Aussagen über Erfahrungen, als einzig existierender Untersuchungsgegenstand definiert. Im Zentrum dieser Sichtweise steht eine induktive Vorstellung vom Experimentieren. Das Experiment wird zu „der“ empirischen Methode stilisiert und hat als Funktion die Verifikation, also die direkte experimentelle Bestätigung von Sachverhalten. Hier wird ein wichtiges Grundprinzip für mathematische Beweise (Induktion) auf erfahrungsbasierte Aussagen übertragen. Das Vorgehen wird für die Philosophie als strukturelles Vorbild genommen und im Logischen Empirismus bzw. Positivismus entsprechend ausformuliert. Die Bedeutung der Logik für den Erkenntnisprozess wird besonders hervorgehoben. Hier zeigt sich, dass die Philosophie und die Naturwissenschaften im Gegensatz zur Antike eigenständige Disziplinen sind, die jedoch konzeptuell durchaus voneinander profitieren. POPPER (1902-1994) weist die Möglichkeit einer direkten Verifikation von Aussagen zurück und schlägt stattdessen das Konzept des Falsifikationismus vor. Demnach ist es möglich, Aussagen durch beobachtete Gegenbeispiele zu widerlegen, nicht jedoch, Aussagen durch einzelne, beobachtete Beispiele für allgemein gültig zu erklären. Er wendet hier ein logisches Grundprinzip zur Beweisführung (Widerlegung von Allaussagen) auf das Gebiet der erfahrungsbasierten Aussagen an. Den beschriebenen Sichtweisen ist gemein, dass sie verbindlich festlegen, was als Wissenschaft gelten darf und was nicht. Wissenschaftlichkeit wird hierbei wesentlich über die zugrunde liegende Methode definiert. Zusammenfassend spricht man von der Standardkonzeption, welche in strikter Entgegnung zur Metaphysik und zu sogenannten Pseudowissenschaften normativ vorgibt, dass Wissenschaften objektiv und wertfrei mithilfe der oben beschriebenen Methode ihre Wissensbestände stetig erweitern sollen. KUHN (1922-1996) hat mit der Paradigmentheorie die Vorstellung eines gleichmäßig und stetig wachsenden Wissensbestandes abgelöst und die Rolle der Forschenden im Erkenntnisprozess stärker in den Fokus gerückt. Er analysiert und beschreibt historische Fälle und leitet daraus ab, dass konkurrierende wissenschaftliche Theorien unvereinbar sein können, weil sie auf völlig verschiedenen Grundannahmen (Paradigmen) beruhen. Deshalb können hier kein Experiment und keine Argumentation zu einer Klärung führen. Er geht davon aus, dass „alte“ Theorien in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft (scientific community) mit ihren Vertretern im wahrsten Sinne des Wortes aussterben. Solche Paradigmenwechsel findet man zum Beispiel während der Kopernikanischen Wende oder dem Wechsel von der 28

Moritz Schlick, Rudolf Carnap, Otto Neurath, Herbert Feigl, Philipp Frank, Victor Kraft, Friedrich Waismann, Hans Hahn, Karl Menger, Kurt Gödel, Edgar Zilsel; als Gäste u.a. Hans Reichenbach, Karl Popper, Alfred Tarski, Williard Van Orman Quine, Alfred Jules Ayre 653

klassischen zur Quanten-Physik. Hier wird nicht weiter Wissen angehäuft, sondern auf der Basis von völlig neuen Grundannahmen bereits Bekanntes neu interpretiert und anders verstanden. LAKATOS (1922-1996) erweitert hingegen den Popperschen Falsifikationismus, indem er nicht annimmt, dass einzelne Experimente über Theorien befinden, sondern ganze Forschungsvorhaben über groß angelegte Forschungsprogramme. Gemeinsam mit KUHN hat er die Sichtweise, dass die Wissenschaftlergemeinschaft und ihre Protagonisten als Persönlichkeiten wesentlich in den oben formulierten abstrakten objektiven Erkenntnisprozess eingreifen, bleibt jedoch bei einer rational basierten Interpretation von Erkenntnisprozessen. FEYERABEND (1924-1994) legt provokativ eine anarchistische Erkenntnistheorie vor und hält es für nahezu unmöglich, allgemein gültige Erkenntnisregeln aufzustellen. Er zeigt, wie sehr Wissen von Autoritäten abhängt und warnt vor einer Überhöhung der empirischen Methode. Ein gemeinsamer Aspekt der post-positivistischen Wissenschaftstheorien ist die soziologische und historische Perspektive. Es wird deutlich, dass es „die“ wissenschaftliche Methode gar nicht gibt, dass nicht nur rationale Aspekte im wissenschaftlichen Diskurs eine Rolle spielen und dass Wissen nicht enzyklopädisch zu einem vollständigen Kanon angehäuft wird. Im Bayesianismus wird ein mathematisches Theorem von BAYES über die Berechnung von bedingten Wahrscheinlichkeiten als Deutungsmuster für wissenschaftliche Fortschritte durch neue Befunde verwendet. Im subjektiven Bayesianismus werden theoretischen Hypothesen subjektive Überzeugungsgrade von Forschenden zugewiesen und berechnet, wie sich diese im Lichte von neuen Befunden verändern. Durch diese Anwendung kann man verstehen, warum in Aussagengefügen bestimmte Aussagen eher verworfen werden als andere (DUHEM-QUINE-These). Dieser Umgang mit Aussagengefügen ist bei LAKATOS und KUHN ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal. Kritisiert wird beim Bayesianismus allerdings, dass die Herkunft der Hypothesen nicht erklärt wird, sondern ausschließlich deren Veränderung. Der Neue Experimentalismus bezeichnet seit den 1980er-Jahren eine gemäßigte Sichtweise auf die post-modernen Theorien. Extreme Standpunkte über eine rein theoriebasierte Wissenschaft mit fast bedeutungsloser experimenteller Tätigkeit werden zurückgewiesen, jedoch nicht abgeschafft, sondern in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht. Weitgehend theorieneutrale experimentelle Effekte, wie beispielsweise FARADAYS Elektromotor, veranschaulichen die Bedeutsamkeit experimentellen Arbeitens. Entgegen KUHNS Thesen können demnach auch experimentelle Befunde wissenschaftliche Revolutionen auslösen. Dies wird beispielhaft belegt mit der Entdeckung der Schwarzkörperstrahlung, dem photoelektrischen Effekt und dem radioaktiven Zerfall. Besonders MAYO streitet für eine ausgewogene Sichtweise auf experimentelle und theoretische Beiträge in der Wissenschaft. Sie zeigt, dass kumulativer Wissenserwerb durch neutrale experimentelle Effekte stattfinden kann und eine gewisse Bedeutung im Forschungsprozess hat. Ungeklärt ist in stark theorielastigen Ansätzen auch die Rolle von technischen Erfindungen, welche die weitere Forschung wegweisend beeinflussen und die Gesellschaft so stark verändern, dass ganz neue Wissenschaftszweige mit eigenen Methoden entstehen.

11.37.3 Typische Fragestellungen in der Wissenschaftsdisziplin Eine zentrale Frage der Wissenschaftstheorie ist, welche Gebiete als Wissenschaft bezeichnet bzw. ausgezeichnet werden dürfen. Dabei gilt es, Wissenschaften von anderen Formen menschlichen Denkens und Handelns abzugrenzen, gerade von sogenannten Pseudowissenschaften, die sich das Etikett „Wissenschaft“ zur Erhöhung ihrer Glaubwürdigkeit selbst verleihen. Hierbei geht es beispielsweise um die Unterscheidung von Astronomie und Astrologie nach den jeweiligen wissenschaftstheoreti654

schen Standpunkten. Beispielsweise kann man sich überlegen, dass falsche Vorhersagen in der Astronomie zu einer Weiterentwicklung der Theorien und zu neuen experimentellen Untersuchungen führen können, in der Astrologie jedoch falsche Ergebnisse nicht zu einer Veränderung ihrer Grundlagen führen. Nach positivistischer Sichtweise würde man der Astrologie jegliche Existenzberechtigung absprechen, nach post-modernen Sichtweisen würde man lediglich feststellen, dass die Astrologie keine moderne Wissenschaft ist. FEYERABEND würde vermutlich selbst dies im Rahmen seiner anarchistischen Erkenntnistheorie widerlegen können. Die oben genannte Frage ist eng verbunden mit der nach den Methoden von Wissenschaften, insbesondere nach der Rolle von sinnlichen Wahrnehmungen und theoretischen Schlüssen. Das Verhältnis von Experiment und Theorie zueinander ist ein Streitpunkt zwischen aktuellen konkurrierenden Sichtweisen. In der Wissenschaftsgeschichte und Technikphilosophie spielen der Wandel der Wissenschaften und die gegenseitige Beeinflussung von Wissenschaft und Gesellschaft über technische Entwicklungen eine große Rolle.

11.37.4 Typische Axiome/Theoreme in dieser Wissenschaftsdisziplin Eine wesentliche Grundlage der Wissenschaftstheorie ist die Logik. Das induktive und das deduktive Prinzip gelten je nach wissenschaftstheoretischer Richtung in verschiedenen Ausprägungen und Deutungen. Wie oben erläutert, gibt es wichtige Konzepte: Falsifikationismus, Paradigmentheorie, Bayesianismus. Je nach Deutung sind diese als Axiome oder Theoreme zu bezeichnen. Abgesehen von der Logik gibt es m.E. keine echten Axiome oder Theoreme, wie man sie beispielsweise in der Mathematik definieren kann. Die Gültigkeit der jeweiligen Definitionen und abgeleiteten Aussagen innerhalb von wissenschaftstheoretischen Konzepten wird durch konkurrierende Sichtweisen infrage gestellt.

11.37.5 Typische Deutungsmuster in der Wissenschaftsdisziplin (Analyse- und Lösungsstrategien) Es gibt deskriptiv beschreibende und präskriptiv normgebende Wissenschaftstheorien. Je nach Richtung sind die Analyse- und Lösungsstrategien verschieden. Präskriptiv normgebende Richtungen beschäftigen sich mit der Definition und Beschreibung gültiger wissenschaftlicher Methoden. Naturwissenschaftliche Methoden (Empirische Methode) oder mathematische Grundregeln (z.B. Induktion, Theorem von BAYES) werden dabei auch im Zusammenhang wissenschaftstheoretischer Analysen verwendet. Deskriptive Richtungen zeichnen sich durch historische oder soziologische Fallstudien aus. Dabei ist auffällig, dass es sich meistens um Fallstudien über Physiker handelt. Wichtige Personen sind beispielsweise GALILEI, NEWTON, BOYLE, FARADAY, MAXWELL, PLANCK, HEISENBERG und EINSTEIN. Wenige soziologische Analysen beschäftigen sich mit gegenwärtiger Forschungspraxis. Als Teilgebiet der Philosophie beruht die Wissenschaftstheorie auf deren Erkenntnismethoden. Einflüsse kommen auch aus der Systemtheorie, Kybernetik, Quantentheorie bzw. Komplementaritätstheorie. Im Bereich der Wissenschaftsgeschichte spielen die Methoden der Historiker eine wichtige Rolle. Ein Ansatz ist beispielsweise der originalgetreue Nachbau historischer Experimente, um Rückschlüsse auf die Forschungsprozesse zu erhalten. In der Technikphilosophie sind auch politische und soziologische Analysen von Bedeutung.

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11.37.6 Typische Anwendungsfelder dieser Wissenschaftsdisziplin Anwendungen können eine ganz unterschiedliche Natur haben. Beispielweise kann man naturwissenschaftliche Gesetze nutzen, um eine praktische Anwendung für den Alltag zu erfinden, z.B. einen Motor. In diesem Sinne gibt es kaum Anwendungsmöglichkeiten der Wissenschaftstheorie. Weiterhin kann man Erkenntnisse innerhalb der Wissenschaft auf andere Bereiche oder auf verwandte Wissenschaften übertragen. M.E. geht man in der Wissenschaftstheorie eher andersherum vor: Man nutzt Konzepte anderer Wissenschaften und passt sie dem eigenen Gegenstandsbereich an. Wissenschaftstheorie kann durch detaillierte historische Analysen auch mit Mythen aufräumen. In der Physik gibt es beispielsweise eine Tendenz zu Heldengeschichten, die oft genug revidiert werden müssen (z.B. MILLIKANS-Versuch zur Bestimmung der Elementarladung). Wissenschaftstheorie ist eine Reflexion und Diskussion wissenschaftlicher Praxis. Sie spielt für alle, die selbst Wissenschaft betreiben und ihr Handeln besser verstehen wollen oder müssen, eine wichtige Rolle. Wissenschaft ist ein Teil gesellschaftlichen Handelns. Überhöhte Ansprüche von wissenschaftlich Forschenden oder an diese können durch wissenschaftstheoretische Argumente zurückgewiesen werden. Grundkenntnisse post-moderner Wissenschaftstheorien können dem weitverbreiteten Glauben an induktivistische Prinzipien oder allgemeiner Wissenschaftsgläubigkeit, aber auch Wissenschaftsfeindlichkeit oder gedankenloser Hingabe an Pseudowissenschaften entgegenwirken. Auf wissenschaftlichen Evidenzen basiertes Handeln ist in unserer Gesellschaft auch ein Qualitätsmerkmal politischen Handelns geworden. Inwieweit dies angemessen ist und was als Evidenz gilt, ist wiederum eine Frage der Wissenschaftstheorie. Exzesse der modernen Technologie- und Wissenschaftsgesellschaft, die in der Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen zu münden drohen, zeigen, dass die oben erwähnte Utopie BACONS ein unerfüllter Wunsch geblieben ist. Die wissenschaftliche Erkenntnis im Dienste der Menschheit, der Humanität, bleibt auch im 21. Jahrhundert eine Utopie.

11.37.7 Typische Kritik an der Wissenschaftsdisziplin Innerhalb der Wissenschaftstheorie gibt es entschiedene Kritik untereinander für konkurrierende Modelle. FEYERABEND stellte mit seiner anarchistischen Erkenntnistheorie grundlegende Konzepte infrage. Doch auch vonseiten der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gibt es harsche Kritik, da man seine Geltungsansprüche gefährdet sieht. Die Auswahl von Fällen für Fallstudien kann ein einseitiges und eingeschränktes Bild der Wissenschaften fördern. Auffällig ist eine Tendenz zu Naturwissenschaftlern und insbesondere Physikern. Stellt man hier unzulässige Verallgemeinerungen an, so folgt, dass Wissenschaft hauptsächlich von Männern betrieben wird und dass sich Wissenschaft ausschließlich über Empirie definieren lässt. Da es aber eine große Zahl weiterer Wissenschaften gibt, die ganz verschiedene Methoden verwenden, bleibt unklar, welche Aussagen der Wissenschaftstheorie verallgemeinerbar sind. C.P. SNOW schildert etwa in „The two Cultures“ die getrennten Kulturen natur- und geisteswissenschaftlicher Forschung. Ungeklärt ist, inwieweit empirische Methoden, die ihre Gültigkeit im naturwissenschaftlichen Bereich haben, auf andere Wissenschaftszweige übertragbar sind. Menschen werden empirisch als latente Konstrukte, als mehrdimensionaler Vektor in Eigenschaftsräumen mathematisiert. Was bedeutet das für unser Menschenbild? Wie weit kann man beispielsweise menschliches Verhalten systematisch erfassen, ohne substanzielle, nicht messbare Aspekte auszulassen oder das Verhalten durch die Erfassung zu beeinflussen? THEODOR LITT erteilt den empirischen Methoden bezüglich menschlichen Verhaltens in „Naturwissenschaft und Menschenbildung“ eine klare Absage. Dennoch haben sich zahlreiche Er656

kenntnisse gerade im sozialwissenschaftlichen und psychologischen Bereich gerade durch die Anwendung empirischer Methoden ergeben. Welche Auswirkungen diese Sichtweise auf den Menschen hat, bleibt aber ein zu klärendes ethisches Problem. Ungeklärt bleibt auch das wissenschaftstheoretische Verständnis von Kreativität, Inspiration und Intuition. EINSTEIN hat beschrieben, wie er zu seinen Ideen gekommen ist. Antworten darauf bleibt die Wissenschaftstheorie generell schuldig, was auch FEYERABEND stark kritisiert hat. Theoretisch wäre es ja möglich, dass ein Wahrsager eine Idee verkündet, die sich als genialer naturwissenschaftlicher Gedanke entpuppt. Man könnte eine neue Idee träumen oder an den Eisblumen am Fenster „ablesen“. Sprichwörtlich geworden sind die guten Ideen, die man beim Duschen hat. Wie verhält sich die Wissenschaftstheorie zu solchen Fragen? Erkenntnisunabhängig von innerer Bildung zum Zwecke der Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis, ist ein Zeichen moderner westlicher Wissenschaftskultur. Der Erkenntnisbegriff ist in der Geschichte der abendländischen Kultur und auch in anderen Kulturkreisen eng mit inneren Erfahrungen und Selbsterkenntnissen verbunden: Erkenntnis und Bildung haben etwa bei Meister EKKEHART als Ziel die direkte Gottesschau. Es ist eine wichtige Errungenschaft der Neuzeit, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse gelten, auch wenn sie religiösen Dogmen widersprechen. Dies ist keine Selbstverständlichkeit — betrachtet man neuere Entwicklungen zum Kreationismus in den USA. Die Bezüge zu Religionen sind stets ein heikler Aspekt von Wissenschaft. Auf der einen Seite müssen die Wissenschaften beharrlich zu korrekten Vorstellungen über alles Erforschbare auch gegen den Willen von religiösen Instanzen beitragen. Andererseits haben auch Wissenschaften Grenzen, über die hinaus keine Aussagen möglich sind. Es ist unwissenschaftlich, Dogmen aufzustellen über Aspekte, die der Wissenschaft mit ihren Methoden nicht zugänglich sind. Hier kann die Wissenschaftstheorie die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis erforschen und alternative Entwürfe betrachten. Dass religiöse und wissenschaftliche Thesen nicht nur zu Konfrontationen führen müssen, zeigt die aktuelle neurowissenschaftliche Forschung an buddhistischen Mönchen oder an Wirkungen der Verhaltensmedizin. Welche Rolle asiatische Erkenntnistheorien in der westlichen Wissenschaftstheorie spielen, bleibt unklar. Besondere Hemmnisse sind hierbei verschiedene Grundansichten über den Menschen, über Materie und über Bereiche gültiger Erkenntnisse. Zuletzt ist die Wissenschaftstheorie selbst eine Wissenschaft, die somit über sich selbst schreibt. Reflexion und Gegenstand der Reflexion sind hierbei eins. Dies ist nicht widerspruchsfrei möglich. FEYERABEND löst dieses Dilemma, indem er behauptet, die Wissenschaftstheorie sei gar keine Wissenschaft.

11.37.8 Typische Begriffe und deren Deutung in der Wissenschaftsdisziplin Zentrale Begriffe des Empirismus, wie in vorangegangenen Abschnitten beschrieben, sind Induktion und Deduktion. Es geht hier um ein grundlegendes Verständnis über empirische Methoden, mit deren Hilfe wissenschaftliche Hypothesen verifiziert werden können. Werden empirische Methoden zum alleingültigen Prinzip erhoben, so spricht man auch von Positivismus. Insgesamt spricht man von der Standardkonzeption, welche normativ vorgeben soll, was als Wissenschaft bezeichnet werden darf und wie sich wissenschaftliche Erkenntnisse im Laufe der Zeit kumulativ und linear erweitern. POPPER setzt der Verifikation die Falsifikation entgegen, die LAKATOS durch das Konzept des raffinierten Falsifikationismus zu retten versucht. Er spricht nicht mehr von einzelnen wissenschaftlichen Aussagen, sondern über Forschungsprogramme, die Systeme von Aussagengefügen sind. KUHN setzt ihm als post-moderne Wissenschaftstheorie die historisch und soziologisch geprägte Paradigmentheorie entge657

gen. Er prägt den Begriff der wissenschaftlichen Revolution und geht davon aus, dass diese durch nicht lineare und nicht kumulative Paradigmenwechsel von statten gehen. FEYERABEND kritisiert jede dogmatische Festschreibung wissenschaftlicher Methodik in seiner anarchistischen Erkenntnistheorie und wird mit seinem Ausspruch „Anything goes!“ einer der am meisten fehlzitierten Wissenschaftstheoretiker überhaupt. Der subjektive Bayesianismus liefert einen gemäßigten wahrscheinlichkeitstheoretischen Erklärungsbeitrag für das Beibehalten oder Ablehnen von Hypothesen. Der Neue Experimentalismus stellt das Experiment als eigenständige Erkenntnisform wieder her und verteidigt dieses gegen den Relativismus der Theorieübersteigerung.

11.37.9 Bedeutung der Wissenschaftsdisziplin für das Coaching Evidenzenbasiertes Vorgehen benötigt einen Referenzrahmen darüber, was wissenschaftliche Evidenzen sind und wie man diese auf konkrete Situationen übertragen kann. Allgemein herrscht sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen eher ein induktionistisches Wissenschaftsverständnis vor. Problematisch sind auch blinde Wissenschaftsgläubigkeit oder Wissenschaftsfeindlichkeit. Die Erkenntnis der begrenzten Aussagekraft empirischer Ergebnisse stellt eine wichtige Voraussetzung für den Umgang mit sozialwissenschaftlichen Studien dar. Wichtig ist dabei, die zugrunde liegenden Menschenbilder von verschiedenen Wissenschaften identifizieren zu können, um eine unangemessene Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche zurückweisen zu können. Ein Verständnis für die Grundlagen der Wissenschaft im eigenen Kulturkreis zu haben, kann auch dabei helfen, andere Wissenschaftsbegriffe, wie beispielsweise die tibetische Erkenntnistheorie (Abidharma) oder die traditionelle chinesische Medizin (TCM), besser verstehen und einordnen zu können.

11.37.10 Basisliteraturangaben CHALMERS, A. F. (2007): Wege der Wissenschaft. Einführung in die Wissenschaftstheorie. 6.Aufl., Berlin/Heidelberg, Springer KUHN, T. S. (2001): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 21.Aufl., Frankfurt am Main, Suhrkamp FEYERABEND, P. K. (1986): Wider den Methodenzwang. 11.Aufl., Frankfurt am Main, Suhrkamp

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11.38 Ziele von Marion Kupke

11.38.1 Einleitung Ziele werden definiert als ein binnen eines bestimmten Zeitraums zu erreichender angestrebter Zustand.29 Sie geben den einzelnen Handlungen von Mitarbeitern einen Sinn, weil sie zwischen dem aktuellen Stand und der angestrebten Vision vermitteln.30 Um ein Unternehmensziel wie z.B. Gewinnmaximierung zu erreichen, sind verschiedene Aufgaben im Unternehmen zu erledigen, die auf dieses Ziel wirken. Diese Unternehmensaufgaben werden durch eine Arbeitsanalyse in Teilaufgaben des Unternehmens zerlegt und durch die Arbeitsgestaltung verschiedenen Stellen zur Bearbeitung zugeordnet.31 Jeder Stelleninhaber erhält ein Bündel an Arbeitsaufgaben mit entsprechenden Zielen als Bestandteil der einzelnen Aufgaben. Auch wenn mehrere Mitarbeiter die gleichen Ziele verfolgen sollen, verhalten sie sich manchmal unterschiedlich. Ihre Leistung, die sich in zielgerichteten Handlungen ausdrückt, kann sich unterscheiden. Eine Ursache dafür ist die Unterschiedlichkeit zwischen den bewussten und damit handlungswirksamen Zielen, also den Zielen, die ein Mitarbeiter verinnerlicht hat. Damit ein Mitarbeiter ein Unternehmensziel als persönliches Ziel betrachten kann, auf dessen Erreichung er seine Handlungen ausrichten will, muss er die Zielvorgaben des Unternehmens verstehen und akzeptieren.32 Dann verinnerlicht der Aufgabenträger die in seiner Aufgabe liegenden Ziele und bildet sie durch seine individuelle Interpretation neu als persönliche Ziele. Weiterhin bildet er selbstständig Unter- oder Zwischenziele zum vorgegebenen Endziel. Je nach Aufgabenstellung entwickelt ein Mitarbeiter unterschiedlich viele Stufen von Zielen, bis er seine Zielvorgabe erreicht. Idealerweise entsprechen die persönlichen Ziele dann den Unternehmenszielen. Dieser Prozess kann unterstützt werden durch die Form der Ziele.

11.38.2 Zielsetzungstheorie Die Zielsetzungstheorie geht von unterschiedlichen Zielen aus, die als Teil von Arbeitsaufgaben deren Motivationspotenzial beeinflussen. Ziele werden unter anderem unterschieden durch ihre Form.33 Die Merkmale Zielspezifität und Zielschwierigkeit beschreiben die Form der Ziele und sind entscheidend für das Zielverständnis und die Zielakzeptanz.

11.38.3 Formen von Zielen Zielspezifität Je spezifischer ein Ziel formuliert wird, desto weniger Interpretationsspielraum bleibt für die Ausführung der Aufgabe. Daher führen Anweisungen wie „Produzieren Sie X Stück am Tag!“

29 Vgl. Latham/Locke, 2002, S. 705 30 Vgl. Kolb, 2002, S. 10 31 Vgl. Bea/Göbel, 1999, S. 223 und S. 229 f. 32 Siehe Latham/Locke, 1995 33 Vgl. Schreyögg/Steinmann, 2005, S. 547

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zu höherer Leistung als vage Zielformulierungen wie „Tun Sie Ihr Bestes!“.34 Die Vorgabe spezifischer Ziele verdeutlicht nämlich die Erwartungen des Vorgesetzten. Dadurch werden Zielvorgabe und Zielverständnis angeglichen. Zielschwierigkeit Zielschwierigkeit wird als Wahrscheinlichkeit gemessen, ein Ziel nicht zu erreichen.35 Über 400 Studien zeigen einen positiven, linearen Zusammenhang zwischen Zielschwierigkeit und Leistung.36 Herausfordernde Ziele können durch einen kurzen Bearbeitungszeitraum oder ein hohes Arbeitsvolumen gekennzeichnet sein. Allerdings ist dem positiven Zusammenhang zwischen Zielhöhe und Leistung durch das persönliche Leistungsvermögen eine Obergrenze gesetzt.37 Ab dieser verringert sich der positive Zusammenhang. Daher kann nicht mehr erreicht werden, als das Ziel vorgibt. Ein Ziel ist also zu niedrig angesetzt, wenn das Ergebnis ohne Zielvorgabe höher ausgefallen wäre.

11.38.4 Moderatoren der Zielsetzungstheorie38 Auf die Leistung wirken die sogenannten Moderatoren nur indirekt. Sie erklären eher den Zusammenhang zwischen Zielsetzung und Leistung näher.39 Entweder unterstützen oder hemmen Moderatorvariablen einen solchen Zusammenhang. Bindung an Ziele Mit der Zielbindung wird ausgedrückt, wie stark eine Person sich an handlungsleitende Ziele gebunden fühlt, diese akzeptiert, und wie stark ihr Widerstand gegen ein Abbringen von diesen Zielen ist.40 Dass Partizipation die Zielbindung erhöht, ist zwar unbestritten, Uneinigkeit herrschte aber lange über die Notwendigkeit von Partizipation, um Zielbindung entstehen zu lassen. Studien haben gezeigt, dass Partizipation nur dann notwendig ist, wenn das Ziel nicht weiter erläutert wird.41 Ob ein Ziel als eigenes akzeptiert wird, hängt auch davon ab, ob es jemand vorgibt, zu dem Vertrauen besteht, und welche Argumente für die Wichtigkeit des Ziels sprechen.42 Ursachen für Zielbindung können darüber hinaus auch Gruppeneinfluss oder Belohnungen sein, die die Zielerreichung mit sich bringt.43 Auch die Bekanntmachung von Zielen in der Öffentlichkeit dient der Förderung von Zielbindung.44 Wichtig für die leistungsunterstützende Wirkung ist nur das Vorhandensein von Zielbindung, egal wie diese entsteht. Partizipation ist also nicht zwingendes Element einer Aufgabe, um die Zielerreichung zu fördern. Aufgabenkomplexität Bei einfachen Aufgaben konnte ein signifikant höherer Zusammenhang zwischen Zielsetzung und Leistung erkannt werden als bei schwierigen und komplexen Aufgaben.45 Das liegt daran, 34 Vgl. Bryan/Locke, 1967, S. 274 35 Vgl. Latham/Locke, 2002, S. 705 36 Vgl. Latham/Locke, 1991, S. 214 37 Vgl. Latham/Locke, 2002, S. 706 38 Vgl. Latham/Locke, 1990, S. 6 ff. 39 Siehe Erez/Latham/Locke, 1988 40 Vgl. Kleinbeck, 1996, S. 59 41 Siehe Erez/Latham/Locke, 1988, siehe, vgl. Nerdinger, 2003, S. 47 42 Vgl. Nerdinger, 2003, S. 47 43 Siehe Erez/Latham/Locke, 1988 44 Vgl. Nerdinger, 2003, S. 58 45 Siehe Schneider, 1978

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dass komplexe Aufgaben auf mehreren Wegen gelöst werden können und zunächst nach der besten Strategie gesucht werden muss, deren Wahl dann die Leistung ausschlaggebend beeinflusst.46 Steht die Strategie allerdings fest, kann sich die Anstrengung ganz auf das Ziel konzentrieren. Schwierige Ziele führen daher auch bei komplexen Aufgaben zu erhöhter Leistung, wenn die Strategie eindeutig, also bekannt und bewährt ist.47 Ausmaß der Rückmeldungen Erhält der Mitarbeiter einen Einblick in den aktuellen Stand der Zielerreichung, kann er korrigierend in seinen Arbeitsplatz eingreifen und seine Zielsetzung anpassen. Die neue Zielbildung wird daher über das Ausmaß der Rückmeldungen bestimmt. Während bei regelmäßigen Kontrollen Misstrauen entsteht, sollen Rückmeldungen das Selbstvertrauen stärken.48 Außerdem steht bei der Rückmeldung der informative Charakter im Vordergrund, der die Wirkung von Zielsetzung auf Leistung unterstützt. Die Wirkung von Rückmeldungen aus der Aufgabe ist stärker als die von Rückmeldungen durch Andere. Die Wirkung von spezifischen Rückmeldungen ist stärker als die von allgemeinen. Der Zusammenhang zwischen Zielsetzung und Leistung kann durch Prozessrückmeldungen verstärkt werden, wenn vorher nur eine Bekanntgabe der endgültigen Ergebnisse stattfand. Bei einer Unterscheidung zwischen positiven und negativen Rückmeldungen wird festgestellt, dass positive Rückmeldungen zwar das aufgabenspezifische Selbstvertrauen stärken, aber nicht unbedingt direkt zu erhöhter Motivation führen, weil sie keinen Anreiz darstellen. Damit negative Rückmeldungen leistungssteigernd wirken, muss die Kritik sachgerecht und objektiv sein sowie aus einer vertrauenswürdigen Quelle stammen.49 Aufgabenspezifisches Selbstvertrauen Weil das Vorhandensein von aufgabenspezifischem Selbstvertrauen die Erwartung, ein Ziel erreichen zu können, steigert, moderiert es ebenfalls den Zusammenhang zwischen Zielsetzung und Leistung.50 Je wahrscheinlicher eine Zielerfüllung eingeschätzt wird, desto eher fokussiert die Anstrengung auf eine zielführende Handlung. Aus diesem Grund ist es von Bedeutung, Zielsetzung in Zusammenhang mit Personalführung zu sehen. Schulungen und unterstützendes Vorgesetztenverhalten moderieren nämlich dann die Wirkung von Zielsetzung auf die Arbeitsaufgabe und damit die Motivationswirkung, weil sie aufgabenspezifisches Selbstvertrauen schaffen.

11.38.5 Anwendung: Management by Objectives Bei der Führung durch Ziele („Management by Objectives“) handelt es sich um ein Motivationsinstrument, das auf die Ziele der Mitarbeiter fokussiert ist. Der Prozess beinhaltet: • das Festlegen von Zielen, • das Kontrollieren und Rückmelden von Leistungsergebnissen, • die leistungsabhängige Vergütung • und, je nach Auffassung, Partizipation.51 Entweder werden die Mitarbeiterziele vom Vorgesetzten autoritär vorgegeben oder sie werden kooperativ zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter vereinbart. Im zweiten Fall ist Partizipation, also die Teilhabe an Entscheidungen, Bestandteil von MbO. Partizipation kann die durch Zielsetzung einge46 Vgl. Chesney/Locke, 1991, S. 400 f. 47 Vgl. Latham/Winters, 1996, S. 236 48 Vgl. Nerdinger, 2001, S. 268 49 Vgl. Nerdinger, 2003, S. 50 50 Vgl. Latham/Locke, 1990, S. 10; vgl. Kleinbeck, 1996, S. 61 51 Vgl. Kopelman, 1986, S. 71

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schränkte Autonomie wieder erhöhen. Die Zielsetzung, also das Festlegen eines Zielwertes (Zielhöhe) und die Einordnung in einen Zielbezug (Zielspezifität) ist das Schlüsselelement von MbO.52 Voraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung von Zielvereinbarungen ist ein hierarchisches Zielsystem ohne Zielkonflikte, mit anderen Worten: Die Summe der Einzelziele aller Mitarbeiter darf nicht im Widerspruch zu den strategischen Zielen des Gesamtunternehmens stehen.

11.38.6 Fazit Die Kernaussage der Zielsetzungstheorie lässt sich wie folgt zusammenfassen: Das Setzen von Zielen führt über gesteigerte Motivation zu besserer Leistung, und zwar um so eher, je höher und spezifischer die Ziele sind.53 Diese Zusammenhänge sind um so stärker, je höher die Zielbindung ausfällt, je weniger komplex eine Aufgabe ist, je spezifischer und häufiger Ergebnis- und Prozessrückmeldungen durch die Aufgabe gegeben werden und je stärker das aufgabenspezifische Selbstvertrauen ist. Diese Zusammenhänge konnten in den letzten Jahrzehnten sowohl in Feldstudien als auch Laborexperimenten bei insgesamt über 40.000 Personen aus acht verschiedenen Ländern und mit 100 verschiedenen Aufgaben festgestellt werden. Bei den aussagekräftigen Untersuchungen ergab sich eine Produktivitätssteigerung von durchschnittlich 10,3 % und maximal 31 %.54 Gemäß Zielsetzungstheorie führt also auch MbO zunächst aufgrund von Zielsetzung zu steigender Leistung. Allerdings bedarf es der motivationsfördernden Ausprägung der beschriebenen Moderatoren um die Leistungssteigerung zu garantieren. Da MbO aus mehreren Teilen besteht, die Einfluss auf die Moderatoren haben, ist darauf zu achten, dass diese Instrumente die Moderatoren nicht motivationsmindernd ausgestalten und die Motivationswirkungen durch Zielsetzung damit mindern. Z.B. kann leistungsabhängige Vergütung als Bestandteil von MbO eine bestehende intrinsische Motivation verdrängen, wenn nicht ihr informativer Charakter im Vordergrund steht. Das wäre der Fall, wenn die Belohnung als fremdbestimmt und nicht selbst beeinflusst wahrgenommen wird.55 Die Zielbindung wäre dann eher gering. Bei der Anwendung von MbO kommt es daher insbesondere auf die zu prüfenden Wirkungszusammenhänge aller genutzten Bestandteile dieses Motivationsinstruments an.

11.38.7 Basisliteratur KUPKE, M. (2007): Arbeitsaufgaben und ihr Motivierungspotential. Saarbrücken, VDM Verlag Dr. Müller BEA, F. X./E. GÖBEL (1999): Organisation. Stuttgart, Lucius und Lucius BRYAN, J. F./E. A. LOCKE (1967): Goal Setting as a Means of Increasing Motivation, in: Journal of Applied Psychology, 51 (3), S.274-277 CHESNEY, A. A./E. A. LOCKE (1991): Relationships Among Goal Difficulty, Business Strategies, and Performance on a Complex Management Simulation Task. in: Academy of Management Journal, 34 (2), S.400-424 EREZ, M., G. P. LATHAM UND E. A. LOCKE (1988): The Determinants of Goal Commitment. in: Academy of Management Review, 13 (1), S.23-29 52 Vgl. Kopelman, 1986, S. 71 53 Vgl. Kleinbeck, 1996, S. 84; vgl. Nerdinger, 2001, S. 268 54 Vgl. Kopelman, 1986, S. 70 55 Vgl. Osterloh/Wartburg, 2004, S. 229

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KLEINBECK, U. und KLEINBECK, T. (1996): Arbeitsmotivation. Weinheim und München, Juventa Verlag KOLB, M. (2002): Führen mit Zielen — ein wiederentdecktes Haus- bzw. (All)Heilmittel?! in Bergmann, G., F. G. Gairing, M. Kolb und M. Schwaab (Hrsg.): Führen mit Zielen, 2. Auflage, Wiesbaden, Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. Th. Gabler, S.5-22 KOPELMANN, R. E. (1986): Managing Productivity in Organizations. Irwin: McGraw-Hill Companies LATHAM, G. P. und E. A. LOCKE (1990): The High Performance Cycle. in: Häcker, H., U. Kleinbeck, H. Quast und H. Thierry (Hrsg.): Work Motivation, New Jersey, Lawrence Erlbaum Associates, S.3-25 LATHAM, G. P. und E. A. LOCKE (1991): Self-Regulation Trough Goal-Setting. in: Organizational Behavior and Human Decision Processes, S.50, S.212-247 LATHAM, G. P. und E. A. LOCKE (1995): Zielsetzung als Führungsaufgabe. in: Kieser, A., G. Reber und R. Wunderer (Hrsg.): Handwörterbuch der Führung, 2. Auflage, Stuttgart, SchäfferPoeschel Verlag, S.2222-2234 LATHAM, G. P. und E. A. LOCKE (2002): Building a Practically Useful Theory of Goal Setting and Task Motivation: A 35-Year Odyssey. in: American Psychologist, 57 (9), S.705-717 LATHAM, G. P. und D. WINTERS (1996): The Effect of Learning versus Outcome Goals on a Simple Versus a Complex Task. in: Group an Organization Management, 21 (2), S.236-250 NERDINGER, F. W. (2001): Motivierung. in: Schuler, H. (Hrsg.): Lehrbuch der Personalpsychologie, Göttingen, Hogrefe-Verlag, S.349-371 NERDINGER, F. W. (2003): Motivation von Mitarbeitern. Göttingen, Hogrefe-Verlag OSTERLOH, M. und I. VON WARTBURG (2004): Arbeitsgestaltung. in: Gaugler, E. W. A. Oechsler und W. Weber (Hrsg.): Handwörterbuch des Personalwesens, 3. Auflage, Stuttgart, SchäfferPoeschel Verlag, S.226-241 SCHNEIDER, K. (1978): Die Wirkung von Erfolg und Misserfolg auf die Leistung bei visuellen Diskrimationsaufgaben und auf physiologische Anstrengungsindikatoren.

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11.39 Autorinnen und Autoren der Coaching relevanten Wissensgebiete Abstract

Autorinnen und Autoren

Andragogik Dr. Walter Schoger, Diplom-Soziologe, Diplom-Pädagoge, Diplom-Sozialpädagoge comweit, Burgwindheim [email protected] Axiomatik Prof. Dr. Gerd Walther Mathematisches Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel [email protected] Betriebswirtschaft Dipl.Kffr. Christina Wargitsch Institut für Controlling, Universität Ulm [email protected] Curriculum Prof. Dr. Bernd Meier Professor für Technologie und berufliche Orientierung an der Universität Potsdam [email protected] Prof. Dr. Viktor Jakupec ist Australier und arbeitet als Internationaler Bildungsberater, zugleich ist er Honorarprofessor an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Potsdam [email protected] Entscheidungstheorie — ET Dr. Beate Bergter, Dipl.Math. MSc Statistik Berlin [email protected] Andreea Hermann, Dipl.Math. Berlin [email protected] Führung Dipl.Soz. Gido Regel, wissenschaftlicher Mitarbeiter Lehrstuhl BWL VI (Personal & Führung) Technische Universität, Chemnitz [email protected] Führungswissen für den Führungsalltag Dr. Rolf Meier Management & Business Coach, Henstedt-Ulzburg [email protected] Glaube Björn Bergander, Pfarrer i.R. NLP-Lehrcoach, Dozent für Deutsch als Zweitsprache München [email protected] Handlungslernen Dipl.Päd. Barbara Becker Wiesenbronn [email protected]

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Kommunikation Dr. Klaus M. Bernsau, MA (Kommunikationswissenschaft) Kommunikationsberater, Wiesbaden [email protected] Konsequenzen aus der psychologischen Lernforschung Prof. Dr. Rosemarie Mielke Fachbereich Erziehungswissenschaft, Universität Hamburg [email protected] Konstruktivismus/pädagogischer Konstruktivismus Dipl.Päd. Olaf Albers Kiel [email protected] Kreativität Prof. Dr. Stephan Sonnenburg Karlshochschule International University, Karlsruhe [email protected] Lehren und Lernen Enke Spänkuch, MA Bereichsleiterin „Selbstgesteuertes Lernen und Sprachberatung” Ruhr-Universität Bochum Zentrum für Fremdsprachenausbildung (ZFA) [email protected] Lernen Jens Fleischer , Dipl.Psych., Lehrstuhl für Lehr-Lernpsychologie, Universität Duisburg-Essen, Essen [email protected] Christian Spoden, Dipl.Psych. Lehrstuhl für Lehr-Lernpsychologie, Universität Duisburg-Essen, Essen [email protected] Linguistik Prof. Dr. Anita Steube Institut für Linguistik, Universität Leipzig [email protected] Logik Dr. Beate Bergter, Dipl.Math. MSc Statistik Berlin [email protected] Andreea Hermann, Dipl.Math. Berlin [email protected] Marketing und Markenmanagement Prof. Dr. Horst Seider Fachbereich Wirtschaft, HAW Hamburg, Hamburg [email protected] Motivationspsychologie — Motive und Motivation Dr. Andreas Huber, Dipl.Psych. Mannheim [email protected]

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Naturheilkunde Dr.med. Ute Prügner Ärztin für Naturheilkundeverfahren, Hamburg [email protected] Neuro Linguistisches Programmieren — NLP Dr. Rupprecht Weerth, Dipl.Psych. Münster [email protected] Neurowissenschaftliches Wissen für Veränderungen und Lernen Dr. Maja Storch, Dipl. Psych. Institut für Selbstmanagement und Motivation Zürich ISMZ GmbH [email protected] Pädagogik Dipl.Päd. Lars Kilian Fachbereich Pädagogik, Technische Universität Kaiserslautern [email protected] Philosophie Dr. Hilma Schmiedl-Neuburg Philosophisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel [email protected] Psychologie J.-Prof. Dr. Marc Solga, Dipl.Psych. Fakultät für Psychologie, Ruhr-Universität Bochum [email protected] Melanie Dura (B.Sc. Wirtschaftspsychologie) Fakultät für Psychologie, Ruhr-Universität Bochum [email protected] Psychologie der Entscheidung Dr. Katharina Sachse, Dipl.Psych. Technische Universität Berlin Institut für Psychologie und Arbeitswissenschaft [email protected] Psychotherapie Dr. Dominique Schwarz Praxis für Psychotherapie (HPG) Heidelberg [email protected] Rechtswissenschaft Dipl.Juristin Nina Meier, RA Kaltenkirchen [email protected] Semantik besser verstehen Gernot Hausar, wissenschaftlicher Mitarbeiter Institut für Germanistik, Universität Wien [email protected] Soziologie Daniel Witte, MA, Institut für politische Wissenschaft und Soziologie, Universität Bonn [email protected]

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Strategie — eine Begriffserklärung Dipl.Kffr. Ella Jurowskaja, wissenschaftliche Mitarbeiterin Betriebswirtschaftslehre/Marketing, Helmut-Schmidt-Universiät, Hamburg [email protected] Supervision Gisbert Stein, Pädagoge Reinfeld [email protected] Dipl.Päd. Marianne Stein Neukirchen [email protected] Systemtheorie Lukas Scheiber, MA (Soziologie) Universität Stutgart [email protected] Transaktionsanalyse — TA Dr. Heinrich Hagehülsmann und Ute Hagehülsmann, Dipl.Psychologen Rastede [email protected] Visionen — woher und wofür? Dr. Matthias zur Bonsen [email protected] Werte — Lichtspiele Bernd Friedrich Schon, Doktorand der Filmwissenschaft Brühl [email protected] Wissenschaftstheorie Prof. Dr. Maike Tesch Leibniz Universität Hannover IDMF, AG Didaktik der Physik [email protected] Ziele Dipl.Kffr. Marion Kupke Kreissparkasse Köln [email protected]

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Persönliches Nachwort der Herausgeber Coaching bietet den besten emphatisch-dramaturgischen Kontext zur Entwicklung von nachhaltigen Selbstlernkonzeptionen des Menschen. Das Recht und die Freiheit, seine Persönlichkeit auf diese Art und Weise zu entfalten, ist bereits im Grundgesetz verankert. Das bedeutet, dass ein Mensch sich nicht nur aus eigener Kraft entwickeln darf — sondern es auch kann. Werden diese Persönlichkeitsrechte, zum Beispiel durch direkte und/oder indirekte Beratung, im Coaching missachtet, so ist das Coachingverständnis autoritär. Coaching und die Ausbildung von Coachs müssen zu jedem Zeitpunkt grundgesetzkonform sein. Insofern erleben der Coach und der Coachee im Coaching die Botschaft unserer Verfassung. Unser Buch „CoachAusbildung — ein strategisches Curriculum” setzt den Freiheitsgedanken in Lehre und Praxis konsequent um. Wir hoffen, liebe Leserin und lieber Leser, Ihnen eine Alternative zu den bekannten Meinungen über Coaching und Coachausbildung gegeben zu haben, sodass Sie selbst eine Meinung entwickeln können.

Dr. Rolf Meier

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Dipl.Päd. Axel Janßen

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